Die Kleine Routledge Enzyklopädie der Philosophie Vollständige digitale Ausgabe
Hrg.: Edward Craig enomoi Inhaltsverzeichnis
Impressum
Die Kleine Routledge Enzyklopädie der Philosophie Vollständige digitale Ausgabe ISBN: 978-3936532-99-9
Das inhaltsgleiche, gedruckte Gesamtwerk ist in 3 Bänden erschienen unter ISBN 978-3936532-76-1. Die hier vorliegende Ausgabe ist jedoch nicht seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe. Im Original erschienen unter dem Titel The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy bei Routledge (Francis & Taylor), Großbritannien 2005 ISBN 0-415-32495-5 © 2010 xenomoi Verlag, Berlin Übersetzung: Wolfgang Sohst (mit Ausnahme des Beitrages ‚Personale Identität‘; dieser wurde von Dr. Barbara Ergenzinger übersetzt) Grammatisches und orthographisches Lektorat: Renate Spiewok Satz in Times New Roman 9,5 Pt. Titelgestaltung, Satz und Produktion: xenomoi Verlag e.K., Rühmkorffstr. 6a, D - 12209 Berlin Tel.: 030 - 755 11 712 ▪ www.xenomoi.de ▪
[email protected]
Vorwort des Übersetzers Das Unternehmen der Übersetzung einer philosophischen Enzyklopädie ist in keiner Hinsicht etwas Alltägliches. Vieles ist zu beachten, wenn die große Arbeit, die in solchen Werken sozusagen doppelt steckt – einmal jene der ursprünglichen Autoren, und dann die der Übersetzung – wirklich zur Wirkung kommen soll. Beispielsweise ist die beste Übersetzung nicht diejenige, die lexikalisch und grammatisch am korrektesten ist, sondern jene, die den Sinn des Übersetzten am besten und stilistisch am flüssigsten wiedergibt. Dem vorliegenden Werk kommt ferner ein Umstand zugute, der vielleicht noch ungewöhnlicher ist als das Unternehmen an sich selbst; der Übersetzer dieser Enzyklopädie ist nämlich gleichzeitig ihr (deutscher) Verleger. Unter diesem günstigen Stern war ich im Besitz der Chance, aber auch der Verantwortung, das Werk in zwar nur geringem, aber hoffentlich hilfreichem Umfange auch mit gestalten zu können. Ich war keinem fremden Auftraggeber verpflichtet, stand nicht in fremdem Lohn und Brot, sondern konnte allein nach den mir verfügbaren höchsten Maßstäben guter Arbeit einrichten, wie es am Ende aussehen sollte. Das Ergebnis dieser besonderen Freiheit wird der Leser an zahlreichen Fußnoten bemerken, die ich nicht nur zur Erklärung schwieriger idiomatischer Fälle zwischen dem Englischen und dem Deutschen, sondern auch zur Erläuterung von entlegneren Fachbegriffen und begrifflichen Grundlagen einfügte. Damit soll dem Leser über die inhaltliche Qualität hinaus, die das Werk bereits in der englischen Originalausgabe bietet, noch weitere Hilfestellung geboten werden. Denn nicht nur der philosophische Anfänger, sondern auch der Berufsphilosoph oder umfassend gebildete Intellektuelle wird zugeben müssen, dass ihm dieser oder jener Ausdruck der Geisteswelt entweder noch nie begegnet, oder zumindest in seiner konkreten Bedeutung mehr oder weniger unklar ist. Da man eine Enzyklopädie aber gerade dort aufschlägt, wo man etwas hinzulernen möchte, ist es kein Makel, dort auch Begriffe zu entdecken, die man noch nicht kennt oder einzuordnen weiß. So habe ich also immer dann, wenn mir plötzlich Wörter erschienen, mit denen ich nichts anzufangen wusste, vermutet, dass es anderen Lesern an dieser Stelle vielleicht ebenso gehen wird; an solchen Stellen findet der Leser nunmehr erläuternde Fußnoten. Ich hoffe, dass meine Bemühung um eine gleichermaßen präzise wie lebendige Übertragung des Gesamtwerks ins Deutsche sich dergestalt erfüllt hat, dass sie sich ungeschmälert in die Freude des Lesers an den vielen, wunderbaren Beiträgen dieser Enzyklopädie verwandelt. Berlin, im März 2007 Wolfgang Sohst
Benutzerhinweise Diese Enzyklopädie ist eine vollständige Übersetzung der im Original englischsprachigen Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, die im Verlag Routledge / Francis & Taylor im Jahre 2005 erschien. Diese ist ihrerseits eine Zusammenfassung der berühmten, zehnbändigen Routledge Encyclopedia of Philosophy, die bereits seit 1978 erscheint und fortlaufend aktualisiert wird. Ordnung: Die Beiträge dieser Enzyklopädie sind alphabetisch geordnet. Einen deutsch-englischen Index finden Sie am Anfang eines jeden der drei Bände. Im ersten Band finden Sie ferner im Anschluss an den deutsch-englischen Index auch den umgekehrten, d.h. englisch-deutschen Index. Beide Indizes nennen ferner in einer dritten Spalte den Autor des jeweiligen Beitrages. Kleine und große Beiträge: Entsprechend der englischen Originalausgabe sind auch in dieser Übersetzung die Beiträge, die in vollem Umfange dem Beitrag der zehnbändigen englischen Routledge Encyclopedia of Philosophy entsprechen, gesondert gekennzeichnet und gestaltet. Diese Beträge erkennt man daran, dass ihre Überschrift durch eine gepunktete Linie unterstrichen ist. Ferner sind diese großen Beiträge intern gegliedert; jedem solchen Beitrag geht eine Einführung voraus, der eine Gliederungsübersicht folgt. Daran schließt sich der detaillierte Text an. Die kleinen Beiträge sind dagegen gekürzte Fassungen des jeweiligen Artikels im zehnbändigen Original. Sofern der Leser Interesse daran, auch solche Beiträge in originaler Länge zu lesen und Zugang z.B. zu einer Universitätsbibliothek hat (wo die zehnbändige Originalausgabe in der Regel geführt wird), kann er im zweiten, d.h. im englisch-deutschen Index den Titel des Originalbeitrages leicht ermitteln und sich somit die originalsprachliche Quelle erschließen. Verweise: Alle Verweise auf andere Beiträge dieser Enzyklopädie (sowohl innerhalb eines Beitrages, als auch am Ende eines jeweiligen Beitrages) erkennt man an der typographischen Auszeichnung dieses Stichwortes. Beispielsweise bedeutet die typographische Auszeichnung des Wortes Platon in Kapitälchen einen Verweis auf den Beitrag zu Platon. Anmerkungen und weitere Lektüre: Am Ende der sog. ‚großen Beiträge‘ findet sich ein Abschnitt, der mit Anmerkungen und weitere Lektüre überschrieben ist. Hier finden sich Literaturhinweise zur Vertiefung des jeweiliges Themas, und zwar hauptsächlich die im Original genannten englischsprachigen Titel, sowie ein kurzer Hinweis darauf, auf welchem Niveau und mit welcher Perspektive der jeweilige Autor zum Thema Stellung nimmt. Bei den großen deutschsprachigen Philosophen wurden diese Hinweise ferner um die Hinweise auf die jeweiligen Referenzausgaben in deutscher Sprache ergänzt, um den Zugang zu den Originaltexten zu erleichtern.
Die Beiträge und ihre Autoren Nachfolgend finden Sie zwei alphabetisch Inhaltsverzeichnisse, die gleichzeitig Konkordanzlisten sind, nämlich zunächst die nach den deutschen Titeln geordnete Liste aller Beiträge mit dem entsprechenden englischen Originaltitel in der zweiten Spalte, und daran anschließend eine umgekehrt nach den englischen Beitragstiteln geordnete Liste, wobei jeweils in der dritten Spalte der Beitragsverfasser genannt ist.
Deutsch-englischer Index A A posteriori
A posteriori
Paul K. Moser
A priori
A priori
Paul K. Moser
Abbildung
Depiction
R.D. Hopkins
Abduktiver Schluss
Abduction
Georg Sultan
Abälard, Peter
Abälard, Peter
Martin M. Tweedale
Abgrenzungsproblem, Das
Demarcation problem
Peter Achinstein
Absolute, das
Absolute, the
T.L.S. Sprigge
Absolutismus
Absolutism
Anthony Pagden
Abstrakte Kunst
Art, abstract
John H. Brown
Abstrakte Gegenstände
Abstract objects
Bob Haie
Adorno, Theodor Wiesengrund
Adorno, Theodor Wiesengrund
J.M. Bernstein
Afrikanische Philosophie
African philosophy
K. Anthony Appiah
Afrikanische Philosophie, englischsprachige
African philosophy, Anglophone
Kwasi Wiredu
Afrikanische Philosophie, französischsprachige
African philosophy, Francophone
F. Abiola Irele
Agnostizismus
Agnosticism
William L. Rowe
I
Register
Agrippa von Nettesheim, Henricus Cornelius
Agrippa von Nettesheim, Henricus Cornelius
Michael H. Keefer
Akrasie
Akrasia
Helen Steward
Albert der Große
Albert the Great
Alain De Libera
Alchimie
Alchemy
Michela Pereira
al-Farabi, Abu Nasr
al-Farabi, Abu Nasr
Ian Richard Netton
al-Ghazali, Abu Hamid
al-Ghazali, Abu Hamid
Kojiro Nakamura
Alighieri, Dante
Alighieri, Dante
Dominik Perler
Allgegenwart
Omnipresence
Brian Leftow
Allmacht
Omnipotence
Joshua Hoffinan Gary Rosenkrantz
Alltagsphilosophie
Commonsensism
Roderick M. Chisholm
Alltagspsychologie
Folk psychology
Stephen P. Stich Georges Rey
Alltagssprache, philosophische Schule der
Ordinary language philosophy, school of
Geoffrey Warnock
Allwissenheit
Omniscience
Thomas P. Flint
Althusser, Louis Pierre
Althusser, Louis Pierre
Alex Callinicos
Analysis, philosophische Aspekte der
Analysis, philosophical issues in
I. Grattan-Guinness
Analytische Philosophie
Analytical philosophy
Thomas Baldwin
Analytizität
Analyticity
George Bealer
Anapher
Anaphora
Nicholas Asher
Anarchismus
Anarchism
George Crowder
Anaximander
Anaximander
Richard McKirahan
II
Register
Anaximenes
Anaximenes
Richard McKirahan
Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der
Alterity and identity, postmodern theories of
Peter Fenves
Angeborene in der griechischen Philosophie, Das
Innateness in ancient philosophy
Dominic Scott
Angeborene, Das
Innateness
Edward Craig
Angewandte Ethik
Applied ethics
Brenda Almond
Anomaler Monismus
Anomalous monism
Brian P. McLaughlin
Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret
Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret
Michael Thompson
Anselm von Canterbury
Anselm of Canterbury
Jasper Hopkins
Anthropologie, Philosophy der
Anthropology, philosophy of
Merrilee H. Salmon
Antike Philosophie
Ancient philosophy
David Sedley
Antisemitismus
Anti-Semitism
Oliver Leaman, Clive Nyman
Apel, Karl-Otto
Apel, Karl-Otto
Matthias Kettner
Arbeit, Philosophie der
Work, philosophy of
Richard Arneson
Archē
Archē
Richard McKirahan
Architektur, Ästhetik der
Architecture, aesthetics of
John J. Haldane
Arendt, Hannah
Arendt, Hannah
B. Parekh
Aretē
Aretē
David Sedley
Aristoteles
Aristotle
T.H. Irwin
Arithmetik, philosophische Aspekte der
Arithmetic, philosophical issues in
Michael Potter
Arnauld, Antoine
Arnauld, Antoine
Steven Nadler
III
Register
Arten
Species
Kim Sterelny
Askese
Asceticism
Philip L. Quinn
Ästhetik
Aesthetics
Malcolm Budd
Ästhetik und Ethik
Aesthetics and ethics
Michael Tanner
Ästhetische Haltung
Aesthetic attitude
Malcolm Budd
Ästhetische Konzepte
Aesthetic concepts
Marcia Eaton
Atheismus
Atheism
William L. Rowe
Atomismus, antiker
Atomism, ancient
David Sedley
Aufklärung, kontinental europäische
Enlightenment, Continental
Robert Wokler
Aufklärung, schottische
Enlightenment, Scottish
Christopher J. Berry
Augenblicks, Buddhistische Lehre des
Momentariness, Buddhist doctrine of
Alexander Von Rospatt
Augustinus
Augustine
Gareth B. Matthews
Austin, John
Austin, John
Robert N. Moles
Austin, John Langshaw
Austin, John Langshaw
J.O. Urmson
Autonomie, ethische
Autonomy, ethical
Andrews Reath
Autorität
Authority
Leslie Green
Ayer, Alfred Jules
Ayer, Alfred Jules
Graham Macdonald
Bachelard, Gaston
Bachelard, Gaston
Mary Tiles
Bachtin, Michail Michailowitsch
Bakhtin, Mikhail Mikhailovich
Gary Saul Morson
Bacon, Francis
Bacon, Francis
J.R. Milton
Bacon, Roger
Bacon, Roger
Georgette Sinkler
Bakunin, Michail Aleksandrowitsch
Bakunin, Mikhail Aleksandrovich
Aileen Kelly
B
IV
Register
Barthes, Roland
Barthes, Roland
James Risser
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Dabney Townsend
Bayle, Pierre
Bayle, Pierre
Charles Larmore
Beattie, James
Beattie, James
Paul Wood
Beauvoir, Simone de
Beauvoir, Simone de
Eva Lundgren-Gothlin
Beccaria, Cesare Bonesana
Beccaria, Cesare Bonesana
Richard Bellamy
Bedeutung und Regelfolgen
Meaning and rulefollowing
Barry C. Smith
Bedeutung und Verifikation
Meaning and verification
W.D. Hart
Bedeutung und Wahrheit
Meaning and truth
Stephen G. Williams
Bedeutung, indische Theorien der
Meaning, Indian theories of
Madhav M. Deshpande
Befreiungsphilosophie
Liberation philosophy
Horacio CeruttiGuldberg
Begriffe
Concepts
Georges Rey
Begründung, Erkenntnis theoretische
Justification, epistemic
Richard Foley
Behaviorismus, analytischer
Behaviourism, analytic
David BraddonMitchell
Behaviorismus, methodischer und wissenschaftlicher
Behaviourism, methodological and scientific
C.R. Gallistel
Belinskij, Vissarion Grigorievich
Belinskii, Vissarion Grigorievich
Victor Terras
Bell’s Theorem
Bell‘s theorem
Arthur Fine
Benjamin, Walter
Benjamin, Walter
Julian Roberts
V
Register
Bentham, Jeremy
Bentham, Jeremy
Ross Harrison
Beobachtung
Observation
Peter Kosso
Berdiajew, Nikolai Aleksandrovich
Berdiaev, Nikolai Aleksandrovich
James P. Scanlan
Berechenbarkeits theorie
Computability theory
Daniele Mundici Wilfried Sieg
Bergson, Henri-Louis
Bergson, Henri-Louis
A.R. Lacey
Berkeley, George
Berkeley, George
Ian Tipton
Berlin, Isaiah
Berlin, Isaiah
Bernard Williams
Berufsethik
Professional ethics
Ruth Chadwick
Beschreibung
Descriptions
Stephen Neale
Bestätigungstheorie
Confirmation theory
Theo A.F. Kuipers
Bevölkerung und Ethik
Population and ethics
David Heyd
Beweistheorie
Proof theory
Wilfried Sieg
Bewusstsein
Consciousness
Eric Lormand
Bioethik
Bioethics
R.G. Frey
Blackstone, William
Blackstone, William
N.E. Simmonds
Bloch, Ernst Simon
Bloch, Ernst Simon
Vincent Geoghegan
Bobbio, Norberto
Bobbio, Norberto
Patrizia Borselhno
Bodin, Jean
Bodin, Jean
Julian H. Franklin
Boehme, Jakob
Boehme, Jakob
Jean-Loup Seban
Boethius, Anicius Manlius Severinus
Boethius, Anicius Manlius Severinus
Henry Chadwick
Bohr, Niels
Bohr, Niels
Mara Beller
Bolzano, Bernard
Bolzano, Bernard
Wolfgang Künne
Bonaventure
Bonaventure
Bonnie Kent
Boolean Algebra
Boolean algebra
J.L. Bell
VI
Register
Bosanquet, Bernard
Bosanquet, Bernard
Peter P. Nicholson
Boyle, Robert
Boyle, Robert
Rose-Mary Sargent
Bradley, Francis Herbert
Bradley, Francis Herbert
Stewart Candlish
Brahman
Brahman
Stephen H. Phillips
Brentano, Franz Clemens
Brentano, Franz Clemens
Roderick M. Chisholm Peter Simons
Bruno, Giordano
Bruno, Giordano
EJ. Ashworth
Buber, Martin
Buber, Martin
Tamra Wright
Buddhistische Philosophie, chinesische
Buddhist philosophy, Chinese
Dan Lusthaus
Buddhistische Philosophie, Indische
Buddhist philosophy, Indian
Richard P. Hayes
Buddhistische Philosophie, japanische
Buddhist philosophy, Japanese
John C. Maraldo
Buddhistische Philosophie, koreanische
Buddhist philosophy, Korean
Sungtaek Cho
Buridan, John
Buridan, John
Jack Zupko
Burke, Edmund
Burke, Edmund
Iain Hampsher-Monk
Butler, Joseph
Butler, Joseph
R.G. Frey
Calvin, John
Calvin, John
Ronald J. Feenstra
Cambridge Platonismus
Cambridge Platonism
Frederick Beiser
Campanella, Tommaso
Campanella, Tommaso
John M. Headley
Campbell, Norman Robert
Campbell, Norman Robert
D.H. Mellor
C
VII
Register
Camus, Albert
Camus, Albert
David A. Sprintzen
Cantor, Georg
Cantor, Georg
Ulrich Majer
Cantor‘s Theorem
Cantor‘s theorem
Mary Tiles
Carnap, Rudolf
Carnap, Rudolf
Richard Creath
Carneades
Carneades
Jonathan Barnes
Cassirer, Ernst
Cassirer, Ernst
Donald Phillip Verene
Cavell, Stanley
Cavell, Stanley
Stephen Mulhall
Cavendish, Margaret Lucas
Cavendish, Margaret Lucas
Eileen O‘Neill
Chaostheorie
Chaos theory
Stephen H. Kellert
Chassidismus
Hasidism
Rachel Elior
Chinesische Philosophie
Chinese philosophy
David L. Hall Roger T. Ames
Chinesischen Raumes, Argument des
Chinese room argument
Robert Van Gulick
Chisholm, Roderick Milton
Chisholm, Roderick Milton
David Benfield
Chomsky, Noam
Chomsky, Noam
Norbert Hornstein
Christine de Pizan
Christine de Pizan
Charity Cannon Willard
Church‘s theorem and the decision problem
Church‘s theorem and the decision problem
Rohit Parikh
Church‘s These
Church‘s thesis
Stewart Shapiro
Cicero, Marcus Tullius
Cicero, Marcus Tullius
Stephen A. White
Clarke, Samuel
Clarke, Samuel
Stephen Gaukroger
Cohen, Hermann
Cohen, Hermann
Michael Zank
Collingwood, Robin George
Collingwood, Robin George
Simon Blackburn
VIII
Register
Common-SenseSchule
Common Sense School
Edward H. Madden
Computer wissenschaft
Computer science
John Winnie
Comte, IsidoreAuguste-MarieFrançois-Xavier
Comte, IsidoreAuguste-MarieFrançois-Xavier
Angele KremerMarietti
Condillac, Etienne Bonnot de
Condillac, Etienne Bonnot de
Paul F. Johnson
Condorcet, MarieJean-Antoine-Nicolas Caritat de
Condorcet, MarieJean-Antoine-Nicolas Caritat de
David Williams
Conway, Anne
Conway, Anne
Sarah Hutton
Copernicus, Nicolaus
Copernicus, Nicolaus
Ernan McMullin
Cousin, Victor
Cousin, Victor
David Leopold
Croce, Benedetto
Croce, Benedetto
Richard Bellamy
Daoistische Philosophie
Daoist philosophy
David L. Hall Roger T. Ames
Darwin, Charles Robert
Darwin, Charles Robert
Peter J. Bowler
Davidson, Donald
Davidson, Donald
Ernie Lepore
De re / de dicto
De re / de dicto
Andre Gallois
Dedekind, Julius Wilhelm Richard
Dedekind, Julius Wilhelm Richard
Howard Stein
Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der
Deductive closure principle
Anthony Brueckner
Definition
Definition
G. Aldo Antonelli
Deismus
Deism
William L. Rowe
D
IX
Register
Dekonstruktion
Deconstruction
Christopher Norris
Deleuze, Gilles
Deleuze, Gilles
Dorothea E. Olkowski
Demokratie
Democracy
Ross Harrison
Demokrit
Democritus
C.C.W. Taylor
Demonstrative und indexikalische Zeichen
Demonstratives and indexicals
Harry Deutsch
Dennett, Daniel Clement
Dennett, Daniel Clement
William G. Lycan
Deontische Logik
Deontic Logic
Marvin Belzer
Deontologische Ethik
Deontological ethics
David McNaughton
Der Staat
State, the
Peter P. Nicholson
Derrida, Jacques
Derrida, Jacques
Andrew Cutrofello
Descartes, René
Descartes, René
Daniel Garber
Determinismus und Indeterminismus
Determinism and indeterminism
Jeremy Butterfield
Deutscher Idealismus
German idealism
Paul Franks
Dewey, John
Dewey, John
James Gouinlock
Dialektischer Materialismus
Dialectical materialism
Allen W. Wood
Dichtung
Poetry
Richard M. Shusterman
Diderot, Denis
Diderot, Denis
Robert Wokler
Dilthey, Wilhelm
Dilthey, Wilhelm
Rudolf A. Makkreel
Diogenes Laertius
Diogenes Laertius
David T. Runia
Diogenes von Sinope
Diogenes of Sinope
R. Bracht Branham
Diskriminierung
Discrimination
James W. Nickel
Diskriminierung, positive
Affirmative action
Bernard Boxill
X
Register
Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll)
Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll)
Peter Heath
Dögen
Dögen
Thomas P. Kasulis
Doppler-Effekts, Prinzip des
Double effect, principle of
Suzanne Uniacke
Dostojewski, Fedor Mikhailovich
Dostoevskii, Fedor Mikhailovich
Gary Saul Morson
Dreifaltigkeit
Trinity
Peter Van Inwagen
Dualismus
Dualism
David M. Rosenthal
Duhem, Pierre Maurice Marie
Duhem, Pierre Maurice Marie
Don Howard
Dummett, Michael Anthony Eardley
Dummett, Michael Anthony Eardley
Barry Taylor
Duns Scotus, Johannes
Duns Scotus, John
Stephen D. Dumont
Dworkin, Ronald
Dworkin, Ronald
Emilios A. Christodoulidis
Edwards, Jonathan
Edwards, Jonathan
William J. Wainwright
Egoismus und Altruismus
Egoism and altruism
Richard Kraut
Eigenname
Proper names
Graeme Forbes
Eigentum
Property
Stephen R. Munzer
Einbildungskraft
Imagination
J. O‘Leary-Hawthorne
Einfachheit
Simplicity
Elliott Sober
Einheit der Wissenschaften
Unity of science
Jordi Cat
Einstein, Albert
Einstein, Albert
Arthur Fine Don Howard John D. Norton
Eklektizismus
Eclecticism
Chris McClellan
E
XI
Register
Eliminativismus
Eliminativism
Georges Rey
Emerson, Ralph Waldo
Emerson, Ralph Waldo
Russell B. Goodman
Emotive Bedeutung
Emotive meaning
David Philips
Emotivismus
Emotivism
Michael Smith
Empedokles
Empedocles
Malcolm Schofield
Empirismus
Empiricism
William P. Alston
Engels, Friedrich
Engels, Friedrich
Terrell Carver
Entdeckung, Logik der
Discovery, Logic of
Thomas Nickles
Entfremdung
Alienation
Allen W. Wood
Entscheidungs- und Spieltheorie
Decision and game theory
Cristina Bicchieri
Entwicklung
Processes
Dorothy Emmet
Epikureismus
Epicureanism
David Sedley
Epiphänomenalismus
Epiphenomenalism
Keith Campbell Nicholas J .J. Smith
Erasmus, Desiderius
Erasmus, Desiderius
Erika Rummel
Ereignisse
Events
D.H. Mellor
Erinnerung, Epistemologie der
Memory, epistemology of
Earl Conee
Eriugena, Johannes Scottus
Eriugena, Johannes Scottus
Dermot Moran
Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorien der
Knowledge and justification, coherence theory of
Laurence Bonjour
Erkenntnis, Begriff der
Knowledge, concept of
Peter D. Klein
Erkenntnistheorie
Epistemology
Peter D. Klein
Erkenntnistheorie und Ethik
Epistemology and ethics
Richard Feldman
XII
Register
Erkenntnistheorie, Geschichte der
Epistemology, history of
George S. Pappas
Erkenntnistheorie, Schule der
Epistemology, Indian schools of
Stephen H. Philips
Erklärung
Explanation
Philip Kitcher
Erklärung in historischer und sozialer Wissenschaft
Explanation in history and social science
David-Hillel Ruben
Erzählung
Narrative
Gregory Currie
Erziehung, Philosophie der
Education, philosophy of
Randall R. Curren
Essentialismus
Essentialism
Stephen Yablo
Ethik
Ethics
Roger Crisp
Eudämonie
Eudaimonia
C.C.W. Taylor
Evolution und Ethik
Evolution and ethics
Elliott Sober
Evolution, Theorie der
Evolution, theory of
Elisabeth A. Lloyd
Ewigkeit
Eternity
Eleonore Stump Norman Kretzmann
Existenz
Existence
Penelope Mackie
Existenzialismus
Existentialism
Charles B. Guignon
Experiment
Experiment
Margaret C. Morrison
Fallibilismus
Fallibilism
Nicholas Rescher
Familie, Ethik und die
Family, ethics and the
William Ruddick
Farbe und Qualia
Colour and qualia
Joseph Levine
Farbe, Theorie der
Colour, theories of
David R. Hilbert
Faschismus
Fascism
Roger Eatwell
Fatalismus
Fatalism
Edward Craig
F
XIII
Register
Fechner, Gustav Theodor
Fechner, Gustav Theodor
Daniel N. Robinson
Fegefeuer
Purgatory
Linda Zagzebski
Feminismus
Feminism
Susan James
Feministische Erkenntnistheorie
Feminist epistemology
Lorraine Code
Feministische politische Philosophie
Feminist political philosophy
Susan Mendus
Feuerbach, Ludwig Andreas
Feuerbach, Ludwig Andreas
Hans-Martin Sass
Feyerabend, Paul Karl
Feyerabend, Paul Karl
Michael Williams
Fichte, Johann Gottlieb
Fichte, Johann Gottlieb
Daniel Breazeale
Ficino, Marsilio
Ficino, Marsilio
James Hankins
Fiktionale Entitäten
Fictional entities
Peter Lamarque
Filmer, Sir Robert
Filmer, Sir Robert
Johann P. Sommerville
Films, Ästhetik des
Film, aesthetics of
Gregory Currie
Föderalismus und Konföderalismus
Federalism and confederalism
Wayne Norman
Fodor, Jerry Alan
Fodor, Jerry Alan
Peter Godfrev-Smith
Formalismus in der Kunst
Formalism in art
Malcolm Budd
Formen, platonische
Forms, Platonic
Tad Brennan
Fortbestehende Dinge
Continuants
Robin Le Poidevin
Fortpflanzung und Ethik
Reproduction and ethics
Rosalind Hursthouse
Foucault, Michel
Foucault, Michel
Gary Gutting
Fourier, Charles
Fourier, Charles
David Leopold
Frankfurter Schule
Frankfurt School
Axel Honneth
XIV
Register
Frege, Gottlob
Frege, Gottlob
Alexander George Richard Heck
Freie Logiken
Free Logics
Ermanno Bencivenga
Freier Wille
Free will
Galen Strawson
Freiheit
Freedom and liberty
Joel Feinberg
Fremdgeistige, Das
Other minds
Alec Hyslop
Freud, Sigmund
Freud, Sigmund
James Hopkins
Freude
Pleasure
Graeme Marshall
Freundschaft
Friendship
Neera K. Badhwar
Funktionale Erklärungen
Functional explanation
Richard N. Manning
Funktionalismus
Functionalism
David Papineau
Gadamer, HansGeorg
Gadamer, Hans-Georg
Kathleen Wright
Galilei, Galileo
Galilei, Galileo
Ernan McMullin
Gassendi, Pierre
Gassendi, Pierre
Margaret J. Osler
Gedanken experimente
Thought experiments
David C. Gooding
Gefühle als Antwort auf Kunst
Emotion in response to art
Jerrold Levinson
Gefühle, Philosophie der
Emotions, philosophy of
Robert C. Solomon
Gefühle, Wesen der
Emotions, nature of
Robert C. Solomon
Geist, Bündeltheorie des
Mind, bundle theory of
Stewart Candlish
Geist, Identitätstheorie des
Mind, identity theory of
Frank Jackson
Geistes, Berechnungstheorien des
Mind, computational theories of
Ned Block Georges Rey
G
XV
Register
Geistes, Philosophie des
Mind, philosophy of
Frank Jackson Georges Rey
Geisteskrankheit, Begriff der
Mental illness, concept of
Karen Neander
Geistige Verursachung
Mental causation
Barry Loewer
Geltungsbereich
Scope
Mark Richard
Gemeinschaft und Kommunitarismus
Community and communitarianism
Allen Buchanan
Gemeinwille
General will
Peter P. Nicholson
Genealogie
Genealogy
R. Kevin Hill
Genetik und Ethik
Genetics and ethics
Ruth Chadwick
Genetische Veränderung
Genetic modification
Mark Tester Edward Craig
Gentile, Giovanni
Gentile, Giovanni
Richard Bellamy
Gerechtigkeit
Justice
Brian Barry MattMatravers
Gerechtigkeit, korrigierende
Justice, corrective
Ernest J. Weinrib
Geschichte, Philosophie der
History, philosophy of
Gordon Graham
Gesellschaft, Konzept der
Society, concept of
Angus Ross
Gestaltpsychologie
Gestalt psychology
Barry Smith
Gettier problem
Gettier problem
Edward Craig
Gewalt
Violence
C.A.J. Coady
Gleichheit
Equality
Albert Weale
Globalisierung
Globalization
Jan Aart Scholte
Glück
Happiness
J.P. Griffin
Gnostik
Gnosticism
Christopher Stead
Gödel‘s Theoreme
Gödel‘s theorems
Michael Detlefsen
XVI
Register
Goethe, Johann Wolfgang von
Goethe, Johann Wolfgang von
Nicholas Boyle
Gorgias
Gorgias
Charles H. Kahn
Gott, Begriffe von
God, concepts of
Brian Leftow
Gott, Beweise für die Existenz von
God, arguments for the existence of
Alvin Plantinga
Göttliche Freiheit
Freedom, divine
William L. Rowe
Green, Thomas Hill
Green, Thomas Hill
Richard Bellamy
Grice, Herbert Paul
Grice, Herbert Paul
Judith Baker
Grosseteste, Robert
Grosseteste, Robert
Scott MacDonald
Grotius, Hugo
Grotius, Hugo
J.D. Ford
Gurney, Edmund Jerrold Levinson
Gurney, Edmund
Jerrold Levinson
Guten, Theorien des
Good, theories of the
Christine M. Korsgaard
Habermas, Jürgen
Habermas, Jürgen
Kenneth Baynes
Haeckel, Ernst Heinrich
Haeckel, Ernst Heinrich
Paul Weindling
Halakhah
Halakhah
Noam J. Zohar
Handlung
Action
Jennifer Hornsby
Hanslick, Eduard
Hanslick, Eduard
Peter Kivy
Hart, Herbert
Hart, Herbert
Lionel Adolphus Neil MacCormick
Hedonismus
Hedonism
Justin Gosling
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Rolf-Peter Horstmann
Hegelianismus
Hegelianism
Robert Stern Nicholas Walker
Heidegger, Martin
Heidegger, Martin
Thomas Sheehan
H
XVII
Register
Helmont, Franciscus Mercurius van
Helmont, Franciscus Mercurius van
Stuart Brown
Heraklit
Heraclitus
A.A. Long
Herder, Johann Gottfried
Herder, Johann Gottfried
Frederick Beiser
Hermeneutik
Hermeneutics
Michael Inwood
Hermetismus
Hermetism
John Procope
Herzen, Alexander Iwanowitsch
Herzen, Aleksandr Ivanovich
Aileen Kelly
Hilbert‘s Programme und Formalismus
Hilbert‘s programme and formalism
Michael Detlefsen
Hildegard von Bingen
Hildegard of Bingen
Claudia Eisen Murphy
Himmel
Heaven
Linda Zagzebski
Hinduistische Philosophie
Hindu philosophy
Edeltraud Harzer Clear
Hinweisende Konditionalsätze
Indicative conditionals
Frank Jackson
Historizismus
Historicism
Christopher Thornhill
Hobbes, Thomas
Hobbes, Thomas
Tom Sorell
Hohfeld, Wesley Newcomb
Hohfeld, Wesley Newcomb
Neil MacCormick
Holismus und Individualismus in
Holism and individualism in
Rajeev Bhargava
der Geschichte der Sozialwissenschaften
history and social science
Holismus, Mentaler bzw. semantischer
Holism: mental and semantic
Ned Block
Hölle
Hell
Marilyn McCord Adams
Holocaust, der
Holocaust, the
Steven T. Katz Hooker, Richard A.S. McGrade
XVIII
Register
Humanismus in der Renaissance
Humanism, Renaissance
John Monfasani
Humboldt, Wilhelm von
Humboldt, Wilhelm von
Frederick Beiser
Hume, David
Hume, David
Don Garrett
Humor
Humour
Jerrold Levinson
Hus, Jan
Hus, Jan
Curtis V. Bostick
Husserl, Edmund
Husserl, Edmund
Dagfinn Follesdal
Hutcheson, Francis
Hutcheson, Francis
David Fate Norton
Hypatia
Hypatia
Lucas Siorvanes
Ibn Rushd, Abu‘l Walid Muhammad
Ibn Rushd, Abu‘l Walid Muhammad
Oliver Leaman
Ibn Sina, Abu `All alHusayn
Ibn Sina, Abu `All alHusayn
Salim Kemal
Ideale
Ideals
Connie S. Rosati
Idealisierungen
Idealizations
Ronald Laymon
Idealismus
Idealism
T.L.S. Sprigge
Identität
Identity
Timothy Williamson
Identität des Ununterscheidbaren
Identity of indiscernibles
Peter Simons
Ideologie
Ideology
Michael Freeden
Implikatur
Implicature
Wayne A. Davis
Implikation, logische
Implication, logical
Georg Sultan
Indirekter Diskurs
Indirect discourse
Gabriel Segal
Indische und Tibetanische Philosophie
Indian and Tibetan philosophy
Richard P. Hayes
I
XIX
Register
Induktion, erkenntnis theoretische Fragen der
Induction, epistemic issues in
Mark Kaplan
Induktiver Schluss
Inductive Inference
Patrick Maher
Infinitistische Logik
Infinitary logics
Bernd Buldt
Informationstheorie
Information theory
Kenneth M. Sayre
Ingarden, Roman Witold
Ingarden, Roman Witold
Antoni B. Stepien
Inhalt, Nichtbegrifflicher
Content, nonconceptual
Tim Crane
Inhalt: weiter und enger
Content: wide and narrow
Kent Bach
Inkommensurabilität
Incommensurability
Dudley Shapere
Intensionale Logik
Intensional logics
James W. Garson
Intensionale Wesenheiten
Intensional entities
George Bealer
Intensionalität
Intensionality
Simon Christmas
Intention
Intention
Robert Dunn
Intentionalität
Intentionality
Tim Grane
Internalismus und Externalismus in der Epistemologie
Internalism and externalism in epistemology
William P. Alston
Internationale Beziehungen, Philosopie der
International relations, philosophy of
Charles R. Beitz
Intuitionismus
Intuitionism
David Charles McCarty
Intuitionismus, ethischer
Intuitionism in ethics
Robert L. Frazier
Intuitionistische Logik und Antirealismus
Intuitionistic logic and antirealism
Peter Pagin
XX
Register
Irigaray, Luce
Irigaray, Luce
Tina Chanter
Islamische Philosophie
Islamic philosophy
Oliver Leaman
Jainistische Philosophie
Jaina philosophy
Jayandra Soni
James, William
James, William
Ruth Anna Putnam
Japanesische Philosophie
Japanese philosophy
Thomas P. Kasulis
Jaspers, Karl
Jaspers, Karl
Kurt Salamun
Johannes von St. Thomas
John of St Thomas
John P. Doyle
Johnson, Samuel
Johnson, Samuel
Charles J. McCracken
Journalismus, Ethik des
Journalism, ethics of
Andrew Belsey
Jüdische Philosophie
Jewish philosophy
L.E. Goodman
Jung, Carl Gustav
Jung, Carl Gustav
George B. Hogenson
Kabbalah
Kabbalah
Oliver Leaman
Kant, Immanuel
Kant, Immanuel
Paul Guyer
Kantische Ethik
Kantian ethics
Onora O‘Neill
Kategorien
Categories
Robert Wardy
Katharsis
Katharsis
Glenn W. Most
Kausalität
Causation
Nancy Cartwright
Kausalität, Indische Theorien der
Causation, Indian theories of
Roy W. Perrett
Kausalität, Rechtliche
Causation in the law
Richard W. Wright
Kelsen, Hans
Kelsen, Hans
Zenon Bafikowski
Kepler, Johannes
Kepler, Johannes
Ernan McMullin
J
K
XXI
Register
Kierkegaard, Soren Aabye
Kierkegaard, Soren Aabye
Patrick Gardiner
Klonen
Cloning
John Harris Simona Giordano
Kognitivismus
Cognitivism
Georg Sultan
Kommunikation und Intention
Communication and intention
Simon Blackburn
Kommunikative Rationalität
Communicative rationality
Peter Dews
Kommunismus
Communism
Lyman Tower Sargent
Komödie
Comedy
John Morreall
Kompositionalität
Compositionality
Mark Richard
Konfuzianische Philosophie, Chinesische
Confucian philosophy, Chinese
A.S. Cua
Konfuzius
Confucius
D.C. Lau Roger T. Arnes
Konnektionismus
Connectionism
Brian P. McLaughlin
Konsequenzialismus
Consequentialism
David McNaughton
Konservatismus
Conservatism
Anthony O‘Hear
Konstitutionalismus
Constitutionalism
Ulrich K. Preuß
Konstruktivismus
Constructivism
Stephen M. Downes
Kontextualismus, epistemologischer
Contextualism, epistemological
Bruce W. Brower
KontinuumHypothese
Continuum hypothesis
Mary Tiles
Kontrafaktische Konditionalsätze
Counterfactual conditionals
Frank Döring
Kontraktualismus
Contractarianism
Samuel Freeman
Konventionalismus
Conventionalism
Paul Horwich
XXII
Register
Kosmologie
Cosmology
Ernan McMullin
Kotarbitiski, Tadeusz
Kotarbitiski, Tadeusz
B. Stanosz
Krieges und des Friedens, Philosphie des
War and peace, philosophy of
Terry Nardin
Kripke, Saul Aaron
Kripke, Saul Aaron
Michael Jubien
Kristeva, Julia
Kristeva, Julia
Tina Chanter
Kriterium
Criteria
Marie Mcginn
Kritische Theorie
Critical theory
Raymond Geuss
Kritischer Realismus
Critical realism
Andrew Collier
Kuhn, Thomas Samuel
Kuhn, Thomas Samuel
Paul HoyningenHuene
Kūkai
Kūkai
Thomas P. Kasulis
Kultur
Culture
Anthony O‘Hear
Kunst und Sittlichkeit
Art and morality
Michael Tanner
Kunst und Wahrheit
Art and truth
Paul Taylor
Kunst, Definition der
Art, definition of
Stephen Davies
Kunst, Nutzen der
Art, value of
Malcolm Budd
Kunst, Verständnis der
Art, understanding of
Colin Lyas
Kunstkritik
Art criticism
Colin Lyas
Künstlerischer Ausdruck
Artistic expression
Stephen Davies
Künstlers, Absicht des
Artist‘s intention
Paul Taylor
Künstliche Intelligenz
Artificial intelligence
Margaret A. Boden
Kunstwerke, Ontologie der
Art works, ontology of
Gregory Currie
L
XXIII
Register
La Mettrie, Julien Offroy de
La Mettrie, Julien Offroy de
Kathleen Wellman
Labriola, Antonio
Labriola, Antonio
Geoffrey Hunt
Lacan, Jacques
Lacan, Jacques
Thomas Brockelman
Lakatos, Imre
Lakatos, Imre
John Worrall
Lange, Friedrich Albert
Lange, Friedrich Albert
George J. Stack
Langer, Susanne Katherina Knauth
Langer, Susanne Katherina Knauth
Peg Brand
Lateinamerika, Philosophie in
Latin America, philosophy in
Amy A. Oliver
Leben und Tod
Life and death
John Harris
Lebens, Sinn des
Life, meaning of
Susan Wolf
Lebensphilosophie
Lebensphilosophie
Jason Gaiger
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Daniel Garber
Lessing, Gotthold Ephraim
Lessing, Gotthold Ephraim
Dabney Townsend
Letztbegründungs philosophie
Foundationalism
Ernest Sosa
Leukippos
Leucippus
C.C.W. Taylor
Levinas, Emmanuel
Levinas, Emmanuel
Robert Bernasconi
Lewis, Clarence Irving
Lewis, Clarence Irving
Sandra B. Rosenthal
Lewis, David Kellogg
Lewis, David Kellogg
Peter Van Inwagen
Liber de causis
Liber de causis
Hannes Jarka-Sellers
Liberalismus
Liberalism
Jeremy Waldron
Libertinismus
Libertarianism
Jonathan Wolff
Liebe
Love
Martha C. Nussbaum
Llull, Ramon
Llull, Ramon
Mark D. Johnston
XXIV
Register
Locke, John
Locke, John
Michael Ayers
Logik der Vagheit
Fuzzy logic
Charles G. Morgan
Logik zweiter Ordnung, Philosophische Fragen der
Second-order Logic, philosophical issues in
Stewart Shapiro
Logik, Philosophie der
Logic, philosophy of
Graeme Forbes
Logische Konstanten
Logical constants
Timothy McCarthy
Logischer Atomismus
Logical atomism
Alex Oliver
Logischer Positivismus
Logical positivism
Michael Friedman
Logizismus
Logicism
Howard Stein
Lombard, Peter
Lombard, Peter
Marcia L. Colish
Lotze, Rudolph Hermann
Lotze, Rudolph Hermann
David Sullivan
Löwenheim-Skolem Theoreme und NichtStandard-Modelle
Löwenheim-Skolem theorems and nonstandard models
W.D. Hart
Lucretius
Lucretius
Michael Erler
Lukasiewicz, Jan
Lukasiewicz, Jan
Jan Wolenski
Lukcács, Georg
Lukcács, Georg
Alex Callinicos
Luther, Martin
Luther, Martin
M.A. Higton
Lyotard, JeanFrangois
Lyotard, JeanFrangois
David Carroll
Mach, Ernst
Mach, Ernst
Andy Hamilton
Machiavelli, Niccolò
Machiavelli, Niccolò
Mary G. Dietz
Maclntyre, Alasdair
Maclntyre, Alasdair
Alan Thomas
Magie
Magic
Lauren Kassell
M
XXV
Register
Maimonides, Moses
Maimonides, Moses
L.E. Goodman
Maistre, Joseph de
Maistre, Joseph de
Richard A. Lebrun
Malebranche, Nicolas
Malebranche, Nicolas
Steven Nadler
Malerei, Ästhetik der
Painting, aesthetics of
Robert Hopkins
Mandeville, Bernard
Mandeville, Bernard
M.M. Goldsmith
Manichäismus
Manicheism
Christopher Kirwan
Marcuse, Herbert
Marcuse, Herbert
Alex Callinicos
Marktes, Ethik des
Market, ethics of the
David Miller
Marx, Karl
Marx, Karl
Michael Rosen
Marxismus, westlicher
Marxism, Western
John Torrance
Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
Marxist philosophy, Russian and Soviet
David Bakhurst
Masseausdrücke
Mass terms
Jeffry Pelletier
Maßtheorie
Measurement, theory of
Patrick Suppes
Materialismus
Materialism
George J. Stack
Materialismus in der Geistesphilosophie
Materialism in the philosophy of mind
Howard Robinson
Materialismus, indische Schule des
Materialism, Indian school of
Eli Franco Karin Preisendanz
Materie
Matter
Dudley Shapere
Mathematik, Fundamente der
Mathematics, foundations of
Michael Detlefsen
Maxwell, James Clerk
Maxwell, James Clerk
C.W.E Everitt
McTaggart, John und McTaggart, Ellis
McTaggart, John and McTaggart Ellis
Thomas Baldwin
XXVI
Register
Mead, George Herbert
Mead, George Herbert
Hans Joas
Medizinische Ethik
Medical ethics
Daniel Wilder
Mehrwertige Logik
Many-valued logics
Charles G. Morgan
Mehrwertige Logik, philosophische Fragen der
Many-valued logics, philosophical issues in
Lloyd Humberstone
Meinong, Alexius
Meinong, Alexius
Peter Simons
Meinungsfreiheit
Freedom of speech
Peter Jones
Meister Eckhart
Meister Eckhart
Jan A. Aertsen
Melanchthon, Philipp
Melanchthon, Philipp
Peter Mack
Mencius
Mencius
Bryan W. Van Norden
Mendelssohn, Moses
Mendelssohn, Moses
Allan Arkush
Mengenlehre
Set theory
John P. Burgess
Mereologie
Mereology
Peter Forrest
Merleau-Ponty, Maurice
Merleau-Ponty, Maurice
Thomas Baldwin
Metapher
Metaphor
A.P. Martinich
Metaphysik
Metaphysics
Edward Craig
Methodologischer Individualismus
Methodological individualism
Gabriel Segal
Mill, John Stuart
Mill, John Stuart
John Skorupski
Mīmāsā
Mīmāsā
John A. Taber
Mimesis
Mimesis
Glenn W. Most
Mittelalterliche Philosophie
Medieval philosophy
Scott Macdonald Norman Kretzmann
Modallogik
Modal logic
Steven T. Kuhn
Modelle
Models
Elisabeth A. Lloyd
XXVII
Register
Modularität des Geistes
Modularity of mind
Zenon W. Pylyshyn
Mögliche Welten
Possible worlds
Joseph Melia
Mögliche-WeltenSemantik
Semantics, possible worlds
John R. Perry
Mohistische Philosophie
Mohist philosophy
Philip J. Ivanhoe
Molina, Luis de
Molina, Luis de
Alfred J. Freddoso
Molyneux-Problem, Das
Molyneux problem
Menno Lievers
Monismus
Monism
Edward Craig
Montaigne, Michel Eyquem de
Montaigne, Michel Eyquem de
Richard H. Popkin
Montesquieu, Charles Louis de Secondat
Montesquieu, Charles Louis de Secondat
Mark Hulliung
Moore, George Edward
Moore, George Edward
Thomas Baldwin
Moral und Ethik
Morality and ethics
John Skorupski
Moral und Gefühle
Morality and emotions
Martha C. Nussbaum
Moralische Akteure
Moral agents
Vinit Haksar
Moralische Begründung
Moral justification
T.M. Scanlon
Moralische Beweggründe
Moral motivation
R. Jay Wallace
Moralische Erkenntnis
Moral knowledge
Geoffrey SayreMcCord
Moralische Psychologie
Moral psychology
Michael Slote
Moralischen Empfindens, Theorien des
Moral sense theories
Jacqueline Taylor
XXVIII
Register
Moralischer Partikularismus
Moral particularism
Roger Crisp
Moralischer Realismus
Moral realism
Jonathan Dancy
Moralischer Relativismus
Moral relativism
David B. Wong
Moralischer Skeptizismus
Moral scepticism
Mark T. Nelson
Moralisches Empfinden
Moral Sentiments
R. Jay Wallace
Moralisches Glück
Moral Luck
Daniel Statman
Moralisches Urteil
Moral judgment
Garrett Cullity
Morus, Thomas
More, Thomas
Clare M. Murphy
Motoori Norinaga
Motoori Norinaga
Thomas P. Kasulis
Mozi
Mozi
Robin D.S. Yates
Multikulturalismus
Multiculturalism
Arthur Ripstein
Murdoch, Iris
Murdoch, Iris
Thomas Norgaard
Musik, Ästhetik der
Music, aesthetics of
Jerrold Levinson
Nachhaltigkeit
Sustainability
Man Holland
Næss, Arne
Næss, Arne
Ingemund Gullväg
Nagel, Ernest
Nagel, Ernest
Isaac Levi
Nagel, Thomas
Nagel, Thomas
Sonia Sedivy
Nation und Nationalismus
Nation and nationalism
David Miller
Nativismus
Nativism
Jerry Samet
Natur des Menschen
Human nature
Ian Shapiro
Natur und Konvention
Nature and convention
Kate Soper
N
XXIX
Register
Natur, Ästhetische Wertschätzung der
Nature, aesthetic appreciation of
Allen Carlson
Naturalisierte Erkenntnislehre
Naturalized epistemology
Steven Luper
Naturalismus in der Sozialwissenschaft
Naturalism in social science
Ted Benton
Naturalismus und Ethik
Naturalism in ethics
Nicholas L. Sturgeon
Naturgesetz
Natural law
John Finnis
Naturgesetze
Laws, natural
C.A. Hooker
Natürliche Arten
Natural kinds
Chris Daly
Natürliche Deduktion, Tableau- und Sequenzkalküle
Natural deduction, tableau and sequent systems
A.M. Ungar
Naturphilosophie
Nature philosophy
Michael Heidelberger
Naturtheologie
Natural theology
Scott MacDonald
Negative Theologie
Negative theology
David Braine
Neo-Kantianismus
Neo-Kantianism
Hans-Ludwig Ollig
Neuplatonismus
Neoplatonism
Lucas Siorvanes
Neutraler Monismus
Neutral monism
Nicholas Griffin
Neutralität, politische
Neutrality, political
Jeremy Waldron
Newton, Isaac
Newton, Isaac
William L. Harper George E. Smith
Nietzsche, Friedrich
Nietzsche, Friedrich
Maudemarie Clark
Nihilismus
Nihilism
Donald A. Crosby
Nikolaus von Kues
Nicholas of Cusa
Jasper Hopkins
Nishida Kitar
Nishida Kitar
John C. Maraldo
Nominalismus
Nominalism
Michael J. Loux
XXX
Register
Non-Monozonie Logik
Non-monotonic logic
Andre Fuhrmann
Normativität
Normativity
Stephen Darwall
Notwendige Wahrheit und Konvention
Necessary truth and convention
Alan Sidelle
Nous
Nous
A.A. Long
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)
Andrew Bowie
Nozick, Robert
Nozick, Robert
Jonathan Wolff Simon Blackburn
Nyāya-Vaiśeşika
Nyāya-Vaiśeşika
Eli Franco Karin Preisendanz
Objektivität
Objectivity
Alexander Miller
Offenbarung
Revelation
Richard Swinburne
Okkasionalismus
Occasionalism
William Hasker
Ökologische Philosophie
Ecological philosophy
Freya Mathews
Ontologie
Ontology
Edward Craig
Ontologische Verpflichtung
Ontological commitment
Michael Jubien
Oper, Ästhetik der
Opera, aesthetics of
Michael Tanner
Operationalismus
Operationalism
Frederick Suppe
Origen
Origen
Jeffrey Hause
Ortega y Gasset, José
Ortega y Gasset, José
Nelson R. Orringer
Ostasiatische Philosophie
East Asian philosophy
Roger T. Ames
Oxford Calculators
Oxford Calculators
Edith Dudley Sylla
Paine, Thomas
Bruce Kuklick
O
P Paine, Thomas
XXXI
Register
Paley, William
Paley, William
Charlotte R. Brown
Panpsychismus
Panpsychism
T.L.S. Sprigge
Pantheismus
Pantheism
Keith E. Yandell
Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim)
Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim)
E. J. Ashworth
Paradigma
Paradigma
Georg Sultan
Paradoxa, Erkenntnis theoretische
Paradoxes, epistemic
Jonathan L. Kvanvig
Paradoxa, Mengentheoretische
Paradoxes of set and property
Gregory H. Moore
Parakonsistente Logik
Paraconsistent logic
Graham Priest
Pareto Prinzip
Pareto principle
David Miller
Parmenides
Parmenides
David Sedley
Pascal, Blaise
Pascal, Blaise
Ian MacLean
Passmore, John Arthur
Passmore, John Arthur
Frank Jackson
Paternalismus
Paternalism
Richard Arneson
Patristische Philosophie
Patristic philosophy
John Peter Kenney
Peirce, Charles Sanders
Peirce, Charles Sanders
Christopher Hookway
Pelagianismus
Pelagianism
Christopher Kirwan
Performative Sprechakte
Performatives
Kent Bach
Mensch
Person
Brian Garrett
Personale Identität
Personal identity
Brian Garrett
Personalismus
Personalism
Keith E. Yandell
XXXII
Register
Pflicht und Tugend, Indische Konzeptionen der
Duty and virtue, Indian conceptions of
John A. Taber
Phänomenalismus
Phenomenalism
Richard Fumerton
Phänomenologie, Erkenntnis theoretische Fragen der
Phenomenology, epistemic issues in
Jane Howarth
Phänomenologische Bewegung
Phenomenological movement
Lester Embree
Philo von Alexandrien
Philo of Alexandria
David T. Runia
Philoponos
Philoponus
Christian Wildberg
Philosophie des 19. Jahrhunderts
Nineteenth-century philosophy
Robert Stern
Photographie, Ästhetik der
Photography, aesthetics of
Gregory Currie
Piaget, Jean
Piaget, Jean
Alison Gopnik
Pico della Mirandola, Giovanni
Pico della Mirandola, Giovanni
James Hankins
Platon
Plato
Malcolm Schofield
Platonismus in der Renaissance
Platonism, Renaissance
James Hankins
Plechanov, Georgij Valentinowitsch
Plekhanov, Georgii Valentinovich
James D. White
Plotin
Plotinus
Eyjölfur Kjalar Emilsson
Pluralismus
Pluralism
Edward Craig
Pneuma
Pneuma
Christopher Stead
Poincaré, Jules Henri
Poincare, Jules Henri
David J. Stump
Polanyi, Michael
Polanyi, Michael
R.T. Allen
Politische Philosophie
Political philosophy
David Miller
XXXIII
Register
Politischen Philosophie, Geschichte der
Political philosophy, history of
Iain Hampsher-Monk
Pomponazzi, Pietro
Pomponazzi, Pietro
Martin L. Pine
Popper, Karl Raimund
Popper, Karl Raimund
Ian C. Jarvie
Pornographie
Pornography
Susan Mendus
Porphyr
Porphyry
Lucas Siorvanes
Positivismus in der Sozialwissenschaft
Positivism in the social sciences
Harold Kincaid
Postkolonialismus
Postcolonialism
Ato Quayson
Postmodernismus
Postmodernism
Elizabeth Deeds Ermarth
Poststrukturalismus
Post-structuralism
Gary Gutting
Prädestination
Predestination
George I. Mavrodes
Prädikatenlogik
Predicate calculus
Timothy Smiley
Pragmatik, linguistische
Pragmatics
Franfois Recanati
Pragmatismus
Pragmatism
Richard Rorty
Praktische Vernunft und Ethik
Practical reason and ethics
Onora O‘Neill
Präskriptivismus
Prescriptivism
R.M. Hare
Präsokratische Philosophie
Presocratic philosophy
David Sedley
Primär- / SekundärUnterscheidung (von Qualitäten)
Primary-secondary distinction
A.D. Smith
Prior, Arthur Norman
Prior, Arthur Norman
CJ.E Williams
Private Zustände und Sprache
Private states and language
Edward Craig
Privatheit
Privacy
Frances Olsen
XXXIV
Register
Privatsprache, Argument der
Private language argument
Stewart Candlish
Problem des Bösen
Evil, problem of
Marilyn McCord Adams
Projektivismus
Projectivism
Simon Blackburn
Prolepsis
Prolepsis
Dominic Scott
Proposiotionale Einstellungen
Propositional attitudes
Graham Oppy
Proudhon, PierreJoseph
Proudhon, PierreJoseph
Richard Vernon
Prozessphilosophie
Process philosophy
David Ray Griffin
Prozesstheismus
Process theism
David Basinger
Psyche
Psyche
A.A. Long
Psychoanalyse, Methodische Fragen der
Psychoanalysis, methodological issues in
Patricia Kitcher
Psychoanalyse, nachfreudianische
Psychoanalysis, postFreudian
James Hopkins
Pufendorf, Samuel
Pufendorf, Samuel
J.D. Ford
Putnam, Hilary
Putnam, Hilary
Yemima BenMenahem
Pyrrhonismus
Pyrrhonism
R J. Hankinson
Pythagoras
Pythagoras
Hermann S. Schibli
Pythagoreismus
Pythagoreanism
Hermann S. Schibli
Qualia
Qualia
Janet Levin
Quantenlogik
Quantum logic
Peter Forrest
Quantenmechanik, Interpretation der
Quantum mechanics, Interpretation of
Allen Stairs
Q
XXXV
Register
Quantenmechanik, Messprobleme in der
Quantum measurement problem
Jeffrey Bub
Quantoren
Quantifiers
Jaakko Hintikka Gabriel Sandu
Quantoren, ersetzende und gegenständliche
Quantifiers, substitutional and objectual
Mark Richard
Quantoren, verallgemeinerte
Quantifiers, generalized
Dag Westerståhi
Quine, Willard Van Orman
Quine, Willard Van Orman
Alex Orenstein
Ramsey, Frank Plumpton
Ramsey, Frank Plumpton
D.H. Mellor
Ramus, Petrus
Ramus, Petrus
Peter Mack
Randgruppen
Marginality
Amy A. Oliver
Rationalen Wahl, Theorie der
Rational choice theory
Russell Hardin
Rationalismus
Rationalism
Peter J. Markie
Rationalität und kultureller Relativismus
Rationality and cultural relativism
Lawrence H. Simon
Raumzeit
Spacetime
Roberto Torretti
Rawls, John
Rawls, John
Samuel Freeman
Realismus und Antirealismus
Realism and antirealism
Edward Craig
Recht und Moral
Law and morality
N.E. Simmonds
Rechte
Rights
Rex Martin
Rechtmäßigkeit (einer Regierung)
Legitimacy
David Beetham
R
XXXVI
Register
Rechtsphilosophie
Law, philosophy of
Beverley Brown, Neil MacCormick
Rechtspositivismus
Legal positivism
Mario Jori
Rechtsrealismus
Legal realism
Neil Duxbury
Rechtsstaat
Rule of law
T.R.S. Allan
Reduktion, Probleme der
Reduction, problems of
Jaegwon Kim
Reduktionismus in der Geistesphilosophie
Reductionism in the philosophy of mind
Kim Sterelny
Referenz
Reference
Michael Devitt
Reichenbach, Hans
Reichenbach, Hans
Wesley C. Salmon
Reid, Thomas
Reid, Thomas
Roger Gallie
Reihenlogik
Ordinal logics
Solomon Feferman
Reinhold, Karl Leonhard
Reinhold, Karl Leonhard
George Di Giovanni
Relativismus
Relativism
Edward Craig
Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der
Relativity theory, philosophical significance of
Michael Redhead
Relevanzlogik und Folgebeziehung
Relevance logic and entailment
Stephen Read
Relgion und Sittlichkeit
Religion and morality
Richard J. Mouw
Religion und Wissenschaft
Religion and science
Nancey Murphy
Religionsphilosophie
Religion, philosophy of
Eleonore Stump
RenaissancePhilosophie
Renaissance philosophy
E.J. Ashworth
Renouvier, Charles Bernard
Renouvier, Charles Bernard
Laurent Fedi
Republikanismus
Republicanism
Russell L. Hanson
XXXVII
Register
Revolution
Revolution
Peter A. Schouls
Rhetorik
Rhetoric
Eugene Garver
Richtige, Das, und das Gute
Right and good
Charles Larmore
Ricoeur, Paul
Ricoeur, Paul
John B. Thompson
Risiko-Einschätzung
Risk assessment
Kristin ShraderFrechette
Römisches Recht
Roman law
P.B.H. Birks
Rorty, Richard McKay
Rorty, Richard McKay
Michael David Rohr
Rosmini-Serbati, Antonio
Rosmini-Serbati, Antonio
Guido Verucci
Ross, William David
Ross, William David
David McNaughton
Rousseau, JeanJacques
Rousseau, JeanJacques
Nicholas Dent
Royce, Josiah
Royce, Josiah
Robert W. Burch
Russell, Bertrand Arthur William
Russell, Bertrand Arthur William
Nicholas Griffin
Russische Philosophie
Russian philosophy
Alleen Kelly
Ryle, Gilbert
Ryle, Gilbert
William Lyons
Sān. khya
Sān.khya
Dan Lusthaus
Saint-Simon, ClaudeHenri de Rouvroy, Comte de
Saint-Simon, ClaudeHenri de Rouvroy, Comte de
David Leopold
Sanches, Francisco
Sanches, Francisco
Richard H. Popkin
Santayana, George
Santayana, George
John Lachs
Sapir-Whorf Hypothese
Sapir-Whorf hypothesis
John A. Lucy
Sartre, Jean-Paul
Sartre, Jean-Paul
Christina Howells
S
XXXVIII
Register
Saussure, Ferdinand de
Saussure, Ferdinand de
David Holdcroft
Scheler, Max Ferdinand
Scheler, Max Ferdinand
Francis Dunlop
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von
Andrew Bowie
Schiller, Johann Christoph Friedrich
Schiller, Johann Christoph Friedrich
T.J. Reed
Schlegel, Friedrich von
Schlegel, Friedrich von
Frederick Beiser
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
Günter Meckenstock
Schlick, Friedrich Albert Moritz
Schlick, Friedrich Albert Moritz
Thomas Oberdan
Schluss auf die beste Erklärung
Inference to the best explanation
Jonathan Vogel
Schlüsselexperimente
Crucial experiments
Peter Achinstein Cudworth, Ralph Sarah Hutton
Schönheit
Beauty
John H. Brown
Schopenhauer, Arthur
Schopenhauer, Arthur
Christopher Janaway
Searle, John
Searle, John
Ernie Lepore
Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
Soul, nature and immortality of the
Richard Swinburne
Sehvermögen
Vision
Frances Egan
Sein
Being
Mark Okrent
Selbsttäuschung, Ethik der
Self-deception, ethics of
Mike W. Martin
Selbsttötung, Ethik der
Suicide, ethics of
Paul Edwards
Sellars, Wilfrid Stalker
Sellars, Wilfrid Stalker
Jay E Rosenberg
XXXIX
Register
Semantik
Semantics
Mark Crinamins
Semantik der Begriffsrollen
Semantics, conceptual role
Ned Block
Semantik, spieltheorische
Semantics, gametheoretic
Michael Hand
Semiotik
Semiotics
W. C. Watt
Sergeevich, Vladimir
Sergeevich, Vladimir
Andrzej Walicki
Sextus Empiricus
Sextus Empiricus
R.J. Hankinson
Sexualität, Philosophie der
Sexuality, philosophy of
Alan Soble
Shintō
Shintō
Paul Varley
Sidgwick, Henry
Sidgwick, Henry
Bart Schultz
Simmel, Georg
Simmel, Georg
David Frisby
Simulationstheorie
Simulation theory
Martin Davies Tony Stone
Sinn und Bedeutung
Sense and reference
Genoveva Martí
Sinnesdaten
Sense-data
Andre Gallois
Sinneswahrneh mung, Indische Auffassungen der
Sense perception, Indian views of
Stephen H. Phillips
Situation
Situation
Georg Sultan
Situationsethik
Situation ethics
Gene Outka
Situationssemantik
Semantics, Situation
John R. Perry
Skeptizismus
Scepticism
Stewart Cohen
Sklaverei
Slavery
Stephen L. Esquith Nicholas D. Smith
Smith, Adam
Smith, Adam
Knud Haakonssen
Sokrates
Socrates
John M. Cooper
Solidarität
Solidarity
Andrew Mason
Solipsismus
Solipsism
Edward Craig XL
Register
Solovëv, Vladimir Sergeevich
Solovëv, Vladimir Sergeevich
Andrzej Walicki
Sophisten, Die
Sophists
Charles H. Kahn
Sorel, Georges
Sorel, Georges
Jeremy Jennings
Souveränität
Sovereignty
J.D. Ford
Sozialdemokratie
Social democracy
David Miller
Soziale Erkenntnislehre
Social epistemology
Frederick F. Schmitt
Sozialer Relativismus
Social relativism
Man Musgrave
Sozialismus
Socialism
Russell Keat John O‘Neill
Sozialphilosophie
Social sciences, philosophy of
David-Hillel Ruhen
Sozialtheorie und Recht
Social theory and law
Roger Cotterrell
Sozialwahl, Theorie der
Social choice
Man Hamlin
Sozialwissenschaft, Methodik der
Social science, methodology of
Alex Rosenberg
Sozialwissenschaft, Philosophie der zeitgenössischen
Social science, contemporary philosophy of
David Braybrooke
Sozinianismus
Socinianism
John Marshall
Soziobiologie
Sociobiology
Alex Rosenberg
Spencer, Herbert
Spencer, Herbert
Tim S. Gray
Spinoza, Benedict de
Spinoza, Benedict de
Henry E. Allison
Sprachakt
Speech acts
Kent Bach
Sprache des Denkens
Language of thought
Georges Rey
Sprache, Angeborensein der
Language, innateness of
Fiona Cowie
XLI
Register
Sprache, Philosophie der
Language, philosophy of
Mark Crimmins
Staatsangehörigkeit
Citizenship
Will Kymlicka
Statistik
Statistics
James Woodward
Statistik und Sozialwissenschaft
Statistics and social science
Peter Spirtes
Stewart, Dugald
Stewart, Dugald
Edward H. Madden
Stirner, Max
Stirner, Max
David Leopold
Stoizismus
Stoicism
David Sedley
Strawson, Peter Frederick
Strawson, Peter Frederick
Paul F. Snowdon
Strukturalismus
Structuralism
Jonathan Culler
Strukturalismus in den Sozialwissenschaften
Structuralism in social science
Theodore R. Schatzki
Strukturalismus in der Sprachwissenschaft
Structuralism in linguistics
David Holdcroft
Suárez, Francisco
Suárez, Francisco
John P. Doyle
Subliminierung, die
Sublime, the
Paul Crowther
Substanz
Substance
Michael Ayers
Sünde
Sin
Philip L. Quinn
Supererogation
Supererogation
Gregory Velazco y Trianosky
Supervenienz
Supervenience
Simon Blackburn
Syntax
Syntax
Stephen Neale
Tanabe Hajime
Tanabe Hajime
Himi Kiyoshi
Tarski, Alfred
Tarski, Alfred
Roman Murawski
T
XLII
Register
Tatsache und Wert, Unterscheidung von
Fact/value distinction
Roger Crisp Faith Nicholas P. Nicholas P. Wolterstorff
Tatsachen
Facts
Alex Oliver
Taxonomie
Taxonomy
David L. Hull
Taylor, Charles
Taylor, Charles
Craig Calhoun
Technē
Technē
Tad Brennan
Technologie und Ethik
Technology and ethics
Carl Mitcham Helen Nissenbaum
Technologie, Philosophie der
Technology, philosophy of
Peter Kroes
Teleologie
Teleology
Andrew Woodfield
Teleologische Ethik
Teleological ethics
Christine M. Korsgaard
Telos
Telos
Tad Brennan
Tertullian, Quintus Septimus Florens
Tertullian, Quintus Septimus Florens
John Peter Kenney
Thales
Thales
Richard McKirahan
Theoretische (erkenntnis theoretische) Tugenden
Theoretical (epistemic) virtues
William G. Lycan
Theorie der Arten
Theory of types
Nino B. Cocchiarella
Theorien, wissenschaftliche
Theories, scientific
Frederick Suppe
Thermodynamik
Thermodynamics
Lawrence Sklar
Thomas von Aquin
Aquinas, Thomas
Norman Kretzmann Eleonore Stump
Thomismus
Thomism
John J. Haldane
Thoreau, Henry David
Thoreau, Henry David
Timothy Gould
XLIII
Register
Tiere und Ethik
Animals and ethics
James Rachels
Tierische Sprache und tierisches Denken
Animal language and thought
Dale Jamieson
Tod
Death
Fred Felduran
Toleranz
Toleration
John Horton
Tolstoi, Count Lev Nikolaevich
Tolstoi, Count Lev Nikolaevich
Gary Saul Morson
Totalitarismus
Totalitarianism
Margaret Canovan
Tradition und Traditionalismus
Tradition and traditionalism
Anthony O‘Hear
Tragödie
Tragedy
Susan L. Feagin
Transzendentale Argumente
Transcendental arguments
Ross Harrison
Träume
Dreaming
Roberto Casati
Tugend und Laster
Virtues and vices
Bernard Williams
Tugendepistemologie
Virtue epistemology
Linda Zagzebski
Tugendethik
Virtue ethics
Roger Crisp
Turing machines
Turing machines
Guglielmo Tamburrini
Turing, Alan Mathison
Turing, Alan Mathison
James H. Moor
Type/TokenUnterscheidung
Type/token distinction
Linda Wetzel
Übersetzung, Fundamentale, und fundamentale Interpretation
Radical translation and radical interpretation
Roger F. Gibson
Überzeugung und Glaube
Belief
David BraddonMitchell, Frank Jackson
Umweltethik
Environmental ethics
Andrew Brennan
U
XLIV
Register
Umweltpolitik, Philosophie der
Green political philosophy
Terence Ball
Unbewusste geistige Zustände
Unconscious mental states
Georges Rey
Uneindeutigkeit
Ambiguity
Kent Bach
Unendlichkeit
Infinity
A.W. Moore
Universalia
Universals
John C. Bigelow
Universalismus in der Ethik
Universalism in ethics
Onora O‘Neill
Unparteilichkeit
Impartiality
John Cottingham
Unterbestimmtheit
Underdetermination
Larry Laudan
Ursachen und Gründe
Reasons and causes
Michael Smith
Ursprung des Lebens
Life, origin of
Lenny Moss
Utilitarismus
Utilitarianism
Roger Crisp Tim Chappell
Utopismus
Utopianism
Lyman Tower Sargent
Vagheit
Vagueness
Michael Tye
Vaihinger, Hans
Vaihinger, Hans
Christopher AdairToteff
Vedānta
Vedānta
Stephen H. Phillips
Veränderung
Change
Robin Le Poidevin
Verantwortung
Responsibility
R.A. Duff
Verbrechen und Strafe
Crime and punishment
R.A. Duff
Vererbungslehre
Genetics
Lindley Darden
Vernunft
Logos
Christopher Stead
Vernunft, praktische
Rationality, practical
Jean Hampton
V
XLV
Register
Verpflichtung, politische
Obligation, political
John Simmons
Versprechung
Promising
T.M. Scanlon
Vertrauen
Trust
Karen Jones
Vertretung, politische
Representation, political
Andrew Reeve
Vico, Giambattista
Vico, Giambattista
Leon Pompa
Vitalismus
Vitalism
William Bechtel, Robert C. Richardson
Vitoria, Francisco de
Vitoria, Francisco de
Anthony Pagden
Voltaire (FrançoisMarie Arouet)
Voltaire (FrançoisMarie Arouet)
David Williams
Voluntarismus
Voluntarism
Brian Leftow
Von Wright, Georg Henrik
Von Wright, Georg Henrik
Ilkka Niiniluoto
Voraussetzung
Presupposition
Ian Rumfitt
Vorhölle
Limbo
Linda Zagzebski
Wahrhaftigkeit
Truthfulness
Sissela Bok
Wahrheit, deflationäre Theorien der
Truth, deflationary theories of
Richard L. Kirkham
Wahrheit, Kohärenztheorie der
Truth, coherence theory of
Richard L. Kirkham
Wahrheit, Korrespondenz theorie der
Truth, correspondence theory of
Richard L. Kirkham
Wahrheit, pragmatische Theorie der
Truth, pragmatic theory of
Richard L. Kirkham
Wahrnehmung
Perception
M.G.E Martin
W
XLVI
Register
Wahrscheinlichkeit, Interpretation der
Probability, interpretations of
Paul Humphreys
Wandel
Transition
Georg Sultan
Wang Yangming
Wang Yangming
Shun Kwong-Loi
Weber, Max
Weber, Max
Stephen P. Turner, Regis A. Factor
Weil, Simone
Weil, Simone
Rowan Williams
Weltraum
Space
Roberto Torretti
Whewell, William
Whewell, William
Menachem Fisch
Whitehead, Alfred North
Whitehead, Alfred North
James Bradley
Wiener Kreis
Vienna Circle
Friedrich Stadler
Wille, der
Will, the
Thomas Pink
William of Ockham
William of Ockham
Claude Panaccio
Williams, Bernard Arthur Owen
Williams, Bernard Arthur Owen
Ross Harrison
Wirtschaftsethik
Business ethics
Tom Sorell
Wirtschafts wissenschaft und Ethik
Economics and ethics
Daniel Hausman, Michael S. McPherson
Wissen, stillschweigendes
Knowledge, tacit
C.E Delaney
Wissenschaftliche Methode
Scientific method
Gary Hatfield
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Scientific realism and antirealism
Arthur Fine
Wissenschafts philosophie
Science, philosophy of
John Worrall
Wissenssoziologie
Sociology of knowledge
David Bloor
XLVII
Register
Wittgenstein, Ludwig Josef Johann
Wittgenstein, Ludwig Josef Johann
Jane Heal
Wohlfahrt
Welfare
Albert Weale
Wohlwollens, Prinzip des
Charity, principle of
Richard Feldman
Wolff, Christian
Wolff, Christian
Charles A. Corr
Wollstonecraft, Mary
Wollstonecraft, Mary
Susan Khin Zaw
Wunder
Miracles
David Basinger
Wundt, Wilhelm
Wundt, Wilhelm
Jens Brockmeier
Wunsch
Desire
Philip Pettit
Wyclif, John
Wyclif, John
Jeremy Catto
Xunzi
A.S. Cua
Yin-Yang
Roger T. Ames
Zeit
Time
Lawrence Sklar
Zeitform und Zeitlogik
Tense and temporal Logic
Quentin Smith
Zeitreise
Time travel
Paul Horwich
Zeno of Citium
Zeno of Citium
David Sedley
Zeno of Elea
Zeno of Elea
Stephen Makin
Zeugnis
Testimony
C.AJ. Coady
Zeugnis in der indischen Philosophie, Das
Testimony in Indian philosophy
Purushottama Bilimoria
X Xunzi Y Yin-Yang Z
XLVIII
Register
Zitat, Unterschied des Wortgebrauchs und der Gegenstands erwähnung beim
Use/mention distinction and quotation
Corey Washington
Ziviler Ungehorsam
Civil disobedience
Kent Greenawalt
Zoroastrismus
Zoroastrianism
Alan Williams
Zufälligkeit
Randomness
William A. Dembski
Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber
Future generations, obligations to
Avner De-Shalit
Zusammenhang, Einzelheit und
Coherency, Particularity and
Georg Sultan
Zustimmung
Consent
A. John Simmons
Zwang
Coercion
Joel Feinberg
Zweifel
Doubt
Michael Williams
XLIX
Die Beiträge und ihre Autoren Englisch-deutscher Index A A posteriori
A posteriori
Paul K. Moser
A priori
A priori
Paul K. Moser
Abduction
Abduktiver Schluss
Georg Sultan
Abälard, Peter
Abälard, Peter
Martin M. Tweedale
Absolute, the
Absolute, das
T.L.S. Sprigge
Absolutism
Absolutismus
Anthony Pagden
Abstract objects
Abstrakte Gegenstände
Bob Haie
Action
Handlung
Jennifer Hornsby
Adorno, Theodor Wiesengrund
Adorno, Theodor Wiesengrund
J.M. Bernstein
Aesthetic attitude
Ästhetische Haltung
Malcolm Budd
Aesthetic concepts
Ästhetische Konzepte
Marcia Eaton
Aesthetics
Ästhetik
Malcolm Budd
Aesthetics and ethics
Ästhetik und Ethik
Michael Tanner
Affirmative action
Diskriminierung, positive
Bernard Boxill
African philosophy
Afrikanische Philosophie
K. Anthony Appiah
African philosophy, Anglophone
Afrikanische Philosophie, englischsprachige
Kwasi Wiredu
African philosophy, Francophone
Afrikanische Philosophie, französischsprachige
F. Abiola Irele
Agnosticism
Agnostizismus
William L. Rowe
Agrippa von Nettesheim, Henricus
Agrippa von Nettesheim, Henricus
Michael H. Keefer
L
Register
Cornelius
Cornelius
Akrasia
Akrasie
Helen Steward
Albert the Great
Albert der Große
Alain De Libera
Alchemy
Alchimie
Michela Pereira
Alienation
Entfremdung
Allen W. Wood
Alighieri, Dante
Alighieri, Dante
Dominik Perler
Alterity and identity, postmodern theories of
Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der
Peter Fenves
Althusser, Louis Pierre
Althusser, Louis Pierre
Alex Callinicos
Ambiguity
Uneindeutigkeit
Kent Bach
Analysis, philosophical issues in
Analysis, philosophische Aspekte der
I. Grattan-Guinness
Analytical philosophy
Analytische Philosophie
Thomas Baldwin
Analyticity
Analytizität
George Bealer
Anaphora
Anapher
Nicholas Asher
Anarchism
Anarchismus
George Crowder
Anaximander
Anaximander
Richard McKirahan
Anaximenes
Anaximenes
Richard McKirahan
Ancient philosophy
Antike Philosophie
David Sedley
Animal language and thought
Tierische Sprache und tierisches Denken
Dale Jamieson
Animals and ethics
Tiere und Ethik
James Rachels
Anomalous monism
Anomaler Monismus
Brian P. McLaughlin
Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret
Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret
Michael Thompson
Anselm of Canterbury
Anselm von Canterbury
Jasper Hopkins
LI
Register
Anthropology, philosophy of
Anthropologie, Philosophy der
Merrilee H. Salmon
Anti-Semitism
Antisemitismus
Oliver Leaman, Clive Nyman
Apel, Karl-Otto
Apel, Karl-Otto
Matthias Kettner
Applied ethics
Angewandte Ethik
Brenda Almond
Aquinas, Thomas
Thomas von Aquin
Norman Kretzmann Eleonore Stump
Archē
Archē
Richard McKirahan
Architecture, aesthetics of
Architektur, Ästhetik der
John J. Haldane
Arendt, Hannah
Arendt, Hannah
B. Parekh
Aretē
Aretē
David Sedley
Aristotle
Aristoteles
T.H. Irwin
Arithmetic, philosophical issues in
Arithmetik, philosophische Aspekte der
Michael Potter
Arnauld, Antoine
Arnauld, Antoine
Steven Nadler
Art, abstract
Abstrakte Kunst
John H. Brown
Art and morality
Kunst und Sittlichkeit
Michael Tanner
Art and truth
Kunst und Wahrheit
Paul Taylor
Art criticism
Kunstkritik
Colin Lyas
Art, definition of
Kunst, Definition der
Stephen Davies
Art, understanding of
Kunst, Verständnis der
Colin Lyas
Art, value of
Kunst, Nutzen der
Malcolm Budd
Art works, ontology of
Kunstwerke, Ontologie der
Gregory Currie
Artificial intelligence
Künstliche Intelligenz
Margaret A. Boden
Artistic expression
Künstlerischer Ausdruck
Stephen Davies
LII
Register
Artist‘s intention
Künstlers, Absicht des
Paul Taylor
Asceticism
Askese
Philip L. Quinn
Atheism
Atheismus
William L. Rowe
Atomism, ancient
Atomismus, antiker
David Sedley
Augustine
Augustinus
Gareth B. Matthews
Austin, John
Austin, John
Robert N. Moles
Austin, John Langshaw
Austin, John Langshaw
J.O. Urmson
Authority
Autorität
Leslie Green
Autonomy, ethical
Autonomie, ethische
Andrews Reath
Ayer, Alfred Jules
Ayer, Alfred Jules
Graham Macdonald
Bachelard, Gaston
Bachelard, Gaston
Mary Tiles
Bacon, Francis
Bacon, Francis
J.R. Milton
Bacon, Roger
Bacon, Roger
Georgette Sinkler
Bakhtin, Mikhail Mikhailovich
Bachtin, Michail Michailowitsch
Gary Saul Morson
Bakunin, Mikhail Aleksandrovich
Bakunin, Michail Aleksandrowitsch
Aileen Kelly
Barthes, Roland
Barthes, Roland
James Risser
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Baumgarten, Alexander Gottlieb
Dabney Townsend
Bayle, Pierre
Bayle, Pierre
Charles Larmore
Beattie, James
Beattie, James
Paul Wood
Beauty
Schönheit
John H. Brown
Beauvoir, Simone de
Beauvoir, Simone de
Eva Lundgren-Gothlin
Beccaria, Cesare Bonesana
Beccaria, Cesare Bonesana
Richard Bellamy
B
LIII
Register
Behaviourism, analytic
Behaviorismus, analytischer
David BraddonMitchell
Behaviourism, methodological and scientific
Behaviorismus, methodischer und wissenschaftlicher
C.R. Gallistel
Being
Sein
Mark Okrent
Belief
Überzeugung und Glaube
David BraddonMitchell, Frank Jackson
Belinskii, Vissarion Grigorievich
Belinskij, Vissarion Grigorievich
Victor Terras
Bell‘s theorem
Bell’s Theorem
Arthur Fine
Benjamin, Walter
Benjamin, Walter
Julian Roberts
Bentham, Jeremy
Bentham, Jeremy
Ross Harrison
Berdiaev, Nikolai Aleksandrovich
Berdiajew, Nikolai Aleksandrovich
James P. Scanlan
Bergson, Henri-Louis
Bergson, Henri-Louis
A.R. Lacey
Berkeley, George
Berkeley, George
Ian Tipton
Berlin, Isaiah
Berlin, Isaiah
Bernard Williams
Bioethics
Bioethik
R.G. Frey
Blackstone, William
Blackstone, William
N.E. Simmonds
Bloch, Ernst Simon
Bloch, Ernst Simon
Vincent Geoghegan
Bobbio, Norberto
Bobbio, Norberto
Patrizia Borselhno
Bodin, Jean
Bodin, Jean
Julian H. Franklin
Boehme, Jakob
Boehme, Jakob
Jean-Loup Seban
Boethius, Anicius Manlius Severinus
Boethius, Anicius Manlius Severinus
Henry Chadwick
Bohr, Niels
Bohr, Niels
Mara Beller
Bolzano, Bernard
Bolzano, Bernard
Wolfgang Künne
Bonaventure
Bonaventure
Bonnie Kent
LIV
Register
Boolean algebra
Boolean Algebra
J.L. Bell
Bosanquet, Bernard
Bosanquet, Bernard
Peter P. Nicholson
Boyle, Robert
Boyle, Robert
Rose-Mary Sargent
Bradley, Francis Herbert
Bradley, Francis Herbert
Stewart Candlish
Brahman
Brahman
Stephen H. Phillips
Brentano, Franz Clemens
Brentano, Franz Clemens
Roderick M. Chisholm Peter Simons
Bruno, Giordano
Bruno, Giordano
EJ. Ashworth
Buber, Martin
Buber, Martin
Tamra Wright
Buddhist philosophy, Chinese
Buddhistische Philosophie, chinesische
Dan Lusthaus
Buddhist philosophy, Indian
Buddhistische Philosophie, Indische
Richard P. Hayes
Buddhist philosophy, Japanese
Buddhistische Philosophie, japanische
John C. Maraldo
Buddhist philosophy, Korean
Buddhistische Philosophie, koreanische
Sungtaek Cho
Buridan, John
Buridan, John
Jack Zupko
Burke, Edmund
Burke, Edmund
Iain Hampsher-Monk
Business ethics
Wirtschaftsethik
Tom Sorell
Butler, Joseph
Butler, Joseph
R.G. Frey
Calvin, John
Calvin, John
Ronald J. Feenstra
Cambridge Platonism
Cambridge Platonismus
Frederick Beiser
Campanella, Tommaso
Campanella, Tommaso
John M. Headley
C
LV
Register
Campbell, Norman Robert
Campbell, Norman Robert
D.H. Mellor
Camus, Albert
Camus, Albert
David A. Sprintzen
Cantor, Georg
Cantor, Georg
Ulrich Majer
Cantor‘s theorem
Cantor‘s Theorem
Mary Tiles
Carnap, Rudolf
Carnap, Rudolf
Richard Creath
Carneades
Carneades
Jonathan Barnes
Cassirer, Ernst
Cassirer, Ernst
Donald Phillip Verene
Categories
Kategorien
Robert Wardy
Causation
Kausalität
Nancy Cartwright
Causation in the law
Kausalität, Rechtliche
Richard W. Wright
Causation, Indian theories of
Kausalität, Indische Theorien der
Roy W. Perrett
Cavell, Stanley
Cavell, Stanley
Stephen Mulhall
Cavendish, Margaret Lucas
Cavendish, Margaret Lucas
Eileen O‘Neill
Change
Veränderung
Robin Le Poidevin
Chaos theory
Chaostheorie
Stephen H. Kellert
Charity, principle of
Wohlwollens, Prinzip des
Richard Feldman
Chinese philosophy
Chinesische Philosophie
David L. Hall Roger T. Ames
Chinese room argument
Chinesischen Raumes, Argument des
Robert Van Gulick
Chisholm, Roderick Milton
Chisholm, Roderick Milton
David Benfield
Chomsky, Noam
Chomsky, Noam
Norbert Hornstein
Christine de Pizan
Christine de Pizan
Charity Cannon Willard
LVI
Register
Church‘s theorem and the decision problem
Church‘s theorem and the decision problem
Rohit Parikh
Church‘s thesis
Church‘s These
Stewart Shapiro
Cicero, Marcus Tullius
Cicero, Marcus Tullius
Stephen A. White
Citizenship
Staatsangehörigkeit
Will Kymlicka
Civil disobedience
Ziviler Ungehorsam
Kent Greenawalt
Clarke, Samuel
Clarke, Samuel
Stephen Gaukroger
Cloning
Klonen
John Harris Simona Giordano
Coercion
Zwang
Joel Feinberg
Cognitivism
Kognitivismus
Georg Sultan
Cohen, Hermann
Cohen, Hermann
Michael Zank
Coherency, Particularity and
Zusammenhang, Einzelheit und
Georg Sultan
Collingwood, Robin George
Collingwood, Robin George
Simon Blackburn
Colour and qualia
Farbe und Qualia
Joseph Levine
Colour, theories of
Farbe, Theorie der
David R. Hilbert
Comedy
Komödie
John Morreall
Common Sense School
Common-Sense-Schule
Edward H. Madden
Commonsensism
Alltagsphilosophie
Roderick M. Chisholm
Communication and intention
Kommunikation und Intention
Simon Blackburn
Communicative rationality
Kommunikative Rationalität
Peter Dews
Communism
Kommunismus
Lyman Tower Sargent
Community and communitarianism
Gemeinschaft und Kommunitarismus
Allen Buchanan
LVII
Register
Compositionality
Kompositionalität
Mark Richard
Computability theory
Berechenbarkeits theorie
Daniele Mundici Wilfried Sieg
Computer science
Computerwissenschaft
John Winnie
Comte, IsidoreAuguste-MarieFrançois-Xavier
Comte, IsidoreAuguste-MarieFrançois-Xavier
Angele KremerMarietti
Concepts
Begriffe
Georges Rey
Condillac, Etienne Bonnot de
Condillac, Etienne Bonnot de
Paul F. Johnson
Condorcet, MarieJean-Antoine-Nicolas Caritat de
Condorcet, MarieJean-Antoine-Nicolas Caritat de
David Williams
Confirmation theory
Bestätigungstheorie
Theo A.F. Kuipers
Confucian philosophy, Chinese
Konfuzianische Philosophie, Chinesische
A.S. Cua
Confucius
Konfuzius
D.C. Lau Roger T. Arnes
Connectionism
Konnektionismus
Brian P. McLaughlin
Consciousness
Bewusstsein
Eric Lormand
Consent
Zustimmung
A. John Simmons
Consequentialism
Konsequenzialismus
David McNaughton
Conservatism
Konservatismus
Anthony O‘Hear
Constitutionalism
Konstitutionalismus
Ulrich K. Preuß
Constructivism
Konstruktivismus
Stephen M. Downes
Content, nonconceptual
Inhalt, Nichtbegrifflicher
Tim Crane
Content: wide and narrow
Inhalt: ‘weiter’ und ‘enger’
Kent Bach
Contextualism, epistemological
Kontextualismus, epistemologischer
Bruce W. Brower
LVIII
Register
Continuants
Fortbestehende Dinge
Robin Le Poidevin
Continuum hypothesis
Kontinuum-Hypothese
Mary Tiles
Contractarianism
Kontraktualismus
Samuel Freeman
Conventionalism
Konventionalismus
Paul Horwich
Conway, Anne
Conway, Anne
Sarah Hutton
Copernicus, Nicolaus
Copernicus, Nicolaus
Ernan McMullin
Cosmology
Kosmologie
Ernan McMullin
Counterfactual conditionals
Kontrafaktische Konditionalsätze
Frank Döring
Cousin, Victor
Cousin, Victor
David Leopold
Crime and punishment
Verbrechen und Strafe
R.A. Duff
Criteria
Kriterium
Marie Mcginn
Critical realism
Kritischer Realismus
Andrew Collier
Critical theory
Kritische Theorie
Raymond Geuss
Croce, Benedetto
Croce, Benedetto
Richard Bellamy
Crucial experiments
Schlüsselexperimente
Peter Achinstein Cudworth, Ralph Sarah Hutton
Culture
Kultur
Anthony O‘Hear
Daoist philosophy
Daoistische Philosophie
David L. Hall Roger T. Ames
Darwin, Charles Robert
Darwin, Charles Robert
Peter J. Bowler
Davidson, Donald
Davidson, Donald
Ernie Lepore
De re / de dicto
De re / de dicto
Andre Gallois
Death
Tod
Fred Felduran
Decision and game theory
Entscheidungs- und Spieltheorie
Cristina Bicchieri
D
LIX
Register
Deconstruction
Dekonstruktion
Christopher Norris
Dedekind, Julius Wilhelm Richard
Dedekind, Julius Wilhelm Richard
Howard Stein
Deductive closure principle
Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der
Anthony Brueckner
Definition
Definition
G. Aldo Antonelli
Deism
Deismus
William L. Rowe
Deleuze, Gilles
Deleuze, Gilles
Dorothea E. Olkowski
Demarcation problem
Abgenzungsproblem, Das
Peter Achinstein
Democracy
Demokratie
Ross Harrison
Democritus
Demokrit
C.C.W. Taylor
Demonstratives and indexicals
Demonstrative und indexikalische Zeichen
Harry Deutsch
Dennett, Daniel Clement
Dennett, Daniel Clement
William G. Lycan
Deontic Logic
Deontische Logik
Marvin Belzer
Deontological ethics
Deontologische Ethik
David McNaughton
Depiction
Abbildung
R.D. Hopkins
Derrida, Jacques
Derrida, Jacques
Andrew Cutrofello
Descartes, René
Descartes, René
Daniel Garber
Descriptions
Beschreibung
Stephen Neale
Desire
Wunsch
Philip Pettit
Determinism and indeterminism
Determinismus und Indeterminismus
Jeremy Butterfield
Dewey, John
Dewey, John
James Gouinlock
Dialectical materialism
Dialektischer Materialismus
Allen W. Wood
Diderot, Denis
Diderot, Denis
Robert Wokler
LX
Register
Dilthey, Wilhelm
Dilthey, Wilhelm
Rudolf A. Makkreel
Diogenes Laertius
Diogenes Laertius
David T. Runia
Diogenes of Sinope
Diogenes von Sinope
R. Bracht Branham
Discovery, Logic of
Entdeckung, Logik der
Thomas Nickles
Discrimination
Diskriminierung
James W. Nickel
Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll)
Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll)
Peter Heath
Dögen
Dögen
Thomas P. Kasulis
Dostoevskii, Fedor Mikhailovich
Dostojewski, Fedor Mikhailovich
Gary Saul Morson
Double effect, principle of
Doppler-Effekts, Prinzip des
Suzanne Uniacke
Doubt
Zweifel
Michael Williams
Dreaming
Träume
Roberto Casati
Dualism
Dualismus
David M. Rosenthal
Duhem, Pierre Maurice Marie
Duhem, Pierre Maurice Marie
Don Howard
Dummett, Michael Anthony Eardley
Dummett, Michael Anthony Eardley
Barry Taylor
Duns Scotus, John
Duns Scotus, Johannes
Stephen D. Dumont
Duty and virtue, Indian conceptions of
Pflicht und Tugend, Indische Konzeptionen der
John A. Taber
Dworkin, Ronald
Dworkin, Ronald
E. A. Christodoulidis
East Asian philosophy
Ostasiatische Philosophie
Roger T. Ames
Eclecticism
Eklektizismus
Chris McClellan
Ecological philosophy
Ökologische Philosophie
Freya Mathews
E
LXI
Register
Economics and ethics
Wirtschaftswissen schaft und Ethik
Daniel Hausman, Michael S. McPherson
Education, philosophy of
Erziehung, Philosophie der
Randall R. Curren
Edwards, Jonathan
Edwards, Jonathan
William J. Wainwright
Egoism and altruism
Egoismus und Altruismus
Richard Kraut
Einstein, Albert
Einstein, Albert
Arthur Fine Don Howard John D. Norton
Eliminativism
Eliminativismus
Georges Rey
Emerson, Ralph Waldo
Emerson, Ralph Waldo
Russell B. Goodman
Emotion in response to art
Gefühle als Antwort auf Kunst
Jerrold Levinson
Emotions, nature of
Gefühle, Wesen der
Robert C. Solomon
Emotions, philosophy of
Gefühle, Philosophie der
Robert C. Solomon
Emotive meaning
Emotive Bedeutung
David Philips
Emotivism
Emotivismus
Michael Smith
Empedocles
Empedokles
Malcolm Schofield
Empiricism
Empirismus
William P. Alston
Engels, Friedrich
Engels, Friedrich
Terrell Carver
Enlightenment, Continental
Aufklärung, kontinentaleuropäische
Robert Wokler
Enlightenment, Scottish
Aufklärung, schottische
Christopher J. Berry
Environmental ethics
Umweltethik
Andrew Brennan
Epicureanism
Epikureismus
David Sedley
Epiphenomenalism
Epiphänomenalismus
Keith Campbell Nicholas J .J. Smith
Epistemology
Erkenntnistheorie
Peter D. Klein
LXII
Register
Epistemology and ethics
Erkenntnistheorie und Ethik
Richard Feldman
Epistemology, history of
Erkenntnistheorie, Geschichte der
George S. Pappas
Epistemology, Indian schools of
Erkenntnistheorie, Schule der
Stephen H. Philips
Equality
Gleichheit
Albert Weale
Erasmus, Desiderius
Erasmus, Desiderius
Erika Rummel
Eriugena, Johannes Scottus
Eriugena, Johannes Scottus
Dermot Moran
Essentialism
Essentialismus
Stephen Yablo
Eternity
Ewigkeit
Eleonore Stump Norman Kretzmann
Ethics
Ethik
Roger Crisp
Eudaimonia
Eudämonie
C.C.W. Taylor
Events
Ereignisse
D.H. Mellor
Evil, problem of
Problem des Bösen
Marilyn McCord Adams
Evolution and ethics
Evolution und Ethik
Elliott Sober
Evolution, theory of
Evolution, Theorie der
Elisabeth A. Lloyd
Existence
Existenz
Penelope Mackie
Existentialism
Existenzialismus
Charles B. Guignon
Experiment
Experiment
Margaret C. Morrison
Explanation
Erklärung
Philip Kitcher
Explanation in history and social science
Erklärung in historischer und sozialer Wissenschaft
David-Hillel Ruben
Facts
Tatsachen
Alex Oliver
Fact/value distinction
Tatsache und Wert, Unterscheidung von
Roger Crisp Faith Nicholas P. Nicholas P. Wolterstorff
F
LXIII
Register
Fallibilism
Fallibilismus
Nicholas Rescher
Family, ethics and the
Familie, Ethik und die
William Ruddick
al-Farabi, Abu Nasr
al-Farabi, Abu Nasr
Ian Richard Netton
Fascism
Faschismus
Roger Eatwell
Fatalism
Fatalismus
Edward Craig
Fechner, Gustav Theodor
Fechner, Gustav Theodor
Daniel N. Robinson
Federalism and confederalism
Föderalismus und Konföderalismus
Wayne Norman
Feminism
Feminismus
Susan James
Feminist epistemology
Feministische Erkenntnistheorie
Lorraine Code
Feminist political philosophy
Feministische politische Philosophie
Susan Mendus
Feuerbach, Ludwig Andreas
Feuerbach, Ludwig Andreas
Hans-Martin Sass
Feyerabend, Paul Karl
Feyerabend, Paul Karl
Michael Williams
Fichte, Johann Gottlieb
Fichte, Johann Gottlieb
Daniel Breazeale
Ficino, Marsilio
Ficino, Marsilio
James Hankins
Fictional entities
Fiktionale Entitäten
Peter Lamarque
Film, aesthetics of
Films, Ästhetik des
Gregory Currie
Filmer, Sir Robert
Filmer, Sir Robert
Johann P. Sommerville
Fodor, Jerry Alan
Fodor, Jerry Alan
Peter Godfrev-Smith
Folk psychology
Alltagspsychologie
Stephen P. Stich Georges Rey
Formalism in art
Formalismus in der Kunst
Malcolm Budd
Forms, Platonic
Formen, platonische
Tad Brennan
Foucault, Michel
Foucault, Michel
Gary Gutting
LXIV
Register
Foundationalism
Letztbegründungs philosophie
Ernest Sosa
Fourier, Charles
Fourier, Charles
David Leopold
Frankfurt School
Frankfurter Schule
Axel Honneth
Free Logics
Freie Logiken
Ermanno Bencivenga
Free will
Freier Wille
Galen Strawson
Freedom and liberty
Freiheit
Joel Feinberg
Freedom, divine
Göttliche Freiheit
William L. Rowe
Freedom of speech
Meinungsfreiheit
Peter Jones
Frege, Gottlob
Frege, Gottlob
Alexander George Richard Heck
Freud, Sigmund
Freud, Sigmund
James Hopkins
Friendship
Freundschaft
Neera K. Badhwar
Functional explanation
Funktionale Erklärungen
Richard N. Manning
Functionalism
Funktionalismus
David Papineau
Future generations, obligations to
Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber
Avner De-Shalit
Fuzzy logic
Logik der Vagheit
Charles G. Morgan
Gadamer, HansGeorg
Gadamer, Hans-Georg
Kathleen Wright
Galilei, Galileo
Galilei, Galileo
Ernan McMullin
Gassendi, Pierre
Gassendi, Pierre
Margaret J. Osler
Genealogy
Genealogie
R. Kevin Hill
General will
Gemeinwille
Peter P. Nicholson
Genetic modification
Genetische Veränderung
Mark Tester Edward Craig
Genetics
Vererbungslehre
Lindley Darden
G
LXV
Register
Genetics and ethics
Genetik und Ethik
Ruth Chadwick
Gentile, Giovanni
Gentile, Giovanni
Richard Bellamy
German idealism
Deutscher Idealismus
Paul Franks
Gestalt psychology
Gestaltpsychologie
Barry Smith
Gettier problem
Gettier problem
Edward Craig
al-Ghazali, Abu Hamid
al-Ghazali, Abu Hamid
Kojiro Nakamura
Globalization
Globalisierung
Jan Aart Scholte
Gnosticism
Gnostik
Christopher Stead
God, arguments for the existence of
Gott, Beweise für die Existenz von
Alvin Plantinga
God, concepts of
Gott, Begriffe von
Brian Leftow
Gödel‘s theorems
Gödel‘s Theoreme
Michael Detlefsen
Goethe, Johann Wolfgang von
Goethe, Johann Wolfgang von
Nicholas Boyle
Good, theories of the
Guten, Theorien des
Christine M. Korsgaard
Gorgias
Gorgias
Charles H. Kahn
Green political
Umweltpolitik,
Terence Ball
philosophy
Philosophie der
Green, Thomas Hill
Green, Thomas Hill
Richard Bellamy
Grice, Herbert Paul
Grice, Herbert Paul
Judith Baker
Grosseteste, Robert
Grosseteste, Robert
Scott MacDonald
Grotius, Hugo
Grotius, Hugo
J.D. Ford
Gurney, Edmund
Gurney, Edmund Jerrold Levinson
Jerrold Levinson
Habermas, Jürgen
Kenneth Baynes
H Habermas, Jürgen
LXVI
Register
Haeckel, Ernst Heinrich
Haeckel, Ernst Heinrich
Paul Weindling
Halakhah
Halakhah
Noam J. Zohar
Hanslick, Eduard
Hanslick, Eduard
Peter Kivy
Happiness
Glück
J.P. Griffin
Hart, Herbert
Hart, Herbert
Lionel Adolphus Neil MacCormick
Hasidism
Chassidismus
Rachel Elior
Heaven
Himmel
Linda Zagzebski
Hedonism
Hedonismus
Justin Gosling
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Rolf-Peter Horstmann
Hegelianism
Hegelianismus
Robert Stern Nicholas Walker
Heidegger, Martin
Heidegger, Martin
Thomas Sheehan
Hell
Hölle
Marilyn McCord Adams
Helmont, Franciscus Mercurius van
Helmont, Franciscus Mercurius van
Stuart Brown
Heraclitus
Heraklit
A.A. Long
Herder, Johann Gottfried
Herder, Johann Gottfried
Frederick Beiser
Hermeneutics
Hermeneutik
Michael Inwood
Hermetism
Hermetismus
John Procope
Herzen, Aleksandr Ivanovich
Herzen, Alexander Iwanowitsch
Aileen Kelly
Hilbert‘s programme and formalism
Hilbert‘s Programme und Formalismus
Michael Detlefsen
Hildegard of Bingen
Hildegard von Bingen
Claudia Eisen Murphy
Hindu philosophy
Hinduistische Philosophie
Edeltraud Harzer Clear
LXVII
Register
Historicism
Historizismus
Christopher Thornhill
History, philosophy of
Geschichte, Philosophie der
Gordon Graham
Hobbes, Thomas
Hobbes, Thomas
Tom Sorell
Hohfeld, Wesley Newcomb
Hohfeld, Wesley Newcomb
Neil MacCormick
Holism and individualism in history and social science
Holismus und Individualismus in der Geschichte der Sozialwissenschaften
Rajeev Bhargava
Holism: mental and semantic
Holismus, Mentaler bzw. semantischer
Ned Block
Holocaust, the
Holocaust, der
Steven T. Katz Hooker, Richard A.S. McGrade
Human nature
Natur des Menschen
Ian Shapiro
Humanism, Renaissance
Humanismus in der Renaissance
John Monfasani
Humboldt, Wilhelm von
Humboldt, Wilhelm von
Frederick Beiser
Hume, David
Hume, David
Don Garrett
Humour
Humor
Jerrold Levinson
Hus, Jan
Hus, Jan
Curtis V. Bostick
Husserl, Edmund
Husserl, Edmund
Dagfinn Follesdal
Hutcheson, Francis
Hutcheson, Francis
David Fate Norton
Hypatia
Hypatia
Lucas Siorvanes
Ibn Rushd, Abu‘l Walid Muhammad
Ibn Rushd, Abu‘l Walid Muhammad
Oliver Leaman
Ibn Sina, Abu `All al-Husayn
Ibn Sina, Abu `All alHusayn
Salim Kemal
Idealism
Idealismus
T.L.S. Sprigge
I
LXVIII
Register
Idealizations
Idealisierungen
Ronald Laymon
Ideals
Ideale
Connie S. Rosati
Identity
Identität
Timothy Williamson
Identity of indiscernibles
Identität des Ununterscheidbaren
Peter Simons
Ideology
Ideologie
Michael Freeden
Imagination
Einbildungskraft
J. O‘Leary-Hawthorne
Impartiality
Unparteilichkeit
John Cottingham
Implicature
Implikatur
Wayne A. Davis
Implication, logical
Implikation, logische
Georg Sultan
Incommensurability
Inkommensurabilität
Dudley Shapere
Indian and Tibetan philosophy
Indische und Tibetanische Philosophie
Richard P. Hayes
Indicative conditionals
Hinweisende Konditionalsätze
Frank Jackson
Indirect discourse
Indirekter Diskurs
Gabriel Segal
Induction, epistemic issues in
Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der
Mark Kaplan
Inductive Inference
Induktiver Schluss
Patrick Maher
Inference to the best explanation
Schluss auf die beste Erklärung
Jonathan Vogel
Infinitary logics
Infinitistische Logik
Bernd Buldt
Infinity
Unendlichkeit
A.W. Moore
Information theory
Informationstheorie
Kenneth M. Sayre
Ingarden, Roman Witold
Ingarden, Roman Witold
Antoni B. Stepien
Innateness
Angeborene, Das
Edward Craig
LXIX
Register
Innateness in ancient philosophy
Angeborene in der griechischen Philosophie, Das
Dominic Scott
Intensional entities
Intensionale Wesenheiten
George Bealer
Intensional logics
Intensionale Logik
James W. Garson
Intensionality
Intensionalität
Simon Christmas
Intention
Intention
Robert Dunn
Intentionality
Intentionalität
Tim Grane
Internalism and externalism in epistemology
Internalismus und Externalismus in der Epistemologie
William P. Alston
International relations, philosophy of
Internationale Beziehungen, Philosopie der
Charles R. Beitz
Intuitionism
Intuitionismus
David Charles McCarty
Intuitionism in ethics
Intuitionismus, ethischer
Robert L. Frazier
Intuitionistic logic and antirealism
Intuitionistische Logik und Antirealismus
Peter Pagin
Irigaray, Luce
Irigaray, Luce
Tina Chanter
Islamic philosophy
Islamische Philosophie
Oliver Leaman
Jaina philosophy
Jainistische Philosophie
Jayandra Soni
James, William
James, William
Ruth Anna Putnam
Japanese philosophy
Japanesische Philosophie
Thomas P. Kasulis
Jaspers, Karl
Jaspers, Karl
Kurt Salamun
Jewish philosophy
Jüdische Philosophie
L.E. Goodman
J
LXX
Register
John of St Thomas
Johannes von St. Thomas
John P. Doyle
Johnson, Samuel
Johnson, Samuel
Charles J. McCracken
Journalism, ethics of
Journalismus, Ethik des
Andrew Belsey
Jung, Carl Gustav
Jung, Carl Gustav
George B. Hogenson
Justice
Gerechtigkeit
Brian Barry MattMatravers
Justice, corrective
Gerechtigkeit, korrigierende
Ernest J. Weinrib
Justification, epistemic
Begründung, Erkenntnistheoretische
Richard Foley
Kabbalah
Kabbalah
Oliver Leaman
Kant, Immanuel
Kant, Immanuel
Paul Guyer
Kantian ethics
Kantische Ethik
Onora O‘Neill
Katharsis
Katharsis
Glenn W. Most
Kelsen, Hans
Kelsen, Hans
Zenon Bafikowski
Kepler, Johannes
Kepler, Johannes
Ernan McMullin
Kierkegaard, Soren Aabye
Kierkegaard, Soren Aabye
Patrick Gardiner
Knowledge and justification, coherence theory of
Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorien der
Laurence Bonjour
Knowledge, concept of
Erkenntnis, Begriff der
Peter D. Klein
Knowledge, tacit
Wissen, stillschweigendes
C.E Delaney
Kotarbitiski, Tadeusz
Kotarbitiski, Tadeusz
B. Stanosz
Kripke, Saul Aaron
Kripke, Saul Aaron
Michael Jubien
Kristeva, Julia
Kristeva, Julia
Tina Chanter
K
LXXI
Register
Kuhn, Thomas Samuel
Kuhn, Thomas Samuel
Paul HoyningenHuene
Kūkai
Kūkai
Thomas P. Kasulis
La Mettrie, Julien Offroy de
La Mettrie, Julien Offroy de
Kathleen Wellman
Labriola, Antonio
Labriola, Antonio
Geoffrey Hunt
Lacan, Jacques
Lacan, Jacques
Thomas Brockelman
Lakatos, Imre
Lakatos, Imre
John Worrall
Lange, Friedrich Albert
Lange, Friedrich Albert
George J. Stack
Langer, Susanne Katherina Knauth
Langer, Susanne Katherina Knauth
Peg Brand
Language, innateness of
Sprache, Angeborensein der
Fiona Cowie
Language of thought
Sprache des Denkens
Georges Rey
Language, philosophy of
Sprache, Philosophie der
Mark Crimmins
Latin America, philosophy in
Lateinamerika, Philosophie in
Amy A. Oliver
Law and morality
Recht und Moral
N.E. Simmonds
Law, philosophy of
Rechtsphilosophie
Beverley Brown, Neil MacCormick
Laws, natural
Naturgesetze
C.A. Hooker
Lebensphilosophie
Lebensphilosophie
Jason Gaiger
Legal positivism
Rechtspositivismus
Mario Jori
Legal realism
Rechtsrealismus
Neil Duxbury
Legitimacy
Rechtmäßigkeit (einer Regierung)
David Beetham
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Daniel Garber
L
LXXII
Register
Lessing, Gotthold Ephraim
Lessing, Gotthold Ephraim
Dabney Townsend
Leucippus
Leukippos
C.C.W. Taylor
Levinas, Emmanuel
Levinas, Emmanuel
Robert Bernasconi
Lewis, Clarence Irving
Lewis, Clarence Irving
Sandra B. Rosenthal
Lewis, David Kellogg
Lewis, David Kellogg
Peter Van Inwagen
Liber de causis
Liber de causis
Hannes Jarka-Sellers
Liberalism
Liberalismus
Jeremy Waldron
Liberation philosophy
Befreiungsphilosophie
Horacio CeruttiGuldberg
Libertarianism
Libertinismus
Jonathan Wolff
Life and death
Leben und Tod
John Harris
Life, meaning of
Lebens, Sinn des
Susan Wolf
Life, origin of
Ursprung des Lebens
Lenny Moss
Limbo
Vorhölle
Linda Zagzebski
Llull, Ramon
Llull, Ramon
Mark D. Johnston
Locke, John
Locke, John
Michael Ayers
Logic, philosophy of
Logik, Philosophie der
Graeme Forbes
Logical atomism
Logischer Atomismus
Alex Oliver
Logical constants
Logische Konstanten
Timothy McCarthy
Logical positivism
Logischer Positivismus
Michael Friedman
Logicism
Logizismus
Howard Stein
Logos
Vernunft
Christopher Stead
Lombard, Peter
Lombard, Peter
Marcia L. Colish
Lotze, Rudolph Hermann
Lotze, Rudolph Hermann
David Sullivan
Love
Liebe
Martha C. Nussbaum LXXIII
Register
Löwenheim-Skolem theorems and nonstandard models
Löwenheim-Skolem Theoreme und NichtStandard-Modelle
W.D. Hart
Lucretius
Lucretius
Michael Erler
Lukcács, Georg
Lukcács, Georg
Alex Callinicos
Lukasiewicz, Jan
Lukasiewicz, Jan
Jan Wolenski
Luther, Martin
Luther, Martin
M.A. Higton
Lyotard, JeanFrangois
Lyotard, Jean-Frangois
David Carroll
Mach, Ernst
Mach, Ernst
Andy Hamilton
Machiavelli, Niccolò
Machiavelli, Niccolò
Mary G. Dietz
Maclntyre, Alasdair
Maclntyre, Alasdair
Alan Thomas
McTaggart, John and McTaggart Ellis
McTaggart, John und McTaggart, Ellis
Thomas Baldwin
Magic
Magie
Lauren Kassell
Maimonides, Moses
Maimonides, Moses
L.E. Goodman
Maistre, Joseph de
Maistre, Joseph de
Richard A. Lebrun
Malebranche, Nicolas
Malebranche, Nicolas
Steven Nadler
Mandeville, Bernard
Mandeville, Bernard
M.M. Goldsmith
Manicheism
Manichäismus
Christopher Kirwan
Many-valued logics
Mehrwertige Logik
Charles G. Morgan
Many-valued logics, philosophical issues in
Mehrwertige Logik, philosophische Fragen der
Lloyd Humberstone
Marcuse, Herbert
Marcuse, Herbert
Alex Callinicos
Marginality
Randgruppen
Amy A. Oliver
Market, ethics of the
Marktes, Ethik des
David Miller
Marx, Karl
Marx, Karl
Michael Rosen
M
LXXIV
Register
Marxism, Western
Marxismus, westlicher
John Torrance
Marxist philosophy, Russian and Soviet
Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
David Bakhurst
Mass terms
Masseausdrücke
Jeffry Pelletier
Materialism
Materialismus
George J. Stack
Materialism in the philosophy of mind
Materialismus in der Geistesphilosophie
Howard Robinson
Materialism, Indian school of
Materialismus, indische Schule des
Eli Franco Karin Preisendanz
Mathematics, foundations of
Mathematik, Fundamente der
Michael Detlefsen
Matter
Materie
Dudley Shapere
Maxwell, James Clerk
Maxwell, James Clerk
C.W.E Everitt
Mead, George Herbert
Mead, George Herbert
Hans Joas
Meaning and rulefollowing
Bedeutung und Regelfolgen
Barry C. Smith
Meaning and truth
Bedeutung und Wahrheit
Stephen G. Williams
Meaning and verification
Bedeutung und Verifikation
W.D. Hart
Meaning, Indian theories of
Bedeutung, indische Theorien der
Madhav M. Deshpande
Measurement, theory of
Maßtheorie
Patrick Suppes
Medical ethics
Medizinische Ethik
Daniel Wilder
Medieval philosophy
Mittelalterliche Philosophie
Scott Macdonald Norman Kretzmann
Meinong, Alexius
Meinong, Alexius
Peter Simons
Meister Eckhart
Meister Eckhart
Jan A. Aertsen
LXXV
Register
Melanchthon, Philipp
Melanchthon, Philipp
Peter Mack
Memory, epistemology of
Erinnerung, Epistemologie der
Earl Conee
Mencius
Mencius
Bryan W. Van Norden
Mendelssohn, Moses
Mendelssohn, Moses
Allan Arkush
Mental causation
Geistige Verursachung
Barry Loewer
Mental illness, concept of
Geisteskrankheit, Begriff der
Karen Neander
Mereology
Mereologie
Peter Forrest
Merleau-Ponty, Maurice
Merleau-Ponty, Maurice
Thomas Baldwin
Metaphor
Metapher
A.P. Martinich
Metaphysics
Metaphysik
Edward Craig
Methodological individualism
Methodologischer Individualismus
Gabriel Segal
Mill, John Stuart
Mill, John Stuart
John Skorupski
Mīmāsā
Mīmāsā
John A. Taber
Mimesis
Mimesis
Glenn W. Most
Mind, bundle theory of
Geist, Bündeltheorie des
Stewart Candlish
Mind, computational theories of
Geistes, Berechnungstheorien des
Ned Block Georges Rey
Mind, identity theory of
Geist, Identitätstheorie des
Frank Jackson
Mind, philosophy of
Geistes, Philosophie des
Frank Jackson Georges Rey
Miracles
Wunder
David Basinger
Modal logic
Modallogik
Steven T. Kuhn
Models
Modelle
Elisabeth A. Lloyd LXXVI
Register
Modularity of mind
Modularität des Geistes
Zenon W. Pylyshyn
Mohist philosophy
Mohistische Philosophie
Philip J. Ivanhoe
Molina, Luis de
Molina, Luis de
Alfred J. Freddoso
Molyneux problem
Molyneux-Problem, Das
Menno Lievers
Momentariness, Buddhist doctrine of
Augenblicks, Buddhistische Lehre des
Alexander Von Rospatt
Monism
Monismus
Edward Craig
Montaigne, Michel Eyquem de
Montaigne, Michel Eyquem de
Richard H. Popkin
Montesquieu, Charles Louis de Secondat
Montesquieu, Charles Louis de Secondat
Mark Hulliung
Moore, George Edward
Moore, George Edward
Thomas Baldwin
Moral agents
Moralische Akteure
Vinit Haksar
Moral judgment
Moralisches Urteil
Garrett Cullity
Moral justification
Moralische Begründung
T.M. Scanlon
Moral knowledge
Moralische Erkenntnis
Geoffrey SayreMcCord
Moral Luck
Moralisches Glück
Daniel Statman
Moral motivation
Moralische Beweggründe
R. Jay Wallace
Moral particularism
Moralischer Partikularismus
Roger Crisp
Moral psychology
Moralische Psychologie
Michael Slote
Moral realism
Moralischer Realismus
Jonathan Dancy
Moral relativism
Moralischer Relativismus
David B. Wong
LXXVII
Register
Moral scepticism
Moralischer Skeptizismus
Mark T. Nelson
Moral sense theories
Moralischen Empfindens, Theorien des
Jacqueline Taylor
Moral Sentiments
Moralisches Empfinden
R. Jay Wallace
Morality and emotions
Moral und Gefühle
Martha C. Nussbaum
Morality and ethics
Moral und Ethik
John Skorupski
More, Thomas
Morus, Thomas
Clare M. Murphy
Motoori Norinaga
Motoori Norinaga
Thomas P. Kasulis
Mozi
Mozi
Robin D.S. Yates
Multiculturalism
Multikulturalismus
Arthur Ripstein
Murdoch, Iris
Murdoch, Iris
Thomas Norgaard
Music, aesthetics of
Musik, Ästhetik der
Jerrold Levinson
Næss, Arne
Næss, Arne
Ingemund Gullväg
Nagel, Ernest
Nagel, Ernest
Isaac Levi
Nagel, Thomas
Nagel, Thomas
Sonia Sedivy
Narrative
Erzählung
Gregory Currie
Nation and nationalism
Nation und Nationalismus
David Miller
Nativism
Nativismus
Jerry Samet
Natural deduction, tableau and sequent systems
Natürliche Deduktion, Tableau- und Sequenzkalküle
A.M. Ungar
Natural kinds
Natürliche Arten
Chris Daly
Natural law
Naturgesetz
John Finnis
N
LXXVIII
Register
Natural theology
Naturtheologie
Scott MacDonald
Naturalism in ethics
Naturalismus und Ethik
Nicholas L. Sturgeon
Naturalism in social science
Naturalismus in der Sozialwissenschaft
Ted Benton
Naturalized epistemology
Naturalisierte Erkenntnislehre
Steven Luper
Nature and convention
Natur und Konvention
Kate Soper
Nature, aesthetic appreciation of
Natur, Ästhetische Wertschätzung der
Allen Carlson
Nature philosophy
Naturphilosophie
Michael Heidelberger
Necessary truth and convention
Notwendige Wahrheit und Konvention
Alan Sidelle
Negative theology
Negative Theologie
David Braine
Neo-Kantianism
Neo-Kantianismus
Hans-Ludwig Ollig
Neoplatonism
Neuplatonismus
Lucas Siorvanes
Neutral monism
Neutraler Monismus
Nicholas Griffin
Neutrality, political
Neutralität, politische
Jeremy Waldron
Newton, Isaac
Newton, Isaac
William L. Harper George E. Smith
Nicholas of Cusa
Nikolaus von Kues
Jasper Hopkins
Nietzsche, Friedrich
Nietzsche, Friedrich
Maudemarie Clark
Nihilism
Nihilismus
Donald A. Crosby
Nineteenth-century philosophy
Philosophie des 19. Jahrhunderts
Robert Stern
Nishida Kitar
Nishida Kitar
John C. Maraldo
Nominalism
Nominalismus
Michael J. Loux
Non-monotonic logic
Non-Monozonie Logik
Andre Fuhrmann
Normativity
Normativität
Stephen Darwall
LXXIX
Register
Nous
Nous
A.A. Long
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)
Andrew Bowie
Nozick, Robert
Nozick, Robert
Jonathan Wolff Simon Blackburn
Nyāya-Vaiśeşika
Nyāya-Vaiśeşika
Eli Franco Karin Preisendanz
Objectivity
Objektivität
Alexander Miller
Obligation, political
Verpflichtung, politische
John Simmons
Observation
Beobachtung
Peter Kosso
Occasionalism
Okkasionalismus
William Hasker
Omnipotence
Allmacht
Joshua Hoffinan Gary Rosenkrantz
Omnipresence
Allgegenwart
Brian Leftow
Omniscience
Allwissenheit
Thomas P. Flint
Ontological commitment
Ontologische Verpflichtung
Michael Jubien
Ontology
Ontologie
Edward Craig
Opera, aesthetics of
Oper, Ästhetik der
Michael Tanner
Operationalism
Operationalismus
Frederick Suppe
Ordinal logics
Reihenlogik
Solomon Feferman
Ordinary language philosophy, school of
Alltagssprache, philosophische Schule der
Geoffrey Warnock
Origen
Origen
Jeffrey Hause
Ortega y Gasset, José
Ortega y Gasset, José
Nelson R. Orringer
Other minds
Fremdgeistige, Das
Alec Hyslop
Oxford Calculators
Oxford Calculators
Edith Dudley Sylla
O
LXXX
Register
P Paine, Thomas
Paine, Thomas
Bruce Kuklick
Painting, aesthetics of
Malerei, Ästhetik der
Robert Hopkins
Paley, William
Paley, William
Charlotte R. Brown
Panpsychism
Panpsychismus
T.L.S. Sprigge
Pantheism
Pantheismus
Keith E. Yandell
Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim)
Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim)
E. J. Ashworth
Paraconsistent logic
Parakonsistente Logik
Graham Priest
Paradigma
Paradigma
Georg Sultan
Paradoxes, epistemic
Paradoxa, Erkenntnistheoretische
Jonathan L. Kvanvig
Paradoxes of set and property
Paradoxa, Mengentheoretische
Gregory H. Moore
Pareto principle
Pareto Prinzip
David Miller
Parmenides
Parmenides
David Sedley
Pascal, Blaise
Pascal, Blaise
Ian MacLean
Passmore, John Arthur
Passmore, John Arthur
Frank Jackson
Paternalism
Paternalismus
Richard Arneson
Patristic philosophy
Patristische Philosophie
John Peter Kenney
Peirce, Charles Sanders
Peirce, Charles Sanders
Christopher Hookway
Pelagianism
Pelagianismus
Christopher Kirwan
Perception
Wahrnehmung
M.G.E Martin
Performatives
Performative Sprechakte
Kent Bach
Personal identity
Personale Identität
Brian Garrett
LXXXI
Register
Personalism
Personalismus
Keith E. Yandell
Persons
Person
Brian Garrett
Phenomenalism
Phänomenalismus
Richard Fumerton
Phenomenological movement
Phänomenologische Bewegung
Lester Embree
Phenomenology, epistemic issues in
Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
Jane Howarth
Philo of Alexandria
Philo von Alexandrien
David T. Runia
Philoponus
Philoponos
Christian Wildberg
Photography, aesthetics of
Photographie, Ästhetik der
Gregory Currie
Piaget, Jean
Piaget, Jean
Alison Gopnik
Pico della Mirandola, Giovanni
Pico della Mirandola, Giovanni
James Hankins
Plato
Platon
Malcolm Schofield
Platonism, Renaissance
Platonismus in der Renaissance
James Hankins
Pleasure
Freude
Graeme Marshall
Plekhanov, Georgii Valentinovich
Plechanov, Georgij Valentinowitsch
James D. White
Plotinus
Plotin
Eyjölfur Kjalar Emilsson
Pluralism
Pluralismus
Edward Craig
Pneuma
Pneuma
Christopher Stead
Poetry
Dichtung
Richard M. Shusterman
Poincare, Jules Henri
Poincaré, Jules Henri
David J. Stump
Polanyi, Michael
Polanyi, Michael
R.T. Allen
Political philosophy
Politische Philosophie
David Miller
Political philosophy, history of
Politischen Philosophie, Geschichte der
Iain Hampsher-Monk
LXXXII
Register
Pomponazzi, Pietro
Pomponazzi, Pietro
Martin L. Pine
Popper, Karl Raimund
Popper, Karl Raimund
Ian C. Jarvie
Population and ethics
Bevölkerung und Ethik
David Heyd
Pornography
Pornographie
Susan Mendus
Porphyry
Porphyr
Lucas Siorvanes
Positivism in the social sciences
Positivismus in der Sozialwissenschaft
Harold Kincaid
Possible worlds
Mögliche Welten
Joseph Melia
Postcolonialism
Postkolonialismus
Ato Quayson
Postmodernism
Postmodernismus
Elizabeth Deeds Ermarth
Post-structuralism
Poststrukturalismus
Gary Gutting
Practical reason and ethics
Praktische Vernunft und Ethik
Onora O‘Neill
Pragmatics
Pragmatik, linguistische
Franfois Recanati
Pragmatism
Pragmatismus
Richard Rorty
Predestination
Prädestination
George I. Mavrodes
Predicate calculus
Prädikatenlogik
Timothy Smiley
Prescriptivism
Präskriptivismus
R.M. Hare
Presocratic philosophy
Präsokratische Philosophie
David Sedley
Presupposition
Voraussetzung
Ian Rumfitt
Primary-secondary distinction
Primär- / SekundärUnterscheidung (von Qualitäten)
A.D. Smith
Prior, Arthur Norman
Prior, Arthur Norman
CJ.E Williams
Privacy
Privatheit
Frances Olsen
LXXXIII
Register
Private language argument
Privatsprache, Argument der
Stewart Candlish
Private states and language
Private Zustände und Sprache
Edward Craig
Probability, interpretations of
Wahrscheinlichkeit, Interpretation der
Paul Humphreys
Process philosophy
Prozessphilosophie
David Ray Griffan
Process theism
Prozesstheismus
David Basinger
Processes
Entwicklung
Dorothy Emmet
Professional ethics
Berufsethik
Ruth Chadwick
Projectivism
Projektivismus
Simon Blackburn
Prolepsis
Prolepsis
Dominic Scott
Promising
Versprechung
T.M. Scanlon
Proof theory
Beweistheorie
Wilfried Sieg
Proper names
Eigenname
Graeme Forbes
Property
Eigentum
Stephen R. Munzer
Propositional attitudes
Proposiotionale Einstellungen
Graham Oppy
Proudhon, PierreJoseph
Proudhon, PierreJoseph
Richard Vernon
Psyche
Psyche
A.A. Long
Psychoanalysis, methodological issues in
Psychoanalyse, Methodische Fragen der
Patricia Kitcher
Psychoanalysis, postFreudian
Psychoanalyse, nachfreudianische
James Hopkins
Pufendorf, Samuel
Pufendorf, Samuel
J.D. Ford
Purgatory
Fegefeuer
Linda Zagzebski
Putnam, Hilary
Putnam, Hilary
Yemima BenMenahem
Pyrrhonism
Pyrrhonismus
R J. Hankinson
LXXXIV
Register
Pythagoras
Pythagoras
Hermann S. Schibli
Pythagoreanism
Pythagoreismus
Hermann S. Schibli
Qualia
Qualia
Janet Levin
Quantifiers
Quantoren
Jaakko Hintikka Gabriel Sandu
Quantifiers, generalized
Quantoren, verallgemeinerte
Dag Westerståhi
Quantifiers, substitutional and objectual
Quantoren, ersetzende und gegenständliche
Mark Richard
Quantum logic
Quantenlogik
Peter Forrest
Quantum measurement problem
Quantenmechanik, Messprobleme in der
Jeffrey Bub
Quantum mechanics, Interpretation of
Quantenmechanik, Interpretation der
Allen Stairs
Quine, Willard Van Orman
Quine, Willard Van Orman
Alex Orenstein
Radical translation and radical interpretation
Übersetzung, Fundamentale, und fundamentale Interpretation
Roger F. Gibson
Ramsey, Frank Plumpton
Ramsey, Frank Plumpton
D.H. Mellor
Ramus, Petrus
Ramus, Petrus
Peter Mack
Randomness
Zufälligkeit
William A. Dembski
Rational choice theory
Rationalen Wahl, Theorie der
Russell Hardin
Rationalism
Rationalismus
Peter J. Markie
Rationality and cultural relativism
Rationalität und kultureller Relativismus
Lawrence H. Simon
Rationality, practical
Vernunft, praktische
Jean Hampton
Q
R
LXXXV
Register
Rawls, John
Rawls, John
Samuel Freeman
Realism and antirealism
Realismus und Antirealismus
Edward Craig
Reasons and causes
Ursachen und Gründe
Michael Smith
Reduction, problems of
Reduktion, Probleme der
Jaegwon Kim
Reductionism in the philosophy of mind
Reduktionismus in der Geistesphilosophie
Kim Sterelny
Reference
Referenz
Michael Devitt
Reichenbach, Hans
Reichenbach, Hans
Wesley C. Salmon
Reid, Thomas
Reid, Thomas
Roger Gallie
Reinhold, Karl Leonhard
Reinhold, Karl Leonhard
George Di Giovanni
Relativism
Relativismus
Edward Craig
Relativity theory, philosophical significance of
Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der
Michael Redhead
Relevance logic and entailment
Relevanzlogik und Folgebeziehung
Stephen Read
Religion and morality
Relgion und Sittlichkeit
Richard J. Mouw
Religion and science
Religion und Wissenschaft
Nancey Murphy
Religion, philosophy of
Religionsphilosophie
Eleonore Stump
Renaissance philosophy
RenaissancePhilosophie
E.J. Ashworth
Renouvier, Charles Bernard
Renouvier, Charles Bernard
Laurent Fedi
Representation, political
Vertretung, politische
Andrew Reeve
Reproduction and ethics
Fortpflanzung und Ethik
Rosalind Hursthouse
LXXXVI
Register
Republicanism
Republikanismus
Russell L. Hanson
Responsibility
Verantwortung
R.A. Duff
Revelation
Offenbarung
Richard Swinburne
Revolution
Revolution
Peter A. Schouls
Rhetoric
Rhetorik
Eugene Garver
Ricoeur, Paul
Ricoeur, Paul
John B. Thompson
Right and good
Richtige, Das, und das Gute
Charles Larmore
Rights
Rechte
Rex Martin
Risk assessment
Risiko-Einschätzung
Kristin ShraderFrechette
Roman law
Römisches Recht
P.B.H. Birks
Rorty, Richard McKay
Rorty, Richard McKay
Michael David Rohr
Rosmini-Serbati, Antonio
Rosmini-Serbati, Antonio
Guido Verucci
Ross, William David
Ross, William David
David McNaughton
Rousseau, JeanJacques
Rousseau, JeanJacques
Nicholas Dent
Royce, Josiah
Royce, Josiah
Robert W. Burch
Rule of law
Rechtsstaat
T.R.S. Allan
Russell, Bertrand Arthur William
Russell, Bertrand Arthur William
Nicholas Griffin
Russian philosophy
Russische Philosophie
Alleen Kelly
Ryle, Gilbert
Ryle, Gilbert
William Lyons
Saint-Simon, ClaudeHenri de Rouvroy, Comte de
Saint-Simon, ClaudeHenri de Rouvroy, Comte de
David Leopold
Sanches, Francisco
Sanches, Francisco
Richard H. Popkin
Sān. khya
Sān.khya
Dan Lusthaus
S
LXXXVII
Register
Santayana, George
Santayana, George
John Lachs
Sapir-Whorf hypothesis
Sapir-Whorf Hypothese
John A. Lucy
Sartre, Jean-Paul
Sartre, Jean-Paul
Christina Howells
Saussure, Ferdinand de
Saussure, Ferdinand de
David Holdcroft
Scepticism
Skeptizismus
Stewart Cohen
Scheler, Max Ferdinand
Scheler, Max Ferdinand
Francis Dunlop
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von
Andrew Bowie
Schiller, Johann Christoph Friedrich
Schiller, Johann Christoph Friedrich
T.J. Reed
Schlegel, Friedrich von
Schlegel, Friedrich von
Frederick Beiser
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
Günter Meckenstock
Schlick, Friedrich Albert Moritz
Schlick, Friedrich Albert Moritz
Thomas Oberdan
Schopenhauer, Arthur
Schopenhauer, Arthur
Christopher Janaway
Science, philosophy of
Wissenschafts philosophie
John Worrall
Scientific method
Wissenschaftliche Methode
Gary Hatfield
Scientific realism and antirealism
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Arthur Fine
Scope
Geltungsbereich
Mark Richard
Searle, John
Searle, John
Ernie Lepore
Second-order Logic, philosophical issues in
Logik zweiter Ordnung, Philosophische Fragen der
Stewart Shapiro
LXXXVIII
Register
Self-deception, ethics of
Selbsttäuschung, Ethik der
Mike W. Martin
Sellars, Wilfrid Stalker
Sellars, Wilfrid Stalker
Jay E Rosenberg
Semantics
Semantik
Mark Crinamins
Semantics, conceptual role
Semantik der Begriffsrollen
Ned Block
Semantics, gametheoretic
Semantik, spieltheorische
Michael Hand
Semantics, possible worlds
Mögliche-WeltenSemantik
John R. Perry
Semantics, Situation
Situationssemantik
John R. Perry
Semiotics
Semiotik
W. C. Watt
Sense and reference
Sinn und Bedeutung
Genoveva Martí
Sense perception, Indian views of
Sinneswahrnehmung, Indische Auffassungen der
Stephen H. Phillips
Sense-data
Sinnesdaten
Andre Gallois
Sergeevich, Vladimir
Sergeevich, Vladimir
Andrzej Walicki
Set theory
Mengenlehre
John P. Burgess
Sextus Empiricus
Sextus Empiricus
R.J. Hankinson
Sexuality, philosophy of
Sexualität, Philosophie der
Alan Soble
Shintō
Shintō
Paul Varley
Sidgwick, Henry
Sidgwick, Henry
Bart Schultz
Simmel, Georg
Simmel, Georg
David Frisby
Simplicity
Einfachheit
Elliott Sober
Simulation theory
Simulationstheorie
Martin Davies Tony Stone
Sin
Sünde
Philip L. Quinn
LXXXIX
Register
Situation
Situation
Georg Sultan
Situation ethics
Situationsethik
Gene Outka
Slavery
Sklaverei
Stephen L. Esquith Nicholas D. Smith
Smith, Adam
Smith, Adam
Knud Haakonssen
Sophists
Sophisten, Die
Charles H. Kahn
Sorel, Georges
Sorel, Georges
Jeremy Jennings
Soul, nature and immortality of the
Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
Richard Swinburne
Sovereignty
Souveränität
J.D. Ford
Space
Weltraum
Roberto Torretti
Spacetime
Raumzeit
Roberto Torretti
Species
Arten
Kim Sterelny
Social choice
Sozialwahl, Theorie der
Man Hamlin
Social democracy
Sozialdemokratie
David Miller
Social epistemology
Soziale Erkenntnislehre
Frederick F. Schmitt
Social relativism
Sozialer Relativismus
Man Musgrave
Social science, contemporary philosophy of
Sozialwissenschaft, Philosophie der zeitgenössischen
David Braybrooke
Social science, methodology of
Sozialwissenschaft, Methodik der
Alex Rosenberg
Social sciences, philosophy of
Sozialphilosophie
David-Hillel Ruhen
Social theory and law
Sozialtheorie und Recht
Roger Cotterrell
Socialism
Sozialismus
Russell Keat John O‘Neill
Society, concept of
Gesellschaft, Konzept der
Angus Ross
XC
Register
Socinianism
Sozinianismus
John Marshall
Sociobiology
Soziobiologie
Alex Rosenberg
Sociology of knowledge
Wissenssoziologie
David Bloor
Socrates
Sokrates
John M. Cooper
Solidarity
Solidarität
Andrew Mason
Solipsism
Solipsismus
Edward Craig
Solovëv, Vladimir Sergeevich
Solovëv, Vladimir Sergeevich
Andrzej Walicki
Speech acts
Sprachakt
Kent Bach
Spencer, Herbert
Spencer, Herbert
Tim S. Gray
Spinoza, Benedict de
Spinoza, Benedict de
Henry E. Allison
State, the
Der Staat
Peter P. Nicholson
Statistics
Statistik
James Woodward
Statistics and social science
Statistik und Sozialwissenschaft
Peter Spirtes
Stewart, Dugald
Stewart, Dugald
Edward H. Madden
Stirner, Max
Stirner, Max
David Leopold
Stoicism
Stoizismus
David Sedley
Strawson, Peter Frederick
Strawson, Peter Frederick
Paul F. Snowdon
Structuralism
Strukturalismus
Jonathan Culler
Structuralism in linguistics
Strukturalismus in der Sprachwissenschaft
David Holdcroft
Structuralism in social science
Strukturalismus in den Sozialwissenschaften
Theodore R. Schatzki
Suárez, Francisco
Suárez, Francisco
John P. Doyle
Sublime, the
Subliminierung, die
Paul Crowther
Substance
Substanz
Michael Ayers XCI
Register
Suicide, ethics of
Selbsttötung, Ethik der
Paul Edwards
Supererogation
Supererogation
Gregory Velazco y Trianosky
Supervenience
Supervenienz
Simon Blackburn
Sustainability
Nachhaltigkeit
Man Holland
Syntax
Syntax
Stephen Neale
Tanabe Hajime
Tanabe Hajime
Himi Kiyoshi
Tarski, Alfred
Tarski, Alfred
Roman Murawski
Taxonomy
Taxonomie
David L. Hull
Taylor, Charles
Taylor, Charles
Craig Calhoun
Technē
Technē
Tad Brennan
Technology and ethics
Technologie und Ethik
Carl Mitcham Helen Nissenbaum
Technology, philosophy of
Technologie, Philosophie der
Peter Kroes
Teleological ethics
Teleologische Ethik
Christine M. Korsgaard
Teleology
Teleologie
Andrew Woodfield
Telos
Telos
Tad Brennan
Tense and temporal Logic
Zeitform und Zeitlogik
Quentin Smith
Tertullian, Quintus Septimus Florens
Tertullian, Quintus Septimus Florens
John Peter Kenney
Testimony
Zeugnis
C.AJ. Coady
Testimony in Indian philosophy
Zeugnis in der indischen Philosophie, Das
Purushottama Bilimoria
Thales
Thales
Richard McKirahan
Theoretical (epistemic) virtues
Theoretische (erkenntnisteoretische) Tugenden
William G. Lycan
T
XCII
Register
Theories, scientific
Theorien, wissenschaftliche
Frederick Suppe
Theory of types
Theorie der Arten
Nino B. Cocchiarella
Thermodynamics
Thermodynamik
Lawrence Sklar
Thomism
Thomismus
John J. Haldane
Thoreau, Henry David
Thoreau, Henry David
Timothy Gould
Thought experiments
Gedankenexperimente
David C. Gooding
Time
Zeit
Lawrence Sklar
Time travel
Zeitreise
Paul Horwich
Toleration
Toleranz
John Horton
Tolstoi, Count Lev Nikolaevich
Tolstoi, Count Lev Nikolaevich
Gary Saul Morson
Totalitarianism
Totalitarismus
Margaret Canovan
Tradition and traditionalism
Tradition und Traditionalismus
Anthony O‘Hear
Tragedy
Tragödie
Susan L. Feagin
Transcendental arguments
Transzendentale Argumente
Ross Harrison
Transition
Wandel
Georg Sultan
Trinity
Dreifaltigkeit
Peter Van Inwagen
Trust
Vertrauen
Karen Jones
Truth, coherence theory of
Wahrheit, Kohärenztheorie der
Richard L. Kirkham
Truth, correspondence theory of
Wahrheit, Korrespondenztheorie der
Richard L. Kirkham
Truth, deflationary theories of
Wahrheit, deflationäre Theorien der
Richard L. Kirkham
Truth, pragmatic theory of
Wahrheit, pragmatische Theorie der
Richard L. Kirkham
Truthfulness
Wahrhaftigkeit
Sissela Bok
XCIII
Register
Turing, Alan Mathison
Turing, Alan Mathison
James H. Moor
Turing machines
Turing machines
Guglielmo Tamburrini
Type/token distinction
Type/TokenUnterscheidung
Linda Wetzel
Unconscious mental states
Unbewusste geistige Zustände
Georges Rey
Underdetermination
Unterbestimmtheit
Larry Laudan
Unity of science
Einheit der Wissenschaften
Jordi Cat
Universalism in ethics
Universalismus in der Ethik
Onora O‘Neill
Universals
Universalia
John C. Bigelow
Use/mention distinction and quotation
Zitat, Unterschied des Wortgebrauchs und der Gegenstands erwähnung beim
Corey Washington
Utilitarianism
Utilitarismus
Roger Crisp Tim Chappell
Utopianism
Utopismus
Lyman Tower Sargent
Vagueness
Vagheit
Michael Tye
Vaihinger, Hans
Vaihinger, Hans
Christopher AdairToteff
Vedānta
Vedānta
Stephen H. Phillips
Vico, Giambattista
Vico, Giambattista
Leon Pompa
Vienna Circle
Wiener Kreis
Friedrich Stadler
Violence
Gewalt
C.A.J. Coady
Virtue epistemology
Tugendepistemologie
Linda Zagzebski
Virtue ethics
Tugendethik
Roger Crisp
Virtues and vices
Tugend und Laster
Bernard Williams
U
V
XCIV
Register
Vision
Sehvermögen
Frances Egan
Vitalism
Vitalismus
William Bechtel, Robert C. Richardson
Vitoria, Francisco de
Vitoria, Francisco de
Anthony Pagden
Voltaire (FrançoisMarie Arouet)
Voltaire (FrançoisMarie Arouet)
David Williams
Voluntarism
Voluntarismus
Brian Leftow
Von Wright, Georg Henrik
Von Wright, Georg Henrik
Ilkka Niiniluoto
Wang Yangming
Wang Yangming
Shun Kwong-Loi
War and peace, philosophy of
Krieges und des Friedens, Philosphie des
Terry Nardin
Weber, Max
Weber, Max
Stephen P. Turner, Regis A. Factor
Weil, Simone
Weil, Simone
Rowan Williams
Welfare
Wohlfahrt
Albert Weale
Whewell, William
Whewell, William
Menachem Fisch
Whitehead, Alfred North
Whitehead, Alfred North
James Bradley
Will, the
Wille, der
Thomas Pink
William of Ockham
William of Ockham
Claude Panaccio
Williams, Bernard Arthur Owen
Williams, Bernard Arthur Owen
Ross Harrison
Wittgenstein, Ludwig Josef Johann
Wittgenstein, Ludwig Josef Johann
Jane Heal
Wolff, Christian
Wolff, Christian
Charles A. Corr
Wollstonecraft, Mary
Wollstonecraft, Mary
Susan Khin Zaw
Work, philosophy of
Arbeit, Philosophie der
Richard Arneson
Wundt, Wilhelm
Wundt, Wilhelm
Jens Brockmeier
Wyclif, John
Wyclif, John
Jeremy Catto
W
XCV
Register
X Xunzi
Xunzi
A.S. Cua
Yin-Yang
Roger T. Ames
Zeno of Citium
Zeno of Citium
David Sedley
Zeno of Elea
Zeno of Elea
Stephen Makin
Zoroastrianism
Zoroastrismus
Alan Williams
Y Yin-Yang Z
XCVI
A A posteriori
Als ein prominenter Begriff in der Erkenntnistheorie seit dem 17. Jahrhundert bedeutet ‚a posteriori‘ eine Art oder Rechtfertigung des Wissens, das sich auf die Evidenz oder die sensorische Erfahrung verlässt. Eine aposteriorische Wahrheit kann nicht unabhängig von der Evidenz sensorischer Erfahrung gewusst oder gerechtfertigt werden, und aposteriorische Begriffe sind solche, die nicht unabhängig von ihrer Bezugnahme auf die sensorische Erfahrung verstanden werden können. Aposteriorisches Wissen steht dem apriorischen Wissen gegenüber, d.h. einem Wissen, das keiner Evidenz durch sensorische Erfahrung bedarf. Aposteriorisches Wissen ist empirisch, beruht auf Erfahrung, wohingegen apriorisches Wissen nicht empirisch begründet ist. Standardbeispiele aposteriorischer Wahrheiten sind solche der gewöhnlichen Wahrnehmung und der Naturwissenschaften; Standardbeispiele apriorischer Wahrheiten sind jene der Logik und der Mathematik. Das übliche Verständnis des Unterschiedes zwischen aposteriorischem und apriorischem Wissen als jener zwischen empirischem und nicht-empirischem Wissen bezieht sich auf Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (1781/1787). Siehe auch: A priori; Empirismus; Begründung, Erkenntnistheoretische; Erkenntnis, Begriff der PAUL K. MOSER
A priori
Als ein wichtiger Begriff der Erkenntnistheorie seit dem 17. Jahrhundert bezeichnet ‚a priori‘ typischerweise eine Art oder Rechtfertigung des Wissens, das sich nicht auf die Evidenz oder die sensorische Erfahrung verlässt. Die Rede von apriorischer Wahrheit ist üblicherweise eine Abkürzung für die Rede von einer Wahrheit, die unabhängig von der Evidenz oder sensorischer Erfahrung gewusst oder gerechtfertigt werden kann; und die Rede von apriorischen Begriffen ist gewöhnlich eine solche von Begriffen, die unabhängig von einer Bezugnahme auf die sensorische Erfahrung verstanden werden können. Apriorisches Wissen steht dem aposteriorischen Wissen gegenüber, das seinerseits der sensorischen Erfahrung bedarf. Im Großen und Ganzen ist aposteriorisches Wissen empirisch, d.h. erfahrungsbasiert, und apriorisches Wissen ist nicht-empirisches Wissen. Standardbeispiele apriorischer Wahrheiten sind jene der Mathematik, während Standardbeispiele aposteriorischer Wahrheiten jene der Naturwissenschaften sind. Siehe auch: A posteriori; Rechtfertigung, erkenntnistheoretische; Erkenntnis, Begriff der; Rationalismus PAUL K. MOSER
Abbildung
Wie funktionieren Bilder? Warum sind sie imstande, etwas wiederzugeben? Das Bild einer Ziege ist z.B. eine flache Oberfläche, die mit Zeichen bedeckt ist, und doch stellt diese Oberfläche eine Ziege dar, die Stroh kaut, während sie auf einem kleinen Hügel steht. Das Rätsel der Abbildung ist also, wie die bildliche Darstellung verstanden werden kann, wie flache Zeichen eine solche Darstellung zustande bringen. 1
Abduktiver Schluss
Die Sprache stellt uns vor ein ähnliches Problem. Eine geschriebene Beschreibung einer Ziege wird auch eine Sammlung von Markierungen auf einer flachen Oberfläche sein, die gleichwohl dieses Tier wiedergibt. Im Falle der Sprache hat die Lösung klarerweise etwas mit unserer willkürlichen Verwendungsweise dieser Zeichen zu tun. Das Wort ‚Bein‘ ist z.B. auf Beine anwendbar, aber jedes andere Zeichen würde dies auch tun, vorausgesetzt, wir verwenden es alle auf dieselbe Art und Weise. Im Falle der Bilder scheint etwas anderes vor sich zu gehen. Hier besteht nicht dieselbe Freiheit bei der Herstellung des Bildes von einer Ziege auf einem Hügel, die Stroh kaut. Vielmehr muss die Oberfläche auf eine richtige Weise markiert werden, d.h. auf eine Weise, die wir nicht ganz frei wählen können. Welches aber ist diese richtige Weise? Ein hilfreicher Gedanke ist hier, dass die Oberfläche so markiert werden muss, dass sie uns erlaubt, sie auf eine besondere Art und Weise zu erfahren. Bei einem Wort brauchen wir nach dessen Beschreibung nur noch zu wissen, für was die Worte, die diese Erklärung enthält, normalerweise stehen. Bei dem Bild müssen wir stattdessen in der Lage sein zu sehen, dass dies eine Ziege ist. Obwohl dies richtig zu sein scheint, ist es doch schwierig, sich darüber klar zu werden. Immerhin sehen wir diese Ziege nicht auf dieselbe Art und Weise, wie wir ein Pferd durch ein Fenster sehen. Erstens gibt es dort keine Ziege zu sehen. Ferner ist es nicht einmal wahr, dass der Blick auf das Bild wie der Blick auf die Ziege ist. Dies verhält teilweise so wegen jenes Unterschiedes, d.h. weil unser Blick auf das Bild uns immer bewusst macht, dass dies immer nur eine Ansammlung von Zeichen auf einer flachen Oberfläche ist. Was ist also diese spezielle Erfahrung, die uns eine Ziege auf dem Bild sehen lässt? Dies ist die Frage, die eine philosophische Darstellung der bildlichen Darstellung zu beantworten unternehmen muss. Siehe auch: Fiktionale Entitäten; Vorstellung; Malerei, Ästhetik der; Wahrnehmung; Photographie, Ästhetik der R.D. HOPKINS
Abduktiver Schluss
Als eine Form der logischen Schlussfolgerung ist die Abduktion (lat.: abductio = Hinwegführung) der dritte Typ des logischen Schlusses neben dem induktiven und dem deduktiven Schluss (siehe Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der; Induktiver Schluss). Die Idee der Abduktion wurde bereits von Aristoteles entwickelt, der sie als apagōgē bezeichnet (‚Erste Analytik‘ II, 25, 69a) und sie dem Induktionsschluss gegenüberstellt. Die moderne Formulierung des abduktiven Schlusses geht auf den amerikanischen Logiker, Mathematiker uns Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914) zurück. Peirce maß dem abduktiven Schluss eine große Bedeutung bei, weil dieser das einzige Schlussverfahren sei, das den Umfang der Erkenntnis des Anwenders tatsächlich erweitere. Damit unterscheide sich die Abduktion grundlegend von der Induktion und der Deduktion. Tatsächlich ist der deduktive Schluss als Ableitungsverfahren aus ersten Sätzen (Axiomen) logisch trivial und somit nicht wissenserweiternd, und der induktive Schluss ist lediglich die Verallgemeinerung eines bekannten Sachverhalts, die überdies nie ganz zweifelsfrei ist. Die Stärke des abduktiven Schlusses liegt in seiner Nähe zum alltäglichen Denken und damit in seiner praktischen Relevanz. Peirce beschreibt diesen Schultypus folgendermaßen: „Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; wenn aber A wahr wäre, so wäre C eine Selbstverständlichkeit; folglich besteht Grund zu der Annahme, dass 2
Abduktiver Schluss
A wahr ist.“ (Peirce, Collected Papers 5.189) Der Unterschied zwischen dem deduktiven, dem induktiven und dem abduktiven Schluss lässt sich wie folgt verdeutlichen: Deduktion
Induktion
Abduktion
Obersatz
Alle Frösche in diesem Teich sind grün.
Alle Frösche am Ufer dieses Teichs sind grün.
Alle Frösche in diesem Teich sind grün.
Untersatz
Alle Frösche an seinem Ufer stammen aus diesem Teich.
Alle Frösche an seinem Ufer stammen aus diesem Teich.
Alle Frösche an seinem Ufer sind grün.
Alle Frösche an diesem Teichufer sind grün.
Alle Frösche in diesem Teich sind grün.
Alle Frösche am Ufer dieses Teichs stammen aus diesem Teich.
Schluss vom Allgemeinen auf den Einzelfall.
Hypothetischer Schluss von den bekannten Fällen auf die Allgemeinheit
Hypothetischer Schluss vom Einzelnen auf eine Regel und auf die Allgemeinheit
Schluss
Peirce machte den abduktiven Schlusses überhaupt als den Anfangspunkt des menschlichen Erkenntnisprozesses aus: Die Abduktion folge den primären Wahrnehmungsurteilen und ermögliche aus ihnen Schlussfolgerungen, die die anderen Schlusstypen nicht zulassen. Peirce betonte dabei die Prozesshaftigkeit des Erkenntnisfortschritts. Gleichzeitig war er Fallibilist, d.h. er ging davon aus, dass eine Erkenntnis nur dann als solche gelten kann, wenn ihre Falsifikation grundsätzlich möglich ist. In dieser Hinsicht steht Peirce dem Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper nahe; letzterer ging jedoch von statischen Erkenntniszuständen aus, während Peirce den Entdeckungsprozess betonte. Die Abduktion ist als logisches Schlussverfahren inzwischen ausführlich untersucht und weiter entwickelt worden. Der abduktive Schluss ist selten zwingend, und er muss im Einzelnen auch nicht schneller zum Erkenntnisziel führen als der deduktive oder der induktive Schluss. Gleichwohl findet er wegen seiner Anschlussfähigkeit an die unmittelbare Wahrnehmung und seiner hohen intuitiven Plausibilität verbreitete Anwendung auf vielen Gebieten der angewandten Wissenschaften, insbesondere der forensischen Medizin und der Kriminalistik. Siehe auch: Entdeckung, Logik der; Schluss auf die beste Erklärung; Peirce, Charles Sanders Anmerkungen und weitere Lektüre: Th. Barthelborth: ‚Begründungsstrukturen. Ein Weg durch die analytische Erkenntnistheorie’. Akademie-Verlag, Berlin 2002. (Eine sehr übersichtliche Darstellung des Diskussionsstandes zu den drei hier erwähnten Schlusstypen mit besonderer Betonung des abduktiven Schlusses.) GEORG SULTAN 3
Abälard, Peter (1079–1142)
Abgrenzungsproblem, Das
Als Abgrenzungsproblem bezeichnet man die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen der Wissenschaft und denjenigen nicht-wissenschaftlichen Disziplinen, die ebenfalls beanspruchen, wahre Aussagen über die Welt zu machen. Verschiedene Kriterien wurden von Wissenschaftstheoretikern vorgeschlagen, einschließlich jener, dass die Wissenschaft – anders als die ‚Nicht-Wissenschaft‘ – (1) empirisch ist, (2) nach Gewissheit sucht, (3) wissenschaftliche Methoden verwendet, (4) die beobachtbare Welt beschreibt und keine unbeobachtbare, und (5) dass ihre Erkenntnisse kumulativ und progressiv sind. Wissenschaftsphilosophen bieten miteinander widerstreitende Auffassungen zu diesen Kriterien an. Einige weisen eines oder mehrere davon gänzlich zurück. Während viele der Vorstellung zustimmen, dass die Wissenschaft empirisch ist, weisen beispielsweise die Rationalisten genau dies zumindest hinsichtlich der grundlegenden Prinzipien des Raumes, der Materie und der Bewegung zurück. Sogar unter den Empirikern gibt es Unterschiede; beispielsweise befürworten einige, dass die naturwissenschaftlichen Prinzipien verifizierbar sein müssen, während andere diese Möglichkeit bestreiten und lediglich fordern, dass diese Prinzipien falsifizierbar sein müssen. Von allen der fünf genannten Kriterien, die als zu erreichende Ziele betrachtet werden, dürfte jeweils die eine oder andere Fassung vertretbar sein. Siehe auch: Logischer Positivismus, § 5 PETER ACHINSTEIN
Abälard, Peter (1079–1142)
Unter den vielen Gelehrten, die sich für eine Wiederbelebung des Lernens im frühen 12. Jahrhundert in Westeuropa einsetzten, ragt Abälard als ein vollendeter Logiker, kolossaler Polemiker und Meister im Umgang mit dem Wert des alten, heidnischen Wissens für das christliche Denken heraus. Obwohl er sich gedanklich in der alten aristotelischen Tradition bewegte, weicht seine Logik bedeutend von der aristotelischen ab, insbesondere in ihrer Betonung der Proposition (Satzaussage) und dem, was Sätze aussagen. Nach Abälard besteht der Gegenstand der Logik einschließlich der Universalien als Genera und Spezies aus sprachlichen Ausdrücken, und nicht aus den Gegenständen, von denen diese Ausdrücke handeln. Jedoch liegen die objektiven Gründe für die logischen Beziehungen darin, was diese Ausdrücke bedeuten, selbst wenn man von ihnen nicht sagen kann, dass sie überhaupt auf einen Gegenstand verweisen. Abälard gehört folglich in die Reihe jener mittelalterlicher Denker, die später häufig als ‚Nominalisten‘ bezeichnet wurden, und die sich dagegen wandten, die Logik und Semantik als irgendeine Art von Wissenschaft des ‚Realen‘ aufzufassen, d.h. als eine Art von Metaphysik. Abälard vertrat die Ansicht, dass die Logik, zusammen mit der Grammatik und Rhetorik, ein Teil der Sprachwissenschaften sei. Im Bereich der Ethik verteidigte er eine Sicht, derzufolge moralische Verdienste und moralische Sünde vollständig davon abhängen, ob aus jemandes Absichten sein Respekt vor Gott oder dessen Verachtung ersichtlich sei, und keinesfalls von dem Wunsch zum wirklichen Tatvollzug, und nicht einmal davon, ob die Tat tatsächlich etwas ist, das getan oder nicht getan werden sollte.
4
Absolutismus
Abälard glaubte nicht, dass die christliche Glaubenslehre mittels logisch zwingender Argumente bewiesen werden könne, jedoch könnte eine vernünftige Argumentation, so meinte er, sowohl zur Abwehr von Angriffen auf die christliche Lehre, als auch zur Bereitstellung von Argumenten dienen, die jene zu überzeugen vermögen, die sich von hohen moralischen Idealen angezogen fühlen. Mit Argumenten der letzteren Art verteidigte er den rationalistischen Standpunkt, dass nichts ohne vernünftigen Grund geschieht, und dass Gott nichts anderes tun kann als das, was er tatsächlich tut. Siehe auch: Nominalismus MARTIN M. TWEEDALE
Absicht
Siehe: Intention; Intentionalität
Absolute, Das
Der Ausdruck ‚das Absolute‘ steht für jene (angenommenermaßen) unbedingte Wirklichkeit, die entweder der geistige Grund allen Seins oder die Gesamtheit der Dinge im Sinne ihrer spirituellen Einheit ist. Diese Verwendung des Wortes geht insbesondere auf F.W.J. Schelling und G.W.F. Hegel zurück, vorgeformt durch J.G. Fichtes Rede von einem absoluten Selbst, welches sein Leben durch alle endlichen Personen hindurch lebt. In der englischsprachigen Philosophie ist der Ausdruck mit dem monistischen Idealismus solcher Denker wie F.H. Bradley und Josiah Royce verbunden, von denen ersterer das Absolute von Gott unterscheidet, während der zweite beide miteinander identifiziert. Siehe auch: Idealismus; Hegel, G.W.F.; Kant, I. T.L.S. SPRIGGE
Absolutismus
Der Ausdruck ‚Absolutismus‘ beschreibt eine Regierungsform, bei der die Autorität der führenden Person keinen theoretischen oder gesetzlichen Beschränkungen unterworfen ist. In der Sprache des römischen Rechts, das eine zentrale Rolle in allen Theorien des Absolutismus spielt, war die Führerfigur legibus solutus (‚von den Gesetzen gelöst‘), d.h. ein uneingeschränkter Gesetzgeber. Der Ausdruck ‚Absolutismus‘ wird im Allgemeinen, wenn auch nicht ausschließlich, zur Beschreibung der europäischen Monarchien verwendet, speziell jener in Frankreich, Spanien, Russland und Preußen, die dort von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestanden. Gewisse Formen des Absolutismus existierten allerdings in praktisch allen europäischen Staaten bis in das späte achtzehnte Jahrhundert. Es gab ferner ebenfalls erkennbare Formen absoluter Herrschaft sowohl in China, als auch in Japan. Als Theorie entstand der Absolutismus in Europa und insbesondere in Frankreich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert infolge des langen Bürgerkrieges zwischen der Krone und dem Adel, der als der ‚Krieg der Religionen‘ bekannt ist. Im späten 18. Jahrhundert, als die Reformbewegung im Verein mit der Aufklärung die meisten europäischen Herrscher zu beeinflussen begann, entwickelte sich ein so genannter ‚aufgeklärter Absolutismus‘ (manchmal auch ‚aufgeklärter Despotismus‘ genannt). In diesem richtete sich die absolute Autorität des Herrschers nicht mehr auf eine Stärkung der Macht des Staates, sondern wurde stattdessen zur Verbesserung der Wohlfahrt seiner Untertanen eingesetzt. Siehe auch: Filmer, Sir Robert ANTHONY PAGDEN 5
Abstrakte Objekte
Abstrakte Gegenstände
Die zentrale philosophische Frage betreffend die abstrakten Gegenstände ist, ob es sie überhaupt gibt. Jede zustimmende Antwort – und als solche von den Platonisten und den Realisten gegeben – stützt sich auf die Tatsache, dass neben unserer Rede und unserem Denken betreffend die konkreten (grob gesprochen: raumzeitlich erstreckten) Gegenstände ein bedeutender Teil davon sich auf solche Gegenstände richtet, die jenseits von Raum und Zeit liegen, und die deshalb nicht in kausalen Beziehungen erscheinen können. Gegen die Auffassung, dass es tatsächlich solche weiteren nicht-räumlichen, unzeitlichen und nichtkausalen Gegenstände wie beispielsweise Zahlen und Mengen gibt, wenden die Nominalisten häufig ein, dass dies dem common sense widerspricht. Aber eben weil unsere offenkundige Rede und unser ebensolches Denken von Abstrakta sehr viel umfasst, wie z.B. praktisch die gesamte Mathematik, scheint sie unverzichtbar im Hinblick auf unsere besten Bemühungen, der Welt einen wissenschaftlichen Sinn zu verleihen. Sie kann also nicht einfach als wirres Gestammel abgetan werden. Aus diesem Grunde entscheiden sich die Nominalisten gewöhnlich für ein Programm der reduktiven Umschreibung, die auf eine Eliminierung aller offenkundigen Bezugnahme und die Quantifizierung über abstrakte Objekte abzielt. Trotz beeindruckend raffinierter Bemühungen scheint dieses Programm jedoch vor unüberwindlichen Hindernissen zu stehen. Die Einfachheit unserer eingangs gestellten Frage ist trügerisch. Sie zu verstehen und bei ihrer Beantwortung voranzukommen ist unwahrscheinlich, wenn dem nicht eine weitere Klärung der Beziehung zwischen ontologischen Fragen und solchen der logischen Sprachanalyse vorangeht, und damit eine Klärung des entscheidenden Unterschieds zwischen abstrakten und konkreten Gegenständen. Es gibt sowohl Gemeinsamkeiten, als auch, und dies ist noch wichtiger, Gegensätze zwischen den herkömmlichen Näherungen an die ontologischen Fragen und jenen neuerer Diskussionen, die von der bahnbrechenden sprachphilosophischen Arbeit geformt wurden, die Frege initiierte. Die Bedeutung von Freges Werk liegt grundsätzlich in zwei Einsichten: erstens jener, dass Fragen darüber, welche Arten von Entitäten es gibt, nicht unabhängig von einer logischen Analyse der Sprache angepackt werden können; und zweitens, dass die Frage, ob gewisse Ausdrücke als referentiell verstanden werden sollten, nicht wirklich von der Frage getrennt werden kann, ob vollständige Sätze, in denen diese Ausdrücke auftauchen, wahr oder falsch sind. Siehe auch: Nominalismus; Ontologie; Realismus und Antirealismus; Universalien
BOB HALE
Abtreibung
Siehe: Leben und Tod (§ 5); Fortpflanzung und Ethik
Adorno, Theodor Wiesengrund (1903–1969)
Als Philosoph, Musikwissenschaftler und Sozialtheoretiker war Theodor Adorno der ‚Architekt’ der ersten Generation der Denker der Kritischen Theorie, einer philosophischen Schule, die vom deutschen Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main ausging. Ausgehend von einer Perspektive überwiegend orthodoxer Marxisten glaubte Adorno, das Zwillingsdilemma der Moderne, nämlich die Ungerechtigkeit und der Nihilismus, seien eine Folge des abstrahierenden Charakters aufgeklärter Rationalität. Als Folge davon wandte er ein, dass die Kritik der politi6
Afrikanische Philosophie
tischen Ökonomie einer Kritik der Aufklärung weichen muss, also einer Kritik der instrumentellen Vernunft. Identitätsdenken – so nannte Adorno die instrumentelle Rationalität – abstrahiert von der sensorischen, sprachlichen und sozialen Vermittlung, die wissende Subjekte mit gewussten Gegenständen verbindet. Dadurch unterdrückt es das Kontingente, Sinnliche und Eigentümliche der Personen und der Natur. Adornos Methode der negativen Dialektik sollte diesen Elementen gegenüber den Ansprüchen der instrumentellen Vernunft wieder zu ihrem Recht verhelfen. Adorno gestand jedoch ein, dass diese Methode nicht mehr vermag als zu zeigen, dass ein abstrakter Begriff seinen Gegenstand nicht erschöpft. Zur Aufstellung eines Modells einer alternativen Grammatik der Vernunft und des Erkennens wandte sich Adorno den Leistungen der künstlerischen Moderne zu. Auf diesem Gebiet, wo jedes neue Werk die Idee an sich, ein Kunstwerk zu sein, auf die Probe stellt und transformiert, sah Adorno ein Modell für jene Art dynamischer Unabhängigkeit zwischen dem Geist und seinen Gegenständen, der für eine erneuerte Konzeption des Wissens und Handels erforderlich sei. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische J.M. BERNSTEIN
Affirmative Aktion
Siehe: Diskriminierung, positive
Afrikanische Philosophie Einführung Um die Zuordnung einiger Arten des Themenmaterials aufzeigen zu können, dass in eine Diskussion der Philosophie in Afrika gehört, sollte man sich zunächst auf einige Teile der westlichen Philosophie besinnen. Es wirkt wie eine Ironie, dass Sokrates, der erste größere Philosoph der westlichen Tradition, bei uns gänzlich und allein durch seine mündlichen Argumente bekannt ist, die ihm durch seinen Studenten Platon zugeschrieben wurden. Denn die westliche philosophische Tradition ist vor allem eine Tradition der Texte. Während es einige wichtige alte Philosophen gibt, wie eben Sokrates, die uns weitgehend durch die Berichte anderer bekannt sind, hat sich die Tradition doch in steigendem Maße als eine solche entwickelt, die sich mit großer Aufmerksamkeit geschriebenen Argumenten widmet. Gleichwohl betreffen viele dieser Gedanken – in der Ethik, der Politik, der Metaphysik und Erkenntnistheorie, der Ästhetik und der gesamten Menge anderer, größerer Abteilungen des Gegenstandsbereichs der Philosophie – Fragen, über die viele Menschen auch außerhalb der breiten Tradition der westlichen Philosophie in vielen Kulturen gesprochen haben, und über die viele von ihnen, wenn auch eine wesentlich geringere Zahl, darüber hinaus geschrieben haben. Das Ergebnis davon ist, dass wir trotz des Umstands, dass jene Methoden, die sich im Abendland im Laufe gründlicher gedanklicher Analyse von Texten entwickelt haben, nicht überall zu finden sind, wir dennoch mit gewisser Wahrscheinlichkeit in jeder menschlichen Kultur Meinungen über einige der größten Fragen der westlichen Philosophie finden. Diese wichtigen Fragen wurden in den meisten Kulturen seit den frühesten Zeiten menschlicher Gesellschaft abgehandelt. Sie bilden das, was manchmal ‚volkstümliche Philosophie‘ genannt wird. Man kann jedoch nur schwer etwas über diese Meinungen und Dis7
Afrikanische Philosophie
kussionen sagen, wenn sie nicht niedergeschrieben wurden. Dennoch sind wir in der Lage, einige Hinweise auf die Eigenart dieser Standpunkte in Gebieten wie z.B. der afrikanischen Subsahara auszumachen, wo die Schrift in die mündlichen Kulturen über die letzten Jahrhunderte hinweg eingeführt wurde. Im Ergebnis sollte die Diskussion der afrikanischen Philosophie sowohl das Material einiger mündlicher Kulturen, als auch deutlich mehr jener philosophischen Arbeiten berücksichtigen, die im Gefolge der schriftlichen Tradition auf dem afrikanischen Kontinent geleistet wurden, einschließlich jener, die sich seit der Einführung westlicher philosophischer Übung dort entwickelt haben. 1. Mündliche Kulturen 2. Ältere schriftliche Traditionen 3. Gegenwärtige Philosophie 1. Mündliche Kulturen Zwei Bereiche der volkstümlichen Philosophie waren im ausgehenden 20. Jahrhundert Gegenstand einer ausgedehnteren gelehrten Forschung: die philosophische Psychologie der Menschen, die die Akan-Sprachen der afrikanischen Westküste (jetzt Ghana) sprechen, und das wissenschaftstheoretische Denken der Sprecher des Yoruba im westlichen Nigeria. In beiden Fällen wurden die volkstümlichen Vorstellungen von der Tradition von zeitgenössischen Sprechern dieser Sprache mit abendländisch-philosophischer Ausbildung behandelt. Dies ist vielleicht die philosophisch qualifizierteste Arbeit, die auf dem allgemeinen Feld philosophischer Studien volkstümlicher Philosophien in Afrika erstellt wurde. Sie gewährt ferner einigen Einblick in Denkformen über den Geist und das menschliche Kognitionsvermögen, die sich von denjenigen unterscheiden, die in der westlichen Tradition am bekanntesten sind. Viel lässt sich ferner lernen, wenn man etwas allgemeiner die dortigen ethischen und ästhetischen Gedanken betrachtet, denn in allen Teilen des Kontinents wurden vor dem Aufkommen der Schrift philosophische Themen zur Wertung diskutiert und Sichtweisen entwickelt. Der philosophischen Arbeit an der Ethik wandte man sich mehr zu als der Ästhetik, und einige der interessantesten Arbeiten der jüngeren Zeit auf dem Gebiet der afrikanischen Ästhetik konzentriert sich auf die Begriffe des Yoruba, die durch westliche Philosophen etwas genauer erforscht wurden. Die Diskussion über den Status solcher Arbeiten wurde weitgehend unter der Überschrift einer Debatte über die Ethnophilosophie geführt, als einem Ausdruck, der jene philosophische Bemühung erfassen sollte, die sich mit der systematischen Erforschung volkstümlicher Philosophien befasst. Und schließlich gab es auch eine wichtige philosophische Debatte über den Charakter des traditionell religiösen Denkens in Afrika. 2. Ältere schriftliche Traditionen Obwohl diese mündlichen Traditionen die alten Denkweisen repräsentieren, sind die diesbezüglich aktuell diskutierten Traditionen nicht so alt wie die verbleibenden schriftlichen Traditionen. Die früheste von ihnen ist in den Schriften mit den alten ägyptischen Zivilisationen verbunden, welche jenen vorsokratischen Philosophen deutlich vorausgehen, die den ältesten geschichtlichen Bestand der westlichen Philosophie bilden. Die Beziehung zwischen diesen ägyptischen Traditionen und dem Beginn der westlichen Philosophie wurde in mancher Hinsicht kritisch be8
Afrikanische Philosophie
trachtet, und es gibt inzwischen eine Anzahl zeitgenössischer Lehrmeinungen über den Einfluss des ägyptischen auf das klassische griechische Denken. Die spätere afrikanische Philosophie ist jenen vertrauter, die die konventionelle Geschichte der westlichen Philosophie studiert haben: die schriftlichen Traditionen Äthiopiens beispielsweise, die man im Kontext einer langen (wenn auch bescheidenen) Tradition des philosophischen Schrifttums am Horn von Afrika sehen kann. Der Höhepunkt dieser Schriften war die Arbeit jenes Philosophen des 16. Jahrhunderts, Zar’a Ya’ecob, dessen Werk mit dem von Descartes verglichen wurde. Es lohnt außerdem zu beobachten, dass viele der Traditionen der islamischen Philosophie entweder ein Produkt oder unter dem Einfluss von Gelehrten waren, die auf dem afrikanischen Kontinent geboren waren oder dort arbeiteten, und zwar in Lernzentren wie z.B. Kairo und Timbuktu (siehe Islamische Philosophie). Entsprechend war die Arbeit einiger der bedeutendsten Philosophen der christlichen Kirchenväter das Produkt von Gelehrten, die in Afrika geboren waren, wie beispielsweise Augustinus, und einiges davon wurde in den afrikanischen Provinzen Roms geschrieben. Unter den in Afrika geborenen Philosophen ist auch Anton Wilhelm Amo, der in dem Gebiet des heutigen Ghana geboren wurde und infolge einer Verkettung außerordentlicher Ereignisse eine philosophische Ausbildung in Deutschland zur Zeit der Aufklärung erhielt, bevor er an die Küste Guineas zurückkehrte, um an dem Ort zu sterben, wo er geboren war. Amos bemerkenswerte intellektuelle Leistungen spielten eine wichtige Rolle in der Polemik des 18. und 19. Jahrhunderts hinsichtlich der damals sog. ‚Fähigkeiten der Neger‘. Unglücklicherweise hat nur ein Teil seiner Arbeiten die Zeit überdauert. 3. Gegenwärtige Philosophie Die meisten Arbeiten afrikanischer Philosophie wurden von afrikanischen Intellektuellen unter dem Einfluss philosophischer Traditionen europäischer Länder beigesteuert (oft im Zusammenspiel mit Gelehrten außerhalb Afrikas), die Afrika kolonisierten und sein modernes Ausbildungssystem schufen. Weil sich diese Ausbildungssysteme aber unterschieden, ist es hilfreich sich klarzumachen, dass diese Arbeiten zwei im Großen und Ganzen verschiedenen Traditionen zuzurechnen sind, nämlich zum einen der frankophonen, und zum anderen der anglophonen. Während es stimmt, dass sich Philosophen in Gebieten unter französischem (und frankophon belgischem) kolonisiertem Einfluss gesondert von jenem unter britisch-kolonialer Kontrolle entwickelten, zeigt ein Vergleich ihrer Arbeiten, dass eine beständige Querverbindung zwischen ihnen bestand (wie dies auch allgemein zwischen den Philosophien der französisch- und der englischsprachigen Welt der Fall war). Eine weitere wichtige Kolonialmacht in Afrika war Portugal, dessen Engagement bei dem kolonialen Erziehungswesen weniger entwickelt war. Der einzige portugiesisch sprechende afrikanische Intellektuelle, der einen bedeutenderen philosophischen Beitrag leistete, ist Amίlcar Cabral, dessen Führung in der Unabhängigkeitsbewegung von Guinea Bissau und auf den Kapverdischen Inseln von einer philosophischen Ausbildung geprägt war, die vom portugiesischen Marxismus beeinflusst war. Cabral war nicht so einflussreich wie Frantz Fanon, der auf den Französischen Antillen geboren ist und später Algerier wurde. Er spielte eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung der politischen Philosophie in Afrika und großen Teilen der übrigen sog. „Dritten Welt“. 9
Afrikanische Philosophie, englischsprachige
Unter den wichtigsten politischen Denkern, die philosophisch beeinflusst waren, finden sich Kwame Nkrumah, Kenneth Kaunda und Julius Nyerere (siehe Afrikanische Philosophie, englischsprachige). Unter allen intellektuellen Bewegungen im Afrika des 20. Jahrhunderts waren die beiden wichtigsten die négritude und der Pan-Afrikanismus (siehe Afrikanische Philosophie, französischsprachige). Die Philosophie in Afrika hat sich in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend gewandelt, und darüber hinaus haben die afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt. In Anbetracht der Bedeutung des kolonialen Vermächtnisses bei der Gestaltung der modernen philosophischen Ausbildung in Afrika überrascht es nicht, dass es ernsthafte Diskussionen darüber gab, was es für die Philosophie eigentlich bedeutet, afrikanisch zu sein. Diese lebendigen Auseinandersetzungen, die auf den Gebieten der afrikanischen Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik vorherrschen, finden sich sowohl in der englisch-, als auch in der französischsprachigen Philosophie. Siehe auch: Marginalität; Postkolonialismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Eze, E. (1997): ‚Postcolonial African Philosophy: a Critical Reader‘, Cambridge, MA: Basil Blackwell (eine nützliche Sammlung wichtiger Arbeiten zeitgenössischer afrikanischer Philosophie). Masolo, D.A. (1994): ‚African Philosophy in Search of Identity‘, Edinburgh: Edinburgh University Press (eine kritische Geschichte der modernen afrikanischen Philosophie). K. ANTHONY APPIAH
Afrikanische Philosophie, englischsprachige
Die zeitgenössische afrikanische Philosophie ist im Fluss, aber dieser Fluss fließt nicht außerhalb gewisser Flussbetten. Der Hauptgrund hiefür liegt in der Tatsache, dass Afrika großenteils sich in einem Übergangszustand von einem traditionell bestimmten zu einem modernisierten Zustand befindet. Philosophisch und in anderer Hinsicht war die Errungenschaft der Unabhängigkeit das herausragendste Zeichen dieses Übergangs. Die Unabhängigkeit von der europäischen Führung (die 1951 in Libyen begann, 1956 gefolgt vom Sudan, 1957 Ghana und während der 1960er Jahre in schneller Folge in anderen Teilen Afrikas) ging nicht ohne Kampf vonstatten. Dieser Kampf war notwendigerweise sowohl politischer, als auch kultureller Natur. Der Kolonialismus brachte nicht nur die politische Unterwerfung, sondern auch einen kulturellen Identitätsverlust mit sich. Entsprechend hatte man im Zuge der Unabhängigkeit das starke Gefühl, dass die Pläne für den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau auch die Bedürfnisse nicht nur nach einer Modernisierung, sondern auch nach einer kulturellen Erholung widerspiegeln sollten. Dies sind Auswirkungen, die zwar untereinander grundsätzlich nicht unvereinbar, aber doch in der Praxis schwierig in eine harmonische Beziehung zu bringen sind. Zunächst musste die philosophische Grundlage eines entsprechenden Projektes ausgearbeitet werden, und dies wurde auch von der ersten Generation der unabhängigen Führer unternommen. Die Aufgabe der Ausarbeitung einer fachspezifischen Philosophie, die sich Afrikas Vergangenheit und Gegenwart bewusst ist und sich an seiner langfristigen Zukunft orientiert, wurde einer Gruppe von professionellen, in westlichen Ausbildungseinrichtungen geschulten Philosophen übergeben. Die phi-
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Afrikanische Philosophie, französischsprachige
losophischen Ergebnisse fielen hier nicht so dramatisch aus wie die politischen, aber der Prozess ist noch im Gange. Die politischen Persönlichkeiten, die Afrika in die Unabhängigkeit führten, waren ihrer ursprünglichen Neigung oder Ausbildung zufolge keineswegs Philosophen. Einige der am meisten bekannten, wie z.B. Leopold Senghor aus Senegal oder Kwame Nkrumah aus Ghana, waren geschulte Philosophen, während andere, wie beispielsweise Kenneth Kaunda aus Sambia, lediglich eine geschulte Intelligenz und einen guten Sinn für ihre jeweilige nationale Situation in das Unternehmen einbrachten. In allen Fällen handelte es sich jedoch um Führer, die von ihrem Volk enthusiastisch auserkoren waren, um den neuen Kurs zu realisieren und sie, d.h. das Volk, ins Gelobte Land zu führen. Ein Beispiel dafür, wie die praktische Dringlichkeit die philosophische Produktivität anfeuern kann, findet man in der Art und Weise, wie alle diese Philosophen Entwürfe für den Wiederaufbau vorlegten, die mit klaren philosophischen Begründungen unterlegt waren. Es waren eher die umständebedingten Notwendigkeiten als die platonische Auswahl, die diese Führer zu Philosophen-Königen machten. Es ist auch bedeutsam festzuhalten, dass alle der erwähnten Führer (und die Mehrheit von ihresgleichen) für ein sozialistisches System eintraten, das sie von ihrem Verständnis der afrikanischen Denktradition und Praxis ableiteten, sowie von ihrer Wahrnehmung der Imperative, die von der Industrialisierung ausgingen, so wie sie eben stattgefunden hatte. Hinsichtlich dieses letzten Aspekts der Situation flirteten manche der Führer mit dem Marxismus, und bei einigen von ihnen kam es zur regelrechten Hochzeit. Aber was die betroffenen Führer anging, so hatte das Ergebnis dieser gedanklichen Befruchtung ausreichend afrikanische Anteile, um als eines mit afrikanischer Herkunft zu gelten. Entsprechend vertraten alle ihre Theorien und Rezepte unter der Überschrift eines afrikanischen Sozialismus. Die Arbeiten der afrikanischen Philosophen können zwar nicht alle auf diesen Begriff gebracht werden, doch sind ihen einige sich wiederholende Formen der Besorgnis gemeinsam. Siehe auch: Afrikanische Philosophie, französischsprachige KWASI WIREDU
Afrikanische Philosophie, französischsprachige
Bei den vorstellungsstarken und intellektuellen Schriften, die im französischsprachigen Afrika entstanden, tendierte man dazu, sie ausschließlich mit der négritude-Bewegung und ihrer globalen Forderung einer schwarzen rassischen Identität, die auf einem ursprünglichen, afrikanischen Wesen gegründet sein sollte, in Verbindung zu bringen. Abgesehen von ihrer polemischen Haltung gegenüber dem Kolonialismus brachte diese Bewegung einen theoretischen Diskurs hervor, der als Mittel zur Stärkung des Selbstwertes sowohl speziell der Afrikaner, als auch der dunkelhäutigen Rassen im Allgemeinen diente. Dieser Diskurs entwickelte sich ferner in Gestalt einer Ausarbeitung einer neuen Weltsicht, die vom afrikanischen Kulturerbe einer neuen Humanität abgeleitet wurde und Anspruch auf universelle Geltung erhob. Trotz ihrer Prominenz in der intellektuellen Geschichte des frankophonen Afrikas und allgemein der „schwarzen Welt“ steht die négritude nicht für die ganze Bandbreite intellektueller Aktivität unter den französischsprachigen afrikanischen Bildungsoberschichten. Die Bedingungen ihrer Formulierung wurden vielmehr von Anfang an herausgefordert, was zu einer fortgesetzten Kontroverse führte. Diese Herausforderung betrifft die Gültigkeit des Begriffs négritude selbst und seine funkti11
Afrikanische Philosophie, französischsprachige
onale Bedeutung im zeitgenössischen afrikanischen Denken und kollektiven Leben. Sie brachte eine Debatte über das Wesen und die Natur der Afrikaner mit sich, sowie über die Möglichkeit der Konstruktion einer strengen und kohärenten Ideenstruktur (mit einem unbezweifelbar philosophischen Status), die von dem Glaubenssystem und den normativen Begriffen, die den Institutionen und kulturellen Praktiken innewohnen und aus Afrikas präkolonialer Vergangenheit fortbestehen. Die postkoloniale Situation hat den Rahmen dieser Debatte im französischsprachigen Afrika erweitert. Sie umfasst jetzt einen vielseitigeren Bereich, der die afrikanische Erfahrung der Moderne berührt. Als eine Erweiterung des ‚Eingeborenen‘Themas, die ihr Ausgangspunkt ist, umfassen die kulturellen und philosophischen Argumente, die von den Anhängern der négritude vorgebracht wurden, eine kritische Neubewertung der westlichen philosophischen Tradition und ihrer historischen Konsequenzen, sowie ein Überdenken ihres Umgestaltungspotentials im afrikanischen Kontext. Über den Essentialismus hinaus, den der Begriff der négritude und darauf bezogene Theorien des Afrikanismus mit sich bringen, steht das Problem der französisch-afrikanischen, intellektuellen Beschäftigung in Beziehung zu den Formen afrikanischer Existenz in der modernen Welt. Aus dieser Perspektive zeigt die Ideenbewegung unter den Oberschichten im französischsprachigen Afrika die Pluralität des afrikanischen Diskurses, wie er durch die fortgesetzte Krise des afrikanischen Bewusstseins geformt und durch den folgenschweren Übergang in die Moderne hervorgerufen wurde. Es lässt sich allerdings zwischen den Themen und philosophischen Denk- und Untersuchungsstilen im frankophonen Afrika einerseits und einigen der bedeutenden Strömungen der europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und dem Sozialgedanken andererseits unterscheiden, die grundlegende Fragen des Menschseins berühren und durch die Einwirkungen der modernen, technischen Zivilisation aufgeworfen wurden. Zwei vorherrschende Perspektiven bilden den Entwicklungsrahmen des zeitgenössischen Denkens und des philosophischen Diskurses im französischsprachigen Afrika: die erste betrifft die Frage der Identität und bringt die Forderung nach einer Herausgabe des kulturellen und geistigen Erbes mit sich, das als gefährdet empfunden wird; die zweite betrifft das, was ‚das Dilemma der Moderne‘ genannt und als eine problematische Dimension des zeitgenössischen afrikanischen Lebens und Bewusstseins erfahren wird. Siehe auch: Afrikanische Philosophie, englischsprachige; Marginalität F. ABIOLA IRELE
Agnostizismus
Im populären Wortsinne ist ein Agnostiker jemand, der an Gott weder glaubt noch nicht an ihn glaubt, während ein Atheist jemand ist, der definitiv nicht an Gott glaubt. Im strikten Wortsinne ist der Agnostizismus jedoch jene Sichtweise, derzufolge der menschliche Verstand nicht zur Beschaffung ausreichender rationaler Gründe imstande ist, um entweder den Glauben daran zu rechtfertigen, dass Gott existiert, oder den Glauben daran, dass er nicht existiert. Insofern jemand der Auffassung ist, dass unser Glaube nur dann rational ist, wenn er genügend durch den menschlichen Verstand gestützt wird, wird eine Person, die die Gültigkeit der philosophischen Position des Agnostizismus akzeptiert, meinen, dass weder der Glaube an die Existenz Gottes, noch jener, dass Gott nicht existiert, rational begründet sei. In der Moderne fühlten sich die Agnostiker weitgehend den Philosophien von Hume 12
Agrippa von Nettesheim (1186–1535)
und Kant angezogen, weil diese eine Rechtfertigung für den Agnostizismus als philosophische Position bereitstellten. Siehe auch: Atheismus; Naturtheologie WILLIAM L. ROWE
Agrippa von Nettesheim, Henricus Cornelius (1486 – 1535)
Agrippa, der im 16. Jahrhundert für seine Schriften berühmt war, in denen er verschiedentlich als Magier, Okkultist, evangelischer Humanist und Philosoph hervortritt, teilte mit anderen humanistischen Autoren eine gründliche Verachtung für die scholastische Philosophie. Hinsichtlich seiner stärker evangelischen Seiten könnte Agrippa als ein radikaler Exponent der philosophia Christi seines älteren Zeitgenossen Erasmus verstanden, oder als ein Nachfolger Luthers missverstanden werden, dessen frühe Schriften er in humanistischen Zirkeln aktiv verbreitete. Seine tiefste Affinität hatte er jedoch zu den magisch gewendeten Philosophien, z.B. dem Neoplatonismus und dem Hermetismus des Marsilio Ficino, sowie der synkretistischen christlichen Kabbalah von Giovanni Pico della Mirandola, Johannes Reuchlin und Johannes Trithemius. Wie bei der Darlegung seiner einflussreichen magischen Sicht der Sprache leistete Agrippa auch einen Beitrag zum Wiederaufleben des Skeptizismus im 16. Jahrhundert. Er denunzierte die Tyrannei jener, die die freie Suche nach der Wahrheit behinderten, kritisierte die Unterdrückung der Frau und widerstand (mit einem für seine Zeit ungewöhnlichen Mut) den Anstiftern des Hexenwahns und verhöhnte sie. Indem Agrippa in den hermetisch-kabbalistischen Lehren die innere Wahrheit sowohl der Religion, als auch der Philosophie fand, war er sich auch über die Parallelen zwischen diesen magischen Lehrgebäuden und den gnostischen Häresien bewusst. Seine Heterodoxie machte ihn zum Ziel frommer Hetzreden: während einiger Jahrzehnte nach seinem Tode wurde er zum Protagonisten dämonisierender Fiktionen, die bald von der Legende des Dr. Faustus absorbiert wurden. Siehe auch: Feminismus § 2; Hermetismus; Humanismus, Renaissance; Kabbalah; Platonismus in der Renaissance MICHAEL H. KEEFER
Akrasie
Das griechische Wort ‚akrasia‘ wird üblicherweise aufgefasst als die wörtliche Übersetzung zur Bezeichnung des Verlusts der Selbstkontrolle, es wird aber inzwischen gemeinhin als allgemeiner Ausdruck für das Phänomen der Willensschwäche oder Inkontinenz benutzt, also als die Disposition zu einem Handeln entgegen dem vom Handelnden selbst gefassten Urteil, welche die beste für ihn angesagte Handlung sei. Da eine Variante der Akrasie die Unfähigkeit zu einem Handeln entsprechend dem ist, was man für richtig hält, ist die Akrasie offenkundig für den Moralphilosophen wichtig, sie wird aber auch häufig im Kontext der Handlungstheorie in Anspruch genommen. Die Akrasie ist für Philosophen der Handlungstheorie interessant, weil trotz ihres offensichtlichen Auftretens, d.h. der Tatsache, dass Menschen häufig auf eine Weise handeln, die nach ihrer Auffassung im Widerspruch zu ihren eigenen positiven Interessen, moralischen Grundsätzen oder langfristigen Zielen steht, es sich gleichwohl aus gewissen und offenkundig plausiblen Standpunkten über die intentionale Handlung zu ergeben scheint, dass die Akrasie schlicht und einfach nicht möglich ist. Eine berühmte Fassung des Vorschlages, dass es die 13
Al-Ghazali, Abu Hamid (1058–1111)
eigentliche Akrasie nicht geben kann, findet sich bei Sokrates, wie er durch Platon im ‚Protagoras’ dargestellt wird. Sokrates macht geltend, dass es unmöglich zum Wissen einer Person gehören könne, was für sie am besten sei, und gleichzeitig von solchen Dingen wie dem Verlangen nach Vergnügen überwältigt zu werden (weil dies nicht am besten für sie sein kann), und dass folglich niemand einen Handlungsverlauf wählen kann, von dem er in vollem Umfange weiß, dass er weniger gut verläuft als andere ihm als verfügbar bekannte Alternativen. Jeder, der sich dazu entschließt etwas zu tun, dass in Wirklichkeit schlechter ist als etwas, dass er stattdessen getan haben könnte, muss nach Sokrates die relativen Werte der Handlungen falsch beurteilt haben. Siehe auch: Aristoteles § 23; Moralische Akteure; Moralpsychologie; Vernunft, Praktische; Selbsttäuschung, Ethik der; Sokrates § 6; Wille, der HELEN STEWARD
Akteur, moralischer
Siehe: Moralische Akteure
Al-Ghazali, Abu Hamid (1058–1111)
Al-Ghazali war einer der größten islamischen Juristen, Theologen und mystischen Denker des Mittelalters. Er lernte verschiedene Zweige der traditionellen islamischen religiösen Wissenschaften in seinen Heimatorten Tus, Gurgan und Nishapur im Norden Irans kennen. Er war von Kindheit an auch mit Sufi1-Praktiken vertraut. Nachdem er von Nizam al-Mulk, dem Wesir der Seldschuken-Sultane, anerkannt worden war, wurde er im Jahre 1091 zum Leiter der Nizamiyyah-Schule in Bagdad ernannt. Als der intellektuelle Kopf der islamischen Gemeinde lehrte er dort eifrig die islamische Rechtswissenschaft, wehrte Häresien ab und beantwortete Fragen aus allen Kreisen der Gemeinde. Vier Jahre später fiel al-Ghazali jedoch in eine ernsthafte spirituelle Krise und verließ Bagdad schließlich, verzichtete auf seine weitere Karriere und seine gesamte weltliche Anerkennung. Nach zweijährigen Wanderungen durch Syrien und Palästina und dem Abschluss einer Pilgerreise nach Mekka kehrte er nach Tus zurück, wo er bis zu seinem Tode Schriften verfasste, Sufi praktizierte und seine Schüler lehrte. Zwischenzeitig nahm er für einige Jahre nochmals die Lehrtätigkeit an der Nizamiyyah Schule in Nishapur auf. Al-Ghazali erklärt in seiner Autobiographie, warum er auf eine brillante Karriere verzichtete und sich dem Sufismus zuwandte. Dies geschah, so sagt er, infolge seiner Einsicht, dass es keine Möglichkeit der sicheren Erkenntnis und keine Überzeugung einer geoffenbarten Wahrheit gebe, außer durch den Sufismus. (Dies bedeutet, dass die traditionelle Form des islamischen Glaubens zu jener Zeit in seinem sehr kritischen Zustand gewesen sein muss.) Diese Einsicht steht möglicherweise in Zusammenhang mit seiner Kritik der islamischen Philosophie. Tatsächlich ist seine Zurückweisung der Philosophie nicht nur eine Kritik von einem bestimmten orthodox-theologischen Standpunkt aus gesehen. Zunächst war seine Haltung ge1 Der Sufismus ist seiner Form nach islamische Mystik. Inhaltlich wird er häufig mit dem christlichen Gnostizismus in Verbindung gebracht. Die Gnostiker behaupteten, die Sufis seien eigentlich unabhängig von einer Religionszugehörigkeit und diese Bewegung sei wesentlich älter als der geschichtliche Islam. Die Sufis selber betonen dagegen, dass sich der Sufismus erst seit dem Auftreten des Propheten Mohammed zu voller Blüte entfaltet habe, und dass der Islam die beste metaphysische Lehre für die geistige und seelische Entwicklung des Menschen anbiete. [WS]
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Albert der Große (1200–1280)
genüber der Philosophie ambivalent; sie war für ihn sowohl Gegenstand der Kritik und des Lernens, z.B. in Betreff der Logik und der Naturwissenschaften. Er meisterte die Philosophie zunächst und kritisierte sie dann, um sie zu islamisieren. Die Bedeutung seiner Kritik liegt in seiner philosophischen Demonstration, dass die metaphysischen Argumente des Philosophen der Überprüfung durch die Vernunft nicht standhalten. Er sah sich folglich gezwungen zuzugeben, dass die Gewissheit der offenbarten Wahrheit, nach der er so verzweifelt suchte, nicht durch die Vernunft zu erlangen ist. Erst später erlangte er diese Wahrheit im ekstatischen Zustand (der fana) des Sufismus. Auf der Grundlage seiner eigenen religiösen Erfahrung arbeitete er an einer Wiederbelebung des islamischen Glaubens im Wege einer Rekonstruktion der religiösen Wissenschaften auf der Basis des Sufismus, um ihm unter dem Einfluss der Philosophie eine theoretische Grundlage zu geben. Dadurch gelangte der Sufismus in der islamischen Gemeinde zu allgemeiner Anerkennung. Obwohl die islamische Philosophie Al-Ghazalis Kritik nicht lange überdauerte, steuerte er doch Bedeutendes zur nachfolgenden philosophischen Durchdringung der islamischen Theologie und des Sufismus bei. Siehe auch: Ibn Rushd; Ibn Sina KOJIRO NAKAMURA
Albert der Große (1200–1280)
Albert der Große war sowohl der erste scholastische Interpret von Aristoteles’ Werk in seiner Gesamtheit, als auch ein Theologe und Prediger. Er hinterließ einen enzyklopädischen Textkörper, der alle Gebiete des mittelalterlichen Wissens umfasst, und zwar sowohl in der Philosophie (Logik, Ethik, Metaphysik, Naturphilosophie, Meteorologie, Mineralogie, Psychologie, Anthropologie, Physiologie, Biologie, Naturwissenschaft und Zoologie), als auch in der Theologie (biblische Kommentare, systematische Theologie, Liturgie und Moralpredigten). Seine philosophische Arbeit beruht sowohl auf arabischen (einschließlich Alfarabi, Avicenna und Averroes), als auch griechischen und byzantinischen Quellen (wie z.B. Eustratius von Nikäa und Michael von Ephesos). Sein Ziel war es sicherzustellen, dass die lateinische Welt richtig in die Philosophie eingeführt wird, indem man ihr eine systematische Darstellung der aristotelischen Standpunkte an die Hand gibt. Alberts Darstellungsmethode (eher Paraphrasen, d.h. Umschreibungen, im Stile des Avicenna als wörtliche Kommentare wie bei Averroes), die relative Heterogenität seiner Quellen und die eigene allgemeine Absicht ‚zur Aufzählung der Meinungen der Philosophen ohne irgendeine Behauptung über deren Wahrheit‘, zu der er sich bekannte, trägt zu einem eklektizistischen Anstrich seiner Arbeit oder gar zu dem Eindruck einer theoretischen Inkonsistenz bei. Dies wurde noch durch die Natur und Anzahl falscher Texte verschlimmert, die ihm ab dem vierzehnten Jahrhundert traditionell auf dem Gebiet der Alchemie, der Geburtenkunde, der Magie und Nekromantie zugeschrieben wurde, wie z.B. ‚Der Große und der Kleine Albert. Die Geheimnisse der Frau’ und ‚Die Geheimnisse der Ägypter’. Dieser Eindruck verflüchtigt sich jedoch, wenn man seine authentischen Arbeiten im Lichte der Geschichte des mittelalterlichen Aristotelismus und der Rezeption philosophischer Quellen der Spätantike im Kontext der Universität des dreizehnten Jahrhunderts studiert. Siehe auch: Aristoteles; Ibn Rushd; Ibn Sina; Liber de Causis; Neuplatonismus; Thomas von Aquin ALAIN DE LIBERA 15
Alchemie
Albertus Magnus
Siehe: Albert der Grosse
Alchemie
Alchemie ist die Suche nach einem materiell perfekten Wirkstoff, der mittels einer kreativen Arbeit (opus) und im Zusammenspiel von Menschen und Natur hergestellt wird. Es gibt sie in vielen Kulturen (China, Indien, dem islamischen Kulturraum; in der westlichen Welt seit den Zeiten des Hellenismus) in unterschiedlichen Spielarten: als Versuch der Herstellung von Gold und/oder anderen perfekten Substanzen aus grundlegenderen Stoffen, oder der Herstellung von Elixieren zur Lebensverlängerung, oder sogar des Lebens selbst. Wegen ihres Zwecks ist die alchemistische Suche immer eng an die jeweiligen religiösen Erlösungslehren in all jenen Zivilisationen gebunden, in denen die Alchemie praktiziert wurde. In der westlichen Welt stellte sich die Alchemie anfangs als eine heilige Kunst dar. Als sie aber nach einem langen Umweg über Byzanz und die islamische Kultur im 12. Jahrhundert wieder nach Europa zurückkehrte, bezeichneten sich ihre Anhänger selbst als Philosophen. Seitdem hat sie sich über viele Jahrhunderte in Gegensatz zur Naturphilosophie gestellt. Im zeitgenössischen Denken wurde die Erinnerung an die Alchemie, außer als Protochemie oder als Zweig der Esoterik, kaum beachtet, bis das Interesse an ihr durch C.G. Jung wieder belebt wurde. Die jüngste Forschung zeigt in steigendem Maße die Komplexität der Alchemie und ihre vielfältigen Beziehungen zum westlichen Denken auf. MICHELA PEREIRA
Alkibiades
Siehe: Platon
Al Farabi, Abu Nasr (870–950)
Al Farabi wurde von den Arabern der ‚Zweite Meister‘ (nach Aristoteles) genannt, und dies mit gutem Grund. Es ist ein unglücklicher Zufall, dass sein Name von späteren Philosophen wie z.B. Ibn Sina überschattet wurde, denn Al Farabi ist einer der großen Philosophen der Weltgeschichte und wesentlich origineller als viele seiner islamischen Nachfolger. Neben seinen Tätigkeiten als Philosoph, Logiker und Musiker war er auch ein bedeutender Wissenschaftler des Politischen. Al Farabi hat uns keine Autobiographie hinterlassen, und deshalb wissen wir relativ wenig über sein Leben. Sein philosophisches Vermächtnis ist jedoch umfangreich. Im Bereich der Metaphysik bekam er den Namen des ‚Vaters des islamischen Neuplatonismus‘, und während er vom Aristotelismus durchdrungen war und sicherlich das Vokabular des Aristoteles verwandte, ist es doch die neuplatonische Dimension, die einen großen Teil seiner Texte beherrscht. Dies wird in den meisten seiner berühmten Werke deutlich, wie z.B. in ‚Al-Madina al-fadila’ (‚Die tugendhafte Stadt‘), das, obwohl es weit davon entfernt ist, eine Kopie oder Nachahmung von Platons ‚Politeia’ zu sein, von dem neuplatonischen Gottesbegriff durchtränkt ist. Zwar enthält ‚Al-Madina al-fadila’ unbestreitbar platonische Elemente, aber seine Theologie – im Gegensatz zu seiner Behandlung politischer Angelegenheiten – siedelt es außerhalb der Hauptströmungen des reinen Platonismus an. In seiner zugegebenermaßen komplexen Erkenntnistheorie zeigt Al Farabi sowohl aristotelische, als auch neuplatonische Züge, die beide aber nicht vollständig 16
Alighieri, Daten (1265–1321)
ineinander integriert sind. Sein Einfluss reichte weit und erstreckte sich nicht nur auf die großen islamischen Philosophen wie z.B. Ibn Sina, der ihm nachfolgte, und auf die weniger bedeutenden wie Yahya ibn ‘Adi, Al Sijistani, Al ’Amiri und Al Tawhidi, sondern auch auf die großen Denker des christlichen, mittelalterlichen Europa, einschließlich Thomas von Aquin. Siehe auch: Ibn Sina IAN RICHARD NETTON
Algazel
Siehe: Al-Ghazali, Abu Hamid
Alighieri, Dante (1265–1321)
Obwohl Dante niemals eine systematische philosophische Ausbildung erhielt, befasste er sich mit einigen der kontroversesten philosophischen Probleme seiner Zeit. In seiner Theorie der Wissenschaften fragte er, wie wir es erklären sollen, dass die Wissenschaft ein einheitliches, streng geordnetes Wissenssystem darstellt. Er antwortete darauf, indem er die wissenschaftlichen Disziplinen mit den himmlischen Sphären verglich, wobei er behauptete, dass das Wissenssystem ein Spiegel der kosmischen Ordnung sei. In seiner politischen Philosophie fragt er, warum alle Menschen in friedlicher Gesellschaft miteinander leben wollen. Alle Menschen streben nach einem vollen Gebrauch ihrer kognitiven Fähigkeiten, lautete seine Antwort, und sie können dies nur erreichen, wenn sie sich sozial zueinander verhalten. In seiner Naturphilosophie fragt Dante, was die Ordnung der Elemente hervorbringt, und schlug vor, dass die Elemente den Gesetzen einer universellen Natur in einem streng geordneten Kosmos gehorchen. Er arbeitete alle diese Antworten im scholastischen Rahmen aus, wobei er sich sowohl der aristotelischen, also auch der neuplatonischen Traditionen bediente. Siehe auch: Kosmologie; Politischen Philosophie, Geschichte der; Renaissance-Philosophie DOMINIK PERLER
Allgegenwart
Die abendländische Heilige Schrift und die religiöse Erfahrung sagen, dass Gott überall und immer gegenwärtig sei. Die abendländischen Denker verleihen dieser Vorstellung entsprechend ihrem Begriff von Gott einen Sinn. Die Pantheisten meinen, Gottes Allgegenwärtigkeit bedeute, dass jedes Stückchen Materie ein Teil oder ein Aspekt Gottes sei. Sie sagen damit, dass Gott dadurch, dass er die Seele des Universums ist, mittels seiner Allgegenwart das gesamte Universum belebt, so wie auch die Seele den Körper belebt. Die meisten Theisten verwerfen jedoch diese Auffassung und meinen, dass Gott, wenn er vollkommen ist, nicht aus einem fehlerbehafteten und materiellen Universum bestehen oder in ihm verkörpert sein könne. Die meisten Theisten gehen vielmehr davon aus, dass Gott auf spezifische Weise unräumlich sei, d.h. auch dann noch zu existieren vermag, wenn gar kein Raum existiert. Dennoch meinen sie, dass Gottes Wissen von der Schöpfung und seine Macht über sie ihn immer noch innerhalb des Universums gegenwärtig machen, ohne dass er selbst Raum einnehme oder in der Materie verkörpert sei. Einige fügen noch hinzu, dass Gott im Raum nicht allein aufgrund seiner Macht und seines Wissens anwesend sei, sondern durch sein Sein an sich selbst. Sie versuchen damit einen räumlich ausdehnungslosen Gott in seiner räumlichen Gegenwart zu erklären, 17
Allmacht
indem sie dies mit der Gegenwart eines universalen Attributs wie z.B. der Härte vergleichen. Die Härte ist nicht über harte Oberflächen ausgedehnt, indem sie diese durch Vereinnahmung von Teilen dieser Oberfläche hart macht. Jeder Teil einer harten Oberfläche ist hart. Die Härte ist also in jedem Teil der harten Oberfläche realisiert. Und so, sagen die Theisten, ist Gott nicht über den Raum ausgedehnt, indem er Teile davon ausfüllt, die auch Teile seiner selbst sind. Stattdessen ist alles von Gott in jedem Punkt des Raumes und in jedem räumlich ausgedehnten Gegenstand vollständig gegenwärtig. Siehe auch: Okkasionalismus BRIAN LEFTOW
Allmacht
Der traditionelle Theismus versteht Gott als das denkbar vollkommenste Wesen. Nach dieser herkömmlichen Konzeption besitzt Gott gewisse Eigenschaften, die ihm diese Größe oder Vollkommenheit verleihen, einschließlich jener der notwendigen Existenz, der Allwissenheit, der vollkommenen Güte und der Allmacht. Philosophische Reflexionen über den Begriff der Allmacht werfen viele verwirrende und offenkundig paradoxe Fragen auf. Könnte ein allmächtiger Akteur beispielsweise einen so mächtigen Stein erschaffen, den er selbst nicht mehr von der Stelle zu bewegen vermag? Vermag er dies, so würde er damit eine Grenze seiner eigenen Allmacht erzeugen, was dem Begriff der Allmacht selbst widerspricht; vermag er es nicht, so ist er offenbar von vornherein gar nicht allmächtig, weil es dann ja etwas gibt, was er nicht kann. – Auch wenn man diese Frage konsistent zu beantworten vermag, so zeigt sich doch, dass ein allmächtiger Akteur paradoxerweise nicht wirklich allmächtig ist. Könnte ein solcher Akteur die Macht haben, notwendige logische und mathematische Wahrheiten neu zu erschaffen oder bestehende umzustürzen? Könnte ein Akteur dieser Art die Vergangenheit verändern? Ist der Begriff eines allmächtigen Akteurs, der nicht Gott ist, zu verstehen? Könnten zwei allmächtige Akteure gleichzeitig existieren? Wenn es Sachverhalte gibt, die auch ein allmächtiger Akteur nicht hervorzubringen vermag, wie muss dann der Begriff der Allmacht auf nachvollziehbare Weise definiert werden? Denn wenn der Begriff der Allmacht uneinsehbar ist, muss der traditionelle Theismus falsch sein. Ein weiteres Hindernis des traditionellen Theismus entsteht, wenn es Gott unmöglich sein sollte, gleichzeitig vollkommen gut und allmächtig zu sein. Wenn ein allmächtiger Gott dem Bösen gegenüber machtlos ist, wie kann Gott dann allmächtig sein? Siehe auch: Freiheit, göttliche; Gott, Begriffe von; Prozesstheismus JOSHUA HOFFMAN; GARY ROSENKRANTZ
Allwissenheit
Der Begriff der Allwissenheit erfuhr große Aufmerksamkeit in der Geschichte der abendländischen Philosophie, und zwar grundsätzlich wegen seiner Verbindung mit der abendländisch-religiösen Tradition, die Gott in jeder Hinsicht als vollkommen betrachtet, einschließlich seines Wissensumfanges. Die Allwissenheit wurde oft als Wissen aller wahren Aussagen verstanden, und obwohl hiergegen zahlreiche Einwände gegen jede zu einfache Konzeption der Allwissenheit erhoben wurden, befürworten doch viele Philosophen weiterhin diese Auffassung. Die Vertreter der göttlichen Allwissenheit diskutierten bereits viele Probleme im Zusammenhang sowohl mit dem Umfang der Allwissenheit, als auch mit der Beziehung zwischen die18
Alltagsphilosophie
ser Eigenschaft und anderen mutmaßlich göttlichen Attributen. Drei Fragen ergeben sich hier: Kann ein allwissendes Wesen kohärent als unveränderlich betrachtet werden? Hat ein allwissendes Wesen auch Wissen über die Zukunft, und ist ein solches Wissen konsistent mit einer Konzeption unserer künftigen Handlungen als wirklich freie Handlungen? Und sollte die Allwissenheit nicht als etwas gedacht werden, was auch die sog. ‚scientia media‘ beinhaltet?2 Das heißt: Würde ein allwissendes Wesen gleichzeitig wissen und dennoch keine Kontrolle darüber haben, was andere freie Wesen tatsächlich frei tun werden, wenn sie sich in unterschiedlichen Situationen befänden? Siehe auch: Gott, Begriffe von THOMAS P. FLINT
Alltagsphilosophie
Der Ausdruck ‚Alltagsphilosophie‘ (engl.: common sense philosophy) bezieht sich auf einen der Hauptansätze der traditionellen Erkenntnistheorie, wo jemand sich selbst die folgenden sokratischen Fragen stellt: (1) Was kann ich wissen? (2) Wie kann ich zwischen meinen vernünftigen Überzeugungen und solchen, die für mich nicht vernünftig sind, unterscheiden? (3) Was kann ich tun, um unvernünftige Überzeugungen durch vernünftige Überzeugungen über dieselbe Angelegenheit zu ersetzen, und um Überzeugungen, die nicht so vernünftig sind, durch vernünftigere zu ersetzen? Das Kennzeichen der Alltagsphilosophie ist im Wesentlichen der Glaube an sich selbst, d.h. eine Überzeugung, dass ein Mensch, indem er umsichtig verfährt, fähig ist, die Welt, in der er sich befindet, zu erkennen. Jede Untersuchung muss mit irgendeiner Überzeugung beginnen. Wenn man überhaupt keine Überzeugungen hat, kann man nicht einmal mit der Untersuchung beginnen. Folglich ist jede Menge von Überzeugungen besser als gar keine. Ferner haben die Überzeugungen, die wir bei uns zu einer bestimmten Zeit antreffen, immerhin frühere Untersuchungen und Erfahrungen überdauert. Und es ist psychologisch unmöglich, alles zurückzuweisen, was man glaubt. ‚Zweifeln’, sagt C.S. Peirce, ‚ist nicht so leicht wie lügen.’ Eine Untersuchung, die vom Alltagsverstand geleitet ist, führt uns zu einer Reihe von Überzeugungen, die darauf hinweisen, dass der Alltagsverstand im Ganzen gesehen ein verlässlicher Führer zur Erkenntnis ist. Und wenn die Untersuchung nicht vom Alltagsverstand geleitet würde, wie sollte es dann möglich sein, die drei sokratischen Fragen zu beantworten, mit denen er beginnt? Siehe auch: Kontextualismus, Erkenntnistheoretischer RODERICK M. CHISHOLM
Luis de Molina (1535–1600) lehrte die Bedingtheit der göttlichen Heilsabsichten infolge Gottes Rücksicht auf den von ihm vorausgewussten Willen der Menschen. Molina meinte damit das Problem der Vereinbarkeit der göttlichen Gnade mit dem freien menschlichen Willen (concursus divinus) zu lösen. Durch die Behauptung einer scientia media versuchte Molina, die göttliche Allwissenheit mit der menschlichen Willensfreiheit zu vereinen: Gott wisse vorher, wie seine frei geschaffenen Geschöpfe sich unter den vorgegebenen Bedingungen entscheiden würden; darum könne Gott die Verhältnisse so schaffen, dass sich die Menschen frei nach seinem Ratschluss entscheiden. – Diese Lehre widerspricht der praemotio-physica-Lehre der Thomisten (siehe Aquin, Thomas von). [WS]
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Alltagssprache, philosophische Schule der
Alltagspsychologie
Es besteht weitgehende Uneinigkeit über die Bedeutung gewöhnlicher Bezeichnungen geistiger Zustände (wie beispielsweise ‚Überzeugung‘, ‚Wunsch‘, ‚Schmerz‘). W.S. Sellars meinte, dass unser Gebrauch dieser Ausdrücke von einer weit verbreiteten Theorie namens ‚Volks- oder Alltagspsychologie‘ geleitet sei. Dieser Vorschlag gewann empirische Unterstützung durch psychologische Studien der Selbstzuschreibung, und auch in der wachsenden Literatur zu der Frage, wie Kinder alltägliche Bezeichnungen mentaler Zustände erwerben (oder im Falle von Autisten: nicht erwerben). Kürzlich entbrannte eine sehr lebendige Debatte darüber, ob die Menschen wirklich eine ‚Theorie‘ über den Geist haben, oder ob sie nicht stattdessen mit einer Art von ‚Simulation‘ geistiger Prozesse umgehen. STEPHEN P. STICH, GEORGES REY
Alltagssprache, philosophische Schule der
Die Bezeichnung ‚Philosophie der Alltagssprache‘ (engl.: ordinary language philosophy) wurde mehr von den Gegnern, als von den mutmaßlichen Fachleuten dessen verwendet, was damit bezeichnet werden sollte. Der Titel sollte eine gewisse Art des Philosophierens identifizieren, die hauptsächlich in Großbritannien und hier vor allem in Oxford nach 1945 über ca. 20 Jahre hinweg blühte. Ihre Gegner fanden es bequem, die Gegenstände ihrer Feindseligkeit unter einem einzigen Namen zusammenzufassen, während die Anhänger, auf die sie es abgesehen hatten, sich dadurch stärker der zwischen ihnen bestehenden Divergenzen bewusst wurden, und auch der tatsächlichen Armut einer gemeinsamen philosophischen Lehre. Sie hätten vielleicht zugegeben, eine ‚Gruppe‘ zu sein, aber kaum eine ‚Schule‘. Die scharfe Feindseligkeit, die diese Gruppe hervorrief, hatte zwei unterschiedliche Aspekte. Einerseits wurde ihre Philosophie unter gewissen (in der Regel älteren) Philosophen und noch häufiger in der ernsthaft gesonnenen Öffentlichkeit als banausisch, subversiv, beschränkt und sogar als absichtlich trivial bezeichnet; andererseits sahen Philosophen wie Russell, Popper und Ayer, die bereit waren, die Bedeutung der Sprachphilosophie zuzugestehen, eine Beschäftigung speziell mit der Alltagssprache als eine Art närrischer Verirrung an, oder sogar als eine Perversion und als Verrat an der modernen Arbeit auf diesem Gebiet. Wie konnte die Philosophie der Alltagssprache schließlich doch noch die ihr gebührende Aufmerksamkeit erlangen? Dies war vielleicht zum Teil eine Sache des Stils. Diejenigen, die man für Mitglieder der Schule hielt, reagierten bewusst feindselig auf die hochfliegende, lose Rhetorik des altmodischen Idealismus und auf die angeblich ‚tiefen‘ Paradoxa und die Geheimnistuerei ihrer kontinentaleuropäischen Zeitgenossen, aber auch auf jede Art akademischen Jargons und seiner Neologismen, auf technische Fachausdrücke und das Streben nach ‚wissenschaftlicher‘ Professionalität. Sie bevorzugten stattdessen, manchmal mit Witz und einer Spur von Eleganz, die Alltagssprache. Hierin war ihnen G.E. Moore ein wichtiger Vorläufer. Neben dem Stil gab es allerdings auch einige maßgebliche sprachphilosophische Lehren, wenn auch diese weniger allgemein anerkannt waren. Wittgenstein, der vermutlich der am meisten verehrte Philosoph dieser Epoche war, ging so weit vorzuschlagen, dass philosophische Probleme im Allgemeinen darin bestünden oder sich daraus ergäben, dass die Alltagssprache missverstanden oder verzerrt würde, und dass ein ‚klarer Blick‘ zu ihrer Auflösung führte. Viele stimmten ihm darin zu,
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Althusser, Louis Pierre (1918–1990)
dass hierin eine gewisse Wahrheit läge, wenn auch wahrscheinlich nicht die ganze. Sodann kam man allgemein zu der Auffassung, dass die Alltagssprache unumgänglich fundamental für alle unseren intellektuellen Bemühungen sei; man müsse sie sich als eine Art Beginn oder Anfang vorstellen, der den vertrauten Hintergrund und die Ausdrücke liefere, in die die technische Verfeinerung erst eingeführt und auf ihr aufbauend verstanden werden könne. Sie könne deshalb nicht einfach vernachlässigt oder sorglos abgetan werden. Und wieder drängten einige, vor allem J.L. Austin, darauf, dass unsere überkommene Alltagssprache zumindest in einigen Gebieten ein lang entwickeltes, komplexes und subtiles Gebilde sei, bei deren sorgfältigem Studium man zumindest mit einem hilfreichen Beginn bei der Suche nach philosophischer Klarheit rechnen könne. Es war vielleicht dieser bescheidene Anspruch – bei seinen Kritikern übertrieben und sogar karikiert –, der am häufigsten als das Credo der Philosophen der Alltagssprache kolportiert wurde. Wichtig war auch, dass Russell, wie übrigens auch Wittgenstein, als er seinen ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘ schrieb, ganz im Gegensatz zur Philosophie der Alltagssprache fest daran glaubte, dass diese nur die primitive, verwirrende und selbst verworrene Oberfläche sei, unter der die Theoretiker die eigentliche Form sowohl der Sprache, als auch der Logik zu suchen hätten. GEOFFREY WARNOCK
Althusser, Louis Pierre (1918–1990)
Louis Althusser war der einflussreichste Philosoph beim Wiedererstarken der marxistischen Theorie anlässlich der radikalen Bewegungen der 1960er Jahre. Sein Einfluss ist in Anbetracht dieses Umstandes erstaunlich, denn seit Althusser ist Marx nicht mehr der Theoretiker einer revolutionären Selbstemanzipation, wie sie vom frühen Lukácz gefeiert wurde. Nach Althusser war Marx zusammen mit Freud für eine Dezentrierung des menschlichen Subjekts verantwortlich. Die Geschichte sei ein ‚Prozess ohne Subjekt‘. Ihre Bewegung finde jenseits des Verständnisses einzelner oder kollektiver Subjekte statt und könne nur mittels einer wissenschaftlichen, ‚theoretischen Praxis‘ begriffen werden, die einen Abstand von der Alltagserfahrung bewahre. Diese karge Fassung des Marxismus erfasste gleichwohl die Vorstellungskräfte vieler junger Intellektueller, indem sie nach einer ‚Rückkehr zu Marx‘ riefen, was zur Folge hatte, das Althussers Schriften durch die ‚offizielle’ kommunistische Bewegung entstellt wurden. Tatsächlich gab Althusser später zu, das sein Marxismus ein imaginärer war, d.h. eine Rekonstruktion des historischen Materialismus, der dasselbe philosophische Klima widerspiegelte, dass auch die poststrukturalistische Aneignung von Nietzsche und Heidegger bis Deleuze, Derrida und Foucault hervorbrachte. Ein Großteil der philosophischen Schwierigkeiten, in denen sich Althusser befand, können auf die Unmöglichkeit einer Verschmelzung des Marxschen und Nietzscheschen Denkens mit dem Ziel einer neuen Synthese zurückgeführt werden. Siehe auch: Dialektischer Materialismus ALEX CALLINICOS
Altruismus
Siehe: Egoismus und Altruismus
Analekta
Siehe: Konfuzius
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Analysis, philosophische Aspekte der
Analogien in den Naturwissenschaften Siehe: Induktiver Schluss; Modelle
Analysis, philosophische Aspekte der
Der Ausdruck ‚mathematische Analysis‘ bezieht sich auf einen größeren Zweig der Mathematik, der sich mit der Theorie der Funktionen befasst. Er beinhaltet die Differential- und die Integralrechnung. Die Analysis und die entsprechenden Rechenmethoden (‚Kalkül‘) begannen mit dem Studium von Kurven, wobei das Kalkül sich mit Tangenten an und den Flächen unter Kurven befasste. Die Aufmerksamkeit wandte sich den Funktionen zu, wobei sie nach Leibniz und Isaac Newton in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Einsicht folgte, dass eine Kurve der Graph einer Funktion ist. Die algebraische Grundlegung erfolgte durch Lagrange im späten 18. Jahrhundert. Ausgehend davon, dass jede Funktion sich immer in einer Potenzreihe ausdehnt, definierte er die Ableitungen der Koeffizienten der Terme. In den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde seine Annahme durch Cauchy widerlegt, der bereits eine vierte Vorgehensweise vorgelegt hatte, die wie diejenige von Newton auf Grenzziehungen aufbaute, jedoch wesentlich sorgfältiger formuliert war. Diese wurde weiter verfeinert durch Weierstraß, und zwar mit Mitteln, die bei der Schöpfung der Mengentheorie halfen. Die Analysis umfasst ferner die Grenzwerttheorie und die Konvergenz und Divergenz infiniter Folgen; moderne Fassungen nutzen auch die Punktmengentopologie. – Die Analysis nahm über die Jahrhunderte zahlreiche Formen an, von denen die älteren immer noch in einigen Schreibweisen und Ausdrücken erhalten sind. Philosophische Fragen betreffen den Status der infinitesimalen Zahlen, die Stellung der Logik in der Formulierung der Beweise, die Definitionstypen und die (Nicht-)Beziehung zu analytischen Beweismethoden. Siehe auch: Kontinuum-Hypothese I. GRATTAN-GUINNESS
Analytische Philosophie
Die philosophische Analyse ist eine Untersuchungsmethode, in der man sich um eine Beurteilung komplexer Gedankensysteme bemüht, indem man sie in einfachere Elemente zerlegt, deren Beziehungen dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Diese Methode hat eine lange Geschichte, trat aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders in den Vordergrund, als sie durch Aufnahme in Russells Entwicklung der logischen Theorie wesentlich anspruchsvoller wurde als zuvor. Die logischen Positivisten entwickelten die Methode während der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts weiter und behaupteten im Kontext ihres antimetaphysischen Programms, dass die Analyse die einzig legitime philosophische Untersuchungsmethode sei. Für sie konnte Philosophie folglich nur noch ‚analytische Philosophie‘ sein. Nach 1945 dehnten jene Philosophen, die die philosophische Untersuchung über die von den Positivisten vorgeschriebenen Grenzen hinaus erweitern wollten, das Verständnis der Analyse dahingehend aus, dass sie Darstellungen der allgemeinen Strukturen der Sprache und der Gedanken zuließen, jetzt jedoch ohne die frühere Festlegung auf eine Identifikation ‚einfacher‘ Elemente der Gedanken. Folglich entwickelte sich ein etwas entspannterer Begriff der ‚linguistischen Analyse‘, und das Verständnis der sog. ‚Analytischen Philosophie‘ veränderte sich dergestalt, dass nunmehr eine kritische Befassung mit der Sprache und der Bedeutung von Sprache als ihr zentrales Moment aufgefasst wurde, was tatsächlich zu einer nachträglichen 22
Analytizität
Neubewertung der Rolle Freges als dem Begründer der Analytischen Philosophie führte. Zur selben Zeit brachte jedoch Quine einflussreiche Argumente vor, die nahe legten, dass die Methoden der Analyse keine tiefere Bedeutung haben können, weil es gar keine bestimmten Strukturen der Sprach- oder Gedankensysteme gibt, die die analytischen Philosophen analysieren und beurteilen könnten. Daraufhin verkündeten einige zeitgenössische Philosophen, dass man nun das ‚Ende der Analytischen Philosophie‘ erreicht hätte. Andere aber, die Quines Argumente nicht überzeugend fanden, bestanden weiter darauf, dass die Analytische Philosophie Vorzüge aufweist, die durchaus genügen, um ihre Rolle als eine zentrale philosophische Methode auch für die nähere Zukunft sicherzustellen. Siehe auch: Logischer Positivismus THOMAS BALDWIN
Analytizität
In der ‚Kritik der reinen Vernunft’ führte Kant den Ausdruck ‚analytisch‘ für Urteile ein, deren Wahrheit infolge einer bestimmten Beziehung des ‚Enthaltenseins‘ zwischen den konstituierenden Begriffen garantiert sei, sowie ‚synthetisch‘ für Urteile, die nicht so beschaffen seien. Eng damit zusammenhängende Ausdrücke findet man in den früheren Schriften von Locke, Hume und Leibniz. In Kants Definition ist ein analytisches Urteil eines, in dem ‚das Prädikat B gehört zum Subjekt A wie etwas, was in diesem Begriff A (versteckter Weise) enthalten ist.‘ (KdrV, B10/ A7 Anfang). Kant nannte solche Urteile ‚explikativ‘, im Gegensatz zu den synthetischen Urteilen, die ‚ampliativ‘ sind. Eine beispielhafte Analytizität läge vor im Falle der Aussage: ‚Junggesellen sind unverheiratete Männer‘. Kant ging davon aus, dass ein Wissen um analytische Notwendigkeiten eine eindeutige und transparente Form der Erklärung sei. In den folgenden zwei Jahrhunderten wurden die Ausdrücke ‚analytisch‘ und ‚synthetisch‘ in einer Vielzahl eng aufeinander bezogener, aber nicht strikt äquivalenter Weisen gebraucht. In den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wandten Morton White und W.V. Quine ein, dass die beiden Ausdrücke fundamental unklar seien und deshalb vermieden werden sollten. Obwohl eine Anzahl prominenter Philosophen diese Argumente zurückgewiesen haben, überwiegt der Skeptizismus hinsichtlich des Wortes ‚analytisch‘ und der Vorstellung, dass es diesbezüglich eine Kategorie der notwendigen Wahrheiten gebe, die einen privilegierten epistemischen Status genieße. Siehe auch: Carnap, R.; Begriffe; Intensionale Entitäten; Kant, I.; Logischer Positivismus; Notwendige Wahrheiten und Konventionen GEORGE BEALER
Anapher
Die Anapher beschreibt die Abhängigkeit der Interpretation eines Ausdrucks einer natürlichen Sprache von der Interpretation eines anderen Ausdrucks einer natürlichen Sprache. Beispielsweise ist das Pronomen ‚ihr‘ in nachfolgend (1) anaphorisch hinsichtlich seiner Interpretation abhängig von der Interpretation der Nominalphrase ‚Sally‘, weil das Wort ‚ihr‘ sich auf dieselbe Person bezieht, auf die sich auch ‚Sally‘ bezieht. (1) Sally mag ihr Auto. Wie (2) unten zeigt, tritt die anaphorische Abhängigkeit auch über Sätze hinweg auf, wodurch die Anapher zu einem ‚Diskursphänomen‘ wird: 23
Anrarchismus
(2) Ein Bauer besaß einen Esel. Er schlug ihn. Die Analyse der anaphorischen Abhängigkeit stand im Zentrum eines großen Teils der Studien der Linguistik und der Sprachphilosophie. Anaphorische Abhängigkeiten fügen sich nicht recht in die traditionelle Begrifflichkeit der kompositionalen Semantik von Tarski und Montague ein, und zwar genau deshalb, weil die Bedeutung anaphorischer Elemente von anderen Elementen des Diskurses abhängt. Viele Ausdrücke können anaphorisch verwendet werden. Beispielsweise gelten anaphorische Abhängigkeiten zwischen dem Ausdruck ‚einen‘ und der unbestimmten Nominalphrase ‚ein Hund‘ in (3) unten, zwischen der Verbalphrase ‚liebt seine Mutter‘ und einer ‚Leer‘-Anapher (oder einem Hilfsverb) in (4), zwischen der Präpositionalphrase ‚nach Paris‘ und dem lexikalischen Partikel ‚dorthin‘ in (5), und zwischen einem Textabschnitt und dem Pronomen ‚es‘ darin (6). (3) Susanne hat einen Hund. Ich möchte auch einen haben. (4) Johann liebt seine Mutter. Friedrich auch. (5) Letztes Jahr flog ich nicht nach Paris. Dorthin fahre ich überhaupt selten. (6) Der Kläger wurde auf seiner Arbeit zur Beförderung vorgeschlagen. Ein Zeuge bestätigte dessen Behauptung. Und noch ein weiterer Zeuge bestätigte den Sachverhalt. Aber das Gericht glaubte es allen nicht. Einige Philosophen und Linguisten haben ferner eingewandt, dass die zeitlichen Beugungen des Verbs anaphorische Abhängigkeiten erzeugen. NICHOLAS ASHER
Anarchismus
Anarchismus ist die Einstellung, dass eine Gesellschaft ohne Staat oder Regierung sowohl möglich als auch wünschenswert ist. Obwohl es über den geschichtlichen Zeitraum hinweg immer wieder Anzeichen einer anarchistischen Perspektive gab, entstanden die anarchistischen Ideen in ihrer modernen Form erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert im Zuge der Französischen und der Industriellen Revolution. Alle Anarchisten unterstützen irgendeine Form der folgenden allgemeinen Behauptungen: (1) die Menschen sind nicht allgemein verpflichtet, sich der Befehlsgewalt eines Staates zu unterwerfen; (2) der Staat sollte abgeschafft werden; (3) einige Arten staatenloser Gesellschaften sind möglich und wünschenswert; (4) der Übergang vom Staat zur Anarchie ist ein realistisches Vorhaben. Innerhalb dieses breiten Rahmens gibt es eine große Vielzahl unterschiedlichen anarchistischen Gedankenguts. Die wesentliche politische Trennungslinie kann man zwischen der ‚klassischen‘ oder sozialistischen Schule ziehen, die dazu neigt, das Privateigentum zurückzuweisen oder einzuschränken, und der ‚individualistischen‘ oder libertären Tradition, die den privaten Erwerb verteidigt und den freien Güteraustausch auf Märkten als ein Modell für eine wünschenswerte Gesellschaft betrachtet. Bis zu einem gewissen Grade folgen aus dieser Aufteilung auch philosophische Unterschiede. Die klassische Schule fühlt sich grundsätzlich mehr von natürlichen Gesetzen und einer perfektionistischen Ethik angezogen, während die Individualisten dem Naturrecht und dem Egoismus näher stehen. Eine weitere mögliche Unterscheidung verläuft zwischen dem ‚alten‘ Anarchismus des 19. Jahrhunderts (einschließlich der klassischen und der individualistischen Tradition) und dem ‚neuen‘ anarchistischen Denken, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt 24
Anaximander (um 610–546 v. Chr.)
hat, und das die Überzeugungen so junger ethischer Strömungen wie jener des Feminismus, der Ökologie und der Postmoderne verwendet. Anarchisten haben starke Argumente entwickelt, mit denen jegliche allgemeine Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staate leugnen, und sie heben die krankhaften Wirkungen staatlicher Macht hervor. Fragwürdiger sind dagegen ihre Forderungen bzw. Behauptungen, dass die Staaten abgeschafft werden sollten, dass die soziale Ordnung ohne den Staat möglich ist und dass ein Übergang zur Anarchie tatsächlich möglich ist. GEORGE CROWDER
Anaximander (um 610–546 v. Chr.)
Der griechische Philosoph Anaximander von Milet folgte Thales in seinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Interessen. Er schrieb ein Buch, von dem ein Fragment noch erhalten ist. Er war der erste vorsokratische Philosoph, über den wir genügend informiert sind, um seine Theorien bis ins Detail zu rekonstruieren. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Ursprung, der Struktur und dem Funktionieren der Welt, und er versuchte diese mittels einer kleinen Anzahl von Prinzipien und Mechanismen konsistent darzustellen. Wie andere Denker seiner Tradition spielten die Olympischen Götter bei ihm keine Rolle bei der Erschaffung der Welt oder der Kontrolle von Ereignissen. Stattdessen meinte er, dass die Welt aus einem gewaltigen, ewigen, sich bewegenden Material undefinierter Art heraus entstanden ist, das er apeiron (das Unbegrenzte oder Grenzenlose) nannte. Davon ausgehend entstand durch einen dunklen Prozess, einschließlich einer von ihm so genannten ‚Abtrennung‘, die Welt, so wie wir sie kennen. Anaximander beschrieb den kosmos (die Welt) und bezifferte die Abstände der Himmelskörper von der Erde. Er stellte ferner den Ursprung des tierischen Lebens dar und erklärte, wie zunächst die Menschen entstanden. Er schilderte die Welt als ein Schlachtfeld, in dem gegensätzliche Naturen, wie z.B. das Heiße und die Kälte, ständig ineinander vordringen, und er beschrieb diesen Prozess als ein geordnetes und geregeltes Stattfinden. Siehe auch: Anaximenes; Archē; Kosmologie; Unendlichkeit; Vorsokratische Philosophie; Thales RICHARD MCKIRAHAN
Anaximenes (6. Jahrhundert v. Chr.)
Der griechische Philosoph Anaximenes von Milet folgte Anaximander in seinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Interessen. Nur einige wenige Worte seines Buches sind uns erhalten geblieben, aber es existieren genügend sonstige Informationen, um einen Eindruck seiner wichtigsten Theorien zu bekommen. Wie die anderen frühen Vorsokratiker interessierte er sich für den Ursprung, die Struktur und die Zusammensetzung des Universums, sowie für die Prinzipien, nach denen dieses stattfindet. Anaximenes war der Auffassung, dass die primäre Substanz – die sowohl Ausgangspunkt von allem weiteren, als auch das Material ist, aus dem alles weitere gemacht ist – die Luft ist. Verdünnt oder komprimiert ergibt sie weitere Materialien wie z.B. Feuer, Wasser und Erde. Die zugrunde liegende Luft ist in ihrer Ausdehnung unendlich und ohne Anfang, noch Ende. Sie ist in Bewegung und göttlicher Natur. Die Luft brachte das Universum durch ihre Bewegung hervor, und sie leitet sie weiterhin. Die menschliche Seele besteht aus Luft, und wahrscheinlich glaubte Anaximenes, dass der gesamte kosmos (die Welt) lebendig ist, wobei die Luft als 25
Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der
ihre Seele fungieren würde. Wie andere Vorsokratiker schlug er Theorien der Natur schwerer Körper und ihrer Bewegungen vor, sowie der meteorologischen und anderer natürlicher Phänomene. Siehe auch: Anaximander; Archē; Kosmologie; Thales RICHARD MCKIRAHAN
Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der
Theorien der Andersheit und Identität können ‚postmodern‘ genannt werden, wenn sie wenigstens zwei Schlüsselmerkmale der modernen Philosophie herausfordern: (1) den kartesischen Versuch zur Sicherung der Legitimität des Wissens auf der Basis eines Subjekts, das unmittelbare Kenntnis von sich selbst hat, und (2) den Hegelschen Versuch der Sicherung des Selbstwissens und der Selbsterkennung, indem man zeigt, dass Wissen und Wiedererkennen durch das Ganze vermittelt sind. Das postmoderne Denken favorisiert demgegenüber nicht ein gänzlich Anderes, es stellt aber allgemein die Selbstidentität als die Form einer radikalen Andersheit dar. Siehe auch: Postmoderne PETER FENVES
Angeborene in der griechischen Philosophie, Das
Die Vorstellung, dass die Erkenntnis unabhängig von der sinnlichen Erfahrung bereits latent im Geist existiert, wird in dreien der platonischen Dialoge dargestellt: im ‚Menon‘, im ‚Phaidon‘ und im ‚Phaidros‘. Hier wird behauptet, dass die menschliche Seele schon existiert, bevor sie sich in einem Menschen verkörpert, und dass sie in ihrem präexistenten Zustand bereits gewisse Dinge weiß, die sie mit der Geburt in einem Körper vergisst. Das, was wir während unseres sterblichen Lebens ‚Lernen‘ nennen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als das Erinnern von präexistentem Wissen. In einer besonders berühmten Passage des ‚Menon‘-Dialoges stellt Sokrates einem unausgebildeten Sklavenjungen eine geometrische Rätselfrage. Nachdem er eine Reihe von Fragen gestellt hat, entlockt er dem Jungen die richtige Antwort und behauptet, dass sie in ihm schon immer bestanden hätte und lediglich durch den Prozess des Erinnerns hervorgelockt zu werden brauchte. Aristoteles verwarf dieses Erinnerungskonzept recht brüsk und versuchte das menschliche Lernen durch eine Berufung auf die Sinneserfahrung zu erklären. In der nacharistotelischen Philosophie ist es unklar, wie weit irgendeine Theorie des Angeborenen angenommen wurde. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Stoiker dachten, die Moralbegriffe und Überzeugungen entstünden aus dem Wesen des Menschen, bezogen sich dabei aber nicht auf eine Theorie der Präexistenz oder der Erinnerung. Siehe auch: Chomsky, N.; Empirismus; Epikureismus; Sprache, Angeborensein der; Locke, J., § 2; Nativismus; Prolepsis; Stoizismus DOMINIC SCOTT
Angeborene, Das
Von einer großen Zahl von Eigenschaften kann man meinen und dachte man schon, sie seien angeboren: Verhaltensmuster, Lernfähigkeiten (speziell die sprachlichen), emotionale Reaktionen, Begriffe, Überzeugungen und Wissen, um nur einige Beispiele zu geben. Die exakte Bedeutung dieser Behauptungen ist dagegen schwieriger festzustellen. Für einen Philosophen, der sich einer Lehre wie jener von Platon verpflichtet fühlt, nach der die menschliche Seele schon existiert, bevor sie mit einem mensch26
Angewandte Ethik
lichen Körper zusammengeht, hat die Vorstellung des Angeboren- oder Eingeborenseins eine mehr oder weniger wörtliche Bedeutung: angeborene Eigenschaften sind jene, die die Seele in diese Beziehung einbringt. Dagegen ist das Angeborensein eines X für alle jene, die keine Anhänger einer solchen Metaphysik der Präexistenz des Angeborenen sind, etwas, das man als eine Neigung zur Aneignung oder Manifestation eines X im Verlauf einer Entwicklung verstehen muss. Das Angeborene wäre dann eher etwas, dass als Graduelles erscheint. Einige solche Neigungen (die am stärksten ‚angeborenen‘) können beinahe unabhängig von einem spezifischen Input in den fraglichen Organismus (z.B. der Erfahrung, einer bestimmten Ernährung etc.) sein, während andere eventuell nur durch irgendeinen ‚normalen‘ Input aktiviert werden, und wieder andere, nämlich jene, die ‚erworben‘ oder am wenigsten ‚angeboren‘ sind, nur durch irgendwelche recht spezifischen Erfahrungsverläufe. Historisch gesehen sind positive Behauptungen über das Angeborensein häufig mit dem Platonismus verknüpft, die negativen dagegen mit dem Empirismus. Solche Kontroversen stehen immer in enger Beziehung zu der Debatte über das Wesen versus die Erziehung des Menschen. Siehe auch: Angeborene in der griechischen Philosophie, Das; Sprache, Das Angeborensein der; Nativismus; Rationalismus EDWARD CRAIG
Angeborenheit der Sprache
Siehe: Sprache, Angeborensein der
Angewandte Ethik Einführung Die Angewandte Ethik ragt aus der allgemeinen Ethik durch ihre besondere Aufmerksamkeit für praktische Probleme heraus. Sie schließt deshalb die medizinische Ethik, die Umweltethik und die Bewertung sozialer Folgen des wissenschaftlichen und technologischen Wandels genauso wie politische Fragen in Bereichen wie der Gesundheitsvorsorge, der Wirtschaft und des Journalismus mit ein. Sie beschäftigt sich auch mit beruflichen Verhaltenskodizes und der Verantwortung in solchen Bereichen. Ein für sie typischer diskutierter Gegenstand ist die Abtreibung, die Euthanasie3, die persönlichen Beziehungen, die Behandlung nichtmenschlicher Tiere, und Fragen der Rasse und des Geschlechts. Obwohl einige dieser Punkte isoliert behandelt werden, diskutiert man sie besser im Kontext einiger allgemeinerer Fragen, um die sich die Philosophen bereits seit langem beharrlich bemühen, als da sind: Wie sollten wir die Welt sehen, und was ist unser Platz in ihr? Was ist ein gutes Leben für ein Individuum? Was ist eine gute Gesellschaft? Bezug nehmend auf diese Fragen führt die Angewandte Ethik zu grundlegenden Diskussionen der ethischen Theorie, einschließlich des Utilitarismus, der Theorie der Freiheitsrechte und der Tugendethik. Die Ausdrücke ‚angewandte Ethik‘ und ‚angewandte Philosophie‘ werden manchmal synonym gebraucht, aber ‚Angewandte Philosophie‘ ist der breitere Ausdruck, der auch solche Felder wie z.B. die künstliche Intelligenz umfasst. Diese BeZum unterschiedlichen Begriff der Euthanasie im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum siehe Anm. 1 des Beitrages Leben und Tod. [WS]
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Angewandte Ethik
reiche schließen philosophische Probleme ein, und zwar metaphysische und erkenntnistheoretische, die nicht eigentlich ethischer Natur sind. Die Angewandte Ethik sollte deshalb eher so verstanden werden, dass sie sich stärker auf ethische Fragen konzentriert. Trotzdem berühren viele der von ihr behandelten Fragen auch andere Aspekte der Philosophie. Die medizinische Ethik z.B. schließt auch solche metaphysischen Themen wie die Natur des ‚Person-Seins‘ oder die Definition des Todes ein. 1. Definitionen 2. Theorie und Praxis 3. Methode 4. Kritiker und Opponenten 5. Historischer Kontext 6. Berufsethik 7. Gibt es ethische Fachleute? 8. Forschung in der angewandten Ethik 9. Institutionen 1. Definitionen Während der Name ‚angewandte Ethik‘ vergleichsweise neu ist, gilt dies keineswegs für die dahinter stehende Idee. Die Philosophie hat sich traditionell mit Fragen sowohl der persönlichen Moral (Was sollte ich tun?), als auch der öffentlichen Moral (Was ist eine gute Gesellschaft?) beschäftigt, aber während diese Fragen grundlegend für die angewandte Ethik sind, könnte man auch meinen, sie beschreiben die Ethik im Allgemeinen. Die angewandte Ethik wird deshalb üblicherweise als jener Teil der Ethik aufgefasst, die ihre Aufmerksamkeit im Einzelnen und direkt praktischen Fragen und Kontroversen zuwendet. In der privaten Sphäre schließen ethische Angelegenheiten, z.B. Fragen betreffend die Familie (siehe Familie, Ethik und) oder enge persönliche Beziehungen (siehe Freundschaft), die Sorge für Alte oder Behinderte und die Aufzucht der Kinder ein, insbesondere wenn moralische Fragen berührt sind, oder wenn persönliche ethische Probleme für den Einzelnen an seinem Arbeitsplatz entstehen. In der öffentlichen Sphäre kommt die angewandte Ethik bei der Bewertung von Politik im Lichte der Wirkung von Fortschritten in der biomedizinischen Technik zum Zuge (siehe Leben und Tod; Technologie und Ethik), oder bei der Bewertung internationaler Verpflichtungen und Belastungen künftiger Generationen im Hinblick auf umweltbezogene Probleme (siehe Zukünftigen Generationen, Verpflichtung gegenüber; Bevölkerung und Ethik). Der öffentliche Bereich schließt ferner eine Reihe von Fragestellungen zur pluralistischen Gesellschaft ein, z.B. betreffend die Diskriminierung von Ethnien oder des Geschlechts, das kulturelle Verständnis und die Toleranz; und noch weiter kann man das Interessenfeld auch auf die politische Philosophie ausdehnen, beispielsweise auf den Terrorismus und die Kriegsethik. In allen diesen Gebieten ist das Interesse der Angewandten Ethik nicht nur die Bereitstellung einer persönlichen ethischen Perspektive, sondern auch die Lieferung von Leitlinien für die Politik. Die angewandte Ethik befasst sich ebenfalls mit der Berufsethik; sie prüft die ethischen Dilemmata und Herausforderungen, denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen ausgesetzt sind, d.h. Ärzte, Krankenschwestern, Berater, Psychiater, Zahnärzte, und jene vieler weiterer Beschäftigter in anderen Berufen einschließ28
Angewandte Ethik
lich der Rechtsanwälte, Steuerberater, Manager und Verwalter, Erwerbstätigen in der Wirtschaft, bei der Polizei und den gerichtlichen Vollzugsorganen. Besondere ethische Probleme wie z.B. die Vertraulichkeit, die Wahrheitspflicht oder Interessenkonflikte können in allen diesen Bereichen auftreten, und die meisten Berufsgruppen versuchen ihre Vorstellungen zu kodifizieren und damit ihren Mitgliedern Leitlinien zur Verfügung zu stellen. 2. Theorie und Praxis Allen diesen Problemen gehen Fragen über die Gerechtigkeit, die Rechte, die Nützlichkeit, die Tugendhaftigkeit und die Gemeinschaft voraus. Eine Unterscheidung zwischen theoretischer und angewandter Ethik muss deshalb mit Sorgfalt vorgenommen werden. Tatsächlich haben einige Autoren den Ausdruck ‚angewandt‘ als redundant aufgrund der Überlegung betrachtet, dass es keine Ethik geben kann, die nicht angewandt wird. Auf der einen Seite, so wenden sie ein, sollten theoretische Begriffe wie Recht und Gerechtigkeit nicht als reine Abstraktionen angesehen werden; und auf der anderen Seite sollte die angewandte Ethik nicht von ihren Wurzeln in der traditionellen Moral abgelöst werden. Während es jedoch wichtig ist diese Kontinuität zu betonen, gibt es charakteristische Merkmale der Angewandten Ethik, die sie in der Praxis von der Theoretischen Ethik abheben. Diese sind (a) ihre größere Hinwendung auf den Kontext und das Detail, und (b) ihr ganzheitlicherer Ansatz, d.h. ihre Absicht, ethische Ideale mit einer Vorstellung von der menschlichen Natur und menschlichen Bedürfnissen zu verbinden (siehe Natur des Menschen). Die Anwender der Angewandten Ethik werden vielleicht eher als die Anhänger der traditionellen akademischen Moralphilosophie geneigt sein anzuerkennen, dass auch die Psychologie und die Soziologie, Kenntnisse der Kultur und der Geschichte, die Einsichten guter Literatur, und sogar ein Verständnis der Menschen als biologische Wesen für die Bestimmung moralischer Fragen des persönlichen und öffentlichen Lebens relevant sind. Die Trennlinie zwischen angewandter und theoretischer Ethik, die hierdurch nahe gelegt wird, könnte an jenem Punkt auf dem Spektrum ethischer Fragen gezogen werden, wo die ethische Theorie keine normativen Empfehlungen mehr zu bieten hat und sich selbst auf die Analyse moralischer Begriffe wie z.B. ‚richtig‘, ‚gut‘, ‚Verantwortlichkeit‘, ‚Vorwurf‘ und ‚Tugend‘ beschränkt, sowie auf die Diskussion dessen, was man eine Epistemologie der Ethik nennen könnte, beispielsweise solche Theorien wie der ethische Realismus, der Subjektivismus und Relativismus (siehe Moralisches Wissen; Moralischer Realismus). Dies ist der Bereich, der manchmal als ‚Metaethik‘ bezeichnet wird. Die Trennlinie an diesem Punkt zu ziehen mag so lange nützlich sein, wie dadurch nicht die Wahrheit verdunkelt wird, dass die angewandte und die theoretische Ethik nicht voneinander gesondert sind, sondern auf einem Kontinuum vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten liegen. Das Äußerste, worauf sich die angewandte Ethik richten kann, dürfte freilich der vollkommene Einzelfall sein: die individuelle Fallstudie. Genau diese ist die Ursache eines weiteren charakteristischen Merkmals der angewandten Ethik: ihre Befassung mit den Dilemmata, und zwar nicht notwendigerweise im harten logischen Sinne von Situationen, in denen es unmöglich ist sich richtig zu verhalten, weil jede von zwei Handlungsverläufen entweder gesetzlich vorgeschrieben ist oder 29
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als falsch beurteilt wird; aber im lockereren Sinne des Wortes von Fällen, in denen die Wahl zwischen Handlungsverläufen extrem schwierig sein mag, die Argumente für beide gleichermaßen zwingend erscheinen und die handlungsverpflichtete Person stark nach beiden Seiten hin geneigt ist (z.B. die Genehmigung eines drastischen medizinischen Eingriffs zur Rettung eines ernsthaft behinderten Babys, dass sonst sterben müsste, oder der Natur zu erlauben, ihren Lauf zu nehmen). Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Wahl zwischen Möglichkeiten, die nicht moralisch äquivalent sind, streng genommen, kein moralisches Dilemma darstellt, obwohl es zugegebenermaßen wahrscheinlich ist, dass sie emotional traumatisierend ist, während die Wahl zwischen moralischen Verpflichtungen, die unwidersprochen von gleichem Gewicht sind, kein moralisches Problem ist. Für die angewandte Ethik stellt sich in solchen Fällen die Frage, ob die verfügbaren Optionen tatsächlich moralisch gleichwertig sind. Die angewandte Ethik muss sich, weil sie sich auf individuelle Dilemmata konzentriert, der Frage der Verallgemeinerung stellen, die auch als ‚Außenseiter-Problem‘ beschrieben wird [engl.: the free rider problem]4: viele Dinge werden als falsch empfunden, sobald man sich die Frage stellt: ‚Was wäre, wenn jeder dies täte?‘, und zwar selbst dann, wenn es im Einzelfall einem Individuum sogar harmlos oder bequemer erscheint, die Regel zu missachten, während sie davon profitiert, dass die große Mehrheit der anderen ihr folgt (siehe Universalismus in der Ethik). Ein Philosoph der angewandten Ethik muss genauso wie der theoretische Moralphilosoph eine Form des Umgangs mit diesem Problem finden, aber für den Philosophen der angewandten Ethik ist das Problem mit dem Bedürfnis zur Anwendung dessen verbunden, was manchmal als Kasuistik5 im Sinne von ‚moralische Spitzfindigkeit‘ [engl.: casuistry] bezeichnet wird. Diese alte Wissenschaft muss man nicht notwendig verachten, denn während eine sekundäre Bedeutung des Wortes ‚Kasuist‘ auch ‚Sophist‘ oder ‚kleinlicher Streithahn‘ ist, war dies doch ursprünglich keine Bezeichnung für einen Missbrauch, sondern meinte in einem theologischen Kontext schlicht die Anerkennung des Wunsches von Menschen, die ‚richtige Antwort‘ auf eine schwierige Bewusstseinsfrage in einem speziellen Zusammenhang herauszuarbeiten.
Dies ist die philosophische Kurzbezeichnung für eine allgemeine ethische Problemsituation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Mitglied eines Kollektivs zwar den Nutzen seines kleinen Beitrags zu einem allgemein als wertvoll anerkannten Ziel oder Zweck anerkennen mag, aber gleichzeitig selbst den Nutzen seines Beitrags gar nicht spürt, z.B. weil er einfach zu klein im Verhältnis zur Gesamtheit aller Beiträge des Kollektivs ist. Beispiele hierfür sind die Steuerpflicht oder umweltfreundliches Verhalten. Dieser Problemtyp fällt wiederum in den Bereich der ‚Logik des kollektiven Handelns‘, die solche Konstellationen analytisch zu lösen versucht. Siehe hierzu beispielsweise den Beitrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy unter http://plato.stanford.edu/entries/freerider. [WS] 5 ‚Kasuistik’ ist die inzwischen veraltete Bezeichnung für eine juristische Argumentationstechnik, bei der man einen konkreten Fall, der zur Entscheidung ansteht, durch Verallgemeinerung seiner Sachverhalts- oder Tatbestandsmerkmale unter eine Regel zu subsumieren versucht, die ihrerseits wiederum durch einen anderen gerichtlichen entschiedenen Fall bereits auf Sachverhalte der intendierten Art angewandt wurde. Als Kasuisten bezeichnete man späterhin pejorativ eine Person, die dieses Verfahren durch Spitzfindigkeiten in gewissem Sinne missbraucht; beispielsweise wurde die jesuitische Theologie häufig der Kasuistik ‚beschuldigt’. [WS] 4
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3. Methode Eine Methode des Nachdenkens, die in der angewandten Ethik verwendet wird, kann man mit jener eines Zeichners vergleichen, der mit einer Blaupause beginnt, diese aber an das vorliegende Material und an die Situation anzupassen hat, wofür sie benötigt wird. Dieser Fall ähnelt in gewisser Weise der Hegelschen Methode des dialektischen Denkens, aber auch der Methode des reflektierenden Gleichgewichts, die von zeitgenössischen Autoren wie beispielsweise Rawls bevorzugt wird, und bei der Intuitionen als Antwort auf Einzelfälle an Prinzipien gemessen werden und diese zu einem Überdenken veranlassen, sowie an ihren Implikationen für andere Einzelfälle und deren Neubewertung (siehe Moralische Rechtfertigung, § 2). Dieser Auffassung des Gegenstandes zufolge ist die Methode der angewandten Ethik weder rein deduktiv, noch rein induktiv. Andere jedoch halten das deduktive Modell für mächtiger, und die in jedem Einzelfall zu beantwortende Frage ist lediglich, unter welches (unverletzliche) Prinzip sie fällt. Andere wiederum würden das induktive Modell bevorzugen, demzufolge für den Fall, dass man im Einzelfall genau sieht, was richtig ist, es möglich ist, ein allgemeines Prinzip aufzustellen, dass für diesen und andere Einzelfälle zu einem Urteil führt (siehe Universalismus in der Ethik). Im Allgemeinen zielen Diskussionen ethischer Theorien in der angewandten Ethik auf einen möglichst hohen Grad an Allgemeinheit und Abstraktion ab, nämlich die Frage, was Menschen tun sollten. In der Praxis ist die Diskussion von Theorien oft auf ihre Folgen für die Lösung von Einzelfallproblemen beschränkt, denn die angewandte Ethik sucht typischerweise eine deutlicher auf den Einzelfall bezogene Antwort auf die jeweils allgemeinere Frage. 4. Kritiker und Opponenten Bei der Suche nach Antworten auf praktische Probleme läuft die angewandte Ethik häufig quer zu vielen Strömungen der zeitgenössischen Philosophie. Die vorherrschende Auffassung in den hohen Zeiten des Empirismus und des Positivismus (d.h. dem größeren Teil des 20. Jahrhunderts) war, dass die Philosophie nichts zur Lösung praktischer Probleme beitragen könne. Diese Auffassung gründet sich auf zwei wichtige philosophische Argumente: (a) Humes Widerspruch gegen jene Argumente, die darauf abzielten, ein ‚soll‘ aus dem ‚ist‘ abzuleiten (siehe Hume, D.), und (b) Moores Einwand, dass die Identifikation moralischer Merkmale mit sog. ‚natürlichen‘ oder empirischen Merkmalen ein ‚naturalistischer Trugschluss‘ sei (siehe Moore, G.E.; Naturalismus in der Ethik). Beide Argumente müssen entkräftet werden, wenn die angewandte Ethik erfolgreich bei der Überbrückung des Spalts zwischen faktischer Beschreibung von Situationen und deren moralischer Beurteilung sein soll, und beide werden vielleicht teilweise dadurch beantwortet, indem man darauf besteht, dass einige Tatsachen ‚für sich selbst sprechen‘, wie z.B. die Folter, der Kindermord und der Genozid. Das Argument, demzufolge Tatsachen und Wertungen auseinander zu halten seien, ist für Philosophen außerhalb der englischsprachigen Welt dagegen ein geringeres Hindernis; der Begriff der Praxis ist vielen kontinentalphilosophischen Traditionen vertraut, einschließlich jener des Marxismus, der Frankfurter Schule und der Philosophie von Habermas, wobei die Idee vom Philosophen als einem engagé, d.h. als jemandem, der sich um eine praktische Teilnahme an der Welt bemüht, auch ein wichtiger Teil des französischen Existenzialismus ist und durch das Werk von Sartre 31
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bekannt wurde. Diese Quellen haben jedoch eine andere Art von Herausforderung des Begriffs der angewandten Ethik als einem unparteiischen und im Wesentlichen vernunftbasierten Ansatz gegenüber ethischen Themen der Gesellschaft hervorgebracht. Einwände gegen den Begriff der universellen moralischen Norm und die Grundstrukturen des vernünftigen Argumentierens (die ‚postmoderne‘ Herausforderung) sind mit jüngeren Entwicklungen der marxistischen Theorie, bestimmten feministischen ethischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen und der dekonstruktivistischen Bewegung verknüpft, wobei dies alles Denkschulen sind, die eine Analyse der gesellschaftlichen Machtstrukturen dergestalt vornehmen, dass diese mit individueller Handlungsfreiheit unvereinbar seien (siehe Feminismus und Psychoanalyse, Methodische Fragen der). Anhänger dieser theoretischen Positionen verlangen häufig eine starke Anerkennung von Rechten; dies sollte man aber vielleicht besser als eine Ausbeutung der vorgefassten Meinungen ihrer Widersacher statt als Anerkennung der universellen ethischen Begriffe und der menschlichen Freiheit beschreiben. Andere Kritiken der traditionellen Ethik begegnen der angewandten Ethik wiederum mit mehr Sympathie. Auf der Grundlage von Forschungen betreffend die Kontextbezogenheit vieler von Frauen gegebenen Antworten auf die Fragen aus ethischen Dilemmata wandten einige feministische Autorinnen ein, allen voran Carol Gilligan, dass Frauen generell zum Beziehen einer ethischen Position der Fürsorge und Verantwortung für andere Einzelpersonen neigen, statt zu einer abstrakten Prinzipienmoral, zu Rechten oder zur Gerechtigkeit an sich. Eine solche Herangehensweise scheint besser zur Lösung von sog. Härtefällen, beispielsweise in der Gesundheitsfürsorge oder der Sozialarbeit, geeignet zu sein. Entsprechend scheint der Ansatz, der als ‚Tugendethik‘ bekannt ist, und der die Suche nach dem Guten in der Einzelsituation betont, gut zur angewandten Ethik zu passen, selbst wenn seine Befürworter dies manchmal genau umgekehrt sehen, weil sie ihren eigenen Standpunkt als objektiver betrachten und fälschlicherweise die angewandte Ethik mit Subjektivismus und Relativismus gleichsetzen (siehe Tugendethik). Andere zurückzuweisende Stereotypen sind politischer Natur: die angewandte Ethik wird häufig mit Vegetariern, Pazifisten, Feministen und Umweltschützern in Verbindung gebracht. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass dies auch eine Kritik und Bewertung dieser Positionen umfasst, d.h. die Verteidigung des Fleischkonsums oder von Tierexperimenten, oder dass man sich skeptisch gegenüber dem Feminismus stellt und Widerstand gegen eine neue ‚ökologische Ethik‘ formuliert, also Positionen bezieht, die durchaus zwischen den orthodoxeren Publikationen im Buchregal einzuordnen sind. An der Meinungsvielfalt ist nichts auszusetzen, solange sich diese innerhalb eines breit angelegten ethischen Rahmens bewegt. Denn für die angewandte Ethik ist es ganz allgemein wesentlich, auch individuellen Problemen gerecht zu werden, und zwar nicht nur im Wege eines ideologischen Rundumschlages. Die angewandte Ethik ist demzufolge Teil einer Gesamtsicht menschlichen Daseins und bedient sich einer breiten Sichtweise zur ethischen Entscheidungsfindung. Grundsätzlich bedeutet dies, dass die Entscheidungsfindung als ein praktisches Erfordernis gesehen wird, die bewusst die Beschränkungen moralischer Normen, Rechte und ethischer Prinzipien anerkennt, die ihrerseits geeignet sind, universellen Respekt zu beanspruchen. Wo dies hingenommen wird, ist der Gegenstand der an32
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gewandten Ethik klar: es geht um eine klarere Wahrnehmung des Falschen und des Richtigen im Hinblick auf eine Umsetzung dieser Einsichten in konkrete Verhaltensweisen und Institutionen. 5. Historischer Kontext Vom Aufkommen der angewandten Ethik kann man durchaus sagen, dass sie mit jenem der westlichen philosophischen Tradition als Gesamtheit zusammenfällt, denn vom frühesten der griechischen Philosophen, Thales († 546 v. Chr.), wird berichtet, dass er seine spekulativen philosophischen Interessen mit wirtschaftlichem Sachverstand und einem Interesse an gesetzlichen und politischen Reformen verband. Spätere Philosophenschulen der Antike wie z.B. die Pythagoreer, die Epikureer und die Stoiker, boten ihren Anhängern Lebensprinzipien und sogar sehr bestimmte praktische Verhaltensregeln an. Sowohl für Platon, als auch für Aristoteles stellten sich ethische und politische Fragen im Rahmen solcher Begriffe wie das Gute für die Menschen, das letztendliche Gute, oder was gut an und für sich selbst sei (siehe Platon, § 16; Aristoteles, § 21). Sie nahmen an, dass diese Untersuchungen sowohl zu einem individuell guten Leben, als auch zum Begriff einer guten Gesellschaft führen würden. Sie waren jedoch uneins darüber, ob dies auch zwingend dazu führe, dass eine Einzelperson nach den auf diese Weise gewonnenen ethischen Einsichten lebt, wobei Aristoteles im Gegensatz zu Platon in seinen früheren Schriften den Einfluss der Willensschwäche zur Ablenkung einer Person von dem, was sie als gut anerkannt hat, zugibt (siehe Akrasie). Nachfolgende Philosophen wandten ihre ethischen Annahmen häufig auf Einzelfälle an und sahen darin keine Zersplitterung der Moralphilosophie als eine Wissenschaft der Einzelfälle, sondern als einen Weg zur Formulierung von Leitprinzipien. Thomas von Aquin behandelte eine Reihe praktischer Fragen, einschließlich der Ehe und der Familie in der Summa theologiae, und diese Tradition wurde von Suárez und Grotius fortgeführt. Locke schrieb über die Toleranz, Kant über den Selbstmord und über die Frage, ob es richtig sei, aus wohlmeinenden Gründen zu lügen. (siehe Locke, J., § 7; Toleranz; Selbstmords, Ethik des). Bentham entwickelte eine komplexe Theorie der Bestrafung und entwarf sogar Pläne für eine neue Gefängnisform, die ‚Panoptikum‘ heißen sollte. Er schrieb auch über gesetzliche und politische Reformen. Hegels Philosophie umfasst Auffassungen von der Familie und von der Bestrafung. J.S. Mills Schriften über die Toleranz, den Paternalismus und Feminismus in seinem Buch On Liberty ist auch heute noch von bleibendem Interesse, da die Kontroversen auf diesem Gebiet weiterhin Gegenstand von Zerwürfnissen und Debatten sind (siehe Feminismus; Paternalismus), und Deweys Theorien der Erziehung übten einen enormen praktischen Einfluss auf das Erziehungssystem der USA und Großbritanniens aus (siehe Erziehung und Ausbildung, Philosophie der). Die Tradition einer feindseligen Einstellung der Moralphilosophie gegenüber der angewandten Ethik ist in Wirklichkeit relativ jungen Ursprungs. Sie war mit der Dominanz des Positivismus und des Empirismus in der Naturphilosophie verbunden, und mit der modischen Hinwendung zur linguistischen Analyse in der Erkenntnistheorie. Dies sind Phänomene des 20. Jahrhunderts, denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gedieh ein etwas großzügigeres Verständnis der Ethik. Wenn man den Philosophen des englischen Sprachraums eine gewisse Kurzsichtigkeit attestiert, die 33
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ungefähr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftritt, so könnte man verschiedene Erklärungen für die schrittweise Korrektur der Aufmerksamkeit anführen. Für jene, die sich für die medizinische Ethik interessierten, war ein Forschungsprojekt in Tuskegee / USA, in dem eine syphiliskranke Kontrollgruppe über Jahrzehnte nicht behandelt wurde, obwohl sichere Behandlungsmethoden bereits bekannt waren, der viel zitierte Auslöser einer ausholenden Diskussion von Fragen wie z.B. der Autonomie, der Wohltätigkeit und der Nicht-Böswilligkeit, der medizinischen Vertraulichkeit, sowie der Ethik von Experimenten mit Menschen (siehe Medizinische Ethik). Dieser Fall war aber womöglich mehr ein Symptom als eine Ursache, denn die Medizin im Allgemeinen bewegte sich in diesen Jahrzehnten als eine Form von Praxis mit geringem Einfluss auf den natürlichen Verlauf einer Krankheit hin zu einem mächtigen Werkzeug des Eingriffs in die Natur. Was auch immer der genaue Grund gewesen sein mag, jedenfalls wurde ungefähr von diesem Zeitraum an die medizinische Ethik zu einem Forum kritischer und kontroverser Diskussionen. Wiederum geschah es in den USA infolge des Vietnamkrieges und der Proteste, die er hervorbrachte, dass verbreitete Diskussionen unterschiedlicher Gegenstandsbereiche zu praktischen Fragen aufkamen (zum zivilen Ungehorsam, Gewissenspflicht versus gesellschaftlicher Verpflichtung), von denen gesagt wird, dass sie ziemlich direkt zur Gründung der Gesellschaft für Philosophie und Öffentliche Angelegenheiten (Society for Philosophy an Public Affairs) und der Zeitschrift Philosophy and Public Affairs führten (siehe Ziviler Ungehorsam). Andere, die sich auf das Interesse der angewandten Philosophen am Wohlergehen der Tiere konzentrierten, zitieren die Veröffentlichung des Buches Animal Liberation (1975, dt.: Die Befreiung der Tiere, München 1976) von Peter Singer als Wegmarke zu einem neuen Begriff der Ethik als einem praktischen und sogar die Öffentlichkeit mobilisierenden Bereich (siehe Tiere und Ethik, § 3). Aber auch Rachel Carsons Buch Silent Spring (1962, dt.: Der stumme Frühling. München 1976) hat die allgemeine Öffentlichkeit hinsichtlich vieler ökologischer Risiken alarmiert und ebnete damit den Weg zu einer erweiterten philosophischen Perspektive, innerhalb derer wissenschaftliche und technologische Entwicklungen und die Formen ihrer Anwendung durch Firmen und Regierungen auf die Umwelt als ein Gegenstand ethischer Besorgnis aufgefasst wurden. Ungefähr ein Jahrzehnt später wurden interne Vorgänge der Wirtschaft zum Gegenstand ethischer Untersuchung, ausgelöst durch Skandale infolge von drastischen Praktiken wie z.B. Insidergeschäften. Schließlich muss auch gesagt werden, dass die Philosophie selbst zweifellos zur Verbreitung der angewandten Philosophie beitrug. Die Beschäftigung der akademischen Moralphilosophie mit wirklich minder bedeutenden Themen in einem Jahrhundert, das Zeuge zweier Weltkriege und vieler damit einhergehender gröbster Verletzungen der Menschenrechte wurde, war zu auffällig, um auf Dauer hingenommen zu werden, insbesondere in Anbetracht des erweiterten Zugangs zur höheren Ausbildung, und folglich auch zu einem bis dahin bestehenden elitären und in gewisser Weise esoterischen Philosophiebetrieb. Diese Darstellung des Aufstiegs der zeitgenössischen angewandten Ethik wirft die Frage auf, was für eine Art von Studium die angewandte Ethik überhaupt ist. Ist sie nur eine weitere Art des akademischen Studiums, oder ist sie der Förderung des Wandels in der Welt verpflichtet? Ist sie konservativ oder radikal? Reaktionär oder revolutionär? Die Antwort auf diese letzte Frage lautet, dass sie beides sein kann. 34
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Weiteres Nachdenken mag einen dazu führen, sich für einen Wandel zum Besseren einzusetzen; der Betreffende kann aber auch vor einem Wandel zurückschrecken und seine Bemühung fördern, das zu bewahren, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Die kontroverse Natur der meisten davon betroffenen Fragen ist selbst ein Ansporn zu ihrem philosophischen Studium, denn es ist wahrscheinlich wahr, wenn man sagt, dass noch bis in die jüngste Vergangenheit und trotz bestehender Differenzen im religiösen und ideologischen Hintergrund von einem gemeinsamen moralischen Ansatz ausgegangen werden kann, und akzeptierte moralische Verhaltensnormen können als Ausgangspunkt ethischer Überlegungen dienen. Ein solcher moralischer Konsens kann inzwischen nicht mehr vorausgesetzt werden, und während absolutistische Ansätze keineswegs mit den Hauptströmungen der philosophischen Ethik unvereinbar sind, wird doch die Verteidigung einer absoluten Konzeption der Moral gegen relativistische, subjektivistische und utilitaristische Ansätze oft mit einer religiösen Perspektive in Verbindung gebracht. Viele Autoren der angewandten Ethik nehmen jedoch einen säkular utilitaristischen Standpunkt ein. Hierzu gehört auch der australische Philosoph Peter Singer und der Oxforder Philosoph Jonathan Glover, der vor allem auf dem Gebiet der medizinischen Ethik gearbeitet hat (siehe Utilitarismus). R.M. Hare entwickelt in Moral Thinking (1981) eine normativistische Theorie, die den Utilitarismus mit der Kantischen Verallgemeinerbarkeit kombiniert (siehe Normativismus). Ebenfalls einflussreich ist die oben erwähnte Fürsorgeethik, die oft mit Geschlechterunterschieden in Verbindung gebracht wird. Andere Sichtweisen umfassen solche wie jene des australischen Philosophen John Passmore, der für eine liberale Sicht der Moral eintritt, speziell in Beziehung zur Umweltethik, und von John Rawls, dessen Begriff des reflektierenden Gleichgewichts den Intuitionismus mit der Vertragstheorie kombiniert (siehe Moralische Rechtfertigung, § 2). Rawls Buch A Theory of Justice (1971, dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2001) hob einen neuen, praktischeren ethischen Ansatz aus der Taufe, der Folgen für die Wirtschaft, das Recht und die politische Theorie hatte. Sissela Bokhas schrieb über die feinen Strukturen der Probleme im öffentlichen Leben in Lying: Moral Choices in Public and Private Life (1978) und Secrets (1984) (siehe Wahrhaftigkeit); Mary Midgley diskutierte in Beast and Man (1978) und anderswo die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tierarten; und Onora O’Neill brachte eine Kantische Ethik zu Fragen des Hungers und der Armut hervor. Die Debatte zwischen Kommunitarismus6 und Liberalismus über die Ethik des Kapitalismus und die Rolle der Wohlfahrt kann man ebenfalls als einen Teil der angewandten Ethik sehen (siehe Kommunitarismus; Marktes, Ethik des). Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas, eine einflussreiche Person sowohl im kontinentalen Europa als auch in der englischsprachigen Welt, hat einen Begriff des Konsenses als dem Gegenstand einer Theorie, die praktisch umgesetzt wird, entwickelt. 6. Berufsethik Ähnliche Aufteilungen zeigen sich auch in der Berufsethik, obwohl die Vorstellung, dass es dort besondere ethische Regeln geben sollte, die jeweils den einzelnen Zum Ausdruck ‚Kommunitarismus’, engl. communitarism, der in der kontinentaleuropäischen Philosophie relativ unbekannt ist, siehe auch den einführenden Beitrag der ‚Stanford Encyclopedia of Philosophy’ unter http://plato.stanford.edu/entries/communitarianism/. [WS]
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Berufen entsprechen, bereits seit der Antike geläufig sind, wenn z.B. der Hippokratische Eid jenen abverlangt wurde, die sich in der medizinischen Praxis betätigten. Viele moderne Gruppen, einschließlich der Ingenieure, Krankenschwestern und Rechtsanwälte, haben formale Regelwerke angenommen, durch die Standards der ethischen Berufsausübung gesetzt werden (siehe Berufsethik). Die Ethik spielt ferner eine zunehmende Rolle bei der Berufsausbildung. Ein häufig gewählter Ansatz ist jener über die Besprechung von Fallstudien, manchmal fiktiv, aber auch unter Einsatz von Videofilmen aktueller Fälle. Ein Problem des Fallstudiums ist sein möglicherweise negativer Effekt. Durch die Betonung, dass es mindesten zwei Seiten vieler ethischer Probleme gibt, und in der Darstellung von ethischen Theorien als solchen, die zu Konflikten führen, riskiert man womöglich eine oberflächliche Moralauffassung oder einen kulturellen Relativismus, d.h. eine Sichtweise, nach der es nur Meinungen gibt, aber keine Antworten. Der Einsatz von Fallstudien und Diskussionen auf der Grundlage von Situationsethiken kann auch stillschweigend deren Prinzipien untergraben (siehe Situationsethik). Im Gegensatz dazu zielen manche Kurse einfach auf eine Erhöhung der moralischen Sensibilität der Auszubildenden unter der Annahme ab, dass sie im Erfolgsfall weiterhin gute berufliche Entscheidungen treffen werden. 7. Gibt es ethische Fachleute? Die angewandte Ethik verlangt nicht nach moralischer Expertise, bringt aber oft die Zusammenarbeit mit Spezialisten praktischer Bereiche mit sich, um zu strategischen Entscheidungen zu kommen, die es erlauben, ethischen Überlegungen eine bestimmende Rolle zuzuweisen. Inzwischen ist das Prinzip weithin anerkannt, dass in bestimmten Formen der Öffentlichkeit auch ein ethischer oder philosophischer Standpunkt vertreten sein muss, wie z.B. bei öffentlichen Umfragen, den Berichten der Gesetzgebungskommissionen oder Untersuchungsausschüsse, und bei Ethikkommissionen in Krankenhäusern. In den USA gibt es eine präsidiale Kommission, die dem US-Präsidenten in bioethischen Fragen direkt berichtet, Großbritannien hat eine Nationale Bioethische Kommission, die regierungsunabhängig finanziert ist, während es in Frankreich ein Nationales Komitee für Ethische Fragen in der Öffentlichen Diskussion gibt. 1985 schuf der Europarat eine multidisziplinäre Einrichtung mit Experten, die von jedem Mitgliedsland ernannt wurden, und die inzwischen Comité Directeur de Bioéthique (CDBI) heißt. Kanada richtete eine Königliche Kommission für Neue Reproduktionstechnologien ein, und die Kommissionen des Europaparlaments beraten in wissenschaftlichen und technologischen Strategiefragen. Zusätzlich begann der Europarat 1990 mit der Arbeit an einer Europäischen Konvention für biomedizinische Ethik, welche ein gesetzlich bindendes Instrument für alle unterzeichnenden Staaten wäre, wobei das Ziel letztlich die Harmonisierung der europäischen Gesetzgebung ist. Einzelpersonen werden ebenfalls als Berater in öffentlichen Schlüsselfragen eingesetzt. 1989 legt Jonathan Glover in Zusammenarbeit mit Bürgern anderer europäischer Länder einen ‚Bericht über die Fruchtbarkeit und die Familie’ der Europäischen Kommission vor, während Will Kymlicka als Mitglied der Kanadischen Königlichen Kommission und in den USA Arthur Caplan als Mitglied der präsidialen Task Force on National Health Care Reform zu diesem Thema tätig waren. In 36
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Britannien war die Philosophin Mary Warnock für die offiziellen Berichte über die Ausbildungsbedürfnisse von behinderten Kindern und solchen mit Lernschwierigkeiten verantwortlich, sowie für jene über neue Entwicklungen in der reproduktiven Medizin und der Embryologie. Bernard Williams spielte eine ähnliche Rolle in Bezug auf die Pornographie und ihre Zensur. Die Debatte über die Euthanasie in den Niederlanden bezog Philosophen, Rechtsanwälte und Sozialtheoretiker mit ein. Weniger glücklich löste ein Besuch von Peter Singer in Deutschland weitreichende Proteste betreffend die Debatte über die Euthanasie aus und führte zur Unpopularität der Bioethik in einigen Kreisen, sowie eine allgemeine und ungerechtfertigte Zurückweisung der angewandten Ethik. Einige Erfolge auf diesem Gebiet sollen auch berichtet werden. Die Prüfung der Ethik von klinischen Versuchen beispielsweise, speziell in Verbindung mit AIDS, führte zu einer vollständigen begrifflichen Überarbeitung dessen, was klinische Versuche erfordern, und zur Ausarbeitung eines Mehrfachwahl-Systems, das sowohl wissenschaftlich akzeptabel ist, als auch akzeptablere Wahlmöglichkeiten der Patienten und Ärzte anbietet. 8. Forschung in der angewandten Ethik Im Allgemeinen betrachten diejenigen, die die Forschung finanzieren, die Faktensammlung, die oft auch als ‚Erzeugung neuen Wissens‘ bezeichnet wird, als zentralen Zweck; der Philosophie scheint es dagegen um die Reflexion von Tatsachen zu gehen, während die normative Philosophie Handlungs- oder Programmvorschläge erzeugt. Die angewandte Ethik bietet bestenfalls eine Gelegenheit zur Kombination dieser Ansätze an: für die Fakten, damit sie zu einem fruchtbaren Gegenstand der analytischen und moralisch sensiblen Reflexion werden, und für die philosophische Untersuchung, damit diese Disziplin das Bedürfnis nach einer Berücksichtigung des praktischen Rahmens akzeptiert, innerhalb dessen die Spekulation sich entwickelt. Die Forschung in der angewandten Ethik beginnt idealerweise bei einem wahrgenommenen Problem und ist durch die Suche nach einer Lösung dieses Problems motiviert. Sie ist häufig interdisziplinär. Ein Forschungsprogramm wird oft durch den technologischen Fortschritt angestoßen, denn von diesem gehen die ethischen Bedenken im Herzen vieler Bereiche der öffentlichen Debatte aus. Hierfür typisch sind die bereits erwähnten Kontroversen im Umfeld neuer Reproduktionstechnologien – der Embryonenforschung, der Samenspende, der Ersatzmutterschaft –, die allesamt Fragen über den Status des Humanembryos und die Definition der Elternschaft aufwerfen (siehe Fortpflanzung und Ethik). Andere geeignete Gebiete, wo die Ethik sich einschränkend auf die praktische Untersuchung auswirkt, betreffen beispielsweise die ethischen Implikationen des ‚Menschlichen Genomprojektes’, die Ethik der Vertraulichkeit, der (Kranken-)Versicherung in Beziehung auf AIDS oder Erbkrankheiten, der Fürsorge für die Alten, Obdachlosen und Geisteskranken (siehe Genetik und Ethik; Medizinische Ethik). Hier ist jedoch der Vorbehalt anzumerken, dass die reine Datensammlung dessen, was die Menschen für richtig halten, zur angewandten Soziologie oder in andere Bereiche gehört, nicht aber in die angewandte Ethik. 9. Institutionen Viele Forschungszentren wurden in den letzten Jahrzehnten gegründet. Ihre Funktion ist gewöhnlich die Durchführung von Forschungsvorhaben, die Veröffent37
Angewandte Ethik
lichung von Publikationen und die Organisation von Vorträgen, Seminaren und Konferenzen zu praktischen Fragen ethischer Relevanz. Nordamerika besitzt das am besten eingerichtete institutionelle Netzwerk. Die erste Einrichtung auf diesem Gebiet war das Hastings Center in New York (1969), gefolgt vom ‚Zentrum für Philosophie und Öffentliche Angelegenheiten’ an der Universität von Maryland und dem ‚Zentrum für das Studium der Ethik in den Berufen’ am Illinois Institute of Technology (1976), dem Zentrum für das Studium von Werten an der Universität von Delaware (1977) und das ‚Zentrum für Sozialphilosophie und Politik’ an der Bowling Green State Universität in Ohio (1981). Inzwischen gibt es viele weitere Zentren in Universitäten, sowohl in den USA, als auch anderswo, einschließlich des ‚Zentrums für Philosophie und Öffentliche Angelegenheiten’ an der Universität von St. Andrews, des ‚Zentrums für Gesundheitsrecht und Ethik’ am King’s College in London, und des ‚Zentrums für die Erforschung Sozialer Werte’ an der Universität von Hull, Großbritannien. Die Niederlande unterhalten bioethische Zentren in Utrecht und Maastricht, und in den Skandinavischen Ländern nimmt die Arbeit an Fragen der angewandten Ethik zu, und zwar mit einem starken Interesse an der Reproduktionsethik in Aarhus, Dänemark, sowie zu Fragen der Wohlfahrt der Tiere in Kopenhagen. Das ‚Europäische Netzwerk für Wirtschaftsethik’ (‚EBEN European Business Ethics Network’) begann mit einer Initiative in der Schweiz, und die Wirtschaftsethik ist ebenfalls gut in Spanien und Deutschland etabliert. Abgesehen von den Einrichtungen an Universitäten hat die ‚Gesellschaft für Angewandte Philosophie’ (‚Society for Applied Philosophy’) ein allgemeines Interesse an den meisten Gebieten der angewandten Ethik, und sie hat eine breite Mitgliederschaft, die nicht auf professionelle Philosophen beschränkt ist. Australien ist Pionier auf vielen Gebieten der angewandten Ethik gewesen: Peter Singer gründete zusammen mit Helga Kuhse das ‚Zentrum für Humane Bioethik’ (1980) an der Monash Universität, und es gibt nun zahlreiche andere Zentren für angewandte Ethik in Australien; zu bemerken ist ferner das dortige private Interesse an Umweltethik, weil die Probleme der Artenerhaltung und der Wildnis, sowie der drohende ökologische Schaden an der Ozonschicht die dortigen Bewohner direkt betreffen. Die Schaffung eines Lehrstuhls für Umweltethik an der Warschauer Universität zeigt das starke und ursprünglich teilweise politische Interesse an der Umweltethik in den früheren kommunistischen Staaten Osteuropas. Andere Länder, in denen das Interesse an der angewandten Ethik wächst, sind Teile von Südostasien einschließlich Thailand und Hongkong, Indien und viele afrikanische Länder. Siehe auch: Bioethik; Wirtschaftsethik; Klonen; Umweltethik; Journalismus, Ethik des; Sexualität, Philosophie der; Nachhaltigkeit Anmerkungen und weitere Lektüre: La Follette, Hugh (Hrg.) (2003): ‚The Oxford Handbook of Practical Ethics‘, Oxford: Oxford University Press. (Ein Leitfaden für die ethische Debatte in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, von persönlichen bis hin zu politischen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Fragen.) La Follette, Hugh (Hrg.) (2004): ‚Ethics in Practice: an Anthology‘, Oxford: Blackwell. (Eine Auswahl klassischer und zeitgenössischer Primärtexte der angewandten Ethik, thematisch gruppiert nach den Fragen zu Leben und Tod, dem persönlichen Leben, Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit.) 38
Anomaler Monismus
Singer, P. (Hrg.) (1986): ‚Applied Ethics‘, Oxford: Oxford University Press. (Klassische Aufsätze, einschließlich jenes von Hume über den Selbstmord und von Mill über die Todesstrafe.) BRENDA ALMOND
Anomaler Monismus
Der anomale Monismus, der 1970 von Donald Davidson aufgebracht wurde, geht davon aus, dass alle Ereignisse von einer einzigen, fundamentalen Art sind, nämlich von einer physikalischen. Er leugnet aber nicht, dass es mentale Ereignisse gibt; vielmehr geht er davon aus, dass jedes mentale Ereignis ein ganz bestimmtes physikalisches Ereignis ist. Die Idee dahinter ist, dass der Gedanke einer Person zu einer bestimmten Zeit, beispielsweise dass die Welt rund sei, womöglich ein bestimmtes Muster neuronaler Aktivität in ihrem Gehirn zu diesem Zeitpunkt ist, und zwar ein Ereignis, dass sowohl der Gedanke ist, dass die Erde rund sei (ein Typ von einem geistigen Ereignis), als auch ein Muster neuronaler Aktivität (ein Typ von einem physikalischen Ereignis). Es geht jedoch nur ein Ereignis vor sich, dass sowohl mit geistigen, als auch mit physikalischen Ausdrücken beschrieben werden kann. Wenn geistige Ereignisse physische Ereignisse sind, dann können sie, wie alle physischen Ereignisse, erklärt und vorausgesagt werden (zumindest im Prinzip), und zwar auf der Basis von Naturgesetzen, auf die die Physik als Wissenschaft Bezug nimmt. Jedoch können dem anomalen Monismus zufolge Ereignisse nicht auf diese Weise erklärt oder vorausgesagt werden, wenn sie mit geistigen Ausdrücken beschrieben werden (wie z.B. denken, wünschen, jucken etc.), sondern eben nur, wenn sie als physikalische Ereignisse beschrieben werden. Das unterscheidende Merkmal des anomalen Monismus als einer Abart des physikalischen Monismus liegt darin, dass er mentale Ereignisse als solche (d.h., so wie sie mit mentalen Ausdrücken beschrieben werden) als anomal impliziert – sie können auf der Grundlage strenger naturwissenschaftlicher Gesetze nicht erklärt oder vorausgesagt werden. Siehe auch: Reduktion, Probleme der; Naturgesetze; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes BRIAN P. MCLAUGHLIN
Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret (1919–2001)
Elizabeth Anscombe hat Beiträge auf allen Hauptgebieten der Philosophie geleistet, am einflussreichsten in der Ethik und der Philosophie des Geistes. Sie ist die Begründerin der zeitgenössischen Handlungstheorie und eine wichtige Quelle der Wiederbelebung des Interesses an der Tugendethik. Den Haupteinfluss auf ihre Lehre übte die Arbeit ihres Lehrers, Ludwig Wittgenstein, aus, von dem sie viel übersetzt hat, und von dessen Werk sie eine wichtige Interpretin ist, sowie die klassischen und mittelalterlichen Traditionen, wie sie durch Aristoteles und Thomas von Aquin begründet wurden. Sie trug ferner in zahlreichen Beiträgen zur Verteidigung des römisch-katholischen Glaubens bei. Siehe auch: Verursachung; Freier Wille, § 2; Ursachen und Gründe MICHAEL THOMPSON
Anselm von Canterbury (1033–1109)
Anselm von Canterbury, der auch unter den Namen Anselm von Aosta und Anselm von Bec oder als der Hl. Anselm bekannt ist, war zunächst Student, dann Mönch, später Prior und schließlich Abt des Klosters von Bec in der Normandie, 39
Anselm von Canterbury (1033–1109)
bevor er 1093 zum Erzbischof von Canterbury gewählt wurde. Er wurde zu einem der bekanntesten und sich am unermüdlichsten einsetzenden Philosophen und Theologen des mittelalterlichen Europas. Sein literarischer Textkorpus besteht aus elf Abhandlungen oder Dialogen, von denen die wichtigsten die philosophischen Arbeiten ‚Monologion’ und ‚Proslogion’ und die herausragende theologische Arbeit ‚Cur deus homo’ (‚Warum Gott zum [Gott-]Menschen wurde‘). Er hinterließ ferner drei Meditationen, neunzehn Gebete, 374 noch vorhandene Briefe einschließlich der ‚Epistolae de Sacramentis’ (Briefe über die Sakramente) und eine Sammlung philosophischer Fragmente, zusammen mit einer Kompilation seiner Aussprüche (‚Dicta Anselmi’) von Alexander, einem Mönch von Canterbury, sowie eine Kompilation seiner Reflexionen über die Tugend, ‚De morum qualitate per exemplorum coaptationem’ (‚Über die Tugenden und Laster, dargestellt anhand einer Zusammenstellung von Beispielen‘), die möglicherweise ebenfalls von einem Mönch in Canterbury erstellt wurde. In Bec schrieb Anselm seine erste philosophische Abhandlung, das ‚Monologion’, dessen Titel bereits sagt, dass es sich um einen Monolog handelt. Diesem Werk folge das ‚Proslogion’, dessen Titel sagt, dass er sich mit dieser Schrift an jemanden richtet, in diesem Falle die Seele an Gott. In Bec vervollständigte er auch die philosophischen Dialoge ‚De grammatico’ (‚Über einen Fachmann der Grammatik‘), ‚De veritate’ (‚Über die Wahrheit‘), ‚De libertate arbitrii’ (‚Über die Freiheit der Wahl‘) und ‚De casu diaboli’ (‚Der Fall des Teufels‘). Am Ende seiner Zeit in Bec richtete er seine Aufmerksamkeit stärker auf theologische Themen, indem er vor September 1092 eine erste Fassung von ‚De incarnatione Verbi’ (‚Die Inkarnation des Wortes‘) entwarf und die Schlussfassung ungefähr Anfang 1094 fertig stellte. Während seiner Amtszeit in Canterbury, in die auch zwei lange Exilphasen aus England fielen (1097–1100 und 1103–1106), schrieb er ‚Cur deus homo’, gefolgt von der bündig durchgeführten Abhandlung ‚De conceptu virginali et originali peccati’ (‚Die unbefleckte Empfängnis und ursprüngliche Sünde‘), ‚De processione Spiritus Sancti’ (‚Die Prozession des Heiligen Geistes‘) und ‚De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae dei cum libero arbitrio’ (‚Die Harmonie der Vorsehung, die Prädestination und die göttliche Gnade bei der freien Wahl‘). Obwohl diese Hauptschriften in Bec stärker philosophisch ausgerichtet waren, während die noch kommenden Schriften als Erzbischof mehr ins Theologische gingen, muss man allerdings bedenken, dass Anselm selbst nicht ausdrücklich zwischen der Philosophie und der Theologie unterschied, dass er ferner in Bec auch zwei Meditationen und sechzehn Gebete schrieb, und dass sein ‚Cur deus homo’ (‚Warum Gott zum Menschen [wurde]‘) und ‚De concordia’, indem sie sich mit den gewichtigen theologischen Lehren der Buße, der Vorsehung und der Gnade beschäftigten, philosophische Begriffe wie z.B. die necessitas praecendens (vorausgehende Notwendigkeit) und die necessitas sequens (nachfolgende Notwendigkeit) einbezogen. Anselms berühmteste philosophische Arbeit ist sicherlich das ‚Proslogion’, während seine einflussreichste theologische Arbeit zweifellos ‚Cur deus homo’ ist. Der Stil des ‚Proslogion’ imitiert jenen von Augustinus in den ‚Bekenntnissen’, wo die Seele Gott anruft, indem sie andachtsvoll reflektiert und meditiert. Im Gegensatz dazu ist ‚Cur deus homo’ in Dialogform gehalten, weil, wie Anselm dort unter I.1 feststellt, „Angelegenheiten, die durch die Methode von Frage und Antwort untersucht werden, klarer und damit für den Geist vieler Menschen annehmbarer sind 40
Anselm von Canterbury (1033–1109)
– besonders für den Geist von jenen, die langsamer sind“. Über seine Ziele im ‚Proslogion’ gibt es keine Einigkeit unter den Gelehrten. Die traditionelle Auffassung meint, dass er sich die doppelte Aufgabe eines Beweises der Existenz Gottes und den Nachweis gewisser Wahrheiten betreffend die Attribute Gottes stellte. Indem er diese Aufgaben durchführt, beruft er sich auf eine einzige Überlegung (unum argumentum), dass nämlich Gott ein aliquid quo nihil maius cogitari potest ist (etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann). Diese einzige Überlegung hat eine einzigartige argumentative Form zur Folge; die logische Struktur der Argumentation, die darauf abzielt festzustellen, dass quo nihil maius wirklich existiert, ist auch die Struktur des Arguments, dass damit schließt, dass quo nihil maius dergestalt existiert, dass nicht denkbar ist, dass es nicht existiert, dass es per se für sich allein existiert, dass es allmächtig, barmherzig und gleichzeitig unüberwindlich ist, dass es äußerst gerecht und gut ist, dass es größer ist, als man denken kann, und so fort. Nach dieser Interpretation bemüht sich das ‚Proslogion’ um die Begründung weitgehend derselben Schlussfolgerungen, die bereits in dem früheren ‚Monologion’ gezogen wurden, versucht dies jedoch auf direkterem, einfacherem und bündigerem Wege zu erreichen. Die Hauptaussage des ‚Cur deus homo’ muss jedoch vom Titel unterschieden werden. Sie betrifft nämlich die Erklärung, warum es für Gott notwendig war, durch seinen Sohn ein Mensch zu werden (d.h. sich als ein menschliches Wesen [homo] zu inkarnieren). Anselm verwendet das lateinische Wort homo im Sinne einer Gattung und nicht im Sinne von männlich (vir). Dies wird ganz deutlich in ‚Cur deus homo’ II, 8: „nil convenientius, quam ut de femina sine viro assumat [deus] illum hominem quem quaerimus“ („nichts ist nahe liegender, als dass Gott von einer Frau ohne Mann ausgeht als das, was wir [hier] als Menschen untersuchen“). Obwohl der Sinn von homo sich je nachdem ändert, ob Anselm von menschlichen Wesen oder über die menschliche Natur redet, besteht doch kein Zweifel über die Bedeutung des Titels: vom Sohn Gottes wird angenommen, dass er ein menschliches Wesen sei und dadurch ein Mensch wird; er ging nicht von einer anderen Art von Mensch aus (mit anderen Worten, von der Annahme einer menschlichen Person mit menschlichem Wesen), wie die häretischen Nestorianer dies gelehrt hatten, noch wurde er Mensch (mit anderen Worten, dass er eine Art Mensch-an-sich wurde, indem er die ungeteilte Menschennatur an sich annahm). Anselms detaillierte Theorie der Genugtuung für Sünden war in weiten Bereichen die vorgeblich theoretische Rechtfertigung für die institutionalisierten Praktiken des Beicht- und Strafsystems, wie es in der mittelalterlichen Kirche bestand, und das von jeder Sünde meint, sie sei eine strafbare Schwäche, die es erfordert, dass man Gott um Vergebung anfleht und Wiedergutmachung dafür anbietet, dass man ihn entehrt hat. Durch das verwickelte und beständige Argumentieren in ‚Cur deus homo’ versucht Anselm eine zentrale Wahrheit aufzuzeigen: ‚Weil nur Gott diese Genugtuung leisten kann, aber ein Mensch sie leisten sollte, ist es notwendig, dass ein Gott-Mensch dies vollbringt.‘ (‚Cur deus homo’ II, 6). Wie in ‚Cur deus homo verfährt Anselm auch in seinen anderen Abhandlungen, soweit er dies für möglich hält, sola ratione (allein unter Einsatz rationaler Überlegungen). Aus diesem Grunde nennt man ihn zu Recht den ‚Vater der Scholastik‘. Er versteht die ratio in einem weiten Sinne, weit genug, dass sie die Nähe zur Erfahrung genauso umfasst wie die begriffliche Einsehbarkeit. Obwohl Augustin den 41
Anthropologie, Philosophie der
hauptsächlichen Einfluss auf ihn ausübte, ist Anselm weniger platonisch gesonnen als dieser, und der Einfluss von Aristoteles’ ‚De interpretatione’ und dessen ‚Kategorien’ (über die lateinische Übersetzung von Boethius) ist in seinem philosophischen Werk deutlich zu erkennen. Siehe auch: Freier Wille; Gott, Begriff von; Mittelalterliche Philosophie; Allwissenheit JASPER HOPKINS
Anthropologie, Philosophie der
Die Anthropologie hat wie die Philosophie viele Gesichter. Sie studiert die physische, soziale, kulturelle und sprachliche Entwicklung der Menschen genauso wie ihre materielle Kultur von den prähistorischen Zeiten an bis in die Gegenwart und in allen Teilen der Welt. Einige anthropologische Teilbereiche sind stark mit den physikalischen und den biologischen Wissenschaften verknüpft, andere identifizieren sich mehr mit den Sozial- und Kulturwissenschaften. Innerhalb der kulturellen und sozialen Anthropologie sind sich unterschiedliche theoretische Ansätze darin uneinig, ob die Anthropologie eine Wissenschaft sei. Die Frage lautet hier, wie man Kulturen überhaupt verstehen kann, die sich von der eigenen unterscheiden, und ob man Wissen aus der eigenen in andere Kulturen übertragen kann. Diese Fragen stehen im Zentrum der Anthropologie, weil die Antworten darauf das Wesen der Disziplin selbst bestimmen. Die anthropologische Philosophie prüft die Definitionen der grundlegenden anthropologischen Begriffe, die Objektivität anthropologischer Behauptungen und das Wesen anthropologischer Theoriebestätigung und Erklärung. Sie prüft auch die werttheoretischen Probleme, die auftauchen, wenn Anthropologen mit Kulturen konfrontiert werden, die nicht ihre eigenen gesellschaftlichen Standards teilen. Siehe auch: Universalismus in der Ethik MERRILEE H. SALMON
Antike Philosophie Einführung Die Philosophie der griechisch-römischen Welt vom 6. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 6. nachchristlichen Jahrhundert legte die Fundamente für alle folgende westliche Philosophie. Ihre größten Gestalten sind Sokrates (5. Jahrhundert v. Chr.) und Platon und Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.). Aber der enorm weite Bereich und die übrigen wichtigen Denker, die in dieser Zeitspanne lebten, umfasst die Vorsokratiker und Sophisten des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr., die Stoiker, Epikureer und Skeptiker der hellenistischen Epoche, und die vielen aristotelischen und (insbesondere) platonischen Philosophen, die zurzeit des römischen Reichs schrieben, einschließlich des großen, neuplatonischen Plotin. Die antike Philosophie war grundsätzlich heidnisch, und sie wurde schließlich im 6. Jahrhundert n. Chr. vom Christentum in den Hintergrund gedrängt. Sie wurde jedoch derartig umfassend von ihrem Eroberer einverleibt, dass sie durch das Christentum schließlich die mittelalterliche und die Renaissance-Philosophie beherrschte. Diese zufällige Symbiose zwischen der antiken Philosophie und dem Christentum spiegelt die Tatsache, dass philosophische Überzeugungen in der Spätantike weitgehend dieselbe Rolle spielten
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Antike Philosophie
wie religiöse Bewegungen, mit denen sie ohnehin viele ihrer Ziele und Praktiken gemeinsam hatten. Nur ein kleiner Bruchteil der antiken philosophischen Schriften ist bis in unsere Zeit intakt erhalten geblieben. Der übrige Teil konnte in mehr oder weniger großem Umfange wieder hergestellt werden, indem man fragmentarische Hinweise in Quellen, die sich auf sie beziehen, zusammenfügte. 1. Hauptmerkmale 2. Das 6. und das 5. vorchristliche Jahrhundert 3. Das 4. vorchristliche Jahrhundert 4. Die hellenistische Philosophie 5. Die römisch-imperiale Ära 6. Schulen und Bewegungen 7. Was überlebt hat 1. Hauptmerkmale ‚Antike‘ Philosophie ist jene der klassischen Antike, die nicht nur die gesamte europäische philosophische Tradition begründete, sondern auch einen beispiellosen Einfluss auf ihren Stil und ihren Inhalt ausübte. Sie beginnt nach üblicher Meinung mit Thales in der Mitte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, obwohl die Griechen selbst häufig Homer (ca. 700 v. Chr.) zu dem eigentlichen Begründer der antiken Philosophie machten. In der Öffentlichkeit betrachtet man oft das Jahr 529 n.Chr. als ihr Ende, als der christliche Kaiser Justinian, wie angenommen wird, die heidnischen philosophischen Lehren in Athen verbieten ließ. Dies bedeutet jedoch nicht ihr abruptes Ende, und die Arbeit der platonischen Philosophen wurde für einige Zeit im selbst gewählten Exil fortgesetzt (siehe Neuplatonismus). Bis hin zu Platon, und einschließlich ihm selbst (in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.), entwickelte die Philosophie keine bedeutsame eigene technische Terminologie – anders als die sich ebenfalls zu dieser Zeit entwickelnden Disziplinen der Mathematik und Medizin. Es war Platons Schüler Aristoteles und nach ihm die Stoiker (siehe Stoizismus), die entscheidend zum philosophischen Fachvokabular der antiken Welt beitrugen. Die antike Philosophie war vor allem ein Produkt Griechenlands und der griechisch sprechenden Teile des Mittelmeerraums, der auch Süditalien, Sizilien, Westasien und große Teile Nordafrikas, insbesondere Ägypten, mit einbezog. Von dem ersten vorchristlichen Jahrhundert an beschäftigte sich eine Reihe von Römern mit dem einen oder anderen griechischen philosophischen System, und einige von ihnen schrieben ihre eigenen Arbeiten in Latein (siehe Lucretius; Cicero). Aber griechisch blieb die lingua franca der Philosophie. Obwohl ein Großteil der modernen philosophischen Terminologie von latinisierten Formen griechischer Begriffe abgeleitet ist, stammt vieles aus dem lateinischen Vokabular des mittelalterlichen Aristotelismus nicht direkt von den antiken römischen philosophischen Autoren ab. 2. Das 6. und 5. vorchristliche Jahrhundert Die erste Phase, die sich über einen Großteil des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts erstreckte, ist allgemein als die Vorsokratische Philosophie bekannt. Ihre frühesten Angehörigen (Thales; Anaximander; Anaximenes) kamen aus Milet an der Westküste der heutigen Türkei. Das vorherrschende Interesse der vorsokratischen 43
Antike Philosophie
Denker richtete sich auf die Ursprünge und Regelmäßigkeiten der physikalischen Welt und den Platz der menschlichen Seele darin (siehe speziell: Pythagoreische Philosophie; Heraklit; Empedokles; Demokrit), obwohl diese Periode auch solche Rebellen wie die eleatischen Philosophen (Parmenides; Zeno von Elea) hervorbrachte, deren radikaler Monismus es darauf anlegte, genau jene Grundlage der Kosmologie durch das Vertrauen auf eine apriorische Vernunft zu hintertreiben. Die Bezeichnung ‚vorsokratisch‘ erkennt die herkömmliche Sichtweise an, derzufolge Sokrates (469–399 v. Chr.) der erste Philosoph war, der das Zentrum der Aufmerksamkeit von der natürlichen Welt weg und hin zu den menschlichen Werten verschob. Tatsächlich fällt diese Verschiebung über weite Bereiche mit dem ebensolchen Bemühen der zeitgenössischen Sophisten zusammen, die beteuerten, die Grundlagen des politischen und sozialen Erfolgs zu lehren und sich folglich ebenfalls stark mit moralischen Angelegenheiten auseinandersetzten (siehe Sophisten). Aber die Persönlichkeit des Sokrates wurde eine so mächtige Ikone für ein Leben, dass der moralischen Untersuchung gewidmet war – und sie blieb es seitdem –, dass es sein Name ist, der den Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie markiert. In dem Jahrhundert und der Zeit nach seinem Tode schauten viele Schulen auf ihn als die lebendige Verkörperung der Philosophie zurück und suchten das Prinzip seines Lebens und Denkens in der philosophischen Theorie. 3. Das 4. vorchristliche Jahrhundert Sokrates und die Sophisten halfen, Athen zum philosophischen Zentrum der griechischen Welt zu machen, und genau dort lebten im 4. vorchristlichen Jahrhundert die beiden größten Philosophen der Antike, nämlich Platon und Aristoteles. Platon, ein Schüler des Sokrates, richtete seine Schule, die Akademie, in Athen ein. Platons veröffentlichte Dialoge sind ebenso literarische Meisterstücke wie philosophische Klassiker, und sie entwickeln, wenn auch unsystematisch, eine allumfassende Philosophie, die die Ethik, die Politik, die Physik, die Metaphysik (siehe Formen, platonische), die Erkenntnistheorie (siehe Angeborene, in der antiken Philosophie, das), die Ästhetik und die Psychologie umfassten. Der herausragendste Schüler der Akademie war Aristoteles, dessen eigene Schule, das Lyceum, für eine Weile zu einer Rivalin der Akademie als dem Zentrum der Ausbildung wurde. Aristoteles’ sehr technische, aber ebenso häufig provisorische wie der Forschung dienende Lehrabhandlungen waren möglicherweise nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Auf jeden Fall wurden sie bis ins späte 1. Jahrhundert v. Chr. nicht weit verbreitet und diskutiert. Seine philosophisch bedeutendsten Abhandlungen (ausgenommen seine wichtigen zoologischen Arbeiten) umfassen grundlegende Studien auf allen Gebieten, die bereits von Platon bearbeitet wurden, zuzüglich der Logik, einem Zweig der Philosophie, in dem Aristoteles ein Pionier war. Diese Abhandlungen gehören wie jene von Platon zu den führenden Klassikern der westlichen Philosophie. Der Platonismus und der Aristotelismus wurden vom 2. nachchristlichen Jahrhundert an mindestens bis zum Ende der Renaissance zu den herrschenden Philosophien der westlichen Tradition, und das Vermächtnis beider gehört bis auf den heutigen Tag zum zentralen Bestand der westlichen Philosophie.
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Antike Philosophie
4. Die hellenistische Philosophie Bis zum 4. vorchristlichen Jahrhundert wurde die Philosophie weithin als eine Suche nach dem allumfassenden Verständnis gesehen, so dass in den größeren Schulen ihre Betätigungsfelder ohne weiteres z.B. die biologische und die geschichtliche Forschung einschlossen. In der nachfolgenden Ära der hellenistischen Philosophie bewirkte jedoch eine geographische Spaltung die schärfere Abgrenzung der Philosophie als einer auf sich selbst Bezug nehmenden Disziplin. Alexandria mit seiner wunderbaren Bibliothek und seiner königlichen Schirmherrschaft wurde das neue Zentrum der naturwissenschaftlichen, literarischen und geschichtlichen Forschung, während die philosophischen Schulen in Athen sich auf die Gebiete konzentrierten, die im engeren Sinne zur Philosophie gehörten, wie sie seitdem verstanden wurde. Die daraus folgenden Merkmale der Philosophie charakterisierten diese nicht nur im hellenistischen Zeitalter, sondern auch für den verbleibenden antiken Zeitraum. Die drei Hauptteile der Philosophie wurden allseits folgendermaßen benannt: die ‚Physik‘ (eine vor allem spekulative Disziplin, die sich mit solchen Begriffen wie der Verursachung, der Veränderung, Gott und der Materie beschäftigte und praktisch ohne empirische Forschung stattfand), die ‚Logik‘ (die manchmal auch die Erkenntnistheorie mit einbezog), und die ‚Ethik‘. Man war sich darin einig, dass die Ethik das eigentliche Zentrum der Philosophie darstellte, die folglich im Wesentlichen ein systematisierter Wegweiser zur persönlichen Tugend (siehe Aretē) und zum Glück (siehe Eudämonie) war. Dies hatte aber auch eine starke spirituelle Dimension. Die religiösen Überzeugungen einer Person, d.h. die Art, wie jemand die eigenen (normalerweise heidnischen) Glaubensinhalte und Praktiken betreffend das Göttliche rationalisierte und ausarbeitete, waren ihrerseits ein integraler Bestandteil sowohl der Physik, als auch der Ethik, und niemals nur ein Anhängsel der Philosophie. Die herrschenden philosophischen Überzeugungen der hellenistischen Epoche (offiziell 323–31 v. Chr.) waren der Stoizismus (begründet durch Zeno von Citium) und der Epikureismus (begründet durch Epikur) (siehe Stoizismus; Epikureismus). Der Skeptizismus war ebenfalls eine treibende Kraft, und zwar lange Zeit durch die Akademie (siehe Carneades), die in dieser Periode eher als eine kritische, und weniger als dogmatische Schule fungierte, und ebenfalls ab den letzten Jahrzehnten dieser Ära durch den Pyrrhonismus. 5. Die römisch-imperiale Ära Der entscheidende Wendepunkt liegt allerdings nicht genau am Ende des hellenistischen Zeitalters (d.h. 31 v. Chr., als das römische Reich nach der offiziellen Geschichtsschreibung entstand), sondern bereits ein halbes Jahrhundert früher in den 80er Jahren v. Chr. Politische und militärische Aufstände in Athen drängten die meisten Philosophen aus der Stadt heraus und in kulturelle Rückzugsgebiete wie z.B. Alexandria und Rom. Die philosophischen Institutionen Athens erholten sich hiervon nie mehr ganz, so dass diese Dezentralisierung schließlich zu einer ständigen Neuzeichnung der philosophischen Landkarte führte. (Die Lehrstühle des Platonismus, des Aristotelismus, des Stoizismus und des Epikureismus, die der Philosophenkaiser Marcus Aurelius in Athen 176 n. Chr. einrichten ließ, waren eine bedeutsame Geste, aber sie stellten nicht vollständig Athens frühere Vorrangstellung wieder her). Die Philosophie war für die meisten ihrer Anhänger keine lebende Tä45
Antike Philosophie
tigkeit innerhalb der Athenischen Schulen mehr, die von Platon, Aristoteles, Zenon oder Epikur gegründet worden waren. Stattdessen wurde sie nun zu einem Gegenstand, der man in kleinen Studentengruppen über die ganze griechisch-römische Welt verstreut nachging, und die von professionellen Lehrern angeleitet wurde. Es entstand das verbreitete Gefühl, dass die Geschichte der Philosophie nun an ihrem Ende angelangt sei, und dass es nunmehr darum gehe, die korrekte Interpretation der ‚Alten‘ durch eingehendes Studium ihrer Texte zu finden. Ein Symptom dieses Gefühls ist, dass die Doxographie, d.h. die systematische Katalogisierung von philosophischen und naturwissenschaftlichen Meinungen, sich hauptsächlich auf die Periode bis 80 v. Chr. konzentrierte, so wie es bei der biographischen Geschichte der Philosophie der Fall war, die Diogenes Laertius ca. 300 n. Chr. schrieb. Ein weiteres Symptom hierfür ist, dass ein großer Teil der philosophischen Tätigkeiten der Spätantike auf die Zusammenstellung von Kommentaren der klassischen philosophischen Texte verwandt wurde. In dieser finalen Phase der antiken Philosophie, die man der Bequemlichkeit halber die ‚römisch-imperiale‘ nennt, weil sie mehr oder weniger mit der Ära des Römischen Reiches zusammenfällt, wurden die hellenistischen Überzeugungen mehr und mehr durch ein Wiederaufleben eines dogmatischen Platonismus vereinnahmt, der auf dem gründlichen Studium der platonischen Texte basierte. Daraus entwickelte sich ein bis in die Einzelheiten ausgearbeitetes metaphysisches Schema. Aristoteles wurde von diesen Platonisten gewöhnlich als ein Verbündeter betrachtet und geriet daher selbst in den Blickpunkt vieler Kommentare (siehe Neuplatonismus). Trotz ihres formalen Interesses an der Wiederherstellung der Weisheit der Alten brachte dieses Zeitalter viele kraftvolle und originelle Denker hervor, deren größter Plotin ist. 6. Schulen und Bewegungen Die frühen Pythagoreer stellten die erste philosophische Gruppe dar, die man als so etwas wie eine Schule bezeichnen kann. Sie erwarben sich Ansehen durch ihre Verschwiegenheit, ebenso durch ihre praktisch religiöse Verehrung für das Namenswort ihres Gründers Pythagoras. ‚Er selbst sagte dies‘ (aus dem Lateinischen wohl bekannt als ‚ipse dixit‘) war angeblich ihre Losung. In mancher Hinsicht wäre es richtiger, sie als eine Sekte statt als eine Schule anzusehen, und ihre Glaubensüberzeugungen und Praktiken waren sicherlich eng mit ihren religiösen Lehrvorträgen über die Reinigung der Seele verbunden. Inzwischen wird nicht mehr, wie ehedem, angenommen, dass die athenischen philosophischen Schulen den formalen Status religiöser Einrichtungen zur Verehrung der Musen hatten. Ihr legaler und institutioneller Status ist tatsächlich recht unklar. Sowohl die Akademie, als auch das Lyceum erhielten ihren Namen nach öffentlichen Hainen direkt außerhalb der Stadtmauern von Athen, in denen sie ihre öffentlichen Veranstaltungen abhielten. Die Stoiker erhielten ihren Namen ebenfalls von einem öffentlichen Säulengang entlang der athenischen agorá (Marktplatz), also der stoa, in dem sie sich trafen. Obwohl diese Schulen zweifellos auch privat organisierte Klassen unterhielten und Diskussionen veranstalteten, war es doch ihr öffentliches Profil, das wesentlich zu ihrer Identität als Schulen beitrug. In den letzten vier Jahrhunderten vor der Zeitrechnung brachen angehende Philosophiestudenten aus allen Teilen der griechischen Welt nach Athen auf, und der hohe Grad öffentlicher Sichtbarkeit der Schulen wurde sicherlich zumindest teilweise auch mit einem 46
Antike Philosophie
Seitenblick auf ihre werbliche Wirkung kultiviert. Nur die Epikureische Schule hielt ihre Aktivitäten von der öffentlichen Beobachtung fern, was Epikurs Politik eines minimalen bürgerlichen Engagements entsprach. Eine Schule begann normalerweise als eine informelle Gruppenbildung von Philosophen, die gemeinsame Interessen und Engagements verbanden, und zwar unter der nominellen Führung einer Person, wenn auch ohne inhaltliche Vorgaben, der alle Mitglieder eine unhinterfragbare Ergebenheit geschuldet hätten. In der ersten Generation der Akademie wichen viele von Platons eigenen, führenden Kollegen von seinen Standpunkten in zentralen Punkten ab. Dieselbe Offenheit lässt sich in der ersten Generation anderer Schulen beobachten, selbst (wenn auch in geringerem Umfange) in der des Epikur. Jedoch änderte sich gewöhnlich diese Situation nach dem Tode des Gründers. Sein Wort wurde im Nachhinein weitgehend unangreifbar, und ein weiterer Fortschritt fand nur in Form von Ergänzungen oder Reinterpretationen der Äußerungen des Gründers statt, und weniger in Gestalt seiner Ersetzung. Dadurch hing die Ergebenheit, welche die Schule auf lange Sicht zusammenhielt, an einer praktisch religiösen Verehrung für die Gründungstexte der Bewegung, und sie bildeten auch den Rahmen, innerhalb dessen die Diskussionen stattfanden. Die Ähnlichkeit zu den Strukturen religiöser Sekten ist kein Zufall. In der späteren Antike stellten philosophische und religiöse Bewegungen tatsächlich ein einzigartiges kulturelles Phänomen dar, und sie konkurrierten um denselben spirituellen und intellektuellen Vorrang. Dies betrifft auch das Christentum, das vom dritten nachchristlichen Jahrhundert zum ernsthaften Rivalen für die heidnische Philosophie (vor allem den Platonismus) wurde und schließlich über sie triumphierte. Auf der Suche nach einem Verständnis solcher spiritueller Bewegungen der Spätantike, zu welchen der Hermetismus, der Gnostizismus, der Neupythagoreismus, der Zynismus und sogar der Neuplatonismus gehörten, und ihre Befassung mit solchen Werten wie der Askese, der Selbstreinigung und der Selbstvergöttlichung, ist es unangebracht, auf einer scharfen Trennung zwischen Philosophie und Religion zu bestehen. ‚Antike Philosophie‘ wird traditionell als eine heidnische verstanden und wird deshalb von der christlichen patristischen Philosophie der Spätantike unterschieden (siehe Patristische Philosophie). Es war jedoch möglich, die heidnische Philosophie dem Judaismus (siehe Philo von Alexandria) oder dem Christentum dienstbar zu machen (siehe beispielsweise Augustinus; Boethius; Philopon), und tatsächlich wurden die antiken Philosophien genau wegen dieser Fähigkeit weitgehend in die mittelalterliche Philosophie und die Renaissance-Philosophie übernommen, die sie schließlich sogar dominieren sollten. Diese weitgehende Überlappung zwischen der Philosophie und der Religion spiegelt auch in gewissem Umfange den durchdringenden Einfluss wieder, den die Philosophie auf die gesamte Kultur der antiken Welt ausübte. Da sie nur selten als eine abgehobene akademische Disziplin betrachtet wurde, brachte die Philosophie in der Regel ein hohes politisches Prestige mit sich, und ihre Diskursmethoden färbten auch auf so andersartige Disziplinen wie die Medizin, die Rhetorik, die Astrologie, die Geschichte, die Grammatik und das Recht ab. Die Arbeit von zwei der größten Naturwissenschaftler der antiken Welt, des Doktor Galen und des Astronomen Ptolemäus, beruhten grundlegend auf ihren jeweiligen philosophischen Hintergründen.
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Antisemitismus
7. Was überlebt hat Ein sehr wesentlicher Teil der Arbeiten antiker Philosophen hat in Form von Manuskripten die Zeiten überdauert. Davon entfällt die Mehrzahl auf jene Philosophen – vor allem Platon, Aristoteles und die Neuplatonisten –, die für die christlichen Kulturen vorrangig interessant waren, und die sie durch das Mittelalter hindurch bewahrte, und zwar vor allem in den Klöstern, wo die Manuskripte gewissenhaft kopiert und aufbewahrt wurden. Einige weitere antike philosophische Schriften wurden durch die Übersetzung ins Arabische oder in andere Sprachen erhalten, oder auch auf ausgegrabenen Papyrus-Stücken. Die Aufgabe der Wiederherstellung der ursprünglichen Texte dieser Arbeiten stellte eine der großen Bemühungen der modernen wissenschaftlichen Arbeit dar. Hinsichtlich der überwiegenden Mehrheit der antiken Philosophen hängt unser Wissen von ihnen jedoch von Sekundärquellen ihrer Worte und Ideen in den Schriften anderer Autoren ab, von denen einige wirklich an einer Aufzeichnung der Geschichte der Philosophie interessiert waren, andere jedoch nur die Standpunkte zu diskreditieren trachteten, die sie ihnen zuschrieben. In solchen Fällen der Sekundärbezeugung ist ein ‚Fragment‘ ausschließlich ein wörtliches Zitat, während indirekte Berichte ‚Zeugnisse‘ genannt werden. Diese Unterscheidung wurde jedoch nicht immer strikt durchgehalten, und tatsächlich operieren die Quellen, auf die wir uns stützen, selten mit irgendeiner ausdrücklichen Unterscheidung zwischen Zitat und Paraphrase. Wir bezeugen dem philosophischen Genius der antiken Welt unsere Ehre, wenn sie trotz der Unterdrückung und Verzerrung, die ihre Beiträge über zwei Jahrtausende erfahren haben, weiterhin im Zentrum jeder modernen Zusammenschau dessen stehen, was Philosophie ist und sein kann. Siehe auch: Atomismus, antiker; archē; Logos; Nous; Pneuma; Prolēpsis; Psychē ; Technē, Telos Anmerkungen und weitere Lektüre: Algra, K., Barnes, J., Mansfeld, J. und Schofield, M. (Hrg.) (1998): ‚The Cambridge History of Hellenistic Philosophy‘, Cambridge: Cambridge University Press (relativ neue Darstellung, zuverlässig und umfassend). Guthrie, W.K.C. (1962–1981): ‚A History of Greek Philosophy‘, Cambridge: Cambridge University Press, 6 Bd. (Das größte Werk seiner Art auf Englisch, es geht jedoch nicht über Aristoteles hinaus.) Sedley, D. (Hrg.) (2003): ‚The Cambridge Companion to Greek and Roman Philosophy‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Ein Überblick über alle Perioden und viele Aspekte des Themas, mit Stichwortverzeichnis und Empfehlungen für die weitere Lektüre.) DAVID SEDLEY
Antirealismus
Siehe: Intuitionistische Logik und Antirealismus; Realismus Realismus und Antirealismus
mus; wissenschaftlicher
Antisemitismus
und
Antirealis-
Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, die Juden als eine gefährliche und/ oder verachtenswerte gesellschaftliche Gruppe betrachtet. Sie hat handfeste philosophische Wurzeln in den Werken des deutschen Idealismus, der die Andersheit des Judaismus betonte und wie er vom Christentum abgelöst wurde. Sowohl Kant, als 48
Apel, Karl-Otto (*1922)
auch Hegel unterschieden scharf zwischen dem Judaismus und dem, was sie als die rationaleren Religionen betrachteten, und sie stellten die Fähigkeit der Juden zur Integration in den Staat in Frage. Sartre verwandte den Ausdruck ‚Antisemitismus‘, um zu zeigen, wie das Empfinden für Selbstidentität durch die Haltung erzeugt wird, die andere einem Individuum und der Gruppe gegenüber einnehmen. Das heißt: was die Juden zu Juden macht, ist die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, und die Juden selbst können daran nicht viel ändern. Der Antisemitismus ist selbst für die Antisemiten ein Problem; der Antisemitismus ist nach Sartre tatsächlich ein (wenn auch untauglicher) Lösungsversuch für die Schwierigkeiten bei der freien und authentischen, d.h. unideologischen Entscheidungsfindung. Der Antisemitismus hat eine wichtige Rolle bei der jüdischen Selbstdefinition und in ihrer Haltung gegenüber dem Staat Israel, sowie gegenüber der Religion des Judaismus gespielt. Siehe auch: Faschismus; Holocaust, der OLIVER LEAMAN, CLIVE NYMAN
Apel, Karl-Otto (*1922)
Der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel wurde bekannt für seinen weitreichenden ‚transzendental-pragmatischen‘ Ansatz gegenüber einer ganzen Reihe von Fragen der theoretischen und praktischen Philosophie. Dieser Ansatz gesteht einem ‚argumentativen Diskurs‘ und seinen wesentlichen normativen Grundannahmen eine grundlegende Rolle gegenüber allen anderen philosophischen Untersuchungen zu, die gerechtfertigte Geltungsansprüche erheben, z.B. der Erkenntnistheorie, den normativen Theorien der Rationalität, der Kritischen Theorie und der Ethik. Wenn es solche Grundannahmen gibt, dann wird jede kommunikative Absicht eines Gesprächsteilnehmers, hierauf zu verzichten, mit der Auffassung dieser Debatte als einem rational bedeutungsvollen Ereignis kollidieren, denn sie verwickelt diesen Gesprächspartner in eine Art von Inkonsistenz seines Verhaltens, die Apel (wie Habermas), der sich auf die Sprechakt-Theorie bezieht, begrifflich als einen ‚performativen Selbstwiderspruch‘ denunziert. Apel entwickelt dieses Konzept (anders als Habermas) zur Lehre einer rational endgültigen Rechtfertigung (‚Letztbegründung‘). Apel verdient es, eher als der Erfinder der sog. ‚Diskursethik‘ betrachtet zu werden, deren zentrale Behauptung, dass einige Grundannahmen eines Diskurses einen universell gültigen moralischen Inhalt haben, von ihm Mitte der 1960er Jahre entwickelt wurde. Siehe auch: Kommunikative Rationalität MATTHIAS KETTNER
Aquin, Thomas von
Siehe: Thomas von Aquin
Arabische Philosophie
Siehe: Islamische Philosophie
Arbeit, Philosophie der
Anders als das Spiel ist die Arbeit eine Tätigkeit, die einen erheblichen Aufwand an Mühe mit sich bringt und auf ein Ziel gerichtet sein kann, das über den Spaß hinausgeht. Der Ausdruck ‚Arbeit’ wird auch im Sinne der Bezeichnung einer individuellen Beschäftigung oder eines Berufs gebraucht, d.h. jene Tätigkeit, durch die man seinen Lebensunterhalt verdient. In der modernen Marktwirtschaft verdin-
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Archē
gen sich die Einzelmenschen mit ihrer Arbeitskraft unter bestimmten, vereinbarten Bedingungen bei anderen Einzelmenschen oder Körperschaften bzw. Institutionen. Jenseits der Feststellung der formalen Freiheit der Wahl, wie und was man arbeiten will, weisen Kritiker der Marktwirtschaft darauf hin, dass die Beschäftigung einer Person ein Bereich substanzieller Freiheit sein sollte, in dem die Arbeit frei gewählter Selbstausdruck ist. Gegen diese unentfremdete Vorstellung von Arbeit wandten andere ein, dass die Freiheit des Selbstausdrucks nur ein Lebensgut unter anderen sei, das die Arbeit liefern könne, wie z.B. einträgliche Bezahlung, freundschaftliche Sozialkontakte und die Befriedigung der Selbsterhaltung, und dass keine dieser verschiedentlichen, mit der Arbeit zusammenhängenden Güter notwendigerweise Vorrang vor denen anderen habe müsse. Einige Philosophen weisen die Verantwortung der Verschaffung von Gelegenheiten zu guter Arbeit für alle Mitglieder der Gesellschaft der Gesellschaft zu. Andere meinen, dass die Verantwortung für die Qualität des Arbeitslebens des Einzelnen bei jedem Einzelnen selbst liegt. Und schließlich betonen einige Theoretiker der Arbeit, dass man durch die Leistung harter Arbeit gar das Recht auf Landeigentum erwirbt (John Locke) oder auch seine geistige Entwicklung beschleunigt (Mahatma Gandhi). RICHARD ARNESON
Archē
Archē oder ‚Prinzip‘ ist ein antiker griechischer philosophischer Ausdruck. Er baut auf früheren Verwendungen auf; Aristoteles etablierte ihn als einen technischen Ausdruck mit einer Anzahl aufeinander bezogener Bedeutungen, einschließlich ‚ursprüngliche Quelle‘, ‚Ursache‘, ‚Wissensprinzip‘ und ‚grundlegende Entität‘. Entsprechend erlangte er Wichtigkeit in der Metaphysik, in der Erkenntnistheorie und der Naturphilosophie, aber auch in den Einzelwissenschaften. Aristoteles’ Lehre der wissenschaftlichen Prinzipien zufolge sind alle Wissenschaften und ist alles wissenschaftliche Wissen auf Prinzipien (archai) einer beschränkten Anzahl von Arten gegründet. Siehe auch: Aristoteles; Stoizismus RICHARD MCKIRAHAN
Architektur, Ästhetik der
Die Philosophie der Architektur ist ein Zweig der philosophischen Ästhetik, die sich mit verschiedenen Fragen beschäftigt, die aus der Theorie und Praxis der Gestaltung von Gebäuden entstehen. Die ältesten Schriften über Architektur datieren aus der Antike und verbinden architektonische Prinzipien mit allgemeineren, metaphysischen Elementen der Form und der Ordnung. Diese Tradition setzt sich bis zur Renaissance und über diese hinaus fort, aber im 18. Jahrhundert begann sie der neuen Philosophie des Geistes und der Werte Platz zu machen, derzufolge die bestimmenden Faktoren der ästhetischen Erfahrung die Interessen und Einstellungen des informierten Subjekts sind. Dadurch geriet die Architektur in die Sphäre der Geschmackstheorie. Die Wiederbelebung klassischer und gotischer Stile brachte ein erneutes Interesse am Wesen der Architektur, ihrem Platz innerhalb des Schemas der Künste und der Wissenschaften und ihrer Rolle in der Gesellschaft hervor. In der Folge davon bot die Moderne des 20. Jahrhunderts verschiedene Darstellungen der rationalen Grundlage der architektonischen Form an und kombinierte diese mit utopischen 50
Arendt, Hannah (1906–1975)
politischen Philosophien. Wie bereits in der Antike und während der Renaissance wurde die Architektur wieder als zentral und teilweise entscheidend für eine Kultur betrachtet. In jüngerer Zeit hat sich die Aufmerksamkeit wieder analytischen Fragen zugewandt, wie z.B.: ‚Was ist das Wesen der ästhetischen Erfahrung der Architektur?‘, und darauf Bezug nehmend: ‚Wie ist es möglich, kritische Urteile über die Bedeutung und den Wert von Gebäuden zu begründen?‘ Um mit solchen Fragen umzugehen, haben Philosophen unterschiedlicher Traditionen damit begonnen, Darstellungen der sozialen Aspekte der Architektur zu entwickeln, und zwar unter der Anerkennung, dass kritische Urteile die Fähigkeit zur Identifikation von Gebäuden als Fälle verschiedener Typen voraussetzen: öffentliche, zu Wohnzwecken gebaute, formale, informelle Bauten etc. Das Wesen der Architektur ist deshalb teilweise eine Sache der sozialen Konvention, oder allgemeiner gesagt der ‚Lebensform‘, und diese Grenzen des Rahmens für eine abstrakte, unhistorische Theoriebildung. Gleichwohl finden die Quellen der Metaphysik, die Theorien des Geistes, der Handlung, der Bedeutung und des Wertes allesamt in der zeitgenössischen Philosophie der Architektur Anwendung. Siehe auch: Ästhetische Einstellung; Formalismus in der Kunst; Habermas, J.; Kant, I. § 12; Postmoderne JOHN J. HALDANE
Arendt, Hannah (1906–1975)
Hannah Arendt war eine der führenden politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie beobachtete den Nazi-Totalitarismus aus der Nähe und widmete einen großen Teil ihres Lebens dem Versuch, ihn zu verstehen. Nach ihrer Auffassung mobilisierte er die atomisierten Massen durch eine simpel gestrickte Ideologie und etablierte damit eine Herrschaftsform, in der bürokratisch gesonnene Beamte mörderische Taten bei klarem Bewusstsein ausführten. Für Arendt war der einzige Weg zur Vermeidung des Totalitarismus die Herstellung einer wohlgeordneten politischen Gemeinschaft, die die Teilnahme am öffentlichen Leben und eine institutionalisierte politische Freiheit stärkt. Sie hielt die Politik für eine der höchsten menschlichen Tätigkeiten, weil sie die Bürger in die Lage versetzt, über ihr eigenes kollektives Leben zu reflektieren, um ihrem persönlichen Leben einen Sinn zu verleihen, und zur Entwicklung einer kreativen und bindungsstarken Gemeinschaft. Sie war tief besorgt, dass das von wirtschaftlichen Fragen besessene moderne Zeitalter den Mut zur politischen Aktivität schwächt und moralisch oberflächliche Menschen hervorbringt, die empfänglich dafür sind, sich von einem geistlosen Abenteurertum angezogen zu fühlen. B. PAREKH
Aretē
Als ein Schlüsselbegriff der antiken griechischen Ethik wird aretē üblicherweise als ‚Tugend‘ übersetzt, meint eigentlich aber ‚Güte‘, d.h. die Qualität, ein guter Mensch zu sein. Die Philosophie erkennt, vor allem durch Platon, vier Kardinalaretai an: die Weisheit (phronēsis), die Mäßigung (sōphrosynē), den Mut (andreia) und die Gerechtigkeit (dikaiosynē). Andere, die entweder deren Kombination oder als ihre Unterarten verstanden werden, schließen die Frömmigkeit, die Toleranz und die Großzügigkeit ein. Der Ausdruck erzeugte viele Kontroversen. Ist beispielsweise aretē ein Zustand des Intellekts oder des Charakters oder von beidem? Besitzt 51
Aristoteles (384–322 v. Chr.)
sie einen inneren oder nur einen instrumentellen Wert? Ist sie lehrbar, gottgegeben, oder kann man sie sich auf andere Weise aneignen? Wenn es viele von ihnen gibt, wie sind sie zu unterscheiden, und kann man eine besitzen, mit der man auch alle übrigen besitzt? Siehe auch: Aristoteles §§ 21–23; Eudämonie; Platon; Sokrates; Sophisten, Die; Tugendethik; Tugend und Laster DAVID SEDLEY
Aristoteles (384–322 v. Chr.) Einführung Aristoteles aus Stagira ist einer der beiden wichtigsten Philosophen der antiken Welt, und einer der vier oder fünf wichtigsten aller Zeiten oder Orte. Er war kein Athener, aber er verbrachte den größten Teil seines Lebens als Student und Lehrer der Philosophie in Athen. Zwanzig Jahre lang war er Mitglied von Platons Akademie; später gründete er seine eigene philosophische Schule, das Lyceum. Während seines ganzen Lebens veröffentlichte er philosophische Dialoge, von denen nur Fragmente erhalten geblieben sind. Der Corpus aristotelicus (1.462 Seiten griechischen Texts, einschließlich einiger ihm fälschlich zugeschriebener Werke) wurde wahrscheinlich aus seinen Vorlesungen abgeleitet, die er am Lyceum hielt. Aristoteles ist nicht nur der Begründer der Philosophie als einer Wissensdisziplin mit verschiedenen Bereichen oder Zweigen, sondern noch allgemeiner der Methodik intellektueller Untersuchungen, die in je eigene Disziplinen fallen. Er besteht beispielsweise darauf, dass die Beweismaßstäbe und jene der Evidenz für die deduktive Logik und der Mathematik nicht auf das Studium der Natur angewandt werden sollten, und dass keine dieser Disziplinen als das geeignete Modell für die moralische und die politische Untersuchung angesehen werden könne. Er unterscheidet zwischen philosophischen Reflexionen als einer Disziplin und der Ausübung der Disziplin selbst. Sein Textkorpus enthält Beiträge zu vielen verschiedenen Wissensdisziplinen, nicht nur zur Philosophie. Einige Untersuchungsbereiche, zu denen Aristoteles Grundlegendes beisteuerte, waren die folgenden: (1) Logik. Aristoteles’ ‚Erste Analytiken’ sind der erste Versuch zur Formulierung eines Systems der deduktiven formalen Logik, basierend auf der Theorie der ‚Syllogismen‘. Die ‚Zweiten Analytiken’ verwenden dieses System zur Formulierung einer Darstellung des strikten wissenschaftlichen Wissens. ‚Logik‘ schließt nach der Auffassung des Aristoteles das Studium der Sprache und der Bedeutung ihrer Beziehungen zur nichtsprachlichen Wirklichkeit mit ein; folglich umfasst sie viele Themen, die man heute der Sprachphilosophie oder der philosophischen Logik zuordnen würde (‚Kategorien’, ‚De Interpretatione’, ‚Topik’). (2) Das Studium der Natur. Mehr als ein Viertel des Textkorpus (siehe insbesondere die ‚Geschichte der Tiere’, ‚Über die Teile der Tiere’ und ‚Über die Erzeugung der Tiere’, auch ‚Über die Bewegung der Tiere’, ‚Über den Fortschritt der Tiere’) besteht aus Arbeiten zur Biologie. Einige von ihnen enthalten Sammlungen von detaillierten Beobachtungen. (Die ‚Meteorologie’ enthält eine ähnliche Sammlung zur unbelebten Natur.) Andere versuchen diese Beobachtungen im Lichte eines Erklärungsschemas aufzuklären, das Aristoteles in seiner eher theoretischen Refle52
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xion über das Studium der Natur verteidigt. Diese Reflexionen (insbesondere in der ‚Physik’ und in ‚Erzeugung und Zerfall’) entwickeln eine Darstellung der Natur, der Form, des Stoffs, der Ursache und des Wandels, die Aristoteles’ Sichtweise des Verständnisses und der Erklärung von natürlichen Organismen und ihres Verhaltens ausdrücken. Die Naturphilosophie und die Kosmologie sind in der Schrift ‚ ‚De caelo’ (dt.: ‚Über den Himmel’) zusammengefasst. (3) Metaphysik. In seiner Reflexion über die Grundlagen und Vorannahmen anderer Disziplinen beschreibt Aristoteles eine universelle Wissenschaft des Seins qua Sein. Dies ist der Gegenstand der ‚Metaphysik’. Ein Teil dieser universalen Wissenschaften prüft die Grundlagen der Untersuchungen der Natur. Aristoteles formuliert seine Substanzlehre, die er über die verbundenen Gegensätze von Form und Stoff erklärt, und zwischen der Potentialität (gr.: dynamis, was ungefähr ‚Fähigkeit‘ bedeutet) und der Aktualität (gr.: energeia, was in diesem Zusammenhang ungefähr ‚Wirklichkeit’ bedeutet). Eines seiner Ziele ist die Beschreibung des bestimmten und irreduziblen Charakters lebender Organismen. Ein weiteres Ziel einer universellen Wissenschaft in seinem Sinne ist es, seine Untersuchung der Substanz zur Darstellung der göttlichen Substanz zu verwenden, d.h. zur Darstellung jenes äußersten Prinzips der kosmischen Ordnung. (4) Die Philosophie des Geistes. Die Lehre von Form und Stoff wird zur Erklärung der Beziehung von Seele und Körper und der unterschiedlichen Seeletypen, die sich in verschiedenen Arten lebender Kreaturen finden, eingesetzt. Nach Aristoteles’ Auffassung ist die Seele die Form eines lebenden Körpers. Er prüft die unterschiedlichen Aspekte dieser Form in Pflanzen, nicht rationalen Tieren und Menschen, indem er die Ernährung, die Wahrnehmung, die Gedanken und die Wünsche beschreibt. Seine Diskussion (in ‚Über die Seele’ und auch in ‚Parva Naturalia’) reicht von Themen der Philosophie des Geistes, der Psychologie, der Physiologie und der Erkenntnistheorie bis zur Handlungstheorie. (5) Ethik und Politik (‚Nikomachische Ethik’, ‚Eudemische Ethik’, ‚Magna Moralia’). Aus der Sicht des Aristoteles ist das Verständnis der natürlichen und wesentlichen Ziele menschlicher Akteure der richtige Ausgangspunkt zum Begreifen derjenigen Prinzipien, die die Moral und die politische Praxis leiten. Diese Prinzipien zeigen sich in seiner Darstellung des menschlichen Wohlergehens und der verschiedenen Tugenden, die eine gute Person ausmachen und das Wohlergehen verbreiten. Die Beschreibung einer Gesellschaft, die diese Tugenden in dem individuellen ihrer Mitglieder und dem sozialen Leben verkörpert, ist eine Aufgabe für die ‚Politeia’ (dt.: ‚Der Staat’), die auch die Tugenden und Laster der wirklichen Staaten und Gesellschaften untersucht, indem sie sie an den Prinzipien misst, die aus der ethischen Theorie abgeleitet wurden. (6) Literarische Kritik und rhetorische Theorie (‚Poetik’, ‚Rhetorik’). Diese Werke stehen in engem Zusammenhang sowohl zur aristotelischen Logik, als auch zu seiner ethischen und politischen Theorie. 1. Leben 2. Reihenfolge der aristotelischen Werke 3. Erscheinungen 4. Denken und Sprache 5. Deduktion 53
Aristoteles (384–322 v. Chr.)
6. Wissen, Wissenschaft und Beweis 7. Kategorien und Seiendes 8. Wandel und Substanz 9. Ursachen 10. Wandel 11. Metaphysik 12. Vom Sein zur Substanz 13. Warum ist die Form Substanz? 14. Was die substantiellen Formen sind 15. Universalien, Platonische Formen, Mathematik 16. Metaphysik: Gott 17. Seele und Körper 18. Wahrnehmung 19. Erscheinung und Gedanke 20. Verlangen und freiwillige Handlung 21. Das menschliche Gute 22. Charaktertugend 23. Tugend, praktische Vernunft und Willensschwäche 24. Wahlentscheidung, Tugend und Vergnügen 25. Tugend, Freundschaft und die Güte der anderen 26. Zwei Begriffe des Glücks? 27. Politik: ideale Staaten 28. Politik: unvollkommene Staaten 29. Rhetorik und Poetik 30. Einfluss 1. Leben Aristoteles wurde 384 v. Chr. in der makedonischen Stadt Stagira geboren, die heute Teil von Nordgriechenland ist. Zu seiner Lebenszeit war sie das Königreich Makedonien, zunächst unter Philip, und dann unter Philips Sohn Alexander (‚dem Großen‘). Sie eroberte sowohl die griechischen Stadtstaaten in Europa und Asien, als auch das persische Reich. Obwohl Aristoteles einen großen Teil seines erwachsenen Lebens in Athen verbrachte, war er kein athenischer Staatsbürger. Er war eng mit den Königen von Makedonien verbunden, den viele Griechen als einen fremden Eindringling ansahen. Folglich war er von den wechselhaften Beziehungen zwischen Makedonien und den griechischen Stadtstaaten, insbesondere Athen, betroffen. Aristoteles war der Sohn des Nikomachos, einem Arzt am makedonischen Hofe. Im Jahre 367 v. Chr. ging Aristoteles nach Athen. Er war Mitglied von Platons Akademie bis zu dessen Tode im Jahre 347; während dieser Jahre schrieb Platon seine wichtigen späten Dialoge (einschließlich dem ‚Sophist’, dem ‚Timaios’, dem ‚Philebos’, der ‚Politeia’ und den ‚Nomoi’), die viele seiner Lehren in den früheren Dialogen noch einmal aufgreifen und einer anderen Gedankenführung folgen. Da es kein dogmatisches System des ‚Platonismus‘ gab, war Aristoteles weder ein Schüler eines solchen Systems, noch dessen Gegner. Die forschende und kritische Ausrichtung der Akademie ermutigte wahrscheinlich Aristoteles’ eigenes philosophisches Erstarken.
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Aristoteles (384–322 v. Chr.)
Im Jahre 347 v. Chr. verließ Aristoteles Athen und ging nach Assos in Kleinasien. Später zog er nach Lesbos in die östliche Ägäis um, und dann nach Makedonien, wo er der Lehrer Alexanders wurde. Im Jahre 334 kehrte er nach Athen zurück und gründete seine eigene Schule, das Lyceum. Im Jahre 323 v. Chr. starb Alexander; in dem anschließenden Ausbruch antimakedonischer Gefühle in Athen verließ Aristoteles die Stadt und ging nach Chalkis auf der Insel Euböa, wo er im Jahre 322 v. Chr. starb. Aristoteles heiratete Pythias, eine Nichte des Hermeias, dem Herrscher von Assos. Sie hatten eine Tochter, die ebenfalls Pythias hieß. Nach dem Tode seiner Frau entwickelte er eine Zuneigung zu Herpyllis, und sie hatten einen Sohn namens Nikomachos. 2. Reihenfolge der aristotelischen Werke Gegen Ende von Aristoteles’ Leben muss das Lyceum eine gut etablierte Schule gewesen sein. Sie überdauerte seinen Tod; sein Nachfolger als Leiter der Schule war sein Schüler Theophrast. Viele der Werke des aristotelischen Textkorpus sind offenbar stark mit seinen Vorlesungen am Lyceum verbunden. Der überarbeitete Charakter einiger Passagen lässt eine Vorbereitung auf die Veröffentlichung vermuten (z.B. ‚Teile der Tiere‘ I 5), aber viele Abschnitte enthalten unvollständige Sätze und komprimierte Andeutungen, die vielleicht Stichworte waren, die ein Leser erweitern kann (z.B. ‚Metaphysik‘ VII 13). Wir können nicht sagen, wie viele seiner Abhandlungen Aristoteles als ‚abgeschlossen‘ betrachtete (siehe §11 zur ‚Metaphysik‘ und §21 zur ‚Ethik‘). Es mag deshalb nicht angebracht sein, nach dem Entstehungsdatum einer bestimmten Abhandlung zu fragen. Wenn Aristoteles die Abhandlungen weder veröffentlichte, noch dieses überhaupt vorhatte, so kann eine bestimmte Abhandlung auch ohne weiteres Beiträge aus unterschiedlichen Zeiten enthalten. Aus ähnlichen Gründen können wir auch keine Querverbindungen von einem Werk zu einem anderen als Beweis für eine Reihenfolge der Werke verwenden. Auch externe, biographische Überlegungen helfen hier nicht weiter, denn wir verfügen über keine Evidenz zur glaubwürdigen Aufstellung einer intellektuellen Biographie von Aristoteles. Einige wenige Anhaltspunkte ergeben jedoch vielleicht eine teilweise Chronologie: (1) Einige von Aristoteles’ häufigen kritischen Diskussionen über Platon und andere Akademiemitglieder wurden vielleicht in der einen oder anderen Fassung während Aristoteles’ Jahre an der Akademie geschrieben. Die ‚Topik‘ spiegelt womöglich den Charakter der dialektischen Debatte in der Akademie wieder. (2) Es ist einfacher, die Beziehung der Substanzlehre in den ‚Kategorien‘ und der ‚Physik‘ I–II zur Lehre und den Argumenten der ‚Metaphysik‘ VII zu verstehen, wenn wir annehmen, dass die ‚Metaphysik’ VII späteren Datums ist. (3) Das ‚Organon‘ (siehe § 4) erwähnt nicht den Stoff, vielleicht weil (a) Aristoteles noch nicht darüber nachgedacht hatte, oder weil (b) er ihn als irrelevant für die Themen, die im ‚Organon‘ behandelt wurden, betrachtete. Wenn (a) zutrifft, dann geht das ‚Organon‘ dem Werk der Naturphilosophie voran. (4) Einige der Beobachtungen, die Aristoteles in seinen biologischen Arbeiten verwendete, stammten wahrscheinlich aus seinem Aufenthalt in der östlichen Ägäis. Folglich ging Aristoteles seinen biologischen Forschungen wahrscheinlich während 55
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seiner Jahre außerhalb von Athen nach. Wir könnten seine biologischen Interessen bis zur Akademie nachverfolgen (siehe Platons ‚Timaios‘); vielleicht hat er dies auch von seinem Vater Nikomachos übernommen, der Arzt war. Wahrscheinlich sind also zumindest ein Teil der biologischen Arbeiten (oder einige Fassungen von ihnen) nicht die letzten Arbeiten in seinem Werk. (5) Die ‚Magna Moralia‘ (wenn sie überhaupt echt ist) und die ‚Eudemische Ethik‘ gehen wahrscheinlich der ‚Nikomachischen Ethik‘ voraus (siehe § 21). Die Reihenfolge, in der Aristoteles’ Werk in den griechischen Manuskripten erscheint, geht auf die ersten Herausgeber und Kommentatoren zurück (vom 1. Jh. v. Chr. an bis zum 6. Jh. n. Chr.). Sie spiegelt nicht deren Sichtweise der Reihenfolge, in der sie die Arbeiten geschrieben meinten, wohl aber über die Reihenfolge, in der sie studiert werden sollten. Der vorliegende Beitrag folgt im Allgemeinen dieser Ordnung des Textkorpus, außer dass es ‚Über die Seele‘ nach der ‚Metaphysik‘ diskutiert (siehe § 17), und nicht unter den Arbeiten zur Naturphilosophie (wo sie in den Manuskripten erscheint). 3. Erscheinungen Das allgemeine Ziel der rationalen Untersuchung ist es nach Aristoteles, von dem, ‚was uns besser bekannt ist‚ zu dem, was ‚in Wirklichkeit besser bekannt‘ ist (siehe ‚Physik‘ I 1; ‚Zweite Analytik‘ 71b33; ‚Metaphysik‘ 1029b3). Wir erreichen dieses Ziel, wenn wir (1) Aussagen, von denen wir dachten, wir wüssten sie, durch solche zu ersetzen, die wir wirklich wissen, weil sie wahr sind und wir sie verstehen; (2) wir allgemeine Prinzipien finden, die die spezifischeren Wahrheiten erklären und rechtfertigen, mit denen wir begannen; (3) wir jene Aspekte der Wirklichkeit finden, die uns die vertrauteren Aspekte erklären. Die uns in einem Gebiet besser bekannten Dinge sind die relevanten ‚Erscheinungen‘ (phainomena). Aristoteles stellt sie als eine detaillierte Sammlung empirischer Daten dar, die man mittels Untersuchung gewinnt (historia; beispielsweise in ‚Teile der Tiere‘ 646a8). Die empirische Untersuchung schreitet von der Untersuchung des Einzelnen im Wege der Verallgemeinerung durch Induktion (epagōgē) von diesen Einzelfällen fort, bis wir daraus Erfahrung erlangen (empeiria). Die Erfahrung führt uns zu Prinzipien, die in Wirklichkeit besser bekannt seien (‚Erste Analytik‘ 46a17); wir verlassen uns auch auf sie, um die Prinzipien zu überprüfen, die wir gefunden haben (‚Über die Erzeugung der Tiere‘ 760b28). Die philosophische Untersuchung stützt sich ferner auf Erscheinungen. Die Erscheinungen jedoch, mit der sie sich beschäftigt, sind keine empirischen Beobachtungen, sondern verbreitete Glaubensüberzeugungen, d.h. weit verbreitete Annahmen ‚durch viele und weise [Menschen]‘. Die kritische und konstruktive Untersuchung dieser verbreiteten Überzeugungen erfolgt dialektisch, d.h. durch Abwägen von Argument und Gegenargument. Aristoteles’ Methode ist im Grunde sokratisch. Sie zeigt Rätsel in den verbreiteten Überzeugungen auf und sucht nach einer Darstellung, die ihnen als Ganzes gerecht wird. Unter den verbreiteten Überzeugungen betrachtet Aristoteles die Auffassungen seiner Vorgänger (z.B. ‚Metaphysik‘ I; ‚Über die Seele‘ I; ‚Politeia‘ II), weil die durch ihre Auffassungen aufgetretenen Rätsel uns dabei helfen, bessere Lösungen zu finden, als sie selbst fanden. Die Untersuchung führt uns zu Ursachen und zu Universalien. Aristoteles hat eine realistische Konzeption der Untersuchung und des Wissens; Überzeugungen 56
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und Theorien sind insofern wahr, als sie die Wirklichkeit erfassen, die wir untersuchen (siehe Realismus und Antirealismus § 2). Universalien und Ursachen sind ‚wirklich vorrangig‘; sie werden nicht durch irgendeine Theorie geschaffen und sind von solchen auch nicht abhängig, aber eine wahre Theorie muss mit ihnen zusammenpassen. Wenn wir uns nur Aristoteles’ Bemerkungen darüber, was uns besser bekannt ist, sowie dem Prozess der Untersuchung zuwenden, so könnten wir diese Position vielleicht als eine Form des Empirismus ansehen (siehe Empirismus). Aber in diesen Bemerkungen über das, was uns in Wirklichkeit besser bekannt ist, besteht er auf der Wirklichkeit der Universalien und auf der Wichtigkeit von nicht sinnesgebundenen Formen des Wissens (siehe § 15 über die Universalien, § 19 über das Denken). 4. Denken und Sprache Ein Mittel des Zugangs zu den Erscheinungen und insbesondere zu den verbreiteten Überzeugungen ist das Studium dessen, was Worte und Sätze bedeuten (sēmainein). Dies ist ein Teil der ‚Logik‘ (logikē, abgeleitet von logos, was man als ‚Wort‘, ‚Rede‘, ‚Behauptung‘, ‚Argument‘ oder ‚Vernunft‘ übersetzen kann; siehe Logos), die im ersten Abschnitt von Aristoteles’ Arbeiten (‚Kategorien‘, ‚De Interpretatione‘, ‚Erste Analytik‘, ‚Zweite Analytik‘, ‚Topik‘) diskutiert werden. Dieser Abschnitt des Textkorpus erhielt den Namen ‚Organon‘ (‚Instrument‘), denn die Logik, so wie Aristoteles sie konzipiert, betrifft Behauptungen und Argumente im Allgemeinen, ohne Beschränkungen auf irgendeinen spezifischen Gegenstand; sie ist deshalb ein Instrument der philosophischen Untersuchung im Allgemeinen, und nicht nur ein Zweig der Philosophie neben der Naturphilosophie oder der Ethik. Das ‚Organon‘ umfasst einige Elemente der Philosophie der Sprache, sowie der formalen Logik (d.h. der Syllogistik, siehe § 5) und der Erkenntnistheorie (siehe § 6). Nach Aristoteles’ Darstellung der Bedeutung (siehe insbesondere ‚De Interpretatione‘ 1–4), so wie sie normalerweise verstanden wird, bedeutet das Wort ‚Pferd‘ den Gegenstand Pferd, indem es den Gedanken an ein Pferd bedeutet; bei der Verwendung des Wortes kommunizieren wir Gedanken über Pferde. Wenn die Gedanken über Pferde, die wir kommunizieren, wahr sind, so kommunizieren wir Wahrheiten über die Universalie Pferd; sogar wenn unsere Gedanken nicht vollständig wahr sind, werden wir dieselbe Universalie Pferd bezeichnen. Um die Bedeutung des Namens ‚F‘ zu verstehen, schauen wir nach der entsprechenden Definition (logos, horismos) von F: Aristoteles unterscheidet nominale Definitionen, die eine Überzeugung in Verbindung mit einem Namen ausdrücken, von den wirklichen Definitionen, die eine wahre Darstellung der Universalie geben, und die den Überzeugungen der Nominaldefinition zugrunde liegen (siehe ‚Zweite Analytik’ II 8–10. Aristoteles selbst verwendet nicht die Bezeichnung ‚Nominaldefinition‘ und ‚Realdefinition‘.). Nicht jeder Name korrespondiert mit einer nominalen und einer realen Definition. Einige Namen korrespondieren mit gar keiner echten Universalie; ‚Ziegenhirsch‘ bedeutet (auf eine nur vorgestellte Weise) ein Tier, dass sowohl eine Ziege, als auch ein Hirsch ist, aber es bedeutet keine echte Universalie, da es keine natürliche Art von Ziegenhirschen gibt. Andere Namen korrespondieren mit mehr als einer Universalie, so wie ‚Mutter‘ sowohl eine Person, als auch den Widerpart einer Schraube bezeichnet. Gegenstände, die als ‚Mutter‘ bezeichnet werden, sind ‚hom57
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onym‘ (homōnyma) oder ‚vieldeutig‘ (pollachōs legomena: ‚auf viele Weise angesprochen‘); mehr als eine Definition ist notwendig, um die Bedeutung des Namens abzudecken. Im Gegensatz dazu sind Pferde, weil nur eine Definition zu dem Namen ‚Pferd‘ gehört, synonym (‚Kategorien‘ 1). Andere Philosophen begehen ernsthafte Irrtümer, glaubte Aristoteles, weil sie annehmen, sie könnten eine einzige Darstellung von Dingen oder Eigenschaften geben, die in Wirklichkeit vieldeutig sind. Wenn wir einmal gesehen haben, dass unterschiedliche Fs das F auf verschiedene Weise sind, dann sehen wir, dass unterschiedliche, wenn auch (in vielen Fällen) verbundene Darstellungen dessen, was F ist, gegeben werden müssen. Einige philosophisch wichtige Fälle von Mehrdeutigkeit liefern die Worte ‚Ursache‘ (zur Lehre der vier Ursachen siehe § 9), Sein (zur Lehre der Kategorien siehe § 7) und das Gute (die Kritik von Platons Überzeugung einer Form des Guten; ‚Nikomachische Ethik‘ I 6). 5. Deduktion Ein Teil der Logik, wie Aristoteles sie konzipiert, ist das Studium der guten und der schlechten Argumente. In der Topik behandelt Aristoteles die Argumente im Allgemeinen. In der ‚Ersten Analytik‘ prüft er einen Typ von Argument, nämlich die ‚Deduktion‘ (syllogismos heißt wörtlich ‚vernünftig überlegen‘; daher der Standardausdruck ‚Syllogismus‘). Dies ist ein Argument, indem, wenn die Aussage p und die Aussage q vorausgesetzt werden, etwas anderes r, das sich von p und q unterscheidet, daraus notwendig wegen der Wahrheit von p und q folgt (‚Erste Analytik‘ 24b18–20, umschrieben). Aristoteles besteht darauf, dass es nicht möglich ist (‚folgt notwendig‘), dass die Prämissen einer Deduktion wahr sind und die Konklusion falsch, dass eine Deduktion mehr als eine Prämisse haben muss (‚wenn p und q vorausgesetzt sind‘), dass die Schlussfolgerung (die Konklusion) nicht identisch mit einer der Prämissen sein kann (‚verschieden von p und q‘), und dass keine redundanten Prämissen erlaubt sind (‚wegen der Wahrheit von p und q‘). Er versteht Deduktionen so, dass sie bestätigende (affirmative) oder ablehnende (negative) Beziehungen zwischen Universalien ausdrücken, die entweder universell gelten (‚Jeder [kein] Mensch ist ein tierisches Wesen‘) oder nicht universell (‚Einige Menschen sind [nicht] tierische Wesen‘). Er versteht die affirmativen und negativen Behauptungen dahingehend, dass sie Existenz implizieren (so dass die Aussage ‚Einige Dodos sind Zweifüßer‘ aus ‚Jeder Dodo ist ein Zweifüßer‘ folgt; die letztere Affirmation ist allerdings nicht äquivalent zu ‚Wenn irgendetwas ein Dodo ist, dann ist es ein Zweifüßer‘). Diese unterschiedlichen Merkmale einer aristotelischen Deduktion heben Aristoteles’ Darstellung der Deduktion von einer etwas gewohnteren Darstellung deduktiv gültiger Argumente ab. Ein Argument kann gültig sein, selbst wenn es redundant ist, oder wenn eine Prämisse identisch mit der Konklusion ist, oder wenn sie nur eine Prämisse hat, wenn sie nur etwas über Einzelheiten aussagt, oder wenn sie weder ‚einige‘ noch ‚alle‘ noch ‚gehört zu‘ enthält; aber keines solcher Argumente ist eine aristotelische Deduktion. Aristoteles’ Theorie der unterschiedlichen Formen der Deduktion (die oft ‚die Weisen des Syllogismus‘ genannt werden) prüft die verschiedenen Formen von Argumenten, die notwendigerweise die Wahrheit ihrer Prämissen erhalten. Er beginnt mit den ‚vollständigen‘ (oder ‚vollkommenen‘) Deduktionen, deren Gültigkeit evident ist, und klassifiziert die verschiedenen Argumenttypen, die 58
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von vollständigen Deduktionen abgeleitet werden können (d.h. von denen gezeigt werden kann, dass sie äquivalent mit ihnen sind). Er erkundet auch die logischen Beziehungen zwischen Aussagen, die bestimmte Aussagemodi enthalten (‚Notwendigerweise [möglicherweise] ist jeder Mensch ein tierisches Wesen‘ etc.). Da Aristoteles diese relativ enge Darstellung der Deduktion akzeptiert, ist seine Erkundung der unterschiedlichen Formen der Deduktion keine Theorie der gültigen Argumente im Allgemeinen; die Stoiker kommen diesem Ziel bei der Darlegung einer solchen Theorie schon viel näher (siehe Stoizismus). Aristoteles’ Theorie der Deduktion wurde um ihrer selbst Willen entwickelt, doch sie hat darüber hinaus auch zwei philosophische Hauptanwendungsgebiete. (1) Die Deduktion ist einer der Argumenttypen, die für die Dialektik geeignet sind (und mit Abänderungen für die Rhetorik; siehe § 29). Aristoteles stellt sie dem induktiven Argument gegenüber (das ebenfalls in der Dialektik verwendet wird), bei dem die Konklusion nicht notwendig aus den Prämissen folgt, aus ihnen heraus aber plausibel wird. (2) Sie ist wesentlich für den Beweis (apodeixis), den Aristoteles für die geeignete Form zum Ausweis wissenschaftlichen Wissens hält. 6. Wissen, Wissenschaft und Beweis Der Fortschritt von dem für uns Bekannten zu dem wirklich Bekannten zielt auf die epistēmē, d.h. auf das wissenschaftliche Wissen, dessen Struktur sich in den Beweismustern zeigt, die in der Zweiten Analytik beschrieben werden. Ein Beweis ist eine Deduktion, bei der die Prämissen notwendig wahr, vorrangig zu und besser bekannt sind als die Konklusionen, und erklärend gegenüber den Konklusionen sind, die von ihnen abgeleitet werden. Aristoteles geht davon aus, dass ich bei Kenntnis von p auch irgendeine Rechtfertigung q vorweisen kann, um meinen Glauben dass p, zu rechtfertigen. (‚Zweite Analytik‘ I 2). Die richtige Art der Rechtfertigung beruht auf Dingen, die aus sich selbst und damit wirklich bekannt sind, d.h. die allgemeinen Gesetze und Prinzipien, die die Wahrheit von p erklären. Da diese in den Beweisen verkörpert sind, drückt das Begreifen eines Beweises von p das Wissen von p aus. Aristoteles’ Theorie des Beweises ist folglich nicht dazu da, eine Vorgehensweise der wissenschaftlichen Untersuchung zu beschreiben, die mit den Erscheinungen beginnt; sie ist eine Darstellung des Wissens, das mittels einer erfolgreichen Untersuchung erlangt wird. Um zu zeigen, dass eine Deduktion ein Beweis ist, müssen wir zeigen, dass ihre Prämissen besser bekannt sind als ihre Konklusion. Manchmal können wir dies dadurch zeigen, dass wir sie von höheren Prämissen aus beweisen, die sogar noch besser bekannt sind. Dieser Begründungs- bzw. Rechtfertigungsprozess, behauptet Aristoteles, muss linear und endlich sein. Eine zirkuläre Begründung muss eine vorhandene Überzeugung schließlich durch Berufung auf sich selbst rechtfertigen, und dann zwingt uns ein unendlicher Regress eine Aufgabe auf, die wir niemals zu Ende bringen können. Da also weder ein Zirkel, noch ein unendlicher Regress eine wirkliche Rechtfertigung sein kann, so muss sich eine solche schlussendlich auf erste Prinzipien einer Wissenschaft berufen. Diese ersten Prinzipien sind ‚Annahmen‘ (Hypothesen); wir müssen darauf achten, dass sie besser bekannt sind und anderen Wahrheiten einer Wissenschaft vorausgehen, ohne von einem weiteren Prinzip abgeleitet zu sein. Weil sie die Grundlage aller Beweise sind, können sie selbst nicht bewiesen werden; Aristoteles behauptet, 59
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dass wir ein nicht-demonstratives Verständnis (nous: ‚Zweite Analytik‘ II 19) von den Ersten Prinzipien einer jeden Wissenschaft haben (siehe Nous). Was berechtigt uns das Verständnis Erster Prinzipien zu behaupten? Aristoteles glaubt, dass die Prinzipien einer Wissenschaft durch die Erscheinungen (wahrgenommene, dialektische oder beides) erschlossen werden, die der uns bekannte Anfangspunkt sind. Er glaubt vielleicht, dass diese Beziehung der Prinzipien zu den Erscheinungen es rechtfertigt, dass wir sie als Erste Prinzipien akzeptieren, sowie zu der Behauptung, dass wir sie verstanden hätten. Diese Erklärung passt jedoch nicht ohne weiteres in Aristoteles’ Forderung nach einer linearen und endlichen Kette von Begründungen. Jene Forderung geht davon aus, dass die Annahmen einer Wissenschaft selbstevident sein müssen (d.h. ohne weitere schlussfolgernde Begründung als wahr angesehen zu werden), so dass seine Konzeption des Wissens eine letztbegründungstheoretische Position ausdrückt (siehe Letztbegründungstheorie). Über die Schwierigkeiten der Letztbegründungstheorie siehe Agrippa.) Obwohl Aristoteles’ Ziel der Erreichung einer demonstrativen Wissenschaft einige seiner wissenschaftstheoretischen Lehren und Voraussetzungen aufzeigt, hat dieses Ziel doch keinen offenkundigen, größeren Einfluss auf den größten Teil der Struktur oder des Inhalts der erhaltenen Abhandlungen. In seinen philosophischen Hauptwerken fällt dagegen eher der Einfluss der dialektischen Methoden und Ziele ins Auge. 7. Kategorien und Seiendes Ein Teil der Aufgabe der Logik ist es, das Wesen der Prädikation (‚A ist B‘, durch Aristoteles analysiert in ‚B wird von A ausgesagt‘ oder ‚B ist ein A‘ wie in ‚Jeder Mensch ist ein tierisches Wesen‘) zu erklären, was in komplexen logoi (Behauptungen und Argumenten) vorausgesetzt wird. In den ‚Kategorien‘ (katēgoriai: Prädikation, d.h. etwas von jemandem bzw. einer Sache aussagen, ursprünglich in der Bedeutung von ‚anklagen‘) führt Aristoteles zehn solcher Kategorien ein (die üblicherweise von ihm schēmata tēs katēgorias genannt werden, d.h. ‚Figuren [i.S. v. Typen] der Prädikation‘). Die Kategorien entsprechen verschiedenen Wortarten (z.B. Zahlwörtern, Adjektiven, Verben) und verschiedenen grammatischen Funktionen (z.B. Subjekt, Prädikat), sie klassifizieren aber zunächst und vor allem die unterschiedlichen nichtsprachlichen Ausdrücke in Prädikationen. Die Sätze ‚Sokrates ist ein Mensch‘ und ‚Sokrates ist ein Musiker‘ sind grammatisch ähnlich, aber sie führen unterschiedliche Arten von Dingen ein; der erste sagt eine zweite Substanz von einer ersten Substanz aus, wogegen der zweite eine Nicht-Substanz von einer ersten Substanz aussagt. Die erste Kategorie heißt ousia (wörtlich: ‚Sein‘), die ins Lateinische als substantia übersetzt wurde, und folglich gewöhnlich ‚Substanz‘ genannt wird (siehe Substanz). Die neun nichtsubstanziellen Kategorien umfassen solche qualitativer, quantitativer und relativer Art (das sind die einzigen, auf die sich Aristoteles häufig bezieht; die Kategorien sind in den ‚Kategorien‘ 4 und ‚Topik‘ I 9 aufgezählt). Jede Kategorie enthält sowohl Einzelheiten, als auch Universalien. Die Aussage, dass dieser einzelne Mensch ein tierisches Wesen ist, sagt eine zweite Substanz (d.h. eine Universalie in der Kategorie der Substanz) von einer ersten Substanz (d.h. eine Einzelheit in der Kategorie der Substanz) aus. ‚Weiß ist eine Farbe‘ sagt eine universale Qualität von einer anderen solchen aus. 60
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Die Kategorien zeigen die Mehrdeutigkeit von Seiendem auf (siehe § 4). Während Tiere eine gewöhnliche, eindeutige Gattung mit einer einzigen Definition bilden, ist dies bei dem Seienden nicht der Fall; es bildet keine gewöhnliche Gattung. Folglich gibt es keine einzigartige Darstellung dessen, was es ausmacht, dass es ein Seiendes ist. Aristoteles meinte, dass Platon irrtümlicherweise einer einzigartigen Darstellung des Seienden anhing. Die Theorie der Kategorien sollte der Vermeidung von Platons diesbezüglichem Irrtum dienen. In der Auszeichnung einer kategorialen Aufteilung wurde Aristoteles durch die Grammatik und die Syntax beeinflusst, aber auch durch seine Ontologie, d.h. seine Klassifizierung des Seienden. Diese Klassifizierung ruht auf seiner Sichtweise der Natur und des Wandels, die ihrerseits seine Analyse der Prädikation erhellen. 8. Wandel und Substanz Aristoteles’ ‚Physik‘ diskutiert die Natur, also die physis. Die Natur von x ist ein Prinzip (oder eine ‚Quelle‘: archē) des Wandels und der Stabilität in x, die x innewohnt. Folglich führt die Untersuchung der Natur zu einer Diskussion des Wandels in natürlichen Substanzen (den Elementen, Pflanzen und Tieren). Aristoteles geht dialektisch vor, indem er Rätsel aufzeigt und löst, die mit dem Verständnis des natürlichen Wandels einhergehen. Mit dem Lösen dieser Rätsel führt er die unterschiedlichen Typen des Seins ein, die für eine kohärente Darstellung des natürlichen Wandels vorausgesetzt werden. In der ‚Physik‘ I 7–8 analysiert Aristoteles ein einfaches Beispiel des Wandels, nämlich den Wandel des Sokrates vom Blass-Sein zum Gebräunt-Sein. Diese Veränderung beteiligt ein Subjekt (oder ‚zugrunde liegendes Ding‘: hypokeimenon), also hier Sokrates, der einen der Gegensätze verliert (hier: seine blasse Hautfarbe) und einen weiteren Gegensatz (seine Bräune) gewinnt. Keiner der beiden Gegensätze besteht fort, aber das Subjekt besteht fort (sonst gäbe es keine Veränderung an Sokrates). Dieses einzelne Subjekt, das über den Wandel hinweg fortbesteht, ist das, was die ‚Kategorien‘ die ‚erste Substanz‘ nennen. Erste Substanzen unterscheiden sich sowohl von zweiten Substanzen und von den Nicht-Substanzen durch ihre Fähigkeit zum Wandel; sie bestehen fort, während sich Gegensätzliches an ihnen ereignet (so wie Sokrates zunächst blass und dann gebräunt ist). Ihre Existenz besteht jedoch nicht unter Absehung aller Eigenschaften, die sie gewinnen oder verlieren, fort; das Ende des Menschseins von Sokrates ist kein Wandel an Sokrates, sondern das Verschwinden von Sokrates. Die Eigenschaften, die eine erste Substanz nicht verlieren kann ohne zu verschwinden, bilden (näherungsweise) das Wesen dieser ersten Substanz (siehe Essentialismus). Diese essentiellen Eigenschaften definieren einen Seinstyp, der dieser ersten Substanz angehört. Ein Seinstyp kann eine Art sein (eidos), beispielsweise ein Mensch oder ein Pferd, oder auch eine Gattung (genos), beispielsweise ein Tier. Indem man eine zweite Substanz von einer ersten Substanz aussagt (wie in ‚Sokrates ist ein Mensch‘), setzen wir die erste Substanz an die Stelle des Seinstyps, zu dem sie gehört. Wenn wir eine von zwei Gegensätzen wählen, die die erste Substanz verlieren kann ohne zu verschwinden, dann führen wir einen Ausdruck (die Blässe des Sokrates, seine besondere Größe, sein Unwissen, sein Ehemann-Sein von Xanthippe) in eine der nichtsubstanziellen Kategorien (der qualitativen, quantitativen,
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relativen etc.) ein. Die Seinstypen, zu denen diese nichtsubstanziellen Ausdrücke gehören, sind nichtsubstanzielle Universalien. Aristoteles untersucht auch das Werden und Vergehen der ersten Substanz. Erneut unterscheidet er hier ein beharrliches Subjekt und zwei Gegensätze. Wenn wir eine Bronzestatue herstellen, so erwirbt der Bronzeklumpen (das Subjekt) die Form der Statue, und die Substanz ‚verliert’ wiederum diese Formlosigkeit, die sie an sich hatte, und verändert sich so zwischen Gegensätzen. Aber obwohl der Klumpen seine Existenz behält, ist ein neues Subjekt, die Statue, entstanden. In diesem Falle ist das Subjekt des Wandels der Stoff (hylē), und was dieser Stoff erwirbt, ist eine Form (eben das eidos, was hier im Sinne von ‚Art‘ zu verstehen ist). Diese Analyse des Wandels bzw. der Veränderung geht von einem Argument aus (‚Physik‘ II 1), um zu zeigen, dass das echte Subjekt, und folglich auch die echte Substanz der Stoff ist, während die erscheinende Substanz (beispielsweise die Statue) einfach Stoff mit einer gewissen Form ist. Sokrates wird kein anderes Subjekt, wenn er seine Form verändert. Also könnten wir auch sagen, dass der Bronzeklumpen kein anderes Subjekt einfach dadurch wird, dass er die Form einer Statue bekommt. Entsprechend kann dann ein natürlicher Organismus als ein Stück Stoff verstanden werden, das auf bestimmte Weise so geformt wurde, dass es Sokrates verkörpert. Natürliche, organische ‚Substanzen‘, wie beispielsweise Sokrates und dieser Baum wären dann keine echten Subjekte, sondern bloß Konfigurationen des Stoffs, der die wirkliche Substanz ist. Aristoteles unterstützt diese eliminative Einstellung gegenüber den natürlichen organischen Substanzen nicht. Er verwendet das Argument lediglich zum Aufzeigen eines Rätsels, ob der Stoff oder die Form die Substanz ist. Er diskutiert dieses Rätsel in der ‚Metaphysik‘ VII (siehe §§ 12–14). Diese Diskussion stützt sich auf seine Darstellung der Verursachung und der Erklärung. 9. Ursachen Wenn wir korrekt auf eine Frage antworten wie: ‚Warum geschieht dieses Ereignis?‘ oder ‚Warum ist dieser Gegenstand so, wie er ist?‘, dann behaupten wir die Ursache (oder die Erklärung: aition) des Ereignisses oder Gegenstandes. Aristoteles ist der Auffassung, das Ursachen mehrdeutig sind (siehe ‚Physik‘ II 3; ‚Metaphysik‘ I 3). Unterschiedliche Darstellungen einer Ursache entsprechen unterschiedlichen Antworten auf Warum-Fragen (z.B.) über einen Zustand. (1) ‚Dies wurde aus Bronze hergestellt‘ behauptet die materiale Ursache. (2) ‚Dies ist eine Statue, die Perikles darstellt‘ behauptet eine formale Ursache, indem sie die Definition behauptet, die sagt, was das Ding ist. (3) ‚Ein Bildhauer stellte sie her‘ behauptet die ‚Quelle der Veränderung‘, in dem sie die Quelle des Prozesses erwähnt, der die Statue ins Sein brachte; spätere Autoren nennen dies die ‚bewegende Ursache‘ oder die ‚Wirkursache‘. (4) ‚Sie wurde hergestellt, um Perikles darzustellen‘ behauptet, dass ‚um dieses oder jenes Willen‘ etwas geschehen sei, weil sie das Ziel oder den Zweck erwähnt, um dessentwillen die Statue hergestellt wurde; diese wird oft ‚Finalursache‘ genannt (von lat.: finis: das Ende). Jede dieser vier Ursachen beantwortet eine Warum-Frage. Manchmal (wie in unserem Beispiel) erfordert eine vollständige Antwort alle vier Ursachen. Andererseits sind nicht immer alle vier geeignet; das (universale) Dreieck hat beispielsweise eine formale Ursache, die seine Definition behauptet, aber keine Wirkursache, weil 62
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ihm gar kein Sein zukommt, und auch keine Finalursache, weil es nicht zur Erreichung eines bestimmten Ziels oder Zwecks erzeugt wurde. Einige Autoren haben geltend gemacht, dass Aristoteles’ ‚vier Ursachen‘ gar keine wirklichen Ursachen sind, indem sie darauf hinweisen, dass er das aition selbst in solchen Fällen für verfügbar erklärt, wo die Warum-Frage (z.B. ‚Warum ergibt die Summe der Innenwinkel dieser Figur zwei rechte Winkel?‘) gar nicht auf das abzielt, was wir eine Ursache (in Aristoteles’ Aufteilung: eine Wirkursache) nennen würden. Wenn jedoch Erklärungen von Veränderungen gesucht werden, dann scheint Aristoteles erkennbar kausale Erklärungen zur Verfügung zu stellen. Selbst die aitia (materiale, formale oder finale), die anfangs keine Ursachen zu sein scheinen, spielen am Ende doch eine wichtige Rolle bei der kausalen Erklärung; aus diesem Grunde gibt die Bezeichnung ‚vier Ursachen‘ einen hinreichend genauen Eindruck von der aristotelischen Lehre. Sein Vergleich zwischen künstlich hergestellten Gegenständen und natürlichen Organismen klärt seine Ansprüche hinsichtlich der formalen und der finalen Ursachen auf. Die Definition eines künstlich hergestellten Gegenstandes (d.h. eines Artefakts) erfordert eine Bezugnahme auf dessen Ziel und seine beabsichtigte Funktion. Die Form und das Wesen eines Hammers ist seine Fähigkeit, Nägel in Holz einzuschlagen. Der Hammer wurde im Hinblick auf diese Fähigkeit, d.h. für genau diese Funktion gestaltet, und wenn dies nicht seine Funktion gewesen wäre, dann wäre er nicht auf diese Weise hergestellt worden und hätte nicht die Eigenschaften, die er tatsächlich aufweist. Die Form schließt die Finalursache ein, indem sie die Funktionen spezifiziert, die erklären, warum der Hammer genau gemacht ist. In ähnlicher Weise behauptet Aristoteles, ein natürlicher Organismus habe eine formale Ursache, die seine Funktion spezifiziert, die wiederum die finale Ursache dieses Organismus ist. Die Teile eines Organismus scheinen Funktionen auszuüben, die das Ganze begünstigen (das Herz pumpt Blut, die Sinnesorgane übermitteln nützliche Information). Aristoteles macht geltend, dass Organe eine finale Ursache haben; sie existieren, um die begünstigenden Funktionen auszuüben, die sie wirklich ausüben. Die Form eines Organismus bestimmt sich durch das Tätigkeitsmuster, das die Finalursachen seiner unterschiedlichen Lebensprozesse enthält. Folglich meint Aristoteles, dass die Form ebenso wie der Stoff eine kausale Rolle in natürlichen Organismen spielt. Zu behaupten, dass ein Herz dazu da ist, Blut zugunsten des Organismus zu pumpen, heißt zu behaupten, dass es eine kausale Verbindung zwischen dem Nutzen des Organismus und dem Prozess gibt, der das Pumpen von Blut des Herzens ausmacht. Aristoteles behauptet genau dies, ohne zu sagen, warum die Behauptung wahr sein soll. Er sagt nicht beispielsweise weder, (1) dass Organismen die Produkte eines intelligenten Entwurfs sind (wie Platon und die Stoiker glaubten), noch (2), dass sie das Ergebnis eines Prozesses der Evolution sind. Aristoteles’ Darstellung der Verursachung (Kausalität) und ihrer Erklärung drückt sich in dem Inhalt und den Argumenten vieler seiner biologischen Schriften aus (einschließlich jener, die mit der Psychologie in Zusammenhang stehen). In ‚Über die Teile der Tiere‘ und ‚Über die Erzeugung der Tiere‘ beispielsweise untersucht er das Verhalten und die Struktur von Organismen und ihren Teilen sowohl, um die finalen Ursachen zu finden, als auch zur Beschreibung der materialen und wirkursächlichen Grundlage der Zielgerichtetheit, die er in der Natur vorfindet 63
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(‚Über die Teile der Tiere‘ I 1). Er trägt oft vor, dass unterschiedliche physiologische Prozesse bei unterschiedlichen Tieren dieselbe finale Ursache haben. Einige schreiben Aristoteles eine ‚inkompatibilistische‘ Sichtweise der Beziehung zwischen Finalursache und der zugrunde liegenden Material- und Wirkursache zu. Die Inkompatibilisten geben zu, dass jeder zielgerichtete Prozess (Zustand, Ereignis) irgendeinen materialen Prozess voraussetzt (wie z.B. die Ernährung die verschiedenen Verdauungsprozesse voraussetzt), aber sie wenden ein, dass der zielgerichtete Prozess nicht vollständig aus irgendeinem materialen Prozess oder einer Mehrzahl von Prozessen bestehen kann; jeder Prozess, der vollständig aus materialen Prozessen besteht (und das ist die inkompatibilistische Sichtweise) wäre vollständig in materialursächlichen Ausdrücken erklärbar und hätte deshalb keine Finalursache. Wahrscheinlich nahm Aristoteles jedoch einen ‚kompatibilistischen‘ Standpunkt ein. Er schien zu glauben, dass selbst dann, wenn jeder zielgerichtete Prozess vollständig aus materialen Prozessen bestünde und jeder von diesen in materialund wirkursächlichen Ausdrücken beschrieben werden kann, die finalursächliche Erklärung doch immer noch die einzig adäquate Erklärung des Prozesses als einem Ganzen wäre. Nach dieser Sichtweise sind Finalursachen nicht auf Materialursachen reduzierbar, weil die Erklärungen durch die Finalursachen nicht durch gleichgute Erklärungen ersetzt werden können, die sich nur auf diese anderen Ursachen beziehen. Diese Irreduzibilität setzt jedoch nicht die Leugnung der materialen Beschaffenheit voraus. 10. Wandel Aristoteles’ studierte die Natur als ein inneres Prinzip der Veränderung und der Stabilität; und so studierte er die unterschiedlichen Typen der Veränderung (oder der ‚Bewegung‘: kinēsis), die sich in den natürlichen Elementen und in den natürlichen Organismen finden, die aus solchen Elementen bestehen. In der ‚Physik‘ III 1 definiert er die Veränderung als ‚die Wirklichkeit der Potenzialität als Potenzialität‘. Seine Definition wirft ein Licht auf die Wichtigkeit seiner Sichtweise der Potenzialität (oder ‚Fähigkeit‘: dynamis) und der Wirklichkeit (oder ‚Realisation‘: energeia oder entelecheia) (siehe ‚Metaphysik’ IX 1–9). Der Haupttyp der Potenzialität ist ein Prinzip (archē) der Veränderung und der Stabilität. Wenn x die Potenzialität F besitzt ein G zu sein, dann (1) ist G die Wirklichkeit von F, und (2) weist x die konkrete Potenzialität F auf, weil G die Wirklichkeit von F ist. Marathonläufer haben beispielsweise die Fähigkeit, 40 Kilometer zu laufen, weil sie zur Bewältigung dieser Distanz trainiert wurden. Herzen besitzen die Fähigkeit Blut zu pumpen, weil dies die Funktion ist, die die Gestalt von Herzen erklärt. In diesen Fällen entspricht die Potenzialität den Finalursachen. Potenzialität und Möglichkeit implizieren sich deshalb nicht gegenseitig. (1) Nicht alles, was für x möglich ist, verwirklicht eine Potenz von x. Vielleicht ist es uns möglich, italienische Worte zu sprechen (z.B. weil wir uns an sie aus einer Oper erinnern), ohne die Potenz zum Italienisch-sprechen zu haben (weil wir kein italienisch lernten). (2) Nicht alles, wozu x fähig ist, ist x auch möglich; einige Geschöpfe hätten auch dann noch die Fähigkeit zu schwimmen, selbst wenn ihre Umgebung überhaupt kein Wasser mehr aufwiese.
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Diese Merkmale der Potenzialität helfen uns Aristoteles’ Definition der Veränderung zu klären. Der Bau eines Hauses ist eine Veränderung, weil es die Wirklichkeit dessen ist, was potenziell gebaut werden konnte, und zwar insofern, als es potentiell gebaut wurde. ‚Was potenziell gebaut wurde‘ bezieht sich auf die Ziegelsteine etc. Das fertig gestellte Haus ist ihre vollständige Wirklichkeit, und wenn dies erreicht ist, dann ist ihre Potenzialität, in einem Haus verbaut zu werden, verschwunden. Der Bauprozess ist ihre Verwirklichung, insofern sie potenziell verbaut werden. ‚Insofern sie …‘ bezeichnet die unvollendete Wirklichkeit, die nur so lange wie die Potenzialität verbaut zu werden noch vorhanden ist (und die im vollendeten Haus aufgeht). Aristoteles’ Definition greift die Art von Wirklichkeit auf, die mit der Veränderung identifiziert werden muss, indem er sich auf ein gewisses vorangehendes Verständnis der Potenzialität und der Wirklichkeit beruft, das seinerseits auf einem Verständnis der finalen Kausalität beruht. Im übrigen Teil der ‚Physik‘ erkundet Aristoteles unterschiedliche Eigenschaften der Veränderung im Verhältnis zu Raum und Zeit. Er diskutiert ausführlich die Unendlichkeit und die Kontinuität und trägt vor, dass sowohl die Veränderung, als auch die Zeit unendlich teilbar seien. Er versucht zu zeigen, dass die relevanten Typen von Unendlichkeit durch Bezugnahme auf die Potenzialität definiert werden und auf diese Weise Selbstwidersprüche, Paradoxa oder metaphysische Extravaganzen vermieden werden können. Nach seiner Auffassung setzt die unendliche Teilbarkeit eine Reihe voraus, die immer weiter fortgesetzt werden kann, aber sie setzt nicht die wirkliche Existenz einer unendlich langen Reihe voraus. Der Bezugnahme auf die Potenzialität (in dem Ausdruck ‚kann immer…‘) kommt also eine zentrale erklärende Rolle zu. 11. ‚Metaphysik‘ Einige der Grundbegriffe der ‚Kategorien‘ und der ‚Physik‘, einschließlich jener der Substanz, der Einzelheit, der Universalie, der Form, des Stoff, der Ursache und der Potenzialität, werden ausführlicher in der ‚Metaphysik‘ diskutiert. Dies ist eine Sammlung von vierzehn Büchern, von denen einige nur lose miteinander verbunden sind. Aristoteles gab wahrscheinlich keine Vorlesungen in der Reihenfolge dieser Abhandlung. Teile von Buch I werden praktisch in Buch XIII wiederholt. Buch V ist ein ‚philosophisches Wörterbuch‘, das den Vortrag der Bücher IV und VI zu unterbrechen scheint. Buch XI fasst Teile des Buches IV zusammen. Die Bücher II und XI wurden wahrscheinlich nicht ganz allein von Aristoteles geschrieben. Dennoch haben alle diese Bücher, was auch immer ihre literarischen Ursprünge sein mögen, einen gemeinsamen Gegenstand, denn sie tragen alle zu der Universalwissenschaft bei, die sich mit den allgemeinen Vorannahmen der anderen Wissenschaften beschäftigt. Diese Universalwissenschaft hat vier Namen. (1) ‚Erste Philosophie‘: sie beschäftigt sich mit den ‚ersten Prinzipien‘ und ‚höchsten Ursachen‘ (einschließlich der vier Ursachen der ‚Physik‘), die von den anderen Wissenschaften vorausgesetzt werden. (2) ‚Die Wissenschaft vom Sein‘: jede Wissenschaft geht davon aus, dass sie sich mit irgendeiner Art von Sein befasst, und die Wissenschaft vom Sein prüft und verteidigt diese Vorannahmen. (3) ‚Theologie‘: eine erste Philosophie ist nicht nur insofern die erste, insofern sie am universalsten ist, sondern auch insofern, als sie von der hauptsächlichen Art des Seins handelt, von denen alles andere Seiende abhängt. Die grundlegendste Art von Sein ist die Substanz, und die grundlegendste Art von Substanz ist die göttliche Substanz. Folglich muss die Wis65
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senschaft vom Sein sich mit der göttlichen Substanz beschäftigen. (4) ‚Metaphysik‘ (ta meta ta physika: ‚die Dinge nach den natürlichen Dingen‘): sie liegt ‚hinter‘ oder ‚jenseits‘ des Studiums der Natur, weil (a) sie wie die Theologie Entitäten außerhalb der natürlichen Reihenfolge studiert, und (b) weil sie als erste Philosophie mit dem Studium der Natur (das für uns vorangeht und uns besser bekannt ist) beginnt und darüber hinaus zu ihren Grundlagen und Voraussetzungen vordringt, und zwar zu jenen, die ‚in Wirklichkeit‘ vorangehen und besser bekannt sind, siehe § 3. Die ersten drei dieser Namen werden von Aristoteles selbst verwendet (‚Metaphysik‘ IV 1–3, VI 1). Der vierte wurde der Abhandlung in der Antike (zu einem ungewissen Zeitpunkt) als Name verliehen; sein Gebrauch von ‚nach‘ greift die unterschiedlichen Behauptungen Aristoteles’ über die Beziehung der Universalwissenschaft zu den anderen Wissenschaften auf. Die Universalwissenschaft ist die Wissenschaft vom Sein als Sein, d.h. vom Sein, insofern es Sein ist, genauso wie die Mathematik die Wissenschaft von einigem Seienden als mathematischen Objekten ist (siehe § 16), und die Physik die Wissenschaft von einigem Seienden als Veränderliches ist. Die Wissenschaft vom Sein beschäftigt sich mit dem Seienden, das auch von anderen Wissenschaften studiert wird, sie isoliert aber die relevanten Eigenschaften des Seins auf ein anderes Abstraktionsniveaus; sie stützt sich nicht auf die Tatsache, dass sie die Eigenschaften besitzen, mathematische oder natürliche Gegenstände zu sein, sondern einfach auf die Tatsache, dass sie Seiendes sind, die als solche Gegenstand einer Wissenschaft sind (‚Metaphysik‘ IV 1–2). Eine Einzelwissenschaft geht davon aus, dass sie mit einem Gegenstand beginnt, der Eigenschaften besitzt. Die Universalwissenschaft ist die Wissenschaft vom Sein, weil sie die Art von Gegenstand untersucht, die von den anderen Wissenschaften vorausgesetzt wird. Dies ist hauptsächlich die Wissenschaft von der Substanz, weil die Substanz die grundlegende Seinsart ist. Aristoteles’ Analyse der Veränderung in der ‚Physik‘ I führt die Substanzen als Subjekte ein; die ‚Metaphysik‘ fragt, was für Arten von Gegenständen und Substanzen durch die Einzelwissenschaften anerkannt werden müssen. Aristoteles argumentiert, dass, wenn wir einen Gegenstand bezeichnen, es für jede seiner Eigenschaften unmöglich ist, dass er sie aufweist und gleichzeitig nicht aufweist. Dieses Prinzip wird oft das ‚Prinzip der Widerspruchslosigkeit‘ genannt (‚Metaphysik‘ IV 3–4). Zur Verteidigung dieses Prinzips zieht Aristoteles einen Gegner in Betracht, der bereit ist zu behaupten, dass ein einzelner Gegenstand, hier: ein Mensch, sowohl ein zweifüßiges Tier und kein zweifüßiges Tier ist. Wenn der Opponent dies wirklich über einen einzelnen Gegenstand sagt, dann muss er, wenn er das Wort ‚Mensch‘ verwendet, damit einen und denselben Gegenstand meinen, nämlich einen Menschen. Wenn er damit einverstanden ist, dass er bei Verwendung des Wortes ‚Mensch‘ ein zweifüßiges Tier meint, dann kann er nicht mehr leugnen, dass ein Mensch ein zweifüßiges Tier ist; denn würde er dies leugnen, so könnte er nicht mehr angeben, was ‚Mensch‘ überhaupt bedeutet, und folglich könnte er dann auch nicht mehr angeben, welcher Gegenstand das sei, von dem er als zweifüßiges und nicht zweifüßiges Tier spricht. Diese Eigenschaft (die man an diesem Gegenstand nicht leugnen kann) ist eine wesentliche Eigenschaft. Daraus folgt, dass der Versuch, Gegenstände mit wesentlichen Eigenschaften abzulehnen, sich selbst untergräbt. 66
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Gegenstände, die der Veränderung unterworfen sind, müssen also nach Aristoteles objektive Eigenschaften haben (d.h. Eigenschaften, die sie unabhängig davon aufweisen, ob sie uns erscheinen). Ein Argument gegen Protagoras versucht zu zeigen, dass jeder Versuch zur Ablehnung objektiver Eigenschaften sich selbst aufhebt (‚Metaphysik‘ IV 5). Protagoras leugnet, dass es irgendwelche objektiven Eigenschaften gibt, indem er behauptet, dass die Dinge so seien, wie sie jemandem erscheinen. Wenn er die Unfehlbarkeit der Erscheinungen gegen die Möglichkeit ihrer Berichtigung aufrecht erhalten will, so argumentiert Aristoteles, dann muss er behaupten, dass es für ein und denselben Gegenstand möglich ist, sich in jeder Hinsicht und zu jedem Zeitpunkt zu ändern, um den unterschiedlichen Erscheinungen gerecht zu werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn dieser Gegenstand ein Seiendes bleibt, obwohl er sich in allen seinen Hinsichten ändert. Aristoteles antwortet, dass, wenn ein und derselbe Gegenstand fortbesteht, er auch dieselbe wesentliche Eigenschaft beibehalten muss, und zwar seine ‚Form‘. Also kann er sich nicht in jeder Hinsicht ändern (VI 5). 12. Vom Sein zur Substanz In der ‚Metaphysik‘ IV 2 und VII 1 trägt Aristoteles vor, dass deshalb, weil die Substanz der Grundtyp des Seienden sei und alles andere Seiende auf irgendeine Art von der Substanz abhinge, die Wissenschaft des Seins sich hauptsächlich mit der Substanz beschäftigen muss. Die Argumente von IV 4–5 beschreiben einige Merkmale der Substanzen; sie müssen Dinge mit stabilen, objektiven, wesentlichen Eigenschaften sein. Die Bücher VII–IX beschreiben diese Dinge ausführlicher, indem sie die Vorstellung der Substanz, die in den ‚Kategorien‘ und der ‚Physik‘ vorgestellt wurde, einer nochmaligen Überprüfung unterzieht (siehe §§ 7–8). Aristoteles beobachtet, dass wir die Substanz sowohl als ‚ein Dieses‘ und als ‚Wesen‘ betrachten (d.h. als ein ‚Was-es-ist‘), entsprechend der ersten und zweiten Substanzen der ‚Kategorien‘. Aristoteles besteht jedoch darauf, dass seine Frage ‚Was ist die Substanz?‘ nur befriedigend beantwortet werden kann, wenn wir das eine Ding ausfindig machen, dass am besten die Seinsbedingungen sowohl für ein Ding (ein ‚Dieses‘) und für eine Essenz (‚Was-es-ist‘) erfüllt. Was immer am besten diese Bedingungen erfüllt, das ist die Grundsubstanz. Die unterschiedlichen Kandidaten, die Aristoteles für diese Rolle in Betracht zieht, sind der Stoff, die Form und die Verbindung von beidem. Er spricht sich gegen den ersten und den dritten Kandidaten aus und verteidigt den zweiten. Er betrachtet den Stoff und die Verbindung als Substanztypen, wendet aber ein, dass sie gegenüber der Form sekundär sind, weil sie in demselben Maße wie diese die relevanten Bedingungen erfüllen. Um zu zeigen, dass die Form die Grundsubstanz ist, führt er an, dass eine Form sowohl ein Ding und ein Wesen der richtigen Art ist. In den Büchern VIII–IX klärt er die Frage, indem er die Form mit der Wirklichkeit identifiziert, für die der Stoff die Potenzialität ist. 13. Warum ist die Form Substanz? Indem er geltend macht, dass die Form Substanz ist, stützt sich Aristoteles auf die Verbindungen zwischen der Form, der Ursache, dem Wesen und der Identität. Er lehnt den eliminativen Standpunkt (§ 8) ab, dass das so genannte ‚Werden‘ oder ‚Verschwinden‘ eines Kunstproduktes oder eines Organismus nur einfach eine Veränderung des Stoffes sei. Nach dem eliminativen Standpunkt bringt diese Verän67
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derung nicht die Existenz oder Nichtexistenz einer bestimmten Substanz mit sich, genauso wenig wie das Musikalisch-Werden von Sokrates die Existenz einer bestimmten Substanz, nämlich eines musikalischen Sokrates, mit sich bringt. Aristoteles antwortet hierauf, dass die Herstellung eines künstlichen Produkts und die Erzeugung eines Organismus eine neue Substanz einführen, und zwar eine solche, die weder identisch noch vollkommen abhängig ist von dem Stoff, aus dem sie zu irgendeinem Zeitpunkt gebildet wurden (siehe Identität § 2). Obwohl diese Statue von Perikles durch ein bestimmtes Stück Bronze ins Sein getreten ist, können wir die Statue durch Ersetzung beschädigter Stücke reparieren; wir erhalten damit dieselbe Statue, verursachen aber damit, dass sie nun auch aus einem anderen Stück Bronze besteht. Entsprechend behält ein Organismus seine Existenz, solange wie er seinen Stoff durch neuen Stoff ersetzt: er besteht solange fort, als seine Form fortbesteht (‚Über Erzeugung und Zerfall‘ I 5). Wenn Aristoteles über die Beziehung der Form zum Stoff spricht, dann kann er sich auf eine von zwei Arten des Stoffes beziehen: (1) auf den ‚nahen‘ organischen Stoff (z.B. die Organe und Gliedmaßen, die den organischen Körper bilden); und (2) auf den ‚entfernten‘, nicht-organischen Stoff (z.B. Blut, Erde, Wasser), aus dem der organische Stoff besteht. Entfernter Stoff kann ohne die Form des Organismus bestehen, aber der Organismus ist nicht auf jedes bestimmte Stück des entfernten Stoffes angewiesen. Naher Stoff kann nicht ohne die Form existieren (denn es ist die Funktion eines Armes oder Herzens, dass aus ihm das Organ macht, dass es ist); die Form ist die Wirklichkeit, von der der nahe Stoff die Potenzialität ist (Über die Seele 412a10; ‚Metaphysik’ 1038b6, 1042b10). Die Rolle der Form bei der Bestimmung des Beharrens eines Organismus ergibt sich aus ihrer Rolle als die Quelle der Einheit. Die Form, einschließlich der Vitalfunktionen des Organismus, macht aus einem Haufen materieller Bestandteile einen einzigen Organismus (‚Metaphysik‘ VII 16). Eine Ansammlung von Fleisch und Knochen bildet einen einzigen lebenden Organismus insofern, als dieser die Form eines Menschen oder eines Pferdes hat; die Vitalfunktionen dieses einzelnen Organismus sind die Finalursache der Bewegungen der unterschiedlichen Teile. Der Organismus besteht als Seiendes durch die Veränderungen des Stoffes hindurch, solange er seine formalen, funktionalen Eigenschaften behält. Da die Struktur, das Verhalten und das Fortbestehen der Organismen in Bezug auf ihre Form verstanden werden muss, ist die Form nicht auf den Stoff reduzierbar (siehe § 9); der Organismus, der durch seine Form definiert ist, muss als ein Ding eigener Art behandelt werden, und nicht einfach als ein Haufen Stoff. Diese Fakten über die Organismen erklären, warum Aristoteles eine enge Verbindung zwischen erster Substanz und Form sieht. Organismen sind hauptsächlich wegen ihrer formalen Eigenschaften Substanzen, und nicht wegen ihrer materiellen Komposition. Folglich können wir nicht alle grundlegenden Dinge, die es gibt, bestimmen, solange wir nicht die Wirklichkeit der formalen Eigenschaften und der Dinge, die wesentlich formaler Natur sind, anerkennen. 14. Was die substantiellen Formen sind Die Schlussfolgerung, dass die Hauptsubstanz und -form eng miteinander verbunden sind, erklärt jedoch nur, warum einige Substanzen wesentlich formaler Natur sind. Sie erklärt nicht, warum die Form selbst eine Substanz ist. Um diesen 68
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weiter gehenden Anspruch zu erklären, müssen wir entscheiden, ob Aristoteles eine substanzielle Form (1) als eine Art von Form betrachtet, die von allen Fällen einer gegebenen Art geteilt wird, z.B. die Form des Menschen oder des Pferdes, und die normalerweise als eine Universalie aufgefasst wird, oder ob er sie (2) als eine bestimmte Form auffasst, die z.B. genau dem Sokrates eigen ist. (Siehe ‚Metaphysik‘ VII 10–16, XII 5, XIII 10, ‚Über die Erzeugung der Tiere‘ IV 3, für wichtige Hinweise hierzu.) Einige der Argumente zur Unterstützung der ‚Universalien-Lösung‘ sind die folgenden. (1) Aristoteles stellt oft die Form der Zusammensetzung von Form und Stoff gegenüber und beschreibt Einzeldinge als Zusammensetzungen. Folglich betrachtet er offensichtlich die Einzeldinge nicht als Form. (2) Ähnlich sagt er, dass ein Einzelding sich von einer Universalie darin unterscheidet, dass beide Form und Stoff haben; folglich scheint kein Einzelding nur einfach eine Form zu sein. (3) Er sagt, dass die Form das ist, was eine Definition über sie aussagt, aber es gibt keine Definition eines Einzeldinges; folglich kann ein Einzelding offensichtlich keine Form sein. (4) Er sagt, dass das Wissen um die Substanz jenem um die NichtSubstanz vorausgeht, wissenschaftliches Wissen eines Einzeldinges aber unmöglich ist; folglich können Einzeldinge offensichtlich keine Substanzen sein, sondern nur Universalien können dies sein. Zugunsten der ‚Einzelding-Lösung‘ könnte vorgebracht werden: (1) Eine Substanz muss ein Gegenstand sein, wohingegen alle Universalien von Gegenständen (Dingen) ausgesagt werden; (2) eine Substanz muss ein ‚Dieses‘ sein, die dem ‚Was-es-ist‘, und folglich und offenkundig irgendeiner Art von Einzelding entgegengesetzt ist; (3) Aristoteles tritt ausführlich dafür ein, das keine Universalie eine Form sein kann. Wir sind vielleicht versucht daraus zu schließen, dass Aristoteles’ Standpunkt inkonsistent ist. Seine Überzeugung, dass die Substanz als ‚Dieses‘ und die Substanz als ‚Was-es-ist‘ dasselbe sein müssen, bringt ihn dazu darauf zu bestehen, dass der erfolgreiche Kandidat für die Substanz die Kriterien erfüllen muss, um beides zu sein, nämlich ein ‚Dieses‘ (ein Ding, und folglich eine Einzelheit) und ein Wesen (eine Eigenschaft und folglich eine Universalie). Wenn ein und dasselbe Ding nicht beide Kriterien erfüllen kann, dann kann kein Ding alle aristotelischen Bedingungen einer Substanz erfüllen. Wir müssen jedoch nicht diese Schlussfolgerung ziehen. Wir können uns auf den Standpunkt stellen, dass Aristoteles konsistenterweise die Universalien-Lösung bevorzugt, wenn wir zeigen können: (1) ein ‚Dieses‘ muss kein Einzelding sein; (2) einige Universalien sind Dinge; (3) die Art einer Form ist keine Sorte von Universalie, die keine Substanz sein kann. Wir können uns auf den Standpunkt stellen, dass er konsistenterweise die Einzelding-Lösung bevorzugt, wenn wir das folgende zeigen können: (1) Der Gegensatz von Form und Stoff impliziert nicht, dass sie sich immer gegenseitig ausschließen; einige Formen könnten in einzelnen Stoffportionen gebildet oder in ihnen verkörpert sein. In der Tat spricht Aristoteles manchmal so, als ob eine Form ein Ding ist, das fortbestehen und verschwinden und seinen Stoff austauschen kann. (2) Dieser Sinn, indem Einzeldinge keine Definitionen und kein wissenschaftliches Wissen zulassen, schützt sie keineswegs davor, dennoch in dem ihnen entsprechenden Sinne vorrangig gegenüber den Definitionen und dem Wissen über Universalien 69
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zu sein (‚Metaphysik‘ XIII 10 schreibt die relevante Priorität eventuell den einzelnen Substanzen zu). Diese beiden Lösungen sind unterschiedliche Wege um Aristoteles’ Überzeugung auszudrücken, dass die Substanzen grundlegend sind. Sowohl seine ‚Metaphysik‘, als auch seine Naturphilosophie drücken die Überzeugung aus und verteidigt sie, dass natürliche Organismen und ihre Arten Substanzen sind, weil sie fundamental sind; sie sind fundamental, weil sie sich nicht auf ihre Grundstoffe reduzieren lassen. Schwieriger zu entscheiden ist allerdings, ob die einzelnen Dinge oder ihre Arten fundamentaler sind. Vielleicht sollten wir diese Frage tatsächlich nicht entscheiden; unterschiedliche Dinge können auf verschiedene Weise fundamental oder irreduzibel sein. 15. Universalien, Platonische Formen, Mathematik Diese Diskussionen betreffen teilweise Aristoteles’ Einstellung zur Wirklichkeit der Universalien. Eine einseitige Konzentration auf einige seiner Bemerkungen mag zu einer nominalistischen oder konzeptualistischen Interpretation ermutigen (siehe Nominalismus). (1) Er lehnt Platons Glauben (wie er ihn versteht) an gesonderte universale Formen ab (siehe Platon §§ 10, 12–16; Ideenlehre, Platonische) und behauptet, dass lediglich Einzeldinge gesondert voneinander bestehen können. (2) In der ‚Metaphysik‘ VII 13–16 scheint er dafür einzutreten, dass keine Universalie eine Substanz sein kann. (3) Er macht geltend, dass die Universalie als Gegenstand des Wissens auf gewisse Weise identisch mit dem Wissen von ihr sei (‚Über die Seele‘ 417b23). Andere Bemerkungen lassen dagegen einen Realismus betreffend die Universalien vermuten. (4) Er macht geltend, dass sie besser bekannt seien als die Natur; dieser Status scheint nur Dingen zuzukommen, die wirklich existieren. (5) Er glaubt, dass, wenn es Wissen gibt, es auch Universalien als deren Gegenstände geben muss; denn unser Wissen ist eines über die externe Natur, nicht über die Inhalte unseres eigenen Geistes. Aristoteles’ Position ist konsistent, wenn (1)–(3) konsistent zu den realistischen Tendenzen in (4)–(5) passt. Die Leugnung des Getrenntseins in (1) erlaubt die Realität der Universalien. Auf ähnliche Weise mag (2) schlicht sagen, dass Universalien nicht auch Grundsubstanzen sein können (was sein Hauptanliegen in ‚Metaphysik‘ VII ist). Und (3) könnte einfach bedeuten (je nachdem, wie wir ‚auf gewisse Weise‘ verstehen), dass die geistige Vorstellung der extramentalen Universalien einige Merkmale der Universalien hat (wie eine Landkarte, die einige Merkmale des Gebietes hat, die sie abbildet). Während Aristoteles leugnet, dass Universalien ohne sinnlich wahrnehmbare und sie verkörpernde Einzeldinge existieren können, glaubt er, dass sie wirkliche Eigenschaften dieser Einzeldinge sind. Er bietet eine ziemlich ähnliche Verteidigung der Wirklichkeit an, jedoch ohne die Abtrennbarkeit und ohne die mathematischen Gegenstände (‚Physik‘ II 2; ‚Metaphysik‘ XIII 3). Während er dem platonischen Standpunkt zustimmt, dass es Wahrheiten z.B. über Zahlen oder Dreiecke gibt, die keine wahrnehmbaren Eigenschaften wahrnehmbarer Gegenstände beschreiben, leugnet er, dass diese Wahrheiten auch hinsichtlich unabhängig existierender mathematischer Gegenstände bestehen. Er behauptet, dass sie Wahrheiten hinsichtlich gewisser Eigenschaften wahrnehmbarer Gegenstände sind, die wir begreifen können, wenn wir die irrelevanten Eigenschaf70
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ten (z.B. den Fakt, dass dieser dreieckige Gegenstand aus Bronze besteht) wegdenken, d.h. abstrahieren. Selbst wenn sie keine abgesonderten Gegenstände seien, die einfach nur mathematische Eigenschaften haben, so seien sie doch wirkliche mathematische Eigenschaften wahrnehmbarer Gegenstände. 16. ‚Metaphysik‘: Gott Wenn Aristoteles behauptet, dass die Erste Philosophie auch Theologie sei (siehe § 11), so impliziert er, dass die allgemeine Diskussion des Seins und der Substanz die Basis für die besondere Diskussion der göttlichen Substanz sei. (Folglich unterscheiden spätere Autoren die ‚spezielle Metaphysik‘, die von Gott handelt, von der ‚allgemeinen Metaphysik‘, die sich mit dem Sein im Allgemeinen beschäftigt.) Die unterschiedlichen Merkmale der Substanz, die in ‚Metaphysik‘ VII–IX erklärt werden, finden sich auch in der göttlichen Substanz des Buches XII. (1) Die erste Substanz oder Grundsubstanz muss auf irgendeine Weise mit der Form statt mit dem Stoff oder mit der Zusammensetzung von Form und Stoff identifiziert werden; göttliche Substanz ist reine Form ohne Stoff. (2) Die Grundsubstanz ist in gewisser Weise numerisch eher eine, d.h. ein ‚Dieses‘ statt ein ‚Solches‘. Göttliche Substanz ist vollständig eine Substanz und unteilbar. (3) Die Grundsubstanz ist in gewisser Weise eher Wirklichkeit als Potenzialität; göttliche Substanz ist reine Wirklichkeit ohne Potenzialität (4) Die Grundsubstanz ist eher Seele als Körper (siehe § 17); die göttliche Substanz ist reiner Intellekt ohne Wahrnehmung oder Körper. In jedem Falle findet man die Eigenschaften der Grundsubstanz in der wahrnehmenden (sensiblen) Substanz (einem Tier oder einer Pflanze) nur insofern, als sie zu einem Gegenstand gehört, der auch noch andere Eigenschaften aufweist; also ist die Grundsubstanz in der wahrnehmenden Wirklichkeit die Form und Wirklichkeit eines Gegenstandes (z.B. eines Pferdes), der ebenfalls Stoff und Potenzialität hat. In der göttlichen Substanz jedoch findet man jedes Merkmal getrennt von diesen anderen Eigenschaften; darum weist die göttliche Substanz auch keinen Stoff auf, keine Mehrheit, keine Teile oder Potenzialität. Aristoteles macht geltend, dass eine Substanz mit diesen rein substanziellen Eigenschaften existieren muss, wenn irgendwelche sensiblen Substanzen existieren sollen. Denn die Existenz von Potenzialitäten, die verwirklicht werden können, setzt die Existenz einer Wirklichkeit voraus, die selbst keinerlei Potenzialität enthält (um einen infiniten Regress zu vermeiden). Da dieser Grundtypus der Substanz göttlich ist, ist er das, worum es auch in dem traditionelle Glauben an die Olympischen Götter geht, d.h. worüber die Vorsokratiker redeten, wenn sie über ‚das Göttliche‘ sprachen, und worüber Platon redete, wenn er von einem höchsten Gott sprach. Aristoteles erwähnt die traditionellen Olympischen Götter, ohne sich auf eine Akzeptanz ihrer traditionellen Konzeption festzulegen. Er lehnt eine anthropomorphe Auffassung der Götter ab, spricht aber von der göttlichen Natur als einer Art von Geist. Er glaubt, dass an der natürlichen Ordnung und ihrem Funktionieren etwas Göttliches, und noch mehr Göttliches an den himmlischen Substanzen ist (‚Über die Teile von Tieren‘ I 5). Obwohl er dann fortfährt, von den Göttern im Plural zu sprechen, spricht er auch von dem einen, göttlichen Geist als der ersten Ursache für das ganze Universum. Diese Bemerkungen helfen bei der Rechtfertigung der späteren Interpreten, die ihn so verstehen, dass er von dem einen Gott spricht, der der Gegenstand von (z.B.) Thomas von Aquins ‚Fünf Wegen‘ (‚Summa theologiae‘ 1a q.2 a.3) (siehe Thomas von Aquin § 11). 71
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Aristoteles’ Gott ist die erste Ursache des physikalischen Universums, aber nicht sein Schöpfer (wie es Platons Demiurg ist), denn Aristoteles glaubt, das Universum sei ewig. Aristoteles meint ferner auch nicht, dass Gott im Besitz der Vorsehung oder eines Vorauswissens sei, das sich mit künftigen kontingenten Ereignissen beschäftige. Er glaubt aber, dass das physische Universum von Gott abhänge. In der ‚Physik‘ VIII trägt er vor, dass die Erklärung der Bewegung die Anerkennung einer ersten Ursache der Bewegung erfordert, und in der ‚Metaphysik’ XII identifiziert er die erste Ursache mit der göttlichen, immateriellen Substanz. Der erste Beweger ist selbst unbewegt; er setzt die Bewegung nur in Gang, wie ein Gegenstand der von Liebe in Gang gesetzt wird, nämlich durch Anziehung. Dies ist die äußerste finale Ursache der verschiedenen Bewegungen des Universums. Indem er die göttliche Substanz als einen Gott behandelt, und folglich als ein Sein mit einer Seele und einem Intellekt, schreibt Aristoteles ihm ein mentales Leben zu. Weil er aber unvollkommen wäre, wenn er sich Gegenstände außerhalb seiner selbst vorstellt (weil er dann nicht mehr selbstgenügsam wäre), so denkt er nur an sein eigenes Denken. Diese Beschränkung ist jedoch nicht so streng, wie sie vielleicht ausschaut, da Aristoteles glaubt, dass die verschiedenen Gegenstände des Denkens in gewisser Weise mit dem sie denkenden Geist identisch sind (siehe § 15). Insofern Gott seinen eigenen Geist denkt, bedenkt er hierbei auch die Ordnung des Universums als einem Ganzen; dies ist die Ordnung, die die unterschiedlichen Bewegungen des Universums zu verkörpern suchen. Manchmal (wie in der ‚Physik‘ VIII) behauptet Aristoteles einen einzigen ersten Beweger. In der ‚Metaphysik‘ XII tritt er jedoch dafür ein, dass ein unbewegter Beweger für jede der unterschiedlichen Bewegungen des Himmelskörpers postuliert werden müsse. Diese astronomische Interpretation seiner theologischen Lehre ist schwierig mit seinem Glauben in Einklang zu bringen, den er in ‚Metaphysik‘ XII 10 wiederholt, dass das Universum auf irgendeine Weise durch einen einzigen, ersten, unbewegten Beweger vereinheitlicht ist. 17. Seele und Körper Aristoteles’ Abhandlung ‚Über die Seele‘ findet sich zwischen den Arbeiten zur Naturphilosophie, sie sollte aber zusammen mit der ‚Metaphysik‘ VII–IX gelesen werden. Aus Aristoteles’ Sicht sind Diskussionen über die Seele und den Körper einfach ein spezieller Fall der allgemeineren Diskussionen über Form und Stoff. Er weist sowohl die vorsokratisch materialistische Vermutung zurück, dass die Seele einfach ein nicht-organischer Stoff sei, als auch die dualistische platonische Behauptung, dass es sich dabei um etwas gänzlich Unkörperliches handeln müsse. Er argumentiert, dass die Seele Substanz sei, weil sie die Form eines natürlichen Körpers sei, und dass der Körper der Stoff sei, der durch die Seele geformt sei. Obwohl die Seele eine Substanz sei, die sich von dem nicht-organischen Körper (als der Sammlung nicht-organischen Stoffs, der einem lebenden Organismus zuzuordnen ist; siehe § 13) unterscheide, sei sie nicht immateriell (wenn immateriell zu sein es ausschließt, aus Stoff zusammengesetzt zu sein), noch sei sie unabhängig von jeglichem nicht-organischem Körper. Aristoteles geht davon aus, dass die Seele das Grundprinzip des Lebens ist, und folglich davon, dass sie das Lebendige vom Leblosen unterscheidet. Ein lebender Organismus wird genährt, er wächst und schrumpft durch sich selbst, und zwar aus 72
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einem kausalen Ursprung, der in ihm selbst liegt, und nicht in der Handlung externer Akteure. Ein lebender Organismus muss deshalb teleologisch geordnet sein, denn Ernährung und Wachstum ist für Aristoteles ohne Berufung auf die finale Kausalität unverständlich (siehe Teleologie). Wenn das Leben teleologisch gedacht werden muss und die Seele das Hauptprinzip des Lebens ist, dann ist die Seele eher Form als Stoff. Denn das Grundprinzip ist das, was durchgehend unsere vitalen Tätigkeiten erklärt. Da es sich dabei um zielgerichtete Aktivitäten handelt, muss ihre Erklärung sich auf die zielgerichteten Merkmale des Gegenstandes richten, und folglich eher auf die Form als auf den Stoff. Wenn die Seele das ist, durch was wir hauptsächlich Lebende sind, so muss sie die Finalursache des Körpers sein, und deshalb ein formaler, nicht ein materialer Aspekt des Gegenstandes. Die Seele muss also Substanz als Form sein. Aristoteles schreibt der Seele die Merkmale substanzieller Form zu (siehe § 13). (1) Sie ist eine Substanz, die nicht auf einen materiellen, nicht-organischen Körper reduzierbar ist (entfernter Stoff). In diesem Umfange ist die Seele unkörperlich und nicht genau derselbe und gewöhnliche, materielle Stoff. (2) Sie ist die Quelle der Einheit, die einen Haufen materieller Bestandteile zu einem einzigen Organismus macht. Denn eine Ansammlung von Fleisch und Knochen bildet nur dann einen einzigen lebenden Organismus, wenn dieser teleologisch organisiert ist; die Aktivitäten des einzelnen Organismus sind die Finalursache der Bewegungen der verschiedenen Teile. Da ein einzelner Organismus eine einzige Finalursache hat, hat er eine einzige Seele und einen einzigen Körper. (3) Die Identität und das Fortbestehen der Seele bestimmt die Identität und das Fortbestehen des Geschöpfes, dass diese hat. Wenn jemand eine Seele hat, weil er lebt, dann verschwindet (z.B.) Sokrates nur dann, wenn seine Seele verschwindet. Die Wahrheit dieser platonischen Behauptung (‚Phaidon‘ 115c–e) impliziert keinen platonischen Dualismus. (4) Die Definition einer Seele muss das nahe materielle Subjekt (den organischen Körper und seine Teile) erwähnen, deren Fähigkeiten durch die Funktionen des Organismus verwirklicht werden (‚Metaphysik‘ 1036b28–30). Eine Seele muss nicht-zufällig mit einer bestimmten Art von organischem Körper verbunden sein (‚Über die Seele‘ 407b20–4). Einige der Rätsel in Aristoteles’ Lehre von der substanziellen Form ergeben sich aus dieser Lehre von der Seele und dem Körper. Wenn er beispielsweise einzelne substanzielle Formen anerkennt, dann erkennt er ebenfalls (wie der vorangehende Absatz voraussetzt) die individuellen Seelen von Sokrates und Callias an; wenn er jedoch nur eine substanzielle Form für jede Spezies anerkennt, dann erkennt er nur eine einzige Seele für alle menschlichen Wesen an, eine weitere für Pferde etc. Da die Seele die Form des lebenden Körpers ist, beschreibt eine Darstellung der unterschiedlichen ‚Teile‘ oder ‚Fähigkeiten‘ (dynameis) der Seele nicht die unterschiedlichen physiologischen Prozesse, die den unterschiedlichen Aktivitäten eines lebenden Organismus zugrunde liegen, sondern beschreibt deren formale und zielgerichtete Aspekte. Aristoteles beschreibt die Fähigkeiten, die die unterschiedlichen Typen der Seele unterscheiden: Ernährung (charakteristisch für Pflanzen), Wahrnehmung und Erscheinung (charakteristisch für Tiere) und rationales Denken (charakteristisch für rationale Tiere) (siehe Psychē). Er beschreibt einige der physiologischen Grundlagen dieser psychischen Fähigkeiten in den kürzeren Abhandlungen der Naturphilosophie, einschließlich der ‚Parva Naturalia‘, ‚Über die Bewegung der Tiere‘ und ‚Über den Fortschritt der Tiere‘. 73
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18. Wahrnehmung Um die Wahrnehmung zu definieren, kehrt Aristoteles zu seinem Gegensatz zwischen der Form und dem Stoff zurück. Wahrnehmung findet statt, sofern (1) der Wahrnehmende wie das Objekt wird (‚Über die Seele‘ 417a18); (2) der Wahrnehmer, der potenziell F war (beispielsweise weiß), wird wirklich F, wenn er das wirkliche F-Objekt wahrnimmt (418a3); (3) der Wahrnehmende nimmt die Form des wahrgenommenen Objektes an, aber nicht dessen Stoff (424a18–24). Diese Beschreibungen drücken eine realistische Sichtweise der Wahrnehmung und ihrer Objekte aus; Aristoteles geht in (2) davon aus, dass ein Objekt aus eigener Kraft wirklich weiß, quadratisch ist etc., bevor wir es wahrnehmen. Man versteht ihn manchmal so, als impliziere er in (1), dass die Wahrnehmung eine physische Ähnlichkeit erfordert; aber (3) spricht gegen diese Interpretation. Ein Sinnesorgan empfängt die Form ohne den Stoff auf die Weise, auf die ein Haus ohne Stoff in der Seele des Architekten ist, bevor das Haus gebaut wird. Im letzteren Falle ist nichts, was einem Haus ähnelt, in seinem Erbauer vorhanden, aber Merkmale des Hauses korrespondieren mit Merkmalen des Entwurfs des Erbauers. Auf ähnliche Weise klingen unsere Ohren, wenn wir einen Ton hören, nicht notwendigerweise wie der Ton, aber ein Zustand von uns korrespondiert systematisch mit diesem Ton (so wie die Merkmale einer Landkarte mit den Merkmalen des Gebietes dieser Landkarte korrespondieren). Ein ‚gewöhnliches Sinnesorgan‘ nimmt gewöhnliche Eigenschaften wahrnehmbarer Objekte auf, wie z.B. die Größe, die äußere Form und die Anzahl, die alle mittels der Wahrnehmung von Bewegung wahrgenommen werden (‚Über die Seele‘ 425a14–20). Dabei handelt es sich nicht um einen sechsten Sinn unabhängig von den anderen fünfen, sondern dies ist das Ergebnis der Zusammenarbeit der fünf Sinne. Aristoteles argumentiert, dass wir uns das Begreifen dieser gewöhnlichen Eigenschaften ohne die Annahme erklären können, dass sie Gegenstände des Intellekts anstelle von solchen der Sinne wären (im Gegensatz zu Platon, siehe ‚Theaitetus‘ 184–186). 19. Erscheinung und Gedanke Die Erscheinung (oder Vorstellung, gr.: phantasia) verbindet die Wahrnehmung mit zielgerichteten Bewegungen. Ein Löwe sieht oder riecht einen Hirsch. Um die Wahrnehmung mit Lustempfindungen und Wünschen zu verbinden, müssen wir sagen, wie der Hirsch dem Löwen erscheint (nämlich als Beute); das ist es, was Aristoteles die Erscheinung des Hirschen im Löwen nennt (‚Über die Seele‘ III 3, 7). Aristoteles leugnet, dass diese Erscheinung auf Seiten des Wahrnehmenden eine Überzeugung bildet (doxa). Er argumentiert, dass der Glaube die Vernunft und damit das Schlussfolgern voraussetzt, was nicht-menschliche Tiere beides nicht aufweisen; aus seiner Sicht fehlt ihnen jegliches Begreifen von Universalien, und sie haben nur Erscheinungen und eine Erinnerung an Einzelheiten (‚Nikomachische Ethik‘ 1147b4–5). Die Operationen der Sinne, der Erinnerung und der Erfahrung sind notwendig, aber nicht ausreichend für das Begreifen einer Universalie, die in Begriffen und Überzeugungen ausgedrückt wird (‚Zweite Analytik‘ II 19; ‚Metaphysik’ I 1). Begriffe und Überzeugungen erfordern Intellekt (nous), der in ‚Verstehen‘ oder ‚Denken‘ verwirklicht ist (noein; ‚Über die Seele‘ III 4) (siehe Nous). Das Denken unterscheidet sich von der Wahrnehmung insofern, als es universale Wesenhei74
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ten begreift, beispielsweise, was Fleisch ist, im Gegensatz zum Fleisch selbst. Die Wahrnehmung umfasst nicht das Begreifen der Universalie als solcher; im Begreifen der Universalie erkennen wir irgendein Merkmal unserer Erfahrung als den Grund für die Zuschreibung der Universalie zu einer Einzelheit an, die wir erfahren. Um zu erklären, wie der Geist in der Lage ist, Universalien zu begreifen, wenn wir kausal mit einzelnen wahrnehmbaren Gegenständen umgehen, unterscheidet Aristoteles zwei Aspekte des Intellekts, nämlich den passiven und den ‚produktiven‘ (oder ‚aktiven‘ oder den ‚Akteur‘), indem er behauptet, dass diese beiden Aspekte kombiniert werden müssten, um den Gedanken der Universalie hervorzurufen (‚Über die Seele‘ III 5). Er sagt nicht, wie der produktive Intellekt zu unserem Begreifen der Universalien beiträgt. Spätere Interpreten schlugen vor, dass der produktive Intellekt die relevanten Aspekte der Universalie von den anderen Merkmalen der Einzelheit abstrahiere, die mit ihnen in der Wahrnehmung kombiniert seien (Thomas von Aquin in der ‚Summa theologiae‘ 1a q.79 a.3). Aristoteles hält die Gegenwart dieses produktiven Intellekts als eine notwendige Voraussetzung überhaupt für jegliches Denken. Noch darüber hinaus glaubt er sogar, dass der produktive Intellekt in der Lage ist, ohne einen Körper zu existieren. Er bleibt bei seiner Überzeugung von der Untrennbarkeit der Seele und des Körpers; denn weil der produktive Intellekt kein Seelentyp ist, ist seine gesonderte Existenz nicht die gesonderte Existenz einer Seele. 20. Verlangen und freiwillige Handlung Wahrnehmung, Erscheinung und Denken vermittels des Verlangens sind zu zielgerichteter Bewegung verbunden. Wenn einem Tier etwas als wünschenswert erscheint, ist dies tendenziell Anlass für es, diese Sorte von Gegenstand mehr zu verfolgen als eine andere. Äußere Gegenstände erscheinen unterschiedlichen Akteuren jedoch auf unterschiedliche Weise wünschenswert. Aristoteles unterschiedet das Verlangen (epithymia), das Tiere haben, vom Wunsch (dem rationalen Wunsch: boulēsis), den nur rationale Akteure haben; das Verlangen richtet sich auf das Angenehme, und der Wunsch auf das Gute (‚Über die Seele‘ 414b2–6, 432b5–7, ‚Politik‘ 1253a15–18). Der Wunsch eines rationalen Akteurs unterscheidet sich vom Verlangen insofern, als er durch Überlegungen gelenkt ist, die auf dessen jeweiliger Vorstellung vom Guten beruhen. Eine solche Vorstellung erstreckt sich über die gegenwärtige Neigung des Akteurs sowohl zu einem gegebenen Zeitpunkt, als auch über die Zeit hinweg. Rationale Akteure sind sich ihrer selbst bewusst, dass sie sich in die Vergangenheit und die Zukunft erstrecken. Ein Überlegen, das von solchen Bezügen zu breiteren Aspekten der Ziele und der Natur des Einzelnen geleitet ist, führt zu jener rationalen Wahl, die Aristoteles ‚Entscheidung‘ nennt (prohairesis: ‚Nikomachische Ethik‘ III 3). Akteure, die auf einen Wunsch und auf eine Erscheinung hin handeln, handeln auch freiwillig (hekousiōs), insofern sie nach einem bestimmten inneren Prinzip handeln (archē). Während die freiwillige Handlung nicht auf rationale Akteure beschränkt ist, hat doch die freiwillige Handlung eine spezielle Bedeutung, weil sie die geeignete Grundlage für Lob und Tadel ist. Da sie ein inneres Prinzip hat, liegt sie in unserer Kontrolle als rationalen Akteuren, und deshalb werden wir zu Recht für sie gelobt und getadelt. Wir sind verantwortlich für unsere Handlungen, insofern sie unseren Charakter und unsere Entscheidungen wiedergeben (‚Nikomachische Ethik‘ III 1–5). 75
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Aristoteles’ Verteidigung seiner Überzeugung, dass wir auf geeignete Weise verantwortliche Akteure sind, konfrontiert ihn nicht mit der Frage, die später durch Epikurs Behauptung aufgeworfen wurde, dass die Verantwortlichkeit unvereinbar ist mit der vollständigen kausalen Bestimmung unserer Handlungen (siehe Epikureismus). Eine inkompatibilistische Position wird Aristoteles durch Alexander in ‚Über das Schicksal‘ zugeschrieben. Aristoteles stellt weder ausdrücklich eine inkompatibilistische Position vor, noch unterstützt er ausdrücklich eine kompatibilistische Position von der Art, die später von den Stoikern vertreten wird. Eine Diskussion der Zeit, der Wahrheit und der Notwendigkeit (die ‚Seeschlacht‘; ‚De Interpretatione‘ 9) hat bei manchen Interpreten zu dem Vorschlag geführt, dass Aristoteles ein Indeterminist sei. Sein Gegner ist der Fatalist, der annimmt, dass (1) Aussagen im Futurum über menschliche Handlungen (z.B. ‚Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘) in der Vergangenheit wahr waren, und er schließt daraus, dass (2) die Zukunft notwendigerweise determiniert ist, unabhängig davon, was wir wählen. Aristoteles weist dies (2) sicherlich zurück. Wenn er die Gültigkeit des fatalistischen Arguments annimmt und (1) zurückweist, dann akzeptiert er den Indeterminismus. Eine alternative Antwort auf den Fatalisten wäre es, (1) zu akzeptieren und die Gültigkeit des Arguments zu leugnen. Wir könnten einwenden, dass die vergangenen Wahrheiten von Aussagen über meine Handlungen nicht implizieren, dass meine Handlungen unabhängig von meiner jeweiligen Wahl determiniert sind. Wenn sich Sokrates am Freitag zu einem Spaziergang entscheidet, und er handelt nach dieser Entscheidung am Freitag, dann war es am Donnerstag wahr, dass Sokrates am Freitag einen Spaziergang machen wird, und es ist ferner am Freitag wahr, dass er aufgrund dieser Entscheidung zum Spazierengehen handeln würde, aber dies war am Donnerstag nicht wahr, dass er spazieren gehen würde, egal ob er sich dazu entschieden hatte oder nicht (siehe Stoizismus). Wahrscheinlich akzeptierte Aristoteles diese alternative Erwiderung auf den Fatalisten, und folglich würde er dann auch nicht den Indeterminismus unterstützen. 21. Das menschliche Gute Aristoteles’ Darstellung der rationalen Akteure, der Wahl, der Überlegtheit und der Handlung ist ein geeigneter Ausgangspunkt für seine ethische Theorie. Die Ethik beschäftigt sich mit den lobenswerten und den tadelnswerten Handlungen und Charakterzuständen rationaler Akteure; das ist der Grund, warum sie die Tugenden betrifft (lobenswerte Zustände) und die Laster (tadelnswerte Zustände) (siehe Aretē). Aristoteles’ ethische Theorie findet sich überwiegend in drei Abhandlungen: der ‚Magna Moralia‘, der ‚Eudemischen Ethik‘ und der ‚Nikomachischen Ethik‘. Die Titel der letzten beiden Werke beruhen auf der Überlieferung, dass Eudemos (ein Mitglied des Lyceums) und Nikomachos (Aristoteles’ und Herpyllis’ Sohn) Aristoteles’ Vorlesungen herausgaben. Hinsichtlich der ‚Magna Moralia‘ besteht weitgehende Übereinstimmung, dass diese nicht von Aristoteles geschrieben wurde. Einige glauben mit guten Gründen, dass sie die Mitschriften eines Studenten einer frühen Vorlesungsreihe von Aristoteles sind. Die ‚Eudemische Ethik‘ ist inzwischen nach überwiegender Auffassung als echt anzusehen, und sie wird vernünftigerweise im Allgemeinen (nicht vollständig) früher als die ‚Nikomachische Ethik‘ eingestuft. Drei Bücher (‚Nikomachische Ethik‘ V–VII = ‚Eudemische Ethik‘ IV–VI) werden 76
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durch die Manuskripte sowohl der ‚Eudemischen Ethik‘, als auch der ‚Nikomachischen Ethik‘ zugeschrieben. Aristoteles betrachtet die Ethik (‚Magna Moralia‘ 1181a24) als einen Teil der politischen Wissenschaften. Er behandelt die ‚Nikomachische Ethik‘ und die ‚Politik‘ als Teil einer einzigen Untersuchung (‚Nikomachische Ethik‘ X 9). Die Ethik sucht nach dem individuellen und kollektiven Guten (‚Nikomachische Ethik‘ I 2), und deshalb beginnt sie mit einer Prüfung des Glücks (eudaimonia). (‚Wohlergehen‘ und ‚Wohlfahrt‘ sind alternative Übersetzungen von eudaimonia, die vielleicht einige der irreführenden Assoziationen zu dem Wort ‚Glück‘ vermeiden helfen; siehe Eudämonie.) Glück ist der richtige Ausgangspunkt für eine ethische Theorie, weil nach Aristoteles’ Auffassung rationale Akteure notwendigerweise im Hinblick auf ihr letztendlich Gutes wählen und überlegen, und dies ist das Glück; dies ist das Ziel, das wir um seiner selbst willen zu erreichen suchen, und um dessentwillen wir andere Dinge wollen (so dass dies das letzte, selbst nicht mehr zweckgebundene Gute ist). Wenn es aber ein letzter Zweck sein soll, dann muss das Glück vollständig (oder ‚final‘: teleion) und selbstgenügsam sein (‚Nikomachische Ethik‘ I 1–5, 7). Um eine konkretere Darstellung des Wesens dieses letzten und vollständigen Zieles zu finden, führt Aristoteles die menschliche Aufgabe (ergon) an, die jene charakteristische Aktivität ist, die dem Menschen gleichermaßen wesentlich ist, wie das nur sich ernährende Leben wesentlich für eine Pflanze, und das Leben, das durch die sinnliche Wahrnehmung und das Verlangen geleitet wird, für ein Tier ist (‚Nikomachische Ethik‘ I 7). Da der Mensch wesentlich ein rationaler Akteur ist, so ist die wesentliche Aktivität eines Menschen ein Leben, das von der praktischen Vernunft geleitet ist. Das gute Leben eines Menschen muss auch gut für ein Wesen mit der wesentlich gleichen Aktivität eines Menschen sein; folglich muss jenes ein gutes Leben sein, dass durch die praktische Vernunft geleitet ist, und ferner muss es jenes Leben sein, dass in Übereinstimmung mit der Tugend (aretē) ist, die zur Erreichung des individuellen Guten notwendig ist. Das menschliche Gute ist daher eine Verwirklichung der vollkommen tugendhaften Seele in einem vollständigen Leben. Es sieht so aus, als ob diese ‚vollkommene Tugend‘ alle die verschiedenen (Einzel-) Tugenden umfasst, die in den folgenden Büchern der ‚Nikomachischen Ethik‘ beschrieben werden; dieser Eindruck wird jedoch durch die ‚Nikomachische Ethik‘ X in Frage gestellt (siehe § 26). 22. Charaktertugend Von der allgemeinen Konzeption des Glücks schließt Aristoteles auf die allgemeinen Merkmale einer Charaktertugend (ēthikēaretē, ‚Nikomachische Ethik‘ I 13). Er stimmt Platon darin zu, dass er sowohl das rationale, als auch das nichtrationale Verlangen anerkennt (siehe Platon § 14). Die Seele eines Menschen ist in tugendhafter Verfassung, wenn die nichtrationalen Elemente mit der Vernunft zusammenwirken; unter dieser Bedingung erfüllen Menschen ihre Aufgabe gut. Das Argument der menschlichen Aufgabe verdeutlicht nicht, welche Zustände eines rationalen Akteurs als Erfüllung der menschlichen Aufgabe gelten. Aristoteles versucht dies zunächst durch eine allgemeine Darstellung der Charaktertugend klarer zu machen, und dann durch seine Skizze der individuellen Tugenden. Eine Charaktertugend muss ein ‚Mittel‘ oder ein ‚vermittelnder‘ Zustand sein, denn er muss die geeignete Zusammenarbeit zwischen rationalem und nichtrationalem Verlangen herstellen; ein 77
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solcher Zustand liegt in der Mitte zwischen einem vollständigen Nachgeben gegenüber dem nichtrationalem Verlangen und ihrer vollständigen Unterdrückung. (Aristoteles empfiehlt keine Mäßigung, beispielsweise einen gemäßigten Grad der Wut oder des Vergnügens, unter allen Umständen.) Das Erfordernis der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Formen des Verlangens bringt es mit sich, dass die Tugend mehr als eine einfache Kontrolle über das Verlangen ist; die reine Kontrolle ist Zurückhaltung und nicht echte Tugend. Die Aufgabe einer moralischen Erziehung ist daher die Harmonisierung des nichtrationalen Verlangens mit der praktischen Vernunft. Tugendhafte Menschen erlauben ihrem Verlangen eine vernünftige Befriedigung; sie unterdrücken nicht alle ihre Ängste; sie missachten nicht alle ihre Gefühle des Stolzes oder der Scham oder des Ärgers (‚Nikomachische Ethik‘ 1126a3–8), oder ihr Verlangen nach einer guten Meinung der anderen Menschen über sie. Aristoteles’ Abriss der verschiedenen Tugenden zeigt, wie unterschiedliche nichtrationale Formen des Verlangens mit der praktischen Vernunft kooperieren können. 23. Tugend, praktische Vernunft und Willensschwäche Eine tugendhafte Person trifft eine Entscheidung (prohairesis), um tugendhafte Handlungen um ihrer selbst Willen zu vollziehen. Die richtige Entscheidung erfordert Überlegung; die Tugend des Verstandes, die eine gute Überlegung sicherstellt, ist Umsicht bzw. Klugheit (oder ‚Weisheit‘: phronēsis; ‚Nikomachische Ethik‘ VI 4–5); folglich muss das Mittel, das tugendhaft ist, durch eine Art von Vernunft bestimmt werden, durch die die kluge Person die Wahl des Mittels vornimmt (1107a1– 2). Die Charaktertugend ist deshalb untrennbar mit der Klugheit verbunden. Jede Tugend ist Gegenstand zur Ausrichtung der Klugheit, denn jede Tugend zielt auf das jeweils Beste, wie es durch die Klugheit identifiziert wurde. Durch die Behauptung, dass die Klugheit mit Überlegung verbunden ist, betont Aristoteles auch die Wichtigkeit des Begreifens der ausschlaggebenden Merkmale einer bestimmten Situation; wir müssen die richtigen Einzelheiten begreifen, wenn die Überlegung eine korrekte Entscheidung darüber, was hier und jetzt zu tun ist, herbeiführen soll. Die richtige moralische Wahl setzt Erfahrung in Einzelsituationen voraus, denn allgemeine Regeln können nicht mechanisch angewandt werden. Aristoteles beschreibt die erheblichen Aspekte der Klugheit als eine Art von Wahrnehmung oder intuitivem Verständnis der richtigen Aspekte von Einzelsituationen (‚Nikomachische Ethik‘ VI 8, 11). Diese Aspekte der Klugheit unterscheidet die tugendhafte Person vom ‚zurückhaltenden‘ oder ‚haltlosen‘ Menschen (‚Nikomachische Ethik‘ VII 1–10). Aristoteles akzeptiert die Wirklichkeit der haltlosen Handlung (Willensschwäche: akrasia) und weist damit Sokrates’ Standpunkt zurück, dass es nur Nichtwissen des Besseren und Schlechteren sei, was der offenkundigen Haltlosigkeit zugrunde liegt (siehe Sokrates § 6; Akrasie). Er wendet ein, dass haltlose Menschen die richtige Entscheidung treffen, aber im Widerspruch zu ihr handeln. Das Versagen, nicht an ihrer Entscheidung festzuhalten, ist das Ergebnis eines starken, nichtrationalen Verlangens und nicht einfach ein kognitiver Irrtum. Allerdings stimmt Aristoteles dem Sokrates in der Überzeugung zu, dass das Nichtwissen eine wichtige Komponente bei der richtigen Erklärung der Haltlosigkeit ist, denn niemand kann sich genau in
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dem Moment der haltlosen Handlung im Widerspruch zu einer richtigen und voll akzeptierten Entscheidung verhalten. Der Irrtum der Haltlosen liegt in ihrem Versagen zur Harmonisierung der Forderungen ihres Verlangens mit den Erfordernissen der Tugend; ihr starkes Verlangen verursacht bei ihnen den Verlust eines Teils ihres Verstandes, der ihre Entscheidungen bestimmt. Wenn sie handeln, so versagen sie dabei klar zu sehen, wie ihre allgemeinen Prinzipien sich in der gegenwärtigen Situation äußern. Wenn ihr Versagen aus einem Überlegungsirrtum resultiert, so ist es klar, warum Aristoteles darauf besteht, dass es haltlosen Menschen an Klugheit mangelt. 24. Wahlentscheidung, Tugend und Vergnügen Es ist zunächst etwas verwirrend, dass tugendhafte Menschen sich zu einem tugendhaften Handeln um seiner selbst Willen als Ergebnis des Überlegens entscheiden. Wenn sie sich für eine tugendhafte Handlung um ihrer selbst Willen entscheiden, dann bringt ihre Überlegung sie dazu, sie als Selbstzweck zu wählen, und nicht nur als Mittel zu einem anderen Zweck. Entscheidung und Überlegung drehen sich jedoch nicht um Zwecke, sondern um ‚die Dinge, die Zwecken förderlich sind‘ (ta pros ta telē, oft übersetzt als ‚Mittel zum Zweck‘). Aristoteles’ Beschreibung der tugendhaften Person scheint dann der Entscheidung eine Rolle zuzuschreiben, die aus seiner ausdrücklichen Darstellung der Entscheidungen gerade ausgeklammert ist. Dieses Rätsel ist weniger schwierig, sobald wir erkennen, dass Aristoteles unterschiedliche Dinge als einem Zweck ‚förderlich‘ erachtet. Manchmal meint er, (1) dass die Handlung äußerlich und rein zweckbezogen sei; in diesem Sinne ist der Einkauf von Essen für die Zubereitung eines Essens förderlich. Manchmal jedoch meint er, (2) dass die Handlung ein Teil oder eine Komponente des Zwecks sei, oder dass die Durchführung der Handlung teilweise die Erreichung des Zwecks darstelle; in diesem Sinne ist dann der Verzehr des Hauptganges dem Essen insgesamt förderlich. Überlegungen über diese zweite Art von ‚Förderung‘ zeigen, dass es eine Handlung wert ist, um ihrer selbst Willen gewählt zu werden, sofern sie den jeweiligen Zweck teilweise selbst enthält. Diese Rolle für das Überlegen erklärt, wie tugendhafte Menschen sich für tugendhafte Handlungen um ihrer selbst Willen als Ergebnis von Überlegung entscheiden können; sie wählen sie als einen Teil des Glücks, nicht als rein zweckbezogenes Mittel. Die Klugheit ermittelt jene Handlungen, die das Glück befördern, insofern sie bereits Teil des glücklichen Lebens sind. Solche Handlungen müssen um ihrer selbst Willen, d.h. als Selbstzweck gewählt werden; sie sind nicht einfach zweckbezogene Mittel für irgendeinen weiteren Zweck. Die Entscheidung der tugendhaften Person ergibt sich aus Überlegungen über die Zusammensetzung des Glücks; tugendhafte Menschen entscheiden über Handlungen, die als nicht zweckbezogen gute Handlungen aus eigener Kraft Bestandteile des Glücks sind. Aristoteles’ Forderung der tugendhaften Person, die sich über die tugendhafte Handlung um ihrer selbst Willen entscheidet, ist mit zwei weiteren Ansprüchen verbunden: (1) die tugendhafte Person muss das Vergnügen an der tugendhaften Handlung als solcher haben; (2) indem sie dies erfüllt, hat die tugendhafte Person das lustvollste Leben. Bei diesen Ansprüchen stützt sich Aristoteles auf seinen Standpunkt über die Natur des Vergnügens und ihrer Rolle beim Glück (‚Nikomachische Ethik‘ VII 11–14, X 1–5). 79
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Er leugnet wiederum, dass das Vergnügen irgendeine einförmige Empfindung sei, mit der unterschiedliche Arten lustvoller Handlungen nur kausal verbunden seien (auf die Art und Weise, wie das Lesen vieler langweiliger Bücher zu unterschiedlichen Themen eventuell dasselbe Gefühl von Langeweile hervorruft). Stattdessen wendet er ein, dass das spezifische Vergnügen bei x statt bei y in einer internen Beziehung zum Tun von x anstelle dem Tun von y besteht und wesentlich davon abhänge, dass x lediglich um x’s Willen verfolgt wird. Vergnügen ist ein ‚supervenienter Zweck‘ (1174b31–33), der sich aus einer Aktivität ergibt, der jemand als Aktivität an sich nachgeht (praxis oder energeia), und nicht als einem reinen Prozess oder zur reinen Produktion um etwas Anderen willen (kinēsis oder poiēsis). Aristoteles besteht darauf, indem er Platons ‚Philebos‘ folgt, dass der Wert des Vergnügens von dem Wert der Tätigkeit abhängt, über die das Vergnügen superveniert (1176a3–29). Die tugendhafte Person hat das lustvollste Leben, aber das lustvollste kann nicht ausschließlich auf das Vergnügen gerichtet sein. 25. Tugend, Freundschaft und die Güte der anderen Die Überlegung der tugendhaften Person, die das Mittel in Beziehung zu verschiedenem Verlangen und unterschiedlichen Situationen herausfindet, artikuliert sich in den unterschiedlichen Charaktertugenden (beschrieben in der ‚Nikomachischen Ethik‘ III–V). Die unterschiedlichen Tugenden beschäftigen sich mit der Regulierung nichtrationaler Formen des Verlangens (beispielsweise Tapferkeit, Mäßigung, gute Laune), mit äußeren Formen des Guten (beispielsweise Charaktergröße, Großzügigkeit) und mit sozialen Situationen (beispielsweise Wahrhaftigkeit, Witz). Einige betreffen in gewissem Maße das Gute von anderen (Tapferkeit, gute Laune, Großzügigkeit). Aristoteles’ griechisches Wort für die Charaktertugend, ēthikēaretē, ist ins Lateinische als ‚virtus moralis‘ übersetzt worden. Die deutsche Übersetzung als ‚Tugendmoral‘ ist vertretbar, da die Charaktertugend als Ganze die unparteiische Hinwendung zu anderen beschreibt, die oft der Moral gutgeschrieben wird. Sie verfolgen beide das Ziel der tugendhaften Person, die sich für die tugendhafte Handlung entscheidet, weil sie ‚trefflich‘ (kalos: gut, schön, edel, trefflich) ist. Eine solchermaßen schöne Handlung fördert systematisch das Gute der Anderen; darauf müssen wir abzielen, wenn wir die Mittel finden wollen, die charakteristisch für die Tugend sind (1122b6–7). Ein zweites vereinheitlichendes Element unter den Tugenden, das untrennbar mit dem Bemühen um das Schöne verbunden ist, ist ihre Verbindung mit der Gerechtigkeit (V 1–2). Aristoteles hält den Ausdruck ‚Gerechtigkeit‘ für mehrdeutig (siehe § 4), und unterscheidet allgemeine Gerechtigkeit von der spezifischen Tugend, die sich um die Verhinderung und Berichtigung gewisser Arten von Ungerechtigkeiten bemüht. Allgemeine Gerechtigkeit ist die Charaktertugend, die speziell auf das allgemeine Gute einer Gemeinschaft abzielt. Da sich hierin kein von den anderen verschiedener Charakterzustand als bei den übrigen Tugenden äußert, muss sie ein Bemühen für das gemeinsame Gute verkörpern. Um zu erklären, warum die Sorge für das Gute der anderen und für das gemeinsame Gute ein Teil jenes Lebens ist, das auf das eigene Glück abzielt, prüft Aristoteles die Freundschaft (philia; ‚Nikomachische Ethik‘ VIII–IX). Alle drei der Haupttypen der Freundschaft (jener um des Vergnügens, um des Vorteils und um 80
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des Guten Willens) suchen das Gute in der anderen Person. Nur der beste Typ, die Freundschaft um des Guten Willens zwischen tugendhaften Personen, umfasst A’s Sorge um das Gute von B und dessentwillen und wegen B’s wesentlichem Charakter (‚Nikomachische Ethik‘ VIII 1–4). Bei der besten Art von Freundschaft ist der Freund ein ‚weiteres Selbst‘; A nimmt die Haltungen gegenüber B ein, die A auch gegenüber A, also sich selbst gegenüber, einnimmt. Aristoteles schließt, dass die Freundschaft Teil eines vollständigen und selbstgenügsamen Lebens ist (IX 9–11). Freundschaft bringt gemeinsame Aktivitäten mit sich, die man als besonders wichtig in seinem Leben betrachtet, und insbesondere das gemeinsame Nachdenken und Überlegen. Freunde arbeiten beim Überlegen, bei der Entscheidungsfindung und der Handlung zusammen; und die Gedanken und Handlungen eines jeden liefern die Gründe für kommende Gedanken und Handlungen des anderen. Die kooperativen Aspekte der Freundschaft verwirklichen die Fähigkeiten eines jeden Beteiligten vollständiger als der rationale Akteur, und dadurch fördern sie das Glück einer jeden Person. Folglich erfordert die volle Entwicklung eines Menschen die Sorge um das Gute der anderen. 26. Zwei Begriffe des Glücks? Obwohl Aristoteles die Beachtung des anderen als soziale Aspekte des Glücks betont, setzt er sich auch für die rein intellektuelle Tätigkeit (oder das ‚Studium‘, ursprünglich ‚Gottesschau‘: thēoria) ein, also die Kontemplation wissenschaftlicher und philosophischer Wahrheiten, unabhängig von jeglichem Versuch ihrer Anwendung in der Praxis (‚Nikomachische Ethik‘ X 6–8). Die Verbindung zwischen der menschlichen Aufgabe und dem menschlichen Glück (siehe § 21) impliziert, dass die Kontemplation ein herausragend wichtiges Element des Glücks ist. Denn die Kontemplation ist die höchste Erfüllung unserer Natur als rationalen Wesen; sie ist jene Art rationaler Tätigkeit, die wir mit den Göttern teilen, die rationale Wesen mit keinem Bedürfnis zur Anwendung der Vernunft in der Praxis sind. Aristoteles schließt daraus, dass die Kontemplation das glücklichste Leben ist, das uns möglich ist, sofern wir den rationalen Verstand haben, den wir mit den Göttern teilen (siehe § 16). Nach einer bestimmten Interpretation identifiziert Aristoteles wirklich die Kontemplation mit dem Glück: Kontemplation ist das einzige nicht zweckgebundene Gut, das Teil des Glücks ist, und die moralischen Tugenden müssen aus der Sicht des Glücks lediglich als Mittel zur Kontemplation eingestuft werden. Wenn dies Aristoteles’ Sichtweise wäre, so wäre schwer einzusehen, wie die Charaktertugenden sogar noch die besten zweckbezogenen Mittel zum Glück sein sollten. Selbst wenn irgendwelche tugendhaften Handlungen zweckmäßige Mittel zur Kontemplation sind, ist es schwierig einzusehen, wieso die erforderlichen Motive der tugendhaften Person (siehe §§ 24–25) immer nützlich anstatt ablenkend sein sollen für diejenigen, die auf die Kontemplation abzielen. Vielleicht meint Aristoteles jedoch, dass die Kontemplation der beste Bestandteil des Glücks ist. Wenn wir reiner Verstand wären, mit keinem anderen Verlangen und keinen Körpern, dann wäre die Kontemplation die Gesamtheit unseres Guten. Da wir jedoch in Wirklichkeit kein reiner Verstand sind (‚Nikomachische Ethik‘ 1178b3–7), erkennt Aristoteles an, dass das Gute so beschaffen sein muss, dass es das Gute des gesamten Menschen ist. Die Kontemplation ist nicht das vollständige Gute für einen Menschen. 81
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Wenn dies Aristoteles’ Auffassung ist, dann fällt die Kontemplation unter jenen Begriff des Glücks, der im übrigen Teil der ‚Nikomachischen Ethik‘ und in seinen anderen ethischen Werken aufrechterhalten wird. Die Charaktertugenden sowie die Handlungen, die sie ausdrücken, verdienen um ihrer selbst Willen als Bestandteile des Glücks gewählt zu werden. Bei den tugendhaften Personen regulieren sie die Wahl von weiteren Formen des Guten, und so regulieren sie auch die Wahl einer Person in Betreff der Kontemplation. Die ‚Politik‘ kann so verstanden werden, dass sie diesen Begriff vom Glück entwickelt, denn (in Buch VII) stellt sie die Kontemplation in einen Zusammenhang mit der sozialen Ordnung, die durch die Moraltugenden reguliert ist. 27. Politik: ideale Staaten Die ‚Politik‘ verfolgt drei miteinander verbundene Ziele: (1) sie vervollständigt die Diskussion des Glücks, indem sie zeigt, welche Art von politischer Gemeinschaft dieses menschliche Gut erreicht (hauptsächlich die Bücher I, II und VII); (2) sie arbeitet moralische und politische Prinzipien heraus, die uns erlauben, die unterschiedlichen Arten der bestehenden Staaten und ihrer Beschaffenheit zu verstehen und zu kritisieren (hauptsächlich die Bücher III und IV); (3) sie macht einige Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden Staaten (hauptsächlich die Bücher V und VI). Die Reihenfolge der Bücher spiegelt wahrscheinlich Aristoteles’ Ziel einer Beschreibung des idealen Staates nach einer Prüfung der Stärken und Schwächen der bestehenden wieder. Das Streben einer Einzelperson nach Glück führt schließlich zum Stadtstaat. Ein menschliches Wesen ist ein ‚politisches Wesen‘, weil die wesentlichen menschlichen Fähigkeiten und Ziele nur in einer politischen Gemeinschaft vollständig erfüllt sind; folglich muss das Glück des Einzelmenschen (sofern man die Verbindung zwischen der Aufgabe des Menschen und dem menschlichen Guten voraussetzt) das Gute der Mitmenschen seiner Gemeinschaft mit sich bringen. Die relevanten Arten von Gemeinschaft sind die polis (‚Stadt‘ oder ‚Staat‘), eine sich selbst regierende Gemeinschaft, deren eigene Aufgabe (die nicht vollständig durch alle bestehenden politischen Gemeinschaften erfüllt wird) es ist, auf das gemeinsame Gute ihrer Bürger abzuzielen, die (normalerweise) das Führen und das Geführtwerden untereinander teilen. Der Stadtstaat ist die allumfassende Gemeinschaft, von der die anderen Gemeinschaftsformen Teile sind, denn er strebt nach Vorteilen nicht allein in irgendwelchen aktuellen Fragen, sondern für die Gesamtheit des Lebens (‚Nikomachische Ethik‘ 1160a9–30). Da das Glück vollständig und selbstgenügsam ist, ist der Stadtstaat eine vollständige und selbstgenügsame Gemeinschaft (‚Politik‘ 1252b28), der es um ein vollständiges und selbstgenügsames Leben geht, das all das Gute einschließt, was für ein glückliches Leben notwendig ist. Die Verbindung zwischen der menschlichen Natur, dem menschlichen Guten und der politischen Gemeinschaft versteht man am einfachsten durch Aristoteles’ Darstellung der Freundschaft. Die vollständige Freundschaft, die das Zusammenleben voraussetzt, sowie die Teilnahme an gemeinsamen, rationalen Gesprächen und Gedanken, beschränken sich auf Einzelpersonen mit tugendhaftem Charakter. Die Zusammenarbeit ist jedoch nicht die einzige Art, auf die sich Freundschaft verwirklicht; ähnliches kann auch von der Freundschaft von Bürgern gesagt werden. Kollektive Überlegungen über Fragen der Gerechtigkeit und den Nutzen tragen zur 82
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Selbstverwirklichung einer tugendhaften Person bei, weil solche Überlegungen den Geltungsbereich der praktischen Vernunft und der Überlegungen des Einzelnen über sein eigenes Leben und seine Tätigkeiten hinaus erweitern. Weil der Stadtstaat umfassend ist und danach strebt, für jeden Einzelnen das zu planen, was für das vollständige Gute notwendig ist, so tut ein rationaler Akteur gut daran, sich an ihren (kollektiven) Überlegungen zu beteiligen. Da Aristoteles nun meint, dass die politische Tätigkeit aus eigener Kraft zum menschlichen Guten beiträgt, widerspricht er der ‚Sozialkontrakt‘-Theorie, die dem Staat eine in ihren Zwecken beschränkte Aufgabe zuweist (Sicherheit oder gegenseitigen Schutz, oder die Sicherung dessen, was einer jeden Person gerechterweise gehört; ‚Politik‘ III 9). Das politische Leben muss an sich selbst bewertet werden, gesondert von jedem zweckbezogenen Nutzen; der beste Stadtstaat zielt auf die Entwicklung der Moraltugenden und der politischen Beteiligung aller jener ab, die hierzu in der Lage sind. Im Lichte dieser Ziele beschreibt Aristoteles den besten Stadtstaat. Er setzt z.B. günstige äußere Bedingungen voraus (geographischer und wirtschaftlicher Art), um die Entwicklung eines politischen Lebens zu ermöglichen. Seine Kriterien für die Bürgerschaft sind eingeschränkt, denn sie schließen jedermann aus, (einschließlich der Frauen und der körperlich Arbeitenden), von denen Aristoteles meint, sie seien unfähig zur Entwicklung der Charaktertugenden. Innerhalb der bürgerlichen Klassen bemüht sich Aristoteles jedoch um eine Vermeidung großer Ungleichheit des Wohlstandes und darum, dass die Beteiligung eines jeden am Führen und Geführtwerden gesichert ist. Die Institutionen des besten Stadtstaates sorgen für die politische, soziale, wirtschaftliche und ausbildungsbezogene Grundlage zur Ausübung der moralischen Tugenden und für die Kontemplation. 28. Politik: unvollkommene Staaten So wie die richtige Konzeption des Glücks die Grundlage eines idealen Staates ist, so definieren verschiedene unrichtige Konzeptionen des Glücks fehlerhafte Ziele anderer Staaten. Diese fehlerhaften Ziele liegen den unterschiedlichen Konzeptionen der Gerechtigkeit zugrunde, die in der Beschaffenheit der anderen Staaten verkörpert sind. Befürworter von Oligarchien beispielsweise verstehen das Glück so, als ob es im Reichtum bestünde; sie behandeln den Staat als eine geschäftliche Partnerschaft (‚Politik‘ 1280a25–31). Befürworter der Demokratie verstehen das Glück so, als bestünde es einfach in der Befriedigung von Verlangen; sie gehen davon aus, dass, wenn die Menschen in einer Hinsicht als freie Menschen gegenüber einem Leben in Sklaverei gleich sind, sie überhaupt in allem gleich seien und deshalb gleichermaßen am Führen teilhaben sollen (1280a24–25). Keiner dieser Standpunkte ist vollkommen fehlerhaft, denn weder Reichtum, noch Freiheit sind für Fragen der Gerechtigkeit unerheblich, aber jede von ihnen führt zur Einseitigkeit. Diese einseitigen Standpunkte verursachen Irrtümer über die gerechte Verteilung der politischen Macht und anderer Güter. Die eigentliche Grundlage der Zuordnung, die bei der Verteilung zählt, ist die jeweilige Erheblichkeit für das gemeinsame Wohl, denn dies ist das Ziel der allgemeinen Gerechtigkeit. Da eine richtige Konzeption des gemeinsamen Wohls einen korrekten Begriff des gemeinsamen Glücks voraussetzt, muss sich die richtige Antwort auf die Frage nach der Verteilung von Gütern auf einen wahren Begriff des Glücks berufen. 83
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Die Kritik der bestehenden Beschaffenheit von Staaten versucht sowohl zu zeigen, wie sie die Erfüllung der Normen des idealen Staates verfehlen, als auch wie sie verbessert werden können. Aristoteles will nicht nur den idealen Staat beschreiben, sondern auch die beste Organisation eines jeden politischen Systems. Unter bestimmten Umständen, so meint er, können infolge wirtschaftlicher, sozialer und demographischer Fakten z.B. eine Demokratie oder eine Oligarchie schwierig zu vermeiden sein. Aber auch eine unvollkommene staatliche Verfassung kann verbessert werden, und zwar indem man auf die Aspekte der Gerechtigkeit achtet, und folglich auf jene Aspekte des Glücks, die dieser Zustand zu ignorieren tendiert. Selbst wenn Aristoteles so erscheinen mag, als würde er sich in der empirischen politischen Soziologie engagieren, oder als würde er Hilfestellungen für das Überleben eines bestimmten Regimes liefern, ist er doch von der Moral und den politischen Prinzipien geleitet, die er in den stärker theoretischen Teilen der Politik verteidigt. 29. Rhetorik und Poetik In Aristoteles’ Einteilung zählen die Rhetorik und die Dichtung (poiētikē, wörtlich: ‚produktiv‘) eher zu den ‚produktiven‘ als zu den ‚praktischen‘ Disziplinen; sie beschäftigen sich mit der ‚Produktion‘ (poiēsis), d.h. der zweckbezogenen Handlung zu einem ihrer äußerlichen Ziele, statt mit der ‚Handlung‘ (praxis), d.h. mit einer Handlung, die auch Zweck an sich selbst ist. Die Rhetorik ist eine produktive Disziplin, insofern es ihr um die Überzeugung in der öffentlichen Rede geht und sie dafür die Argumente, die Diktion, die Sprache, die Metaphern, das Anrufen der Gefühle etc. sucht, die am wahrscheinlichsten unterschiedliche Arten von Publikum überzeugen werden. Folglich enthält Aristoteles’ Abhandlung über die Rhetorik Abschnitte über diese unterschiedlichen Themen. Die Dialektik und die Logik sind nützlich für einen Studenten der Rhetorik, obwohl es der Rhetorik nicht um die Wahrheit geht; denn wahre oder plausible Behauptungen neigen von selbst dazu, überzeugend zu sein. Die ‚Rhetorik‘ II handelt von einem weiteren Aspekt der rhetorischen Überzeugung, indem sie die unterschiedlichen Gefühle beschreibt. Der Student der Rhetorik muss wissen, wie er Gefühle in seinem Publikum hervorruft. Aristoteles meint, dass seine moralische und politische Theorie auch für die Rhetorik relevant ist, und zwar aus zwei Hauptgründen. (1) Die Rhetorik beschäftigt sich mit der Moral und politischen Angelegenheiten, die in öffentlichen Versammlungen oder in Parlamenten diskutiert werden, und der Redner muss mit den Überzeugungen der jeweiligen Zuhörerschaft vertraut sein. (2) Noch wichtiger ist es, dass der Redner durch die richtige Moral und richtige politische Überzeugungen geleitet sein sollte (ohne notwendigerweise ihre philosophische Grundlage zu begreifen). Aristoteles unterstützt nicht jenen Begriff von der Rede als einer Überzeugungstechnik, die der Moral und politischen Zielen gegenüber, denen sie dient, indifferent ist. Dieser Begriff der Rede fordert Platons Kritik im ‚Gorgias‘ heraus (siehe Platon § 7). Aristoteles erwidert auf solche Kritik, indem er einwendet, dass der Redner lernen und durch die richtigen Prinzipien geführt werden sollte. Einige von diesen umreißt er in der ‚Rhetorik‘. Moralische und politische Prinzipien sind auch relevant für Aristoteles’ Behandlung der Literaturkritik in der ‚Poetik‘. Der erhaltene Teil dieser Abhandlung handelt hauptsächlich von der Tragödie. Einiges davon ähnelt der ‚Rhetorik‘, insofern sie Themen der Technik und der Psychologie behandelt. Aristoteles beschreibt 84
Aristoteles (384–322 v. Chr.)
die verschiedenen Arten von Handlungen, Charakteren und dramatischer Mittel, die das Publikum ergreifen. Es geht ihm aber auch um die moralischen Aspekte der Tragödie; hierin antwortet er vielleicht auf die Kritik der Tragödie in Buch X von Platons ‚Staat‘. Er trägt vor, dass die Tragödie den ihr angemessenen Effekt erreicht, wenn sie das Mitleid, die Angst, die Sympathie und die Abscheu gegenüber den entsprechenden Leuten und in den geeigneten Situationen anspricht, und er prüft von seinem Standpunkt aus die Handlungen und Charaktere verschiedener Tragödien (siehe Katharsis; Mimēsis). 30. Einfluss Einige Aspekte von Aristoteles’ Philosophie sind uns so vertraut geworden, dass wir diese nicht einmal mehr ihm zuschreiben. Wenn wir sagen, dass ein Ereignis reiner ‚Zufall‘ war, oder dass eine ignorante Person ‚schlecht informiert‘ ist, oder dass jemandes Verhalten gutes oder schlechtes ‚Benehmen‘7 zeigt, dann drückt unser Vokabular aristotelische Annahmen aus, dass durch lateinische Übersetzungen und Interpretationen übermittelt wurde. Der ausdrückliche Einfluss von Aristoteles’ philosophischen Werken und Theorien war unterschiedlich. In der hellenistischen Philosophie wird er nicht prominent zitiert oder diskutiert; es wurden sogar Zweifel geäußert, ob die größeren Stoiker seine Werke überhaupt kannten. Vom ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an lebte jedoch das Studium des Aristoteles wieder auf. Dieses Wiederaufleben brachte Philosophen hervor, die aristotelische Positionen verteidigten, die oft mit stoischen oder platonischen Elementen durchsetzt waren, aber manchmal den Gegensatz zwischen Aristoteles und den hellenistischen Schulen schärften. Diese Aristoteliker begannen eine lange Reihe von griechischen Kommentaren (die bis ins 6. Jahrhundert n.Chr. reichten). Viele der späteren Kommentatoren waren Neuplatoniker; einige von ihnen versuchten die aristotelischen Lehren mit den platonischen zu versöhnen (siehe Neuplatonismus; Porphyr). Zwischen dem 6. und dem 13. Jahrhundert war der größte Teil von Aristoteles’ Werk in Westeuropa nicht verfügbar, obwohl er noch im Byzantinischen Reich und der islamischen Welt studiert wurde. Zwei führende Figuren bei der Wiederbelebung der aristotelischen Studien und der aristotelischen Philosophie im mittelalterlichen Europa waren der Übersetzer Wilhelm von Moerbeke und Thomas von Aquin. Thomas’ Versuche, die aristotelische Philosophie mit der orthodoxen christlichen Theologie zu kombinieren, wurden zunächst von den kirchlichen Autoritäten abgelehnt, schließlich aber akzeptiert (siehe Thomas von Aquin). Die ‚scholastische‘ Philosophie von Thomas von Aquin und seinen Nachfolgern steht oft im Gegensatz zu den Lehren von Descartes, Locke, Hobbes und vielen ihrer Nachfolger, wird von ihnen aber ebenso häufig vorausgesetzt. Deren Nachfolger unterscheiden oft nicht zwischen deren und Aristoteles’ eigener Philosophie. Der Leser, der ihre Darstellung der scholastischen Position mit Aristoteles’ eigenen Werken vergleicht (oder mit den Werken von Thomas von Aquin), wird oft überrascht sein über die scharfen Unterschiede zwischen Aristoteles’ (und Thomas von Aquins) eigenen Positionen und jenen, die ihm bzw. ihnen durch die Philosophen des 17. Jahrhunderts zugeschrieben werden, und die ihre Autorität zurückweisen. 7
engl.: habits
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Arithmetik, Philosophische Fragen der
Moderne historische Studien über Aristoteles beginnen im frühen 19. Jahrhundert. Dies führte zu einer philosophischen Neubewertung, und seine Werke wurden ein weiteres Mal die Quelle philosophischer Einsicht und Argumentation. Viele der Themen der aristotelischen Philosophie, z.B. die Natur der Substanz, die Beziehung von Form und Stoff, die Beziehung von Geist und Körper, die Natur der menschlichen Handlung, die Rolle der Tugenden und Handlungen in der Moral, tauchten als Themen in philosophischen Debatten auf, und Aristoteles’ Beiträge zu diesen Debatten haben den Verlauf der philosophischen Diskussion insgesamt beeinflusst. In einiger Hinsicht hat Aristoteles unter seinem Erfolg gelitten. Zu verschiedenen Zeiten wurde er als unanfechtbare Autorität in der Astronomie, der Biologie, der Logik und der Ethik betrachtet; folglich repräsentierte er die traditionellen Positionen, gegen die die Reformer revoltierten. Wenn er weder als unanfechtbare Autorität, noch als Vorratslager für veraltete und verworfene Lehren betrachtet wird, so kann sein fortbestehender philosophischer Wert gerechter eingeschätzt werden. Siehe auch: Archē; Sein; Veränderung; Dualismus; Freundschaft; Metaphysik; Pneuma; Teleologische Ethik; Tugenden und Laster; Tugendethik; Wandel; Zeitform und Logik Anmerkungen und weitere Lektüre: Ackrill, J.L. (1981): ‚Aristotle the Philosopher‘, Oxford: Oxford University Press. (Dieses und Barnes [1982] sind die besten englischsprachigen Kurzeinführungen.) Barnes, J. (1982): ‚Aristotle‘, Oxford: Oxford University Press. T.H. IRWIN
Arithmetik, Philosophische Fragen der
Die Philosophie der Arithmetik bezieht ihre spezielle Eigenart aus Fragen, die sich aus dem Status der Prinzipien der mathematischen Induktion ergeben. Tatsächlich ist es genau der Punkt, wo der Beweis durch Induktion in Anspruch genommen wird, wo auch die Arithmetik aufhört, trivial zu sein. Die Aussagen der elementaren Arithmetik, d.h. quantorenfreie Sätze wie z.B. ‚7 + 5 = 12‘, können mechanisch entschieden werden: sobald wir die Rechenregeln kennen, lässt sich kaum noch ein mathematisches Interesse an diesen Fragen ausmachen. Sobald wir aber Sätze mit mehr als einem Allquantor ‚∀’ erlauben, d.h. Sätze von der Form ‚(∀x) f (x) = 0‘, haben wir keine Entscheidungsprozedur, und zwar weder im Prinzip, noch in der Praxis, und können damit eines der tiefgründigsten und schwierigsten Probleme der Mathematik angeben. (Goldbachs Vermutung, dass jede gerade Zahl größer als 2 die Summe zweier Primzahlen ist, aufgestellt im Jahre 1742 und immer noch ungelöst, ist auch von dieser Art.) Es scheint nahe zu liegen, für einen Teil dessen, was wir unter natürlichen Zahlen verstehen, zu verlangen, dass sie dem Prinzip der Induktion gehorchen. Dies erweist sich jedoch als eine Form von Zirkularität, die unter dem Namen ‚Imprädikativität‘ bekannt ist: die Behauptung eines Prinzips bringt die Quantifizierung über Eigenschaften von Zahlen mit sich, um aber die Quantifizierung zu verstehen müssen wir von einem vorangehenden Begreifen des Zahlbegriffs ausgehen, den wir doch aber gerade definieren wollten. Es ist heutzutage ein Gemeinplatz, einen Unterschied zwischen imprädikativen Definitionen, die unerlaubt sind, und imprädikativen Angaben, gegen die kein Einwand besteht, zu machen. Den Schluss, den wir 86
Arnauld, Antoine (1612–1694)
in diesem Falle ziehen sollten, ist der, dass das Prinzip der Induktion für sich selbst betrachtet keinen nicht-zirkulären Weg zum Verständnis des Zahlbegriffs anbietet. Wir brauchen deshalb ein unabhängiges Argument. Vier weit angelegte Strategien wurden hierzu vorgelegt, über die wir nun wiederum nachdenken müssen. Siehe auch: Frege, G.; Husserl, E. MICHAEL POTTER
Arnauld, Antoine (1612–1694)
Antoine Arnauld, ein führender Theologe und kartesischer Philosoph, war einer der wichtigsten und interessantesten Figuren des 17. Jahrhunderts. Als der prominenteste Fürsprecher und Verteidiger der Jansenistischen Gemeinschaft in Port-Royal, widmete Arnauld fast sein gesamtes Bemühen theologischen Angelegenheiten. Schon von früh an, durch seine weitgehend konstruktiven Einwände gegen Descartes’ ‚Meditationen‘ aus dem Jahre 1641, begründete er seinen Ruf als ein analytisch rigoroser und verständnisvoller, philosophischer Denker. Er wurde schließlich Descartes’ gläubigster und vehementester Verteidiger. Er entdeckte die kartesische Metaphysik, speziell den Geist-Körper-Dualismus, als sehr wertvoll für die christliche Religion. In einer feierlichen Debatte mit Nicolas Malebranche entwickelte Arnauld so etwas wie eine direkte, realistische Darstellung der Wahrnehmungsvertrautheit, indem er vorbrachte, dass die repräsentierenden Ideen, d.h. menschliches Wissen und sinnliche Wahrnehmungen, nicht immaterielle Gegenstände gesondert von den Wahrnehmungen des Geistes seien, sondern diese Wahrnehmungen selbst. Seine Kritik an Leibniz gab den Anstoß zu einer weiteren wichtigen Debatte. Er war ferner Mitautor der so genannten ‚Port-Royal Logik‘, der berühmtesten und erfolgreichsten Logik der frühen Neuzeit. Die allen philosophischen Schriften von Arnauld zugrunde liegenden Motive waren jedoch theologischer Natur, und seine größte Sorge galt der Bewahrung von Gottes Allmacht und der Verteidigung dessen, was er als die eigentliche katholische Sichtweise gegenüber Fragen der Gnade und der göttlichen Vorsehung auffasste. Siehe auch: Dualismus; Freiheit, göttliche; Wahrnehmung STEVEN NADLER
Arten
Die Verschiedenheit des Lebens ereignet sich nicht vollkommen kontinuierlich, sondern in relativ gesonderten ‚Paketen’ oder ‚Abschnitten’, die ‚Arten’ genannt werden. Ist nun ein solcher Entwicklungsabschnitt wirklich gegeben, oder ist er nur eine Erfindung unserer beschränkten zeitlichen Perspektive auf die Geschichte des Lebens? Wenn alle lebenden Formen von einigen wenigen Vorfahren abstammen, dann könnte es auch keine wirkliche Unterscheidung zwischen lebenden und alten Formen oder zwischen eng verwandten lebenden Wesen geben. Anerkannte Lehren meinen, dass die Arten die ‚Grundeinheiten der biologischen Evolution’ darstellten, denn sie seien es, die sich entwickeln. Sie seien das ‚Ergebnis’ eines evolutionären Prozesses. Doch wenn Arten, und nicht die Organismen, aus denen sie bestehen, miteinander konkurrieren, dann wären sie auch wichtige Akteure im evolutionären Prozess. Wenn dies so ist, dann sind Arten in der Tat wirkliche Einheiten der Natur und nicht nur willkürliche Segmente einer unterschiedslosen Mannigfaltigkeit.
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Askese
Das sog. ‚Artenproblem’ wurde aus zwei Perspektiven erforscht. Der eine Schwerpunkt lag auf bestimmten Taxonomien des Lebensbaumes. Was wäre damit gewonnen, wenn irgendein willkürlich gewählter Organismus zum Element der Menge der homo sapiens oder jener der canis familiaris erklärt würde? Diese Frage ist auch als das ‚Artentaxonomie-Problem’ bekannt. Ein alternativer Weg, sich dieser Mannigfaltigkeit zu näher, war die Frage, was alle Arten gemeinsam haben. Was ist allen Populationen gemeinsam, von denen wir meinen, sie seien eine Art? Dies ist das ‚Artenkategorie-Problem’. Eine wieder andere Idee lautet, die Organismen in Arten zu gruppieren, indem man auf ihre allgemeine Ähnlichkeit schaut. Diese phänomenale Konzeption ist jedoch rückläufig. Die meisten gegenwärtigen Artendefinitionen sind indessen relationaler Art, d.h. die Pilze, die zur Art lentinula edodes gehören, sind eine Art, nicht etwa weil sie sich alle ähneln, denn sie ähneln nämlich auch anderen Pilzarten, sondern infolge ihrer Beziehungen zueinander und zu ihren Vorfahren. Die berühmteste relationale Definition ist der ‚Begriff der biologischen Arten’, nach dem zur selben Art gehörende Organismen solche sind, die gekreuzt werden können, wie verschieden sie auch immer ausschauen mögen. Die Definition der relationalen Arten zielt auf eine Kategorisierung ab, die von theoretischem und explanatorischem Interesse für die Evolutions- und die Umwelttheorie ist. Da es jedoch viele explanatorische Interessen gibt, ist eines der Probleme, die daraus folgen, die Bewertung dieser Darstellungen zur Ermittlung, ob sie wirklich Erklärungskonkurrenten sind. Siehe auch: Evolution, Theorie der; Taxonomie KIM STERELNY
Askese
Der Ausdruck ‚Askese‘ ist von dem griechischen Wort askēsis abgeleitet, das sich ursprünglich auf jene Übung, Praxis oder das Training bezog, dem sich die Athleten unterzogen. Die Askese lässt sich als ein freiwilliges, anhaltendes und systematisches Programm der Selbstdisziplin und Selbstverleugnung charakterisieren, in dem auf unmittelbare, sinnliche Belohnung verzichtet wird, um irgendeinen geschätzten geistigen Zustand zu erreichen. Asketische Praktiken finden sich in allen größeren religiösen Traditionen der Welt, wurden aber oft von den Philosophen kritisiert. Einige wandten ein, dass die religiösen Lehren, die sie vorschreiben, falsch oder unvernünftig sind. Andere behaupten, dass sie eine Vorliebe für den Schmerz ausdrücken, mit der die Menschen nicht konsistent umgehen. Siehe auch: Religion und Moral; Sexualität, Philosophie der PHILIP L. QUINN
Ästhetik Einführung Die Ästhetik verdankt ihren Namen Alexander Baumgarten, der ihn vom griechischen aisthanomai ableitete, was soviel wie ‚durch die Sinnesorgane wahrnehmen‘ bedeutet. Der Begriffsgegenstand wird nunmehr so verstanden, dass er aus zwei Teilen besteht: der Kunstphilosophie und der Philosophie ästhetischer Erfahrung bzw. des Charakters von Gegenständen oder Phänomenen, die nicht Kunst sind. Nicht-künstlerische Gegenstände umfassen sowohl Artefakte, die Aspekte ästheti88
Ästhetik
scher Wertschätzung aufweisen, als auch Phänomene, die keinerlei Spuren menschlicher Gestaltung aufweisen, weil sie natürlicher und nicht menschlicher Herkunft sind. In welcher Beziehung stehen nun diese beiden Seiten des Begriffsgegenstandes zueinander: ist der eine Teil des Ästhetischen grundlegender als der andere? Offenkundig gibt es hier zwei Möglichkeiten. Die erste besagt, dass die Kunstphilosophie grundlegend ist, weil jegliche ästhetische Wertschätzung von Dingen, die keine Kunst sind, auf eine Weise geschieht, als seien sie Kunst. Die zweite besagt, dass es einen einheitlichen Begriff des Ästhetischen gibt, der sowohl auf die Kunst, als auch auf die Nicht-Kunst anwendbar ist; dieser Begriff definiert die Idee der ästhetischen Wertschätzung als interesseloses Wohlgefallen an den unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes um ihrer selbst willen; und künstlerische Wertschätzung ist schlicht die ästhetische Wertschätzung künstlerischer Produkte. Keine dieser beiden Möglichkeiten ist jedoch plausibel. Die erste steht für die ästhetische Wertschätzung der Natur insofern, als diese wesentlich durch Vorstellungen geformt sein soll, die der Wertschätzung von Kunst eigen ist, wie z.B. der Stil, die Bezugnahme auf psychische Zustände und deren Ausdruck. Damit aber jenes merkwürdige Gefühl der Erfahrung des Sublimen – das womöglich durch die überwältigende Größe des Universums hervorgerufen wird, wie sie sich durch die große Anzahl Sterne am nächtlichen Himmel offenbart (siehe Sublime, das) – zu einem ästhetischen wird, oder die Schönheit einer Blume Gefallen auslöst, ist es nicht notwendig, sich diese Gegenstände als Kunstwerke vorzustellen. Tatsächlich bestimmt sich ihre ästhetische Wertschätzung gerade durch die Abwesenheit jener für Kunstwerke spezifischen Merkmale, und vielleicht auch durch ihre Ausstattung mit Merkmalen, die nur der Natur eigen sind (siehe Natur, ästhetische Wertschätzung der). Die zweite wird nicht der Bedeutung einiger Merkmale von Kunstwerken für die künstlerische Wertschätzung gerecht, die nicht der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich sind, wie z.B. ihre Herkunft und ihre Stellung im Werk des Künstlers. Eine etwas präzisere Sichtweise stellt die beiden Teilbereiche des Gegenstandes als auf eine lockerere Weise aufeinander bezogen dar, als jede einzelne dieser Positionen dies anerkennt, wobei jeder Teil eine Vielgestaltigkeit in sich selbst aufweist, und beide durch eine Reihe gemeinsamer Punkte oder Gegensätzlichkeiten miteinander verbunden sein und dennoch beachtliche Unterschiede hinsichtlich der Sachbereiche aufweisen soll, denen sie zugeordnet sind. Tatsächlich sind viele der betreffenden Fragestellungen kunstphilosophischer Art, obwohl einige von ihnen in beiden Teilbereichen anzutreffen sind, und einige wenige von ihnen nur die Ästhetik der nicht-künstlerischen Gegenstände betreffen. Darüber hinaus fällt nicht jeder Gegenstand ästhetischer Wertschätzung genau auf eine Seite der Kunst-/Nicht-KunstUnterscheidung, so dass die Wertschätzung manchmal sowohl Elemente der künstlerischen, als auch der nicht-künstlerischen Wertschätzung mit sich bringt (siehe: Umweltethik). Sowohl Kunstwerke, als auch andere Gegenstände können spezifisch ästhetische Eigenschaften wie z.B. Schönheit und Anmut aufweisen. Besitzen sie Eigenschaften dieser Art, so werden sie auch solche Eigenschaften haben, die nicht spezifisch ästhetischer Art sind, wie beispielsweise ihre Größe und Form. Und sie werden einer ästhetischen und nicht-ästhetischen Wertschätzung zugänglich sein und damit ästhetischen und nicht-ästhetischen Urteilen. Was unterscheidet die Ästhetik eines 89
Ästhetik
Dinges von seinen nicht-ästhetischen Eigenschaften, und welche Fähigkeiten sind wesentlich dafür, ästhetische Eigenschaften entdecken zu können (siehe Ästhetische Begriffe)? Was ist das Wesen ästhetischer Wertschätzung? Man dachte häufig, dass es eine besondere ästhetische Einstellung gebe, die ästhetisch zu unterscheiden vermag: man müsse also diese Haltung annehmen, damit einem die ästhetischen Eigenschaften eines Dinges deutlich werden, und wenn man diese Haltung annehme, dann sei man im Zustand ästhetischer Kontemplation (siehe Ästhetische Einstellung). Diese angenommene Einstellung hielt man dann für eine interesselose Betrachtung, die sich auf die dem Ding innewohnenden, nicht-relationalen, unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften richten. Vielleicht ist diese Sichtweise des ästhetischen Interesses als interesselose Aufmerksamkeit das Produkt einer maskulinen Voreingenommenheit, womit die Vermutung einer Machtstellung gegenüber dem beobachteten Gegenstand einhergeht, mithin der Niederschlag eines maskulinen Privilegs und ein Ausdruck des typisch ‚männlichen Anstarrens‘. Eine weitere Idee ist, dass das Gewahrwerden der ästhetischen Eigenschaften eines Gegenstandes das Produkt einer besonderen Wahrnehmungsart ist. Diese Idee widerspricht der Behauptung, dass dieses Gewahrwerden nicht mehr als die Projektion der Beobachterreaktion auf den Gegenstand sei. Die Schönheit eines Gegenstandes ergäbe sich damit als eine relationale, geistesabhängige Eigenschaft, d.h. als eine Eigenschaft, die ihm kraft seiner Fähigkeit zu einer gewissen Affizierung von Beobachtern zukommt. Aber welcher Beobachter und auf welche Weise? Und kann die Zuschreibung der Schönheit, die oft eine universelle, überpersönliche Gültigkeit erheischt, jemals diesen Status erreichen (siehe Schönheit)? Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant entwickelte den Begriff des ästhetischen Urteils als eines solchen, das im Empfinden der Lust oder Unlust begründet ist; er bestand darauf, dass das reine ästhetische Urteil über einen Gegenstand von keinem Begriff berührt ist, unter den dieser Gegenstand fallen mag, und er versuchte zu zeigen, dass der implizite Anspruch eines solchen Urteils auf allgemeine Gültigkeit gerechtfertigt ist. Wie annehmbar ist aber seine Konzeption des ästhetischen Urteils, und wie erfolgreich ist sein Versuch der Rechtfertigung von Ansprüchen des reinen ästhetischen Urteils (siehe Kant, I. § 12)? 1. Kunstästhetik 2. Ästhetik und Kunst 1. Kunstästhetik Die spezifischen Fragen der Kunstphilosophie sind von dreierlei Art: die einen stellen sich nur innerhalb einer bestimmten Kunstform oder einer Gruppe aufeinander bezogener Künste (z.B. der Künste, die dieselben Sinne ansprechen), andere stellen sich für eine Mehrzahl von Künsten heterogener Natur, und wieder andere sind vollkommen allgemeiner Natur und folglich notwendig auf alles anwendbar, was als Kunst bezeichnet werden kann. Kommen wir nun zu einigen der augenfälligsten Tatsachen der Kunst. Nicht alles ist Kunst. Künstler erschaffen Kunstwerke, an denen sich die Geschicklichkeit, das Wissen und die Persönlichkeit ihrer Schöpfer zeigt, und sie realisieren deren Ziele erfolgreich oder auch nicht. Kunstwerke können auf verschiedene Weise ausgelegt, verstanden und missverstanden werden, oder auch den Geist verwirren.
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Ästhetik
Sie können analysiert, gepriesen oder kritisiert werden. Obwohl Kunstwerke auf zahlreiche Arten wertvoll sein können, ist ihr spezifischer Wert doch jener als Kunstwerk. Der Charakter eines Kunstwerks verleiht ihm diesen bestimmten Wert in einem mehr oder weniger großen Umfange. Folglich scheint die fundamentalste und allgemeinste Frage die Kunst betreffend jene zu sein: was ist Kunst? Ist es möglich, Kunst von Nicht-Kunst im Wege einer Darstellung zu unterscheiden, die das Wesen der Kunst definiert, oder sind die Künste zu locker miteinander verbunden, um ein gemeinsames Wesen besitzen zu können, das sich unter eine Definition bringen lässt (siehe Kunst, Definition der)? Wie die Antwort auf diese Frage auch immer ausfallen mag, gleich ist ihr noch eine weitere, vollkommen allgemeine Frage auf den Fersen. Sie betrifft die Ontologie der Kunst, d.h. die Gegenstandsart, unter die ein Kunstwerk fällt. Fallen einige Kunstwerke unter die ontologische Kategorie der Einzelheiten und einige andere wiederum unter jene andere der Typen, oder fallen sie alle unter dieselbe Kategorie (siehe Kunstwerke, Ontologie der)? Und dieser folgen rasch eine Reihe noch weiterer und wichtiger Fragen. Worin besteht der künstlerische Wert eines Kunstwerks, und welche seiner Aspekte sind dafür relevant bzw. bestimmen seinen Wert? Ist der Wert eines Kunstwerks als Kunstwerk eines seiner inneren Merkmale oder ein ihm äußerliches? Ist es allein durch seine Form bestimmt oder durch bestimmte Aspekte seines Inhalts, wie z.B. seiner Wahrheit oder seiner moralischen Sensibilität? Können Urteile über den Wert eines Kunstwerks mit Recht den Anspruch auf universelle Zustimmung erheben, oder sind sie lediglich Ausdruck subjektiver Vorlieben? Und in welcher Beziehung steht der Wert eines Kunstwerks an sich mit anderen der ihm zukommenden Werte, und wie wichtig ist er ihnen gegenüber (siehe Kunst, Wert der; Formalismus in der Kunst; Kunst und Wahrheit; Kunst und Moral; Schiller, J.C.F.)? Was ist über die normalen Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Intellekts hinaus erforderlich, um die maßgeblichen Eigenschaften von Kunstwerken zu entdecken, und wie können Urteile begründet werden, die ihnen solche Eigenschaften zuschreiben? Welche Formen von Verständnis sind bei der künstlerischen Wertschätzung beteiligt, und muss eine akzeptable Interpretation eines Kunstwerks mit jeder anderen akzeptablen Interpretation vereinbar sein (siehe Kunst, Verständnis von)? Auf welche Weise bestimmt die Absicht des Künstlers die Bedeutung seines Werks (siehe Künstlers, Absicht des)? Was ist der Stil eines Künstlers und welche Rolle spielt er bei der Wertschätzung des Werks dieses Künstlers? 2. Ästhetik und Kunst Eine Frage stellt sich nur eine kleine Gruppe von Kunstformen, und zwar jene das Wesen der abbildenden Darstellung betreffend8. Man könnte denken, dass der Analyse des Wesens der abbildenden Darstellung in der Kunstphilosophie keine besondere Bedeutung zukommt, denn die bildliche Darstellung ist außerhalb der Kunst genauso häufig wie in der Kunst. Dabei übersieht man aber, dass man wirkliche Klarheit darüber, wie Bilder einen Wert als Kunstwerk erlangen können, nur durch ein anspruchsvolles Verständnis dessen erlangen kann, was ein Bild ist, sowie der psychologischen Ressourcen, derer es bedarf um zu begreifen, was es darstellt. Was ist es also, das aus einer Oberfläche etwas macht, so dass es ein Bild eines Gegenstandes oder Sachverhaltes ist? Muss diese Oberfläche so gestaltet sein, dass sie eine 8
engl.: depiction
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Ästhetik
bestimmte Art visueller Erfahrung hervorruft, und müssen die Funktionen der Mittel, durch welche ein solches Muster produziert wird, oder die Absicht der Person, die es schuf, darauf abzielen, Merkmale der sichtbaren Welt zu replizieren? Oder ist das Bild Mitglied einer ganz bestimmten Art von Symbolsystem, das ohne den Rückgriff auf irgendwelche spezifischen visuellen Konzepte definiert werden kann (siehe Abbildung)? Eine weitere Frage mit beschränkter Anwendbarkeit betrifft die unterscheidende Natur und den Wert eines einzelnen künstlerischen Genres, die Reaktion, die es in uns verstärkt, und die Einsichten in das menschliche Leben, die es enthält und von sich gibt. Während beispielsweise eine Komödie unsere Fähigkeit anspricht, etwas lustig zu finden, berührt eine Tragödie unsere Fähigkeit, sich durch das Schicksal eines anderen Individuums bewegt zu fühlen, und erotische Kunst zielt auf eine sexuelle Reaktion ab. Dieser Unterschied der emotionalen Antworten im Kern des Genres geht Hand in Hand mit den unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Lebens, die sie darstellen (siehe Komödie; Gefühl als Erwiderung auf die Kunst; Humor; Tragödie). Die Fragen betreffend das individuelle Wesen und die Möglichkeiten verschiedener Künste umfassen auch solche, die sich speziell auf eine bestimmte Kunstform beziehen, und einige, die sich auch auf andere Künste beziehen. Auf der einen Seite richten sich relativ wenige Künste (z.B. die Architektur und Töpferei) auf die Herstellung von Dingen, die zur Erfüllung nicht-künstlerischer Zwecke gedacht sind, oder die gewöhnlich so geartet sind, dass sie einem praktischen Nutzen dienen, und folglich ist die Frage nach der Relevanz ihres künstlerischen Wertes im Hinblick auf ihren praktischen Gebrauch oder ihre Erscheinung für den praktischen Gebrauch, d.h. jene nach ihrer beabsichtigtermaßen nicht-künstlerischen Funktion auf solche Kunstformen beschränkt (siehe Architektur, Ästhetik der). Und nur in einigen Künsten erfährt der Betrachter eine aktuelle Aufführung9 der jeweiligen Arbeit, so dass Fragen betreffend den Beitrag des Ausführenden zur Interpretation des Kunstwerks oder zur Bewertung unterschiedlicher Aufführungen desselben Werks auf solche Künstler beschränkt sind. Und da nur einige Kunstwerke (z.B. Romane, Theaterstücke oder Filme) eine Geschichte erzählen, und auch nur einige sich auf fiktive Personen oder Ereignisse beziehen, sind auch Fragen betreffend die Mittel, mit denen eine Geschichte erzählt oder wie Referenzen zu fiktiven Gegenständen verstanden werden sollten, innerhalb der Kunst nur beschränkt anwendbar (siehe Erzählung; Fiktive Entitäten). Andererseits erlauben es die meisten, wenn nicht alle Kunstwerke im Rahmen ihres Gegenstandsgebietes, im Hinblick auf ihren Ausdruck psychischer Zustände korrekt wahrgenommen zu werden, und werfen daher die Frage auf, was es an einem Kunstwerk ausmacht, dass es zu einem solchen Ausdruck imstande ist (siehe Ausdruck, Künstlerischer). Die Mittel zum Ausdruck psychischer Zustände sind unter den Kunstformen zahlreich: die Dichtkunst besteht aus Worten, der Tanz bedient sich des menschlichen Körpers, und Instrumentalmusik nutzt nichts anderes als Klänge. Und diese unterschiedlichen künstlerischen Medien setzen auch den Arten von Zuständen unterschiedliche Grenzen, die durch Kunstwerke ausgedrückt werden können, d.h. der besonderen Artung dieser Zustände, und damit der Bedeutung der expressiven Merkmale der Produkte innerhalb einer Kunstform (siehe Gurney, E.). Ferner ist es hinsichtlich der zahlreichen Künste 9
engl.: performance
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Ästhetik und Ethik
eine allgemeine Wahrheit und betrifft nicht nur ihren Ausdruck, dass das Erreichbare innerhalb einer Kunstform vom Wesen des Mediums bestimmt ist, dessen sich diese Kunstform bedient. Daraus folgt, dass eine adäquate Kunstphilosophie die Vielfalt dieser Medien untersuchen und die jeweiligen Vorteile erhellen muss, die sie leiten, sowie die von ihnen gesetzten Grenzen (siehe Film, Ästhetik des; Hanslick, E.; Langer, S.K.K.; Lessing, G.E.; Musik, Ästhetik der; Oper, Ästhetik der; Malerei, Ästhetik der; Photographie, Ästhetik der; Dichtung). Siehe auch: Ästhetik und Ethik; Belinskij, V.G.; Metapher, Rhetorik; Tolstoi, L.N. Anmerkungen und weitere Lektüre: Hegel, G.W.F. (1835): ‚Vorlesungen über die Ästhetik I–III‘, Werke [in 20 Bänden], Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13–15, Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt/Main 1986. Kant, I. (1790): ‚Kritik der Urteilskraft‘, ‚Akademie-Ausgabe‘ der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (bisher 29 Bände). Für das Studium geeignet und allgemein anerkannt ist die Ausgabe von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956–1964 bzw. seitengleich Frankfurt/Main in 12 Bänden (Suhrkamp Reihe stw). MALCOLM BUDD
Ästhetik und Ethik
Der Gegensatz zwischen dem ethischen und dem ästhetischen Urteil, der einen guten Teil des Gegenstandes der Ästhetik ausmacht, stammt in weiten Bereichen von Immanuel Kants besonderer Sichtweise der Moralität als einer Reihe von Imperativen ab, die sich in Übereinstimmung mit den Vorgaben der praktischen Vernunft ergeben, während das Geschmacksurteil für ihn auf keinem Prinzip beruhte. Dies hat sogar Nicht-Kantianer zu der Annahme geführt, dass es dem ästhetischen Urteil primär, so wie der Kunst selbst, um die Einzigartigkeit geht, während es die Moral hauptsächlich mit wiederholbaren Handlungen zu tun hat. Hieraus folgt die Neigung zu einer Trennung der Kunst von anderen menschlichen Aktivitäten, wobei diese Neigung unterstützt wurde durch Sammlungen nutzloser Gegenstände durch sog. ‚Connoisseurs‘, die Ausdrücke aus der traditionellen Sprache religiöser Kontemplation in ihr Vokabular der Wertschätzung dieser Gegenstände übernahmen. Dieser Standpunkt wurde wiederum leidenschaftlich durch die idealistischen Ästhetiker angegriffen, die beanspruchten, dass die Kunst eine Erhöhung der gewöhnlichen menschlichen Tätigkeit des Ausdrückens von Gefühlen ist, und zwar bis zu einem Punkt, wo sie als erhellend erfahren und geschildert werden, was man im täglichen Leben nicht von ihnen sagen kann. Marxistische Ästhetiker, deren Wurzeln als Idealisten in derselben Tradition liegen, machen geltend, dass Kunst immanent politisch sei, und dass das Reich der ‚reinen ästhetischen Erfahrung‘ eine Einbildung sei. Inzwischen hat die analytische Tradition in der Ästhetik viel Mühe darauf verwandt, die an Kant angelehnten Positionen zu erweitern, ohne ihre historischen Bedingungen zu übernehmen. Es besteht die Neigung, der Arbeitsweise der Moralisten, die den Gang der Handlungen vorschreiben, jener der Kritiker gegenüberzustellen, deren einzige Aufgabe es dann nur sein kann, auf jene unwiederholbaren Merkmale hinzuweisen, die ein Kunstwerk ausmachen. Siehe auch: Kunst und Moral; Kunst, Wert der; Ethik; Kant, I § 12 MICHAEL TANNER 93
Ästhetische Begriffe
Ästhetische Begriffe
Ästhetische Begriffe sind solche, die in Verbindung mit Ausdrücken, die sich in Beschreibungen und Bewertungen von Erfahrungen, an denen künstlerische und ästhetische Gegenstände und Ereignisse beteiligt sind, auf deren ästhetische Eigenschaften beziehen. Die wissenschaftstheoretischen, psychologischen, logischen und metaphysischen Fragen, die sich aus diesen Eigenschaften ergeben, sind jenen analog, die sich aus den entsprechenden Begriffen ergeben. Im 18. Jahrhundert bemühten sich Philosophen wie Edmund Burke und David Hume um eine empirische Erklärung ästhetischer Begriffe wie z.B. der Schönheit, indem sie diese mit physischen und psychologischen Erwiderungen in Verbindung brachten, die die verschiedenen Arten individueller Erfahrung von Gegenständen und Ereignissen typisieren. Damit meinten sie das objektive Fundament persönlicher Reaktionen ausfindig zu machen. Immanuel Kant bestand darauf, dass ästhetische Begriffe ihrem Wesen nach subjektiv sind, die in persönlichen Empfindungen der Lust und des Schmerzes wurzeln. Er wandte aber ein, dass ihnen eine Art von Objektivität eigen ist, weil auf einer rein ästhetischen Ebene die Empfindungen der Lust und des Schmerzes universelle Reaktionen sind. Im 20. Jahrhundert sind die Philosophen über die menschliche Geschmacksfähigkeit zeitweise wieder zur Humeschen Analyse ästhetischer Begriffe zurückgekehrt, und sie erweiterten diese psychologische Darstellung durch den Versuch zur Etablierung einer erkenntnistheoretischen oder logischen Einzigartigkeit ästhetischer Begriffe. Viele von ihnen wandten ein, dass trotz des Fehlens ästhetischer Gesetze (wie z.B. ‚Alle Rosen sind schön‘ oder ‚Wenn eine Symphonie vier Sätze hat und die Regeln der barocken Harmonielehre befolgt, so ist sie angenehm‘) ästhetische Begriffe gleichwohl eine bedeutungsvolle Rolle in Diskussionen und Auseinandersetzungen spielen. Andere wiederum wandten ein, dass ästhetische Begriffe ihrem Wesen nach nicht von anderen Begriffsarten zu unterscheiden sind. Aktuellere Theoretiker gehen davon aus, dass ästhetische Begriffe kontextabhängig sind, d.h. beispielsweise aus sozialen Gebräuchen und Praktiken heraus konstruiert sind. Ihre Theorien leugnen oft, dass ästhetische Begriffe universell sein können. Zum Beispiel gibt es keine Garantie dafür, dass der Ausdruck ‚Harmonie‘ in unterschiedlichen Kulturen dieselbe Bedeutung hat; womöglich wird er in manchen überhaupt nicht verwendet. Siehe auch: Ästhetische Einstellung; Kunstkritik; Kunst, Definition der; Baumgarten, A.G.; Schönheit; Sublime, das MARCIA EATON
Ästhetische Einstellung
Es lässt sich nicht leugnen, dass es ästhetische und nicht-ästhetische Einstellungen gibt. Gibt es aber so etwas wie die ästhetische Einstellung an sich? Der Ausdruck ‚ästhetische Einstellung‘ bezeichnet die besondere Art und Weise, auf die wir etwas betrachten, wenn wir ein ausschließlich ästhetisches Interesse daran haben. Dies setzt voraus, dass in allen Fällen des Auftretens eines ästhetischen Interesses der Gegenstand, dem es zugewandt wird, auf eine identische Weise betrachtet wird, die für jeden solcher Fälle einzigartig ist. Diese Annahme ist freilich problematisch. Wenn die Identität einer Einstellung durch die Merkmale bestimmt ist, auf die sie sich richtet, wenn ferner ein ästhetisches Interesse an einem Gegenstand per defini-
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Atheismus
tionem ein Interesse an seinen ästhetischen Qualitäten ist, und wenn schließlich der Begriff von den ästhetischen Qualitäten gleichförmig erklärt werden kann, dann gibt es auch eine einheitliche ästhetische Einstellung, nämlich das Interesse an den ästhetischen Qualitäten einer Sache. Diese Konzeption der ästhetischen Einstellung ist allerdings nicht zur Erreichung des Hauptziels derer geeignet, die das Bestehen einer ästhetischen Einstellung behauptet haben. Deren Ziel ist die Definition des Ästhetischen. Die ästhetische Einstellung setzt aber, wenn man sie als irgendeine Einstellung versteht, in deren Mittelpunkt die ästhetischen Qualitäten eines Gegenstandes stehen, die Idee des Ästhetischen voraus und taugt folglich nicht zu ihrer Analyse. So stellt sich also die Frage, ob es ein Charakteristikum des Ästhetischen gibt, das sein Wesen beschreibt, ohne ausdrücklich oder implizit auf den Begriff des Ästhetischen zurückzugreifen. Zur Annahme eines solchen besteht jedoch kein begründeter Anlass. Folglich gibt es so etwas wie eine ästhetische Einstellung nicht, sofern dies etwas sein soll, das sowohl notwendig, als auch hinreichend das ästhetische Interesse bedingt, und das unabhängig vom Ästhetischen charakterisiert werden kann. Siehe auch: Ästhetische Begriffe MALCOLM BUDD
Atheismus
Atheismus ist die Einstellung, aus der heraus man behauptet, dass Gott nicht existiert. Er bedeutet positiver Unglaube und nicht nur die Aufhebung des Glaubens. Da viele unterschiedliche Götter Gegenstand des Glaubens gewesen sind, so kann man Atheist im Hinblick auf einen Gott sein, während man an die Existenz anderer dennoch glaubt. In den Religionen des Westens, d.h. dem Judaismus, dem Christentum und dem Islam, ist die herrschende Idee von Gott die eines rein spirituellen, übernatürlichen Wesens, das das vollkommene Gute ist, ein allmächtiger, allwissender Schöpfer von allem anderen außer sich selbst. In dem hier verwendeten, engen Sinne des Ausdrucks ist ein Atheist jeder, der nicht an die Existenz von einem solchen Wesen glaubt, während ein Atheist im weiteren Sinne jemand ist, der die Existenz von jeder Art göttlicher Realität leugnet. Die Rechtfertigung des Atheismus im engen Sinne setzt voraus zu zeigen, dass die traditionellen Argumente für die Existenz Gottes untauglich sind und ferner positive Gründe für die Annahme, dass es ein solches Wesen nicht gibt. Die Atheisten kritisierten die herkömmlichen Argumente für den Glauben und versuchten den positiven Unglauben mit dem Argument zu rechtfertigen, dass die Eigenschaften, die man diesem Wesen zuschreibt, inkohärent sind, und dass der Umfang und die Bedrohlichkeit des Bösen in der Welt stark dafür sprechen, dass es ein solch allmächtiges, vollkommen gutes Wesen, dass das Böse unter Kontrolle hat, nicht gibt. Siehe auch: Agnostizismus; Bösen, Das Problem des; Gott, Argumente für die Existenz von ; Gott, Begriffe von WILLIAM L. ROWE
Atomismus, Antiker
Der antike griechische Atomismus, der mit Leukipp und Demokrit im 5. Jahrhundert v.Chr. beginnt, kam als Antwort auf die Probleme des Kontinuums auf, dass wiederum durch die eleatischen Philosophen aufgebracht worden war. Mit der Zeit zeigte sich eine Unterscheidung, speziell im epikureischen Atomismus (im frühen
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Aufklärung, Kontinentaleuropäische
dritten Jahrhundert v. Chr.), und zwar zwischen physisch unteilbaren Partikeln, die Atome genannt wurden, und absolut unteilbaren oder ‚teillosen‘ Größen. Siehe auch: Demokrit; Epikureismus; Gassendi, P.; Leukipp; Lucretius; Materie; Stoizismus DAVID SEDLEY
Atomismus im 17. Jahrhundert Siehe: Gassendi, Pierre
Aufklärung, Kontinentaleuropäische
Die Aufklärung wird häufig als eine Bewegung im Namen der Freiheit und der Vernunft und als eine gegen den dogmatischen Glauben und seine sektiererischen und barbarischen Folgen in der Geschichte der westlichen Zivilisation dargestellt. Viele Kommentatoren, die sich dieser Sichtweise anschließen, erachten die kosmopolitische Opposition der Aufklärung gegen die Priestertheologie allerdings selbst als gefährlich intolerant, insofern sie ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft und deren Mannigfaltigkeit zu stark den uniformen Idealen der individuellen Selbstständigkeit verpflichtet ist, oder auch in ihrem Versuch, die menschliche Natur im Lichte der Naturwissenschaften umzudeuten. Moderne Diskussionen über das Wesen der Aufklärung gehen auf Kontroversen des 18. Jahrhunderts über die Künste und Wissenschaften zurück, sowie über die Idee des Fortschritts, der Vernunft und der politischen Konsequenzen ihrer Förderung. Selbst wenn sie gemeinsamen Zielen folgten, waren sich die Philosophen des 18. Jahrhunderts doch selten über die substanziellen Fragen der Erkenntnistheorie oder der Politik einig. Wenn sie überhaupt zu einer Einheit fanden, dann nur über ihren kollektiven Skeptizismus bei der Zurückweisung universalistischer Ansprüche einer unkritischen Theologie, aber auch im Ausdruck ihres Abscheu gegenüber den Verbrechen, die im Namen einer angeblich heiligen Wahrheit begangen wurden. Siehe auch: Aufklärung, schottische ROBERT WOKLER
Aufklärung, schottische
Der Ausdruck ‚schottische Aufklärung‘ bezieht sich auf eine intellektuelle Bewegung in Schottland ungefähr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Viele Theoretiker schlossen sich ihr an; die bekanntesten unter ihnen sind David Hume, Adam Smith und Thomas Reid, die sowohl institutionelle, als auch persönliche Beziehungen zueinander unterhielten. Diese Bewegung war nicht nur auf die Philosophie beschränkt, obwohl sie in der Common Sense School (‚Lehre vom Alltagsverstand‘) durchaus ihren eigenen argumentativen Standpunkt entwickelte. Ihr typischstes Merkmal war die Entwicklung einer weit reichenden Sozialtheorie, die ‚soziologische‘ Pionierarbeiten von Adam Ferguson und John Millar und eine soziokulturelle Geschichte von Henry Home (Lord Kames) und William Robertson hervorbrachte, sowie die Humeschen ‚Essays‘ (1777) und den klassischen volkswirtschaftlichen Text ‚Der Wohlstand der Nationen‘ (engl.: ‚The Wealth of Nations‘, 1776) von Adam Smith. Allen diesen Arbeiten ist eine Verpflichtung zur wissenschaftlich-kausalen Erklärung und Forschung gemeinsam, die auf der Prämisse der Einheitlichkeit der menschlichen Natur beruht, um davon ausgehend eine Geschichte der sozialen Institutionen zu entwerfen, in der der Begriff der ‚Weisen der Lebensgrundlagen‘ oder der ‚Existenzweisen‘ eine Schlüsselrolle spielt. Typisch für 96
Augenblicks, Buddhistische Lehre des
die Aufklärung insgesamt war, dass diese explanatorischen Bemühungen nicht von expliziten Bewertungen geschieden wurden. – Obwohl sie sich zu ihrer eigenen, handelsorientierten Gesellschaft durchaus kritisch verhielten, standen die schottischen Philosophen im Vergleich mit ihren Vorgängern doch zweifellos an der Spitze ihres eigenen Zeitalters. Siehe auch: Alltagsphilosophie; Aufklärung, kontinentaleuropäische, Moralischen Empfindens, Theorie des; Naturalismus in der Ethik; Naturalismus in den Sozialwissenschaften CHRISTOPHER J. BERRY
Aufrichtigkeit
Siehe: Wahrhaftigkeit
Augenblicks, Buddhistische Lehre des
Der Gegenstand der buddhistischen Lehre des Augenblicks ist nicht das Wesen der Zeit, sondern die Existenz innerhalb der Zeit. Statt die Zeit in Momente zu atomisieren, atomisiert sie die Phänomene zeitlich durch ihre Zerteilung in eine Folge diskreter und momentaner Entitäten. Ihre grundlegende Behauptung lautet, dass alles aus der Existenz heraustritt, sobald es in sie hineingetreten ist; in diesem Sinne ist alles augenblicklich oder momentan. Indem eine Entität verschwindet, macht sie Platz für eine neue Entität mit praktisch demselben Wesen, das unmittelbar nach dem Verschwinden seines Vorgängers entsteht. So gibt es einen ununterbrochenen Fluss kausal miteinander verbundener, momentaner Entitäten mit annähernd demselben Wesen; dies ist das so genannte Kontinuum (santāna). Diese Entitäten folgen aufeinander so schnell, dass der Prozess dieser Folge mit der gewöhnlichen Wahrnehmung nicht erfasst werden kann. Weil frühere und spätere Entitäten innerhalb eines Kontinuums sich praktisch vollständig gleichen, stellen wir uns etwas als eine zeitlich ausgedehnte Entität vor, und zwar trotz der Tatsache, dass es dabei in Wahrheit um nicht mehr als eine Serie kausal miteinander verbundener, momentaner (d.h. zeitlich gar nicht ausgedehnter) Entitäten handelt. Nach dieser Lehre ist die Welt (einschließlich der empfindenden Wesen, die sie bewohnen) in jedem Moment anders als die Welt im jeweils vorangehenden Moment. Sie ist jedoch mit der Vergangenheit und Zukunft durch das Gesetz der Kausalität insofern verbunden, als ein Phänomen gewöhnlich ein weiteres Phänomen seiner Art hervorruft, sobald es verschwindet, so dass die Welt, wenn sie im nächsten Moment entsteht, die Welt in ihrem vorangehenden Moment widerspiegelt. An den Wurzeln des Buddhismus liegt die (nie hinterfragte) Überzeugung, dass alles, was entstanden ist, zum Vergehen verurteilt sei und deshalb, mit der Ausnahme von Faktoren, die zur Erleuchtung führen, letztlich eine Quelle der Frustration sei. Es gibt keine erhaltenen Texte, die dokumentieren, wie dieses angenommene Gesetz der Undauerhaftigkeit bis zu jener hier geschilderten Augenblickslehre radikalisiert wurde. Es scheint jedoch, dass die Lehre des Augenblicks bereits um das 4. Jahrhundert ihre endgültige Form angenommen hatte. Typischerweise wurde die Debatte darum immer mehr von erkenntnistheoretischen Fragen dominiert, während die metaphysischen Aspekte im Hintergrund verblassten. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, Indische ALEXANDER VON ROSPATT
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Augustinus (354–430 n. Chr.)
Augustinus (354–430 n. Chr.)
Augustinus war der erste der großen christlichen Philosophen. Für etwas mehr als achthundert Jahre nach seinem Tod, tatsächlich bis zum Aufstieg von Thomas von Aquin am Ende des 13. Jahrhunderts, war er auch der mit Abstand einflussreichste christliche Philosoph. Als ein Theologe und Kirchenvater war Augustinus derjenige, der sich nach Kräften um eine Definition der christlichen Häresie bemühte und damit auch die christliche Orthodoxie formulierte. Von den drei prominentesten Häresien, die von Augustinus benannt wurden, nämlich der Donatismus, der Pelagianismus und der Manichäismus, sind die letzten beiden insbesondere auch philosophisch wichtig. Indem er den Pelagianismus und seine These von der menschlichen Möglichkeit zur Vollkommenheit ablehnte, wies Augustinus eine Form des Prinzips zurück, dass oft mit Kant assoziiert wird, demzufolge aus einem ‚sollen‘ ein ‚können‘ folgt. Indem er den Manichäismus mit seiner Lehre ablehnte, dass das Gute und das Böse gleichermaßen grundlegende metaphysische Wirklichkeiten seien, wies Augustinus eine der Lösungen zu dem philosophischen Problem des Bösen zurück. Die ‚Kategorien‘ sind vielleicht das einzige Werk von Aristoteles gewesen, dass Augustinus wirklich las. Platon kannte er etwas besser. Ihm scheinen eine Reihe platonischer Dialoge vertraut gewesen zu sein, und er fühlte sich deutlich zu Platon und den Platonikern hingezogen, was man besonders klar in ‚De civitate Dei‘ (‚Der Gottesstaat‘) und ‚De vera religione‘ (‚Über die wahre Religion‘) erkennt. Obwohl man von ihm sagen könnte, dass er auf die klassische griechische Philosophie in konsequenter Weise geantwortet habe, muss man doch hinzufügen, dass seine Antworten durch den Neuplatonismus, den hellenistischen Skeptizismus und den Stoizismus gefiltert waren. Vor allem durch die Schriften von Cicero wurde Augustinus in den Auffassungen seiner philosophischen Vorgänger geschult, und durch die Arbeiten der Neuplatoniker entwickelte er seine tiefe Wertschätzung für Platon. Augustinus’ Philosophie bezieht sich somit signifikant auf die Philosophie der Spätantike, aber auch auf die christliche Offenbarung. Seine Originalität liegt teilweise in seiner Synthese von griechischem und christlichem Gedankengut, und teilweise in ihrer Weiterentwicklung als einem neuartigen, ichzentrierten philosophischen Ansatz, der das moderne Denken vorweg nimmt, vor allem in der Form, wie sie von Descartes exemplifiziert wurde. In seinem Buch ‚De trinitate‘ (‚Die Dreifaltigkeit‘) und ‚De civitate Dei‘ (‚Der Gottesstaat‘) entwirft Augustinus einen Gedankengang, der bereits Descartes’ berühmtes cogito, ergo sum ahnen lässt. Durch seine ‚Confessionum libri tredecim‘ (‚Bekenntnisse‘), das erste bedeutende autobiographische Werk der westlichen Literatur, und auch durch sein ‚Soliloquia‘ (‚Selbstgespräche‘), die ein Dialog zwischen ihm selbst und der Vernunft sind, führte Augustinus die Perspektive der Ersten Person in die westliche Philosophie ein. Schon frühzeitig in seiner Laufbahn fühlte sich Augustinus vom philosophischen Skeptizismus angezogen. In seinen frühesten noch vorhandenen Werken offenbart er eine sehr ausführliche Reaktion auf die hauptsächlichen skeptischen Argumente seiner Zeit, einschließlich jener, die die Möglichkeit offen lassen, dass man nur träumt. Seine späteren Antworten auf den Skeptizismus sind, wenn auch weniger ausführlich, besser fokussiert; sie konzentrieren sich auf das Selbstwissen, das er jedem wissenden Subjekt für direkt zugänglich hält, einschließlich des Wissens, dass man existiert. Nimmt man die Perspektive der Ersten Person ein, so kann man, versucht er in seinem ‚De trinitate‘ zu zeigen, ein überzeugendes Argument 98
Augustinus (354–430 n. Chr.)
für den Geist-Körper-Dualismus entwickeln. Wenn man aber annimmt, wie er es tut, dass jeder von uns von sich selbst weiß, was ein Geist ist, so wirft dies das Problem auf – und Augustinus ist vielleicht der erste Philosoph, der dies realisiert –, wie man jemals wissen kann, dass es noch einen Geist neben dem eigenen gibt. Augustinus’ Darstellung der Sprache und der Bedeutung beeinflusste die Entwicklung der ‚terministischen‘ Logik im Hochmittelalter. Seine Gedanken über den Spracherwerb in den ‚Bekenntnissen‘ lieferten eine Diskussionsvorlage für Wittgenstein in seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘. Gleichwohl antizipieren einige von Augustinus’ eigenen Reflexionen über die ostensiven Definitionen (hinweisenden Erklärungen) in seinem Dialog ‚De magistro‘ (‚Der Lehrer‘) Wittgensteins eigene Sicht über das Erlernen von Sprache. Augustinus entwickelt etwas, was als ‚aktive‘ Theorie der Sinneswahrnehmung beschrieben wurde, nach der Sehstrahlen die Gegenstände berühren, deren darauf folgende Wirkung auf den Körper vom Geist oder der Seele ‚bemerkt‘ wird. Obwohl seine Ideen über die Sinneswahrnehmung interessant sind, ist seine einflussreichste wissenschaftstheoretische Konzeption sicherlich seine ‚Theorie der Erleuchtung‘. Anstatt anzunehmen, dass das, was wir wissen, durch Abstraktion von Sinneseinzelheiten gewonnen werden kann, die ein solches Wissen instantiieren, besteht er darauf, dass unser Geist so beschaffen sei, dass er ‚intelligible Wirklichkeiten‘ direkt durch eine innere Erleuchtung sehe. Vom modernen Begriff des Willens wird oft gesagt, dass sein Ursprung bei Augustinus liege. Sicherlich ist die Idee des Willens zentral für seine Philosophie des Geistes, genauso wie für seine Darstellung der Sünde und den Ursprung des Bösen. Auffallend ist, dass er psychologische ‚Dreifaltigkeiten‘ verwendet, einschließlich der Dreifaltigkeit des Gedächtnisses, des Verstehens und des Willens, um die Lehre von der Göttlichen Dreifaltigkeit zu beleuchten, denn auch in diesen Bereichen gibt es eine verblüffende Einheit in der Vielfalt. Die theologische Rechtfertigung für diese Analogie findet Augustinus in der biblischen Idee, dass Gott die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, und insbesondere den menschlichen Geist. Augustinus’ Versuche zur Herbeiführung eines philosophischen Verständnisses der Theologie und des religiösen Glaubens schafft den Rahmen für eine große Zahl späterer mittelalterlicher und frühmoderner philosophischer Werke. Über die Frage, wie die Vernunft sich auf den religiösen Glauben beziehen soll, entwickelt Augustinus die Idee, dass die Vernunft ein Verständnis dessen ausarbeiten sollte, was wir dann zunächst glaubend akzeptieren müssen. Er zeigt aber auch eine geschliffene Sensibilität bei den Fragen, die am wahrscheinlichsten den religiösen Glauben in Versuchung führen können. Prominent unter diesen Bemühungen ist das philosophische Problem des Bösen, zu dem er eine Lösung anbietet, die sich als die schließlich einflussreichste Variante zu diesem Problem erwiesen hat. Besonders auffallend ist Augustinus’ praktisch lebenslange Beschäftigung mit der menschlichen Freiheit, und die Frage, wie die Tatsache, dass Menschen eine Wahlfreiheit besitzen, mit den christlichen Lehren über Gottes Vorsehung, die Prädestination und die Gnade versöhnt werden kann. Fast jeder wichtige mittelalterliche Philosoph im christlichen Westen hat später zu dieser andauernden Bemühung beigetragen, um eine solche befriedigende Versöhnung dieser Fragen herbeizuführen. Es ist bedeutsam, dass Leibniz, der dem Problem der Freiheit, der Vorsehung, der Prädestination und Gnade seine ausgefeiltesten Werke widmete, ebenfalls erheb99
Augustinus (354–430 n. Chr.)
liche philosophische Aufmerksamkeit auf das ebenfalls augustinische Problem des Bösen verwandte. Obwohl Augustinus ein Argument für die Existenz von Gott vortrug, war es doch eher sein Verständnis der göttlichen Attribute, und speziell sein Beharren auf der göttlichen ‚Einfachheit‘, d.h. auf der Idee, dass Gott nicht von seinen Attributen getrennt ist, die besonderen Einfluss auf spätere Denker ausübte. Ebenfalls einflussreich waren seine mehrfachen Versuche zum Verständnis der Weltschöpfung. Augustinus unternahm zahlreiche weitere wichtige Bemühungen, unter denen vielleicht am meisten diejenigen in seinem letzten Buch der ‚Bekenntnisse‘ und in seinem ‚De genesi ad litteram‘ (‚Die wörtliche Bedeutung der Genesis‘) herausragen, für eine philosophisch fortgeschrittene Darstellung der Schöpfungsgeschichte im biblischen Buch Genesis. Der von ihm geltend gemachte Gegensatz zwischen Gottes Ewigkeit und der menschlichen Zeitlichkeit bereitete die Bühne für spätere mittelalterliche und moderne Diskussionen dieser Themen vor, und seine Diskussion der Natur der Zeit in Buch XI der ‚Bekenntnisse‘ wird manchmal Musterbeispiel methodischer Philosophie verstanden. Augustinus’ Beschreibungen der mystischen Erfahrung gehören zu den eloquentesten Beiträgen der westlichen Literatur, und sie gehören zu den klassischen Texten des Mystizismus. Augustinus’ Versuche zum Verständnis des Rituals sind vielleicht eher wegen der Direktheit bemerkenswert, mit der er schwierige Fragen identifiziert und sich mit ihnen konfrontiert, als wegen ihres Erfolges in seinen Bemühungen, diese Fragen zu lösen. Diesen Bemühungen mangelt es vielleicht infolge seiner Fassung des Geist-Körper-Dualismus an Konsistenz. In der Ethik ist Augustinus ein tiefgründiger Intentionalist. Dieses Merkmal seines Denkens, genauso wie sein unerschrockenes Beharren darauf, dass jemand etwas tun kann, von dem er weiß, dass man es nicht tun sollte, hebt ihn von den Ethikern der klassischen griechischen Periode ab. Aber Augustinus bewahrt in seinem eigenen Denken auch wichtige Figuren des antiken griechischen Denkens. So enthält beispielsweise seine Entwicklung der Lehre von den christlichen Tugenden ein Echo auf Platons Idee von der Einheit der Tugenden. Sein Insistieren darauf, dass ein Sollen kein Können impliziere, zumindest nicht auf unmittelbare Weise, unterscheidet ihn nicht nur von seinem Zeitgenossen Pelagius, den er als christlichen Häretiker zu brandmarken half, sondern auch von den meisten modernen Ethikern. Die Geschichtsphilosophie, die Augustinus in ‚De civitate Dei‘ entwickelt, eröffnet einen Zweig der Philosophie, der erst im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte kam. In genau dieser Arbeit leistet Augustinus auch einen einflussreichen Beitrag zu dem, was inzwischen ‚Theorie des gerechten Krieges‘ genannt wird, also eine Theorie der angewandten Ethik, die sich noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortlaufend weiter entwickelt hat. Siehe auch: Allwissenheit; Antike Philosophie; Anselm von Canterbury; Bösen, Problem des; Boethius, A.M.S.; Malebranche, N.; Manichäismus; Neuplatonismus; Patristische Philosophie; Pelagianismus; Prädestination; Skeptizismus GARETH B. MATTHEWS
Ausdruck, künstlerischer
Siehe: Künstlerischer Ausdruck
Ausdrücke, logische
Siehe: Logische Konstanten 100
Austin, John (1790–1859)
Aussagenlogik
Siehe: Prädikatenlogik
Austin, John (1790–1859)
Obwohl es im frühen 19. Jahrhundert geschrieben wurde, ist Austins Werk, vor allem seine Bücher ‚The Province of Jurisprudence Determined‘ und ‚The Philosophy of Positive Law‘, wahrscheinlich die kohärenteste und begründetste Darstellung der Theorie des Legalen Positivismus. Er erkundete die komplexen Beziehungen zwischen dem Legalen Positivismus und den Begriffen der Moral und der Politik; diese werden in modernen Kommentaren aber oft vernachlässigt oder missverstanden. Siehe auch: Rechts, Philosophie des ROBERT N. MOLES
Austin, John Langshaw (1911–1960)
Nach dem Zweiten Weltkrieg war J.L. Austin in den 1950er Jahren eine führende Figur der Analytischen Philosophie. Er entwickelte eine Methode der gründlichen Prüfung nichtphilosophischer Sprache, die dazu gedacht war, die sprachlichen Unterscheidungen zu beleuchten, die wir im Alltag machen. Berufsphilosophen tendierten dazu, diese wichtigen und subtilen Unterscheidungen mit unerwünschtem Fachjargon zu verdunkeln, was zu weit von ihrer alltäglichen Verwendung wegführte. Austin dachte, dass ein philosophisches Problem eher so angegangen werden sollte, dass man die Art und Weise prüft, auf die das philosophische Problemvokabular in alltäglichen Situationen verwendet wird. Ein solcher Ansatz würde dann die falschen Verwendungen von Sprache hervorkehren, auf denen umgekehrt viele philosophische Ansprüche aufgebaut waren. In ‚Other Minds‘ (1946) griff Austin die simplifizierende Aufteilung von Ausdrücken in ‚deskriptive‘ und ‚evaluative‘ an, indem er seinen Begriff einer performativen Äußerung verwendete. Seine Vorstellung war, dass bestimmte Äußerungen unter gegebenen Umständen weder deskriptive, noch evaluative Äußerungen sind, sondern als Handlungen zu gelten haben. Deshalb bedeutet der Ausspruch ‚Ich verspreche‘ ein Versprechen zu geben, nicht über eines zu reden. Später entwickelte er die Begriffe der lokutionären Kraft (was eine Äußerung sagt oder worauf sie sich bezieht), der illokutionären Kraft (was mit dem, was gesagt wird, beabsichtigt ist) und der perlokutionären Kraft (welche Wirkung eine Äußerung auf andere hat). Siehe auch: Alltagssprache, Philosophische Schule der J.O.URMSON
Autorität
Der Begriff der Autorität hat zwei Hauptbedeutungen: Fachkenntnis und das Recht zu herrschen. Autorität in Überzeugungsfragen zu besitzen (eine ‚Autorität‘ zu sein) heißt, theoretische Autorität zu besitzen. Die Autorität über Handlungen zu haben (‚Amtsautorität‘) heißt praktische Autorität. Beide Bedeutungen bringen die Unterordnung eines individuellen Urteils oder Willens unter den einer anderen Person in einer Weise mit sich, die bindend ist, unabhängig von dem inhaltlichen Einzelfall, was die Person sagt oder fordert. Wenn die Autorität einer Person anerkannt ist, dann ist sie effektiv oder eine de-facto-Autorität; ist sie gerechtfertigt, dann ist sie de- jure-Autorität. Der letztere ist der vorrangige Begriff, denn die de-jureAutorität ist das, was die de-facto-Autoritäten beanspruchen, und was sie selbst zu besitzen glauben. Die Autorität unterscheidet sich also von der tatsächlichen Macht, 101
Autonomie, ethische
aber auch von der gerechtfertigten Macht, die eventuell gar keine Unterordnung des Urteils mit sich bringt. In vielen Fällen ist jedoch die praktische Autorität nur dann gerechtfertigt, wenn sie auch effektiv ist. Die politische Autorität bringt den Anspruch auf Gehorsam der ihr Untergebenen mit sich. Die Versuche ihrer Rechtfertigung standen immer im Mittelpunkt der politischen Philosophie. Dies schließt sowohl zweckbezogene Argumente ein, die sich auf die Fachkenntnisse des Herrschers oder auf ihre Fähigkeit zur Beförderung der sozialen Zusammenarbeit berufen, als auch die nicht zweckbezogenen Argumente, die auf Ideen beruhen wie z.B. der Einmütigkeit oder dem Gemeinschaftsgefühl. Ob eines von diesen Argumenten Erfolg bei der Rechtfertigung der umfassenden Autorität hat, die moderne Staaten beanspruchen, ist weithin strittig. LESLIE GREEN
Autonomie, ethische
Der Kern der Idee der Autonomie ist jener der Souveränität über sich selbst, d.h. die Selbstverwaltung oder die Selbstbestimmung: ein Akteur oder eine politische Entität sind autonom, wenn sie sich selbst verwalten oder selbstbestimmt sind. Die antiken Griechen wandten den Ausdruck auf ihre Stadtstaaten an. In der Moderne wurde der Begriff auch auf Personen ausgedehnt, insbesondere durch Kant, der der Autonomie einen zentralen Platz im philosophischen Diskurs anwies. Kant argumentierte für die Autonomie rationaler Akteure, indem er vortrug, dass die moralischen Prinzipien, die autoritär unserem Handeln Grenzen setzen, bei der Ausübung der Vernunft entstehen. Sie sind folglich Gesetze, die wir uns selbst geben, und Kant dachte, dass rationale Akteure nur an selbstgegebene Gesetze gebunden sind. Viele zeitgenössische Diskussionen haben sich auf das davon etwas abweichende Thema der personalen Autonomie konzentriert, und die Autonomie ist weiterhin ein wichtiger Wert des zeitgenössischen Liberalismus und der ethischen Theorie. Es ist wichtig, unterschiedliche Bedeutungen der Autonomie wegen der Abweichungen in der Verwendung des Begriffs zu unterscheiden. Selbstverwaltung oder Selbstbestimmung scheinen eine gewisse Kontrolle über die Wünsche und Werte zu erfordern, die die Menschen zu Handlungen bewegen, und etwas von dieser Kontrolle entsteht durch die Fähigkeit, sie der rationalen Überprüfung zu unterwerfen. Daher wird die (personale) Autonomie oft als die Fähigkeit zur kritischen Bewertung der eigenen grundlegenden Wünsche und Werte verstanden, und als die Fähigkeit sich nach jenen von ihnen zu richten, die man nach entsprechender Überlegung unterstützt. In anderen Zusammenhängen wird Autonomie als ein Recht verstanden, beispielsweise als das Recht, nach eigenem Gutdünken in Angelegenheiten zu handeln, die das eigene Leben betreffen, ohne Störungen durch andere. Der Ausdruck wird manchmal auch in Verbindung mit der Ethik selbst verwendet, um sich auf die These zu beziehen, dass ethische Ansprüche nicht auf nichtethische reduziert werden können. Siehe auch: Freier Wille; Freiheit; Normativität ANDREWS REATH
Averroes
Siehe: Ibn Rushd, Abu’l Walid Muhammad
Avicenna
Siehe: Ibn Sina, Abu’Ali
al-Husayn
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Ayer, Alfred Jules (1910–1989)
Ayer, Alfred Jules (1910–1989)
A.J. Ayer begründete seinen Ruf als Philosoph mit der Veröffentlichung von ‚Language, Truth and Logic‘ im Jahre 1936, d.h. mit einem Buch, das ihn als den führenden englischen Vertreter des logischen Positivismus etablierte, einer Lehre, die von einer Gruppe von Philosophen vorgeschlagen wurde, die ihrerseits als die Mitglieder des Wiener Kreises bekannt sind. Die wesentliche These des logischen Positivismus, die Ayer verteidigte, war jene, dass alle wörtlich bedeutungsvollen Aussagen entweder analytisch (wahr oder falsch kraft der Bedeutung der Aussage allein) oder durch Erfahrung verifizierbar seien. Diese verifikationistische Theorie der Bedeutung verwendete Ayer zur Leugnung der eigentlichen Bedeutung jeglicher metaphysischer Aussagen, einschließlich jener, die die Existenz von Gott behaupteten und negierten. Feststellungen über physische Gegenstände wurden als übersetzbar in Sätze unserer sensorischen Erfahrungen angesehen (diese Lehre ist als Phänomenalismus bekannt geworden). Ayer beanspruchte ferner, dass die Aussagen der Logik und der Mathematik analytische Wahrheiten seien, und dass es keine natürliche Notwendigkeit gäbe, sondern ‚Notwendigkeit‘ ein rein logischer Ausdruck sei. Schließlich wurde auch die Behauptung ethischer Aussagen wie z.B. ‚Stehlen ist falsch‘ als Ausdruck eines Gefühls oder einer Einstellung zu einer Handlung analysiert, d.h. in diesem Falle ist es ein Ausdruck einer negativen Einstellung zu der Handlung des Stehlens. Während der verbleibenden Zeit seiner philosophischen Laufbahn blieb Ayer den meisten dieser Thesen treu, verwarf jedoch schließlich seinen frühen Phänomenalismus zugunsten eines ausgefeilteren Realismus über physische Gegenstände. Dieser räumt immer noch unseren Erfahrungen den Vorrang ein, die nun percepts (zu dt. etwa: ‚Perzeptionen‘) heißen, aber die Existenz physischer Gegenstände wird nur postuliert, um die Kohärenz und Konsistenz unserer Perzeption zu erklären. Ayer leugnete weiterhin, dass es irgendwelche natürlichen Notwendigkeiten gäbe und analysierte die Kausalität als gesetzesartige Regelmäßigkeiten. Er verwendete diese Analyse zur Verteidigung einer kompatibilistischen Position gegenüber der freien Handlung, indem er beanspruchte, dass eine freie Handlung im Gegensatz zu einer solchen steht, die unter Beschränkungen oder Zwang ausgeführt wird. Die Verursachung bringt lediglich Regelmäßigkeit mit sich, und deshalb weder Beschränkungen, noch Zwänge. GRAHAM MACDONALD
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B Bachelard, Gaston (1884–1962)
Ein Zeichen für die Originalität von Bachelards Werk ist, dass er für seine Schriften sowohl in der Wissenschaftsphilosophie und der Philosophie der literarischen Dichtung berühmt war. Sein Werk demonstriert seine Überzeugung, dass das Leben des männlichen arbeitstäglichen Bewusstseins (animus), dass über vernünftiges Nachdenken und der Berichtigung von Begriffen nach wissenschaftlicher Objektivität strebt, durch das Leben eines nächtlichen, femininen Bewusstseins (anima), das eine erweiterte poetische Subjektivität sucht, und im Traum das Imaginäre erschafft, ergänzt werden muss. Wie auch andere Wissenschaftler-Philosophen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrieben, reflektierte Bachelard die Umwälzungen, die die Einführung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik mit sich brachten. Er gelangte dabei jedoch zu Auffassungen, die von denen seiner Zeitgenossen abwichen. Er meinte, dass die neuen Wissenschaften eine neue, nicht-kartesische Erkenntnistheorie erfordere, die auch Diskontinuitäten in der wissenschaftlichen Entwicklung zulasse, d.h. erkenntnistheoretische Brüche. Erst nachdem er als einer der führenden französischen Wissenschaftsphilosophen etabliert war, indem er als Nachfolger von Abel Rey dessen Lehrstuhl für Geschichte und Wissenschaftsphilosophie an der Sorbonne einnahm, widmete sich Bachelard auch Veröffentlichungen über die poetische Imagination. Hier war seine manchmal scharf antitheoretische Einstellung provokant. Er lehnte die Rolle, die die literarische Kritik spielt, ab und kritisierte die Literaturkritik seinerseits, indem er stattdessen für das Lesen von Bildern eintrat und auf die kreative Vorstellung verwies. MARY TILES
Bacon, Francis (1561–1626) Einführung Zusammen mit Descartes war Bacon einer der originellsten und tiefgründigsten intellektuellen Reformer des 16. und 17. Jahrhunderts. Er hatte nur geringen Respekt vor der Arbeit seiner Vorgänger, die er als etwas ansah, was durch falsch verstandene Autoritätsehrfurcht korrumpiert worden war und die Erfahrung konsequent vernachlässigte. Bacon träumte von der Macht über die Natur auf der Grundlage von Experimenten, die in geeigneten Institutionen verkörpert sein sollte und zur Verbesserung des menschlichen Lebens verwendet werden sollte. Dies konnte nur erreicht werden, wenn die rationale Spekulation von Philosophen mit dem handwerklichen Geschick, wie es in den angewandten Künsten geübt wird, vereint wird. Der Weg zum Erfolg lag für ihn in einer neuen Methode, die nicht auf der deduktiven Logik oder Mathematik beruhte, sondern auf der eliminativen Induktion. Diese Methode sollte auf Daten angewandt werden, die zuvor aus ausgreifenden und sorgfältig konstruierten Darstellungen natürlicher Phänomene herausgefiltert wurden. Anders als die alte Induktion in Gestalt von simplen Aufzählungen aus den alten Lehrbüchern der Logik, wäre diese Methode in der Lage, sowohl positive, als auch negative Fälle zu verwenden, wodurch Schlüsse zulässig würden, die mit Ge104
Bacon, Francis (1561–1626)
wissheit behauptet werden könnten, was wiederum eine feste und dauerhafte Struktur des Wissens aufzubauen erlaubte. Bacon hat sein Projekt nicht vollendet, und sogar die Darstellung der neuen Methode im Novum Organum (1620) blieb unvollendet. Seine Schriften hatten aber dennoch einen immensen Einfluss auf die Denker des späteren 17. Jahrhunderts, vor allem durch die Anregung der Überzeugung, dass die Naturphilosophie auf einem systematischen experimentellen Programm aufgebaut sein sollte. Vielleicht war jedoch sein Vermächtnis, das am meisten Bestand hatte, der moderne Begriff der Technologie, d.h. der Vereinigung von rationaler Theorie und empirischer Praxis, sowie ihre Anwendung zum menschlichen Wohlergehen. 1. Leben 2. Arbeiten 3. Die Aufteilung des Lernens 4. Die neue Logik 5. Die Idole des Geistes 6. Induktion 7. Naturphilosophie 8. Bacons Einfluss 1. Leben Francis Bacon wurde in die politische Elite des elisabethanischen England geboren. Sein Vater Nicholas war Lord Keeper of the Great Seal 1. Seine Mutter Anne war die Schwägerin von Lord Burghley, dem Lord Schatzmeister. Vieles von Bacons Laufbahn und sogar einige Aspekte seiner Philosophie kann man am besten als das Ergebnis einer Erziehung sehen, die ihn mit der Ausübung von Macht vertraut machte, und auch mit dem Reichtum, den diese mit sich brachte. Seine Perspektive ist immer diejenige eines Insiders, aber von einem, der beachtliche Schwierigkeiten hatte, seine eigene Position zu etablieren. Im Jahre 1573 wurde Bacon am Trinity College in Cambridge zugelassen. Zumindest in späteren Erinnerungen fand er wenig Bewundernswertes an der aristotelischen Philosophie, in die er eingeführt wurde, und noch weniger an den Schriften solcher Autoren wie Peter Ramus, die als modische Alternativen gehandelt wurden (siehe Aristoteles; Ramus, P.). Wie es damals bei Studenten seines Ranges üblich war, machte er keinen Abschluss. 1576 kehrte er nach London zurück, um als ein vor den höheren Gerichten plädierender Anwalt (barrister) bei Gray‘s Inn zu trainieren, einer Institution, zu der er eine wesentlich länger anhaltende Beziehung unterhielt. Sein Vater starb 1579 und ließ ihn nur mit einer bescheidenen Erbschaft zurück. Während seines ganzen Lebens gab Bacon freizügig Geld aus und lebte über seine Einkommensverhältnisse; abgesehen von seinem beachtlichen persönlichen Ehrgeiz kann man sein Streben nach Ämtern als den Versuch zur Linderung seiner chronischen Schulden sehen. Zu dt. etwa: ‚Lord Hüter des Grossen Siegels‘. Dieses Amt wurde zum ersten Male von Edward III. Mitte des 11. Jahrhunderts in England, später in Großbritannien, direkt von der englischen Krone verliehen und beinhaltete die Aufbewahrung des Großen Siegels von England, was später auch weitere Amtsbefugnisse z.B. der Entlassung aus von der Krone verliehenen Ämtern umfasste. Unter Georg III. (1738-1820) wurde das Amt wieder abgeschafft.
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Obwohl er von 1581 an fortlaufend ins Parlament gewählt wurde, blühte Bacons Laufbahn unter Königin Elisabeth nicht, die zwar seine Fähigkeiten anerkannte, aber seine Erscheinung offenbar nicht anziehend fand. Burghley war mehr mit der Karriere seines eigenen Sohnes Robert beschäftigt, dem späteren Grafen von Salisbury, und Bacon hängte sich an Elisabeths unbeliebtesten Favoriten, den brillanten, aber unbedeutenden Grafen von Essex. Essex‘ Versuch der Anzettelung einer Revolte im Jahre 1601 zur Wiederbelebung seines Glücks erwies sich als vollständiges Fiasko und setzte ihn der Verfolgung wegen Hochverrats aus. Bacon wechselte geschickt die Seiten und verfolgte seinen früheren Schutzherrn mit großem Geschick und Energie, was eine umfangreiche Bestätigung sowohl seiner bemerkenswerten Talente, als auch seiner fundamentalen Charakterkälte darstellt. Die Thronbesteigung von James I. im Jahre 1603 brachte ihm die zunächst unerfüllte Aussicht auf ein berufliches Fortkommen. Bacon wurde kurz nach der Ankunft des Königs in London zum Ritter geschlagen, aber er musste bis 1607 warten, bis ihm sein erstes wichtiges Amt zugeteilt wurde, und zwar das des Stellvertretenden Generalstaatsanwaltes. Aber erst nach dem Tode von Salisbury im Jahre 1612 ging die Beförderung wirklich schnell: 1613 wurde er zum Generalstaatsanwalt ernannt, 1617 zum Lord Keeper und 1618 zum Lord Chancellor. Dieses letzte Amt brachte die Erhebung in den Adelsstand mit sich, zunächst als Baron Verulam (1618), und dann als Viscount St. Albans (1621). Bacons Absturz war steil und katastrophisch, obwohl nicht gänzlich unvorhergesehen. Er hatte sein Einkommen aus seinem Amt durch Annahme von Zahlungen seitens jener ergänzt, deren Fälle er zu bearbeiten hatte, und obwohl dies keineswegs einzigartig war, machte es ihn verwundbar gegen Angriffe. Er war auch wichtig genug, um als gewichtiges Opfer eines wütenden House of Commons herzuhalten, ohne dass er James so nahe stand, dass dieser nicht auch ohne ihn ausgekommen wäre. Anfang Mai 1621 wurde Bacon seiner Ämter entbunden und im Tower von London eingesperrt – wenn auch nur für ein paar Tage – und mit 40.000 Pfund Strafe belegt. Ferner wurde ihm der Zutritt zum Hofe versperrt, und er durfte nicht mehr seinen Platz im House of Lords einnehmen. Trotz bester Bemühungen kehrte Bacon sein Schicksal niemals mehr um. Er verbrachte seine letzten fünf Jahre zurückgezogen, unablässig schreibend, zunächst mit der Hoffnung, dadurch wieder ein Amt zu erlangen, oder zumindest Einfluss, und schließlich nur noch, um der Nachwelt ein Testament zu hinterlassen. Er starb John Aubrey zufolge (der diese Geschichte von Hobbes gehört hatte) am Ostersonntag 1626 an einer Erkältung infolge eines Experiments, bei dem er ein Huhn mit Schnee ausstopfte. Wie bereits öfters bemerkt wurde, war dies ein durchaus passendes Ende für einen so leidenschaftlichen Anwalt der experimentellen Wissenschaft. 2. Arbeiten Während der ersten beiden Jahrzehnte seines Erwachsenenlebens schrieb Bacon wenig, oder zumindest blieb wenig erhalten; in dieser Periode wurden jedoch seine Weltsicht und seine grundlegenden Ideen geformt – sicherlich schon in den frühen 1590er Jahren, und wahrscheinlich noch früher. 1625 erwähnte Bacon gegenüber einem Briefkorrespondenten, demgegenüber er 40 Jahre zuvor für eine Ausbildungsreform mittels einer Arbeit (die verloren ging) mit dem Titel Temporis Partus Maximus (‚Die größte Geburt der Zeit‘) eingetreten war. Die Orientierung des Ba106
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conschen Interesses wird in einem Brief aus 1592 deutlich, den er an Lord Burghley schrieb, und in dem er (ziemlich ungeschickt) jeden politischen Anspruch von sich wies, während er gleichzeitig den Bereich seiner intellektuellen Projekte andeutete: „Ich gebe zu, dass ich weitläufige kontemplative und gleichzeitig bescheidene bürgerliche Ziele habe: ich habe nämlich alles Wissen zu meinem Herrschaftsgebiet erklärt und wenn ich es von zwei Arten von Vagabunden befreien könnte, von denen der eine mit frivolen Disputen, Widerlegungen und Langatmigkeiten, und der andere mit blinden Experimenten, sowie gehörten Überlieferungen und Hochstapeleien so viele Verderbnisse anrichtete, so hoffe ich, emsige Beobachtungen, begründete Schlussfolgerungen, sowie profitable Erfindungen und Entdeckungen einbringen zu können; also den besten Zustand dieser Provinz.“ (‚The Works of Francis Bacon‘ 1857–1874, Bd. VIII: 109.) Diese Themen, entwickelt und ausformuliert, beschäftigten Bacon für den Rest seines Lebens. Über viele Jahre erschien allerdings keines von ihnen im Druck. Abgesehen von einigen politischen Abhandlungen war das einzige, was noch in der Regierungszeit unter Elisabeth erschien, die erste Auflage der ‚Essays‘ (1597); der einzige Teil dieses Buches mit philosophischer Bedeutung ist eine kurze Behandlung über ‚Die Farben des Guten und des Bösen‘, die ein Beweis für Bacons lebenslanges Interesse am Versagen und der Pathologie des Intellekts ist. Die Thronbesteigung von James I. löste einen neuen Ausbruch literarischer Aktivität aus, von dem das sichtbarste Ergebnis die Schrift ‚The Advancement of Learning‘ (1605, dt.: ‚Der Fortschritt des Lernens‘) war, die dem König gewidmet und offensichtlich in der (unerfüllten) Hoffnung geschrieben worden war, eine großzügige königliche Zuwendung zu erlangen. Dies war nicht das einzige Projekt, das während der ersten Jahre der neuen Königsherrschaft Bacons Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Eine große Anzahl fragmentarischer Abhandlungen blieb erhalten, einige englisch, andere lateinisch geschrieben. Viele von ihnen haben seltsame, rätselhafte Titel: ‚Temporis Partus Masculus‘ (‚Die männliche Geburt der Zeit‘), ‚Valerius Terminus of the Interpretation of Nature with the Annotations of Hermes Stella, Filum Labyrinthi‘ (‚[…] Der Faden des Labyrinths‘). Andere sind prosaischer: ‚Redargutio Philosophiarum‘ (‚Die Widerlegung der Philosophien‘), ‚Cogitata et Visa de Interpretatione Naturae‘ (‚Gedanken und Schlussfolgerungen betreffend die Interpretation der Natur‘). Die Verschiedenheit der literarischen Form, die diese Arbeiten zeigen, ist so auffallend wie die Einheitlichkeit ihrer Botschaft: Bacon wusste zumindest in Umrissen, was er sagen wollte, aber er war über die Form unentschieden, in der er dies am geeignetsten sagen könnte. Das letzte dieser Fragmente datiert wahrscheinlich um 1608. Für die kommenden zwölf Jahre war Bacon in steigendem Maße mit seinen öffentlichen Pflichten beschäftigt, und einen Großteil der ihm verbleibenden Zeit verbrachte er mit dem Entwurf und der Überarbeitung dieser Entwürfe vom ‚Novum Organum‘. Er fand allerdings die Zeit zur Veröffentlichung einer zweiten, erweiterten Auflage der Essays (1612) und eines neuen Werks namens ‚De Sapientia Veterum‘ (1609, dt.: ‚Über die Weisheit der Alten‘), einer Interpretation antiker Mythen als Allegorien der politischen und physikalischen Lehren. Dasselbe Denkmuster findet man in der unveröffentlichten Schrift ‚De Principiis atque Originibus‘ (ca. 1610–1612[?], dt.: ‚Von den Prinzipien und Ursprüngen‘), aus welcher auch der beachtliche Einfluss von Bernardino Telesio auf Bacons physikalische Lehren hervorgeht, so wie auch in 107
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zwei anderen Arbeiten, die um 1612 geschrieben wurden, nämlich ‚Descriptio Globi Intellectualis‘ (‚Eine Beschreibung der intellektuellen Weltkugel‘) und ‚Thema Coeli‘ (‚Theorie des Himmels‘), die beide unvollendet und unveröffentlicht blieben. Der erste Abschnitt von Bacons Hauptwerk, der ‚Instauratio Magna‘, wurde schließlich mit der gebührenden Großartigkeit im Jahre 1620 veröffentlicht, als Bacon auf dem Höhepunkt seines Erfolges war. Das gesamte Werk sollte aus sechs Teilen bestehen, aber alles, was zu diesem Zeitpunkt erschien, war ein allgemeines Vorwort, ein Skizze des Projekts als Gesamtheit (die so genannte ‚Distributio Operis‘), ein unvollständiger Abschnitt des zweiten Teils (das ‚Novum Organum‘) und ein kurzes ‚Parasceve ad Historiam Naturalem et Experimentalem‘ (‚Vorbereitung auf eine Beschreibung von Natur- und Experimentalphänomenen‘). In den folgenden Jahren begann Bacon in gewissem Umfang, die Lücken seines ursprünglichen Planes zu füllen. Der fehlende erste Teil wurde 1623 unter dem Titel ‚De Dignitate et Augmentis Scientarum‘ nachgeliefert, welcher eine überarbeitete und stark erweiterte Übersetzung von ‚The Advancement of Learning‘ war. Trotz seiner offensichtlichen Unvollständigkeit fügte er dem ‚Novum Organum‘ nichts mehr hinzu; der größte Teil von Bacons Bemühungen ging in die Beschreibung von Naturphänomenen, die Teil III füllen sollten, und für den er, sowie für die übrigen Teile, recht optimistisch eine Produktionszeit von jeweils einem Monat ansetzte. Es wurden jedoch nur zwei vor seinem Tode veröffentlicht: ‚Über Winde‘ (‚Historia Ventorum‘, 1622) und ‚Über Leben und Tod‘ (‚Historia Vitae et Mortis‘, 1623), obwohl eine Arbeit ‚Über die Kondensation und Verdünnung von Materialien‘ (‚Historia Densi et Rari‘) auch im Jahre 1623 fertiggestellt worden war. Bacons Verleger ignorierte dieses Werk; es erschien schließlich 1658. Aber er veröffentlichte die ‚Sylva Sylvarum‘ (1627), eine Beschreibung von Naturphänomenen auf englisch, voll von ziemlich dubiosem Material, dass sich als sehr populär für den Rest des Jahrhunderts erwies, was aber auch viel Material für Bacons scharfe Kritiker im 19. Jahrhundert lieferte. Die abschließenden drei Teile von ‚Instauratio Magna‘ wurden niemals geschrieben, abgesehen von kurzen Vorworten zu Teil IV und V. Das erste der beiden, ‚Ladder of the Intellect‘ (‚Die Leiter des Intellekts‘), sollte aktuelle Beispiele der neuen Methode in praxi enthalten, was der Vollendung schon etwas näher kam als die reinen Entwürfe, die das ‚Novum Organum‘ lieferte. Teil V namens ‚Forerunners, or Anticipations of the Second Philosophy‘ (‚Vorboten oder Vorwegnahme der Zweiten Philosophie‘) sollte im Gegensatz dazu Entdeckungen beschreiben, die unabhängig von der Methode mittels der gewöhnlichen Verstandestätigkeit gemacht wurden. Der Inhalt des abschließenden Teils der ‚Second Philosophy or Active Science‘ kann nur vermutet werden. Hier besteht der Verdacht, dass Bacon selbst keine sehr genaue Idee davon hatte, was dieses Buch enthalten sollte. Vielleicht findet man das beste Bild der abschließenden Vision von Bacon in einem ganz anders gearteten Buch, das in dem Band, der auch die ‚Sylva Sylvarum‘ enthält, zu finden ist, aber hinsichtlich seiner Datierung ungewiss ist. ‚The New Atlantis‘ (‚Das neue Atlantis‘) ist die Darstellung einer imaginären Reise auf ein Eiland im Pazifik und der wissenschaftlichen Institution ‚Salomon‘s House‘, die sich dort befindet. Wie die meisten utopischen Erzählungen, gibt dies tiefe Einblicke in die Ideenwelt des Autors und liefert das vollständigste Bild von Bacons Vision einer reformierten, aktiven Wissenschaft, das wir haben, sowie von der Art der Institution, 108
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die er für ihr Erblühen als notwendig ansah. Es hatte auch einen starken Einfluss sowohl auf den millenniaristischen (d.h. die Vorstellung, dass Jesus Christus persönlich für tausend Jahre auf Erden regieren wird), visionären Baconismus der 1640er Jahre, als auch auf die Gründer und die frühe Tätigkeit der Royal Society (dt.: ‚Königliche Gesellschaft‘2). 3. Die Aufteilung des Lernens ‚The Advancement of Learning‘ enthält zwei Bücher: das erste über die Würde des Lernens und die Gründe für den Misskredit, mit dem es oft betrachtet wird, das zweite und wesentlich längere über die Einteilung der Lerngebiete; in der Übersetzung von 1623 wurde letzteres noch erweitert und in acht Bücher geteilt. Die erste Abteilung der Lerngebiete reflektiert die Fähigkeiten des menschlichen Geistes: Geschichte korrespondiert mit Erinnerung, Dichtung mit Vorstellung, und Philosophie mit Vernunft. Die Philosophie selbst hat drei Unterabschnitte: die göttliche Philosophie bzw. die natürliche Theologie, die Naturphilosophie und die Philosophie vom Menschen, die auch die Lehre von der Seele enthält, sowie die Logik, die Rhetorik, die Ethik und die Politik. Die Metaphysik ist ein Zweig der Naturphilosophie, die sich mit formalen und finalen Ursachen beschäftigt, im Gegensatz zur Physik, die die materiale und die Wirkursache zum Gegenstand hat. Die Metaphysik ist eine allgemeinere und abstraktere Disziplin als die Physik und beruht auf ihr, genauso wie die Physik ihrerseits auf einer Grundlegung der Beschreibung von Naturphänomenen beruht. Dieses Bild ist eines einer Pyramide, deren Scheitelpunkt die Zusammenfassung aller Naturgesetze ist, die Gott bekannt sind, die aber vielleicht jenseits der Grenzen der menschlichen Untersuchung liegen. Bacon traf die recht unübliche Unterscheidung zwischen Metaphysik und philosophia prima, also einer einfachen oder zusammengefassten Philosophie. Die drei hauptsächlichen Unterabteilungen der Philosophie verhalten sich nicht etwa wie drei Linien, die sich an einem Punkt treffen, sondern wie Zweige eines Baumes, die sich in einem gemeinsamen Stamm vereinigen. Baum-Metaphern dieser Art scheinen das kartesische Bild der Wissenschaft herbeizurufen, in dem der Stamm der Physik aus den Wurzeln eines apriorischen metaphysischen Systems herauswächst und von diesen Wurzeln gehalten wird, aber Bacons Darstellung ist eine ganz andere. Sein philosophia prima ist ein reiner Behälter für so viele vermischte Prinzipien, wie es Anwendungen in zahlreichen unterschiedlichen Disziplinen gibt, beispielsweise, dass die Kraft eines Akteurs sich durch die Reaktion eines Gegensatzes erhöht, eine Regel, die Anwendungen sowohl in der Physik, als auch in der Politik hat. Bacons wichtigste Neuerung war jedoch die enge Verbindung von theoretischen und praktischen Disziplinen. In der aristotelischen Tradition wurden diese beiden recht deutlich auseinander gehalten, aber nun (innerhalb der Naturphilosophie zumindest) sollte jede spekulative Disziplin ihren operativen Widerpart erhalten: der Physik würde die Mechanik korrespondieren, der Metaphysik der Naturzauber. Bacon hatte selbst keine Illusionen über die weit verbreiteten Betrügereien der magischen Tradition, aber – wie im parallelen Falle der Astrologie – suchte er ihre Reform, nicht ihre Abschaffung. (siehe Alchemie). Dies ist eine im Jahre 1660 gegründete englische Einrichtung, durch die die englische Krone die Wissenschaften fördert. [WS]
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Die enge Verbindung der Theorie und Praxis war von höchster Bedeutung: Bacon sah die trostlose Bilanz der früheren Naturphilosophie weitgehend als Ergebnis ihrer Abtrennung von der Praxis. Diejenigen, die die angewandten Künste ausübten, erlebten ihren jeweiligen Fortschritt auf rein empirischem Wege, ohne jegliche methodische Unterstützung, während die Philosophen, insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, die Gelehrten der Universitäten, die Erfahrung gering schätzten und wie Spinnen metaphysische Netze aus ihren eigenen Innenansichten gesponnen hatten. Die einzige Hoffnung auf Fortschritt lag für ihn in der Vereinigung der beiden Ansätze. 4. Die neue Logik Das ‚Novum Organum‘ fand wesentlich weniger Leser sowohl als die ‚Essays‘ oder ‚The Advancement of Learning‘, zum Teil wegen ihres schwierigeren Gegenstandes, und teilweise auch, weil es lateinisch geschrieben war. Es ist jedoch Bacons bemerkenswerteste Leistung und jene, die er selbst am höchsten schätzte. Es kostete ihm beachtliche Mühe: William Rawley, sein Kaplan, berichtet von nicht weniger als zwölf Entwürfen, die Jahr für Jahr in dem Jahrzehnt vor der Veröffentlichung überarbeitet wurden, gesehen zu haben. Die von Bacon gewählte Form ist der Aphorismus; anfänglich sind diese kurz und hoch komprimiert, aber mit dem Fortschreiten des Werks werden sie länger. Im zweiten Buch, dass offensichtlich weniger gründlich überarbeitet wurde, wird Bacons Griff lockerer und löst sich schließlich ganz, und die aphoristische Form geht bis auf die äußere Form verloren. Wie bereits der Titel verdeutlicht, beabsichtigte das ‚Novum Organum‘ die Darstellung einer neuen Logik, die die aristotelische Syllogistik ersetzen sollte, da Bacon der Auffassung war, dass diese die Erforschung der Natur behindert und sogar korrumpiert habe. Deren volle Durchführung befindet sich in Buch II; Buch I enthält einen Überblick über die Aufgabe und ihre Schwierigkeiten. Die grundlegenden Themen des ‚Novum Organum‘ werden in den ersten drei Aphorismen dargestellt: ‚Der Mensch, als der Diener und Interpret der Natur, kann nur so viel tun und verstehen, […] als er tatsächlich beobachtet hat oder im Nachdenken über die natürliche Ordnung: darüber hinaus weiß er weder irgendetwas, noch kann er etwas tun. Weder die bare Hand, noch das Verstehen, das auf sich selbst gestellt ist, kann viel bewirken. Es sind die Geräte und die Hilfen, die uns die Arbeit verrichten lassen, die für das Verstehen genauso wichtig sind wie für die Hand. Und wie die Handwerkzeuge entweder eine Bewegung hervorrufen oder sie führen, so stellen die Instrumente des Geistes Vorschläge für das Verstehen oder Warnungen bereit. Das menschliche Wissen und die menschliche Macht treffen sich, denn wo die Ursache nicht bekannt ist, da kann auch die Wirkung nicht herbeigeführt werden. Der Natur, die man befehligen will, muss man gehorchen; und das, was in der Kontemplation als die Ursache erscheint, erweist sich in der praktischen Vornahme als die Regel.‘ (Bacon, 1620: i.1–3) Die Naturphilosophie muss notwendig mit Beobachtungen beginnen. Obwohl Bacon sich scharf von jenen absetzte, die er als ‚Empiriker‘ einstufte, liegt sein Einwand gegen sie in dem Mangel an Methode und darauf folgend in dem Rückgriff auf unsystematische Experimente, nicht in ihrem Verlass auf die Erfahrung selbst. Die Methode ist absolut wesentlich: unmethodisches Experimentieren ist reines Herum110
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tappen im Dunkeln und wird mit keiner größeren Wahrscheinlichkeit Resultate hervorbringen wie das vollkommen zufällige Graben nach einem verborgenen Schatz. Es ist ein wesentliches Merkmal der neuen Methode, dass sie offen beschrieben, erklärt und gelehrt werden kann. Die neue, reformierte Wissenschaft sieht er als eine wesentliche kollektive Tätigkeit; obwohl man zweifellos ein gewisses Minimum an Intelligenz in ihrer Ausübung voraussetzen muss, erfordert ein solches Unternehmen doch keinerlei individuellen Genius, und hängt folglich auch nicht von ihm ab: ‚Aber der Gang zur Entdeckung der Wissenschaften, den ich vorschlage, lässt der Schärfe und Strenge von geistreichem Witz nur wenig Raum, sondern verlegt das Geistreiche und das Verstehen praktisch auf ein Niveau. Denn zum Zeichnen einer geraden Linie oder eines perfekten Kreises hängt viel von der ruhigen Führung und Übung der Hand ab, wenn dies nur mit der Hand ausgeführt werden soll, aber von gar nichts dergleichen bei der Zuhilfenahme eines Lineals oder eines Kompasses; genauso verhält es sich mit meinem Plan.‘ (Bacon 1620: i.61) Es gibt also nichts Intuitionistisches an Bacons Ansatz, rein gar nichts ähnelt dem kartesischen Vertrauen auf klare und bestimmte Ideen. Bacon misstraute jeder Berufung auf die angenommene Selbstevidenz bei der Planung irgendeiner Untersuchung. Die Prüfung der Wahrheit kann nur retrospektiv sein: es war die Fähigkeit einer Theorie, ihre Befürworter mit einer Macht über die Natur auszustatten, die die beste und tatsächlich einzige echte und befriedigende Evidenz für ihre Wahrheit lieferte. Vorangehende Versuche der Entdeckung waren gescheitert, weil die Menschen entweder bequemerweise davon ausgingen, dass der Geist bereits angemessen für die Aufgabe gerüstet war, oder sie verzweifelten gleich gänzlich. Die Natur lässt sich verstehen, aber ihre Subtilität überschreitet bei weitem jene des menschlichen Geistes. Um irgendetwas zu erreichen, muss eine neue Logik nicht etwa auf der Grundlage einer Vorwegnahme (anticipation), sondern der Interpretation der Natur in Gebrauch genommen werden. Dieser Gegensatz zwischen Antizipation und Interpretation steht im Zentrum von Bacons Konzeption seines Projekts. Antizipationen sind keine Hypothesen, sondern ‚die freiwilligen Sammlungen des Wissens, die der Mensch vornimmt; das ist eines jeden Menschen Vernunft‘ ([ca. 1603], ‚Works‘ III: 244). Die Grundidee ist die der Oberflächlichkeit: dies sind die Vorstellungen der ‚Volksphysiker‘, d.h. populäre, umgangssprachliche Begriffe, wie sie in der alltäglichen Lebensführung auftauchen, manchmal durch die Bemühungen der Philosophen verfeinert und etwas abstrakter geworden, aber nicht grundsätzlich verändert. ‚Es gibt keinen stärkeren oder wahreren Grund, warum die Philosophie, die wir haben, so bar jeder Wirkung ist, als den, dass sie den gemeinen [vulgarium] Worten und Vorstellungen ihre Subtilität genommen hat, und nicht versuchte, die Subtilität der Natur zu verfolgen oder zu erforschen.‘ ([ca. 1607] ‚Works‘ V: 421) Es war die weit verbreitete Unschlüssigkeit der verwendeten Begriffe, die die alte Logik als ein Werkzeug zur Erforschung der Natur nutzlos werden ließ. Syllogismen, die nur verwirrte und schlecht abstrahierte Ausdrücke enthalten, verbreiten nichts als Irrtum ohne irgendein Mittel zur ihrer Korrektur zu liefern. Und noch allgemeiner ermutigt die Lehre der deduktiven Logik die natürliche Tendenz des Geistes zum eiligen Aufstieg ohne die gebotene Prüfung von Aussagen großer Allgemeinheit; und dann werden diese als gesichert und etabliert betrachtet, wenn 111
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weiter geforscht wird. Bacons Methode erfordert nicht die Befreiung, sondern die Regulierung des Intellekts, der ‚nicht mit Flügeln ausgestattet, sondern vielmehr mit Gewichten behängt werden muss, um ihn vom Springen und Fliegen abzuhalten.‘ (1620: i.104) So wie die Syllogismen für jegliche Untersuchung der Natur unnütz sind, so ist es auch die Induktion durch einfache Aufzählung, die in den logischen Lehrbüchern beschrieben wird. Bacon betrachtete dies konsistenterweise mit Verachtung; ‚kindisch‘ war sein bevorzugter Ausdruck für einen solchen Missbrauch. Sie arbeitet an der Oberfläche der Dinge, wendet ‚populäre‘ Begriffe an und war aus diesem Grund unfähig, Gewissheit zu verschaffen. Bacon war kein Fallibilist, der darauf vorbereitet war, sich mit einer Naturphilosophie aus Vermutungen und nur provisorischen Schlüssen zufrieden zu geben. Gewissheit war für ihn genauso wichtig wie für Descartes, aber die er suchte, war eine ganz andere Art von Gewissheit – nicht die Immunität gegenüber dem skeptischen Zweifel, sondern vollständige Verlässlichkeit. Diese konnte durch Induktion verschafft werden, aber eine solche Induktion hätte von gänzlich neuer Art und viel ausgearbeiteter sein müssen, d.h. eine, die sowohl von negativen, als auch von positiven Fällen Gebrauch zu machen weiß. 5. Die Idole des Geistes Bevor seine neue Logik angewendet werden konnte, musste die Schwäche des menschlichen Geistes, zu deren Korrektur bzw. Vermeidung sie entworfen war, analysiert werden. Der zentrale Abschnitt des Buches I ist das Gegenstück zu den Analysen der feinsinnigen Vernunft, die in den logischen Lehrbüchern vermittelt werden. Was sich dabei ergab, war jedoch nicht lediglich eine Liste der induktiven Irrtümer, sondern einer der denkwürdigsten und originellsten Teile von Bacons System überhaupt. Bacon unterschied vier Arten von Götzenbildern. Die ‚Götzen des Stammes‘ entstehen aus den Begrenztheiten der menschlichen Natur; sie können erlaubt und bewacht, aber nicht gänzlich entfernt werden. Bacon dachte dabei an solche Schwächen wie die Tendenz zur Annahme von mehr Regelmäßigkeiten, als in Wirklichkeit existieren, bzw. die Tendenz, übermäßig von der Vorstellung beeinflusst zu sein, und sogar noch mehr durch Hoffnungen und Wünsche. Eine ganz andere Art von Beschränkung entsteht ihm zufolge aus der Trägheit der Sinne. Bacon empfand keine Sympathie für die radikalen skeptischen Zweifel der Art, die Descartes beschäftigten, aber er war sich scharf der Schwäche der menschlichen Sinne bewusst, und ihrer vollständigen Unfähigkeit zur Unterscheidung der geheimen Arbeitsweisen der Natur. Das Problem sei nicht eines, das man der skeptischen Verzweiflung überlassen sollte oder das durch metaphysische Prüfung gelöst werden könne. Einige Hilfe sei durch die Verwendung von Geräten zu erwarten, aber die wirkliche Lösung liege in dem experimentellen Entwurf. Versteckte Prozesse würden mit beobachtbaren Folgen verbunden, und eine experimentelle Bestimmung der letzteren würde die Natur der ersteren enthüllen. Seine ‚Götzenbilder der Höhle‘ entstehen aus den Eigenarten von Individuen, entweder durch die Natur oder durch die Erziehung eingepflanzt. Einige Geister sind gut im Erkennen entfernter Ähnlichkeiten, andere im Treffen feiner Unterscheidungen; einige fühlen sich vom alten Wissen angezogen, oder was sie dafür halten, andere nur von Neuheiten; fast jeder ist durch diejenigen Disziplinen beeinflusst, 112
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die er gut beherrscht, und noch mehr durch solche, zu denen sie etwas beigetragen haben. Die ‚Götzen des Forums‘ oder ‚Idole des Marktplatzes‘ entstehen aus den Unzulänglichkeiten der menschlichen Rede. Bacon hatte keinen Respekt vor den Kategorien der gewöhnlichen Sprache oder für die habituellen Gedankenmuster der Ungebildeten. ‚Populär‘ ist in seinem Lexikon praktisch invariant ein Ausdruck der Verachtung. Worte für gewöhnliche Zwecke des Lebens können kein befriedigendes Vokabular für die Naturphilosophie bereitstellen, und Versuche zur Heilung der Situation durch Erzeugung von Definitionen bringen nichts: Worte werden durch andere Worte definiert, die mit ihnen gemeinsame Fehler haben. Diese drei Klassen von Götzenbildern können bewacht oder erlaubt, aber nie gänzlich ausgerottet werden. Die vierte Klasse ist in dieser Hinsicht anders beschaffen. Diese besteht aus den ‚Götzenbildern des Theaters‘. Der springende Punkt an dieser Benennung war, dass rivalisierende Philosophien wie Bühnenstücke seien, mit unterschiedlichen Besetzungen und anderen Handlungen, aber alle gleichermaßen fiktiv. Die potentielle Vielfalt eines solchen Systems ist klar unbeschränkt, aber Bacon unterschied drei Haupttypen: Die Naturphilosophie von Aristoteles und seinen Nachfolgern war teilweise durch die Logik, und teilweise durch ein Vertrauen auf umgangssprachliche Ausdrücke korrumpiert worden, d.h. populäre Konzepte, die für die anstehende Aufgabe ziemlich ungeeignet waren. Die empirische Schule (exemplifiziert durch die Alchemisten, die aber auch William Gilbert einschloss, der den Magnetismus untersuchte) war durch eine zu enge Anlage der experimentellen Untersuchung in die Irre geführt worden; eingeschränkte Datenbereiche füllen die Vorstellung und führen zu einseitigen Darstellungen der Welt in chemischen oder magnetischen Ausdrücken. Der Platonismus (Bacon hatte hier weniger die platonischen Lehren selbst gemeint, die er im Allgemeinen mit Respekt behandelte, als vielmehr den Platonismus seiner eigenen Zeit) (siehe Platonismus, Renaissance des) war am schlimmsten von allen betroffen, weil er durch die Theologie und den Aberglauben korrumpiert war. Bacons eigene religiöse Sichtweisen sind keineswegs leicht zu unterscheiden und sind sehr unterschiedlich interpretiert worden, aber vollkommen klar ist, dass er im vollständigen Widerspruch zu einem Eindringen religiöser Lehren, seien sie christlich oder nicht, in die Naturphilosophie stand; das Ergebnis einer Erlaubnis in dieser Hinsicht sei die Verderbnis beider in Gestalt einer abergläubischen Philosophie und einer häretischen Religion. 6. Induktion Bacons methodische Vorschläge nehmen Buch II des ‚Novum Organum‘ ein. Der erste Schritt in jeder Untersuchung ist das Sammeln von natürlichen und experimentellen Phänomenen. Dies mag bei ihm recht breit angelegt sein, z.B. die Phänomene der Hitze in den Aphorismen 11–18, könnte aber auch sehr viel enger gefasst werden: Bacons eigene Beispiele schließen die Ergebnisse der Beobachtungen von Regenbögen, von Honig und von Wachs ein. Die Idee der Beobachtung natürlicher Phänomene war alt; sie ging über zahllose Enzyklopädien der Renaissance und des Mittelalters zurück auf Plinius, und letztendlich auf Aristoteles’ ‚Historia animalium‘. Bacon jedoch führte eine Neuerung von zentraler Bedeutung ein. Seine Beobachtungen bezogen sich nicht nur auf Material, dass er in gewöhnlichen Naturvorgängen gewonnen hatte, sondern auch auf neuartige Phänomene, die durch mensch113
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liche Aktivität hervorgerufen worden waren. In der aristotelischen Tradition wären solche Kunstprodukte als ungeeignetes Untersuchungsmaterial verworfen worden; Bacon sah sie jedoch nicht allein als legitime Gegenstände der Untersuchung an, sondern als besonders wertvoll: ‚durch die Hilfe und Einrichtung des Menschen gerät ein neues Gesicht der Körper, ein weiteres Universum oder Theater der Dinge in unsere Sicht‘ (‚Works‘ IV: 253). Die Natur wurde ‚der Befragung unterworfen‘ – dies war ein zeitgenössischer Euphemismus für die Folter. Berichte dieser Art konnten nicht schnell gesammelt werden, und das ganze Projekt würde offensichtlich ein beträchtliches Maß an Arbeit und Geld kosten. Bacon war sich scharf darüber bewusst, aber er sah hierzu keine Alternative. Das menschliche Verstehen müsse gesäubert und gereinigt werden, und dies dürfe von keiner platonischen (oder kartesischen) Abhebung von den Sinnesdaten beeinflusst werden, sondern durch ein Eintauchen in die Welt der Erfahrung in ihrer ganzen Individualität und Vielfalt. Bacon war ein guter Nominalist der englischen Tradition: für ihn waren allein die Individuen wirklich, und unsere verlässlichsten Erkenntnisse erwachsen aus unserem direkten, wahrnehmenden Bewusstsein von ihnen. Der Rückzug in eine Welt der abstrakten Objekte, die angenommenermaßen der Vernunft zugänglich sein sollen, führen lediglich zur Illusion und dem Aussprechen leerer Allgemeinheiten. Für Bacon trägt das Wort ‚abstrakt‘ – wie das Wort ‚populär‘ – fast unveränderlich negative Konnotationen an sich. Wir müssen deshalb mit den Einzelheiten beginnen; wir müssen ebenfalls mit einem so breit wie möglich angelegten Bereich von Einzelheiten beginnen. Bacon forderte nicht, dass alle diese Daten richtig sein müssen, obwohl manifest falsches Material soweit als möglich ausgesondert, und zweifelhafte Berichte als solche markiert werden sollten. Sicherlich würden sich einige Falschheiten einschleichen, aber mit diesen könne man umgehen; womit man nicht umgehen könne, wären Befangenheiten, die die gesamte Beobachtung beeinflussen. Anfängliche Versuche zur Auferlegung von Relevanzkriterien müssten deshalb vollkommen ausgeschlossen werden. Viele Beobachtungen würde eine immense Datenmenge enthalten, viel zu viel für irgendeinen einzelnen menschlichen Geist, um sie als Ganzes zu begreifen, so dass eine Ordnung dieses Materials in irgendeiner Struktur wesentlich wäre. Bacon schlug die Verwendung von drei Tabellen vor: erstens die Table of Essence and Presence (‚Tabelle des Wesens und der Gegenwart‘), in der alle Situationen aufgelistet werden, in denen die Natur unter Beobachtung gegenwärtig ist; dann eine Table of Deviation or Absence in Proximity (‚Tabelle der näheren Abweichung oder Abwesenheit‘), in der alle jene Situationen beschrieben werden, die sich so eng wie möglich an die der ersten Tabelle halten, wo aber die Natur unter Beobachtung abwesend ist; und schließlich die Table of Degrees or Comparison (‚Tabelle der Grade oder des Vergleichs‘) als eine Liste jener Situationen, wo die Natur, die der Befragung unterworfen ist, in der Intensität schwankt, zusammen mit Details über die Umstände, die diese Schwankungen begleiten. Wenn sie das erste Mal angelegt werden, dann werden sowohl die zweite, als auch die dritte Tabelle zunächst allgemein unvollständig sein, insofern sie Lücken enthalten, entsprechend der Einträge in der ersten. Eine der Hauptfunktionen des Experiments wäre die Heilung dieses Fehlers: beispielsweise sollte in Anbetracht von Sonnenstrahlen, die durch eine konvexe Linse gebündelt werden können, ein 114
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Versuch angestellt werden um zu sehen, ob solche Linsen auch Hitze produzieren können, wenn man die Lichtstrahlung des Mondes oder jegliche Strahlen bündelt, die aus erhitzten Steinen oder Kesseln mit erhitztem Wasser stammen. Sind die Tabellen aufgestellt, so ist es möglich, mit dem induktiven Prozess selbst zu beginnen: „Der erste Schritt der wirklichen Induktion […] ist also die Zurückweisung oder der Ausschluss jener vielen Naturphänomene, die in keinem Fall angetroffen werden, wenn der entsprechende Naturvorgang gegenwärtig ist, oder die in manchen Fällen angetroffen werden, wo der gegebene Naturvorgang abwesend ist, oder die sich in manchen Fällen verstärken, wo der Naturvorgang selbst sich abschwächt, oder sich abschwächen, wenn der gegebene Naturvorgang zunimmt.“ (1620: ii.16) Erst wenn dieser Prozess der Aussonderung vollendet ist, wird es möglich sein, das wahre Wesen (oder die wahre Form, um Bacons eigenen Ausdruck zu verwenden) des fraglichen Naturvorganges zu begreifen. Diese Methode beruht klarerweise auf zahlreichen Vorannahmen, von denen die fundamentalste das Prinzip der beschränkten Vielfalt ist. Obwohl uns die Welt, wie wir sie erfahren, als unaufhörlich abwechselnd erscheint, ist diese gesamte Komplexität die Folge einer Kombination von einer endlichen und tatsächlich recht kleinen Anzahl von einfachen Naturvorgängen. Es gibt ein Alphabet der Naturvorgänge, dass man sich nicht ausdenken oder spekulativ entdecken kann, sondern mit dessen Enthüllung begonnen werden wird, sobald die richtigen Untersuchungsmethoden angewandt werden. Die dafür benötigte Zeit ist tatsächlich nicht einfach endlich, sondern sogar recht kurz: sobald die Beschreibung der Naturvorgänge vollständig ist, wird die Hebung aller Geheimnisse der Natur nur noch ein paar Jahre benötigen, meinte Bacon. Er nahm ferner an, dass es eine direkte Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Naturvorgängen und den Formen gibt, aus denen sie hervorgehen. Er war sich darüber bewusst, dass Kritiker dies leugnen und stattdessen (z.B.) behaupten könnten, dass die Hitze der Himmelskörper und des Feuers, oder das Rot einer Rose und in einem Regenbogen, nur in der Erscheinung einander ähnlich seien, in Wirklichkeit aber ziemlich unterschiedliche Ursachen haben. Bacon leugnete dies fest, wie offenkundig heterogen auch immer die Dinge sein mögen, würden sie doch in der Form oder den Gesetzen übereinstimmen, die die Hitze und die Röte steuern. Sogar so unterschiedliche Weisen wie der Tod durch Ertrinken, durch Erhängen und durch Erstechen würden in der Form oder dem Gesetz übereinstimmen, die den Eintritt des Todes steuern. Diese Art zu denken verstärkte eine Tendenz, die bereits in der alchemistischen Tradition geläufig war, dass nämlich Körper als Sammlungen einfacher Naturvorgänge aufgefasst wurden, von denen jeder isoliert erklärbar (und folglich reproduzierbar) sei. Bacon dachte sicherlich auf diese Weise: Gold ist gelb, schwer, leitend, fixiert (d.h. chemisch unverändert bei Kontakt mit Feuer), etc. Wer auch immer die Form dieser Naturphänomene kennt, kann versuchen, sie in einem einzigen Körper zusammen zu bringen, und er wird daraufhin diesen Körper in Gold verwandeln. Zu anderen Zeitpunkten scheint Bacon jedoch anerkannt zu haben, dass Formen selten unabhängig sind, ‚und wenn jeder Körper in sich viele Formen der Natur trägt, die in einem konkreten Zustand miteinander vereinigt sind, so werden sie ernsthaft zerquetscht, gedrückt, gebrochen werden und einander gegenseitig fesseln, und so 115
Bacon, Francis (1561–1626)
wird die individuelle Form verdunkelt.‘ (1620: ii.24) Sie sind jedoch nicht gänzlich versteckt: da die Ausdehnung ein Teil der Form der Hitze ist, so müssen sich alle erhitzten Körper ausdehnen. Aber während die Ausdehnung der Luft leicht zu bemerken ist, zeigt sich diejenige des Eisens nicht so einfach den Sinnen. Die Rechtfertigung des Prinzips der beschränkten Vielfalt und der direkten Korrelation der Formen und Naturvorgänge könnte ruhig aufgeschoben werden; einem weiteren Problem muss jedoch gleich zu Beginn ins Auge gesehen werden. Der Ausschluss bringt die Zurückweisung einfacher Naturvorgänge mit sich, ‚und wenn wir noch nicht über die stimmigen und wahren Begriffe der einfachen Naturvorgänge verfügen, wie kann der Prozess des Ausschlusses dann korrekt erfolgen?‘ (1620: ii.19) Die alte Logik hatte sich aufgrund ihrer Mängel als unpassend erwiesen; welche Gründe gibt es also für die Annahme, dass ihre Ersetzung besser funktionieren würde? Bacon war sich dieses Problems genau bewusst, und auch der Schwierigkeit, die sich daraus für sein Projekt ergab. Seine Lösung lautete, eine Reihe von Hilfen für die Induktion vorzuschlagen. Deren Darstellung nimmt den letzten Teil von dem Buch II des ‚Novum Organum‘ in Anspruch und ist (charakteristischerweise) langatmig, umständlich und unvollendet. Tatsächlich war alles, was er zu beschreiben schaffte, die erste seiner neun Arten der Unterstützung, die ‚Vorrechte der Fälle‘ (Prerogatives of Instances), unter denen er nicht weniger als siebenundzwanzig unterschiedliche Abwandlungen unterschied. Bacons Darstellung von ihnen zeigt vielleicht klarer als irgendeine andere Passage seiner Schriften die typischen Stärken und Schwächen seines Geistes. Die Diskussion ist oft scharfsinnig und manchmal sogar noch mehr – die instantia crucis ist in die modernen Wissenschaften unter dem Namen des Schlüsselexperiments eingegangen –, aber Bacons Sucht nach Ausarbeitung von Klassifikationssystemen und unseligen Nomenklatura-Schemata drängt sich häufig in den Vordergrund, vor allem in den neunzehn Arten der Bewegung, die er in Aphorismus 48 beschreibt. Sein immenser intellektueller Abstand von solchen Zeitgenossen wie Galileo Galilei wird nirgends deutlicher als hier. 7. Naturphilosophie Bacons intellektuelle Begabungen waren bemerkenswert, aber sie lagen nicht auf dem Gebiet der Wissenschaft. Er war ein Rechtsanwalt, und dort, genauso wie allgemein in menschlichen Angelegenheiten, war er als Fachmann wirklich zu Hause. Er wurde in der Naturphilosophie weithin gelesen, aber sein Ansatz blieb der eines Außenseiters, wenn auch eines scharfsinnigen und herausragend intelligenten. Diese Beschränkungen wurden insbesondere sichtbar, als Bacon sich der Astronomie zuwandte, der am höchsten entwickelten unter allen zeitgenössischen Wissenschaftsdisziplinen. Er verwarf den Kopernikanismus, und obwohl er zahlreiche Schwächen der überkommenen astronomischen Lehre sah, hatte er doch nur unklare und, anders als Kepler, ziemlich hilflose Ideen, wie das Gebiet zu reformieren sei. Bacons eigene Physik war grundsätzlich nichtmechanisch. Körper enthalten zwei Arten von Materie, berührbare und geistige, und die Wirksamkeit der letzteren dachte er sich, wenn er sich auch niemals klar hierüber erklärte, sicherlich nicht im Rahmen der Mechanik. Bacon entwickelte jedoch einige Ideen, die von den ‚mechanischen‘ Philosophen, die sich ihm anschlossen, in der Hinsicht übernommen wurden, dass die beobachtbaren Qualitäten der Körper durch die Verfassung ihrer 116
Bacon, Francis (1561–1626)
inneren Teile zu erklären sind. Glas kann weiß gemacht werden, indem es in kleine Stückchen zermahlen wird, und das Wasser ebenfalls weiß, indem es zu Schaum geschlagen wird; Hitze ist keine scholastisch-wirkliche Qualität, sondern eine Art von Bewegung. Später waren Baconianer wie Boyle und Hooker in der Lage, diese Ideen zu übernehmen und in eindeutigerer Weise mechanistisch auszudrücken. 8. Bacons Einfluss Bacons philosophische Schriften stießen auf geringe Wertschätzung im England der 1620er und 1630er Jahre. Bewunderer aus dem Kreise der älteren Leser, von James I abwärts, waren größtenteils verständnislos, und der eine größere Wissenschaftler, der damals tätig war, nämlich William Harvey, zeigte sich brüsk abweisend. Bacon hatte mehr Wirkung in Frankreich, wo er sorgfältig von Mersenne, Gassendi und Descartes gelesen wurde, aber auch sie reagierten nur auf ausgewählte Teile des Systems, vor allem auf die ‚Götzenbilder‘ und seine Berufung auf das Experiment. Die politischen Unruhen in England in den 1640er Jahren setzten neues Interesse an Bacons Gedankengut frei, sowohl unter den Fürsprechern einer universalen Reform wie Samuel Hartlib, als auch unter solchen Naturphilosophen wie Robert Boyle und Robert Hooke. Der Baconismus wurde tatsächlich zur offiziellen Philosophie der Royal Society, die in Thomas Sprats halboffizieller ‚History‘ gefeiert wurde (1667). Die auf diese Weise geweckten Hoffnungen, erwiesen sich jedoch als schwer erfüllbar. Newton schenkte Bacon wenig Interesse, und die ‚Principia‘ waren eine Leistung, die mit dem, was im ‚Novum Organum‘ projektiert war, buchstäblich nichts zu tun hatte. Lockes Dankbarkeit war etwas größer, speziell in ‚The Conduct of the Understanding‘, aber im frühen 18. Jahrhundert ließ das Interesse am Baconismus nach. Voltaires Beispiel folgend behandelte die Französische Enzyklopädie Bacon mit großem Respekt als einen empirischen, im Wesentlichen säkularen Denker, der auf günstige Weise Descartes gegenübergestellt wurde, welcher nunmehr als wissenschaftlich diskreditiert und in zu starkem Gegensatz zur Kirche gesehen wurde. In England wurde Bacon von Hume ignoriert, aber von Reid bewundert, der dabei half, eine weithin einflussreiche methodologische Synthese der Baconschen und Newtonschen Ideen zu erschaffen. Das Wiedererwachen des Baconismus erreichte seinen Höhepunkt im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts. Sir John Herschels ‚Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy‘ (1830) war ein gründlicher Versuch zur Neufassung des Baconismus in einer Form, die mit der zeitgenössischen Wissenschaft vereinbar war. John Stuart Mill und William Whewell, obwohl sie ansonsten in fast allem unterschiedlicher Meinung waren, fühlten sich beide Bacon gegenüber tief verpflichtet, und vor allem seiner induktiven Wissenschaftsmethode. Die zugänglichste Einführung in die frühviktorianische Einstellung gegenüber Bacon liefert jedoch Macaulays Aufsatz ‚Lord Bacon‘ (1837). Obwohl er Bacons Denken respektvoll begegnete, hatte Macaulay eine weniger günstige Meinung von seinem Charakter, und es erschien wie eine Antwort auf diese Darstellung, dass James Spedding jene Arbeit unternahm, die zur ‚Life and Letters‘ (1857–1874: Bd. VIII–XIV) führte, sowie zu der kritischen Edition von Bacons Werken, die von R.L. Ellis und D.D. Heath gemeinsam herausgegeben wurden. 117
Bacon, Roger (1214–1292)
Im Ausgang des 19. Jahrhunderts erlebte Bacons Reputation als Methodiker einen Niedergang. Dieser Trend setzte sich nach 1900 fort; seine Reputation erreichte einen Nullpunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Karl Popper eine Methode für die Wissenschaften vorschlug, die einen vollständigen Verzicht auf die Induktion mit sich brachte, und Historiker wie Alexander Koyré stellten die wissenschaftliche Revolution so dar, dass Bacons Beitrag vollkommen marginal war. Seitdem gab es ein bescheidenes Wiederaufleben, aber Bacon hat immer noch nicht seinen Platz im philosophischen Kanon gefunden. Siehe auch: Humanismus; Renaissance; Induktion, Epistemische Fragen der; Induktiver Schluss; Schlüsselexperiment; Technologie, Philosophie der; Wissenschaftliche Methode Anmerkungen und weitere Lektüre: Bacon, F. (1620): ‚Novum Organum‘; Neudruck, Hrg. T. Fowler, Oxford, Clarendon Press, 1888; Transkription: P. Urbach und J. Gibson, La Salle, IL: Open Court, 1994, (Bacons wichtigstes philosophisches Werk, das eine detaillierte und immer noch wichtige Darstellung seiner Arbeit enthält. Fowler gibt den originalen lateinischen Text mit sehr nützlichen Anmerkungen wieder; Urbach und Gibson bieten eine gute Übersetzung ins moderne Englisch.) Peltonen, M. (Hrg.) (1996): ‚The Cambridge Companion to Bacon‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Sammlung aktueller Betrachtungen, inkl. umfangreicher Bibliographie.) J.R. MILTON
Bacon, Roger (ca. 1214–1292/4)
Durch seine Tätigkeit sowohl an der Universität von Paris, als auch an der Oxford University war Roger Bacon einer der ersten Gelehrten des lateinischen Westens, der über Aristoteles’ Schriften, und zwar nicht nur über die Logik, Vorlesungen hielt und Kommentare verfasste. Nachdem er Robert Grossetestes Arbeiten zur Naturphilosophie kennen gelernt hatte, wurde er zum Verfechter einer Lehrplanreform, die das wissenschaftliche Experiment und das Studium der Sprachen betonte. Seine Standpunkte waren oft unpopulär, und er äußerte sich herablassend über alle, die nicht mit ihm übereinstimmten. Bacons Arbeiten in der Logik und der semantischen Theorie hatten schon zu seinen Lebzeiten und auch unmittelbar nach seinem Tode einen gewissen Einfluss. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten hatten jedoch nur geringe Wirkung. Sein Verdienst in der Geschichte der Naturwissenschaften ist teilweise dem Umstand zu verdanken, dass er als ein Vorgänger der Oxford Calculators gesehen wird, die einige wichtige Entwicklungen der Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts vorwegnahmen. Siehe auch: Grosseteste, R.; Oxford Calculators GEORGETTE SINKLER
Bakhtin, Michail Michailowitsch (1895–1975)
Bakhtin (auch: Bachtin) wird allgemein als der einflussreichste russische Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts betrachtet. Seine Schriften über die Literatur, die Sprache, die Ethik, die Autorenschaft, den Karneval, die Zeit und die Kulturtheorie haben das Denken der Kritik und der Sozialwissenschaften geformt. Seinen Namen
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Bachtin, Michail Michailowitsch (1895–1975)
identifiziert man mit dem Begriff des Dialogs, den er auf die Sprache und die zahlreichen anderen Aspekte der Kultur und der Psyche anwandte. Bachtin betrachtete die literarischen Genres als implizite Weltanschauungen, konkrete Übersetzungen eines Sinnes von Erfahrung. Indem er streng der Idee anhing, dass Romanschriftsteller einfach Geschichten um die ihnen eingegebenen philosophischen Ideen weben, machte er geltend, dass sehr oft bedeutende Entdeckungen zuerst durch Schriftsteller gemacht werden und dann in die abstrakte Philosophie ‚transkribiert‘ werden, häufig mit bedenklichen Verlusten. Beispielsweise betrachtete er die Romanciers des 18. Jahrhunderts als Erforscher eines modernen Begriffs der Historizität, noch lange bevor die Philosophie dieses Thema aufgriff. Er wandte ein, dass ein beachtlicher Gewinn an Weisheit dadurch erzielt werden könnte, dass man die Form genauso wie den expliziten Inhalt literarischer Arbeiten untersucht. Ein großer Teil der Weisheit ist allerdings genauso wenig in der Literatur wie auch im Leben formalisierbar, obwohl wir uns einem Teil davon nähern und uns um mehr bemühen können. Eine solche teilweise Wiedergewinnung ist nach Bachtins Auffassung die hauptsächliche Aufgabe der Literaturkritik. Bachtins bevorzugtes Genre war die realistische Novelle. Aus seiner Sicht enthalten Novellen den meisten sprachlichen, psychologischen, zeitlichen und ethischen Sinn im ganzen westlichen Denken. Er revolutionierte das Studium der Novellen, indem er meinte, dass die traditionelle Dichtung, die Kategorien anwandte, die sowohl für die Dichtkunst, als auch für das Drama geeignet seien, nicht in der Lage gewesen sei, den Wert des novellistischen Schreibens zu erkennen, und was daran speziell wertvoll ist. Indem er das Wesen der ‚prosaischen Intelligenz‘ suchte, formulierte er eine Alternative zur Dichtung, die die Kritiker ‚Prosaik‘ nannten. Dieser Ausdruck bezeichnet auch einen wichtigen Teil seiner Weltsicht, indem er bei vielen anderen Themen wieder auftaucht, speziell bei der Sprache. Bachtin betonte das prosaische, gewöhnliche, unsystematische Ereignis in der Welt als das vorrangige. In der Kultur kann Ordnung nie vorausgesetzt werden, sondern ist immer eine ‚Aufgabe‘, das Ergebnis von Arbeit, die nie vollendet ist und immer wieder durch alltäglich zufällige Ereignisse in Unordnung gebracht wird. Besser als jede andere Form des Denkens erfassen große Prosa, und speziell die realistischen Novellen, diesen prosaischen Sinn des Lebens. Da er an die Kontingenz und die menschliche Freiheit glaubte, beschrieb Bachtin einzelne Menschen und kulturelle Einrichtungen im Allgemeinen als ‚nicht abschließbar‘. Menschen zeigen immer ‚Überraschendes‘ und können nie auf ein vollständiges verständliches System reduziert werden. Indem er die Implikationen von Dostojewskijs Novellen umschreibt, machte Bachtin das spezifisch Menschliche in deren Fähigkeit aus, ‚alle Veräußerlichungen und abschließenden Definitionen von ihnen als unwahr zu entlarven. So lange eine Person lebt, ist dies auch eine Bestätigung dafür, dass sie nicht abgeschlossen ist, d.h. dass sie nicht ihr letztes Wort gesprochen hat.‘ (‚Problemy poetiki Dostoevskogo‘, 1929; im Org. ebenfalls kursiv). Ethisch gesehen ist es am schlimmsten, Menschen so zu behandeln, als hätte es sein Bewenden mit irgendeiner Wahrheit über sie ‚aus zweiter Hand‘. Psychologisch gesprochen „stimmt ein Mensch niemals mit sich selbst überein. Man kann auf ihn nicht Identitätsformel A ≡ A anwenden. […] Das echte Leben einer Persönlichkeit findet an dem Punkt der Nicht-Übereinstimmung zwischen einem Menschen und ihm selbst statt […], jenseits der Grenzen von allem, das er als materielles Wesen 119
Barmherzigkeit, Prinzip der
ist, […] und das abseits seines Willens ausspioniert, definiert, eben aus zweiter Hand vorhergesagt werden kann.“ (‚Problemy poetiki Dostoevskogo‘, 1929) Bachtin stellte sich daher gegen alle deterministischen Philosophien und alle Kulturtheorien, die die Unordnung der Dinge und die Offenheit der Zeit herunterspielen. Er widersprach dem Marxismus und der Semiotik strengstens, obwohl seltsamerweise im Westen gerade diese beiden Schulen seine Lehren übernommen haben. Er sprach in der folgenden Paraphrase zu Dostojewskij seinen eigenen Gedanken aus, als er schrieb: „Nicht Schlüssiges hat bis jetzt in der Welt stattgefunden; das letzte Wort der Welt und über die Welt ist noch nicht gesprochen worden, die Welt ist offen und frei, alles ist noch in der Zukunft und wird für immer in der Zukunft sein.“ (‚Problemy poetiki Dostoevskogo‘, 1929) GARY SAUL MORSON
Bakunin, Michail Aleksandrowitsch (1814–1876)
Bakunin war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der führende Befürworter einer ganzen Reihe von anarchistischen Lehren, die in einem romantischen Kult primitiver Spontaneität wurzelten, und er war einer der Hauptideologen des russischen Populismus. Aber zugleich mit seiner öffentlichen Verteidigung des Prinzips der ‚absoluten Freiheit‘ versuchte er ein Netzwerk von Geheimgesellschaften einzurichten, die die Revolution anleiten und danach diktatorische Macht übernehmen sollten. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Aspekten seiner Tätigkeiten hat die Historiker verwirrt, so dass viele von ihnen die Antwort darauf in seiner Persönlichkeit suchten, die einen starken Drang zur Dominanz, wie auch zur Rebellion aufwies. AILEEN KELLY
Barmherzigkeit Siehe: Liebe
Barthes, Roland (1915–1980)
Auf dem Gebiet der zeitgenössischen Literaturstudien kann der französische Essayist und Kulturkritiker Roland Barthes nicht leicht eingeordnet werden. Seine frühen Arbeiten über die Sprache und die Kultur waren stark von den intellektuellen Strömungen des Existenzialismus und dem Marxismus beeinflusst, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Frankreichs intellektuellem Leben vorherrschend waren. Schrittweise bewegte sich seine Arbeit immer stärker auf die Semiologie (d.h. einer allgemeinen Zeichentheorie) hin, die in der literarischen Kritik in enger Verbindung zur strukturalistischen Tradition stand. In seinen späteren Arbeiten schrieb Barthes eher als ein Poststrukturalist, denn als Strukturalist, indem er versuchte, die Natur und Autorität eines Textes zu definieren. Durch seine sämtlichen Werke wies Barthes die ‚naturalistische‘ Sichtweise der Sprache zurück, die das Zeichen als eine Repräsentation von Wirklichkeit auffasst. Er meinte, dass die Sprache eine dynamische Tätigkeit ist, die auf dramatische Weise literarische und kulturelle Praktiken beeinflusst. Siehe auch: Dekonstruktion JAMES RISSER
Baumgarten, Alexander Gottlieb (1714–1762)
Der deutsche Philosoph Baumgarten ist hauptsächlich für seine Einführung des Wortes ‚Ästhetik‘ bekannt zur Beschreibung der Affekte, die von der Kunst und der 120
Bayle, Pierre (1647–1706)
Natur ausgehen, und welches im Verlauf des 17. Jahrhunderts die ältere Theorie der Schönheit ersetzte. Baumgarten leitete den Ausdruck von dem griechischen Wort aisthanomai ab, das er dem lateinischen Wort sentio gleichsetzte. Er verstand darunter eine Bezeichnung der äußeren, externen oder körperlichen Sinne, im Gegensatz zu dem inneren Sinn des Bewusstseins. Deshalb ist die Ästhetik das Reich des Sinnlichen, der sinnlichen Wahrnehmung und der wahrnehmbaren Gegenstände. Baumgarten fasste seine Verwendung des Wortes als übereinstimmend mit den klassischen Quellen auf, doch war er sich darüber bewusst, dass er die Logik und die Naturwissenschaft damit in einen neuen Bereich ausdehnte. Baumgartens Bedeutung liegt im Umbau des Leibnizschen Rationalismus sowohl zum Studium der Kunst, als auch dem, was nach Kant als die Ästhetik bekannt wurde. Siehe auch: Ästhetische Begriffe; Ästhetik; Sublime, das DABNEY TOWNSEND
Bayesianismus
Siehe auch: Bestätigungstheorie; Induktiver Schluss; Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der; Ramsey, Frank Plumpton; Statistik
Bayle, Pierre (1647–1706)
Bayle war einer der tiefgründigsten skeptischen Denker aller Zeiten. Er war außerdem ein Verfechter der religiösen Toleranz und ein wichtiger Moralphilosoph. Das grundlegende Ziel seines Skeptizismus war es, die Ansprüche der Vernunft zu zügeln, um dem Vertrauen Raum zu verschaffen. Die menschliche Vernunft, so glaubte er, leidet unter zwei fundamentalen Schwächen: sie hat nur eine begrenzte Fähigkeit zur Motivation unserer Handlungen, und sie ist mehr eine negative, als eine positive Fähigkeit, d.h. besser im Aufdecken von Fehlern verschiedener philosophischer Standpunkte, als in der Rechtfertigung von ihnen. Diese Konzeption der Vernunft führte Bayle mit ungewöhnlicher Klarheit zu der Einsicht, dass die Natur der skeptischen Argumente so beschaffen sein muss, dass sie ihren Gegenstand von innen her zersetzen, indem sie zeigen, wie die Ansprüche des Wissens sich selbst mit ihren eigenen Ausdrücken untergraben. Bayles moralisches Denken findet sich im Wesentlichen in seiner Kritik der Darstellungsversuche (z.B. jenem von Malebranche), wie der allmächtige und gute Gott eine Welt erschaffen haben kann, in der es dennoch Böses gibt. Solche Theodizeen, wandte Bayles ein, stützen sich auf unakzeptable Modelle moralischer Rationalität. Bayles Argumente enthüllen einen Standpunkt des moralischen Argumentierens, der bereits für sich gesehen von beachtlichem Interesse ist. Wie Malebranche (und im Gegensatz zu Leibniz, der Bayles Kritik der Theodizee angriff), glaubte er, dass es höhere Pflichten gibt als diejenige, soviel Gutes wie nur irgend möglich hervorzubringen. Aber anders als Malebranche sah Bayle diese Pflichten als etwas an, was der rationale Akteur nicht etwa sich selbst schuldet, sondern was er der unverletzlichen Individualität der anderen Menschen schuldet. Diese Lebensauffassung hatte zweifellos ihre psychologischen Wurzeln in Bayles eigener Erfahrung als ein hugenottisches Opfer religiöser Verfolgung. Siehe auch: Spinoza, B. de CHARLES LARMORE
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Beattie, James (1735–1803)
Beattie, James (1735–1803)
James Beattie war im späten 18. Jahrhundert als ein Moralist und Dichter berühmt, und er half bei der Verbreitung der schottischen Common-sense-Philosophie. Am Marischal College in Aberdeen pflegte Beattie einen Vorlesungsstil, der stark von dem seiner Vorgänger in Aberdeen abwich. Weil er glaubte, dass die Form der abstrakten Analyse, die für die Wissenschaft vom Geist zu seiner Zeit charakteristisch war, seine Studenten oft in den Morast des Humeschen Skeptizismus führte, bemühte sich Beattie, ihnen eine schlüssige Moral und religiöse Prinzipien durch das Studium der antiken modernen Literatur einzuschärfen. Infolgedessen wich seine Fassung der Common-sense‑Philosophie von jener, die Thomas Reid entwickelt hatte, ab. Beattie war mehr ein praktischer Moralist als ein Anatom des Geistes, und seiner Behandlung der Common-sense-Erkenntnistheorie mangelte es der Strenge und des philosophischen Ranges eines Reid. PAUL WOOD
Beauvoir, Simone de (1908–1986)
Simone de Beauvoir, eine französische Romanschriftstellerin und Philosophin in der existenzialistisch-phänomenologischen Tradition, arbeitete in ‚Pyrrhus et Cinéas‘ (1944) und ‚Pour une morale de l‘ambiguïté‘ (‚Die Ethik der Mehrdeutigkeit‘, 1947) eine Anthropologie und Ethik aus, die durch Kierkegaard, Husserl, Heidegger und Sartre inspiriert war. In ihrer umfassenden Studie der Situation der Frauen, ‚Le deuxième sexe‘ (‚Das zweite Geschlecht‘, 1949) wurde die Anthropologie und Ethik weiter entwickelt und mit einer Geschichtsphilosophie, die von Hegel und Marx inspiriert war, kombiniert. Die bekanntesten Merkmale der Beauvoirschen Philosophie sind ihre ethische Orientierung zusammen mit einer Analyse der Unterordnung der Frauen. Ihr Begriff der Frau als das Andere steht im Zentrum der feministischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Siehe auch: Phänomenologische Bewegung EVA LUNDGREN-GOTHLIN
Beccaria, Cesare Bonesana (1738–1794)
Beccaria, der am ehesten durch seine Schrift ‚Dei Delitti e delle Pene‘ (‚Über Verbrechen und Strafen‘) bekannt ist, war eine führende Figur der Mailänder Aufklärung. Er schrieb auch über die Volkswirtschaft und kam in der Lombardischen Verwaltung zu hohen Ämtern. Sein Hauptwerk kombiniert kontraktualistische und utilitaristische Argumente zur Darstellung einer vermittelnden Theorie der Bestrafung. Nach seiner Auffassung wirkt das Gesetz als eine Sanktion zur Abschreckung schädlichen Verhaltens, und es sollte klar und gleich für alle sein. Die Bestrafung muss in einem Verhältnis zum Verbrechen stehen, während es die Freiheit der Individuen schützt, damit sie ihren Interessen zum eigenen Nutzen und dem der Gesellschaft nachgehen können. Er verdammte die Folter und die Todesstrafe, weil sie diese Ziele verfehlen. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische; Kontraktualismus; Utilitarismus; Verbrechen und strafe RICHARD BELLAMY
Bedeutung
Siehe: Bedeutung, Indische Theorien der; Semantik; Sprache, Philosophie der
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Bedeutung und Regelfolgen
Bedeutung und Regelfolgen
Wittgensteins Diskussion der Regeln und des Regelfolgens und die jüngeren Antworten darauf wurden weithin als eine sehr tiefe und weitgehende Herausforderung der Begriffe ‚Bedeutung‘, ‚Verstehen‘ und ‚Absicht‘ aufgefasst, d.h. als Infragestellung zentraler Begriffe der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes. Die grundlegende Frage ist hier, was an den Worten ihre Bedeutung ausmacht, und was es heißt, dass Sprecher Worte im Einklang mit deren Bedeutung verwenden. In den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ und den ‚Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik‘ erforscht Wittgenstein die Idee, dass das, was dem Wort eine Bedeutung gibt, eine Regel seines Gebrauchs ist, und dass ein kompetenter Sprecher die Worte entsprechend dieser Regeln zu verwenden hat. Seine Diskussion des Wesens der Regeln und des Regelfolgens war enorm einflussreich, obwohl es kein allgemeines Einvernehmen über die Schlüsse gibt, die er daraus zog, und welche seine abschließende Position hierzu war. Die Auffassung, dass es keine Objektivität in dem individuellen Versuch gibt, einer Regel gänzlich isoliert zu folgen, ist eines von Wittgensteins Argumenten gegen die Möglichkeit einer Privatsprache. Für einige Kommentatoren führt Wittgensteins Diskussion nur zu einer skeptischen Konklusion, dass es keine Regeln gibt, denen man folgen könne, und damit auch keine Tatsachen darüber, was Worte bedeuten. Andere wiederum sahen ihn als jemanden, der gezeigt habe, wie gewisse Modell dessen, was es für ein Individuum heißt, einer Regel zu folgen, unangemessen seien und daher durch eine Berufung auf eine gemeinsame linguistische Praxis ersetzt werden müssen. Siehe auch: Private Zustände und Sprache BARRY C. SMITH
Bedeutung und Verifikation
Die Verifikationstheorie der Bedeutung sagt, dass die Evidenz ein Beweis ist. Diese Theorie wird beispielsweise in Humes empiristischer Lehre der Eindrücke und Vorstellungen antizipiert und zeigt sich dann in voller Größe im logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts. Die Positivisten verwendeten die Theorie in ihrer Kritik an der Metaphysik um zu zeigen, wie einige Probleme der Philosophie, z.B. jenes der externen Welt und das Problem des Fremdgeistigen, überhaupt keine wirklichen Probleme seien, sondern nur Pseudofragen. Ihre publizierenden Autoren nutzten die Lehre für den Beweis, dass die Religion, die Ethik und die Fiktion bedeutungslos seien, wodurch der Verifikationismus in der allgemeinen Öffentlichkeit schließlich sein berüchtigtes Bild erhielt. Die fruchtbare Kritik am Verifikationismus um 1950 wandte dagegen ein, dass keine Aufteilung zwischen Sinn und Unsinn auf ordentliche Weise übereinstimmt mit irgendeiner annehmbaren Aufteilung zwischen Wissenschaft und Metaphysik, wie die Positivisten behauptet hatten. Später entwickelte Quine den Verifikationismus zu einer Art semantischem Holismus weiter, in dem die Metaphysik und Wissenschaft einander durchdringen. Im Gegensatz dazu argumentierte Dummett ausgehend von der Wittgensteinschen Behauptung, dass die Bedeutung aus der Verwendung folgt, um jegliche Art von Wahrheit abzulehnen, die die Möglichkeit der Erkenntnis übersteigt, und verteidigte aus dieser Position die intuitionistische Logik. Aber die Behauptung, dass alle Wahrheit erkannt werden könne, führt in dem ansonsten harmlosen intuitionistischen Rahmen zu der grotesken Konsequenz, dass alle Wahrheiten
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Bedeutung und Wahrheit
bereits bekannt sind. Es gibt Möglichkeiten, an diesen Rahmen herumzubasteln, um diese Konsequenz zu vermeiden, aber das Beste ist es, per reductio zu schließen, dass einige Wahrheiten noch nicht bekannt sein können, und dass der Verifikationismus deshalb einfach falsch ist. Dies scheint wiederum zu zeigen, dass die Aussichten für eine empiristische Theorie der Bedeutung düster sind, was ein selbstgefälliges Vertrauen in die Bedeutung durchaus zu erschüttern vermag. W.D. HART
Bedeutung und Wahrheit
Die analytische Philosophie erlebte in den letzten Jahren ein wieder auferstehendes Interesse an der Möglichkeit, die sprachliche Bedeutung von Ausdrücken in Funktionen der Wahrheit zu erklären, deren Begriff viele Philosophen als umgänglicher ansahen als den der Bedeutung. Die Annahme im Kern dieser Bemühung ist, dass die Bedeutung eines deklarativen Satzes dadurch erschlossen werden könne, dass man gewisse Bedingungen benennt, unter denen dieser Satz wahr ist. Daher ist der deklarative Satz ‚Die Venus ist rot‘ genau unter der Bedingung wahr, dass die Venus tatsächlich rot ist; und dies ist exakt das, was der Satz bedeutet (Tarski). Wie es aussieht, liefert uns dieser Vorschlag allerdings keine Erklärung der Bedeutung des Wortes und der Wendungen, die den Satz bilden, denn im Allgemeinen sind dies keine Ausdrücke, die Wahrheitsbedingungen haben, d.h. es gibt keine Bedingungen, unter denen das Wort ‚Venus‘ wahr ist. Ferner muss dieser Vorschlag durch irgendeine Methode der Umschreibung von Wahrheitsbedingungen ergänzt werden, die die Bedeutung deklarativer Sätze verkörpert, denn es gibt viele Bedingungen, unter denen irgendein gegebener Satz wahr ist: ‚Die Venus ist rot‘ ist nicht nur wahr, wenn die Venus tatsächlich rot ist, sondern beispielsweise auch, wenn die Venus rot ist und 7 + 5 = 12 ist; dies bedeutet aber nicht, dass die Venus rot und 7 + 5 = 12 ist. Offenkundig kann das erste Problem nur durch das Auffinden weiterer semantischer Eigenschaften gelöst werden, die die Bedeutung von Worten und Wendungen anzeigen. Beispielsweise denkt man manchmal, dass die Bedeutung eines Namens dadurch spezifiziert werden könne, dass man sagt, worauf er verweist, und dass die Bedeutung eines Prädikats dadurch ermittelt werden könne, dass man sagt, auf was es zutrifft (‚von was es wahr ist‘). Man beachte aber, dass, weil die Bedeutung eines deklarativen Satzes dadurch erfasst werden kann, dass man zunächst die Bedeutung seiner grundlegenden Bestandteile erfasst, bedeutungshinweisende Zuschreibungen semantischer Eigenschaften zu solchen Bestandteilen eine bedeutungshinweisende Erklärung ihrer Wahrheitsbedingungen mit sich führen müssen. Semantische Eigenschaften wie z.B. ‚sich beziehen auf‘ oder ‚wahr sein von‘ erfüllen dieses Erfordernis, jedenfalls zumindest im Zusammenhang mit dem, was manchmal die ‚Wahrheitstheorie‘ einer Sprache genannt wird. Dennoch verbleibt hier ein Problem, wie man die richtige bedeutungshinweisende Erklärung von Wahrheitsbedingungen für deklarative Sätze umschreiben kann. Tatsächlich wissen wir bereits, dass wir ein weiteres Problem haben. Denn wenn die Bedeutung der Bestandteile von Sätzen nicht direkt erklärt werden kann, sondern nur in Gestalt dessen, worauf sie sich z.B. beziehen oder von was sie wahr sind, dann müssen wir auch einen Weg zur Bestimmung desjenigen der vielen Wege finden, der zur Spezifizierung dessen, worauf diese Ausdrücke verweisen, oder der Bedingungen, unter denen sie von etwas wahr sind, bedeutungshinweisend ist. Diese 124
Bedeutung, Indische Theorien der
Probleme könnten vielleicht gelöst werden, indem man eine geeignete Wahrheitstheorie für eine Sprache in einen Rahmen bringt, der uns erlaubt, uns auf die allgemeine Psychologie ihrer Sprecher zu berufen. Versuche zur Erhellung der Bedeutung als ihre Wahrheitsbedingungen rufen allerdings eine Unzahl weiterer Probleme hervor. Viele von ihnen sind Detailfragen, die die Arten von Eigenschaften betreffen, die wir mit bestimmten Sprachen und sprachlichen Konstrukten verbinden sollten, oder äquivalent gesagt, wie wir Wahrheitstheorien für sie entwickeln können. Als Ergebnis von Tarskis Werk haben wir eine gute Vorstellung davon, wie dies für einen großen Bereich von Ausdruckskategorien zu bewerkstelligen wäre. Es gibt aber auch zahlreiche solcher Kategorien, die sich zumindest oberflächlich einer solchen Einordnung in einen solchen Rahmen zu widersetzen scheinen. Noch allgemeinere Schwierigkeiten betreffen die Frage, ob die Wahrheit überhaupt im Zentrum der Analyse oder Erhellung der Bedeutung stehen sollte. Zwei Einwände dagegen sind besonders prominent; der eine von ihnen verweist auf antirealistische Bedenken, der andere auf die Redundanztheorie der Wahrheit. Siehe auch: Davidson, D. STEPHEN G. WILLIAMS
Bedeutung, emotionale
Siehe: Emotionale Bedeutung
Bedeutung, Indische Theorien der Einführung Der Ausdruck ‚artha‘ wird im Sanskrit für den Begriff der Bedeutung verwendet, und zwar im weitesten Sinne dieses Wortes; damit kann die Bedeutung von Worten, Sätzen und Schriften genauso gemeint sein wie jene von nichtsprachlichen Gesten und Zeichen. Das mit diesem Ausdruck Gemeinte reicht von einem wirklichen Gegenstand der externen Welt, auf den sich ein Wort bezieht, bis hin zu einem reinen Begriff eines Gegenstandes, der sich auf irgendetwas in der externen Welt beziehen kann oder auch nicht. Die Unterschiede dessen, was ‚Bedeutung‘ meint, wird durch die philosophischen Schulen der Nyāya, Vaiśes. ika, Mīmām.sā, des Buddhismus, der Grammatik des Sanskrit und der Sanskrit-Dichtung diskutiert. Unter diesen weisen die Nyāya, Vaiśes. ika und Mīmām.sā realistische Ontologien auf. Mīmām.sā konzentriert sich stark auf die Interpretation der vedischen Schriften. Buddhistische Lehren stellen die Sprache allgemein als etwas dar, was eher ein falsches Bild von der Wirklichkeit vermittelt. Die Sprachforschung des Sanskrits interessiert sich mehr für die Grammatik als für die Ontologie, während die Dichtung des Sanskrits sich auf die poetischen Dimensionen der Bedeutung fokussiert. Allgemein schichtet sich der Begriff der Bedeutung in drei oder vier Typen. Erstens gibt es die ‚primäre Bedeutung‘. Wenn diese in einem gegebenen Kontext unangemessen erscheint, dann begibt man sich zu einer zweiten Bedeutung, die eine Erweiterung der primären ist. Jenseits dieser liegt die intentionale Bedeutung, die mit jener identisch sein kann, aber nicht sein muss, die vom Sprecher beabsichtigt war. Spezifische Bedingungen, unter denen diese unterschiedlichen Varianten auch unterschiedlich verstanden werden, diskutieren die jeweiligen Schulen.
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Bedeutung, Indische Theorien der
Die verschiedenen indischen Bedeutungstheorien stehen in engem Zusammenhang mit den allgemeinen Standpunkten, die von den jeweiligen Schulen eingenommen werden. Unter den Faktoren, die den jeweiligen Bedeutungsbegriff beeinflussen, spielen die ontologischen und erkenntnistheoretischen Sichtweisen einer Schule eine Rolle, ihre Auffassungen betreffend die Rolle Gottes und der heiligen Schriften, ferner ihre Konzentration auf einen bestimmten Diskurstyp, sowie ihre letztes Theorieziel. 1. Artha in den verschiedenen indischen Traditionen 2. Varianten der Bedeutung 3. Andere Dimensionen des Artha 4. Unterschiedliche Standpunkte betreffend die Bedeutung eines Satzes 5. Einige wichtige Konzeptionen 6. Warum all diese Unterschiede? 1. Artha in den verschiedenen indischen Traditionen Der verbreitetste Ausdruck im Sanskrit für ‚Bedeutung‘ ist ‚artha‘. In der westlichen Literatur wurden zur Beschreibung der Bedeutung in der indischen Tradition unterschiedliche Ausdrücke wie ‚Sinn‘, ‚Bedeutung‘, ‚Bezeichnung‘, ‚Konnotation‘, ‚das Gekennzeichnete‘ und ‚Intension‘ zur Übersetzung des SanskritAusdrucks verwendet. Diese Ausdrücke weisen jedoch alle ihre eigenen Nuancen auf, und keiner der Ausdrücke stellt für sich allein die Idee des artha angemessen dar. artha bezieht sich grundsätzlich auf den Gegenstand, den ein Wort bedeutet. In zahlreichen Zusammenhängen steht es für einen Gegenstand im Sinne eines Elementes der externen Wirklichkeit. Beispielsweise sagt Patañjali (2. Jahrhundert v. Chr.), dass das artha durch die Aussprache eines Wortes, z.B. für einen Gegenstand, verstanden wird. In den Fällen der Sätze ‚Bringe den Hund!‘ und ‚Iss Jogurth!‘ ist es also artha, das daraufhin herbeigebracht wird, und artha, das gegessen wird. Die zur Schule von Nyāya und Vaiśes. ika gehörenden Logiker und Ontologien, sowie die später kombinierte Schule von Nyāya-Vaiśes. ika entwirft eine Ontologie, die Substanzen, Eigenschaften, Handlungen, Relationen, allgemeine und auf den Einzelgegenstand anwendbare Eigenschaften, sowie Abwesenheiten (siehe NyāyaVaiśes. ika §§4–5). Mit dieser realistischen Ontologie im Kopf machen sie geltend, dass, wenn die Beziehung zwischen einem Wort und ihrem artha eine natürlichontologische wäre, es die wirkliche Erfahrung des Verbrennens und des Schneides im Munde einer Person geben müsste, wenn sie Worte wie ‚agni‘ (‚Feuer‘) oder ‚asi‘ (‚Schwert‘) hört. Die Beziehung muss deshalb konventioneller Natur sein (sam.keta), wobei diese Konvention von Gott als Teil seines ursprünglichen Schöpfungsaktes festgelegt wurde. Die Beziehung zwischen einem Wort und dem Gegenstand, auf den es verweist, wird als der Wunsch Gottes gedacht, dass dieses oder jenes Wort auf diesen oder jenen Gegenstand verweisen soll. Im Wege dieser durch Gott festgelegten, mithin konventionellen Beziehung, beruht es, dass ein Wort den Hörer an seine Bedeutung erinnert. Die Schule des Mīmām.sā repräsentiert die Tradition der Exegese der heiligen Vedischen Texte (siehe Mīmām. sā). Im Verlauf der Diskussion und der Vervollkommnung der Interpretationsprinzipien entwickelte diese Schule schließlich eine umfassende ontologische Theorie und eine wichtige Bedeutungstheorie. Die Mīmām. sakas, d.h. ihre grundlegenden Positionen oder Dogmen, besagen, dass die heiligen 126
Bedeutung, Indische Theorien der
vedischen Texte ewig und ungeschaffen seien, und dass sie bedeutsam seien. In diesem orthodoxen System, das auf bemerkenswerte Weise die Schriften verteidigt und dabei gleichzeitig ohne den Begriff eines Gottes auskommt, ist die Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung angeboren und ewig. Sowohl die NyāyaVaiśes. ika, als auch die Mīmām.sakas betrachten die Sprache als etwas, was auf externe Zustände der Welt verweist, und nicht nur auf begriffliche Konstruktionen. Während sich die verschiedenen Schulen des Buddhismus untereinander hinsichtlich des Wesen der externen Welt unterscheiden, scheinen sie sich doch alle darin einig zu sein, dass die Sprache nur zu einer Ebene begrifflicher Konstruktionen in Beziehung steht, die ihrerseits keine direkte Beziehung zum wirklichen (physischen) Zustand der Welt unterhält. Die von der Theravāda und den Vaibhās. ikas repräsentierte Tradition behauptete hingegen, dass ein Wort sich auf ein Ding bezieht, dass in Wirklichkeit nichts als eine zusammengesetzte Entität ist, die aus lediglich momentanen Bestandteilen besteht und sich in kontinuierlichem Fluss befindet (siehe Augenblicks, Buddhistische Lehre der). Von diesen Bestandteilen, also den momentanen atomaren Elementen (dharma), wird angenommen, dass ihnen mehr Wirklichkeit zukommt, doch die Worte beziehen sich nicht auf diese Ebene der Wirklichkeit. Deshalb gibt uns die Sprache ein Bild des Draußen, was weniger als wahr ist. Andere Schulen des Buddhismus, wie die Vijñānavāda, reduzierten alles auf flüchtige Bewusstseinszustände (vijñāna). Aus dieser Perspektive sind die von den Worten bezogenen Gegenstände nicht einmal ein Zusammengesetztes. Sie sind eher Fiktionen (vikalpa) oder Illusionen (māyā), die von einem Zauberer ersonnen wurden. Die Mādhyamika-Schule des Buddhismus konzentrierte sich wiederum auf die ‚wesentliche Leere‘ (śūnyatā) aller Gegenstände, die damit von ihm Ursprung abhängen (pratītyasamutpāda). Damit rückt die Sprache ebenfalls weit weg von der Wirklichkeit auf die ontologische Ebene der Leere. Die späteren buddhistischen Logiker, wie z.B. Dignāga, entwickelten eine Theorie der Wortbedeutung, die wir hier die ‚Ausschlusstheorie‘ der Bedeutung nennen (apoha). Dies besagt kurz gefasst: Wenn ein Wort sich nur auf eine begriffliche Konstruktion bezieht, d.h. auf keinen Zustand der Wirklichkeit, wie kommt dann diese begriffliche Konstruktion zustande? Die von den buddhistischen Logikern vorgeschlagene apoha-Theorie besagt, dass die externe Wirklichkeit letztlich aus momentanen atomaren Elementen besteht, die auf eine Art und Weise individualisiert und damit eindeutig oder einzigartig (svalaks.an.a) sind, dass sie sich aller Wahrnehmung und Schilderung entziehen. Unsere Wahrnehmungen und Begriffe bringen Verallgemeinerungen mit sich (sāmānyalaks.an.a), und deshalb entsprechen sie nicht der Wirklichkeit. Ein Begriff, der einem bestimmten Wort entspricht, muss schlussendlich als etwas konstruiert sein, das nicht mehr ist als der Ausschluss aller anderen Begriffe. Diese Theorie sagt damit letztlich, dass alle Begriffe sich voneinander unterscheiden, und dennoch können sie nicht dadurch definiert werden, dass man sich auf irgendeine Ebene der Wirklichkeit bezieht. Die Tradition der Grammatiker, beginnend mit Bhartáhari (5. Jhrdt.), scheint hier einen Mittelweg zwischen den realistischen Referenztheorien (bāhyārthavāda), die von der Vaiśes. ika und der Mīmām.sā auf der einen Seite, und von den begrifflich-konzeptionellen Theorien (vikalpa) der Buddhisten auf der anderen entworfen wurden. Für sie steht die Bedeutung eines Wortes in enger Beziehung zur jeweiligen Verständnisebene. Unabhängig von der Wirklichkeit der Dinge haben wir Begriffe von ihnen. Diese Begriffe bilden den Inhalt der Kognitionen einer Person, die von 127
Bedeutung, Indische Theorien der
der Sprache abgeleitet sind. Ohne dass sie notwendig die externe Wirklichkeit der Gegenstände der Welt bestreiten, behaupteten die Grammatiker allerdings, dass die Bedeutung eines Wortes nur eine Projektion des Intellekts (bauddhārtha bzw. . buddhipratibhāsa) sei. Die Beispiele, die sie anbieten, wie z.B. śaśasr. n ga (dt.: ‚Horn eines Hasen‘) und vandhyāsuta (dt.: ‚Sohn einer unfruchtbaren Frau‘), bleiben innerhalb dieser Theorie bedeutungsvoll. Die Grammatiker des Sanskrit gehen deshalb nicht auf die wahrheitsfunktionalen Werte sprachlicher Ausdrücke ein. Für sie ist die Wahrheit eines Ausdrucks und seine Bedeutung nichts, was korreliert sein müsste. 2. Varianten der Bedeutung In der Mitte des zweiten Jahrtausends v.Chr. begann sich eine gewisse Einförmigkeit der technischen Terminologie, die von den unterschiedlichen Schulen verwendet wurde, herauszubilden. Die herausragenden Schulen dieser Epoche wa. ren die neue Schule von Nyāya, d.h. die Navya-Nyāya, die von Gangeśa ins Leben gerufen wurde, und die Schulen der Mīmām.sā, der Vedānta und der SanskritGrammatik. Während alle diese Schulen in offenem Kampf gegeneinander lagen, schienen sie doch die terminologische Führerschaft der Neologiker, also der NavyaNaiyāyikas, anzuerkennen. Folgt man der Diskussion des artha durch den Neologiker Gadādhara, so erkennt man das allgemeine Rahmenwerk einer semantischen Theorie. Andere Schulen akzeptierten diese allgemeine Terminologie mit einigen Abwandlungen. Man könnte sagen, dass der Ausdruck artha für den Gegenstand oder dem Inhalt einer verbalen oder einer gehörten Kognition eines Wortes (śābdabodhavis. aya) resultiert. Eine solche verbale Kognition ist das Ergebnis der Kognition eines Wortes (śābdajñāna) auf der Grundlage eines Gewahrwerdens von der Bedeutung, die zu diesem Wort gehört (padanis.thavr.ttijñāna). Je nach Art der Bedeutungsfunktion (vŗtti), die an dem Auftauchen der verbalen Kognition beteiligt ist, gehört die Bedeutung zu einem je anderen Typ. Diese lassen sich folgendermaßen einteilen: (1) Wenn eine verbale Kognition das Ergebnis der primären Bedeutungsfunktion (śakti / abhidhāvr.ti / mukhyavr.ti) eines Wortes ist, so wird der Gegenstand oder Inhalt dieser Kognition ‚primäre Bedeutung‘ (śakyārtha / vācyārtha / abhidheya) genannt. (2) Wenn sich eine verbale Kognition aus der sekundären Bedeutungsfunktion eines Wortes (laks.an. āvr.ti/gunavr.ti) ergibt, so wird der Gegenstand oder der Inhalt dieser Kognition ‚sekundäre Bedeutung‘ genannt. (3) Wenn sich eine verbale Kognition aus der suggestiven Bedeutungsfunktion eines Wortes (vyañjanāvr.ti) ergibt, so wird der Gegenstand oder der Inhalt dieser Kognition ‚suggerierte Bedeutung‘ (vyan. gyārtha/dhvanitārtha) genannt. (4) Wenn sich eine verbale Kognition aus der intentionalen Bedeutungsfunktion eines Wortes (tātparyavr.ti) ergibt, so wird der Gegenstand oder der Inhalt dieser Kognition die ‚intendierte Bedeutung‘ genannt (tātparyārtha). Nicht alle Schulen der indischen Philosophie akzeptieren alle diese unterschiedlichen Arten der Bedeutungsfunktionen für Worte, und sie haben grundlegend unterschiedliche Auffassungen vom Wesen der Worte, der Bedeutungen und der Beziehungen zwischen Worten und Bedeutungen. Die obige Terminologie gilt jedoch für die meisten der Schulen. Wir wollen aber auch einige der Unterschiede 128
Bedeutung, Indische Theorien der
benennen. Mīmām.sā behauptet beispielsweise, dass die einzige und primäre Bedeutung des Wortes ‚Bulle‘ (für das betreffende Tier) die allgemeine oder Klasseneigenschaft (jāti) des ‚Bullenseins‘ sei, und der individuelle Gegenstand, der diese allgemeine Eigenschaft besitzt, nämlich ein bestimmter, einzelner Bulle, wird nur sekundär und nachgeordnet durch das Wort ‚Bulle‘ verstanden. Die Schule namens Kevalavyaktivāda, ein Bereich der Nyāya-Schule, macht indes geltend, dass ein bestimmter Einzelgegenstand die einzige primäre Bedeutung des Wortes ‚Bulle‘ ist, während die allgemeine Eigenschaft des Bulle-Seins nur eine sekundäre Bedeutung sei. Nyāya macht allgemein geltend, dass die primäre Bedeutung eines Wortes ein individueller Gegenstand ist, der sich durch eine allgemeine Eigenschaft qualifiziert (jātiviśis..t avyakti), wobei beide gleichzeitig wahrgenommen werden. Die Sanskrit-Grammatiker unterscheiden zwischen unterschiedlichen Arten der Bedeutung (artha). Der Ausdruck artha steht bei ihnen für einen externen Gegenstand (vastumātra), sowie für einen Gegenstand, hinsichtlich dessen die Absicht besteht, dass er die Bedeutung eines Wortes sein soll (abhidheya). Letzteres, d.h. die Bedeutung im linguistischen Sinne, kann auch Bedeutung in einem technischen Kontext sein (śāstrīya), so wie z.B. die Bedeutung eines Affixes oder eines Wortstammes, oder es kann auch die Bedeutung sein, wie sie von Menschen in der wirklichen Kommunikation (laukika) verstanden wird. Doch es gibt noch eine weitere Unterscheidung. Bedeutung kann etwas sein, was direkt durch einen Ausdruck intendiert oder bedeutet wird (abhidheya), oder es kann auch etwas sein, was ein Ausdruck unvermeidlich bedeutet (nāntarīyaka), wenn etwas anderes die wirklich intendierte Bedeutung ist. Alles, was man an einem Wort auf der Grundlage irgendeiner Art von Bedeutungsfunktion versteht (vr. tti), ist von dem Ausdruck artha abgedeckt. Unterschiedliche Systeme der indischen Philosophie unterscheiden sich darin voneinander darin, ob eine gegebene Kognition von einem Wort auf der Grundlage einer Bedeutungsfunktion, durch Schlussfolgerung (anumāna) oder durch Annahme (arthāpatti) abgeleitet ist. Wenn ein bestimmtes Stück Information so eingeschätzt wird, dass es durch eine Schlussfolgerung oder eine Annahme abgeleitet wurde, so ist dies nicht Teil des Begriffs der Wortbedeutung. 3. Andere Dimensionen des Artha Der Geltungsbereich des artha ist in den Sanskrit-Texten nicht wirklich auf das beschränkt, was als das Gebiet der Semantik in der westlichen Literatur gilt. Es umfasst auch Elemente wie das Geschlecht (lin. ga) und die Zahl (sam.khyā), sowie die semantischen/syntaktischen Rollen (kāraka) als ‚Akteursartigkeit‘ (kartr. ttva) und ‚Objektartigkeit‘ (karmatva). Zeiten wie die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft, und Verbmodi wie der Imperativ oder der Optativ fallen traditionell ebenfalls unter das artha, das von einem Verbstamm oder einem Suffix bedeutet wird. Ein weiterer Aspekt des Begriffs artha offenbart sich in der Theorie des dyotyārtha, d.h. der ‚mitbedeuteten‘ Bedeutung. Nach dieser Bedeutung haben Partikel wie ca (‚und‘), einfach gesagt, überhaupt keine lexikalische oder primäre Bedeutung. In der Wendung ‚Johannes und Thomas‘ wird beispielsweise die Bedeutung der konjugierenden Gruppierung nicht direkt durch das Wort ‚und‘ beigesteuert. Die Theorie des dyotyārtha macht hier geltend, dass die Gruppierung eine spezifische Bedeutung der Worte ‚Johannes‘ und ‚Thomas‘ sei, dass aber diese beiden Worte nicht in der Lage seien, dies zu bedeuten, wenn sie nur für sich gebraucht werden. 129
Bedeutung, Indische Theorien der
Das Wort ‚und‘, mit ihnen zusammen verwendet, fungiert hier als Katalysator, der sie zu dieser speziellen Bedeutung befähigt. Das Problem der Verwendung und Erwähnung von Worten wird auch von den Sanskrit-Grammatikern angesprochen, indem sie das Wort selbst als einen Teil der Bedeutung behandeln, die das Wort bedeutet. Dies ist eine Weise des Umgangs mit diesem Problem, die sich einzige bei ihnen findet. 4. Unterschiedliche Standpunkte betreffend die Bedeutung eines Satzes Die meisten Schulen der indischen Philosophie haben eine atomistische Auffassung von der Bedeutung und der Bedeutungsträgerschaft einer sprachlichen Einheit. Dies bedeutet, dass ein Satz durch die Kombination von Worten zusammengesetzt wird, und Worte werden ihrerseits zusammengesetzt durch die Kombination morphemischer Elemente wir z.B. Wortstämme, Wurzeln oder Affixe. Dasselbe gilt für die Bedeutung. Die Wortbedeutung kann man als eine Verschmelzung der Bedeutung von Wortstämmen, Wurzeln und Affixen sehen, und die Bedeutung eines Satzes kann man als die Verschmelzung der Bedeutung der ihn konstituierenden Worte sehen. Über diese allgemeinen Dinge hinaus haben die unterschiedlichen Schulen jeweils ihre eigenen Vorstellungen. Die Tradition des Prābhākara Mīmām. sā schlägt beispielsweise vor, dass die Worte eines Satzes bereits kontextualisierte bzw. verknüpfte Bedeutungen (anvitābhidhāna) haben, und dass die Satzbedeutung sich nicht von einer einfachen Addition dieser inhärent verknüpften Wortbedeutungen unterscheidet. Andererseits schlagen die Naiyāyikas und die Bhāt. a Mīmām. sākas vor, dass die Worte eines Satzes, wenn man sie für sich betrachtet, unkontextualisierte bzw. unverknüpfte Bedeutungen enthalten, und dass diese unkontextualisierten Wortbedeutungen nachfolgend in einen Kontextzusammenhang zueinander (abhihitānvaya) gebracht werden. Daher unterscheidet sich die Satzbedeutung von den Wortbedeutungen und wird durch die Koppelung von Worten (sam.sarga) vermittelt, und nicht durch die Worte selbst. Dies ist auch die Auffassung der frühen Grammatiker wie z.B. Patañjali und Kātyāyana. Für den späteren Grammatiker-Philosophen Bhartŗhari gab es jedoch keine Aufteilung von Sprechakten und kommunizierten Bedeutungen. Er sagte, dass nur eine Person, die hinsichtlich der wirklichen Natur der Sprache ignorant sei, an eine Aufteilung von Sätzen in Worte, Wortstämme, Wurzeln und Affixe etwas Wirkliches sein kann. Solche Aufteilungen seien nützliche Fiktionen, und diese hätten auch Erklärungswert in der grammatischen Theorie, doch besäßen sie keine Wirklichkeit in der Kommunikation. In der Wirklichkeit gebe es keine Abfolge in den Kognitionen dieser unterschiedlichen Bestandteile. Die Satzbedeutung würde zu einem Gegenstand oder Inhalt eines einzigen ‚Kognitionsblitzes‘ (pratibhā). 5. Einige wichtige Konzeptionen Die Ausdrücke śakyatāvacchedaka und pravŗttinimitta bedeuten eine Eigenschaft, die den Einschluss eines bestimmten Einzelfalles innerhalb einer möglicher Entitäten bestimmen, auf die sich ein Wort bezieht. Es handelt sich dabei um eine Eigenschaft, deren Besitz durch eine Entität die notwendige und hinreichende Bedingung für ein gegebenes Wort ist, um zum Verweis auf diese Entität verwendet zu werden. Daher kann man die Eigenschaft ‚steinern‘ als das śakyatāvacchedaka zur Kontrolle der Verwendung des Wortes ‚steinern‘ auffassen.
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Bedeutung, Indische Theorien der
Laks.an. āvr.tti (die ‚sekundäre Bedeutungsfunktion‘) wird in Situationen aufgerufen, wo die primäre Bedeutung einer Äußerung sich nicht zeigt, um auf die Intention hinter der Äußerung hinzuweisen, so dass man deshalb auf die sekundäre Bedeutung schaut. Diese sekundäre Bedeutung ist jedoch etwas, was zur primären Bedeutung auf irgendeine Weise in Beziehung steht. Der Ausdruck gan.gāyām.- ghos. ah. bezieht sich wörtlich auf eine Gruppe von Kuhherden am Ganges. Hier wird geltend gemacht, dass es offensichtlich keine Gruppe von Kuhherden geben kann, die am Ganges unmittelbar dran sitzen, so wie man an einem Tisch sitzt. Dies würde offenkundig der Intention des Sprechers widersprechen. Deshalb gibt es hier sowohl eine Schwierigkeit bei der Rechtfertigung der Verknüpfung der Wortbedeutungen, als auch eine Schwierigkeit bei der Rechtfertigung der buchstäblichen oder primären Bedeutung in Beziehung zur Intention des Sprechers (tātparyānupapati). Diese interpretativen Schwierigkeiten lenken einen von der primären Bedeutung des Ausdrucks ab und zu einer sekundären Bedeutung hin, die mit dieser primären Bedeutung in Beziehung steht. Deshalb verstehen wir den Ausdruck als etwas, das sich auf eine Gruppe Kuhherden auf den Uferbänken des Ganges bezieht. Es ist die dritte Ebene der Bedeutung oder vyañjanāvr.ti (d.h. die ‚suggestive Bedeutungsfunktion‘), die durch Autoren wie Ānandavardhana im 9. Jhrdt. in der Tradition der Sanskrit-Dichtung analysiert und ausgearbeitet wurde. Man bedenke den folgenden Fall einer poetischen Suggestion. Eine liebeskranke junge Frau, deren Mann infolge einer langen Reise abwesend ist, bittet einen jungen, männlichen Besucher: ‚Mein lieber Gast, ich schlafe hier und meine nachtblinde Schwiegermutter schläft dort. Bitte gib darauf Acht, dass du nachts nicht stolperst.‘ Die nahe liegende Bedeutung dieser Aufforderung ist eine Einladung an den jungen Mann, zu ihr zu kommen und mit ihr das Bett zu teilen. Daher geht der poetische Aspekt der Sprache deutlich über die Ebenen der lexikalischen und metaphorischen Bedeutungen hinaus und erhöht durch solche Suggestionen den ästhetischen Genuss. 6. Warum all diese Unterschiede? Die Feinheiten dieser unterschiedlichen Theorien stehen in enger Beziehung zu deutlich unterschiedenen Interessen der Schulen, innerhalb derer sie entwickelt wurden. Die Gelehrten der Sanskrit-Dichtung waren an den poetischen Dimensionen der Bedeutung interessiert. Die Grammatiker waren an der Sprache und der Kognition interessiert, hatten aber wiederum nur geringes Interesse an der Ontologie. Für sie mussten Worte und Bedeutungen ohne Ansehen der jeweiligen metaphysischen Auffassungen erklärt werden. Die Nyāya-Vaiśes. ikas waren wiederum primär an der Logik, der Erkenntnistheorie und der Ontologie interessiert und machten geltend, dass ein gültiger Satz ein wahres Bild eines Zustandes der Wirklichkeit sei. Das erste Ziel der Mīmām.sā-Schule war es dagegen, die heiligen vedischen Schriften zu interpretieren und zu verteidigen. Daher muss für die Mīmām.sā-Schule die Bedeutung eine ewige, eine ungeschaffene und in keiner Beziehung zu den Intentionen einer Person stehende sein, weil ihr Wortfundus par excellence, d.h. die heiligen vedischen Schriften, ewig, ungeschaffen und jenseits jeder Urheberschaft sei, egal ob göttlich oder menschlich. Die Worte dieser Schriften seien dazu da, um die Menschen anzuleiten, wie sie die Rituale richtig durchzuführen und ihre moralischen Pflichten zu erfüllen hätten. Den Buddhisten ging es andererseits darum, die Menschen von ihrer Anhänglichkeit an die Welt zu entwöhnen, und folglich darum, die Leere von allem, 131
Befreiungsphilosophie
einschließlich der Sprache, zu zeigen. Sie waren eher an Beweisen interessiert, wie die Sprache bei der Schilderung der Wirklichkeit versagt, als an einer Erklärung, wie sie funktioniert. Die Bedeutungstheorien waren deshalb ein wichtiger Teil des Gesamtprogramms einer jeden Schule, und sie müssen folglich in ihren spezifischen Kontexten verstanden werden. MADHAV M. DESHPANDE
Befreiungsphilosophie
Die Philosophie der Befreiung entstand in Argentinien in den frühen 1970er Jahren mit der ausdrücklichen Absicht des Vorschlages einer befreienden Alternative zu der Diagnose einer strukturellen Abhängigkeit, die durch die Sozialwissenschaften propagiert wurden (speziell durch die so genannte ‚Theorie der Abhängigkeit‘). Einige der ursprünglichen Absichten der Befreiungsphilosophie lauteten, dass die armen und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen zum Gegenstand oder sogar zu den Autoren einer neuen Philosophie werden und damit am Prozess einer Lösung der Philosophie von der Akademie und einem rein professionellen Philosophieren teilhaben sollten. Soziale Konflikte und drückende nationale Bedürfnisse waren Diskussionspunkte dieser Zeit. Alles Denken begann mit der Anerkennung und der Bewertung der Erfahrung der Andersheit. Horacio Cerutti-Guldberg brachte die Wendung von den ‚Philosophien für die Befreiung‘ als eine solche Art des reflektierenden Umganges mit vielen philosophischen Standpunkten auf und bevorzugte damit den historischen Prozess gegenüber der Philosophie. Siehe auch: Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der HORACIO CERUTTI-GULDBERG
Begriffe
Das Thema der Begriffe liegt auf dem Schnittpunkt von Semantik und Geistphilosophie. Ein Begriff ist demnach der Bestandteil eines Gedankens (oder einer ‚Aussage‘) etwa in der Art, wie ein Wort ein Bestandteil eines Satzes ist, der typischerweise einen Gedanken ausdrückt. Tatsächlich werden Begriffe oft für die Bedeutung von Wörtern gehalten (und werden bezeichnet, in dem man die Worte, die sie bezeichnen, in Klammern einschließt: [Stadt] wird durch ‚Stadt‘ und durch ‚Metropole‘ ausgedrückt). Allerdings können die beiden Themen auch auseinander laufen: nicht sprechende Tiere können im Besitz von Begriffen sein, und die linguistischen Standard-Bedeutungen führen Konventionen auf eine Weise mit sich, wie es Begriffe nicht tun. Begriffe scheinen für alltägliche und wissenschaftliche psychologische Erklärungen wesentlich zu sein. Diese Auffassung würde untergraben, wenn es nicht möglich wäre, dass sich derselbe Begriff in unterschiedlichen Gedankenepisoden ereignet. Jemand könnte sich nicht einmal mehr an etwas erinnern, solange die Begriffe, die er/sie jetzt hat, sich mit jenen überschneiden, die er/sie früher hatte. Wenn eine Uneinigkeit zwischen Menschen mehr ist als nur ‚verbaler Natur‘, so müssen ihre Worte dieselben Begriffe ausdrücken. Und wenn Psychologen die unter Menschen verbreiteten Gedankenmuster beschreiben sollen, so müssen sie sich verbreiteter Begriffe bedienen. Begriffe scheinen auch wesentlich zu sein für die Kategorisierung der Welt, beispielsweise für das Wiedererkennen einer Kuh und ihre Einordnung als Säugetier. Begriffe sind auch kompositional: Begriffe können in einer Form miteinander kom132
Begriffe
biniert werden, dass sie virtuell unendlich viele komplexe Kategorien bilden, und zwar auf solche Weise, dass jemand die neuartige Kombination mittels Verständnis ihrer Bestandteile versteht. Ein Beispiel hierfür wäre [kleinster subatomarer Partikel]. (Siehe Kompositionalismus.) Begriffe werden allerdings nicht immer als ein Teilgebiet der Psychologie studiert. Einige Logiker und formale Semantiker studieren ebenfalls die deduktiven Beziehungen zwischen Begriffen und Aussagen unabhängig von jeglichem Geist. Philosophen versuchen durch die ‚philosophische Analyse‘ die Bedingungen zu bestimmen, die etwas zu einer Art von dem machen, was sie sind, beispielsweise, wodurch eine Handlung zu einer guten Handlung wird. Dieses Unternehmen besteht in der Analyse von Begriffen. In Anbetracht dieser vielfältigen Interessen gibt es beträchtliche Uneinigkeit darüber, was ein Begriff genau ist. Psychologen tendieren dazu, das Wort ‚Begriff‘ für interne Repräsentationen zu verwenden, beispielsweise für Bilder, Stereotypen, Worte als Vehikel für Gedanken im Gehirn oder Geist. Logiker und formale Semantiker neigen dazu, es für Mengen wirklicher und möglicher Gegenstände zu verwenden, sowie für Funktionen, die über sie definiert sind; und die Geistphilosophen haben verschiedentlich vorgeschlagen, es handele sich dabei um Eigenschaften, um Ausdrücke des Sinns von etwas, um Schlussregeln oder um Unterscheidungsfähigkeiten. Eine damit zusammenhängende Frage ist, was es heißen soll, jemand habe einen Begriff von etwas. Die klassische Auffassung nahm an, Begriffe hätten Definitionen, die den kompetenten Verwendern bekannt seien. Beispielsweise scheint das Begreifen von [Junggeselle] darin zu bestehen, dass man die Definitionen von [erwachsener, unverheirateter Mann] begriffen hat. Allerdings muss es wohl, wenn die Definitionen sich nicht unendlich fortsetzen sollen, einfache oder primitive Begriffe geben, die nicht mehr definiert sind, sondern die auf irgendeine andere Art und Weise verstanden werden. Empiristen behaupteten, dass diese Definitionen durch die Wahrnehmungsbedingungen zur Anwendung eines Begriffs geliefert werden. So wurde beispielsweise [materieller Gegenstand] als etwas definiert, was wahrgenommen werden kann. Die klassische Auffassung leidet unter der Tatsache, dass sie nur wenige erfolgreiche Definitionen zu liefern vermochte. Wittgenstein schlug vor, dass der Besitz eines Begriffs nicht darin bestehen muss, dass man die Definition weiß, sondern dass man die Rolle eines Begriffs in den Gedanken und in der Praxis einzuschätzen vermag. Ferner behauptete er, dass ein Begriff einer Sache nicht kraft irgendeiner geschlossenen Menge von Merkmalen zukommt, die von einer Definition ausgewiesen werden, sondern vielmehr kraft einer ‚Familienähnlichkeit‘ zwischen den Dingen. Dieser Vorschlag hat in der Psychologie die Prototypentheorie der Begriffe entstehen lassen. Die herkömmlichsten Ansätze zu den Besitzbedingungen haben mit den internen Zuständen zu tun, speziell den Überzeugungen dessen, der den Begriff bildet. Quine forderte einen solchen Ansatz mit seiner Lehre von dem ‚Bestätigungsholismus‘ heraus, der betonte, dass die Überzeugungen einer Person durch das fixiert sind, was sie insgesamt plausibel findet. Daraus irgendwelche Überzeugungen herauszufiltern, die einen Begriff definieren sollen, schien ihm willkürlich und im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis, wo Begriffe von Menschen geteilt 133
Begründung, erkenntnistheoretische
werden, die unterschiedliche Überzeugungen haben. Dies führte Quine selbst zu einer allgemein skeptischen Einstellung gegenüber der Rede von Begriffen, wobei er leugnete, dass es überhaupt irgend eine prinzipielle Weise der Unterscheidung so genannter analytischer Behauptungen, die definitorische Ansprüche an einen Begriff haben, von den so genannten synthetischen gäbe, die lediglich alltägliche Überzeugungen über die Dinge wiedergeben, die unter diese Begriffe fallen. Gegenwärtige Philosophen meinen allerdings, dass die Menschen Begriffe nicht kraft irgendwelcher internen Umstände teilen, sondern aufgrund von Tatsachen über ihre externe (soziale) Umgebung. Beispielsweise haben Menschen vermutlich den Begriff [Wasser] aufgrund irgendeiner Wechselwirkung mit H2O und überlassen es den Experten, es zu definieren. Diese Auffassung hat Anlass zur Entwicklung einer Reihe von externalistischen Theorien der Begriffe und der Semantik im Allgemeinen gegeben. Viele denken jedoch auch, dass die Psychologie Verallgemeinerungen des menschlichen Geistes unabhängig von den externen Zusammenhängen anstellen kann, in denen er sich befindet, und haben daraus folgend die ‚Zwei-Faktoren-Theorie‘ entwickelt. Nach dieser Theorie gibt es eine interne Komponente eines Begriffs, die eventuell eine Rolle in psychologischen Erklärungen spielt, und der eine externe Komponente gegenübersteht, die die Anwendung dieses Begriffs in der Welt bestimmt. Siehe auch: Inhalt, nicht-begrifflicher; Semantik GEORGES REY
Begriffliche-Rollen-Semantik
Siehe auch: Semantik der begriffsrollen
Begründung, erkenntnistheoretische
Der Ausdruck ‚Begründung‘3 gehört zu einem Bündel normativer Ausdrücke, das auch solche Worte wie ‚rational‘, ‚vernünftig‘ und ‚gesichert‘ enthält. Alle diese Ausdrücke werden üblicherweise in der Erkenntnislehre verwendet, es gibt aber keine allgemein anerkannte Auffassung von ihnen, noch besteht Einvernehmen darüber, ob sie womöglich synonym sind. Einige Erkenntnistheoretiker wenden sie als untereinander austauschbar an; andere unterschieden zwischen ihnen. Es wird jedoch allgemein angenommen, dass die jeweilige Überzeugung der psychologische ‚Zielzustand‘ dieser Ausdrücke ist. Die Erkenntnistheoretiker fragen sich, was es an einer Überzeugung ausmacht, dass sie begründet, rational, vernünftig oder gesichert ist. Aussagen, Erklärungen, Behauptungen, Hypothesen und Theorien können ebenfalls begründet sein, aber diese Verwendung des Wortes ‚begründet‘ versteht man besser als eine abgeleitete. Wenn man beispielsweise sagt, eine Theorie sei für einen Menschen begründet, heißt, dass dort, wo ein Mensch von dieser Theorie überzeugt ist (vielleicht aus den richtigen Gründen), diese Überzeugung begründet ist. Historisch sind die beiden wichtigsten Darstellungen der erkenntnistheoretischen Begründung die Letztbegründungsphilosophie und die Kohärenztheorie. Die Letztbegründungstheoretiker sagen, dass die Begründung eine gestufte Struktur aufweise. Einige Überzeugungen sind selbstbegründend, andere dagegen sind insofern begründet, als sie durch jene ersteren, grundlegenden Überzeugungen begrünEngl.: justification; siehe zu diesem Ausdruck auch die Fußnote am Anfang von Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorien der
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Begründung, erkenntnistheoretische
det sind. Die Kohärenztheoretiker bestreiten, dass irgendeine Überzeugung selbstbegründend sein kann und schlagen stattdessen vor, dass Überzeugungen begründet sind, wenn sie Teil eines Systems von Überzeugungen sind, die sich gegenseitig stützen. Die meisten Letzbegründungstheoretiker und Kohärenztheoretiker sind wiederum sog. Internalisten: sie behaupten, dass die Bedingungen, die bestimmen, ob eine Überzeugung gerechtfertigt ist oder nicht, in erster Linie interner, psychologischer Natur sind (beispielsweise die Überzeugungen und Erfahrungen, die jemand hat). Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts tauchte der Externalismus als eine wichtige Alternative zum Internalismus auf. Die Externalisten sagen, dass man nicht bestimmen kann, ob eine Überzeugung begründet ist, ohne auf die äußere Umgebung des Überzeugten zu schauen. Die einflussreichste Form des Externalismus ist der sog. ‚Reliabilismus‘: Der (radikale) Externalist glaubt, dass eine Meinung gerechtfertigt ist, wenn sie durch Methoden, Verfahren oder Prozesse gestützt wird, die objektiv zuverlässig sind und deshalb überwiegend wahre Meinungen erzeugen. In diesem Fall haben die verwendeten Methoden einen guten instrumentellen Wert als Mittel zur Wahrheit. Sie sind verlässlich (engl.: reliable). Deshalb wird diese Position häufig auch als Reliabilismus bezeichnet. Man könnte auch vom ‚Thermometermodell‘ der Begründung oder Rechtfertigung sprechen, weil begründete Meinungen so zustande kommen, wie ein zuverlässiges Thermometer Temperaturzustände anzeigt. Nach diesem Modell hat die Begründung zunächst nichts mit der umgebenden kognitiven Perspektive zu tun. Eine weitere Herausforderung der traditionellen Letztbegründungs- und Kohärenztheorie kommt von den Wahrscheinlichkeitstheoretikern, die einwenden, dass die Überzeugung nicht als ein Alles-oder-Nichts-Phänomen behandelt werden sollte; die Überzeugung bildet sich in Abstufungen. Darüber hinaus ist der Überzeugungsgrad einer Person, wenn man ihn sich als subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung vorstellt, nur dann begründet, wenn er keines der Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung verletzt. Ein weiterer Ansatz wurde durch jene vorgeschlagen, die für eine Naturalisierung der Erkenntnislehre eintreten. Sie werfen den Letztbegründungs-, Kohärenz- und Wahrscheinlichkeitstheoretikern eine Überbetonung des apriorischen Theoretisierens und einen entsprechenden Mangel an Sorgfalt im Umgang mit der Praxis und den Ergebnissen der Naturwissenschaften vor. Die am gründlichsten naturalisierte Erkenntnislehre empfiehlt, dass die traditionellen Fragen der Erkenntnislehre neu in eine Form gebracht werden, die von der Naturwissenschaft beantwortet werden können. Eine wichtige Frage im Hinblick auf jeglichen Ansatz der Erkenntnislehre ist: ‚Welche Implikationen hat dieser Ansatz für den Skeptizismus?‘ Einige Darstellungen der erkenntnistheoretischen Begründung schließen die überwiegend falschen Begründungen der Überzeugung eines Menschen aus, während die meisten sie zulassen. Eine weitere Frage ist der Umfang, in dem die Überzeugungen anderer Menschen auf das einwirken, was ein Mensch für eine begründete Überzeugung hält. Alle Theorien der erkenntnistheoretischen Begründung müssen einen Weg zur Anerkennung finden, dass vieles von dem, was jeder von uns weiß, von dem abstammt, was ihm andere Menschen erzählt haben. Allerdings insistieren einige Erkenntnistheoretiker darauf, dass ein großer Teil der Geschichte der Erkenntnis übermäßig individualistisch erzählt wird, und dass die sozialen Bedingungen in Begründungsfragen eine grundlegendere Rolle spielen, als die Standarddarstellungen zugeben. 135
Behaviorismus, analytischer
Siehe auch: Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der; Erkenntnis, Begriff der; Erkenntnistheorie, Geschichte der; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie; Naturalisierte Erkenntnislehre; Skeptizismus; Soziale Erkenntnislehre; Zeugnis RICHARD FOLEY
Begründung, Moralische
Siehe: Moralische Begründung
Behauptung
Siehe: Sprechakt
Behaviorismus, analytischer
Der analytische Behaviorismus ist die Lehre, derzufolge die Rede von den mentalen Phänomenen in Wirklichkeit eine Rede über Verhalten oder Verhaltenstendenzen ist. Für einen analytischen Behavioristen ist die Aussage, dass Annelies sich ein Eis wünscht – unter der Voraussetzung, dass alle Dinge gleich sind – die Aussage, dass Annelies dazu tendiert herauszufinden, was Eis ist. Zu sagen, dass Franz jetzt eifersüchtig ist, besagt nicht mehr, als dass er sich auf eine Art und Weise verhält, die typisch für Eifersucht ist, oder vielleicht auch, dass er sich so bei einer entsprechenden Provokation verhalten würde. Der analytische Behaviorismus unterscheidet sich vom methodischen Behaviorismus durch sein Beharren darauf, dass unser üblicher Gebrauch der mentalen Sprache in Wirklichkeit und in gewissem Sinne schon das Sprechen über Verhalten ist. Die methodische Fassung dieser Theorie beansprucht entweder, dass wir uns in der Psychologie auf Begriffe beschränken sollten, die verhaltensabhängig bestimmt werden können, oder manchmal auch, dass unsere allgemeine psychologische Sprache, selbst wenn sie nicht bereits auf diese Weise definiert ist, allgemein in dieser Richtung reformiert werden sollte. Der schlagendste Einwand gegen diese Darstellung des Geistes ist, dass sie unvereinbar mit dem Erfordernis ist, dass mentale Zustände Ursachen des Verhaltens sind. Üblicherweise würden wir feststellen, dass Franz bereits bei geringer Provokation eine Neigung zur Äußerung eifersüchtigen Verhaltens hat. Und wir würden vermuten, dass dies durch sein Gefühl der Eifersucht verursacht wurde (beispielsweise statt zu sagen, er übe gerade für seine kommende Rolle in einer älteren Tragödie). Dem analytischen Behaviorismus zufolge ist sein Gefühl der Eifersucht nur seine Tendenz zu diesem Verhalten, und weil nichts sich selbst verursacht, kann seine Eifersucht nicht die Ursache seiner Verhaltensmuster sein. Siehe auch: Behaviorismus, methodischer und wissenschaftlicher; Ryle, G. DAVID BRADDON-MITCHELL
Behaviorismus, methodischer und wissenschaftlicher
Der methodische Behaviorismus ist die Lehre, dass die Daten, auf die eine psychologische Wissenschaft aufbauen muss, Verhaltensdaten sind, oder allermindestens öffentlich beobachtbare Daten, und nicht die privaten Daten der Introspektion als Inhalte des Beobachterbewusstseins. Der wissenschaftliche oder, wie er manchmal auch genannt wird, radikale Behaviorismus kämpft darum, dass die wissenschaftliche Psychologie sich nur mit der Formulierung von Gesetzen des Beobachtbaren beschäftigen sollte, wie z.B. Reize und die Reaktionen darauf, nicht dagegen mit unbeobachtbaren mentalen Prozessen und Mechanismen wie der Aufmerksamkeit, der Intention, der Erinnerung und der Motivation. Der methodische Behavio136
Belinskij, Vissarion Grigorievich (1811–1848)
rismus ist unter den zeitgenössischen experimentellen Psychologen allgemein anerkannt, wogegen der wissenschaftliche Behaviorismus als Lehre weitgehend im Abstieg begriffen ist. Beide Formen des Behaviorismus wurden von J.B. Watson im Jahre 1913 formuliert. B.F. Skinner war der prominenteste radikale Behaviorist. Zusätzlich zu seiner empirischen Kritik an den durch Schlussfolgerung erschlossenen mentalen Mechanismen war der radikale Behaviorismus auch empiristisch in seinen Annahmen über das Lernen. Er nahm an, dass (1) die Organismen über kein angeborenes Prinzip verfügen, dass ihr Lernen leitet; (2) Lernen das Resultat eines Prozesses zu allgemeinen Zwecken und keine Sammlung von Mechanismen sei, die auf die Anforderungen unterschiedlicher Arten von Problemen zugeschnitten sind; und (3) Lernen ein Wechsel in der Beziehung zwischen Reaktionen und den Reizen seien, die sie stimulieren oder hervorlocken. Viele dieser Ideen sind weiterhin einflussreich, beispielsweise im sog. Konnektionismus. C.R. GALLISTEL
Belinskij, Vissarion Grigorievich (1811–1848)
Belinskij wurde von seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert und von der offiziellen Ideologie der Sowjetperiode nicht nur als Russlands größter Literaturkritiker, sondern auch als ein führender russischer Denker betrachtet. Die sowjetischen Enzyklopädien betiteln ihn als Kritiker, Publizisten und Philosophen. Seine Rolle im russischen kulturellen Leben wurde sowohl positiv, als auch negativ bewertet, aber es kann nicht bezweifelt werden, dass er sehr einflussreich war. Er ist maßgeblich für die Tatsache verantwortlich, dass die russische Literatur und Kunst jetzt bereits über anderthalb Jahrhunderte als ein Organ der Gesellschaft betrachtet wird, ein Spiegel der Bestimmung der russischen Nation und ein Vehikel seines geschichtlichen Fortschritts. Es ist weiterhin sein Verdienst – oder sein Fehler – dass der Kunst und der Literatur in Russland ein hochfliegender Status als Führer und Autorität zuerkannt wurde, und auch, dass die ‚Kunst um der Kunst willen‘ dort niemals besonders respektiert wurde. Der Einfluss von Belinskijs Kunstphilosophie dehnte sich auf das gesamte politische Spektrum aus, d.h. weit über sein politisches Vermächtnis hinaus, dass sich auf die revolutionäre Linke beschränkt hatte. Die Vorstellung, dass Kunst und Literatur organische Funktionen der Gesellschaft, der Nation und des geschichtlichen Fortschritts seien, was Belinskij als selbstverständlich annahm, wurde von der slavophilen Rechten und dem liberal-westlich orientierten Zentrum übernommen. Sie ist weiterhin ein integraler Bestandteil der Lehre des Sozialistischen Realismus. VICTOR TERRAS
Bells Theorem
Bells Theorem beschäftigt sich mit den Ergebnissen eines speziellen Typs des sog. Korrelationsexperiments in der Quantenmechanik. Dies zeigt, dass unter bestimmten Bedingungen diese Ergebnisse durch ein System von Ungleichungen (den sog. ‚Bellschen Ungleichungen‘) beschränkt sind, das den Voraussagen der Quantenmechanik widerspricht. Verschiedene experimentelle Tests bestätigen jedoch die Voraussagen der Quantentheorie in hohem Maße und verletzen folglich die Bellschen Ungleichungen. Obwohl diese Tests Lücken infolge experimenteller Unzulänglichkeiten aufweisen, legen sie doch nahe, dass die Annahmen hinter den Bellschen Ungleichungen unvereinbar sind; nicht nur mit der Quantentheorie, sondern auch mit der Natur selbst. 137
Benjamin, Walter (1892–1940)
Eine zentrale Annahme zur Ableitung der Bellschen Ungleichungen ist eine Negation der physikalischen Fernwirkung (die sog. ‚Non-Lokalität‘), genannt ‚Lokalität‘. Grob gesagt heißt dies, dass die Ergebnisse auf einer Seite des Experiments nicht unmittelbar von Messungen an einem anderen Ende desselben Experiments betroffen sein können, dass von ersterem räumlich entfernt ist. Aus diesem Grund wird das Bellsche Theorem manchmal zitiert um zu zeigen, dass die Lokalität mit der Quantentheorie unvereinbar ist, und die experimentellen Tests als Beweis, dass die Natur nonlokal ist. Diese Behauptungen wurden angefochten. Siehe auch: Quantenmechanik, Messprobleme in der; Wahrscheinlichkeit, Interpretation der
ARTHUR FINE
Benjamin, Walter (1892–1940)
Walter Benjamin war einer der einflussreichsten Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts. Sein Werk kombiniert die formale Analyse von Kunstwerken mit der Sozialtheorie, um daraus einen Ansatz zu erzeugen, der zwar historisch ist, aber wesentlich subtiler als der Materialismus oder die konventionelle Geistesgeschichte im Sinne einer kulturellen und stilistischen Chronologie. Die mehrdeutige Ausrichtung seines Werks zwischen Marxismus und Theologie machte ihn zu einer herausfordernden und oft umstrittenen Figur. Walter Benjamin entstammte einer wohlhabenden, bereits weitgehend assimilierten jüdischen Familie. Die Zeit seiner Kindheit, die er in Berlin verlebt hatte, beschrieb er in der ‚Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‘. In seinen frühen Jahren engagierte er sich stark für die Jugendbewegung, die er dann jedoch durch das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkrieges zerstört sah. Dieses Engagement verband Benjamin mit dem Dichter Christoph Friedrich Heinle, seinem engsten Freund in den Jahren 1913/14, der sich nach Ausbruch des Krieges das Leben nahm. 1915 begegnete er Gershom Scholem, mit dem er Zeit seines Lebens befreundet blieb. 1917 siedelte er nach Bern über, wo er zwei Jahre später mit der Arbeit ‚Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik‘ von Richard Herbertz promoviert wurde. Daraufhin lebte er in den Jahren 1920 bis 1933 als freier Schriftsteller in Berlin. Nachdem sein Versuch, eine Zeitschrift mit dem Titel ‚Angelus Novus‘, der auf ein Bild Paul Klees zurückging, herauszugeben, gescheitert war, versuchte er 1923/24 in Frankfurt am Main die philosophische oder germanistische Habilitation zu erlangen. Er lernte hier Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen. Seine Habilitationsschrift ‚Der Ursprung des deutschen Trauerspiels‘ erwies sich jedoch als zu unorthodox für den akademischen Betrieb. Um sich eine offizielle Ablehnung zu ersparen, zog Benjamin sein Habilitationsgesuch 1925 zurück. In dieser Zeit lernte er auch Hannah Arendt kennen, mit der er einen regen Briefwechsel unterhielt und mit ihr bis zu seinem Tod befreundet war. Beide unterstützten sich später gegenseitig im unfreiwilligen Exil. 1926 und 1927 hielt sich Benjamin lange in Paris auf, wo er, teilweise gemeinsam mit Franz Hessel, an der Übersetzung der Werke von Marcel Proust arbeitete und als Publizist tätig war. Sein im Jahre 1924 beginnendes Engagement für den Kommunismus führte ihn im Winter 1926/27 nach Moskau. Trotz einer gewissen Idealisierung der Sowjetunion wurde Benjamin jedoch nie Mitglied der KPD, sondern bewahrte sich seine Freiheit in einem (wie er es selbst nannte) ‚linken Außenseitertum‘. Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin in Berlin zusammen mit 138
Benjamin, Walter (1892–1940)
Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk. 1932 begann er, an einem Buch über seine Kindheit und Jugend zu arbeiten, das damals den Titel ‚Berliner Chronik‘ trug und dann zur ‚Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‘ umgearbeitet wurde. Beide Fassungen blieben zu Lebzeiten Benjamins ungedruckt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang Benjamin im März 1933 ins Exil nach Paris zu gehen. Als Mitarbeiter des nach New York emigrierten Instituts für Sozialforschung ermöglichte Max Horkheimer ihm ein materiell bescheidenes Überleben. In den Pariser Exiljahren arbeitete Benjamin weiter an seinem ‚Passagen‘-Werk (das er nicht mehr vollendete). Dort verfasste er auch den enorm wirkmächtigen Aufsatz ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘, sowie mehrere Studien zu Baudelaire. Bei Kriegsausbruch wurde er für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager bei Nevers interniert. Nach der Rückkehr im November 1939 schrieb er seinen letzten Text, die Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte‘. Am Tag vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris verließ Benjamin die Stadt und begab sich nach Lourdes, dann weiter nach Marseille, bevor er im September 1940 vergeblich versuchte, nach Spanien zu flüchten. Im Grenzort Portbou, wo er mit der Auslieferung an die Deutschen bedroht wurde, nahm er sich am 26. September eventuell durch Morphium das Leben oder wurde dort von Faschisten ermordet. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Portbou. Benjamins philosophische Lehrjahre galten neben dem Studium Kants und des Neukantianismus einer intensiven Beschäftigung mit der Literatur der deutschen Romantik, deren Ergebnisse in seine Dissertation ‚Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik‘ einflossen. In den zwanziger Jahren verschob sich die Thematik von Benjamins Texten immer stärker von sprachphilosophischen Gegenständen auf solche der Ästhetik. Nach der Ablehnung seiner Habilitationsschrift widmete er sich vorrangig literaturkritischen Arbeiten. Zunächst zögernd, seit Anfang der dreißiger Jahre immer entschiedener, vertrat Benjamin die Positionen des dialektischen Materialismus; in dieser letzten Phase fanden seine Freundschaften mit Adorno und Brecht einen produktiven Niederschlag. Doch auch seine marxistischen Schriften enthalten theologische Motive, z.B. solche des jüdischen Messianismus. Seinem schließlich als Hauptwerk geplanten, jedoch unvollendeten Buch über die ‚Pariser Passagen‘, einer Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, an dem Benjamin seit 1927 arbeitete, hatte er zeitweilig die Form einer surrealistischen Zitatmontage zugedacht. Das Wort ‚Ausdruck‘ meint Benjamin zufolge das, wodurch Sprache über die bloß gegenständlich-referentielle Bedeutung hinausschießt; Sprache als Ausdruck ist in Benjamins jüdisch-theologischer Terminologie der Versuch, den ‚Namen‘ zu nennen; ein Versuch, der noch am ehesten in der Kunst gelungen ist. In den Kunstwerken sind Wahrheitsgehalt und Sachgehalt unlöslich miteinander verbunden, Wahrheit gelangt durch sie zur Erscheinung. Darin liegt nach seiner Auffassung die Provokation der Kunst für die Philosophie. Siehe auch: Frankfurter Schule JULIAN ROBERTS
Bentham, Jeremy (1748–1832)
Jeremy Bentham behauptete, dass alle menschlichen und politischen Handlungen auf Lust und Schmerz zurückgeführt werden können und so verständlich 139
Bentham, Jeremy (1748–1832)
werden. Eine solche Analyse ergibt, wie sich Menschen tatsächlich verhalten: nach Bentham nämlich auf der Suche nach Lust und in Vermeidung des Schmerzes. Eine weitere solche Analyse sagt, wie man sich verhalten sollte. Für Bentham heißt dies, dass man den Nutzen maximieren sollte, was für ihn dasselbe ist wie die Erzeugung des größten Glücks in größtmöglicher Anzahl, und das ist wiederum für ihn dasselbe wie die Maximierung der Lust und die Minimierung des Schmerzes. Seine zentrale Untersuchung galt der Planung, wie ein gutes Regierungs- und Gesetzessystem aussehen könnte, d.h. wie Gesetze so erzeugt werden können, dass die Menschen, so wie sie tatsächlich sind (indem sie ihr eigenes Vergnügen suchen) möglichst dennoch das tun, was sie tun sollten (nämlich die größte Freude für alle zu suchen). Die Instrumente, die Regierungen bei dieser Aufgabe einsetzen, sind Bestrafung und Belohnung, die sie im Wege von Drohungen und Angeboten unter das Volk bringen. Für Bentham wird die Bestrafung nicht wegen der Rechtsverletzung durchgeführt, sondern zur Abschreckung anderer Menschen, dasselbe zu tun. Folglich ist nach seiner Theorie die scheinbare Bestrafung jene, die nur Gutes bewirkt, und die reale Bestrafung diejenige, die nur Schaden anrichtet. Bentham dachte, dass die vorrangige Bedeutungseinheit der Satz ist, nicht das Wort. Er setzte diese Idee ein, um eine tiefgründige Analyse der Naturgesetze und der Rechtsbegriffe wie beispielsweise ‚richtig‘, ‚Pflicht‘ oder ‚Eigentum‘ durchzuführen. Diese nennt er ‚Namen von Erfindungen‘ (names of fictions), d.h. Ausdrücke, denen nicht direkt wirkliche Entitäten entsprechen. Dennoch heißt dies nicht, dass sie bedeutungslos sind. Stattdessen können sie bedeutungsvoll werden, indem man Sätze, in denen sie erscheinen, übersetzt in solche Sätze, wo sie nicht mehr erscheinen. So versteht er dann ‚gesetzliche Rechte‘ als ‚gesetzliche Pflichten‘, denn Sätze, die den ersten Ausdruck enthalten, können als Sätze verstanden werden, die den letzteren enthalten. Dies kann wiederum als ‚drohende Bestrafung‘ analysiert werden, oder wiederum, als Schmerz und Lust. Dadurch erhalten gesetzliche Rechte einen Sinn, aber dieser Sinn kann nicht auf demselben Weg den Naturrechten verliehen werden. Für Bentham haben wir keine natürlichen Rechte, und die Rechte, die wir haben, wie z.B. das Eigentumsrecht, wurden durch die Regierung geschaffen, deren Hauptaufgabe es ist, diese Rechte zu schützen. Bentham arbeitete auch eine Theorie aus, wie Menschen vor der Regierung selbst geschützt werden können, indem er ein detailliertes System verfassungsrechtlicher Gesetze entwarf, in dem die repräsentative Demokratie ein zentrales Element war. Bentham erfand das Wort ‚international‘, und als er starb, hatte er bereits internationalen gesetzlichen und politischen Einfluss. Sein hauptsächlicher Einfluss in der Philosophie war der des wichtigsten historischen Exponenten einer Reinform des Utilitarismus. Siehe auch: Demokratie; Glück; Mill, J.S.; Rechts, Philosophie des; Utilitarismus
ROSS HARRISON
Beobachtung
Die Beobachtung ist in den empirischen Wissenschaften unbestreitbar von großer Bedeutung. Als die Informationsquelle über die Welt selbst spielt die Beobachtung die Rolle sowohl des Beweggrundes zur Bildung von Theorien, als zu ihrer Überprüfung. Diese Rolle auszufüllen erfordert mehr als nur seine Augen zu öffnen und der Natur zu erlauben, dass sie über uns verfügt. Es erfordert vielmehr 140
Beobachtung
sorgfältige Aufmerksamkeit gegenüber der Information, die von der Welt an uns herangetragen wird, womit eine Beobachtung überhaupt erst Bedeutung erlangt. Die wissenschaftliche Beobachtung ist mit anderen Worten mehr als eine physische Handlung oder Empfindung; sie muss auch ein Erkenntnisakt sein, der über ausreichend Bedeutung und Glaubwürdigkeit verfügt, um zu unserem Wissen über die Welt beizutragen. Ein Bericht über eine Beobachtung muss daher mehr sein als ein ‚Ja, ich sehe‘. Er muss beschreiben, was gesehen wird: ‚Ich sehe dieses/ein <....>‘ Diese Verpflichtung zur theorierelevanten Beobachtung lässt vermuten, dass es einen wesentlichen Einfluss von Hintergrundtheorien auf die Beobachtung selbst gibt. Die Theorien, von denen wir überzeugt sind oder die wir überprüfen wollen, sagen uns, welche Beobachtungen wir anstellen sollten. Und die Beschreibung der Ergebnisse dieser Beobachtungen, d.h. die Mitteilung ihres informationellen Gehalts, wird immer in der Sprache des begrifflichen und theoretischen Systems geschehen, dass gerade aktuell ist. Aus diesen Gründen heißt es, dass die Beobachtung unvermeidlich theoriegeladen ist. Und der Einfluss der Hintergrundüberzeugungen ist sogar noch größer in Fällen der indirekten Beobachtung, wo Maschinen wie Mikroskope und Partikeldetektoren eingesetzt werden, um Bilder von Gegenständen der Beobachtung zu produzieren. Hier müssen die Verlässlichkeit dieser Maschinen, und folglich auch die Glaubwürdigkeit der Beobachtungen, auf einem theoretischen Verständnis der Wechselwirkungen aufbauen, die die Verbindungsglieder in der Informationskette sind. Der Einfluss der Theorie auf die Beobachtung wird oft als eine Bedrohung für die Objektivität des Überprüfungsprozesses und der Verifikation von Theorien angesehen, und damit auch für die Wissenschaften allgemein. Wenn man es zulässt oder gar fordert, dass Theorien ihre eigene Evidenz bzw. ihre eigene Beweisbarkeit bestimmen, um dann den daraus folgenden Beobachtungen eine Bedeutung und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so scheint der Überprüfungsprozess unvermeidlich der Zirkularität anheim zu fallen. Beobachtung, die theoriegeladen ist, würde somit trivialerweise ihren eigenen Erfolg garantieren. Ein Blick in die Geschichte der Wissenschaften zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Es gibt zahlreiche Fälle von Beobachtungen, die verwendet wurden, um die Nichtbestätigung von Theorien oder zumindest zu einer Schwächung des Vertrauens in sie herbeizuführen. Vielleicht gibt es eine Art von Beobachtung, die nicht von wissenschaftlichen Theorien beeinflusst ist und daher als eine gemeinsame, objektive Informationsquelle dienen kann, um Theorien einem strengen und bedeutungsvollen Test zu unterziehen. Oder vielleicht sind zwar alle wissenschaftlichen Beobachtungen von wissenschaftlichen Hintergrundtheorien beeinflusst, nicht aber notwendig gerade von der Theorie, die es aktuell zu überprüfen gilt. Diese Unabhängigkeit zwischen den Theorien, die eine Beobachtung stützen, und der Theorie, für die die Beobachtung als Beweis dient, kann den Zirkel im Überprüfungsprozess aufbrechen und vielleicht die Objektivität wieder herstellen. Siehe auch: Experiment; Informationstheorie; Masstheorie; Theorien, Wissenschaftliche
PETER KOSSO
Berdiajew, Nikolaij Aleksandrowitsch (1874–1948)
Nikolaij Berdiajew, ein russischer religiöser Idealist, war einer der vielen nicht marxistischen Denker, die von den russischen Behörden 1922 aus Russland vertrie141
Berechenbarkeitstheorie
ben wurden. Obwohl er sich in seiner Jugend vom Marxismus angezogen fühlte, glich er ihn auch dort schon mit einer neukantianischen ethischen Theorie aus. Noch deutlich vor der bolschewistischen Revolution ernüchterte ihn die marxistische Philosophie ernsthaft (wenn auch nicht hinsichtlich der Idee des Sozialismus), und er nahm die Ausarbeitung einer personalistischen christlichen Philosophie in Angriff, die ihn für den Rest seines Lebens in Anspruch nahm. Unter dem Spitznamen ‚der Philosoph der Freiheit‘ schrieb Berdiaev fruchtbar über diesen Gegenstand und über damit zusammenhängende Themen der Metaphysik, der Geschichtsphilosophie, der Ethik, der Sozialphilosophie und anderer Felder (jedoch nicht über die Erkenntnistheorie, die er als fruchtlose Übung im Skeptizismus zurückwies). Weil seine Herangehensweise an die Philosophie zugegebenermaßen anthropozentrisch und subjektiv war, akzeptierte er die Kennzeichnung als ‚existenzialistisch‘ und gab seine Nähe zu Dostojewskij, Nietzsche und (in geringerem Umfange) zu Jaspers zu. Wie sie konstruierte er kein philosophisches System, obwohl er seine in den Hauptgedanken aufeinander bezogenen Standpunkte erläuterte, auch wenn sie impressionistisch und teilweise etwas dunkel formuliert waren. Unter seinen prominenteren Ideen befand sich seine Konzeption der Freiheit (für die er der mystischen Philosophie von Jakob Boehme zu Dank verpflichtet war), seine Unterscheidung zwischen Geist und Natur, seine Theorie der ‚Objektifizierung‘, seine Lehre der Kreativität und seine Konzeption der Zeit. Als der am häufigsten übersetzte russische Denker des 20. Jahrhunderts ist Berdiaev weithin im Westen seit den 1930er Jahren studiert worden, insbesondere in Religions- und Theologieschulen und durch Philosophen der existenzialistischen und personalistischen Traditionen. Obwohl viele westliche Leser in ihm die Stimme der russisch-orthodoxen Christenheit sehen, brachte ihm sein unabhängiger Blick auch Angriffe seitens einiger Orthodoxer Philosophen und Theologen ein, und darüber hinaus auch von streng antisowjetischen russischen Emigranten. Seine Schriften in der Emigration wurden in seiner Heimat gierig aufgenommen, nachdem sie dort Ende der 1980er Jahre publiziert werden durften. Siehe auch: Existenzialismus JAMES P. SCANLAN
Berechenbarkeitstheorie
Die effektive Berechenbarkeit von zahlentheoretischen Funktionen wie z.B. einer Addition und Multiplikation war immer anerkannt, und für dieses Urteil bedarf es auch keines strengen Begriffs einer ‚berechenbaren Funktion‘. Ein genauer mathematischer Begriff wurde im 20. Jahrhundert nur deshalb definiert, als Fragen einschließlich des Entscheidungsproblems für die Prädikatenlogik eine präzise Abgrenzung derjenigen Funktionen erforderte, die als effektiv berechenbar betrachtet werden können. Die Prädikatenlogik entwickelte sich aus Freges grundlegender Begriffsschrift (1879) als eine ausdruckshaltige formale Sprache. Sie wurde mit mathematischer Präzision von Hilbert in Vorlesungen im Winter 1917–1918 beschrieben. Der logische Kalkül, den Frege entwickelt hatte, erlaubte es, Beweise als Berechnungen gemäß einer festen Menge von Regeln vorzunehmen; im Prinzip können die Regeln nach Gödel „durch irgendjemanden angewandt werden, der nichts von Mathematik versteht, oder auch durch eine Maschine“. Hilbert begriff das Potential dieses mechanischen Aspekts und formulierte das Entscheidungsproblem für die Prädikatenlogik wie folgt: „Das Entscheidungspro142
Bergson, Henri-Louis (1859–1941)
blem ist gelöst, wenn man das Verfahren kennt, dass die Entscheidung betreffend die Gültigkeit bzw. die Erfüllbarkeit eines gegebenen logischen Ausdrucks mittels einer endlichen Zahl von Vorgängen zulässt.“ Manche Forscher, wie von Neumann, glaubten, dass die inhärente Freiheit des mathematischen Denkens ausreichend Grund zur Annahme einer negativen Lösung dieses Problems böte. Wie aber kann ein Beweis der Unentscheidbarkeit aussehen? Die Ergebnisse der Unlösbarkeit in anderen mathematischen Problemen waren immer die relative Frucht im Verhältnis zu einer bestimmten Klasse zulässiger Operationen, beispielsweise die Unmöglichkeit der Verdoppelung des Kubus relativ zu Lineal- und Kompasskonstruktionen. Eine negative Lösung für das Entscheidungsproblem erforderte offenkundig die Beschreibung von ‚effektiv berechenbaren Funktionen‘. Für zwei weitere, wichtige Fragen wurde ebenfalls eine Kennzeichnung dieses informellen Begriffs benötigt, nämlich für die allgemeine Formulierung der Unvollständigkeitstheoreme und für die effektive Unlösbarkeit mathematischer Probleme (z.B. Hilberts ‚zehntes Problem‘). Die erste Aufgabe der Berechenbarkeitstheorie war folglich die Antwort auf die Frage: ‚Wie lautet der präzise Begriff der effektiv berechenbaren Funktion?‘. Viele unterschiedliche Antworten kennzeichneten immer wieder dieselbe Klasse zahlentheoretischer Funktionen: die der teilweise rekursiven Funktionen. Heute gilt die Rekursivität, oder äquivalent die Turing-Berechenbarkeit, als das präzise mathematische Gegenstück zur ‚effektiven Berechenbarkeit‘. Relativ zu diesen Begriffen wurden Unentscheidbarkeitsergebnisse aufgestellt, darunter speziell die Unentscheidbarkeit des Entscheidungsproblems für die Prädikatenlogik. Die Begriffe sind idealisiert in dem Sinne, dass keine zeitlichen oder räumlichen Beschränkungen auf den Berechnungen lasten; der Begriff der ‚Machbarkeit‘ ist zentral in der Computerwissenschaft, wenn man versucht, jene Untermenge von rekursiven Funktionen zu erfassen, deren Werte wirklich bestimmt werden können. DANIELE MUNDICI WILFRIED SIEG
Berechnungstheorien des Geistes
Siehe: Geistes, Berechnungstheorien des
Bergson, Henri-Louis (1859–1941)
Soweit man ihn einordnen kann, wäre Bergson ein ‚Prozessphilosoph‘ zu nennen, der den Vorrang des Prozesses und der Veränderung vor den konventionellen, festen Körpern betont, an denen sich diese Veränderungen ereignen. Sein zentraler Anspruch ist, dass die Zeit (die er durée [Dauer] nennt), wenn man richtig und so, wie wir sie erfahren, über sie spricht, nicht als eine Menge von Momenten analysiert werden könne, sondern in ihrem Wesen einheitlich sei. Dasselbe gilt für die Bewegung, die man von der Strecke unterscheiden muss, die sie durchmisst. Diese Unterscheidung, so behauptet er, löst Zenon von Eleas Bewegungsparadox, und Analogien davon lassen sich auch anderswo, z.B. in der Biologie und der Ethik, anwenden. Bergson traf eine wichtige Unterscheidung zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung. Er wies den Idealismus zurück, behauptete aber, dass die Materie sich nur graduell von unseren Wahrnehmungen unterscheide, die immer von unseren Erinnerungen durchtränkt seien. Eine Wahrnehmung frei von aller Erinnerung, oder ‚reine‘ Wahrnehmung, sei eine ideale Grenze und gar keine wirkliche Wahrnehmung, sondern Stoff. Wirkliche Wahrnehmung sei pragmatisch: wir nehmen wahr, 143
Berkeley, George (1685–1753)
was notwendig für unser Handeln ist und werden dabei vom Gehirn unterstützt, das als ein Filter fungiert, um sicherzustellen, dass wir uns nur an das erinnern, was notwendig ist. Menschen unterscheiden sich von Tieren durch die Entwicklung von Intelligenz anstelle von Instinkten, aber unsere höchste Fähigkeit sei die ‚Intuition‘, die beide verschmelze. – Bergson ist nicht antiintellektualistisch, denn für die Intuition (in einer von zwei Bedeutungen des Wortes) ist Intelligenz erforderlich. Er wurde teilweise populär, als er eine Theorie der Evolution entwickelte, in der er den Begriff des élan vital einsetzte, der offenbar die Rolle der Religion einnahm. In der Ethik stellte er eine ‚geschlossene‘ der wünschenswerteren ‚offenen‘ Moralität gegenüber, und entsprechend stellte er die ‚statische‘ der ‚dynamischen‘ Religion gegenüber, die im Mystizismus gipfelt. Siehe auch: Lebensphilosophie; Vitalismus A.R. LACEY
Berkeley, George (1685–1753) Einführung George Berkeley, der in Irland geboren wurde und schließlich Bischof von Cloyne wurde, kennt man heute vor allem wegen dreier seiner Arbeiten, die er veröffentlichte, während er noch sehr jung war: ‚An Essay towards a New Theory of Vision‘ (1709, dt.: ‚Aufsatz über eine neue Theorie des Sehens‘), ‚Three Dialogues between Hylas and Philonous‘ (1713, dt.: ‚Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous‘), und insbesondere ‚A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge‘ (1710, dt.: ‚Eine Untersuchung betreffend die Prinzipien des menschlichen Wissens‘). In den ‚Prinzipien‘ tritt er für die verblüffende Behauptung ein, dass es keine externe, materielle Welt gibt, dass also Häuser, Bäume und ähnliches schlicht Sammlungen von ‚Vorstellungen‘ (ideas) sind, und dass es Gott sei, der die ‚Vorstellungen‘ oder ‚Empfindungen‘ (sensations) in unserem Geiste produziere. Die ‚Neue Theorie des Sehens‘ hatte bereits einige Vorbereitungen für diese Behauptungen getroffen (obwohl diese Arbeit an sich selbst bereits interessant ist), und die ‚Dialoge‘ repräsentieren Berkeleys zweiten Versuch zu ihrer Verteidigung. Andere Schriften sollten folgen, einschließlich ‚De Motu‘ (1721), ‚Alciphron‘ (1732) und ‚Siris‘ (1744). Es waren jedoch die drei frühen Werke, die Berkeley als einer der größeren Figuren in der Geschichte der modernen Philosophie einführten. Die grundlegende These war sicherlich verblüffend, und anfänglich waren viele geneigt, sie geradewegs als so abscheulich zu verwerfen, dass angeblich nicht einmal Berkeley selbst sie ernst genommen habe. Tatsächlich jedoch nahm Berkeley sie sehr ernst, und sicherlich war er ein sehr befähigter Philosoph. Er schrieb in einer Zeit, als die schnelle Entwicklung der Naturwissenschaften den Schlüssel zum Verständnis der wahren Natur der materiellen Welt und ihrer Funktionsweise herbeizuschaffen schienen. Als aber der Skeptizismus über die Existenz der materiellen Welt plötzlich selbst auf der philosophischen Agenda stand, glaubte Berkeley, dass der ‚Immaterialismus‘ die einzige Hoffnung zur Niederwerfung des Skeptizismus und zum Verständnis des Status wissenschaftlicher Erklärungen sei. Auch hätte er wohl nicht hingenommen, dass die Leugnung der Materie empörend sei. Tatsächlich meinte er, wenn man ihn richtig verstünde, würde er als ein Verteidiger der Sichtweisen der ‚vulgären Menschen‘ oder des ‚Mob‘ gegen andere Philosophen gese144
Berkeley, George (1685–1753)
hen werden, einschließlich Locke, dessen Standpunkte eine Bedrohung für vieles darstellten, was wir gewöhnlicherweise als common sense verstehen würden. Seine Metaphysik ist kaum verständlich, solange wir uns nicht darüber klar sind, wie wir sie aus dieser Perspektive interpretieren können; noch werden wir Berkeley gerecht, wenn wir die Rolle, die er Gott zuschreibt, einfach als ein Produkt der Frömmigkeit eines künftigen Bischoffs verwerfen. Die Religion war bedroht; Berkeley kann wahrscheinlich als vorausschauend beurteilt werden, insofern er sah, wie attraktiv der Atheismus werden kann, wenn die wissenschaftliche Revolution, deren Erben wir sind, eintritt. Und obwohl man kaum behaupten kann, dass seine Versuche zur Abwehr der Herausforderung erfolgreich waren, verdienen sie doch respektvolle Aufmerksamkeit. Unabhängig davon, ob wir ihn als einen Vertreter einer faszinierenden Metaphysik sehen, über die wir unsere eigene Meinung bilden müssen, oder lediglich als einen der Repräsentanten auf der philosophischen Bühne und Debatte von Descartes über Locke bis zu Hume und Kant und darüber hinaus, müssen wir Berkeley doch jedenfalls als einen kraftvollen Intellektuellen anerkennen, der wichtige Beiträge leistete. 1. Leben 2. Einflüsse 3. Berkeleys Metaphysik 4. Die ‚Neue Theorie des Sehens‘ 5. Einführung in die ‚Prinzipien‘ 6. – 8. Die ‚Prinzipien‘ 9. ‚Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous‘ 10. De Motu 11. Alciphron und ‚Der Analytiker‘ 12. Siris 13. Abschließende Bemerkungen 1. Leben George Berkeley wurde in oder in der Nähe der Stadt Kilkenny in Irland geboren und wurde im Kilkenny College und am Trinity College, Dublin, ausgebildet, wo er 1704 einen Abschluss als B.A. (Bachelor of Arts) und 1707 jenen des M.A. (Master of Arts) erwarb, wodurch er im letzten Jahr zum Junior Fellow wurde. Bald sollte er seine Bücher veröffentlichen, für die er nunmehr am bekanntesten ist. Zunächst müssen jedoch zwei Notizbücher erwähnt werden, die inzwischen als die ‚Philosophischen Kommentare‘ bekannt sind, und die er in den Jahren 1707–1708 schrieb. Seit ihrer ersten Veröffentlichung im Jahre 1871 (genauer gesagt seit der Entdeckung, dass sie irgendwann einmal in der falschen Reihenfolge zusammengebunden worden waren, so dass sie ein verzerrtes Bild von der Entwicklung des Denkens von Berkeley gaben) haben sich diese als eine unschätzbare Quelle für die Gelehrten erwiesen, die sich um ein Verständnis der Entwicklung seines Denkens während dieser Schlüsselperiode bemühten. Die größeren Früchte dieser denkerischen Bemühung waren der ‚Aufsatz über eine Neue Theorie des Sehens‘ von 1709 und die ‚Untersuchung betreffend die Prinzipien des menschlichen Wissens‘ (1710), die ursprünglich nur die ersten Teile eines drei- oder vierteiligen Buches sein sollten, sowie die ‚Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous‘ (1713), die
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Berkeley nach seinem Umzug nach London veröffentlichte. Zwischen den ‚Prinzipien‘ und den ‚Dialogen‘ veröffentlichte er eine schmalere Arbeit namens ‚Passive Obedience‘ (1712, dt.: ‚Passiver Gehorsam‘), der wesentliche Einsichten in sein ethisches Denken gewährt, und wegen der er als ein theologischer Regel-Utilitarist beschrieben wird. Ebenfalls um diese Zeit im Jahre 1713 veröffentlichte er Essays in Richard Steeles ‚Guardian‘, die Berkeleys Geringschätzung für die antireligiösen Ansichten der sog. ‚Freien Denker‘ zeigen. Von dieser Zeit an wurde Berkeleys Leben aktiv und interessant. Er unternahm zwei Reisen durch das kontinentale Europa, und zwar die erste (1713–1714) als Kaplan zu Lord Peterborough, wo er offenbar Malebranche traf, und die zweite (1716– 1720) als Privatlehrer zu George Ashe, dem Sohn des Bischofs von Cloghere. Gegen Ende der zweiten Reise schrieb er das lateinische Traktat ‚De Motu‘ als Beitrag an die Königliche Akademie der Wissenschaften nach Paris, die einen Preis für sein Essay über die Ursache der Bewegung ausgelobt hatte. Er veröffentlichte diesen in 1721, nachdem er im selben Jahr nach Irland zurückgekehrt war, und wurde 1724 zum Dekan von Derry ernannt. Er hatte jedoch schon ein bemerkenswertes Projekt entworfen, das sein Leben für die nächsten zehn Jahre beherrschen sollte. Während des Frühlings von 1722 schaffte er es, ein College auf der Insel Bermuda zu gründen, und nicht lange darauf machte er sich daran, um Unterstützung und die Zulassungsurkunde für das St. Paul‘s College anzusuchen, das, wenn es aufgebaut worden wäre, eine Anzahl junger amerikanischer Eingeborener sowie die Söhne englischer Pflanzer ausgebildet hätte. Tatsächlich erreichte er Bermuda nie, aber als er neu verheiratet war, segelte er in 1728 nach Rhode Island, wo er für mehr als zwei Jahre blieb und eine ihm versprochene finanzielle Unterstützung der Regierung erwartete. Sein dortiges Haus ist als Denkmal erhalten. Das Stipendium kam nie, also konnte auch das College nicht entstehen, weder in Bermuda, noch auf dem Festland, was er nach einigem Überlegen bevorzugt hätte. Sein Aufenthalt in Rhode Island war gleichwohl nicht umsonst. Dort schrieb er ‚Alciphron: or the Minute Philosopher‘, ein Angriff auf den Atheismus und Theismus in dialogischer Form, der im Jahre 1732 nach seiner Rückkehr nach London veröffentlicht wurde. Er freundete sich ferner mit Samuel Johnson, dem späteren ersten Präsidenten des King‘s College in New York, an. Johnsons ‚Elementa Philosophica‘ (1752) ist Berkeley gewidmet, und zwei Briefe von Johnson aus dem Jahre 1729 und 1730 (zusammen mit Berkeleys Antworten in Bd. 2 der Standardedition von Berkeleys Werken veröffentlicht) zeigen, dass er Berkeley grundsätzlich sympathisch gegenüber stand, aber auch ein scharfer Kritiker von Berkeleys metaphysischer Hauptlehre war. Sicherlich kann man solches nicht über Andrew Baxter sagen, der im Jahre 1733 als Teil seiner ‚Enquiry into the Nature of the Human Soul‘ einen Abschnitt aufnahm, der in Wirklichkeit die erste ausgedehnte Kritik an Berkeleys ‚Prinzipien‘ war. Baxters Tonfall war durchgehend feindselig. Berkeley zog es vor, nicht zu antworten, obwohl er im selben Jahr auf eine anonyme Kritik seiner ‚Neuen Theorie des Sehens‘ erwiderte, und zwar innerhalb der dritten Auflage, die dem ‚Alciphron‘ hinzugefügt worden war, und die er unter dem Titel ‚The Theory of Vision, Vindicated and Explained‘ (‚Die Theorie des Sehens, gerechtfertigt und erklärt‘) veröffentlichte. Im Jahre 1734 veröffentlichte er ebenfalls eine überarbeitete Ausgabe der ‚Prinzipien‘ und der ‚Dialoge‘. Die Schrift ‚The Analyst‘ (1734), die Newtons Lehre vom Fließen 146
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kritisiert, steht auch in Beziehung zu seinen früheren Arbeiten, insofern sich Berkeley auf seine Beobachtungen über die Mathematik in den ‚Prinzipien‘ bezieht, und es kann sein, dass einige Bemerkungen von Baxter über seine Behandlung der Mathematiker zumindest eine kleine Rolle dabei spielten, dass er sich zu dieser Veröffentlichung ermutigt sah. Berkeley nennt seinen Kritiker nicht beim Namen, der, wie er sagt, ihn herausgefordert habe, das zu erfüllen, was er in den ‚Prinzipien‘ gesagt habe; wenn es jedoch Baxter sei, so behandele er ihn geringschätzend als jemanden, der „im Denken nicht reif genug zu sein scheint und deshalb weder die Metaphysik versteht, die er zu widerlegen meint, noch die Mathematik, die er gönnerhaft unterstützen will.“ (‚The Analyst‘ § 50) Berkeley musste jedoch auch auf die Sicherung seiner eigenen Zukunft und der seiner Familie achten, und seine Bemühungen um bevorzugte Behandlung in der Kirche wurde im Jahre 1734 belohnt, als er zum Bischof von Cloyne in Irland ernannt wurde. Hier erntete er gründlich die Anerkennung, die er schon immer als der ‚gute Bischof‘ gehabt hatte. Das erhaltene Vermächtnis enthält die Aufsätze ‚The Querist‘ (1735–1737), dass seine Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen Irlands zum Ausdruck bringt, und ‚Siris‘ (1744), der zu jener Zeit so erfolgreich war, dass es im Jahr der Erstveröffentlichung bereits in sechs Auflagen erschien, jetzt aber als nicht viel mehr als eine Kuriosität gesehen wird. Dies sollte jedoch seine letzte originale, substanzielle Veröffentlichung sein. Er blieb in Cloyne fast bis zu seinem Lebensende und fuhr 1752 schließlich nach Oxford, wo einer seiner Söhne studierte. Er starb im darauf folgenden Jahr. 2. Einflüsse Den Haupteinfluss auf Berkeley übte unzweifelhaft John Locke aus, dessen ‚Essay concerning Human Understanding‘ Berkeley als Student gelesen hatte und es auch später noch vornahm. Die lange Einführung zu Berkeleys ‚Prinzipien‘ ist über weite Strecken ein begründeter Angriff auf den Standpunkt, dass wir abstrakte Ideen zu fassen vermögen, wobei er sich auf Lockes Darstellung der Abstraktion konzentriert. Unzulässige Abstraktion ist am Ende verantwortlich für die nach seiner Auffassung unhaltbare Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten, den Glauben an eine ‚materielle Substanz‘, sowie die Auffassung, dass Gegenstände eine Existenz unabhängig von der idea (‚Vorstellung‘) haben. All dies sind Merkmale des Lockeschen Standpunktes (siehe Locke, J. §§ 2–5). Berkeley verdankte Locke jedoch viel, den er in seinem Notizbuch mit einem ‚Giganten‘ verglich, und der ebenso als sein Mentor, als auch als sein philosophisches Angriffsziel anzusehen sei. Daher ist verständlich, dass Berkeley als der zweite der drei großen britischen Empiristen angesehen wird, d.h. als Nachfolger von Locke und als Vorgänger von Hume, wobei diese den drei großen rationalistischen Philosophen Descartes, Spinoza und Leibniz gegenüber gestellt werden. Sicherlich wäre es nahe liegend zu sagen, dass die Bedeutung des Einflusses von Locke auf Berkeley gar nicht überschätzt werden kann – wenn dies nicht doch ab und zu der Fall gewesen wäre. Wenn auch nur als Korrektiv, so ist es doch wichtig zu betonen, dass unbeschadet der Evidenz, derzufolge Berkeley oft Locke im Kopf hatte, wenn er seine eigenen Positionen formulierte, und unbeschadet der unbezweifelbaren Tatsache, dass keines von Berkeleys größeren Werken in ihrer gegenwärtigen Form entstanden wären, wenn Locke nicht den ‚Essay‘ publiziert hätte, Berkeley doch darauf 147
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bestanden hätte, dass wesentlich mehr auf dem Spiele stand als nur die Frage, ob Locke die Dinge richtig sah. Er hatte es auf bestimmte Ansichten und Annahmen abgesehen, die sehr weit verbreitet waren. Deshalb ist Locke nicht der einzige Philosoph, den er tatsächlich in seinem Angriff auf die abstrakten Ideen identifiziert und zitiert, und selbst dort sieht er sich nicht einfach als jemanden, der irgendeinem schrulligen Einfall von Locke gegenüber steht, sondern als einen, der, wie er in einem Brief schreibt, „Herrn Locke gemeinsam mit allen Gelehrten sieht, und ich denke, mit allen anderen Philosophen“ (‚Works‘, Bd. 2: 293). Dies schloss z.B. sicherlich Malebranche mit ein, der, wie Berkeley an anderer Stelle beklagte, „auf den abstraktesten allgemeinen Vorstellungen aufbaut“ (‚Works‘, Bd. 2: 214). Wenn er also sagt, dass „es einige gibt, die zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheiden“ (‚Principles‘ § 9), dann meint er wirklich einige, und eben nicht nur Locke. Gleiches ließe sich von seinem Widerspruch gegen den Begriff der ‚materialen Substanz‘ sagen. Kurz gesagt, Berkeley warf auch oft einen Blick auf andere Denker, und einige von diesen müssen auch als solche gelten, die Einfluss auf ihn ausübten. Es ist inzwischen weitgehend anerkannt, dass dies auch die Autoren der kartesianischen Tradition einschließt, vor allem Malebranche, aber wahrscheinlich auch Pierre Bayle. Die Beziehung zwischen Berkeley und Descartes ist interessant. Am Ende war es Descartes, der einen radikalen Dualismus der Begriffe von Materie und Geist eingeführt hatte, und obwohl Berkeley die Materie zurückwies, hing er doch der im weiteren Sinne kartesianischen Auffassung des Geistes an (siehe Dualismus). Malebranche ist jedoch in dieser Geschichte besonders wichtig, sowohl weil Berkeley seine ‚De la recherche de la vérité‘ schon in jungen Jahren studiert hatte, als auch weil Berkeleys Position viele verblüffte, da sie so dicht bei der von Malebranche lag. Insbesondere leugnete Berkeley definitiv die Existenz von Körpern ohne den sie konstituierenden Geist, aber Malebranche hatte bereits vorgebracht, dass es unmöglich sei, schlüssig die Existenz der Körper zu beweisen, und somit den Weg geebnet, diese Körper zu verwerfen. Auch hatte Malebranche darauf bestanden, dass es keine körperlichen Ursachen gebe, und dass genau genommen Gott die einzige Ursache sei, und Berkeley war gewiss ebenfalls der Ansicht, dass nur der Geist handeln könne. Ferner behauptete Malebranche – und Berkeley schlug dies zumindest auch vor –, dass Gottes Ideen uns in der Wahrnehmung offenbart werden. Es ist folglich bedeutsam, dass Berkeley zu seiner Zeit und trotz seiner Proteste oft und in wesentlichen Punkten als ein Anhänger von Malebranche angesehen wurde. Bemerkt sei schließlich, dass, während Malebranche zu dem Schluss gekommen war, dass weder die Sinne, noch die Vernunft schlüssig die Existenz von Körpern begründen können, er ebenfalls der Auffassung war, dass ein Glaube an die Heilige Schrift diese Überzeugung voraussetze. Als Berkeley in den ‚Prinzipien‘ eine Reihe möglicher Einwände gegen seine positive Zurückweisung der ‚Materie‘ überdachte, war sein Bibelargument das letzte, das er behandelte. Er sagt: „Ich denke nicht, dass entweder dass, was Philosophen ‚Materie‘ nennen, oder die Existenz von Gegenständen ohne den Geist, etwas ist, was irgendwo in der Heiligen Schrift erwähnt wird.“ (‚Principles‘ § 82) Es gibt starke Hinweise darauf, dass auch Bayle frühen Einfluss auf Berkeley ausübte, und als dieser sich in dem Vorwort zu den ‚Prinzipien‘ auf jene bezieht, „die vom Skeptizismus verdorben sind“, so waren wahrscheinlich die Argumente 148
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in Bayles ‚Dictionnaire historique et critique‘ jene, die er dabei vor Augen hatte. Bayle hatte Argumente dagegen angeführt, die Ausdehnung und die Bewegung als objektiver anzusehen als Farben und Gerüche (die die Kartesianer als reine Empfindungen anerkannten), sowie für die Ansicht, dass der Begriff der wirklichen Ausdehnung (für Kartesianer das Wesen der Materie) mit Widersprüchen behaftet sei. Die strikte Vernunft, so argumentierte Bayle, würde uns folglich zur Leugnung der Existenz von Körpern führen, und zwar trotz unserer (glücklicherweise) unausrottbaren Überzeugungen. Berkeley begrüßte diese Argumente und adaptierte sie zu dem von ihm verfolgten Zweck einer Zurückweisung von Körpern ‚ohne den Geist‘. Und wenn auch Berkeley, anders als Bayle, fest leugnete, dass dies zum Skeptizismus oder irgendeinem anderen Konflikt mit dem common sense führt, so überrascht es kaum, wenn viele seiner Zeitgenossen eine andere Ansicht hierzu hatten. Andrew Baxter sah dies beispielsweise so, dass Berkeley an die Schlussfolgerung gebunden sei, „er habe weder Land noch Eltern, noch irgendeinen materiellen Körper (denn alle diese Dinge sind reine Illusionen und haben keinerlei Existenz außer in der Phantasie.“ (‚An Enquiry into the Nature of the Human Soul‘ 1733) 3. Berkeleys Metaphysik Berkeley ist nachvollziehbarerweise am bekanntesten für seine (auf den ersten Blick unbegreifliche) Behauptung, dass der Geist die einzige Substanz sei, und dass es Gott sei, der die Empfindungen von den Gegenständen in unserem Geiste produziere. Von Anfang an betrachteten viele diese Ansicht bestenfalls mit Skepsis oder schlimmstenfalls als geisteskrank, und Berkeley gab zu, dass dies als erste Reaktion denkbar sei. Es ist folglich ein wichtiges Merkmal seiner Position, dass sein Standpunkt bei richtigem Verständnis als common sense gesehen werden kann und durchaus mit den Ansichten der ungebildeten ‚vulgären Masse‘ vereinbar ist. Das Ziel des vorliegenden Abschnitts ist eine sehr allgemeine Skizze, wie Berkeley die Dinge auf diese Weise sehen konnte. Zunächst werden wir uns kaum einen Reim auf Berkeleys Standpunkt machen können, solange wir ihn nicht als jemanden sehen, der von einer Annahme ausgeht, die er sowohl als offensichtlich wahr empfand, als auch meinte, dass er sie mit anderen Philosophen teile. Diese Ansicht war, dass jeder von uns sich nur jener Vorstellungen, Empfindungen oder Wahrnehmungen bewusst sei, die auf die eine oder andere Art in unserem Geist hervorgebracht werden. Nach der verbreitetsten Ansicht, nämlich jener, die beispielsweise von Descartes und Locke geteilt wurde, werden diese in uns von externen Gegenständen hervorgerufen, so dass wir diese Gegenstände nicht unmittelbar wahrnehmen, weil, wie Locke sagt (und was immer er damit genau meinte), „der Geist nichts anderes wahrnimmt als seine eigenen Vorstellungen“ (Locke, Essay IV 4: § 3). Berkeleys erste Einsicht war – und diese muss eine von jenen sein, zu denen ihn seine Lektüre von Malebranche und Bayle ermutigt hatte –, dass, wenn wir die Dinge auf diese Art und Weise angehen, d.h. zwischen Vorstellungen unterscheiden, die wir wahrnehmen, und den wirklichen Gegenständen, die verborgen hinter ihnen liegen, der Skeptizismus unausweichlich wird. Bestenfalls können wir dann noch Hypothesen über die Existenz der ‚wirklichen‘ Gegenstände im Sinne der wahrscheinlichsten Ursachen unserer Vorstellungen aufstellen, aber dann sind wir dem Einwand ausgesetzt, dass es auch andere Ursachen geben kann, einschließlich und naheliegenderweise Gott selbst. Doch es gibt noch weitere Schwierigkeiten. 149
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Berkeley fand es durchaus zulässig zu behaupten, es sei ziemlich unklar, wie träge Masse auf den Geist einwirken könne, so dass sie Vorstellung oder Wahrnehmungen in ihm hervorruft (und Malebranche und andere ‚Okkasionalisten‘ hatten in der Tat geleugnet, dass dies der Fall sei) (siehe Okkasionalismus). Darüber hinaus fand Berkeley die vorherrschenden Konzeptionen des Begriffs der ‚materialen Substanz‘ nur obskur und inkohärent. Die grundlegende Einsicht sollte aber erst noch folgen. Diese Einsicht bestand darin, dass, wenn wir als gewöhnliche Männer und Frauen von Häusern, Bergen, Flüssen usw. sprechen, wir über das reden, was wir erfahren oder was uns bewusst ist, und nicht von verborgenen Gegenständen, derer wir uns überhaupt nicht direkt bewusst sind. Daraus folgt – oder zumindest schien für Berkeley daraus zu folgen –, dass, wenn wir uns auf Häuser, Berge und Flüsse beziehen, wir uns auf Dinge beziehen, derer wir uns bewusst sind, und wenn (worin er mit anderen Philosophen übereinstimmte) wir uns nur der Vorstellungen bewusst seien, so müssten Häuser, Berge und Flüsse Vorstellungen oder Erscheinungen sein, oder besser gesagt, ‚Sammlungen‘ solcher Vorstellungen. Sicherlich – und dies war der Punkt, mit dem die Leser am schwierigsten fertig wurden, auf dem Berkeley aber am meisten beharrte – gibt es keine Notwendigkeit zu leugnen, dass Häuser, Berge und Flüsse existieren, jedoch durchaus eine Notwendigkeit zur Betonung des allgemein wahrgenommenen Umstandes, dass sie genau die Gegenstände sind, die wir wahrnehmen – und das bedeutet, dass sie geistabhängige Vorstellungen sind. Ihr esse (Sein) ist percipi (wahrgenommen werden); sie existieren nur im Geist. Berkeleys größere philosophische Werke, und speziell die ‚Prinzipien‘ und die ‚Dialoge‘, sind in der Hauptsache eine begründete Verteidigung dieser Einsichten und Lehren, zusammen mit einer Ausarbeitung ihrer Implikationen. Für Berkeley sind diese Implikationen, einschließlich jener für die Religion und die Naturwissenschaften, so wichtig wie die zugrunde liegende Metaphysik selbst. Gleichwohl scheint der dieser Metaphysik zugrunde liegende Sachverhalt doch in der Tat sehr einfach zu sein. Schon am Ende vom sechsten Abschnitt der ‚Prinzipien‘ (in den meisten Ausgaben weniger als drei Seiten lang) ist dieser Sachverhalt beschrieben. 4. Die ‚Neue Theorie des Sehens‘ Obwohl Berkeleys ‚An Essay towards a New Theory of Vision‘ (1709) genau ein Jahr vor den ‚Prinzipien‘ veröffentlicht wurde und Berkeley bereits überzeugt war, dass es so etwas wie ‚Materie‘ oder Körper ‚ohne den Geist‘ nicht gebe, verfehlte diese erste von seinen größeren Arbeiten doch diesen Anspruch. Wie er in den ‚Prinzipien‘ sagte: obwohl das frühere Buch gezeigt hätte, dass „die eigentlichen Gegenstände des Sehvermögens weder ohne den Geist existieren, noch Bilder von externen Gegenständen sind“ (‚Principles‘ § 44, Kursivdruck hinzugefügt), hat es doch nichts dazu getan, die Leser von der Auffassung zu befreien, dass spürbare Gegenstände immer externer Art seien. Auf dieser Ebene kann die Arbeit insofern als auf halbem Wege zur Darstellung eines vollständigen Immaterialismus stehen geblieben angesehen werden, aber es ist ebenso unzweifelhaft wahr, dass er von den Problemen fasziniert war, die das Sehen an sich selbst betrafen. Er war sicherlich in der optischen Theorie sehr belesen, wollte dort also seinen eigenen, sehr bestimmten Beitrag leisten, und über viele Jahre wurde dieser Beitrag von Menschen gelesen, die ein geringes Interesse an den weiteren Konsquenzen daraus hatten, oder sogar blind dafür waren. 150
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Offenkundig ist die ‚Neue Theorie des Sehens‘ lediglich ein Versuch „die Art und Weise aufzuzeigen, auf die wir das Sichtbare in seiner Entfernung, Größe und Lage von Gegenständen wahrnehmen“, obwohl Berkeley bereits im eröffnenden Abschnitt ankündigt, dass er „den Unterschied zwischen den Vorstellungen des Sehund des Berührungsvermögens, sowie ob einige Vorstellungen beiden gemeinsam sind“ berücksichtigen wolle (‚New Theory of Vision‘ § 1). Kurz gesagt ist die Frage betreffend die Lage (situation), die andere ebenfalls bereits gestellt hatten, wie es sein könne, dass wir die Dinge richtig herum, d.h. aufrecht sehen, wenn doch ihre Bilder auf der Retina umgekehrt ankämen; jene betreffend die Größe fragt, wie wir distante Gegenstände als klein oder groß beurteilen können (wobei ein spezielles Problem für ihn war, warum der Mond am Horizont größer erscheint als im Zenith, obwohl er beide Male praktisch gleich weit von uns entfernt ist); und jene betreffend die Entferntheit fragt danach, wie wir dazu kommen, Dinge als in verschiedenen Entfernungen befindlich zu sehen, unter der Voraussetzung, dass man akzeptiere, wie Berkeley beobachtet, dass „Entfernung eine Linie meint, die vom Gegenstand zum Auge gerichtet verläuft und damit nur einen Punkt auf das Sehfeld des Auges projiziert, der immer derselbe bleibt, egal, ob die Entfernung zu- oder abnimmt“ (‚New Theory of Vision‘ § 2). Berkeleys Lösung ist in jedem der Fälle ähnlich. Im Falle der Entfernung z.B., selbst wenn ein Gegenstand relativ nahe ist, so urteilten wir nicht, wie von anderen angenommen werde, auf der Grundlage dessen, was Descartes als eine Art von ‚natürlicher Geometrie‘ beschrieben hat. Und solche Tatsachen, dass Linien, die von beiden Augen zum Gegenstand gezogen werden, einen größeren Winkel bilden, je näher der Gegenstand herankommt, bezögen sich doch auf theoretische Entitäten, nämlich Linien und Winkel, und würden keineswegs wahrgenommen. Vielmehr lernten wir, solche Urteile allein aufgrund der Stärke gewisser sensorischer Hinweise zu fällen, einschließlich beispielsweise der Empfindung, die die Drehung der Augen begleitet, und die in steigendem Maße unscharfe Erscheinung eines Gegenstandes, je näher er uns kommt. Eine Erklärung vermittels der Geometrie wird somit durch eine solche der Psychologie des Sehens ersetzt, bei der – und dies ist ein zentraler Aspekt – die Verbindung zwischen den (sensorischen) Hinweisen und einer berührungsweise zu entdeckenden Entfernung sich als vollkommen kontingent erweist. „[W]enn es der gewöhnliche Lauf der Natur gewesen wäre, dass, je entfernter ein Gegenstand aufgestellt wird, er umso unschärfer erscheinen sollte, dann wäre dies ja genau dieselbe Wahrnehmung, die uns in diesem Falle denken ließe, dass, wenn sich ein Gegenstand näherte, er in uns die Vorstellung erzeugen würde, er bewege sich von uns weg“ (‚New Theory of Vision‘ § 26). Obwohl dies oft als strittig betrachtet wird, so war Berkeleys Arbeit über die Psychologie des Sehens selbst dann noch höchst einflussreich, wenn und tatsächlich weil Berkeleys letztendliche metaphysische Rückbindungen nicht offensichtlich sind, und sicherlich für eine Akzeptanz beispielsweise der Behauptung, dass „ein blind geborener Mann, der sehend gemacht wird, zunächst keine Vorstellung von einer Entfernung durch das Sehen hätte“, auch gar nicht erforderlich sind. Zugegebenermaßen erfolgt Berkeleys Darstellung unseres Urteils im Rahmen von‚Empfindungen, Erscheinungen und Vorstellungen, die alles sein sollen, was wir brauchen um voranzukommen, und er erzählt uns beispielsweise nicht nur, dass der gerade von seiner Blindheit geheilte Mann die „durch sein Sehen hereingelassenen Gegenstände“ als „nichts anderes als eine neue Menge von Gedanken oder Emp151
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findungen“ auffassen würde, „von denen ihm jedes so nah ist, wie die Empfindung von Schmerz oder Lust, oder wie die innersten Leidenschaften seiner Seele“, womit er durchaus recht hätte (‚New Theory of Vision‘ § 41). Allerdings wird nichts zur Erleichterung des Lesers vorgetragen, was darauf hinausläuft, dass es beispielsweise einen entfernten Mond gibt, der keineswegs vom Geist abhängt. In gewissem Sinne bietet uns die ‚New Theory of Vision‘ daher einige der Früchte des Idealismus an, ohne ausdrücklich den Immaterialismus zu verkünden, wobei eine dieser Früchte der Hinweis auf die Existenz Gottes ist (siehe Idealismus). Gegen Ende des Werkes schloss Berkeley, dass es keine Vorstellungen gebe, die das Sehen und die Berührung gemeinsam haben: die durch Berührung wahrgenommene Ausdehnung sei beispielsweise recht verschieden von und habe keine Ähnlichkeit mit der visuellen Vorstellung. Hier befasst er sich mit einem Problem, dass zuerst von William Molyneux aufgebracht und von Locke diskutiert wurde, wobei er mit diesen übereinstimmt, dass ein gerade von seiner Blindheit geheilter Mann, der zum ersten Mal einen Würfel und eine Kugel sieht, allein durch das Schauen nicht wüsste, was davon zu irgendeinem Gegenstand gehöre, aber er sah diese Antwort als eine Bestätigung seiner eigenen Auffassung, dass visuelle Vorstellungen nichts als Zeichen seien. Diese lernen wir mit berührbaren Vorstellungen auf dieselbe Art und Weise in ein Verhältnis zu bringen, wie wir eine Sprache lernen. Berkeley nimmt diese Analogie sehr ernst. Seine Schlussfolgerung in der ersten Auflage ist daher, dass „die eigentlichen Gegenstände des Sehens die universale Sprache der Natur konstituieren, wobei wir daraus erfahren, wie wir unsere Handlungen zur regulieren haben“, aber in der dritten Auflage ist aus der Natur der ‚Autor der Natur‘ geworden, d.h. Gott (‚New Theory of Vision‘ § 147). 5. Einführung in die ‚Prinzipien‘ Berkeley stellte dem ‚Treatise concerning the Principles of Human Knowledge‘ (1710, dt.: ‚Eine Abhandlung über die Prinzipien des menschlichen Wissens‘) eine wichtige Einführung voran, die größtenteils einem Angriff auf die abstrakten Vorstellungen und auf spezielle abstrakte allgemeine Vorstellungen (abstract general ideas) gewidmet ist. In diesem Text zitiert er Locke frei. Allerdings war sein Ziel weiter gesteckt. Wie bereits dargelegt, schloss er die Philosophen insgesamt ein und damit letztlich eine Reihe philosophischer Verwirrungen. Man muss über diese Einführung hinausschauen, um zu entdecken, was mit diesen angenommenen Verwirrungen gemeint ist. Manchmal liegt dies direkt auf der Hand. Sogar in der ‚Neuen Theorie des Sehens‘ wird der Begriff davon, dass es eine Vorstellung der Ausdehnung gibt, die sowohl dem Sehen, als auch der Berührung gemeinsam ist, der Annahme zugeschrieben, dass wir diesen Begriff von allen anderen sicht- und berührbaren Qualitäten abziehen können; während in den ‚Prinzipien‘ die Annahme von ‚primären‘ Qualitäten in äußeren Gegenständen – obwohl Farben und ähnliches „allein im Geiste“ bestünden – durch die Vorstellung untergraben wird, dass „Ausdehnung, Gestalt und Bewegung abstrahiert von allen anderen Qualitäten undenkbar sind“. Auf ähnliche Weise wird die Vorstellung eines ‚reinen‘ oder ‚absoluten‘ Raums ausgeschlossen, weil dies eine vollständig abstrakte Vorstellung sei. In einem wichtigen Falle ist die Verbindung aber vielleicht weniger deutlich: Berkeley behauptet, dass die Meinung, wahrnehmbare Gegenstände könnten auch außerhalb der Wahrnehmung existieren, von einer unzulässigen Abstraktion abhänge. Die Kom152
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mentatoren haben es jedoch häufig schwierig gefunden genau zu verstehen, wie dies funktionieren soll. In noch anderen Fällen wurden die angenommenen Verbindungen nicht so häufig in der Literatur erforscht, wie beispielsweise, wenn Berkeley sagt, dass die Gelehrten „Meister der Abstraktion“ seien, und in den ‚Dialogen‘, dass Malebranche „auf den abstraktesten allgemeinen Vorstellungen aufbaut“. Diese Fälle können wahrscheinlich aussortiert werden. Malebranche hatte bereits die „unordentliche Abstraktion“ der Gelehrten angegriffen, die verborgene Qualitäten und Kräfte behaupteten, und die annähmen, dass die Materie etwas anderes sei, als die von ihr bekannten Attribute, und speziell etwas anderes als die Ausdehnung. Berkeley hatte wahrscheinlich hiervon erfahren. Malebranche geriet allerdings selbst mit Berkeleys Antiabstraktionismus in Konflikt, indem er von einer absoluten und intelligiblen Ausdehnung sprach, indem er annahm, dass die Ausdehnung das Wesen der Materie sei, und indem er von einer Vorstellung des „Seins im Allgemeinen“ ausging. Die Verbindung zwischen der Abstraktion und der Leugnung des esse est percipi-Prinzips ist noch vertrackter. Berkeleys Einführung greift die Meinung an, dass, obwohl die Qualitäten von Gegenständen immer untereinander vermischt seien, wir eine gesonderte Vorstellung von jeder Qualität bilden können; ferner, dass wir beispielsweise eine abstrakte Vorstellung entsprechend dem Wort ‚Mensch‘ oder ‚Dreieck‘ bilden können, die sich so sehr von den Vorstellungen konkreter Menschen oder einzelner Dinge unterscheidet, wie Locke dies dachte. Dies erfordert umgekehrt auf Seiten von Berkeley eine zu Locke alternative Darstellung der Sprache, die nicht voraussetzt, dass jeder allgemeine Ausdruck für eine Vorstellung steht. Diese alternative Darstellung wurde von Berkeley nicht sehr vollständig ausgearbeitet, aber er besteht darauf, dass „ein Wort allgemein wird, indem es zum Zeichen gemacht wird, aber nicht zu einer abstrakten, allgemeinen Vorstellung, sondern zu einer von mehreren Einzelvorstellungen, die sich alle unterschiedslos dem Geiste vorstellen“ (‚Prinzipien‘, Einführung § 11). Darüber hinaus wird gegen Ende der Einführung seine Äußeruhng, dass Worte eine andere Verwendung hätten als die Bezeichnung unserer Vorstellungen, einschließlich der Hervorbringung entsprechender Gefühle – „Werden wir beispielsweise nicht von dem Versprechen einer guten Sache affiziert, obwohl wir keine Vorstellung davon haben, was dies ist?“ (‚Prinzipien‘, Einführung § 20) – zu Recht als bedeutsam angesehen, und weitere Ausführungen in dieser Richtung, speziell im siebten Dialog des ‚Alciphron‘, werden sogar so gesehen, dass er ein Vorgänger von Wittgenstein auf diesem Gebiet ist. 6. Die ‚Prinzipien‘ Berkeleys grundlegende metaphysische Position ist üblicherweise als eine des ‚Idealismus‘ bekannt, oder auch wegen dem, was sie negiert, als ‚Immaterialismus‘. Die klassische Verteidigung dieser Position wird in dem Werk ‚A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge‘ geboten. Wie alle von Berkeleys Arbeiten ist diese mit genau 156 kurzen Abschnitten gut strukturiert: Abschnitte 1–33 setzen die Anlage seines Idealismus auseinander, Abschnitte 34–84 antizipieren und beantworten mögliche Einwände, und die verbleibenden Abschnitte geben einen „Ausblick auf die Konsequenzen unserer Lehrsätze“. Wie bereits angedeutet beruft sich Berkeley sogar auf seine Widersacher um zu behaupten, dass, was auch immer sich als in der Welt befindlich erweisen sollte, 153
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wir immer nur Vorstellungen wahrnehmen. Diese Annahme taucht bereits im Eröffnungsabschnitt der ‚Prinzipien‘ auf (die ebenfalls klar in dem Eröffnungsabschnitt des ersten Kapitels des 2. Buchs von Lockes ‚Essay‘ beschrieben wird). Hier schreibt Berkeley, oder er schlägt zumindest vor, dass „alle Gegenstände des menschlichen Wissens ‚Vorstellungen‘ sind“, wobei er hinzufügt, dass, wenn gewisse Vorstellungen, beispielsweise eine bestimmte Farbe oder ein Geruch usw. gemeinsam angetroffen werden, „diese als eine Sache gedacht werden“. Dies verwischt Lockes Unterscheidung zwischen Qualitäten und Vorstellungen und ignoriert Lockes Annahme eines Substrats für die Qualitäten. Berkeley weiß allerdings, was er tut, und er fand deutliche Unterstützung in Lockes eigener Bereitschaft nicht nur zur Verwendung des Ausdrucks ‚Vorstellung‘, wo er ‚Qualität‘ meint, sondern auch zu der Behauptung, dass wir keine anderen Vorstellungen von einzelnen Arten von Substanzen haben können „als jene, die sich wie ein Rahmen aus einer Sammlung solcher einfachen Vorstellungen ergeben, die man in ihnen vorfindet“. Gewiss, wir wollten mit Vorstellungen beginnen, obwohl, wie Berkeley im zweiten Abschnitt betont, es auch den Verstand und Geist gibt, der sie wahrnimmt. Er besteht jedoch bald darauf, dass es keine Substanz unabhängig vom Geist geben kann. Angenommen, wahrnehmbare Gegenstände seien Vorstellungen, und Vorstellungen existieren nur, wenn sie wahrgenommen werden, dann erscheint es schlicht absurd anzunehmen, dass diese Gegenstände irgendeine Existenz unabhängig von ihrer Wahrnehmung haben könnten. Dieser Umstand wird Berkeleys Ansicht zufolge dadurch bestätigt, dass man sich einfach dem zuwendet, „was mit dem Ausdruck ‚existieren‘ gemeint ist, wenn er auf wahrnehmbare Dinge angewandt wird“. Wenn ich sage, ein Tisch existiere, dann beziehe ich mich auf etwas, das ich wahrnehme, oder zumindest auf etwas, das ich wahrnehmen könnte, und gewiss wende ich das Wort ‚existieren‘ nicht auf irgendeinen Gegenstand an, weil er keine Vorstellung ist, d.h. überhaupt nicht wahrgenommen wird. Dieses Argument ist, wie die meisten Argumente von Berkeley, trickreich und bedarf einer sorgfältigen Behandlung. Offenkundig scheint es sehr wenig mit dem Wort ‚existieren‘ zu tun zu haben, weil, wie Andrew Baxter beobachtete, weder Philosophen noch gewöhnliche Menschen in Sätzen wie ‚Der Tisch existiert‘ mit ‚existiert‘, ‚wird wahrgenommen‘ zu meinen scheinen. Dieser Einwand ist angebracht, und Berkeleys aktuelles Argument scheint nicht sehr stark von der zugrunde liegenden Annahme abzuhängen, dass die nur wahrnehmbaren Gegenstände auch geistabhängige Dinge seien, die folglich wirklich wahrgenommen werden müssen. Die Betonung auf dem Wort ‚existiert‘ bleibt jedoch verwirrend, und ein relevanter Umstand dabei scheint zu sein, dass Locke der Auffassung war, ‚Existenz‘ sei eine einfache Vorstellung, „die dem Verstehen gesondert von jedem Gegenstand, aber als Teil einer jeden Vorstellung vorschwebt“ (Locke, ‚Essay‘ II 7: §7). Berkeley hatte sich davon überzeugt, dass sowohl die dieserart beschriebene Vorstellung abstrakt wäre (und folglich unmöglich), als auch dass diese Vorstellung beteiligt ist, wenn Menschen von Dingen meinen, sie existierten ziemlich unabhängig von der Wahrnehmung. Um einen Tisch als existierend wahrzunehmen und um ihn schlicht wahrzunehmen sind genau dieselben Erfahrungen, und die Existenz kann nicht von der Wahrnehmung getrennt werden mit der Folge, dass wir dem Ding eine absolute Existenz zuordnen.
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Berkeley, George (1685–1753)
Das ist jedenfalls das, was Berkeley auf der Grundlage der ersten Abschnitte schließt. Natürlich erwartet er Widerstand dagegen. Seine Taktik ist nunmehr, die angeblich unbefriedigenden Merkmale der Position seiner Gegner anzugreifen und durch deren Offenlegung seine eigene Sache voranzubringen. Wenn man beispielsweise annimmt, dass unsere Vorstellungen nur Ähnlichkeiten zu externen Qualitäten aufweisen, so lautet die Entgegnung, dass eine Vorstellung (oder wahrgenommene Dinge) nur einer Vorstellung ähneln können (oder einem anderen wahrnehmbaren Gegenstand). Jenen, die einwenden, dass die angeblichen ‚primären‘ Qualitäten in äußeren Gegenständen existieren, Farben und ähnliches jedoch nicht, antwortet er zweifach: erstens können wir nicht einmal von einem Gegenstand denken, er habe nur eine Ausdehnung, eine Gestalt und sei bewegt, aber keine der übrigen Qualitäten, die von anderen Philosophen als geistabhängig anerkannt werden. Zweitens erweist sich das Grundargument zum Beweis, dass sekundäre Qualitäten geistabhängig seien (d.h. dass sich ihre Erscheinung unter verschiedenen Umständen ändere), als ein und derselbe Beweis für überhaupt jede Qualität. Darüber hinaus würden jene, die ein materielles Substrat zur Unterstützung der Qualitäten behaupten, sehen, dass sie nicht einmal dem Ausdruck ‚Unterstützung‘ eine klare Bedeutung in diesem Kontext zuordnen können. Es gibt noch weitere Argumente, einschließlich einem besonders schlauen und viel diskutierten, in dem er stolz behauptet, dass es sogar unmöglich sei zu denken, dass es überhaupt geistunabhängige Gegenstände geben könnte, denn dies zu denken würde heißen, sich eine Vorstellung davon zu bilden, was heißen würde, dass es am Ende ein Gegenstand des Denkens oder der Wahrnehmung wäre. Am ausgelassensten ist Berkeley jedoch in den Abschnitten 18–20, wo er vorbringt, dass weder die Sinne, noch die Vernunft es bewerkstelligen könnten, dass es externe Körper gebe, und dass sie nicht einmal hypothetisch als verantwortliche Träger unserer Vorstellungen gesetzt werden könnten. Selbst wenn wir willkürlich annähmen, dass sie externe Körper seien, so kommen doch die Materialisten „ihrer eigenen Angabe zufolge kein Stück dem Wissen näher, wie unsere Vorstellungen hervorgerufen werden: sie sind selbst nicht in der Lage zu verstehen, auf welche Weise die Materie auf den Geist einwirkt, oder wie es möglich sein soll, dass sie im Geist irgendeine Vorstellung einschreibt“ (‚Prinzipien‘ § 19). Wie erwartet zeige sich vielmehr, dass die einzige Ursache unserer Vorstellungen ein weiterer, höherer Geist sei, der uns unsere Vorstellungen auf eine dergestalt geordnete Weise eingibt, dass sich daraus faktisch die Naturgesetze bilden. Diese sieht Berkeley ebenfalls als das an, was die Sprache von Gott selbst ausmache. 7. Die ‚Prinzipien‘ (Fortsetzung) Obwohl die ersten dreiunddreißig Abschnitte der ‚Prinzipien‘ offensichtlich fundamental sind, kommt doch auch den Abschnitten, in denen Berkeley die möglichen Einwände gegen seine These behandelt, Bedeutung zu. Hier werden die meisten Leser, für die Berkeley neu ist, wahrscheinlich finden, dass die ersten Einwände, die ihnen in die Augen fallen, voraussehbar waren, während Berkeley sich bemüht, seine Grundthese zu klären. Die Einwände, auf die er eingeht, schließen beispielsweise jenen ein, dass unter der Annahme seines Idealismus alles illusorisch oder irreal würde; dass wir Dinge doch wirklich in Entfernung von uns sähen, so dass sie eben nicht nur ‚im Geiste‘ seien; dass, wenn das esse von wahrnehmbaren Dingen percipi heiße, sie doch verschwinden müssten, wenn wir sie nicht mehr wahrnehmen, was 155
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absurd sei; und dass, wenn Gegenstände nur Vorstellungen oder Sammlungen von ihnen seien, es gar keine kausale Wechselwirkung zwischen ihnen geben könne, so dass wir leugnen müssten, dass Feuer das Wasser erhitzt, und das Wasser kühlt. Ob uns Berkeleys Antworten auf diese Einwände befriedigen, ist eine andere Sache, aber die Einwände werden zumindest ausgesprochen, und die Antworten sind immer interessant. Auf den dritten oben erwähnten Einwand schlägt er beispielsweise vor, dass es für einen Gegenstand, der existieren soll, nur für irgendeinen Geist notwendig wäre, ihn wahrzunehmen, was zur Folge hätte, dass Gottes Wahrnehmung die fortgesetzte Existenz von Gegenständen garantieren könnte. Die Antwort auf den vierten obigen Einwand ist, dass genauso, wie wir fortgesetzt sagen, dass die Sonne aufgehe, trotz des naturwissenschaftlichen Wissens, demzufolge es die Erde ist, die sich bewegt, dies ein weiterer Bereich ist, wo „wir wie die Gebildeten denken sollten und sprechen wie das gemeine Volk“ (‚Prinzipien‘ § 51), womit er streng genommen anerkennt, dass die Regelmäßigkeiten der Natur, die wir als kausal beschreiben, letztlich in Gott begründet liegen. In der Beantwortung beider vorangehenden Fragen weist Berkeley auf typische Weise rasch darauf hin, dass seine philosophischen Opponenten sich selbst auf unsicherem Boden für solche Fragen befänden. Selbst jene, die meinten, dass es externe und materielle Körper gebe, seien der Auffassung verpflichtet, dass Licht und Farben oder sichtbare Gegenstände nur reine Empfindungen seien, und dass sie deshalb meinen müssten, dass diese verschwänden, wenn man seine Augen schließt; während bei der Frage nach den kausalen Beziehungen zwischen den Gegenständen viele andere Philosophen, sowohl unter den älteren Gelehrten, als auch unter den modernen Philosophen, der Meinung seien, dass Gott die „unmittelbare Wirkursache aller Dinge sei.“ Bei der Antwort auf den zweiten der obigen Einwände verweist Berkeley den Leser erwartungsgemäß auf die ‚Neue Theorie des Sehens‘ zurück. Dagegen ist seine Antwort auf den ersten Einwand komplexer. Es gibt, so betont er, entscheidende Unterschiede zwischen den „blassen, schwachen und unsteten“ Vorstellungen der Einbildungskraft und jenen, die unseren Sinnen durch Gott eingeschrieben seien, und obwohl er beide Vorstellungen nennt, um zu betonen, dass sie im Geist gleich seien, so würde er doch keinen Einwand dagegen erheben, letztere auch als Dinge zu bezeichnen. Und er leugnet nicht einmal, dass es körperliche Substanzen gibt, wenn man ‚Substanz‘ im „vulgären Sinne als eine Kombination von Wahrnehmungsqualitäten auffasst“. Es seien, so meint er, lediglich andere Philosophen, denen er widerspräche, denn sie nähmen die körperliche Substanz „als Träger von Akzidenzien oder Qualitäten ohne den Geist in Anspruch“. Wir werden vielleicht den Eindruck haben, dass Berkeley hier den einen, großen Unterschied zwischen sich und dem gewöhnlichen Volk vertuscht, der darin besteht, dass das gemeine Volk die Wahrnehmungsqualitäten gar nicht als geistabhängige Vorstellungen anerkennt, worauf Berkeley doch gerade besteht. „Das einzige, dessen Existenz ich leugne, ist das, was Philosophen die Materie oder körperliche Substanzen nennen. Und damit tue ich dem Rest der Menschheit keinen Schaden an, die, so wage ich zu behaupten, sie auch gar nicht vermissen.“ (‚Prinzipien‘ § 35) 8. Die ‚Prinzipien‘ (Fortsetzung) Der vollständige Titel der ‚Prinzipien‘ beschreibt dieses als ein Werk, „wo die Hauptursachen des Irrtums und der Schwierigkeiten in den Naturwissenschaften 156
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infolge von Skeptizismus, Atheismus und religiöser Irrlehre untersucht werden“. Während Berkeley den Idealismus für wahr hält, ist er gleichermaßen an den Vorteilen interessiert, die sich aus seiner Annahme ergeben. Dies schließt die Feststellung der Existenz Gottes und die Erlangung des eigentlichen Verständnisses von Gottes Rolle auf der Welt ein; dann die Verbannung des Skeptizismus über die Natur, sowie über die grundsätzliche Existenz der realen Dinge, die sich beide aus der Unterscheidung des Realen von dem ergibt, was wir wahrnehmen; und schließlich die Lösung gewisser philosophischer, wissenschaftlicher und mathematischer Verwirrungen. Von Abschnitt 85 an nimmt Berkeley schließlich „eine Betrachtung unserer Lehrsätze und ihrer Konsequenzen“ vor. Einige der angenommenen Vorzüge sind offensichtlich, sobald man sie ausspricht, und sie bringen die Lösung dreier Fragen mit sich, die Berkeley bereits eingangs erwähnt: „Ob körperliche Substanzen denken können?“ (eine von Locke bestrittene Möglichkeit, weil sie den Glauben an die natürliche Unsterblichkeit der Seele bedrohte); „Ob die Materie unendlich teilbar ist?“ (eine bereits lang anhaltende Diskussion, in der besonders Bayle das Paradox aufgebracht hatte, dass entsteht, egal ob wir annehmen, dass die Unteilbarkeit gegeben sei oder nicht) und „Wie wirkt die Materie auf den Geist?“ (ein Problem, dass bereits die Kartesianer durchgespielt hatten). Keine dieser Fragen entstünde, wenn einmal bewiesen sei, dass es gar keine Materie gebe, dass die Seele immateriell oder „ein einfaches, ungeteiltes, aktives Wesen“ sei, dass sie deshalb „durch die Kraft der Natur unauflöslich ist“; und dass, so wie auch wir selbst Vorstellungen in unserem eigenen Geist hervorzubringen vermögen, wenn wir unsere Phantasie bemühen, auch Gott (als der überlegene Geist) in unserem Geist diese Vorstellungen hervorrufen könne, die die wahrnehmbaren Gegenstände darstellen. Darüber hinaus erforscht Berkeley noch recht ausführlich die Implikationen seiner These für die Naturphilosophie und die Mathematik. In diesen Fragen äußerten sich für Berkeley allerdings, so muss betont werden, keine zufälligen Interessen. Seine allererste Veröffentlichung, eine Zusammenfassung zweier Titel, nämlich der ‚Arithmetica‘ und der ‚Miscellanea Mathematica‘ (1707), zeigt vielmehr seine frühes Können auf dem Gebiet der Mathematik, und das philosophisch interessantere Manuskript ‚Of Infinites‘ wurde zur selben Zeit geschrieben. Letzteres konzentriert sich auf die „Dispute und Skrupel“, die die moderne analytische Geometrie befallen habe, und die alle „von der Verwendung unendlich kleiner Quantitäten“ herrühren. Ferner enthält ‚De Motu‘ (1721) eine Prüfung derjenigen Rolle, die solche Begriffe wie Kraft, Gravitation und Anziehung in der Newtonschen Mechanik spielen. Es wäre mehr über diese Fragen in den weiteren Teilen der ‚Prinzipien‘ erschienen, die Berkeley zu schreiben vorhatte, wie er dies ja auch über Personen, d.h. Wahrnehmende oder den Geist tun wollte. Was er über den letzteren Gegenstand in den ‚Prinzipien‘ zu sagen hat, ist in der Form, wie sie uns vorliegen, dünn, und es ist vielleicht notwendig, einfach zu bemerken, dass Berkeleys Sichtweise im Großen und Ganzen gesehen eine kartesianische ist, obwohl der Berkeleysche Dualismus zwischen unsichtbaren, unkörperlichen, unausgedehnten Geistern und Vorstellungen verläuft, und nicht zwischen Vorstellungen und Materie; dass er sogar selbst davon überzeugt sei, dass die Seele immer denke; und dass die Betonung auf Berkeleys Anspruch liege, demzufolge wir uns nicht selbst, und auch nicht andere Geister, vermittels von Vorstellungen kennen. Dieses Beharren ist der Grund unserer bereits zuvor beschriebenen Beobachtung, dass Berkeley in dem 157
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einleitenden Abschnitt der ‚Prinzipien‘ schreibt oder zumindest andeutet, dass alle Gegenstände des Wissens Vorstellungen seien; denn die Wahrheit ist – obwohl Berkeley darauf vorbereitet war, diesen Eindruck bereits von vornherein zu vermitteln (vermutlich um nicht gleich unnötige Komplikationen zu beschwören) – dass sein eigener Gebrauch des Wortes ‚Vorstellung‘ im Sinne von „jegliches wahrnehmbare oder vorstellbare Ding‘, wie er es in den ‚Philosophical Commentaries‘ beschreibt, jegliche Art von ‚Vorstellung‘ des Geistes selbst oder von einem entsprechenden Funktionieren des Geistes ausschließt. Gewiss muss uns dies nun keine Sorgen bereiten, und Berkeley schlägt nicht etwa vor, dass das Wort ‚Geist‘ (mind) bedeutungslos sei. Als er die Einträge in den ‚Commentaries‘ zusammenstellt, hatte er tatsächlich die Lockesche Ansicht bereits akzeptiert, dass alle bedeutsamen Worte für Vorstellungen stehen, aber er hatte dieses Prinzip auch bald wieder verworfen, teilweise als Ergebnis der Entscheidung, dass der wesentlich aktive Geist sorgfältig von seinen passiven Gegenständen oder Vorstellungen unterschieden werden müsse. 9. ‚Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous‘ ‚Principles of Human Knowledge‘ ist das wichtigste Buch im Berkeleyschen Textkorpus, und wäre seine Aufnahme für Berkeley nicht so enttäuschend gewesen, so wären die ‚Three Dialogues between Hylas and Philonous‘ (1713) wahrscheinlich gar nicht geschrieben worden. Die Leute waren eher dazu bereit, eine Abhandlung ins Lächerliche zu ziehen als sie zu lesen, die die Existenz der Materie leugnete, während diejenigen, die sie lasen, sie gewöhnlich missverstanden. Die ‚Dialoge‘ wurde daher geschrieben, wie Berkeley im Vorwort sagt, „um klarer und vollständiger gewisse Prinzipien zu behandeln, die dem ersten [Teil der ‚Prinzipien‘] zugrunde lagen, und um sie in neuem Licht darzustellen“. Die Dialogform erwies sich als ein bewunderungswürdiger Weg zur Zulassung wahrscheinlicher Einwände, die auf jeder Stufe behandelt werden konnten (und die dieses Buch wahrscheinlich zur attraktivsten Einführung in die Berkeleysche Philosophie macht). Der Protagonist ist Hylas (der Name stammt aus dem griechischen Wort für ‚Stoff‘ oder ‚Materie‘) und Philonous (dem ‚Freund des Geistes‘, der Berkeley selbst vertritt). Zu Beginn vermutet Hylas, dass der Berkeleyianer ein Befürworter der „extravagantesten Meinung ist, die jemals einem Menschen in den Kopf gekommen ist“ (‚Works‘ Bd. 2: 172), aber mit dem Fortschreiten der Diskussion ist Philonous in der Lage zu zeigen, dass er, obwohl er zusammen mit anderen Philosophen akzeptiert, dass „die Dinge, die unmittelbar wahrgenommen werden, Vorstellungen sind, die nur im Geist bestehen“, seine weitere Zustimmung zu der Ansicht der gewöhnlichen Männer und Frauen, dass „diese Dinge, die sie unmittelbar wahrnehmen, die wirklichen Dinge seien“, ihn mit dem common sense verbinden (‚Works‘ Bd. 2: 262). Aus der Sicht der Lehre gibt es keine substanziellen Neuerungen hier, obwohl Berkeley den Philonous sich bereits von vornherein Mühe geben lässt den Hylas davon zu überzeugen, dass ‚wahrnehmbare Qualitäten‘ bzw. die Dinge, die unmittelbar wahrgenommen werden, geistabhängig seien, wobei es viel darum geht, wie die Erscheinungen bei unterschiedlichen Wahrnehmenden variieren, und zwar bereits für denselben Wahrnehmenden bei unterschiedlichen Umständen. Andere Merkmale umfassen eine bemerkenswerte Passage, die in der dritten Auflage noch erweitert wurde, und die eine Vorwegnahme eines Einwandes sowie den Versuch einer Antwort darauf enthält. Was normalerweise als der Humesche Standpunkt aufgefasst 158
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wird, dass nämlich materielle und geistige Substanzen einander ebenbürtig seien, so dass, wenn eine davon abgelehnt würde, dies auch der anderen widerfahren müsste. Tatsächlich ist dies ein besonders attraktives Merkmal dieser Arbeit, dass es Hylas erlaubt ist, als ein ziemlich kämpferischer Opponent aufzutreten, der die idealistische Position wirklich ausprobiert. Um noch ein weiteres Beispiel zu geben: es wird uns wahrscheinlich widerfahren, dass, wenn wir die Dinge, die wir wahrnehmen, mit Vorstellungen oder Empfindungen identifizieren, sicherlich jede dieser Vorstellungen von einem bestimmten Geist abhängen wird, der sie wahrgenommen hat oder dies gerade tut, was die offensichtlich gar nicht alltägliche Konsequenz hat, das „keine zwei Menschen dasselbe Ding sehen können“. Berkeleys Antwort hierauf mag uns zufrieden stellen oder (wahrscheinlich) nicht, aber hinter dieser Herausforderung des Hylas liegt eine tiefere Frage, die Berkeley selbst vielleicht nicht angemessen erforscht hat. Diese betrifft die Beziehung zwischen bestimmten Vorstellungen – egal, ob sie als Empfindungen oder Erscheinungen beschrieben werden – und der Sammlung solcher Vorstellungen, die für Berkeley erst einen öffentlich beobachtbaren Gegenstand bilden. Es gibt nicht mehr als Hinweise darauf, dass Berkeley vielleicht zu der Auffassung neigte, dass der permanent existierende Tisch eine archetypische Vorstellung in Gottes Geist sei, und dass wir sagen können, wir nähmen ihn wahr, wenn wir irgendeine der „flüchtigen […] und wechselnden Vorstellungen“ wahrnähmen, die bis zu einem gewissen Grad mit ihm korrespondieren. 10. ‚De Motu‘ Berkeley hatte vor, ergänzende Teile der ‚Prinzipien‘ zu veröffentlichen und machte offenkundig einige Fortschritte beim zweiten Teil, denn er teilte Samuel Johnson im Jahre 1729 mit, dass „das Manuskript vor über vierzehn Jahren während meiner Reise nach Italien verloren ging, und ich hatte seitdem nicht die Muße, etwas so Unangenehmes zu tun, wie ein zweites Mal über dieselbe Sache zu schreiben“, aber weiter kam er nicht. Bemerkungen in den ‚Philosophical Commentaries‘ legen nahe, dass ein Teil „die Prinzipien der Naturphilosophie“ gewesen wäre, und wir können annehmen, dass dies auch jenes Material umfasst hätte, das in der veröffentlichten Arbeit ‚De Motu‘ (1721) enthalten war. Diese Arbeit wiederholt und entwickelt gewisse Punkte, die bereits in den ‚Prinzipien‘ behandelt worden waren, als Berkeley „einen Blick auf unsere Lehrsätze und ihre Konsequenzen“ warf. Aber obwohl dort angenommen wird, dass der Geist nicht körperlich ist, wird dem Leser doch nicht deutlich gemacht, dass Berkeley der Auffassung ist, dass das esse der wahrnehmbaren Dinge ein percipi sei. Worauf er stattdessen besteht, ist, dass „es sinnlos ist Dinge abzuleiten, die weder den Sinnen evident sind, noch der Vernunft einsichtig sind.“ (‚De Motu‘ § 21), und dass, wenn wir Körpern Schwere und Kraft zuschreiben, wir auf unpassende Weise verborgene Qualitäten postulieren, die uns jenseits von allem führen, das wir erfahren oder denken können. „Abstrakte Ausdrücke (wie nützlich sie in der Diskussion auch sein mögen) sollten beim Nachdenken verworfen werden, und der Geist sollte auf das Einzelne und Konkrete gerichtet sein, das heißt auf die Dinge selbst.“ (‚De Motu‘ § 4) Es ist demnach sinnlos, auf die Qualitäten der Körper selbst zu schauen, um eine Ursache der Bewegung zu entdecken, denn „was wir vom Körper wissen, ist nach übereinstimmender Meinung nicht das Prinzip der Bewegung.“ (‚De Motu‘ § 24). Indem wir uns so, wie wir dies sollen, auf das verlassen, was wir wahrnehmen, 159
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müssen wir auf dieses Prinzip achten, denn wir wissen durch unsere Fähigkeit zur Bewegung unserer Gliedmaßen, dass der Geist handeln kann. Auf dieser Grundlage sollten wir schließen, dass „alle Körper dieses weltlichen Systems von einem allmächtigen Geist bewegt werden, und zwar aus einem bestimmten und konstanten Grund.“ (‚De Motu‘ § 32) Es ist nun klar, dass ‚De Motu‘ zu Berkeleys letztem Ziel seiner philosophischen Schriften passt, das darin liegt, die Abhängigkeit der Welt von Gott darzustellen. Hier jedoch, so wie in allem, was er noch später veröffentlichen sollte, sind die Elemente seiner Metaphysik, die seine Leser an den ‚Prinzipien‘ und in den ‚Dialogen‘ am meisten überrascht hatten, entweder gänzlich abwesend oder sie stehen im Hintergrund. Tatsächlich ist es ein Merkmal von ‚De Motu‘, dass Berkeley besorgt ist, sich als Vertreter einer Tradition darzustellen, die auf die alten Griechen zurückgeht, aber dabei die akademischen Gelehrten und die Kartesianer einschließt, was die letztendliche Abhängigkeit der Bewegung von Gott anerkennt. Tatsächlich „gibt Newton überall offen zu verstehen, dass nicht nur die Bewegung von Gott her kommt, sondern dass sogar noch das weltliche System durch denselben actus bewegt wird“ (‚De Motu‘ § 32). Hier muss jedoch betont werden, dass es nicht diese angenommene Übereinstimmung ist, die Berkeleys Naturphilosophie interessant macht, sondern sein Verständnis der eigentlichen Rolle des Naturwissenschaftlers im Gegensatz zu der des Metaphysikers. Ausdrücke wie ‚Schwere‘ und ‚Kraft‘ haben beispielsweise eine legitime Verwendung, indem sie Berechnungen auf der Grundlage von gewissen beobachtbaren Regelmäßigkeiten im Verhalten der Gegenstände ermöglichen. Wir irren uns nur, wenn wir die Entdeckung von Regelmäßigkeiten mit echten Erklärungen von ihnen verwechseln. Im Gegensatz dazu lehnt er den absoluten Raum und die absolute Bewegung, die in der Newtonschen Mechanik behauptet werden, wie bereits in den ‚Prinzipien‘ dargelegt, rundweg ab. Wir sollten „die Bewegung als etwas Wahrnehmbares ansehen, oder zumindest als etwas Vorstellbares“, und „mit relativen Messungen zufrieden sein“ (‚De Motu‘ § 66). Wenn es nur einen einzigen Körper im Universum gäbe, dann hätte es keinen Sinn anzunehmen, er bewege sich (siehe Newton, I.). 11. Alciphron und ‚Der Analytiker‘ Berkeley veröffentliche ‚De Motu‘ im Jahre 1721, und danach über mehr als zehn Jahre nichts mehr von philosophischer Bedeutung. Tatsächlich reichte keine seiner späteren Schriften mehr an die Bedeutung dessen heran, was bereits erschienen war. Zwar wurden alle Arbeiten kontrovers besprochen, und einige davon wurden zu jener Zeit sehr ernst genommen. Dies schließt auch den ‚Alciphron‘ (1732) und ‚The Analyst‘ (1734) mit ein, die, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, Berkeleys Verpflichtung zur Verteidigung der Religion gegen jene zeigen, die sie zu untergraben suchen. ‚Alciphron‘ setzt sich aus sieben lebendigen Dialogen zusammen, in denen zwei christliche Herren, Euphranor und Crito, die Religion und den christlichen Stanpunkt gegen zwei Freidenker namens Alciphron und Lysicles verteidigen. Diese sind natürlich fiktive Charaktere, aber es wird ihnen gelegentlich gestattet, die Ansichten solcher aktuellen, wenn auch ungenannten Figuren wie den Dritten Grafen von Shaftesbury und Bernard Mandeville darzustellen (oder falsch wiederzugeben, wie viele behaupteten). Mandeville beklagte sich bitterlich, dass seine These, derzu160
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folge private Laster öffentlichen Nutzen bringen, im ‚Alciphron‘ vollkommen verzerrt worden sei; andere sagten dasselbe von Berkeleys Behandlung der ethischen Theorie von Shaftesbury. Trotz alledem ist das Buch sehr lesenswert. Es enthält darüber hinaus die einzige Darstellung des freien Willens, die von Berkeley veröffentlicht wurde, und auch die erste explizite Verbindung der Lehre von der Heterogenität der sichtbaren und berührbaren Gegenstände mit einem Beweis der Existenz Gottes. Zusätzlich gibt es darin eine besonders interessante Diskussion im Siebten Dialog, die zu Fragen der Sprache zurückkehrt. Der Kontext ist immer noch die Annehmbarkeit der Religion; aber an diesem Punkt ist der Einwand des Freidenkers Alciphron, dass die christliche Religion letztlich inakzeptabel sei, nicht etwa weil gezeigt werden kann, dass sie falsch sei, sondern weil sie rundherum uneinsehbar sei, und weil sie solche bedeutungslosen Begriffe wie den der ‚Gnade‘ mit sich führte. Hier beruft sich Alciphron auf das Prinzip, dass „Worte, denen keine Vorstellungen entsprechen, bedeutungslos“ seien. Konsequenterweise wird dieses Prinzip, das Berkeley selbst in einem Beweis des Immaterialismus ungefähr auf halber Strecke der ‚Commentaries‘ angenommen hatte, nun zu seinem ausdrücklichen Angriffsziel. Er wiederholt seinen Einwand gegen die abstrakten Vorstellungen, betont aber auch die Rolle der Worte beim Leiten unserer Tätigkeiten, sowohl in der Mathematik, als auch in den Naturwissenschaften oder in der religiösen Sphäre. Es wurde darüber debattiert, ob das, was wir hier vorfinden, einen entschiedenen Schritt von der Linie weg anzeigt, die er in der Einführung zu den ‚Prinzipien‘ vertreten hatte, und es ist sicherlich wahr, dass Berkeley sich schon seit langem auf die Position hinbewegt hatte, die er hier einnimmt. Die Diskussion im ‚Alciphron‘ reflektiert jedoch bereits seine reife Einstellung zu diesem Thema. Sie betont die Verwendung von Worten als Zeichen, die, wie Samuel Johnson sagte, „genauso oft im Willen wie im Verstehen enden und dabei eher zur Erregung, zur Einflussnahme und direkten Handlung, als zur Hervorbringung klarer und bestimmter Vorstellungen verwendet werden.“ (‚Works‘ Bd. 2: 293) Im Unterschied zum ‚Alciphron‘ ist der ‚Analyst‘ eine technische Arbeit in der Philosophie der Mathematik, die Kritiken am Newtonschen Kalkül enthält. Die Angemessenheit dieser Kritik wird noch diskutiert, aber sie war scharf genug, um beachtliche Streitigkeiten unter den Mathematikern zu erzeugen. Zu dieser Kontroverse steuerte Berkeley im Jahre 1735 zwei weitere Arbeiten bei: ‚A Defence of Free-thinking in Mathematics und Reasons for not replying to Mr. Walton‘s Full Answer‘. Berkeleys theologische Beschäftigungen sind auf diesem Gebiet erneut relevant, denn ‚The Analyst‘ richtete sich an einen namenlosen ‚ungläubigen Mathematiker‘, der allgemein mit Edmund Halley (nachdem der Komet Halley benannt wurde) identifiziert wird. Von Halley wurde berichtet, er habe behauptet, die christlichen Lehren seien „unverständlich“ und die Religion ein „Betrug“. Berkeley ist imstande, der Antwort Vergnügen abzugewinnen, dass ein solcher Einwand schlecht von einem Mathematiker kommen könne. Er zielt mit dieser Antwort auf das ab, was er in der mathematischen Analysis als dunkel und widersprüchlich ansah. Einiges davon ergibt sich aus der Annahme einer Verringerung von infinitesimal kleinen Werten, die, ohne Null zu werden, doch gegen Null als Grenze fortschreiten, was dem Analytiker den Wert eines Systems an einem gedachten Punkt voraussage, an dem die Verringerung zu nichts wird. Eine Konsequenz davon sei, dass diese „Geister von sich entfernenden Qualitäten“ in ein und demselben Beweis sowohl 161
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verwendet, als auch missachtet werden. Wie bereits erwähnt, währte Berkeleys Interesse an der Mathematik bereits lange, genauso wie sein Widerspruch gegen infinitesimale Quantitäten. Er war imstande zu zeigen, dass diese zu Absurditäten des Kalküls führen, und gegen jene zu argumentieren, die, „obwohl sie auf rätselhafteste Weise schrumpfen, doch darin für sich selbst keine Schwierigkeit sehen“. Darüber hinaus gelang ihm dies ohne Erwähnung seiner eigenen idealistischen Anschauung, derzufolge, weil doch esse est percipi, die kleinste Quantität diejenige sein müsse, die er früher das minimal Wahrnehmbare genannt hatte, das nicht mehr in Teile geteilt werden kann. 12. Siris ‚Siris‘ (1744), die letzte von Berkeleys substanziellen Schriften, ist auch in vieler Hinsicht die seltsamste. Sein Eintreten für Teerwasser als einem nützlichen Mittel gegen viele Krankheiten (und als ein mögliches Allheilmittel) könnte uns unverständig erscheinen, obwohl dieser Vorschlag in gewissem Umfange verständlich war in Anbetracht seiner erfolgreichen Anwendung in seiner Diözese. Darüber hinaus, und obwohl es praktische Erfahrung war, die ihn zum Glauben an die Vorzüge des Teerwassers gebracht hatte, bemüht sich Berkeley um keine tieferen Erklärungen seiner Wirkung, sondern stützt sich auf Theorien, die vor allem auf die Rolle des „Äthers“ oder dem „reinen, unsichtbaren Feuer“ als dem vitalen Prinzip der körperlichen Welt abstellen. Hier können wir nun wieder sehen, dass Berkeley falsch lag, obwohl er sich sowohl auf alte, wie auf moderne Autoritäten berufen konnte. Tatsächlich erstreckt sich die Bereitschaft zur Berufung auf Autoritäten, oder zur Suche nach einem maximalen Konsens, bis in die finalen Abschnitte, in denen ihn seine Reihe der philosophischen Reflexionen zur Konzentration auf Gott als „dem ersten Beweger, unsichtbar, unkörperlich, unausgedehnt, die intellektuelle Quelle des Lebens und des Seins“ führt (‚Siris‘ § 296). Hier tauchen wieder vertraute Themen aus den frühen Werken auf, einschließlich der Ansicht, dass „alle Phänomene, um die Wahrheit zu sagen, Erscheinungen in der Seele oder dem Geiste“ sind (‚Siris‘ § 251), und dass es, genau genommen, keine körperlichen Ursachen gäbe. Diese Schilderung ist nun allerdings an Dinge gebunden, die als fremde Elemente erscheinen. Es zeigt sich hier eine Tendenz zur Herabsetzung der Sinne, und Berkeleys Faszination für die Philosophien der alten Griechen reicht mit einem gewissen Maß an Sympathie bis zur Theorie der platonischen Formen. Dies vorausgeschickt, ist Berkeleys eklektischer und irgendwie zögerlicher Ansatz in ‚Siris‘ so geartet, dass es ein Fehler wäre, hier nach substanziell neuen philosophischen Positionen zu suchen. Obwohl es auf seine Weise faszinierend ist, scheint ‚Siris‘ nun doch schon sehr veraltet zu sein. 13. Abschließende Bemerkungen Unvermeidlicherweise ist Berkeley für seine Metaphysik in den ‚Prinzipien‘ und den ‚Dialogen‘ berühmt geworden. Leicht könnte man eine Menge Zitate von Leuten zu nennen, die seine Metaphysik als absurd abtaten. Es wäre allerdings sehr falsch zu unterstellen, dass alle Reaktionen feindselig gewesen seien, oder dass die feindseligeren Antworten nicht häufig auf Missverständnissen beruhten. Andererseits bezog sich John Stuart Mill unter anderem auf Platon, Locke und Kant, als er Berkeley als „eines der größten philosophischen Genies“ beschrieb (Mill 1871: ‚Berkeley‘s Life and Writings‘), während A.A. Luce, der prominenteste Berkeley162
Berkeley, George (1685–1753)
Gelehrte des 20. Jahrhunderts, Berkeleys Standpunkt für grundlegend richtig hielt und meinte, er stimme mit der common-sense-Ansicht über die Welt überein. Selbst viele von denen, die sich weniger überschwänglich äußerten, haben Berkeley zumindest als jemanden gesehen, der ein wichtige Rolle in der Geschichte der Philosophie spielt, und wenn auch nur als Markierung einer bedeutenden Stufe auf dem Wege von Locke zu Hume, und dann zu Kant und dem modernen Idealismus. Sicherlich würde kein ernsthafter Kommentator sich so äußern, dass seine Ansichten leicht oder ohne weiteres abgetan werden können, obwohl sie oft sehr unterschiedliche Darstellungen davon geben würden, was ihn wichtig und interessant macht. Luce beispielsweise fand die Rolle, die Gott in Berkeleys System zu spielen hat, attraktiv; Mill hielt sie für peinlich. Der Phänomenalismus, d.h. die Theorie der Wahrnehmung, für die sich Mill selbst einsetzte, könnte man tatsächlich als ‚Berkeley ohne Gott‘ beschreiben (siehe Mill, J.S. § 6; Phänomenalismus). Tatsache ist, dass Berkeley sich mit Problemen herumschlug, die die Philosophie schon immer kannte, einschließlich der Beziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, oder zwischen unseren Erfahrungen und dem, von dem diese Erfahrung herrührt. Die Behandlung dieser Fragen haben die Philosophen oft dazu geführt Dinge zu sagen, die dem ‚vulgären‘ Publikum seltsam vorkamen, und wenn uns beispielsweise Lockes Standpunkt zunächst geistig näher zu liegen scheint (insofern, als Locke niemals die Existenz einer Welt bezweifelt, die unseren Vorstellungen entspricht, die aber von diesen verschieden ist, und den Skeptizismus auf diesem Gebiet als absurd behandelt), so war Berkeley weder der erste, noch der letzte, der ihn letztlich als einen ansah, der ein Wissen über diese Welt verunmöglicht. Berkeley erfand nicht die skeptische Herausforderung, die sich aus dem Beharren auf einer Unterscheidung zwischen dem, was wir unmittelbar wahrnehmen, und einer externen, materiellen Welt ergibt. Wenn sein Umgang damit radikal war, so muss man anerkennen, dass der Idealismus in der einen oder anderen Form bereits eine Geschichte hatte. Sogar heute noch gibt es Philosophen, die über eine solche Kennzeichnung ihrer eigenen philosophischen Position glücklich wären. Gewiss übertreibt Berkeley manchmal, wenn er betont, wie sehr er mit den ‚vulgären‘ bzw. unseren gewöhnlichen Ansichten über die Welt übereinstimmt. Er hätte gar nicht Unrecht, dass er auf einer Linie mit jenen liegt, die glauben, dass „diese Dinge, die sie unmittelbar wahrnehmen, die wirklichen Dinge sind.“ Wie wir allerdings oben unter Nr. 9 sahen, schreibt er diesen Ausspruch nur in Kombination mit der Behauptung, dass „die unmittelbar wahrgenommenen Dinge Vorstellungen sind, die nur im Geiste existieren“, ‚den Philosophen‘ zu, und kommt dadurch zu einer Theorie über das Wesen der Wirklichkeit, die doch sehr seine eigene ist. Obwohl er seine Widersacher für deren Verpflichtung gegenüber solchen Standpunkten wie ‚Die Wand ist nicht weiß, das Feuer ist nicht heiß‘ tadeln kann, indem er in den ‚Commentaries‘ (Beitrag 392) bemerkt, dass „wir Iren uns solchen Wahrheiten nicht anschließen können“, sind doch viele seiner eigenen Behauptungen wie z.B. jener: „Genau genommen […] sehen wir nicht denselben Gegenstand, den wir fühlen; noch nehmen wir ein und dasselbe Objekt durch ein Mikroskop als jenes wahr, als das wir es mit dem bloßen Auge sehen“ für das ‚gemeine‘ Publikum genauso verblüffend. Berkeleys Ansichten darüber, was wir unmittelbar wahrnehmen, mag wahr sein oder nicht, aber dabei handelt es sich sicher nicht um ‚vulgäre‘ Ansichten.
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Berkeley, George (1685–1753)
Um gerecht zu sein muss man sagen, dass sich Berkeley durchaus über seine Position bewusst war. Beispielsweise legt sein Kommentar, dass wir zur Frage einer Kausalbeziehung zwischen Gegenständen denken sollten („Denke wie die Gebildeten, und sprich wie das gemeine Volk“; ‚Prinzipien‘ § 51) nahe, dass das gemeine Volk die Wahrheit der Angelegenheit nicht zu schätzen weiß; während Behauptungen, dass er nur anderen Philosophen widerspricht, im Gegensatz zu solchen Passagen wie jener in den ‚Prinzipien‘ stehen, in denen er sich wirklich auf den angeblichen Fehler des gemeinen Publikums beruft, das glaube, dass die „Gegenstände der Wahrnehmung unabhängig von dem Geist und ohne ihn existieren.“ (‚Prinzipien‘ § 56). Zwar vermutet er in derselben Diskussion, dass sie dies nicht wirklich glauben können, weil der angenommene Glaube einen Widerspruch mit sich bringt, und „genau genommen ist es unmöglich etwas zu glauben, was widersprüchlich ist oder gar keine Bedeutung hat“ (‚Prinzipien‘ § 54). Die ganze Passage ruht auf der Gleichstellung der Gegenstände der Wahrnehmung und der Vorstellungen, denn das ist es, was den angenommenen Glauben widersprüchlich macht. Die Wahrheit ist daher, dass Berkeley trotz aller Bemühungen in den ‚Commentaries‘ (Beitrag 751), „um die Metaphysik auf ewig zu verbannen etc. pp. und die Menschen zum common sense zurückzurufen“ (und was er dabei im Sinn hat, ist die dürre Metaphysik der akademischen Schulen), uns etwas anbietet, was wir selbstverständlich als Metaphysik beschreiben würden, und zwar eine, die nicht einfach deshalb zurückgewiesen werden kann, dass sie dem durchschnittlichen Menschen empörend erscheinen muss. Seine Argumente müssen an ihren Verdiensten geprüft werden, und zwar zusammen mit ihren zugrunde liegenden Annahmen. Aufmerksamkeit verdient ferner der Ausdruck der ‚unmittelbaren‘ Wahrnehmung, den er verwendet, und es müssen mögliche weitere Probleme in Rechnung gestellt werden, die seine metaphysischen Schlussfolgerungen hervorbringen. Dies schließt, wie oft bemerkt wurde, seine unerkannte Neigung zum Solipsismus mit ein. Es geht nicht darum, seine Philosophie als Ganze zu akzeptieren oder zu verwerfen, denn es mag darin wahre Einsichten neben anderen Dingen geben, die wir für falsch halten. Wie mit jedem Philosophen von der Größe Berkeleys erweist es sich zwar als eine sehr komplexe, aber auch als eine sehr lohnende Übung, seiner Philosophie gerecht zu werden, was der Grund dafür ist, warum seine Philosophie die heutigen Kommentatoren immer noch beschäftigt. Siehe auch: Sehvermögen Anmerkungen und weitere Lektüre: Berkeley, G. (1948–1957) ‚The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne‘, Hrg.: A.A. Luce und T.E. Jessop, 9 Bände, Edinburgh: Thomas Nelson. (Die Standardausgabe, die Berkeleys veröffentlichte und unveröffentlichte Schriften, sowohl die philosophischen, als auch die nicht-philosophischen, enthält. Die philosophische Korrespondenz zwischen Berkeley und Samuel Johnson befindet sich in Bd. 2.) Berman, D. (Hrg.) (1989) ‚George Berkeley: Eighteenth-Century Responses‘, New York: Garland Publishing, 2 Bände. (Enthält viele der frühen Reaktionen auf Berkeleys Arbeiten, einschließlich einiger wichtiger oder einflussreicher Figuren, wie z.B. James Beattie und Thomas Reid, von denen der erstere die ‚Prinzipien‘ und die ‚Dialoge‘ rezensiert, sowie anderes Material, das sonst nicht leicht zugänglich ist.) IAN TIPTON 164
Berufsethik
Berlin, Isaiah (1909–1997)
Berlin sagte, er habe sich um 1945 entschieden, die Philosophie, in der er bis dahin gearbeitet hatte, zugunsten der Ideengeschichte aufzugeben. Einige seiner bekanntesten Arbeiten gehören sicherlich in die Ideengeschichte, aber tatsächlich schrieb er weiter an philosophischen Themen und verfolgte philosophische Fragen auch in seinem historischen Werk. Seine wichtigsten philosophischen Beiträge beziehen sich auf die politische Philosophie und speziell auf die Theorie des Liberalismus. Er betonte den Unterschied zwischen ‚negativen‘ und ‚positiven‘ Freiheitsbegriffen: ersterer ist eine Hobbessche Idee der Abwesenheit von Beschränkungen oder Hindernissen, während letzterer mit einer Vorstellung einer moralischen Selbstverwaltung identifiziert wird, wie sie z.B. bei Rousseau zum Ausdruck kommt, und die Berlin politisch als bedrohlich ansah. Sein antiutopischer Ansatz gegenüber der Politik drückt sich auch in seiner Ansicht aus, dass Werte notwendig in Konflikt miteinander geraten; dieser irreduzible ‚Wertepluralismus‘ ist vielleicht sein originellster Beitrag zur Philosophie, obwohl er ihn im Wege von Beispielen und historischen Illustrationen, statt durch semantische oder wissenschaftstheoretische Analyse entwickelte. Er wandte sich ferner gegen eine notwendigkeitstheoretische Interpretation der Geschichte und unterstützte einen antideterministischen Begriff des freien Willens. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische; Freiheit; Historizismus; Inkommensurabilität; Pluralismus BERNARD WILLIAMS
Berufsethik
Die Berufsethik beschäftigt sich mit den Werten, die gewissen Arten von Erwerbsbeschäftigungen innewohnen, wie z.B. der Medizin und dem Recht. Diese Beschäftigungen werden herkömmlich als eine Menge an bestimmtem Wissen und einem Ideal des Dienstes an der Gemeinschaft verstanden. In diesen Tätigkeiten kommt den einzelnen Ausübenden ein hohes Maß an praktischer Autonomie zu. Die Klasse solcher Beschäftigungen, die ihre Anerkennung als Berufe anstrebte, hat sich ständig vergrößert und umfasst jetzt beispielsweise auch die Pflege von Menschen und zahlreiche kreative Tätigkeiten, während gleichzeitig soziale und politische Entwicklungen zu einer Kritik und einer Infragestellung der Begriffe der Berufe und des Professionalismus führten. Probleme der Berufsethik umfassen sowohl die Regulierung der Beziehung zwischen der/dem jeweiligen BerufsträgerIn und ihrem/ seinem Patienten/Klienten, als auch die Rolle und den Status von Berufen in der Gesellschaft. Eine zentrale Frage der Ethik lautet, ob es Werte oder Tugenden gibt, die spezifisch für bestimmte Berufsgruppen sind, oder ob ihnen gegenüber nur die Maßstäbe der allgemeinen Moral anwendbar sind. Siehe auch: Angewandte Ethik; Journalismus, Ethik des; Medizinische Ethik; Technologie und Ethik; Wirtschaftsethik Ruth Chadwick
Beschreibungen Einführung ‚Definite Beschreibungen‘ sind Nominalausdrücke der Form
+ Nominalkomplex (z.B. ‚der beste griechische Dichter‘, ‚die dritte Potenz von fünf‘) 165
Beschreibungen
oder der Form Possessiv- + Nominalkomplex (z.B. ‚Spartas Sieg über Athen‘). Wie Russell bemerkte, ist es in der Philosophie wichtig, sich über die Semantik solcher Ausdrücke im Klaren zu sein. In dem Satz ‚Aischylos kämpfte bei Marathon‘ ist es die Funktion des Subjekts ‚Aischylos‘, auf etwas zu verweisen, es ist also ein referentieller Nominalausdruck (oder ein ‚singulärer Term‘). Im Gegensatz dazu ist in dem Satz ‚Jeder Athener erinnert sich an Marathon‘ der Nominalausdruck ‚jeder Athener‘ nicht referentiell, sondern quantifizierend. Definite Beschreibungen scheinen auf den ersten Blick referentiell zu sein. Frege behandelte sie referentiell, aber Russell behauptete, dass sie gemäß der Kennzeichnungstheorie als quantifizierend behandelt werden sollten und wandte ein, dass gewisse philosophische Rätsel dadurch gelöst würden. 1. Frege 2. Russells Kennzeichnungstheorie: informelle Kennzeichnung 3. Russells Kennzeichnungstheorie: formale Kennzeichnung 4. Strawsons Theorie und Kritik an Russell 5. Mehrdeutigkeitstheorien 1. Frege Gottlob Frege lieferte die erste systematische Darstellung der Quantifikation in der natürlichen Sprache und die erste systematische Theorie der Referenz (‚Über Sinn und Bedeutung‘, 1892). Die Klasse der ‚singulären Terme‘ (d.h. der referentiellen Nominalausdrücke) war für Frege durch eine Reihe logischer Tests abgegrenzt (z.B. der Zulassung existenzieller Verallgemeinerung), und sie war rekursiv. Sie enthielt gewöhnliche Eigennamen und definite Beschreibungen. Daher waren ‚5‘, ‚die dritte Potenz von 5‘, ‚Aischylos‘ etc. alle singuläre Terme. Wenn eine Kennzeichnung das F referentiell ist, dann ist es selbstverständlich, diese Referenz als eine einzigartige Entität aufzufassen, die ‚F‘ erfüllt; ein Satz das F ist G ist wahr, wenn und nur wenn diese Entität G ist. Was aber, wenn, wie in (1) oder (2), keine Entität oder mehr als eine Entität die deskriptive Bedingung erfüllt? (1) Die größte Primzahl liegt zwischen 1023 und 1027. (2) Der Mann, der auf dem Mond landete, war Amerikaner. Von solchen Beschreibungen sagt man, sie seien ‚unecht‘. Frege betrachtete es als einen Fehler der natürlichen Sprache, dass sie die Möglichkeit unechter Terme zulässt. Soweit es sein eigenes logisches System betraf, hielt er es für wesentlich, dass jede Formel einen Wahrheitswert hat, und deshalb bestand er darauf, dass jeder singuläre Term eine Referenz (oder Bedeutung) aufweist: er legte fest, dass ein bestimmter Gegenstand im Bereich des oder der Quantoren als der Referent (d.h. als das denotatum) einer jeden unechten Beschreibung zu dienen habe. Während sich diese Festlegung für sein formales System als nützlich erwies, gab Frege zu, dass irgendeine andere Darstellung der unechten Beschreibungen in der Alltagssprache notwendig sei. Nachdem er seine Unterscheidung zwischen ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ eines Ausdrucks getroffen hatte, schlug er vor, dass ein unechter Term einen Sinn hat, aber keine Bedeutung (d.h. keine Referenz) (siehe Frege, G., § 3; Sinn und Bedeutung). Das Hauptproblem dieses Vorschlages ist, dass er ziemlich kontraintuitiv voraussagt, dass jeder Satz, der (in einem transparenten Kontext) einen unechten 166
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Term enthält, keinen Wahrheitswert hat. Beispielsweise würde dies bedeuten, dass (1) und (2) oben keine Wahrheitswerte haben. 2. Russells Kennzeichnungstheorie: informelle Kennzeichnung Wie Frege dachte auch Bertrand Russell, dass es wichtig sei zu erklären, wie ein Satz von der Art (1) oder (2) eine Bedeutung erlangen könne. Eine Zeit lang hing er der Idee eines Reiches nicht-existenter Entitäten an, die als Referenten von Beschreibungen wie z.B. ‚die größte Primzahl‘ und ‚das runde Quadrat‘ dienen; im Jahre 1905 aber meinte er, dass diese Idee mit einem ‚robusten Sinn für Wirklichkeit‘ in Konflikt gerät, und seine Theorie der Beschreibungen entstand teilweise als ein Versuch zur Klärung seiner Ontologie (siehe Existenz). Nach Russells Darstellungen sind Beschreibungen überhaupt keine singulären Terme, sondern Ausdrücke, deren logische Analyse sie als quantifizierend enthüllt: wenn das F eine definite Beschreibung und … ist G ein prädikativer Ausdruck ist, dann ist die Aussage, die durch die Äußerung Das F ist G ausgedrückt wird, nach Russell äquivalent der Aussage, die durch die Äußerung Es gibt genau ein F; und alles, das F ist, ist auch G ausgedrückt wird. Das heißt, Das F ist G wird analysiert als (3) (∃x) ((∀y) (Fy ↔ y = x) & Gx). Die Aussage, die durch Das F ist G ausgedrückt wird, ist ‚allgemein‘ (‚gegenstandsunabhängig‘) statt ‚singulär‘ (‚gegenstandsabhängig‘) in dem Sinne, dass es keinen Gegenstand gibt, für den sein grammatisches Subjekt steht, also von dessen Existenz keine, die in der Aussage bezeichnet wird, abhängt. Anders als ein singulärer Term bezieht sich eine definite Beschreibung, selbst wenn sie durch einen einzigartigen Gegenstand erfüllt (Frege: ‚gesättigt‘) ist, tatsächlich nicht auf diesen Gegenstand. Nach Russells Darstellung ist es falsch, den Referenten von das F in der Form zu bestimmen, wie man den Referenten von jedes F oder kein F bestimmt. Nach Russells Darstellung haben Sätze, die unechte Beschreibungen enthalten, einen Wahrheitswert. Beispielsweise ist oben (1) falsch, weil es nicht der Fall ist, dass es eine größte Primzahl gibt. Entsprechend ist oben (2) falsch, weil es nicht der Fall ist, dass es genau einen Mann gibt, der auf dem Mond landete. Russells Theorie eröffnet die Möglichkeit der Darstellung bestimmter de dicto/ de re-Mehrdeutigkeiten (siehe de re / de dicto). Beispielsweise könnte unten (4) entweder als (5) oder als (6) analysiert werden, je nachdem, ob der Beschreibung ‚die größte Primzahl‘ ein großer oder ein kleiner Bereich im Hinblick auf die Aussage ‚Johannes denkt, dass …‘ gegeben wird: (4) Johannes denkt, dass die größte Primzahl zwischen 1023 und 1027 liegt. (5) (∃x) ((∀y) (größte-Primzahl y ↔ y = x) & Johannes denkt, dass: x liegt zwischen 1023 und 1027). (6) Johannes denkt, dass (∃x) ((∀y) (größte-Primzahl y ↔ y = x) und dass x zwischen 1023 und 1027) liegt. (5) ist falsch, aber (6) könnte wahr sein. Daher ist Russel imstande die intuitive Mehrdeutigkeit von (4) zu erklären und dabei die Annahme einer Ontologie zu vermeiden, die solche Dinge wie eine größte Primzahl einschließt. Smullyan weist darauf hin, dass Russells Theorie auf ähnliche 167
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Weise de dicto/de re-Mehrdeutigkeiten in modalen Kontexten erklärt, wie beispielsweise in dem Satz ‚Die Anzahl der Planeten ist notwendig ungerade‘ (siehe Modale Logik). Russell behandelte die gewöhnlichen Eigennamen schließlich als ‚maskierte‘ oder ‚gestutzte‘ Beschreibungen. Beispielsweise könnte der Name ‚Cicero‘ analysiert werden als die Beschreibung ‚der größte römische Redner‘, während der koreferentielle Name ‚Tullius‘ als die Beschreibung von ‚der Autor von De Fato‘ analysiert werden könnte. In Anbetracht dessen lieferte Russell hierfür Darstellungen (nicht unähnlich denen von Frege), warum der Satz ‚Cicero war kahlköpfig‘ und ‚Tullius war kahlköpfig‘ sich hinsichtlich ihrer Information unterscheiden, und warum (7) und (8) nicht den gleichen Wahrheitswert haben: (7) Johannes glaubt, dass Cicero kahlköpfig war. (8) Johannes glaubt, dass Tullius kahlköpfig war. Unter dem Einfluss von Kripkes Arbeit über Namen und Notwendigkeit besteht weitgehend die Auffassung, dass beschreibende Analysen von Eigennamen keinen Erfolg haben können (siehe Kripke, S.A.; Eigennamen). Es gibt jedoch gute Gründe für die Annahme, dass zumindest einige Pronomen, die anaphorisch (d.h. zurück verweisend) verbunden sind, aber nicht durch quantifizierte Nominalausdrücke gebunden sind, als definite Beschreibungen verstanden werden (siehe Neale 1990). 3. Russells Kennzeichnungstheorie: formale Kennzeichnung Nach Russells Darstellung sind Beschreibungen ‚unvollständige‘ Symbole; sie haben ‚isoliert betrachtet keine Bedeutung‘, d.h. sie stehen nicht für Dinge. In den ‚Principia Mathematica‘ (1910–1913) werden Beschreibungen durch quasi-singuläre Ausdrücke der Form ‚(ιx)(Fx)‘ repräsentiert, was man als ‚das einzige x, das F ist‘ lesen kann. Oberflächlich betrachtet ist der Iota-Operator eine Vorkehrung, die eine Variable zur Bildung eines Ausdrucks innerhalb einer Formel einbindet. Ein Prädikatsymbol ‚G‘ kann als Präfix vor eine Beschreibung ‚(ιx)(Fx)‘ zur Bildung der Formel ‚G(ιx)(Fx)‘ gestellt werden, die in Übereinstimmung mit einer geeigneten ‚kontextbezogenen Definition‘ erweitert werden kann. (Einen Ausdruck ζ kontextbezogen definieren heißt, eine Prozedur zur Umwandlung irgendeines Satzes, der ζ enthält, in einen äquivalenten Satz, der kein ζ enthält, zu liefern). Die Analyse von oben (3) stellt wegen der Möglichkeit einer Mehrdeutigkeit des Bezugsrahmens keine abschließende kontextbezogene Definition von ‚G(ιx) (Fx)‘ dar, sobald eine Formel, die eine Beschreibung enthält, selbst Bestandteil einer größeren Formel ist (siehe Geltungsbereich). Eine Mehrdeutigkeit des Bezugsrahmens lässt sich leicht mittels Beschreibungen im Kontext der Negation illustrieren. Bei einem echt singulären Term α gibt es keinen Unterschied zwischen der weiten und der engen Negation des Bezugsrahmens: α ist nicht-F genau in dem Falle, wo es nicht der Fall ist, dass α F ist. In einer Beschreibung gibt es hier jedoch eine formale Mehrdeutigkeit. Angenommen ‚Kx‘ repräsentiert ‚x ist ein König von Frankreich‘, und ‚Wx‘ repräsentiert ‚x ist weise‘. Dann ist die Formel ‚¬W (ιx)(Kx)‘ (‚Der König von Frankreich ist nicht weise‘) mehrdeutig im Sinne von (9) und (10): (9) (∃x) ((∀y) (Ky ↔ y = x) & ¬Wx) (10) ¬(∃x) ((∀y) (Ky ↔ y = x) & Wx).
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Diese beiden Formeln sind nicht äquivalent: nur (10) kann wahr sein, wenn es keinen König von Frankreich gibt. In den ‚Principia Mathematica‘ wird der Bezugsrahmen einer Beschreibung bestimmt durch das Voranstellen einer Kopie von ihm in eckigen Klammern vor die Formel, die auf diesen Bezugsrahmen abhebt. So werden also (9) und (10) als (11) und (12) dargestellt: (11) [(ιx)(Kx)] ¬{W(ιx)(Kx)} (12) ¬{[(ιx)(Kx)]W(ιx)(Kx)}. In (11) weist die Beschreibung das auf, was Russell ein ‚erstrangiges Auftreten‘4 nennt, weil der Bezugsrahmen sich über die Negation erstreckt. In (12) hat die Beschreibung ein ‚zweitrangiges Auftreten‘4, weil sie innerhalb des Bezugsrahmens der Negation liegt. Wenn die Beschreibung den engsten möglichen Bezugsrahmen hat, wird konventionellerweise das Zeichen für den Bezugsrahmen weggelassen; deshalb kann (12) auf ‚¬W(ιx)(Kx)‘ reduziert werden. Nachdem wir die Frage des Bezugsrahmens damit gelöst haben, kann die Theorie der Beschreibung nunmehr exakt formuliert werden: [(ιx)(φx)]G(ιx)(φx) =df (∃x) ((∀y) (φy ↔ y = x) & Gx), wobei φ eine Formel ist. Nach Russells Darstellung gibt es keine Möglichkeit einer im echten Sinne bezugnehmenden Ausdrucksweise, die auf nichts Bezug nimmt, so dass kein Prädikatsbuchstabe in der Sprache der ‚Principia Mathematica‘ für ‚existiert‘ steht. Russell führt das Symbol ‚E!‘ (‚E schreiend‘) ein, das man mit einer Beschreibung kombinieren kann, um eine wohlgeformte Formel zu erzeugen. Deshalb also E!(ιx)(φx) =df (∃x) (∀y) (φy ↔ y = x). ‘E!‘ erlaubt eine Behandlung der negativen Existentiale. (Nach Russell wäre der heutige Ausspruch von ‚Der König von Frankreich existiert nicht‘ genau deshalb wahr, weil es keinen König von Frankreich gibt.) Die darauf aufbauenden Anwendungen werden die Bildung einer jeder wohlgeformten Formel mit einer definiten Beschreibung erlauben, die durch eine äquivalente, beschreibungsfreie Formel ersetzt werden soll. Es wurde häufig eingewandt, dass Russells Theorie, die den einfachen Artikel, z.B. ‚der‘, durch komplexe quantifizierende Strukturen ersetzt, nicht der Oberflächensyntax entspricht. Dieser Einwand beruht auf einem unscharfen Verständnis der Unterscheidung zwischen einer Theorie und ihrer formalen Implementierung. Der Umfang der fehlenden Übereinstimmung zwischen ‚Der König ist weise‘ und seiner Analyse als (13) (∃x) ((∀y) (König y ↔ y = x) & weise x) hat nichts mit den Beschreibungen an sich zu tun. Schon um die logische Form von ‚einige Philosophen sind weise‘ und ‚jeder Philosoph ist weise‘ im Prädikatenkalkül zu charakterisieren, müssen wir Formeln verwenden, die Satzverbinder (Konnektive) enthalten, von denen kein Gegenstück in der Oberflächenform der Sätze erscheint: (14) (∃x)(Philosoph x & weise x) (15) (∀x)(Philosoph x → weise x). 4
engl.: secondary occurence
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Und wenn wir Sätze formalisieren wie ‚Genau zwei Philosophen sind weise‘, dann zeigt sich uns eine wesentlich höhere Komplexität, als in der Oberflächensyntax erscheint: (16) (∃x)(∃y) [Philosoph x & Philosoph y & weise x & weise y & (∀z)((Philosoph z & weise z) → z = x ∨ z = y)]. Das hinsichtlich der Beschreibungen vermutete Problem ist dann in Wirklichkeit das Symptom eines größeren Problems im Zusammenhang mit der Anwendung der Logik erster Ordnung auf alltagssprachliche Sätze. Die Arbeit an der ‚generalisierten‘ Quantifikation liefert eine Lösung dieses größeren Problems (und auch eine Lösung der Behandlung von Quantoren wie z.B. ‚die meisten‘, mit denen die Logik erster Ordnung nicht umgehen kann; siehe Quantoren, generalisierte). Die Quantifizierung in der natürlichen Sprache ist normalerweise eingeschränkt: wir sprechen über alle Philosophen oder die meisten Dichter, nicht über alle oder die meisten Entitäten. Eine einfache Änderung des Prädikatenkalküls ergibt eine Sprache – man nenne sie ‚RQ‘ – die diesen Umstand abdeckt, während sie die Präzision regulärer Sätze der Logik erster Ordnung beibehält. In RQ wird ein Bestimmungspartikel wie z.B. ‚einige‘, ‚jeder‘ oder ‚kein‘ mit einer Formel kombiniert, um einen eingeschränkten Quantor zu erzeugen wie z.B. ‚[jedes x: Philosoph x]‘. Und ein solcher Quantor kann mit einer Formel zur Bildung der folgenden Formel kombiniert werden: (17) [jedes x: Philosoph x] (weise x). Die Gangbarkeit einer solchen Sprache zeigt, dass die Sprache der ‚Principia Mathematica‘ für die Theorie der Beschreibungen nicht wichtig ist. Dass das Wort ‚der‘ (oder ein entsprechender Artikel) ein einstellig quantifizierendes Bestimmungspartikel ist (so wie auch ‚einige‘, ‚jeder‘, ‚kein‘ etc.), kann RQ den Artikel, also z.B. ‚der‘, in Kombination mit einer Formel ‚König x‘ verwenden, um einen eingeschränkten Quantor zu bilden: ‚[das x: König x]‘. Der Satz ‚Der König ist weise‘ wird dann dargestellt als: (18) [das x: König x] (weise x). Unterschiedliche Formen des Bezugsrahmens lassen sich leicht erfassen. Beispielsweise ist ‚Der König ist nicht weise‘ mehrdeutig zwischen (19) und (20): (19) [das x: König x] ¬ (weise x) (20) ¬ [das x: König x](weise x). Die Verwendung einer formalen Sprache, in der Beschreibungen als eingeschränkte Quantoren behandelt werden, bedeutet nicht, Russells Standpunkt aufzugeben, dass Beschreibungen unvollständige Symbole sind, die in der Analyse verschwinden. Stattdessen ergibt sich, wenn man Beschreibungen als eingeschränkte Quantoren behandelt, eine Erklärung, wo seine Theorie der Beschreibungen in eine systematische Darstellung der natürlichsprachlichen Quantifikation passt, d.h. eine Theorie, in der Ausdrücke wie ‚jedes‘, ‚manche‘, ‚viele‘, ‚ein‘ und ‚der/die/das‘ etc. Mitglieder einer vereinheitlichten syntaktischen und semantischen Kategorie sind. 4. Strawsons Theorie und Kritik an Russell Als Teil einer breiteren Kritik der Idee, dass die Semantik formaler Sprachen zur Analyse der Bedeutung von Äußerungen der natürlichen Sprache verwendet werden 170
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kann, erhob P.F. Strawson gegen Russells Theorie der Beschreibungen Einwände, indem er geltend machte, dass (1) diese versäumt anzuerkennen, dass die Bezugnahme etwas ist, was von Sprechern unternommen wird, und nicht von Ausdrücken, (2) sie nicht der Art und Weise gerecht wird, wie Sprecher normalerweise Sätze verwenden, die Beschreibungen zum Zwecke von Äußerungen enthalten (Sprecher verwenden Beschreibungen nämlich zur Bezugnahme, nicht zur Quantifikation) und (3) sie rücksichtslos über wichtige Unterscheidungen hinweggeht, wie z.B. über jene zwischen der Bedeutung eines Satzes σ und einer Äußerung unter bestimmter Verwendung von σ. Indem er als Beispiel den Satz ‚Der gegenwärtige König von Frankreich ist weise‘ untersucht, wendet Strawson gegen Russells Theorie ein, dass diese gar nicht zur Anwendung kommt, weil derselbe Satz benutzt werden kann, um bei der einen Gelegenheit etwas Wahres zu sagen, und bei einer anderen etwas Falsches. Es ist sicherlich wahr, dass Russell wenig auf die Unterscheidung zwischen der linguistischen Bedeutung eines Satztyps und der Aussage achtete, die mittels einer auf ein bestimmtes Datum bezogenen Äußerung dieses Satztyps ausgedrückt wird. Es war jedoch Letzteres, das ihn tatsächlich beschäftigte, und Strawson nützt Russells Unaufmerksamkeit bezüglich dieser Unterscheidung nichts. Die Tatsache, dass eine Beschreibung (oder irgendein anderer quantifizierter Nominalausdruck) vielleicht eine indexikalische Komponente enthält (‚der gegenwärtige König von Frankreich‘, ‚jeder Mensch hier‘ etc.) zeigt, dass einige Beschreibungen Gegenstand sowohl der Theorie der Beschreibungen, als auch der Theorie der Indexikalität sind (siehe Demonstrative und indexikalische Zeichen). Deshalb spielen kontextuelle Merkmale eine Rolle bei der Fixierung einer Aussage. Und dies kann auch dann wahr sein, wenn das offen indexikalische Element, wie in dem Satz ‚Der König von Frankreich ist weise‘, fehlt. Diese Würdigung der kontextuellen Faktoren bildet die Grundlage von Russells Antwort auf einen zweiten Einwand von Strawson. Dieser sagt, dass, wenn jemand eine Beschreibung der Form das F verwendet, damit typischerweise die Bezugnahme auf irgendeinen Gegenstand beabsichtigt und etwas über ihn sagen will. Hier ist keineswegs die Behauptung fraglich, ob nur ein einziger Gegenstand F erfüllt. Wenn jemand z.B. sagt: ‚Der Tisch ist mit Büchern bedeckt‘, so drückt er damit nichts aus, woraus die Existenz von genau einem Tisch folgt. Strawson behauptete aber, es sei ein Teil der Bedeutung von das F, dass ein solcher Ausdruck nur dann korrekt verwendet wird, wenn es ein F gibt. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, d.h. die ‚Voraussetzung‘ falsch ist, dass es ein F gibt, dann kann die Verwendung von das F ist G nicht als Ausdruck einer Aussage betrachtet werden, die entweder wahr oder falsch ist. Die Russellsche Antwort auf Strawson lautet, dass Beschreibungen wie ‚der Tisch‘ oft als elliptische (d.h. unvollständige) Verwendungen vollständigerer Beschreibungen wie z.B. ‚dieser Tisch hier‘, ‚der Tisch vor mir‘ etc. verstanden werden. Oder sie werden im Hinblick auf einen eingeschränkten diskursiven Geltungsbereich ausgewertet. Und auch hier ist das Phänomen nicht auf Beschreibungen beschränkt, sondern findet sich ganz allgemein bei quantifizierten Nominalausdrücken. Strawsons ursprüngliche Darstellung seiner eigenen Theorie von 1950 enthält eine interessante Mehrdeutigkeit. Man kann ihn so verstehen, als behaupte er entweder, dass gar nichts ausgesagt wird, oder dass etwas ausgesagt wird, das weder falsch 171
Beschreibungen
noch wahr ist, wenn jemand einen Satz verwendet, der eine leere Beschreibung enthält. Eine zweite Mehrdeutigkeit ergibt sich aus dem Begriff der Voraussetzung. Diesen kann man als eine erkenntnistheoretische oder eine pragmatische Beziehung zwischen einer Person und einer Äußerung auffassen, oder auch als eine logische Relation zwischen zwei Äußerungen (siehe Voraussetzung). Eine erkenntnistheoretische oder praktische Auffassung von ‚Voraussetzung‘ scheint keinen Bezug zu dem semantischen Punkt zu haben, den Strawson ansprechen wollte, als er Russell herausforderte. Die Position von Strawson steht vor zwei ernsthaften Hindernissen. Wenn jemand unten (21) jetzt in diesem Moment ausdrücken wollte, dann würde er ohne Frage etwas Falsches sagen: (21) Der König von Frankreich erschoss letzte Nacht meine Katze. Nach Strawsons Darstellung aber wird ein solcher Sprecher gar nichts aussagen, weil die Voraussetzung nicht erfüllt ist, dass es einen einzigen König von Frankreich gibt. Beschreibungen im Kontext von Verben der Einstellung erzeugen ein ähnliches Problem. Beispielsweise könnte jemand mit unten (22) etwas Wahres aussagen: (22) Ponce de León dachte, der Jungbrunnen befände sich in Florida, so dass die Anwesenheit einer leeren Beschreibung nicht in jedem Falle zu einem gescheiterten Sprechakt führt. Dies musste Strawson zugeben. Um die Anzahl der falschen Voraussagen zu reduzieren, die aus seiner früheren Theorie folgten, schlug er vor, dass die Anwesenheit einer leeren Beschreibung manchmal zu einer falsch ausgedrückten Aussage führt, und in anderen Fällen eine Aussage davor bewahrt, überhaupt getätigt zu werden (manchmal folgt aus das F ist G die Existenz eines einzigartigen F; in anderen Fällen wird es [nur] vorausgesetzt. 5. Mehrdeutigkeitstheorien Das Nachdenken über das Verhalten von Beschreibungen in nicht-extensionalen Zusammenhängen und die Möglichkeit einer falschen Beschreibung eines Einzelgegenstandes als F, sowie die andererseits erfolgreiche Mitteilung von etwas über diesen Einzelgegenstand, haben einige Philosophen (z.B. Donnellan 1966) dazu gebracht anzunehmen, dass Beschreibungen manchmal quantifizierend, und andermal referentiell sind. Wenn das F auf die Russellsche Weise verwendet wird, so ist die damit ausgedrückte Aussage allgemein, d.h. gegenstandsunabhängig. Donnellan betrachtet Beispiele wie die folgenden: (1) Ein Detektiv entdeckt Schmidts verstümmelten Körper, hat aber keine Idee, wer ihn getötet haben könnte. Indem er auf den Körper schaut, ruft er aus: ‚Der Mörder ist verrückt.‘ (2) Meier steht wegen des Mordes an Schmidt vor Gericht. Ein Anwesender ist von seiner Schuld überzeugt. Als er hört, wie Meier sich vor Gericht ereifert, sagt er: ‚Der Mörder ist verrückt.‘ Nach Donellans Darstellung wird die Beschreibung in (1) attributiv eingesetzt, in (2) dagegen referentiell. Fälle wie (2), so wird eingewandt, können nicht nach Russells Theorie behandelt werden. Nach Grice haben jedoch viele eingewandt, (1) dass so genannte referentielle Verwendungsweisen von Beschreibungen üblicherweise an Russells Theorie angepasst werden können, indem man sich auf eine Unterscheidung beruft zwischen der Aussage, die von einem Satz zu einer bestimmten Gelegenheit ausgedrückt wird, und der Aussage, die der Sprecher vorrangig bei dieser Gelegenheit zu kommunizieren beabsichtigt; (2) dass das Phänomen der referen172
Bestätigungstheorie
tiellen Verwendung nicht nur definite Beschreibungen betrifft, sondern auch bei ziemlich allgemeinen quantifizierten Nominalausdrücken auftritt; (3) dass die Unterscheidung eines referentiellen/attributiven Gebrauchs weder exklusiv, noch erschöpfend ist; und (4) dass keine dieser Unterscheidungen die Arbeit von Russells Begriff des Bezugsrahmens einer Beschreibung zu leisten vermag. Es scheint also, dass etwas, das Russells Theorie sehr nahe kommt, wahrscheinlich ein Bestandteil einer jeden schlussendlich akzeptablen Theorie der Beschreibung sein wird. Siehe auch: Referenz Anmerkungen und weitere Lektüre: Neale, S. (1990): ‚Descriptions‘, Cambridge, MA: MIT Press. (Eine etwas detailliertere Diskussion der verschiedenen Standpunkte; ausgiebige Bibliographie.) Strawson, P.F. (1972): ‚Subject and Predicate in Logic and Grammar‘, London: Methuen. (Die vollständige Darstellung des Strawsonschen Standpunktes.) STEPHEN NEALE
Bestätigungstheorie Einführung Das Ergebnis der Prüfung einer allgemeinen Hypothese kann positiv, negativ oder neutral sein. Die erste qualitative Aufgabe der Bestätigungstheorie ist es, diese Arten von Testergebnissen zu erklären. Sobald jedoch jemand auch individuelle Hypothesen mit in die Betrachtung einbezieht, bewegt sich das Interesse zur zweiten, und diesmal quantitativen Aufgabe der Bestätigungstheorie: im Wege einer Wahrscheinlichkeitsberechnung die individuellen und allgemeinen Hypothesen im Licht einer wachsenden Anzahl von Prüfungsergebnissen zu bewerten. Dies lässt sofort vermuten, dass die Bestätigung einer Hypothese als Erhöhung ihrer Wahrscheinlichkeit infolge neuer Beweise aufzufassen ist. Rudolf Carnap initiierte ein Forschungsprogramm in der quantitativen Bestätigungstheorie, in dem er ein Kontinuum wahrscheinlichkeitstheoretischer Systeme mit einleuchtenden probabilistischen Eigenschaften entwarf. Jaakko Hintikka war der erste, der die Bestätigung solcher Hypothesen neu überdachte, und die Verwendung von Carnaps Kontinuum zu diesem Zweck war der Schritt zu einem ganzen Spektrum von induktiven Systemen dieser Art. 1. Qualitative und quantitative Bestätigungstheorie 2. Das Kontinuum induktiver Systeme 3. Optimale induktive Systeme 4. Induktive Analogie durch Ähnlichkeit 5. Universale Verallgemeinerungen 6. Anwendungen 1. Qualitative und quantitative Bestätigungstheorie Gemäß der hypothetisch-deduktiven Methode wird eine Theorie überprüft, indem man ihre Implikationen, d.h. das, was aus ihr folgt, überprüft. Das Ergebnis einer individuellen Prüfung einer allgemeinen Hypothese, die in Beobachtungsausdrücken formuliert ist, kann positiv, negativ oder neutral sein. Wenn es neutral ist, so war die Prüfung nicht gut eingerichtet; ist es negativ, so wurden die Hypothese und folglich auch die Theorie falsifiziert. Der qualitativen Bestätigungstheorie geht es 173
Bestätigungstheorie
vor allem um die weitere Erklärung von intuitiven Begriffen von neutralen und positiven Prüfungsergebnissen. Einige paradoxe Merkmale, die von Hempel entdeckt wurden, und einige seltsame Prädikate, die von Goodman definiert wurden, zeigen, dass dies keine einfache Aufgabe ist. Angenommen, ein schwarzer Rabe bestätigt die Hypothese ‚Alle Raben sind schwarz‘, und diese Bestätigung ist nicht von logisch äquivalenten Reformulierungen betroffen, so wendet Hempel ein, dass nicht nur ein nicht-schwarzer NichtRabe, sondern noch unintuitiver, sogar ein schwarzer Nicht-Rabe diese Hypothese bestätigt. Goodman wiederum wandte ein, dass nicht alle Prädikate die ‚Projektibilität‘ einer Universalhypothese von den beobachteten auf die nicht beobachteten Fälle garantieren. Wenn ‚glau‘ beispielsweise ‚grün, sofern es vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurde‘ bedeutet, und ‚blau, wenn es nicht vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurde‘, so würde ein grüner Smaragd, der vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurde, nicht nur den Satz ‚Alle Smaragde sind grün‘ bestätigen, sondern auch den Satz ‚Alle Smaragde sind glau‘, und folglich unter der Annahme, dass die Konsequenzen damit ebenfalls bestätigt werden, sogar den Satz ‚Alle Smaragde, die nicht vor dem Zeitpunkt t beobachtet wurden, sind blau‘. Während Goodmann daraufhin Kriterien akzeptabler Prädikate in Betreff ihrer relativen ‚Verankerung‘� in zuvor erfolgreich projizierten Verallgemeinerungen formulierte, hat bis heute niemand eine allgemein akzeptierte, qualitative Lösung für Hempels Rätsel vorgelegt (siehe Unterbestimmung). Im Folgenden behandeln wir die quantitative, oder genauer gesagt: probabilistische Bestätigungstheorie, der es um die Erklärung der Idee der Bestätigung als wachsende Wahrscheinlichkeit infolge neuer Evidenz geht. Carnap führte diese Sichtweise ein und lenkte die Bestätigungstheorie damit in die Richtung einer Suche nach einem geeigneten Begriff für die logische oder induktive Wahrscheinlichkeit (siehe Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der § 5). Allgemein gesagt kombinieren solche Wahrscheinlichkeiten indifferente mit induktiven Eigenschaften. 2. Das Kontinuum induktiver Systeme Hauptsächlich in seinem Buch ‚The Continuum of Inductive Methods‘ (1952) begann Rudolf Carnap ein fruchtbares Forschungsprogramm, das sich mit dem berühmten λ-Kontinuum beschäftigte. Die Wahrscheinlichkeitssysteme dieses Programms können als solche von individuellen und beobachteten Prädikaten beschrieben werden, oder als Versuche und deren beobachtbare Ergebnisse. Die letztere Form der Darstellung wird hier verwendet. Ferner werden wir von einem objektiven Wahrscheinlichkeitsprozess ausgehen, obwohl die abzubildenden Systeme auch in anderen Situationen eingesetzt werden können. Man stelle sich ein verborgenes Glücksrad vor. Ihnen als Leser wird wahrheitsgemäß lediglich mitgeteilt, dass es in genau vier farbige Segmente unterteilt ist, nämlich ein blaues, ein grünes, ein rotes und ein gelbes, jedoch ohne weitere Informationen über die relative Größe dieser Segmente. Sie kennen folglich nicht die ‚objektiven Wahrscheinlichkeiten‘ der Farbverteilung dieses Glückrades. Im Folgenden lernen Sie lediglich die Ergebnisse fortgesetzter Versuche. In Anbetracht der Ergebnisfolge en der ersten n Versuche ist es nun Ihre Aufgabe, der Hypothese, welche Farbe der nächste Versuch ergeben wird, z.B. rot, vernünftige Wahrscheinlichkeiten der Form p(R/en) zuzuordnen. 174
Bestätigungstheorie
Es gibt zahlreiche Wege, das λ-Kontinuum einzuführen; die grundlegende Idee dahinter ist, dass es ein graduell fortschreitendes Lernen aus der Erfahrung wiedergibt. Tatsächlich wurden, wie Zabell wieder entdeckte, sog. C-Systeme bereits von Johnson antizipiert. Gemäß Carnaps bevorzugtem Ansatz sollte p(R/en) nur von n und der Anzahl des Ergebnisses ‚rot‘ bis dahin abhängen, als nR. Genauer gesagt sollte dies eine speziell gewichtete Bedeutung der beobachteten relativen Häufigkeit nR/n, sowie die (vernünftig anzunehmende) initiale Wahrscheinlichkeit ¼ bedeuten. Daraus ergibt sich ein Freiraum für das Kontinuum von (C-)Systemen, also das λ-Kontinuum: 0 < λ < ∞: p(R/en) = (nR + λ/4)/(n + λ) = n/(n + λ) ∙ (nR/n) + λ/(n + λ) ∙ (1/4) Man beachte, dass die Gewichte n/(n + λ) und λ/(n + λ) sich zu 1 aufaddieren, und dass, je größer der Wert von λ wird, der erste sich umso langsamer auf Kosten des zweiten Ausdrucks erhöht, d.h. der langsamere ist ‚bereit‘, aus der Erfahrung zu lernen. C-Systeme haben viele attraktive Indifferenz-, Bestätigungs- und Konvergenzeigenschaften. Die wichtigsten sind die folgenden: (a) Indifferenz der Reihenfolge oder der Austauschbarkeit: die sich ergebende, vorrangige Wahrscheinlichkeit p(en) für en hängt nicht von der Reihenfolge der Versuchsergebnisse ab, d.h. p(R/en) = p(e*n) für jede Permutation e*n von en; (b) Fallbestätigung: wenn en der Wert ‚rot‘ folgt, so ist dieses Ergebnis für ‚rot‘ vorteilhaft, d.h. p(R/enR) > p(R/en); (c) Fallkonvergenz: p(R/en) nähert sich nR/n bei wachsendem n. Die Bestätigung und Konvergenz von Universalhypothesen sind aus C-Systemen jedoch ausgeschlossen. Der Grund dafür ist, dass C-Systeme dem Wert 0 tatsächlich eine vorrangige Wahrscheinlichkeit vor allen universellen Verallgemeinerungen einräumen, d.h. beispielsweise der Hypothese, dass alle Ergebnisse ‚rot‘ sein werden. Selbstverständlich ist dies in der beschriebenen Situation erwünscht, wenn es aber heißt, dass es höchstens vier Farbfelder gibt, so würde man diese Möglichkeit gerne zulassen. 3. Optimale induktive Systeme Carnap bewies für bestimmte Arten objektiver Wahrscheinlichkeitsprozesse, wie beispielsweise das Glücksrad, dass es einen optimalen λ-Wert gibt, der von den objektiven Wahrscheinlichkeiten in dem Sinne abhängt, dass die durchschnittliche Fehlerrate für diesen Wert als die kleinste erwartet werden kann. Überraschenderweise ist jedoch dieser optimale Wert von n unabhängig. Selbstverständlich ist dieser optimale Wert in der wirklichen Forschung, wo wir die objektiven Wahrscheinlichkeiten nicht kennen, nicht berechenbar. Carnap warf nicht die Frage einer vernünftigen Einschätzung dieses optimalen Wertes für einen bestimmten, objektiven Prozess auf, denn er sah das Problem der Auswahl eines Wertes von λ vorrangig als eine Wahl, die jeder Wissenschaftler ganz im Allgemeinen zu treffen hat. Die Frage einer vernünftigen Schätzung von λ hat die Aufmerksamkeit vieler Forscher auf sich gezogen. Festa schlug vor, die Schätzung von λ auf ‚kontextbezogenem‘ Wissen ähnlicher Prozesse in der Natur aufzubauen. Beispielsweise könnte in der Ökologie jemand die relative Häufigkeit des Auftretens gewisser Spezies in unterschiedlichen 175
Bestätigungstheorie
Lebensräumen kennen, bevor er mit der Untersuchung eines neuen Lebensraumes beginnt. Für eine ziemlich allgemeine Klasse von Systemen formulierte Festa eine Lösung für das Schätzungsproblem, bei der das Forschungsgebiet der Bestätigungstheorie in Verbindung zur Wahrheitsannäherung gebracht wird: die optimale Lösung wird vermutlich auch der effizienteste Weg einer Näherung an die objektiven oder wahren Wahrscheinlichkeiten sein. Unglücklicherweise stellen Glücksräder keine technologischen (nicht zu reden von biologischen) Arten von Gegenständen dar, für die man Informationen nutzen kann, die in vorangehenden Fällen ermittelt wurden. Wenn man aber Wissen über eine zufällige Ergebnissammlung aller bestehenden Glücksräder hätte, so würde Festas Ansatz hinsichtlich des Durchschnittswertes für einen neuen, zufälligen Wurf, funktionieren. 4. Induktive Analogie durch Ähnlichkeit Carnap kämpfte mit der Frage, wie sich Analogieüberlegungen in die induktive Wahrscheinlichkeit integrieren lassen. Seine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten der Analogie – jene aufgrund von Ähnlichkeit (similarity) und jene aufgrund von Nähe (proximity) – wurde posthum veröffentlicht. Hier werden wir nur die erste von ihnen betrachten. Angenommen, jemand findet den Wert ‚grün‘ dem blauen ähnlicher als dem roten. Carnaps Intuition der Analogie aufgrund von Ähnlichkeit ist die, dass beispielsweise die vorangehende Wahrscheinlichkeit von ‚grün‘ höher ist, wenn unter der Voraussetzung, dass alles übrige gleich bleibt, einige Treffer auf ‚rot‘ durch das Erscheinen von ‚blau‘ ersetzt werden. Der Hintergrund dieser Intuition, der nicht für künstliche Glücksräder gilt, ist jener, dass Ähnlichkeit in einer Hinsicht (z.B. der Farbe) zusammen mit Ähnlichkeiten in anderen Hinsichten vorkommt (z.B. objektive Wahrscheinlichkeiten). Es erwies sich jedoch als sehr schwierig zu erklären, welches genaue Analogieprinzip jemand erfüllen möchte. Ein interessanter Ansatz befasst sich mit virtuellen Versuchen als Weg zur Bestimmung, wie der analoge Einfluss nach n Versuchen verteilt werden soll. Im obigen Fall würde ‚blau‘ mehr analoge Glaubwürdigkeit als ‚rot‘ bei jedem Auftauchen von ‚grün‘ für sich reklamieren können. Die resultierenden Systeme der virtuellen Analogie haben dieselben Bestätigungs- und Konvergenzeigenschaften wie C-Systeme. Darüber hinaus erfüllen sie ein Prinzip der Analogie, das allgemein plausibler ist als dasjenige von Carnap. In großen Zügen sagt das neue Prinzip, dass die Ersetzung eines vorangehenden Erscheinens von ‚blau‘ durch ‚grün‘ den Unterschied für die Wahrscheinlichkeit verringert, dass der nächste Versuch ‚blau‘ ergeben wird, als dies bei der Ersetzung der vorangehenden Erscheinung von ‚rot‘ durch ‚grün‘ der Fall wäre für die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Versuch ‚rot‘ ergibt. Unglücklicherweise sind Systeme der virtuellen Analogie nicht austauschbar: die Reihenfolge der Resultate ist bedeutsam. Es gibt jedoch austauschbare Systeme mit einer gewissen Art von Analogie aufgrund von Ähnlichkeit. Beispielsweise hat Skyrms einen Bayesischen Ansatz skizziert, der die Information über mögliche gravitative Ablenkungen eines symmetrischen Glücksrades verwendet, um den Einfluss der Analogie zu bestimmen, und Di Maio folgte einem Vorschlag von Carnap.
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Bestätigungstheorie
5. Universale Verallgemeinerungen Carnap war sich wohl bewusst, dass in C-Systemen für nicht-analytische universale Verallgemeinerungen kein Platz ist. Tatsächlich haben alle bis dato vorgestellten Systeme dieses Problem. Obwohl er tolerant für andere Auffassungen war, neigte Carnap dazu, die theoretische Bedeutung von Universalaussagen herunter zu spielen. Hintikka nahm das Problem der Universalaussagen an. Seine grundlegende Idee war, Bayesische Bedingungskonstrukte auf Carnaps C-Systeme mit einem einheitlichen λ anzuwenden, und zwar unter Verwendung einer bestimmten vorangehenden Verteilung über Universalaussagen, die den Parameter α enthalten. Die Systeme, die zum resultierenden α-λ-Kontinuum gehören, besitzen für den jeweiligen Fall die Bestätigungs- und Konvergenzeigenschaften und ferner die gewünschte Eigenschaft der universalen Bestätigung. Die Wahrscheinlichkeit, noch nicht falsifiziert zu sein steigt also mit jeder weiteren Instanz von ihnen. Darüber hinaus erfüllen sie die Universalkonvergenz: p(HR/en) nähert sich dem Wert 1 für ein wachsendes n, solange nur ‚rot‘ weiter erscheint (wobei HR die Universalaussage anzeigt, dass auf lange Sicht nur ‚rot‘ erscheinen wird). Für den wachsenden Parameter α ist die Universalbestätigung kleiner und die Universalkonvergenz langsamer. Tatsächlich haben Systeme, die auf einer beliebigen vorangehenden Verteilung und auf C-Systemen mit einem beliebigen λ, hier H-Systeme genannt, beruhen, schon die allgemeinen Eigenschaften der instanziellen (fallbezogenen) und universalen Bestätigung und Konvergenz. Die Unterklasse von H-Systemen, die auf einer beliebigen vorangehenden Verteilung und auf C-Systemen mit λ als proportionalem Wert zu der entsprechenden Anzahl möglicher Ergebnisse korrespondieren, ist besonders interessant. Denn diese Unterklasse scheint mit einer Klasse von Systemen koextensiv zu sein, die von Hintikka und Niiniluoto eingeführt wurde und die sich sehr von H-Systemen unterscheidet, weil sie Prinzipien und Parameter verwendet, die nur mit finiten Ergebnissequenzen in Beziehung stehen. Es gibt auch noch eine plausible und ‚nicht mehr gekennzeichnete‘ Reformulierung der H-Systeme, die auf den sehr interessanten Fall einer unbekannten, abzählbaren Anzahl möglicher Ergebnisse ausgedehnt werden können. Stellt man die Entfernung der Kennzeichnung als austauschbare Abtrennungen oder Abteilungen dar, so hat Zabell diese Fälle dahingehend untersucht, dass sie grundsätzlich zu einer Klasse von Systemen mit drei Parametern hinführen. 6. Anwendungen Das Carnap-Hintikka-Programm für die Bestätigungstheorie, dass auch als induktive Wahrscheinlichkeitstheorie bezeichnet wird, ist in vielen Bereichen anwendbar. Systeme induktiver Wahrscheinlichkeit wurden zunächst zur Erklärung der Bestätigung als wachsende Wahrscheinlichkeit entwickelt. Man könnte sogar einen quantitativen Bestätigungsgrad definieren, nämlich als die Differenz oder Ratio einer nachträglichen zur ursprünglichen oder vorangehenden Wahrscheinlichkeit. Es gibt aber noch andere interessante Anwendungsarten. Carnap und Stegmüller betonten, dass diese Systeme für die Entscheidungsfindung benutzt werden können, und Skyrms wandte sie auf die Spieltheorie an (siehe Entscheidungs- und Spieltheorie). Costantini et al. verwenden sie in rationalen Rekonstruktionen elementarer Partikelstatistiken. Festa schlägt zahlreiche Gebiete der empirischen Wissenschaften 177
Bevölkerung und Ethik
vor, wo optimale induktive Systeme verwendet werden können. Schlussendlich setzen Hintikka, Hilpinen und Pietarinen Systeme induktiver Wahrscheinlichkeit für Universalhypothesen ein, um Akzeptanzregeln zu formulieren, und Niiniluoto verwendet diese Systeme zur Einschätzung ihres Grades an Wirklichkeitsnähe. Siehe auch: Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der; Induktiver Schluss; Statistik; Wahrscheinlichkeit, Interpretation der Anmerkungen und weitere Lektüre: Hilpinen, R. (1968): ‚Rules of Acceptance and Inductive Logic‘, Amsterdam: North Holland. (Dieses Buch analysiert im Detail Hintikkas zweidimensionales Kontinuum und die entsprechenden Akzeptanzregeln.) Kuipers, T. (1978): ‚Studies in Inductive Probability and Rational Expectation‘, Dordrecht: Reidel. (Studie der Systeme von Carnap, Hintikka und Niiniluoto, sowie ihre Verallgemeinerung ganz im Detail. Bezieht sich auch auf die entsprechenden Arbeiten von Carnap und Hintikka, sowie auf die Arbeit von Hilpinen, Pietarinen und Stegmüller.) THEO A.F. KUIPERS
Bestrafung
Siehe: Verbrechen und Strafe
Bevölkerung und Ethik
Ethische Fragen zur Bevölkerungspolitik und der Frage der optimalen Größe einer Bevölkerung sind, allgemein gesagt, ein modernes Phänomen. Obwohl das erste göttliche Gebot der Bibel lautet, dass man ‚fruchtbar sein und sich vermehren‘ solle, ergab sich ein systematisches theoretisches Interesse an den normativen Aspekten der Demographie weitgehend erst im Zusammenhang mit jüngeren Entwicklungen, die der Menschheit die Möglichkeit beispielloser Kontrolle über die Größe einer Bevölkerung gab, vor allem durch Einsatz medizinischer und wirtschaftlicher Mittel. Sobald aber die Bestimmung der Anzahl Menschen in der Welt nicht mehr nur eine Sache vorgegebener Tatsächlichkeit ist, sondern vielmehr eine Frage der individuellen und sozialen Wahlentscheidung, wird sie zum Gegenstand moralischer Bewertung. Die Anwendung moderner ethischer Prinzipien auf Fragen der Bevölkerungspolitik ist allerdings von Widersprüchen wie verhext. Das Prinzip der Nützlichkeit, das Ideal der Selbstvervollkommnung, die Idee eines Vertrages als der Grundlage für die politische Legitimität und die soziale Gerechtigkeit, der Begriff der Naturoder Menschenrechte, und das Prinzips der Menschenwürde bzw. des Respekts vor einem Menschen – all dies setzt die Existenz von Menschen voraus, deren Interessen, Wohlergehen, Rechte und Würde geschützt und gefördert werden. Die Bevölkerungspolitik handelt aber von der Erschaffung von Menschen und der Entscheidung über ihre Anzahl. Sie bezieht sich somit auf die Schaffung der Bedingungen der Anwendung ethischer Prinzipien. Und es muss sich nicht einmal um ihre Anzahl handeln; Fortschritte in der Genetik und in den Reproduktionstechniken werden uns vielleicht schon bald die menschliche Kontrolle darüber bescheren, was für Menschen es geben soll und in welchem Umfange es sie geben soll. Siehe auch: Genetik und Ethik, Kantische Ethik; Umweltethik; Utilitarismus; Vertragstheorie; Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber; DAVID HEYD 178
Beweistheorie
Beweistheorie
Die Beweistheorie ist ein Zweig der mathematischen Logik, die von David Hilbert um das Jahr 1920 begründet wurde, um das sog. ‚Hilbert-Programm‘ durchzuführen. Die Probleme, die mit diesem Programm behandelt werde sollten, waren in gewissem Sinne bereits zuvor um die Jahrhundertwende durch Hilberts berühmte Ansprache vor dem Ersten Mathematiker-Kongress in Paris angesprochen worden. Diese waren wiederum eng mit den mengentheoretischen Grundlagen der Analysis, die zuvor von Cantor und Dedekind erforscht worden waren, verknüpft, und zwar speziell mit den Schwierigkeiten im Umgang mit dem uneingeschränkten Begriff des Systems oder der Menge. Sie standen ferner auch in Beziehung zu dem philosophischen Konflikt mit Kronecker über das Wesen der Mathematik selbst. Zu dieser Zeit war die zentrale Frage für Hilbert jene nach der ‚Konsistenz der Mengen‘ im Cantorschen Sinne. Hilbert nahm an, dass die Existenz konsistenter Mengen, beispielsweise die Menge aller reellen Zahlen, durch den Beweis der Konsistenz eines geeigneten und charakteristischen Axiomensystems gesichert werden könne. Er sagte aber nicht deutlich, wie solche Beweise modelltheoretisch erbracht werden könnten. Vier Jahre später wich Hilbert radikal von dieser Richtung ab und schlug eine neuartige Form des Umgangs mit dem Konsistenzproblem von Theorien vor. Dieser Ansatz erfordert vor allem eine strikte Formalisierung der Mathematik im Verein mit der Logik; dann würden die syntaktischen Figuren des gemeinsamen Formalismus als mathematische Objekte betrachtet werden. Schließlich würden mathematische Argumente verwendet werden um zu zeigen, dass widersprüchliche Formeln nicht aus den logischen Regeln ableitbar seien. Diese mehrgleisige Vorgehensweise zur Entwicklung wesentlicher Teile der Mathematik in formalen Theorien (der Mengentheorie, der Arithmetik zweiter Ordnung, der Theorie der finiten Typen und noch weiteren) und des Beweises ihrer Konsistenz (oder der Konsistenz bedeutsamer Teiltheorien) wurde in Vorlesungen präzisiert, die Hilbert ab 1917 hielt, und systematisch in den 1920er Jahren zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern einschließlich Paul Bernays, Wilhelm Ackermann und John von Neumann. Insbesondere wurde die Formalisierbarkeit der Analysis im Rahmen einer Theorie zweiter Ordnung von Hilbert bereits in den frühen Vorlesungen verifiziert. So war es möglich, sich auf den zweiten Strang des Ansatzes zu konzentrieren, nämlich auf die Bestimmung der Konsistenz der ‚Arithmetik‘ (d.h. der Zahlentheorie zweiter Ordnung und der Mengenlehre) mit elementaren mathematischen, und das heißt ‚finitistischen‘ Mitteln. Dieser Teil der Aufgabe erwies sich als wesentlich widerspenstiger als erwartet, und man erreichte nur beschränkte Ergebnisse. Dass diese Einschränkungen unvermeidlich waren, erklärte sich 1931 durch Gödels Theoreme. Tatsächlich widerlegten diese den Versuch zur Feststellung einer jeglichen Konsistenz auf finitistischer Basis, als man realisierte, dass finitistische Überlegungen nur in einem kleinen Fragment der Arithmetik erster Ordnung zum Zuge kämen. Dies führte zur Formulierung eines allgemeinen reduktiven Programms. Gentzen und Gödel lieferten die ersten Beiträge zu diesem Programm, indem sie die Konsistenz der klassischen Arithmetik erster Ordnung (sog. ‚Peano-Arithmetik‘) gegenüber der sog. ‚intuitionistischen Arithmetik‘ (‚Heyting-Arithmetik‘) feststellten. Im Jahre 1936 bewies Gentzen die Konsistenz der Peano-Arithmetik im Verhältnis zu einer quantorenfreien Theorie der Arithmetik, die auch die transfinite Re179
Bewusstsein
kursion bis zur ersten Epsilon-Zahl ε0 enthielt. In seinen Yale-Vorlesungen aus dem Jahre 1941 bewies Gödel die Konsistenz derselben Theorie im Verhältnis zu einer Theorie der berechenbare Funktionale finiter Typen. Diese beiden grundlegenden Theoreme erwiesen sich als die wichtigsten für die nachfolgende beweistheoretische Arbeit. Derzeit ist bekannt, wie man im Stile von Gentzen starke Untersysteme der Arithmetik zweiter Ordnung und der Mengentheorie entwickelt. Der erste Zweig der beweistheoretischen Untersuchungen, d.h. die aktuelle formale Entwicklung von Teilen der Mathematik wurde ebenfalls verfolgt und erbrachte ein überraschendes Ergebnis: der größte Teil der klassischen Analyse kann in Theorien entwickelt werden, die gegenüber (Fragmenten) der Arithmetik erster Ordnung erhaltend wirken. Siehe auch: Hilberts Programm und Formalismus WILFRIED SIEG
Bewusstsein
Der Ausdruck ‚Bewusstsein‘ wurde von den Philosophen hauptsächlich für vier Gegenstände verwendet: Erkenntnis im Allgemeinen, Intentionalität, Introspektion (und jeweils das spezifische Wissen, das dabei erzeugt wird) und phänomenale Erfahrung. Hier diskutieren wir die letzten beiden Verwendungsweisen. Etwas innerhalb des Geistes einer Person ist genau für den Fall ‚introspektiv bewusst‘, dass jemand ‚in sich hereinschaut‘ (oder sich sicher ist, dies gerade zu tun). Die Introspektion stellen sich viele so vor, dass sie einer Person vorrangiges Wissen über ihr eigenes mentales Leben liefert. Eine Erfahrung oder der Geist eines anderen ist genau dann ‚phänomenal bewusst‘, wenn es etwas gibt, das ‚auch so ist‘, und er das erfährt. Die klarsten Beispiele hierfür sind: Wahrnehmungserfahrungen wie z.B. schmecken und sehen; Erfahrungen von Körperempfindungen wie z.B. Schmerzen, Kitzeln oder Jucken; Vorstellungserfahrungen wie z.B. jene von den eigenen Handlungen oder Wahrnehmungen; und Gedankenströme, wie z.B. in der Erfahrung des Denkens ‚in Worten‘ oder ‚in Bildern‘. Introspektion und Phänomenalität scheinen unabhängig voneinander zu sein, oder dissoziierbar; dies ist allerdings umstritten. Phänomenal bewusste Erfahrungen werden als nicht-physikalisch angesehen, oder zumindest als unerklärbar im Verhältnis zu anderen physischen Entitäten. Viele solcher Argumente vermuten, dass phänomenale Erfahrung ‚subjektiv‘ sei, dass es für das Verstehen von Erfahrungen notwendig ist, sich ihnen zu unterziehen (oder ihren Bestandteilen). Die Behauptung lautet, dass eine jede objektive physikalische Wissenschaft hier eine Erklärungslücke aufwiese und nicht in der Lage ist zu sagen, warum es überhaupt phänomenale Erfahrung gibt. Hieraus folgern einige Philosophen einen ‚Dualismus‘ anstelle eines ‚Physikalismus‘ in Betreff des Bewusstseins und kommen zu der Auffassung, dass einige Tatsachen des Bewusstseins nicht vollständig durch physikalische Umstände herbeigeführt werden. Diese dualistische Schlussfolgerung bedroht Ansprüche, nach denen das phänomenale Bewusstsein kausale Kräfte hat, und dass von anderen als einem selbst wissbar ist. Überraschenderweise kann als Reaktion darauf viel zugunsten eines ‚Eliminativismus‘ über phänomenales Bewusstsein gesagt werden, d.h. die Leugnung eines jeglichen Bestehens phänomenaler Gegenstände und Eigenschaften der Erfahrung. Die meisten, wenn auch nicht alle Philosophen leugnen, dass es phänomenale Gegenstände gibt, d.h. mentale Bilder mit Farben und Formen, Schmerzgegenstände die hämmern oder brennen, innere Sprache mit Tonhöhe und Rhythmus etc. Vielmehr scheinen die Erfahrungen einfach solche Gegenstände nahe zu legen. Im Kern 180
Bewusstsein
betrifft die Uneinigkeit die Frage, ob diese Erfahrungen phänomenale Eigenschaften, d.h. ‚Qualia‘, aufweisen, und welche Aspekte der Erfahrungen für ihre Träger ähnlicher Natur sind. Einige Philosophen leugnen, dass es phänomenale Eigenschaften gibt, speziell, wenn diese als intrinsisch und unmittelbar vollständig introspektiv einsehbar, unaussprechlich, subjektiv oder anderswie im Rahmen physikalischer Theorien potenziell schwierig erklärbar gedacht werden. Üblicher ist dagegen die Auffassung unter Philosophen, Qualia der Erfahrung zwar anzuerkennen, aber entweder mittels eines engeren Begriffs der Qualia, oder bei einem breit konzipierten Begriff der Qualia mittels Verteidigung des Dualismus. Introspektives Bewusstsein schien bislang weniger rätselhaft zu sein als phänomenales Bewusstsein. Die meisten Denker sind sich darin einig, dass die Introspektion keineswegs vollständig möglich ist und auch keineswegs unfehlbar. Die vielleicht vertrauteste Darstellung der Introspektion ist jene, dass jemand zusätzlich zu den ‚auswärts‘ wahrgenommenen, nicht-mentalen Entitäten in seiner Umgebung oder seinem Körper auch ‚inwendig‘ seine mentalen Entitäten sieht, wie wenn z.B. jemand visuelle Bilder mit seinem ‚geistigen Auge‘ sieht. Diese Auffassung ist zahlreichen ernsthaften Einwänden ausgesetzt. Die mit dem introspektiven Bewusstsein rivalisierenden Auffassungen gliedern sich in drei Kategorien, nach denen sie den introspektiven Zugang behandeln: (1) als erkenntnistheoretisch lockerer oder weniger direkt als die inneren Wahrnehmungen, (2) als fester oder direkter, oder (3) als grundlegend nicht-erkenntnistheoretischer oder nicht-repräsentationaler Natur. Theorien der Kategorie (1) erklären die Introspektion immer als retrospektiv, oder als typischerweise auf gegen sich selbst gerichteten, theoretischen Schlüssen aufbauend. Rivalen der Kategorie (2) meinen, dass ein introspektiv bewusster mentaler Status sich reflexiv selbst repräsentiert, oder sie behandeln die Introspektion als etwas, dass überhaupt keinen Zugangsmechanismus erfordert. Die Theorien der Kategorie (3) behandeln einen mentalen Zustand als introspektiv bewusst, wenn er als solcher für die linguistische oder rationale Verarbeitung zugänglich ist, selbst wenn dies nicht selbst wahrgenommen oder auf andere Weise darüber nachgedacht wird. Siehe auch: Dualismus; Farben und Qualia; Materialismus in der Philosophie des Geistes; Phänomenologische Bewegung; Qualia; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes ERIC LORMAND
Bezeichner
Siehe: Eigennamen
Bezugsrahmen
siehe: Geltungsbereich
Bildliche Darstellung Siehe: Abbildung
Bioethik
Während die Bioethik als ein Teil der angewandten Ethik üblicherweise mit der medizinischen Ethik identifiziert wird, ist sie im weiteren Sinne aber das Studium der moralischen, sozialen und politischen Probleme, die sich aus der Biologie und allgemein den Humanwissenschaften ergeben und entweder direkt oder indirekt mit dem menschlichen Wohlergehen zu tun haben. So werden die Umwelt- und die Tierethik manchmal auch zur Bioethik gerechnet. In dieser Hinsicht kann die Bioethik 181
Blackstone, William (1723–1780)
mehr betreffen als die medizinische/biomedizinische Ethik, aber auch als das Studium der moralischen Probleme, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Medizintechnik entstehen. Die aufeinander bezogenen Fragen, wer oder was einen moralischen Status hat, oder was eine bestimmte Behandlungsart eines Geschöpfes gegenüber eines anderen rechtfertigt, und ob, sofern ein Geschöpf einen moralischen Status hat, es diesen verlieren kann, haben sich als besonders wichtige Frage in diesem weiteren Sinne von Bioethik erwiesen. Die philosophische Aufgabe der Prüfung von Argumenten auf ihre Stimmigkeit erweist sich für Entscheidungen solcher Fragen als essentiell. Als ein Teil der angewandten Ethik, steht die Bioethik vor der Schwierigkeit, (1) dass wir in unseren moralischen Überzeugungen und Prinzipien hinsichtlich vieler Fälle, die in der Bioethik behandelt werden, uneinig sind, (2) wir nicht in den moralischen Theorien übereinstimmen, in denen unsere moralischen Prinzipien verankert sind und durch die wir sie zu rechtfertigen suchen, und (3) wir nicht in den Prüfungen betreffend die Angemessenheit übereinstimmen, durch die die Unstimmigkeiten auf der Ebene der Moraltheorie gelöst werden sollen. Es scheint keinen Weg zu geben, um zwischen den widerstreitenden Prinzipien und Theorien entscheiden zu können. Siehe auch: Klonen; Technologie und Ethik R.G. FREY
Biologie, Philosophie der
Siehe: Arten; Evolution, Theorie der; Genetik; Taxonomie; Vitalismus
Blackstone, William (1723–1780)
Blackstone brachte seine erste systematische Darstellung des englischen Rechts als eine schriftliche Sammlung von Prinzipien heraus. Sein Unternehmen gründete auf der Annahme, dass die detaillierten Regeln des englischen Rechts das Naturrecht verkörpern und durchsetzen. Blackstones Anrufung des Naturrechts wurde häufig mehr als dekorativ, und weniger als substanziell betrachtet. Für ein solches Urteil gibt es allerdings keinen Grund. An Blackstone erinnert man sich inzwischen genauso wegen Benthams Angriffen gegen ihn, als wegen seiner eigenen Beiträge. Siehe auch: Rechtsphilosophie N.E. SIMMONDS
Bloch, Ernst Simon (1885–1977)
Bloch war einer der innovativsten marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine metaphysischen und ontologischen Fragestellungen, kombiniert mit einem zurückhaltenden Utopismus, brachten ihn in Distanz zu den Hauptströmungen des marxistischen Denkens. Er sympathisierte mit der klassischen philosophischen Suche nach fundamentalen Kategorien, unterschied aber die schon früh statischen, fixierten und geschlossenen Systeme von seinem eigenen, offenen System, in dem er das Universum als einen sich verändernden und unvollendeten Prozess charakterisierte. Ferner bringt sein spezifischer Materialismus die Ablehnung einer radikalen Trennung des Menschlichen vom Natürlichen mit sich, worin er sich ebenfalls von weiten Teilen des westlichen Marxismus des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Seine Gültigkeitsprüfung des Utopismus gründete sich auf eine bestimmte Erkenntnistheorie, die sich auf Prozesse konzentrierte, wobei ‚neues‘ Material im Bewusstsein entsteht. Die sich daraus ergebende Sozialtheorie war sensibel gegenüber den vielen 182
Bodin, Jean (1529/30–1596)
und vielfältigen Wegen, auf denen der utopische Impuls auftaucht, wie beispielsweise in ihrer Analyse der utopischen Dimension der Religion. VINCENT GEOGHEGAN
Bobbio, Norberto (1909–)
Als der herausragendste zeitgenössische Denker für die Rechts- und die Politische Theorie in Italien begründete Norberto Bobbio in den 1940er Jahren den italienischen analytischen Rechtspositivismus, in dem er versuchte, den logischen Positivismus und Kelsens Rechtspositivismus zu mischen. Als politischer Denker verteidigt er die Synthese von Liberalismus und Sozialismus, wobei er sich speziell auf die Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte in demokratischen Gesellschaften konzentriert. Siehe auch: Demokratie; Gesetz und Moral; Rechtsphilosophie; Liberalismus PATRIZIA BORSELLINO
Bodin, Jean (1529/30–1596)
Jean Bodin war einer der großen französischen Universalgelehrten der Spätrenaissance. Trotz politischer Störungen leistete er größere Beiträge zur Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie, der Wirtschaftstheorie, dem Öffentlichen Recht und der vergleichenden Staatstheorie, der Soziologie der Institutionen, sowie der Religionsphilosophie, der vergleichenden Religionswissenschaften und der Naturphilosophie. Zu seinen berühmtesten Leistungen zählen die Theorie der Souveränität, die eine neue Dimension in das Studium des Öffentlichen Rechts brachte, und seine neuplatonische Religion, die eine neue Perspektive auf den Universalismus und die religiöse Toleranz eröffnet. Viele dieser intellektuellen Positionen waren darüber hinaus zumindest teilweise Antworten auf die großen politischen Fragen seiner Zeit. Gegen die Lehren einer Volkssouveränität und dem Recht auf Widerstand, die im Verlauf der Religionskriege aufkamen, suchte Bodin zu zeigen, dass der König von Frankreich ein absoluter Herrscher war. Gegen die weit verbreitete Korruption und Laxheit, die die Monarchie schwächte und untergrub, trat er für eine Verwaltungsreform ein. Und gegen die Partei, die auf den König zwecks Einführung religiöser Einförmigkeit Druck ausübte, unterstützte er vorsichtig die religiöse Toleranz. In allen diesen Dingen half Bodins Denken bei der Gestaltung der Politik der frühen BourbonenDynastie, die mit Henri IV an die Macht kam. Siehe auch: Absolutismus; Humanismus; Neuplatonismus; Renaissance-Philosophie; Souveränität; Toleranz JULIAN H. FRANKLIN
Böhme, Jakob (1575–1624)
Böhme war ein Lutherischer Mystiker und Pantheist. Er war der Auffassung, dass Gott der Abgrund ist, der der Grund aller Dinge ist. Der Wille dieses Abgrundes, sich selbst kennen zu lernen, erzeugt einen Prozess, der die Natur hervorbringt, die deshalb das Bild Gottes ist. Das Leben ist gekennzeichnet durch einen zweifachen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen; nur durch das Annehmen der Liebe Christi kann die Einheit wieder gewonnen werden. Böhme wurde von verschiedenen Autoren wie z.B. Law, Newton, Goethe und Hegel hoch geschätzt. Siehe auch: Hegel, G.W.F.; Neuplatonismus; Spinoza, B. JEAN-LOUP SEBAN 183
Bösen, Problem des
Bösen, Problem des Einführung In dem Zusammenhang dieses Beitrages wird dem Ausdruck ‚das Böse‘ der weitest mögliche Anwendungsbereich gegeben, um dadurch alle negativen Seiten des Lebens zu bedeuten. Innerhalb dieses Anwendungsbereiches unterscheiden Philosophen und Theologen das ‚moralisch Böse‘ wie z.B. Krieg, Verrat und Grausamkeit, vom ‚natürlichen Bösen‘ wie z.B. Erdbeben, Fluten und Krankheiten. Die Existenz des Bösen in diesem weiten Sinne ist offenkundig, und sie produziert eine Vielzahl von Problemen, von denen das augenfälligste ist, wie man mit seinem Leben praktisch zurecht kommen kann, sowie das existenzielle, welchen Sinn das Leben haben kann. Die philosophische Diskussion des Bösen hat sich auf zwei Schwierigkeiten konzentriert, die im Zusammenhang mit dem biblischen Theismus auftauchen. Erstens fragt sich, ob die Existenz des Bösen den biblischen Theismus inkonsistent werden lässt. Ist es für einen allmächtigen, allwissenden und vollkommen guten Gott logisch möglich, eine Welt zu erschaffen, die Böses enthält? Folgt man Leibniz, ist eine klassische Antwort hieraus, dass solch ein Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen würde, dass aber eine solche Welt das Böse als ein unverzichtbares Element enthält. Alternativ mag das Böse eine unvermeidliche Konsequenz des Segens des freien Willens sein, oder es mag Teil eines göttlichen Planes sein, um sicherzustellen, dass alle Seelen die Vollendung erreichen. Aber selbst wenn wir die logische Konsistenz des biblischen Theismus annehmen, besteht die zweite Schwierigkeit für ihn in der Frage, ob das Böse (beispielsweise in der Form eines offenkundig sinnlosen Leidens) nicht dennoch ein Beweis dafür ist, dass der biblische Gott womöglich gar nicht existiert. Eine häufige theistische Antwort hierauf lautet, dass der Eindruck offenkundiger Sinnlosigkeit des Bösen vielleicht nur das Ergebnis beschränkter kognitiver Kräfte ist; die Dinge würden uns genauso erscheinen, wenn sie einen Zweck hätten, also bezieht sich der Einwand auf keinen legitimen Beweis. 1. Probleme des Bösen 2. Logisch notwendige Verbindungen mit höheren Gütern 3. Verteidigungen des freien Willens 4. Göttliche Güte gegenüber den Geschöpfen 5. Methodologische Bemerkungen 6. Das Böse und das Beweisproblem 1. Probleme des Bösen Das so genannten ‚logische‘ Problem des Bösen beruht auf dem Einwand, dass die beiden folgenden Behauptungen des biblischen Theismus: (1) Gott existiert, und er ist wesentlich allmächtig, allwissend und vollkommen gut; und (2) das Böse existiert in Kombination mit den folgenden und plausiblen Analysen der Attribute: (P1) Ein vollkommen gutes Wesen wird das Böse immer eliminieren, so weit ihm dies möglich ist; 184
Bösen, Problem des
(P2) Ein allwissendes Wesen wird alles über das Böse wissen; und (P3) Es gibt keine Handlungsbeschränkungen für ein allmächtiges Wesen ein inkonsistentes Satz-Quintett bilden, so dass die Verbindung von je vieren davon immer die Negation des jeweils fünften mit sich bringt; am auffallendsten folgt aus der Verbindung von (P1)–(P3) mit entweder (1) oder (2), dass der jeweils verbleibende Satz falsch sein muss. Ein solches Argument kann aporetisch aufgefasst werden, d.h. als eine Herausforderung zur Formulierung subtilerer Alternativen zu (P1)–(P3). Gewöhnlich ist es jedoch (in der analytischen Religionsphilosophie seit den 1950er Jahren) ‚untheologisch‘ als ein Argument gegen die Existenz Gottes vorgebracht worden (siehe Atheismus; Naturtheologie). Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen dem abstrakten Problem, das das Böse in (2) als allgemeine Bezugnahme auf irgendein Böses auffasst (z.B. der Schmerz eines kleinen Niednagels), und das konkrete Problem, das mit (2) die Abkürzung für die Existenz von Bösem in dem Umfang und der Größe und seiner tatsächlichen Verbreitung in der Welt meint, wie es tatsächlich gegeben ist. Während das abstrakte Problem eine Frage des begrifflichen Interesses aufwirft, ist es doch die konkrete Fassung dieser Frage, die ihr den Biss gibt. Eine verbreitete Antwort leugnet (P3) und behauptet auf verschiedene Weise, dass Gott bestimmten natürlichen Notwendigen ebenfalls unterworfen sei (wie Platons Demiurg), oder dass er seinen bösen Zwilling nicht besiegen könne (wie im manichäischen Dualismus), oder dass ihm gar die Kraft fehle, um überhaupt jemanden zu etwas zu zwingen (siehe Prozesstheismus). Einige weisen (P2) zurück, weil sie beobachten, dass viel Böses aus der freien Wahl erwächst, während künftige Möglichkeiten prinzipiell nicht gewusst werden können (siehe Allwissenheit). (P1) ist am offensichtlichsten angreifbar, denn er läuft der allgemeinen Intuition zuwider, dass Unwissenheit und Schwäche entschuldbar sind, weshalb er besser ersetzt werden sollte durch: (P4) Es ist einem allwissenden und allmächtigen Wesen logisch unmöglich, einen mit der vollkommenen Güte vereinbaren Grund dafür zu haben, das Böse zu erlauben oder hervorzubringen. Widerlegungsversuche bemühen sich Gegenbeispiele zu (P4) zu finden, indem sie logisch mögliche Gründe für die Hervorbringung des Bösen ausfindig machen, die sogar einem allwissenden, allmächtigen Gott zur Verfügung stehen. 2. Logisch notwendige Verbindungen mit höheren Gütern Da die Allmacht nicht an kausal notwendige Verbindungen gebunden ist, liegt es nahe, unter den Formen des Bösen nach Begründungen für logisch notwendige Verbindungen Ausschau zu halten, die diese zum Guten haben könnten. Weil dieses schrittweise Vorgehen einer Korrelation bestimmter Arten des Guten mit unterschiedlichen Arten des Bösen (beispielsweise Mut mit Gefahr, Vergebung mit Unrecht etc.) ins Endlose ausufern könnte, scheint es geratener, ein einziges, umfassendes Gutes auszumachen, dass logisch alles Böse unter sich zusammenfasst. Eine hierin viel versprechende Strategie ist von Leibniz inspiriert und entwickelt seine ‚beste aller möglichen Welten‘-Theodizee (im Folgenden: ‚bamW‘) zu einer zeitgenössischen Mögliche-Welten-Semantik weiter (siehe Leibniz, G.W., § 3). Wenn eine mögliche Welt ein maximal konsistenter Sachverhalt ist, dann ist jedes von
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Bösen, Problem des
unendlich vielen konstituierenden Details wesentlich für die Welt, deren Teil es ist. Angenommen (P5), dass mögliche Welten als Ganzes Werte aufweisen, (P6) die in eine hierarchische Reihenfolge gebracht werden können, und (P7), dass diese Werteskala ein Maximum aufweist, (P8) das von ausschließlich einer Welt besetzt ist, so kann man die göttliche Schöpfung als die Verwirklichung einer möglichen Welt interpretieren und daraus folgern (P9), dass ein wesentlich allmächtiger, allwissender und vollkommen guter Gott auf jeden Fall die beste von ihnen verwirklichen würde. Unter der Voraussetzung der weiteren, wenn auch strittigen Behauptung: (P10) Die bamW enthält Verwirklichungen des Bösen als logisch unverzichtbare Bestandteile folgt daraus, dass der Wunsch zur Schaffung einer bamW als Grund mit der vollkommenen Güte Gottes einerseits und damit, dass er nicht alle Instanzen des Bösen verhindert oder eliminiert, kompossibel ist. (P10) widerspricht unserer prima-facie-Intuition, dass die bamW durchgehend gut sein sollte. Verteidiger der bamW unterscheiden zwei Wege, auf denen Teilwerte entsprechenden Gesamtwerten zugeordnet werden können. Der eine, der auch von den Kritikern vorausgesetzt wird, verfährt einfach additiv: negative und positive Teilwerte heben sich einfach gegenseitig auf, und der Einschluss irgendeines negativen Teilwertes mindert unvermeidlich den Gesamtwert. Im Gegensatz dazu können Teilwerte den Gesamtwerten im Wege von Beziehungen der organischen Einheit zugeordnet werden, und zwar so, dass der positive Aspekt den negativen Aspekt eines Teilwertes niederringt (beispielsweise ‚besiegt‘ die Schönheit der Gesamtgestalt eines Gemäldes von Monet die eventuelle Hässlichkeit einiger Farbflecken). (P10) hat die Niederlage des Bösen innerhalb des Kontextes der möglichen Gesamtwelt im Sinn. Leibniz dachte, er könnte die Notwendigkeit von (P10) aus der Grundlage seiner apriorischen Argumente für die Notwendigkeit von (1) und (P9) beweisen; er glaubte, dass (P10) aus dem Umstand folge, dass Gott diese Welt verwirklicht habe. (P10) scheint jedoch in jene Klasse von Aussagen zu fallen, die logisch ausschließlich dann möglich sind, wenn sie logisch notwendig sind. Diejenigen, die (1) für unstrittig halten, können dann nur noch behaupten, dass (P10) epistemisch möglich sei. Da der Atheist bezüglich (P10) in derselben misslichen Lage wie die Theologen ist, würde diese epistemische Verteidigung ceteris paribus ausreichen, um vom Theisten die Beweislast abzuwenden, die ihm durch das Argument vom Bösen zugemutet wurde. Dieser bamW-Ansatz enthält jedoch zahlreiche weitere bestreitbare Annahmen der Wertetheorie. Augustins Vorstellung (contra P8), dass viele alternative Welten Maximalwerte aufweisen, macht sie nicht unplausibel. Thomas von Aquins Beharren (contra P7) darauf, dass für jede Gruppe von Geschöpfen auch eine bessere Gruppe existiert, wäre ebenfalls unschädlich, wenn jede mögliche Welt oberhalb einer gewissen Marke auf der Werteskala auch Böses enthielte. Das Verwerfen von (P5) und (P6) wäre jedoch fatal für alle bamW-Ansätze. Es wurde auch in Frage gestellt, ob unsere vergleichenden Bewertungen von geringfügigen Sachverhalten (beispielsweise die Freude eines Herrn Schmidt an einer Symphonie sei besser als seine Erfahrung qualvoller Schmerzen) ein guter Beweis dafür ist, dass die Werte größtmöglicher Sachverhalte eine Hierarchie bilden. Noch grundsätzlicher wur186
Bösen, Problem des
de ferner (contra P5) eingewandt, dass Sachverhalte gar nicht intrinsisch gut oder schlecht seien, obwohl sie für bestimmte Personen oder Projekte gut oder schlecht sein können, und dass sie folglich unterschiedliche moralische Bewertungen durch unterschiedliche Akteure zulassen. Anti-Konsequenzialisten in der Ethik stellen ferner in Frage, ob (P9) überhaupt aus (P5)–(P8) folge (siehe Konsequenzialismus). Deontologen würden es den Menschen dagegen zugestehen, dass sie den Wert von Sachverhalten willkürlich erhöhen (siehe Deontologische Ethik). Könnte die Erschaffung einer bamW ein Grund zum Zulassen von Leiden und der Erniedrigung von relativ Unschuldigen sein, der mit der vollkommenen Güte kompossibel ist? Selbst wenn eine solche Werte-Maximierung mit der vollkommenen Güte kompatibel ist, so ist dies doch nicht offensichtlich erforderlich. Beispielsweise wird die göttliche Güte oft als eine Gnade interpretiert, was eine Neigung ist, die die Gunst unabhängig vom Verdienst verteilt. Schließlich bringt dieser modifizierte Ansatz nach Leibniz einen göttlichen Determinismus mit sich, weil Gott durch die Wahl, welche der unendlich vielen, vollständig determinierten möglichen Welten verwirklicht werden soll, über jedes einzelne Detail entscheiden muss. Auch hiergegen wurden theologische Einwände erhoben, entweder weil dies mit Gott unvereinbar zu sein scheint, dass er Menschen für Handlungen verantwortlich macht, die er selbst bestimmt hat, oder weil dadurch zu wenig Distanz zwischen das Böse und die göttlichen Ziele gebracht wird. 3. Verteidigungen des freien Willens Die zuletzt erwähnten Einwände werden bereitwillig durch das andere traditionelle Hauptthema aufgegriffen, demzufolge einiges oder alles Böses aus der falschen oder bösen Wahl von freien Geschöpfen resultiert. Die Standpunkte des freien Willens behaupten: (A1) Der geschaffene freie Wille ist ein sehr hohes Gut, sei es an sich selbst oder als notwendiges Mittel zum Hauptzweck von Gottes Schöpfung; (A2) Gott kann seine Zwecke für und mit freien Geschöpfen nicht erfüllen ohne die Möglichkeit zu akzeptieren, dass manche von ihnen ihre Freiheit missbrauchen und damit das Böse in die Welt bringen. In klassischen Ausführungen dieser Verteidigung wird (A1) als ein Grund gedacht, der mit der vollkommenen Güte und der Schöpfung freier Geschöpfe kompossibel ist, während (A2) mit der Behauptung vereinbar ist, dass das Böse zur Vervollkommnung des Universums oder anderer göttlicher Zwecke nicht notwendig ist. Etwas Böses oder alles Böse ist nichts, was Gott verursacht oder tut, sondern etwas, was er zulässt, d.h. ein (vielleicht) bekannter, wenn auch nicht beabsichtigter Nebeneffekt seiner Ziele. Die Einführung des Bösen in die Welt wird durch die Lehre vom Sündenfall erklärt, demzufolge Gott menschliche und engelhafte Akteure in natürlich bester Verfassung erschuf und sie in einer utopischen Umwelt ansiedelte. Gott wollte, dass sie selbst frei entscheiden, was richtig oder gut ist, aber einige Engel und die ursprünglichen Menschen Adam und Eva wählten das Falsche und verwirklichten damit die Möglichkeit des Bösen. Die zeitgenössische, erneute Hinwendung zum Thema (die mit Plantinga beginnt) hat sich von den Verteidigungen des freien Willens abgewandt, die auf den Prinzipien des ‚doppelten Effekts‘ und des ‚Tuns und Erlaubens‘ aufbauen, d.h. dem Prinzip, dass Akteure nicht in demselben Maße für die ihnen bekannten, aber nicht 187
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beabsichtigten Nebeneffekte ihrer Handlungen verantwortlich sind, wie sie für die gewählten Mittel und Ziele sind – dass sie also nicht im gleichen Maße dafür verantwortlich sind, was sie zulassen, wie für das, was sie tun – und sich stattdessen anderen zugewandt, die wieder mit Mögliche-Welten-Semantiken zusammenhängen (siehe Doppelten Effekts, Prinzip des). Gott erschafft die Welt, wie gesagt, durch Realisierung einer möglichen Welt, aber die Freiheit wird nun so aufgefasst, dass sie mit dem Determinismus unvereinbar ist, was zur Folge hat, dass Gott und die freien Geschöpfe in der Bestimmung derjenigen möglichen Welt zusammen arbeiten, die verwirklicht wird. Geschaffene Freiheit ‚distanziert‘ Gott nicht so sehr vom Bösen, sondern sie schränkt vielmehr ein, welche Welten Gott überhaupt schaffen kann. Wie schon beim bamW-Ansatz bewertet Gott mögliche Welten nach ihren allgemeinen Merkmalen, wobei (P5) und (P6) als wahr angenommen werden, nicht aber notwendig auch (P7) und (P8); nach diesem neuen Ansatz bewertet er jedoch jene, die eine Funktion der geschaffenen, inkompatibilistischen freien Wahl sind, beispielsweise eine sehr gute Welt mit der optimalen Balance zwischen geschaffenem moralischem Gutsein und moralischem Bösen. Zur Verteidigung von (A2) berufen sich sowohl die klassischen, als auch die Mögliche-Welten-Ansätze zunächst auf die Vorstellung, dass nicht einmal Gott die inkompatibilistisch-freie Wahl eines Anderen verursachen kann. Auf den Einwand, dass Gott sein Vorherwissen nur zur Verwirklichung von inkompatibilistisch-freien Geschöpfen nutzen sollte, die niemals sündigen, antworten Verteidiger des freien Willens, dass ein solches Vorherwissen nicht vorrangig in der Erklärungsreihenfolge von Gottes Schöpfungsentscheidungen ist. Auf den Einwand, dass Gott sein statistisch-mittleres Wissen darüber, was freie Geschöpfe unter bestimmten Umständen tun würden, einsetzen sollte, geben einige (besonders Plantinga 1974) zu, dass solche kontrafaktischen Aussagen über die Freiheit wahr sein können, erwidern aber, dass es logisch möglich sei, dass alle inkompatibilistisch-freien Geschöpfe ‚transweltlich verdorben‘ sind: unabhängig davon, welche Kombinationen von Individuen und Umständen Gott auch immer verwirklicht, würde dann jede dieser Kombinationen zumindest einmal vom rechten Weg abweichen, und es wäre somit logisch möglich, dass jede Welt, die soviel moralisch Gutes wie die aktuelle Welt enthält, ebenfalls auch mindestens so viel Böses wie diese aktuelle Welt enthält. Folglich ist es logisch möglich, dass Gott eine Welt mit einer besseren Balance zwischen moralisch Gutem und moralisch Bösem nicht schaffen kann, was ein Grund dafür wäre, dies auch tatsächlich nicht zu tun, und dieser Grund ist mit der vollkommenen Güte kompossibel. Dieses kluge Argument wird sowohl von jenen angefochten, die die Wahrheit kontrafaktischer Aussagen zur Freiheit annehmen, als auch von jenen, die eine solche Wahrheit bestreiten. Unter den ersteren verteidigt Suárez das statistisch-mittlere Wissen, erachtet die transweltliche Verdorbenheit aber wegen Gottes notwendigem Einfallsreichtum für unmöglich, von dem er deshalb folgende Konsequenz annimmt: notwendigerweise gibt es für jede mögliche Person und Situation, in der sie existieren kann, irgendeine Hilfe in Form von Barmherzigkeit, durch die er das Geschöpf (und Gott sollte ihm dabei helfen) wieder gewinnen kann, ohne seine inkompatibilistische Freiheit in Frage zu stellen. Andere wiederum (vor allem R.M. Adams) fragen sich, was solche kontrafaktischen Aussagen über Geschöpfe wahr machen könnte, die doch nur mögliche Sachverhalte beschreiben. Die inkompatibi188
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listische Freiheit schließt die göttliche Wahl oder jegliche angeborenen Merkmale des schöpferischen Willens aus. Sich auf eine kontingente Bedingung zu berufen (z.B. die habitudo, oder irgendeine einfache Eigenschaft), die von beidem unabhängig ist, führt zu nahe an die alte Lehre vom Schicksal heran, das gleichermaßen die Götter und ihre Geschöpfe ereilt, und widerspricht damit dem traditionellen christlichen Standpunkt der göttlichen Vorsehung. Der Standpunkt, dass kontrafaktische Aussagen über die Freiheit wahr seien, obwohl es nichts gibt, was ihre Wahrheit unter Beweis stellen könnte, verletzt die Korrespondenztheorie der Wahrheit (siehe Wahrheit, Korrespondenztheorie der). Solche kontrafaktischen Aussagen über die Wahrheit zu leugnen, befreit jedoch nicht automatisch (A2) von dem Einwand der Allwissenheit, wenn Gott von lediglich möglichen Geschöpfen wissen könnte, was sie wahrscheinlich unter allen möglichen Umständen tun würden. Aber die Bedeutung und der Grund einer solchen Wahrscheinlichkeitsbewertung sind mindestens genauso problematisch wie die ursprünglichen, kontrafaktischen Aussagen. Aber selbst wenn (A2) unproblematisch wäre, könnte man doch immer noch fragen, ob (A1) notwendig die Erlaubnis des Bösen in einer Weise begründet, die mit der vollkommenen Güte vereinbar ist. Zwei Dimensionen der göttlichen Güte müssen dabei unterschieden werden: die ‚globale‘ Güte und jene Güte, die er gegenüber einzelnen, geschaffenen Menschen walten lässt. Der Mögliche-Welten-Ansatz zitiert die globalen Merkmale, nämlich die ‚beste aller möglichen Welten‘, ‚eine Welt, die vollkommener ist als eine unmögliche Welt‘, eine Welt, die sich durch eine perfekte Balance in der Verteilung der Gerechtigkeit auszeichnet‘, ‚eine Welt, die sich durch eine so günstige Balance auszeichnet, wie Gott sie in Anbetracht des geschaffenen moralisch Guten im Verhältnis zum moralisch Bösen nur vermag‘ etc. Dies erreicht dieser Ansatz, indem er einige allgemeine und umfassende Gründe zur Erlaubnis des Bösen schafft. Allerdings enthalten Welten mit Bösem des Umfangs, der Art und einer solchen Verteilung, wie wir es in der aktuellen Welt vorfinden, so horrend schlimmes Böses, dass die aktive oder passive Beteiligung daran uns prima facie Grund zum Zweifel gibt, ob das Leben des Einzelnen (von dem angenommen wird, dass es davon erfasst wird) im Ganzen gesehen ein großes Gut ist, wo doch das Böse ungleich unter den Menschen verteilt ist und in keinem Bezug zu ihren Leistungen steht. Und selbst wenn ein solchermaßen verteilter Schrecken erkenntnistheoretisch mit globaler Vollkommenheit vereinbar wäre, würden solche Verteidigungen der göttlichen Güte als dem Schöpfer der globalen Vollkommenheit nicht viel mehr bewirken, als bei den einzelnen Beteiligten dieses Schreckens Zweifel an seiner Güte zu nähren. Die göttliche Güte würde in ihren Augen erfordern, dass Gott den Unwert des Schreckens besiegt, und zwar nicht nur im Kontext dieser Welt als einem Ganzen, sondern auch innerhalb des individuellen Lebensrahmens. Und auch eine genaue Verteilung des Bösen auf die einzelnen Menschen bringt uns hier nicht weiter, soweit es die Verbreitung des Schreckens angeht. Schrecken mit Schrecken ‚abzuwägen‘ vergrößert nur die Schwierigkeit. Einige Christen nehmen dies hin, indem sie darauf bestehen, dass die entscheidende Niederlage des Bösen nur den Folgsamen versprochen ist, während die Niederträchtigen genau das Gegenteil erwarten dürfen, nämliche eine entscheidende Niederlage der positiven Bedeutung ihres Lebens in Gestalt ihrer ewigen Verdammnis. Andere wiederum bestehen darauf, dass die Lehre von der Hölle die Dinge nur noch schlimmer macht, indem
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sie eine weitere Frage nach einer speziellen Form des Problems des Bösen aufwirft (siehe Hölle). 4. Göttliche Güte gegenüber den Geschöpfen Theodizeen, die die Hervorbringung der Seele enthalten, versuchen in der Regel die Erklärungslücke betreffend die göttliche Güte gegenüber dem Einzelgeschöpf dadurch zu füllen, dass sie weitere Hypothesen zu dem hinzufügen, was ansonsten in einer Umgebung verloren gehen kann, in der sie so anfällig für die Sünde, das Leiden und den Schrecken sind. Einige Fassungen führen deshalb folgendes ein: (A3) Gottes Zweck der Schöpfung kulminiert in einem Prozess der geistigen Entwicklung, in dem autonom geschaffene Personen mit ihrer eigenen, freien Beteiligung daran vervollkommnet und damit von den selbstzentrierten zu fremdzentrierten, d.h. Gott-zentrierten, christusartigen oder anderweitig tugendhaften Seelen transformiert werden; und (A4) das umweltbedingte Böse wird zugelassen, weil es eine für die Erschaffung der Seelen günstige Umwelt schafft. Die Aussage (A3) ist sowohl mit der Vorstellung vereinbar, dass Menschen ursprünglich mit einer reifen, unverstellten Handlungsfähigkeit geschaffen wurden und damit für ihre Wahlentscheidungen voll verantwortlich sind, als auch mit der alternativen Idee (entdeckt bei Irenäus von Hick [1966]), dass das menschliche Handlungsvermögen unreif begann, so dass die Sünde im Verlauf ihres ‚Aufwachsens‘ zu erwarten war. Die Idee dahinter ist, dass das Leben in einer Welt mit Bösem, so wie wir sie vorfinden, oder mit der ebenfalls geschaffenen Kooperationsfähigkeit ‚gut für die Seele‘ sein kann. Die Behauptung von (A4) ist dreifach schwierig, weil (i) die Aufgabe in die Katalogisierung lauter kleiner Partikel zerspringt, wo jeder Untertyp eines umweltbedingten Bösen gesondert nachgewiesen werden muss; (ii) die relevanten notwendigen Verbindungen mit der seelenerzeugenden Umwelt schwer nachzuweisen sind; und (iii) weil die Erfahrung es prima facie recht unplausibel macht, dass eine Welt mit Bösem wie die unsrige eine gute Schule für die Seele ist. Als Antwort auf (ii) haben einige (vor allem Hick [1966]) sehr einfallsreich behauptet, dass ‚dysteleologisches‘ Böses selbst eine Atmosphäre des Rätselhaften erzeugt, die an sich selbst für die Seelenerzeugung günstig ist. Andere änderten (A4) dergestalt ab, dass sie einige umweltbedingte Formen des Bösen als Folgen der Sünde anerkannten. Dort, wo Gottes seelenerzeugende Absicht Erfolg hat, ist es einfach einzusehen, dass die schmerzliche Reise das individuelle Ausharren wert ist. Was aber dort, wo sie keinen Erfolg hat? Einige antworten hierauf, dass die Würde der Selbstbestimmung selbst bereits genug ist, was immer dabei herauskommt. Die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung ändert sich je nach Einschätzung der Robustheit der menschlichen Natur, sowie mit der Konzeption der natürlichen Konsequenzen oder Straffolgen einer wiederholt schlechten Wahlentscheidung. Die Pessimisten wenden ein, dass die Konfrontation mit dem Schrecken zu Lebzeiten die menschliche Selbstbestimmung ad absurdum führt; a fortiori gilt dies für den entschiedenen persönlichen Selbstruin in der Hölle. Andere (wiederum besonders Hick [1966]) heißen eine Lehre der universellen Erlösung willkommen: wenn Schreckenstaten zu Lebzeiten zwischen Geburt und Grab ungesühnt bleiben, so setzt sich die Erziehung nach dem Tode fort, und zwar 190
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wahrscheinlich in einer Folge von Ausbildungsgängen, bis die Seele vervollkommnet ist und so in die Nähe Gottes kommt. Daher garantiert Gott jedem geschaffenen Menschen insgesamt eine Existenz, die als Ganzes gesehen ein großes Gut für sie ist, als eine, in der Beteiligung an Schreckensszenen der inkommensurablen Qualität einer Nähe zu Gott gegenübersteht. Werden solche Schreckensszenen aber auch innerhalb des Zusammenhanges einer individuellen Existenz überwunden? Ganz im Innern des Herzens mögen wir hierauf ‚ja‘ sagen, weil die Beteiligung an Schreckensszenen, die zu Lebzeiten des Einzelnen ungesühnt bleiben, zur Rätselhaftigkeit beitragen, die wiederum einen positiven Beitrag zur Erzeugung weiterer Seelen leistet. Da man zumindest die Handlungsursache dieses Wohl-oder-Übel-Opfers des Guten zu eigenen Lebzeiten ist, bildet die Beteiligung an Entsetzlichem schließlich eine Art Bewegung von der Selbst- zur Fremd- oder Gotteszentrierung. Selbst wenn diese angeblich positive Dimension der Teilhabe an Entsetzlichem von ihren negativen Aspekten überschwemmt wird, sofern man sie innerhalb des Lebenslaufs einer Person betrachtet, so leistet sie doch einen Beitrag zur Bedeutung der Beteiligung an diesem Entsetzlichen und wird dadurch in eine Gesamtentwicklung integriert, die dem Leben des Einzelnen eine positive Bedeutung verleiht, wodurch das Böse im Kontext der individuellen Existenz als Ganzer überwunden wird. Einige (vor allem M.M. Adams) behaupten im Gegensatz dazu, dass die göttliche Güte gegenüber den geschaffenen Menschen mehr leisten würde, um einem jeden Lebenslauf eine positive Bedeutung zu verleihen, wo es auf Entsetzliches trifft. Das Opfer, dass man durch die Teilnahme an Entsetzlichem erbringt, ist pädagogisch als ‚erste Lektion‘ ungeeignet, denn es kann die Person so stark beschädigen, dass ein weiterer Fortschritt von der Selbst- zur Fremd- und schließlich Gotteszentrierung faktisch unmöglich wird. Dies spielt zusammen mit der Verzögerung der Belohnung eines oder vielleicht sogar vieler anderer Leben, was zu einer weiteren Abwertung der Bedeutung des Lebens führt, so dass nur der Eindruck zurückbleibt, dass diejenigen es besser hätten wegwerfen sollen, deren geistige Entwicklung infolge ihrer Teilnahme am Entsetzlichen deutlich zurückgeblieben ist. Um einem solchen Leben, oder einem jeglichen Lebenslauf, der mit der Teilnahme an Entsetzlichem verbunden ist, noch eine positive Bedeutung zu geben, müssen irgendwelche Parameter positiver Bedeutung, und nicht nur der Beitrag zur Seelenerzeugung gefunden werden. Geht man von zwei weiteren Voraussetzungen aus, dass nämlich die göttliche, metaphysische Güte unendlich ist, und dass die Nähe zu Gott inkommensurabel gut für die geschaffene Person ist, dann schlägt die mystische Literatur zahlreiche Wege zur Beteiligung an Schreckensszenarien vor, die sich noch in die Beziehung des geschaffenen Menschen mit Gott integrieren lassen; sie reichen von der göttlichen Dankbarkeit für den frühen Aufstieg bis zu unterschiedlichen Typen mystischer Identifikation zwischen Gott und den Geschöpfen inmitten des Schreckens. Weil die Identifikation in diesem Leben geschieht und die göttliche Dankbarkeit sich auch auf dieses Leben bezieht, so fügen sie diesem Leben eine positive Bedeutung auch dann noch hinzu, wenn das Geschöpf keine Anerkennung mehr zu Lebzeiten, sondern erst nach dem Tode dafür erfährt. 5. Methodologische Bemerkungen Ein guter Teil der zeitgenössischen Diskussion der ‚besten aller möglichen Welten‘ und der Verteidigungen des freien Willens haben sich dem logischen Pro191
Bösen, Problem des
blem des Bösen deswegen zugewandt, weil wir erkenntnistheoretisch dort in einer besseren Position sind, um die Kompossibilität der logisch möglichen Gründe mit verschiedenen Konzeptionen der vollkommenen Güte einzuschätzen, statt uns äußern zu müssen, was die wirklichen Gründe Gottes sind. Indem man mögliche, logisch schlagende Argumente ausmacht, lässt sich ein großer Teil der früheren Diskussion auf eine religionsneutrale Wertetheorie beschränken, die deutlich besser geeignet ist, um einem Nicht-Theologen auf seinem eigenen Gebiet zu antworten. Im Gegensatz dazu stützen sich seelenerzeugende, mystische und andere erklärende Theodizeen auf Offenbarungsressourcen für Spekulationen über Gottes wirkliche Gründe für das Böse in dieser Welt und richten ihre Bemerkungen folglich vor allem an die Glaubensgemeinde. Die Unterscheidung zwischen diesen Ansätzen verwischt jedoch, wenn man die Aufmerksamkeit auf das konkrete logische Problem des Bösen richtet, d.h. auf die logische Kompossibilität von Gott mit dem Bösen in dem Umfang und der Art und jener Verteilung, die man in der wirklichen Welt antrifft. Insofern die Konsistenz des wirklichen religiösen Glaubens auf dem Spiel steht, ist die Prüfung jener Gründe sehr relevant, die von der Offenbarung für die logische Kompossibilität des Bösen mit der Güte Gottes genannt werden. Wo der Glaube diese Prüfung besteht, kann man zur Lösung konkreter logischer Probleme des Bösen fortschreiten, und zwar unabhängig davon, ob ihre Wahrheit gegenüber dem Atheisten bewiesen werden kann. Ist es den angegriffenen Religionen infolge erweiterter Ressourcen einmal möglich, die Sätze (1) und (2) zu interpretieren, so wird schnell klar, dass die explanatorischen Gründe hier in zwei große Stränge eingeteilt werden können: einmal die Gründe, warum Gott das Böse verursacht oder erlaubt und es nicht verhindert oder eliminiert; und zum anderen Erklärungen, wie Gott sich gegenüber geschaffenen Menschen trotz ihrer Teilhabe am Bösen gütig verhalten kann. Die Gründe des ersten Typs zeigen ein ausreichend großes Gutes auf, mit dem das Böse notwendig verknüpft ist, während die Gründe des zweiten Typs Wege ausmachen, wie Gott das Böse überwinden kann, an dem geschaffene Menschen teilhatten, und wie er folglich diesen Menschen ein Leben schenken kann, das im Ganzen gesehen ein großes Gut für sie ist. Viel philosophische Diskussion wurde darauf verwendet (und speziell Swinburne hat auf diesem Punkt beharrt), dass letztere Gründe nicht herbeigeschafft werden können, ohne dass es genügend Gründe des ersten Typs gibt. Die kritisierten Religionen schlagen deshalb gemischte Wege ein. Unter der Annahme, dass die vollkommene Güte nur das erlauben oder verursachen kann, was sie auch besiegen bzw. überwinden kann, kombinieren sie bestimmte Gründe des ersten Typs mit elaborierten Szenarien, in denen Gott selbst noch die wüstesten Schrecken besiegt. 6. Das Böse und das Beweisproblem Kürzlich haben viele Philosophen (besonders Rowe, Alston, van Inwagen und Wykstra) geschlossen, dass die ernsthafteste Fassung des Problems des Bösen nicht die logische Fassung des Problems des Bösen betrifft, sondern die Evidenzbeziehung zwischen (1) und (2). Die lediglich logische Möglichkeit, dass ein Student sich alle vier Gliedmaßen bricht und zusätzlich wegen einer Herzattacke ins Krankenhaus kommt, wird ihm noch keine Verlängerung des Abgabetermins für eine Hausarbeit einbringen, solange sein Professor nicht sehen kann, dass seinem Studenten diese Dinge wirklich physisch zugestoßen sind. Desgleichen sagt das Evidenzargument, 192
Bösen, Problem des
dass vieles wirklich Böses wie beispielsweise der langsame, schmerzliche Tod eines schwer brandverletzten Rehkitzes infolge Brandstiftung in dem Sinne sinnlos ist, dass die Gesamtheit unserer empirischen Erfahrung einen starken Grund dafür gibt zu glauben, dass dies wirklich sinnlos ist. Aber ein allwissendes, allmächtiges Wesen könnte einige von ihnen retten, während ein vollständig gutes Wesen nichts davon zulassen oder gar verursachen würde, dass es auch vermeiden kann. Daher stellt (2) im Zusammenhang konkreter Beispiele eine entscheidende Evidenz gegen (1) dar. Doch auch hier kann die Antwort stückweise daherkommen, indem sie für jeden Typ eines sehr intensiven Leidens zu zeigen versucht, dass am Ende dahinter doch noch ein Sinn auszumachen ist. Es wäre gar nicht notwendig, diesen Prozess zu Ende zu gehen, um das sog. Evidenzargument zu untergraben. Bereits der Erfolg in einigen wichtigen Fällen würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass überwältigendes Gutes auch in anderen Fällen gegenwärtig ist, wo wir noch nichts davon entdecken konnten. Diese positive Antwort (z.B. durch Wykstra, Alston und van Inwagen) greift das Argument bei seinen erkenntnistheoretischen Grundlagen an. Die Gegenbehauptung lautet hier, dass die Gesamtheit unserer empirischen Evidenz nur dann einen starken Grund dafür abgeben könnte zu glauben, dass irgendein wirkliches Böses sinnlos ist, wenn unsere kognitiven Kräfte Zugang zu jedem dieser Sinnmöglichkeiten hätten, sofern es solche eben gibt. Wenn uns die Dinge jedoch unabhängig davon unterschiedslos erscheinen (d.h. wo unsere Evidenz immer ungefähr dasselbe ergibt), ob im Bösen ein solcher Sinn gegeben ist oder nicht, dann ist die Tatsache, dass wir keinen Sinn darin entdecken können, keine überzeugende Evidenz dafür, dass ein solcher Sinn auch wirklich nicht gegeben ist. Insbesondere sind wir nicht in der Lage zu beurteilen, ob viele Fälle des intensiven Leidens nicht auch durch einige der Gründe erklärt werden könnten, auf die sich die traditionellen Theodizeen berufen. Die Verteidiger des Evidenzarguments (vor allem Rowe) geben einerseits die Attraktion des zugrunde liegenden Evidenzprinzips zu, verorten aber die Unstimmigkeit nunmehr in der Reichhaltigkeit der theologischen Hypothese, die daraus folgt. Sie wenden ein, dass, wenn man sich auf ein unkompliziertes philosophisches Verstehen von (1) beschränke, es wahrscheinlich sei, dass sich die Situation im Hinblick auf ein intensives Leiden anders darstellen würde, und zwar so, dass wir dies durchaus selbst unterscheiden könnten. Ein erweiterter Theismus mag solche Annahmen zur Verstecktheit der göttlichen Vorsehung, zur mystischen Identifikation mit den leidenden Geschöpfen etc. mit sich bringen. Solche Argumente in die Evidenz-Debatte hineinzutragen, bringt aber weitere Schwierigkeiten mit sich, weil die vorrangige Wahrscheinlichkeit des erweiterten Theismus wiederum geringer ist als die von (1). Das zuletzt Gesagte gilt nur, wenn die reichhaltigere theologische Theorie als wahr erwiesen ist. Wenn sie stattdessen aber dazu verwendet wird, um, wie bei den logischen Problemen, nur mögliche Erklärungen zu erzeugen – diesmal allerdings nicht lediglich logisch, sondern epistemisch mögliche Erklärungen – dann muss keine Verwässerung der vorgängigen Wahrscheinlichkeiten mehr hingenommen werden. Und je mehr epistemisch mögliche Erklärungen es gibt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das fragliche Leiden nicht sinnlos ist. Siehe auch: Gott, Argumente für die Existenz von; Holocaust, der 193
Bösen, Problem des
Anmerkungen und weitere Lektüre: Hick, J. (1966): ‚Evil and the God of Love‘, San Francisco, CA: Harper & Row, 2. Aufl. 1978. (H. kritisiert die ‚augustinische‘ Theodizee, die auf der Lehre des Sündenfalls beruht, und entwickelt eine seelenerzeugende Theodizee im Geiste von Irenäus. Plantinga, A. (1974): ‚The Nature of Necessity‘, Oxford: Clarendon Press, Kap. 9, § 10, 191–193 (P. entwickelt hier die Mögliche-Welten-Version einer Verteidigung des freien Willens, die in Abschnitt 3 des vorliegenden Eintrags diskutiert wird, wobei er bemerkenswerte Aufmerksamkeit auf die kontrafaktischen Aussagen zur Freiheit und auf die Hypothese der transweltlichen Verdorbenheit legt.) MARILYN MCCORD ADAMS
Boethius, Anicius Manlius Severinus (ca. 480–525/6)
Boethius war einer der Hauptvermittler zwischen der klassischen griechischen Logik von Aristoteles, den Stoikern und den Neuplatonikern einerseits, und den Gelehrten des mittelalterlichen lateinischen Westens andererseits. Seine Zeitgenossen waren von seinen gelehrten Tätigkeiten weitgehend unbeeindruckt, und seine Schriften zeigen, dass er eine einsame, ziemlich isolierte Figur in einer Welt war, wo alte römische Aristokraten um die Erhaltung einer hohen literarischen Kultur in einem Italien kämpften, das von barbarischen und trunksüchtigen Goten kontrolliert wurde, und deren musikalischen Geschmack und ihre Körperpflege er abscheulich fand. Boethius selbst wurde in eine patrizische Familie in Rom geboren, verwaiste aber und wuchs stattdessen bei Q. Aurelius Memmius Symmachus auf, einem reichen christlichen Erben aus einer vornehmen heidnischen Familie. Boethius heiratete später dessen Tochter Rusticiana. Genauso wie Symmachus hatte Boethius einen kleinen Kreis gebildeter Freunde, einschließlich des römischen Diakon Johannes (der wahrscheinlich Papst Johannes I. wurde, 523–526), der auch seine Begeisterung für logische Probleme teilte. Der gotische König von Italien in Ravenna, Theoderich, war mit der hohen Kultur während seiner Erziehung in Konstantinopel in Berührung gekommen und setzt erfahrene römische Aristokraten als Verwalter ein. Er beschäftigte Boethius mit dem Entwurf einer Sonnenuhr für den burgundischen König, und für eine Wasseruhr als Beispiel einer fortgeschrittenen Technologie, die die Barbaren beeindrucken sollte. Er sandte auch einen Harfenisten zu Clovis, dem französischen König, zweifellos um dessen kriegerischen Geist zu besänftigen. Um 507 erlangte Boethius den Titel des Patriziers und erhielt nun Briefe, die an „Ihre Magnifizenz“ adressiert waren. Symmachus befand sich in einer Position, aus der heraus er Boethius‘ Laufbahn unterstützte. Im Jahre 510 wurde er zum Konsul ernannt, was eine Position ohne politische Macht, aber hohem Ansehen war, die jedoch mit hohen Ausgaben aus privatem Vermögen verbunden war. Sie brachte außerdem die Vergünstigung mit sich, dass der Name des Konsuls auf allen datierten Dokumenten dieses Jahres stand. Im Jahre 522 wurden seine beiden Söhne als Konsuln eingesetzt, was ein Aufstieg war, der ihrem Vater ein Gefühl großen Stolzes und viel Vergnügen bereitete, und er nahm ernsthaft den politischen Posten eines Magister officiorum (die höchste leitende Beamtenposition des Ostgotenreiches) an. In dieser Stellung brachte ihm seine Aufgabe, nämlich die Eliminierung der Korruption, zahlreiche Feinde sowohl unter den Goten, als auch unter den römisch-aristokratischen Gefährten ein. Seine Beziehung zu den Höflingen in Ravenna wurde katastrophal. 194
Bösen, Problem des
Boethius fiel, als er voreilig einen Senator verteidigte, der König Theoderich wegen Unterhaltung verräterischer Korrespondenz mit hohen Mitgliedern des Hofes des Kaisers von Konstantinopel vorgeführt worden war. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass es Boethius zusammen mit anderen römischen Aristokraten vorgezogen hätte, die rohen Goten loszuwerden und an Theoderichs Stelle lieber einen dem oströmischen Kaiser gleichwertigen Herrscher gesehen hätte. Seine große Gelehrsamkeit hatte Ängste hervorgerufen, dass er in okkulte Praktiken involviert war, die für die Dynastie in Ravenna hätten gefährlich werden können. Im Jahre 524 oder im Frühjahr 525 wurde Boethius in Pavia (Ticinum) eingekerkert. Hier schrieb er, während er auf die schon gegen ihn verkündete Hinrichtung wartete, sein Meisterwerk ‚De consolatione philosophiae‘ (‚Der Trost der Philosophie‘). ‚De consolatione philosophiae‘, ein im Vorwort bitterer und feindseliger Angriff auf Theoderich, dem eine philosophische Diskussion des unschuldigen Leidens und des Problems des Bösen folgt, muss aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt worden sein, zweifellos unter Einsatz von Goldmünzen von Rusticiana oder Symmachus. Im neunten Jahrhundert faszinierte das Werk Alcuin am Hofe Karls des Großen, wurde zu einem Standardtextbuch der mittelalterlichen Kultur und besonders populär unter Laien. Boethius‘ frühere Arbeiten waren spezialisierteren Lesern vorbehalten, besonders jene, die sich mit der Geschichte der alten Philosophie beschäftigten. Seine erklärte ursprüngliche Absicht war die Erziehung des Westens durch Übersetzung des gesamten Platon und Aristoteles ins Lateinische, und die Bereitstellung erklärender Kommentare zu vielen ihrer Texte. Damit nahm er sich jedoch zu viel vor. Er kam nicht über einige logische Werke des Aristoteles (das Organon) hinaus, dem er als Vorwort einen Kommentar über eine lateinische Übersetzung von Porphyrius‘ ‚Isagōgē‘ (Einführung) voranstellte, die im vierten Jahrhundert von Marius Victorinus hergestellt worden war, einem afrikanischen Lehrer in Rom, sowie einen zweiten Kommentar zu einer Übersetzung desselben Textes von ihm selbst. Diese Kommentare bilden die Grundlage der mittelalterlichen Debatten über die Universalien. Er schrieb auch einen Kommentar über Aristoteles’ ‚Kategorien‘ und zwei Kommentare über Aristoteles’ ‚ De interpretatione‘. Ferner übertrug Boethius die ‚Arithmetik‘ des Nicomachos von Gerasa ins Lateinische, Nicomachos‘ Einführung in die Musik als einer freien Kunst, einen Kommentar über Ciceros ‚Topik‘ (Beweislehre), eine kurze Abhandlung mit dem Titel ‚Über die Teilung‘, einige wichtige Abhandlungen über kategorische und hypothetische Syllogismen, und ein weiteres Traktat über verschiedene logische Beweisarten. Verwickelte theologische Debatten zwischen Rom und Konstantinopel überzeugten ihn, dass ein geübter Logiker hierzu zur Klärung beitragen konnte, und er schrieb vier theologische Traktate über die Lehren der Dreifaltigkeit und der Person Christi, wobei er sich auf logische Probleme konzentrierte. Darüber hinaus geriet ein fünftes Traktat zu einer Erklärung seines orthodoxen Glaubens ohne große Bezugnahme auf theologische Implikationen. Die fünf kleinen Werke, ‚Opuscula sacra‘ genannt, waren in der Folge kaum weniger erfolgreich als ‚De consolatione philosophiae‘, besonders vom zwölften Jahrhundert an. Von damaligen Kritikern hört man, sie meinten, die zeitgenössischen Theologen hätten mehr über Boethius als über die Bibel gewusst.
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Bolzano, Bernard (1781–1848)
Siehe auch: Gott, Begriffe von; Mittelalterliche Philosophie; NeuplatonisPatristische Philosophie; Plotin; Porphyrius HENRY CHADWICK
mus;
Bohr, Niels (1885–1962)
Der dänische Physiker Niels Bohr, einer der einflussreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, begründete die atomare Quantentheorie und die sog. ‚Kopenhagener Interpretation‘ der Quantenphysik. Diese radikale Auslegung schwor der Möglichkeit einer vereinheitlichten, beobachterunabhängigen, deterministischen Beschreibung der subatomaren Welt ab. Bohrs Prinzip der Komplementarität – dem Herz der Kopenhagener Philosophie – impliziert, dass Quantenphänomene nur als Paare von teilweisen, sich gegenseitig ausschließenden oder ‚komplementären‘ Perspektiven beschrieben werden können. Obwohl sie gleichzeitig nicht anwendbar sind, sind doch beide Perspektiven für die erschöpfende Beschreibung der Phänomene notwendig. Bohr strebte die Verallgemeinerung der Komplementarität auf alle Wissensgebiete an und meinte, dass neue erkenntnistheoretische Einsichten dadurch erzielt würden, dass gegensätzliche, offenkundig unverträgliche Standpunkte zueinander in Beziehung gesetzt werden. Siehe auch: Logischer Positivismus § 4; Operationalismus; Quantenmechanik, Interpretation der MARA BELLER
Bolzano, Bernard (1781–1848)
Bernard Bolzano war ein einsamer Vorläufer sowohl der analytischen Philosophie, als auch der Phänomenologie. Er wurde in Prag im Erscheinungsjahr von Kants erster ‚Kritik‘ geboren und wurde später einer der schärfsten Kritiker sowohl von Kant, als auch des deutschen Idealismus. Er starb in Prag in demselben Jahr, in dem Frege geboren wurde. Frege steht ihm philosophisch näher als irgendein anderer Denker des 19. oder 20. Jahrhunderts. Bolzano war der einzige herausragende Befürworter des Utilitarismus unter den deutschsprachigen Philosophen, und er war ein kreativer Mathematiker, dessen Name ordnungsgemäß in den Annalen seiner Disziplin vermerkt ist. Seine Wissenschaftslehre von 1837 weist ihn als den größten Logiker im Zeitraum zwischen Leibniz und Frege aus. Das Buch wurde von Bolzanos Zeitgenossen leider vollkommen ignoriert und erst durch Bolzanos Schüler wieder entdeckt: seine Ontologie der Aussagen und Vorstellungen versorgte Husserl mit einem großen Teil seiner Argumente in seinem Kampf gegen den Psychologismus und in seiner Unterstützung der Phänomenologie, und über Twardowski hatte er auch eine Fortwirkung auf die Entwicklung der logischen in der Lwów-Warschauer Schule. Siehe auch: analytische Philosophie WOLFGANG KÜNNE
Bonaventura (ca. 1217–1274)
Bonaventure (Johannes von Fidanza) entwickelte eine Synthese aus Philosophie und Theologie, in der die neuplatonischen Lehren in einen christlichen Rahmen transformiert werden. Obwohl man sich meist an ihn wegen seiner Anprangerung von Aristoteles erinnert, enthält Bonaventuras eigenes Denken auch aristotelische Elemente. Seine Kritik an Aristoteles war hauptsächlich durch seine Sorge begründet, dass verschiedene Kollegen von ihm, die von Aristoteles stärker 196
Boolesche Algebra
beeindruckt waren, als sie seiner Meinung nach Anlass dazu hatten, mit der Blindheit von Heiden philosophieren würden, anstatt mit der Weisheit von Christen. Für Bonaventura ist das letzte Ziel des menschlichen Lebens das Glück, und das Glück folgt aus der Einheit mit Gott im Leben nach dem Tode. Wenn jemand dieses Ziel vergisst, sobald er philosophiert, ist der höhere Zweck dieser Disziplin verloren. Philosophische Studien können tatsächlich bei der Erlangung des Glücks helfen, aber nur, wenn sie mit Demut und als Teil eines moralisch aufrechten Lebens verfolgt werden. In dem umfassenderen System der Dinge ist der Aufstieg des Herzens wichtiger als der Aufstieg des Geistes. Bonaventuras spätere Arbeiten betonen folglich, dass alle Schöpfung aus ihrer Quelle fließt, diese reflektiert und in sie zurückkehrt. Weil die Bedeutung des menschlichen Lebens nur aus dieser weiteren Perspektive verstanden werden kann, besteht das allgemeine Ziel darin, ein integriertes Ganzes, das hierarchisch auf Gott hin geordnet ist, zu zeigen. Die Struktur und der Symbolismus, die Bonaventura bevorzugte, zeigen aber auch mystische Elemente. Die Welt enthüllt, genau wie ein Buch, ihren Schöpfer: alle sichtbaren Dinge repräsentieren eine höhere Wirklichkeit. Der Theologe muss Symbole verwenden, um diese tiefere Bedeutung aufzudecken. Er muss insbesondere über Christus lehren, durch den Gott alles Existierende erschafft, und der das alleinige Medium ist, durch das wir zu unserem Schöpfer zurückkehren können. Bonaventuras Theorie der Erleuchtung bezweckt eine Darstellung der Gewissheit des menschlichen Wissens. Er sagt, dass es kein sicheres Wissen geben kann, solange nicht der Wissende unfehlbar und das Gewusste unveränderbar ist. Weil der menschliche Geist aber aus eigener Macht nicht vollkommen unfehlbar sein kann, bedarf er der Zusammenarbeit mit Gott, auch weil er Gott als die Quelle der unveränderlichen Wahrheiten braucht. Die Sinneserfahrung reicht nicht aus, denn sie kann nicht herausfinden, ob das Wahre nicht möglicherweise auch anders sein könnte. Deshalb erlangt nach Bonaventuras Ansicht der menschliche Geist Gewissheit über die Welt nur, wenn er sie im Licht der ‚ewigen Gründe‘ oder der göttlichen Vorstellungen versteht. Diese Erleuchtung von Gott, die für die Erlangung der Gewissheit notwendig ist, vollzieht sich gewöhnlich, ohne dass sich eine Person dessen bewusst ist. Siehe auch: Thomas von Aquin BONNIE KENT
Boolesche Algebra
Die Boolesche Algebra oder die Algebra der Logik wurde von dem englischen Mathematiker George Boole (1815–1864) aufgestellt. Sie stellt die erste erfolgreiche Anwendung der Methoden der Algebra auf die Logik dar. Boole scheint eine ganze Reihe von Interpretationen für sein System im Kopf gehabt zu haben. In seinen früheren Arbeiten betrachtet er jedes einzelne der Basissymbole seiner ‚Algebra‘ als etwas, was für eine mentale Operation steht, bei der jeweils genau die Gegenstände ausgewählt werden, die ein bestimmtes vorgegebenes Attribut oder Klassen solcher Attribute besitzen. In jeder dieser Interpretationen sind die grundlegenden Symbole so konzipiert, dass sie in bestimmten Operationen zu Kombinationen fähig sind: ‚Multiplikation‘ korrespondiert einer Verbindung von Attributen oder einem Schnitt durch Klassen; ‚Addition‘ korrespondiert der (ausschließlichen) Disjunktion oder der (getrennten) Vereinigung; und ‚Subtraktion‘ korrespondiert einer ‚Ausnahme‘ oder einer Differenz. Er erkennt auch an, dass die 197
Bosanquet, Bernard (1848–1923)
algebraischen Gesetze, die er vorschlägt, erfüllt sind, wenn die grundlegenden Symbole so interpretiert werden, dass sie immer den Wert 0 oder 1 annehmen. Booles Ideen erfuhren seitdem eine umfangreiche Erweiterung, und der sich daraus ergebende Begriff der Booleschen Algebra spielt nun eine zentrale Rolle in der mathematischen Logik, in der Wahrscheinlichkeitstheorie und dem Entwurf von Computern. J.L. BELL
Bosanquet, Bernard (1848–1923)
Bosanquet war einer der prominentesten und fruchtbarsten britischen Idealisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er war auf den meisten Gebieten der Philosophie tätig, wobei seine Hauptbeiträge in die Erkenntnistheorie, die Metaphysik, die Ästhetik und besonders die politische Philosophie fallen. Er war tief von Platon und Hegel beeinflusst. Bosanquet und F.H. Bradley waren sich in allen Fragen nahe, und jeder betrachtete den anderen als einen Arbeitskollegen; allerdings war Bosanquet immer mehr hegelisch eingestellt, weniger rigoros in seinen Argumenten als Bradley und teilte auch nicht seinen skeptischen Ansatz. Bosanquet behandelt das Wissen und die Wirklichkeit als ein einziges Ganzes, wobei er die Implikationen davon in den konkreten ‚Weisen der Erfahrung‘ in der Philosophie, den Naturwissenschaften, der Moral, den Künsten, der Religion und dem sozialen und politischen Leben ausarbeitet. Er war am leistungsfähigsten, wenn er die Gedanken anderer, speziell von Hegel, Bradley, Rousseau und T.H. Green erklärte und weiter entwickelte. Siehe auch: Absolute, das; Hegelianismus; Staat, der PETER P. NICHOLSON
Boyle, Robert (1627–1691)
Die Erinnerung an Boyle bezieht sich häufig auf seine Beiträge zur Chemie und Pneumatik. Wie andere Naturphilosophen im England des 17. Jahrhunderts war er jedoch ein synthetischer Denker, der das Wissen auf allen Gebieten des menschlichen Interesses voranbrachte. Als ein früher Vertreter der experimentellen Methoden meinte er, dass das Experimentieren nicht nur die verborgenen Prozesse freigeben würde, die in der Welt wirksam sind, sondern dass es auch die Sache der Religion voranbringen würde. Durch das Naturstudium würden die Experimentatoren verstehen lernen, dass die Verwickelung des Entwurfs der vorfindlichen Welt das Ergebnis eines allwissenden und allmächtigen Schöpfers sein müsse. Boyles experimentelle Untersuchungen und theologischen Überzeugungen führten ihn zu einer Konzeption der Welt als einem ‚kosmischen Mechanismus‘, den er als eine Menge harmonisch aufeinander bezogener Prozesse verstand. Er stimmte mit den führenden mechanisch orientierten Philosophen seiner Zeit darin überein, dass die Korpuskularhypothese, die die kausalen Kräfte von Körpern durch Bezugnahme auf die Bewegungen der kleinsten Teile (der Korpuskeln) der Materie erklärt, den besten Weg zum Verständnis der Natur darstellt. Er bestand jedoch darauf, dass diese Bewegungen und Kräfte nicht allein durch das Nachdenken gewusst werden können, sondern experimentell erforscht werden müssen. Siehe auch: Atomismus, Antiker; Experiment; Materie; Wissenschaftliche Methode ROSE-MARY SARGENT 198
Bradley, Francis Herbert (1846–1924)
Bradley, Francis Herbert (1846–1924)
Bradley war der berühmteste und philosophisch einflussreichste unter jenen britischen Idealisten, die einen deutlichen Einfluss auf die britische Philosophie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten. Er und seine Zeitgenossen bezogen ihre Inspiration allerdings weniger von ihren britischen Vorgängern, als vielmehr von Kant und Hegel, obwohl speziell Bradley auch viel den geringeren deutschen Philosophen wie R.H. Lotze, J.F. Herbart und C. Sigwart verdankte. Am bekanntesten ist Bradley für seine Metaphysik. Er trat dafür ein, dass unsere alltägliche Auffassung von der Welt verdeckte Widersprüche enthält. Seine radikale Alternative kann man als die Kombination eines Monismus (d.h. die Realität ist Eines, es gibt keine wirklich getrennten Dinge) und des absoluten Idealismus (d.h. die Wirklichkeit ist eine Idee oder Vorstellung, oder besteht aus Erfahrung, jedoch nicht der Erfahrung irgendeines Individuums, denn dies verbietet der Monismus) zusammenfassen. Diese Metaphysik soll die Dichtungen von T.S. Eliot beeinflusst haben. Er leistete aber auch bemerkenswerte Beiträge zur Geschichtsphilosophie, zur Ethik und zur Philosophie der Logik, insbesondere einer kritischen. Seine Kritik des Hedonismus, also der Auffassung, dass das Ziel der Moral die Maximierung des Vergnügens sei, ist immer noch eine der besten zu diesem Thema überhaupt. Einige seiner Auffassungen über die Logik, beispielsweise, dass das grammatische Subjekt eines Satzes eventuell nicht das ist, worum es in dem Satz tatsächlich geht, wurde zur Standardauffassung, weil sie von Bertrand Russell übernommen wurde, die sogar Russells Abkehr von der idealistischen Logik und Metaphysik um die Jahrhundertwende überlebte. Die sich an diesen Wandel anschließenden, verächtlichen Angriffe von Russell und G.E. Moore auf Bradleys Ansichten signalisierten das Aufkommen der neuerlichen Herrschaft pluraler, d.h. nicht monistischer Lehren in der Tradition von Hume und J.S. Mill, und vielleicht noch bedeutsamer, die Ersetzung von Bradleys metaphernreichem, literarischem Stil in der Philosophie und seinem Vertrauen in die Rechte eines Metaphysikers, über die letzten Wahrheiten entscheidungsbefugt zu sein, durch ein etwas deutlicheres Sprechen, sowie einer erneuten Hochachtung vor der Naturwissenschaft und der Mathematik. Bradleys zeitgenössische Anerkennung lautete, er sei der größte englische Philosoph seiner Generation. Diese Einschätzung überlebte seinen Tod nicht lange, und der relative Mangel an einer ernsthaften Diskussion seines Werks bis in die 1970er Jahre, als ein allgemeineres Interesse daran wieder erwachte, führte dazu, dass beiläufige Hinweise auf einige der für ihn typischsten und bedeutsamsten Ansichten, beispielsweise über die Beziehungen und über die Wahrheit, oft auf einer feindseligen und irreführenden, ja karikaturhaften Grundlage beruhen. Siehe auch: Green, T.H.; Hegelianismus; James, W.; Lotze, R.H.; Moore, G.E. STEWART CANDLISH
Bradwardine, Thomas
Siehe: Oxford Calculators
Brahman
Das Sanskrit-Wort brahman (neutr.) kam in der späten vedischen Literatur und den Upanischaden (900–300 v. Chr.) als der Name (niemals im Plural) der göttlichen Wirklichkeit auf, die das Universum durchherrscht, deren Wissen oder Erfahrung das höchste Gut einer Person ist. Der früheste Gebrauch des Wortes (oft 199
Brentano, Franz Clemens (1838–1917)
noch im Plural) findet sich in den Versen des ältesten Werks auf Sanskrit (und damit überhaupt jeder indo-europäischen Sprache), nämlich der ‚Ṛg Veda‘ (ca. 1200 v. Chr.), die eine Zusammenfassung von Gedichten und Hymnen an die indo-europäischen Götter ist. Die einzelnen Verse der Gedichte sind Mantras (brahmāṇi), deren richtige Artikulation im Verlauf eines Rituals und Opfers verschiedenen Zielen dienen sollte. Thematisch behandeln die ‚Ṛg Veda‘ und andere Werke der frühen indischen Literatur das Wesen der alles durchflutenden Göttlichkeit. Das Wort brahman nahm seine spätere Bedeutung offensichtlich durch eine Assimilation jener magischen Vorstellung von den Mantras an das göttliche Immanenzthema an. Jedenfalls wurde Brahman, d.h. das Absolute, die höchste Wirklichkeit, über einen Zeitraum von beinahe dreitausend Jahren bis in unsere Tage zum Schwerpunkt der indischen Spiritualität und Mittelpunkt vieler Metaphysiker. In den Upanischaden, die die mystischen Abhandlungen mit den Spekulationen über Brahmans Wesen und Beziehung zu uns und der Welt enthalten, taucht die zentrale Position der Vedānta-Schulen auf, die alle Philosophien des Brahmans sind. Aber nicht einmal in der engen Gruppe der frühesten und am allgemeinsten akzeptierten Upanischaden (zwölf oder dreizehn Stück an der Zahl) kam eine konsistente Sicht der Welt zum Ausdruck. Wichtige Themen über Brahman können identifiziert werden, aber es gibt keine übergreifende Einheit der Konzeption, trotz aller Behauptungen späterer Exegeten. Die Einheit der frühen Upanischaden betrifft die überragende Wichtigkeit des mystischen Wissens oder die Bewusstheit von Brahman (brahmavidyā), aber nicht eigentlich das, was das mystische Wissen inhaltlich ausmacht. Die klassischen indischen philosophischen Schulen der Vedānta systematisierten den Gedanken der frühen Upanischaden. Siehe auch: Pantheismus; Vedānta STEPHEN H. PHILLIPS
Brentano, Franz Clemens (1838–1917)
Brentano war Philosoph und Psychologe und lehrte als solcher an den Universitäten von Würzburg und Wien. Er leistete bedeutende Beiträge auf praktisch allen Gebieten der Philosophie, aber auch der Psychologie und der Geistesphilosophie, der Ontologie, der Ethik und der Sprachphilosophie. Er veröffentliche eine Reihe von Büchern über die Geschichte der Philosophie, insbesondere über Aristoteles, und behauptete, dass die Philosophie in Zyklen des Fortschritts und des Niedergangs voranschreitet. Am bekanntesten ist er für seine Wiedereinführung des scholastischen Begriffs der Intentionalität in die Philosophie und die Verkündung, dass diese ein charakteristisches Merkmal des Geistigen sei. Seine Lehren, insbesondere jene über das, was er ‚deskripitive Psychologie‘ nannte, beeinflussten die phänomenologische Bewegung des 20. Jahrhunderts, aber wegen seiner Bemühung um präzise Aussagen und seine Sensibilität für die Gefahren einer undisziplinierten Verwendung der philosophischen Sprache weist sein Werk auch eine Nähe zur analytischen Philosophie auf. Seine antispekulative Konzeption der Philosophie als einer strengen Disziplin wurde von seinen zahlreichen, brillanten Studenten weiter getragen. Gegen Ende seines Lebens änderte sich Brentanos Philosophie radikal: er sprach sich für eine sparsame Ontologie physischer und mentaler Dinge aus (sog. ‚Reïsmus‘), im Verbund mit einem linguistischen Fiktionalismus, der behauptet,
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Bruno, Giordano (1548–1600)
dass alles Sprechen, das sich offenbar auf Nicht-Dinge bezieht, durch eine Sprache ersetzt werden kann, die sich nur auf Dinge bezieht. Siehe auch: Intentionalität RODERICK M. CHISHOLM, PETER SIMONS
Britische Empiristen
Siehe: Hume, David; Locke, John
Bruno, Giordano (1548–1600)
Giordano Bruno war ein italienischer Naturphilosoph und Befürworter von künstlichen Erinnerungssystemen, der den Dominikanerorden verließ und nach einer turbulenten Laufbahn an vielen Orten Europas schließlich im Jahre 1600 als Häretiker verbrannt wurde. Wegen seines unglücklichen Endes, seiner Unterstützung für die kopernikanisch-heliozentrische Hypothese und seinen prononcierten AntiAristotelismus wird Bruno oft als ein Befürworter eines wissenschaftlichen Weltbildes gegen den unterstellten mittelalterlichen Obskurantismus bejubelt. Tatsächlich sollte man ihn eher als Neuplatoniker verstehen und, wenn auch in geringerem Maße, als einen Vertreter des Hermetismus (auch ‚Hermetik‘ genannt, eine von der katholischen Kirche schon früh verworfene Lehre über die Gesamtbeschaffenheit der Welt). Zahlreiche von Brunos späteren Arbeiten waren der Magie gewidmet; und Magie mag auch in seinen vielen Büchern über die Kunst des Erinnerns eine Rolle spielen. Seine bekanntesten Werke sind die italienischen Dialoge, die er schrieb, während er in England war. In diesen beschreibt Bruno das Universum als eine belebte und unendlich ausgedehnte Einheit, die zahllose Welten enthält, von denen jede wie ein großes Tier mit einem eigenen Leben ausgestattet ist. Seine Unterstützung für Kopernikus in ‚La Cena de le ceneri‘ (‚Das Aschermittwoch-Abendessen‘) bezog sich auf seinen Glauben, dass eine lebendige Erde sich bewegen muss, und er wies insbesondere jede Berufung auf die reine Mathematik als Beweis kosmologischer Hypothesen zurück. Seine Auffassung, dass die physische Welt eine Vereinigung zweier Substanzen, nämlich Stoff und Form, sei, hat die Konsequenz, dass offenkundige Individuen nur reine Sammlungen von Zufällen sind. Er identifiziert die Form mit der Weltseele, aber obwohl er das Universum als von der Göttlichkeit durchdrungen ansah, glaubte er auch an einen transzendenten Gott, der dem menschlichen Geist unzugänglich sei. Trotz einiger offensichtlicher Parallelen sowohl mit Spinoza, als auch mit Leibniz, scheint Bruno keinen direkten Einfluss auf die Denker des 17. Jahrhunderts gehabt zu haben. Siehe auch: Atomismus, Antiker; Hermetismus; Neuplatonismus; Nikolas von Cusa; Platonismus in der Renaissance; Renaissance Philosophie E.J. ASHWORTH
Buch der Gründe
Siehe: Liber de causis
Buber, Martin (1878–1965)
Martin Buber bearbeitete einen großen Themenkreis in seinen Schriften, der von Jüdischer Folklore und Phantasie über biblische Gelehrsamkeit und Bibelübersetzungen bis zur philosophischen Anthropologie und Theologie reichte. Vor allem war Buber aber ein Philosoph im Sinne einer Laienverwendung dieses Ausdrucks:
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Buddhistische Philosophie, Chinesische
jemand, der seine intellektuellen Energien auf ein Nachdenken über die Bedeutung des Lebens verwendet. Bubers leidenschaftliches Interesse an der Mystik schlug sich in seinen frühen philosophischen Werken nieder. Später jedoch verwarf er die Auffassung, dass die mystische Vereinigung das letzte Ziel der Beziehung ist und entwickelte eine Philosophie der Beziehungen. In der kurzen, aber enorm einflussreichen Arbeit ‚Ich und Du‘ sagt Buber, dass das Ich nur durch das Zusammentreffen mit anderen erscheint, und dass die eigentliche Natur des Ich von der Qualität der Beziehung mit dem Anderen abhängt. Er beschreibt zwei fundamental unterschiedliche Weisen der Beziehung zu anderen: die übliche Weise des ‚Ich-Es‘, bei der Menschen und Dinge als Gegenstände erfahren werden, oder, in Kantischer Ausdrucksweise, als ‚Mittel zu einem Zweck‘; und die ‚Ich-Du‘-Weise, in der ich den anderen nicht ‚erfahre‘, sondern der andere und ich in eine gegenseitig sich bestätigende Beziehung eingehen, die gleichzeitig eine Beziehung miteinander und eine Beziehung mit Gott ist, d.h. dem ‚ewigen Du‘. Buber erkennt die Notwendigkeit der Ich-Es-Beziehung an, sogar in der zwischenmenschlichen Sphäre, aber er beklagt ihre Vorherrschaft im modernen Leben. Durch seine Lehrtätigkeit in der Philosophie, der Theologie und der Bibelexegese, sowie durch seine Übersetzungen der Heiligen Schrift und von Adaptationen Chassidischer Geschichten versuchte er unsere Fähigkeit für die Ich-Du-Beziehungen wieder zu wecken. Siehe auch: Chassidismus; Holocaust, der TAMRA WRIGHT
Buddha
Siehe: Buddhistische Philosophie; Indische und tibetische Philosophie
Buddhistische Lehre der Jetztbezogenheit Siehe: Augenblicks, Buddhistische Lehre des
Buddhistische Philosophie, Chinesische
Als der Buddhismus das erste Mal vor zweitausend Jahren von Indien nach China und Zentralasien drang, neigten die zu ihm positiv eingestellten Chinesen zu seiner Auffassung als einem Teil oder dem Gegenstück der in China selbst entstandenen Huang-Lao-Taoistischen Tradition, einer Form des Taoismus, der auf Texte und Praktiken zurückging, die Huangdi (der gelbe Eroberer) und Laotse zugeschrieben wurden. Andere, die gegenüber diesen ‚fremden‘ Eindringlingen aus den ‚barbarischen‘ westlichen Ländern weniger entgegenkommend eingestellt waren, sahen den Buddhismus als eine exotische und gefährliche Herausforderung der sozialen und moralischen chinesischen Gesellschaftsordnung. Über viele Jahrhunderte bildeten diese beiden Einstellungen den Schmelztiegel, in dem sich das chinesische Verständnis des Buddhismus herausbildete, sogar noch, als immer mehr Missionare vor allem aus Zentralasien kamen und weitere Texte, Begriffe, Rituale, meditative Disziplinen und andere Praktiken mitbrachten. Die Buddhisten und Taoisten tauschten Ideen, die Terminologie, die Disziplinen, Kosmologien, institutionellen Strukturen, literarischen Genres und Erlösungsmodelle untereinander aus, manchmal so üppig, dass es heute nur mehr schwierig oder gar unmöglich zu bestimmen ist, wer der erste war, der eine bestimmte Vorstellung einführte. Gleichzeitig zwangen polemische und politische Angriffe seitens feindseliger Chinesischer Kreise die 202
Buddhistische Philosophie, Indische
Buddhisten, darauf mit einer Rechtfertigung und letztlich zu einer Umgestaltung des Buddhismus in etwas zu antworten, was die Chinesen nicht nur harmlos, sondern sogar attraktiv finden sollten. Im 5. Jahrhundert v. Chr. begann sich der Buddhismus aus seiner quasi-taoistischen Einordnung zu befreien, indem er endgültige Unterschiede zwischen dem buddhistischen und dem taoistischen Denken klarstellte, taoistisches Vokabular und ebensolche literarischen Stile abwarf und eine neue, eigene buddhistische Terminologie und entsprechende Genres entwickelte. Trotz der Tatsache, dass der Mahāyāna Buddhismus in Zentralasien wenige Anhänger hatte und durch andere buddhistische Schulen in Indien ebenfalls überholt wurde, wurde er erstaunlicherweise in China zur dominanten Form des Buddhismus, und zwar so stark, dass kaum etwas abschätziger war, als einen buddhistischen Gefährten ‚Hīnayāna‘ zu nennen (wörtlich: ‚Kleines Fahrzeug‘, ein polemischer Ausdruck für nicht-mahāyānaitische Formen des Buddhismus). Im sechsten Jahrhundert waren die Chinesen bereits in eine enorme Anzahl von buddhistischen Theorie und Praktiken eingeführt, die für einen großen Kreis indisch-buddhistischer Schulen standen. In dem Bemühen der Chinesen um die Meisterung dieser Lehren wurde es deutlich, dass trotz des Umstandes, dass diese Schulen alle meinten, den Einen Dharma (Buddhas Lehren) auszudrücken, ihre Lehren nicht einheitlich waren, und häufig sogar unvereinbar. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung war die drückendste Frage für die chinesischen Buddhisten, wie man die Disparitäten zwischen den verschiedenen Lehren vereinheitlichen könnte. Als Antwort auf diese Frage entstand die chinesische Mahāyāna Schule (‚Mahāyāna‘ heißt wörtlich: ‚großes Fahrzeug‘), d.h. buddhistische Schulen, die ihren Ursprung in China und nicht in Indien hatten. Die vier chinesischen Schulen sind Tiantai, Huayan, Chan und ‚Reines Land‘ (Jingtu). Diesen Schulen gemeinsam ist ihre gemeinsame Sicht z.B. der Natur des Buddha, des Geistes, der Leere, der tathāgatagarbha (dt.: ‚der Schoß der tathāgata‘, d.h. die Vorstellung einer allumgebenden Substanz, die den Geist hervorbringt. Der Ausdruck bezieht sich auf die Fähigkeit zum Werden; er meint eine formlose Erfahrung, aus der heraus der Erfahrende die Manifestation der Form erlebt), der ‚zweckdienlichen Mittel‘ (upāya), der Überwindung von Tod und Wiedergeburt (saṃsāra) und der Erleuchtung. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, japanische; Buddhistische Philosophie, koreanische; Chinesische Philosophie; Daoistische Philosophie DAN LUSTHAUS
Buddhistische Philosophie, Indische
Der Buddhismus war über ein Jahrtausend lang ein wichtiger Bestandteil in dem philosophischen Schmelztiegel des indischen Subkontinents. Von einem unauffälligen Beginn einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung an gewann die buddhistische Gelehrsamkeit an Strenge, bis sie einen Höhepunkt an Einfluss und Originalität in der letzten Hälfte des ersten Jahrtausends erklomm. Ab dem elften Jahrhundert ging der Buddhismus immer mehr zurück und verschwand schließlich ganz aus Nordindien. Obwohl verschiedene einzelne Denker unterschiedliche Themen betonten, bestand doch bei den meisten Autoren die Tendenz, ein integriertes philosophisches System anzubieten, das auch eine Ethik, eine Erkenntnistheorie und eine Metaphysik enthielt. Viele dieser Fragenbereiche, die von buddhistischen Philosophen in Indien angesprochen wurden, stammen direkt aus den Lehren, die 203
Buddhistische Philosophie, Indische
Siddhārta Gautama zugeschrieben werden, der besser unter seinem Ehrentitel Buddha bekannt ist. Das zentrale Interesse von Buddha betraf die Eliminierung unnötiger Unzufriedenheit. Seine Haupteinsicht betreffend dieses Problem, war, dass alle Unbefriedigtheit dadurch entsteht, dass Menschen (und ebenso andere Formen des Lebens) Wünsche und Abneigungen pflegen, die umgekehrt die Folge gewisser Missverständnisse über ihre Identität sind. Unzufriedenheit kann man als Frustration verstehen, oder als Versagen im Erreichen dessen, was sich einer wünscht. Wenn die Wünsche einer Person allgemein unrealistisch sind und deshalb unerreichbar, dann wird diese Person natürlich allgemein unzufrieden sein. Da Buddha die menschliche Frustration als die Wirkung eines Missverständnisses bezüglich der menschlichen Natur ansah, war es für buddhistische Philosophen selbstverständlich, sich Fragen betreffend die wahre Natur eines menschlichen Wesens zuzuwenden. Da Buddha selbst als ein Paradigma (d.h. Beispiel) moralischer herausragender Integrität galt, war es ebenfalls den späteren Philosophen überlassen zu bestimmen, welche Art von Wesen Buddha gewesen sei. Eine typische Frage war z.B., ob sein Vorbild so geartet sei, dass normale Menschen hoffen können, ihm zu folgen, oder ob seine Rolle in gewisser Weise mehr als die eines Lehrers gewesen sei, der anderen Menschen zeigte, wie sie sich verbessern könnten. Buddha äußerte Kritik an vielen Ansichten über die menschliche Natur, Tugend und Pflicht, die die Lehrer seiner Zeit vertraten. Viele dieser Ansichten, denen er widersprach, basierten zumindest indirekt auf Begriffen der Veda, einer Textsammlung liturgischer Literatur, die von den Brahmanen bei der Durchführung von Ritualen verwendet wurde. Spätere Generationen von Buddhisten verwendeten viel Energie auf die Kritik der brahmanischen Ansprüche einer Überlegenheit der Veda; zur selben Zeit neigten die Buddhisten dazu, ihr Vertrauen in eine Kombination aus Erfahrung und Vernunft zu setzen. Das Interesse am Erreichen eines korrekten Verständnisses mittels korrekter Methoden des Schließens führte zu einer Beschäftigung mit Fragen der Logik und der Erkenntnistheorie, die schließlich dazu tendierten, alle anderen philosophischen Fragen während der letzten fünfhundert Jahre zu überschatten, in denen der Buddhismus ein wichtiger Faktor in der indischen Philosophie war. Weil Buddha die menschliche Frustration als eine Wirkung sah, die sich beseitigen lässt, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, war es selbstverständlich für buddhistische Philosophen, ihre Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Fragen betreffend die Kausalität zu richten. Wie viele Arten von Ursachen gibt es? Kann eine Mehrheit von Wirkungen eine einzige Ursache haben? Durch was wird die Transformation der Potenzialität in Wirklichkeit ausgelöst? Fragen betreffend die Einfachheit und Komplexität, oder die Einheit und die Mehrheit, standen im Mittelpunkt buddhistischer Diskussionen darüber, welche der Dinge in der Welt letztlich wirklich seien. In einer Tradition, die das Prinzip betonte, dass aller unnötiger menschlicher Schmerz und Streit letztlich auf ein Versagen des Verständnisses zurückgeführt werden kann, welche Dinge der Welt wirklich sind, war es selbstverständlich nach Kriterien zu suchen, durch die reale Dinge von Fiktionen unterschieden werden können. Siehe auch: Augenblicks, Buddhistische Lehre des; Buddhistische Philosophie, chinesische; Buddhistische Philosophie, japanische; Buddhistische Philosophie, koreanische; Hinduistische Philosophie; Jainistische Philosophie; RICHARD P. HAYES 204
Buddhistische Philosophie, japanische
Buddhistische Philosophie, japanische
Der Buddhismus transformierte die japanische Kultur, und er wurde umgekehrt in Japan transformiert. Das Mahāyāna-buddhistische Denken kam aus dem ostasiatischen Kontinent als Teil eines kulturellen Komplexes nach Japan, der die geschriebene Sprache, politische Institutionen, eine formale Ikonographie und die konfuzianische Literatur umfasste. Von seiner Einführung im 6. Jahrhundert an bis ins 16. Jahrhundert entwickelte sich der japanische Buddhismus weitgehend durch die Eingliederung des chinesischen Buddhismus, wobei er eingeborene Glaubensüberzeugungen in sich aufnahm und dabei Streitigkeiten zwischen Splittergruppen aussöhnen half. Während der isolationistischen Tokugawa-Periode (1600–1868) forderten eine neokonfuzianische Philosophie und die holländische Wissenschaft die praktische Vorherrschaft der buddhistischen Denkungsart heraus, dienten aber öfter als Alternative und manchmal als Ergänzungsmodelle, und galten nicht so sehr als unvereinbare Paradigmen. Erst seit der neuerlichen Öffnung Japans im Jahre 1868 hat das japanische buddhistische Denken sich ernsthaft wieder darum bemüht, mit dem frühen indischen Buddhismus, dem westlichen Denken und dem Christentum zurechtzukommen. Über die Jahrhunderte wies der Buddhismus den Japanern einen Weg, einen Sinn im Leben und im Tode zu entdecken, die Welt zu erklären und nach einer Befreiung vom Leiden zu suchen. Wenn er sich der Theoriebildung zuwandte, so tat er dies zwecks religiöser Erfüllung, statt um der Wissensgewinnung um seiner selbst willen. Als eine Erweiterung seiner praktischen Anlage neigte das japanische buddhistische Denken oft zu einem Zusammenbruch zwischen dem Buddhismus und anderen Formen japanischer Religiosität, zwischen dieser wahrnehmungsbezogenen Welt und einem absoluten Reich, und zwischen den Mitteln und dem Zweck der Erleuchtung. Diese Tendenzen sind ursprünglich nicht japanisch, aber sie dehnten sich in Japan weiter als in anderen buddhistischen Ländern aus und bestimmten teilweise den Charakter der japanischen buddhistischen Philosophie. Tatsächlich ist die Identität der japanischen buddhistischen Philosophie eine Mischung mit fast allem, was wir als Gegensatz davon sehen würden. Als eine Entwicklung und Veränderung der chinesischen Traditionen gibt es buchstäblich nichts, was einzigartig japanisch ist; als buddhistische Tradition ist sie typischerweise synkretistisch, assimiliert oft Shintō und konfuzianische Philosophie sowohl in der Lehre, als auch in der Praxis. Rituale, soziale Praktiken, politische Institutionen und künstlerische oder literarische Ausdrucksformen sind dem japanischen Buddhismus ebenso wesentlich wie philosophische Ideen. Streitigkeiten über Ideen entstanden zwar oft, wurden aber nur selten durch die Kraft logischer Argumente beigelegt. Ein Grund hierfür war, dass die Sprache nicht vorherrschend im Dienst der Logik stand, sondern eines direkten Ausdrucks und der Aktualisierung der Wirklichkeit. Die Disputanten beriefen sich auf die Autorität der buddhistischen sūtras, weil man dachte, dass diese Schriften ein direktes Verständnis der Wirklichkeit darstellen. Ferner stellte man sich die Wirklichkeit als etwas Allumfassendes vor, so dass die bessere Position im Disput jene war, die verständlicher war, und nicht diejenige, die konsistenter war, dafür aber ausschließlich. Politische und praktische Konsequenzen spielten in der Beilegung von Disputen eine Rolle, aber das Ideal der Harmonie oder Konformität überwog oft.
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Buddhistische Philosophie, koreanische
Die Entwicklung der japanischen buddhistischen Philosophie kann folglich mehr als die Entfaltung größerer Themen gesehen werden, anstatt einer Reihe philosophischer Positionen im Disput. Diese Themen schließen die Rolle der Sprache beim Ausdruck der Wahrheit, die nicht-duale Natur des Absoluten und Relativen bzw. des Universalen und des Partikularen, die Verwirklichung der Befreiung in dieser Welt, in diesem Leben oder diesem Körper, die Gleichheit des Seienden, und schließlich die transzendente Nicht-Dualität des Guten und des Bösen ein. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, chinesische; Buddhistische Philosophie, indische; Dōgen; Kūkai; Shintō JOHN C. MARALDO
Buddhistische Philosophie, koreanische
Der Buddhismus wurde von China aus in der Mitte des 4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung auf die koreanische Halbinsel getragen. Korea war zu dieser Zeit in drei Königreiche aufgeteilt: Kokuryô, Paekche und Silla. Sowohl Kokuryô, als auch Paekche nahmen den Buddhismus unmittelbar nach seiner Einführung als Staatsreligion an, und zwar Kokuryô im Jahre 372, und Paekche im Jahre 384 n. Chr. Doch Silla akzeptierte erst 200 Jahre später den Buddhismus als Staatsreligion. Der Grund hierfür war, dass Silla das letzte der drei Königreiche war, das als zentralisierte Macht unter der Autorität eines Königs entstanden war. Es war dagegen kein Zufall, dass der Buddhismus von diesen drei Staaten gleichermaßen in einem Zeitpunkt übernommen wurde, als sie als starke Königreiche unabhängig von der Aristokratie entstanden. Diese neu etablierten Königreiche brauchten eine neue Ideologie, auf deren Grundlage sie herrschen konnten, und die unabhängig von der uralten schamanistischen Tradition war, der die bis dahin lose Konföderation von Stämmen anhing. Der Buddhismus erfüllte dieses Bedürfnis. Er wurde zu einem hoch geschätzten Werkzeug, das die Könige scharfsinnig einsetzten, nicht nur um ihre Gesellschaften mit einer politischen Ideologie zu versorgen, sondern auch um ihnen eine Grundlage zu geben, auf der sie ein praktikables System ethischen und philosophischen Denkens aufbauen konnten. In Anbetracht ihres historischen Vermächtnisses entwickelte der koreanische Buddhismus ein Merkmal, das ihn von den anderen ostasiatischen Traditionen abhob: er wurde ein vom Staat geschützter Buddhismus. Obwohl dies auf philosophischer Ebene kein besonders fortgeschrittenes Phänomen war, hatte ein solches Merkmal doch einen andauernden Einfluss auf alle Aspekte des buddhistischen Denkens in Korea. Im Allgemeinen folgt der koreanische Buddhismus einer Entwicklungslinie, die mehr oder weniger parallel zu jener des größeren ostasiatischen Zusammenhanges verlief, wenn auch mit deutlich engeren Bindungen an China als an Japan. Es gibt kein historisches Anzeichen, das auf irgendeine intellektuelle Übertragung von Ideen über Indien, dem Geburtsort des Buddhismus, hindeutet. Stattdessen entwickelte sich der Buddhismus in Korea am stärksten, als koreanische Mönche nach China reisten, um dort buddhistische Texte zu erhalten und zu studieren, die entweder ins Chinesische übersetzt worden oder überhaupt dort geschrieben worden waren. Trotz solcher engen Bindungen an China hat sich der koreanische Buddhismus jedoch zu einer eigenen Identität hin entwickelt, der sich von dem seiner Erzeuger absetzt. Im Vergleich mit dem indischen und zentralasiatischen Buddhismus, deren Entwicklung sich an klaren historischen Linien entlang vollzog, war die Entwicklung des Buddhismus in China weitgehend von den Persönlichkeiten einzelner Mönche 206
Buridan, John (ca. 1300–nach 1358)
abhängig, und war deshalb von solchen Faktoren wie ihrer Ursprungsregion und den jeweils bevorzugten Texten abhängig. Deshalb erschufen die Chinesen im Prozess der Aneignung des indischen Buddhismus eine Anzahl weitgehend unterschiedlicher Schulen buddhistischen Denkens. In Korea konnten sich solche unterschiedlichen philosophischen Traditionen nie etablieren. Vielmehr war eines der deutlichen Kennzeichen des koreanischen Buddhismus ihre Bevorzugung der Aufnahme vieler unterschiedlicher Perspektiven in ein einziges, zusammenhängendes Gedankengebäude. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, chinesische SUNGTAEK CHO
Bündeltheorie des Geistes
Siehe: Geistes, Bündeltheorie des
Buridan, John (ca. 1300–nach 1358)
Anders als die meisten anderen wichtigen Philosophen der scholastischen Periode besuchte John Buridan niemals die Theologische Fakultät. Er verbrachte jedoch seine gesamte Berufszeit als ein Meister der Künste (magister artium) an der Universität von Paris. Dort qualifizierte er sich zunächst als ein Logiker, der zahlreiche Zusätze und Verfeinerungen der Pariser Tradition der Aussagenlogik erarbeitete. Dies umfasste die Entwicklung einer echt nominalistischen Semantik, sowie einer Technik zur Analyse von Aussagen, die intentionale Verben enthielten, und Paradoxa der Selbstreferenz. Sogar in seinen Texten zur Metaphysik und Naturphilosophie ist die Logik Buridans bevorzugtes Mittel für seine nominalistische und naturalistische Auffassung. Buridans Nominalismus beschäftigt sich nicht allein mit der Leugnung der Existenz der realen Universalien, sondern mit einer Verpflichtung zur Sparsamkeit bei den Entitäten, aus denen die realen Universalien ohne die überflüssigen Typen bestehen. Auf ähnliche Weise stellt seine repräsentationalistische Erkenntnistheorie den Unterschied zwischen universaler und singulärer Erkenntnis dar, indem sie sich darauf konzentriert, wie der Intellekt seinen Gegenstand erkennt, statt auf irgendeinen Unterschied in den Gegenständen selbst zu schauen. Er unterscheidet sich von anderen Nominalisten dieser Zeit jedoch in seiner Bereitschaft zur Anerkennung des Realismus in Bezug darauf, wie bestimmte Arten physischer Veränderungen an den Dingen erklärt werden können. Der Buridanschen Naturphilosophie liegt sein Vertrauen darin zugrunde, dass die Welt durch uns gewusst werden kann (wenn auch nicht mit absoluter Gewissheit). Sein Ansatz gegenüber den Naturwissenschaften ist in dem Sinne empirisch, dass er die Evidenzartigkeit der Erscheinungen, sowie die Verlässlichkeit der aposteriorischen Modi des vernünftigen Denkens und die Anwendung gewisser naturalistischer Erklärungsmodelle für einen weiten Phänomenbereich betont. Auf ähnliche Art und Weise verortet er den freien Willen in unserer evidenten Fähigkeit, eine Wahlentscheidung im Angesicht von Alternativen hinausschieben zu können, deren Gutsein zweifelhaft oder ungewiss erscheint. Siehe auch: Nominalismus; Universalien; William von Ockham JACK ZUPKO
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Burke, Edmund (1729–1797)
Burke, Edmund (1729–1797)
Edmund Burkes philosophische Bedeutung liegt auf zwei Gebieten, nämlich der Ästhetik und der politischen Theorie. Seine frühe Arbeit über die Ästhetik, die ‚Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime und Beautiful‘ (1757), erforschte die Erfahrungsquellen des Sublimen und des Schönen, von denen er meinte, sie seien fundamentale Antworten, die er entsprechend in Beziehung setzte zum Schrecken bei Todesangst und zur Liebe gegenüber der Gesellschaft. Burke, der von 1759 an in der Politik aktiv tätig und von 1765 an Mitglied des Parlaments war, schrieb eine Reihe berühmter politischer Pamphlete bzw. hielt Reden über die Partei in der Politik (‚Thoughts on the Causes of the Present Discontents‘, 1770), über die Krise mit den amerikanischen Kolonien (‚On Conciliation with America‘, 1775), sowie über die Finanzreform und die Reform von BritischIndien (‚Speech on Mr. Fox‘s East India Bill‘, 1783). Während er klar durch einen reflektierenden, politischen Geist geformt war, stellten diese Arbeiten doch Gelegenheitswerke dar und waren keine politische Philosophie, und ihre parteipolitische Herkunft ließ sie vielen Kommentatoren suspekt erscheinen. Seine kraftvollsten und philosophisch einflussreichsten Arbeiten schrieb er im Widerspruch gegen die Ideen der Französischen Revolution, speziell seine ‚Reflections on the Revolution in France‘ (1790), die schließlich als der definitive Ausdruck des anglophonen politischen Konservatismus angesehen wurde. Hier reflektierte Burke die Quellen und den Wunsch nach sozialer Kontinuität, wobei er diesen eine abstrakte Vernunft unterstellte, ferner einer Neigung zum Üben von Gewohnheiten und zur Folgsamkeit gegenüber gewissen Institutionen, vor allem gegenüber den Erbmonarchien, aber auch hinsichtlich der Vererbung des Eigentums und der sozialen Verbände wie z.B. der etablierten Kirchen. Sein ‚Appeal from the New to the Old Whigs‘ (1791, dt.: ‚Einspruch der Neuen gegen die Alten Whigs‘5) beharrte auf der Unterscheidung zwischen der französischen und der britischen Revolution von 1688; während seine letzten Arbeit, ‚Letters on a Regicide Peace‘ (1795, ‚Briefe über den Königsmörder-Frieden‘), auf einen kompromisslosen Kreuzzug im Namen der europäischen christlichen Zivilisation gegen die atheistische, jakobinische Antithese drängte. Siehe auch: Konservatismus; Kontraktualismus; Rechte; Revolution; Tradition und Traditionalismus IAIN HAMPSHER-MONK
Burnet, G.
Siehe: Cambridge-Platonismus
Butler, Joseph (1692–1752)
Joseph Butler, der Moralphilosoph, steht in jener langen Linie der Denker des 18. Jahrhunderts, die eine Antwort auf Thomas Hobbes hinsichtlich der Natur des Menschen und der moralischen Motivation suchten. Im Anschluss an den Dritten Grafen von Shaftesbury wies er jegliche diesbezüglich rein egoistische Konzeption von sich. Stattdessen analysierte er die menschliche Natur in Teilen, an denen er auf der einen Seite Begierden, Zuneigungen und Leidenschaften feststellte, und auf der anderen Seite das Prinzip der Selbstliebe, Wohlwollen und ein Gewissen gegenüber Die Whigs waren eine britische politische Partei des 18. Jahrhunderts, deren Mitglieder sich als Vorkämpfer der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien Englands hervortaten. [WS] 5
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Butler, Joseph (1692–1752)
dem Anderen. Seine Ethik bestand hauptsächlich darin, die Beziehung dieser Teile zueinander aufzuzeigen. Die Teile bilden eine Hierarchie, die nach ihrer natürlichen Autorität geordnet ist, und während eine solche Autorität vereinnahmt werden kann, wie beispielsweise, wenn die konkrete Leidenschaft die Selbstliebe und das Gewissen überwältigt, so ist umgekehrt das System, das sie bilden, oder auch die menschliche Natur, richtig proportioniert, wenn jeder Teil den ihm zustehenden Platz in der Ordnung dieser Hierarchie einnimmt. Tugend besteht nach Butler im Handeln in Übereinstimmung mit dieser geordneten, richtig proportionierten Natur. Als Religionsphilosoph wendet sich Butler kritisch an den im 18. Jahrhundert blühenden Deismus in Britannien. Allgemein gesagt erlaubten die Deisten, dass ein Gott als Schöpfer existiert, wiesen aber die Lehren der natürlichen und insbesondere der offenbarten Religionen zurück. Butlers zentrale Taktik gegen sie ist der Einwand, dass erstens die zentralen Thesen, die mit der Naturreligion assoziiert werden, wie z.B. die Verheißung eines zukünftigen Lebens, wahrscheinlich richtig sind; und zweitens, dass die zentralen Thesen, die mit den offenbarten Religionen verbunden sind, wie z.B. Wunder, ebenso wahrscheinlich sind wie jene der Naturreligionen. Es spricht daher in diesem Streit vieles für die Butlersche These, d.h. für die Berufung auf das, was sich in dieser Welt als Beweis für ein künftiges Leben zeigt. R.G. FREY
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C Calvin, Johannes (1509–1564)
Johannes Calvin, ein französischer, protestantischer Reformer und Theologe, war Geistlicher bei den Reformierten Christen in Genf und Straßburg. Sein Buch ‚Christianae Religionis Institutio‘ (erste Auflage 1536, dt.: ‚Unterricht in der christlichen Religion‘), das im Großen und Ganzen dem apostolischen Glaubensbekenntnis folgt und von biblischem und patristischem Gedankengut geprägt ist, bildet den Kern seiner reformierten Theologie. Calvins religiöse Erkenntnistheorie verbindet Selbsterkenntnis mit dem Wissen von Gott. Er macht in den Menschen ein angeborenes Bewusstsein von Gott aus, das von der allgemeinen Offenbarung von Gott in der Schöpfung und in der Vorsehung unterstützt wird. Weil die Sünde dieses angeborene Bewusstsein korrumpiert hat, bedarf es der Heiligen Schrift, bestätigt durch den Heiligen Geist, um ein echtes Wissen von Gott zu erlangen. Die Heilige Schrift lehrt, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschuf und jeden Teil von ihr unterstützt. Die Menschheit, die gut und mit freiem Willen geschaffen wurde, hat sich infolge des Sündenfalls selbst verunstaltet und verlor damit einen wesentlichen Teil ihres freien Willens. Calvin sieht Christus als Vermittler und damit als Erfüllung der Weissagungen der Propheten, Priester und Könige des Alten Testaments. Calvin besteht darauf, dass Gott die Sünder auf der Grundlage seiner Gnade, und nicht von Leistungen, rechtfertigt und ihnen ihre Sünden vergibt, und schreibt ihnen die Rechtschaffenheit Christi zu. Solche Rechtfertigung, die man durch den Glauben erhält, verherrlicht Gott und lindert die Furcht des Gläubigen wegen ihres Status vor Gott. Auf der Grundlage allein dieses seines Willens vorherbestimmt (prädestiniert) Gott einige Menschen zum ewigen Leben, und andere zur ewigen Verdammung. Calvins Einstellung gegenüber der Hexenverfolgung war von besonderer Härte gekennzeichnet. Er war ein unbedingter Befürworter der Hexenverbrennung und des aktiven Aufspürens von Hexen. 1545 wurden in Genf innerhalb weniger Monate 34 Unglückliche nach entsetzlichen Martern vor jenen Häusern, die sie angeblich mit Pest behext hatten, verbrannt. Calvins Lehre besagt im Ergebnis, die Menschen könnten an ihrer Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung sehen, ob sie zum Heil vorausbestimmt seien. Obwohl Calvin mit seiner Prädestinationslehre zunächst die Allmacht Gottes und die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Willens betonte, begünstigte diese in Verbindung mit der strengen Moral doch auch jenes Arbeitsethos, das die Grundlage für das Gewinnstreben des erst viel später, mit der Industriellen Revolution aufstrebenden gewerblichen Bürgertums bildete. Diese auf den ersten Blick überraschenden und nicht eben geradlinigen Zusammenhänge wurden erst 1904 von dem deutschen Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Max Weber (1864–1920) entdeckt, sind aber heute weitgehend anerkannt. Calvin verleiht sogar gewöhnlichen Beschäftigungen dadurch Würde, dass er sie als einen Dienst an Gott betrachtet. Er erkennt die Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Regierung und der Kirche an, obwohl er sagt, dass die Regierung die wahre Verehrung Gottes schützen sollte, und dass die Christen ihrer Regierung 210
Cambridge-Platonismus
gehorchen und sie unterstützen sollten. Calvins Denken war in der nicht-lutheranischen, protestantischen Kirche bis in das 18. Jahrhundert dominant und erfreute sich einer Neubelebung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Siehe auch: Cambridge Platonismus; Glauben; Prädestination; Renaissance Philosophie; Wille, der RONALD J. FEENSTRA
Calvinismus
Siehe auch: Calvin, Johannes
Cambridge-Platonismus
Der Cambridge-Platonismus (Cambridge Platonism) war eine intellektuelle Bewegung, die in großen Zügen von der platonischen Tradition inspiriert war und vor allem von den 1630er bis in die 1680er Jahre in Cambridge beheimatet war. Seine hauptsächlichen Vertreter waren Ralph Cudworth, Nathaniel Culverwel, Henry More, John Smith und Benjamin Whichcote. Ihr Denken war gekennzeichnet durch ihre Ergebenheit gegenüber der Vernunft auf den Gebieten der Metaphysik, der Religion und der Ethik. Die Cambridger Platoniker machten die Vernunft statt der Tradition und Inspiration zu ihrem abschließenden Kriterium des Wissens. Ihr zentrales Ziel war die Versöhnung der Reiche der Vernunft und des Glaubens, die neue Naturphilosophie und die christliche Offenbarung. Obwohl sie den Methoden und dem Naturalismus der neuen Wissenschaften treu waren, widersprachen sie doch dessen mechanischem Erklärungsmodell, weil es keinen Raum mehr für den Geist, Gott und das Leben zu lassen schien. In der Erkenntnistheorie waren diese Platoniker Kritiker des Empirismus und betonten die Rolle der Vernunft in der Erkenntnis. Sie kritisierten auch den Konventionalismus und meinten, dass es wesentliche oder natürliche Unterscheidungen zwischen den Dingen gibt. In der Metaphysik versuchten sie die Existenz des Geistes, Gottes und des Lebens auf eine Weise einzuführen, die mit dem Naturalismus und den Methoden der neuen Wissenschaften vereinbar waren. In der Ethik verteidigten die Cambridger Platoniker den moralischen Realismus und die Freiheit des Willens gegen den Voluntarismus und den Determinismus von Hobbes und Calvin. Der Cambridger Platonismus war im 17. und 18. Jahrhundert von grundlegendem Einfluss. Er inspirierte die Bewegung des latitudinarianism (zu dt. etwa: ‚Toleranzbewegung‘) und des ethischen Rationalismus, und viele seiner Ideen wurden von Samuel Clarke, Isaac Newton und dem Dritten Graf von Shaftesbury weiter entwickelt. Siehe auch: Neuplatonismus; Platon Frederick Beiser
Campanella, Giovanni Domenico Siehe: Campanella, Tommaso
Campanella, Tommaso (1568–1639)
Tommaso Campanella war ein Theologe der Gegenreformation, Magier der Renaissance, Prophet, Dichter und Astrologe, sowie ein Philosoph, dessen Spekulationen enzyklopädische Ausmaße annahmen. Als ein Philosoph, der in die Spätrenaissance geboren wurde, ist Campanella bemerkenswert für seinen frühen und kontinuierlichen Widerspruch gegen Aristoteles. Er weist die fundamentalen aristotelischen Prinzipien des Hylomorphismus, d.h. das Verständnis aller physischen 211
Campbell, Norman Robert (1880–1949)
Substanzen als Ausdruck von Form und Stoff, zurück. Stattdessen machte er sich Telesios’ Verständnis der Wirklichkeit zu Eigen, das auf den dialektischen Prinzipien der Hitze und der Kälte beruht; und er nahm eine Form von Empirismus an, den er ebenfalls in Telesios Werk fand, und der den Pansensualismus einschloss, d.h. die Lehre, dass alle Dinge der Natur mit Sinnen ausgestattet sind. Besonders nach 1602 brachte Campanellas Hinwendung zum Renaissance-Platonismus auch eine Hinwendung zum Panpsychismus mit sich, d.h. der Auffassung, dass die gesamte Wirklichkeit mentale Aspekte habe. So zeigte sein Empirismus schließlich eine deutlich metaphysische und spiritualistische Dimension, die seine Philosophie umformte. Zur selben Zeit begrüßte seine Erkenntnistheorie einen universalen Zweifel und eine Betonung der individuellen Selbstbetrachtung, die eine Nähe zu Descartes Sichtweise erkennen lässt. Campanellas Laufbahn als ein religiöser Abweichler, radikaler Reformer und Führer einer apokalyptischen Bewegung brachte einen politischen Radikalismus hervor, der merkwürdigerweise mit traditionelleren Begriffen, wie der universalen Monarchie und dem Bedürfnis nach einer Theokratie, assoziiert wurde. Die einzige seiner zahlreichen Schriften, die heute noch Aufmerksamkeit findet, ist ‚La Città del Sole‘ (geschrieben 1602, aber nicht vor 1623 veröffentlicht; dt.: ‚Die Stadt der Sonne‘), nimmt inzwischen einen prominenten Platz in der Literatur des utopischen Denkens ein, obwohl Campanella selbst eher irgendeine Art von astronomischem oder apokalyptischem Großereignis erwartet zu haben scheint. Campanellas Naturalismus, insbesondere sein Pansensualismus und Panpsychismus, fand während der 1620er Jahre einige Verbreitung in Deutschland und Frankreich, aber in den letzten fünf Jahren seines Lebens wurde er seitens der intellektuellen Gruppen, deren führende Köpfe Mersenne, Descartes und Galileo waren, nachdrücklich zurückgewiesen. Siehe auch: Galilei, Galileo; Panpsychismus; Platonismus, Renaissance; Renaissance Philosophie JOHN M. HEADLEY
Campbell, Norman Robert (1880–1949)
Campell leistete in den 1920er Jahren wichtige Beiträge zur Wissenschaftsphilosophie, beeinflusst von Poincaré, Russell und seinen eigenen Arbeiten zur Physik. Er trug pionierartige Analysen zum Wesen physikalischer Theorien und der Messung bei, ist aber heute hauptsächlich für seine Forderung nach einer sog. ‚Analogie‘, d.h. einer unabhängigen Interpretation, für bestimmte physikalischen Theorien bekannt, z.B. dass die Kinetische Gastheorie der Bewegungsgesetze ein Schwarm mikroskopischer Partikel ist. Siehe auch: Messung, Theorie der; Modelle; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus D.H. MELLOR
Camus, Albert (1913–1960)
Albert Camus wurde im Jahre 1957 der Nobelpreis dafür verliehen, dass er „das Problem des menschlichen Bewusstseins in unserer Zeit“ beleuchtet hatte. Durch seine Mythologisierung der Erfahrungen eines säkularen Zeitalters, das mit einer in steigendem Maße angefochtenen religiösen Tradition kämpft, dramatisierte er die menschlichen Bemühungen „zu leben und zu schaffen ohne die Hilfe ewiger Werte, 212
Cantors Theorem
die, wenn auch vielleicht nur zeitweise, im gegenwärtigen Europa abgeschafft oder verzerrt sind“. (‚Der Mythos von Sisyphos‘, 1943). So beschrieb er die Herausforderung des so genannten Absurden, mit der er allgemein identifiziert wird. Siehe auch: Existenzialismus DAVID A. SPRINTZEN
Cantor, Georg (1845–1918)
Georg Cantor und die Mengenlehre gehören ideengeschichtlich aufs Engste zusammen. Obwohl Dedekind den Begriff der Menge und der naiven Mengenlehre bereits 1872 eingeführt hatte, war es doch Cantor, der ganz allein die transfinite Mengenlehre als einen neuen Zweig der Mathematik begründete. In einer Reihe von Texten, die zwischen 1874 und 1885 geschrieben wurden, entwickelte er die fundamentalen Begriffe der abstrakten Mengenlehre und bewies das wichtigste seiner Theoreme. Obwohl die Mengenlehre heute von der Mehrheit der Wissenschaftler als ein autonomer Zweig der Mathematik, und vielleicht sogar als ihr grundlegendster, akzeptiert ist, war dies anfangs nicht der Fall. Als Cantor sich daran machte, seinen Begriff der Menge zu entwickeln und sich für seine Annahme einsetzte, woran sich eine Untersuchung des Infiniten anschloss, warf dies tatsächlich viele Fragen auf, die bis auf den heutigen Tag noch nicht alle geklärt sind. Siehe auch: Cantors Theorem; Mengenlehre; Paradoxa, Mengentheoretische; Unendlichkeit §§ 6–7 ULRICH MAJER
Cantors Theorem
Cantors Theorem besagt, dass die Kardinalzahl (‚Mächtigkeit‘) der Menge aller Untermengen einer Menge größer ist als die Kardinalzahl der Obermenge. Ist die Existenz einer unendlichen Menge erst einmal bewiesen, können Mengen von ständig wachsender unendlicher Kardinalität erzeugt werden. Das philosophische Interesse an diesem Ergebnis liegt (1) in der grundlegenden Rolle, die es in Cantors Arbeit spielt, und zwar noch vor der Axiomatisierung der Mengenlehre, (2) in der Ähnlichkeit zwischen seinem Beweis und den Argumenten, die zu den mengentheoretischen Paradoxa führen, und (3) in der Kontroverse zwischen den Intuitionisten und den klassischen Mathematikern betreffend das, was ihre Beweise eigentlich beweisen. Siehe auch: Kontinuumshypothese MARY TILES
Carnap, Rudolf (1891–1970)
Carnap war einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts und leistete wichtige Beiträge zur Logik, zur Wissenschaftsphilosophie, zur Semantik, zur Modaltheorie und der Wahrscheinlichkeitstheorie. Nachdem er zunächst als ein enfant terrible betrachtet wurde, als er als Mitglied des Wiener Kreises in den 1930er Jahre bekannt wurde, wäre es nunmehr richtiger, ihn als jemanden zu sehen, der die weit auseinander laufenden Auffassungen dieses Kreises zu einer einheitlichen Bewegung zusammen hielt. In der 1930er Jahren entwickelte er einen gewagten pragmatischen Konventionalismus, demzufolge viele traditionelle philosophische Diskussionen als der Ausdruck unterschiedlicher linguistischer Rahmenbedingungen aufzufassen sind, und damit nicht als Uneinigkeit im eigentlichen Sinne. Diese Unterscheidung zwischen einer Sprache (dem Rahmen) und dem, was mit dieser 213
Carnap, Rudolf (1891–1970)
Sprache gesagt werden kann, stand im Zentrum von Carnaps Philosophie, womit er die offenkundig apriorischen Ansprüche wie z.B. der Logik und der Mathematik mit einem tiefgründigen Empirismus versöhnte: grundlegende logische und mathematische Verpflichtungen sind ein Teil der Entscheidung für eine Sprache. Es gibt keine eindeutig richtige Wahl zwischen alternativen Logiken oder Grundlegungen der Mathematik; dies ist eine Frage der praktischen Zweckdienlichkeit, nicht der Wahrheit. Demnach kann die Logik und die Mathematik kraft der durch sie gewählten Sprache als wahr aufgefasst werden. Die verbleibenden, substanziellen Fragen, die nicht bereits durch die Sprachwahl beantwortet werden, sollten nur auf empirischem Wege geklärt werden. Eine andere Quelle des Neuen gibt es nicht. Jenseits der reinen Logik und Mathematik erkannte Carnaps Ansatz innerhalb der Wissenschaften solche verbindlichen Sätze an, die treffenderweise ‚a priori‘ genannt werden. Damit meint er jene, die nicht unmittelbar durch Beobachtungsevidenz überprüft wurden, sondern vielmehr bei der Sammlung und Manipulation solcher Evidenzen bereits vorausgesetzt werden. Diese apriorischen Sätze werden ebenfalls in Bezug auf die verwendete Sprache relativiert und vertragen sich deshalb ebenfalls mit dem Empirismus. Die geeignete Einstellung gegenüber alternativen Rahmenbedingungen wäre Toleranz, und die geeignete Art und Weise des Philosophierens das geduldige Erklären und Ausarbeiten von Details der Konsequenzen infolge der Auswahl des einen oder anderen sprachlichen Rahmens. Während Carnap an dieser Theorie unermüdlich arbeitete und gegenüber alternativen theoretischen Rahmen tolerant blieb, nahm man sich an seiner Toleranz kaum ein Beispiel, noch wurden seine Prinzipien richtig verstanden und angewandt. Als er starb, wiesen die Philosophen das, was sie als logischen Empirismus ansahen, weit von sich, obwohl häufig sowohl für ihre Argumente, als auch für die geäußerten Auffassungen, die zu seiner Verbesserung vorgebracht wurden, ursprünglich von Carnap selbst und seinen Mitstreitern der Weg bereitet worden war. Mit der Jahrhundertwende zeigte sich jedoch ein neues und vollständigeres Verständnis für seine Ideen und deren Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Siehe auch: Analytische Philosophie RICHARD CREATH
Carneades (214–129 v. Chr.)
Der griechische Philosoph Carneades war der Leiter der Akademie in den Jahren 167 bis 137 v. Chr. Er wurde in Nordafrika geboren, ging dann nach Athen, wo er bei dem Stoiker Diogenes von Babylon Logik studierte. Bald jedoch war er von der Akademie fasziniert, der er dann bis an sein Lebensende die Treue hielt. Er war eine gefeierte Persönlichkeit, und im Jahre 144 v. Chr. wurde er als politischer Gesandter von Athen nach Rom geschickt, wo er die Jugend mit der Macht seiner Rhetorik erstaunte und die Älteren wegen seiner Argumente gegen die Gerechtigkeit empörte. Unter Carneades’ Führung blieb die Akademie skeptisch. Er erweiterte jedoch das skeptische Arsenal, insbesondere setzte er Sorites-Argumente1 gegen verschieDer Ausdruck ‚Sorites’ stammt ab von gr.: sōrós = der Haufen. Ein Sorites ist ein (falscher) syllogistischer Schluss, der logisch rätselhaft ist. Das bekannteste Beispiel eines Sorites ist der sog. Haufenschluss, nach dem das Sorites seinen Namen erhielt: „Wieviel Körner machen einen Haufen?“ Offensichtlich lässt sich diese Frage nicht durch numerisches Aufaddieren einzelner Körner beantworten. Die Lösung des Rätsels liegt vielmehr in der Einsicht, dass ‚Haufen‘ und ‚Korn‘ in gar keinem numerisch definierten Verhältnis zueinander stehen. Die Prämissen ‚Ein Körnerhaufen
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Cassirer, Ernst (1874–1945)
dene dogmatische Positionen ein. Er verbreiterte auch das Ziel des skeptischen Angriffs: so zeigte er ein besonderes Interesse an der Moral, wo seine Einteilung möglicher ethischer Theorien später als Standardrahmen für das Denken auf diesem Gebiet diente. Seine größte Neuerung betraf jedoch den Begriff des ‚Plausiblen‘ (to pithanon). Selbst wenn wir nicht bestimmen können, welche Erscheinungen wahr und welche falsch sind, sind wir doch imstande, das Plausible vom Unplausiblen zu unterscheiden, und darüber hinaus zwischen zahlreichen Graden der Plausibilität. Man debattiert jedoch heute noch darüber, und tat dies bereits unter seinen direkten Nachfolgern, wie, wenn überhaupt, Carneades’ Bemerkungen über das Plausible mit seinem Skeptizismus zu vereinen sei. Siehe auch: Cicero, M.T.; Stoizismus JONATHAN BARNES
Carrol, Lewis
Siehe: Dodgson, Charles Lutwidge
Cartesianismus
Siehe: Descartes, René; Malebranche, Nicolas
Cārvāka
Siehe: Materialismus, Indische Schule des
Cassirer, Ernst (1874–1945)
Cassirer ist eine der größeren Persönlichkeiten in der Entwicklung des philosophischen Idealismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er ist für seine Kulturphilosophie bekannt, die auf dem Begriff der ‚symbolischen Form‘ aufbaut, für seine historischen Studien zum Problem der Erkenntnis zu Beginn der modernen Philosophie und Wissenschaft, sowie für seine Arbeiten über die Renaissance und die Aufklärung. Cassirer erweiterte Kants Kritik der Vernunft zu einer Kritik der Kultur, indem er das Symbol als den gewöhnlichen Bezeichner für alle Formen des menschlichen Denkens, der Vorstellung und der Erfahrung betrachtete. Er entwarf symbolische Formen des Mythos, der Religion, der Sprache, der Kunst, der Geschichte und der Wissenschaft und definierte den Menschen als ein ‚symbolbildendes Tier‘. Alle menschliche Erfahrung ereignet sich ihm zufolge durch Symbolsysteme vermittelt. Die Sprache ist nur eines dieser Systeme; die Bilder der Mythen, der Religion und der Kunst, und die mathematischen Strukturen der Wissenschaft sind weitere. Wegen seines jüdischen Glaubens verließ Cassirer mit dem Aufkommen des Nazismus im Jahre 1933 Deutschland und ging nach Oxford und übernahm später universitäre Ämter in Schweden und den USA. In der letzten Periode seiner Laufbahn wandte er seine Kulturphilosophie allgemeiner an, und seine Konzeption des Mythos speziell auf eine Kritik der politischen Mythen, sowie auf ein Studium der irrationalen Kräfte innerhalb eines Staates. Siehe auch: Staat, der DONALD PHILLIP VERENE besteht aus vielen Körner’ und ‚Zenon fügt 2 Körnern dort ein weiteres Korn hinzu’ lassen aufgrund der Unbestimmtheit des Ausdrucks ‚viele’ nicht den Schluss zu, dass nunmehr ein Körnerhaufen entstanden sei. Dasselbe gilt auch dann noch, wenn die zweite Prämisse hinsichtlich der bereits vorhandenen Körnerzahl beliebig erhöht wird. Die numerische Bestimmtheit der gezählten Körner passt nicht zur numerischen Unbestimmtheit des Haufen-Begriffs. Ein darauf gestützter Syllogismus ist deshalb prinzipiell fehlerhaft. [WS]
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Cavendish, Margaret Lucas (1623–1673)
Cavell, Stanley (1926–)
Stanley Cavell wurde in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia geboren. Seit 1963 hat er den Walter-M.-Cabot-Lehrstuhl für Ästhetik und Allgemeine Werttheorie an der Harvard Universität inne. Die Breite, Vielfalt und Bestimmtheit seiner Texte haben in der anglo-amerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts keine Parallele. Außer der Veröffentlichung von Essays über moderne Malerei und Musik hat er ein substanzhaltiges, großes Werk über Filmstudien, Literaturtheorie und Literaturkritik geschaffen; er hat neue und fruchtbare Wege des Denkens über die Psychoanalyse und ihre Beziehung zur Philosophie aufgezeigt; und seine Arbeit über Heidegger und Derrida, zusammen mit seinen Versuchen zur Wiederbelebung der Tradition des Emersonschen Transzendentalismus haben neue Möglichkeiten für einen ausgeprägt amerikanischen Beitrag zur philosophischen Kultur ausgewiesen. Sein komplexes Werk findet seine Einheit durch eine Reihe thematischer Schwerpunkte, die in Beziehung zum Skeptizismus und zum moralischen Perfektionismus stehen, und die in Cavells Bindung an eine Tradition der Alltagssprache verwurzelt sind, wie sie in den Werken von J.L. Austin und Wittgenstein dargestellt wird. STEPHEN MULHALL
Cavendish, Margaret Lucas (1623–1673)
Als einzige Frau des 17. Jahrhunderts, die zahlreiche Bücher zur Naturphilosophie veröffentlicht hat, stellte Margaret Cavendish ihren Materialismus innerhalb einer großen Bandbreite literarischer Formen dar. Sie gab ihre frühe Bindung an den epikureischen Atomismus auf und verschrieb sich, indem sie das mechanische Modell des natürlichen Wandels verwarf, dem organizistischen Materialismus. Sie widmete sich darüber hinaus den Beziehungen zwischen der Philosophie, den Geschlechtern und den literarischen Genres. Siehe auch: Atomismus, Antiker; Materialismus EILEEN O’NEILL
Chaostheorie
Chaostheorie ist der Name für ein wissenschaftliches Unternehmen der Erforschung mathematisch einfacher Systeme, die ein komplexes und unvoraussagbares Verhalten zeigen. Seit den 1970er Jahren werden diese Systeme verwendet, um experimentelle Situationen zu modellieren, die von frühen Phasen flüssiger Turbulenz bis hin zur Fluktuation von Wellen innerhalb der Gehirntätigkeit reichen. Dieses komplexe Verhalten ist nicht das Ergebnis einer Interaktion zahlreicher Untersysteme oder intrinsisch probabilistischer Gleichungen. Stattdessen bringt das chaotische Verhalten ein rapides Anwachsen irgendeiner Abweichung mit sich. Die leichteste Vagheit bei der Bestimmung des Ausgangszustandes eines solchen Systems macht ‚langfristige‘ Prognosen unmöglich, indem sie ein Verhalten hervorbringt, dass tatsächlich zufällig ist. Die Existenz eines solchen Verhaltens wirft Fragen über den Umfang auf, in dem Voraussagbarkeit und Determinismus in der Welt gegeben sind. Die Chaostheorie nimmt sich der Frage an, wie ein solches Verhalten entsteht, und wie es sich mit der Veränderung des Systems ebenfalls verändert. Ihre neuen analytischen Techniken laden zu einem Überdenken der wissenschaftlichen Methodik insgesamt ein. Siehe auch: Zufall STEPHEN H. KELLERT 216
Chassidismus
Chassidismus
Der Ausdruck ‚Chassidismus‘ bedeutet wörtlich ‚Frömmigkeit‘. Der Chassidismus ist eine mystische Erneuerungsbewegung, die ihren Ursprung in Osteuropa in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte. Sie wurde zu einer der wichtigsten spirituellen und sozialen Entwicklungen des orthodoxen Judaismus und hatte Einfluss sowohl auf Nicht-Juden, als auch auf Juden, die nicht orthodox waren. Frühe chassidische Führer beanspruchten ihre spirituelle Autorität auf der Grundlage himmlischer Offenbarungen und mystischer Erweckungserlebnisse. Sie unterschieden sich allerdings von den mehr esoterisch gestimmten Kabbalisten, aus deren Reihen sie ihre ersten Anhänger gewannen, indem sie versuchten, der Gemeinschaft die Früchte mystischer Inspiration nahe zu bringen. Chassidische Lehren pflegten spezifische spirituelle und rituelle Neuerungen, die der tiefgründigen Verbindung Ausdruck verliehen, die die hasidischen Meister zwischen der weltlichen Existenz und der inneren, mystischen Bedeutung von Gottes Gesetz sahen. Gemäß dem chassidischen Denken bilden das Göttliche und das Menschliche eine einzige, alles umfassende Einheit, und diese war die Grundlage, auf der die chassidischen Rabbis in Handlungen jüdischer Frömmigkeit die Bedeutung der Verbindung göttlicher Erfahrung und menschlicher Empfänglichkeit entdeckten. Bemerkenswert wegen seiner Vitalität und Kontinuität in der Verschiedenheit hat der Chassidismus bis auf den heutigen Tag Einfluss auf das religiöse Judentum und darüber hinaus. Siehe auch: Gott, Begriffe von; Kabbalah RACHEL ELIOR
Chinesische Philosophie
Jeder Versuch, eine intellektuelle Tradition zu überblicken, die mehr als viertausend Jahre umgreift, erscheint als ein aussichtsloses Unterfangen, selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass der Leser zumindest stillschweigend viele der Annahmen teilt, die dieser Tradition zugrunde liegen. Solche Gemeinplätze können jedoch nicht vorausgesetzt werden, wenn man sich darum bemüht, asiatisches Denken westlichen Lesern vorzustellen. Bis zum Eindringen der ersten Jesuiten im späten 16. Jahrhundert hatte sich China praktisch unabhängig von der indoeuropäischen Kulturerfahrung entwickelt, und China und die westliche Welt verharrten bis dahin in beinahe vollständigem Unwissen voneinander. Den dramatischen Gegensatz zwischen den chinesischen und den westlichen Weisen des philosophischen Denkens kann man durch die Tatsache illustrieren, dass die Tendenz der europäischen Philosophen dahin geht, die wesentliche Wirklichkeit, die hinter den Erscheinungen liegt, aus den Dingen herauszulesen, was wiederum bei chinesischen Denkern auf wenig Gegenliebe stoßen würde, deren Hauptinteresse der Errichtung und Kultivierung von harmonischen Beziehungen innerhalb ihrer sozialen Sphäre gilt. Im Gegensatz zur anglo-europäischen philosophischen Tradition ist das Denken der Chinesen viel konkreter, diesseitiger und vor allem praktischer. Ein Grund für diesen Unterschied drängt sich durch die Tatsache auf, dass kosmogonische und kosmologische Mythen eine sehr geringe Rolle bei der Entwicklung der chinesischen Intellektualkultur spielten, und dass die chinesischen Denker sich folglich nicht auf Fragen der kosmischen Ordnung, sondern auf solche der weltlicheren Fragen konzentrierten, z.B. wie eine gemeinschaftliche Harmonie innerhalb eines relativ kleinen sozialen Zusammenhanges erreichbar sei. Die ziemlich tiefgrei-
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Chinesische Philosophie
fenden, lokalen, sprachlichen und ethnischen Besonderheiten, die Plinius der Ältere als ein ‚Bleib-zu-Hause‘-China beschrieb, gestärkt durch eine relative Abwesenheit des interkulturellen Kontakts, erzeugte traditionell radiale Gemeinschaften, in denen moralische, ästhetische und spirituelle Werte relativ implizit, d.h. unausgesprochen, beibehalten werden. Im Gegensatz dazu mussten diese Normen im Westen abstrahiert werden und gelangten damit an die Oberfläche des Bewusstseins, um Konflikte durchschauen zu können, die anlässlich komplexer ethnischer und sprachlicher Wechselwirkungen zusammen mit der Entwicklung einer Zivilisation auftraten, die beinahe von Beginn an in einem Zusammenfließen von griechischen, hebräischen und lateinischen Zivilisationen auftraten. Diese sehr bestimmten Ursprünge und Geschichten der chinesischen und westlichen Zivilisationen manifestierten sich auf mehrere wichtige Arten und Weisen. Dem Vorrang des logischen Denkens im Westen entspricht in China die Bedeutung eines weniger formalen Gebrauchs analogischer, parabolischer und literarischer Diskurse. Die Chinesen stehen abstrakten Analysen relativ indifferent gegenüber, die auf die Erhaltung einer objektiven Perspektive ausgerichtet sind, und sind in ihren Motiven zum Erwerb, der Organisation und der Übertragung von Wissen entschieden anthropozentrisch orientiert. Das Desinteresse an nüchternen Spekulationen über die Natur der Dinge, und ihre leidenschaftliche Ausrichtung am Ziel der sozialen Harmonie war über weite Strecken der chinesischen Geschichte vorherrschend. Tatsächlich war dem Interesse an logischen Spekulationen von Gruppen wie z.B. den Sophisten und den späteren Mohisten im klassischen China nur ein kurzes Leben beschert. Die konkrete, praktische Orientierung der Chinesen auf ein Ziel gemeinschaftlicher Harmonie hin bestimmte die Umstände ihres Ansatzes gegenüber philosophischen Unterschieden. Ideologische Konflikte wurden nicht nur von Politikern, sondern von den Intellektuellen selbst als eine Bedrohung des sozialen Wohlergehens angesehen. Der harmonische Austausch war schlussendlich wichtiger für diese Denker als beispielsweise die abstrakte Frage, wer jetzt bei der ‚Wahrheit‘ angelangt sei. Wie die Chinesen mit ihren theoretischen Konflikten umgingen, sieht man vielleicht am anschaulichsten an der gegenseitigen Anpassung der drei auftauchenden Traditionen der chinesischen Kultur, dem Konfuzianismus, dem Taoismus und dem Buddhismus. In der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) wurden die zahlreichen Themen, die man von den konkurrierenden ‚Hundert Schulen‘ des präimperialen China erbte, innerhalb des Konfuzianismus auf seinem Wege zur Staatsideologie harmonisiert. Von der Han-Synthese bis ungefähr ins 10. Jahrhundert n. Chr. konkurrierten weiterhin starke buddhistische und taoistische religiöse Einflüsse mit den fortbestehenden konfuzianischen Themen, während vom 11. Jahrhundert an bis zur modernen Periode, d.h. in der Zeit des chinesischen Neoklassizismus, der Neokonfuzianismus in sich diese bestehenden Spannungen aufnahm und damit jene Strömungen, aus denen China, ob es wollte oder nicht, im Gegensatz zur westlichen Zivilisation hervorging. Seitdem der westliche Einfluss zumindest ein ständiger Teil der chinesischen Kultur geworden ist, blieben die traditionellen chinesischen Werte während der Entwicklung des modernen China dennoch dominant. Für eine kurze Zeitspanne schien die intellektuelle Aktivität anlässlich der ‚Bewegung des 4. Mai‘ im Jahre 1919 die chinesische Philosophie in die Richtung westlicher philosophischer Interessen zu 218
Chinesischen Raumes, Argument des
lenken. Besuche seitens Bertrand Russell und John Dewey, zusammen mit einer großen Anzahl chinesischer Studenten auf der Suche nach einer Ausbildung im kontinentalen Europa, in Britannien und in den USA versprachen eine neue Epoche in den chinesischen Beziehungen zum Rest der Welt. Jedoch war der Marxismus, den Mao Tse Tung in China förderte, eine „westliche Ketzerei, um sich dem Westen entgegenzustellen.“ Maos Marxismus nahm rasch einen typisch chinesischen Geschmack an, und Chinas Isolation von intellektuellen westlichen Strömungen setzte sich im Wesentlichen unvermindert bis zu seinem Tode fort. Erst mit dem Ende der Sowjetunion geriet auch China unter den ideologischen und letztlich wirtschaftlichen Zwang einer umfassenden Öffnung, der eine Entwicklungsdynamik in Gang setzte, die aus heutiger Perspektive noch kaum zu überschauen ist. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, Chinesische; Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Konfuzius; Daoistische Philosophie; Mohistische Philosophie DAVID L. HALL, ROGER T. AMES
Chinesischen Raumes, Argument des
Das ‚Argument des chinesischen Raumes‘ von John Searle bezweckt die Widerlegung der Hypothese der ‚starken Künstlichen Intelligenz‘ (KI), d.h. der Auffassung, dass der Aufruf eines Computerprogramms genügt, um einen gehaltvollen mentalen Zustand herzustellen. Man stelle sich ein Programm vor, das gesprächspraktisch richtige chinesische Antworten auf chinesische Äußerungen gibt. Man nehme nun an, dass Searle, der kein Chinesisch versteht, in einem Raum sitzt und Papierschnitzel gereicht bekommt, auf denen Reihen von Formen stehen, die für ihn unbekannte, chinesische Sätze bedeuten. Searle nimmt daraufhin manuell die Operationen vor, die das Programm erledigen würde, und gibt die Papierschnitzel zurück, die folglich wieder gesprächspraktisch richtige chinesische Antworten enthalten. Searle ruft offenbar das Programm auf (wenn auch nur manuell), versteht aber kein Chinesisch. Also, schließt Searle, ist die ‚starke Künstliche Intelligenz‘ widerlegt. Siehe auch: Künstliche Intelligenz; Bewusstsein; Intentionalität ROBERT VAN GULICK
Chisholm, Roderick Milton (1916–1999)
Chisholm war ein bedeutender analytischer Philosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten zur Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik sind gekennzeichnet von einer gewissenhaften Aufmerksamkeit für das Detail, die Verwendung einiger weniger, grundlegender, undefinierter oder primitiver Ausdrücke, und eine außerordentliche Klarheit. Als einer der ersten anglo-amerikanischen Philosophen, der fruchtbaren Gebrauch von der Philosophie Brentanos und Meinongs machte, übersetzte Chisholm viele von Brentanos philosophischen Schriften. Als einer der großen Lehrer ist Chisholm weithin bekannt für die drei Auflagen der ‚Theory of Knowledge‘ (‚Erkenntnistheorie‘), einem schmalen Buch und gleichzeitig dem Standardtext in den Studiengrundkursen der Erkenntnistheorie in den USA. Als ontologischer Platoniker verteidigt Chisholm den menschlichen freien Willen und die personale Identität im strengen Sinne. Siehe auch: A posteriori; Common-Sense-Schule; Erkenntnis und Rechtfertigung, Kohärenztheorie der; Letztbegründungsphilosophie; Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie; Wahrnehmung; Skeptizismus DAVID BENFIELD 219
Chomsky, Noam (1928–)
Chomsky, Noam (1928–)
Fische schwimmen, Vögel fliegen, Leute reden. Die Talente, die die Fische und die Vögel haben, beruhen auf spezifischen biologischen Strukturen, deren verwickelte Details ihrer genetischen Ausstattung zuzuschreiben sind. Die menschlichen linguistischen Fähigkeiten beruhen auf ähnliche Weise auf dafür eingerichteten mentalen Strukturen, von denen viele spezifische Details zur angeborenen biologischen Ausstattung unserer Spezies gehören. Eine von Chomskys zentralen Bemühungen war die Ausgestaltung dieser Analogie und die Erhellung ihrer Implikationen für die Theorie des Geistes, der Bedeutung und der Erkenntnis. Diese erfolgte entlang zweier großer Linien. Erstens hat Chomsky die grammatische Forschung grundlegend restrukturiert. Infolge dieser Arbeit ist der zentrale Gegenstand in der Linguistik das ‚Sprachvermögen‘, ein postuliertes mentales Organ, dass dem Erwerb linguistischen Wissens gewidmet und an den verschiedenen Aspekten des Sprachgebrauchs beteiligt ist, einschließlich der Herstellung und dem Verständnis von Äußerungen. Das Ziel der linguistischen Theorie ist die Beschreibung des Anfangszustandes dieses Vermögens, und wie es sich verändert im Zuge der Begegnung mit linguistischen Daten. Chomsky charakterisiert dessen Anfangszustand des Sprachvermögens als eine Reihe von Prinzipien und Parametern. Der Spracherwerb besteht darin, diese freien Parameterwerte auf der Grundlage linguistischer Daten zu besetzen, die dem Kind zur Verfügung stehen. Der Anfangszustand des Systems ist eine Universalgrammatik (UG): ein Metarezept zum Ausbrüten sprachspezifischer Grammatiken. Grammatiken bilden die Wissensbasis konkreter Sprachen, die sich ergeben, wenn Parameterwerte fixiert werden. Die linguistische Theorie hat in Anbetracht dieser Auffassungen eine doppelte Aufgabe. Zunächst zielt sie darauf ab, diejenigen Grammatiken (und damit die mentalen Zustände) ‚adäquat‘ zu charakterisieren, die sich native Sprecher angeeignet haben. Theorien sind ‚deskriptiv adäquat‘, wenn sie dieses Ziel erreichen. Ferner will die linguistische Theorie erklären, wie grammatische Kompetenz erworben wird. Theorien sind ‚explanatorisch adäquat‘, wenn sie zeigen, wie deskriptiv adäquate Grammatiken auf der Grundlage einer Begegnung mit ‚primären linguistischen Daten‘ (PLD) entstehen können, z.B. die Daten, die Kinder aufnehmen und zum Erwerb ihrer nativen Grammatiken erwerben. Explanatorische Adäquanz beruht auf einer ausformulierten Theorie der UG, und speziell einer detaillierten Theorie der allgemeinen Prinzipien und freien Parameter, die den Anfangszustand des Sprachvermögens charakterisieren, d.h. der biologisch ausgestatten mentalen Strukturen. Chomsky hat auch eine zweite Gruppe von Fragen verfolgt. Er hat sehr energisch viele philosophische Patentrezepte aus der Perspektive dieses wieder belebten Ansatzes zur Linguistik kritisiert. Drei der Themen, in denen er konsistent widersprochen hat, sind: a) die Kenntnis der Sprache und ihre allgemeinen erkenntnistheoretischen Implikationen; b) die Unbestimmtheit und Unterbestimmtheit in der linguistischen Theorie; c) personenspezifische ‚I-Sprachen‘ versus sozial konstruierter ‚E-Sprache‘ als dem eigentlichen Gegenstand des wissenschaftlichen Studiums. Siehe auch: Angeborenheit; Sprache, Angeborenheit der; Sprache, Philosophie der; Unbewusste mentale Zustände NORBERT HORNSTEIN
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Christine de Pizan (1365–ca. 1430)
Christliche Philosophie, Frühe Siehe: Religion und Wissenschaft
Christine de Pizan (1365–ca. 1430)
Christine de Pizan, Frankreichs erste femme des lettres, ist uns vor allem als eine Hofdichterin und als eine Propagandistin für die Frauen in Erinnerung. Ihre ausgedehnten Schriften waren durch die frühen Humanisten beeinflusst und zeigen ein Interesse an Ausbildung (spezielle für Frauen und junge Menschen) und an der Regierung. Indem sie sich Thomas von Aquin anschließt, definiert Christine die Weisheit als die höchste intellektuelle Tugend und versucht das Konzept des gerechten Krieges auf zeitgenössische Probleme anzuwenden. Ihre Arbeiten sind auch bemerkenswert hinsichtlich ihres Beitrages zum Hereintragen der italienischen Literatur in die damaligen Pariser intellektuellen Kreise. Siehe auch: Feminismus § 2; Humanismus, Renaissance; Renaissance Philosophie CHARITY CANNON WILLARD
Churchs Theorem und das Entscheidungsproblem
Churchs Theorem, das im Jahre 1936 veröffentlicht wurde, behauptet, dass die Menge aller gültigen Aussagen der Logik erster Ordnung nicht effektiv entscheidbar sind: es gibt keine Methode und keinen Algorithmus zur Entscheidung darüber, welche Aussagen der Logik erster Ordnung gültig sind. Churchs Aufsatz warf ein unentscheidbares Kombinationsproblem P auf und zeigte, dass P innerhalb der Logik erster Ordnung darstellbar war. Wenn die Logik erster Ordnung entscheidbar wäre, so wäre P auch entscheidbar. Da P jedoch unentscheidbar ist, muss also die Logik erster Ordnung auch unentscheidbar sein. Churchs Theorem ist eine negative Lösung des Entscheidungsproblems, d.h. dem Problem, eine Methode aufzufinden, die entscheidet, ob ein gegebener Ausdruck der Logik erster Ordnung gültig oder erfüllbar ist, oder keines von beidem. Die große Leistung von Church (und unabhängig von ihm von Turing) war es nicht allein bewiesen zu haben, dass es hier keine Methode gibt, sondern darüber hinaus auch eine mathematische Definition des Begriffs des ‚effektiv lösbaren Problems‘ zu geben, d.h. eines Problems, dass mittels einer Methode oder eines Algorithmus lösbar ist. Siehe auch: Churchs These ROHIT PARIKH
Churchs These
Von einem Algorithmus oder einer mechanischen Prozedur A heißt es, sie ‚berechne‘ eine Funktion f, wenn für ein beliebiges n im Bereich von f, sofern n eingegeben wird, A schließlich fn als Ergebnis ausgibt. Die A-Funktion ist ‚berechenbar‘, wenn es einen Algorithmus gibt, der sie berechnet. Eine Menge S ist ‚entscheidbar‘, wenn es einen Algorithmus gibt, der über die Mitgliedschaft in S entscheidet: wenn, sofern irgendein geeignetes n als Eingabe erfolgt, dieser Algorithmus ‚ja‘ ausgibt, wenn n ∈ S ist, und ‚nein‘, wenn n ∉ S ist. Die Begriffe ‚Algorithmus‘, ‚berechenbar‘ und ‚entscheidbar‘ sind informal (oder präformal) insofern, als sie eine Bedeutung haben, die unabhängig von Versuchen einer rigorosen Formulierung ist und diesen vorgeht. Churchs These, die zuerst durch Alonzo Church in einem Aufsatz im Jahre 1936 veröffentlicht wurde, besagt, dass eine Funktion berechenbar ist, wenn und nur wenn sie rekursiv ist: ‚Wir definieren nun den Begriff […] einer effektiv berechenbaren Funktion […], indem wir sie mit dem Begriff der rekursiven Funktion identifizieren […].‘ Unabhängig von ihm trug Alan Turing vor, dass eine Funktion berechenbar ist, 221
Cicero, Marcus Tullius (106–43 v.Chr.)
wenn es eine sog. ‚Turing-Maschine‘ gibt, die sie berechnet. Und er zeigte, dass eine Funktion turing-berechenbar ist, wenn und nur wenn sie rekursiv ist. Churchs These ist heute weitgehend anerkannt. Da ein Algorithmus aus einer rekursiven Ableitung ‚herausgelesen‘ werden kann, ist jede rekursive Funktion berechenbar. Drei umgekehrte ‚Evidenz‘-Typen wurden bisher aufgezeigt. Erstens wurde gezeigt, dass jeder Algorithmus, der geprüft wurde, eine rekursive Funktion berechnet. Zweitens lieferten Church et al. Analysen der Bewegungen, die einer Person verfügbar sind, die eine mechanische Prozedur ausführt, und zeigten daraufhin, dass alles an diesen Bewegungen durch eine Turing-Maschine oder eine rekursive Ableitung etc. simuliert werden kann. Die dritte Überlegung folgt aus einem ‚Zusammenfluss‘: Von mehreren unterschiedlichen Kennzeichnungen, die mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt wurden, konnte gezeigt werden, dass sie koextensiv sind, was nahe legt, dass alle von ihnen das betreffende Ziel erreichen. Die Liste schließt die Rekursivität, die Turing-Berechenbarkeit, die Herbrand-Gödel-Ableitbarkeit, die λ-Definierbarkeit und die Berechenbarkeit nach dem Markov-Algorithmus ein. Siehe auch: Berechenbarkeits-Theorie STEWART SHAPIRO
Cicero, Marcus Tullius (106–43 v.Chr.)
Cicero, ein herausragender römischer Staatsmann und Redner im 1. Jahrhundert v. Chr., ferner ein fruchtbarer Autor, schuf als erster ein substanzielles und umfassendes philosophisches Werke auf lateinisch. Nach seinem Aufstieg aus der Unbekanntheit einer kleinen Stadt hinaus zum Gipfel einer zuverlässig konservativen Aristokratie in Rom widmete er den größten Teil seines Lebens den öffentlichen Angelegenheiten. Er war aber ebenso tief durch sein ganzes Leben hindurch an der Philosophie interessiert, und während zweier Zeiträume des erzwungenen Rückzugs von der Politik schrieb er zwei Reihen von Dialogen. Zunächst erläuterte er seine politischen Ideale und durchmusterte dann zentrale Fragen der Erkenntnistheorie, Ethik und Theologie. Diese Arbeiten, die eigentlich zur Einführung philosophischer Studien als einem integralen Bestandteil der römischen Kultur gedacht waren, sind tief der griechischen Philosophie verpflichtet, und einige der späteren Dialoge sind weitgehend Zusammenfassungen der hellenistischen Debatten. Aber Cicero überarbeitete seine Quellen von Grund auf, und seine methodischen Ausführungen sind gedanklich tiefgehend, wohlüberlegt und in Fragen betreffend die Politik und die Moral oft kreativ. Als ein Anhänger der skeptischen Neuen Akademie stand er in Opposition zum Dogmatismus, war aber bereit, deren zwingendste Argumente zu Fragen, die ihm wichtig waren, anzuerkennen. Seine energisch vorgebrachten und eloquent kritischen Diskussionen sehr alter Probleme bereicherten auf großartige Weise das intellektuelle und moralische Erbe Roms und formten die westliche Tradition der liberalen Erziehung, der republikanischen Regierung und des Rationalismus in der Religion und der Ethik. Diese Arbeiten gewähren ferner eine unschätzbare Einsicht in den Lauf der Philosophie während der drei Jahrhunderte nach Aristoteles. Siehe auch: Epikureismus; Naturrecht; Platonismus in der Renaissance; Stoizismus STEPHEN A. WHITE
Clark, Samuel (1675–1729)
Zu seinen Lebzeiten wurde Clark zusammen mit Locke als der führende englische Philosoph angesehen. Er war am meisten für seine Rolle als Fürsprecher einer 222
Clark, Samuel (1675–1729)
tiefgründigen Naturtheologie und als ein Verteidiger des Newtonismus bekannt, am herausragendsten in seiner berühmten Korrespondenz mit Leibniz. Seine Naturtheologie trug er in seinen Boyle-Vorlesungen von 1704 und 1705 vor. Diese ließ aber wenig Raum für die Offenbarung, wodurch er sich bei keiner Seite des Streits zwischen den Deisten und den orthodoxen Anglikanern beliebt machte. Als ein zuverlässiger Befürworter der Newtonschen Naturphilosophie verteidigte er sie gegen Kritik an dessen Begriffen der Schwerkraft und des absoluten Raumes. STEPHEN GAUKROGER
Cohen, Hermann (1842–1918)
Hermann Cohen war der Gründer der Marburger Schule des Neukantianismus und eine Person größeren Einflusses auf das jüdische Denken im 20. Jahrhundert. Sein Werk ‚Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ von 1919 wird weitgehend mit der Erneuerung der jüdischen religiösen Philosophie in Zusammenhang gebracht. Cohens Philosophie des Judaismus ist untrennbar mit seiner allgemeinen philosophischen Position verbunden. Sein System des kritischen Idealismus in der Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie enthielt allerdings ursprünglich keine Religionsphilosophie. Die überwiegend protestantische Marburger Schule betrachtete Cohens jüdische Philosophie tatsächlich als ungenügende Lösung des philosophischen Problems der menschlichen Existenz und jenes weiteren Problems, wie man die Rolle der Religion in der menschlichen Kultur bestimmen kann. Denker, die einen neuen, existenzialistischeren Ansatz im jüdischen Denken vorzogen, sahen Cohens Einführung der Religion in das System wiederum als gewagten Versuch einer Ablösung von den Beschränkungen des philosophischen Idealismus. Cohen identifizierte den zentralen jüdischen Beitrag zur menschlichen Kultur als die Entwicklung einer Religion, die die historische Besonderheit mit ethischer Universalität vereint. Im Herzen dieser Religion der Vernunft stehe die Wechselbeziehung der Idee von Gott mit jener vom menschlichen Wesen. Cohen leitete dieses Thema vom jüdischen Kanon mittels einer philosophischen Analyse ab, die auf seinem transzendentalen Idealismus aufbaut. Siehe auch: Neukantianismus MICHAEL ZANK
Collingwood, Robin George (1889–1943)
Collingwood war der größte britische Geschichtsphilosoph des 20. Jahrhunderts. Seine Erfahrung als ein aktiver Historiker des römischen Britannien brachte ihn zu dem Glauben, dass es ein hartnäckiges Laster der Philosophie sei, die abstrakten Aussagen abseits des Kontexts praktischer Probleme und Fragen zu bevorzugen, die eigentlich ihr Anlass waren. Solange wir nicht den praktischen Kontext der Probleme und Fragen wissen, auf den eine Aussage eine Antwort sein soll, wissen wir gar nicht, was sie bedeutet. In dieser Hinsicht geht seine Sorge um die lebendigen Tätigkeiten von Sprachanwendern einher mit der des späteren Wittgenstein. Collingwood glaubte auch, dass die Interpretation anderer Autoren keine wissenschaftliche Übung mit dem Ziel ist, deren Aussagen in ein Netzwerk von Verallgemeinerungen einzupassen, sondern eine Frage des neuerlichen Denkens ihrer Gedanken für sich selbst. Seine Überzeugung, dass diese Fähigkeit, die er mit dem historischen Denken identifizierte, ein zentraler und vernachlässigter Bestandteil allen menschlichen Denkens ist, machte ihn während seines ganzen Lebens zu etwas Besonde223
Common-Sense-Schule
rem oder gar zu einem Außenseiter. Er teilte mit Wittgenstein auch den Glauben, dass ein Denksystem unabhängig von dem, was es an Aussagen, die als wahr oder falsch beurteilt werden können, enthält, von ‚absoluten Vorannahmen‘ abhängt bzw. von einem Ideenrahmen oder -gerüst, der oder das sich mit der Zeit ändern kann. Die Aufgabe der Metaphysiker ist es, diesen Rahmen zu rekonstruieren, der in bestimmten Zeitabschnitten der Geschichte wirksam war. Collingwood hatte ein ausgedehntes Interesse an moralischen und politischen Fragen, und seine Schriften über die Kunst, die Religion und die Wissenschaft bestätigen sein Format als einen der herausragendsten Gelehrten der britischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. SIMON BLACKBURN
Common-Sense-Philosophie Siehe: Alltagsphilosophie
Common-Sense-Schule
Der Ausdruck Common-sense-Schule bezieht sich auf die Arbeiten von Thomas Reid (1710–1796) und auf die Tradition der schottischen realistischen Philosophie, deren Hauptquelle die Reidschen Arbeiten waren. Die Ideen der Schule drangen nach Frankreich und in die USA, wo sie einen starken Einfluss entfalteten, insbesondere unter den führenden akademischen Kritikern des Kalvinismus. Fast ein Jahrhundert später wiedererwachte das Interesse an Reid und der Tradition, die er begründet hatte, bei den führenden amerikanischen Philosophen und ihren Studenten. Siehe auch: Beattie, J.; Alltagsphilosophie; Moore, G.E.; Reid, Thomas EDWARD H. MADDEN
Computerwissenschaft
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Computer nur von minimaler Bedeutung für die Philosophie sind; sie sind reine Symbolmanipulatoren, die nur Dinge tun können, die auch wir selbst ohnehin tun können, lediglich schneller und bequemer. Gleichwohl werden Computer zur Veranschaulichung der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen und tierischen Geistes eingesetzt, zur Erkundung der organisatorischen Prinzipien des Lebens, und zur Erschließung neuer Ansätze zwecks Modellierung der Natur. Ferner hat die Berechnung unsere Vorstellung von den Grenzen und der Methodologie der wissenschaftlichen Erkenntnis verändert. Computer waren zu all dem vorstehend Gesagten aus zwei Gründen imstande. Der erste ist, dass die materielle Rechenkraft (Genauigkeit, Speicherung und Geschwindigkeit) die Entwicklung und Erforschung von Modellen physischer (und mentaler) Systeme erlaubt, die strukturelle Komplexität mit mathematischer Unnachgiebigkeit kombiniert. Mittels Simulation erlaubt die Rechenkraft die Erforschung von Bereichen, die der mathematischen Analyse unzugänglich sind. Der zweite Grund ist, dass ein Computer nicht nur ein konkreter Apparat ist, sondern auch als ein abstrakter Gegenstand studiert werden kann, dessen Arbeitsregeln mit mathematischer Präzision bestimmt werden können. Folglich können seine Kräfte und Beschränkungen systematisch erforscht, ausgebeutet und bewertet werden. Dies ist jenes Gebiet der Computerwissenschaft, das die Philosophen so stark interessiert: die Theorie der Berechenbarkeit und der Algorithmen. An dieser Stelle haben wir gelernt, was Computer vermögen, und was sie grundsätzlich nicht können. Siehe auch: Berechenbarkeitstheorie JOHN WINNIE 224
Comte, Isidore-Auguste-Marie-François-Xavier (1798–1857)
Comte, Isidore-Auguste-Marie-François-Xavier (1798–1857)
Der französische Philosoph und Sozialtheoretiker Auguste Comte ist bekannt als derjenige, der die Soziologie und den Positivismus ins Leben gerufen hat. Letzterer ist ein philosophisches System, durch dass er die eigentlichen politischen Vereinbarungen der modernen, industriellen Gesellschaft entdecken und perfektionieren wollte. Er war der erste Denker, der sich für den Gebrauch wissenschaftlicher Methoden beim Studium von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhaltensfragen einsetzte, und motiviert durch die sozialen und moralischen Probleme infolge der Französischen Revolution meinte er, die Ausübung einer solchen Wissenschaft würde unvermeidlich zur sozialen Regeneration und zum Fortschritt führen. Comtes Positivismus kann man als einen Ansatz beschreiben, der alles als ungerechtfertigt zurückweist, das nicht von irgendjemandem direkt in Untersuchungen beobachtet und studiert werden kann. Seine ‚positive Philosophie‘ hat zwei Gesetze zur Grundlage: ein historisches oder logisches Gesetz namens ‚das Gesetz der drei Stufen‘, und ein erkenntnistheoretisches Gesetz betreffend die Klassifizierung oder Hierarchie der Wissenschaften. Das ‚Gesetz der drei Stufen‘ steuert die Entwicklung der menschlichen Intelligenz und Gesellschaft: auf der ersten Stufe verankern Gesellschaften ihr Wissen auf theologischer Grundlage, indem sie letztlich göttliche Erklärungen für alle Phänomene geben; später, auf der metaphysischen Stufe, werden Kräfte und Essenzen als Erklärungen herangezogen, aber diese sind genauso schimärisch und unüberprüfbar; schließlich, d.h. auf der positiven oder wissenschaftlichen Ebene, wird die Erkenntnis allein durch Beobachtung gesichert, und zwar durch deren Korrelation und Abfolge. Comte sah diesen Prozess nicht nur in den europäischen Gesellschaften ablaufen, sondern auch im Leben eines jeden Einzelnen. Wir suchen theologische Lösungen in der Kindheit, metaphysische Lösungen in der Jugend und wissenschaftliche Erklärungen als Erwachsene. Sein zweites, erkenntnistheoretisches Gesetz enthält eine Klassifikation der Wissenschaften gemäß ihrer Nähe zur positiven Ebene der Erkenntnis. In der Reihenfolge der historischen Entwicklung und folglich einer zunehmenden Komplexität sind die Mathematik, die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie und die Soziologie. (Comte wies die Psychologie als Wissenschaft zurück, weil ihre Daten unbeobachtbar und daher unüberprüfbar seien.) Die Erkenntnis einer Wissenschaft beruhte teilweise auf den Entdeckungen der vorangehenden Wissenschaft; nach Comte müssen Studenten die Wissenschaften in der richtigen Reihenfolge durchlaufen, indem sie die einfacheren und präziseren Methoden der jeweils vorangehenden Wissenschaft verwenden, um darauf aufbauend die schwierigeren Fragen der späteren anzugehen. In seinem sechsbändigen ‚Cours de philosophie positive‘ (1830–1842, dt.: ‚Die positive Philosophie‘) gab Comte einen enzyklopädischen Überblick über diese Wissenschaften und endet mit einer Darstellung jener, die er als die fortgeschrittenste betrachtet, nämlich die Sozialphysik oder ‚Soziologie‘ (ein von ihm erfundener Ausdruck). Die Arbeit des Soziologen wäre es, die Gesetze zu entdecken, die das menschliche Verhalten im großen Maßstab steuern, und die Weisen, auf die soziale Institutionen und Normen in einem komplexen, aber letztlich voraussehbaren System zusammenwirken. In seiner späteren Arbeit untermauerte Comte seine Vision der positiven Gesellschaft, indem er unter anderem eine Religion der Menschlichkeit beschrieb, in der historische Figuren nach ihrem Beitrag zur Gesellschaft verehrt würden. Trotz solcher Extravaganzen 225
Condillac, Etienne Bonnot de (1715–1780)
erwiesen sich die großen Themen seines Positivismus, insbesondere die Idee, dass lang anhaltende soziale Probleme wissenschaftlich untersucht werden sollten, sowohl in Frankreich, als auch in England durch J.S. Mills frühe Unterstützung, einflussreich. ANGÈLE KREMER-MARIETTI
Condillac, Etienne Bonnot de (1715–1780)
Condillac, eine der führenden Figuren der französischen Aufklärung, ist der Autor dreier sehr einflussreicher Bücher, die zwischen 1746 und 1754 veröffentlicht wurden. In diesen Büchern versuchte er die empirische Untersuchungsmethode zu verfeinern und auszuweiten, um sie damit für einen weiteren Gegenstandsbereich als bis dahin üblich zugänglich zu machen. In dem halben Jahrhundert, dass der Veröffentlichung von Newtons ‚Principia Mathematica‘ im Jahre 1687 folgte, hatte sich das intellektuelle Leben in Europa in einer hitzigen Debatte verfangen, die sich zwischen den Parteigängern der kartesischen Physik, die Descartes’ Prinzipien des metaphysischen Dualismus und Gottes Wahrhaftigkeit als dem Kennzeichen der wissenschaftlichen Wahrheit akzeptierten, und jenen, die Newtons Demonstration, derzufolge die natürliche Ordnung ein einziges, gesetzliches System bildet, das mittels gewissenhafter Beobachtung und Experimente erkannt werden kann, abspielte. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Newtonianer die Überlegenheit gewonnen, und es war die leitende Inspiration der französischen Aufklärer, die allgemein als les philosophes bekannt sind, sich die Methoden anzueignen, durch die Newton seine Ehrfurcht gebietenden Ergebnisse erzielt hatte, und sie auf einen breiteren Bereich von Untersuchungen in der Hoffnung anzuwenden, damit eine ähnliche Erweiterung des menschlichen Wissens zu erreichen. Condillac stand im Zentrum dieser Kampagne. Condillacs erstes Buch ‚Ein Aufsatz über den Ursprung des menschlichen Wissens‘ (1746) trägt den Untertitel ‚Eine Ergänzung zu Herrn Lockes Aufsatz über den Menschlichen Verstand‘. Während Condillac üblicherweise lediglich als Schüler und populärer Verbreiter von Locke gesehen wird, der wenig an wirklicher Originalität beisteuert, und während er wirklich mit Locke darin übereinstimmte, dass die Erfahrung die einzige Quelle menschlicher Erkenntnis ist, versuchte er aber doch, Locke zu verbessern, indem er einwandte, dass die Wahrnehmung allein, und nicht die Wahrnehmung zusammen mit der Reflexion, die Grundlage für die Erkenntnis bildet. Sein berühmtestes Buch, die ‚Abhandlung über die Wahrnehmungen‘ (1754), beruht auf dem Gedankenexperiment einer Statue, deren Sinnesorgane nacheinander aktiviert werden, beginnend mit dem Geruchssinn, und zwar mit der Absicht zu zeigen, wie alle die höheren, kognitiven Fähigkeiten des Geistes als Ableitungen seines Bemerkens primitiverer Wahrnehmungen aus den Sinnesorganen dargestellt werden können. Condillac ging auch in seinen sorgfältig begründeten Behauptungen betreffend den Umfang, in dem die Sprache das Wachstum und die Verlässlichkeit des Wissens berührt, über Locke hinaus. Sein Buch ‚Abhandlung über Systeme‘ (1749) bietet eine detaillierte Kritik, wie die Sprache die großen philosophischen Systemdenker des 17. Jahrhunderts, wie Descartes, Leibniz und Spinoza, überrumpelt hatte und sie in irrige Vorstellungen vom Geist und der menschlichen Erkenntnis führte, so dass der Einfluss dieser Vorstellungen ebenso heimtückisch wie schwierig wieder auszurotten war. Siehe auch: Empirismus; Newton, I.; Rationalismus PAUL F. JOHNSON
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Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de (1743–1794)
Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de (1743–1794)
Der Graf von Condorcet gehört zur zweiten Generation der französischen philosophes des 18. Jahrhunderts. Er war ein Mathematiker gemäß seiner Ausbildung und seiner Neigung zufolge, und seine Arbeit bezeichnet einen größeren Schritt in der Entwicklung dessen, was heute als die Sozialwissenschaften bekannt ist. Er stand bei seinen Zeitgenossen wegen seiner Beiträge zur Wahrscheinlichkeitstheorie in hoher Gunst, und er veröffentliche eine Anzahl weitreichender Abhandlungen über die Theorie und Anwendung der Wahrscheinlichkeit. Am bekanntesten ist von ihm heute seine ‚Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain‘ (1795, dt.: ‚Skizze eines historischen Abrisses über den Fortschritt des menschlichen Geistes‘), seine monumentale, säkulare, historische Analyse der Fortschrittsdynamik des Menschen vom primitiven Naturzustand zur Moderne. Condorcets hauptsächliches Anliegen war die Einrichtung einer Wissenschaft vom Menschen, die so bündig und gewiss in ihren Methoden und Ergebnissen sein sollte wie die Naturwissenschaften und die Physik. Für Condorcet konnte es keine wahre Grundlage der Wissenschaften ohne das Vorbild der Mathematik geben, und es gab für ihn keinen Ableger des menschlichen Wissens, für den die mathematische Betrachtung nicht relevant war. Er nannte die Anwendung der Mathematik auf das menschliche Verhalten und seine Organisation ‚soziale Arithmetik‘. Die zentrale erkenntnistheoretische Annahme, auf der seine Philosophie beruhte, war, dass die Wahrheiten der Beobachtung, sei es im Zusammenhang mit der Physik, der Moral oder der Sozialwissenschaften, nicht mehr als Wahrscheinlichkeiten seien, dass aber ihr unterschiedlicher Grad an Gewissheit mit dem Wahrscheinlichkeitskalkül gemessen werden könnte. Condorcet war folglich in der Lage, mit der mathematischen Logik die negativen Implikationen des pyrrhonischen Skeptizismus gegenüber den Begriffen der Wahrheit und des Fortschritts auszuhebeln, wobei das Kalkül nicht nur die Verbindung zwischen den verschiedenen Ordnungen des Wissens leistete, sondern auch den Ausweg aus der pyrrhonischen Falle durch den Beweis zeigte, dass die Fähigkeit und Freiheit des Menschen zum Verständnis und zur Leitung des Ganges des Fortschritts ein rational geordneter Weg ist. In seinen ‚Skizzen‘ machte sich Condorcet daran, nicht nur die Geschichte des Fortschritts der Menschheit durch neun ‚Epochen‘ aufzuzeichnen, nämlich vom präsozialen Naturzustand zu den Gesellschaften des modernen Europa, sondern in der zehnten ‚Epoche‘ seines Werkes darüber hinaus das Versprechen eines in der Zukunft weiter laufenden Fortschritts zu geben. Er sah die stufenweise Emanzipation der menschlichen Gesellschaft und das Erlangen des menschlichen Glücks als die Konsequenz des Menschen, der von Natur mit der Fähigkeit zum Lernen aus der Erfahrung ausgestattet ist, sowie mit den sich kumulierenden, begünstigenden Wirkungen eines Wachstums der Erkenntnis und der Aufklärung. Condorcets ‚Skizze‘ legte den Grundstein für den Positivismus des 19. Jahrhunderts, und er hatte eine besonders bedeutende Wirkung auf die Arbeiten von Saint-Simon und Auguste Comte. Siehe auch: Comte, A.; Positivismus in den Sozialwissenschaften; Pyrrhonismus; Saint-Simon, C.-H. de R. DAVID WILLIAMS
Conway, Anne (ca. 1630–1679)
Anne Conway (geb. Finch) war die wichtigste der wenigen englischen Frauen, die sich im 17. Jahrhundert mit Philosophie beschäftigten. Ihre Reputation leitet sich
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Cousin, Victor (1792–1867)
von einer Arbeit ab, die nach ihrem Tode veröffentlicht wurde, den ‚Principia philosophiae antiquissimae et recentissimae‘ (dt.: ‚Die Grundsätze der ältesten und der jüngsten Philosophie’; 1690), in der sie ein neuplatonisch-metaphysisches System vorschlägt, dass auf einem monistischen Begriff der geschaffenen Substanz beruht. Diese Arbeit enthält auch eine Kritik des Dualismus sowohl von Descartes und Henry More, als auch des Materialismus (als den sie ihn sah) von Hobbes und Spinoza. In ihrem Begriff der Monade und ihrer Betonung der Güte Gottes hat Conways System einige interessante Gemeinsamkeiten mit dem von Leibniz. SARAH HUTTON
Cousin, Victor (1792–1867)
Als französischer Philosoph, Erziehungswissenschaftler und Historiker assoziiert man Victor Cousin vorrangig mit dem Eklektizismus und der Geschichte der Philosophie. Cousin war Eklektiker; seit 1814 lehrte er als Professor an der Sorbonne in Paris. Er setzte sich entschieden gegen den Empirismus, Sensualismus und Materialismus ein und vertrat selbst eine Form von Spiritualismus und Idealismus. Die Begriffe Idee und Vernunft spielen in seinen Lehren eine Hauptrolle. Beeinflusst ist er u. a. durch Platon, die Schottische Schule, Kant, Schelling, Hegel, Maine de Biran. Er selbst wirkte u. a. bei Jouffroy, Garnier, Bouillier, Tissot und Ravaisson-Mollieu nach. Cousin kämpfte für einen von der Kirche unabhängigen philosophischen Unterricht. Siehe auch: Hegelianismus; Deutscher Idealismus DAVID LEOPOLD
Croce, Benedetto (1866–1952)
Als der führende Philosoph seiner Zeit stellte Croce seine Philosophie als eine humanistische Alternative zur Trostspende durch die Religion dar. Als hegelianischer Idealist meinte er, dass alle menschliche Tätigkeit entweder auf das Schöne, das Wahre, das Nützliche oder das Gute gerichtet ist. Diese Ideale waren die vier Aspekte dessen, was er im Anschluss an Hegel Geist oder menschliches Bewusstsein nannte. Die ersten beiden entsprächen den theoretischen Dimensionen des Geistes, d.h. der Intuition und der Logik, und die letzteren beiden den praktischen Aspekten des wirtschaftlichen und ethischen Willens. Er behauptete, dass diese vier ewigen Ideale ‚reine Begriffe‘ wären, deren Inhalt aus dem menschlichen Geist und der menschlichen Handlung abgeleitet seien. Geist oder Bewusstsein entfalteten sich fortschreitend durch die menschliche Geschichte hindurch in dem Maße, wie unsere Vorstellungen der Schönheit, der Wahrheit, der Nützlichkeit und der Moral beständig überarbeitet und entwickelt wurden. Croce bestand darauf, dass sein Idealismus eine Form von ‚absolutem Historizismus‘ war, denn sie brachte die Behauptung mit sich, dass alle Bedeutung und aller Wert sich immanent durch den historischen Prozess ergeben. Er bestritt unermüdlich, dass der Geist als eine Art transzendenter ‚Marionettenspieler‘ betrachtet werden könne, der unabhängig vom Menschen existiert, und durch den er sich nur ausdrückt. Er warf Hegel diesen Irrtum vor. Er meinte ferner, dass Hegels Konzeption der Dialektik als eine Synthese von Gegensätzen zu wenig auf die Notwendigkeit einer Bewahrung der unterschiedlichen Momente des Geistes geachtet habe. Er trug vor, dass das Schöne, die Wahrheit, das Nützliche und das Gute, obwohl sie untereinander verbunden seien, niemals verwechselt werden dürften, und entsprechend kritisierte er den Ästhetizismus und Utilitarismus. Croce entwickelte seine These sowohl in philosophischen Texten, die der Ästhetik, der Ethik, der Politik und der Geschichtsphilosophie zuzurechnen sind, als auch 228
Cudworth, Ralph (1617–1688)
in detaillierten historischen Studien der italienischen und europäischen Literatur, Kultur, Politik und Gesellschaft. Sein Widerstand gegen das faschistische Regime brachte ihn dazu, seine eigene Philosophie mit dem Liberalismus zu identifizieren, weil dieser die Kreativität und die Autonomie des Individuums unterstreiche. In der praktischen Politik war er jedoch ein Konservativer. Siehe auch: Dichtung; Hegelianismus; Historizismus; Künstlerischer Ausdruck; Sozialdemokratie; Wirtschaftswissenschaft und Ethik RICHARD BELLAMY
Cudworth, Ralph (1617–1688)
Ralph Cudworth war der führende Philosoph jener Gruppe, die als die ‚Cambridger Platoniker‘ bekannt wurden. Während seines Lebens veröffentlichte er nur ein philosophisches Werk mit dem Titel ‚True Intellectual System of the Universe‘ (1678, dt.: ‚Das wahre geistige System des Universums‘). Dies war als das erste einer Reihe von drei Bänden gedacht, die allgemein von der Freiheit und der Notwendigkeit handeln sollten. Zwei weitere Teile dieses Projekts wurden posthum aus den Papieren veröffentlicht, die er bei seinem Tode hinterließ: ‚A Treatise Concerning Eternal an Immutable Morality‘ (1731, dt.: ‚Abhandlung betreffend die ewige und unveränderliche Moral‘) und ‚A Treatise of Freewill‘ (1838, dt.: ‚Abhandlung über den freien Willen‘). Cudworths so genannter Cambrid-Platonismus ist im Großen und Ganzen neuplatonisch, er war aber auch für andere Denkströmungen empfänglich, und zwar sowohl antike, als auch moderne. In der Philosophie war er ein Antideterminist, der nach einer rationalen Verteidigung des Deismus und einer Begründung der Erkenntnisgewissheit, sowie der Existenz unveränderlicher moralischer Prinzipien angesichts der Herausforderungen durch Hobbes und Spinoza suchte. Er bewunderte und lernte von Descartes, kritisierte aber auch einige Aspekte des Kartesianismus. Cudworths Startpunkt ist sein fundamentaler Glaube an die Existenz Gottes, den er sich als ein gänzlich vollkommenes Wesen vorstellte, unendlich mächtig, weise und gut. Ein großer Teil des ‚True Intellectual System‘ beschäftigt sich mit dem Beweis der Existenz Gottes, weitgehend im Wege von Argumenten eines consensus gentium (‚allgemeine Zustimmung‘) und als physiko-teleologischer Gottesbeweis. Der Intellekt hinter seinem ‚geistigen System‘ ist das göttliche Verständnis. Der Geist geht der Welt voraus und ist kraft des Umstandes, dass er den Stempel ihres weisen Schöpfers trägt, intelligibel. Der menschliche Geist ist fähig, die Welt zu erkennen, da er an der Weisheit Gottes teilhat, woraus sich erkenntnistheoretische Gewissheit ableiten lässt. Die geschaffene Welt ist auch die bestmögliche Welt, obwohl nicht notwendigerweise. Ein zentrales Element von Cudworths Philosophie ist seine Verteidigung der Freiheit des Willens, denn ein bedeutungsvolles System moralischer Gesetze wäre ohne diese Freiheit unmöglich. Das Naturrecht und die Moral liegen im Gutsein und in der Gerechtigkeit Gottes begründet, und nicht im willkürlichen göttlichen Willen. Die Prinzipien der Tugend und der Güte, genauso wie die Elemente der Wahrheit, existieren unabhängig von den Menschen. ‚A Treatise Concerning Eternal and Immutable Morality‘ enthält die am vollständigsten ausgearbeitetste von allen Erkenntnislehren der Mitglieder der Cambridger Platoniker und stellt die wichtigste Darstellung der Idee der angeborenen Erkenntnis aller britischen Philosophen des 17. Jahrhunderts dar. Siehe auch: Cambridge-Platonismus; Locke, J.; Neuplatonismus SARAH HUTTON
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D Dante Alighieri
Siehe: Alighieri, Dante
Daoistische Philosophie
Die frühe daoistische Philosophie hat einen nicht abzuschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der chinesischen Philosophie und Kultur. Der philosophische Taoismus wird oft ‚Lao-Zhuang‘-Philosophie genannt, weil er sich direkt auf die beiden zentralen und einflussreichsten Texte bezieht, nämlich auf das ‚Daodejing‘ (von Laozi) und dem ‚Zhuangzi‘, die beide im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. zusammengestellt bzw. wahrscheinlich zusammengetragen wurden. Über diese beiden Texte hinaus sollte man vielleicht auch das synkretistische ‚Huainanzi‘ (ca. 140 v. Chr.) und das ‚Liezi‘ dazuzählen, die um das 4. Jahrhundert n. Chr. als Teil des traditionellen daoistischen Textkörpers rekonstruiert wurden. Die klassischen daoistischen Philosophen, deren Einfluss auf die konfuzianischen Schulen nur sekundär war, haben auf vielerlei Art sowohl eine Kritik, als auch eine Ergänzung der konservativeren, regulativeren Prinzipien ihrer konfuzianischen Rivalen formuliert. Der Daoismus ist häufig und unglücklicherweise als passiv, weiblich, stillhaltend und vergeistigt charakterisiert worden – eine Lehre, die von Künstlern, Einsiedlern und religiösen Mystikern sehr begrüßt wurde. Der Konfuzianismus ist dagegen in der Begrifflichkeit moralischer Vorschriften, von Tugenden, imperialen Erlässe und der regulativen Methoden beschrieben worden, d.h. als eine Lehre, die durch den Staatsbeamten verkörpert und erteilt wird. Die unkluge Anwendung dieser yin-yang-artigen Konzeption auf den Daoismus und den Konfuzianismus tendiert zu einer Verarmung unserer Wertschätzung der tatsächlichen Reichhaltigkeit und Komplexität beider Traditionen. Geht man dagegen mit grober Hand an sie heran, vernebelt man die fundamentale Ganzheit sowohl der konfuzianischen, als auch der daoistischen Visionen bedeutungsvoller menschlicher Existenz, indem man dem klassischen Konfuzianismus einen ungerechtfertigten Konservatismus, und dem Daoismus einen unzutreffenden Radikalismus aufzwingt. Es gibt einen gemeinsamen Hintergrund, den die Lehren des klassischen Konfuzianismus und Daoismus in Verfolgung der Selbstkultivierung teilen. Allgemein gesprochen behandeln beide Traditionen das Leben mehr als eine Kunst als eine Wissenschaft. Beide drücken ihr ‚diesseitiges‘ Bemühen um konkrete Details der unmittelbaren Existenz aus, statt ihren Geist in den Dienst großer Abstraktion und Ideale zu stellen. Beide erkennen die Einzigartigkeit, die Wichtigkeit und den Vorrang der einzelnen Person und der persönlichen Leistungen gegenüber der Welt, während sie gleichzeitig die Umweltbezogenheit und die gegenseitige Abhängigkeit dieser Person in ihrem Zusammenhang betonen. Es gibt allerdings auch bedeutende Unterschiede zwischen ihnen. Für die Daoisten ist der Konfuzianismus mit seiner Neigung zu einer Lesart des ‚ständigen Dao‘, die es auf das ‚menschliche Dao‘ verkürzt, eine Art der Welterfahrung, die eine Dichotomie zwischen dem Menschen und der natürlichen Welt erzeugt. Die Argumente gegen den Konfuzianismus zielen in die Richtung, dass dieser nicht die 230
Daoistische Philosophie
ausreichende ökologische Sensibilität aufbringt und die Selbstkultivierung nur als menschliche Angelegenheit begreift. Es sei der eingeengte Versuch einer Überwindung des Getrenntseins durch eine spirituelle Erweiterung und Integration in der menschlichen Welt, der dem klassischen Konfuzianismus seine soziopolitische und praktische Orientierung gibt. Aus der daoistischen Perspektive ist das ‚Überwinden des Getrenntseins‘ aber nicht einfach die Neudefinition der Grenzen der Betroffenheit und der Verantwortung einer Person innerhalb der Grenzen der menschlichen Sphäre. Die Daoisten weisen überhaupt die Vorstellung zurück, dass die menschliche Erfahrung in einem Vakuum stattfindet, und dass der ganze Prozess der Existenz auf menschliche Werte und Zwecke reduziert werden könne. In dem Umfang, wie der Daoismus ebenfalls vorschreibend ist, artikuliert er sich nicht in Gestalt von Regeln, denen man zu folgen habe, oder indem er die Existenz von irgendeinem zugrunde liegenden moralischen Prinzip behauptet, sondern durch Beschreibung des Verhaltens von einem entwickelten menschlichen Wesen, d.h. dem Weisen (shengren) oder der sog. Authentischen Person (zhenren), als dem empfohlenen Gegenstand der Nachahmung. Das Modell für dieses menschliche Ideal ist umgekehrt der geordnete, elegante und harmonische Prozess der Natur. Durch den gesamten daoistischen Textkorpus hindurch zieht sich eine ‚große‘ Analogie, verkörpert durch das gemeinsame Vokabular, das einerseits zur Beschreibung des Verhaltens des erfolgreichen Menschen verwendet wird, und zur erfolgreichen Harmonie in der gegenseitigen Anpassung der Naturphänomene aufeinander. Die wahrgenommene Ordnung ist eine Leistung und nichts Gegebenes. Weil das dao eine von unten nach oben emporsteigende Ordnung ist, und nicht etwas Auferlegtes, so stellt sich die Frage, was die optimale Beziehung zwischen de und dao ist, d.h. zwischen dem Einzelnen und den Bedingungen seiner Einbettung. Die daoistische Antwort darauf ist die Selbstverfügung des Einzelnen in Beziehungen, die in vollem Umfang eine Selbstenthüllung und -entwicklung erlaubt. In der daoistischen Literatur wird diese Art von optimal geeigneter Handlung oft als wuwei, als ‚nicht absichtliches Handeln‘, als ‚natürliches Handeln‘ oder als ‚nicht-behauptende Tätigkeit‘ beschrieben. Wuwei ist demzufolge die Negation jener Art des ‚Herstellens‘ oder ‚Tuns‘, die es erforderlich macht, dass ein Einzelner seine eigene Integrität zugunsten von irgendetwas ‚Anderem‘ opfert, d.h. eine Negation jener Art von Engagement, das etwas sich selbst gegenüber falsch macht. Wuwei-Tätigkeit ‚charakterisiert‘, d.h. sie produziert das Kennzeichen des Ethos einer ästhetisch verstandenen Komposition. Es gibt kein Ideal, keine geschlossene Perfektion. Die fortlaufende kreative Leistung selbst liefert neuartige Möglichkeiten und eine noch gesteigerte Kreativität. Wuwei-Tätigkeit ist deshalb grundlegend qualitativ; sie ist eine ästhetische Kategorie, und nur im abgeleiteten Sinne eine ethische. Wuwei kann aus ästhetischer Sicht bewertet werden und erlaubt damit, dass einige Beziehungen im produktiveren Sinne stärker wuwei als andere sind. Einige Beziehungen sind erfolgreicher als andere in der Maximierung der eigenen kreativen Möglichkeiten in der jeweiligen Umgebung. Die klassische daoistische Ästhetik, die in diesen frühen Texten mit einem unnachahmlichen Geschmack und entsprechender Vorstellungskraft artikuliert wird, war wie die meisten philosophischen Anarchismen zu unberührbar und unpraktisch, um als formale Struktur jemals ein ernsthafter Kandidat für die soziale und politische Ordnung zu sein. In den frühen Jahren der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) 231
Darwin, Charles Robert (1809–1882)
gab es einen Versuch im ‚Huainanzi‘ zur Stärkung der daoistischen Empfänglichkeit für den Ethos durch eine Konkretisierung seiner luftigen Ideale mittels funktionaler Praxis. Man verlieh sich einen synkretistischen politischen Rahmen als Kompromiss für die Befürwortung einer Art von praktikablem Daoismus: ein Anarchismus innerhalb zweckmäßiger Schranken. Während das ‚Huainanzi‘ historisch auf taube Ohren stieß, half es doch eine daoistische Vorlage für dessen Beitrag zur chinesischen Kultur durch alle Fährnisse der Geschichte hindurch zu schaffen. Immer und immer wieder sollte die daoistische Sensibilität im Verlauf von Anekdoten und Metaphern auf identifizierbare Weise, d.h. durch eine Reihe theoretischer Strukturen und sozialer Grammatiken, ausgedrückt werden: von militärischen Strategien über den dialektischen Fortschritt der typisch chinesischen Schulen des Buddhismus, bis hin zu dem sich ständig wandelnden Gesicht der Poesie und der Kunst. Man könnte sicherlich einwenden, dass die reichhaltigsten Modelle des Konfuzianismus, dargestellt als das Zusammenlaufen von Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus selbst, ein Versuch der Integration konfuzianischer Bemühungen um die menschliche Gemeinschaft und der weitergehenden daoistischen Verbindlichkeiten gegenüber einer ökologisch sensiblen Menschheit waren. Siehe auch: Chinesische Philosophie; Konfuzianische Philosophie, chinesische DAVID L. HALL, ROGER T. AMES
Darstellung
Siehe: Abbildung
Darwin, Charles Robert (1809–1882)
Darwins Werk ‚On the Origin of Species‘ (1859, dt.: ‚Über den Ursprung der Arten‘) verlieh der Theorie Popularität, dass alle lebenden Dinge sich in natürlichen Prozessen aus vorher existierenden Formen entwickelt haben. Dies ersetzte den überkommenen Glauben, dass die Arten durch einen weisen und gütigen Gott entworfen worden waren. Darwin zeigte, wie viele biologische Phänomene erklärt werden konnten, wenn man annimmt, dass aufeinander bezogene Arten von einem gemeinsamen Vorgänger abstammen. Überdies schlug er einen radikalen Mechanismus zur Erklärung vor, wie diese Umformung zustande kommt, nämlich durch natürlich Auslese. Dieser harte und offenkundig zwecklose Mechanismus wurde als eine bedeutende Bedrohung für die Behauptung angesehen, dass das Universum ein transzendentes Ziel hat. Weil Darwin seinen Evolutionismus ganz selbstverständlich auch auf die menschliche Rasse ausdehnte, zog dies notwendig eine neuerliche Überprüfung der Grundlegungen der Psychologie, der Ethik und der Sozialtheorie nach sich. Moralische Werte sind womöglich nur die Rationalisierung instinktiver Verhaltensmuster. Weil der Prozess, der diese Muster hervorbrachte, von Kämpfen getrieben war, so konnte man einwenden, dass die Gesellschaft unvermeidbar die Härte der Natur widerspiegeln muss (‚Sozialdarwinismus‘). Eine solche Auslegung lag Darwin selbst jedoch fern; seine Bücher enthalten jedenfalls keine derartigen Interpretationen natürlicher Auslesestrukturen. Darwins Buch wurde als der Auslöser einer wissenschaftlichen Revolution gesehen. Es bedurfte vieler Jahrzehnte sowohl auf Seiten der Wissenschaft, als auch auf jener der westlichen Kultur, die radikaleren Aspekte der Theorie Darwins in sich aufzunehmen. Aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
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Davidson, Donald (1917–2003)
ist der Darwinsche Auslesemechanismus die Grundlage für eine äußerst erfolgreiche Theorie der Evolution, deren Folgen für den Menschen noch diskutiert werden. Siehe auch: Evolution und Ethik PETER J. BOWLER
Davidson, Donald (1917–2003)
Donald Davidsons Standpunkt über die Beziehung zwischen unserer Selbstauffassung als Menschen und als komplexe physische Gegenstände hatte eine bedeutende Wirkung auf die zeitgenössische Diskussion solcher Themen wie die Intention, die Handlung, die kausale Erklärung und die Willensschwäche. Seine Aufsatzsammlung ‚Actions and Events‘ (1980, dt.: ‚Handlung und Ereignisse‘) enthält viele fruchtbare Beiträge zu diesen Gebieten. Vielleicht noch bedeutender war aber der Einfluss von Davidsons Sprachphilosophie, wie sie speziell in dem Buch ‚Inquiries into Truth and Interpretation‘ (1984, dt.: ‚Wahrheit und Interpretation‘) wiedergegeben ist. Zu den philosophischen Fragen im Zusammenhang mit der Sprache, bei denen Davidson einflussreich war, gehört jene nach dem Wesen der Wahrheit, den semantischen Paradoxa, der Aussage in der Ersten Person, den Indexikalen, der Modalität, der Referenz, des Zitats, der Metapher, der Unbestimmtheit, der Konvention, des Realismus und der Öffentlichkeit der Sprache. Siehe auch: Akrasie; Anomaler Monismus; Indirekter Diskurs; Intention; Radikale Übersetzung und Radikale Interpretation ERNIE LEPORE
De Beauvoir, Simone Siehe: Beauvoir, Simone
De dicto
Siehe: De re / de dicto
De la Mettrie, Julien Offroy
Siehe: La Mettrie, Julien Offroy de
De Montesquieu, Charles Baron
Siehe: Montesquieu, Charles Louis de Secondat
De Pizan, Christine
Siehe: Christine de Pizan
De re / de dicto
Die Ausdrücke De re und de dicto wurden zur Kennzeichnung einer Vielzahl verschiedener, wenn auch aufeinander bezogener Unterschiede verwendet. De dicto bedeutet ‚von einem Gesagten‘ oder ‚in Betreff eines Gesagten‘, d.h. die Bezugnahme auf etwas, was einen repräsentierenden Inhalt hat, wie z.B. ein Satz, eine Behauptung oder eine Aussage. De re bedeutet ‚von einer Sache‘ oder ‚in Betreff einer Sache‘. Beispielsweise ist eine de-dicto-Überzeugung eine solche, derzufolge der Träger eines repräsentierenden Inhalts wahr ist, während eine de-re-Überzeugung eine solche ist, die ein Ding betrifft, das bestimmte Merkmale hat. Man betrachte folgendes Beispiel: ‚Johannes glaubt, dass sein unmittelbarer Nachbar ein Buddhist ist.‘ Diese Aussage ist mehrdeutig. Ist sie de dicto aufgebaut, so ist sie unter der folgenden Bedingung wahr: Johannes hat niemals irgendeinen Kontakt mit seinem unmittelbaren Nachbarn gehabt. Gleichwohl glaubt Johannes, dass sein unmittelbarer Nachbar Buddhist ist. Baut man den Fall auf diese de-dicto233
Dekonstruktivismus
Art auf, so schreibt diese Aussage Johannes keine Überzeugung zu, die von einer bestimmten Einzelperson handelt. Im Gegensatz dazu, nämlich auf de-re‑Art konstruiert, schreibt die Aussage Johannes eine Überzeugung zu, die eine bestimmte Einzelperson betrifft. Zum Beispiel ist die de-re-Aussage unter folgender Bedingung wahr: Johannes trifft seinen unmittelbaren Nachbarn, Fred, auf einer Party, ohne zu bemerken, dass Fred sein unmittelbarer Nachbar ist. Auf der Grundlage dieses Gesprächs mit Fred bildet sich Johannes eine Meinung über diesen Menschen, der tatsächlich sein unmittelbarer Nachbar ist, und zwar dahingehend, dass er ein Buddhist ist. Siehe auch: Essentialismus; Zitate, Unterschiede in der Verwendung und Erwähnung von
ANDRÉ GALLOIS
Deborin, A.
Siehe: Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
Dedekind, Julius Wilhelm Richard (1831–1916)
Dedekind ist unter Philosophen hauptsächlich für seine Beiträge zur Grundlegung der Arithmetik bzw. der realen und natürlichen Zahlen bekannt. Indem er von sehr allgemeinen Begriffen ausging, und ohne sich noch auf die geometrische ‚Intuition‘ zu berufen, erschloss er zum ersten Male einen systematischen und expliziten Weg zur Grundlegung der Differential- und Integralrechnung, (die Dedekind selbst als Gegenstände betrachtete, die zur Logik gehören). Diese Arbeiten stellen auch einen Pionierbeitrag zur Mengenlehre dar (die in Dedekinds Korrespondenz mit Georg Cantor noch weiter getrieben wurde), und damit zum allgemeinen Begriff der ‚mathematischen Struktur‘. Dedekinds grundlegende Arbeit auf diesem Gebiet ist eng mit seiner Weiterentwicklung substanzieller mathematischer Fragen, speziell zur Theorie der algebraischen Zahlen und der algebraischen Funktionen, verbunden. Seine Leistungen auf allen diesen Gebieten machten ihn zu einem der größten Mathematiker des 19. Jahrhunderts. Siehe auch: Cantor, G.; Logizismus HOWARD STEIN
Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der
Man kann den Umfang seiner Erkenntnis dadurch erweitern, dass man deduktive Schlüsse aus Aussagen zieht, die man bereits kennt. Das Prinzip der ‚deduktiven Geschlossenheit‘ bezeichnet diese Idee; wenn S weiß, dass p, und S folgert korrekterweise q aus p, dann weiß S, dass q. Ein damit eng verwandtes Prinzip ist jenes, dass die Erkenntnis unter bekannten logischen Implikationen ‚geschlossen‘ ist: wenn S weiß, dass p, und S weiß, dass p logisch q impliziert, dann weiß S q. Die Prinzipien sind, wenn sie gelten, durch allgemeine Merkmale des Begriffs der Erkenntnis gesichert. Sie bilden dann einen Teil der Logik der Erkenntnis. Ein einflussreiches Argument des Skeptizismus über die Erkenntnis der externen Welt wendet das Prinzip der deduktiven Geschlossenheit an. Der Skeptiker beginnt mit einer Darstellung der logisch möglichen Hypothese oder Gegenmöglichkeit (z.B. dass jemand ein Gehirn in einer Schale ist, das mit einer computerinduzierten Wahrnehmungserfahrung ausgestattet ist), was mit verschiedenen Dingen, die jemand zu wissen meint, logisch unvereinbar ist (wie beispielsweise mit der 234
Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der
Meinung, dieses Wesen besäße eine Hand). Die Aussage, dass jemand eine Hand hat, impliziert logisch die Falschheit der skeptischen Hypothese. Unter der Annahme, dass sich jemand dieser Implikation bewusst ist, führt das Prinzip der geschlossenen Deduktion zu der Konsequenz, dass, wenn jemand weiß, dass er Hände hat, er folglich kein Gehirn in einer Schale ist. Der Skeptiker wendet hiergegen ein, dass man dies nicht weiß: wenn man in einer Schale läge, dann hätte man eben nur die sensorische Evidenz, über die man gerade verfügt. Daraus folgt, dass jemand nicht weiß, dass er Hände hat. Einige Philosophen versuchten diese Schlussfolgerung zu verhindern, indem sie das Prinzip der deduktiven Geschlossenheit leugneten. Siehe auch: Erkenntnis, Begriff der (§§ 7–10); Skeptizismus ANTHONY BRUECKNER
Definite Beschreibungen Siehe: Beschreibungen
Definition
Eine Definition ist eine Behauptung, Erklärung oder Aussage, durch die die Bedeutung eines Ausdrucks festgelegt wird. Kraft der Definition nimmt der definierte Ausdruck (das definiendum) dieselbe Bedeutung an wie der Ausdruck, durch den er definiert wird (das definiens). Beispielsweise bestimmt ‚Der Mensch ist ein rationales Tier‘ die Bedeutung des Ausdrucks ‚Mensch‘ dadurch, dass er ihn für synonym mit dem Ausdruck ‚rationales Tier‘ erklärt. Die klassische Theorie hält daran fest, dass eine gute Definition die ‚wirkliche Natur dessen erfasst, was definiert wird: Eine Definition ist ein Satzteil, der das Wesen einer Sache bedeutet (siehe Aristoteles). Geschichtlich haben die Philosophen diese Realdefinitionen von den Nominaldefinitionen unterschieden, die die Bedeutung einer linguistischen Wendung ausführen und nicht die wesentliche Natur eines Gegenstandes bezeichnen, also „einem anderen durch Worte verständlich machen, was für eine Idee hinter dem definierten Ausdruck steht“ (siehe Locke). Eine weitere Unterscheidung kann zwischen den kontextuellen oder impliziten Definitionen auf der einen Seite, und den expliziten Definitionen auf der anderen getroffen werden. Oft bestimmt eine Definition die Bedeutung direkt und explizit, z.B. kann die Definition eines Eigennamens die Form einer expliziten Identitätsbehauptung annehmen (‚Pegasus = das geflügelte Pferd‘), und eine Definition eines Prädikats besteht normalerweise (oder kann so umgeformt werden) in der Form einer Äquivalenzrelation (‚Für jedes x: x ist ausschließlich dann ein Mensch, wenn x ein rationales Tier ist‘). Manchmal wird die Bedeutung eines Ausdrucks im sprachlichen Zusammenhang durch die Bedeutung eines umfangreicheren Ausdrucks ausgeführt, in dem dieser Ausdruck auftaucht. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist Bertrand Russells Analyse der Bedeutung des definiten Artikels. Siehe auch: Frege, G. (§§ 6, 8, 9); Paradoxien der Menge und der Eigenschaft G. ALDO ANTONELLI
Deismus
Im populären Sinne des Wortes ist der Deist jemand, der glaubt, dass Gott die Welt geschaffen hat, darüber hinaus jedoch keine vorhersehende Kontrolle darüber ausgeübt hat, was auf ihr vor sich geht. Im eigentlichen Sinne ist der Deist jemand, der einen göttlichen Schöpfer annimmt, aber jegliche göttliche Offenbarung leugnet und meint, dass wir allein mit der menschlichen Vernunft alles Wissen erlangen 235
Deismus
können, das wir brauchen, um moralisch und religiös richtig leben zu können. In diesem Sinne des Ausdruck ‚Deismus‘ behaupteten einige Deisten, dass Gott eine vorausschauende Kontrolle über die Welt ausübt und für zukünftige Belohnungen und Bestrafungen sorgt, während andere Deisten dies leugnen. Alle sind sich jedoch darin einig, dass die menschliche Vernunft allein die Grundlage ist, auf der man solche Fragen beantworten kann, und weisen damit den orthodoxen Anspruch auf eine besondere göttliche Offenbarung der Wahrheiten zurück, die über die menschliche Vernunft hinaus gehen. Der Theismus blühte im 17. und 18. Jahrhundert vor allem in England, Frankreich und Amerika. Siehe auch: Wunder; Naturreligion; Religion und Wissenschaft WILLIAM L. ROWE
Dekonstruktivismus
Obwohl der Ausdruck ‚Dekonstruktivismus‘ oft synonym (und lose) zusammen mit anderen Ausdrücken wie ‚Poststrukturalismus‘ und ‚Postmodernismus‘ verwendet wird, unterscheidet er sich doch von diesen anderen Bewegungen. Anders als der Poststrukturalismus liegen seine Quellen genau innerhalb der Tradition der westlichen philosophischen Debatte über die Wahrheit, die Erkenntnis, die Logik, die Sprache und die Repräsentation. Während der Poststrukturalismus der Linguistik Saussure folgt – oder besser seiner eigenen Auffassung von Saussure – indem er sich für einen radikal konventionalistischen (und folglich skeptischen und relativistischen) Blick auf diese Fragen einsetzt, geht der Dekonstruktivismus einen komplexeren und kritischeren Weg, indem er die Texte der Philosophie mit einem Blick auf ihre vielen blinden Flecken und Widersprüche prüft. Während der Postmodernismus unbekümmert das Ende der Festlegung auf die ‚Aufklärung‘ oder das ‚Projekt der Moderne‘ hinsichtlich der wahrheitssuchenden, rationalen Untersuchung erklärt, bewahrt der Dekonstruktivismus den kritischen Geist des aufgeklärten Denkens, während er deren dogmatische oder bequeme Glaubensgewohnheiten in Frage stellt. Dies realisiert er vor allem mittels genauer Lektüre philosophischer und anderer Texte und durch eine Wendung der Aufmerksamkeit auf die Momente der ‚Aporie‘ (d.h. ihrer ungelösten Spannungen oder Konflikte), die von der breiten Masse der Exegeten leicht übersehen werden. Das heißt jedoch nicht (wie es ihre Kritiker immer wieder tun), dass der Dekonstruktivismus eine Art von Allerlaubnis für das textuelle ‚Freispiel‘ ist, was noch den letzten Standard und jegliche interpretative Texttreue, Strenge oder Wahrheit aufgibt. Zumindest ist dies ein Vorwurf, für den sich kein Beweis in den Schriften einiger ihrer Hauptvertreter findet, unter ihnen Jacques Derrida und Paul de Man. Siehe auch: Derrida, J.; Poststrukturalismus CHRISTOPHER NORRIS
Deleuze, Gilles (1925–1995)
Obwohl die Arbeit von Gilles Deleuze auf der Geschichte der Philosophie gründet, beginnt sie nicht mit ersten Prinzipien, sondern erfasst den philosophischen Gegenstandsbereich ‚von der Mitte her‘. Diese Methode stürzt Subjekt-Objekt-Beziehungen mit dem Ziel um, eine Philosophie der Differenz und der Veränderung zu begründen, die nicht vom statischen Sein abgeleitet ist, d.h. eine Philosophie des Ereignisses, nicht der Dualität des Bedeutsamen und Bedeutenden; eine Form von Inhalt, die aus einem Komplex von Kräften besteht, die nicht von ihrer Ausdrucksform 236
Demokratie
getrennt werden können; ein Konglomerat oder einen Körper ohne Organe und nicht das organisierte Ego; Zeit und Intensität und Dauer anstelle von Raum; also kurz gesagt, eine Welt in fortwährender Bewegung, die aus Werdensereignissen und Begegnungen mit dem ‚Außen‘ besteht, das von solchen Begriffen nicht erfasst wird. Dieses radikale philosophische Projekt tritt am klarsten in Deleuze‘ (und seines Mitarbeiters Guattari) Begriff des ‚Rhizoms‘ hervor. Das Rhizom ist eine Vielheit ohne jegliche Einheit, die von einem Subjekt oder Objekt fixiert werden könnte. Ein jeder Punkt des Rhizoms kann und muss mit jedem anderen seiner Punkte verbunden sein, wenn auch in keiner fixierten Ordnung und nicht homogen. Es kann an jedem Punkt brechen oder reißen, doch alte Verbindungen können auch wieder aufleben oder neue entstehen. Die Verbindungen des Rhizoms haben deshalb den Charakter einer Landkarte und keine strukturale oder generative Gestalt. Das Rhizom ist daher kein Modell, sondern eine ‚Flugbahn‘, die den Weg zu Begegnungen eröffnet und die Philosophie zur Kartographie macht. Siehe auch: Andersheit und Identität; Postmoderne, Theorien der DOROTHEA E. OLKOWSKI
Demokratie Einführung Der Ausdruck ‚Demokratie‘ bezeichnet die Herrschaft des Volkes, im Gegensatz zur Herrschaft durch eine einzelne Person oder eine Personengruppe. Die Demokratie ist ein System der Entscheidungsbildung, in dem jeder, der dem politischen Entscheidungskörper angehört, potenziell oder wirklich daran beteiligt ist. Alle diese Beteiligten haben dieselbe Macht. Es wurden unterschiedliche Konzeptionen dazu entwickelt, wie dies auszusehen hat. Nach einer dieser Konzeptionen bedeutet dies, dass jeder an der Entscheidungsfindung selbst teilhaben sollte, die folglich aus einer Diskussion aller Beteiligter hervorgehen sollte. Nach einer anderen Auffassung bedeutet dies, dass jeder in der Lage sein sollte, zwischen Vorschlägen oder unter Vertretern zu wählen, denen dann das Vertrauen ausgesprochen wird, die Entscheidung zu treffen; der Vorschlag oder der Vertreter mit den meisten Stimmen gewinnt. Philosophische Probleme im Zusammenhang mit der Demokratie betreffen sowohl ihr Wesen, als auch ihre Werte. Es scheint offenkundig zu sein, dass die Demokratie einen Wert hat, denn sie fördert die Freiheit und die Gleichheit. Im Vergleich beispielsweise mit der Diktatur hat jedermann die gleiche Macht und wird nicht von einer bestimmten Person oder Personengruppe kontrolliert. Jedoch steht zumindest bei der Konzeption einer wählenden Demokratie der Mehrheit die Herrschaft auch über die Minderheit zu. Dies bedeutet, dass die Minderheit nicht mehr als gleich behandelt angesehen werden könnte, und ihr fehlt es dann an Freiheit in dem Sinne, dass sie von der Mehrheit beherrscht wird. Ein anderer Einwand gegen die Demokratie lautet, dass dadurch, dass jede Stimme das gleiche Gewicht hat, auch der Unwissende genauso wichtig ist wie der Wissende, und dass folglich keine ordentlich getroffenen Entscheidungen zustande kommen. Allerdings kann das Wählen selbst unter bestimmten Umständen der richtige Weg sein, um Wissen zu erlangen. Der Zusammenschluss von Meinungen kann zu einem besseren Gruppenurteil führen.
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Demokratie
Diese Schwierigkeiten mit der Demokratie werden durch ein Modell gemildert, das sich eher auf die gegenseitige Diskussion konzentriert, statt darauf, dass die Menschen einfach Meinungen im Rahmen von Wahlprozeduren äußern. Meinungen sollten unter solchen Umständen auf bessere Weise zustande kommen, und einzelne Menschen werden hierbei wohl deutlicher auf gleiche Weise berücksichtigt. Dies hängt jedoch davon ab, dass sie alle von Ausgangspunkten gleichen Einflusses und gleicher Freiheit starten. Statt also die Folge eines demokratischen Verfahrens zu sein, wären hier die Gleichheit und die Freiheit eher eine notwendige Voraussetzung, damit die Demokratie ordentlich funktioniert. 1. Was eine Demokratie ist 2. Der Wert der Demokratie 3. Das Paradox der Demokratie 4. Demokratie und Wissen 5. Der Nutzen der Demokratie 6. Andere Konsequenzen 7. Beratschlagende Demokratie 1. Was eine Demokratie ist Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Sie ist eine Form der Entscheidungsfindung oder der Regierung, deren Bedeutung man sich durch den Unterschied zu konkurrierenden Formen, wie beispielsweise der Diktatur, der Oligarchie oder der Monarchie, klarer machen kann. Bei diesen konkurrierenden Formen herrscht eine einzelne Person oder eine ausgewählte Personengruppe. Bei der Demokratie ist dies nicht so. Das Volk selbst herrscht, und zwar beherrschen sie sich selbst. Derselbe Sozialkörper ist zugleich Herrscher und Beherrschter. Philosophische Darstellungen der Demokratie analysieren ihr Wesen und diskutieren ihren Wert. Beides kann nicht vollständig voneinander getrennt werden. Jede Darstellung, die den Wert der Demokratie erklärt, muss eine weitere Darstellung liefern oder voraussetzen, was es überhaupt heißt, einen Wert zu behaupten. Umgekehrt sind auch angeblich neutrale Analysen des Wesens der Demokratie von Wertanschauungen beeinflusst. Beispielsweise wird jemand, der meint, dass die Demokratie eine gute Sache sei, dazu neigen, dies als Folge anderer Merkmale zu begründen, die ebenfalls als gut betrachtet werden. Den Begriff der Demokratie kann man deshalb auf natürliche Weise als das verstehen, was W.B. Gallie im Kern als ‚streitbar‘ bezeichnete. Solche Begriffe sind einer Analyse unzugänglich, weil jede der unterschiedlichen Analysen immer die von ihr bevorzugten Werte implizit mitdenkt. Beispielsweise nannten sich die DDR und die Bundesrepublik Deutschland vor der Vereinigung Deutschlands beide Demokratien. Gleichwohl wiesen beide sehr unterschiedliche politische Systeme auf. Die DDR war ein marxistischer Einparteienstaat, die Bundesrepublik beruhte auf dem politischen und wirtschaftlichen Wettbewerb zahlreicher Parteien und konkurrenter Wahlen. Ein Streit darüber, welches der beiden Systeme wirklich eine Demokratie war, wäre unlösbar. Diese Darstellung und dieses Beispiel setzen voraus, dass die Demokratie wünschenswert ist, so dass bereits auf streitigem Wege ermittelt werden müsste, ob eine solche ehrenhafte Zuschreibung überhaupt begründet ist. Denn für den größten Teil
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Demokratie
der Zeit seit der Erfindung des Begriffs der Demokratie wurde er nicht als besonders ehrenvoll verstanden. Eine Art der Demokratie existierte im antiken Griechenland. Dies war jedoch eine Regierungsform, die von führenden griechischen Denkern ihrer Zeit, nämlich Platon und Aristoteles, kritisiert wurde. Über den größten Teil der seit dem Ende dieser Frühform der Demokratie vergangenen Zeit gab es weder eine Demokratie, noch hielt man sie für wünschenswert. Viel später, nämlich mit der Entstehung der USA, nähern wir uns einem System, von dem viele Menschen meinen, dass dies ein Paradigma der Demokratie sei. Es überrascht nicht, dass diese von ihren Gründungsvätern verteidigt wurde. Was uns jedoch tatsächlich überrascht, ist der Umstand, dass einer ihrer berühmtesten Verteidiger, James Madison, sehr darauf achtete, als Namen für das von ihm unterstützte System nicht den Ausdruck ‚Demokratie‘ zu benutzen. Er strebt Verhältnisse an, die Demokratien genannt werden, und unterstützt diese Bezeichnung nicht. Stattdessen verwendet er als Beschreibung der sich entfaltenden USA den Ausdruck ‚Republik‘. Was Madison mit ‚Republik‘ meint, ist ‚eine Regierung, bei der das Vertretungsschema zur Anwendung kommt‘, und mit ‚Demokratie‘ eine ‚Gesellschaft, die aus nur wenigen Bürgern besteht, die sich versammeln und das Amt der Regierung wie eine Person ausüben‘ (‚The Federalist Papers‘, 1787 f.). Man könnte hieraus ableiten, dass die zentrale Frage dabei jene der Größe sei. Kommentatoren, die unmittelbar vor Madison schrieben, wie z.B. Rousseau (§ 3) und Montesquieu, behaupten, dass die Demokratie nur in kleinen Staaten möglich sei. Madison kann folglich als derjenige verstanden werden, der den Übergang zur modernen Welt mit eher großen statt kleinen Staaten und eine entsprechende Bewegung von der direkten Demokratie zur repräsentativen Regierung markiert. Was heute gemeinhin Demokratie genannt wird, unterscheidet sich sehr von dem, was gemeinhin in der alten Welt so genannt wurde. Die Größe ist hier jedoch nicht die einzige wichtige Unterscheidung. Einzelne Menschen können inzwischen auch in sehr großen und modernen politischen Einheiten mittels moderner Technik so miteinander verbunden werden, als würden sie sich alle treffen. Auf der anderen Seite werden in der modernen Welt politische Entscheidungen immer noch von und für kleine Gruppen getroffen. Bezüglich dieser Gruppen kann immer noch die Frage gestellt werden, ob diese Entscheidungen nicht demokratisch gefällt werden sollten, und falls dies bejaht wird, welche Form von Demokratie hierfür geeignet wäre. Deshalb können unabhängig von der Größe einer politischen Einheit Fragen über die Bedeutung der Partizipation oder der Diskussion auftauchen, bevor überhaupt Entscheidungen getroffen werden. Man könnte sich auch fragen, ob die Demokratie nicht vorrangig als ein Mechanismus betrachtet werden sollte, in dem das Volk eine Politik oder Vertreter ohne Versammlung, Beteiligung oder Diskussion wählt. An einem Ende der Skala möglicher Sichtweisen könnten wir mit Joseph Schumpeter die Demokratie als einen Wettbewerb professioneller Politiker um Stimmen betrachten. Am anderen Ende dieser Skala könnte man die Demokratie als ein System auffassen, in dem einstimmige Entscheidungen nach ausgiebiger Diskussion getroffen werden, die die egalitäre Autonomie und Partizipation aller Beteiligten respektiert. Erstere Ansicht scheint praktisch orientiert zu sein, darüber hinaus aber keine (weiteren) Ideale zu vertreten. Letztere gibt sich eindrucksvoll idealistisch, kann aber in der Praxis ineffektiv sein.
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Demokratie
Es wurde gerade gesagt, dass Wahl und Vertretung zumindest praktisch seien. Damit überspielt man jedoch ein auffälliges Problem. Dies betrifft den Umstand, dass die kollektive Sichtweise, die sich aus der Wahl ergibt, eventuell nicht in der Weise mit den individuellen Auffassungen in Beziehungen steht, wie sie sich in den Wahlen zeigten. Insbesondere trifft dies zu, wenn es drei oder mehr Optionen gibt, die in eine Vorzugsreihenfolge gebracht werden müssen und es drei oder mehr solcher Ordnungen gibt (siehe Sozialwahl, Theorie der). Diese Probleme werden hier nicht weiter vertieft; man sollte sich jedoch darüber klar sein, dass viele Leute in ihnen unüberwindliche Hindernisse für eine demokratische Entscheidungsfindung sehen. 2. Der Wert der Demokratie Nachdem wir nun eine Vorstellung davon haben, was eine Demokratie ist, wenden wir uns der nächsten Frage zu, ob oder warum sie einen Wert verkörpert. Die griechischen Historiker verbanden die ursprüngliche Einführung der Demokratie mit dem Fortschritt bezüglich der Freiheit und der Gleichheit. Da sowohl die Freiheit, als auch die Gleichheit gemeinhin als wertvoll empfunden werden, scheint darin eine selbstverständliche Antwort auf diese Frage zu liegen. Die Demokratie ist wertvoll, weil sie Freiheit und Gleichheit hervorbringt. Mit der Diktatur oder anderen Formen spezieller Führerschaft kommt einer einzelnen Person oder Personengruppe mehr Macht als anderen zu. Im Gegensatz dazu ist in der Demokratie jeder gleich; jeder hat die gleiche (politische) Macht. Folglich ist die Demokratie egalitär im Vergleich mit anderen Formen der Regierung oder der Entscheidungsfindung. Ähnliches gilt für die Freiheit. Eine Demokratie, die durch den Sturz eines Diktators eingeführt wird, erhöht die politische Freiheit. Die Menschen werden dadurch von der Herrschaft des Diktators frei. So befördert die Demokratie die Freiheit. Hier gibt es nun mehrere untereinander verbundene Ausdrücke: Freiheit, Frieden, Autonomie. Das Argument (‚Die Demokratie befördert die Freiheit‘) scheint gültig zu sein, welchen der vorstehenden Ausdrücke man auch immer darin einsetzt. Man betrachte beispielsweise die Autonomie. Sie bedeutet wörtlich ‚Selbstherrschaft‘. Dies ist nun genau das, was in der Demokratie stattfindet, im Gegensatz zu anderen Regierungsformen. Die Menschen bestimmen selbst über sich. Wie so häufig sind die Dinge aber bei genauerer Untersuchung nicht mehr so klar. Angenommen, die Entscheidungen werden durch eine Mehrheitswahl getroffen, und jemand befindet sich in der Minderheit. Diese Person wird überstimmt, und deshalb werden ihre Wünsche nicht berücksichtigt. Folglich können wir die Frage stellen, ob in dieser (demokratischen) Situation die betroffenen Personen wirklich autonom sind. Sie werden dazu gebracht etwas zu tun, was sie gar nicht wollen. Folglich sind sie nicht wirklich autonom. Ähnliches gilt für die Gleichheit. Nicht jeder wird gleich behandelt, wenn die Mehrheitsentscheidung getroffen wird, weil nur die Standpunkte einiger Leute (der Mehrheit) wirksam werden. Die Auffassungen der Minderheit werden verworfen. Folglich werden sie nicht gleich behandelt. Der Gewinner bekommt alles, also werden Gewinner und Verlierer nicht gleich behandelt. Wenn eine Gemeinschaft in zwei Teile gespalten ist, die in gegenseitiger Abneigung leben, wird dieses Problem noch offensichtlicher. Der größere Teil könnte im Wege demokratischer Wahl die Minderheit schwer in Not bringen, indem sie sie einschränkt oder ihnen Dinge nimmt, die für sie von grundlegendem Werte sind. Unter 240
Demokratie
solchen Umständen kann man von den Mitgliedern der Minderheit kaum sagen, sie seien frei, noch kann man sagen, dass sie gleich behandelt werden. Daher stammt die Redewendung von der ‚Tyrannei der Mehrheit‘, die von Tocqueville in ‚Democracy in America‘ (1835) und von J.S. Mill in ‚On Liberty‘ (1859) verwendet wurde. Der anfängliche Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur liegt nun hinter uns. Wenn die Demokratie wirklich die Diktatur der Mehrheit ist, dann ist es jedoch nicht mehr so klar, dass die Demokratie die Freiheit und die Gleichheit befördert. 3. Das Paradox der Demokratie Wenn wir wie im letzten Abschnitt die Demokratie aus der Perspektive der Minderheit betrachten, so hilft das bei der Konzentration auf die Frage ihres Wertes. Ein Demokrat meint, dass die Mehrheitsauffassung verfügt werden sollte. Aber mit der Wahl erklären sie auch ihren eigenen Standpunkt darüber, was verfügt werden sollte. Gehören sie zur Minderheit, so weichen ihre Auffassungen von dem Verfügten ab, so dass sie offenbar in einen Widerspruch geraten sind. Angenommen, es gibt zwei miteinander unvereinbare Vorgehensweisen A und nicht-A. Nun scheint aber der Minderheitsdemokrat zu glauben, dass sowohl A verfügt werden sollte (weil dies von der Mehrheit so gewollt wurde), als auch, dass nicht-A verfügt werden sollte (denn das ist seine eigene Auffassung). Richard Wollheim (1962) nannte dies das ‚Paradox der Demokratie‘. Wenn man der Demokratie jedoch einen Wert zusprechen will, so ist dieses Paradox lösbar. Wir haben es dann nämlich mit einem einfachen (und bekannten) Wertekonflikt zu tun. Die direkte Auffassung des Demokraten von der fraglichen Angelegenheit enthält den Wert des Handlungsverlaufs, für den er gestimmt hat. Wird diese Auffassung aber durch die Mehrheit verworfen, so besitzt der alternative Handlungsverlauf ebenfalls einen Wert. Denn er erbt den Wert der Demokratie an sich. Wenn beispielsweise die Demokratie als ein egalitäres Verfahren verstanden wird, dann hat die Annahme des konkurrierenden Handlungsverlaufs ebenfalls egalitären Wert. Hierzu ein Beispiel: vier Menschen in einem Auto müssen sich entscheiden, ob sie entweder an den Strand oder in die Stadt wollen. Es gibt nur ein Auto, und nur ein Ziel kann angesteuert werden. Man kommt überein, die Frage demokratisch im Wege einer Abstimmung zu entscheiden. Die Abstimmung findet statt. Einer entscheidet sich für den Strand und wird 3:1 von den anderen überstimmt. Für den Überstimmten hat der Strand einen Wert. Das hat er durch sein Abstimmungsverhalten gezeigt. Er ist aber auch ein Demokrat. Nach der Abstimmung hat die Stadt ebenfalls einen Wert für ihn. Mit dem Ansteuern der Stadt werden die Meinungen von drei Menschen respektiert, mit jenem des Strandes nur die Meinung von einem. Wenn man der Auffassung ist, dass alle Menschen den gleichen Wert haben, dann hat man damit einen Grund, sich mit dem Auto in die Stadt zu bewegen. 4. Demokratie und Wissen In seiner Republik sagt Platon, dass es „nicht der natürliche Lauf der Dinge für einen Steuermann ist, die Mannschaft zu bitten, seinem Rat zu folgen“. (ca. 380–367 v. Chr.: 489b). Daraus folgt, dass selbst wenn wir als Gruppe an den richtigen Ort gelangen wollen, es nicht vernünftig ist anzunehmen, dass alle eine gleichermaßen gültige Meinung haben. Stattdessen sollten wir denjenigen folgen, die wissen, wo es
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lang geht. Folglich ist die Demokratie, die die Meinung von jedem gleich behandelt, als Mittel zur Bestimmung der richtigen Handlung uneffizient (siehe Platon § 14). Dieses Argument enthält zahlreiche Vorannahmen und kann entkräftet werden, indem man diese anficht. Einige Menschen können nur dann mehr über etwas wissen als andere, wenn es tatsächlich etwas zu wissen gibt. Das heißt aber, dass es eine Wahrheit über die fragliche Angelegenheit gibt, die von der Meinung der Leute unabhängig ist. Genau dies kann aber bestritten werden, wenn die Frage besteht, was der Staat tun sollte. Da dies ein wichtiger Punkt ist, könnte man der Auffassung sein, dass es keine unabhängige Wahrheit gibt, und folglich auch kein Wissen darüber verfügbar ist. Noch genauer gesagt könnte man meinen, dass sich eine Unterscheidung zwischen den Bereichen treffen lässt, für die Wissen zur Verfügung steht, und die deshalb beispielsweise durch einen ausgebildeten Beamtenapparat verwaltet werden sollte, und anderen Bereichen, für die kein Wissen zur Verfügung steht, und die deshalb der demokratischen, unausgebildeten Amateurentscheidung überlassen werden sollte. Benjamin Barber beispielsweise hält den Bereich der Politik für einen der Handlung, nicht der Wahrheit. Für ihn beginnt die Demokratie dort, wo die Metaphysik versagt, indem sie ihre eigene Erkenntnistheorie erzeugt. Hierzu muss jedoch angemerkt werden, dass ein Argument für die Qualität der demokratischen Entscheidungsfindung nicht auf der Basis eines vollständigen Werteskeptizismus entwickelt werden kann. Denn wenn gar keine Wahrheiten über Werte zur Verfügung stehen, dann gibt es auch keine Wahrheiten über den Wert der Demokratie. Deshalb kann ein gültiges Argument auf der Grundlage dieser Prämisse zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie einen Wert hat. Umgekehrt folgt daraus, dass man unabhängige Wahrheiten über Werte aussagen kann, auch nicht direkt, dass die Demokratie ein ungeeigneter Weg zur Entdeckung dieser Werte ist. Denn es ist durchaus möglich, dass die Wahrheit darüber, was der Staat im Allgemeinen tun sollte, von solcher Art ist, dass die Menschen zu ihrer Erkenntnis ein ungefähr gleiches Vermögen haben. Und selbst wenn die Menschen hierzu nicht das gleiche Vermögen haben, so kann so lange, wie nicht geklärt ist, welche die überlegene ist, die Demokratie das geeignete anzuwendende Verfahren sein. Das platonische Argument geht davon aus, dass es eine Wahrheit darüber gibt, was unternommen werden sollte, ferner dass diese Wahrheit einigen Menschen besser bekannt ist als anderen, und dass sie unabhängig von deren Standpunkten mitgeteilt werden kann. Alle diese Voraussetzungen können bestritten werden. Wenn die Menschen alle ungefähr das gleiche Urteilsvermögen besitzen (oder die überlegene Wahrheit nicht ermittelt werden kann), dann ist die Abstimmung und die Ausrichtung an der Auffassung der Mehrheit, solange bei allen die gleiche Wahrscheinlichkeit des Irrtums besteht, ein leistungsfähiges Verfahren. Denn die Mehrheitsauffassung besitzt eine größere Wahrscheinlichkeit, auch die richtige zu sein, als jede individuelle Entscheidung, wie Condorcet als erster gezeigt hat. Mit anderen Worten, wenn ich eine Reihe von Entscheidungen über die Wahrheit von etwas treffen muss und mich in einer Gruppe befinde, in der jedes Mitglied die richtige Antwort relativ häufiger findet als die falsche, dann schließe ich mich auf jeden Fall besser der Mehrheitsauffassung der Gruppe an, als meinem ursprünglichen Standpunkt. Selbst wenn einige Menschen deutlich besser informiert sind als andere, folgt daraus noch nicht, dass die demokratische Entscheidungsfindung nicht leistungs242
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fähig ist. Denn wenn man weiß, wer die Experten sind, werden die Menschen, die ein Interesse an der Entdeckung des Richtigen haben, sich im Allgemeinen deren Auffassung anschließen. Anders gesagt, man erreicht dieselben Antworten, als wenn man wie bei Platon die Besten zu Diktatoren macht. Die Demokratie wird bei der Entdeckung der Wahrheit nicht hinten anstehen und darüber hinaus noch andere Vorteile haben. Auf der anderen Seite ist es, wenn nicht klar ist, wer die Experten sind, tatsächlich so, dass die Meinung der Mehrheit eventuell tatsächlich nicht jener der Experten folgt. Wenn aber einige Menschen Diktatoren sind, ist es auch möglich, dass gerade sie als Diktatoren nicht zu den besser Informierten gehören. Den Gefahren des Irrtums, der beim Anschluss an die Mehrheitsmeinung entsteht, entsprechen jene, die entstehen, wenn die falschen Menschen zu Diktatoren werden. Das platonische Argument ist nur gültig, wenn die Experten von vornherein festgestellt werden können, beispielsweise (wie in Platons ‚Staat‘), weil sie auf eine Weise ausgebildet wurden, die sicherstellt, dass sie über die notwendige Expertise verfügen. 5. Der Nutzen der Demokratie Es sind noch weitere Rechtfertigungen der Demokratie möglich. Eine Standardrechtfertigung für überhaupt viele ihrer theoretischen Gebiete ist der Utilitarismus (siehe Utilitarismus). Demzufolge ist etwas gerechtfertigt, wenn es das allgemeine Glück oder den allgemeinen Nutzen fördert. So kann man bei einer Regierungsform genauso wie bei allem anderen fragen, ob es dazu neigt, diesen Zielen zu dienen. Die Antwort darauf ist, zumindest nach dem klassischen Utilitarismus von Bentham und James Mill (dem Vater von John Stuart Mill), dass die Demokratie dies tue. Das entsprechende Argument wird in seiner einfachsten Form in James Mills Aufsatz ‚Essay on Government‘ (1820) vorgetragen. Er beginnt mit einer bewertenden und einer faktischen Prämisse. Die bewertende Prämisse ist der Utilitarismus. Handlungen sind richtig, sofern sie das allgemeine Glück fördern. Die faktische Prämisse ist das universale Eigeninteresse. Die Menschen gehen jenen Dingen nach, die ihren eigenen Interessen dienen. Das Problem besteht darin, jene Regierungsform zu finden, bei der sowohl beide dieser Prämissen wahr sein können, d.h. jene Form zu finden, wo die Menschen, wenn sie ihrem eigenen Interesse folgen, dennoch das allgemeine Glück fördern. Es ist nicht schwierig zu zeigen, dass die repräsentative Demokratie hierauf die Antwort ist. Könige werden die Interessen von Königen verfolgen, Diktatoren jene von Diktatoren, und Oligarchien jene der Oligarchien. In allen diesen Fällen ist das geförderte Interesse jenes der herrschenden Gruppe, und nicht jenes der Menschen insgesamt. Wenn jedoch die Menschen insgesamt an die Macht kommen, so werden sie die Interessen der Menschen insgesamt fördern. Indem sie ihren eigenen Interessen nachgehen, werden sie das allgemeine Glück hervorbringen. Folglich sind beide Prämissen gleichzeitig erfüllt. Es wird vielleicht nicht besonders überraschen, dass das größte Glück der größten Anzahl von Menschen sich dann ergibt, wenn die Mehrheit (die größere Zahl) an die Macht kommt. Diese Antwort hängt jedoch von gewissen Vorannahmen ab. Sie geht davon aus, dass die Menschen in ihrem eigenen Interesse handeln. Selbst wenn sie dies im Allgemeinen beabsichtigen (was bereits bestritten werden kann), so folgt daraus nicht, dass sie dabei erfolgreich sind. Denn sie kennen vielleicht ihr 243
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Interesse gar nicht. Es wird beispielsweise oft geäußert, dass die Menschen ernsthaft ihre Zukunft vernachlässigen, so dass sie ihre weniger wichtigen, unmittelbaren Interessen den wichtigeren langfristigen vorziehen. Wenn dies der Fall ist, so wird die demokratische Entscheidungsfindung zu kurzfristigen Ergebnissen führen, die nicht einmal im Interesse der Wähler sind. Eine damit zusammenhängende Frage ist, dass dieses Modell die jeweiligen Präferenzen so nimmt, wie sie geäußert werden, ohne zuzulassen, dass sie sich mit dem demokratischen Prozess ändern. Wenn aber alle Menschen falsch darüber informiert sind, was gut für sie ist, wäre es besser, an den Präferenzen zu arbeiten, bevor man zulässt, dass diese Präferenzen sich in Abstimmungen ausdrücken. Die Demokratie behandelt alle Stimmen gleich. Die Menschen sind aber möglicherweise nicht gleich über ihre Interessen informiert. So kann sich ergeben, dass manche Interessen besser befriedigt werden als andere. Analog bedeutet dies, dass die Gleichbehandlung der Stimmen dazu führt, dass stark und schwach vertretene Meinungen als gleich wichtig behandelt werden. Wenn es aber das Ziel ist, den Nutzen zu maximieren, so kann es falsch sein, der nur schwach begründeten Meinung der Mehrheit anstelle der stark begründeten einer bedeutenden Minderheit zu folgen. Wenn der Nutzen aus der Erlangung von etwas als ungefähr proportional zur Stärke des Wunsches danach angenommen wird, dann könnte es sein, dass die Gesamtheit der Minderheit multipliziert mit einem größeren Nutzen pro Person höher ist, als die Gesamtheit der Mehrheit multipliziert mit einem geringeren Nutzen pro Person. 6. Andere Konsequenzen Die Idee des Utilitarismus als einem reinen, in der Rangfolge der Präferenzen befriedigenden ‚Mechanismus‘, in der jeweils die vorangehenden Präferenzen befriedigt werden, ist häufig kritisiert worden. Eine Alternative dazu ist, die Werte objektiver zu behandeln. Die Demokratie kann dann nach Maßgabe dieser unabhängig ermittelten Konsequenzen als gut dargestellt werden. Dies war der Ansatz von J.S. Mill, und später auch von William Nelson. Die Demokratie ist als eine Form der Ausbildung oder Entwicklung gerechtfertigt. Sie wird als ein politisches System verstanden, in dem einzelne Menschen dazu gebracht werden, selbstständig zu denken, wodurch sie sich verbessern. Selbst wenn die Entscheidungen, die sie treffen, nicht die besten sind, ist es für einzelne Menschen doch besser, wenn sie dies versuchen und an solchen Entscheidungen teilhaben. Eine andere, die Demokratie rechtfertigende Konsequenz ist die angenommene Förderung einer dynamischen wirtschaftlichen Aktivität, im Gegensatz zu den schleppenden Wirkungen, die vermutlich aus einer stärker zentralisierten Planung und Kontrolle entspringen. Aber selbst wenn die Demokratie mit solchen begünstigenden wirtschaftlichen Umständen in Beziehung steht, ist es doch nicht klar, dass dies allein als ein Argument zugunsten der Demokratie verwendet werden kann. Jon Elster deckte die fragwürdige Rolle solcher Argumente auf, die sich auf indirekte Wirkungen beziehen. Es kann nämlich sein, dass diese anderen Wirkungen nur dann eintreten, wenn die Menschen an der Demokratie nur wegen direkter Gründe hängen (z.B. wenn sie glauben, dass dies eine gerechtere Form der Regierung ist). Wenn die Menschen die Demokratie nur unterstützen, weil sie der Meinung sind, sie unterstütze die wirtschaftliche Dynamik, dann würde die Demokratie gar nicht funktionieren, und dann würde sich daraus auch keine wirtschaftliche Dynamik ergeben. 244
Demokratie
Dies weist auf ein anderes bekanntes Problem mit dem Aufbau auf vorangehende Präferenzen hin, um dann die Demokratie als eine Art von Marktmechanismus zu verstehen, durch den diese Präferenzen weiter gereicht werden. Wenn die Menschen nur auf der Grundlage eigener Interessen handeln und versuchen, ihre bereits zuvor gegebenen Präferenzen zu erfüllen, dann ist nicht klar, warum sie überhaupt wählen sollten. Denn der Vorteil der Wahl ergibt sich für sie bereits, wenn die anderen wählen, und ihre eigene Wahl erscheint unter diesen Umständen nur als zusätzlicher Aufwand. Auf der Ebene nationaler Regierungen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass irgendeine einzelne Stimme entscheidend sein wird. So kämen sie besser weg, wenn sie gar nicht wählen gingen. 7. Beratschlagende Demokratie Eine Antwort auf diese Probleme ist es, die Idee der Demokratie als einen Mechanismus zur Befriedigung bereits vorab gegebener Präferenzen aufzugeben. Statt diese als gegeben zu sehen, sollte die Demokratie stattdessen eher als eine Einrichtung gesehen werden, in der sich Menschen entwickeln und ihre eigenen Präferenzen im Verlauf eines Prozesses gegenseitigen Beratschlagens entdecken. Nach dieser Darstellung, derzufolge die Demokratie eine ‚beratschlagende‘ (manchmal auch ‚diskursive‘ Demokratie) genannt wird, ist die Demokratie im Kern eine Sache von Diskussionen, statt von Wahlen. Diese Theorie wurde in jüngerer Zeit von solchen Denkern wie J. Cohen, A. Gutmann oder J. Dryzek befürwortet. Sie baut auf der älteren Idee der öffentlichen Rationalität auf. Diese besagt, dass, wenn die Menschen in öffentlichen Diskussionen ihren Standpunkt darüber, was richtig ist, entwickeln müssen, sie dazu gedrängt werden nachzudenken, was für die Gruppe als Ganzes wichtig ist, statt nur für sich selbst. So sollten die Menschen an einer Form der Entscheidungsfindung beteiligt sein, wo sie ihre Ideen austauschen, gemeinsam diskutieren und mit etwas Glück schließlich eine allgemeine Übereinstimmung erreichen. Die Annahme ist hier, dass die Argumente, die normalerweise in öffentlichen Diskussionen verwendet werden, durch den Wunsch eingeschränkt werden, eine Übereinstimmung zu erzielen. Dies macht es umgekehrt notwendig, dass die Menschen so erscheinen sollten, als beriefen sie sich auf allgemeine Prinzipien, statt nur auf ihr eigenes Interesse. Die Bedingung der Öffentlichkeit (d.h. dessen, was man öffentlich nennen kann) bringt Einschränkungen mit sich. Wenn Menschen aus einer allgemeinen Perspektive statt aus derjenigen ihres eigenen, einzelnen Interesses sprechen, wird die Form ihrer Argumente und der zugrunde liegenden Urteile anders ausfallen. Daher werden eher die Diskussionen als die Wahlen zum zentralen Merkmal der Demokratie, und es wird wichtig, dass die Menschen sich treffen und zusammen reden können, bevor Entscheidungen getroffen werden. Diese Ideen der Förderung, der Diskussion und der Partizipation daran, beruhen ihrerseits auf zahlreichen Vorannahmen. Sie setzen voraus, dass Menschen die Wahrheit besser herausfinden werden (d.h. das, was besser für die Gruppe ist), wenn sie in Gruppen statt allein daran arbeiten. Dies mag der Fall sein, wenn sie alle unabhängig voneinander denselben Wunsch zur Entdeckung der Wahrheit haben. Dies ist aber nicht so klar, wenn es tiefe Interessenskonflikte gibt (wie z.B. des Kapitals gegenüber der Arbeit oder des Landes gegenüber der Stadt oder der heutigen Generation gegenüber der nächsten). Es wird also vorausgesetzt, dass die Gruppendiskussion 245
Demokratie
zu mehr Rationalität führt. Aber unter einigen Umständen erhöht und entfacht die Gruppendynamik lediglich die Leidenschaften, so dass die Menschen sich auf eine Weise schlecht zueinander benehmen, wie sie es getrennt nie tun würden. Es ist strittig, ob die öffentliche Beratschlagung die Abstimmung vollständig ersetzen oder sie nur ergänzen sollte. Eine vollständige Ersetzung ist schlussendlich eine Empfehlung der Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung. Obwohl dies den vollen Respekt gegenüber allen beteiligten Parteien bedeutet, gibt es doch auch allen Seiten ein Vetorecht, wodurch jede Entscheidung blockiert werden kann. Eine praktischere Sichtweise wäre es, die Diskussion durch die Abstimmung zu ergänzen, wodurch die Entscheidungsfindung auch dann ermöglicht wird, wenn keine vollständige Übereinstimmung erreicht werden kann. Die Abstimmung darf erst nach einer Diskussion erfolgen, so dass getroffene Präferenzen noch verändert werden können, bevor es zur Abstimmung kommt. Dabei stellt sich auch die Frage, ob alle Entscheidungen auf dem Wege dieser Methode getroffen werden sollten, oder nur einige wenige grundlegende (beispielsweise verfassungsrechtliche). Hier sollte erneut ein Gewicht sowohl auf der Diskussion, als auch auf der Abstimmung liegen, wobei die öffentliche Diskussion einen Rahmen schafft, innerhalb dessen private Interessen durch die Abstimmung berücksichtigt werden können. Probleme gibt es auch im Hinblick auf den Status der Parteien, die an einer Diskussion beteiligt sind, und in diesem Zusammenhang mit den Formalitäten des Vorganges. Einerseits findet eine formale Beratungsprozedur statt, und zwar auf der Grundlage von zuvor beschlossenen Regeln und beschränkt auf die Mitglieder (so dass beispielsweise nur die Mitglieder eines Clubs oder die Bürger eines Landes sich an entscheidungstragenden Diskussionen darüber beteiligen können, was der Club oder das Land tun sollen). Andererseits können die Diskussionen an einem beliebigen Ort und zu irgendeiner Zeit stattfinden, und mit jedem, der daran interessiert ist. Die Informalität des Vorganges schlüge damit aber auch die Informalität des Ergebnisses durch, weshalb für zur Durchführung bestimmte Entscheidungen gesetzlicher Körperschaften wie Clubs oder gar Gebietskörperschaften ein etwas formaleres Vorgehen notwendig ist. Dies illustriert, dass zunächst Regeln festgestellt werden müssen, wenn Diskussionen als ein Mittel zum Erreichen kollektiver Entscheidungen angesetzt werden sollen. Damit tauchen wieder die Werte auf, die zu Beginn dieses Beitrages genannt wurden, nämlich diejenigen der Freiheit und der Gleichheit, jetzt allerdings nicht als die Konsequenzen einer demokratischen Tätigkeit, sondern als ihre Voraussetzungen. Denn wenn Diskussionen zu den richtigen Antworten führen sollen, bedarf es ungefähr gleicher Ausgangsbedingungen hinsichtlich der Macht unter den Diskutanten. Sonst wird die Diskussion durch die Interessen der Stärkeren dominiert. Daher kommt die Vorstellung, dass die Demokratie einer ungefähr gleichen Verteilung des Wohlstands bedarf (was Montesquieu und Rousseau meinten). Und darauf stützt sich die marxistische Kritik, dass die westlich-liberale Demokratie auf der Fiktion einer idealisierten Gleichheit aufbaut, wo in Wirklichkeit eine starke Ungleichverteilung der wirtschaftlichen Macht besteht. Daher kommt auch John Rawls Argument, dass die politischen Parteien vom Staat bezahlt werden sollten um zu vermeiden, dass die wirtschaftlich Starken Stimmen kaufen (siehe Rawls, J. § 2). Und schließlich kommen daher auch die Einwände feministischer Theoretiker(innen). Wenn sich Männer und Frauen schon von vornherein in einer Situation ungleicher 246
Demokrit (Mitte 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.)
Machtverteilung befinden, dann wird die angenommene Gleichheit in der Demokratie nur dazu führen, dass der größte Teil der Macht bei den Männern bleibt. Bei den Befürwortern der beratschlagenden Demokratie der jüngeren Zeit kommen dieselben Bedenken zum Zuge. Die Menschen haben unterschiedliche intellektuelle und rhetorische Fähigkeiten. Die formal gleiche Redeerlaubnis bedeutet noch nicht, dass alle die gleiche Fähigkeit dazu haben. Deswegen wurden Anstrengungen unternommen, um Bedingungen einzuführen, die sicherstellen sollen, dass die Diskussion unter gleichen Teilnehmern stattfindet. So wird die Diskussion zu etwas Gutem, aber nur dann, wenn das Forum, in dem sie stattfindet, selbst einer starken vorangehenden Kontrolle und Regulierung unterworfen ist. Sonst stehen wir wieder vor der schlechten, alten Welt eines Feilschens zwischen zuvor bereits gegebenen Präferenzen, vor denen uns die hier favorisierte Diskussion gerade retten sollte. Siehe auch: Konstitutionalismus; Allgemeiner Wille; Repräsentation, politische; Sozialdemokratie Anmerkungen und weitere Lektüre: Cohen, J. (1989): ‚Deliberation and democratic legitimacy‘, in: A. Hamlin und P. Pettit (Hrg.): ‚The Good Polity‘, Oxford: Blackwell, wieder abgedruckt in J. Bohman und W. Rehg (Hrg.): ‚Deliberative Democracy‘, Cambridge, MA: MIT Press (1999). (Eine nützlicher, klarer Standpunkt von einem der ursprünglichen Befürworter der jüngeren Reflexionen über die ‚beratschlagende Demokratie‘, auf die in § 7 Bezug genommen wird.) Harrison, R. (1993): ‚Democracy‘, London: Routledge. (Eine historische Darstellung und Analyse des Wertes im Sinne solcher Werte wie Gleichheit, Wissen und Autonomie.) Wollheim, R. (1962): ‚A Paradox in the Theory of Democracy‘, in: P. Laslett und W.G. Runciman (Hrg.), ‚Philosophy, Politics and Society‘, 2. Reihe. Oxford: Blackwell. (Auf diesen Artikel wird in § 3 Bezug genommen). ROSS HARRISON
Demokrit (Mitte 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.)
Der griechische Philosoph Demokrit entwickelte als Mitbegründer der Theorie des Atomismus zusammen mit Leukipp diese als ein universales System, das die Physik, die Kosmologie, die Erkenntnistheorie, die Psychologie und die Theologie umfasste. Von ihm wird auch berichtet, noch in weiteren Gebieten gearbeitet zu haben, einschließlich der Mathematik, der Ethik, der Literaturkritik und der Sprachtheorie. Seine Arbeiten sind bis auf eine immer noch beträchtliche Anzahl von Zitaten verloren gegangen, die meisten davon über die Ethik, deren Echtheit aber streitig ist. Unsere Kenntnis seiner wichtigsten Lehren hängt hauptsächlich an deren kritischer Diskussion durch Aristoteles, und ferner an Berichten von Philosophiehistorikern, deren Arbeiten von jener des Aristoteles und seiner Schule abgeleitet sind. Die Atomisten bemühten sich darum, die beobachtbaren Daten der Vielheit, der Bewegung und der Veränderung mit der Leugnung des Parmenides hinsichtlich der Möglichkeit des Werdens oder Vergehens zu versöhnen. Sie postulierten eine unendliche Anzahl unveränderlicher erster Substanzen, die durch eine kleinstmögliche Reihe erklärender Eigenschaften gekennzeichnet sind (Form, Größe, räumliche Reihenfolge und Orientierung innerhalb einer gegebenen Anordnung). Alle beobachtbaren Körper sind Aggregate dieser grundlegenden Substanzen, und was 247
Dennett, Daniel Clement (1942–)
sie als Erzeugung und Zerfall zeigt, ist in Wirklichkeit die Bildung und Auflösung dieser Aggregate. Die fundamentalen Substanzen sind physisch unteilbar (daher der Ausdruck atomos, wörtlich: ‚unzerschneidbar‘), und zwar nicht nur tatsächlich, sondern grundsätzlich, weil: (1) wenn es, wie Demokrit vorbringt, theoretisch möglich wäre, ein materielles Ding ad infinitum zu teilen, so würde sich dieses Ding auf Nichts reduzieren; und (2) weil die physische Teilung voraussetzt, dass das geteilte Ding Lücken enthält. Atome sind im leeren Raum in ewiger Bewegung, wobei die Bewegung durch eine unendliche Reihe vorangehender atomarer ‚Kollisionen‘ verursacht wird. (Es gibt jedoch Gründe, wenn auch strittige, zu der Annahme, dass Atome nicht kollidieren können, da sie immer durch die Leere getrennt sein müssen, wie schmal der Zwischenraum auch immer sein mag; folglich erscheint der Aufprall nur als solcher, und alle Vorgänge finden über eine räumliche Distanz statt.) Die Leere ist für die Bewegung notwendig, ist aber gekennzeichnet als das, ‚was nicht ist‘; wodurch das eleatische Prinzip verletzt wird, dass das, was nicht ist, auch nicht sein kann. Demokrit scheint der erste Denker gewesen zu sein, der die Beobachterabhängigkeit der Sekundärqualitäten erkannte. Er schloss von der Unterscheidung zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit auf die Unverlässlichkeit der Sinne. Es ist jedoch strittig, ob er dem Skeptizismus anhing oder vielmehr betonte, dass die Theorie die Mängel der Sinneswahrnehmung ausgleichen kann. Er vertrat eine materialistische Auffassung des Geistes, indem er den Gedanken und die Wahrnehmung als die physikalische Einwirkung von Bildern beschrieb, die von externen Gegenständen ausgesandt werden. Diese Theorie hatte das Aufkommen einer naturalistischen Theologie zur Folge. Er meinte ferner, dass die Götter eine besondere Art von Bildern seien, die mit Leben und Intelligenz ausgestattet sind und sich in menschliche Angelegenheiten mischen. Die ethischen Fragmente (sofern sie echt sind) zeigen, dass er eine konservative soziale Philosophie auf der Grundlage einer Form von aufgeklärtem Hedonismus vertrat. Siehe auch: Atomismus, antiker; Epikureismus; Leukipp; Zenon von Elea C.C.W. TAYLOR
Demonstrative und indexikalische Zeichen Siehe: Zeichen, demonstrative und indexikalische
Dennett, Daniel Clement (1942–)
Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett hat bei Gilbert Ryle studiert und ist ein Kenner der kognitiven Psychologie, der Neurowissenschaften und der Evolutionsbiologie. Er hat Rylesche Standpunkte in der Philosophie des Geistes vertreten, vor allem in allen Hauptpunkten seines ersten Buches ‚Content and Consciousness‘ (1969). Er vertritt eine im weiteren Sinne instrumentalistische Auffassung der propositionalen Einstellung (wie beispielsweise der Überzeugung und des Wünschens) und ihrer intentionalen Inhalte; wie Ryle und die Behavioristen verwirft Dennett die Vorstellungen von Überzeugungen und Wünschen als kausal aktiven inneren Zuständen von Menschen. Indem er sie auf eine rein operationale oder instrumentelle Art konstruiert, behauptet er stattdessen, dass Überzeugungs- und Wunschzuschreibungen lediglich Formen der Berechnung von etwas sind. Dennett entwickelte eine bemerkenswerte, deflationistische Darstellung des Bewusstseins, der Subjektivität und des phänomenalen oder qualitativen Charak248
Deontologische Ethik
ters von Wahrnehmungszuständen. Er behauptet, dass diese Fragen begrifflich nach denjenigen angesiedelt sind, die sich auf die propositionale Einstellung beziehen: die qualitativen Merkmale, derer wir uns in der Erfahrung direkt bewusst sind, seien nichts anderes als intentionale Inhalte unserer Urteile. WILLIAM G. LYCAN
Denotation
Siehe: Beschreibungen; Eigennamen; Referenz
Deontische Logik
Der Titel ‚deontische Logik‘ bezeichnet das Projekt der logischen Erforschung normativer Begriffe, insbesondere jene der Verpflichtung (‚sollte‘, ‚soll‘, ‚muss‘), der Erlaubnis (‚darf‘) und des Verbots (‚darf nicht‘, ‚verboten‘). Die deontische Logik unterscheidet sich von der normativen Rechtstheorie und der Ethik darin, dass sie nicht zu bestimmen versucht, welche Prinzipien für irgendein System gelten, noch was für Arten von Verpflichtungen dort existieren. Stattdessen bemüht sie sich um die Entwicklung einer formalen Sprache, die normative Ausdrücke natürlicher Sprachen angemessen repräsentieren kann, und versucht diese Ausdrücke in ein logisches System zu bringen. Die Theoreme der deontischen Logik bestimmen Beziehungen sowohl zwischen normativen Begriffen (z.B. dass alles, was verpflichtend sein kann, auch erlaubnisfähig ist) und zwischen normativen und nicht-normativen Begriffen (z.B. dass alles, was verpflichtend ist, auch möglich ist). Die zeitgenössische Forschung, die mit von Wright beginnt, behandelt die deontische Logik als einen Zweig der Modallogik, insofern (wie bereits von den mittelalterlichen Logikern bemerkt wurde) die logischen Beziehungen zwischen dem Verpflichtenden, dem Erlaubnisfähigen und dem Verbotenen in gewissem Umfang parallel gehen zu jenen zwischen dem Notwendigen, dem Möglichen und dem Unmöglichen (Begriffe, die in der ‚alethischen‘ modalen Logik behandelt werden). MARVIN BELZER
Deontologische Ethik
Die Deontologie behauptet, dass es zahlreiche bestimmte Pflichten gibt. Gewisse Handlungsarten sind innerlich richtig, und andere Arten sind innerlich falsch. Die Richtigkeit oder Falschheit irgendeiner einzelnen Handlung ist folglich nicht (oder nicht gänzlich) durch die Güte oder Schlechtigkeit ihrer Konsequenzen bestimmt. Einige Formen der Behandlung von Menschen, wie beispielsweise das Töten von Unschuldigen, werden ausgeschlossen, selbst wenn das Ziel davon die Verhütung anderer, noch schlimmerer Taten ist. Viele Deontologien lassen den Akteuren einen beachtlichen Spielraum zur Entwicklung ihres jeweils eigenen Lebens, vorausgesetzt, sie verletzen keine der Pflichten, die sie selbst als bestehend anerkennen. Die Deontologie mag nicht die theoretische Reinheit aufweisen, die viele Philosophen sich ersehnen, aber sie kann in mancherlei Hinsicht beanspruchen, das alltägliche moralische Denken wiederzugeben. Die Deontologie (das Wort stammt von dem griechischen Ausdruck deon ab, zu dt.: ‚man muss‘) behauptet typischerweise, dass es eine Reihe irreduzibler, bestimmter Pflichten gibt, wie beispielsweise das Erfüllen von Versprechen und die Abstandnahme vom Lügen. Einige Deontologen, wie z.B. W.D. Ross (1930), mei249
Deontologische Ethik
nen, dass eine dieser Pflichten lautet, so viel Gutes wie möglich zu tun. Die meisten bestreiten, dass es eine solche Pflicht gibt, geben jedoch zu, dass es eine eingeschränkte Pflicht zur Wohltätigkeit gibt, d.h. eine Pflicht, irgendetwas für die weniger Glücklichen zu tun (siehe Hilfe und Wohltätigkeit). Alle sind sich allerdings darin einig, dass es Gelegenheiten gibt, wo es für uns falsch wäre, im Sinne einer Maximierung des Guten zu handeln, weil dadurch nämlich eine (weitere) Pflicht verletzt würde. In dieser Hinsicht stehen die Deontologen im Widerspruch zu den Konsequenzialisten (siehe Konsequenzialismus §§ 1, 2). Die meisten Deontologien behaupten zwei wichtige Klassen von Pflichten. Erstens gibt es Pflichten, die aus den sozialen und persönlichen Beziehungen herrühren, in denen wir uns zu bestimmten Menschen befinden. Eltern haben ihren Kindern gegenüber Pflichten, und Kinder gegenüber ihren Eltern; die Leute haben Pflichten auf ihren Arbeitsstellen und in den Vereinen, denen sie angehören; Schuldner haben eine Pflicht zur Tilgung ihrer Schuld, Versprechende zur Einhaltung ihrer Versprechen und Entleiher zur Rückgabe des Entliehenen (siehe Familie, Ethik und die; Freundschaft; Berufsethik; Versprechen; Solidarität). Einige dieser sozialen Beziehungen gehen wir freiwillig ein, viele aber auch nicht. Die zweite Art nimmt die Form eines allgemeinen Verbots oder einer Einschränkung an. Wir sollten niemanden belügen, betrügen, foltern oder ermorden, und zwar selbst nicht zur Verfolgung guter Zwecke (siehe Wahrheit). Die Deontologie wird oft als eine akteursrelative Moraltheorie beschrieben, im Unterschied zum Handlungskonsequenzialismus, der eine handlungsneutrale Theorie ist. Nach dem Handlungskonsequenzialismus spielt die Identität des Akteurs keine Rolle im Hinblick auf seine Pflichten in einer bestimmten Situation. Diese bestimmen sich vielmehr dadurch, welche der für sie gangbaren Handlungsalternativen die besten Konsequenzen hervorbringen wird. In der Deontologie dagegen spielt die Bezugnahme auf den Akteur oft eine nicht hinweg zu denkende Rolle bei der Bestimmung der Pflicht. Dies gilt insbesondere für den Fall von Pflichten, die sich aus sozialen Beziehungen ergeben. Ich habe eine Pflicht, dieser Person zu helfen. Warum? Weil sie oder er mein Freund oder mein Kind ist. Ich habe die Pflicht zur Tilgung meiner Schulden und zur Erfüllung meiner Versprechen. Einschränkungen bringen ebenfalls Akteurrelativität mit sich, wenn auch in einer wenig anderen Art. Die Pflicht, nicht zu morden, mahnt uns nicht zu einer Minimierung der Anzahl der Mörder. Die Regel befiehlt mir, keinen Mord zu begehen, selbst wenn ich hierdurch etwas Schlimmeres verhindern könnte, wie beispielsweise, dass sonst zwei weitere Morde begangen werden. Vertreter der Deontologie halten dies für moralische Integrität; ihre Gegner bezeichnen dies verächtlich als eine ‚Methode, um eine reine Weste zu behalten‘ (siehe Utilitarismus § 5). Viele Deontologen meinen, dass unsere Pflichten, obwohl sie manchmal sehr beschwerlich sind, einen ziemlich beschränkten Geltungsbereich haben. Angenommen, ich habe keine Pflicht verletzt und bin moralisch frei in der Verfügung über einen beträchtlichen Teil meiner Zeit und meiner Kräfte, um meinen eigenen Zielen nachgehen zu können, wie es mir beliebt. Dies gibt mir den Spielraum für übererfüllende Handlungen: heroische oder heiligenartige Handlungen, die ganz klar jenseits jeglicher Pflicht liegen, und die sehr verdienstvoll sind (siehe Supererogation). Es gibt eine scharfe Trennung im deontologischen Lager hinsichtlich des Status von Einschränkungen. Einige, wie z.B. Fried (1978), halten sie für absolute: sie 250
Deontologische Ethik
lassen keine Ausnahme zu und dürfen unter keinen Umständen, die wir womöglich vorfinden, verletzt werden. Andere betrachten eine Handlung, die eine Einschränkung verletzt, als eine solche, gegen die erhebliche Einwände bestehen, die jedoch ausgeräumt werden können, wenn es ausreichend starke Pflichten auf der anderen Seite gibt. Konflikte zwischen zwei Pflichten, die beide nicht absolut sind, müssen gelöst werden, indem man bestimmt, welche der Pflichten unter den gegebenen Umständen die drängendere ist. Die Deontologie gewinnt viel bei der Berufung auf die Tatsache, dass sie die wesentlichen Merkmale unseres alltäglichen moralischen Denkens erfasst, sie ist aber auch zahlreichen Einwänden ausgesetzt. Zunächst ist ihre Behauptung, dass es eine Mehrheit unterschiedlicher Pflichten gibt, der Suche eines Theoretikers nach Einfachheit entgegengesetzt. Der Deontologe wird darauf erwidern, dass eine Theorie natürlich der Komplexität der Phänomene gerecht zu werden hat. Zweitens widersetzen sich viele Deontologen den angenommenen Regeln des guten Theoretisierens, indem sie bestreiten, dass es irgendeine übergeordnete Erklärung dafür gibt, warum es die bestehenden Pflichten überhaupt gibt. Sie weisen stattdessen auf unsere Überzeugung hin, dass es solche Pflichten gibt, ohne dass wir nach deren Rechtfertigung suchen. Andere, die üblicherweise von Kant inspiriert sind, bemühen sich um eine solche Erklärung, die auf irgendwelchen allgemeineren Richtlinien beruhen, wie beispielsweise dem Respekt vor anderen Menschen (siehe Kant, I. §§ 9–11; Kantische Ethik). Drittens müssen jene, die meinen, dass einige Handlungsarten absolut verboten sind, wie z.B. das Lügen, klare und detaillierte Kriterien zur Bestimmung der Grenze zwischen der Lüge und mutmaßlich weniger ruchlosen Handlungen liefern wie z.B. jene des ökonomischen Umgangs mit der Wahrheit. Eine solche Kasuistik kann sich sowohl als übermäßig legalistisch, als auch als unvereinbar mit dem Geist der Moral erweisen. Viertens liefert uns die Deontologie kein Verfahren zur Entscheidung von Pflichtkonflikten (was einige jedoch gerade für einen Vorteil halten). Schließlich scheint der Begriff der Einschränkung selbst aus einer konsequenzialistischen Perspektive widernatürlich. Wenn das Falsche an einem Mord ist, dass es sich dabei um etwas Schlechtes handelt, wie kann es dann rational sein einem Akteur zu verbieten, einen Mord zu begehen, um zwei weitere zu verhindern? Wenn die Deontologie diese Herausforderungen bestehen soll, muss sie zeigen, wie es sein kann, dass die Pflicht eines Menschen nicht (vollständig) auf der Güte oder der Schlechtigkeit seiner Handlungsergebnisse beruht. Siehe auch: Doppelten Effekts, Prinzip des Anmerkungen und weitere Lektüre: Fried, C. (1978): ‚Right and Wrong‘, Cambridge, MA: Harvard University Press. (Eine lesbare und energische Verteidigung einer absoluten Deontologie.) Nagel, T. (1986): ‚The View from Nowhere‘. Oxford: Oxford University Press, Kap. 9. (Ein raffinierter Versuch zur Schaffung einer Grundlage für deontologische Intuitionen.) Ross, W.D. (1930): ‚The Right and the Good‘. Oxford: Clarendon Press, Kap. 2. (Die klassische Darstellung einer moderaten Deontologie.) DAVID MCNAUGHTON
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Descartes, René (1596–1650)
Derrida, Jacques (1930–2004)
Jacques Derrida war ein in Algerien geborener, sehr produktiver französischer Philosoph. Seine Arbeit kann aus der Perspektive seines Arguments verstanden werden, dass es notwendig sei, die westliche philosophische Tradition vom Standpunkt der ‚Dekonstruktion‘ aus zu befragen. Die Dekonstruktion, die ein Versuch der Annäherung an das ist, was in dieser Tradition ungedacht bleibt, beschäftigt sich mit der Kategorie des ‚vollständig Anderen‘. Derrida stellt die ‚Metaphysik der Gegenwart‘ in Frage, also die Bewertung der Wahrheit als selbstidentische Unmittelbarkeit, wie sie von den traditionellen Ansätzen zur Begründung der Überlegenheit der Sprache über die Schrift behauptet wird. Indem er sagt, dass die Unterscheidung zwischen dem Sprechen und dem Schreiben nur durch einen gewaltsamen Ausschluss der Andersheit aufrechterhalten werden kann, bemüht sich Derrida um die Entwicklung einer radikal differenten Konzeption der Sprache, d.h. einer solchen, die mit der Irreduzibilität der Differenz auf die Identität beginnen, und die in eine entsprechend andersartige Konzeption der ethischen und politischen Verantwortung münden würde. Siehe auch: Dekonstruktion; Postmodernismus; Poststrukturalismus ANDREW CUTROFELLO
Descartes, René (1596–1650) Einführung René Descartes, der oft als Vater der modernen Philosophie bezeichnet wird, versuchte mit den philosophischen Traditionen seiner Zeit zu brechen und mit der Philosophie noch einmal von vorne zu beginnen. Indem er die akademische aristotelische Philosophie, die Autorität der Tradition und die Autorität der Sinne zurückwies, baute er ein philosophisches System auf, dass auch eine Untersuchungsmethode, eine Metaphysik, eine mechanistische Physik und Biologie und eine Darstellung der menschlichen Psychologie umfasste, wobei letztere als Grundlegung einer Ethik gedacht war. Descartes erlangte auch als einer der Begründer der neuen analytischen Geometrie Bedeutung, die die Geometrie mit der Algebra kombiniert, und deren Erkenntnissicherheit als eine Art von Modell für seine ganze übrige Philosophie diente. Nach einer Ausbildung in der scholastischen und humanistischen Tradition beschäftigt sich Descartes frühestes Werk überwiegend mit der Mathematik und der mathematischen Physik, in denen seine wichtigsten Ergebnisse die analytische Geometrie und die Entdeckung des optischen Lichtbrechungsgesetzes waren. In seiner frühen Periode schrieb er auch seine unvollendete Abhandlung über die Methode, die ‚Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft‘ (im Orig. lat.: ‚Regulae ad directionem ingenii‘), die eine Verfahrensweise zur Erforschung der Natur skizzierten, die ihrerseits auf der Reduktion komplexer Probleme auf einfachere mittels direkter Intuition beruhte. Ausgehend von dieser intuitiv gesetzten Grundlegung versuchte Descartes zu zeigen, wie man daraufhin die Lösung des ursprünglichen Problems erreichen kann. Descartes gab diese methodologischen Studien im Jahre 1628 oder 1629 auf und wandte sich zunächst der Metaphysik zu, und kurz darauf in dem Werk ‚Die Welt‘ einer geordneten Ausführung seiner Physik und Biologie. Diese Arbeit war jedoch in ihrer Kosmologie offen kopernikanisch, und als Galileo im Jahre 1633 ver252
Descartes, René (1596–1650)
dammt wurde, stoppte Descartes die Veröffentlichung von ‚Die Welt‘. Sie erschien erst nach seinem Tod. Descartes reife Philosophie entwickelte sich ab dem Jahre 1637 mit der Veröffentlichung eines einzigen Bandes, der die ‚Geometrie‘, die ‚Dioptrik‘ und ‚Meteore‘ enthielt, also drei Aufsätze, in denen er einige seiner bemerkenswertesten naturwissenschaftlichen Ergebnisse vorstellt, denen die ‚Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs‘ (franz.: ‚Discours de la méthode pour bien concluire sa raison, et chercher la verité dans les sciences‘), eine halb autobiographische Einführung, die seinen philosophischen Ansatz umriss, sowie das vollständige System, in das die spezifischen Ergebnisse fallen. In den folgenden Jahren veröffentlichte er eine Reihe von Texten, in denen er sein System auf eine geordnetere Weise darlegte, wobei er mit dessen metaphysischer Grundlegung in den ‚Meditationen über die Grundlagen der Philosophie‘ (1641, lat.: ‚Meditationes de prima philosophia‘) begann, dann die Physik in den ‚Prinzipien der Philosophie‘ (1644, lat.: ‚Principiae philosophiae‘) folgen ließ, und entwickelte dann eine Skizze der Psychologie und der Moralphilosophie in den ‚Passionen der Seele‘ (1649, franz.: ‚Les passions de l’âme‘). In unserer Jugend, so meinte Descartes, erwerben wir viele Vorurteile, die den eigentlichen Gebrauch unserer Vernunft stören. In der Folge davon müssen wir später alles verwerfen, was wir glauben, und neu beginnen. Deshalb beginnen die ‚Meditationen‘ mit einer Reihe von Argumenten, die Zweifel auf alles werfen sollen, was man vorher geglaubt hat. Dies kulminiert in der Hypothese eines alle Menschen betrügenden, bösen Genies, eine gedankliche Vorkehrung, die die Rückkehr der früheren Überzeugungen verhindern soll. Der Wiederaufbau der Welt beginnt mit der Entdeckung des Selbst durch das ‚Cogito-Argument‘ (‚Ich denke, also bin ich‘), also ein Selbst, das nur als denkendes Ding bekannt ist, und dies unabhängig von den Sinnen. Innerhalb dieses denkenden Selbst entdeckt Descartes eine Idee von Gott, d.h. eine Idee von etwas, das so vollkommen ist, dass sie in uns von nichts erzeugt werden konnte, was weniger vollkommen ist als Gott selbst. Hieraus schließt er, dass Gott existieren muss, was umgekehrt sicherstellt, dass man der Vernunft vertrauen kann. Da wir so gemacht sind, dass wir nicht anders können, als bestimmte Überzeugungen zu haben (die so genannten ‚klaren und bestimmten‘ Wahrnehmungen), wäre Gott ein Betrüger und folglich unvollkommen, wenn solche Überzeugungen falsch wären. Alle Fehler gehen auf unseren Fehlgebrauch der Vernunft zurück. Dies ist Descartes berühmtes erkenntnistheoretisches Prinzip der klaren und bestimmten Wahrnehmung. Dieses zentrale Argument in Descartes’ Philosophie ist jedoch von einem Zirkelschluss bedroht, dem sog. ‚Kartesischen Zirkel‘, denn die Argumente, die die Vertrauenswürdigkeit der Vernunft beweisen sollen (also das Cogito-Argument und jenes betreffend die Existenz von Gott) hängen wohl selbst von der Vertrauenswürdigkeit der Vernunft ab. Ebenfalls zentral für Descartes’ Metaphysik ist die Unterscheidung zwischen dem Geist und dem Körper. Da die klaren und bestimmten Ideen des Geistes und des Körpers vollkommen voneinander getrennt sind, kann Gott jeden von beiden gesondert voneinander erschaffen. Daher sind sie getrennte Substanzen. Der Geist ist eine Substanz, deren Essenz alleinstehend gedacht ist, und deshalb existiert er vollkommen außerhalb aller geometrischen Kategorien, einschließlich jener des Ortes. Der Körper ist eine Substanz, dessen Essenz nur Ausdehnung ist, ein geo253
Descartes, René (1596–1650)
metrisches Objekt sogar ohne sensorische Qualitäten wie Farbe oder Geschmack, die nur in dem wahrnehmenden Geist existieren. Wir wissen, dass solche Körper als die Ursachen der Empfindung existieren: Gott hat uns einen starken Hang zu dem Glauben gegeben, dass unsere Empfindungen von den externen Körpern zu uns kommen, dagegen aber keine Mittel, diese Neigung zu korrigieren. Deshalb wäre er ein Betrüger, wenn wir uns irren würden. Aber Descartes war auch der Auffassung, dass der Geist und der Körper eng miteinander verbunden sind. Empfindungen und andere Gefühle wie Hunger und Schmerz erwachsen aus dieser Einheit. Empfindungen können uns nichts über die wahre Natur der Dinge sagen, aber sie können als Quellen der Erkenntnis verlässlich sein, weshalb es wiederum nützlich ist, die Einheit von Körper und Geist aufrecht zu erhalten. Während es viele von Descartes’ Zeitgenossen schwierig fanden zu verstehen, wie der Geist und der Körper aufeinander bezogen sein können, nahm Descartes selbst dies als einfache Tatsache der Erfahrung, dass dies so ist. Seine Darstellung der Leidenschaften handelt davon, wie diese Verbindung uns zu Gefühlen wie Neugier, Liebe, Hass, Sehnsucht, Freude und Trauer führt, von denen alle anderen Leidenschaften abgeleitet sind. Das Verständnis dieser Leidenschaften hilft uns, sie zu kontrollieren, was ein zentrales Anliegen der Moral von Descartes ist. Descartes’ Darstellung des Körpers als einer ausgedehnten Substanz (der res extensa, im Gegensatz zur res cogitans des Geistes) führt auch zur Physik. Weil ‚ausgedehnt zu sein‘ heißt, ein Körper zu sein, kann es keinen leeren Raum geben. Überdies müssen alle Unterschiede von Körpern, da sie alle von derselben Natur sind, nach Maßgabe der Größe, der Form und der Bewegung ihrer Bestandteile erklärt werden, und kraft der Bewegungsgesetze, denen sie gehorchen. Descartes versuchte, diese Gesetze von der Art und Weise abzuleiten, auf die Gott in seiner Konstanz die Welt in jedem Moment erhält. In diesen mechanistischen Begrifflichkeiten bemühte sich Descartes eine große Vielfalt von Merkmalen der Welt zu erklären, von der Bildung des Planetensystems aus einem initialen Chaos heraus, über den Magnetismus bis zu vitalen Funktionen der Tiere, die er als reine Maschinen ansah. Descartes vollendete die Ausarbeitung seines ehrgeizigen Programms nicht bis in alle Einzelheiten. Obwohl er die Metaphysik und den allgemeinen Teil seiner Physik veröffentlichte, blieben die physikalischen Erklärungen spezifischer Phänomene, insbesondere biologischer, unvollendet; ebenso seine Moraltheorie. Trotzdem hatte Descartes’ Programm einen enormen Einfluss auf die nachfolgende Philosophie, sowohl innerhalb der bedeutenden Gruppe, die sich selbst als seine Nachfolger verstanden, als auch außerhalb davon. 1. Leben 2. Das Programm 3. Die Methode 4. Zweifel und die Frage nach der Gewissheit 5. Das Cogito-Argument 6. Gott 7. Die Bestätigung der Vernunft 8. Geist und Körper 9. Die externe Welt und die Empfindung 10. Philosophische Psychologie und Moral 254
Descartes, René (1596–1650)
11. Physik und Mathematik 12. Leben und die Grundlagen der Biologie 13. Das kartesische Erbe 1. Leben René Descartes wurde am 31. März 1596 in der französischen Region Touraine geboren, und zwar in der Stadt La Haye, die später zu seinen Ehren in Descartes umbenannt wurde. Im Jahre 1606 oder 1607 wurde er auf das Collège Royal de la Flèche geschickt, das vom Orden der Jesuiten geführt wurde. Hier empfing er eine Ausbildung, die Elemente der früheren aristotelischen Scholastik mit der neuen humanistischen Betonung des Studiums der Sprache und der Literatur verband. Aber der Kern des schulischen Lehrplans war das Studium der aristotelischen Logik, Metaphysik und Ethik. Descartes verließ La Flèche im Jahre 1614 oder 1615 und ging an die Universität von Poitiers, wo er seinen Baccalauréat und seine Licence en droit gegen Ende des Jahres 1616 erwarb. Im 1. Teil des ‚Discours de la méthode’ von 1637 diskutiert er seine Ausbildung in einigen Einzelheiten und erklärt, warum er sie in steigendem Maße unbefriedigend empfand. Am Ende, so berichtet er, verließ er die Schule, wobei er vieles davon verwarf, was er dort gelernt hatte. Er wählte das Leben eines Militäringenieurs und reiste durch Europa, um seinen Beruf zu erlernen, indem er den Armeen und den Kriegen folgte. Am 10. November 1618 traf er auf seiner Reiseroute Isaac Beeckman. Als ein enthusiastischer wissenschaftlicher Amateur seit seinem frühen zweiten Lebensjahrzehnt führte Beeckman Descartes in einige Neuigkeiten der Naturwissenschaften ein, z.B. in die kürzlich wieder auflebenden atomistischen Ideen und den Versuch, die Mathematik und die Physik zu kombinieren (siehe Atomismus, Antiker). Trotz der Tatsache, dass sie nur einige Monate zusammen verbringen konnten, brachte Beeckman Descartes auf den Weg, der ihn schließlich zu seinem Lebenswerk führte. Eine Reihe von Diskussionen zwischen ihnen sind in Beeckmans ausführlichen Notizbüchern von 1604 bis 1634 erhalten. Diese Notizbücher sind erhalten geblieben und enthalten Probleme, die Beeckman Descartes vorsetzte, sowie die Lösungen von Descartes. Wegen Beeckman schrieb Descartes seine erste erhaltene Arbeit, das ‚Compendium musicum’, ein Traktat über die Musiktheorie, die er später als einen Zweig dessen verstand, welcher vermischte Mathematik genannt wurde, zusammen mit anderen Disziplinen wie der mathematischen Astronomie und der geometrischen Optik. Genau ein Jahr nach seinem ersten Treffen mit Beeckman bestätigte sich dieser Weg für Descartes in drei Träumen, die er als einen Ruf interpretierte, sich seinem Werk als Mathematiker und Philosoph zuzuwenden. Während der 1620er Jahre arbeitete Descartes an einer Reihe von Projekten, einschließlich solchen über die Optik und die Mathematik, aus denen schließlich seine analytische Geometrie hervorging. In der Optik entdeckte er das Gesetz der Lichtbrechung, d.h. das mathematische Gesetz, das den Einfallswinkel eines Lichtstrahls auf ein Brechungsmedium mit dem Brechungswinkel in Beziehung setzt. Obwohl behauptet wird, dass Descartes dieses Gesetz von Willebrod Snel erfuhr, nachdem dieses Gesetz nun benannt ist, geht man doch allgemein davon aus, dass Descartes es unabhängig von ihm entdeckte. In seinem mathematischen Programm zeigte er, wie die Algebra zur Lösung geometrischer Probleme eingesetzt werden
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kann, und wie geometrische Konstruktionen zur Lösung algebraischer Probleme verwendet werden können. Descartes’ ausführlichste Schrift aus diesem Zeitraum ist die ‚Regulae ad directionem ingenii’ (‚Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft‘), eine methodische Abhandlung, an der er zwischen 1619 oder 1620 bis 1628 arbeitete, bis er die Arbeit daran schließlich unvollendet aufgab. Er unternahm weiterhin ausgedehnte Reisen durch ganz Europa und kehrte nach Paris im Jahre 1625 zurück, wo er bis zum Frühling 1629 blieb. In Paris wurde er zu einem engen Vertrauten von Marin Mersenne, der später eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der neuen Philosophie und Wissenschaft in Europa spielte, der ferner der Organisator einer Art naturwissenschaftlicher Akademie und eines Korrespondentenkreises war, und darüber hinaus Descartes’ intellektueller Schutzpatron. Über seine voluminöse Korrespondenz mit Mersenne blieb Descartes mit allen europäischen Geistesströmungen in Kontakt, wo immer er auch in seinen späteren Jahren leben sollte. Ein wichtiges Ereignis in diesem Zeitraum war eine Versammlung im Hause von Papal Nuncio in Paris im Jahre 1627 oder 1628, wo Descartes in seiner Erwiderung auf eine alchimistische Vorlesung eines gewissen M. Chandoux die Gelegenheit zur Vorstellung seiner eigenen Ideen wahrnahm, einschließlich seiner ‚vornehmen Regel oder natürlichen Methode‘ und den Prinzipien, auf denen seine eigene Philosophie beruhte (Brief an Villebressieu, Sommer 1631; Descartes 1984–1991 Bd. 3: 32). Dies zog die Aufmerksamkeit von Kardinal Bérule auf sich, der Descartes in einem privaten Treffen drängte, seine Philosophie zu entwickeln. Im Frühling 1629 verließ Descartes Paris und siedelte in die Niederlande um, wo er seine methodologischen Schriften beiseite legte und sich ernsthaft der Philosophie zuwandte. Im Winter 1629–1630 war er weitgehend mit der Abfassung einer metaphysischen Abhandlung beschäftigt, die, wie wir später sehen werden, die Grundlegung seiner Philosophie darstellte. Diese Abhandlung ist zwar verloren gegangen, aber Descartes teilte Mersenne mit, dass er dort den Versuch unternommen habe „die Existenz Gottes und unserer Seelen, wenn sie vom Körper getrennt sind, und woraus ihre Unsterblichkeit folgt, zu zeigen“ (Brief an Mersenne vom 25.11.1630; Descartes 1984–1991 Bd. 3: 29). Dem folgte ein Entwurf der ‚Welt‘ (auf frz.: ‚Le Monde’), Descartes’ mechanistischer Physik und Physiologie, als einem Buch, das zur Veröffentlichung vorgesehen war. Im ersten Teil, der auch ‚Traité de la lumière’ (‚Abhandlung über das Licht‘) genannt wird, beginnt Descartes mit einer allgemeinen Darstellung des Unterschiedes zwischen einer Empfindung und der Bewegung winziger Partikel unterschiedlicher Größen und Formen, die diese Empfindungen verursachen, gefolgt von einer Grundlegung der Naturgesetze. Nachdem er dort ein anfängliches Chaos von bewegten Teilchen postuliert hatte (das nicht unser Kosmos ist, aber ein von Gott in irgendeinem ungenutzten Winkel der Welt gemachtes), behauptet Descartes, dass kraft der Naturgesetze allein dieser Kosmos sich selbst zu einem Planetensystem ordnet mit zentralen Sonnen darum herum, die Wirbel feiner Materie herumschleudern, die ihrerseits Planeten mit sich führen. Er beschließt den ‚Traité de la lumière’ mit einer Darstellung wichtiger terrestrischer Phänomene, einschließlich der Gravitation, der Gezeiten und des Lichts, wobei er zeigt, wie sehr unser Kosmos diesem vorgestellten mechanistischen Kosmos ähnelt. Der zweite Teil, dem ‚Traité de l’homme’ (‚Abhandlung über den Menschen‘), beginnt abrupt mit der Behauptung, dass Gott einen Körper erschuf, der genau wie 256
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unser ausschaut, aber nur eine Maschine ist. Vermutlich fehlt hier – oder wurde nie geschrieben – ein Übergang zwischen den beiden Abhandlungen, der darlegt, wie dieser menschliche Körper allein durch die Naturgesetze in unserer Welt entstehen konnte (dieser Teil der Darstellung erfolgt im 5. Teil der späteren ‚Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs‘). In dem Text, der uns nun vorliegt, schreitet Descartes dann zur Begründung der Behauptung fort, dass alle Phänomene, die zum Leben gehören (wenn auch gesondert), in diesem Körper auf eine rein mechanische Weise entstehen können, einschließlich der Ernährung und der Verdauung, des Blutkreislaufs, der Bewegung der Muskeln und der Übertragung von Wahrnehmungsinformationen zum Gehirn. Um 1633 hielt Descartes eine relativ vollständige Fassung seiner Philosophie in den Händen, die von einer Methodenlehre über die Metaphysik und die Physik bis zur Biologie reichte. Später im Jahre 1633 hörte er jedoch von der Verdammung Galileos Kopernikanismus in Rom und entschied vorsichtig, seine ‚Welt‘ nicht zu veröffentlichen, die offensichtlich ebenfalls kopernikanisch geprägt war (siehe Galilei, Galileo). Tatsächlich entschied er sich zunächst, dass er überhaupt gar nichts jemals veröffentlichen wolle. Aber die Verzweiflung hielt nicht lange an. Zwischen 1634 und 1636 sammelte Descartes einiges Material, an dem er gearbeitet hatte, und bereitete drei Aufsätze zur Veröffentlichung vor: die ‚Géométrie’, die ‚Météors’ und die ‚Dioptrique’. Diesen wissenschaftlichen Aufsätzen stellte er eine allgemeine Einführung voran, nämlich den ‚Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences’ (‚Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs‘). Der ‚Discours’ gibt sich selbst als Autobiographie, d.h. als eine Darstellung des Lebensweges des jungen Autors (das Werk wurde anonym veröffentlicht), gefolgt von seinen Entdeckungen, einschließlich einer Zusammenfassung seiner Methode (2. Teil), seiner frühen metaphysischen Spekulationen (4. Teil) und des sachlichen Programms von ‚Le Monde’ (5. Teil). In den wissenschaftlichen Aufsätzen stellte Descartes einige seiner auffallendsten Ergebnisse vor, verbarg jedoch die Elemente der Grundlegung seiner Philosophie (wie beispielsweise den offenkundigen Kopernikanismus und seine Zurückweisung von Form und Stoff im scholastischen Sinne), die am meisten Widerstand hervorgerufen hätten. Obwohl ebenfalls nicht unstrittig, waren der ‚Discours’ und die ‚Essays’ doch sehr erfolgreich und veranlassten Descartes, sein philosophisches Veröffentlichungsprogramm fortzusetzen. Die nächste Arbeit, die erscheinen sollte, waren die ‚Meditationes’ von 1641, die eine umfassende Auswahl von Einwänden gegen dieselben ‚Meditationes’ von Seiten vieler Gelehrter des gebildeten Europas enthielten, einschließlich Hobbes, Gassendi, Arnauld und Mersenne selbst, zusammen mit Descartes’ Antworten, aufgeteilt in insgesamt sieben Gruppen. Dem folgte im Jahre 1644 die Publikation der ‚Principia Philosophiae’ (‚Prinzipien der Philosophie‘), in denen er nach einer Überarbeitung seiner Metaphysik auch seine Physik im Sinne einer Anpassung und Erweiterung ihrer Darstellung in ‚Le Monde’ ausführt. Französische Übersetzungen der ‚Meditationes’ und der ‚Principia’ durch Dritte, die wichtige Abwandlungen vom lateinischen Original enthielten (und vermutlich von Descartes selbst eingefügt wurden), erschienen im Jahre 1647. Gegen Ende der 1630er Jahre hatten Descartes’ Arbeiten die holländischen Universitäten erreicht und wurden an der Universität von Utrecht durch Henricus Reneri und, ihm folgend, von Henricus Regius gelehrt. Descartes’ unaristotelische 257
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Sichtweise erregte den Zorn von Gisbertus Voëtius, der einen Flugblatt-Krieg gegen Descartes und Regius initiierte, der eine Weile anhielt. Descartes unterstützte Regius und riet ihm, wie er antworten und auf die Affäre reagieren sollte. Schließlich brach jedoch Descartes mit ihm, als Regius seine ‚Fundamenta physices’ schrieb und im Jahre 1646 auch veröffentlichte, denen gegenüber Descartes ernsthafte Vorbehalte hatte. Regius antwortete darauf mit einer plakatartigen Zusammenfassung seiner Hauptthesen unter Betonung der Unterschiede zwischen ihm und Descartes. Descartes antwortete darauf wiederum im Jahre 1648 mit den ‚Notae in programma quoddam’ (‚Kommentar zu einer gewissen Bekanntmachung‘). Einen ähnlichen Vorfall gab es in Leiden, wo Descartes Schüler hatte (François du Ban, Adriaan Heereboord), aber auch einen einflussreichen Feind (Revius). In den späten 1640er Jahren arbeitete Descartes mehr am Entwurf und der Veröffentlichung seiner Philosophie. Zwei ergänzende Teile seiner ‚Principia’ waren in Planung, die das Werk zur Erweiterung um Elemente einer Humanbiologie erweitern sollten. Es sind jedoch nur Notizen in Form einer unvollständigen Abhandlung über den menschlichen Körper (‚La Description du corps humain’, dt.: ‚Beschreibung des menschlichen Körpers‘) und über den Fötus (‚Prima cogitationes circa generationem animalium’, dt.: ‚Erste Gedanken zur Erzeugung der Tiere‘) erhalten, die größere Arbeit wurde jedoch nie vollendet. Es gibt ferner wichtige Arbeiten über die Moral und die Moralpsychologie aus diesen Jahren. Einiges davon findet sich in den Briefen an die Prinzessin Elisabeth von Böhmen, mit der er seit 1643 eine lange und wichtige Korrespondenz hatte. Descartes’ Darstellung der Leidenschaften findet sich in der letzten von ihm veröffentlichten Arbeit, den ‚Passions de l’âme’ (‚Passionen der Seele‘), die im Jahre 1649 erschien. Mit Ausnahme einiger Kurzreisen nach Paris in den Jahren 1644, 1647 und 1648 blieb Descartes bis zum Oktober 1649 in den Niederlanden, als er nach Stockholm gebeten wurde, um dort Mitglied des Hofes der Königin Christina zu werden. Dort erkrankte er im Frühjahr des Jahres 1650 und starb am 11. Februar desselben Jahres. 2. Das Programm Descartes’ Denken entwickelte und änderte sich über die Jahre. Gleichwohl gibt es eine Reihe durchgehender Gedankenlinien, die sich durch diese Änderungen hindurch ziehen. Wie die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen war Descartes in einer scholastischen Tradition erzogen worden, die versuchte, die christliche Lehre mit der Philosophie von Aristoteles zu verbinden. Tatsächlich war in La Flèche, wo er zum ersten Male mit Philosophie in Berührung kam, Aristoteles in der thomistischen Interpretation der Mittelpunkt des gesamten Lehrplans. Er lernte dort ein aufeinander bezogenes System der Philosophie, einschließlich der Logik, der Physik, der Kosmologie, der Metaphysik, der Morallehre und der Theologie. Nach seiner eigenen Darstellung wies Descartes die aristotelische Philosophie zurück, sobald er die Schule verlassen hatte. Aus den Aufzeichnungen von Beeckman über ihre Gespräche ergibt sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit, dass für Descartes am unbefriedigendsten war, was er über die Naturphilosophie gelernt hatte. Für einen Aristoteliker ruhte das Verständnis der natürlichen Welt auf einer Konzeption des Körpers, der aus Stoff und Form bestand. Der Stoff war das, was selbst noch in der Erzeugung und dem Zerfall von Körpern unterschiedlicher Art konstant blieb, und der allen Körpern jeglicher Art gemeinsam war; die Form war der Träger 258
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der kennzeichnenden Merkmale einzelner Arten von Körpern. Beispielsweise erklärte man mit der Form, warum ein Stück Erde herunterfällt und dazu neigt, kalt zu sein, und warum das Feuer aufsteigt und dazu tendiert, heiß zu sein. Im Gegensatz dazu scheint sich Descartes, obwohl er Beeckmans strikten Atomismus schließlich ablehnte, von dieser Art mechanistischer Sichtweise der Welt, für die sein Mentor eintrat, angezogen gefühlt zu haben. Descartes meinte jedenfalls von da an, dass die manifesten Eigenschaften von Körpern kraft der Größe, (sichtbaren) Form und Bewegung winziger Partikel erklärt werden müssen, aus denen sie bestehen, und lehnte die Berufung auf die ihnen innewohnenden Verhaltenstendenzen ab, die vom aristotelischen Standpunkt letztlich zugrunde gelegt werden (siehe Aristoteles § 10). Aber obwohl er viele der akademischen Philosophien zurückwies, behielt er doch eines ihrer Elemente: wie seine Lehrer in La Flèche blieb Descartes immer dabei, dass das Wissen eine Art systematischen Zusammenhanges hat. In der Regel 1 der ‚Regulae’ heißt es, dass „alles so ineinander verschachtelt ist, dass es wesentlich leichter ist, alle Dinge gleichzeitig zu lernen, als getrennt voneinander … Alle [Wissenschaften sind] untereinander verbunden und hängen voneinander ab“. Später, als er Galileos ‚Zwei neue Wissenschaften‘ (1638) las, verwarf Descartes den italienischen Wissenschaftler, weil dessen Arbeit nicht diese Art von Kohärenz aufwies (Brief an Mersenne v. 11.10.1638; Descartes 1984–1991 Bd. 3: 124–128). Sein Projekt war der Aufbau eines eigenen, ineinander verschachtelten Systems des Wissens, das eine Darstellung der Erkenntnis, eine Metaphysik, eine Physik und andere Wissenschaften umfassen sollte. Diesen Anspruch fasst er in einer seiner letzten Schriften, dem Vorwort zur französischen Ausgabe der ‚Principia’, zusammen, wo er schreibt, dass „alle Philosophie wie ein Baum ist, dessen Wurzeln die Metaphysik, sein Stamm die Physik, und dessen Äste, die aus diesem Stamm wachsen, alle anderen Wissenschaften sind, die sich auf drei grundlegende Wissenschaften reduzieren lassen, nämlich die Medizin, die Mechanik und die Moral“. Auf diese Weise sah sich Descartes selbst als jemanden, der die christlich-aristotelische Synthese der Scholastik wieder herstellte, diesmal zwar nicht auf eine Naturphilosophie des Stoffes und der Form, aber auf eine mechanistische Konzeption des Körpers, wo alles entsprechend seiner Größe, Form und Bewegung erklärt wird. Bestimmte wichtige Merkmale des kartesischen Programms verdienen eine besondere Erwähnung. Die aristotelisch-christliche Synthese gründet sich auf eine Vielzahl von Autoritäten: der Autorität der Sinne, der Autorität der antiken Texte und der Autorität ihrer Lehrer. Descartes wollte sein Denken in sich selbst fundieren, sowie durch die Vernunft begründen, die Gott ihm gegeben hatte. Da die Vernunft, wie Descartes behauptete, uns Gewissheit im eigentlichen Sinne gibt, bedeutet dies, dass wahre Erkenntnis gewiss ist. In der Regel 3 der ‚Regulae’ schrieb er, dass „man betreffend die vorgeschlagenen Dinge nicht danach suchen sollte, was andere darüber gedacht haben, noch was wir selbst vermuten, sondern was sich uns klar und deutlich zeigt oder mit Gewissheit ableitbar ist; denn auf keine andere Weise kann Wissen erworben werden“. Die Zurückweisung der Autorität der Sinne, Texte und Lehrer formte Descartes’ Denken auf grundlegende Weise. Deshalb begann sein philosophisches System mit dem Cogito-Argument, das das Selbst als den Anfangspunkt aller Erkenntnis setzt. Überdies wurden seine beiden einflussreichsten Arbeiten, die ‚Discours’ und die ‚Meditationes’, in der Ersten Person geschrieben, um dem Leser zu zeigen, wie Descartes es machte oder wie er zu seinem eigenen Erkenntnisstand 259
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und der entsprechenden Gewissheit gekommen sein mag, statt den Lesern nur mitzuteilen, was sie dann glauben müssen. Dadurch setzte er sich selbst und aus eigenem Recht als Autorität ein. Trotz seiner Ablehnung der Autorität beanspruchte Descartes für sich jedoch, sich der Autorität der Kirche in Lehrfragen zu unterwerfen, indem er das Gebiet der offenbarten Theologie von jenem der Philosophie trennte. Ein weiteres wichtiges Merkmal des kartesischen Wissensbaums ist seine hierarchische Organisation. Während seiner ganzen Laufbahn hielt er an der Vorstellung fest, dass der in sich vernetzte Wissenskörper, den er aufbauen wollte, eine spezifische Ordnung aufweist. Wissen beginnt nach Descartes mit der Metaphysik, und die Metaphysik beginnt mit dem Selbst. Vom Selbst kommen wir zu Gott, und von Gott kommen wir zur vollen Erkenntnis des Geistes und des Körpers. Dies begründet im Gegenzug das Wissen der Physik, in der die allgemeinen Wahrheiten der Physik (die Natur der Körper als Ausdehnung, die Leugnung des Vakuums, die Naturgesetze) einzelne Wahrheiten über die physische Welt begründen. Die Physik begründet wiederum die angewandten Wissenschaften der Medizin (der Wissenschaft des menschlichen Körpers), der Mechanik (der Wissenschaft von den Maschinen) und der Moral (der Wissenschaft vom verkörperten Geist). 3. Die Methode Bevor wir mit einer Darstellung der einzelnen Teile des kartesischen Wissensbaumes beginnen, ist es notwendig, seine Methode zu diskutieren. Die Methodenlehre war der zentrale Gegenstand seiner frühesten philosophischen Schrift, den ‚Regulae’, und erscheint an hervorgehobener Stelle in seiner ersten veröffentlichten Schrift, den ‚Abhandlungen über die Methode‘. Was aber genau diese Methode war, ist dort in gewisser Weise unklar. Im zweiten Teil des ‚Discours’ wird die Methode als etwas dargestellt, was vier Regeln hat: (1) „niemals eine Sache für wahr anzunehmen, ohne sie als solche genau zu kennen; d.h. sorgfältig alle Übereilung und Vorurteile zu vermeiden“; (2) „jede der von mir untersuchten Schwierigkeiten in so viele Teile wie möglich aufzulösen“; (3) „meine Gedanken in eine geordnete Richtung zu lenken, indem ich mit den einfachsten und am leichtesten wissbaren Gegenständen beginne, und nur nach und nach zur Untersuchung der verwickelten aufsteige“; und (4) „durchgängig Aufzählungen so vollständig wie möglich durchzuführen und im Allgemeinen zu überschauen, um mich dagegen zu sichern, etwas zu übersehen“. In Anbetracht der allgemeinen Natur und der Offenkundigkeit dieser Regeln ist es nicht überraschend, dass viele von Descartes’ Zeitgenossen ihn im Verdacht hatten, seine wahre Methode vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Tatsächlich ist Descartes’ Darstellung seiner Methode in den ‚Regulae’ etwas reichhaltiger. In Regel 5 sagt er: „Wir werden uns nach dieser Methode genau dann richten, wenn wir erstens komplizierte und dunkle Aussagen Schritt für Schritt auf einfachere zurückführen und dann, beginnend mit der Eingebung der einfachsten von allen, über dieselben Schritte versuchen, zu einem Wissen alles Übrigen aufzusteigen“. Diese Methode wird mit einem Beispiel in Regel 8 illustriert. Dort spricht Descartes über das Problem der gebrochenen Linie, d.h. der Form einer Linse, die parallele Linien auf einen einzigen Punkt fokussiert. Der erste Schritt zur Lösung dieses Problems, meint Descartes, ist es zu sehen, dass „die Bestimmung dieser Linie von dem Verhältnis der Brechungswinkel zum Einfallswinkel abhängt“. Dies 260
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wiederum hängt von „den Änderungen dieser Winkel ab, die durch Unterschiede in den Brechungsmedien hervorgebracht werden“. Aber „diese Änderungen hängen von der Art und Weise ab, auf die ein Strahl den gesamten transparenten Körper durchdringt, und ein Wissen von diesem Prozess setzt auch ein Wissen von der Handlungsnatur des Lichts voraus“. Schließlich meint Descartes, dass dieses letzte Wissen auf unserem Wissen davon beruht, „was eine natürliche Kraft im Allgemeinen ist“. Diese letzte Kraft kann vermutlich nur durch Intuition beantwortet werden, d.h. durch ein rein rationales Erfassen der Wahrheit einer Aussage, die absolute gewiss ist. Wissen wir aber erst einmal, was die Natur einer natürlichen Kraft ist, so können wir, dachte Descartes, eine nach der anderen die jeweils aufgeworfenen Fragen beantworten, und schließlich sogar die ursprünglich gestellte Frage beantworten und die Form der Linse mit den erforderlichen Eigenschaften bestimmen. Diese aufeinander folgenden Antworten müssen deduktiv mit der ersten Deduktion verbunden sein (und zwar auf die in den ‚Regulae’ geschilderte Weise), so dass die nachfolgenden Antworten intuitiv aus der ersten Intuition folgen. Das Beispiel der gebrochenen Linie legt nahe, dass Descartes’ Methode wie folgt vorgeht. Man beginnt mit einer bestimmten Frage q1. Die reduktive Stoßrichtung der Methode schreitet dann fort, indem sie fragt, was wir wissen müssen, um die ursprünglich gestellte Frage beantworten zu können. Dies führt uns von q1 zu einer weiteren Frage q2, deren Antwort von uns vorausgesetzt wird, um die Frage q1 beantworten zu können; in diesem Sinne heißt es, dass q1 auf q2 reduziert wird. Dieser Prozess der Zurückführung schreitet fort, bis wir eine Frage erreichen, deren Antwort wir einfach durch Intuition zu geben vermögen, sagen wir qn. An diesem Punkt beginnen wir mit dem, was man das konstruktive Moment der Methode nennen könnte, und beantworten nacheinander die Fragen, die wir uns gestellt haben, indem wir die Antwort auf qn verwenden, um qn-1 zu beantworten, diese wiederum, um qn-2 zu beantworten, und so fort, bis wir wieder bei q1 anlangen, also bei der Frage, die wir ursprünglich stellten, und sie nunmehr beantworten. Auf diese Weise verstanden hat die Methode einige sehr interessante Eigenschaften. Zunächst führt sie zu einem Wissen, dass vollständig gewiss ist. Wenn wir uns dieser Methode anschließen, so ist die Antwort auf die ursprünglich gestellte Frage auf eine Intuition gegründet. Die Antworten auf die nachfolgenden Fragen der Reihe müssen durch ableitende Aussagen von jenen Aussagen beantwortet werden, die ebenfalls intuitiv erfasst wurden. Indem wir der Reihe von Fragen folgen, schreiten wir von spezifischeren Fragen zu immer allgemeineren Fragen fort, d.h. hier von der Form einer bestimmten Linse zum Brechungsgesetz, und schlussendlich zum Wesen einer Naturkraft. Die Antworten, die sich auf dem konstruktiven Wege ergeben, folgen dem umgekehrten Weg von dem metaphysisch Allgemeineren und Grundlegenderen zum Spezifischeren. Die ‚Regulae’ wurden über einen langen Zeitraum geschrieben, und es gibt zahlreiche Schichten ihrer Erzeugung, die in der uns überlieferten Form des Werks sichtbar werden. In einer Textpassage der Regel 8, die wahrscheinlich einer der letzten Entstehungsschichten zuzuordnen ist, wirft Descartes ein Problem der Methode selbst auf, um sie mit dem tatsächlich ersten sie betreffenden Problem zu konfrontieren: „Die nützlichste Untersuchung, die wir auf dieser Stufe anstellen können, ist es zu fragen: Was ist menschliches Wissen, und wie weit reicht es? … Dies ist eine Aufgabe, der sich jeder, der die Wahrheit auch nur ein bisschen liebt, zumindest 261
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einmal in seinem Leben unterziehen sollte, denn die wahren Mittel der Erkenntnis und die gesamte Methode sind an der Erforschung des Problems beteiligt.“ Während nicht ganz klar ist, was Descartes hier dachte, ist es doch nicht unplausibel, ihn dahingehend zu interpretieren, dass er das Problem der Rechtfertigung der Intuition selbst aufwerfen wollte, d.h. die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Methode. Indem er die Methode in den ‚Regulae’ umreißt, nimmt Descartes als gegeben an, dass er ein Vermögen, nämlich die Intuition, besitzt, durch das er in der Lage ist, die Wahrheit auf irgendeine unmittelbare Weise zu begreifen, und damit ist das, was er auf intuitive Weise erfährt, vertrauenswürdig. Warum aber sollten wir der Intuition vertrauen? Dies ist der Kern und eine der zentralen Fragen der ‚Meditationes’, in denen Descartes vorbringt, dass das, was immer wir klar und bestimmt wahrnehmen, wahr ist. Die Methode war das zentrale Interesse von Descartes’ früheren Schriften, sowohl in den ‚Regulae’, als auch in dem ‚Discours’. In seinen späteren Schriften scheint sie eine geringere ausdrückliche Rolle in seinem Denken gespielt zu haben, aber die hierarchische Struktur des Wissens, die mit der Methode eng verbunden ist, d.h. die Idee, dass das Wissen auf einer Struktur gründet, die zu metaphysisch immer grundlegenderen Wahrheiten hinabsteigt, die letztlich in eine Intuition münden, bleibt grundlegend für sein Denken. In seinem späteren Werk ist der Gegenstand dieser Intuition nicht mehr das Wesen einer Naturkraft wie noch in dem Beispiel der gebrochenen Linie, sondern die Intuition, die die Existenz des wissenden Subjekts setzt, also das Cogito-Argument. 4. Zweifel und die Frage nach der Gewissheit In den ‚Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft‘, Regel 2, heißt es: „Wir sollten uns nur solchen Gegenständen zuwenden, die auf bestimmte und unbezweifelbare Weise zu begreifen unser Geist in der Lage zu sein scheint.“ Während, wie wir später sehen werden, Descartes diese Forderung in seinen späteren Schriften offenbar etwas lockerer nimmt, stand die Forderung nach Gewissheit in vielen seiner Schriften im Vordergrund. Historisch kann dies als eine Reaktion auf die wichtigen skeptischen Strömungen des Renaissancedenkens verstanden werden, die so genannte ‚Pyrrhonische Krise‘. Angesichts des sich mit großer Geschwindigkeit erweiternden Horizonts der europäischen Welt des 16. Jahrhunderts, von neuen Texten zu neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, bis hin zur Entdeckung neuer geographischer Welten, stiegen die Zahl der Widersprüche und damit auch die Spannungen in der intellektuellen Welt, wodurch es immer attraktiver wurde, mit den antiken Skeptikern zu behaupten, dass wirkliches Wissen schlicht jenseits der menschlichen Fähigkeit hierzu liegt (siehe Pyrrhonismus). Dagegen wandte Descartes ein, dass wirkliche, gewisse Erkenntnis möglich ist; obwohl sein Name im Zusammenhang mit dem Skeptizismus genannt wird, ist er doch deren Widersacher und nicht ihr Anwalt. Aber gerade weil die Gewissheit ein zentrales Thema für Descartes war, beginnt der Weg zur Gewissheit mit dem Zweifel. In den Meditationen, 1. Teil, sagt Descartes unter dem Titel ‚Über das, was in Zweifel gezogen werden kann‘: „Ich meinte deshalb, dass im Leben einmal Alles bis auf den Grund umgestoßen und von den ersten Fundamenten ab neu begonnen werden müsste, wenn ich irgendetwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aufstellen wollte.“ Indem er diesem Vorsatz 262
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folgt, legt er der Reihe nach drei skeptische Argumente vor, um seine bestehenden Überzeugungen zur Vorbereitung ihrer Ersetzung durch Gewissheiten aufzulösen. Die Strategie lautet hier, die Überzeugungen zu untergraben, und zwar nicht jede einzeln, sondern indem die grundlegenden Prinzipien unterlaufen werden, auf denen diese Überzeugungen ruhen. Während zumindest einige dieser Argumente in verschiedenen Fassungen im ‚Discours’ und in anderen Schriften Descartes’ zu finden sind, werden sie doch am vollständigsten in den ‚Meditationes’ ausgeführt. Das erste Argument richtet sich gegen die naive Überzeugung, dass alles, was man durch die Sinne erfährt, es wert sei, davon überzeugt zu sein. Dagegen führt Descartes aus, dass „ich von Zeit zu Zeit merkte, dass die Sinne mich täuschen, und dass es klug ist, niemals ganz denen zu vertrauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben.“ Das zweite und berühmte Traumargument richtet sich gegen die etwas weniger naive Sichtweise, dass die Sinne zumindest glaubwürdig sind, wenn es sich um Gegenstände mittlerer Größe in unserer unmittelbaren Nähe handelt: „Ein brillantes Argument! Als wenn ich kein Mann wäre, der nachts schläft … ich sehe einfach keinerlei sicheres Anzeichen dafür, kraft dessen ich etwas, wenn ich wach bin, es von dem unterscheiden kann, was ich sehe, wenn ich schlafe.“ Aber selbst wenn ich die Verlässlichkeit dessen, was die Sinne mir gerade zu übermitteln scheinen, bezweifle, so denkt Descartes weiter, lässt das Traumargument immer noch die Möglichkeit offen, dass es einige allgemeine Wahrheiten gibt, die ich wissen kann, die nicht direkt von meinen gegenwärtigen Sinneswahrnehmungen abhängen. Descartes antwortet hierauf mit seinem Argument vom trügerischen Gott. Dieses komplexe Argument hat zwei Enden. Descartes nimmt zunächst die „lang bestehende Meinung“ an, dass es „ein allmächtiger Gott ist, der mich zu dem Wesen machte, das ich bin“. Weil Gott allmächtig ist, wird er mich womöglich auf eine Weise gemacht haben, dass ich mich selbst in den einfachsten und evidentesten Fällen von Überzeugungen täusche, beispielsweise, dass 2 + 3 = 5 ist, oder dass ein Quadrat vier Seiten hat. Obwohl Gott als gut gedacht wird, ist die Möglichkeit, dass ich so tief zum Irrtum neige, ebenso mit seiner Güte vereinbar wie der Umstand, dass ich mich nur gelegentlich irre, jedenfalls beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung. Was aber ist, wenn es gar keinen Gott gibt, oder wenn ich aufgrund des „Schicksals oder des Zufalls oder einer kontinuierlichen Ereigniskette oder auf irgendeinem anderen Wege“ entstanden bin? In diesem Falle gilt, meint Descartes, dass, je kraftloser meine ursprüngliche Ursache ist, „es umso wahrscheinlicher ist, dass ich so unvollkommen bin, dass ich überhaupt immer getäuscht werde.“ Damit sind die skeptischen Argumente der 1. Meditation vollständig versammelt: „Ich bin schließlich gezwungen zuzugeben, dass es nicht eine einzige meiner früheren Überzeugungen gibt, an denen ich nicht wirklich zweifeln kann.“ Aber, so bemerkt Descartes, „meine gewöhnlichen Meinungen kehren immer wieder zurück.“ Aus diesem Grunde postuliert Descartes seinen berühmten bösen Dämon: „Ich gehe deshalb einmal davon aus, dass nicht Gott, der über alle Maßen gut und die Quelle aller Wahrheit ist, sondern vielmehr irgendein böser Dämon mit höchster Macht und Schlauheit alle seine Kräfte einsetzt, um mich zu täuschen.“ Der böse Dämon wird hier nicht als ein gesondertes Argument für den Zweifel eingesetzt, sondern als Mittel zur Verhinderung der Rückkehr der früheren Überzeugungen, die angezweifelt wurden.
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Diese Argumente haben eine zentrale Funktion in Descartes’ Projekt. Wie er in seinem einführenden Überblick in den ‚Meditationes’ bemerkt, „befreien uns diese Argumente von allen unseren vorgefassten Meinungen und zeigen uns den einfachsten Weg, auf dem unser Geist von den Sinnen weg geführt werden kann.“ Auf diese Weise bereitet die 1. Meditation den Geist für die Gewissheit vor, die Descartes anstrebt. Aber in der ‚Dritten Replik‘, wo er auf Kritiken von Hobbes antwortet, weist Descartes auf zwei weitere Rollen hin, die seine skeptischen Argumente in seinem Denken spielen. Descartes bemerkt, dass sie eingeführt werden, „damit ich in den nachfolgenden Meditations auf sie eingehen kann.“ Wie noch weiter unten beleuchtet, wird das Argument des täuschenden Gottes im 3. und 4. Teil der ‚Meditation’ beantwortet, und das Traumargument im Verlauf seiner Diskussion der Wahrnehmung im 6. Teil. (Da Descartes, durchaus zu Recht, bei seiner Auffassung blieb, dass die Wahrnehmung keine vollkommen vertrauenswürdige Richtlinie dafür ist, wie die Dinge wirklich sind, wird das erste skeptische Argument nirgends mehr vollständig beantwortet, obwohl er in der 6. Meditation sorgfältig die Bedingungen beschreibt, unter denen wir den Sinnen vertrauen können.) Schließlich schreibt er, dass die Argumente hier mehr einen Maßstab setzen, an dem er die Gewissheit seiner späteren Schlussfolgerungen messen kann: „Ich wollte die Festigkeit der Wahrheiten zeigen, die ich später vertreten habe, im Licht der Tatsache, dass sie von diesen metaphysischen Zweifeln nicht erschüttert werden können.“ Auf alle diese Weisen stellte sich Descartes als jemand dar, der auf die skeptische Philosophie einging und eine Art dogmatischer Philosophie verteidigte. 5. Das Cogito-Argument Descartes’ Philosophie beginnt mit dem Zweifel. Der erste Schritt in Richtung der Gewissheit, also der archimedische Punkt, auf dem die gesamte Struktur errichtet werden soll, ist die Entdeckung der Existenz des Selbst. Zu Beginn des 2. Teils der ‚Meditationes’, wo er über den bösen Dämon nachdenkt, den er am Ende des 1. Teils postuliert hat, beobachtet Descartes: „Soll er mich ruhig so viel täuschen, als er nur kann, er wird es doch nie fertig bringen, dass ich nichts bin, solange wie ich denke, dass ich etwas bin … Ich muss letztlich daraus schließen, dass diese Aussage ‚ich bin‘, ‚ich existiere‘ notwendig wahr ist, wann immer sie durch mich vorgebracht oder durch meinen Geist gedacht wird.“ In dem früheren ‚Discours’ (4. Teil) und den späteren ‚Principia philosophiae’ (1. Teil, § 7) hat diese Aussage die etwas vertrautere Form ‚Ich denke, also bin ich‘ oder auf lateinisch ‚Cogito, ergo sum‘. Hier heißt diese Aussage das Cogito-Argument. Es gibt eine beachtliche Diskussion darüber, wie Descartes die Funktionsweise dieses Arguments genau verstand. Es gibt zwei Interpretationsstränge, die sich beide direkt aus diesen Texten ableiten. In der ‚Zweiten Replik‘ beobachtet Descartes, „wenn uns bewusst wird, dass wir Dinge denken, dann ist dies eine vorrangige Vorstellung, die durch keinerlei Syllogismus irgendwie abgeleitet ist.“ Dies legt nahe, dass das Cogito-Argument uns unmittelbar durch direkte Intuition bekannt wird. In den ‚Principia’ (1. Teil, § 10) bemerkt Descartes jedoch, dass vor dem Wissen des cogito wir nicht nur die Begriffe des Gedankens, der Existenz und der Gewissheit erfasst haben müssen, sondern auch die Aussage, dass „es unmöglich ist, dass das, was denkt, nicht existiert“. Dies legt nahe, dass das cogito doch eine Art von Syllogismus ist, durch den ich meine Existenz aus der Tatsache schließe, dass ich denke, und 264
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zwar aufgrund der Prämisse, dass, was immer denkt, auch existieren muss. Jüngere analytische Philosophen haben sich ebenfalls von dem Cogito-Argument angezogen gefühlt, indem sie seine offensichtliche Verlockung mittels der Sprechakttheorie und der Theorien über die Anschaulichkeit zu verstehen versuchten. Diese Darstellungen sind jedoch weit entfernt von allem, was Descartes selbst darüber dachte. Ebenfalls besteht einige Verwirrung darüber, was die Schlussfolgerung aus dem Cogito-Argument sein soll. Im Hauptteil des 2. Teils der ‚Meditationes’ entwirft Descartes die Existenz des Selbst klar als ein denkendes Ding oder einen Geist. Aber der Titel des 2. Teils der ‚Meditationes’; ‚Das Wesen des menschlichen Geistes, und wieso er besser bekannt ist als der Körper’, legt nahe, dass Descartes meinte, er hätte es so eingerichtet, dass das Wesen des menschlichen Geistes der Gedanke ist. Überdies aber geht Descartes in parallelen Texten des 4. Teil des ‚Discours’ und der ‚Principia’ (1. Teil, §§ 7–8) davon aus, dass das cogito die Existenz einer denkenden Substanz setzt, die etwas anderes ist als der Körper, obwohl er dies im Text des 2. Teils der ‚Meditationes’ zu bestreiten scheint. Obwohl es am engsten mit Descartes in Verbindung gebracht wird, ist das Cogito-Argument womöglich gar nicht vollständig von ihm selbst. Eine Reihe von Descartes’ Zeitgenossen, sowohl während seines Lebens, als auch danach, bemerkten die Verbindung zwischen dem cogito und ähnlichen Formulierungen bei Augustinus. Was jedoch für Descartes am cogito so wichtig war, ist die grundlegende Rolle, die es in seinem System spielt. Für Descartes ist es „das erste, was wir kennen lernen, wenn wir auf eine ordentliche Weise philosophieren“ (Principia, 1. Teil, § 7). Der Alltagsverstand mag davon ausgehen, dass uns die physische Welt der Körper, die uns durch die Sinne bekannt sind, zugänglicher ist als der Geist, der ein denkendes Ding ist, dessen Existenz auch dann noch gegeben ist, wenn wir die Sinne zurückgewiesen haben. Wie aber Descartes in der 2. Meditation einwirft, indem er das Beispiel eines Wachsstückes verwendet, werden die Körper trotz unserer Vorurteile nicht durch unsere Sinne oder die Vorstellungskraft gedacht, sondern durch denselben Prozess reiner intellektueller Bildung, der uns auch die Vorstellung von uns selbst als denkende Gegenstände gibt. Im übrigen ist das Wissen der externen Welt ungewisser als das Wissen über den Geist, denn was für eine Gedanke auch immer uns zu dem wahrscheinlichen Glauben an die Existenz von Körpern bringt, wird uns auch mit Gewissheit zum Glauben an die Existenz des Selbst bringen. Sein Projekt ist es folglich, die gesamte Welt ausgehend vom denkenden Selbst zu errichten. Wichtig ist hier, dass es gerade nicht der Geist ist, der diese Grundlage stellt, sondern jeweils mein Geist. In diesem Sinne ist der Anfangspunkt der Philosophie Descartes’ mit der Ablehnung der Autorität verbunden, die für die kartesische Philosophie so zentral ist. Indem wir mit dem cogito beginnen, errichten wir eine Philosophie, die von der Geschichte und der Tradition losgelöst ist. 6. Gott Auf der nächsten Ebene des Systems geht es, wie bereits in den ‚Meditationes’ angedeutet, um den Nachweis, dass Gott existiert. Hierzu setzt Descartes in seinen Schriften drei Hauptargumente ein. Deren erstes (zumindest in der Reihenfolge ihrer Nennung in den ‚Meditationes’) ist ein kausales. Während es am ausführlichsten in der 3. Meditation dargelegt wird, findet es sich auch im ‚Discours’ (4. Teil) und in den ‚Principia’ (1. Teil, §§ 17–18). Das Argument beginnt mit der Prüfung der 265
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Gedanken, die im Geist ‚enthalten‘ sind, wobei Descartes zwischen der formalen Wirklichkeit einer Idee und ihrer objektiven Wirklichkeit unterscheidet. Die formale Wirklichkeit irgendeines Gegenstandes ist einfach ihre wirkliche Existenz und der Grad seiner Vollkommenheit; die formale Wirklichkeit einer Idee ist folglich ihre wirkliche Existenz und der Grad ihrer Vollkommenheit als eine Zustandsweise des Geistes. Die objektive Wirklichkeit einer Idee ist der Grad ihrer Vollkommenheit, die nunmehr auf ihren Inhalt hin betrachtet wird. (Diese Konzeption bezieht selbstverständlich auch die formale und objektive Wirklichkeit beispielsweise eines Bildes, einer Beschreibung oder irgendeiner anderen Repräsentation mit ein.) Im Rahmen dieser Verbindung nahm Descartes drei fundamentale Vollständigkeitsgrade an, die mit der Fähigkeit eines Dinges zu seiner unabhängigen Existenz verbunden sind, was eine Hierarchie im Argument des 3. Teils der ‚Meditationes’ impliziert, die in der ‚Dritten Replik‘ (auf Hobbes Einwände) explizit zum Ausdruck kommt. Der höchste Vollständigkeitsgrad ist jener einer unendlichen Substanz (Gott), die von gar nichts abhängt; der nächste Grad ist der einer endlichen Substanz (einem individuellen Körper oder Geist), der von Gott allein abhängt; der niedrigste ist der einer Seinsweise (d.h. die Eigenschaft einer Substanz). Descartes behauptet, es sei „bei klarem Licht betrachtet offensichtlich […], dass die wirksame und gesamte Ursache zumindest genauso wirklich ist wie die Wirkung dieser Ursache.“ Hieraus schließt er, dass es mindestens genauso viel formale Wirklichkeit in der Ursache einer Idee geben muss, wie es objektive Wirklichkeit in der Idee selbst gibt. Dies ist ein ‚Brückenprinzip‘, das es Descartes erlaubt, auf die Existenz von Ursachen aus dem Wesen einzelner Ideen zu schließen, die im Geiste und daher Wirkungen der einen oder anderen Ursache sind. In der 3. Meditation diskutiert Descartes nacheinander verschiedene Klassen von Ideen und kommt zu dem Schluss, dass es als endliche Substanz durchaus die Ursache aller Ideen sein kann, die er in seinem Geist hat, bis auf eine: die Idee von Gott. Da die Idee von Gott jene von etwas ist, das unendlich vollkommen ist, muss das einzige, was diese Idee in meinem Geist hervorrufen kann, eine Sache sein, die formal (wirklich) die Vollkommenheit aufweist, die meine Idee objektiv an sich hat, d.h. Gott selbst. Descartes benutzt in seinen Schriften noch zwei weitere Argumente für die Existenz von Gott. In der 3. Meditation bietet er im Anschluss an das kausale Argument eine Fassung des kosmologischen Arguments für jene, die infolge einer Blendung durch ihre Sinne sich immer noch dagegen wehren mögen, das Brückenprinzip zu akzeptieren, auf das sich sein Kausalargument stützt. (Andere Fassungen dieses Arguments finden sich auch im 4. Teil des ‚Discours’ und im 1. Teil der ‚Principia’ (§§20–21). Dieses Argument beginnt mit der Existenz des Autors selbst, wie bereits in der 2. Meditation festgestellt. Der Autor könnte sich aber fragen, was ihn eigentlich erschaffen hat. Hier wird es nicht genügen, meint Descartes, davon auszugehen, dass ich immer existiert habe und deshalb keinen Schöpfer brauche, denn es bedarf derselben Kraft, meine Existenz von Zeitpunkt zu Zeitpunkt fortzuschreiben, wie mich ganz neu zu erschaffen. Ich kann mich nicht selbst erschaffen haben, denn dann müsste ich in der Lage gewesen sein, mich mit der ganzen Vollständigkeit auszustatten, an der es mir offensichtlich mangelt. Überdies müsste ich mich, wenn ich mich selbst erschaffen würde, auch selbst (über die Zeit) erhalten können, wozu ich jedoch nicht die Kraft habe. Da ich ein denkendes Etwas bin, wäre ich mir, wenn ich eine solche Kraft besäße, ihrer bewusst. Meine Eltern können im eigentlichen Sinne 266
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nicht meine Schöpfer sein, denn sie verfügen ebenfalls nicht über die Macht zur Erzeugung eines denkenden Etwas (was alles ist, das ich über mich auf dieser Stufe der ‚Meditationes’ weiß), noch darüber, dieses Etwas zu erhalten, nachdem es erschaffen ist. Ich kann auch nicht durch ein anderes Wesen geschaffen sein, dass weniger vollkommen als Gott ist, denn ich habe eine Vorstellung von Gott, die ich nicht von einem weniger vollkommenen Wesen erwerben kann. (Hier drängt sich der Verdacht auf, dass dieses kosmologische Argument wirklich auf das erste kausale Argument zurückfällt.) Hieraus schließt Descartes, „dass der schlichte Umstand, demzufolge ich existiere und in mir die Vorstellung eines vollkommensten Seins habe […] den sehr klaren Beweis liefert, dass Gott tatsächlich existiert.“ Diese ersten beiden Argumente für die Existenz von Gott spielen eine zentrale Rolle bei der Bestätigung der Vernunft, was weiter unten noch ausgeführt wird. Nachdem die Geltung der Vernunft jedoch auf theologischem Gebiet bestätigt ist, legt Descartes in der 5. Meditation eine Fassung des ontologischen Arguments vor (siehe Gott, Argumente für die Existenz von, §§ 2–3). Nach einer Reflexion auf der Grundlage geometrischer Überlegungen schließt Descartes aus der Tatsache, derzufolge „alles, was ich klar und deutlich als zu einem Ding gehörend wahrnehme, tatsächlich zu diesem Ding gehört“, dass dieser Schluss auch auf die Idee von Gott anwendbar sei. Deshalb schließt er, dass es „ziemlich evident ist, dass Existenz nicht stärker vom Wesen Gottes getrennt werden kann als die Tatsache, derzufolge die Winkelsumme gleich der Summe zweier rechter Winkel ist, nicht vom Wesen eines Dreiecks abgelöst werden kann, oder die Idee eines Berges nicht von der Idee des Tals.“ Obwohl dieses Argument zirkulär zu sein scheint, insofern seine Gültigkeit von dem vorangehenden Argument der Existenz Gottes abhängt, ist es dies nicht; Descartes betont, dass „selbst dann, wenn sich herausstellt, dass nicht alles, worüber ich in den vergangenen Tagen nachgedacht habe, wahr ist, ich der Existenz Gottes dennoch dasselbe Maß an Gewissheit zuschreibe, wie ich dies bisher auch bei den Wahrheiten der Mathematik tat.“ Wie bei den anderen beiden Argumenten finden sich Descartes’ ontologische Argumente auch im 4. Teil des ‚Discours’ und in den ‚Principia’ (1. Teil, §§ 14–16); tatsächlich ist es in den ‚Principia’ das erste Argument, dass er präsentiert. Wie bereits oben bemerkt, spielt die Existenz Gottes eine große Rolle bei der Bestätigung der Vernunft. Sie spielt aber auch in zwei anderen Teilen des Descartesschen Systems eine größere Rolle. Wie wir später noch im Zusammenhang mit Descartes’ Physik sehen werden, ist Gott die erste Ursache der Bewegung und der Erhalter der Bewegung in der Welt. Ferner bildet Gott infolge der Art und Weise, wie er die Bewegung erhält, die Grundlage für die Bewegungsgesetze. Schließlich meinte Descartes, dass Gott der Schöpfer der so genannten ‚ewigen Wahrheiten‘ ist. In einer Reihe von Briefen des Jahres 1630 drückte Descartes den Standpunkt aus, dass „die mathematischen Wahrheiten, die Du ewig nennst, von Gott selbst festgelegt wurden und vollständig und nicht weniger als der Rest seiner Geschöpfe von ihm abhängen.“ (Brief an Mersenne vom 15. April 1630; Descartes 1984–1991, Bd. 3: 23). Dies ist ein Standpunkt, den Descartes offenbar bis in seine reifen Jahre beibehielt. Während es jedoch nie mehr so wie im Jahre 1630 im Vordergrund stand, wird es doch deutlich sowohl in der Korrespondenz (z.B. im Brief an Arnauld vom 29. Juli 1648; Descartes 1984–1991, Bd. 3: 358–359) und in den veröffentlichten Schriften (z.B. in der ‚Sechsten Replik‘) gebracht. 267
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Verschiedene Kommentatoren vermuteten, dass Descartes in Wirklichkeit ein Atheist war, und dass er seine Argumente für die Existenz von Gott nur zur Verschleierung dieses Umstandes verwendet. Auch wenn dies nicht ausgeschlossen ist, so legt die häufige Berufung auf Gott im philosophischen Zusammenhang, sowohl in privaten Briefen, als auch in veröffentlichten Werken, doch nahe, dass dies recht unwahrscheinlich ist. 7. Die Bestätigung der Vernunft Nachdem die Existenz Gottes festgestellt ist, ist der nächste Schritt in Descartes’ Programm die Bestätigung der Vernunft. Zu Beginn des 3. Teils der ‚Meditationes’, vor dem Beweis der Existenz Gottes, schreibt Descartes, dass die verbleibende Ungewissheit dem Umstand geschuldet ist, dass der Nachdenkende nicht weiß, ob es einen Gott gibt oder nicht, und wenn es einen gibt, ob er uns nicht täuscht. Dies legt nahe, dass alles, was jemand tun muss, um die Vernunft wieder in ihren Stand einzusetzen und das dritte und allgemeinste skeptische Argument aus dem 1. Teil der ‚Meditation’ zu entkräften, die Erbringung des Beweises ist, dass es einen wohlwollenden Gott gibt. Und am Ende des 3. Teils der ‚Meditationes’, nach zwei Beweisen für die Existenz Gottes, schließt Descartes direkt, dass dieser Gott „kein Betrüger sein kann, denn bei klarem Licht betrachtet ist offenkundig, dass aller Betrug und alle Täuschung die Folge irgendeines Fehlers ist.“ Damit aber nicht genug. Im Verlauf des Arguments im 1. Teil der ‚Meditationes’, dass Gott täuscht, bemerkt Descartes, dass, wenn irgendeine Täuschung mit dem göttlichen Wohlwollen vereinbar ist, es die totale Täuschung dann ebenso wäre. Denn man kann nicht bestreiten, dass wir von Zeit zu Zeit Fehler machen und uns folglich täuschen. Dies wirft für Descartes ein Problem auf: was, wenn überhaupt etwas, garantiert das göttliche Wohlwollen und seine Wahrhaftigkeit? Descartes beantwortet diese Frage durch die Darstellung eines Irrtums in der 4. Meditation. Kurz gesagt gehen die Fehler, die jemand macht, auf ihn selbst und die unkorrekte Ausübung seines freien Willens zurück, während die Wahrheiten, die ich erfahre, diese deshalb wahr sind, weil Gott mich gemacht hat. Genauer gesagt behauptet Descartes, dass Urteile von zwei Fähigkeiten des Geistes abhängen, „nämlich von der Fähigkeit zu wissen [anders gesagt: dem Intellekt], die in mir ist, und von der Fähigkeit zur Wahl oder zur Freiheit des Willens.“ Ein Urteil kommt zustande, wenn der Wille einer Vorstellung zustimmt, die sich in seinem Intellekt ‚befindet‘. Der Intellekt ist aber endlich und begrenzt in dem Sinne, dass er keine Vorstellung von allen möglichen Dingen hat. Auf der anderen Seite ist der Wille unbestimmt in seinem Umfang. So behauptet Descartes: „Es ist nur der Wille oder die Freiheit der Wahl, die ich in mir erfahre, und die so groß sind, dass die Idee irgendeiner größeren Fähigkeit jenseits meiner Vorstellungskraft liegt.“ Es ist der freie Wille, der uns Gott so ähnlich macht. Unter gewissen Umständen, meinte Descartes, „folgt einer großen Erleuchtung des Intellekts eine große Neigung des Willens“, und auf diese Weise bestimmt der Intellekt den Willen zur Zustimmung. Dies, so meinte er, sei der passende Gebrauch des Willens im Urteil. In dieser Situation, wo der Intellekt den Willen zur Zustimmung bestimmt, spricht Descartes davon, dass wir eine klare und bestimmte Wahrnehmung der Wahrheit haben. In diesem Falle hat uns Gott auf eine Weise gemacht, dass wir nicht anders können als zustimmen. (Klare und bestimmte Wahrnehmungen sind nahe verwandt mit dem, was er in den ‚Regulae’ ‚Intuitionen‘ 268
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nennt, siehe die obige Diskussion hierzu). Weil aber der Wille einen größeren Umfang hat als der Intellekt und nicht durch ihn beschränkt ist, bringen manchmal auch Dinge außerhalb des Intellekts den Willen zur Zustimmung. Damit kommen auch die Irrtümer ins Spiel: „Der Bereich des Willens ist weiter als der des Intellekts; aber anstatt sich auf dieselben Grenzen zurückziehen, weite ich seine Verwendung auf Gegenstände aus, von denen ich nichts verstehe. Weil der Wille in diesen Fällen indifferent ist, wendet er sich leicht von dem ab, was wahr und gut ist, und das ist die Quelle meines Irrtums und meiner Sünde.“ Auf diese Weise bin ich für den Irrtum verantwortlich, indem ich meinen Willen über das hinaus anwende, was ihn angeht. Gott kann keinesfalls für Fehler verantwortlich gemacht werden, noch kann er für meine Sünden verantwortlich sein. Ich kann meinem Schöpfer nicht vorwerfen, dass er mir nicht mehr Ideen in meinem Intellekt eingegeben hat, als ich tatsächlich habe, noch kann ich ihm als Fehler vorwerfen, dass er mich vollkommener gemacht hat, indem er mich mit einem freien Willen ausstattete. Aber infolge eines beschränkten Intellekts und eines freien Willens ist es mir möglich, sowohl Fehler zu machen, als auch Sünden zu begehen. Als ein Ergebnis dieser Analyse des Irrtums ist Descartes in der 4. Meditation in der Lage, sein berühmtes Prinzip der klaren und deutlichen Wahrnehmung zu behaupten, d.h. ein erkenntnistheoretisches Prinzip, das an die Stelle jener anderen Prinzipien tritt, die infolge der skeptischen Argumente im 1. Teil der ‚Meditation’ zurückgewiesen wurden: „Wenn ich mich einfach enthalte, in jenen Fällen zu urteilen, wo ich die Wahrheit nicht mit der ausreichenden Klarheit und Bestimmtheit wahrnehme, dann ist es klar, dass ich mich korrekt verhalte und Irrtümer vermeide. Wenn ich aber in solchen Fällen entweder bejahte oder verneinte, dann setze ich meinen freien Willen nicht korrekt ein.“ Damit ist die Bestätigung der Vernunft hergestellt, und das Argument des täuschenden Gottes ist beantwortet. Dies schließt allerdings noch nicht Descartes’ Beschäftigung mit dem skeptischen Argument der 1. Meditation ab, und in der 6. Meditation beschäftigt er sich auch noch einmal mit der Frage der Verlässlichkeit der Sinne und stellt eine beschränkte Gültigkeitsprüfung des sinnlichen Wissens vor und beantwortet schließlich das Traumargument. Die Bestätigung der Vernunft, die so zentral für Descartes’ Projekt der ‚Meditationes’ ist, hat eine offenkundige Schwachstelle: der Beweis scheint zirkulär zu sein. Die Bestätigung der Vernunft in der 4. Meditation hängt vom Beweis der Existenz Gottes ab, der wiederum von dem Beweis der Existenz des Selbst als einem denkenden Etwas abhängt. Offensichtlich müssen wir jedoch davon ausgehen, dass klare und bestimmte Wahrnehmungen vertrauenswürdig sind, um dem cogito und den Beweisen für die Existenz Gottes vertrauen zu können, die der Bestätigung der Vernunft zugrunde liegen. Das ist der so genannte ‚kartesische Zirkel‘. Zwei der Gegner der ‚Meditationes’ bemerkten diesen Punkt und entlockten Descartes Antworten darauf in der ‚Zweiten‘ und der ‚Vierten Replik‘. Descartes antwortet nicht vollkommen klar. In der ‚Zweiten Replik‘ merkt er als Antwort auf einen solchen Einwand an, dass, „wenn ich sagte, dass wir nichts mit Gewissheit wissen können, bis wir uns nicht bewusst sind, dass Gott existiert, so erklärte ich ausdrücklich, dass ich nur vom Wissen jener Schlussfolgerungen sprach“, die durch lange Argumente abgeleitet wurden, und nicht von „ersten Prinzipien“, wie z.B. dem Cogito-Argument. Dies lässt vermuten, dass Descartes unmittelbar intuitive (selbstevidente) Aussagen vom Zweifel der 1. Meditation ausnehmen wollte und sie als Werkzeuge zur Feststellung 269
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der Prämissen jenes Arguments verwenden wollte, das zur Bestätigung der Vernunft in der 4. Meditation führt. Gegen diesen Ansatz gibt es ernsthafte Einwände. Zum einen scheint es willkürlich, die selbstevidenten Aussagen vom Zweifel auszunehmen. Solche Aussagen scheinen vielmehr recht selbstverständlich in den Gegenstandsbereich derjenigen Dinge zu fallen, die Descartes bezweifelt. Wenn Gott mich auf eine Weise erschaffen könnte, dass ich mich irre, sobald ich zwei und drei zusammenzähle, dann könnte er mich auch auf eine Weise erschaffen haben, dass ich mit allen sonstigen, selbstevidenten Überzeugungen fehl gehe. Überdies sind Descartes Beweise für die Existenz Gottes, selbst wenn die unmittelbar selbstevidenten Aussagen jenseits allen Zweifels liegen, als notwendige Prämissen seiner Bestätigung der Vernunft nicht selbstevident. Dieses offenkundige Problem kann entweder eine Schwäche von Descartes’ Antwort sein, oder aber es ist ein Anlass zum Zweifel, ob wir Descartes in dieser Antwort überhaupt richtig verstanden haben. Das Problem der Zirkularität und die offenkundigen Probleme in Descartes’ ersichtlicher Antwort haben zahlreiche Prüfungen der Angelegenheit innerhalb der Kommentarliteratur hervorgerufen. Es ist nicht klar, wie genau die eigene Lösung von Descartes aussah, noch ob es überhaupt eine taugliche Antwort auf den cartesischen Zirkel gibt. Aber wie auch immer die Antwort ausfällt, das Problem wurde von Descartes nicht einfach oberflächlich übersehen. Vielmehr ist es ein tiefes philosophisches Problem, das in der einen oder anderen Form auftaucht, sobald jemand versucht, die Vernunft rational zu verteidigen. 8. Geist und Körper Einer der am meisten gefeiertsten Standpunkte von Descartes ist die Unterscheidung zwischen dem Geist und dem Körper. Descartes erfand diesen Standpunkt jedoch nicht. Er findet sich in verschiedenen Formen bei einer Reihe früherer Denker. Er ist ein Standardmerkmal des Platonismus und ist, wenn auch in einer anderen Form, bei den meisten frühen christlichen Philosophen üblich, die allgemein der Auffassung waren, dass gewisse Merkmale der menschlichen Existenz, z.B. ihr Geist oder ihre Seele, den Tod des Körpers überleben (siehe Platon § 13). Die besonderen Merkmale der Art von Descartes, diese Unterscheidung zu treffen, sowie die Argumente, die er dazu verwendete, erweisen sich hingegen als sehr einflussreich bei späteren Denkern. Es gibt einige Vorschläge, insbesondere in den ‚Discours’ (4. Teil) und in den ‚Principia’ (1. Teil, §§ 7–8), dass die Unterscheidung zwischen dem Geist und dem Körper direkt aus dem Cogito-Argument folgt, wie bereits oben diskutiert. In den ‚Meditationes’ drückt sich Descartes jedoch ziemlich klar aus, dass die Unterscheidung hier aus anderen Gründen zu treffen ist. In der 6. Meditation argumentiert er wie folgt: Ich habe eine klare und bestimmte Vorstellung von mir selbst als einem denkenden, nicht ausgedehnten Etwas und eine klare und bestimmte Vorstellung vom Körper als einer ausgedehnten und nicht denkenden Sache. Was immer ich klar und bestimmt begreifen kann, kann Gott auch so erschaffen. Also, schließt Descartes, kann der Geist, ein denkendes Etwas, gesondert von seinem ausgedehnten Körper bestehen. Und deshalb ist der Geist eine vom Körper unterschiedene Substanz, d.h. eine Substanz, deren Wesen das Denken ist. Diesem Argument wohnt eine bestimmte Konzeption dessen inne, was es heißt, eine Substanz zu sein. Dieser Standpunkt wird in den ‚Principia’ (1. Teil, § 51) 270
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deutlich gemacht, wo eine Substanz als das definiert wird, was „nichts anderes als eine Sache ist, die auf eine solche Weise existiert, dass sie zu ihrer Existenz von keiner anderen Sache abhängt“, d.h. natürlich von nichts anderem außer Gott. Insofern der Geist unabhängig vom Körper bestehen kann, ist er eine Substanz nach dieser Definition. (Gott ist die dritte Art von Substanz neben dem Geist und dem Körper, obgleich er wegen seiner absoluten Unabhängigkeit eine Substanz in einem anderen Sinne ist.) Nach Descartes’ Metaphysik hat jede Substanz ein Hauptattribut, d.h. ein Attribut, dass sein Wesen kennzeichnet. Darüber hinaus haben Substanzen Modi, d.h. eigentlich: Weisen der Hervorbringung ihrer Attribute. Also sind für Descartes einzelne Vorstellungen, einzelne Willensakte oder Leidenschaften Weisen des Geistes, und einzelne Formen, Größen und Bewegungen sind Weisen von Körpern. Descartes’ Konzeption des Geistes und des Körpers weist bedeutsame Abweichungen von den Konzeptionen beider Ausdrücke im späten scholastischen Denken auf, in dem er erzogen wurde. Für die späten Scholastiker, die sich in der aristotelischen Tradition bewegten, ist der Körper aus Stoff und Form zusammengesetzt. Der Stoff ist das, was durch die Veränderung hindurch konstant bleibt, während die Form das ist, was den Körpern ihre charakteristische Eigenschaft gibt, die sie aufweisen. Für Descartes sind alle Körper jedoch von derselben Art, nämlich eine Substanz, die nur geometrische Eigenschaften hat, so dass die Gegenstände der Geometrie einfach konkretisiert werden. Die charakteristischen Eigenschaften einzelner Formen von Körpern werden nach Maßgabe der Größe, Form und Bewegung ihrer nicht wahrnehmbaren Teile erklärt (siehe § 11 unten). Für die späten Scholastiker ist der Geist mit der Darstellung des Lebens verknüpft. Aus aristotelischer Sicht ist die Seele das Prinzip des Lebens, also das, was eine lebende Sache von einer toten unterscheidet; sie gilt auch als die Form, die zu dem lebenden Körper gehört. Der Geist ist der rationale Teil der Seele, also jener, der die Menschen kennzeichnet, und wird üblicherweise nicht als Substanz im eigentlichen Sinne betrachtet, wenn er auch in den meisten Darstellungen mit göttlicher Hilfe den Tod des Körpers überleben kann (siehe Nous; Psychē). Für Descartes erklärte sich die Mehrheit der vitalen Funktionen aus der physischen Organisation des biologischen Körpers. Der Geist ist also kein Prinzip des Lebens, sondern ein Prinzip des Denkens. Er impliziert wie die rationale Seele der Aristoteliker die Vernunft, bringt aber auch andere Formen des Denkens mit sich, die zu anderen Teilen der aristotelischen Seele gehören (siehe Aristoteles, § 17). Darüber hinaus ist er eine echte Substanz und überlebt den Tod des Körpers ganz selbstverständlich und nicht infolge eines speziellen göttlichen Eingriffs. Geist und Körper sind verschieden voneinander, weil sie gesondert voneinander existieren können. In ihrem irdischen Leben tun sie dies jedoch nicht. In der 4. Meditation beobachtet Descartes: „Die Natur lehrt mich auch durch die Empfindungen des Schmerzes, des Hungers, des Durstes usw., dass ich nicht nur gegenwärtig in meinem Körper bin, so wie ein Seemann sich gegenwärtig in einem Schiff befindet, sondern dass ich sehr eng und geradezu vermischt mit ihm bin, so dass ich und der Körper eine Einheit bilden.“ Manchmal ging er so weit zu sagen, dass der menschliche Geist die Form des menschlichen Körpers ist, und dass das menschliche Wesen, d.h. die Einheit eines Geistes und eines Körpers, eine echte Substanz darstellt, obwohl der Kontext dieser Erklärungen nahe legt, dass sie mehr um der Orthodoxie willen gemacht wurden, und nicht als Ausdruck seines eigenen Standpunktes (siehe 271
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z.B. den Brief an Regius vom Januar 1642 [Descartes 1984–1991, Bd. 3: 208], wo er Regius im Zusammenhang mit der Kontroverse in Utrecht Ratschläge für die beste Antwort auf die Angriffe durch den orthodoxeren Aristoteliker Gisbertus Voëtius gibt). Aber wie dem auch sei, er war klar an die Auffassung gebunden, dass der Geist und der Körper verbunden sind. Einige seiner Zeitgenossen hatten Schwierigkeiten zu verstehen, wie zwei so unterschiedliche Substanzen zusammenwirken und gar zusammengehen können. Manchmal verwarf Descartes diesen Einwand, indem er sagte, dass dies nicht schwieriger sei als zu verstehen, wie sich für die Aristoteliker Stoff und Form vereinen, was doch jeder bereits in der Schule lerne (Brief an Arnauld vom 29. Juli 1648; Descartes 1984–1991, Bd. 3: 358). An anderer Stelle jedoch, speziell in einem wichtigen Briefwechsel mit der Prinzessin Elisabeth von Böhmen, bot Descartes eine andere Erklärung an, indem er bemerkte, es sei schlicht ein empirischer Fakt, dass sie sich vereinen und zusammenwirken. Dies sei etwas, was wir aus der alltäglichen Erfahrung lernen. Und er schlug vor, dass genauso, wie wir angeborene Vorstellungen haben, die uns erlauben, die Begriffe des Denkens und der ausgedehnten Substanz zu verstehen, so haben wir auch eine angeborene Vorstellung, die uns erlaubt zu begreifen, wie der Geist und der Körper zusammenwirken, und wie sie gemeinsam eine Einheit bilden können (Briefe an Elisabeth vom 21. Mai 1643 und 28. Juni 1643; Descartes 1984–1991, Bd. 3: 217–220 und 226–229). Nach Descartes ist der Geist mit dem Körper an einem bestimmten Ort verbunden, nämlich der Zirbeldrüse, einer einzigen Drüse im Zentrum des Gehirns zwischen den beiden Hirnhälften. Dies sei der Punkt, an dem das Zusammenwirken stattfindet. Der Geist habe die Fähigkeit, die Zirbeldrüse dergestalt zu bewegen, wie er auch freiwillig Bewegungen ausführe. Auf ähnliche Weise übertrügen alle sensorischen Organe ihre Information an die Zirbeldrüse, und als Ergebnis davon würden die Sinneswahrnehmung an den angeschlossenen Geist übertragen. Wegen der Verknüpfung dieser Teile, die zusammen den organischen Körper bilden, könne vom Geist jedoch, kraft seiner Verbindung mit der Zirbeldrüse, gesagt werden, dass er mit dem Körper wie ein Ganzes verbunden sei (‚Passions’, §§ 30–32) (siehe Personen). 9. Die externe Welt und die Empfindung Die Erörterung zur Unterscheidung zwischen Geist und Körper in der 6. Meditation stellt das Wesen der Körper als Ausdehnung dar, äußert sich jedoch nicht über die wirkliche Existenz der Welt von Körpern außerhalb des Geistes. Dies steht im Zentrum der letzten Reihe von Erörterungen in den ‚Meditationes’. Die Diskussion beginnt in der 6. Meditation mit der Anerkennung, dass der Mensch „eine passive Fähigkeit der sensorischen Wahrnehmung“ besitzt, die nutzlos wäre, wenn es nicht auch eine „aktive Fähigkeit“ gäbe, „entweder in mir, oder woanders“, die die Vorstellung der Wahrnehmung hervorbringt. Descartes hat schon in der 6. Meditation festgestellt, dass der Geist nur zwei Fähigkeiten habe, eine passive der Wahrnehmung, und eine aktive des Willens. Die Wahrnehmung könne, weil sie passiv sei, nicht die Quelle meiner Vorstellungen der Wahrnehmung sein, und weil Wahrnehmungen unwillkürlich seien, könnten sie auch nicht Produkt meines Willens sein. So müssten die Vorstellungen der Sinne also von woanders herkommen. Gott „hat mir eine große Neigung gegeben zu glauben, dass sie durch körperliche Dinge hervorgebracht werden“, uns aber keine Mittel gegeben, den Irrtum zu korrigieren, wenn die Neigung uns täuscht. Also, schließt Descartes, wäre Gott ein Betrüger, wenn meine 272
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sensorischen Vorstellungen von allem, bloß nicht von Körpern herrührten. Dieses Argument beweist nicht, dass alles, was wir von Körpern wahrnehmen, verlässlich ist, sondern nur, dass „sie alle Eigenschaften besitzen, die ich klar und bestimmt verstehe, d.h. alle jene, die, allgemein betrachtet, vom Gegenstandsbereich der reinen Mathematik erfasst sind“. (In den ‚Principia’, 2. Teil, § 1, gibt es auch ein Argument für die Existenz der externen Welt, das jedoch anders lautet.) Der Beweis der Existenz der externen Welt zeigt uns, dass Körper im Allgemeinen die Ursachen unserer Wahrnehmungen sind, und er zeigt uns allgemein, was das Wesen des Körpers ist. Aber er scheint uns nicht viel darüber zu sagen, was wir über konkrete Körper in der Welt um uns herum unter bestimmten Umständen lernen können (und was nicht). Diese Fragen werden am Ende der 6. Meditation in einer allgemeinen Diskussion der Verlässlichkeit der Empfindung angesprochen, die die ausführlichste zu diesem Thema in Descartes’ Schriften ist. Er führt aus, dass uns die Sinne „einfach zur Information des Geistes darüber gegeben sind, was nutzbringend und was schädlich ist für die Zusammengesetztheit, von der der Geist ein Teil ist; und zu diesem Zweck sind sie ausreichend klar und bestimmt“. Während sie mir also nichts über die wirkliche Natur der Dinge sagen können, d.h. etwas, was den Intellekt oder die Vernunft bestimmt, können sie mich aber über bestimmte Merkmale meiner Umgebung informieren, die die Erhaltung der Einheit meines Geistes und des Körpers betreffen. So kann uns beispielsweise, wenn uns die Sinne sagen, dass einige konkrete Äpfel rot und andere grün sind, die verlässlich darüber informieren, dass einige schon reif sein mögen (und daher nahrhaft), und andere nicht. Dies sagt uns aber nichts darüber, dass die einen von Natur aus rot, und die anderen wirklich grün sind. Auf ähnliche Weise sagt es mir, wenn ich Schmerz in meiner Zehe spüre, dass ich dort an der Zehe verletzt bin, und nicht, dass dort etwas der Empfindung ähnelt, die in Wirklichkeit in der Zehe ist. Doch selbst hier kann die Empfindung noch irreführend sein. Wie Descartes betont, fühlen Menschen Schmerzen in Gliedmaßen selbst dann noch, nachdem sie ihnen amputiert wurden. In Anbetracht der Natur der ausgedehnten Körper und des kausalen Prozesses, durch welche Schmerzen (und andere Empfindungen) durch den Körper an die Zirbeldrüse übermittelt werden, wo der nicht ausgedehnte Geist mit dem ausgedehnten Körper vereint ist, sind solche irreführenden Empfindungen unvermeidlich. Ähnliche Empfindungen im Geiste können das Ergebnis sehr unterschiedlicher kausaler Prozesse im Körper sein. Beispielsweise kann eine Empfindung von Schmerz-inder-Zehe entweder durch eine Veränderung im Zustand der Zehe selbst verursacht sein, oder aber durch eine geeignete Stimulation an irgendeinem Punkt der Nerven, die den Zeh mit dem Gehirn verbinden. Doch obwohl die Empfindung fehlbar ist, behauptet Descartes: „Ich weiß, dass in Betreff des Wohlergehens des Körpers alle meine Sinne wesentlich öfter die Wahrheit berichten als das Gegenteil.“ Darüber hinaus kann man mehrere Sinne und das Gedächtnis zusammen mit dem Intellekt einsetzen, „der bis jetzt alle Ursachen von Irrtümern geprüft hat“, um die Evidenz der Sinne und ihren korrekten Gebrauch einzuschätzen. Und damit ist Descartes abschließend in der Lage, das Traumargument der 1. Meditation zu beantworten. Denn meine Wacherfahrungen sind auf eine Weise miteinander verbunden, wie es im Traum nicht der Fall ist; die Dinge, die ich sehe, wenn ich wach bin, dringen auf mich, anders als im Traum, durch alle Sinne ein und sind mit meiner Erinnerung und anderen Gegenständen verbunden. Ich kann diese Verknüpftheit der wachen 273
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Erfahrung zusammen mit meinem Intellekt und meinem Wissen der Irrtumsgründe einsetzen, um die wahrhaftigen Empfindungen herauszufinden und sie von den täuschenden Sinneserfahrungen der Träume zu unterscheiden. Manchmal werden mich natürlich sogar meine Wacherfahrungen täuschen, wir sind aber imstande, die konkreten Umstände zu bestimmen, unter denen die Sinne unser Vertrauen verdienen. Und so gibt es, im Gegensatz zu dem ursprünglichen Zweifel, der im Traumargument der 1. Meditation angemeldet wurde, keinen allgemeinen Grund zur Zurückweisung der Wacherfahrung an sich. Obwohl die Empfindung der Vernunft untergeordnet ist und in der 1. Meditation dem Zweifel anheimfällt, taucht sie als legitime Quelle des Wissens über die Welt am Ende der 6. Meditation wieder auf. 10. Philosophische Psychologie und Moral Mit der Moral beschäftigte sich Descartes in vielen seiner Texte. Im dritten Teil seiner ‚Discours’ stellt er das vor, das er eine ‚provisorische Moral‘ nennt, d.h. eine Verhaltensanleitung, während wir dabei sind, unsere Überzeugungen zu überprüfen und damit zur Gewissheit kommen. Im ‚Baum der Philosophie‘ im Vorwort zur französischen Ausgabe der ‚Principia’ wird die Moral als eine der Früchte dieses Baumes neben der Medizin und der Mechanik aufgezählt. Sie ist auch ein Thema in den Briefen, die er mit der Prinzessin Elisabeth von Böhmen in der Mitte der 1640er Jahre austauschte, und zwar zusammen mit einem anderen Anliegen, nämlich den Leidenschaften: was sie sind und, noch wichtiger, wie man sie kontrollieren kann. Diese Themen sind erneut in Descartes’ letztem großen Werk miteinander verflochten, den ‚Leidenschaften der Seele‘ (1649). In einem der Briefe, der als Vorwort zu den ‚Passions’ dient, kündigt Descartes an, dass er die Leidenschaften „nur als Naturphilosoph [en physicien], und nicht als ein Rhetoriker oder gar als ein Moralphilosoph behandeln“ will. Entsprechend nehmen einen Großteil den ‚Passions’ die Darstellungen dessen ein, was die Leidenschaften sind, und wie sie aus der Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und Geist entstehen. In Descartes’ Vorstellung sind die Leidenschaften zusammen mit den Wahrnehmungen und der Vorstellungskraft angeordnet, d.h. Wahrnehmungen des Geistes, die durch externe Impulse angeregt werden. In dieser Hinsicht unterschied sich Descartes radikal von den aristotelisch-scholastischen Philosophen, die die Leidenschaften dem Vermögen zum Verlangen, statt jenem zur Wahrnehmung zuordneten. Aber obwohl sie mit anderen Wahrnehmungen zusammen angeordnet sind, sind diejenigen, um die es Descartes in dieser Abhandlung geht, eine besondere Gruppe von Wahrnehmungen, nämlich „jene, deren Wirkungen wir direkt in der Seele spüren, und für die wir normalerweise keinen unmittelbaren Anlass kennen, auf die wir sie beziehen können“, also jene, „die durch irgendeine Bewegung des Geistes veranlasst, unterhalten und gestärkt werden“ (‚Passions’ , §§ 25, 27). (Die fraglichen ‚Geister‘ sind hier die tierischen Geister, ein flüssiger Stoff, der eine größere Rolle in Descartes Biologie spielt.) Die hauptsächliche Wirkung der Leidenschaften ist es, „die Seele zu bewegen und dazu zu bringen, dass sie Dinge möchte, für die sie den Körper vorbereiten. Deshalb bewegt das Gefühl der Angst die Seele dazu, dass sie fliehen möchte, und jene des Mutes zu kämpfen“ etc. (‚Passions’, § 40). Wie bereits mit den Empfindungen spielen auch die Leidenschaften der Seele eine Rolle in der Bewahrung der Geist-Körper-Einheit: „Die Funktion aller dieser 274
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Leidenschaften besteht allein darin, dass sie unsere Seele dazu bestimmen, Dinge zu wollen, die die Natur für uns als nützlich erachtet, und in diesem Wollen zu verharren. Und dieselbe Anregung der Geister, die normalerweise die Leidenschaften verursachen, bestimmen auch den Körper, die Bewegungen zu machen, die uns helfen, diese Dinge zu erlangen.“ (‚Passions’, § 52) Für die Gelehrten gehörten die Leidenschaften zum Vermögen des Verlangens und waren grundsätzlich um eine Unterscheidung zwischen den ‚zornreizenden‘ und den ‚begehrlichen‘ Arten des Verlangens herum angesiedelt. Descartes versuchte jedoch eine Konzeption der Leidenschaften zu entwerfen, die auf einer ganz anderen Konzeption der Seele beruhten, und zwar einer, bei der es keine Unterscheidung von Arten des Verlangens gibt (‚Passions’, § 68). Seine Einteilung der Leidenschaften basierte auf einer Liste sechs einfacher Passionen, die mehr zum Wahrnehmungsvermögen als zum Vermögen des Verlangens gehören: Erstaunen, Wunsch, Liebe und Hass, Freude und Trauer. „Alle anderen sind entweder aus diesen sechs zusammengesetzt, oder sie sind Arten von ihnen“ (‚Passions’, § 69). Einen Großteil seiner Aufmerksamkeit in diesem kleinen Buch richtet er auf die Darstellung, was jede dieser grundlegenden Leidenschaften ist, wie man sie erlebt, sowie ihre physiologischen Ursachen und Wirkungen im Körper, und wie all die anderen Leidenschaften als Formen dieser sechs grundlegenden verstanden werden können. Aber obwohl Descartes sich als jemand darstellt, der die Leidenschaften en physicien prüft, gibt es doch auch eine moralische Dimension in dieser Diskussion. Ein Teil der Beweggründe zur Prüfung der Leidenschaften ist ihre Kontrolle. Während die Leidenschaften, wie alles, was uns von Gott gegeben ist, zu unserem Wohlergehen beitragen mögen, können sie auch maßlos sein und müssen dann kontrolliert werden (‚Passions’, § 211). Während die Leidenschaften nicht direkt von uns kontrolliert werden, können wir doch indirekte Mittel zu ihrer Kontrolle erlernen, indem wir verstehen, was sie sind und wie sie verursacht werden (‚Passions’, §§ 45–50, 211). Dies, so behauptet Descartes, ist der „hauptsächliche Gebrauch unserer Weisheit, [die] darin liegt, dass sie uns lehrt, Meister unserer Leidenschaften zu sein und sie mit einer Geschicklichkeit zu kontrollieren, dass die Übel, die sie verursachen, erträglich werden und sogar zu einer Quelle der Freude werden“ (‚Passions’, § 212). Wichtig an diesem Prozess ist das, was Descartes générosité nennt, und was man am besten mit ‚Großzügigkeit‘ übersetzen kann. Die générosité ist das Wissen, dass genau genommen alles, was wir besitzen, unser freier Wille ist, sowie der Vorsatz, ihn gut einzusetzen, „das heißt, es niemals an dem Willen fehlen zu lassen, jeweils das zu unternehmen und auszuführen, was immer wir für das Beste erachten“ (‚Passions’, § 53). Versteht man die générosité auf diese Weise, so ist sie sowohl Leidenschaft (ein unmittelbares Gefühl), und eine Tugend („eine Gewohnheit der Seele, die sie bestimmt, bestimmte Gedanken zu haben“) (‚Passions’, §§ 160–161). Eine Person mit générosité „schätzt alles sehr gering, was von anderen abhängt“, und als Ergebnis davon, so behauptet Descartes, sei sie in der Lage, ihre Leidenschaften zu kontrollieren (‚Passions’, § 156). 11. Physik und Mathematik Bei seinen Zeitgenossen war Descartes wegen seines Systems der Physik genauso wie wegen seiner metaphysischen Ansichten gut bekannt, die heute mehr studiert werden. Tatsächlich, so deutet er im Vorwort der französischen Ausgabe der 275
Descartes, René (1596–1650)
‚Principia’ an, sei die Metaphysik die Wurzel des Baums der Philosophie, aber der Stamm ist die Physik. Descartes’ entwickelte seine Physik hauptsächlich in zwei Werken. Die frühere Darstellung findet sich in der Abhandlung ‚Le Monde’ (‚Die Welt‘), die er jedoch zurückhielt, als Galilei 1633 für seinen Kopernikanismus verdammt wurde. Er fasste sie jedoch später im 5. Teil der ‚Discours’ zusammen. Später, in den frühen 1640er Jahren, brachte er einen Großteil dieses Materials im 2. bis 4. Teil der ‚Principia’ in eine stärker ausgearbeitete Form. Wie auch das physikalische Denken vieler seiner Zeitgenossen kann man seine Physik in zwei Teile aufteilen, einen allgemeinen Teil, der Darstellungen der Materie und der allgemeinen Naturgesetze enthält, und einen besonderen Teil, der eine Darstellung einzelner Phänomene enthält. Die zentrale Lehre bei der Grundlegung von Descartes’ Physik ist die Behauptung, dass das Wesen des Körpers die Ausdehnung ist (siehe oben § 8). Diese Lehre schließt substanzielle Formen und jegliche Arten sensorischer Qualitäten von der Körperlichkeit aus. Für die alten Gelehrten gab es vier primäre Qualitäten (nass und trocken, heiß und kalt), die kennzeichnend für die vier Elemente sind. Für Descartes sind diese Qualitäten Wahrnehmungen des Geistes, und nur im Geiste. Körper sind ihrer Natur nach einfach die Gegenstände der Geometrie, die wirklich wurden. Descartes wies ebenfalls die Atome und die Leere zurück, also die beiden zentralen Lehren der Atomisten, einer antiken Schule der Philosophie, deren Wiederaufleben durch Gassendi und andere zu einer größeren Rivalität unter den zeitgenössischen Mechanisten führte. Weil es keine Ausdehnung ohne eine ausgedehnte Substanz geben kann, also Körper, so kann es auch keinen Raum ohne Körper geben, meinte Descartes. Seine Welt war ein plenum, und alle Bewegungen mussten letztlich kreisförmig sein, denn ein Körper muss einem anderen Platz machen, damit für den anderen Raum frei wird, den er einnehmen kann (‚Principia’, 2. Teil: § 2–19, 33). Gegen die Atomisten wandte er ein, dass die Ausdehnung wegen ihrer Natur unendlich teilbar sei: kein Stück Materie sei seiner Natur nach unteilbar (‚Principia’, 2. Teil: § 20). Er stimmte ihnen jedoch zu, dass, weil Körper einfach Materie sind, ihre offenkundige Vielgestaltigkeit als ihre Unterschiede in der Größe, Form und Bewegung der kleinsten Teile erklärbar sein muss, aus denen sie bestehen (‚Principia’, 2. Teil: §§ 23, 64) (siehe Leibniz, G.W. § 4). Entsprechend spielen die Bewegung und ihre Gesetze in Descartes’ Physik eine besondere Rolle. Die wesentlichen Punkte seiner Darstellung finden sich in ‚Le Monde’, werden aber am klarsten in den ‚Principia’ dargestellt. Dort (‚Principia’, 2. Teil: § 25) wird die Bewegung als die Überführung eines Körpers von einer Nachbarschaft ihn umgebender Körper in eine andere solche definiert. Descartes unterscheidet sorgfältig die Bewegung selbst von ihrer bzw. ihren Ursachen. Während, wie wir bereits hörten, die Bewegung manchmal durch den Willen eines Geistes verursacht wird, ist die allgemeine Ursache der Bewegung in der unbelebten Welt Gott, der die Körper und ihre Bewegung erschafft, und sie von einem Moment zum nächsten erhält. Ausgehend von der Gleichförmigkeit des Weges, in der Gott die Bewegung erhält, argumentiert Descartes, sei es immer dieselbe Bewegungsquantität, die in der Welt erhalten bleibt, und zwar eine Quantität, die sich messen lasse durch das Produkt der Größe und der Geschwindigkeit eines Körpers (‚Principia’, 2. Teil: § 36). Diesem allgemeinen Erhaltungssatz fügt er drei speziellere Naturgesetze hinzu, die ebenfalls auf der Konstanz beruhen, mit dem Gott seine Schöpfung 276
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bewahrt. Nach dem ersten Gesetz erhält sich alles in seinem eigenen Zustand, sofern es dies vermag. Als Folge davon bleibt das Bewegte in Bewegung, bis eine externe Ursache auf es einwirkt; dies ist ein Prinzip, das jener aristotelischen Sichtweise direkt entgegengesetzt ist, derzufolge Dinge, die in Bewegung gesetzt wurden, dazu neigen zum Stillstand zu kommen (‚Principia’, 2. Teil: §§ 37–38). Nach dem zweiten Gesetz tendieren Körper zu geradlinigen Bewegungen, was zur Folge habe, dass Körper in Kreisbewegung dazu neigen, sich auf einer Tangente dieser Kreisbewegung weg zu bewegen (‚Principia’, 2. Teil: § 39). Das erste und das zweite Gesetz ergeben zusammen praktisch das erste veröffentlichte Argument, was Newton später das Trägheitsgesetz nannte. Descartes drittes Gesetz steuert die Kollision von Körpern, wobei er ausführt, was passiert, wenn die Bewegung eines Körpers einem anderen auferlegt wird, und wenn zwei Körper voneinander abprallen, ohne Bewegung auszutauschen. Dem abstrakten Gesetz folgen sieben spezifische Regeln betreffend spezielle Fälle (‚Principia’, 2. Teil: §§ 40–52). Obwohl sich sein Kollisionsgesetz als von Grund auf unangemessen erwies, wirft es doch ein bedeutsames Licht auf Descartes’ Konzeption der physischen Welt. Eine der Determinanten des Ergebnisses einer Kollision ist das, was Descartes die ‚Kraft‘ eines Körpers nennt, und zwar sowohl seine Kraft zur Fortsetzung der Bewegung, und sein Widerstand zur Änderung dieser Bewegung (‚Principia’, 2. Teil: § 43). Die Rolle solcher Kräfte in Descartes’ mechanistischer Welt hat viele Diskussionen hervorgerufen, denn sie scheint vollkommen unvereinbar mit Descartes These zu sein, dass ein Körper nichts als Ausdehnung ist. Diese allgemeinen Darstellungen der Materie und der Bewegung bilden die Grundlage von Descartes’ physikalischer Theorien spezifischer Phänomene. Die ‚Principia’ fahren mit der Erklärung fort, wie die Erde sich um die Sonne in einem enormen Flüssigkeitswirbel dreht, zusammen mit sehr einfallsreichen Erklärungen vieler anderer spezieller Phänomene hinsichtlich der Größe, Form und der Bewegung ihrer Teile. Andere Arbeiten enthalten weitere mechanistische Erklärungen, beispielsweise des Gesetzes, dass die Lichtbrechung steuert (‚Dioptrik‘, 2. Teil), und der Art und Weise, wie die Farben im Regenbogen entstehen (‚Meteore‘, 8. Teil). Descartes hoffte, er könnte mit einer Annahme darüber beginnen, wie Gott die Welt geschaffen habe, und dann daraus auf der Grundlage der Bewegungsgesetze ableiten, wie die Welt sich entwickelt habe (‚Discours’, 5. und 6. Teil; ‚Principia’, 3. Teil: § 46). Dieses Vorgehen verursachte aber einige Probleme. Es ist nicht leicht auszumachen, wie Gott die Welt genau geschaffen hat, ob beispielsweise die Partikel, die er zuerst schuf, alle dieselbe Größe hatten, oder alle möglichen Größen. Ferner scheint jede Hypothese dieser Art unvereinbar mit der Darstellung der Welterschaffung laut der biblischen Genesis (‚Principia’, 3. Teil: §§ 43–47). Abgesehen von diesen Schwierigkeiten schien es Descartes wohl offensichtlich, wie er vorzugehen habe. Zum Beispiel scheint aus seiner Leugnung des Vakuums zu folgen, dass Körper in Bewegung sich selbst in Gestalt kreisförmiger Materiewirbel organisieren würden, die wiederum die Zirkulation der Planeten um eine zentrale Sonne erklären sollten. Auf ähnliche Weise setzte Descartes die Tendenz zur zentrifugalen Bewegung ein, die von der zirkularen Bewegung des Wirbels hervorgebracht wurde, um das Licht zu erklären, welches, wie er behauptete, vom Druck der feinen Materie im Wirbel herrührte. Doch die schiere Komplexität der Welt spricht gegen die volle Gewissheit, die Descartes ursprünglich suchte, speziell wenn es um die Erklärung 277
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konkreter Phänomene wie beispielsweise jenes des Magnetismus ging. Tatsächlich könnte man meinen, dass er gegen Ende der ‚Principia’ das Ziel der Gewissheit aufgegeben hat und jene Art von Wahrscheinlichkeit zu akzeptieren beginnt, die er ursprünglich zurückwies (‚Principia’, 4. Teil: §§ 204–206). Im Mittelpunkt von Descartes’ Physik steht seine Ablehnung der Finalursachen: „Wenn wir mit natürlichen Dingen zu tun haben, dann werden wir niemals irgendeine Erklärung aus den Zwecken ableiten, die Gott oder die Natur vielleicht vorgehabt haben, als sie sie erschufen. Denn wir sollten nicht so arrogant sein, zu meinen, dass wir Gottes Pläne durchschauen können.“ (‚Principia’, 1. Teil: § 28) Die Betonung der Wirkursachen erwies sich später in jenem Jahrhundert als sehr strittig. Ein besonderes seltsames Merkmal von Descartes’ Physik ist, dass die Mathematik darin praktisch überhaupt keine substanzielle Rolle spielt. Descartes war einer der größten Mathematiker seiner Zeit. Während es vielleicht nicht mehr zeitgemäß ist, die moderne analytische Geometrie und die so genannten kartesischen Koordinaten in seiner ‚Geometrie‘ (1637) zu erkennen, steht es doch außer Frage, dass dies eine wirklich tiefsinnige und einflussreiche Arbeit ist. Er zeigt in ihr, wie man die Algebra zur Lösung geometrischer Probleme und die Geometrie zur Lösung algebraischer Probleme einsetzen kann, indem er aufweist, wie algebraische Operationen ausschließlich durch die Manipulation und Konstruktion von Liniensegmenten interpretiert werden können. Wenn eine Quantität in der herkömmlichen Mathematik als eine gegebene Linie dargestellt wurde, dann wurde das Quadrat dieser Quantität als ein Quadrat, konstruiert mit derselben Linie als einer Seite, dargestellt, und der Kubus dieser Quantität als ein Kubus, konstruiert wieder mit derselben Linie als einer Kante, wodurch tatsächlich die geometrische Darstellung algebraischer Operationen auf einige wenige beschränkt wurde. Indem er zeigt, wie alle Figuren des Quadrats, des Kubus etc. einer gegebenen Quantität auch mittels anderer Linien dargestellt werden können, machte Descartes den Weg zu einer vollständigen Vereinheitlichung der Algebra und der Geometrie frei. Ebenfalls wichtig in seiner mathematischen Arbeit war der Begriff der Analysis. Descartes sah sich selbst als jemanden, der das Werk des antiken Mathematikers Pappus von Alexandrien wieder aufleben ließ und entwarf eine Methodenlehre zur Lösung von Problemen, die sich radikal vom Stile Euklids unterschied, der die Geometrie über Definitionen, Axiomen, Postulaten und Aussagen betrieb, die Descartes wiederum eher als eine Methode der Darstellung als eine Methode der Entdeckung verstand. Nach dem Verfahren der Analysis, so wie Descartes sie verstand, beginnt man, indem man Unbekannte in einem geometrischen Problem mit Buchstaben bezeichnet, eine Reihe von Gleichungen aufstellt, die aus diesen Buchstaben folgen, und diese dann für die Unbekannten in dem jeweils möglichen Umfang löst. Anders als sein Zeitgenosse Galilei oder seine Nachfolger Leibniz und Newton fand Descartes niemals recht heraus, wie diese mathematischen Einsichten auf die physische Welt anwendbar sein könnten. Tatsächlich ist es ein erstaunliches Merkmal seines ‚Wissensbaums‘, dass dies, trotz der herausragenden Rolle, die die Mathematik in seiner eigenen Leistung spielt, darin keinen Platz zu haben scheint. 12. Leben und die Grundlagen der Biologie Der letzte Teil des kartesischen Programms war seine Biologie. Nachdem er sie zuerst in den ‚Traité de l’homme’ (‚Abhandlung über den Menschen‘) vorgestellt 278
Descartes, René (1596–1650)
hatte, beabsichtigte Descartes einen Teil dieses Materials in dem Projekt ‚Le Monde’ (‚Die Welt‘), das er 1633 infolge der Verdammung von Galilei aufgegeben hatte, zu überarbeiten und zu veröffentlichen, und zwar als den 5. und 6. Teil der ‚Principia’ unter dem Titel ‚De Homine‘. Obwohl er diese Überarbeitung nicht mehr vollendete, wird aus den hinterlassenen Notizen klar, dass er dies in den Jahren vor seinem plötzlichen und vorzeitigen Tod wohl im Kopf hatte. Seine Hoffnung scheint es gewesen zu sein zu zeigen, wie das Leben allein aus der Materie und den Bewegungsgesetzen spontan entspringen konnte, indem sich die Materie selbst auf eine entsprechende Weise organisierte (‚Discours’, 5. Teil). Leider arbeitete er diese Sichtweise, in der die späteren Evolutionstheorien anklingen, niemals im Detail aus. Ihm war jedoch recht klar, dass alle Funktionen des Lebens (mit Ausnahme des Denkens und der menschlichen Vernunft) nicht in Funktion der Seele, also dem Lebensprinzip, sondern in Funktion der bewegten Materie zu erklären sind. Entsprechend stellt er eine große Vielzahl von Phänomenen in der ‚Abhandlung über den Menschen‘, einschließlich der Verdauung, der unwillkürlichen Bewegung, der Herztätigkeit und der Sinneswahrnehmung auf vollständig mechanistische Weise dar (zusammengefasst in ‚Discours’, 5. Teil, mit besonderer Betonung des Blutkreislaufs). Während Descartes Biologie unter seinen Zeitgenossen umstritten war, galt dies insbesondere für einen Aspekt davon. Nach seiner Darstellung gibt es nur eine Art von Seele in der Welt, nämlich die rationale Seele, die Menschen und Engel aufweisen, nicht aber die Tiere. Menschen sind organische Maschinen, Ansammlungen organisierter Materie, so dass sie zur Ausübung vitaler Funktionen imstande sind, die an der rationalen Seele hängen. Tiere sind auf der anderen Seite nichts als Maschinen; ihr Verhalten ist rein mechanisch, und sie sind, genau genommen, zu irgendeiner bewussten Erfahrung unfähig (‚Discours’, 5. Teil). 13. Das kartesische Erbe Der Einfluss von Descartes kann schwerlich überschätzt werden. In der Philosophie signalisierte das Cogito-Argument die Konzentration auf das Selbst und die Ablehnung der äußeren Autorität, d.h. der Autorität sowohl der Texte, als auch der Lehrer. In der Physik stand Descartes für die Ablehnung der scholastischen Physik der Materie und der Form und deren Ersetzung durch eine mechanistische Physik der Materie und der Bewegung. In der Biologie stand er für eine mechanistische Anschauung und die Ablehnung des aristotelischen Vitalismus. Descartes hatte viele Nachfolger, die seine Ideen (wie sie sie verstanden) als Dogma auffassten, und diese entwickelten diese Ideen so, wie sie meinten, dass er es von ihnen gewollte hätte. Die bedeutendsten Zentren des kartesianischen Denkens waren in Frankreich, wo man sich seiner als Landsmann trotz seiner langen Abwesenheit erinnerte, und in den Niederlanden, wo er gelebt hatte. In Frankreich wurde sein Denken durch einen Kreis um Claude Clerselier weiter getragen, der seine Briefe und auch andere Werke sammelte und veröffentlichte. Louis de La Forge kommentierte Descartes’ Physiologie und schrieb eine kartesische Abhandlung über den Geist, wo er Descartes Ideen noch weiter führte. Gerauld de Cordemoy versuchte die kartesische Philosophie mit dem Atomismus zu mischen, was die meisten seiner Zeitgenossen verwirrte. Jacques Rohault übte mit der kartesischen Physik noch nach der Veröffentlichung der Newtonschen Werke, die solche Theorien schließlich in den 279
Descartes, René (1596–1650)
Schatten stellen sollten, Einfluss aus. Andere Nachfolger, hauptsächlich in den Niederlanden und einschließlich Henricus Regius, wurden von vielen als Kartesianer betrachtet, obwohl sie Descartes teilweise öffentlich abgelehnt hatten, z.B. Adriaan Heereboord, einer von Descartes’ Parteigängern in Leiden, Johannes de Raey, einer von denen, die Descartes mit dem wahren Aristotelismus zu versöhnen versuchten, und Johannes Clauberg, der Descartes in eine mehr scholastische Form zu bringen versuchte. Es gab noch viele unbedeutendere Cartesianer unterschiedlicher Nationalitäten. Das Europa des späten 17. Jahrhunderts war überflutet mit Paraphrasen und Kommentaren zu Descartes’ Schriften. Andere und etwas unabhängigere Denker waren stark von Descartes beeinflusst, ohne ausdrücklich seine Nachfolger zu sein. Die bekannteste dieser Figuren ist wahrscheinlich Malebranche. Während sein Denken auch anderen Einflüssen viel verdankt, insbesondere dem Augustinianismus des 17. Jahrhunderts, schließt er sich in seiner ‚Recherche de la vérité’ (‚Suche der Wahrheit‘, 1674–1675) insofern Descartes an, als er eine Kritik der Sinne darbietet, die Autorität der Tradition ablehnt und sich auf klare und bestimmte Wahrnehmungen beruft. Descartes hatte auch auf den sog. Cambridge-Platoniker Henry Moore bedeutenden Einfluss, der Descartes’ Philosophie, insbesondere seine Unterscheidung zwischen Geist und Körper, als Unterstützung seiner eigenen Angriffe auf den Materialismus betrachtete (siehe Cambridge-Platonismus). Auch Spinoza war von Descartes beeinflusst. Sein erstes veröffentlichtes Buch war ein Kommentar über Descartes’ ‚Principia’, und obwohl er das kartesische Lager später verließ, halfen ihm die kartesischen Lehren bei der Strukturierung seines reifen Denkens. Spinozas metaphysisches Vokabular (Substanz, Attribut und Modus) ist von Descartes entliehen, ebenso wie die zentrale Positionierung der Attribute des Denkens und der Ausdehnung in seiner Metaphysik. Während viele von Descartes’ Parteigängern versuchten, orthodox zu bleiben, gibt es zumindest eine Lehre, die charakteristisch für den späteren Kartesianismus ist, der sich Descartes selbst vermutlich nicht angeschlossen hätte, nämlich der Okkasionalismus (siehe Okkasionalismus). Malebranche und der flämische Kartesianer Arnold Geulincx werden am nächsten mit dieser Lehre in Verbindung gebracht, sie erscheint in kartesischen Schriften jedoch bereits lange vor ihnen. Nach dem Okkasionalismus ist Gott der einzige aktive kausale Akteur in der Welt; endliche Geister und Körper sind keine wirklichen Ursachen, sondern nur Gelegenheiten für Gott, um seine kausale Wirkmacht auszuüben. Ermutigt durch das Bild der göttlichen Erhaltung von Moment zu Moment, das der kartesischen Ableitung der Bewegungsgesetze zugrunde liegt, und vielleicht zusammen mit allgemeinen Bemühungen um die Wirksamkeit der endlichen Ursachen und spezieller Sorgen betreffend das Zusammenspiel von Geist und Körper, wurde der Okkasionalismus zu einer Standardlehre. Obwohl sie häufig Descartes selbst zugeschrieben wird, sind die Grundlagen hierfür doch ziemlich dünn. Descartes’ Wirkung kann man auch noch bei seinen Gegnern ausmachen. Er war klarerweise ein Ziel von Hobbes’ Materialismus und Sensualismus, beispielsweise im 1. Teil des ‚Leviathan’ (1651). Seine Erkenntnistheorie und seine Behandlung Gottes wurden ferner ausdrücklich von Pascal in seinen ‚Pensées’ (1658–1652, veröffentlicht 1670) angegriffen. Auch Leibniz griff seine Physik und neben vielen weiteren Dingen seine Ablehnung der formalen Logik, seine Konzeption des Körpers und jene des Geistes an. Die Unangemessenheit der kartesischen Philosophie ist 280
Descartes, René (1596–1650)
ein ständiger Subtext in Lockes ‚Essay Concerning Human Understanding’ (1689), speziell in seiner Diskussion unserer Erkenntnis des Geistes und seine Ablehnung der dogmatischen Behauptung, die Wesensformen der Substanzen zu kennen. In der Naturphilosophie zeigt sich in den frühen Newtonschen Schriften ein sorgfältiges Studium von Descartes’ Schriften, insbesondere jener über die Bewegung, und das 2. Buch seiner ‚Principia’ widmete Newton einer Widerlegung der Wirbeltheorie der Planetenbewegung. Zwischen ca. 1650 und dem Niedergang der kartesischen Philosophie im Verlauf des frühen 18. Jahrhunderts war es schlicht unmöglich, philosophisch zu schreiben, ohne auf irgendeine Weise auf Descartes zu reagieren. Siehe auch: Zweifel, Dualismus; Locke, J.; Rationalismus; Skeptizismus; Substanz
Anmerkungen und weitere Lektüre: Cottingham, J.G. (1986): ‚Descartes‘, Oxford: Blackwell. (Eine gute, einführende Studie des kartesischen philosophischen Denkens.) Descartes, R. (1984–1991): ‚The philosophical Writings of Descartes‘, Hrg. und übersetzt von J. Cottingham, R. Stoothoff, D. Murdoch und A. Kenny, Cambridge: Cambridge University Press, 3 Bde. (Die aktuelle englische Standard-Übersetzung von Descartes’ Schriften. Sie enthalten die gesamten ‚Regulae’, den ‚Discours’, die ‚Meditationes’ und die ‚Passions’, sowie eine Auswahl seiner anderen Schriften und Briefe.2) Voss, S. (Hrg.) (1993): ‚Essays on the Philosophy and Science of René Descartes‘, New York und Oxford: Oxford University Press. (Eine Sammlung von Aufsätzen, die einen guten Einblick in jüngere Arbeiten zu Descartes geben.) DANIEL GARBER
Determinismus und Indeterminismus
Über die Jahrhunderte wurde die Lehre des Determinismus auf verschiedene Weisen verstanden und bewertet. Seit dem 17. Jahrhundert wird sie allgemein als die Lehre verstanden, dass jedes Ereignis eine Ursache hat, oder auch als die prinzipielle Voraussagbarkeit der gesamten Zukunft. Zur Bewertung der Wahrheit des Determinismus, auf diese Weise verstanden, haben Philosophen häufig auf die physikalischen Wissenschaften geschaut; sie nahmen an, dass deren jeweils beste physikalische Theorie auch ihr bester Führer zur Bewertung der Wahrheit des Determinismus ist. Offenbar glaubten dabei die meisten, dass die klassische Physik, speziell die von Newton, deterministisch sei. Und in diesem Jahrhundert glaubten die meisten, dass die Quantentheorie indeterministisch sei. Da die Quantentheorie an die Stelle der klassischen Physik getreten ist, zogen die Philosophen typischerweise den verführerischen Schluss, dass der Determinismus falsch sei. Tatsächlich ist dieser Eindruck schwer irreführend. Die obigen Formulierungen des Determinismus sind unbefriedigend. Sobald wir eine bessere Formulierung verwenden, sehen wir, dass es eine große Lücke zwischen dem Determinismus einer bestimmten physikalischen Theorie und der breiteren, vagen Idee gibt, derzufolge die Welt an sich selbst deterministisch strukturiert ist. Zugegebenermaßen kann diese breite und vage Vorstellung Sinn machen, wenn man eine ausreichend breite MeEine deutsche Gesamtausgabe von Descartes’ Werk ist nie erschienen, wohl aber Übersetzungen aller seiner einzelnen Texte in zahlreichen Einzelveröffentlichungen verschiedener Verlage. [WS]
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Deutscher Idealismus
taphysik zugrunde legt. Sie hat aber keinen Sinn, wenn man nur den Determinismus physikalischer Theorien in Betracht zieht. Hinsichtlich physikalischer Theorien ist der herkömmliche Eindruck erneut irreführend. Welche Theorien deterministisch sind, erweist sich als eine subtile und komplizierte Frage, die viele Fragen offen lässt. Allgemein gesprochen zeigt sich aber, dass vieles der klassischen Physik, und sogar vieles der Newtonschen, indeterministisch ist. Darüber hinaus ist auch der vermeintliche Indeterminismus der Quantentheorie strittig; er spielt, wenn überhaupt, nur in der quantentheoretischen Darstellung von Messvorgängen eine Rolle, der ohnehin der umstrittenste Teil der Theorie ist. JEREMY BUTTERFIELD
Deutscher Idealismus
Vom späten 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die deutsche Philosophie von einer Bewegung beherrscht, die unter der Bezeichnung ‚Deutscher Idealismus‘ bekannt wurde. Sie begann als ein Versuch der abschließenden Durchführung von Kants revolutionärem Projekt der Ableitung der Erkenntnisprinzipien aus der Spontaneität und der Ethik aus der Autonomie des Geistes. Die deutschen Idealisten brachten jedoch Systeme hervor, deren Beziehung zu Kant infolge ihrer Betonung der absoluten Einheit und der historischen Entwicklung der Vernunft umstritten ist. Als eine Bewegung zur abschließenden Durchführung von Kants Vorhaben war der deutsche Idealismus gezeichnet von Kontroversen darüber, ob gewisse kantische Unterscheidungen als Dualismus zu verstehen seien, d.h. als unüberbrückbare Klüfte zwischen Elementen, deren zugrunde liegende Einheit erst noch zu zeigen wäre, und ob ein solcher Dualismus überwunden werden könne (siehe Kant, i., § 3). Ein Streit betraf die Unterscheidung zwischen der Form erkennbarer Gegenstände, die nach Kant vom Geist beigesteuert wird, und dem Stoff der Wahrnehmung, die von geistunabhängigen Dingen-an-sich beigesteuert werden. Jacobi wandte hiergegen ein, dass Dinge-an-sich jenseits der Grenzen menschlicher Erkenntnis lägen, und Kant solle besser ‚transzendentales Nichtwissen‘ über den Urgrund der wahrnehmbaren Stoffe eingestehen und damit die Möglichkeit offen lassen, dass die Wirklichkeit geistabhängig ist. Eine weitere Kontroverse betraf Kants Unterscheidung zwischen der raumzeitlichen Form der Wahrnehmung und den kategorialen Formen des Verstehens. Salomon Maimon argumentierte, dass so lange, wie die zugrunde liegende Einheit dieser Unterscheidung nicht demonstriert sei, auch die Anwendbarkeit der Kategorien auf Gegenstände der Wahrnehmung nicht gegen Skeptiker wie Hume demonstriert sei. Statt den Skeptizismus zu besiegen, wie er es vorhatte, meinten manche, dass Kant dessen Triumph durch die Darstellung eines unüberbrückbaren Dualismus zwischen Geist und Wirklichkeit und zwischen Verstehen und Wahrnehmen noch gefestigt hätte. In den 1790er Jahren versuchten einige Kantianer, vor allem Reinhold, Fichte und Schelling, das Kantische Projekt mittels einer Systematisierung zu Ende zu bringen. Schwierige Dualismen könne man durch die Postulierung bestimmter mentaler Formen überwinden, meinten sie, und so auch die Unterscheidung zwischen Geist und Wirklichkeit als notwendige Bedingung einer freien und einheitlichen Tätigkeit des Geistes, und damit auch als notwendige Elemente eines vereinheitlichten Systems. Andere Kantianer, insbesondere Buhle, beschuldigten die Systematisierer 282
Deutscher Idealismus
jedoch einer Untergrabung der Bestimmtheit von Form und Stoff, sowie des Versuchs, den Stoff aus der reinen Form zu gewinnen. Inzwischen beanspruchten die Systematisierer jedoch mit ihrem Anliegen, den Skeptizismus zu besiegen, metaphysisches Wissen, das sich auf intellektuelle Intuition der geistigen Spontaneität gründete. Kant hatte jedoch ausdrücklich bestritten, dass Menschen ein solches Wissen erwerben können. Unter der Behauptung fortgesetzter Treue zu Kant trotz dieser offenkundigen Abweichungen meinten einige jener Systematisierer, insbesondere Fichte, dass Kants Lehre nur von einem bestimmten Standpunkt aus verständlich wäre, und dass sie nach Einnahme dieses Standpunktes im Geiste Kants sprechen würden, wenn auch nicht dem Buchstaben seiner Werke nach. Kant wies jedoch in seinem ‚Offenen Brief zu Fichtes Wissenschaftslehre‘ alle Versuche zur Bestimmung seines philosophischen Geistes von einem speziellen Standpunkt aus zurück und lehnte jegliche Bemühung zu einer Überbrückung der Kluft zwischen Form und Stoff ab. Diejenigen, die damit zurückgewiesen wurden, änderten ihre Auffassung hierdurch nicht. Nachdem sie festgestellt hatten, dass Kant nicht in der Lage sei, die Revolution zu vollenden, die er begonnen habe, arbeiteten sie an ihren Systemen fürderhin noch unabhängiger von Kants Schriften weiter. Der Einfluss vorkantischer Philosophen, vor allem Spinozas, wurde hierbei ausdrücklich anerkannt. Um den Kantischen Dualismus zu überwinden, ohne die Unterscheidung an sich zu verwerfen, brachten die Idealisten eine Reihe sich entwickelnder Monismen hervor (siehe Fichte, J.G.; Schelling, F.W.J. von; Hegel, G.W.F., § 4). Solche Systeme zeigen jeweils ein einziges, sich an sich selbst entwickelndes Prinzip, das sich selbst als ein Dualismus ausdrückt, dessen instabile, konfliktgeneigte Natur weitere Entwicklung notwendig macht. Hieraus entwickelt sich die Wirklichkeit als ein organisches Ganzes, dessen Prinzip man verstehen kann, und dessen Einheit in einem philosophischen System artikuliert werden kann. Aber die vorgefundenen Dualismen der alltäglichen Erfahrung sind keine Illusion. Sie sind vielmehr notwendige Stufen der Entwicklung der Realität selbst auf ihrem Wege zur vollständigen Realisierung. Diese Konzeption der Entwicklung wird häufig ‚Dialektik‘ genannt. Diese Entwicklungsmonismen betonten die Sozialität und die Historizität der Vernunft. Fichte war der erste, der die Sozialität betonte, indem er vorbrachte, dass die Entwicklung des individuellen Selbstbewusstseins das Bewusstsein eines anderen Geistes voraussetze, und er leitete hieraus die Theorie der Gerechtigkeit aus der Idee des einen Individuums ab, dass ein anderes als solches anerkennt. Hegel legte besonderen Wert auf die Historizität, indem er die menschliche Geschichte als eine Folge von Konflikten und deren Lösungen darstellte, die in einer gerechten Gesellschaft kulminieren, die die gegenseitige Anerkennung der Individuen ermöglichen würde, und auch die vollkommene Selbsterkenntnis der Vernunft, nach der die Philosophie immer gestrebt habe (siehe Hegel, G.W.F., § 8). Auf diesem Wege erlangte die Geschichte, und besonders die Geschichte der Philosophie, eine nie zuvor dagewesene Bedeutung als die Erzählung vom Aufstieg des Geistes zur Selbsterkenntnis. Und man hoffte, dass eine philosophische Darstellung der historischen Entwicklung der Gesellschaft die Mängel der Französischen Revolution korrigieren würde, die oft als das politische Äquivalent der kantischen Revolution bezeichnet wurde. Die Idealisten waren uneinig darüber, ob Kants Unterscheidung zwischen Geist und Natur ein weiterer, problematischer Dualismus sei oder nicht. Schelling und He283
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gel brachten vor, dass eine systematische Philosophie die Natur als eine dem Geist vorbewusste Entwicklung darstellen müsse. Fichte betrachtete jedoch deren Philosophie als einen Verrat am Idealismus, der den Geist in nicht-mentalen Ausdrücken erklären würde und den Geist damit seiner Autonomie berauben würde. Ab dem Jahre 1801 war diese Meinungsverschiedenheit eine ausdrückliche (siehe Fichte, J.G.; Schelling, F.W.J. von; Hegel, G.W.F., §§ 3, 7). Mit der Kontroverse über einen weiteren möglichen Dualismus, nämlich jenen zwischen Begriff und Intuition, endete die Allianz zwischen Schelling und Hegel. Ohne ihn namentlich zu nennen kritisierte Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807) Schellings Auffassung, dass die Philosophie nur durch diejenigen verstanden werden kann, die angeborenermaßen zur Intuition, d.h. die zu einer nicht-diskursiven Auffassung der impliziten Identität der offenkundigen Dualismen imstande sind. Hegel argumentierte, dass das vollständige philosophische System begrifflich dargestellt, also konzeptualisiert werden müsse und erst damit diskursiv jedem zugänglich würde. Allerdings könnten nur diejenigen, die ihre gewohnten Formen des Denkens anzupassen verstünden, das System verstehen (siehe Hegel, G.W.F., § 5, 6). Also unternahm es Hegel, seine Leser durch eine Reihe von Umformungen des Bewusstseins zu führen, die die Geschichte des menschlichen Denkens darstellten, und damit auch die Ausbildung oder intellektuelle Erziehung des Einzelnen. Die napoleonischen Kriege drängten Hegel aus dem universitären Leben heraus, aber nach seiner Rückkehr im Jahre 1814, und speziell nach seinem Ruf nach Berlin im Jahre 1818, wurde seine Fassung des Idealismus mit ihrer Darstellung der Vernunft, die sich sowohl in der Natur, als auch in der Kultur auf ihre begriffliche Artikulation hin entwickelte, zur herrschenden Auffassung. Hegel starb jedoch 1831, und Schelling äußerte eine einflussreiche Kritik an Hegel, als er 1841 in Berlin zu lehren begann. In seiner Inauguralvorlesung vor einer Hörerschaft, in der auch Engels und Kierkegaard anwesend waren, argumentierte Schelling, dass Hegels System ein unvermeidlich gescheiterter Versuch sei, den Widerspruch zwischen begrifflichem Denken und intuitiver Existenz aufzuheben. Schellings Kritik bereitete den Boden für den Marxismus und den Existenzialismus und war damit einflussreicher als seine eigenen, alternativen Vorschläge, die er unter dem Einfluss der Theosophie seit 1809 entwickelt hatte (siehe Existenzialismus; Hegelianismus; Marxismus, westlicher; Schelling, F.W.J. von). Die Beziehungen zwischen Denken und Existenz blieben für die postidealistische Philosophie problematisch, und der deutsche Idealismus ist weiterhin sowohl Gegenstand von Kritik, als auch Quelle von Einsichten. Anmerkungen und weitere Lektüre: Beiser, F. (2002): ‚German Idealism: The Struggle against Subjectivism‘, 1781– 1801, Cambridge, MA: Harvard University Press. (Eine packende Darstellung der Entwicklung der Philosophien von Kant, Fichte, Hölderlin, Novalis, Schlegel und Schelling.) Franks, P. (2005): ‚All or Nothing: Systematicity, Transcendental Argument, and Skepticism in German Idealism‘¸ Cambridge, MA: Harvard University Press. (Eine kritische Untersuchung der Probleme, auf die das Projekt der Systemerrichtung des deutschen Idealismus eingeht, und auch der argumentativen Methoden, die ein solches Projekt erfordert.)
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Dewey, John (1859–1952)
Pinkard, T. (2002): ‚German Philosophy, 1760–1860: The Legacy of Idealism‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Ein sehr klarer und eingängiger Überblick über die deutsche Philosophie von Kant bis Hegel und darüber hinaus.) PAUL FRANKS
Devlin, Lord
Siehe: Gesetz und Moral
Dewey, John (1859–1952)
Die Philosophie von John Dewey ist originell und umfassend. Seine umfangreichen Schriften behandeln systematisch Probleme der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Logik, der Ästhetik, der Ethik, der Sozial- und politischen Philosophie, des Verhältnisses von Philosophie und Erziehung, und der philosophischen Anthropologie. Obwohl sein Werk viel gelesen wird, wird es doch nicht im selben Umfang verstanden. Dewey hat eine bestimmte Vorstellung von der Philosophie, und der Schlüssel zum Verständnis und zum Nutzen aus seinem Werk liegt darin, diese Vorstellung immer mitzudenken. Eine lohnende Philosophie, darauf drängte er, muss praktisch sein. Die philosophische Untersuchung sollte also von den Bestrebungen und Problemen ihren Ausgang nehmen, die die verschiedenen Arten menschlicher Handlungen kennzeichnen, und eine wirksame Philosophie wird dann Ideen entwickeln, die auf diese Bedingungen antworten. Jedes Ideensystem, das bewirkt, dass die allgemeine Erfahrung weniger durchschaubar wird, als wir sie ohne dieses System erleben, ist nach dieser Darstellung ein Fehlschlag. Deweys Theorie der Untersuchung enthält beispielsweise keine Konzeption der Erkenntnis, die es problematisch erscheinen lässt, ob wir überhaupt etwas wissen können. Insofern Wissenschaftler außerordentliche Erkenntnisfortschritte gemacht haben, ziemt es sich für Philosophen, genau das herauszufinden, was auch Naturwissenschaftler herausfanden, statt Fragen zu stellen, ob diese etwas tun, was eine wirkliche Konsequenz hat. Entsprechend sollte die Moralphilosophie sich nicht mit der Bestürzung der Philosophen an sich befassen, sondern mit den typischen Dringlichkeiten und Bestrebungen des täglichen Lebens; und sie sollte die Ressourcen und Beschränkungen des menschlichen Wesens und der Umwelt, mit der er in Wechselbeziehung steht, auszumachen versuchen. Die Menschen mögen sich dann wirksam mit den typischen Verwirrungen und Hoffnungen auseinandersetzen. Zu diesem Zweck formulierte Dewey eine außergewöhnlich neuartige und weitreichende Philosophie der Moral und der Demokratie. Der Gegenstand der Philosophie sei nicht die Philosophie, sagte Dewey gerne, sondern die Probleme der Menschen. Allzu häufig, so meinte er, verdunkelten die Theorien der Philosophen ihren Hauptgegenstand mehr, als dass sie ihn erhellten. Die Tendenz der Denker sei es, sich von den ererbten philosophischen Rätseln verzaubern zu lassen, wo doch das Fortbestehen dieser Rätsel nur eine Folge des Versagens ist, die Voraussetzungen zu überdenken, die es hervorbrachte. Dewey war begabt im Unterscheiden und Verwerfen der philosophischen Prämissen, die unnütze Mysterien erzeugen. Statt sich beispielsweise an der Frage aufzureiben, wie immaterielle geistige Substanzen möglicherweise mit materiellen Substanzen zusammenwirken, ging er dem Problem auf den Grund, indem er den Begriff der Substanz selbst in Frage stellt. 285
Dialektischer Materialismus
Tatsächlich wurde Dewey durch seine Unzufriedenheit mit der so genannten klassischen Tradition in der Philosophie mindestens seit Platon, wenn nicht bereits seit Parmenides, zu einer Rekonstruktion des gesamten Erbes der westlichen philosophischen Tradition geführt. Das Ergebnis ist eine der fruchtbarsten Philosophien des 20. Jahrhunderts. JAMES GOUINLOCK
Dharma
Siehe: Pflicht und Tugend, Indische Konzeption von
Dialektischer Materialismus
‚Dialektischer Materialismus‘ ist der offizielle Name für die marxistisch-leninistische Philosophie, der ihr von ihren Befürwortern in der Sowjetunion und den anderen ihr angegliederten Staaten gegeben wurde. Der Ausdruck, der weder von Karl Marx, noch von Friedrich Engels je benutzt wurde, war eine Erfindung des russischen Marxisten Georgij Plechanov, der ihn im Jahre 1891 das erste Mal verwendete. Engels unterschied jedoch bevorzugt zwischen der ‚materialistischen Dialektik‘ und der ‚idealistischen Dialektik‘ von Hegel und der deutschen idealistischen Tradition einerseits, und zwischen der ‚dialektischen‘ Einstellung des Marxismus und dem ‚mechanistischen‘ oder ‚metaphysischen‘ Standpunkt anderer Materialisten des 19. Jahrhunderts andererseits. Der dialektische Materialismus verkündet seine Treue zu den Methoden der empirischen Wissenschaften und seinen Widerstand gegen alle Formen des Skeptizismus, die leugnen, dass die Wissenschaft die Natur der Wirklichkeit erkennen kann. Die dialektischen Materialisten lehnen religiöse Gläubigkeit generell ab und bestreiten die Existenz nicht-materieller oder übernatürlicher Entitäten (wie z.B. Gott oder einer unsterblichen menschlichen Seele). Anders als andere Formen des Materialismus behaupten die dialektischen Materialisten jedoch, dass die grundlegenden Gesetze, die sowohl die Materie, als auch den Geist steuern, in dem Sinne dialektisch sind, wie dieser Ausdruck in der Philosophie von G.W.F. Hegel verwendet wird. Obwohl der dialektische Materialismus angeblich der philosophische Unterbau des Marxismus sein soll, war Marx’ einziger größerer Beitrag dazu seine materialistische Konzeption der Geschichte. Die grundlegenderen philosophischen Betrachtungen des dialektischen Materialismus finden ihre hauptsächliche Quelle in den Schriften von Engels, insbesondere im ‚Anti-Dühring‘ (1878), der ‚Dialektik der Natur‘ (1875–1882) und in ‚Ludwig Feuerbach und das Ende der klassischen deutschen Philosophie‘ (1886). An dieses letzte Werk fügte Engels die elf ‚Thesen über Feuerbach‘ an, die Marx im Jahre 1845 geschrieben hatte, und die den Gegensatz zwischen dem ‚alten‘ oder ‚kontemplativen‘ Materialismus und dem praktisch orientierten Materialismus herausstellten, der zur Grundlage für die Arbeiterbewegung werden sollte. Weitere Entwicklungen des dialektischen Materialismus finden sich in den Schriften von V.I. Lenin und den nachfolgenden sowjetischen Autoren. Lenins größte Hinzufügungen bestanden in seiner Kritik des ‚Empiriokritizismus‘ (d.h. des empiristischen Phänomenalismus gewisser russischer Nachfolger von Ernst Mach, der behauptete, dass die Materie auf Sinnesdaten reduziert werden müsste), und seiner Konzeption der ‚Parteilichkeit‘ aller philosophischen Standpunkte. Siehe auch: Engels, F.; Marx, K.; Materialismus; Plekhanov, G.V. ALLEN W. WOOD 286
Dichtung
Dichtung
Obwohl die Dichtung heute vielleicht ein relativ marginales Thema innerhalb der Philosophie ist, stand es doch anfangs im Zentrum der Selbstdefinition der Philosophie. Im antiken Griechenland wurde die Dichtkunst als der gültige Ausdruck der heiligen Mythen und der traditionellen Weisheit verehrt. Mit Sokrates und Platon begann die Philosophie damit, sich selbst von der Dichtung als einer neuen und überlegenen Wissensform zu unterscheiden, die eine bessere Orientierung im Leben leisten könne, und sogar höhere Genüsse. So wie die Sophisten für den Relativismus und die Täuschung angegriffen wurden, kritisierte man auch die Dichter scharf für ihre Irrationalität und Falschheit. Platon meinte, die Dichtung stamme von den emotionalen, unvernünftigen Aspekten des menschlichen Wesens ab und berufe sich auf sie; er meinte ferner, sie habe sich auch weit von der Wahrheit entfernt und sei nur eine Nachahmung unserer Welt der Erscheinungen, die ihrerseits eine Nachahmung der wirklichen Welt der Ideen oder Formen sei. Er bestand deshalb darauf, dass die Dichter aus dem idealen Staate verbannt werden sollten, weil sie dessen Führung durch die Vernunft und die Philosophie gefährdeten. Die sich daran anschließende Philosophie der Dichtung widmete sich der Überwindung von Platons Verdammungstheorie und tendierte gleichzeitig zu einer Bestätigung der Überlegenheit der Philosophie. Dieser Aufgabe, von Aristoteles begonnen, ging man über einen langen Zeitraum hauptsächlich nach Platons allgemeinem Modell der Dichtung (und auch sonst aller Kunstformen) nach, demzufolge alle Kunst Nachahmung, gr.: mimēsis, sei. Die Hauptstrategie hier lautete, dass das, was von der Kunst nachgeahmt oder dargestellt wird, mehr sei als nur die oberflächliche Erscheinung, nämlich das allgemeine Wesen oder die Ideen selbst. Für solche Theorien ist die Beziehung der Dichtung zur Wahrheit entscheidend. Andere und später entwickelte Theorien bevorzugten es, die Dichtung gemäß ihren formalen Eigenschaften oder ihrem Ausdruck zu definieren und zu rechtfertigen, oder auch nach ihren spezifischen nutzbringenden Effekten für das Publikum. Diese Strategien gewannen seit der Romantik immer stärkeren Einfluss, können aber bis auf antike Quellen zurückverfolgt werden. Die ganz überwiegende Mehrheit der Theorie schließt sich heute Platon in seiner Behandlung der Dichtung als einem bestimmten Bereich an, der von der Philosophie getrennt und dieser in gewissem Sinne untergeordnet ist. Seit der Romantik haben sich allerdings auch einige Denker für die essentielle Einheit dieser beiden Projekte eingesetzt. Die große Philosophie wird hier als eine dichterische Schöpfung neuer Denkwege und neuer Sprachformen betrachtet, und die Rolle der Dichtung als eine solche, die Einheit stiftet und die Dinge sammelt, so dass die Wahrheit und Gegenwart des Seins aus ihr heraus leuchtet. Siehe auch: Aristoteles, § 29; Hegel, G.W.F., § 8; Künstlerischer Ausdruck; Lessing, G.E. RICHARD M. SHUSTERMAN
Diderot, Denis (1713–1784)
Als führender Herausgeber der großartigen ‚Encyclopédie‘ (1751–1772) des 18. Jahrhunderts machte sich Diderot an eine Philosophie der Künste und der Wissenschaften, die den Fortschritt der Zivilisation als Maßstab der moralischen Verbesserung setzte. Er betrachtete diesen Fortschritt jedoch nicht als etwas, das universellen
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Dilthey, Wilhelm (1833–1911)
Nutzen hervorgebracht habe, und nahm die christliche Religion, die diesen Fortschritt begleitet hatte, als moralisch schädlich für diejenigen wahr, die sich ihr verschrieben, und noch gefährlicher für Gesellschaften, die bis dahin noch nicht von ihr berührt waren. Religiöse Dogmen würden dazu neigen, die organische Entwicklung der menschlichen Leidenschaften zu pervertieren, doch eine säkulare Erziehung, die darauf fuße, dass aller menschlicher Geist gleichermaßen gelehrig sei, würde die natürliche Evolution menschlicher Fähigkeit auf andere Weise zu behindern drohen. Wie Rousseau hing Diderot einer Philosophie der Erziehung an, die die Neugier ermutigt, statt Wahrheit zu verbreiten. Er betonte das Bedürfnis nach einer Anpassung der moralischen Vorschriften an die physiologischen Merkmale der Individuen, die sich nach ihnen richten sollen, und wies auf eine Verbindung zwischen den menschlichen Kulturen und der Biologie auf eine Weise hin, die gegen Ende des Zeitalters der Aufklärung eine frische Lebensauffassung gegenüber den Humanwissenschaften stimulierten. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische; Materialismus; Naturrecht ROBERT WOKLER
Digambara Jainismus Siehe: Jaina Philosophie
Dilthey, Wilhelm (1833–1911)
Wilhelm Dilthey sah sein Werk als einen Beitrag zu einer ‚Kritik der historischen Vernunft‘, die den Bezugsrahmen von Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ erweitern sollte, indem die erkenntnistheoretischen Bedingungen der Humanwissenschaften genauso einer Prüfung unterzogen werden wie jene der Naturwissenschaften. Beide Arten von Wissenschaften hätten ihren Ausgang beim alltäglichen Leben und der Erfahrung, wobei die Naturwissenschaften sich darauf konzentrierten, wie sich die Dinge unabhängig vom menschlichen Eingriff verhalten, während die Humanwissenschaften genau diesen Eingriff in Rechnung stellten. Die Naturwissenschaften würden die externe Beobachtung und Messung zur Konstruktion eines objektiven Bereichs der Natur verwenden, der von der Erfülltheit lebender Erfahrung abstrahiere. Die Humanwissenschaften3 hülfen dagegen bei der Bestimmung dessen, was Dilthey die ‚historische Welt‘ nennt. Unter Verwendung sowohl der inneren, als auch der äußeren Erfahrung bewahrten die Humanwissenschaften eine direktere Verbindung mit unserem ursprünglichen Lebenssinn als die Naturwissenschaften. Während die Naturwissenschaften nach Erklärungen der Natur suchten, indem sie gesonderte Repräsentationen äußerer Erfahrung mittels hypothetischer Verallgemeinerungen und Kausalgesetze zueinander in Verbindung setzten, zielten die Humanwissenschaften auf ein Verständnis ab, das die fundamentalen Strukturen des historischen Lebens, wie es sich in lebendiger Erfahrung zeigt, zum Ausdruck bringe. Indem er die gelebte Erfahrung innerlich verknüpft und bedeutungsvoll vorfindet, widersprach Dilthey der herkömmlichen atomistischen und assoziationistischen Psychologie und entwickelte eine deskriptive Psychologie, die als Vorwegnahme der Phänomenologie anerkannt wurde. Dilthey dachte zunächst, dass diese deskriptive Psychologie eine neutrale Grundlegung der anderen Humanwissenschaften leisten könnte, aber in seinen späteren hermeneutischen Schriften lehnte er diese Idee einer Grundlagendisziplin oder 3
Engl.: humanities and social sciences
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Diogenes Laertius (ca. 300 n. Chr. bis 50 n. Chr.)
-methode ab. Schließlich meinte er, dass alle Humanwissenschaften interpretierend sind und in gegenseitiger Abhängigkeit stünden. Hermeneutisch betrachtet ist das Verstehen ein Prozess der Interpretation der ‚Objektivationen des Lebens‘, der externen Ausdrücke oder Manifestationen des menschlichen Denkens und menschlicher Handlung. Interpersonales Verstehen wird durch diese beiden üblichen Objektivationen erreicht, und nicht, wie weithin geglaubt wird, durch Empathie. Überdies muss ich, um mich selbst vollständig zu verstehen, die Ausdrucksformen meines Lebens auf dieselbe Weise verstehen, wie ich die Ausdrucksformen anderer analysiere. Nicht jeder Aspekt des Lebens kann von den jeweiligen Grenzen der Natur- und der Humanwissenschaften erfasst werden. Diltheys Philosophie des Lebens lässt auch Raum für eine Art von anthropologischer Reflexion, durch die wir versuchen, den letzten Rätseln des Lebens und des Todes gerecht zu werden. Solche Reflexion finde ihren vollsten Ausdruck in Weltanschauungen, die allumfassende Sichten auf das Leben seien und die Art und Weise umfassen, wie wir die Welt wahrnehmen und begreifen, wie wir sie ästhetische bewerten und handelnd auf sie antworten. Dilthey nahm viele typische Weltanschauungen in der Kunst und der Religion wahr; in der westlichen Philosophie unterschied er aber nur drei immer wiederkehrende Typen: die Weltanschauungen des Naturalismus, des Idealismus der Freiheit und des Objektiven Idealismus. Siehe auch: Geschichte, Philosophie der; Hegelianismus; Hermeneutik; Historizismus; Phänomenologische Bewegung RUDOLF A. MAKKREEL
Diogenes Laertius (ca. 300 n. Chr. bis 50 n. Chr.)
Diogenes Laertius ist der Autor eines berühmten, 10-bändigen Werkes mit dem Titel ‚Leben der Philosophen‘ (gr.: ‚Philosophōn biōn kai dogmatōn synagōgē‘) mit fast einhundert Darstellungen individueller Philosophen. Dieses enthält hauptsächlich biographische Informationen, aber manchmal auch Zusammenfassungen ihrer Lehrmeinungen. Das Werk ist extrem wertvoll, weil es viele Informationen über griechische Philosophen aus Quellen bewahrt, die selbst inzwischen verloren sind. DAVID T. RUNIA
Diogenes von Sinope (412 oder 403 v. Chr. bis 324 oder 321 v. Chr.)
Diogenes von Sinope wurde neben Antisthenes als Gründer des Zynismus betrachtet. Seine Spitzname ‚der Zyniker‘, was wörtlich ‚der Hundeartige‘ heißt, wirft ein Licht auf den hochgradig unkonventionellen Lebensstil in vollständiger Armut, den er lebte und vertrat. Indem er die Beziehung der Menschheit sowohl zur Natur, als auch zur Zivilisation radikal umwertete, definierte Diogenes die Freiheit des Individuums und der Selbstgenügsamkeit neu und propagierte auch Übungen (gr.: askēsis) zur Erreichung von beidem. R. BRACHT BRANHAM
Diskriminierung
Ein prinzipielles Verbot der Diskriminierung wird weitgehend angewendet, um Handlungen und Politikformen zu kritisieren und zu verbieten, die rassische, ethnische und religiöse Gruppen, Frauen und Homosexuelle benachteiligen. Diskriminierende Handlungen stützen sich häufig auf unvorteilhaften Stereotypen des jeweiligen Gruppenbildes, sowie auf die Überzeugung, dass Mitglieder bestimmter Gruppen es nicht wert seien, gleichbehandelt zu werden. Ein Verbot der Diskriminierung 289
Diskriminierung, positive
kommt häufig bei der Verteilung wichtiger Vorteile zum Zuge, wie z.B. der Ausbildung und der Arbeitsplätze, und besagt, dass Menschen aufgrund von rassischen, ethnischen, religiösen oder geschlechtlichen Merkmalen weder belohnt werden, noch ihnen diese Vorteile verweigert werden können. Es wurden auch Versuche unternommen, dieses Prinzip auf die institutionelle Diskriminierung auszudehnen. Diskriminierung ist moralisch falsch, weil ihre Voraussetzung, dass eine Gruppe weniger wert sei als eine andere, für ihre Opfer beleidigend ist, denn sie schädigt ihre Opfer durch eine Minderung ihrer Selbsteinschätzung und Lebenschancen, und ferner ist sie unfair, weil der Diskriminierende nur des eigenen Vorteils wegen Gleiches ungleich behandelt. JAMES W. NICKEL
Diskriminierung, positive
Der Ausdruck ‚Positive Diskriminierung‘4 entstand unter Präsident Kennedy in den USA. Ursprünglich wurde er geschaffen, um die Gleichstellung von Angestellten und Bewerbern auf behördliche Arbeitsstellen sicherzustellen. Innerhalb eines Jahres wurde bereits der Ausdruck ‚affirmative action‘ jedoch zur Bezeichnung einer Politik verwendet, die darauf abzielte, Afro-Amerikaner in Folge einer ungerechten rassischen Diskriminierung zu entschädigen und ihre Beschäftigungschancen zu erhöhen. Eine bedeutende Folge davon war, dass der Ausdruck infolge dieses Wandels nunmehr ‚bevorzugte Behandlung‘ bedeutete. Die bevorzugte Behandlung wurde später auch auf Frauen, sowie auf andere rassische oder ethnische Weise benachteiligter Bevölkerungsteile ausgedehnt. Die Argumente zugunsten der bevorzugten Behandlung können nützlicherweise in rückwärts und vorwärts schauende eingeteilt werden. Rückwärts schauende Argumente stützen sich auf den Anspruch, dass die bevorzugte Behandlung von Frauen und benachteiligten rassischen Minderheiten diese Gruppen oder ihre Mitglieder für die allgemeinen Diskriminierung und die Ungerechtigkeiten entschädigt, die sie erlitten haben. Vorwärts schauende Argumente stützen sich auf ihren Anspruch, dass die bevorzugte Behandlung von Frauen und benachteiligten rassischen Minderheiten helfen wird, eine bessere Gesellschaft hervorzubringen. Beide Arten von Argumenten wurden vielfach kritisiert. Der am meisten verbreitete Vorwurf geht dahin, dass die bevorzugte Behandlung eine umgekehrte Form von Diskriminierung bedeute. Andere Kritiker fragen danach, wer genau entschädigt werden sollte, mit welchen Mitteln, zu welchem Zweck und auf wessen Kosten. Schließlich gibt es auch Bedenken wegen der unbekannten Folgen einer solchen Vorgehensweise. Es wurden Argumente entwickelt, die solche Schwierigkeiten entdecken und lösen sollten, aber die Zukunft der bevorzugten Behandlung scheint in einer Kombination der beiden Argumente zu liegen. Siehe auch: Gerechtigkeit BERNARD BOXILL
Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll) (1832–1898)
Dodgson, der in Oxford Mathematiklehrer war, ist vor allem unter seinem Pseudonym ‚Lewis Carroll‘ bekannt. Obwohl er kein außergewöhnlicher Mathematiker war, hat sich seine Wertschätzung im Licht der jüngsten Forschung doch um einiges erhöht. Zu vermerken ist auch, dass er ein symbolischer Logiker in der 4
Engl.: affirmative action
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Dostojewskij, Fjodor Mikhailovich (1821–1881)
Tradition von Boole und De Morgan war, sowie ein Pionier in der Wahltheorie und ein begabter Amateurfotograf. Seine literarische Produktion, die von satirischen Flugblättern, fröhlichen Versen und Rätseln bis zu einer enorm umfangreichen Korrespondenz reichen, ist ebenfalls im Wesentlichen amateurhaft und hätte kaum ohne den weltweiten Erfolg seiner drei Meisterwerke Alice’s Adventures in Wonderland (‚Alice im Wunderland‘, 1865) überlebt, Through the Looking Glass (‚Alice hinter den Spiegeln‘, 1871) und The Hunting of the Snark (‚Die Jagd nach dem Schnatz‘, 1876). Zusammen mit Teilen seiner zweibändigen Märchennovelle Sylvie und Bruno (1889/1893) sind dies die einzigen Schriften – offenkundig für Kinder verfasst – die die Aufmerksamkeit von Philosophen auf sich gezogen oder verdient haben. PETER HEATH
Dōgen (1200–1253)
Dōgen Kigen, der Gründer des japanischen Sōtō Zen Buddhismus, ist vor allem für seinen Spruch bekannt, dass die Meditation der Ausdruck oder die Inswerksetzung der Erleuchtung sei, doch kein Mittel zu ihrer Erlangung. Dōgen glaubte, dass sogar ein Novize schon Einsichten erlangen kann, wenn auch nur flüchtige. Die Schwierigkeit liege jedoch im Ausdruck dieser Einsichten in den täglichen, sowohl sprachlichen als auch nicht sprachlichen Handlungen einer Person. Bei der Entwicklung seiner Position formulierte Dōgen eine Phänomenologie des inkarnierten Bewusstseins und eine ausgeklügelte Analyse der Bedeutung. Seine Theorie der Einheit von Geist und Körper, der in einen Kontext gestellten Bedeutung, der Zeitlichkeit und des Verhältnisses von Theorie und Praxis beeinflussten viele prominente und moderne japanische Philosophen wie z.B. Watsuji Tetsurō, Tanabe Hajime und Nishitani Keiji. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Buddhistische Philosophie, Japanische; Japanische Philosophie; Wahrheit, deflationäre Theorien der THOMAS P. KASULIS
Doppelten Effekts, Prinzip des
Der Ausdruck ‚doppelter Effekt‘ bezieht sich auf die guten und schlechten Wirkungen, die voraussichtlich aus ein und derselben Handlung folgen werden. Das Prinzip der doppelten Wirkung entspringt der Ethik von Thomas von Aquin und soll die Entscheidung in Handlungssituationen mit doppelter Wirkung leiten, wo die schlechte Wirkung etwas ist, was man nicht beabsichtigen soll, wie beispielsweise den Tod einer unschuldigen Person. Das Prinzip erlaubt solche Handlungen nur, wenn die schlechte Wirkung nicht beabsichtigt, nicht unverhältnismäßig gegenüber der beabsichtigten guten Wirkung und unvermeidlich, wenn man die gute Wirkung erreichen will. Das Prinzip ist weitgehend relevant in der moralischen Bewertung von Handlungen, die voraussichtlich eine doppelte Wirkung haben werden. Kontroversen entzünden sich an der Identifikation der Absicht des Akteurs in schwierigen Fällen, sowie am Einsatz des Prinzips zur Lösung solcher Fragen wie die Zulässigkeit der Abtreibung, der Euthanasie5, dem Gebrauch von schmerzlindernden Mitteln, die den Eintritt des Todes beschleunigen, der Selbstverteidigung und der Tötung bestimmter Gruppen von Nicht-Kämpfern im Krieg. Siehe auch: Intention; Verantwortung SUZANNE UNIACKE Zur unterschiedlichen Bedeutung des Wortes ‚Euthanasie’ im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum siehe Anm. 1 zum Stichwort Leben und Tod. [WS]
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Doppelten Effekts, Prinzip des
Dostojewskij, Fjodor Mikhailovich (1821–1881)
Dostojewskij, der als einer der größten Romanciers der Welt gilt, ist berühmt für seine Meisterschaft der philosophischen und ideologischen Fiktion. In seinen Werken bringen die handelnden Charaktere verwickelte Ideen zur Theologie, der Moral und der Psychologie zum Ausdruck. Die Handlungen sind von Ideenkonflikten und von der Wechselwirkung von Theorien mit der Psychologie der Menschen, die sie vertreten, geformt. Tatsächlich wird Dostojewskij gemeinhin als einer der größten Psychologen in der Geschichte des westlichen Denkens betrachtet, und zwar nicht nur wegen seiner Darstellungen des Geistes, die seine Charaktere und Erzähler erklären, sondern auch wegen dem je eigenen Verhalten, durch das sie die Tiefe ihrer Seelen verraten. Dostojewskij ragt hier vor allem wegen seiner Beschreibung des Irrationalen in seiner Vielgestaltigkeit heraus. Indem sich Dostojewskij stark mit den politischen und sozialen Problemen seiner Zeit beschäftigte, hatte sein Verständnis der individuellen und sozialen Psychologie Einfluss auf zeitgenössische Themen und gab ihnen eine anhaltende Relevanz. Seine Voraussagen über die wahrscheinlichen Konsequenzen einflussreicher Ideen, wie beispielsweise jener des Kommunismus und der Sozialtheorie des Verbrechens, haben sich als erstaunlich präzise erwiesen. Er wurde oft als Prophet des 20. Jahrhunderts angesehen. Sein Ruhm beruhte vor allem auf vier umfangreichen, philosophischen Romanen: ‚Prestuplenie i nakazanie‘ (‚Verbrechen und Strafe‘, 1866), ‚Idiot‘ (‚Der Idiot‘, 1868–1869), ‚Besy‘ (‚Die Dämonen, 1871–1872) und ‚Brat’ia Karamazovy‘ (‚Die Brüder Karamasov‘, 1879–1880), sowie einer Novelle, ‚Zapiski iz podpol’ia‘ (‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘, 1864). Zu seiner Zeit war Dostojewskij ebenso berühmt infolge seiner journalistischen Beiträge wie infolge seiner Romane, und einige wenige seiner Artikel sind zu Klassikern geworden, einschließlich jenes mit dem Titel ‚Herr D…bov und die Frage der Kunst‘ von 1861, der eine Kritik der utilitaristischen Ästhetik enthält, und ‚Umwelt‘ von 1873. Dostojewskijs Arbeiten hatten einen starken Einfluss auf die westliche und die russische Philosophie. In Russland inspirierten seine Romane zahlreiche religiöse Denker, einschließlich Sergei Bulgakov und Nikolai Berdiaev, Existenzialisten wie Lev Shestov und literarische und ethische Theoretiker, unter denen Mikhail Bakhtin herausragt. Im Westen war sein Einfluss ebenfalls groß. Hier werden seine Werke ebenfalls (zusammen mit denen von Kierkegaard) als grundlegend für den Existenzialismus genannt. Vielleicht infolge einer irrtümlichen Interpretation beeinflussten sie auch Freud und den Freudianismus. Direkt und vermittelt durch Bakhtin spielten seine Ideen eine gewisse Rolle beim Überdenken des Verhältnisses von Geist und Sprache. Und seine Ablehnung des Utopismus und des Sozialismus wurden wiederholt in politischen Debatten und Theorien des 20. Jahrhunderts zitiert. Dostojewskijs Einfluss hatte vielerlei Gestalt und war zeitweise widersprüchlich, teilweise infolge der unterschiedlichen Genres, in denen seine Ideen zum Ausdruck kamen. Nicht nur die Bedeutung seiner Romane insgesamt, sondern auch die Standpunkte seiner Charaktere, einschließlich jener, die er widerlegen wollte, wurden ihm zugeschrieben. Ferner drücken seine Aufsätze die zugrunde liegenden Ideen manchmal abweichend von den Romanen aus. Kürzlich wurde eine philosophische Bedeutung nicht nur des Inhalts, sondern auch der Form seiner 292
Dreifaltigkeit
Romane entdeckt. Ihre seltsamen Handlungsverläufe haben, wie gezeigt wurde, Folgen für das Verständnis der Autorenrolle, der menschlichen Verantwortung und der Zeit. Siehe auch: Bakhtin, M.M.; Berdiaev, N.A.; Existenzialismus GARY SAUL MORSON
Dreifaltigkeit
Die Lehre der heiligen Dreifaltigkeit ist ein zentrales und wesentliches Element der christlichen Theologie. Jener Teil der Lehre, der hier von besonderer Bedeutung ist, lässt sich so formulieren: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sind jeder Gott; sie sind voneinander verschieden, und doch (in den Worten des Athanasischen Glaubenbekenntnisses) ‚sind es nicht drei Götter, sondern ein Gott’. Dies erklärt sich nicht dadurch, dass man sagt, ‚der Vater’, ‚der Sohn’ und ‚der Heilige Geist’ seien drei Namen des einen Gottes unter unterschiedlichen Bedingungen, noch erklärt sich dies dadurch, dass man sagt, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist seien Teile oder Aspekte von Gott wie die Blätter eines Kleeblattes oder die Seiten eines Würfels. Vielmehr gilt laut den Worten Augustinus: „Daher gibt es den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, und jeder ist Gott, und zur selben Zeit sind alle Gott; und jeder von ihnen ist eine vollständige Substanz, und zur selben Zeit sind sie alle eine Substanz. Der Vater ist weder der Sohn, noch der Heilige Geist; der Sohn ist weder der Vater, noch der Heilige Geist; der Heilige Geist ist weder der Vater, noch der Sohn. Sondern der Vater ist einzig der Vater; der Sohn ist einzig der Sohn; und der Heilige Geist ist einzig der Heilige Geist.“ (‚De doctrina christiana’, I 5,5) Die Doktrin der Dreifaltigkeit (auch ‚Trinitätslehre’ genannt) scheint auf den ersten Blick logisch inkohärent zu sein. Sie scheint zu implizieren, dass die Identität nicht transitiv sei, denn der Vater ist identisch mit Gott, der Sohn ist identisch mit Gott, und dennoch ist der Vater nicht identisch mit dem Sohn. Kürzlich gab es zwei Versuche auf Seiten von Philosophen zur Verteidigung der logischen Kohärenz der Lehre. Richard Swinburne hat vorgeschlagen, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist als numerisch verschiedene Götter gedacht werden können, und er machte geltend, dass dieser Vorschlag bei richtigem Verständnis mit der historischen Orthodoxie in Einklang zu bringen sei. Peter Geach und einige andere schlugen vor, dass eine kohärente Formulierung der Lehre unter der Voraussetzung möglich sei, dass die Identität ‚immer relativ zu einem sortalen6 Term’ ausgesagt werde. Swinburnes Formulierung der Dreifaltigkeitslehre ist sicherlich frei von logischer Inkohärenz; es ist jedoch fraglich, ob sie sich mit der historischen Orthodoxie vereinbaren lässt. Was die Formulierung der Lehre als ‚relative IdentiSortale Ausdrücke bezeichnen Arten oder Sorten von Dingen. So sind z.B. Worte wie ‚Baum’ oder ‚Fixstern’ sortale Ausdrücke. Das Wort ‚Person’ ist dagegen offenbar kein sortaler Ausdruck, weil wir durch ihn nicht etwas als Fall einer Art kennzeichnen und dadurch identifizieren können. Auf die Frage: ‚Was ist das?’ antworten wir nicht: ‚Das ist eine Person’, so wie wir sagen würden: ‚Das ist ein Mensch’ oder ‚Das ist eine Lampe’. Wir müssen vielmehr schon zuvor wissen, ob dies ein Mensch oder eine Lampe ist, um wissen zu können, ob es eine Person ist. Der Ausdruck ‚Person’ steht zum Ausdruck ‚Mensch’ nicht im Verhältnis einer Art zu ihrer Gattung, sondern die Person ist etwas an einem Menschen, nämlich die Persönlichkeit eines Menschen. ‚Person’ ist also keine Art der Gattung ‚Mensch’. Folglich sind nicht alle Begriffe nur deshalb, weil sie keine Eigennamen sind, bereits Sortale. [WS]
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tät’ angeht, würden sicherlich nicht alle Philosophen zustimmen, dass eine solche Idee, derzufolge die Identität immer relativ zu einem sortalen Ausdruck gegeben sei, überhaupt verständlich sei. Siehe auch: Identität; Substanz PETER VAN INWAGEN
Dualismus Einführung Als Dualismus bezeichnet man die Auffassung, dass mentale Phänomene in mancher Hinsicht nicht-physikalischer Art sind. Seine bekannteste Fassung ist die von Descartes, der behauptet, dass der Geist eine nicht-physikalische Substanz ist. Descartes argumentierte, dass der Geist, weil er keine räumlichen Eigenschaften aufweist und die physikalische Realität vor allem im Raum ausgedehnt ist, vollkommen nicht-physikalisch ist. Jeder Mensch ist folglich eine Zusammensetzung zweier Gegenstände: eines physikalischen Körpers und eines nicht-physikalischen Gegenstandes, das der Geist dieses Menschen ist. Nach einer schwächeren Form des Dualismus, den zeitgenössische Denker für annehmbarer halten, sind Menschen physische Substanzen, die jedoch mentale Eigenschaften haben, und diese Eigenschaften sind nicht physikalischer Art. Dieser Standpunkt ist unter dem Namen ‚Eigenschaftendualismus‘7 bekannt. Es gibt verschiedene Überlegungen zur Unterstützung des Dualismus. Mentale Phänomene unterscheiden sich auffallend von allen anderen, und die Vorstellung, dass sie nicht physikalischer Natur sind, mag erklären, was gerade das Besondere an ihnen ist. Ferner entspricht die physikalische Realität Gesetzen, die in rein mathematischer Form aufgestellt wurden. Weil aber mentale Phänomene wie das Denken, das Wünschen und das Wahrnehmen sich hartnäckig einer mathematischen Beschreibung zu verweigern scheinen, ist es verführerisch zu schließen, dass diese Phänomene nicht physikalischer Natur sind. Hinzu kommt, dass viele mentale Zustände bewusste Zustände sind, also Zustände, derer wir uns auf eine Weise bewusst sind, die vollkommen unvermittelt zu sein scheint. Und viele Menschen würden deshalb sagen, dass unabhängig von der Natur der mentalen Phänomene, die nicht bewusster Art sind, das Bewusstsein zumindest nicht physikalischer Natur sein kann. Es gibt jedoch auch Gründe, sich dem Dualismus zu widersetzen. Menschen und andere Geschöpfe mit mentaler Ausstattung existieren vermutlich vollständig als Teil der natürlichen Ordnung, und es wird allgemein angenommen, dass alle natürlichen Phänomene auf fundamentalen physikalischen Bestandteilen aufbauen. Der Dualismus repräsentiert den Geist allerdings als etwas Einzigartiges, dass außerhalb dieses einheitlichen physikalischen Bildes steht. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Kausalbeziehung zwischen dem Geist und dem Körper. Mentale Ereignisse rufen oft körperliche hervor, so beispielsweise, wenn ein Wunsch eine Handlung hervorruft, und körperliche Ereignisse rufen oft mentale hervor, beispielsweise bei der Wahrnehmung. Aber die kausalen Interaktionen, in die physikalische Ereignisse eingehen, werden von Gesetzen gesteuert, die physikalische Ereignisse miteinander verbinden. Wenn also das Mentale nicht physischer Art ist, wird es schwer verständ7
Engl.: property dualism oder dual-aspect theory
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lich, wie mentale Ereignisse kausal mit körperlichen Ereignissen zusammenwirken können. Aus diesen Gründen und noch weiteren ist der Dualismus, trotz mehrerer Gründe, die zu seiner Unterstützung vorgetragen wurden, eine theoretisch unkomfortable Position. 1. ‚Geistig‘ und ‚physikalisch‘ 2. Dualismus und die Physik 3. Qualitative Zustände 4. Einwände gegen den Dualismus 5. Dualismus und Bewusstsein 6. Dualismus und der Begriff des Geistes 1. ‚Geistig‘ und ‚physikalisch‘ Dem Dualismus liegt eine starke Intuition zugrunde, dass die gewöhnlichen Tätigkeiten von Menschen grundsätzlich von zwei unterschiedlichen Arten sind. Vieles von dem, was uns zustößt, ist grundlegend physikalischer Art, genauso wie die Eigenschaften und das Verhalten von Dingen wie z.B. Steine, Häuser und Planeten. Wir denken aber auch, wir wünschen und nehmen Dinge wahr, und wir haben Gefühle wie beispielsweise Freude und Angst. In dieser Hinsicht scheinen wir uns auf dramatische Weise von solchen rein physikalischen Gegenständen wie Steinen und Planeten zu unterscheiden. Es ist ganz selbstverständlich, diese Beobachtungen durch die Idee fassen zu wollen, dass alle konkrete Wirklichkeit entweder geistiger oder physikalischer Natur ist, und nichts beides ist. Nicht nur, dass das Geistige und das Physikalische alles erschöpfend umfassen; sie sind auch gegenseitig exklusiv. Diese Schlussfolgerung führt zu einer Form von Dualismus. Entweder besteht jede Person aus einer nicht-physikalischen Substanz, die im Zweiergespann mit einem rein physikalischen Körper operiert, oder die Menschen haben zumindest gewisse Zustände oder Eigenschaften, die nicht physikalischer Art sind. Es lohnt sich hier zu betonen, dass der Dualismus voraussetzt, dass sich das Geistige und das Physische gegenseitig ausschließen. Wäre dies nicht so, so könnten also mentale Substanzen auch physischer Art sein, und mentale Zustände wie z.B. Gedanken und Empfindungen wären dann nicht einfach geistiger Art, sondern auch physikalischer. Darüber hinaus impliziert der im Alltagsdenken vorgenommene Gegensatz zwischen dem Geistigen und dem Physischen nicht von sich aus, dass geistige Phänomene außerhalb des Reichs des Physischen liegen. Wir sehen of einen besonderen Bereich von Phänomenen im Gegensatz zum Physischen, selbst dann, wenn die betrachteten Phänomene, genau besehen, physischer Natur sind; man bedenke beispielsweise den Gegensatz in der Computersprache zwischen einer physikalischen und einer logischen Festplatte. Mentale Phänomene sind zwar anders als alle anderen, aber sehr ausgeprägte Phänomene und sind aus diesem Grund bereits nicht-physikalischer Art. Es gibt aber immer noch Gründe zu denken, dass geistige und physische Kategorien in der Tat voneinander getrennt sind. Zum einen wird eingewandt, dass sie, wären sie nicht getrennt, wir gar nicht erfassen könnten, was das Unterscheidende am Geist ist. Wenn Menschen einfach physikalische Substanzen wären und ihre geistigen Zustände einfach besondere Arten physikalischer Zustände, dann wären wir nicht in der Lage, den auffallenden Unterschied zwischen Menschen und paradig-
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matisch physischen Gegenständen wie beispielsweise Steinen und Häusern zu erklären. Manch einer ging so weit zu behaupten, dass das Wesentliche des Geistigen im Grunde schlicht dasjenige sei, was nicht physikalischer Natur ist. Dieses Argument lädt jedoch zum Widerspruch ein, denn wir können den Gegensatz zwischen Steinen und Menschen erklären, ohne annehmen zu müssen, dass der Geist und die Physis einander ausschließende Kategorien sind. Betrachten wir einen parallelen Fall. Wenn wir uns auf lebende Dinge konzentrieren, so ist es selbstverständlich, die biologischen Phänomene solchen physikalischen Gegenständen wie Steinen und Sternen gegenüber zu stellen. Dies führt uns aber nicht zu der Schlussfolgerung, dass das Biologische und das Physikalische gegenseitig ausschließende Kategorien sind, und auch nicht dazu, dass lebende Dinge nicht rein physischer Art sind. Vielmehr sind lebende Organismen physische Objekte, wenn auch sehr spezielle, und wir brauchen nichts Unphysikalisches zu bemühen, um das Besondere an ihnen zu hervorzuheben (siehe Vitalismus). Der Dualismus impliziert, dass sich die Dinge im Falle des Geistes anders verhalten. Das heißt, er impliziert, dass wir zum Begreifen des Besonderen an der mentalen Tätigkeit Substanzen oder Eigenschaften behaupten, die nicht physikalischer Art sind. Wenn wir auf der anderen Seite den Geist auch ohne die Behauptung von irgendetwas Nicht-Physikalischem darstellen können, dann ist der Dualismus ebenfalls falsch. Die Hypothese, derzufolge dies möglich sein soll, heißt ‚Geist-KörperMaterialismus‘, und sie wurde besonders kraftvoll in einer Fassung vorgetragen, die die ‚Identitätstheorie des Geistes‘ genannt wird (siehe Geistes, Identitätstheorie des). Ist eine solche Darstellung möglich? Nach Descartes gehört es zum Wesen alles Physischen, dass es räumlich erstreckt ist, und räumliche Erstreckung impliziert die Zusammensetzung aus Teilen. So können wir jedes physische Objekt als in seine Teile zerlegt begreifen; diese Teile wären selbst wieder ausgedehnt und folglich ebenfalls physische Objekte. Descartes meinte aber auch, dass dasselbe nicht für den Geist gilt. Der Geist, so behauptete er, ist nicht nur eine reine Sammlung mentaler Zustände, wie dies z.B. die Bündeltheorie behauptet (siehe Geistes, Bündeltheorie des). Stattdessen sind alle menschlichen Geister ihrem Wesen nach vereint. Deshalb können wir uns auch nicht vorstellen, wie ein menschlicher Geist in Teile zerlegt werden sollte. Eine befriedigende Beschreibung des Geistigen impliziere daher, dass der Geist nicht-physikalisch sei (siehe Descartes, R., § 8). Selbst wenn man die Bündeltheorie beiseite lässt, gibt es jedoch Gründe, dieses Argument in Frage zu stellen. Die chirurgische Trennung der neuronalen Wege, die die beiden zerebralen Gehirnhälften miteinander verbinden, führt zu verblüffenden experimentellen Verhaltensänderungen, von denen einige Forscher annehmen, dass sie die postoperative Gegenwart zweier voneinander getrennter, bewusster Geister ergeben. Auch führen Gehirnverletzungen manchmal zur Dissoziation mentaler Funktionen, was ebenfalls nahe legt, dass ein normal einheitlicher Geist geteilt werden kann. Solche Ergebnisse lassen die herkömmlichen Ideen über die mentale Einheit zweifelhaft erscheinen, und allein die Möglichkeit dieser Interpretation untergräbt Descartes’ Behauptung, dass wir uns einen in Teile gespaltenen Geist nicht einmal vorstellen können. Zur Stützung des Dualismus bräuchten wir daher irgendeinen anderen Grund um annehmen zu können, dass eine befriedigende Beschreibung des Geistes auf nicht-physikalische Weise geschehen muss. 296
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Nach Descartes’ wohl bekanntem cogito ist die Aussage, ‚ich bin‘ bzw. ‚ich existiere‘ immer dann wahr, wenn ich dies behaupte oder es mir mental klar mache, und das ‚ich‘, dessen Existenz ich hierdurch setze, mein Geist und nicht mein Körper ist. Descartes erkennt jedoch ausdrücklich an, dass diese Überlegungen kein Argument für den Dualismus hergeben. Stattdessen errichten sie nach seiner Auffassung bestenfalls bzw. nur eine begriffliche Differenz zwischen dem Geist und dem Körper, und keinen ‚wirklichen Unterschied‘, für den er sich davon unabhängig durch seine Berufung auf die Teilbarkeit einsetzt. 2. Dualismus und die Physik Um zu zeigen, dass der Geist nicht-physikalischer Natur ist, müssen wir nicht nur wissen, was es heißt, dass etwas geistiger Natur ist, sondern auch, was es heißt, dass etwas physischer Natur ist. Descartes stützte sich auf die vermeintliche Unteilbarkeit des Geistes, sowie auf eine Konzeption des Physischen als dem Teilbaren. Diese Konzeption der physischen Realität beruht wiederum auf Descartes’ Überzeugung, dass die wesentlichen Eigenschaften physischer Realität alle ihre geometrischen Eigenschaften seien. Es gibt aber noch eine andere Konzeption der physikalischen Wirklichkeit, die den Dualismus zu unterstützen scheint. Die wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten vier Jahrhunderte zeigen uns ein Bild, in dem die Gesetze, die die physische Wirklichkeit steuern, auf strikt mathematische Weise invariant formuliert sind. Wie bereits Galileo in seiner Schrift ‚Die Goldwaage‘ sagte, ist das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben. Diese Vorstellung erfasst den mathematischen Charakter der Physik auf allgemeinere Weise als Descartes’ Behauptung, dass die wesentlichen Eigenschaften der physischen Wirklichkeit alle geometrisch sind. Dies gibt wiederum ein weniger beschränktes Argument für den Dualismus, und zwar unabhängig von konkreten Behauptungen darüber, was für den Geist wesentlich ist. Was auch immer die Natur des Denkens, des Empfindens, des Wünschens und des Fühlens ist, so kann man doch immer mit gutem Grund bestreiten, dass es strikte mathematische Gesetze gibt, die solche Zustände leiten. Nach dieser Konzeption des Physischen wären mentale Zustände dann keine physischen mehr. Das Argument in seiner gerade vorgetragenen Formulierung unterstützt den Eigenschaftsdualismus, nach dem es keine mentalen Zustände oder Eigenschaften gibt, die physikalischer Natur sind. Wir können das Argument jedoch anpassen, damit es auch den Substanzdualismus unterstützt: Wenn mentale Substanzen existieren, dann wird ihr Verhalten vermutlich nicht von mathematisch formulierbaren Gesetzen geleitet; damit wären solche Substanzen nicht physischer Natur. Dieses Argument ist flexibler als Descartes’ Berufung auf die Unteilbarkeit, die sich weniger schmiegsam an den Fall des Eigenschaftsdualismus anpasst. Dies ist wichtig, denn die zeitgenössische Bemühung um den Dualismus hält sich fast immer an den Eigenschaftsdualismus, und nicht den Substanzdualismus. Dies hat seinen Grund teilweise in Zweifeln, ob der herkömmliche Substanzbegriff sinnvoll ist. Anderenteils liegt aber auch sein Grund in einer Gewohnheit, die sich den Geist der Menschen nicht als gar keine Art von Substanz vorstellt, sondern stattdessen als die Gesamtheit ihrer mentalen Funktionen, einschließlich ihrer Fähigkeiten und Dispositionen, soweit sie mentaler Art sind. 297
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Es gibt verschiedene Gründe für die Auffassung, dass mentale Zustände nicht Gegenstand mathematisch formulierbarer Gesetze sein können. Wir beschreiben unsere Gedanken und Wünsche im Hinblick auf die Gegenstände, auf die sie sich richten. Die Eigenschaft des Auf-etwas-gerichtet-Seins und die damit zusammenhängenden Eigenschaften werden intentionale Eigenschaften genannt (siehe Intentionalität). Mentale Zustände können sich auf etwas richten, das nicht existiert; wir alle denken manchmal an und wünschen uns nichtexistente Dinge. So sind also das Denken und das Wünschen in gewisser Hinsicht ähnliche Beziehungen, die jemand zu nichtexistenten Gegenständen unterhalten kann. Aber solche scheinbaren Beziehungen, die sogar zu nichtexistenten Dingen hergestellt werden können, können nicht Bestandteil mathematischer Beschreibungen von Dingen sein. Es gibt noch andere Arten mentaler Zustände, die im strikten Wortsinne auf nichts gerichtet sind. Beispiele hierfür sind körperliche Empfindungen wie der Schmerz und das Jucken und Wahrnehmungszustände wie die visuellen Erfahrungen. Die unterscheidenden Eigenschaften solcher Zustände sind nicht ihre intentionalen Eigenschaften, sondern vielmehr gewisse qualitative Eigenschaften, beispielsweise die Rotheit einer visuellen Erfahrung oder der dumpfe, hämmernde Charakter eines Schmerzes (siehe Qualia). Auch hier erscheint es unwahrscheinlich, dass diese Eigenschaften in mathematisch formulierbaren Gesetzen erfassbar sind. Diese intentionalen und qualitativen Eigenschaften sind, so könnte man durchaus meinen, die unterscheidenden Merkmale der mentalen Zustände, also jene Eigenschaften, aufgrund von denen wir diese Zustände identifizieren und sie von allen anderen unterscheiden. Wir können nicht behaupten, dass mentale Zustände physikalischer Natur sind, indem wir einfach leugnen, dass sie diese Eigenschaften aufweisen. Unser intuitiver Eindruck, dass diese Eigenschaften sich einer mathematischen Beschreibung widersetzen, mag jedoch trügerisch sein. Man vergleiche unsere Intuitionen über gewöhnliche, makroskopische Gegenstände. Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass diese Gegenstände verschiedene alltägliche Eigenschaften haben wie z.B. solche der Farbe, des Geschmacks oder des Geruchs. Und wir begreifen die alltäglichen physischen Eigenschaften als qualitative dergestalt, dass sie sich einer mathematischen Beschreibung zu entziehen scheinen. Wir können diese Eigenschaften aber gleichwohl mathematisch verstehen: beispielsweise können wir die Farben von Körpern als physikalische Reflexion darstellen (siehe Farbe, Theorien der). Vielleicht können wir dann auch die intentionalen und qualitativen Eigenschaften mentaler Zustände auf eine Art und Weise erklären, die einer mathematischen Beschreibung dieser Eigenschaften zugänglich ist. Der weitere ungefähre Gang solcher Erklärungen dürfte klar sein. Es wurde vorgebracht, dass beispielsweise der Gedanke an etwas so zu verstehen sei, dass dieser Gedanke einen bestimmten Inhalt habe (siehe Propositionale Einstellung), und dass wir diesen Inhalt nun auf eine wissenschaftlich befriedigende Weise erklären könnten. Vieles an den mentalen Zuständen ist einer quantitativen Behandlung zugänglich, wie jedes Standardlehrbuch über Wahrnehmungen zeigt. Eine erfolgreiche Theorie der mentalen Eigenschaften wird also vielleicht zeigen, wie diese Eigenschaften auf akzeptable Weise in wissenschaftliche Begriffe übersetzt werden können. Die Vorstellung, dass mentale Eigenschaften sich einer wissenschaftlichen Behandlung widersetzen, mag daher nur den gegenwärtigen Theoriestand wiederge298
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ben, so wie auch viele alltägliche physikalische Eigenschaften einer mathematischen Behandlung unzugänglich schienen, so lange die entsprechende Wissenschaft noch nicht genug fortgeschritten war. 3. Qualitative Zustände Gleichwohl wird von vielen Seiten eingewandt, dass unabhängig davon, was auch immer die Wissenschaften zeigen mögen, die qualitativen Eigenschaften nicht physikalischer Art sein können. Alle physischen Gegenstände sind aus farblosen Mikropartikeln zusammengesetzt. Daher ist man versucht zu meinen, dass keiner der physischen Gegenstände farbig ist. Wir beschreiben jedoch visuelle Wahrnehmungen in Begriffen der Farbigkeit, z.B. als rote oder grüne Empfindungen. Wenn aber nichts Physisches farbig ist, und nur die visuellen Empfindungen dies sind, dann können diese visuellen Empfindungen nicht physischer Art sein. In der Tat ist es so, dass, wenn physische Gegenstände nicht farbig sind, die Farbe offenbar keine physische Eigenschaft ist. Wenn wir aber einen physischen Gegenstand beispielsweise als rot beschreiben, so ist diese Farbe eine bestimmte unterschiedene Eigenschaft im Verhältnis zu denen, die wir manchmal den visuellen Empfindungen zuschreiben. Die physische Farbe ist die Eigenschaft einer bestimmten Art von Gegenstand, nämlich den physischen Gegenständen. Visuelle Empfindungen sind jedoch überhaupt keine Gegenstände. Sie sind Zustände von Menschen und anderen empfindenden Kreaturen. Da die Eigenschaften, die Gegenstände haben, sich von denen mentaler Zustände unterscheiden, ist die Farbe visueller Eindrücke eine andere Eigenschaft als jegliche, die physische Gegenstände haben können. Die Leugnung der Farbe physischer Gegenstände beweist daher nicht, dass visuelle Wahrnehmungen, nur weil sie Farbeigenschaften aufweisen, auch nicht-physikalischer Art sein müssen. Dagegen wurde manchmal eingewandt, dass wir, solange wir von der Gegensätzlichkeit von Gegenständen und mentalen Zuständen ausgehen, nicht zur Unterscheidung unterschiedlicher Empfindungen imstande sein werden, die wir zu irgendeinem Zeitpunkt haben. Und Empfindungen sind offenkundig keine physischen Gegenstände. Wenn sie also Gegenstände irgendeiner Art sein sollen, so müssen sie nicht-physikalische Gegenstände sein. Es ist aber wahrscheinlich, dass wir sämtliche Unterscheidungen, die man zwischen Empfindungen als Gegenständen treffen kann, auch erhalten werden können, wenn man sie stattdessen als mentale Zustände konstruiert. Da körperliche und sinnliche Empfindungen keinerlei Gegenstände sind, sondern vielmehr Zustände empfindender Geschöpfe, besteht tatsächlich ein kategorialer Unterschied zwischen Empfindungen und physischen Gegenständen. Aber dieser kategoriale Unterschied besteht nur zwischen den Gegenständen und ihren Zuständen und ist daher von sich aus für den Dualismus irrelevant. 4. Einwände gegen den Dualismus Obwohl die Eigenart des Physischen auch einem wesentlichen Argument für den Dualismus zugrunde liegt, meint man andererseits von einem bestimmten physikalischen Prinzip, es zeige, dass die dualistische Auffassung falsch ist. Dieses Prinzip besagt, dass in einem geschlossenen physikalischen System, d.h. in einem gegenüber anderen physikalischen Systemen abgeschlossenen System, die Gesamtenergie konstant bleibt. Wenn aber mentale Ereignisse nicht physikalischer Natur 299
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sind, dann ereignet sich physische Bewegung, sofern mentale Ereignisse körperliche Ereignisse hervorrufen können, ohne jegliche physische Ursache. Dies müsste dann zu einem Anwachsen der Gesamtenergie in dem entsprechenden geschlossenen System führen. Die mentale Verursachung körperlicher Ereignisse geriete folglich mit dem Satz von der Energieerhaltung in Widerspruch. Selbst wenn der Dualismus wahr ist, treten solche Probleme nicht auf, wenn körperliche Ereignisse mentale Ereignisse verursachen. Wenn körperliche Ereignisse mentale Ereignisse auslösen, so lösen sie vermutlich auch andere physische Ereignisse aus, die für die Energieerhaltung sorgen. Teilweise, weil dieses Problem nur in einer kausalen Richtung aufzutreten scheint, haben einige Theoretiker eine Version des Dualismus vertreten, die als Epiphänomenalismus bekannt ist. Nach dieser Auffassung sind mentale Ereignisse nicht-physikalischer Art und werden durch physische Ereignisse hervorgerufen, sind dabei aber selbst kausal träge (siehe Epiphänomenalismus). Der Epiphänomenalismus vermeidet auf diese Weise den Konflikt mit dem Energieerhaltungssatz. Eine noch extremere Variante des Epiphänomenalismus, die als Parallelismus bekannt ist, vermeidet ebenfalls diese Schwierigkeit, indem sie abstreitet, dass überhaupt irgendeine kausale Wechselwirkung zwischen mentalen und körperlichen Ereignissen stattfindet. Um diese Varianten von der Standardauffassung zu unterscheiden, derzufolge sich die kausale Wechselwirkung in beide Richtungen ereignet, wird diese Auffassung auch Interaktionismus genannt. Der Dualist muss sich allerdings nicht der unintuitiven Vorstellung anschließen, dass mentale Ereignisse niemals körperliche Ereignisse hervorrufen. Die Energieerhaltung schreibt uns nur vor, dass die Energie innerhalb eines geschlossenen physikalischen Systems konstant ist, nicht dagegen, wie die Energie innerhalb dieses Systems verteilt ist. Da mentale Ereignisse körperliche Veränderungen hervorrufen könnten, indem sie die Energieverteilung innerhalb eines Systems ändern, schließt der Energieerhaltungssatz nicht aus, dass der Geist eine körperliche Wirkung hervorruft. Eine zweite Schwierigkeit, die öfters angesprochen wird, hat ebenfalls mit der kausalen Wechselwirkung zwischen dem Physischen und dem Nichtphysischen zu tun. Wir scheinen recht gut zu verstehen, wie physische Ereignisse einander verursachen. Man nimmt jedoch gemeinhin an, dass die kausale Interaktion zwischen Geist und Körper schlichtweg uneinsehbar ist und deshalb gar nicht stattfinden kann. Dabei wird eingewandt, dass wir nicht die geringste Vorstellung davon haben, wie nichtphysikalische Ereignisse von physikalischen verursacht werden können oder umgekehrt. Wie die Dinge vor sich gehen, verstehen wir allerdings nur im Zusammenhang einer Theorie, die die relevanten Ereignisse ordnet und uns sagt, wie diese Phänomene zu den jeweils anderen passen. Ihr Verständnis setzt keine wissenschaftliche Theorie voraus. Wir verlassen uns oft auf informelle, alltägliche und populäre Theorien. Wir brauchen aber die eine oder andere Theorie. Die physikalische Verursachung scheint also nur verständlich zu sein, sofern wir über Theorien verfügen, die die jeweiligen Fälle abdecken. Und weil wir über keine Theorie verfügen, die die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper beschreibt, haben wir keine Möglichkeit zu verstehen, wie so etwas vor sich gehen kann. Die Uneinsehbarkeit an dieser Stelle sagt jedoch nicht, dass sich solche Wechselwirkungen nicht ereignen können, sondern nur, dass wir im Augenblick über keine passende Theorie verfügen, unter 300
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die sie bei ihrem Auftreten fallen könnten. Und selbst wenn wir keine solche Theorie entwickeln können, so heißt dies nicht, dass eine Geist-Körper-Wechselwirkung unmöglich ist; dies kann auch schlicht an unseren begrenzten Fähigkeiten zum Verständnis solcher Dinge liegen. Ein dritter Einwand betrifft ebenfalls die kausale Wechselwirkung. Damit nichtphysikalische Ereignisse körperliche Ereignisse hervorrufen können, müssen die betreffenden nichtphysikalischen Ereignisse in die gewöhnliche Ereignisfolge körperlicher Ursachen und Wirkungen eingreifen. Dagegen wurde eingewandt, dass dies irgendwo in der Kette körperlicher Ereignisse eine bemerkbare zeitliche Verzögerung zur Folge haben müsste. Weil es aber keine solche Verzögerung gibt, irrt der Dualismus angeblich. Die kausale Wechselwirkung muss aber keineswegs irgendeine relevante zeitliche Verzögerung zur Folge haben. Man denke an die Wirkungen der Schwerkraft, deren Ausbreitungsgeschwindigkeit auf jener Zeitskala, die für das Gehirn und andere körperliche Ereignisse relevant ist, nicht zu bemerken ist. Schlussendlich scheinen die Standardeinwände gegen den Dualismus nicht besser zu sein als die Standardargumente zum Nachweis ihrer Stichhaltigkeit. 5. Dualismus und Bewusstsein Descartes definierte mentale Zustände als bewusste Zustände, d.h. als solche, derer wir uns unmittelbar bewusst sind. Nur wenige würden sich dieser Definition heute noch anschließen. Vielmehr gehen wir allgemein heute davon aus, dass mentale Zustände auch eintreten, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind (siehe Unbewusste geistige Zustände). Descartes’ Definition verträgt sich allerdings gut mit dem Dualismus, denn mentale Zustände unterstützen den Dualismus intuitiv nur dann, wenn sie bewusst sind. Man betrachte Descartes’ Argument für den Dualismus. Er behauptet, dass der Geist eine so unqualifizierte Einheit ist, dass wir uns ihn nicht einmal als etwas vorstellen können, was sich teilen lässt. Diese Behauptung ist jedoch nur verlockend, wenn wir uns auf die bewussten mentalen Zustände beschränken. Wir stellen uns unsere bewussten Zustände so vor, dass sie alle zu einem einzigen Subjekt gehören und folglich voneinander nicht zu trennen sind. Es sind jedoch nicht alle mentalen Zustände bewusst. Deshalb stellt diese Einheit des Bewusstseins keine solche dar, die mit der Einheit des Geistes allgemein vergleichbar wäre. Ein weiteres Beispiel betrifft körperliche und sinnliche Empfindungen. Der Dualismus erfasst sehr plausibel viele davon als mentale Zustände, einfach weil ihre qualitativen Eigenschaften intuitiv nicht physischer Natur zu sein scheinen. Diese Intuition bezieht sich aber nur auf solche qualitativen Zustände, die uns bewusst sind. Es ereignen sich aber auch Empfindungen, derer wir uns keineswegs bewusst sind, beispielsweise unterschwellige Wahrnehmungen oder das periphere Sehen. Obwohl diese Empfindungen nicht bewusst sind, fallen sie doch unter dieselben Typen bewusster Empfindung. Wir nehmen beispielsweise unterschwellig verschiedene Grundfarben und Klänge unterschiedlicher Arten wahr. Da wir Empfindungstypen entsprechend ihren qualitativen Eigenschaften unterscheiden, müssen die nicht bewussten Empfindungen, die sich als unterschwellige Wahrnehmungen ereignen, dieselben Unterscheidungsmerkmale wie die bewussten Empfindungen haben, nämlich qualitative Eigenschaften. Der einzige Unterschied ist hier, dass wir
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uns in diesen Fällen gar nicht darüber bewusst sind, uns in Zuständen zu befinden, die jene Eigenschaften aufweisen. Wenn Empfindungen aber nicht bewusst sind, dann gibt es auch keinen Grund zu der Annahme, dass sie sich nicht auf eine Weise beschreiben lassen, die auch den Naturwissenschaften zugänglich ist. Dasselbe gilt für mentale Zustände jeglicher Art, wenn sie nicht bewusst sind. Der Dualismus ist nur für bewusste mentale Zustände intuitiv plausibel. Die im vorangehenden Abschnitt angesprochenen Bedenken helfen auch bei der Entschärfung dieses letzten Arguments. Unser Unvermögen zu verstehen, wie neuronale Prozesse qualitative Eigenschaften haben können, spiegelt nur unseren Mangel an einer geeigneten Theorie, wie neuronale Prozesse eben solche Eigenschaften haben können. Es zeigt nicht, dass sie nicht diese Eigenschaften aufweisen. Man betrachte ein hiermit zusammenhängendes Argument. Wir haben offenbar keine Erklärung dafür, wie körperliche Zustände jene qualitativen Eigenschaften haben können, die für Empfindungen charakteristisch sind. Es scheint schlicht uneinsehbar zu sein, dass neuronale Ereignisse oder irgendwelche anderen physischen Ereignisse Qualitäten der Art haben könnten, die in die Klasse der bewussten Empfindungen z.B. des Schmerzes oder einer ebensolchen Erfahrung des Rotsehens fallen. Dies hat zu dem Einwand geführt, dass qualitative mentale Zustände gar nicht physikalischer Natur sein können. Dieses Argument ist aber wiederum nur für bewusste Zustände triftig. Wenn qualitative Zustände nicht bewusst sind, haben wir kein intuitives Problem zu verstehen, wie die unterscheidenden Eigenschaften zu physischen Zuständen gehören können. Das Bewusstsein wird selbst in empirischen Argumenten für den Dualismus vorausgesetzt. Libet hat beispielsweise experimentell gewisse Anomalien der subjektiven Zeitwahrnehmung mentaler Ereignisse freigelegt, von denen er annimmt, dass sie den kausalen Eingriff nichtphysikalischer Faktoren nahe legen. Diese Anomalien sind aber nur dann zu bemerken, wenn Subjekte ihre bewussten Zustände berichten, und folglich nur, wenn diese Zustände bewusst sind. Darüber hinaus besteht die Bewusstheit dieses Zustandes offenbar gerade darin, dass sich ein Subjekt über diesen Zustand unmittelbar bewusst ist. So können die Anomalien der subjektiven Zeitwahrnehmung also auch die Folge von Unterschieden zwischen dem Zeitpunkt, zu dem das mentale Ereignis eintritt, und dem Zeitpunkt, wann das Subjekt sich seiner bewusst wird, und das heißt: nicht die Folge eines Eingriffs nichtphysikalischer Ursachen, sein. Offensichtlich erhält der Dualismus keine Unterstützung von Seiten mentaler Zustände, die nicht bewusst sind. Dann ist es jedoch unklar, warum die Fälle, in denen wir uns unserer mentalen Zustände bewusst sind, den Dualismus plausibler machen sollen. Ein dafür manchmal genannter Grund sind die subjektiven Unterschiede zwischen bewussten Erfahrungen, die sich einer physikalischen Behandlung zu widersetzen scheinen. Diese Unterschiede lassen sich sehr wahrscheinlich aber durch ein Abstellen auf die Unterschiede der zugrunde liegenden Umstände und des Wahrnehmungsapparates verschiedener empfindender Geschöpfe erklären. Sobald klar ist, dass nichtbewusste, mentale Zustände nichts zur Plausibilität des Dualismus beisteuern, wird es in gleichem Umfange umso unwahrscheinlicher, dass die bewussten Zustände dies vermögen (siehe Bewusstsein). 302
Dualismus
6. Dualismus und der Begriff des Geistes Der Dualismus erfährt heutzutage wenig Unterstützung, weil er im Widerspruch zu dem wissenschaftlichen Konsens steht, dass im Grunde alles physikalisch beschaffen sei. Aber selbst unter jenen, die den Dualismus zurückweisen, finden sich einige, die dennoch einige zwingende Gründe für die Behauptung sehen, dass mentale Phänomene nicht physikalischer Natur sind. Sie bestreiten beispielsweise, dass die unterscheidenden Eigenschaften der Gedanken und Empfindungen so dargestellt werden können, dass sie sich einer physikalischen Beschreibung unterordnen, oder sie machen andere Gründe geltend, dass mentale Phänomene nicht physikalischer Natur sind. Beispielsweise kombinieren sie eine dualistische Konzeption der mentalen Zustände mit einer Zurückweisung des Dualismus. Die einzige Option solcher Theoretiker besteht darin zu bestreiten, dass überhaupt irgendetwas Mentales existiert. Diese Leugnung, die als ‚eliminativer Materialismus‘ bezeichnet wird, stellt sich auf einen traditionellen, dualistischen Standpunkt bezüglich des Geistes, besteht aber gleichzeitig darauf, dass diese dualistische Konzeption auf nichts anwendbar ist. Auch wenn uns gewisse nichtmentale, physikalische Phänomene in die Lage versetzen sollten, Dinge zu erklären und vorauszusagen, die wir gewöhnlich unter Berufung auf mentale Zustände erklären und voraussagen, existiert gleichwohl nach dieser Auffassung nichts Mentales (siehe Eliminativismus). Weil der Eliminativismus auf einer dualistischen Konzeption des Geistes beruht, können wir dieses extravagante Ergebnis wahrscheinlich vermeiden. Wie weiter oben bereits dargestellt wurde, müssen wir mentale Zustände und ihre Eigenschaften nicht unbedingt auf eine Art und Weise erklären, die die dualistische Behauptung implizieren, nach der mentale Phänomene nicht physikalischer Natur sind. Folglich können wir uns gleichermaßen gegen den Dualismus und gegen die eliminativistische Alternative verwahren. Siehe auch: Mentale Verursachung Anmerkungen und weitere Lektüre: Descartes, R. (1641): ‚Meditationen über die Grundlagen der Philosophie‘. (Der Text ist im Meiner Verlag, Hamburg, in zwei Ausgaben verfügbar, nämlich mit und ohne die Erwiderungen Descartes’ auf die Einwände wichtiger Zeitgenossen, z.B. Arnauld, Hobbes und Mersenne. Er ist eine klassische Darstellung und Verteidigung des Dualismus, der alle nachfolgenden Diskussionen beeinflusst.) Lowe, E.J.: ‚Subjects of Experience‘, Cambridge und New York: Cambridge University Press (1996). (Gedanklich durchgearbeitete Verteidigung eines naturalistischen Substanzdualismus.) Robinson, H. (Hrg.) (1993): ‚Objections to Physicalism‘, Oxford: Oxford University Press. (Eine sehr schöne Sammlung von Aufsätzen zur Verteidigung des Dualismus.) DAVID M. ROSENTHAL
Duhem, Pierre Maurice Marie (1861–1916)
Duhem war ein französischer, katholischer Physiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosoph. Als ein Verfechter der Vorstellung von einer Allgemeinen Thermodynamik im Sinne einer vereinheitlichenden physikalischen Grundlagentheorie war er ein Pionier in der Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters und 303
Dummett, Michael Anthony Eardley (1925–)
der Renaissance. Hier betonte er die Kontinuität von der mittelalterlichen zur frühmodernen Wissenschaft. Duhem war infolge seines Widerspruchs gegen mechanistische Erklärungsweisen und seiner Entwicklung einer holistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien auch einer der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen seiner Zeit. Nach dieser Konzeption werden individuelle empirische Aussagen nicht isoliert geprüft, sondern nur in Verbindung mit anderen theoretischen Behauptungen und damit verbundenen Hilfsthesen. Eine solche Sicht der Überprüfung von Theorien bringt es mit sich, dass es keine ‚Schlüsselexperimente‘ mehr gibt, die unzweideutig über die Richtigkeit oder Falschheit einer gegebenen Theorie entscheiden, und dass die empirische Evidenz allein die Wahlentscheidung einer Theorie unterbestimmt. Die Entscheidung für eine Theorie ist folglich zum Teil eine Frage der Konvention. Duhems Konventionalismus ähnelt jenen späteren Ansätzen dieser Art, die von Otto Neurath und W.V. Quine vertreten wurden. Siehe auch: Logischer Positivismus; Schlüsselexperimente; Wissenschaftliche Methode DON HOWARD
Duhem-Quine-These
Siehe: Duhem, Pierre Maurice Marie (1861–1916); Quine, Willard Schlüsselexperimente; Unterbestimmung
man;
Dummett, Michael Anthony Eardley (1925–)
van
Or-
Für Michael Dummett liegt das Zentrum der Philosophie in der Bedeutungstheorie. Seine Erforschung der Bedeutung beginnt mit dem Modell, das von Gottlob Frege vorgeschlagen wurde, und von dessen Werk Dummett auch ein erstrangiger Interpret ist. Ein zentrales Merkmal dieses Modells ist es, dass der Sinn8 (Inhalt) eines Satzes sich aus einer Bedingung für seine Wahrheit ergibt, die sich wiederum als Ableitung aus seiner konstituierenden Struktur darstellt. Wenn der auf diese Weise erklärte Sinn eines Satzes sprachliche Praxis erklären soll, so muss die Kenntnis dieser Wahrheitsbedingungen den Sprachanwendern mittels einer Identifikation von Sprachverwendungsmerkmalen zugeschrieben werden, in denen sich diese Kenntnis offenbart. Eine Analyse der Wahrheit legt den Eindruck nahe, dass wir nach einer solchen Offenlegung in entsprechenden Behauptungsmustern suchen. Eine genaue Untersuchung solcher Muster zeigt jedoch, dass es keinen Unterschied zwischen solchen sprachlichen Verwendungsweisen gibt, die eine Kenntnis klassischer Wahrheitsbedingungen zeigen, und einer Verwendungsweise, die lediglich eine unschärfere Form des Wahrheitswissens offenbart, beispielsweise eine solche, die auch schon dann erfüllt ist, wenn wir nur über eine mögliche Rechtfertigung für eine Behauptung verfügen. Solche Überlegungen regen zu einer Rekonstruktion des Sinns an, der sich aus solchen schwächeren Wahrheitsbedingungen ergibt. Eine Umgestaltung der Fregeschen Semantik im Sinne einer solchen Konzeption ist jedoch außerordentlich schwierig. Der mathematische Intuitionismus gewährt uns, wenn er richtig angelegt wird, Modelle für ein solches Verfahren im Bereich der mathematischen Sprache. Dummetts Vorhaben besteht darin, eine solche Theorie auch auf den alltäglichen Sprachgebrauch auszudehnen. Da er ferner meint, dass der Realismus darin besteht, die klassische Semantik für einen gegebenen Diskurs zu verteidigen, wird dieses 8
Engl.: sense, im Gegensatz zur Bedeutung, engl.: reference
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Duns Scotus, John (ca. 1266–1308)
Vorhaben damit zu einer allgemeinen Untersuchung der Geltung des Antirealismus über solche Dinge wie die materielle Welt, das Fremdgeistige und vergangene Ereignisse. Siehe auch: Bedeutung und Verifikation; Intuitionistische Logik und Antirealismus; Mehrwertige Logik, Philosophische Fragen der; Wissen, implizites BARRY TAYLOR
Duns Scotus, John (ca. 1266–1308)
Duns Scotus war einer der wichtigsten Denker der gesamten scholastischen Periode. Scotus war schottischen Ursprungs und Mitglied des Franziskanerordens. Er studierte zunächst in Oxford und später in Paris Theologie. Seine Hinterlassenschaft umfasst einen beachtlichen Textkorpus, von dem ein großer Teil zum Zeitpunkt seines Todes leider noch in Überarbeitung war. Bedeutend ist in seinen Arbeiten die Behandlung von Fragen zur aristotelischen ‚Metaphysik‘, mindestens drei unterschiedliche Kommentare über die Sentenzen des Peter Lombard (der sein Pflichtbeitrag zur Erlangung eines theologischen Studienabschlusses war), sowie eine ausgedehnte Sammlung universitärer Disputationen, die ‚Quaestiones Quodlibetales‘. Als ein durchgehend schwieriger und äußerst origineller Denker wurde Scotus wegen seines extrem nuancierten und technisch ausgefeilten Denkstils mit dem Ehrennamen ‚doctor subtilis‘ bedacht. Bezüglich vieler wichtiger Fragen entwickelte Scotus seine Position als kritische Reaktion auf den Pariser Theologen Heinrich von Gent, der der wichtigste Denker der unmittelbar vorangehenden Generation und ein strenger Kritiker von Thomas von Aquin war. Scotus leistete wichtige und einflussreiche Beiträge zur Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik. In der Metaphysik war er der erste Scholastiker, der die Auffassung vertrat, dass die Begriffe des Seins und der übrigen Transzendentalien univok (d.h. eindeutig) sind, und zwar nicht nur bei einer Anwendung auf die Substanzen und Akzidenzien, sondern sogar bei ihrer Anwendung auf Gott und seine Geschöpfe. Hier brach Scotus mit der bis dahin einmütigen Auffassung, die auf Aristoteles zurückging, dass das Sein nicht gleichermaßen von der Substanz und den Akzidenzien ausgesagt werden kann, und noch viel weniger von Gott und den Geschöpfen, es sei denn im Wege der Analogie. Scotus machte allgemein geltend, dass die Univozität für jedes natürliche Wissen der Geschöpfe von Gott bzw. der Substanz von Seiten der Akzidenzien notwendig sei. Erkennt man diese Univozität an, so schloss er, ist der wichtigste Gegenstand des geschaffenen Intellekts das Sein, womit er die thomistische Sichtweise des Aristoteles zurückwies, dass der Intellekt auf die quidditas (d.h. die ‚Washeit‘) der sinnlich wahrgenommenen Einzelheit beschränkt ist, und damit auch Heinrich von Gents thomistische Sichtweise, dass Gott selbst dieser wichtigste Gegenstand sei. Das heißt, Scotus war der Auffassung, dass selbst der endliche Intellekt der Geschöpfe von Natur aus dazu imstande ist, alles Sein zu erkennen. Scotus’ Beweis der Existenz Gottes ist der ehrgeizigste der gesamten scholastischen Epoche. Die ihm vorangehenden Anstrengungen zur Demonstration der Existenz Gottes hatten sich nicht besonders um die Verbindung der ererbten eklektischen Argumente bemüht. Scotus’ Beweis ragt als ein Versuch heraus, die verschiedenen traditionellen Argumentationslinien logisch zu einem einzigen Beweis zusammenzufassen, der in der Existenz Gottes als einem wirklich unendlichen Wesen gipfelt. Im Ergebnis ist sein Beweis enorm komplex und enthält ein ausführlich begründetes und langwieriges Argument für Gott als die erste Wirkursache, als die 305
Duns Scotus, John (ca. 1266–1308)
letzte Zweckursache und als das herausragendste Wesen – die so genannte dreifache Vorrangstellung Gottes –, ferner ein Argument für dessen Identität im Rahmen einer einzigartigen Natur dieser Vorrangstellungen, und schließlich die wirkliche Unendlichkeit dieser Vorrangigkeit. Erst auf der Grundlage dieses abschließenden Ergebnisses der Unendlichkeit ist Scotus in der Lage zu behaupten, dass er die Existenz Gottes bewiesen habe. Bemerkenswerte Merkmale dieses Beweises sind Scotus’ Zurückweisung des aristotelischen Argumentes aus der ‚Physik VIII’ (dem von Thomas von Aquin bevorzugten Beweis), die Reduktion der thomistischen Exemplarursache auf eine Art von Wirkursache, wichtige Klarstellungen zu den Kausalbeziehungen, die in den Argumenten gegen den unendlichen Regress behandelt werden, und ein apriorischer Beweis als Ableitung aus der Möglichkeit Gottes, ähnlich jenem, der später von Leibniz vorgeschlagen wurde, sowie die Zurückweisung des herkömmlichen Arguments, demzufolge die Unendlichkeit Gottes aus der Schöpfung ex nihilo geschlossen werden kann. Scotus war Realist bei der Frage nach den Universalien und damit einer der Hauptgegner des nominalistischen Programms von Ockham. Er unterstützte Avicennas Theorie der allgemeinen Natur (lat.: natura communis), derzufolge Wesenheiten von ihrer Existenz unabhängig sind und dieser Existenz entweder als Universalie des Geistes oder als Singularität außerhalb des Geistes vorangehen. In der Auslegung von Avicenna meint Scotus, dass die gewöhnlichen Naturen die ihnen eigene Einheit aufweisen müssen, die sowohl real, als auch zugleich weniger als die numerische Einheit eines Einzeldinges ist. Das heißt, die Natur der Dinge geht gewöhnlich jedem intellektuellen Akt voraus und besitzt ihre eigene reale, wenngleich geringere Einheit. Die Dinge sind folglich nicht an sich selbst singulär, sondern erfordern ein zusätzliches Individuationsprinzip. Durch seine Ablehnung der Standardauffassung, dass die Wesenheiten entweder durch die aktuelle Existenz, Quantität oder Stofflichkeit individuiert werden, behauptet Scotus, dass das Individuationsprinzip ein weiterer substanzieller Unterschied zusätzlich zu jenem des Artunterschiedes ist. Dieser ‚individuelle Unterschied‘ ist die die sog. haecceitas oder ‚Diesheit‘, wobei dieser Ausdruck von Scotus selbst selten gebraucht wird. Diese allgemeine Natur und den individuellen Unterschied bezeichnete Scotus innerhalb des individuellen Gegenstandes als wirklich identisch und lediglich als ‚formal unterschieden‘. Diese ‚formale Unterscheidung‘, die von Scotus vor allem in Verbindung mit der Dreifaltigkeit und den göttlichen Attributen entwickelt wird, ist ein integraler Bestandteil seines Realismus und wurde deshalb von Ockham angegriffen. Sie lässt innerhalb ein und desselben Dinges eine Unterscheidung zwischen Realitäten, Formalitäten sowie Entitäten zu, die jedem Intellektualakt zur Grundlegung unserer objektiven Begriffe vorausgehen. Diese Formalitäten sind nichtsdestotrotz wirklich identisch und bilden innerhalb eines individuellen Gegenstandes eine untrennbare Einheit. In der Erkenntnistheorie ist Scotus wichtig für seine Zerstörung des thomistischen Erleuchtungsgedankens, zumindest in der Fassung ihrer ausführlichen Verteidigung durch Heinrich von Gent, sowie für die Unterscheidung zwischen der intuitiven und der abstrahierenden Erkenntnis. Scotus lehnte Heinrichs Verteidigung ab, weil sie zu nichts als Skeptizismus führe, und gab stattdessen eine vollständige Darstellung der Gewissheit unabhängig von der Erleuchtung. Er begründete die Gewissheit mit dem Wissen der selbstevidenten Aussagen, Indukti306
Duns Scotus, John (ca. 1266–1308)
onen und dem Bewusstsein unseres eigenen Zustandes. Nach Scotus wurde die Erleuchtung nie mehr ernsthaft rehabilitiert. Ein weiterer erkenntnistheoretischer Beitrag von Scotus war es, dem Intellekt eine direkte, existenzielle Bewusstheit intelligibler Gegenstände zur Verfügung zu stellen. Dies wurde ‚intuitive Erkenntnis‘ genannt, im Unterschied zum abstrahierenden Wissen, das den Gegenstand unabhängig davon erfasst, ob er dem Intellekt in wirklicher Existenz gegenwärtig ist oder nicht. Auf diese Unterscheidung, die Scotus von seinen Zeitgenossen zugeschrieben wird, berief man sich in der Folge in nahezu jeder scholastischen Diskussion über die Gewissheit. Während Scotus bislang vor allem für seine Metaphysik bekannt ist, wird die Bedeutung und Originalität seiner ethischen Theorie in steigendem Maße geschätzt. Scotus ist ein Voluntarist, d.h. er meint beispielsweise, dass nicht jedes natürliche Recht (d.h. die Zehn Gebote) absolut bindend ist, dass ferner die Klugheit und die moralischen Tugenden nicht notwendig aneinander gekoppelt sind, und dass der Wille einem vollkommen richtigen Urteil des Intellekts zuwider handeln kann. Es ist jedoch Scotus’ Theorie des Willens selbst, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Er behauptet, dass der Wille eine Kraft zur Verfolgung von Entgegengesetztem ist, und zwar nicht lediglich in dem Sinne, dass er mit der Zeit zu gegensätzlichen Handlungen führen kann, sondern in dem tieferen Sinne, dass selbst dann, wenn der Wille wirklich eine Sache will, er noch eine wirkliche, aktive Macht zum Wollen des Gegenteils in sich enthält. Mit anderen Worten trennt Scotus den Begriff der Freiheit von jenen der Zeit und der Veränderbarkeit, wobei er dafür eintritt, dass ein geschaffener Wille, selbst wenn er nur für einen Moment existierte, seine Entscheidung dennoch frei sein würde. Hierin war er ein Vorbote im Bruch mit antiken Vorstellungen der Modalität, die die Kontingenz grundsätzlich als eine Veränderung in der Zeit behandelten. Scotus behauptete dagegen, dass der Wille als eine Fähigkeit zum Gegensätzlichen die einzige wirklich rationale Macht ist, wobei das Rationale den rein naturalistischen Akteuren gegenüber steht, deren Handlungen determiniert sind. In diesem Sinne ist der Intellekt als ein rein naturalistischer Akteur keine rationale Macht. Schließlich stattet Scotus den Willen auch mit einer angeborenen Neigung zum Guten an sich selbst aus, und zwar unabhängig von jedem Vorteil, den er dem Akteur bringt. Diese Neigung oder dieser Affekt zum Gerechten (lat.: affectio justitiae, wie er von Anselm bezeichnet wurde) versetzt den Willen in die Lage, der deterministischen Neigung der Natur zur Erfüllung seiner eigenen Vollkommenheit zu entkommen. Siehe auch: Sein; Gott, Argumente für die Existenz von; Gott, Begriffe von; William von Ockham STEPHEN D. DUMONT
Dworkin, Ronald (1931–)
Ronald Dworkins frühe und sehr umstrittene These, dass es richtige Antworten in schwierigen Rechtsfällen gibt, zusammen mit seinem Angriff auf die Vorstellung, dass das Recht einfach ein Regelsystem sei, verschafften ihm eine prominente und abgesonderte Rolle in der anti-positivistischen Strömung der Rechtstheorie. Er hat seine früheren Erkenntnisse kontinuierlich fortentwickelt und erweitert, und zwar durch seine Vorstellungen vom interpretierenden Recht als etwas, das an die Ideale der Gemeinschaft und der Gleichheit gebunden sei. Dworkin ist ein einflussreicher Vertreter des liberalen Denkens, der klares und analytisches Denken mit politischem 307
Dworkin, Ronald
Engagement verbindet, was sich in entscheidenden und zeitgenauen Interventionen bei vielen der wichtigen politischen Debatten unserer Zeit äußert. Siehe auch: Recht und Moral, § 4 EMILIOS A. CHRISTODOULIDIS
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E Edwards, Jonathan (1703–1758)
Jonathan Edwards Werk als Ganzes konzentriert sich auf zwei Themen, nämlich auf Gottes absolute Souveränität und auf die Schönheit seiner Heiligkeit. Gottes Souveränität artikuliert sich auf zahlreiche Weisen. Sein Werk ‚Freedom of the Will‘ (‚Die Willensfreiheit‘) von 1754 verteidigt den theologischen Determinismus. Gott ist die vollständige Ursache von allem, das geschieht, einschließlich der menschlichen Willensakte. Edwards ist auch ein Okkasionalist (siehe Okkasionalismus), Idealist und mentaler Phänomenalist. Gott ist die einzige reale Ereignisursache. Menschliche Willensakte und natürliche Ursachen sind reine Gelegenheiten, anlässlich derer Gott die geeigneten Wirkungen herbeiführt. Physische Gegenstände sind Sammlungen wahrnehmbarer ‚Ideen‘ der Farbe, der Form, der Festigkeit etc., und endliche Geister sind Sammlungen von Gedanken oder Wahrnehmungen. Gottes Produktion sinnlicher Ideen und Gedanken, so wie es ihm beliebt, sind die einzigen Substanzen, die ihnen zugrunde liegen. Gott ist daher wahrhaftig das Sein im Allgemeinen, die „Summe allen Seins“. Die Schönheit oder Pracht von Gottes Heiligkeit ist das Hauptthema seiner zwei späten Werke, ‚End of Creation‘ (‚Das Ende der Schöpfung‘) und ‚True Virtue‘ (‚Wahre Tugend‘), die beide posthum im Jahre 1765 veröffentlicht wurden. Ersteres tritt dafür ein, dass Gottes Schöpfungsziel die externe Manifestation seiner internen Pracht ist. Diese Pracht besteht vor allem in seiner Heiligkeit, und ihr vollkommenster äußerer Ausdruck ist die Frömmigkeit der Heiligen, die ihr Spiegel sind und von ihr abhängen. Wahre Tugend definiert die Heiligkeit als wahre Güte oder als „die Liebe des Seins im Allgemeinen“ und unterscheidet sie von solchen Gegensätzen wie die rationale Selbstliebe, aber auch von Instinkten wie der elterlichen Zuneigung gegenüber Kindern und dem Mitleid und dem natürlichen Gewissen. Da die Schönheit als Übereinkunft oder Zustimmung definiert ist, und weil ferner die wahre Güte zum Sein im Allgemeinen zustimmend steht, ist die wahre Güte allein wahrhaft schön. Die natürliche Schönheit und die Schönheit der Kunst sind lediglich ihr Abbild. Nur jene Menschen, die ein wahrhaft gütiges Herz haben, können jedoch diese Schönheit ausmachen. Edwards Buchprojekt ‚History of Redemption‘ (‚Geschichte der Erlösung‘) sollte diese beiden Themen vereinigen, denn es liegt nach seiner Auffassung in Gottes Werk der Erlösung selbst begriffen, dass seine Souveränität, seine Heiligkeit und seine Schönheit sich auf die wirksamste Weise darstellen. WILLIAM J. WAINWRIGHT
Egoismus und Altruismus Einführung Henry Sidgwick konzipierte den Egoismus als eine ethische Theorie neben jener des Utilitarismus. Der Utilitarismus sagt, dass man das Gute aller Wesen des Universums maximieren soll; der Egoist behauptet dagegen, dass das Gute, das es zu erreichen gilt, letztlich nur das eigene Gute ist. Diese Form des Egoismus (die 309
Egoismus und Altruismus
häufig ‚ethischer Egoismus‘ genannt wird) ist zu unterscheiden von der empirischen Hypothese (dem sog. ‚psychologischen Egoismus‘), dass menschliche Wesen immer nur ihren eigenen Vorteil zu maximieren suchen. Der ethische Egoismus kann einem Verhalten zustimmen, das anderen nützt, denn häufig ist der beste Weg zur Beförderung des eigenen Vorteils die Eingehung kooperativer Beziehungen. Der Egoist kann aber keiner altruistischen Rechtfertigung für eine solche Kooperation zustimmen. Der Altruismus fordert, dass das Gute als der Vorteil des Anderen um seiner selbst willen verfolgt wird, wogegen der Egoist darauf besteht, dass das letzte Ziel immer und allein das eigene Gute sein müsse. Ein Weg zur Verteidigung des ethischen Egoismus ist die Bestätigung des psychologischen Egoismus, gefolgt von dem Vorschlag, dass unsere Verpflichtungen nicht unsere Fähigkeiten übersteigen sollten. Wenn wir nicht anders können als unserem eigenem Wohlergehen nachzugehen, so sollten wir uns auch an keine weniger selbstbezogenen Verhaltensstandards halten. Diese Strategie wird jedoch in weiten Kreisen zurückgewiesen, weil der psychologische Egoismus eine zu einfache Konzeption des menschlichen Verhaltens zu sein scheint. Darüber hinaus verletzt der Egoismus unseren Sinn für Unparteilichkeit. Es gibt keine Tatsache an einem Selbst, die es rechtfertigen würde, andere von den eigenen letzten Zwecken auszuschließen. Es gibt allerdings noch eine andere Art von Egoismus, die in der Antike blühte, und die nicht dieser Kritik verfällt. Sie behauptet, dass das Gute eines Menschen weitgehend oder sogar ausschließlich darin besteht, dass er tugendhaft handelt, und das sein Selbstinteresse folglich und richtig verstanden auch unser bester Führer ist. 1. Definitionen von ‚Egoismus‘ 2. Die Behandlung des Altruismus durch den Egoismus 3. Argumente für und gegen den Egoismus 4. Eine antike Form des Egoismus 1. Definitionen von ‚Egoismus‘ Der Ausdruck ‚Egoismus‘ wurde in die moderne Moralphilosophie als eine Bezeichnung für einen Typ der ethischen Theorie eingeführt, der strukturell parallel zu jenem des Utilitarismus angelegt ist (siehe Utilitarismus). Der Utilitarismus behauptet, dass man alle Menschen berücksichtigen und das größtmögliche Übergewicht des Guten über das Böse suchen sollte. Der Egoismus sagt dagegen, dass jedermann sein eigenes Gutes nach Kräften befördern sollte. Beide Theorien sind insofern teleologisch, als sie behaupten, dass die richtigerweise vorzunehmende Handlung immer diejenige ist, die ein bestimmtes Gutes herbeiführt (siehe Teleologische Ethik). Der Utilitarist beansprucht aber, dass das Gute, das man maximieren soll, das universelle Gute ist, d.h. das Gute aller Menschen und vielleicht sogar aller empfindenden Geschöpfe. Der Egoist andererseits meint, dass das Gute, um das es geht, letztlich immer nur das eigene Gute ist. (siehe Guten, Theorien des). Diese Einteilung ethischer Theorien geht zurück auf Henry Sidgwick, der die Wahl zwischen Utilitarismus und Egoismus als eines der grundsätzlichsten Probleme der Moralphilosophie betrachtete. In seinem Buch ‚The Methods of Ethics‘ (1874, dt.: ‚Die Methoden der Ethik‘) fasst Sidgwick die Frage zusammen, in dem er davon ausgeht, dass das Gute mit dem Wohlgefallen bzw. der Lust identisch ist; diese Doktrin nennt man ‚Hedonismus‘ (siehe Hedonismus). Er verwendet den Ausdruck
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Egoismus und Altruismus
‚Utilitarismus‘ für die Auffassung, dass man die Freude oder die Lust im Universum maximal steigern sollte und meint, dass die einzige Form des Egoismus, die es Wert ist in Betracht gezogen zu werden, der hedonistische Egoismus ist. Da wenige Philosophen heutzutage noch von einer Identität der Freude bzw. der Lust mit dem Guten ausgehen, hat sich der zentrale Begriff der Diskussion verändert. ‚Egoismus‘ wird heute auf jede Lehre angewandt, die für eine Maximierung des eigenen Guten eintritt, und zwar unabhängig von der Konzeption des Guten. Diese Lehre wird häufig ‚ethischer Egoismus‘ genannt, um ihren normativen Status zu betonen. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Ausdruck ‚psychologischer Egoismus‘ eine empirische Hypothese betreffend die menschliche Motivation. Diese Hypothese besagt, dass immer dann, wenn jemand eine Wahl zu treffen hat, er sich zugunsten jener Handlung entscheiden wird, die seinen eigenen Vorteil maximiert. Man kann durchaus darin zustimmen, dass wir unvermeidlich selbstsüchtig sind und dies gleichzeitig als ein böses Element unserer Natur ansehen. Umgekehrt ist es möglich zu meinen, dass die Menschen sich selten um eine Maximierung ihres eigenen Vorteils bemühen, obwohl sie dies eigentlich tun sollten. (Im Weiteren bezeichnet der Ausdruck ‚Egoismus‘ den ethischen Egoismus, wenn nicht ausdrücklich auf eine andere Bedeutung hingewiesen wird.) 2. Die Behandlung des Altruismus durch den Egoismus Ein Verteidiger des Egoismus braucht sich über Zuneigungen zu anderen Menschen, Mitgefühl und wohltätige Handlungen nicht zu wundern. Denn es steht dem Egoisten frei zu behaupten, dass diese sozialen Bindungen ein wirksames Mittel zur Erreichung der jeweils eigenen Zwecke sind. Beispielsweise ist es allgemein anerkannt, dass altruistisches Verhalten, d.h. ein Verhalten zu dem Zweck, anderen zu helfen, für den Helfenden durchaus vorteilhaft ist, wenn es andere motiviert, sich ihm gegenüber auf ähnliche Weise zu verhalten. Das Geringe, das man in schlichten Freundlichkeitsbezeigungen verliert, mag mehr als kompensiert werden, wenn sich andere entsprechend verhalten. Obwohl Egoisten einwenden können, dass die Begünstigung anderer ganz allgemein im eigenen Interesse ist, rechtfertigen sie diese doch auf eine ganz andere Art. Es ist weithin anerkannt, dass man ab und zu andere allein um ihres Vorteils willen begünstigen sollte (Aristoteles hält dies beispielsweise in der ‚Nikomachischen Ethik‘ für ein wesentliches Merkmal der besten Form von Freundschaft). Zum Vorteil von anderen zu handeln heißt, ihren Vorteil als zureichenden Grund für eine Handlung zu betrachten. Das ist es aber genau, was der Egoist nicht hinnehmen kann. Sie bestehen darauf, dass die einzige Rechtfertigung für fremdbegünstigende Handlungen letztlich nur sein kann, dass es ihm selbst nutzt. Letztlich soll man andere nicht um deretwillen begünstigen, sondern um seiner eigenen Sache willen. Wenn man ‚Altruismus‘ als Bezeichnung eines Verhaltens verwendet (was häufig geschieht), das nicht nur andere begünstigt, jedoch um ihretwillen unternommen wird, so steht der Egoismus im Gegensatz zum Altruismus. 3. Argumente für und gegen den Egoismus Ab und zu haben die Philosophen sich bemüht, den Egoismus zu widerlegen, indem sie behaupteten, er sei widersprüchlich bzw. untergrabe sich in gewisser Weise selbst. Der bekannteste Ansatz dieser Art stammt von G.E. Moore in seinen ‚Principia Ethica‘ (1903), brachte jedoch wenig Anhänger hervor. Stattdessen ist die 311
Egoismus und Altruismus
Auffassung von Sidgwick, derzufolge der Egoismus vernünftig ist, allgemein akzeptiert. Aber selbst wenn man dem zustimmt, fragt sich doch, ob es richtig ist, sich für den Egoismus zu entscheiden, statt für eine seiner Alternativen. Warum muss es immer ein Fehler sein, den eigenen Vorteil für den größeren Vorteil eines anderen zu opfern? Wenn ein kleiner Verlust des eigenen Wohlergehens einen großen Zuwachs desselben bei anderen bewirken kann, warum soll es dann falsch sein, diesen Verlust hinzunehmen? Der Egoist könnte an diesem Punkt zum psychologischen Egoismus Zuflucht nehmen. Obwohl es nämlich möglich ist, den psychologischen Egoismus zu bejahen und den ethischen Egoismus zurückzuweisen, d.h. zu bejahen, dass wir letztlich immer selbstbezogen handeln, und ein solches Verhalten als böse zu verdammen, gibt es doch nur wenige Philosophen, die diese theoretische Mischung als attraktiv ansehen. Denn welche Plausibilität kann eine Verhaltensvorschrift haben, die wir gar nicht einhalten können? Der Egoist könnte deshalb auf unsere Frage: ‚Warum sollten wir unseren eigenen Vorteil nicht zugunsten dem eines anderen opfern?‘ antworten, indem er uns drängt, uns keine unmöglichen Verhaltensstandards aufzuerlegen. Tatsächlich erbringen wir kaum solche Opfer, und deshalb sollten wir uns keine Vorwürfe machen, dass wir so sind, wie wir nun einmal sind. Das Problem dieser Strategie ist, dass der psychologische Egoismus seit der Neuzeit schweren Angriffen ausgesetzt ist. Hobbes und Mandeville wurden weithin als psychologische Egoisten verstanden und wurden als solche von Philosophen wie Hutcheson, Rousseau und Hume kritisiert, die zu zeigen versuchten, dass Wohltätigkeit, Mitgefühl und Sympathie genauso natürlich sind wie die Selbstliebe. Kant hielt dem psychologischen Egoismus entgegen, dass uns bereits die rationale Anerkennung moralischer Prinzipien motivieren und damit die Selbstliebe überwinden kann (siehe Kantische Ethik). Vielleicht ist jedoch Butler der einflussreichste Kritiker des psychologischen Egoismus, indem er einwandte, dass die Selbstliebe bereits aufgrund ihres eigenen Wesens nicht der einzige Bestandteil unseres Motivationsvorrates sein kann. Er wies auch darauf hin, dass selbst dann, wenn wir uns bei einer Befriedigung unserer Wünsche belohnt fühlen, man daraus nicht schließen könne, dass solche Belohnungen der Gegenstand der betreffenden Wünsche sind. Die vereinte Kraft dieser Angriffe hatte zur Folge, dass der psychologische Egoismus nur noch wenige philosophische Verteidiger hat. An diesem Punkt ist es Zeit, auch auf eine wichtige Herausforderung des ethischen Egoismus hinzuweisen. Obwohl meine Lebensumstände, Geschichte oder Eigenschaften sich von denen anderer in moralisch bedeutsamer Weise unterscheiden mögen, und selbst wenn diese Unterschiede es rechtfertigen, dass ich meinen Vorteil anstelle des Vorteils eines anderen suche, ist die schiere Tatsache, das ich selbst betroffen bin und nicht der andere, an sich selbst kein moralisch relevanter Unterschied zwischen uns beiden. Dass mein Vorteil der meinige ist, erklärt nicht, warum dies schlussendlich das Einzige sein sollte, worum ich mir Sorgen mache. Wenn mich also mein Vorteil mit einem Handlungsmotiv versorgt, warum sollte dies dann nicht auch dein Vorteil oder derjenige irgendeines Anderen tun, immer vorausgesetzt, dass es keinen relevanten Unterschied zwischen uns gibt? Das Ideal der Unvoreingenommenheit scheint die Schlussfolgerung zu unterstützen, dass wir uns zumindest manchmal um Andere bemühen sollten (siehe Unvoreingenommenheit). Tatsächlich akzeptieren Egoisten implizit den Begriff der Unvoreingenommenheit, 312
Egoismus und Altruismus
wenn sie sagen, dass genauso, wie mein eigener Vorteil mein schlussendliches Handlungsziel sein sollte, der Fremde ebenfalls das Handlungsziel des Anderen sei. Sie müssen also erklären, warum sie nur diese Minimalkonzeption der Unvoreingenommenheit und keine weiter gehende akzeptieren. Es ist moralisch nicht gerade anziehend, wenn man alle anderen von den eigenen Handlungszielen ausschließt. Warum also sollte sich einer so verhalten? 4. Eine antike Form des Egoismus Die Arten des Egoismus, die wir bisher diskutierten, kann man insofern ‚formal‘ nennen, als sie nichts darüber sagen, was für Menschen im Einzelnen gut oder schlecht ist. Sie sagen nur, dass das Gute, was immer es auch sei, immer das eigene Gute sein sollte, um das man sich bemüht. Zu dieser Konzeption kommt man, wenn man wie Sidgwick den Egoismus mit dem Utilitarismus paart und sich dann von seinem Hedonismus distanziert. Eine andere Art von Egoismus, die man ‚substanziell‘ nennen könnte, beschreibt zunächst und konkret das Gute und drängt dann jeden von uns, unser eigenes, darauf aufbauendes Gutes zu maximieren. Es ist diese Form des Egoismus, die in der antiken Welt zur Blüte kam. Platon, Aristoteles und die Stoiker akzeptieren nicht das formale Prinzip, dass man immer nur nach dem eigenen Glück streben bzw. dies dem Glück eines anderen vorziehen sollte, egal, wie auch immer dies beschaffen sei (siehe Platon; Aristoteles; Stoizismus). Stattdessen treten sie für eine spezifische Konzeption des Guten ein. Und weil die sozialen Tugenden eine so große Rolle in dieser Konzeption spielen, betrachten sie die Selbstliebe nicht als einen Feind der Tugend und der größeren Gemeinschaft, sondern als ein ehrenwertes Motiv, sofern es sich in die richtige Richtung bewegt (siehe Eudämonie; Tugenden und Laster). Selbst wenn der psychologische Egoismus von einer zu einfachen Konzeption des menschlichen Wesens ausgeht, so kann man doch nicht leugnen, dass wir normalerweise sehr um unser eigenes Wohlergehen bemüht sind. Wenn aber die Selbstliebe eine Kraft ist, die oft mit moralischen Pflichten in Konflikt gerät und überdies aus immanenten Gründen nicht durch Erziehung beeinflussbar ist, dann sind Menschen notwendig tief gespaltene Geschöpfe. Dies sind das Augustinische und das Kantische Bild. Im Gegensatz dazu vertreten die dominanten Strömungen der antiken Ethik eine optimistische Konzeption der menschlichen Situation. Sie behaupten nicht, dass man nur sein eigenes Wohl verfolgen sollte, bedeute es, was es wolle, für die anderen. Stattdessen sagt sie, dass tugendhaftes und vorteilhaftes Verhalten übereinstimmen können und versucht damit die gewöhnliche Auffassung zu untergraben, dass das Selbst am Ende im Konflikt mit anderen steht. Siehe auch: Moralischer Beweggrund; Moralischer Skeptizismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Platon (429–367): Seine ‚Politeia‘ enthält eine ausführliche Darstellung der antiken, hier ‚substanziell‘ genannten Ethik. Shaver, R. (1999): ‚Rational Egoism: A Selective and Critical History‘. Cambridge University Press. (Eine Kritik jener Form des Egoismus, der von Hobbes und Sidgwick vertreten wurde.) Sidgwick, H. (1874): ‚The Methods of Ethics‘, London: Macmillan; 7. Aufl. 1907. (Sidgwick tritt hier für die Plausibilität sowohl des Egoismus, als auch des Utilitarismus ein.) RICHARD KRAUT 313
Eigennamen
Eigennamen Einführung Der römische Feldherr Julius Cäsar wurde am 14. März 44 v. Chr. durch eine Gruppe Verschwörer ermordet, die von Brutus und Cassius angeführt wurden. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass man, wenn man auf diese Weise einen Leser informiert und an etwas erinnert, die Eigennamen ‚Julius Cäsar‘, ‚Brutus‘ und ‚Cassius‘ verwendet werden, um auf drei Menschen zu verweisen, von denen jeder bereits ca. 2000 Jahre tot ist. Unsere Augen können nicht mehr eingesetzt werden, um einen von ihnen zu erblicken, noch können wir mit unserer Stimme zu ihnen sprechen, und doch können wir uns noch mit Worten auf sie beziehen. Die zentrale philosophische Frage nach den Eigennamen lautet, wie eine solche Bezugnahme möglich sein soll: wie genau schaut der Mechanismus aus, durch den der Verwender eines Eigennamens erfolgreich auf den Träger dieses Namens verweist? Wie das Beispiel bereits andeutet, muss dieser Mechanismus, wie auch immer er beschaffen ist, eine Beziehung von dem Verwender des Eigennamens zum Träger dieses Namens herstellen können, und zwar auch dann noch, wenn der Träger des Namens gar nicht mehr existiert. In der modernen Sprachphilosophie gibt es zwei Hauptauffassungen über die Natur dieses Mechanismus. Nach der einen der beiden Darstellungen, die auf Frege zurückgeht, drückt die Verwendung eines Eigennamens eine Art und Weise des Denkens an einen Gegenstand aus, und der Name bezieht sich auf irgendeinen Gegenstand, der zu dieser Vorstellung oder dieser Denkweise (am besten) passt. So kann ich beispielsweise mit ‚Cassius‘ die Vorstellung: ‚der Verschwörer, den Cäsar wegen seiner Größe verdächtigte‘ verbinden (wenn man sich an die berühmte Rede in Shakespeares ‚Julius Cäsar‘ erinnert). Vorstellungstheorien werden üblicherweise ‚Sinntheorien‘ genannt, im Anschluss an Freges Bezeichnung für eine Seite des Inhalts eines Ausdrucks als sein ‚Sinn‘ (im Gegensatz zur Bedeutung eines Ausdrucks, s. Frege, G.). Die andere der beiden Darstellungen ist die ‚Theorie der historischen Folge‘, die auf Kripke und Geach zurückgeht. In Geachs Worten ‚muss bei der Verwendung eines Wortes als Eigenname vor allem irgendetwas Vertrautes als der Gegenstand gegeben sein, der mit Namen genannt wird. […] Aber […] die Verwendung eines gegebenen Namens für einen gegebenen Gegenstand kann von einer Generation an die nächste weitergegeben werden […]. Platon kannte Sokrates, und Aristoteles kannte Platon, und Theophrast kannte Aristoteles, und so weiter in apostolischer Nachfolge bis in unsere Zeit. Das ist der Grund, warum wir zu Recht ‚Sokrates‘ als einen Namen auf die Weise verwenden können, wie wir dies tun.‘ (1969–1970: S. 288 f.) 1. Sinntheorien: Einführung 2. Sinntheorien: Drücken Namen einen Sinn aus? 3. Sinntheorien: Bestimmt der Sinn eines Ausdrucks seine Referenz? 4. Historische Folgen 5. Direkte Referenz und Freges Rätsel 1. Sinntheorien: Einführung Die Idee, dass Namen eine die Referenz bestimmende Vorstellung und damit ihren ‚Sinn‘ ausdrücken, stammt von Frege. Aber Frege kam zu dieser Auffassung 314
Eigennamen
nicht durch die Frage nach dem Mechanismus, der hinter der Referenzbeziehung steht, sondern vielmehr durch die Frage nach dem Unterschied des ‚Erkenntniswertes‘ zwischen zwei wahren Identitätsaussagen der Form a = a und a = b (zum Beispiel ‚Clark Kent ist Clark Kent und ‚Clark Kent ist Superman‘). Aussagen der ersten Art, sagt er, sind apriorischer Natur, während letztere ‚oft sehr wertvolle Erweiterungen unseres Wissens enthalten und nicht immer a priori bestimmt werden können‘ (‚Über Sinn und Bedeutung‘, 1892). Frege meint, dies zeige, dass die Propositionen (d.h. das Ausgesagte eines Satzes), die durch a = a und a = b ausgedrückt werden, nicht dasselbe sein können, selbst wenn a und b dieselben Person sind. Doch wenn die beiden Namen auf dieselbe Sache verweisen, dann gibt es keinen Unterschied in den Referenzen von a = a und a = b; und ferner werden diese beiden Sätze auf dieselbe Art und Weise zusammengesetzt. Entweder drücken beide also gar keine unterschiedlichen Propositionen aus, oder aber – und dies ist der Schluss, den Frege zog – das, was die Proposition eines Satzes S bestimmt, kann nichts mit der Struktur von S und den Referenzen seiner Wort- und Satzbestandteile zu tun haben (siehe Frege, G., §§ 3–4; Sinn und Bedeutung). Freges Vorschlag lautete, dass jeder bedeutungsvolle Ausdruck zusätzlich zur Eigenschaft der Referenzialität einen Sinn habe, wobei dieser Sinn die ‚Weise ist, wie man die Bedeutung denkt‘. Die Proposition, die ein Satz ausdrückt, bestimmt sich nach dem jeweiligen Sinn der Worte darin, und nicht durch deren Referenz. Daher drücken ‚Clark Kent ist Clark Kent‘ und ‚Clark Kent ist Superman‘ unterschiedliche Propositionen aus, weil ‚Clark Kent‘ und ‚Superman‘ einen unterschiedlichen Sinn ausdrücken, und zwar Sinngehalte, die Denkweisen derselben Referenz (Bedeutung) sind. Hielte man die Superman-Geschichte für wahr, so wäre der Sinn von ‚Clark Kent‘ vielleicht ‚weichherziger Reporter des Daily Planet, der für Lois Lane schwärmte‘, während der Sinn von ‚Superman‘ vielleicht ‚der blau angezogene Außerirdische, der fliegen kann‘ wäre. Hier bestimmten wir unterschiedliche Konzeptionen desselben Individuums in zwei deutlichen Beschreibungen, d.h. ausdrückender Form ‚der So-und-so‘ (siehe Beschreibung). Die Proposition, dass Superman Clark Kent sei, hat daher den Inhalt, dass der blau angezogene Außerirdische, der fliegen kann, der weichherzige Reporter des Daily Planet sei, der für Lois Lane schwärmte, was in der Tat, Freges Ausdrucksweise, eine Erweiterung unseres Wissens ist. Es war Freges Auffassung, dass in einer idealen Sprache jeder Name einen fixierten Sinn und eine ebenso fixierte Bedeutung für jeden habe. In einer gewöhnlichen natürlichen Sprache gibt es jedoch Namen, deren Referenz fehlerhaft ist, und Verwender von Namen können sich uneins über den Sinn eines Namens für einen bestimmten Einzelgegenstand sein, was Frege für einen Mangel der natürlichen Sprachen hielt. In einer Abwandlung von Freges Auffassung ließ Searle es zu, dass ein Name mit einem ganzen Bereich von Beschreibungen assoziiert wird; der Träger des Namens muss nicht alle Bedingungen, die in den Beschreibungen erwähnt werden, erfüllen, sondern nur ‚eine ausreichende Anzahl‘, was eine absichtlich vage Bedingung ist. Solche Konstruktionen wurden nach jenem Cäsar-Beispiel in der Literatur als ‚Sinntheorien der berühmten Taten‘ (engl.: ‚famous deeds sense theories‘) bezeichnet. ‚Sinntheorien der berühmten Taten‘ wurden von Kripke (1972) offenbar schlüssig widerlegt. Kripke wandte gegen solche Theorien sowohl ein, wie sie auf Freges eigenes Rätsel über den Unterschied zwischen a = a und a = b antworten, als auch, 315
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wie sie unsere ursprüngliche Frage betreffend den Referenzmechanismus behandeln. Wir werden diese Einwände gleich behandeln. 2. Sinntheorien: Drücken Namen einen Sinn aus? Nach Kripke ist an Propositionen, die man unter Verwendung von Eigennamen ausdrückt, kein Sinn und auch keine Denkweise von einem Gegenstand beteiligt, denn sonst würden solche Propositionen sowohl metaphysisch notwendig, als auch apriorisch sein, was sie beides klarerweise nicht seien. Man betrachte als Beispiel den Sinn des Eigennamens ‚Aristoteles‘ und seiner Beschreibung ‚ist der Schüler von Platon, der Alexander unterrichtete‘. Dann würde der Satz (1) Aristoteles war ein Schüler von Platon die Proposition mit dem Inhalt (2) Der Schüler von Platon, der Alexander unterrichtete, war ein Schüler von Platon ausdrücken. Satz (2) ist jedoch in gewissem Sinne notwendig, während (1) dies nicht ist. Es gibt keine Art und Weise, auf die sich die Dinge entwickelt haben könnten, in der (a) ein eindeutig bestimmter Schüler von Platon, der Alexander unterrichtete, existierte, und (b) diese Person kein Schüler von Platon war. Auf der anderen Seite gibt es viele Möglichkeiten, wie sich die Dinge entwickelt haben könnten, in denen (a’) Aristoteles existierte, aber (b’) Aristoteles kein Schüler von Platon war, z.B. weil er bereits jung gestorben war. Anders gesagt, wenn man als gegeben annimmt, dass es eine Person namens Aristoteles gab, dann mag diese Person ein Schüler von Platon gewesen sein oder nicht. Aber gibt man zu, dass es eine solche Person wie den Schüler von Platon gab, der Alexander unterrichtete, dann folgt daraus, dass er ein Schüler von Platon war. Dieses Beispiel zeigt deutlich Kripkes berühmte Unterscheidung zwischen ‚starren‘ und ‚nicht-starren‘ Bezeichnern. Beim Nachdenken darüber oder die Beschreibung von einer anderen Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelt haben könnten (andere ‚mögliche Welten‘) verwenden wir einen Namen wie ‚Aristoteles‘ übereinstimmend zur Bezeichnung ein und derselben Person; dies macht Eigennamen zu starren Bezeichnern. Wir verwenden aber eindeutige Beschreibungen wie z.B. ‚der Schüler von Platon, der Alexander unterrichtet‘ auf andere Weise. Hinsichtlich der wirklichen Welt zeigt diese Beschreibung auf den Aristoteles dieser unserer Welt; hinsichtlich einer möglichen Welt, wo jemand anderes der einzige Schüler Platons ist, der Alexander unterrichtete, verweist die Beschreibung auf eine andere Person, d.h. nicht auf Aristoteles. Und hinsichtlich einer möglichen Welt, wo weder Platon, noch Alexander existieren, verweist die Beschreibung auf überhaupt niemanden, selbst wenn Aristoteles existierte. Folglich sind solche Beschreibung nicht-starre Bezeichner. Gewisse Beschreibungen, wie z.B. ‚die positive Wurzel von 9‘ sind genauso starr wie Eigennamen, dies jedoch infolge ihres Gegenstandstypus, nicht wegen ihrer semantischen Rolle. Weil nun die typischen ‚Beschreibungen der berühmten Taten‘ nicht starr sind, entsteht der Gegensatz zwischen Paaren wie (1) und (2) und der Notwendigkeit bzw. der Kontingenz (siehe Referenz). Genauso, wie (1) und (2) sich hinsichtlich ihres modalen Status unterscheiden, unterscheiden sie sich auch erkenntnistheoretisch: Wenn man die Frage der Existenz einmal ausklammert, dann ist (2) in beschränktem Sinne a priori erkennbar, was für 316
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(1) nicht gilt. Das heißt, dass es dank der früheren Existenz der Person des Aristoteles eine weitere und empirische Frage ist, ob er ein Schüler des Platon war (auch wenn sich Historiker vielleicht darüber streiten). Geht man nun davon aus, dass es eine solche Person als Schüler von Platon gab, die Alexander unterrichtete, so ist es keine weitere Frage, und a fortiori keine empirische, ob er ein Schüler von Platon war. Derselbe Einwand richtet sich auch gegen Searles veränderte Fassung der Sinntheorie. Egal, welchen Beschreibungsbereich wir beispielsweise mit einem Namen assoziieren, werden diese Sätze erzeugt, die a priori von der Art des Satzes (2) sind. Wenn φ logisch die Eigenschaft φ’ impliziert, dann gilt (3) Das Ding, das ein F-und-G oder eine G-und-H ist, ist F’ oder G’ oder H’ ist im Wesentlichen derselbe wie (2), nur komplizierter. Wenn aber das Prädikat F, G, und H ‚berühmte Taten‘ bezeichnet, dann wird daraus (4) NN ist F’ oder G’ oder H’, wobei ‚NN‘ der Name ist, mit dem der Ausdruck ‚das Ding, mit dem F oder G oder H‘ assoziiert ist, nicht stärker a priori indiziert ist als (1). 3. Sinntheorien: Bestimmt der Sinn eines Ausdrucks seine Referenz? Kripke bewies aber noch einen weiteren Fehler in den ‚Sinntheorien der berühmten Taten‘. Sie liefern nämlich keine angemessene Antwort auf die Frage nach dem Mechanismus der Referenz. Dies ist deshalb der Fall, weil (1) der wahrscheinliche Kandidat für den Sinn eines Namens auf einen Gegenstand verweisen kann, der in Wirklichkeit gar nicht der Träger des Namens ist, oder vielleicht auch auf gar keinen Gegenstand verweist, und (2) wir selbst dann mit einem Namen auf etwas verweisen können, selbst wenn wir gar keine ‚Beschreibung der berühmten Taten‘ von diesem Etwas haben. Kripke illustriert (1) mit zwei Beispielen. Wenn irgendeine Beschreibung mit dem Namen ‚Gödel‘ verbunden ist, so ist es die Beschreibung: ‚der Entdecker der Unvollständigkeit der Arithmetik‘. Bedeutet dies, dass ‚Gödel‘ sich auf diese Person bezieht? Was wäre, wenn das Theorem in Wirklichkeit von Schmidt bewiesen worden wäre, der unter seltsamen Umständen zu Tode kam, und Gödel sich Schmidts Werk aneignete und es als sein eigenes ausgab? Genau die Tatsache, dass wir dieses ‚was wenn‘ verstehen können, zeigt, dass die Referenz von ‚Gödel‘ nicht als diejenige Person fixiert ist, die die Unvollständigkeit der Arithmetik entdeckte. Und obwohl dieses Beispiel fiktiv ist, gibt es doch ähnliche wirkliche Fälle: Peanos Axiome gehen nicht auf Peano zurück, und Einstein war nicht der Erfinder der Atombombe. Für Fälle, wo es Beschreibungen gibt, die auf überhaupt keinen Gegenstand verweisen, obwohl der fragliche Name durchaus eine Referenz besitzt, nennt Kripke das Beispiel des Propheten Jonah, der wirklich existierte (zumindest nach Meinung der Gelehrten), dessen Lebensweg, wie er in der Bibel beschrieben wird, im Wesentlich fiktiv ist. Die reine Einsehbarkeit der Behauptung: ‚Jonah war eine historische Person, aber alles, was die Bibel über ihn sagt und ihn angeblich eindeutig identifizieren soll, ist frei erfunden‘ genügt bereits um zu zeigen, dass die Referenz ‚Jonah‘ nicht fixiert ist, das der hebräische Prophet nicht als derjenige fixiert war, der von einem Wal verschluckt wurde, oder von einem anderen Umstand betroffen war, wie kompliziert die Dinge sich auch verhalten mögen, die im Buch Jonah geschildert werden. 317
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Was den Einwand (2) angeht, d.h. die erfolgreiche Referenz ohne eine damit verbundene (eindeutige) Beschreibung, betont Kripke, dass alle Menschen die Namen ‚Richard Feynman‘ und ‚Murray Gell-Mann‘ benutzen können, um auf die beiden entsprechenden Persönlichkeiten zu verweisen, dass aber die Leute typischerweise über diese beiden Männer nur wissen, dass sie berühmte Physiker sind, die den Nobelpreis gewannen (dies schrieb Kripke, noch bevor Feynman durch seine Rolle bei der Aufklärung der Katastrophe der Raumfähre Challenger in den USA berühmt wurde, wo er als lediglich außerordentliches Kommissionsmitglied aufgrund divergierender Unfall-Wahrscheinlichkeitsschätzungen nachwies, dass die Challenger-Katastrophe menschliches Versagen war, weil aus Sparsamkeit auf wichtigste Sicherheitsvorkehrungen verzichtet und die Unfallwahrscheinlichkeit anschließend grob fahrlässig ‚heruntergerechnet‘ worden war). Hier liegt also ein Unterschied in der Referenz vor, ohne dass ein Unterschied in den damit verbundenen Beschreibungen gegeben ist (beide sind Physik-Nobelpreisträger). Daher sind die mit den beiden Männern verbundenen Beschreibungen nicht der Kern dessen, wie die Referenzmechanik der Eigennamen arbeitet. Vielleicht führen diese Beispiele nur deshalb zu der bezeichneten Schlussfolgerung, weil sie sich auf Beispiele von ‚berühmten Taten‘ beziehen. Kripke betrachtete auch einige andere Ansätze und kommt zu dem Schluss, dass sie die wichtige Bedingung der Nicht-Zirkularität verletzen: die Beschreibungen von Kandidaten dürfen selbst nicht den Begriff der Referenz auf eine Weise enthalten, die nicht eliminiert werden kann. Beispielsweise könnten wir vorschlagen, dass die Referenz von ‚Sokrates‘ als ‚der Mann, der „Sokrates“ genannt wird‘ festgelegt wird. Da ‚genannt‘ nichts anderes bedeutet als ‚auf den Bezug genommen wird‘, können wir nicht erklären, wie die Referenz auf Sokrates auf diese Weise möglich sein soll: wir wollen doch wissen, wie Sokrates dazu kommt, der Mann zu sein, den man ‚Sokrates‘ nennt, denn dass man ihn so nennt, wissen wir bereits. Als Vorschlag über die Funktionsweise der Referenz geht dieses Beispiel also ins Nichts, und Kripke wendet plausibel ein, dass dasselbe auch für kompliziertere Fassungen zum Beispiel der Idee gelten würde, dass sich ‚Gödel‘ auf die Person bezieht, der gemeinhin der Beweis für die Unvollständigkeit der Arithmetik zugeschrieben wird. Auch die Beispiele eine Sinntheorie ‚nicht-berühmter Taten‘ würden also versagen. In Anbetracht der Kripkeschen Kritik der ‚Sinntheorien berühmter Taten‘ sieht es so aus, dass, wenn überhaupt eine Sinntheorie annehmbar sein soll, dies irgendeine ‚Nicht-berühmte Taten‘-Darstellung sein müsste. 4. Historische Folgen Der stärkste Konkurrent zur Darstellung des Mechanismus der Referenz ist die Theorie von Kripke/Geach betreffend die ‚historische Folge‘, wo die Kompetenz zum Verweis mit einem Namen auf einen Gegenstand über Generationen hinweg auf eine Weise übertragen wird, wie sie von Geach in dem obigen Zitat beschrieben wird. Die ‚Darstellung der historischen Folge‘ wird manchmal auch die ‚Darstellung der Kausalkette‘ genannt, denn man meinte, dass die Verknüpfungen der Kettenglieder durch Transaktionen kausaler Natur hervorgerufen werden. Nach Kripkes eigener Version, die er selbst eher als ‚Bild‘, denn als Theorie beschreibt, wird ein Name in eine Gemeinschaft durch irgendeine ‚anfängliche Taufe‘ eines Gegenstandes mit dem jeweiligen Namen eingeführt, und der Name wird daraufhin von Glied zu 318
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Glied weitergegeben, wobei es auf jeder Stufe erforderlich sei, dass der Empfänge des Namens „die Absicht hat […] ihn mit derselben Referenz zu verwenden wie [die Person], von der er den Namen gehört hat.“ Wenn wir uns dies anschauen, d.h. wie uns ein Gegenstand mitgeteilt wird, so dass wir mit ihm ‚vertraut‘ werden, dann ist die Geach-Kripke-Darstellung ein Beispiel für einen Ansatz, wie er bereits von Bertrand Russell entwickelt wurde, der die Vertrautheit mit einem Gegenstand zur notwendigen Bedingungen eines Verweises auf diesen Gegenstand machte. Russells Begriff der Vertrautheit war jedoch ein sehr eigener: abgesehen von unseren eigenen Sinnesdaten, unserem Selbst, den Universalien und vielleicht noch dem Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment verfügen wir nach Russell über gar keine Vertrautheit mit Dingen. Da aber die gewöhnlichen Namen, die ich offenkundig für andere Menschen und Dinge verwende, nicht die Namen von Sinnesdaten sind, so behauptete Russell, dass in einem ‚logischen‘ Sinne die gewöhnlichen Namen gar keine ‚eigentlichen‘ Namen sind. Stattdessen, meinte er, seien sie getarnte eindeutige Beschreibungen. Aus diesem Grund nennt Kripke die Auffassung, der er widerspricht, manchmal die ‚Frege-Russell-Theorie der Namen‘. Man muss hier im Kopf behalten, dass Frege und Russell unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie die Referenz funktioniert; es gibt folglich gar keine ‚Frege-Russell-Theorie‘ der Referenz. Weil aber nach Russells Darstellung die gewöhnlichen Namen überhaupt keine Referenzbeziehung aufbauen, sagten die beiden Philosophen am Ende Dinge über solche Namen, die sich irgendwie ähnlich anhörten. Wenn wir uns wieder der Kripkeschen Darstellung der Referenzmechanismen als einem informationellen Austausch zuwenden, bei dem die Intention zur Bewahrung gegenwärtig ist, so drängt sich die Frage auf, ob hier überhaupt ein Fortschritt gegenüber den zirkulären Beschreibungstheorien erreicht wurde. Schlussendlich geht der Begriff der Referenz ausdrücklich in Kripkes notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Weitergabe des Namens ein, und sie geht auch schon in den Beginn dieser Folge ein, wo irgendeine Form von demonstrativer Bezugnahme auf den Gegenstand, die er als ‚Taufe‘ bezeichnet, üblicherweise stattfindet. Dieselbe Frage anders formuliert: Wenn diese Darstellung Erklärungswert haben soll, was wäre dann falsch an einer Beschreibungstheorie, die einem Namen die Bezeichnung ‚NN‘ zuordnet, sowie dem Verwender U dieses Namens einen Sinn des Inhalts: ‚der Gegenstand zu Beginn der Kette der Referenz-wahrenden Verknüpfungen, durch die ich in der Lage bin, diesen Namen richtig zu verwenden, wobei [ich] sich auf U bezieht’? Eine Schwierigkeit mit der Fassung einer Beschreibungstheorie ist, dass kein normaler Sprecher einer natürlichen Sprache eine solche Beschreibung mit einem Eigennamen assoziiert, denn diese Beschreibung verkörpert eine philosophische Theorie, und es ist schwer einzusehen, wie man die Behauptung rechtfertigen könnte, diese Assoziation sei ‚implizit‘. Hier zeigt sich also ein Gegensatz zu Kripkes Vorschlag, indem ausschließlich Sprecher vorausgesetzt werden, die die Absicht haben, die Referenz des neuen Namens, den sie gerade gelernt haben, zu bewahren. Und es ist sicherlich plausibel, dass Sprecher eine solche Absicht hegen. Es gibt aber immer noch einen Sinn, in dem das fundamentale Wesen des Referenzmechanismus unerklärt ist. Was ist eigentlich genau die besagte ‚Taufhandlung‘, oder was meint man mit Eltern, die die Namenswahl für ihr Kind bekannt geben, wodurch der 319
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Sprache ein neuer ‚Rufname‘ hinzugefügt wird? Oder ist hier der Ruf nach weiterer Erklärung die Forderung nach einer ‚reduktiven‘ Darstellung der Referenz als nichtsemantische Vorstellungen (siehe Referenz), was vielleicht unmöglich ist? Das Bild der Kausalkette wirft aber noch weitere Schwierigkeiten auf, wie Kripke bereits erwähnt. Beispielsweise könnte die unmittelbare Anwendung des Bildes zu der Schlussfolgerung führen, dass ‚Weihnachtsmann‘ der Name irgendeines zentraleuropäischen Königs sei, was offenkundig falsch ist. Evans schlug hierzu eine abweichende kausale Darstellung vor, nach der die ‚kausale Quelle‘ der Information, die mit dem Namen verbunden ist, selbst bestimme, auf was sie verweist, wenn auch auf komplizierte Weise. Evans beobachtete, dass die Referenz eines Namens innerhalb einer Sprechergemeinschaft sich mit der Zeit verändern kann, wenn sie ursprünglich der Name für ein x war, dass irrtümlicherweise, wenn auch konsistent, immer auf ein y angewendet wurde. Dieses y wird dann schließlich der Träger dieses Namens und damit zur dominanten kausalen Quelle für die Information, die damit assoziiert ist (bis zu dem Moment, wie Evans schreibt, wo junge Mitglieder der Gemeinschaft sich bei der Verwendung des Namens wieder auf diejenigen verlegen, die damit ursprünglich x bezeichneten). Evans hat seine Darstellung daraufhin noch weiter ausgebaut. 5. Direkte Referenz und Freges Rätsel Ein verblüffendes Merkmal des Geach-Kripke-Bildes ist, dass es dem Sinn keinerlei Rolle als etwas zuweist, das die Referenz bestimmt. Der einzige Anwärter für die ‚Bedeutung‘ eines Namens ist daher nur der Name der Referenz selbst. Eine Theorie, die beansprucht, dass die Bedeutung eines Namens nur ganz schlicht und einfach seine Referenz sei, wird oft als ‚Theorie der direkten Referenz‘ bezeichnet, wobei ‚direkt‘ hier bedeutet, dass die Referenz nicht durch den Sinn vermittelt wird. Die Ursprünge solcher Theorien gehen über Russell bis auf Mill zurück. In jüngerer Zeit wurde dies wieder in den Schriften von Marcus über die Referenz aufgegriffen und danach auch in nachhaltiger Form von Salmon und Soames weiterentwickelt und verteidigt. Das Hauptproblem, dem sich die Theorien der direkten Referenz ausgesetzt sehen, ist das Rätsel betreffend den Unterschied zwischen a = a und a = b. Das allgemeine ‚Rätsel des Ersetzungsfehlers‘ ist jenes, wie es möglich sei, dass die Bedeutung zweier Sätze auseinander fallen kann, wenn die Sätze dieselbe Struktur haben und ihre entsprechenden Teile dieselbe Bedeutung haben. Beispielsweise scheint (5) Es ist für jeden rational denkenden Menschen selbstevident, dass im Falle der Existenz von Superman gilt: Superman = Superman wahr zu sein, und ‚Superman‘ und ‚Clark Kent‘ weisen dieselbe Referenz auf. Deshalb sollte nach der Theorie der direkten Referenz (5) dieselbe Bedeutung haben wie (6) Es ist für jeden rational denkenden Menschen selbstevident, dann im Falle der Existenz von Superman gilt: Superman = Clark Kent. Auf den ersten Blick hat (6) aber nicht einmal denselben Wahrheitswert wie (5), ganz zu schweigen von der angeblich selben Bedeutung. Das Versagen der Ersetzbarkeit wird von einer Sinntheorie der Namen ganz direkt behandelt, indem sie zulässt, dass Namen, die auf denselben Gegenstand verweisen (d.h. koreferenzielle Namen) einen unterschiedlichen Sinn haben können. 320
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Die Behauptung ist hier also, dass nicht nur die Referenz, sondern auch der Sinn von ‚Superman‘ in die Wahrheitsbedingung von (5) eingeht, während in (6) auch der Sinn von ‚Clark Kent‘ eine Rolle spielt. Es gibt eine Reihe von Mechanismen, auf die man sich hier beziehen könnte, wobei der von Frege genannte noch der einfachste ist: in (5) und (6) beziehen sich die Eigennamen nach Frege auf ihren jeweiligen Sinn, und nicht auf die Person, auf die sie sich normalerweise beziehen (siehe Sinn und Bedeutung). Aber die Probleme mit einer jeglichen Erklärung des Ersetzbarkeitsversagens bei den Eigennamen, wodurch man wieder auf den Sinn gestoßen wird, entstehen dadurch, dass die Sinntheorien der Eigennamen von Kripke so gründlich zerschmettert wurden. Die Theorie der direkten Referenz scheint es dagegen einfacher zu haben mit der Erklärung des semantischen Unterschieds zwischen (5) und (6). In der vielleicht bekanntesten Fassung der Theorie, nämlich der von Salmon, wird einfach bestritten, dass es überhaupt einen semantischen Unterschied zwischen (5) und (6) gebe. Der Fakt, dass die Ersetzung die Wahrheitswerte in Fällen wie (5) und (6) ändert, wird so erklärt, dass dies auf pragmatischen Wirkungen beruhe (siehe Pragmatik). Offensichtlich ist die einzige Alternative für einen Theoretiker der direkten Referenz jene der Identifikation irgendeiner Annahme im Beweis, dass die Ersetzung der koreferierenden Namen nicht deren Bedeutung ändere, und diese Annahme daraufhin zu bestreiten. Diese Strategie bringt aber ein mögliches Ziel der Kritik hervor. Wir schlugen vor, dass das, was das Ersetzbarkeitsversagen zu einem Rätsel mache, der Umstand sei, dass Sätze mit derselben Struktur, deren einander entsprechende Bestandteile dieselbe Bedeutung haben, auch an sich selbst dieselbe Bedeutung haben sollten. Dies setzt jedoch voraus, dass die Bedeutung des gesamten Satzes schon vollständig durch die Bedeutung seiner Teile und ihrer Art und Weise der Zusammensetzung bestimmt ist (siehe Kompositionalität). Der Begriff der Struktur, auf den in der Wendung ‚Art und Weise der Zusammensetzung‘ angespielt wird, ist einer, der nur gegenüber den syntaktischen Ausdruckskategorien empfänglich ist, nicht jedoch gegenüber der Identität von Ausdrücken. Es gibt aber noch eine weitere, eher ‚logische‘ Vorstellung von der Struktur, nach der die Verwendung eines unterschiedlichen Wortes, selbst wenn es dieselbe Bedeutung hat, die Struktur zerreißen kann. In diesem logischen Sinne ist die Struktur von ‚Wenn Superman existiert, dann Superman = Superman‘ die von ‚Wenn Et dann tt‘, während ‚Wenn Superman existiert, dann Superman = Clark Kent‘ die davon verschiedene Struktur ‚Wenn Et, dann t = t*‘. Wenn wir der Auffassung sind, dass ein Ersetzung nur dann akzeptabel ist, wenn sie die logische Struktur nicht verändert, dann können wir von (5) lediglich schließen: (7) Es ist für jeden rational denkenden Menschen selbstevident, dass, wenn Clark Kent existiert, dann Clark Kent = Clark Kent was vermutlich wahr ist, sofern (5) wahr ist. Natürlich hilft uns dies nichts in den Fällen des Versagens der Ersetzbarkeit, wo der Name, der ersetzt werden soll, nur ein einziges Mal vorkommt. (‚Lois glaubt, dass Superman ein Außerirdischer ist‘), aber einige der Theoretiker der direkten Referenz versuchten bereits einen etwas allgemeineren Begriff der Struktur in diesen Fällen zu entwickeln. Es ist der Umgang mit den Rätseln der Ersetzbarkeit, der letztlich die Entscheidung zwischen Sinntheorien und Theorien der direkten Referenz der Eigennamen 321
Eigentum
herbeiführt. Die Sinntheoretiker müssen eine vertretbare Darstellung des Sinns von Namen finden, und die Theoretiker der direkten Referenz müssen eine überzeugende Darstellung entweder dazu vorlegen, warum die Ersetzbarkeit in Fällen wie (5) versagt, oder aber warum es überhaupt solche überzeugenden Fälle gibt, die eine derartige Bemühung notwendig machen. Siehe auch: De Re / De Dicto; Kripke, S.A. Anmerkungen und weitere Lektüre: Geach, P.T. (1969–1970): ‚The Perils of Pauline‘, Review of Metaphysics 23: S. 287–300; Wiederabdr. in ‚Logic Matters‘, Berkeley, California: University of California Press, 1972, S. 153–165. (Eine Darstellung der ‚Theorie der historischen Folge‘ und eine Diskussion der Verwendung von Namen in intentionalen Kontexten.) Kripke, S.A. (1972): ‚Naming and Necessity‘, in D. Davidson und G. Harman (Hrg.): ‚Semantics of Natural Language‘. Dordrecht: Reidel, S. 252–355. (Dies ist einer der einflussreichsten und am meisten diskutierten Texte der Nachkriegsphilosophie.) GRAEME FORBES
Eigenschaften
Siehe: Abstrakte Gegenstände; Natürliche Arten; Universalien
Eigentum Einführung Die meisten der großen Philosophen haben Ansichten zum Eigentum, zu seiner Rechtfertigung und seinen Grenzen, und insbesondere zur Rechtfertigung, das es überhaupt Privateigentum gibt, geäußert. Allgemein muss man diese Ansichten immer vor dem Hintergrund der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihrer Zeit sehen. Beachtenswerte Theorien befassen sich mit dem Erstbesitz (grob gesagt: ‚wer auch immer seine Hand daran legt, besitzt es zu Recht‘), der Arbeit (‚wer immer dies gemacht hat, verdient das Eigentum daran‘), die Nützlichkeit und / oder Leistungsfähigkeit (‚Menschen das Privateigentum zu gestatten ist der effektivste Weg zur Erhaltung einer Gesellschaft‘) und die Persönlichkeit (‚Privateigentum ist notwendig für die personale Entwicklung‘). Nur wenige Denker verteidigen heute noch die Theorie des Erstbesitzes, aber die übrigen drei Theorien haben ihre zeitgenössischen Unterstützer. Einige Philosophen kombinieren zwei oder mehr Theorien zu solchen, die auf mehreren Prinzipien beruhen oder auch ‚pluralistischen‘ Rechtfertigungen des Eigentums. Viele drücken ihre Sorge über die große Kluft zwischen Arm und Reich aus und argumentieren für Beschränkungen der Ungleichheit im Vermögen. 1. Der Begriff des Eigentums 2. Die Theoriegeschichte des Eigentums 3. Systematische Rechtfertigungen des Privateigentums 4. Beschränkungen bei der Verteilung von Eigentum 1. Der Begriff des Eigentums Der Eigentumsbegriff wird hauptsächlich auf zwei Weisen verstanden. Zunächst ist er auf materielle Dinge wie Werkzeuge, Häuser und Land anwendbar. 322
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Zweitens ist er auf Bündel von Rechten oder Rechtsgesamtheiten anwendbar. Die meisten Rechtsanwälte und Philosophen betonen die zweite Begriffsauffassung vor der ersten. Die erste ist zu eng, um auch die immateriellen Wirtschaftsgüter wie Urheberrechte, Patente und Marken zu erfassen. Aber für die rechtliche und philosophische Analyse ist die zweite Auffassung des Eigentumsbegriffs nützlicher. Das Wort ‚Rechte‘ umfasst hier zahlreiche normative Modi (siehe Rechte, § 2). Folgt man Hohfeld und Honoré, so umfasst das Rechtepaket, das ‚Eigentum‘ genannt wird, folgendes: den Rechtsanspruch auf Besitz, Nutzung und Fruchtziehung; die Verfügungsmacht zur Übertragung, zum Verzicht und zum Ausschluss Dritter; eine Machtlosigkeit Dritter, eine Verfügung darüber zu erzwingen; die Freiheit zum Verbrauch oder zur Zerstörung; und schließlich eine Immunität gegen Enteignung durch die Regierung. Es ist wahrscheinlich ein vergebliches Unternehmen, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für alle Rechte auszumachen, unter denen sie zu einem dinglichen Recht und nicht zu einem schuldrechtlichen (i.d.R. vertraglichen) oder deliktischen Anspruch (z.B. einem Anspruch aus unerlaubter Handlung) werden. Doch ist es die Mühe wert, diejenigen Rechte zu identifizieren, die am ehesten zum Kern des Eigentums gehören, oder auch die Regeln auszumachen, die solche Rechte erzeugen. Das zweite Verständnis des Eigentums wird aus vielen Gründen bevorzugt. Es ist auf sehr unterschiedliche Kulturen anwendbar. Es ist nützlich sowohl in der rechtlichen, als auch in der philosophischen Analyse. Es verträgt sich sowohl mit den Willens-, als auch mit den Interessenstheorien der Rechte. Es erfasst sowohl das volle, als auch das beschränkte Eigentumsrecht wie z.B. die Grunddienstbarkeiten, und sowohl die materiellen, als auch die immateriellen Wirtschaftsgüter. Es erlaubt die Unterscheidung verschiedener Arten von Eigentum je nach Identität des Rechtsinhabers. Daher hält eine Einzelperson oder eine Gesellschaft Privateigentum, ein Stamm hat u.U. Gemeinschaftseigentum, und eine Regierung hat öffentliches oder staatliches Eigentum. Diese Erklärung des Eigentumsbegriffs ist neutral gegenüber den Arten von Dingen, die den Eigentumsrechten unterworfen sein können. Nur sehr wenige Theoretiker würden heute wohl noch die Sklaverei verteidigen, die die extremste Eigentumsform an lebenden Körpern anderer Menschen oder sogar an anderen Personen ist. Stärker diskutiert wird dagegen schon, ob Menschen Eigentumsrechte an der Gesamtheit ihres eigenen Körpers haben können, an ihren Körperteilen im Falle von Transplantationen, an persönlichen Informationen in der kulturellen Praxis, an Wohlfahrtszahlungen oder anderen Formen amtlicher Freigiebigkeiten, oder an den Rohstoffen des Meeresboden oder Gegenständen des freien Weltraums. Der Ansatz von Guido Calabresi und Douglas Melamed hinsichtlich des Eigentumsbegriffs, den Philosophen-Ökonomen oder Rechts-Ökonomen häufig benutzen, unterscheidet sich begrifflich nicht von dem von Hohfeld und Honoré. Für Calabresi und Melamed ist die grundlegende Idee der ‚Anspruch‘ bzw. die ‚Berechtigung‘. Ein Anspruch ist, grob gesagt, ein Interesse, das vom Gesetz geschützt wird oder werden sollte. Es muss allerdings entschieden werden, welche Ansprüche geschützt werden sollen, und wie dies geschehen soll. Was Letzteres betrifft, kann das Gesetz das anwenden, was Calabresi und Melamed ‚Eigentumsregeln‘, ‚Haftungsregeln‘ und ‚Regeln der Unveräußerlichkeit‘ nennen. Diese technischen Ausdrücke können in die Terminologie von Hohfeld übersetzt werden. Wenn der Anspruch einer Per323
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son durch eine Eigentumsregel geschützt ist, dann sind andere im Hinblick auf die Erlangung desselben Anspruchs ‚entmächtigt‘, außer um einen Preis, der zuvor mit dem Rechtsinhaber vereinbart sein muss. Wenn der Anspruch einer Person durch eine Haftungsregel geschützt ist, sind andere im Hinblick auf die Erlangung oder die Wertminderung dieses Anspruchs entmächtigt, solange sie den Rechtsinhaber nicht in Höhe eines öffentlich festgestellten Betrages entschädigen. Wenn der Anspruch einer Person durch eine Regel der Unveräußerlichkeit geschützt ist, dann hat der Rechtsinhaber nicht die Macht, den Anspruch auf andere zu übertragen (z.B. das Recht am eigenen Namen). Der wirkliche Wert des Ansatzes von Calabresi und Melamed liegt in dem Licht, das er auf die Integration von Eigentum und Deliktischer Haftung9 wirft, auf seine Anwendbarkeit z.B. im Umweltschutzrecht, auf seine Sensibilität gegenüber Verteilungs-, als auch gegenüber Wirksamkeitsüberlegungen, und auf die Wahl zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen der Verletzungen von Eigentumsrechten. 2. Die Theoriegeschichte des Eigentums Viele der großen Philosophen haben Ansichten zum Eigentum geäußert. Schon Platon formulierte zwei unterschiedliche Auffassungen (siehe Platon, §§ 14, 17). Im ‚Staat‘ zeichnet er eine ideale Gesellschaft, in der die Herrschenden und seine Helfer zwar die politische Macht innehaben, aber praktisch über kein privates Eigentum verfügen. Gewöhnliche Bürger haben Privateigentum, dessen ungleicher Verteilung Grenzen gesetzt sind, aber dafür besitzen sie fast keine politische Macht. Im Gegensatz dazu schildern die ‚Gesetze‘ eine praktische, eher zweitbeste Gesellschaft. Sie bevorzugt den individuellen Privatbesitz mit einer zugrunde liegenden gemeinschaftlichen Eigentümerschaft. Regulierungen sorgen für eine ungefähr gleiche Vermögensverteilung. Aristoteles tritt eher für das private, als für das gemeinschaftliche Eigentum aus Gründen ein, die in Beziehung zum reibungslosen Funktionieren einer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft stehen. Seine ‚Politik‘ vermag jedoch nicht zu zeigen, wie das Eigentum „in einem gewissen Sinne gemeinschaftlich, der allgemeinen Regel zufolge aber privat“ sein könnte oder gar sollte. Locke bietet zumindest im ‚Zweiten Traktat‘ eine Arbeitstheorie des Eigentums an (siehe Locke, § 10). Die Interpretation seiner Theorie ist strittig. Es ist unklar, wie viel von dieser Theorie auf der Vermischung der Arbeit einer Person mit nicht in ihrem Eigentum befindlichen Sachen beruht, oder auf dem Ausschluss des Untätigen von der Teilhabe am Nutzen der Mühe des Arbeitenden, und auch der Umfang, zu dem die Bedürfnisse anderer und Einschränkungen bei der Abfällproduktion den Eigentumserwerb durch die Arbeit begrenzen. Es ist auch strittig, ob Lockes Theorie protokapitalistisch ist, oder ob sie von irgendeiner naturrechtlichen Konzeption abgeleitet ist. Hume und Bentham sind die ersten wichtigen utilitaristischen Theoretiker des Eigentums. Für Hume erklärt der Nutzen im Sinne eines gemeinsamen Interesses, wie Privateigentum entsteht (siehe Hume, D., §§ 4–5). Dieser Nutzen rechtfertigt auch die allgemeine Institution des Privateigentums und dessen spezifische Eigentumsregeln. Bentham versteht den Nutzen als das Überwiegen der Lust über den Schmerz und betrachtet das Eigentum als Erwartungen der Lust. Die Sicherheit von 9
Im deutschen Zivilrecht: §§ 823 ff. BGB
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Erwartungen hat in den Überlegungen von Bentham mehr Gewicht als die Verteilungsgleichheit und lässt ihn das Privateigentum bevorzugen. Gleichwohl äußert sich Bentham sehr kritisch über das englische Eigentumsrecht seiner Zeit. Kant und Hegel haben sich hierzu ebenso geäußert wie Hume und Bentham, wenn auch weniger eng und komplizierter. Für Kant kann eine Form von Privateigentum, wie schon für Locke, im Naturzustand existieren (siehe Kant, I., § 10). Kant entwickelte jedoch eine Theorie des Gesellschaftsvertrages, nach der nur eine Gesellschaft dem individuellen Besitz seine volle normative Bedeutsamkeit als Privateigentum geben könne. Hegel betrachtet das kantische Privateigentum als übermäßig individualistisch und als etwas, was zum Reich der ‚abstrakten Rechte‘ gehöre (siehe Hegel, G.W.F., § 8). Eine fortgeschrittenere Form des Eigentums existiere in der ‚Zivilgesellschaft‘, was ungefähr das soziale Korrelat des Laissez-faireKapitalismus sei. Nur in einem ‚Staat‘ entwickle sich das Privateigentum vollständig umgeformt. Privateigentum, das ungleich verteilt ist, existiert auch dort immer noch, ist aber im organischen Interesse aller Bürger stärkeren staatlichen Regulierungen unterworfen. Marx verwirft Hegels dialektische Verteidigung des Privateigentums mehr oder weniger als Geschwätz. Marx glaubte, dass die kapitalistische Produktion, nicht die ungleiche Vermögensverteilung, das ernsthaftere Problem sei, denn der Kapitalismus verzerre die menschlichen Beziehungen. Insbesondere bringe das Privateigentum im Kapitalismus eine sog. Entfremdung mit sich, d.h. eine Absonderung der Personen von der Natur, den Produkten ihrer Arbeit, den anderen Menschen und am Ende sogar von sich selbst (siehe Entfremdung). Doch auch bei Marx ist unklar, ob alle Formen des Privateigentums eine Entfremdung mit sich bringen, oder ob die Entfremdung in der reifen kommunistischen Gesellschaft, die er kommen sieht, abwesend sein wird. 3. Systematische Rechtfertigungen des Privateigentums Erstbesitz und Anspruch. Versuche zur Rechtfertigung des Eigentumserwerbs dadurch, dass man die erste Person ist, die etwas in Besitz nimmt, hat nur wenige Anhänger gewonnen. Die allgemeine Schwierigkeit besteht hier darin zu zeigen, warum die erste Inbesitznahme das volle Eigentum, und nicht nur beschränkte Nutzungsrechte zur Folge haben soll. Spezifische Schwierigkeiten bereitet die Formulierung, welche Besitznahmehandlungen überhaupt zählen, ferner zu erklären, wie lange sie andauern müssen, und auch die Identifikation des Gegenstandes oder des Gebietes, das besessen wird. Angenommen, jemand beansprucht das Eigentum an einem Acker landwirtschaftlicher Anbaufläche einfach deshalb, weil er an einem Ort eine Stunde lang steht. Warum sollte diese Person hier nicht anbauen dürfen, statt nur herumzustehen, d.h. dort einfach ein weiteres Jahr bleiben und nicht nur eine Stunde, und nicht auf dem gesamten Acker die entsprechenden Handlungen vornehmen, statt nur auf einer Fläche von einem halben Quadratmeter? Für viele dieser Schwierigkeiten gibt es keine einfachen Lösungen. Lediglich diejenigen, die mit den Rechten von Eingeborenen sympathisieren, berufen sich manchmal auf das Recht der ersten Inbesitznahme. Eine damit zusammenhängende Darstellung ist die libertäre Anspruchstheorie von Robert Nozick. Nozicks Position ist unscharf hinsichtlich der Frage, welche Handlungen nach seinem Prinzip der Erwerbsgerechtigkeit erwerbstauglich sind. 325
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Die Literatur reagierte mit scharfen Angriffen auf seine Position. Darunter finden sich Einwände wie z.B. die Frage, wie je ein einzelner Mensch durch einseitiges Handeln anderen Menschen moralische Pflichten auferlegen kann, damit sie sich vom Einsatz bestimmter Mittel enthalten; ferner Sorgen wegen der Ungleichheit der Vermögensverteilung und die Skepsis, ob irgendein lebender Mensch heutzutage moralisch gültige Eigentumsrechte hat, die ihm von irgendeinem Ursprungserwerber übergeben wurden. Nozick hat auf diese Angriffe nicht geantwortet. Andere libertäre Theorien gründen sich entweder auf wirtschaftliche Überlegungen oder auf starke Konzeptionen der Freiheit und der individuellen Rechte (siehe Libertinismus). Arbeit. Vielversprechender schauen dagegen die Bemühungen zur Neuformulierung der Arbeitstheorie im Sinne eines Verdienstes des Arbeitenden aus. Lawrence Becker und Stephen Munzer haben teilweise unterschiedliche Darstellungen eines Arbeits-Verdienst-Prinzips vorgelegt. Becker (1977) meint, dass ein Arbeitender, wenn er dem Leben anderer auf irgendeine moralisch zulässige Weise, und ohne hierzu verpflichtet gewesen zu sein, einen Wert hinzugefügt hat, eine angemessene Entlohnung verdient. Die Eigentumsrechte mögen der passendste Lohn sein, doch welcher Lohn letztlich ‚am passendsten‘ ist, hängt von den Zwecken ab. Beckers Theorie klärt jedoch nicht, welche Zwecke (z.B. der Versuch, Eigentumsrechte zu erlangen?) relevant seien. Und er erklärt nicht, warum der Zweck das einzige Kriterium des Passens sein soll. Gleichwohl besteht Becker zu Recht darauf, dass Verluste infolge der Arbeit des Arbeitenden auch eine Kürzung der Eigentumsrechte oder irgendeine ausgleichende Kompensation oder Besteuerung nach sich ziehen muss. Munzer argumentiert, dass Arbeiter, wenn sie ihre Körper zur Produktion von etwas oder zu einer Dienstleistung einsetzen, sie auch einen prima-facie-Anspruch auf Eigentumsrechte an ihrem Produkt oder ersatzweise an ihren Arbeitslöhnen haben. Dieser Anspruch kann infolge von Knappheit, wegen der Bedürfnisse und Rechte anderer, und infolge von Änderungen der Situation nach vollzogenem Erwerb eingeschränkt werden. Auch Übertragungsbeschränkungen können gegeben sein. Ferner ist die Lohnpolitik, weil Arbeit eine soziale Tätigkeit ist, dazu da, dass die Arbeitslöhne soweit als möglich dem Verdienst entsprechen. Die schweren Einschränkungen, die mit dieser Fassung der Arbeitstheorie des Eigentums einhergehen, unterstützen einen moderaten Egalitarismus, statt ein weites Auseinanderklaffen des Einkommens und des Vermögens, dass die libertäre Theorie zulässt. Die Kritiker von Munzers Arbeits-Verdienst-Prinzip haben eingewandt, dass seine intellektuellen Voraussetzungen nicht klar genug sind, und dass sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis keine präzisen Korrelationen zwischen den Verdienstansprüchen und den Eigentumsrechten existieren. Nützlichkeit und Wirksamkeit. Die zeitgenössischen Rechtfertigungen dieser Art verdanken ihre Argumente entfernt Hume und Bentham. Diese Rechtfertigungen betonen häufig, dass die ‚Effizienz‘ oder ‚Wirksamkeit‘ keinen interpersonalen Vergleich der individuell bevorzugten Befriedigung erlaube, während die ‚Nützlichkeit‘ einen solchen Vergleich durchaus zulasse. Wegen der Bezugnahme auf die Wirksamkeit sind die anspruchsvollsten Vertreter dieser Fassung in der Regel Ökonomen oder Rechtswissenschaftler, die eher durch die Wirtschaftstheorie, als durch die Philosophie beeinflusst sind.
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Nützlichkeit und Wirksamkeit können unter gewissen plausiblen Voraussetzungen über einen individuellen Vorrang auch öffentliches Eigentum rechtfertigen, sowie einige Rechte des Privateigentums. Sie tendieren – wiederum unter der Annahme individueller Vorränge – zu einer moderaten Rechtfertigung des Egalitarismus im Gegensatz zu einer starken Ungleichverteilung des privaten Vermögens. Es bedarf allerdings noch einer detaillierteren Information um zu zeigen, wie die Nützlichkeit und die Wirksamkeit bestimmte eigentumsrechtliche Regeln oder radikale Änderungen in den bestehenden Rechtsinstituten des Privateigentums rechtfertigen können. Das vielleicht einflussreichste theoretische Ergebnis der Anwendung des Wirksamkeitsprinzips auf das Recht zur Abwehr der Besitzstörung brachte das Theorem mit dem Spitznamen ‚Coase’s Theorem‘ hervor. Es besagt, dass sich unter der Voraussetzung eines vollkommenen Wettbewerbs und vollständiger Information sowie keiner Transaktionskosten auf jeden Fall eine wirksame Allokation von Ressourcen ergäbe, unabhängig davon, welche Entscheidungen gerichtlich hinsichtlich eines möglichen Schadensersatzes ergehen. Persönlichkeit. Im Gegensatz zu einigen Darstellungen darüber ging die Persönlichkeitstheorie des Eigentums nicht etwa mit Hegel und dem britischen Neohegelianismus unter. Die Grundidee lautet hier, dass die Menschen zumindest etwas privates Eigentum haben müssen, damit sie gesunde Charakterstrukturen entwickeln können. Diese Darstellung der Formel ‚Eigentum für die Persönlichkeit‘ von Margaret Radin ist die wahrscheinlich bekannteste und entwickeltste zeitgenössische Theorie dieser Art. Sie wendet ihre Theorie auf viele praktische Rechtsprobleme an, aber einige Leser finden, diese sei nicht klarer als jene von Hegel. Ihre Bücher legen auch nahe, dass einige Dinge so persönlicher Natur sind, dass man sie überhaupt nicht als Eigentum oder Waren betrachten könne. Pluralistische Theorien. Die Vielzahl der möglichen Rechtfertigungen des Eigentums führte bei einigen Autoren zu der Vermutung, dass die plausibelste Darstellung des Eigentums eine ‚pluralistische‘ sei, d.h. eine solche, die zwei oder mehr irreduzible Prinzipien enthält. Becker und Munzer heißen die pluralistischen Darstellungen ausdrücklich willkommen. Andere Autoren tun dies indirekt ebenfalls. Einige Kritiker verwerfen einen solchen ‚Pluralismus‘ jedoch als eklektisch. Andere Kritiker beklagen wiederum, wenn es unmöglich sei zu beweisen, dass die dabei aufgerufenen Prinzipien nicht miteinander in Konflikt geraten, man zumindest notwendig verlangen dürfe, dass der Konflikt zwischen mehreren Prinzipien logisch konsistent und frei von weiteren Einwänden sei. Ferner mag es schwieriger sein, eine pluralistische Theorie auf praktische Probleme anzuwenden, als eine einheitliche. Und jene, die eine Einheitstheorie bevorzugen, d.h. eine Theorie mit einem einzigen Prinzip der Begründung des Privateigentums oder zumindest einem einzigen höchsten solchen Prinzip, müssten zeigen, wie sich dies mit der Komplexität der betrachteten moralischen Urteile über das Eigentum verträgt. Denn jeder, der Proudhons Vorwurf teilt, dass Eigentum Diebstahl sei, steht in jeder Theorie des Privateigentums vor dem Schlüsselproblem seiner Rechtfertigung (siehe Proudhon, P.-J.). 4. Beschränkungen bei der Verteilung von Eigentum Gerechtigkeit und Gleichheit. Die liberale Tradition der politischen Theorie, die insbesondere von Mill abstammt, versucht oft die Ungleichheiten der Vermögensverteilung zu begrenzen (siehe Mill, J.S., §§ 11–12). Diese Beschränkungen können 327
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die Form einer Nebenbedingung annehmen, oder in der pluralistischen Theorie eines gesonderten Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzips. Nur noch wenige Philosophen argumentieren für eine strikt gleiche Eigentumsverteilung. Etwas bescheidener ist das ‚Differenzprinzip‘ von John Rawls (§§ 1–2). Wendet man es auf das Eigentum an, dann besagt dieses Prinzip, dass Vermögensunterschiede nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie zum größten Nutzen des am stärksten Benachteiligten sind. Eine damit zusammenhängende Auffassung könnte sich sowohl auf das Minimum, als auch auf das Maximum einer solchen Theorie konzentrieren: jeder sollte sicher ein gewisses Minimaleigentum haben, und die verbleibenden Ungleichheiten, wenn es solche dann immer noch gibt, sollte einem voll entwickelten menschlichen Leben in der Gesellschaft nicht entgegenstehen. Keine Ausbeutung. Die radikale Tradition in der politischen Theorie, die insbesondere auf Marx zurückzuführen ist, betont die Notwendigkeit einer Beseitigung der Ausbeutung und anderer Unterschiede in der Machtausübung, die sich aus ungleichen Vermögensverteilungen ergebe. Grob gesagt werden Personen ausgebeutet, sofern andere einen sicheren Gewinn dabei haben, wenn sie sie als Werkzeug oder Ressource einsetzen, oder wenn sie ihnen ernsthaften Schaden zufügen. Die Ausbeutungstheorie konzentriert sich häufig genauso auf Probleme der wirtschaftlichen Produktion, als auch auf das wirkliche oder vorgestellte Übel einer ungleichen Vermögensverteilung. Die ‚Critical Legal Studies movement‘ (dt.:‚Bewegung des kritischen Rechtsstudiums‘) wendet sich in einigen ihrer Formen gegen die Ausbeutung und unterscheidet diese von der Macht, und wie beide sich zueinander verhalten. Weitere strenge Darstellungen der Ausbeutung sind auch im Werk von John E. Roemer enthalten. Anmerkungen und weitere Lektüre: Becker, L.C. (1977): ‚Property Rights: Philosophic Foundations‘. London: Henley und Boston, Massachusetts: Routledge & Kegan Paul. (Eine bewundernswert bündige Einführung.) Ryan, A. (1984): ‚Property und Political Theory‘. Oxford: Blackwell (Eine elegant geschriebene historische Übersicht.) STEPHEN R. MUNZER
Einbildungskraft
Die Einbildungskraft beruht auf der Tätigkeit des Vorstellens von etwas. ‚Vorstellung‘ und ‚vorstellen‘ (im Sinne von ‚imaginieren‘, d.h. sich ein Bild von etwas machen) gehören zu einer Familie von Bedeutungen, von denen nur einige die Verwendung geistiger Bilder implizieren. Wenn man jemanden bittet, sich eine rote Blume vorzustellen, dann lädt man ihn wahrscheinlich dazu ein, sich ein Bild von dieser Blume zu machen. Wenn ich aber sage, ich stelle mir vor, zur Party zu gehen, nachdem ich ein Nickerchen gemacht habe, drücke ich damit offenkundig kein mentales Bild aus. Eine Vielzahl von Fragen hat sich aus dem Begriff der Vorstellung in ihren vielen Formen ergeben, von denen die folgenden vier die zentralen sind: Wie kommen interne Akte des Vorstellens im Wege bestimmter externer, sowohl wirklicher, als auch nicht wirklicher Gegenstände und Sachverhalte zustande? Auf welche Weise ähneln Wahrnehmungsakte den zentralen Akten des Vorstellens, bzw. auf welche Weise unterscheiden sie sich? In welchem Umfange stützt sich die Routinewahrnehmung und -kognition auf kognitive Ressourcen, die denen der schöp328
Einfachheit (in wissenschaftlichen Theorien)
ferischen Vorstellung ähneln? Und gibt es viele kognitive Vollzüge, bei denen die Vorstellung eine rechtfertigende Rolle spielt? J. O’LEARY-HAWTHORNE
Einfache Typen, Theorie der Siehe: Typentheorie
Einfachheit (in wissenschaftlichen Theorien)
Bei der Bewertung, welche von mehreren konkurrierenden Hypothesen die plausibelste ist, verlassen sich die Wissenschaftler häufig auf das Kriterium der Einfachheit. Dies wirft drei Fragen auf: (1) Was macht eine Hypothese einfacher als eine andere? (2) Warum sollte ein Unterschied der Einfachheit einer Hypothese einen Einfluss darauf haben, ob wir sie für glaubwürdig halten? (3) Wie viel Gewicht sollte auf dem Kriterium der Einfachheit im Vergleich mit anderen Kriterien zur Beurteilung der Plausibilität einer Hypothese liegen? Diese Fragen könnte man das deskriptive, das normative und das Gewichtungsproblem nennen. Die ästhetische und pragmatische Anziehungskraft einfacherer Theorien ist einsichtig; das Rätsel ist aber, wie bzw. wieso die Einfachheit zur Wahrheit führen soll. Siehe auch: Bestätigungstheorie; Induktionsschluss; Schluss auf die beste Erklärung; Statistik; Theoretische (erkenntnistheoretische) Tugenden; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus ELLIOTT SOBER
Einklammerung
Siehe auch: Phänomenologie, erkenntnistheoretische Fragen der
Einheit der Wissenschaft
Wie sollte unser wissenschaftliches Wissen organisiert sein? Ist wissenschaftliches Wissen vereinheitlicht, und wenn dies Fall ist, spiegelt sich darin eine Einheit der Welt als Ganzes? Oder ist dies lediglich eine Frage der Einfachheit und Wirtschaftlichkeit unseres Denkens? Doch davon abgesehen: um was für eine Art von Einheit handelt es sich dabei? Wenn die Welt in elementare Bestandteile zerlegt werden kann, muss dann unser Wissen auf irgendeine Weise auf die Begriffe und Theorien zurückgeführt oder gar durch diese ersetzt werden, die diese einfachsten Bestandteile beschreiben? Kann die Volkswirtschaftslehre auf die Mikrophysik reduziert werden, wie Einstein behauptete? Kann die Soziologie von der Molekulargenetik abgeleitet werden? Könnten die Wissenschaften in dem Sinne vereinheitlicht sein, dass alle ihre Disziplinen denselben Methoden folgen, unabhängig davon, ob sie letztlich auf die Physik reduzierbar sind? Überlegungen zum Problem der wissenschaftlichen Einheit stellte man bereits mit dem Aufkommen der griechischen Kosmologie an, und mit ihnen stellte man auch die Frage nach dem Einen und dem Vielen. Im späten 20. Jahrhundert wuchs die Neigung zu einer Argumentation für die Nicht-Einheit der Wissenschaft, sowie zu einem Bestreiten der Reduzierbarkeit aller Phänomene auf die Physik. JORDI CAT
Einstein, Albert (1879–1955)
Albert Einstein war der berühmteste Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Als gebürtiger Deutscher nahm er später die Schweizer und US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er formulierte die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie,
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Eklektizismus
wodurch er das klassische Verständnis des Raumes, der Zeit und der Gravitation umstürzte. Nach der Speziellen Relativitätstheorie (1905) messen Beobachter, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit geradlinig gleichförmig bewegen, dieselbe Lichtgeschwindigkeit. Hieraus schloss er, dass die Länge eines Systems schrumpft und ihre Uhren sich verlangsamen, wenn ein Beobachter sich der Lichtgeschwindigkeit nähert. Die Allgemeine Relativitätstheorie (1915 fertig gestellt) geht von Hermann Minkowskis geometrischer Formulierung der Speziellen Relativitätstheorie als einer vierdimensionalen Raumzeit aus. Einsteins Theorie erlaubt jedoch, dass sich die Geometrie der Raumzeit von Raumstelle zu Raumstelle verändert. Diese variable Geometrie oder Kurvatur hängt mit der Anwesenheit von Schwerefeldern zusammen. Indem sie über diese geometrische Kurvatur wirken, können solche Felder Uhren verlangsamen und Lichtstrahlen krümmen. Einstein leistete fundamentale Beiträge zur statistischen Mechanik und zur Quantentheorie, einschließlich des Beweises des atomaren Charakters der Materie und des Vorschlages, dass die Lichtenergie in räumlich diskreten Lichtquanten organisiert ist. In seinem späteren Leben forschte er an einer vereinheitlichten Theorie der Gravitation und des Elektromagnetismus als Alternative zur Quantentheorie, die in den 1920er Jahren entwickelt worden war. Er beklagte sehr, dass diese damals neue Quantentheorie nicht ‚vollständig‘ war. Einsteins Schriften zur Wissenschaftsphilosophie offenbaren eine konventionalistische Position, die auf unsere Freiheit zur Konstruktion theoretischer Gebilde abhebt. Seine späteren Schriften betonten dagegen eher seine realistische Tendenz und den heuristischen Wert der Suche nach mathematisch einfachen Gesetzen. Siehe auch: Poincaré, H.; Raum; Raumzeit; Zeit ARTHUR FINE, DON HOWARD, JOHN D. NORTON
Eklektizismus
Philosophischer Eklektizismus ist die Errichtung eines Denksystems durch Kombination von Elementen bereits bestehender Systeme früherer Epochen. Der Ausdruck ‚Eklektizismus‘ ist von dem griechischen Verb ‚eklegein‘ bzw. ‚eklegesthai‘ abgeleitet, was ‚herausgreifen‘, ‚wählen‘ oder ‚auswählen‘ bedeutet. Diogenes Laertius (ca. 300 – 250 n. Chr.) schreibt dem Potamo von Alexandrien (der im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. lebte) eine ‚eklektische Schule‘ zu, denn „er traf eine Auswahl unter den Auffassungen aller bestehenden Splittergruppen“. Viele Philosophen der griechisch-römischen Epoche sind als Eklektiker bekannt, und man kann sogar die gesamte Periode der Philosophie vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. als ein Zeitalter des Eklektizismus bezeichnen. In solchen Fällen wird der Ausdruck herabsetzend gebraucht, um eine ungeordnete Ansammlung unorigineller Ideen zu bezeichnen. In jüngerer Zeit hat jedoch der französische Philosoph Victor Cousin (1792–1867) ein eher optimistisches Bild des Eklektizismus gezeichnet, indem er den Ausdruck in Bezug auf seine eigene Philosophie verwendet. Cousin sah die gesamte Geschichte des Denkens durch die zwei dominanten Grundmuster des Empirismus oder Sensualismus einerseits, und des Idealismus oder Rationalismus andererseits, beherrscht. Die wahre Philosophie würde dagegen die einander unverträglichen Elemente entfernen und die verbleibenden Wahrheiten zu einem einzigen, vereinheitlichten System kombinieren. Cousins Eklektizismus war in seiner streng historischen Orientierung praktisch durch das gesamte 19. Jahr-
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Emerson, Ralph Waldo (1803‑1882)
hundert hindurch die vorherrschende Schule des Denkens in Frankreich und gewann ferner in Brasilien erheblichen Einfluss. Siehe auch: Lateinamerika, Philosophie in; Cousin, V. CHRIS MCCLELLAN
Eleatische Philosophie
Siehe: Gorgias; Parmenides; Vorsokratische Philosophie; Zeno von Elea
Eliminativismus
Der Ausdruck ‚Eliminativismus‘ bezieht sich auf die Auffassung, dass mentale Phänomene wie z.B. Überzeugungen, Wünsche, bewusste Zustände etc. nicht existieren. Obwohl dies zunächst absurd erscheinen mag, gewann diese Auffassung im 20. Jahrhundert doch viele Anhänger, beispielsweise in Gestalt der wissenschaftlichen Behavioristen, die meinten, dass alle menschliche und tierische Aktivität aus der Abfolge von Mustern aus Reizen, Antworten und Verstärkungen erklärt werden könnten. Andere wiederum meinten, dass die Neurophysiologie allein alles zu erklären vermag. Zwei unmittelbare Einwände gegen den Eliminativismus, beispielsweise dass er inkohärent sei, weil er behauptet, dass es gar keine Behauptungen gebe, und dass dies im Widerspruch zu Erfahrungsdaten stehe, derer wir uns alle unmittelbar bewusst seien, sind jedoch vermutlich zirkulär. Gesucht ist ein nicht-tendenziöser Beweis für die Existenz des Geistes. Im Widerspruch zum Behaviorismus scheint ein solcher jedoch in Gestalt des intelligenten Verhaltens der meisten höheren Tiere gegeben zu sein. Siehe auch: Alltagspsychologie; Materialismus in der Philosophie des Geistes GEORGES REY
Emerson, Ralph Waldo (1803–1882)
Der amerikanische Philosoph und Dichter Ralph Waldo Emerson entwickelte eine Philosophie des Flusses oder der Übergänge, in denen das aktive menschliche Selbst eine zentrale Rolle spielt. Im Kern seines Denkens stehen eine Werte- oder Existenzhierarchie, sowie ein grenzenloses Streben nach persönlichem und sozialem Fortschritt. „Der Mensch stellt sich selbst in den Schatten“, schrieb er in seinem ersten Buch ‚Nature‘ (1836). Emerson präsentiert uns ein grässliches Bild des Zustandes, in dem sich die Menschheit befindet: „Die Menschen der heutigen Welt sind Motten oder Laich und werden ‚die Masse‘ oder ‚Herde‘ genannt.“ Wir seien durch notwendige wirkliche oder nur eingebildete Stimmungen gelenkt, die „uns nicht aneinander glauben lassen“, aber auch durch Gelegenheiten zu ungeahnten „Ausfällen des Geistes“, d.h. durch jene wenigen realen Momente des Lebens, die gleichwohl das ganze Leben zu ändern vermögen. Emersons Vorlesungen zogen ein größeres Publikum in ganz Amerika und England an, und sein Werk wurde in weiten Kreisen bereits zu seinen Lebzeiten gelesen. Er beeinflusste die deutsche philosophische Tradition durch Nietzsche, dessen ‚Fröhliche Wissenschaft‘ ein Zitat aus der ‚History‘ von Emerson enthält, und die angloamerikanische Tradition über William James und John Dewey. Emersons bedeutendste Werke sind Essays, von denen jedes seine eigene Struktur hat; deren Sätze und Abschnitte stehen oft ganz für sich als Ausdruck seines Denkens. Siehe auch: Neuplatonismus; Pragmatismus RUSSELL B. GOODMAN 331
Emotive Bedeutung
Emotionen
Siehe: Gefühle, Wesen der
Emotive Bedeutung
Die emotive (d.h. gefühlsgeprägte) Bedeutung steht der deskriptiven (d.h. beschreibenden) Bedeutung gegenüber. Ausdrücke haben eine deskriptive Bedeutung, wenn sie ihre Aufgabe dadurch erfüllen, dass sie Tatsachen feststellen. Eine emotive Bedeutung haben sie, wenn sie die Gefühle des Sprechers oder eine Einstellung ausdrücken, oder auch wenn sie Gefühle oder Einstellungen in anderen hervorrufen. Der Emotivismus als die Theorie, derzufolge moralische Ausdrücke nur oder vorwiegend emotional bedeutsam sind, stellt eine wichtige Position in der Ethik des 20. Jahrhunderts dar. Das wichtigste Problem der Vorstellung von der emotiven Bedeutung ist, dass diese womöglich gar keine Bedeutung im eigentlichen Sinne ist: die moralische Funktion von Ausdrücken, die eventuell eine emotive Bedeutung tragen, wird von ihren Verwendern vielleicht nur bei manchen Gelegenheiten des Gebrauchs dieser Ausdrücke in Anspruch genommen. Es gibt zwei Komponenten der emotivistischen Darstellung einer Funktion und der Bedeutung moralischer Ausdrücke. Die eine betrifft die Beziehung dieser Ausdrücke zum jeweiligen Sprecher. Moralische Behauptungen dienen dem Ausdruck der Gefühle oder Einstellungen des Sprechers. Die andere betrifft die Beziehungen zur Zuhörerschaft. Moralische Behauptungen drücken Empfehlungen aus oder erregen Gefühle oder Einstellungen beim Zuhörer. Die berühmtesten Darstellungen der emotiven Bedeutung stammen von A.J. Ayer und C.L. Stevenson. Ayer argumentierte auf der Basis allgemeiner metaphysischer und erkenntnistheoretischer Erwägungen, dass moralische Ausdrücke nur Gefühle ausdrücken und erregen können. Stevenson entwickelte eine etwas detailliertere Theorie, bei der er sich mehr auf bestimmte moralische und ethische Überlegungen stützte (siehe Emotivismus). Diese Theorien neigen leicht dazu, moralische Diskussionen als irrational hinzustellen und die Unterscheidung zwischen einem moralischen Argument und simpler Propaganda zu verwischen. R.M. Hare entwickelte eine Theorie, die als Heilmittel gegen diese Effekte gedacht war. Er brachte vor, dass Sätze, die paradigmatisch moralische Ausdrücke wie ‚gut‘, ‚richtig‘ und ‚sollte‘ enthalten, in Wirklichkeit verkappte Imperative sind. Da es eine Logik der Imperative gibt, lässt sich auch über moralische Argumente rational sprechen, und moralische Argumente lassen sich von Propaganda unterscheiden, selbst wenn eine moralische Behauptung in erster Linie keine Tatsachen behauptet (siehe Präskriptivismus). Die größten Schwierigkeiten einer Vorstellung von der emotiven Bedeutung entstehen durch die Frage, ob die emotive Bedeutung moralischer Ausdrücke eine Frage des vollzogenen Sprechaktes auf der Seite desjenigen ist, der diese Ausdrücke verwendet, bzw. welcher Sprechakte, sofern dies der Fall ist. Es lassen sich lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Sprechakte (oder Kräfte) unterscheiden. Lokutionäre Sprechakte sind solche, wo einfach bestimmte Wörter mit einem jeweils bestimmten Sinn und einer ebensolchen Referenz verwendet werden. Illokutionäre Sprechakte ereignen sich, indem Dinge gesagt werden. Welchen illokutionären Sprechakt jemand durch das Sagen eines Satzes vollzieht, ergibt sich gemeinsam aus dem Sinn und der Referenz aller Wörter dieses Satzes und aus dessen Kontext.
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Emotive Bedeutung
Perlokutionäre Sprechakte werden durch das Sagen eines Satzes vollzogen. Es ist nicht zwingend, dass ein bestimmter perlokutionärer Sprechakt ebenfalls immer mit der Ausführung eines entsprechenden illokutionären Sprechaktes vollzogen wird. Dies hängt vielmehr davon ab, ob weitere variable Merkmale des Kontextes gegeben sind. Angenommen, Egon sagt vor einer Menschenmenge in einer revolutionären Situation die Worte: ‚Nieder mit dem Adel!‘ Egon vollzieht hier einen lokutionären Sprechakt einfach dadurch, dass er Worte mit dieser Bedeutung verwendet. In diesem Zusammenhang führt Egon aber auch einen illokutionären Sprechakt aus, indem er zur Revolution anstiftet. Egons Worte können in diesem Zusammenhang darüber hinaus den perlokutionären Effekt haben, dass sie eine Revolution provozieren. Dies folgt aber nicht zwingend aus der lokutionären oder illokutionären Kraft des Egonschen Satzes. Ist Egon beispielsweise hinreichend unpopulär, so mag sein Eintreten für die Revolution sogar den revolutionären Enthusiasmus der Menge dämpfen. Diese Klassifizierung legt nahe, dass die Reihenfolge der Erklärung typischerweise vom lokutionären zum illokutionären, und dann zum perlokutionären Aspekt fortschreitet. Dies liegt an dem Sinn und der Referenz der Worte, die jemand benutzt (siehe hierzu: Frege, G., der statt des Ausdrucks ‚Referenz‘ den Ausdruck ‚Bedeutung‘ zur Bezeichnung der Verweisungsfunktion eines Wortes auf außersprachliche Gegenstände verwendet), sowie am Kontext, innerhalb dessen jemand einen bestimmten illokutionären bzw. perlokutionären Sprechakt vollzieht. Wir gehen davon aus, dass eine Darstellung der Bedeutung mit dem Sinn und der Referenz beginnt. Beginnt man stattdessen mit den illokutionären oder perlokutionären Sprechakten, so mag dies zu falschen Ergebnissen führen (siehe Sprechakte). Einige frühe Darstellungen der emotiven Bedeutung scheinen die Bedeutung einer moralischen Aussage mit den perlokutionären Sprechakten zu identifizieren (z.B. das Erregen von Gefühlen). Dies heißt aber nicht nur, dass man mit der Analyse an der falschen Stelle beginnt, sondern wirft auch noch weitere Fragen auf. Wenn wir uns die Bedeutung (Referenz) als etwas vorstellen, das von Konventionen abhängt und nicht nur kausal wirkt, dann sind die kausalen Korrelationen zwischen Ausdrücken und das Hervorrufen bestimmter Wirkungen nicht wirklich Bedeutungen. Vielleicht ist die emotive Bedeutung dann eine Frage der illokutionären Kraft des Ausdrucks. Leider ist die Auffassung, dass die emotive Bedeutung eine illokutionäre Kraft ist, aber ebenfalls problematisch. Zusätzlich zu dem allgemeinen Problem, dass eine Darstellung der Bedeutung (Referenz) offenkundig nicht mit dem illokutionären Aspekt beginnen sollte, gibt es noch das spezielle Problem, dass sich moralische Ausdrücke offenbar nicht immer für eine illokutionäre Kraft im eigentlichen Sinne eignen. Man betrachte beispielsweise die Annahme, dass das Wort ‚gut‘ als Empfehlung verwendet wird. Es ist zwar wahr, dass der Ausdruck ‚gut‘ beispielsweise in dem Satz ‚Dies ist ein guter Tennisschläger‘, wie er in einem Sportartikelgeschäft fällt, die illokutionäre Kraft besitzt, einen bestimmten Tennisschläger zu empfehlen, doch die Verwendung von ‚gut‘ in dem Satz ‚Wenn Du dort keinen guten Tennisschläger bekommst, geh’ in den Laden weiter unten‘,scheint gar nichts Bestimmtes zu empfehlen. Moralische Argumente werfen für jene Auffassung, nach der die emotive Bedeutung eine illokutionäre Kraft ist, mit besonderer Schärfe eine Art desselben Problems auf. Man betrachte folgende Aussage: ‚Es ist gut, die Wahrheit zu sagen. Wenn es gut ist, die Wahrheit zu sagen, so ist es ebenfalls gut, deinen kleinen Bruder 333
Emotive Bedeutung
dazu zu bewegen, die Wahrheit zu sagen. Also ist es gut, deinen kleinen Bruder dazu zu bewegen, die Wahrheit zu sagen.‘ Dieser Schluss scheint gültig zu sein. Während jedoch die erste Prämisse in der Form ‚Die Wahrheit zu sagen ist gut‘ etwas empfiehlt, scheint dieselbe Aussage als Teil der zweiten Prämisse gar nichts zu empfehlen. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass der Emotivist die Geltung moralischer Argumente nicht darstellen kann. Denn wenn man die Bedeutung als illokutionäre Kraft versteht, so handelt es sich dabei in den beiden oben genannten Aussagen nicht um dieselbe Bedeutung, obwohl dieselben Worte verwendet wurden. Dieses Problem wird häufig als das ‚Problem des nicht erwähnten Zusammenhanges‘ (engl.: the problem of the unasserted contexts) bezeichnet. In der zweiten Prämisse des vorangehenden Beispiels bleibt die (Teil-)Aussage ‚Die Wahrheit zu sagen ist gut‘ unerwähnt. Die Anhänger der emotiven Bedeutung können auf diese Kritik antworten. Hare, Blackburn und Gibbard haben Lösungen zum Problem des unerwähnten Zusammenhanges angeboten. Es ist sicherlich richtig, dass die Bedeutungen mancher Worte (wie z.B. ‚Versprechen‘) dadurch nachvollziehbar werdern, dass man den illokutionären Sprechakt erklärt, den jemand bei ihrer Verwendung vollzieht. Ferner ist es kein Zufall, dass beispielsweise das Wort ‚gut‘ häufig in empfehlendem Sinne verwendet wird, was bei dem Wort ‚schnell‘ nur selten der Fall sein dürfte. Eine gute Alternative zu der Theorie, dass das Wort ‚gut‘ eine emotive Bedeutung hat, ist es deshalb, dass ‚gut‘ so etwas wie ‚erfüllt die für diesen Fall geltenden Standards‘ bedeutet. Kraft dieser Bedeutung wird ‚gut‘ häufig im empfehlenden Sinne verwendet. In diesem Falle wird die emotive Kraft mit der Bedeutung erklärt und nicht umgekehrt. Siehe auch: Emotivismus; Präskriptivismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Ayer, A.J. (1936): ‚Language, Truth and Logic‘, New York: Dover. (Kap. 6 enthält Ayers klassische Darstellung des Emotivismus und Argumente für ihn.) Urmson, J.O. (1968): ‚The Emotive Theory of Ethics‘, London: Hutchinson & Co. (Eine ausgewogene Betrachtung und Weiterentwicklung der emotiven Theorie.) DAVID PHILLIPS
Emotivismus
Die Emotivisten behaupten, dass moralische Urteile Gefühle ausdrücken und hervorrufen, jedoch keine Überzeugungen. Zu sagen, dass eine Handlung richtig oder falsch sei, wurde damit auf eine Stufe gestellt von Ausrufen wie „Buuh!“ oder „Hurra!“. Der Emotivismus erklärte recht gut die offenkundig notwendige Verbindung zwischen moralischen Urteilen und ihrer Motivation. Wenn Menschen es verurteilen zu lügen und ihr Urteil ihre Feindseligkeit gegenüber einem solchen Verhalten ausdrückt, dann überrascht es nicht, dass wir daraus ihre Abneigung gegen das Lügen schließen können. Der Emotivismus trug jedoch nichts zur Erklärung der wichtigen Rolle der rationalen Auseinandersetzung in der moralischen Praxis bei. Da aus ihm tatsächlich folgt, dass sich moralische Urteile einer Bewertung als wahr oder falsch entziehen, bedeutete dies, dass die rationale Auseinandersetzung über die Moral bestenfalls ein untaugliches Mittel, schlechtestenfalls gänzlich unmöglich ist. Im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich unter dem Einfluss des logischen Positivismus (siehe Logischer Positivismus) eine neue Sichtweise des Wesens der 334
Emotivismus
Moral, die ‚Emotivismus‘ genannt wurde. Die Emotivisten meinten, dass Menschen mit der Aussage ‚Es ist falsch zu lügen‘ ihre Abneigung gegenüber dem Lügen ausdrücken und versuchen, andere dazu zu bringen, diese Abneigung mit ihnen zu teilen. Moralische Ansprüche wurden somit deutlich von jenen Behauptungen unterschieden, durch die Überzeugungen ausgedrückt werden. Überzeugungen geben vor, die Welt zu repräsentieren und sind dadurch einer Bewertung als wahr oder falsch zugänglich. Gefühle geben dagegen nicht vor, die Welt zu repräsentieren, folglich scheinen sie sich einer solchen Bewertung zu entziehen (siehe Moralisches Urteil, § 1). Die Beurteilung von Handlungen als richtig oder falsch wurde damit zu etwas wie das Ausrufen von „Buuh!“ oder „Hurra!“ Der Emotivismus war offenkundig anziehend. Es besteht weitgehende Übereinstimmung darin, dass es eine notwendige Ähnlichkeitsbeziehung zwischen moralischen Urteilen und ihrer Motivation gibt. Wenn jemand urteilt, dass es falsch sei zu lügen, dann ist er in gewissem Umfang motiviert, nicht zu lügen. Wozu die Menschen motiviert sind, hängt jedoch davon ab, was sie befürworten bzw. was sie ablehnen, und nicht einfach von ihrer Überzeugung (siehe Moralischer Beweggrund). Man stelle sich beispielsweise vor, dass das Urteil einer Person, demzufolge das Lügen falsch sei, fälschlicherweise eine Überzeugung ausdrücke. Statt zu wissen, ob diese Person geneigt ist zu lügen oder nicht, müssten wir darüber hinaus wissen, ob sie das Lügen befürworten oder ablehnen. Solche Dinge müssen wir aber nicht wissen. Es genügt zu wissen, dass sie das Lügen als falsch beurteilen, um ebenfalls zu wissen, dass sie dem Lügen abgeneigt sind. Dies passt gut zu der Vorstellung, dass das Urteil selbst schlicht und einfach diese Abneigung ausdrückt. Der Emotivismus hat jedoch auch seine Schwierigkeiten. Obwohl die Emotivisten zugaben, dass die rationale Auseinandersetzung über die Moral eine wichtige Rolle spielt, brachte ihre Auffassung doch mit sich, dass diese Rolle stark eingeschränkt war. Denn weil sie darin einig waren, dass weniger fundamentale moralische Ansprüche bei Vorliegen faktischer Prämissen aus den fundamentaleren Ansprüchen folgen, und weil sie ferner darin einig waren, dass faktische Prämissen rational kritisierbar sind, so meinten sie, dass weniger fundamentale moralische Ansprüche rational begründet sein müssen. Sie dachten, wenn jemand urteile, dass das Lügen falsch sei, weil er der Meinung ist, dass Lügen schädlich sei, so müsse der Betreffende seine Auffassung bei Strafe der Irrationalität seines Verhaltens ändern, wenn sich zeigen ließe, dass Lügen harmlos ist. Zur gleichen Zeit bestanden die Emotivisten jedoch darauf, dass fundamentale moralische Ansprüche wie z.B. jener, dass es falsch sei, Schaden zu verursachen, die nicht auf diese Weise abgeleitet sind, gegen eine solche rationale Kritik immun sind. Diese Differenz wurde als die ‚Kluft zwischen Tatsache und Wert‘ (engl.: fact/value gap) bezeichnet (siehe Tatsache und Wert, Unterscheidung von). Es ist allerdings nicht klar, ob der Emotivismus noch konsistent ist, wenn er nur noch eine, wie im Folgenden dargestellt, eingeschränkte Rolle rationaler Auseinandersetzung zulässt: (1) Es ist falsch, Schaden zu verursachen, und Lügen verursacht Schaden; folglich ist es falsch zu lügen. (2) Es ist falsch, Schaden zu verursachen. (3) Lügen verursacht Schaden. ... Also ist es falsch zu lügen. 335
Emotivismus
Dieser Schluss ist nur gültig, wenn die Aussage ‚Es ist falsch, Schaden zu verursachen‘ in den Prämissen (1) und (2) dasselbe bedeutet. Wenn diese Aussage jedoch etwas Verschiedenes bedeutet, dann liegt hier eine Uneindeutigkeit vor, und der Schluss ist nicht unmittelbar gültig. Aus dem Emotivismus folgt, dass jemand, der (2) aussagt, damit eine Abneigung gegen die Verursachung von Schaden zum Ausdruck bringt. Was aber auch immer ‚Es ist falsch, Schaden zu verursachen‘ in (1) bedeutet, so dient es doch mit großer Gewissheit nicht dazu, eine solche Abneigung auszudrücken. In (1) erscheint diese Aussage im Antezedenz eines Konditionals. Jemand, der (1) behauptet, könnte demnach sogar leugnen, dass es falsch ist, Schaden zu verursachen. Dieser Mensch muss deshalb keine Abneigung gegenüber jemandem ausdrücken, der Schaden verursacht. Philosophen, die mit dem Emotivismus sympathisieren, haben sich bemüht, ihn vor diesem Einwand zu retten. Es ist allerdings fraglich, ob die Emotivisten selbst überhaupt jemals daran interessiert sein sollten, dem rationalen Argument eine wichtige Rolle im moralischen Diskurs zu gewähren. Wenn die Funktion der moralischen Auseinandersetzung einfach darin besteht, Gefühle auszudrücken und ähnliche Gefühle bei anderen hervorzurufen, dann folgt daraus, dass die rationale Auseinandersetzung höchstens einer von mehreren Wegen ist, und nicht einmal ein sehr guter, um dieses Ziel zu erreichen. Wir verhalten uns vielleicht effektiver, wenn wir die Menschen von den Tatsachen ablenken und stattdessen Rhetorik, Demütigung und Techniken der Gehirnwäsche einsetzen. Es ist schwer einzusehen, was der Emotivist an der Idee auszusetzen haben könnte, dass ein praktisches Verhalten unter Einsatz solcher Techniken immer noch vollkommen moralisch einwandfrei wäre. Noch das Beste, was Emotivisten an diesem Punkt einwenden könnten, wäre: „Buuh zum Überreden und zur Gehirnwäsche!“ Philosophen, die meinten, dass diese Antwort nicht die zentrale und definierende Rolle berücksichtigt, die die rationale Auseinandersetzung in der moralischen Praxis spielt, schlossen daraus, dass der Emotivismus einen zu hohen Preis für seine Erklärung der notwendigen Verbindung zwischen dem moralischen Urteil und der Motivation fordert. Nachfolgende Theoretiker konzentrierten sich auf die Frage, ob eine alternative Erklärung dieser notwendigen Verbindung zur Verfügung steht, und zwar eine solche, die ebenfalls zu der Vorstellung passt, dass die rationale Auseinandersetzung eine zentrale und definierende Rolle spielt. Über diese Frage konnte jedoch noch kein Konsens erzielt werden. Zumindest hat der Emotivismus zeigen können, wie schwierig es ist, die notwendige Verbindung zwischen dem moralischen Urteil und der Motivation zusammen mit der Idee zu erklären, dass die rationale Auseinandersetzung eine zentrale und definierende Rolle in der moralischen Praxis spielt, sofern die Gefühle, die unsere Handlungen auslösen, als etwas betrachtet werden, was sich einer rationalen Kritik entzieht. Ein großer Teil der zeitgenössischen Arbeit über das Wesen der Moral befasst sich damit, diese Voraussetzung in Frage zu stellen. Siehe auch: Ayer, A.J.; Künstlerischer Ausdruck; Moral und Gefühl; Moralischer Realismus; Moralisches Wissen; Präskriptivismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Ayer, A.J. (1936): ‚Language, Truth and Logic‘, London: Gollancz; 2. Aufl. 1946, 6. Kap. (Dieser Text enthält eine klassische Darstellung des Emotivismus durch einen logischen Positivisten.)
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Empedokles
Warnock, G. (1967): ‚Contemporary Moral Philosophy‘, London: Macmillan, 3. Kap. (Dieser Text enthält eine kritische Diskussion des Emotivismus.) MICHAEL SMITH
Empedokles (ca. 495 – ca. 435 v. Chr.)
Empedokles, der in der sizilianischen Stadt Akragas (heute: Agrigent) geboren wurde, war einer der bedeutenderen griechischen Philosophen der vorsokratischen Periode. Zahlreiche Fragmente seiner beiden Hauptwerke überlebten, und zwar Gedichte in epischen Versen, die später in der Antike unter den Titeln ‚Über die Natur‘ und ‚Entsühnungen‘ bekannt waren. ‚Über die Natur‘ entwirft eine Vision der Wirklichkeit als einem Theater des unablässigen Wandels, dessen gleich bleibende Muster in der Wiederholung der beiden Prozesse einer Harmonisierung in die Einheit, gefolgt von der Auflösung in die Mannigfaltigkeit, bestehen. Die Kraft, die die vier Elemente vereinigt, aus denen alles andere geschaffen ist, d.h. die Erde, die Luft, das Feuer und das Wasser, heißt Liebe, und der Streit ist die Kraft, die sie immer wieder und neu in die Mannigfaltigkeit auflöst. Dieser Zyklus zeigt sich am deutlichsten im Rhythmus des pflanzlichen und tierischen Lebens. Empedokles’ Hauptanliegen war es allerdings, die Geschichte des Universums selbst als Exemplifikation dieses Musters zu erzählen. Die grundlegende Struktur der Welt ist das Ergebnis einer Spaltung einer vorgängig totalen Mischung der Elemente in einige Hauptmassen, die sich schließlich zur Erde, dem Meer, der Luft und dem feurigen Himmel entwickelten. Das Leben entstand jedoch nicht aus der Trennung, sondern vielmehr aus einer Mischung der Elemente, und Empedokles arbeitete eine Darstellung der Evolution lebendiger Formen mit ansteigender Komplexität und Überlebensfähigkeit aus, die in der Schöpfung der Arten ihren Höhepunkt findet, wie wir sie gegenwärtig vorfinden. Daran schließt er eine detaillierte Behandlung des ganzen Bereiches biologischer Phänomene an, angefangen mit der Reproduktion bis hin zur vergleichenden Morphologie der Körperteile von Tieren und der Physiologie der Sinneswahrnehmung und des Denkens. Die Vorstellung von einem Kreislauf, der das Zerbrechen und die Wiederherstellung der Harmonie umfasst, zeigt eine klare Beziehung zu dem pythagoreischen Glauben an den Kreislauf der Wiedergeburten, dem sich die schuldige Seele unterziehen muss, bevor ihr die himmlische Glückseligkeit zuteil werden kann. Empedokles bekennt sich zu diesem Glauben und identifiziert die Ursünde, die jene Strafe der Wiedergeburt nach sich zieht, als einen Akt des Blutvergießens, der ‚durch das Verlassen auf den tobenden Streit‘ begangen wird. Sein Werk ‚Entsühnungen‘ greift folglich die Praxis der Tieropferungen an und verkündet das Verbot der Tötung von Tieren als ein Naturgesetz. Empedokles’ vier Elemente überlebten als die Grundlage der Physik fast 2.000 Jahre. Bereits Aristoteles war durch sein Werk ‚Über die Natur‘ fasziniert, und dessen Biologie geht wahrscheinlich in wesentlichen Teilen auf die vergleichende Morphologie des Empedokles zurück. Empedokles’ Vorstellung vom kosmischen Kreislauf zog das Interesse der frühen Stoiker auf sich. Lukrez entdeckte in ihm das Vorbild eines philosophischen Dichters. Philosophische Angriffe auf das Tieropfer in nachfolgenden Epochen der Antike beriefen sich regelmäßig auf Empedokles als eine Autorität.
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Empirismus
Siehe auch: Gorgias; Materie; Parmenides; Pythagoras; Pythagoreismus; Vorsokratische Philosophie MALCOLM SCHOFIELD
Empirismus
Der Empirismus betont in allen seinen Formen die grundlegende Rolle der Erfahrung. Als eine Doktrin der Erkenntnistheorie behauptet er, dass alles Wissen letztlich auf der Erfahrung beruht. Entsprechend besagt eine empirische Theorie der Bedeutung oder des Denkens, dass die Bedeutung von Wörtern oder unseren Begriffen aus der Erfahrung abgeleitet ist. Es ist schwer, den Begriff der Erfahrung anschaulich zu analysieren. Man könnte sagen, dass er eine jegliche Art oder Weise von Bewusstsein bezeichnet, durch das einem Subjekt etwas als gegenwärtig erscheint, im Gegensatz zu mentalen Aktivitäten des Denkens über die Dinge. Eine so verstandene Erfahrung ist in einer Vielzahl von Erscheinungsweisen gegeben, z.B. als sensorische, ästhetische, moralische, religiöse etc. Erscheinung. Die Empiristen konzentrieren sich allerdings normalerweise auf die Sinneserfahrung, d.h. die Bewusstseinsweisen, die sich aus der Stimulation unserer fünf Sinne ergeben. Es ist offenkundig, dass nicht alles Wissen direkt aus der Erfahrung stammt. Deshalb geht der Empirismus immer von einem Schichtenmodell aus, welches in der niedersten Ebene direkt aus der Erfahrung gespeist wird und die höheren Ebenen auf den tieferen aufbauen. Ein ganz verbreiteter Gedanke unter den Empiristen war es, dass Überzeugungen auf der untersten Ebene einfach ‚ablesen‘, was in der Erfahrung gegeben ist. Wenn mir ein Baum visuell als grün erscheint, so ‚registriere‘ ich diese Erscheinung, indem ich die Überzeugung ausbilde, dass dieser Baum grün ist. Viele unserer Überzeugungen, beispielsweise die allgemeinen, haben zwar nicht diesen Status, werden dem Empirismus zufolge von anderen Überzeugungen auf eine Weise unterstützt, die letztlich auf die Erfahrungen zurückgehen. So wird die Überzeugung, dass Ahornbäume im Winter ihre Blätter verlieren, durch die individuellen Wahrnehmungsüberzeugungen gestützt, denen zufolge dieser Ahornbaum kahl und es Winter ist. Der Empirismus existiert in vielen Varianten. Ein größerer Unterschied zwischen diesen Varianten betrifft ihre Grundlage, auf der sie aufbauen. Eine verbreitete Version meint, dass Überzeugungen über das, was wir in der physischen Umgebung wahrnehmen, direkt von der Erfahrung gestützt sind. Eine phänomenalistische Fassung nimmt an, dass nur die Überzeugungen über die eigenen sensorischen Erfahrungen direkt von der Erfahrung unterstützt werden, wobei Wahrnehmungsüberzeugungen über die Umgebung zur Unterstützung anderer Überzeugungen herangezogen werden. Die Hauptschwierigkeiten eines globalen Empirismus (‚Alles Wissen beruht auf der Erfahrung‘) ergeben sich aus Wissenstypen, die auf diese Weise schwer zu konstruieren sind, wie beispielsweise das mathematische Wissen. Siehe auch: A posteriori; Erkenntnistheorie, Geschichte der; Rationalismus WILLIAM P. ALSTON
Engels, Friedrich (1820–1895)
Bis in die 1970er Jahren war das Werk von Friedrich Engels die einflussreichste Rahmen- und Kommentarliteratur zum Verständnis von Marx’ Entwicklung und seinen Ideen. Dieser Rahmen stand in einer sehr engen Beziehung zu Marx’ Verständ-
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Entdeckung, Logik der
nis der Philosophie und ihrem angeblichen Höhepunkt in Hegels systematischem allumfassendem Idealismus. Engels behauptete, dass Marx die Einsichten Hegels in einem Materialismus verankerte, der mit den Naturwissenschaften seiner Zeit übereinstimmte, und dass Marx eine dialektische Methode ausgemacht habe, die auf die Natur, die Geschichte und das Denken anwendbar sei. Bezüglich der Geschichte hieß es von Marx, er habe eine ‚materialistische Konzeption‘ ausgebildet, von der er seine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihres ‚Geheimnisses‘ des Mehrwertes ableitete. Zusammen genommen bildeten diese intellektuellen Merkmale das Herz des sog. ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘, der nach Engels sowohl die Theoriebildung, als auch die Praxis der weltweiten sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegung leiten sollte. Damit sollte die Armut und Ausbeutung abgeschafft werden, die die moderne industrielle Produktion notwendig mit sich brachte. Philosophisch sind die Lehrsätze des dialektischen und historischen Materialismus sowohl von orthodoxen Kommunisten, als auch von nicht parteigebundenen Marxisten verteidigt, von politischen und intellektuellen Widersachern aber auch erläutert und kritisiert worden. Der dialektische Dreisatz und die Lehre, dass die Geschichte letztlich von materiellen Faktoren bestimmt ist, wurden als tautologisch und unbestimmt angegriffen. Engels Sichtweise, dass der wissenschaftliche Sozialismus eine vertretbare Darstellung des Marx’schen Projekts ist, wurde aber auch von Kennern des Marx’schen Textkorpus und Historikern in Frage gestellt. Siehe auch: Dialektischer Materialismus; Hegelianismus; Marxismus, westlicher; Marxistische Philosophie, russische und sowjetische; Sozialismus TERRELL CARVER
Entdeckung, Logik der
Bacon, Descartes, Newton und andere Hauptfiguren der sog. wissenschaftlichen Revolution behaupteten, mächtige logische Werkzeuge oder Entdeckungsmethoden gefunden und sogar eingesetzt zu haben, d.h. schrittweise Verhaltensanleitungen oder Prozeduren zur systematischen Erzeugung neuer Wahrheiten in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Die Methode der Entdeckung war auch die vorrangige Methode der Rechtfertigung: die Erzeugung von Wissen mittels korrekter Methode war etwas, dass der logischen Ableitung ähnelte und daher die stärkste Rechtfertigung war, die man für eine Behauptung überhaupt geltend machen konnte. Die ‚Logik‘ dieser Methoden war deduktiv, induktiv oder beides. In der Mitte des 19. Jahrhunderts führte die Logik der Entdeckung jedoch zu der flexibleren und theorietoleranteren Methode der Hypothese als der ‚offiziellen‘ Methode der Wissenschaften. Im 20. Jahrhundert vervollständigten Karl Popper und die meisten logischen Positivisten die methodische Umwertung vom sog. Generativismus zum Konsequenzialismus, indem sie ihre hypothetisch-deduktive Methode der Logik der Entdeckung entgegensetzten. Erkenntnistheoretisch wichtig sei nicht, sagten sie, wie die Behauptungen zustande kommen, sondern wie sich ihre Voraussagen in empirischen Überprüfungen bewähren. Sie degradierten die Entdeckung damit auf den Status einer historischen Anekdote und eines psychologischen Prozesses. Seit den späten 1950er Jahren zeichnet sich jedoch ein neues Interesse an der Methodik der Entdeckung an zwei Fronten ab, und zwar der logischen und der historischen. Die vorangehende Wissensexplosion in der symbolischen Logik führte zur Automatentheorie, zu den Computern und schließlich zur künstlichen Intelligenz. 339
Entfremdung
Währenddessen stellte eine reifer werdende Geschichtswissenschaft aber auch Informationen über die Wissenschaft als Prozess zur Verfügung, d.h. darüber, wie historische Akteure und Gemeinschaften tatsächlich ihre Behauptungen und Praktiken entdeckten und konstruierten. Nunmehr ließen ab den 1980er und 1990er Jahren liberale Erkenntnistheoretiker erneut die Entdeckung als legitimen Gegenstand der Wissenschaftsphilosophie zu. Die Versuche sowohl zur Eingemeindung, als auch zur Sozialisierung von wissenschaftlichen Untersuchungen stellen aber auch eine neue Herausforderung für die Möglichkeit der Entdeckungslogik dar. Ihre starke Assoziation mit ‚der‘ Methode der Wissenschaften machte die Logik der Entdeckung zu einem Ziel postmoderner Angriffe, doch in einer etwas flexibleren Fassung ist sie durchaus vertretbar. Siehe auch: Wissenschaftliche Methode THOMAS NICKLES
Entfremdung
‚Entfremdung‘ ist ein prominenter Ausdruck der Sozialtheorie und -kritik des 20. Jahrhunderts, die sich auf ein jegliches oder zahlreiche soziale oder psychologische Übel bezieht, und die als schmerzliche Abtrennung, Bruch oder Zerteilung beschrieben wird, welche jene Dinge erleiden, die eigentlich zusammengehören. Menschen werden einander entfremdet, wenn eine Unterbrechung ihrer gegenseitigen Affekte oder ihres wechselseitigen Verstehens eintritt; sie sind von politischen Prozessen entfremdet, wenn sie sich von ihnen abgesondert und machtlos im Verhältnis zu ihnen fühlen. Ein Nachdenken über das, was wir glauben oder für wertvoll halten, kann uns ebenfalls davon entfremden, indem es die vormalige Nähe dazu oder unsere Identität damit unterminiert; sie bleiben unsere Glaubensüberzeugungen oder Werte nur in Ermangelung eines Besseren, sind aber nicht mehr die unsrigen in der Weise, wie sie es sein sollten. In dem englischen Ausdruck alienation treffen sich zwei unterschiedliche deutsche Begriffe, nämlich ‚Entfremdung‘ im Sinne von estrangement und ‚Entäußerung‘ im Sinne von externalisation. Beide Begriffe haben ihren Ursprung in der Philosophie Hegels, speziell in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807). Ihr Einfluss geht jedoch hauptsächlich auf ihren Gebrauch durch Karl Marx in seinen Manuskripten von 1844 zurück. Marx’ fundamentales Interesse betraf die Entfremdung der Lohnarbeiter von ihrem Produkt, deren Grund er in der entfremdeten Form ihrer Produktivtätigkeit sah. Sowohl bei Hegel, als auch bei Marx bezieht sich der Ausdruck ‚Entfremdung‘ grundlegend auf eine Art von Tätigkeit, bei der das Wesen des Akteurs als etwas ihm Äußerliches oder Fremdes gesetzt ist, wobei angenommen wird, dass dies durch eine feindselige Beherrschung des Akteurs geschieht. Siehe auch: Marxismus, westlicher ALLEN W. WOOD
Entscheidungs- und Spieltheorie
Die Entscheidungstheorie untersucht die individuelle Entscheidung in Situationen, in denen eine individuelle Wahl weder die Entscheidung eines anderen betrifft, noch dieses Individuum durch die Wahl eines anderen betroffen ist, während die Spieltheorie das Treffen von Entscheidungen in Situationen untersucht, wo individuelle Entscheidungen einander beeinflussen. Die Entscheidungstheorie fragt beispielsweise: was heißt es, sich rational zu entscheiden? Wie sollten wir uns entschei340
Epikureismus
den, wenn die Konsequenzen unserer Handlungen ungewiss sind? Der Abschluss einer Versicherung und die Entscheidung darüber, welche Arbeit man annimmt, sind Entscheidungen der Art, die in die Disziplin der Entscheidungstheorie fallen. Die Spieltheorie kommt stattdessen bei allen Entscheidungen zum Zuge, die eine strategische Komponente haben. Die zu treffenden Entscheidungen eines Oligopolisten, Wahlstrategien, militärtaktische Probleme, Abschreckung, aber auch so gewöhnliche Phänomene wie bedrohen, versprechen, Konflikte und Kooperation sind ihr Gegenstandsgebiet. In einer strategischen Situation ist das Ziel nicht lediglich, sich rational zu entscheiden, sondern die Wahl auf eine solche Art zu treffen, dass eine gegenseitige Lösung erreicht wird, dass die Entscheidungen auf die richtige Weise ‚koordiniert‘ sind. Die formalen Methoden, die durch die Spieltheorie entwickelt wurden, erfordern nicht, dass das sich entscheidende Subjekt ein intentionaler Akteur ist: koordinierte Interaktion zwischen Tieren und Computern können genauso gut modelliert werden. Siehe auch: Rationalen Wahl, Theorie der; Semantik, spieltheoretische; Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der CHRISTINA BICCHIERI
Entscheidungsproblem
Siehe: Churchs Theorem und das Entscheidungsproblem
Epikur
Siehe: Epikureismus
Epikureismus
Der Epikureismus ist eine der drei dominanten Philosophien des hellenistischen Zeitalters. Die Schule wurde von Epikur (341–271 v. Chr.) gegründet. Nur kleine Beispiele und indirekte Zeugnisse seiner Schriften sind noch erhalten, ergänzt durch die Dichtung des römischen Epikureers Lukrez. Daneben gibt es eine große Zahl weiterer Fragmente und Sekundärhinweise. Die Hauptmerkmale seiner Philosophie sind ihre anti-teleologische Physik, eine empiristische Erkenntnistheorie und eine hedonistische Ethik. Die epikureische Physik entwickelte sich aus dem atomistischen System des Demokrit im 5. Jahrhundert v.Chr. Das einzige, was per se existiert, sind demnach die Körper und der Raum, die beide quantitativ unendlich sind. Der Raum umfasst die absolute Leere, die die Bewegung ermöglicht, während die Körper aus physikalisch unauflöslichen Teilchen bestehen, den so genannten ‚Atomen‘. Die Atome sind ihrerseits messbar in absoluten Minimalmengen, und dies sind die letzten bzw. kleinsten Größeneinheiten. Die Atome sind in ständiger, schneller Bewegung mit gleicher Geschwindigkeit (denn in der reinen Leere gibt es nichts, das sie bremsen könnte). Die Stabilität entsteht als eine durchgehende Eigenschaft aller Zusammensetzungen, die große Gruppen von Atomen dadurch bilden, das sie sich in regelmäßigen Mustern komplexer Bewegung zusammenfinden. Diese Bewegung wird geleitet durch die drei Prinzipien des Gewichts, der Begegnungen und einer minimalen Zufallsbewegung, einer Art ‚Ausweichbewegung‘, die neue Bewegungsmuster initiiert und die Gefahr des Determinismus umgeht. Alle Sekundäreigenschaften wie beispielsweise die Farbe entstehen aus den atomaren Zusammensetzungen heraus. Wegen ihres abhängigen Zustands gehören sie nicht auf die Liste der per-seExistenzen, woraus allerdings nicht folgt, dass sie nicht wirklich sind. Unsere Welt 341
Epikureismus
ist, wie zahlreiche andere Welten, eine zufällig erzeugte Mischung mit unendlicher Dauer. Dahinter steht kein göttlicher Geist. Die Götter muss man als ideelle Wesen betrachten, als Vorbilder des epikureischen guten Lebens, und deshalb als glückselig und von unseren weltlichen Dingen abgehoben. Die Grundlage der epikureischen Erkenntnistheorie (des ‚Kanon‘) ist, dass ‚alle Wahrnehmungen wahr sind‘, d.h. repräsentativ, nicht jedoch propositional wahr. In dem paradigmatischen Fall des Sehens fließen dünne Filme von Atomen (‚Bilder‘) ständig von den Körpern weg, und unsere Augen registrieren mechanisch diejenigen davon, die uns erreichen, und schmücken sie weder aus, noch interpretieren sie. Diese primären visuellen Daten (wie Photographien, die ‚nicht lügen können‘) haben einen unangreifbaren Beweiswert. Der Schluss von ihnen auf die Natur externer Gegenstände bringt jedoch das Urteil mit sich, und hier kommt der Irrtum ins Spiel. Die Wahrnehmungen dienen deshalb als eines von drei ‚Wahrheitskriterien‘ neben den Gefühlen, die ein Kriterium für Werte und psychologische Daten sind, und den prolēpseis, d.h. den natürlich erworbenen (Ober)begriffen. Auf der Grundlage der Wahrnehmungsevidenz sind wir zu dem Schluss auf mikroskopische oder weit entfernte Phänomene berechtigt. Astronomische Phänomene können beispielsweise nicht als göttliche Technik betrachtet werden (was mit der prolēpsis von Gott als einem Ruhenden in Widerspruch geriete), und die Erfahrung versorgt uns mit zahlreichen Modellen, die angemessen auf naturalistische Weise erklärt werden können. Solche Grundlegungen laufen auf eine Konsistenz mit den direkt beobachteten Phänomenen hinaus und werden ouk antimarturēsis genannt, was man mit ‚Mangel an Gegenbeweis‘ übersetzen könnte. Paradoxerweise müssen, wenn verschiedene alternative Erklärungen für dasselbe Phänomen diesen Test bestehen, alle als wahr gelten. Glücklicherweise gilt jedoch, dass, wenn es um die grundlegenden Lehren der Physik geht, regelmäßig immer nur eine Theorie den Test besteht. In der Ethik ist die Freude das eine Gute und jenes angeborenermaßen gesuchte Ziel, dem alle anderen Werte untergeordnet sind. Der Schmerz ist das einzige Schlechte, und es gibt nichts Vermittelndes dazwischen. Körperliche Freuden werden uns mit größerer Gewissheit zuteil, wenn wir im Kreise gleich gesonnener Freunde einen einfachen Lebensstil pflegen, der nur unsere natürlichen und notwendigen Wünsche befriedigt. Körperlicher Schmerz kann, wenn er schon unvermeidlich ist, durch geistiges Vergnügen aufgewogen werden, das ihn übersteigt, denn dieses Vergnügen kann sich über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Freuden erstrecken. Das höchste Vergnügen, sowohl der Seele, als auch des Körpers, ist ein zufriedener Zustand, die ‚statische Freude‘. Die kurzlebigen (‚bewegten‘) Freuden der Stimulation können diesen Zustand variieren, jedoch nicht erhöhen. Im Bestreben nach einer Akkumulation solcher Freuden geht man das Risiko ein, von ihnen abhängig zu werden und damit ohne Notwendigkeit gegen das Schicksal verletzlich zu werden. Das primäre Ziel sollte es deshalb sein, den Schmerz auf ein Mindestmaß zu verringern. Dies erreicht man für den Körper vermittels eines einfachen Lebensstils, und für die Seele vermittels des Studiums der Physik, das die so hoch gepriesene ‚statische‘ Freude bietet, d.h. ‚Freiheit von Störung‘ (ataraxia), indem die beiden Hauptquellen menschlicher Pein beseitigt werden, nämlich die Angst vor Gott und dem Tod. Die Physik lehrt uns, dass die kosmischen Phänomene keine göttlichen Bedrohungen mit sich bringen, und dass der Tod lediglich die Auflösung der Seele ist und die Hölle eine Illusion. Tot zu sein ist nicht schlimmer als noch 342
Epiphänomenalismus
nicht geboren zu sein. Die Physik lehrt uns auch, wie wir dem Determinismus entkommen, der moralische Akteure sonst zu geistlosen Fatalisten machen würde. Die indeterministische ‚Ausweich‘-Lehre (siehe oben) belässt uns zusammen mit der logischen Doktrin, dass Aussagen über Zukünftiges weder wahr noch falsch sein können, den freien Willen. Obwohl die epikureischen Gruppen sich gewöhnlich dem öffentlichen Leben zu entziehen trachteten, respektierten sie die bürgerliche Rechtsordnung, die sie jedoch nicht als einen absoluten Wert auffassten, sondern als etwas, dass immer wieder im Licht sich wandelnder Umstände überarbeitet werden muss, d.h. als einen Vertrag zwischen Menschen, sich im eigenen Interesse schädlicher Handlungen zu enthalten. Siehe auch: Atomismus, antiker; Freier Wille; Gassendi, P.; Hedonismus; Lukrez; Prolēpsis; Stoizismus; Telos; Tod; Wahrnehmung DAVID SEDLEY
Epiphänomenalismus
Der Epiphänomenalismus ist eine Theorie über die Beziehung zwischen den Reichen des Mentalen und des Physischen, die als einander radikal wesensverschieden betrachtet werden. Diese Theorie besagt, dass nur physische Zustände kausale Wirkmacht haben, und dass mentale Zustände vollständig von ihnen abhängen. Das Reich des Mentalen ist für Epiphänomenalisten nicht mehr als eine Reihe bewusster Zustände, die das Eintreten von entsprechenden Zuständen ihres zugehörigen Nervensystems anzeigen, die jedoch selbst keine kausale Rolle spielen. Beispielsweise löst mein Gefühl, müde zu sein, nicht mein Gähnen aus, sondern beides, sowohl das Müdigkeitsgefühl, als auch das Gähnen sind Wirkungen eines zugrunde liegenden neuronalen Zustandes. Mentale Zustände sind wirklich, und indem sie uns bewusst werden, sind wir mehr als lediglich physische Organismen. Gleichwohl sind alle unsere Erfahrungen, Gedanken und Handlungen durch unsere physikalische Natur determiniert. Mentale Zustände sind in Wirklichkeit wie Rauch, der aus einer Maschine aufsteigt, d.h. reine Nebeneffekte, die auf den Lauf der Natur keinen Einfluss haben. Siehe auch: Bewusstsein; Mentale Verursachung KEITH CAMPBELL; NICHOLAS J.J. SMITH
Epoché
Siehe: Phänomenologie, erkenntnistheoretische Fragen der
Erasmus, Desiderius (ca. 1466–1536)
Obwohl Erasmus kein systematischer Philosoph war, gab er doch vielen seiner Schriften eine philosophische Form. Er glaubte an die menschliche Fähigkeit zur Selbstverbesserung durch Erziehung und Ausbildung und an das relative Übergewicht der Erziehung über die Natur. Idealerweise fördert die Erziehung und Ausbildung die docta pietas (‚gelehrte Frömmigkeit‘), eine Kombination aus Frömmigkeit und Lernen. Erasmus’ politisches Denken ist beherrscht von der Vision eines universellen Friedens und vom Begriff des Konsens und der Zustimmung, die er als die Grundlage des Staates ansieht. Gleichzeitig steht er hinter dem Ideal des ‚patriarchalischen Prinzen‘, einer gottähnlichen Figur für sein Volk, die aber umgekehrt Gott rechenschaftspflichtig ist. Erasmus’ Erkenntnistheorie ist von Skeptizismus gekennzeichnet. Er tritt für einen Vergleich der Argumente beider Seiten einer Streitfrage ein, ohne diese jedoch zu entscheiden. Sein Skeptizismus erstreckt sich jedoch 343
Ereignis
nicht auf Glaubensfragen. Er glaubt an das absolute Wissen durch die Offenbarung und behält sich Wahrscheinlichkeitsüberlegungen für Fälle vor, die nicht durch die Autorität der Heiligen Schrift oder die ausdrücklichen Lehren der Kirche, die das Sprachrohr der Offenbarung ist, gedeckt sind. Erasmus’ Pionierleistungen als einem Kritiker des Bibeltextes und sein Ruf nach einer Reformation der Kirche sowohl in ihrer Führung, als auch bei ihren Mitgliedern, brachte ihn in Konflikt mit den konservativen katholischen Theologen. Seine Unterstützung für die Reformationsbewegung wurde jedoch missverstanden. Er lehnte jegliche Unterstützung radikaler Methoden der Reformer ab und beteiligte sich an einer Polemik mit Luther über die Frage des freien Willens. Im Ganzen gesehen war Erasmus mehr an den moralischen und spirituellen Fragen als den doktrinären Aspekten der Reformation interessiert. Er bevorzugte die innere Frömmigkeit gegenüber einer Beachtung von Riten und verwarf scholastische Spekulationen zugunsten der philosophia Christi, die in den Evangelien verkündet wird. Der Ausdruck ‚christlicher Humanismus‘ beschreibt am besten die Philosophie des Erasmus, der erfolgreich christliches Denken mit antiken Denktraditionen kombinierte, die durch die Renaissance-Humanisten wieder belebt wurden. Siehe auch: Freier Wille; Humanismus, Renaissance; Krieg und Frieden, Philosophie über; Luther, M.; Morus, T.; Renaissance Philosophie; Souveränität ERIKA RUMMEL
Ereignis
Ereignisse sind Entitäten wie beispielsweise Zusammenstöße oder Reden, im Gegensatz zu Dingen wie Planeten und Menschen. Viele Ereignisse stellen Veränderungen dar, beispielsweise der Abkühlung oder Erhitzung etc. Allen Ereignissen mangelt es an der vollen Identität des Gegenstandes über die Zeit: entweder finden die Ereignisse momentan statt, oder sie bestehen aus zeitlichen Abschnitten, wie die Worte einer Rede, die daran gehindert sind, in einem bestimmten Moment vollständig anwesend zu sein. Dagegen sind Dinge, die nicht aus zeitlichen Abschnitten bestehen, vollständig für die gesamte Zeit ihrer Existenz anwesend. Ereignisse kann man in zwei Arten von Entitäten einteilen: zum einen die Tatsachen, wie jene, dass David Hume starb, was Wahrheiten der Form ‚Hume starb‘ entspricht, oder aber die Einzelheiten, die wie die Dinge, mit Namen belegt werden können, wie z.B. ‚Humes Tod‘. Welchem Typ ein Ereignis zuzuordnen ist, berührt den Gegenstand vieler metaphysischer Theorien, beispielsweise jener, dass alle Einzelheiten Dinge sind, dass Zeitpunkte oder Ursachen und Wirkungen oder Handlungen Ereignisse sind; oder dass mentale Ereignisse physischer Natur sind. Siehe auch: Verursachung; Augenblicks, buddhistische lehre des; Ontologie; Reichenbach, H.; Zeit; Whitehead, A.N. D.H. MELLOR
Erhabene, Das
Der Ursprung des Ausdrucks ‚das Erhabene’ (in der modernen Literatur auch ‚das Sublime’ genannt) findet sich in der antiken Philosophie, wo beispielsweise Longinus ihn mit einer etwas hochfliegenden oder gehobenen literarischen Sprache verband. Im 18. Jahrhundert kam der Ausdruck in einen erweiterten Gebrauch, indem er nicht nur auf die Literatur, sondern auch auf die Naturerfahrung (siehe Kant,
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Erinnerung, Erkenntnislehre der
I.) angewandt wurde, woraufhin diese zu einem der am leidenschaftlichsten diskutierten Themen im kulturellen Diskurs dieser Epoche wurde. Die Theorien von Addison, Burke und Kant sind in diesem Zusammenhang besondern bedeutend. Addison entwickelte und erweiterte die Auffassung des Erhabenen von Longinus als eine Weise der gehobenen Selbsttranszendenz, während Burke die Einsicht von John Dennis betreffend die Verknüpfung des Erhabenen mit dem Schrecken und einer Empfindung der Selbsterhaltung erweiterte. Und während Addison und Burke mit dem Ausdruck sowohl die Kunst, als auch die Natur in ihrem Ansatz umfassten, beschränkte Kant die Erfahrung des Erhabenen auf unsere Begegnung mit der Natur. In seiner Theorie ist das Erhabene definiert als eine Lust in der Art und Weise, wie die Fähigkeit der Natur zur Überwältigung unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungskräfte in unseren Kräften des rationalen Verständnisses einerseits enthalten ist und andererseits diese belebt. Das Erhabene ist damit eine ganz bestimmte ästhetische Erfahrung. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Kants und (in geringerem Umfange) auch Burkes Theorien des Erhabenen zum Gegenstand eines neuen und massiven Interesses im Kontext einer allgemeineren Diskussion der postmodernen Gesellschaft. Kants Theorie wurde beispielsweise von J.-F. Lyotard und anderen verwendet, um die Sensibilität zu erklären, die sich auf die lustvolle Erfahrung der Komplexität, den sehr schnellen Wandel und auf den Zusammenbruch von Kategorien richtet, und die unsere Gesellschaft zu kennzeichnen scheint. Siehe auch: Burke, E.; Kant, I. (§ 12); Lyotard, J.-F.; Natur, Ästhetische Wertschätzung der; Schiller, J.C.F. PAUL CROWTHER
Erinnerung, Erkenntnislehre der
Unter Erinnerung verstehen wir gewöhnlich die subjektive Aufbewahrung von Erfahrung und Wissen. Nun gibt es erkenntnistheoretische Fragen, wie so etwas überhaupt möglich ist. Die Erinnerung ist fehlbar, und die empirische Forschung hat zahlreiche Weisen herausgefunden, auf die sich die Menschen systematisch falsch erinnern. Sogar sehr grobe systematische Irrtümer sind offenbar möglich: Russell schlug vor, dass es mit Gültigkeit für die ganze Welt möglich sei, dass sie erst vor fünf Minuten zur Existenz gekommen ist, und zwar vollständig hinsichtlich der in ihr lebenden Menschen mit so genannten Erinnerungen an frühere Zeiten. Im Lichte solcher Möglichkeiten wenden einige Skeptiker ein, dass aus der Erinnerung kein Wissen zu gewinnen ist. Geht man allerdings davon aus, dass die Erinnerung Wissen liefert, so gibt es dennoch ernsthafte erkenntnistheoretische Fragen, wie dies vor sich gehen soll. Ist es beispielsweise die instrospektive Qualität der Erinnerung (also die Art und Weise, wie wir in unsere Erinnerung ‚hineinschauen‘), die die erkenntnistheoretische Rechtfertigung liefert, die wir suchen? Wie ‚fertig‘ erschlossen muss beispielsweise eine Aussage in der Erinnerung vorliegen, damit sie als Erkenntnis gelten kann, auch wenn sie zwischenzeitig nicht ‚abgerufen‘ wird? Gewährt uns der vollständige Rückbehalt eines zuvor als Erkenntnisgrundlage dienenden Etwas die fortbestehende Erkenntnis dieses Etwas? Bedeutet das Vergessen einer ursprünglichen Erkenntnisgrundlage von Etwas, ohne dass sie durch eine andere ersetzt wird, den Verlust von Erkenntnis?
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Eriugena, Johannes Scottus (ca. 800–877)
Alle dieser Fragen sind bis heute ungelöst. Die Erinnerung ist heute ferner ein Forschungsgegenstand, der vor allem und mit großem Interesse in der Neurophysiologie und der Biochemie erforscht wird. Die Philosophie steht hier im Windschatten der naturwissenschaftlichen Forschung und formuliert nur noch selten Ansätze, die sich nicht mehr oder weniger stark auf die entsprechenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse stützen. Somit hängt die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status von Erinnertem zu allererst davon ab, ob man hier eine idealistische (unter die nach allgemeiner Auffassung auch die phänomenologischen Schulen fallen) oder eine realistische Diskursstrategie einschlägt. Je nachdem, wie diese Entscheidung ausfällt, ist die erkenntnistheoretische Konstruktion der Erinnerung eine jeweils gänzliche andere. Siehe auch: Skeptizismus; Wissen, stillschweigendes EARL CONEE
Eriugena, Johannes Scottus (ca. 800–877)
Johannes Scottus Eriugena ist der wichtigste lateinisch schreibende Philosoph zwischen Boethius und Anselm von Canterbury. Als christlicher Neuplatonist entwickelte er eine einzigartige Synthese zwischen der neuplatonischen Tradition des Pseudo-Dionysos und Augustinus. Eriugena verstand Griechisch, was im westlichen Europa zu jener Zeit außerordentlich ungewöhnlich war, und seine Übersetzungen des Dionysos und anderer griechischer Autoren bahnten den Zugang zu einer theologischen Tradition, die bis dahin im lateinischen Westen unbekannt war. Aus diesen Quellen heraus schuf Eriugena eine originelle Kosmologie mit der Natur als dem ersten Prinzip. Natur als die Totalität aller Dinge, die es gibt und nicht gibt, einschließlich Gott und der Schöpfung, hat vier Abteilungen: die schöpfende Natur, die selbst nicht geschaffen ist, die Natur, die schöpft und selbst erschaffen ist, die Natur, die erschaffen ist und selbst nicht schöpft, und die Natur, die weder selbst schöpft, noch erschaffen wurde. Diese Abteilungen haben Anteil an der kosmischen Prozession der göttlichen Kreaturen und an ihrer Rückkehr zu Gott. Da alles innerhalb der Natur stattfindet, ist Gott in allen vier Abteilungen gegenwärtig. Eriugena beeinflusste die Neuplatonisten des 12. Jahrhunderts, wurde aber im 13. Jahrhundert für seine Lehre von der Identität Gottes und der Schöpfung verdammt. DERMOT MORAN
Erkenntnis, Begriff der Einführung Jener Zweig der Philosophie, der sich mit dem Wesen und dem Umfang des menschlichen Wissens oder der menschlichen Erkenntnis befasst, heißt Erkenntnislehre (auf Englisch epistemology, was wiederum aus dem Griechischen kommt: epistēmē bedeutet ‚Erkenntnis‘ und logos in diesem Zusammenhang ‚zugrunde liegende Ordnung‘ oder eben ‚Theorie‘). Erkenntnis scheint es auf viele verschiedene Weisen zu geben: wir kennen Menschen, Orte und Dinge; wir wissen (wobei die Ausdrücke ‚Wissen‘ und ‚Erkenntnis‘hier weitgehend synonym gebraucht werden), wie wir bestimmte Aufgaben zu erledigen haben, und wir kennen Tatsachen. Das Tatsachenwissen steht im Zentrum der Erkenntnislehre. Wir können eine Tatsache nur wissen oder erkennen, wenn wir uns eine wahre Überzeugung von ihr bilden. Da aber nur einige wahre Überzeugungen Erkenntnisse 346
Erkenntnis, Begriff der
oder Wissen sind (man bedenke beispielsweise eine glücklich verlaufende Vermutung), so ist die zentrale Frage der Erkenntnislehre: ‚Was verwandelt einen lediglich wahren Glauben in Wissen bzw. in eine Erkenntnis?‘ Es gibt viele und oft miteinander in Widerstreit stehende Antworten auf diese Frage. Die vorrangige traditionelle Antwort darauf lautete, dass unsere wahren Überzeugungen auf ausreichend guten Gründen beruhen müssen, damit sie als Erkenntnis ausgewiesen werden können. Letztbegründungstheoretiker (siehe Letztbegründungsphilosophie) haben die Auffassung geäußert, dass die Struktur der Vernunft so beschaffen ist, dass unsere Vernunft letztlich auf fundamentalen Gründen beruht, für die es keine weiteren Gründe gibt, die sie stützen. Stattdessen argumentieren sie, dass unsere Überzeugungen sich gegenseitig unterstützen. Zu diesen Beschränkungen der Gesamtstruktur der Gründe kommt hinzu, dass Erkenntnistheoretiker verschiedene allgemeine Prinzipien vorgeschlagen haben, die diese Gründe steuern. Beispielsweise scheint es, dass, wenn meine Gründe auf angemessene Weise irgendeine Tatsache zu bestätigen scheinen, diese Gründe auch geeignet sein sollten, andere damit unvereinbare Hypothesen zu verdrängen. Dieses auf den ersten Blick plausible Prinzip führt jedoch bei näherem Hinschauen in einige tiefe Rätsel, und vielleicht sogar in den Skeptizismus. Tatsächlich führen viele der Prinzipien, die eingangs plausibel erscheinen, zu ganz unterschiedlichen und unerwarteten und unwillkommenen Schlussfolgerungen. Es wurden auch Alternativen zu der vorrangigen traditionellen Antwort auf diese zentrale erkenntnistheoretische Frage erarbeitet, zum Teil wegen der angenommenen Fehler der traditionellen Erkenntnislehre. Diese Alternativansichten behaupten, dass es etwas anderes als die ‚guten Gründe‘ sind, die die (lediglich) wahren Überzeugungen von der Erkenntnis sondern. Die Reliabilisten (von engl. reliable = verlässlich, also ungefähr ‚Verlässlichkeitstheoretiker‘) behaupten, dass eine wahre Überzeugung, die sich aus einem hinreichend verlässlichen Prozess ergibt, Erkenntnis ist. Richtiges Denken ist aber nur einer von vielen Wegen, auf denen verlässliche Überzeugungen produziert werden können. Die Frage, ob der Einwand gegen die traditionelle Erkenntnislehre standhält, oder ob die vorgeschlagenen Ersatztheorien besser sind, bleibt am Ende jedoch ungelöst. 1. Die Varianten der Erkenntnis 2. Propositionale Erkenntnis ist nicht einfach wahre Überzeugung 3. Erkenntnissicherung 4. Letztbegründungsphilosophie und Kohärenztheorien 5. Anfechtbarkeitstheorien 6. Externalismus 7. Erkenntnistheoretische Prinzipien 8. Die erkenntnistheoretischen Prinzipien und der Skeptizismus 9. Die erkenntnistheoretischen Prinzipien und einige Paradoxa 10. Einige Herausforderungen der traditionellen Erkenntnislehre 1. Die Varianten der Erkenntnis Die Erkenntnis erscheint in vielen Varianten. Ich kann wissen, wie ich einen Vergaser einstelle. Ich kann eine Person kennen. Ich kann wissen, dass ein Mischen von Bleichmittel und Ammoniak gefährlich ist. Im ersten Falle besitze ich eine ge-
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Erkenntnis, Begriff der
wisse Geschicklichkeit. Im zweiten Falle bin ich mit jemandem oder mit etwas vertraut. Im dritten Falle kenne ich eine Tatsache. Die Erkenntnistheoretiker sind sich uneins über die Beziehungen zwischen diesen Wissen- bzw. Erkenntnistypen. Einerseits könnte man meinen, dass das Kennen einer Person (oder eines Ortes oder Dinges) als nicht mehr und nicht weniger aufgefasst werden sollte als das Wissen um bestimmte Tatsachen darüber, dass jemanden in die Lage versetzt, diese Person von anderen Gegenständen zu unterscheiden. Andererseits meinte man, dass das Wissen von Tatsachen von der Vertrautheit mit bestimmten Gegenständen abhängt. Ob die Zurückführung auf die eine oder die andere Form des Wissens letztlich erfolgreich ist, gehört unter Erkenntnistheoretikern bereits zu den strittigen Dingen. Trotzdem ist es das Wissen von Tatsachen, also die so genannte propositionale Erkenntnis im Gegensatz zur Erkenntnis durch Vertrautheit oder zum Besitz von Fähigkeiten, das im Zentrum der erkenntnistheoretischen Bemühungen steht. Die zentrale Frage dabei kann man auf die folgende Weise stellen: Welche meiner Überzeugungen gelten als Wissen / als Erkenntnis? Diese Frage setzt voraus, dass Erkenntnis eine Art von Überzeugung ist. Manche denken aber vielleicht, dass Erkenntnis und Überzeugung sich gegenseitig ausschließen; beispielsweise sagen wir solche Sachen wie: ‚Das glaube ich nicht, sondern das weiß ich!‘- Wir sagen aber auch Sätze wie: ‚Ich bin nicht glücklich, ich bin verzückt!‘ Eine mögliche Umschreibung dieses Ausdrucks scheint zu erfassen, was hier gemeint ist, ohne die offensichtlich wahre Behauptung zu bestreiten, dass die Verzückung eine Form des Glücks ist. Diese Umschreibung lautet: ‚Ich bin nicht lediglich glücklich, ich bin sogar verzückt.‘ Und die Parallele für den ersten Satz lautet: ‚Ich glaube nicht nur, sondern ich weiß.‘ Diese Art des linguistischen Beweises stützt jedoch nicht die Annahme, dass Überzeugung und Erkenntnis einander ausschließen. Im Allgemeinen meinten die Erkenntnistheoretiker deshalb, dass propositionale Erkenntnis eine Art von Überzeugung ist. 2. Propositionale Erkenntnis ist nicht einfach wahre Überzeugung Propositionale Erkenntnis ist eine bestimmte Art von Überzeugung; aber welche Überzeugungen sind Erkenntnis? Zunächst muss man hier festhalten, dass eine Überzeugung wahr sein muss, damit sie als Erkenntnis gelten kann. Dies ist aber offensichtlich nicht genug. Erstens können wahre Überzeugungen auf falschen Schlüssen beruhen. Angenommen ich meine, das Rauchen sei einer der Hauptgründe für tödlichen Lungenkrebs, weil ich dies aus der Tatsache schließe, dass ich zwei Raucher kenne, die an Lungenkrebs starben. Die Verallgemeinerung ist zwar wahr, aber mein Beweis ist zu dürr für meine Überzeugung, um als Erkenntnis zu gelten. Zweitens können wahre Überzeugungen auf falschen Überzeugungen beruhen. Wir modifizieren nun ein Beispiel von Bertrand Russell und nehmen an, dass ich – was wahr ist – davon ausgehe, dass der Nachname des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1996 mit ‚C‘ beginnt. Ferner sei angenommen, dass diese Überzeugung von einer anderen – diesmal falschen – Überzeugung abgeleitet wurde, dass dieser Präsident Winston Churchill gewesen sei. Meine wahre Überzeugung, dass der Name des Präsidenten mit einem ‚C‘ beginnt, beruht also auf der falschen Überzeugung, dass dieser Präsident Winston Churchill gewesen sei. Drittens können selbst einige derjenigen Überzeugungen keine Erkenntnis bzw. kein Wissen sein, die aus gültigen Schlussfolgerungen hervorgehen, die ihrerseits auf wahren Überzeugungen beruhen. Angenommen ich gehe der Wahrheit entspre348
Erkenntnis, Begriff der
chend davon aus, dass meine Nachbarn zu Hause sind. Meine Überzeugung beruht auf einer gültigen Schlussfolgerung aus meiner ebenfalls wahren Überzeugung, dass ich angeschaltete elektrische Lampen in deren Wohnung sehe, und dass in der Vergangenheit diese Lampen immer nur dann angeschaltet waren, wenn meine Nachbarn zu Hause waren. Man stelle sich jetzt vor, dass dieses eine Mal die Lampen von Gästen angeschaltet wurden, und dass meine Nachbarn gerade eben erst das Haus betreten haben und die Lampen nicht mehr anschalten mussten. In diesem Falle ist es auf meiner Seite keine Erkenntnis, dass meine Nachbarn zu Hause sind. So lautet die zentrale Frage also: was muss zu einer wahren Überzeugung hinzukommen, um sie in eine Erkenntnis zu verwandeln? 3. Erkenntnissicherung Die Eigenschaft, welche sie auch sei, die, wenn sie bei einer wahren Überzeugung gegeben ist, diese zu einer Erkenntnis macht, können wir als ‚Erkenntnissicherung‘ bezeichnen. Erkenntnis wäre dann wahre, gesicherte Überzeugung. Diese fehlende Eigenschaft einfach zu benennen, bringt uns aber ihrem Verständnis nicht näher, und wir müssen uns davor hüten, uns die Sicherung nicht als ein ausgeklügeltes Synonym für ‚begründet‘ bzw. ‚gerechtfertigt‘ vorzustellen. Man könnte sagen, dass eine Überzeugung genau in dem Falle begründet oder gerechtfertigt ist, wenn wir einen Anspruch haben, aufgrund geeigneter Gründe dieser Überzeugung zu sein. In unserem oben erwähnten ‚Nachbar‘- bzw. ‚Elektrisches Licht‘-Falle sahen wir bereits, dass die Begründung nicht als Erkenntnissicherung genügt. Ob sie überhaupt notwendig ist, wird noch in der folgenden Diskussion, insbesondere in § 6, wichtig werden. In Anbetracht der großen Vielfalt von Ansätzen für eine Darstellung der Sicherung fragt sich, ob es irgendeinen gemeinsamen, zugrunde liegenden Anfangspunkt gibt, der von den Erkenntnistheoretikern anerkannt wird? Diese lautet: eine gesicherte Überzeugung ist eine solche, die nicht nur auf der Grundlage reinen kognitiven Glücks besteht. Platon beruft sich auf die Intuition im ‚Theaëtet‘. Aristoteles’ Darstellung in der ‚Zweiten Analytik‘ des Überganges von der Unwissenheit des Ersten Prinzips in der Wissenschaft zu seiner Erkenntnis soll zeigen, dass es verlässliche kognitive Mechanismen gibt, deren Ergebnis kein Zufall ist. Descartes schlägt Methoden zum Erwerb von Überzeugungen vor, die (nach seiner Auffassung) notwendig zur Wahrheit führen. Locke meint dagegen, dass sogar dann, wenn Menschen durch Zufall eine wahre Überzeugung annehmen, sie dadurch nicht gegen jede Kritik gefeit sind. Lassen Sie uns mit der Annahme beginnen, dass eine Aussage genau dann gewusst wird, wenn es aus kognitiver Sicht kein Zufall ist, dass jemand davon überzeugt ist und sie auch wahr ist. Somit stellt sich die Aufgabe als eine der Entwicklung einer Darstellung der Sicherung dar, die präzise darlegt, was es ist, das eine Überzeugung aus kognitiver Sicht nicht-zufällig wahr macht. 4. Letztbegründungsphilosophie und Kohärenztheorien Traditionell gibt es zwei Hauptansätze zur Darstellung der Begründung: die Letztbegründungs- und die Kohärenztheorien. Beide sind normative Standpunkte betreffend die Regeln, kraft derer Aussagen akzeptiert oder abgelehnt oder aufgeschoben werden sollten (siehe Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der; Letztbegründungsphilosophie). Um diese Ansätze zu beschreiben, rufe man sich 349
Erkenntnis, Begriff der
die antiken Pyrrhonischen Skeptiker in Erinnerung, wie sie die möglichen Begründungsstrukturen einteilten, die als Grundlage zur Akzeptanz einer Überzeugung dienen (siehe Erkenntnistheorie, Geschichte der; Pyrrhonismus). Angenommen, sie haben eine Überzeugung und äußern eine weitere Überzeugung als Grund für eine vorausgehende Überzeugung, beispielsweise jene, dass Autos von Ford im Allgemeinen billiger sind als die von BMW. Ihr Grund dafür könnte sein, dass Ihnen dies von einer Person mitgeteilt wurde, der sie in diesen Dingen vertrauen. Hier entsteht nun folgende offenkundige Frage: was ist die Grundlage Ihrer Meinung, dass diese Person in diesen Dingen verlässlich ist? Sie könnten hierauf mit einem weiteren Grund antworten, und dieser Grund könnte wiederum durch einen weiteren Grund gestützt werden, etc. pp. Dieser Prozess des Lieferns von Begründungen für Überzeugungen kann nur drei mögliche Strukturen haben: (1) Letztbegründung: Der Prozess des Vorbringens von Gründen könnte so geartet sein, dass nicht jeder Grund durch irgendeinen anderen Grund gestützt wird, weil es fundamentale Gründe gibt, die keiner weiteren, sie stützenden Begründung mehr bedürfen. (2) Kohärenzüberlegungen: Der Prozess des Herbeischaffens von Gründen könnte keine Begründung enthalten, die nicht durch irgendeinen anderen Grund gestützt wird; es gibt allerdings keine unendliche Anzahl von Gründen. Daraus folgt, dass sich die Überzeugungen gegenseitig stützen. (3) Infinitismus: Der Prozess des Herbeischaffens von Gründen kann keinen Grund enthalten, der nicht durch einen anderen Grund gestützt wird; es gibt allerdings eine unendliche Anzahl von Gründen. Die Letztbegründungs- und Kohärenztheorien wurden beide detailliert ausgearbeitet und verteidigt, und es gibt wohlbekannte Einwände gegen jede von ihnen. Im Gegensatz dazu scheinen die prima-facie-Einwände gegen den Infinitismus so überwältigend zu sein, dass er nicht besonders sorgfältig erforscht wurde. Der Infinitismus scheint vorauszusetzen, dass eine Person über eine unendliche Anzahl von Überzeugungen verfügen müsste (was wiederum nicht möglich zu sein scheint). Zusätzlich scheint er unvermeidlich zu der Schlussfolgerung zu führen, dass keine Überzeugung je gerechtfertigt werden kann, weil der Rechtfertigungsprozess niemals abgeschlossen ist. Die Standardeinwände gegen die Letztbegründungstheorien sind ebenfalls zahlreich. Zunächst muss es, wie die Pyrrhonier betonen würden, eine Unterscheidung zwischen dem geben, was eine Überzeugung zu Recht zu einer grundlegenden macht, bzw. was sie einfach zu einer macht, für die es tatsächlich keine weitere Begründung gibt. Andernfalls wäre der angebotene, angeblich ‚fundamentale‘ Grund beliebig. Wenn es aber irgendeinen weiteren Grund zu der Annahme gibt, dass ein herangezogener Grund nicht beliebig ist, dann gibt es auch einen Grund, ihn zu akzeptieren, und der angebotene Grund ist folglich nicht mehr fundamental. Daraus folgt, dass es keine letztgbegründenden Aussagen geben kann. Zweitens scheinen einige bevorzugte Kandidaten für die Rolle des echt fundamentalen Grundes bei näherer Betrachtung nicht wirklich fundamental zu sein. Man denke beispielsweise an Wahrnehmungsurteile: sie sind vielen Philosophen zufolge die Quelle eines Großteils unseres Wissens von der externen Welt (siehe Empirismus; 350
Erkenntnis, Begriff der
A Posteriori). Ein Grund für die Überzeugung, dass es einen Baum vor meinem Haus gibt, ist, dass ich einen Baum vor meinem Haus sehe. Der zweite Teil des vorangehenden Satzes scheint aber nicht wirklich fundamental zu sein, weil man aufgefordert werden könnte zu erklären, was es bedeutet, etwas so zu sehen, dass man zu der Überzeugung gelangt, man sähe einen Baum vor sich (im Gegensatz z.B. zur Illusion eines Baumes). Also haben sich einige Letztbegründungsphilosophen auf die Wahrnehmungsüberzeugungen (sog. Sinnesdaten-Aussagen) als ihre Kandidaten für echte fundamentale Überzeugungen zurückgezogen. Eine solche Überzeugung könnte z.B. lauten: ‚Ich scheine einen grünen, braunen und ziemlich großen Gegenstand zu sehen‘ (siehe Ayer, A.J.; Moore, G.E.). Aber obwohl diese Art von Aussagen echt fundamental erscheinen, gibt es doch notorische Probleme mit dem Sinnesdaten-Standpunkt (siehe Sinnesdaten). Zum einen scheinen die vorgebrachten fundamentalen Überzeugungen zu dürftig zu sein, um eine ausreichende Grundlage für den großen Gegenstandsbereich zu bieten, die wir zu kennen meinen. Wie kann beispielsweise mein Wissen darüber, dass Gegenstände fortbestehen, wenn sie nicht wahrgenommen werden, auf bestimmte Sinnesdaten zurückgeführt werden? Zum anderen sieht es so aus, als ob unser Wissen über die Art und Weise, auf die wir unsere Empfindungen schildern (private Empfindungen wohlgemerkt, die nur dem Einzelnen zugänglich sind, der sie erfährt), von unserer Kenntnis öffentlicher Gegenstände abhängt (siehe Kriterien; Wittgenstein, L.). Wie können wir beispielsweise wissen, dass wir einen pochenden Schmerz haben, ohne zuvor zu erkennen, was es für einen ‚öffentlichen Gegenstand‘ (hier z.B. ein Muskel) bedeutet, dass er ‚klopft‘? Die Letztbegründungsphilosophen haben Antworten auf diese Einwände entwickelt, und zwar teilweise durch eine Befreiung von den Voraussetzungen sowohl für die Eigenschaft des ‚echt‘ oder ‚wirklich‘ fundamentalen Grundes, als auch der Schlussmuster von den Letztbegründungsaussagen auf nicht-letztbegründende (sie he Schluss auf die beste Erklärung). Beispielsweise wurden kontextualistische Darstellungen der Erkenntnis entwickelt, die behaupten, dass eine Aussage genau dann wirklich fundamental ist, wenn sie von der relevanten Gemeinschaft der angenommenen Erkennenden akzeptiert wird. In einer Diskussion mit einem Freund könnte ich die Aussage ‚Ich las dies in der Zeitung‘ als meinen Grund für die Überzeugung anbieten, dass ein weiterer Jupitermond entdeckt wurde. Ich bräuchte keine weiteren Gründe, um dies zu glauben. Im Gegensatz dazu würde eine solche Begründung auf einem Symposium von Astronomen wohl kaum akzeptiert werden. Folglich behaupten die Kontextualisten, dass diejenigen Gründe, die als fundamental gelten sollen, kontextabhängig seien. Es gibt zwei offensichtliche Erwiderungen auf den Kontextualismus. Die erste lautet, dass dieser eine genaue Beschreibung einiger Aspekte unserer epistemischen Praxis beschreibt, gleichwohl nicht die grundlegende pyrrhonische Frage beantwortet: was unterscheidet eine echt fundamentale Aussage von einer anderen, die nur vorgetragen und von einer ‚Gemeinschaft angenommener Erkennender‘ geglaubt wird? Dies betrifft die Frage, welche Überzeugungen, wenn es sie überhaupt gibt, ohne weitere Gründe angeboten und akzeptiert werden sollten. Die Frage ist also nicht, welche Überzeugungen ohne weitere Gründe angeboten und akzeptiert werden. Die zweite Erwiderung ist eine Folge der ersten. Wissen bzw. Erkenntnis scheint ein sehr wertvoller Überzeugungszustand zu sein (so drückt es jedenfalls 351
Erkenntnis, Begriff der
Platon aus). Wenn aber die Kontextualisten Recht hätten, würde ich Erkenntnis einfach durch meinen Eintritt in eine ziemlich leichtgläubige und nachlässige Gemeinschaft gewinnen. Das kann wohl kaum richtig sein. (Siehe Kontextualismus, Erkenntnistheoretischer). Zusammenfassend bleibt der Streit unter den Erkenntnistheoretikern ungelöst, ob der Vorrat zur Verfügung stehender Letztbegründungsaussagen hinreichend ausgebaut werden kann, ohne dabei zu viele Aussagen hineinzunehmen, die offenkundig der Unterstützung durch weitere Evidenz bedürfen, oder ob die Muster logischer Schlussfolgerungen hinreichend ‚liberalisiert‘ werden können, und damit solche Muster zuzulassen, die nicht hinreichend wahrheitsfördernd sind. Der historische Rivale der Letztbegründungsansätze ist die Kohärenztheorie. Die Kohärenztheoretiker bestreiten, dass es fundamentale Gründe gibt und behaupten, dass alle Aussagen ihre Sicherung, zumindest in Teilen, aus anderen Aussagen herleiten. Der grundlegende Einwand lautet hier: typischerweise geben wir zu, dass eine zirkuläre Argumentation kein akzeptables Schlussmuster ist. Was also macht sie in gewissen Fällen akzeptabel? Angenommen ich sei der Auffassung, dass Äpfel Vitamin C enthalten, und zwar zumindest teilweise deshalb, weil ich meine, dass Früchte Vitamin C enthalten. Ich würde natürlich und korrekterweise der zirkulären Beweisführung beschuldigt, wenn ich meinte, dass Früchte deshalb Vitamin C enthalten, weil dies bei Äpfeln der Fall ist. Die Kohärenztheoretiker würden darauf sofort erwidern, dass sie nicht wirklich meinten, man solle zirkulär argumentieren. Vielmehr würden sie die Tatsache hervorheben, dass unsere Überzeugungen bündelweise oder in einer netzartigen Struktur erscheinen (siehe Quine, W.V.). Sie ‚unterstützen sich gegenseitig‘, so wie sich die Zeltstangen eines indianischen Indianerzeltes (Tipi) gegenseitig stützen. Eine Überzeugung ist genau in dem Falle gesichert, wenn sie Mitglied einer Menge kohärenter Überzeugungen ist. Ob diese farbenfrohen Analogien allerdings den zugrunde liegenden Einwand entkräften, ist unklar. Wahrscheinlich ist der zirkuläre Beweis nicht akzeptabel, weil selbst für den Fall, dass ich bei meiner Überzeugung von b1 vernünftigerweise auch von b2 überzeugt sein sollte und umgekehrt, ihre gegenseitige Unterstützung keinen Anlass zu der Annahme gibt, dass beide der Fall sind. Daher ist die grundlegende Frage die folgende: Was macht eine Gesamtmenge kohärenter Überzeugungen T1 in größerem Umfange akzeptabel als eine alternative Gesamtmenge kohärenter Überzeugungen T2? Die pyrrhonischen Skeptiker würden hier darauf hinweisen, dass die Kohärenztheoreitker entweder eine Antwort auf diese Frage haben oder nicht. Wenn sie eine solche haben, dann scheinen sie ihre zentrale Auffassung aufgegeben zu haben, weil es offenbar nun einen Grund gibt, die Gesamtmenge T1 zu wählen, und nicht mehr eine der Überzeugungen aus T1. Darüber hinaus haben sich die Kohärenztheoretiker, wenn sie auf die betreffende Frage eine Antwort geben, tatsächlich in Letztbegründungsphilosophen verwandelt. Haben sie jedoch keine Antwort, dann scheint die Wahl irgendeiner der angebotenen Gesamtmengen von Überzeugungen willkürlich. Die Kohärenztheoretiker haben hierauf wiederum zu entgegnen versucht, indem sie eine ‚Metabegründung‘ für die Annahme einführten, dass gewisse Arten kohärenter Überzeugungssysteme wahrscheinlich wahre Aussagenelemente enthalten. Tatsächlich haben einige von ihnen vorgetragen, dass kohärente Überzeugungen ihrem We352
Erkenntnis, Begriff der
sen nach wahrscheinlich wahr sind (siehe Davidson, D.). Ob aber diese Strategie genügen wird, um die Einwände zu entkräften, bleibt eine offene erkenntnistheoretische Frage. 5. Anfechtbarkeitstheorien Ein grundlegender Einwand gegen die Darstellungen der Letztbegründungsund der Kohärenztheoretiker der Überzeugungsbegründung lautet, das beide Gruppen offenbar nicht in der Lage sind zu zeigen, dass eine wahre Überzeugung, die ihren eigenen Darstellungen davon genügt, nicht einfach nur zufällig wahr ist. Erstens kann, wie der ‚Nachbar‘- und der ‚Elektrisches Licht‘-Fall zeigten, eine wahre Überzeugung vollständig aus sich selbst heraus begründet und dennoch keine Erkenntnis sein. Zweitens scheinen die Überzeugungen, worauf schon die Pyrrhonier hinwiesen, entweder auf gänzlich willkürlichen Fundamenten zu ruhen, oder sie bilden zusammen nur eine von vielen, gleichermaßen kohärenten Überzeugungsmengen. Die Anfechtbarkeitstheorie wurde teilweise entwickelt, um diese Fragen zu klären. Sie behauptet, zusammengefasst, dass es nicht nur die Evidenz ist, die ein Mensch vorzuweisen hat, die eine Überzeugung sichert. Es ist gleichermaßen wichtig, dass es auch keine Anfechtungsgründe dagegen gibt, sie zu vertreten. Das bedeutet, dass eine Überzeugung, um gesichert zu sein, nicht nur begründet sein muss (und zwar in dem Sinne, der entweder von den Letztbegründungs- oder den Kohärenztheoretikern vorausgesetzt wird), sondern ihre Begründung muss auch so beschaffen sein, dass keine Wahrheit gegen sie spricht, die, wenn sie den rechtfertigenden Begründungen hinzugefügt wird, diese Rechtfertigung aufgehoben wird. Ein bekannter Fall wird helfen, dies zu illustrieren (siehe Gettier-Problem). Angenommen ich kenne irgendeinen Michael und sehe eines Tages mit eigenen Augen, wie er in einer Bibliothek ein Buch stiehlt. Ich komme folglich zu der Überzeugung, dass Michael tatsächlich ein Buch gestohlen hat. Lassen Sie uns jetzt annehmen, Michael habe dies intersubjektiv tatsächlich genau so vollzogen. Die Letztbegründungs- und Kohärenztheoretiker könnten, jeder auf seine Weise, jetzt darstellen, wieso ihre jeweilige Auffassung begründet ist. Man nehme nun aber an, Michael habe einen äußerlich identischen Zwillingsbruder namens Rudi, der ähnlich kleptoman veranlagt ist und sich genau an jenem Tag ebenfalls in der betreffenden Bibliothek aufhielt und dort ebenfalls ein weiteres Exemplar genau desselben Buches stahl. Obwohl ich also aufgrund richtiger Schlussfolgerungen, die auf wahren Beobachtungsaussagen beruhen, zu einer wahren Überzeugung gelangt bin, weiß ich (im erkenntnistheoretisch strengen Sinne) dennoch nicht, dass Michael das Buch gestohlen hat, denn es beruht aus kognitiver Perspektive nur auf einem Beobachtungszufall, dass ich zu einer wahren Überzeugung gelangt bin. Da ich beide Brüder kenne, hätte ich auch leicht zu der Überzeugung gelangen können, dass Rudi dies tat. Die Anfechtungstheoretiker würden hier darauf verweisen, dass die Überzeugung, Michael habe hier ein Buch gestohlen, anfechtbar ist. Würde die wahre Beobachtungsaussage, die Rudi bei dieser Handlung beschreibt, zu meinen Überzeugungen hinzugefügt, so wäre meine Überzeugung, Michael habe dies getan, nicht länger begründet. Im Allgemeinen kann die Anfechtbarkeitstheorie zufällig wahre Überzeugungen als nicht gesichert aussondern, weil solche Überzeugungen gegenüber der Wahrheit keinen Bestand haben.
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Erkenntnis, Begriff der
Und dennoch hat auch die Anfechtbarkeitstheorie ihre Probleme. Das hauptsächliche ist, dass sie zuviel von dem auszuschließen scheint, was wir zu wissen meinen. Betrachten wir den Diebstahlsfall nochmals und nehmen an, dass alles genauso wie geschildert verlief, nur dass Michael keinen Zwillingsbruder hat, dafür aber Michaels Mutter aufrichtig die Behauptungen über Rudi eingesteht. Nun gibt es also eine wahre Aussage (Michaels Mutter hat aufrichtig mitgeteilt, dass Michael einen identischen Zwilling namens Rudi habe), die die ursprüngliche Begründung zunichte macht. Damit wäre also die Überzeugung, dass Michael das Buch gestohlen hat, entwertet. Wenn allerdings Michaels Mutter geistig verwirrt ist und gar nicht weiß, was sie redet, und es folglich niemals einen Zwillingsbruder gab, dann sieht es wiederum so aus, dass ich immer schon wusste, dass Michael das Buch gestohlen hatte. Die Anfechtbarkeitstheoretiker haben diesen Einwand dadurch zu entkräften versucht, dass sie Wege zur Unterscheidung zwischen so genannten irreführenden (z.B. das aufrichtige Geständnis der Mutter, dass Michael einen identischen Zwillingsbruder namens Rudi habe) und echten Anfechtungen (z.B. dass Michael wirklich einen identischen Zwillingsbruder namens Rudi hat). Es besteht aber keine Einigkeit unter Erkenntnistheoretikern, dass irgendeiner dieser Vorschläge darin Erfolg hat, tatsächlich die Unterscheidung zwischen echten und irreführenden Anfechtungen zu fassen. 6. Externalismus Teilweise als Antwort auf die Schwierigkeiten der Letztbegründungs- und der Kohärenztheorie, die selbst dann noch bestehen, wenn sie durch die Anfechtungstheorie ergänzt werden, haben die Erkenntnistheoretiker eine Reihe alternativer Darstellungen der Erkenntnissicherung erarbeitet. Diese nannte man ‚externalistisch‘, weil sich ihre Darstellung der Erkenntnissicherung auf Merkmale der Welt konzentriert, die nicht zu den Überzeugungsgründen des Überzeugungsträgers gehören. Zwei wichtige Vertreter hiervon sind die Kausaltheorie und die Verlässlichkeitstheorie. In ihrer jeweils reinsten Form beginnen diese Darstellungen mit der Behauptung, dass Erkenntnis, und folglich auch deren Sicherung, keiner Begründung bedarf. Die Letztbegründungstheoretiker hatten bereits zugestanden, dass es keine Gründe für echte Fundamentalüberzeugungen gibt. Dies scheint ein Problem für die Letztbegründungstheoretiker nur deshalb zu erzeugen, weil angenommen wurde, dass alle Überzeugungen begründet werden müssten und die ‚fundamentalen‘ Überzeugungen damit willkürlich erscheinen. Lässt man aber das Erfordernis fallen, dass alle Überzeugungen begründet sein müssen, um auch gesichert zu sein, dann verschwindet dieses Problem sofort. Zusammengefasst behauptet die Kausaltheorie der Erkenntnissicherung, dass eine Überzeugung ausschließlich dann gesichert ist, wenn der in der Überzeugung repräsentierte Sachverhalt auf geeignete Weise kausal mit der Überzeugung verbunden ist. Beispielsweise könnte ich zu der Überzeugung gelangen, dass der Vogel dort im Baum in einem kausalen Zusammenhang damit steht, dass ich den Vogel dort auch sehe. Manchmal dürften die kausalen Zusammenhänge komplexer sein. Aber diese direkte Art der kausalen Beziehung zwischen Überzeugung und Überzeugungsinhalt soll für unsere Zwecke genügen. 354
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Diese Theorie ist zunächst attraktiv, weil sie der grundlegenden Anforderung zu genügen scheint, dass eine gesicherte Überzeugung nicht-zufällig wahr sein muss, weil der in der Überzeugung repräsentierte Sachverhalt eine Ursache meiner Überzeugung ist. Man sieht jedoch sogleich, dass gleichzeitig sowohl zu schwach, als auch zu streng ist; und es scheint einige tiefe Probleme zu geben, wenn man darauf eine allgemeine Erkenntnissicherung aufbauen will. Sie ist zu schwach, weil sie einige wahre Überzeugungen als erkenntnisgesichert gelten lassen würde, die ganz klar nicht erkannt wurden. Man erinnere sich an den Diebstahlsfall. Meine Überzeugung, dass ich Michael beim Diebstahl des Buches sah, wurde durch Michaels Tathandlung verursacht. Wenn er jedoch einen ihm sehr ähnlichen Zwillingsbruder hat, dann weiß ich nicht mehr, wer das Buch gestohlen hat. Die Theorie ist andererseits zu streng, weil es offenbar viele Überzeugungen gibt, die als Erkenntnis gelten, die aber nicht auf angemessene Weise als kausal auf den von ihnen repräsentierten Sachverhalt bezogen dargestellt werden können. Angenommen ich weiß, das es keinen Elefanten gibt, der kleiner als ein Kätzchen ist: welche kausale Beziehung könnte hier geltend gemacht werden zwischen der Tatsache, dass kein Elefant kleiner als ein Kätzchen ist, und meiner entsprechenden Überzeugung dazu? Weitere mögliche Schwierigkeiten treten bei den Erkenntnissen in Gestalt apriorischer Aussagen (wie z.B. der Aussage ‚2 + 2 = 4‘) und bei den kontrafaktischen Aussagen (‚Wenn es heute regnete, dann hätte ich das Picknick abgesagt‘) auf. Es sieht so aus, also ob es keine Möglichkeit gibt, eine kausale Verbindung zwischen meiner Überzeugung und dem herzustellen, was diese Überzeugung repräsentiert, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie das Wort ‚Ursache‘ üblicherweise verstanden wird (siehe A priori). Nichtsdestotrotz könnte ein Grundsatz der Kausaltheorie dennoch richtig sein: Nicht alle Überzeugungen müssen notwendig auf Gründen beruhen, um dennoch als Erkenntnis zu gelten. Die Verlässlichkeitstheorie der Erkenntnissicherung kann man diesbezüglich als den Nachfolger der Kausaltheorie ansehen. Statt eine geeignete kausale Verbindung zwischen den in der Überzeugung repräsentierten Sachverhalten und der Überzeugung selbst zu fordern, behaupten die typischen Verlässlichkeitstheorien, das eine Überzeugung genau in dem Falle erkenntnisgesichert ist, wenn der Prozess, aus dem die Überzeugung hervorgeht, mit hinreichender Häufigkeit wahre Überzeugungen produziert. Damit erfährt das nicht-zufällige Wesen der wahren Überzeugung eine sehr direkte analytische Beschreibung. Die Überzeugung ist nicht-zufällig wahr, weil der Prozess, der die Überzeugung hervorbringt, hinreichend häufig wahre Überzeugungen produziert. Dieser Standpunkt hat viele Vorteile gegenüber der Kausaltheorie. Meine Überzeugung, dass Elefanten größer als Kätzchen sind, muss nicht durch diesen Sachverhalt selbst verursacht sein. Es ist lediglich erforderlich, dass der Prozess, durch den ich zu dieser Überzeugung gelange, typischerweise (d.h. häufig genug) in wahre Überzeugungen mündet. Auch apriorische und kontrafaktische Aussagen stellen hier kein Problem dar, weil es auch Verlässlichkeitsprozesse geben kann, die solche Überzeugungen produzieren. Und doch gibt es auch mit dieser Auffassung Probleme. Angenommen man fordert, dass der Prozess in 100 Prozent aller Fälle, die darunter fallen, wahre Überzeugungen hervorbringt. Dies ist eine sehr strenge Bedingung, Doch sie ist nicht einmal streng genug! Denn wenn die Überzeugung, dass Michael das Buch gestohlen hat, sich nur ein einziges Mal in der Weltgeschichte ereignet, nämlich das eine Mal, als 355
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ich ihn dabei ertappte, dann produziert der wirkliche Prozess eine 100-prozentig bestätigte, wahre Aussage – aber keine Erkenntnis. Die nahe liegende Reaktion des Verlässlichkeitstheoretikers hierauf ist, nicht nur die wirklichen Anlässe aufzunehmen, durch die die einzelnen Überzeugungen hervorgerufen wurden, sondern auch zu berücksichtigen, ob der Prozesstyp, der diese Überzeugung hervorbrachte, wahre Überzeugungen dieses Typs hinreichend häufig hervorbringen würde. Aber solche Prozesstypen richtig zu beschreiben, hat sich als nicht gerade einfach erwiesen. Ist der Überzeugungstyp einer, an dem Michael beteiligt ist? Oder eineiige Zwillinge? Oder Bibliotheken? Dies scheint zu eng gedacht zu sein. Ist der Prozesstyp vielleicht einer, bei dem zuerst eine Wahrnehmung vorliegt und dann irgendeine Schlussfolgerung? Dies scheint nun wieder zu weit gefasst. Es bleibt eine offene Frage, ob der Verlässlichkeitstheorie eine akzeptable Darstellung der Prozesstypen und der Überzeugungstypen gelingt. Abschließend gibt es hier noch einen weiteren Einwand, den einige Erkenntnistheoretiker gegen die Verlässlichkeitstheorie vorgebracht haben. Dieser wird vielleicht am besten durch den Fall geschildert, den Keith Lehrer in seinem Buch ‚Theory of Knowledge‘ (1990) präsentierte, und den man wie folgt zusammenfassen kann: Ein gewisser Wahrtemp hat in seinen Kopf einen Temperaturmesser und Wärmeüberzeugungsgenerator implantiert bekommen, durch den er innerhalb eines gewissen Temperaturbereichs vollkommen verlässliche Temperaturüberzeugungen hat. Wenn die Luft 23° C misst, ist er davon überzeugt, dass genau 23° C herrschen. Wenn keine 23° C herrschen, hat er auch keine solche Überzeugung. Er hat diese Überzeugungen allerdings, ohne sie (im erkenntnistheoretischen Sinne) zu wissen. Solche Überzeugungen würden alle Erfordernisse erfüllen, die von den Verlässlichkeitstheoretikern aufgestellt werden, aber viele Erkenntnistheoretiker würden dennoch meinen, dass Herr Wahrtemp, obwohl er wahre Temperaturüberzeugungen hat, die auch nicht zufällig wahr sind, weil sein diesbezügliches Implantat sehr verlässlich ist, diese Überzeugungen doch von einem kognitiven Standpunkt aus betrachtet nur zufällig wahr sind, weil er überhaupt keinen Grund für seine Überzeugungen hat. Tatsächlich würden einige sagen, dass das, was Herr Wahrtemp besitzt, eine Fähigkeit ist (nämlich die Mitteilung der Lufttemperatur), und überhaupt kein propositionales Wissen. Hier stoßen wir auf einen fundamentalen Zusammenstoß von Intuitionen. Die Verlässlichkeitstheoretiker würden behaupten, dass Herr Wahrtemp sehr wohl ein Temperaturwissen hat; die traditionellen Normativisten würden behaupten, dass er dies nicht hat. Aber so viel scheint klar zu sein: es gibt einige Situationen, in denen die Schritte des Prozesses, der eine Überzeugung hervorbringt, das Behaupten von Gründen mit einschließen. In Fällen, in denen es keinen automatischen Erzeuger wahrer Überzeugungen wie bei Herrn Wahrtemp gibt, und in denen wir uns folglich auf unseren eigenen Verstand verlassen müssen, um zu einer Überzeugung zu gelangen, sind die Fragen, die uns von den traditionellen Normativisten gestellt werden, entscheidend: Wie muss die Struktur unserer Gründe beschaffen sein, damit eine wahre Überzeugung akzeptabel wird? Gibt es hier letztbegründende Gründe? Können hier sich gegenseitig unterstützende Gründe angeführt werden, die nicht zirkulär sind? (Kann es gar unendlich viele solcher Gründe geben?) Und müssen solche Gründe so beschaffen sein, dass sie nicht durch die Wahrheiten der Art untergraben werden können, wie sie die Anfechtungstheoretiker geltend machen? Zumindest in 356
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einigen Fällen scheinen die normativen Standards zum Erwerb von Überzeugungen gültig zu sein, und deren Erfüllung wird bestimmen, ob eine Überzeugung akzeptiert werden sollte oder nicht. So scheint also eine Auswertung der Bedingungen, unter denen Überzeugungen akzeptiert, abgelehnt oder aufgeschoben werden sollten, unausweichlich zu sein (siehe Begründung, Erkenntnistheoretische; Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie). 7. Erkenntnistheoretische Prinzipien Erkenntnistheoretische Prinzipien beschreiben den normativen erkenntnistheoretischen Status von Aussagen unter veränderlichen Bedingungen. Es ist allgemein anerkannt, dass, wenn eine Person S in ihrer Überzeugung einer Aussage x gerechtfertigt ist, diese Person S zur selben Zeit nicht in der Überzeugung gerechtfertigt ist, dass nicht x. Sowohl die Letztbegründungs-, als auch die Kohärenztheoretiker akzeptieren dieses Prinzip und können dies auch. Andere Prinzipien sind dagegen schon strittiger. Sie sind zwar intuitiv plausibel, scheinen aber auch ein Einfallstor für den Skeptizismus und für einige tiefe, erkenntnistheoretische Rätsel zu gewähren. Es folgen drei der interessantesten Prinzipien: (1) Konjunktionsprinzip (KonP): Wenn S begründet die Überzeugung x und ebenfalls begründet die Überzeugung y hat, dann hat S begründet die Überzeugung, dass (x und y). (2) Schlussprinzip (SchP): Wenn S begründet die Überzeugung x hat, und x impliziert y, dann hat S begründet die Überzeugung y. (3) Evidenzübergangsprinzip (EvÜP): Wenn es irgendeine Evidenz e gibt, die rechtfertigt, dass S die Überzeugung x hat, und x impliziert y, dann rechtfertigt e die Überzeugung y bei S. In jedem dieser Prinzipien und unter geeigneten grammatischen Veränderung könnte ‚begründet‘ bzw. ‚gerechtfertigt‘ durch andere erkenntnistheoretische Ausdrücke wie z.B. ‚vernünftig‘, ‚plausibel‘, evident‘, gewiss‘ etc. ersetzt werden. Ferner ist jedes Prinzip so gestaltet, dass es die Grundlage erfasst, auf der ein positiver normativ-erkenntnistheoretischer Aussagestatus auf anderen Aussagen übertragen werden kann. Als Konsequenz hiervon kann man ‚S’s Überzeugung von x ist begründet‘ nicht so auffassen, dass hieraus ‚S ist begründetermaßen davon überzeugt, dass x‘ folgt. Denn S könnte, weil er nicht die Verbindung zwischen den Aussagen sieht, doch nicht zu der Überzeugung gelangen, dass x. Schließlich muss im Hinblick auf das SchP und das EvÜP, weil durch jede Aussage eine Tautologie impliziert wird, die Implikationsbeziehung auf irgendeine Form von relevanter Folgebeziehung beschränkt werden, und/oder der Aussagenbereich muss auf kontingente Aussagen beschränkt werden (siehe Relevanzlogik und Folgebeziehung). Und noch weitere Beschränkungen sind zweifellos notwendig. Aber diese drei anscheinend so intuitiven Prinzipien wurden in ihrem Kern in Frage gestellt. Es ist wichtig, einige der Beziehungen zwischen diesen Prinzipien zu verstehen. Aus dem SchP folgt nicht das KonP, weil das SchP eine Aussage behandelt, nämlich dass S in seiner Überzeugung gerechtfertigt ist, und keine Mengen von Aussagen. Hinzu kommt, dass das SchP nicht das EvÜP impliziert, weil das SchP nicht fordert, dass es sich dabei um genau dieselbe Evidenz e handelt, die S für x anführt, was für ihn wiederum y rechtfertigt. Daher kann man das SchP akzeptieren, ohne auch nur eines der anderen Prinzipien zu akzeptieren. 357
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8. Die erkenntnistheoretischen Prinzipien und der Skeptizismus Der Skeptizismus, also die Auffassung, dass wir nicht über keine Erkenntnis auf den Gebieten verfügen, die gemeinhin als solche unseres Horizontes betrachtet werden, erscheint in vielen Varianten. Die extremste Form ist der globale Skeptizismus. Er besagt, dass wir über sehr wenig oder über gar kein Wissen verfügen. Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick absurd zu sein. Tatsächlich meinen einige Erkenntnistheoretiker, dass eine jede Theorie, die zum globalen Skeptizismus führt, ipso facto abgelehnt werden sollte (siehe Common-Sense-Philosophie; Skeptizismus). Es gibt jedoch viele Beweise für den globalen Skeptizismus, die schwer zu entkräften sind. Dazu kommt, dass bescheidenere Formen des Skeptizismus über spezielle Gegenstände (z.B. das Fremdgeistige oder die Zukunft) entwickelt wurden. Weil aber die bescheideneren Skeptiker Strategien anwenden, die denen der globalen Skeptiker ähneln, berücksichtige ich hier nur die extremste Form des Skeptizismus, nämlich die globale Variante (siehe Fremdgeistige, das). Wir sahen bereits die Grundlage für einen solchen Beweis des globalen Skeptizismus, der aus den pyrrhonischen Argumenten zusammengesetzt werden kann, nämlich: (1) Alle Erkenntnis erfordert Gründe, die weder willkürlich, noch zirkulär, noch unendlich an der Zahl sind. (2) Die einzigen Strukturen für solche Gründe sind jene, dass diese Gründe weder willkürlich sind (Letztbegründungstheorie), noch zirkulär (Kohärenztheorie), noch unendlich viele an Zahl (Infinitismus). Folglich gibt es kein Wissen. Es gibt mindestens viele mögliche Erwiderungen auf diesen Beweis: (1) letztbegründende, fundamentale Aussagen sind nicht willkürlich; (2) die Kohärenzphilosophie führt nicht notwendig in zirkuläre Beweise; (3) das Erfordernis unendlich vieler Gründe für eine Überzeugung bedeutet nicht, dass eine Überzeugung nicht begründet werden kann; (4) nicht alles Wissen bzw. alle Erkenntnis impliziert, dass es Gründe haben muss. – Alle Erwiderungen, bis auf (3), wurden durch die Erkenntnistheorie systematisch ausgearbeitet. Der Pyrrhonismus stützt sich nicht direkt auf die erkenntnistheoretischen Prinzipien, die im vorangehenden Abschnitt diskutiert wurden. Es gibt aber andere wichtige Formen des Skeptizismus, die dies durchaus tun. Man bedenke einen Beweis, der auf Descartes zurückgeführt werden kann (siehe Descartes, R., § 4): (1) Wenn meine Überzeugung gerechtfertigt ist, dass vor mir ein Tisch steht, dann ist auch meine Überzeugung gerechtfertigt, dass ich mich nicht in einem der skeptischen Szenarien befinde (z.B. in der ‚Welt des bösen Dämons‘), in denen es keinen Tisch gibt, es aber so aussieht, als gäbe es einen. (2) Meine Überzeugung, dass ich mich nicht in einem der skeptischen Szenarien befinde, in denen es keinen Tisch gibt, obwohl es scheint, als gäbe es einen, ist niemals gerechtfertigt. – Folglich ist meine Überzeugung niemals gerechtfertigt, dass ein Tisch vor mir steht. Die erste Prämisse ist ein klarer Fall des SchP. Da der Beweis gültig ist (wenn die Prämissen wahr sind, muss auch die Schlussfolgerung wahr sein), gibt es hierauf nur drei plausible Erwiderungen: (1) das SchP ist falsch; (2) die zweite Prämisse ist
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falsch; (3) der Beweis ist zirkulär. – Die Erwiderungen (1) und (2) sind relativ leicht vorzustellen; bei (3) ist dies nicht so offensichtlich. Der Beweis läuft, zusammengefasst, so: da einer der potenziell verfügbaren Gründe für meine Rechtfertigung der Überzeugung, dass ich mich nicht in einem skeptischen Szenario befinde, jede Aussage ist, aus der folgt, dass ich mich nicht in einem solchen Szenario befinde, müsste jeder gültige Beweis für die zweite Prämisse belegen, dass meine Überzeugung, derzufolge ein Tisch vor mir steht, unbegründet ist. Das ist allerdings bereits die Schlussfolgerung. Es ist wichtig festzustellen, dass es einen offenkundig ähnlichen Beweis des Skeptizismus gibt, wenn man das strengere erkenntnistheoretische EvÜP anwendet. (1) Wenn die Evidenz e, die ich für die Überzeugung, dass ein Tisch vor mir steht, als Begründung dieser Überzeugung genügt, dann genügt dies als Begründung für die Überzeugung, dass ich mich nicht in einem der skeptischen Szenarien befinde. (2) Die Evidenz e genügt nicht zur Rechtfertigung, dass ich mich nicht in einem der skeptischen Szenarien befinde. Natürlich steht es den Erkenntnistheoretikern offen, das EvÜP zu bestreiten. Man kann das EvÜP bestreiten, ohne das SchP aufzugeben (weil aus dem SchP nicht das EvÜP folgt). Dies ist sicherlich eine bedenkenswerte Strategie. Die Diskussion im Text des folgenden Abschnitts liefert ergänzende Gründe zur Berücksichtigung dieser Strategie. 9. Die erkenntnistheoretischen Prinzipien und einige Paradoxa Es gibt viele erkenntnistheoretische Paradoxa (siehe Paradoxa, erkenntnistheoretische). Ich berücksichtige hier zwei davon, um zu zeigen, wie sie von einigen der zuvor betrachteten erkenntnistheoretischen Prinzipien abhängen. Das Lotterie-Paradox: Angenommen es wurden ausreichend viele Wettscheine (also n Wettscheine) in einer ehrlichen Lotterie verkauft, so dass meine Überzeugung begründet ist, dass der eine Wettschein, den ich gekauft habe, nicht gewinnen wird. Tatsächlich ist eine solche Überzeugung hinsichtlich eines jeden Wettscheins begründet, nämlich dass er nicht gewinnen wird. Folglich ist meine Überzeugung hinsichtlich der folgenden, einzelnen Aussagen begründet: ‚W1 wird nicht gewinnen.‘ ‚W2 wird nicht gewinnen.‘ ‚W3 wird nicht gewinnen.‘ … ‚Wn wird nicht gewinnen.‘ Wenn allerdings das Konjunktionsprinzip richtig ist, so kann man alle diese Aussagen zusammenfassen, was zu der offensichtlich falschen, aber dennoch begründeten Aussagte führt, dass überhaupt kein Wettschein gewinnen wird. Ich scheine also in der misslichen Position zu sein, dass es begründet ist, von jeder einzelnen einer Reihe von Aussagen überzeugt zu sein, nicht jedoch von allen diesen Aussagen. Einige Philosophen sind der Meinung, dass diese offenbar missliche Situation am Ende nicht so schlimm ist, denn es besteht kein unmittelbarer Widerspruch zwischen irgendeiner unserer Überzeugungen, so lange das Konjunktionsprinzip abgelehnt wird. Wiederum andere meinten, dass der Preis für das Vernünftighalten einer Reihe inkonsistenter Überzeugungen zu hoch ist. Wieder andere schlugen vor, dass wir über keine gültige Begründung für die Überzeugung verfügen, dass jeder Wettschein verlieren wird. Begründet sei vielmehr nur die Überzeugung, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass der Schein nicht 359
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gewinnen wird. Die Lotterie kann aber so klein oder groß aufgezogen werden, wie man will, so dass jeder Wahrscheinlichkeitswert (unter 1) denkbar ist. Dieser Vorschlag scheint die Begründetheit unserer ursprünglichen Überzeugung hinsichtlich jeder Aussage zu widerlegen, deren Wahrscheinlichkeit < 1 beträgt. Dies ist jedoch ebenfalls ein hoher Preis für die Wahrheit! Es gibt keine allgemein anerkannte Lösung für den Umgang mit dem Lotterie-Paradox (siehe Bestätigungstheorie). Das ‚Blün‘-Paradox: Das so genannte ‚Blün-Paradox‘ wurde von Nelson Goodman entwickelt und seitdem in zahlreichen Formen vorgelegt. Hier ist eine Fassung, die das EvÜP betont: Alle Exemplare der sehr vielen Smaragde, die bis zum gegenwärtigen Moment tjetzt geprüft wurden, waren grün. Tatsächlich sind wir berechtigt, von der Aussage (G) überzeugt zu sein: ‚Alle Smaragde sind grün‘, weil wir schon so viele von ihnen untersucht haben. Man bedenke aber jetzt den Sachverhalt, dass zwar alle Smaragde, die bis tjetzt geprüft wurden, grün sind, alle Übrigen aber blau. Wir nennen die Eigenschaft eines Smaragds, bis tjetzt geprüft worden und für grün befunden zu sein, ‚blün‘, und alle Übrigen dieser Fälle ‚blau‘. Daraus folgt, dass die Evidenz, aus der wir die Begründung für die Überzeugung ableiten, dass alle Smaragde grün sind, uns nicht zu der Überzeugung (N) berechtigt: ‚Kein Smaragd ist blün‘. Wie werden wir mit dieser Fassung des Paradoxes fertig? Man beachte zunächst, dass es vom EvÜP abhängt. Obwohl (1) unsere induktive Evidenz (nämlich die vielen geprüften grünen Smaragde) die Überzeugung (G) rechtfertigen, und obwohl (2) die Überzeugung (G) die Überzeugung (N) zur Folge hat, rechtfertigt die induktive Evidenz doch nicht die Überzeugung (N). Anders gesagt, diese Fassung des Paradoxes taucht auf, weil die Evidenz hier nicht so übertragen wird, wie das Prinzip dies erfordert. Zweitens beachte man, dass das SchP durch dieses Paradox nicht bedroht wird, weil es die Evidenz von (G) ist, die für (N) unangemessen ist. (Die Frage ist nicht, ob unsere Überzeugung (N) begründet ist, wann immer unsere Überzeugung (G) begründet ist.) Wenn aber das EvÜP nicht gültig ist, dann kann dieser Fassung des Paradoxes der Stachel gezogen werden. Erinnern wir uns an den vorangehenden Diebstahlsfall. In diesem Falle besaß ich die angemessene Evidenz zur Begründung der Überzeugung, dass Michael das Buch gestohlen hatte, d.h. die Person, die das Buch stahl, sah wie Michael aus. Es ist klar, dass diese Evidenz nicht zur Begründung der Aussage ausreicht, dass es nicht Michaels eineiiger Zwillingsbruder gewesen sei, der das Buch stahl. Wenn es nämlich der Zwilling gewesen wäre, so wären mir die Dinge nämlich genauso erschienen. Dies läuft jedoch darauf hinaus, dass wir das EvÜP unserer Evidenz normalerweise nicht auferlegen. Es gibt weitere Fassungen des ‚Blün-Paradox‘, die keinen expliziten Gebrauch des EvÜP machen. Da ‚Alle Smaragde sind grün‘ und ‚Alle Smaragde sind blün‘ alternative Hypothesen sind, scheint es beispielsweise paradox zu sein, dass genau dieselbe Evidenz, die die erste Alternative rechtfertigt, auch die zweite unterstützt. Vielleicht beruht aber dieses Paradox, wie schon die oben besprochene Fassung, auf einer irrigen Intuition. Wir überdenken nochmals den Diebstahlsfall. Hier würde die Evidenz, derzufolge die Überzeugung gerechtfertigt ist, das Michael der Dieb ist, auch die Behauptung stützen, dass Michaels eineiiger Zwillingsbruder das Buch stahl. Um dies weiter zu verallgemeinern bedenke man irgendeine Hypothese, nennen wir sie h, die infolge irgendeiner Evidenz gerechtfertigt ist, aus der nicht h folgt. 360
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Es ist immer möglich, eine Alternativhypothese zu formulieren, die genau mit einer solchen Evidenz begründet wird, dass nämlich (nicht-h, es sieht aber so aus, als ob h, weil…). Daher kann ein intuitiv plausibles erkenntnistheoretisches Prinzip, ähnlich dem EvÜP, ungültig sein. Dieses Prinzip lautet: wenn eine Evidenz e vorliegt, die S mit der Überzeugung rechtfertigt, dass x, und x ist eine Alternativhypothese zu y, dann stützt e nicht y. Wir fassen zusammen. Wenn das EvÜP und ähnliche erkenntnistheoretische Prinzipien nicht präzise unsere normative erkenntnistheoretische Praxis abdecken, und wenn der Beweis für den Skeptizismus, der vom SchP abhängt, zirkulär ist, dann ist der Stachel des kartesischen Skeptizismus (den wir im vorangehenden Abschnitt behandelten) stumpf, und das ‚Blün‘-Paradox kann entkräftet werden. Dies gilt aber nur unter sehr speziellen Bedingungen, und die Frage ist für die übrigen Fälle offen (siehe Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der). 10. Einige Herausforderungen der traditionellen Erkenntnislehre Eine althergebrachte Frage der Erkenntnistheoretiker lautet: ‚Was sollen wir glauben?‘ Typischerweise wird hierauf geantwortet, (1) indem man die Typen von Begründungen beschreibt, die zur Sicherung einer Erkenntnis beitragen, und (2) indem man eine Reihe notwendiger und hinreichender Erkenntnisbedingungen formuliert, in denen die in (1) dargestellten Begründungstypen eine herausragende Rolle spielen. Diese Antworten werden jedoch in vieler Hinsicht herausgefordert. Wir sahen bereits die Herausforderungen, die von den Kausaltheoretikern und den Verlässlichkeitstheoretikern entwickelt wurden. Kurz gesagt meinen sie, dass unsere Überzeugungen nicht das Ergebnis unseres eigenen Nachdenkens sein müssen, um dennoch als Erkenntnis gelten zu können. Hinreichend verlässliche Methoden zum Erwerb von Überzeugungen sind alles, was benötigt wird. Tatsächlich meinten einige sogar, dass die Erkenntnistheorie, wenn sie korrekt betrieben wird, ein Zweig der Psychologie sei, weil ihr vorrangiger Gegenstand das Studium verlässlicher Methoden des Erkenntniserwerbs sei. Dieses Programm wird oft als ‚naturalisierte Erkenntnistheorie‘ bezeichnet, und seine Grundüberzeugung lautet in einem Falle, dass es gar keine a priori erkennbaren Erkenntnisprinzipien gibt (siehe Naturalisierte Erkenntnistheorie; Quine, W.V.). Eine weitere Herausforderung der traditionellen Erkenntnislehre stammt von der ‚Tugenderkenntnislehre’, die zum Hauptgegenstand der erkenntnistheoretischen Bewertung Merkmale von Personen statt Eigenschaften von Überzeugungen oder überzeugungsproduzierenden Prozessen macht. Dieser auf die Tugend abstellende Ansatz wurde am weitesten von Linda Zagzebski getrieben, die ein erkenntnistheoretisches Modell vertritt, das auf der Tugendethik aufbaut. Sie argumentiert, dass eine solche Theorie die Wiederherstellung solcher vernachlässigter erkenntnistheoretischer Werte wie das Verstehen und die Weisheit wieder herstelle (siehe Tugend erkenntnislehre). Eine weitere Art von Herausforderung ist die von Edward Craig. Während er es akzeptiert, dass die Debatte vor allem durch die wirklichen Merkmale und den Begriff der Erkenntnis bestimmt wird, lehnt er das Projekt ihrer Einteilung in notwendige und hinreichende Erkenntnisbedingungen ab. Stattdessen versucht er das Konzept durch Ableitung dieser Merkmale aus pragmatischen Hypothesen über ih-
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ren Zweck zu ‚synthetisieren‘, womit er die Debatte eher erklärt, als sich ihr anzuschließen. Noch fundamentalere Herausforderungen wurden ebenfalls entwickelt. Erstens wurden von einigen Seiten vorgebracht, dass es keine einzigartige Methode des Erwerbs und der Überprüfung von Überzeugungen gäbe, die durch alle Menschen angewandt werden sollte. Zweitens wurde eingewandt, dass die vorgeschlagenen Bedingungen eines gültigen Schlussfolgerns (beispielsweise Objektivität und Neutralität) stillschweigend auf etwas anderes abzielen als auf die Wahrheit. Sie würden vielmehr entwickelt, um eingefleischte Macht zu verlängern (siehe Feministische Erkenntnistheorie). Schließlich wurde eingewandt, dass der erfolgreiche Erwerb von Überzeugung dann auftritt, wenn die Zukunft dadurch angemessen antizipiert und kontrolliert werden kann (siehe Pragmatismus). Die Verteidiger der traditionellen Erkenntnistheorie antworten hierauf auf zwei grundsätzliche Arten. Erstens können sie die einzelnen, von den Kritikern vorgelegten Anwürfe prüfen, um zu bestimmen, welche davon stimmig sind. Zweitens können sie darauf hinweisen, dass die Kritiker die Vernünftigkeit ihrer eigenen Standpunkte zumindest stillschweigend durch die Anwendung genau der Prinzipien des gültigen Schlussfolgerns verteidigen müssen, die durch die traditionelle Erkenntnistheorie erforscht und von den Kritikern jetzt in Frage gestellt wurden (performativer Selbstwiderspruch). Dies würde natürlich nicht beweisen, dass die Position der Kritiker falsch ist, aber es würde doch zumindest die Allgemeinheit der Frage ‚Was sollen wir glauben?‘ illustrieren. Siehe auch: Begründung, Erkenntnistheoretische; Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der; Kūkai; Taoistische Philosophie; Wang Yangming Anmerkungen und weitere Lektüre: BonJour, L. (1985): ‚The Structure of Empirical Knowledge‘. Cambridge, MA: Harvard University Press. (Hier wird eine kohärenztheoretische Darstellung der Erkenntnis und ihrer Begründung entwickelt und verteidigt.) Chisholm, R. (1966/1977/1989): ‚Theory of Knowledge‘. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1.–3. Aufl. (Die aufeinander folgenden Auflagen enthalten eine allgemeine Einführung in viele Fragen der Erkenntnistheorie und der immer komplexeren Letztbegründungstheorien der Erkenntnis.) Luper, S. (Hrg.) (2004): ‚Essential Knowledge‘. New York: Pearson Longman. (Enthält historische und zeitgenössische Aufsätze und Buchexzerpte mit hilfreichen Einführungen der verschiedenen Themen.) PETER D. KLEIN
Erkenntnis, Begründung / Rechtfertigung der Siehe: Begründung, Erkenntnistheoretische
Erkenntnis, Moralische Siehe: Moralisches Wissen
Erkenntnis, Soziologie der Siehe: Wissenssoziologie
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Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der
Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der Einführung Kohärenztheorien der Begründung von Erkenntnis stellen eine der Hauptalternativen zu den sog. Letztbegründungstheorien dar. Wenn, wie dies häufig vertreten wird, der Aufweis einer erkenntnistheoretischen Begründung eine notwendige Bedingung ist (zusammen mit der Wahrheit und vielleicht noch weiteren Bedingungen) für die Überzeugung zur Begründung von Wissen bzw. Erkenntnis ist, dann liefert eine Kohärenztheorie der Begründung die Grundlage für eine Kohärenztheorie der Erkenntnis. Während einige Verfechter der Kohärenztheorien den Geltungsbereich der Theorie auf die empirische Begründung beschränkt haben, wandten andere sie auf alle Varianten der erkenntnistheoretischen Begründung aus. (Es gibt auch Kohärenztheorien der Bedeutung und der Wahrheit, sowie Kohärenztheorien der ethischen oder moralischen Rechtfertigung.) Der anfängliche Gegensatz zwischen den Kohärenztheorien und den Letztbegründungstheorien entstand vor dem Hintergrund des erkenntnistheoretischen Regressproblems. Es ist offensichtlich, dass die Begründung von Überzeugungen aus ihren Schlussbeziehungen zu anderen, vermeintlich begründeter Überzeugungen abgeleitet wird, und dass die Begründung von diesen anderen Überzeugungen, sowie womöglich von Schlussbeziehungen zu noch weiteren Überzeugungen abhängt etc., so dass ein potenzieller Regress der erkenntnistheoretischen Begründung lauert, dessen bedrohliches Ergebnis der Skeptizismus ist. Die Letztbegründungslösung dieses Problems ist jene, bei der man früher oder später auf dem Grunde der ersten Überzeugungen anlangt, nämlich Überzeugungen, die erkenntnistheoretisch begründet sind, aber deren Begründung sich nicht mehr aus Schlussbeziehungen zu irgendeiner weiteren Überzeugung ableiten lässt und damit den Regress beendet. Der entscheidende Grundsatz einer Kohärenztheorie der Begründung ist die Ablehnung dieser Letztbegründungslösung, d.h. dem kohärentistischen Beharren darauf, dass jede Überzeugung (der Art, auf die die Theorie anwendbar ist) zu ihrer Begründung von Schlussbeziehungen zu anderen Überzeugungen und schließlich von dem Gesamtsystem aller Überzeugungen abhängt, die der jeweilige Sprecher vertritt. Nach den Kohärenztheoretikern geht die Begründung dieses Systems logisch den Überzeugungen seiner Überzeugungsbestandteile voraus und leitet sich letztlich aus der Kohärenz dieses Systems ab, wobei der Grad der Kohärenz sich danach richtet, wie dicht oder fest zur Einheit verbunden das System kraft der Schlussbeziehungen (einschließlich erklärender Beziehungen) zwischen seinen Überzeugungselementen ist. Entgegen dem, was man hiernach vermuten könnte, bestreiten Kohärenztheorien nicht, dass die Sinnesbeobachtung oder Wahrnehmung eine wichtige Rolle bei der Begründung spielt. Sie bestreiten allerdings, dass diese Rolle als letztbegründende konstruiert werden kann und beharren darauf, dass die Begründung von Beobachtungsüberzeugungen letztlich von Kohärenzüberlegungen geleitet ist. Bestimmte Kohärenztheorien können auch weitere Begründungsvoraussetzungen hinzufügen, wodurch sie sich vom reinen Kohärentismus entfernen und gleichwohl immer noch die Letztbegründung vermeiden. Während die Idee einer Kohärenztheorie die Rolle eines dialektischen Hintergrundes spielte, sind entwickelte Theorien dieser Art relativ selten und stehen häufig in ernstem Streit miteinander. So gesehen ist der Kohärentismus eine weniger ver363
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einheitlichte Sichtweise mit standardisierten, allgemein akzeptierten Merkmalen als der Letztbegründungsansatz. 1. Geschichte 2. Das Regressproblem und die nichtlineare Begründung 3. Der Begriff der Kohärenz 4. Kohärenz und Beobachtung 5. Die Standardeinwände 6. Das Zugangsproblem 1. Geschichte Im Gegensatz zum Letztbegründungsansatz ist die Kohärenztheorie der Begründung eine relativ junge Neuerung in der Geschichte der Philosophie. Obwohl es möglich ist, wenn auch nur mit Mühe, Spinoza und Kant als Befürworter von Fassungen des Kohärentismus zu sehen, sind doch die ersten relativ klar formulierten kohärentistischen Positionen jene der absoluten Idealisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere F.H. Bradley und Bernard Bosanquet. Unglücklicherweise sind die Auffassungen dieser Philosophen jedoch von dem durchgehenden Fehler gezeichnet, nicht die erkenntnistheoretischen von den metaphysischen Behauptungen zu trennen, so dass es schwer ist, ihre Kohärenztheorien der Begründung von ihrem besonderen, wenn auch damit zusammenhängenden Eintreten für die Kohärenztheorien des Wesens der Wahrheit zu trennen. (Eine etwas jüngere Fassung der im Wesentlichen selben Position, in der diese Unterscheidung klar gezogen wird ist die Arbeit von Brand Blanshard.) Der Kohärentismus wurde in den 1930er Jahren auch von den logischen Positivisten, vor allem von Otto Neurath und Carl Hempel, als Antwort auf die Letztbegründungsphilosophie von Moritz Schlick vertreten. Neurath identifiziert die Kohärenz mit der reinen logischen Konsistenz; er identifiziert darüber hinaus, obwohl er sich noch so etwas wie eine rechtfertigende Berufung auf die Beobachtung vorbehält, im Endeffekt Beobachtungsüberzeugungen allein durch Bezugnahme auf ihren Inhalt. Dadurch hat er keine einsichtige Antwort auf den vielleicht zentralsten und augenfälligsten Einwand gegen die Kohärenztheorien, dass es nämlich immer unendlich viele und unterschiedliche Kohärenzsysteme geben wird, zwischen denen eine Kohärenztheorie keine Grundlage für eine vernünftige Wahlentscheidung liefert (siehe unten). Hempel vermeidet dieses Problem in gewissem Umfange, indem er die Beobachtungsüberzeugungen schlicht als solche mit der ‚richtigen‘ Inhaltsart identifiziert, d.h. als solche, die von ‚den Wissenschaftlern unseres Kulturkreises‘ akzeptiert werden, kann aber keine wirklichen Vernunftgründe für eine solche Identifikation anbieten. Er versäumt es ferner, wie schon zuvor die Idealisten, auf irgendeine nachvollziehbare Weise zwischen einer Kohärenztheorie der Begründung und einer kohärentistischen Darstellung des Wesens der Wahrheit zu unterscheiden. Jüngere kohärentistische Positionen verwerfen dagegen im Allgemeinen die Kohärenztheorie der Wahrheit zur Gänze und sind stärker und im engeren Sinne in ihrer Typik und Motivation erkenntnistheoretisch ausgerichtet. Die im Zuge dessen zu ihren Gunsten angebotenen Hauptargumente leiten sich fast immer von den aufgegriffenen Einwänden gegen die Letztbegründungsphilosophie ab, wobei vielleicht das wichtigste dieser Argumente in dem Vorwurf besteht, dass der Letztbegrün-
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dungstheoretiker den Status seiner vermeintlichen Grundlage oder seiner letztbegründenden Überzeugungen als wirklich gerechtfertigt (im dem Sinne, dass es einen Grund oder eine Grundlage dafür gibt, sie für wahr zu halten) nur durch Berufung auf Begründungsvoraussetzungen einer bestimmten Art ansieht, und damit den Status solcher Überzeugungen als letztbegründend selbst zerstört (siehe Letztbegründungsphilosophie). Daher bestehen die Kohärenztheoretiker darauf, dass es keine Möglichkeit einer Berufung zwecks Begründung auf irgendetwas außerhalb des eigenen Überzeugungssystems gibt, weil eine jede solche Quelle der Begründung durch die betreffende Person wiederum als Überzeugung oder in einem überzeugungsartigen Zustand aufgefasst werden müsste, um eine begründende Rolle spielen zu können. Dann aber ist es wieder die Überzeugung und nicht der externe Bezugsgegenstand, der die unmittelbare Quelle der Begründung abgibt. Wie dies zeigt, sind kohärentistische Positionen praktisch immer internalistisch, und nicht externalistisch, insofern sie darauf beharren, dass die Grundlage der erkenntnistheoretischen Begründung einer Überzeugung kognitiv zugänglich sein muss; eine externalistische Fassung des Kohärentismus ist dagegen theoretisch möglich, hat aber wenig philosophischen Reiz, weil ein Letztbegründungsstandpunkt dann wesentlich direkter wäre, wenn der Externalismus tatsächlich akzeptabel ist (siehe Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie). Diese jüngeren kohärentistischen Standpunkte unterscheiden sich jeweils in vieler Hinsicht, und oft scheinen sie über ihre Ablehnung der Letztbegründungsphilosophie und ihrer Berufung auf irgendeine Idee der Kohärenz wenig gemeinsam zu haben (und tatsächlich ist öfters Zweifel insbesondere darüber angebracht, wie gründlich der erste dieser beiden Aspekte wirklich durchgeführt wird). Der Kohärentismus ist ein Bestandteil, auch wenn er niemals vollständig systematisch entwickelt wurde, in dem umfassenden und schwierigen philosophischen System von Wilfrid Sellars. Die erkenntnistheoretische Haltung von W.V. Quine wird ebenfalls häufig als eine kohärentistische beschrieben, obwohl andere Merkmale von Quines Position, insbesondere seine Behauptung, dass die Erkenntnistheorie ‚naturalisiert‘ (d.h. auf die Psychologie reduziert) werden sollte, die Entscheidung schwierig machen, ob sein Standpunkt wirklich eine Art von Kohärentismus ist, im Gegensatz z.B. zu einer qualifizierten Form von Letztbegründungstheorie (siehe Naturalisierte Erkenntnislehre). Offene kohärentistische Positionen wurden von Gilbert Harman (der speziell von Quine beeinflusst war), Nicholas Rescher, Keith Lehrer und Laurence BonJour (der besonders von Sellars beeinflusst war) vertreten. Wie sich hieraus ergibt, erscheinen kohärentistische Theorien zunächst als dialektische Alternativen zur Letztbegründungsphilosophie, und weniger als Sichtweisen, die von vornherein beanspruchen, aus sich heraus plausibel zu sein. Ihre Verteidigung und Ausarbeitung muss sich einer Reihe üblicher Probleme und Einwände stellen, denen sich jede solche Auffassung auf die eine oder andere Weise ausgesetzt sieht, und genau diese sind auch Gegenstand des vorliegenden Beitrages. 2. Das Regressproblem und die nichtlineare Begründung Die erste Standardfrage ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Regressproblem. Wenn man die Letztbegründungsphilosophie ablehnt (und wenn ein echt unendlicher Begründungsregress ebenfalls als psychologisch unmöglich abgelehnt wird und in jedem Falle auf eine skeptizistische Einstellung hinausläuft), dann ist das einzige 365
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verbleibende Risiko eines ursprünglichen Begründungsregresses ein Zirkel, in dem die Begründungsketten schließlich auf sich selbst zurückgehen. Unvorsichtige Befürworter des Kohärentismus scheinen manchmal die Idee zu unterstützen, dass ein solches Ergebnis annehmbar wäre, wenn nur der Zirkel ‚groß genug‘ ist. Doch der offenkundige Einwand gegen die zirkulären Begründungsketten lautet schlicht, dass sie unabhängig von der Größe des Zirkels eben zirkulär argumentieren und deshalb keine echte Begründungskraft haben. Dies ist im Kern der Grund, den die Letztbegründungstheoretiker für die Ablehnung der kohärentistischen Alternativen nennen, und warum sie das Regressproblem aufgreifen, um daraus ein entscheidendes Argument zugunsten der Letztbegründungsphilosophie zu konstruieren. Die vielleicht üblichste kohärentistische Antwort auf die Frage stammt ursprünglich von Bosanquet. Sie verwirft die Idee, die den meisten Darstellungen des Regressproblems innewohnt, dass nämlich Begründungsbeziehungen eine lineare, asymmetrische Abhängigkeitsfolge zwischen den fraglichen Überzeugungen mit sich bringen. Sie bestehen stattdessen darauf, dass die Begründung, richtig verstanden, letztlich holistischer und nichtlinearer Art sei, und dass sie dies mit allen anderen Überzeugungen des Systems teile, die in gegenseitigen Unterstützungsbeziehungen stehen, von denen aber keines erkenntnistheoretisch vorrangig von anderen sei. Auf diese Weise, so wird vermutet, vermeidet man jede wirkliche Zirkularität. Eine solche Auffassung läuft darauf hinaus, dass das System selbst die oberste Begründungseinheit ist, wobei die Überzeugungen, die seine Bestandteile sind, nur abgeleitet begründet sind, und zwar kraft ihrer Mitgliedschaft in einer geeigneten Systemform. Und die Eigenschaft des Systems, kraft dessen sie gerechtfertigt sind, ist natürlich als kohärent bestimmt. 3. Der Begriff der Kohärenz Was aber ist Kohärenz genau? Ein zweites offensichtliches Problem von Kohärenztheorien ist es, ihre zentralen Begriffe zu erklären bzw. aufzuklären. Intuitiv ist Kohärenz eine Frage dessen, wie die Überzeugungen eines Überzeugungssystems zueinander passen oder sich aneinander reihen, so dass sie ein einheitliches, organisiertes und fest strukturiertes Ganzes bilden. Dabei ist klar, dass dieses Zusammenpassen von einer Vielzahl logischer, schlusslogischer und explanatorischer Beziehungen zwischen den Komponenten des Systems abhängt. Es erweist sich aber als extrem schwierig, die Einzelheiten dieser Idee zu verdeutlichen, insbesondere wenn man dies so tun will, dass eine unproblematische Bewertung vergleichender Kohärenz möglich ist. Dies ist zumindest teilweise deshalb so, weil diese Einzelheiten von bestimmten und noch ungeklärten Fragen abhängen, wie z.B. der Induktion, der Bestätigung, der Wahrscheinlichkeit und der Erklärung selbst. Die stärkste und anspruchsvollste Konzeption der Kohärenz, die von den Idealisten vertreten wird, bestimmt ein kohärentes Überzeugungssystem als eines, in dem jedes Systemelement jedes übrige impliziert und von allen anderen impliziert wird. Es scheint jedoch klar zu sein, dass diese strenge Konzeption in Anbetracht aller bestehenden Überzeugungssysteme sowohl unrealisierbar, als auch von zweifelhaftem Erkenntniswert ist, denn daraus würde die Redundanz aller Überzeugungen folgen, womit sie überflüssig wären. (Diese Probleme können vielleicht gemildert werden, sicherlich aber nicht ganz beseitigt, indem man sich daran erinnert, dass die Idealisten eine ziemlich weite Konzeption der semantischen Folgebeziehung bzw. 366
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Implikation haben, in der z.B. Beziehungen nomologischer Notwendigkeit auch als eine Art von Folgebeziehung verstanden werden.) Am anderen Ende der Skala scheint es ebenso falsch zu sein, Schlick und anderen zu folgen, die die Kohärenz einfach mit logischer Konsistenz identifizieren, weil die Überzeugungen eines logisch konsistenten Systems vollkommen beziehungslos nebeneinander stehen können, so dass sie nichts für eine gegenseitige Unterstützung hergeben und folglich kein angebbarer Grund zu der Annahme besteht, dass einige von ihnen wahr seien. Noch überraschender ist allerdings, dass es auch ein Irrtum zu sein scheint, die durchgängige logische Konsistenz überhaupt zu einer absoluten notwendigen Bedingung für jegliche Form von Kohärenz zu machen, wie dies von vielen Kohärenztheoretikern getan wurde. Im Lichte solcher Dinge wie dem sog. ‚Vorwort-Paradox‘ und der menschlichen Fehlbarkeit würde dies wahrscheinlich heißen, dass nur wenige, wenn überhaupt irgendein System von Überzeugungen in einem solchen Maße kohärent ist, und dies scheint selbst wiederum unannehmbar bzw. paradox zu sein (siehe Paradoxa, erkenntnistheoretische). Wenn es in Anbetracht dieser sehr allgemeinen Überlegungen eine haltbare Konzeption der Kohärenz gibt, dann muss sie offenbar irgendwo zwischen die beiden gerade aufgezeigten Extreme fallen. Die Kohärenz wird also eine graduelle Angelegenheit sein, wobei die logische Konsistenz zwar sehr relevant, aber kein absolutes Kriterium ist. Die Kohärenz wird ferner ein hohes Maß an schlusslogischer Verknüpfung zwischen den Elementen des Systems erfordern, was wiederum Notwendigkeitsbeziehungen mit sich bringt, und zwar sowohl im strikt logischen, als auch im sonstigen Sinne, und neben probabilistischen Verbindungen unterschiedlicher Arten. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, was man die ‚probabilistische Konsistenz‘ nennen könnte, d.h. die Abwesenheit von Beziehungen zwischen Überzeugungen in dem System, kraft derer einige von ihnen im Vergleich zu anderen höchst unwahrscheinlich sind. Ein weiteres, wichtiges Merkmal der Kohärenz, das in jüngeren Diskussionen sehr herausgehoben wird, ist die Gegebenheit explanatorischer Beziehungen zwischen den Systemkomponenten, wodurch sich der Umfang verringert, in dem die Überzeugungen des Systems unerklärte Anomalien darstellen. (Wenn der ‚Schluss auf die beste Erklärung‘ als eine Schlussart akzeptiert wird, dann kann man solche explanatorischen Beziehungen als eine Art von Schlussbeziehung betrachten, siehe Schluss auf die beste Erklärung.) Tatsächlich gehen manchen Positionen wie die von Harman oder vielleicht auch die von Sellars so weit, dass sie die Kohärenz praktisch mit der Gegebenheit solcher explanatorischer Beziehungen identifizieren. Das Vorstehende ist eine näherungsweise Darstellung der historischen Standardkonzeption der Kohärenz. Während einige Verfechter des Kohärentismus im Kern diese Konzeption anwandten, haben andere im Endeffekt spezifischere Konzeptionen der Kohärenz vorgelegt, und zwar solche, deren Verbindung zum historischen Konzept oft nur noch dünn ist. Insbesondere beruft sich beispielsweise Rescher für bestimmte Zwecke sowohl auf die Standardkonzeption der Kohärenz, und auf ein ziemlich andersartiges Konzept, das die Bildung von Untermengen maximaler Konsistenz ursprünglich miteinander widerstreitender ‚Daten‘ oder ‚Wahrheitskandidaten‘ impliziert, und wählt dann unter diesen Untermengen aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die sich alle nicht auf die Standardkohärenz berufen. Und Lehrer (1974, 1990) hat zwei leicht unterschiedliche Fassungen einer allgemeinen Sichtweise vorgetragen, die die Kohärenz in Bezug auf den Wahrscheinlichkeitsbe367
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griff des Vortragenden selbst bzw. auf eine relative Wahrscheinlichkeit der Wahrheit definieren. Demnach wäre eine Überzeugung, damit sie in kohärenter Beziehung zu dem Überzeugungssystem einer Person steht, grob gesagt so beschaffen, dass sie als wahrscheinlicher oder vernünftiger gelten kann als jeder relevante Mitbewerber. Die genaue Natur der Kohärenz bleibt ein weitgehend ungelöstes Problem. Es ist allerdings wichtig zu sehen, dass die Schwierigkeiten auf diesem Gebiet nichts für ein entscheidendes Argument gegen die Kohärenztheorien an sich und zugunsten der letztbegründungstheoretischen Rivalen hergeben. Der Grund hierfür ist, dass der Begriff der Kohärenz, oder etwas Ähnliches, was in der Lage sein könnte, im Wesentlichen dieselbe Rolle zu spielen, auch ein unverzichtbarer Bestandteil in praktisch allen Letztbegründungstheorien ist: die Kohärenz muss offenbar behauptet werden, um die Beziehungen zwischen den grundlegenden oder ersten Überzeugungen und anderen, nicht-grundlegenden oder ‚superstrukturellen‘ Überzeugungen darstellen zu können, kraft derer die Letzteren im Verhältnis zu den Ersteren gerechtfertigt werden. Aus diesem Grund sollte man die angemessene Darstellung der Kohärenz nicht als etwas Ausschließliches ansehen, und nicht einmal als etwas, dass vor allem in den Verantwortungsbereich der Kohärenztheoretiker fällt. Dies gilt trotz der zentralen Rolle, die dieser Begriff in ihrer Position spielt. 4. Kohärenz und Beobachtung Wie bereits oben erwähnt, haben, wenn überhaupt, nur ganz wenige Kohärenztheoretiker die wohl offensichtliche Tatsache bestreiten wollen, dass die sinnliche Beobachtung oder Wahrnehmung eine entscheidende Rolle bei der Begründung ihrer Überzeugungen spielt (auch wenn sie dies nicht immer ganz ausdrücklich zugegeben haben). Es obliegt somit einer Kohärenztheorie die Erklärung, wie solche Beobachtungen auf eine nicht letztbegründende Weise konstruiert werden können. Die zentrale Idee ist hier, dass eine Überzeugung, die von den Sinnen hervorgebracht wird und nicht logisch geschlossen wird, immer noch zu ihrer Begründung von der Kohärenz im Verhältnis zu dem Hintergrundsystem an Überzeugungen abhängen kann. Entscheidend ist hier, dass die fragliche Begründung immer noch auf irgendeine Weise von der Tatsache abhängt, dass die Überzeugung das Ergebnis von Wahrnehmung ist, denn die Begründung, die nur von der Kohärenz des propositionalen Inhalts der Überzeugung mit dem übrigen kognitiven System abhängt, würde den Beobachtungsstatus der Überzeugung hinfällig werden lassen. Eine Möglichkeit zur Entwicklung dieser Idee ist es, sich auf den Umstand zu konzentrieren, dass Beobachtungs- oder Wahrnehmungsüberzeugungen kognitiv spontan entstehen; sie ‚überkommen‘ den Beobachter auf eine unwillentliche, zwingende und nicht schlusslogische Art und Weise, sind also nicht das Produkt irgendeiner Art von logischem Schluss oder anderer diskursiver Prozesse, seien sie expliziter oder impliziter Natur. Wenn eine Überzeugung einen solchen Status hat, sagt dies den Kohärenztheoretikern zufolge allerdings nichts darüber aus, ob oder wie diese Überzeugung begründet ist. Tatsächlich gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass alle kognitiv spontanen Überzeugungen wirklich begründet sind, und nicht einmal, dass dies für meisten von ihnen gilt, denn diese Gruppe kann auch Vermutungen und irrationale spontane Überzeugungen enthalten neben solchen, die sich aus Wahrnehmungen ergeben. Angenommen aber, wie es mit den meisten gewöhnlichen Überzeugungssystemen der Fall zu sein scheint, dass ein 368
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solches System eine Überzeugung beinhaltet, derzufolge bestimmte Arten kognitiv spontaner Überzeugungen (die anhand ihres allgemeinen Gegenstandes, durch die offenbare Art ihrer sinnlichen Erzeugung, wie sie sich am Inhalt der Überzeugung zeigt, und durch begleitende Umstände verschiedener Art identifiziert werden) unter bestimmten (damit auch unter sog. ‚normalen‘) Umständen sehr wahrscheinlich wahr sind: In diesen Fällen wird es möglich, einen rechtfertigenden Grund für solche Überzeugungen anzugeben, der sich auf ihren Status als kognitiv spontan und vorgeblich beobachtet beruft, dies aber immer noch in einer Art und Weise tut, der von der Kohärenz zum Hintergrundsystem an Überzeugungen dieser Behauptung abhängt, und derzufolge eine Überzeugung dieser Art, die auf eine solche Weise zustande gekommen ist, auch wahr ist. Eine solche Überzeugung wäre dann nicht auf dem logischen Schlusswege gewonnen worden und gleichwohl immer noch durch ihre Berufung auf die Schlussbeziehungen und die Kohärenz gerechtfertigt. (Dieser Beobachtungsstandpunkt wird am deutlichsten von BonJour [1985] vertreten, aber etwas davon findet sich auch in Blanshards Rede von den ‚Überzeugungen über die Technik des Überzeugungserwerbs‘, in Sellars Rede von den ‚sprachlichen Reaktionen auf Wahrnehmungsveränderungen‘10, in Quines Rede von der ‚Beobachtungsperipherie‘ im ‚Netz der Überzeugungen‘, in Reschers Idee von den ‚Daten‘, und in Lehrers Diskussion (1974, 1990) des Vertrauens in eine Person, dass sie sich gewisse Arten von Informationen aneignet.) Die vorstehenden Überlegungen liefern bestenfalls den Anfang einer kohärentistischen Darstellung der Beobachtung und lassen verschiedene Problem noch ungelöst, die hier nur angedeutet werden können. Zunächst müssen die übrigen Überzeugungen, die für eine begründende Rechtfertigung für eine bestimmte Beobachtungsüberzeugung benötigt werden, selbst auf irgendeine Art und Weise begründet werden, ohne dass man an diesem Punkt in eine Letztbegründungsposition verfällt. Diese Überzeugungen müssen zumindest enthalten: (1) Überzeugungen über die Bedingungen ihres Entstehens, (2) die allgemeine Überzeugung über die Verlässlichkeit der fraglichen, kognitiv spontanen Überzeugungen, und (3) Überzeugungen über das Auftreten dieser spezifischen Überzeugung, einschließlich der weiteren Überzeugung, dass sie tatsächlich kognitiv spontan eingetreten ist. Die Überzeugung für (1) wird vermutlich weitere Beobachtungsüberzeugungen enthalten müssen, die ihrerseits auf dieselbe allgemeine Weise begründet sein müssen, so dass jeder Fall einer begründeten Beobachtung normalerweise oder vielleicht sogar immer eine Reihe sich gegenseitig stützender Beobachtungen mit sich bringt. Die Begründung für (2) wird sich induktiv auf andere Fälle der korrekten Beobachtung berufen, wie sie sich aus einer internen Perspektive ergeben, sowie auf mehr theoretisch geartete Gründe für die Annahme, dass Überzeugungen der fraglichen Art allgemein auf eine verlässliche Art und Weise hervorgebracht werden. Die Begründung für (3) wird sich auf introspektive Überzeugungen berufen, die selbst einen Typ von Beobachtungen darstellen, und letztlich auf das umfassende Begreifen des Überzeugungsträgers seines gesamten Überzeugungssystems – ein Begreifen, dessen Status uns vor eine der Hauptschwierigkeiten stellt, die es im Folgenden zu behandeln gilt.
Engl.: ‚language-entry transitions‘; Sellars meint damit, dass ein Sprecher in sich ändernden Wahrnehmungssituationen mit der adäquaten Sprachaktivität reagiert. [WS] 10
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Zweitens genügt es für eine Begründung von Beobachtungsüberzeugungen nicht, dass ein Grund der vorstehend genannten Art lediglich in dem Überzeugungssystem einer Person vorhanden ist, denn ein solcher Mensch könnte vollständig darin versagen wahrzunehmen, dass dies der Fall ist, und könnte folglich aus irgendeinem anderen Grund zu dieser Überzeugung kommen, d.h. auf der Basis von anderen Gründen, oder vielleicht auch überhaupt ohne jeden Grund. Selbst wenn also die Beobachtungsüberzeugung nicht auf dem Schlusswege erreicht wird, muss dennoch die Verfügbarkeit der fraglichen schlussfolgernden Rechtfertigung, selbst wenn sie niemals ausdrücklich ausgeübt wird, der Grund dafür sein, warum der Überzeugungsträger weiterhin die Überzeugung akzeptiert und sich auf sie zu weiteren Zwecken beruft. Eine vollständige Darstellung der kohärentistischen Beobachtung müsste genau klären, auf was dieses Erfordernis hinausläuft, und wie ihm entsprochen werden kann. Drittens scheint die einfache Möglichkeit der kohärentistischen Beobachtung nicht auszureichen, um die Rolle, die die Beobachtung in unserem kognitiven Leben spielt, dort unterzubringen. In Anbetracht der Überzeugung, dass Beobachtung nicht nur möglich, sondern alles beherrschend ist, und dass eine Berufung auf die Beobachtungsevidenz, sei sie direkt oder indirekt, für die Begründung mindestens der kontingenten Überzeugungen betreffend die Welt wesentlich ist, muss eine intuitiv angemessene Kohärenztheorie irgendwie fordern und nicht nur erlauben, dass ein wesentliches Beobachtungselement in jedem gerechtfertigten System, das solche kontingenten Überzeugungen enthält, vorhanden sein sollte. Eine Sichtweise, die auf einem solchen Erfordernis besteht, würde sich damit von einer reinen Kohärenztheorie abheben, würde aber immer noch eine Letztbegründung vermeiden, wenn die kohärentistische Darstellung der Beobachtung auf eine andere Weise erfolgreich ist. (Ein solches Erfordernis ist für zahlreiche der nachfolgend untersuchten Einwände relevant.) 5. Die Standardeinwände Wenn wir die Einwände gegen die Kohärenztheorien betrachten, sollten wir mit den dreien beginnen, die historisch am üblichsten und vertrautesten sind. Der erste von ihnen stellt das dar, was man gemeinhin als das ‚Problem der Isolation‘ oder den ‚Input-Einwand‘ bezeichnet: eine Darstellung der Begründung, die sich vollkommen auf die Kohärenz innerhalb eines Überzeugungssystems beruft, scheint die Konsequenz zu haben, dass der Begründungsstatus einer Überzeugung dieses Systems auf keinerlei Art und Weise von der Beziehung des Systems zur Welt abhängt, die sie doch zu beschreiben meint, und auch nicht von irgendeiner Art von Information, die aus dieser Welt stammt. Dies würde aber heißen, dass die Wahrheit der Überzeugungselemente dieses Systems, wenn sie denn wahr sind, dies nur infolge eines Zufalls sein können, und dass es folglich keinerlei Anlass zu dem Gedanken gibt, sie seien wahr und dennoch keine erkenntnistheoretische Begründung. Die oben angedeutete kohärentistische Beobachtung liefert, wenn man sie erfolgreich ausbaut, den Beginn einer Antwort auf diesen Einwand, indem sie zeigt, wie Beobachtungsüberzeugungen, die offenkundig durch die Welt ausgelöst wurden, dennoch einer kohärentistischen Begründung zugänglich sind. Auf diese Weise kann ein kohärentistisches System, dass eine vorgebliche Beobachtungskomponente enthält, zumindest von innen so aussehen, als habe es einen Input von der Welt und sei folg370
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lich nicht isoliert. Ob dieser Anschein sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit auch als wahrhaftig erweist, wird jedoch von allgemeineren Fragen abhängen, die weiter unten besprochen werden, nämlich ob und warum die kohärentistische Begründung als etwas betrachtet werden sollte, dass der Wahrheitsfindung dienlich ist. Der zweite vertraute Einwand, auf den schon früher kurz hingewiesen wurde, ist jener, der als der ‚Einwand des alternativen Kohärenzsystems‘ bezeichnet wird: selbst wenn man eine relativ starke Darstellung der Kohärenz annimmt, wird es doch immer noch unendlich viele mögliche Überzeugungssysteme geben, von denen jedes intern genauso kohärent ist wie die anderen, und so werden alle von ihnen aus der kohärentistischen Perspektive gleichermaßen gerechtfertigt sein, was sicherlich ein absurdes Ergebnis wäre. Die Antwort auf diesen Einwand hängt ebenfalls entscheidend von der Vorstellung davon ab, was Beobachtung ist. Wenn es, wie bereits oben vorgeschlagen, in einer jeden angemessenen Kohärenztheorie ein Begründungserfordernis ist, dass darin auch substanzielle Beobachtungskomponenten vorkommen (d.h. ein wesentlicher Anteil solcher kognitiv spontanen Überzeugungen, die das System selbst als wahrscheinlich wahr behandelt und ihnen folglich Akzeptanzwert zuspricht), dann können solche alternativen Systeme nicht länger frei erfunden werden, und es ist nicht länger erkennbar, warum sie überhaupt existieren müssen. Nur ein System, dass wirklich in der kognitiven Praxis akzeptiert und angewandt wird, kann kognitiv spontane Überzeugungen enthalten und somit das Beobachtungserfordernis erfüllen. Es besteht keine Möglichkeit zu garantieren, dass die Akzeptanz solcher Überzeugungen nicht sehr schnell zur Inkohärenz in einem willkürlich konstruierten System führt, selbst wenn es anfänglich kohärent war. (Dies weist darauf hin, dass es die Kohärenz über eine gewisse Zeitspanne und nicht nur für einen Moment ihres Bestehens ist, die letztlich die Rechtfertigungsgrundlage in allen Kohärenztheorien darstellt, für die man ernsthaft eintreten kann.) Der dritte der Standardeinwände ist in Wirklichkeit eine Herausforderung des Kohärenztheoretikers, uns einen Grund für die Annahme zur liefern, dass die Annahme von Überzeugungen auf der Grundlage kohärentistischer Begründung wahrscheinlich zu einer wahren Überzeugung führt. Verschiedene Kohärenztheoretiker geben sehr unterschiedliche Antworten auf diese entscheidende Frage, wobei jede ihre eigenen Probleme aufweist. Diese können hier allerdings nur kurz angerissen werden. (1) Der absolute Idealist löst das Problem tatsächlich ebenfalls durch die Annahme einer Kohärenztheorie der Wahrheit, und verkleinert dadurch den Spalt zwischen der kohärentistischen Begründung und der Wahrheit (obwohl nur Blanshard diese Strategie ausdrücklich beschreibt). Nach einer solchen Sichtweise ist die Wahrheit essenziell dasselbe wie eine über lange Zeit gültige Begründung, was es relativ einfach macht zu argumentieren, dass die Suche nach begründeten Überzeugungen wahrscheinlich und schließlich auch zum Auffinden der wahren Überzeugungen führt – jedoch um den bedeutenden Preis einer extrem unplausiblen Wahrheitskonzeption. (2) Rescher versucht einen pragmatischen Beweis zu erbringen, der besagt, dass der praktische Erfolg, der sich aus der Anwendung des kohärenten Systems ergibt, es auch wahrscheinlich mache, dass die Überzeugungen des Systems zumindest näherungsweise wahr seien (im Sinne eine Korrespondenz mit der unabhängigen Wirklichkeit). Unglücklicherweise bedroht jedoch die Notwendigkeit der Begründung von Behauptungen des praktischen Erfolgs, die dem Typ nach wohl ebenfalls kohärentistisch sein müssen, das Projekt mit einem circulus vitiosus. (3) 371
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BonJour (1985) versucht einen a priori ‚metabegründenden Beweis‘ zu erbringen, der sich auf eine rationalistische und letztbegründungstheoretische Konzeption apriorischer Erkenntnis stützt, denn die Schlussfolgerung bringt eine hohe Wahrscheinlichkeit mit sich, dass ein Überzeugungssystem, das über einen relativ langen Zeitraum hinweg kohärent bleibt, während es offenkundig Beobachtungs-Input erfährt, auch wahr ist (und zwar wiederum im Sinne einer Korrespondenz von Wahrheit und Wirklichkeit). Der hier angebotene Hauptgrund lautet, dass nur eine näherungsweise Wahrheit eine fortgesetzte Kohärenz in Anbetracht neuer Beobachtungen erklären kann. Zusätzlich zur Verteidigung einer angenommenen allgemeinen, apriorischen Begründung muss ein solcher Ansatz auch behaupten, dass skeptische Erklärungen von Überzeugungen (z.B. ihre Hervorbringung durch einen ‚kartesischen Dämon‘) a priori weniger wahrscheinlich sind als die bevorzugte Erklärung der Übereinstimmung (Korrespondenz) mit der Wirklichkeit, wobei dies eine Behauptung ist, die von vielen höchst unplausibel empfunden wird. (4) Der Ansatz von Lehrer geht dahin, eine alternative Konzeption der Begründung zu konstruieren, die von der hypothetischen Ersetzung irriger Überzeugungen im Überzeugungssystem einer Person durch deren korrigierte Alternativen ausgeht, und der dann fordert, dass die anfänglich begründeten Überzeugungen nach einer solchen Ersetzung weiterhin begründet bleiben, wenn sie als Erkenntnis gelten sollen. Die Hauptschwierigkeit hier ist, dass ein solcher Ansatz zuzugeben scheint, dass die ‚persönliche Begründung‘, also jene Art von Begründung, die schon vor der Ersetzung existiert, einem Auffinden der Wahrheit nicht förderlich ist, selbst wenn eine solche persönliche Begründung das einzige ist, dessen sich der Überzeugungsträger im Allgemeinen überhaupt bewusst ist. 6. Das Zugangsproblem Als Ergänzung zu den vorstehenden Einwänden gibt es noch eine Reihe weiterer Probleme, mit denen eine entwickelte Kohärenztheorie zurechtkommen muss. Deren dringendster ist vielleicht jener, ob die kohärentistische Begründung dem Überzeugungsträger auf eine Art und Weise zugänglich ist, wie dies erforderlich ist, wenn sich daraus eine internalistische Position ergeben soll. Geht man (für den Moment) davon aus, wie das bei allen hier diskutierten Positionen der Fall ist, dass die kohärentistische Begründung offenbar die Kohärenz mit dem gesamten Überzeugungssystem von dessen Träger erfordert, dann hat dieses Problem drei Aspekte: (1) Hat der Überzeugungsträger einen angemessenen Zugang zu seinem Überzeugungssystem? (2) Begreift der Überzeugungsträger auf angemessene Weise, was der Begriff der Kohärenz überhaupt meint? Und: (3) Ist der Überzeugungsträger imstande, den Begriff der Kohärenz auf sein Überzeugungssystem so anzuwenden, dass dies eine abschließende Bewertung von Überzeugungen zulässt? – Alle diese Aspekte stellen uns vor ernsthafte Probleme, und speziell (3) ist alles andere als trivial, selbst dann noch, wenn man (1) und (2) befriedigend löst. Die schwierigste Frage ist allerdings (1), weshalb diese hier am gründlichsten betrachtet wird. Der Zugang eines Überzeugungsträgers zu seinem eigenen Überzeugungssystem ist in der Tat in zweierlei ganz unterschiedlicher Hinsicht ein ernsthaftes Problem. Erstens stellt sich die Frage, welchen erkenntnistheoretischen Status das Ergebnis eines solchen Zuganges hat, wenn er denn überhaupt besteht, und den man sich dann als eine Art ‚Metaüberzeugung‘ vorstellen müsste, die die gesamten In372
Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorie der
halte des Systems beschreibt. Eine solche Metaüberzeugung wäre klarerweise kontingent und empirisch, und wäre folglich eine, die in einer jeden Kohärenztheorie der hier betrachteten Art selbst durch Berufung auf irgendeine Kohärenz begründet werden müsste. Da aber jede kohärentistische Begründung, die dem Überzeugungsträger zugänglich ist, sich auf eine solche Metaüberzeugung berufen muss, um das Überzeugungssystem zu beschreiben, mit dem die zu begründende Überzeugung in ein kohärentes Verhältnis gebracht werden soll, so scheint eine kohärentistische Begründung dieser Metaüberzeugung selbst vollkommen und unwiderruflich zirkulär (und keine Berufung auf irgendeine indirekte Begründung wird hier helfen, weil das, was hier erklärt werden soll, gerade die Frage ist, wie eine solche indirekte Begründung, die vom Kohärenztheoretiker vertreten wird, überhaupt möglich ist). Die ausdrücklichste Diskussion dieser Frage leistet BonJour (1985), der darauf antwortet, indem er sich auf das bezieht, was er die ‚doxastische Voraussetzung‘ nennt. Die Idee dahinter ist, dass die kohärentistische Begründung davon ausgehen muss, dass die Auffassung des Überzeugungsträgers von seinem gesamten Überzeugungssystem zumindest näherungsweise korrekt ist (kleine Korrekturen sind durch Berufung auf die Kohärenz immer noch möglich). Dies hat zur Folge, dass die sich ergebende Begründung hinsichtlich der angenommenen Korrektheit dieser Auffassung kontingent ist, und folglich ist keine Antwort auf diesen Teil der Kohärenztheorie hinsichtlich dieser spezifischen Variante des Skeptizismus möglich, der gerade infrage stellt, ob diese Annahme tatsächlich korrekt ist. Dies erschien vielen als ein sehr drastisches Ergebnis, doch es ist unklar, wie die Alternative aussehen kann, wenn man sich auf keinen Letztbegründungsansatz zurückziehen will. Doch selbst wenn die vorstehende Frage auf eine befriedigende Weise gelöst würde, gäbe es immer noch einen zweiten Aspekt dieses Problems, nämlich die recht aufdringliche Frage, ob der gewöhnliche Überzeugungsträger jemals tatsächlich so etwas wie eine reflexive Auffassung des gesamten Inhalts seines Überzeugungssystems besitzt oder überhaupt besitzen kann, die die Kohärenztheorie ihm doch abverlangt. Bei dieser Frage sieht es so aus, als müsse die Kohärenztheorie zugeben, dass alltägliche Fälle der Begründung bestenfalls nur eine Annäherung, und vielleicht sogar eine recht entfernte, an die ideale Begründung darstellen, die die Kohärenztheorie vorzeichnet. Und noch ein weiteres Problem verdient zumindest seine kurze Erwähnung. Wenn, wie dies meist der Fall ist, eine Kohärenztheorie sich auf die Kohärenz von Überzeugungen über einen relativ langen Zeitraum beruft, dann treten Fragen auf, wie überhaupt die erinnerten Überzeugungen, auf die sich jeder Zugang zu der Tatsache einer fortgesetzten Kohärenz offenkundig stützen muss, gerechtfertigt werden können. Viele Philosophen haben Kohärenztheorien der Begründung von erinnerten Überzeugungen vorgelegt, doch solche Standpunkte sind erneut vom Einwand der vitiösen Zirkularität bedroht, wenn der einzige Grund für die Annahme, dass die kohärentistische Begründung der Wahrheitsfindung dient, sich auf eine Kohärenz über die Zeit stützt, und damit seinerseits auf die erinnerten Überzeugungen. Siehe auch: Begründung, erkenntnistheoretische; Erkenntnis, Begriff der; Wahrheit, Kohärenztheorie der; Wahrheit, Korrespondenztheorie der Anmerkungen und weitere Lektüre: BonJour, L. (1985): ‚The Structure of Empirical Knowledge‘. Cambridge, M.A.: Harvard University Press. (Dies ist die Auffassung des Autors dieses Beitrages über 373
Erkenntnistheorie
die Kohärenztheorie, die speziell in den vorstehenden §§ 4 und 6 diskutiert wird. Hier wird das Material jedoch auch noch in anderer Hinsicht ausführlich behandelt. Das Buch enthält einen Anhang, in dem die Standpunkte der Positivisten, der absoluten Idealisten und ferner von Lehrer und Rescher diskutiert werden.) Lehrer, K. (1990): ‚Theory of Knowledge‘. Boulder, CO: Westview Press. (Eine Überarbeitung von Lehrers Buch aus dem Jahre 1974, auf das hier in den §§ 1, 3 und 4 Bezug genommen wird.) LAURENCE BONJOUR
Erkenntnistheorie Einführung Die Erkenntnistheorie ist eine der Kerndisziplinen der Philosophie. Ihr Gegenstand ist das Wesen, die Quellen und die Grenzen des Wissens (siehe auch Wissens, Begriff des). Das Feld der Auffassungen zu diesen Themen ist sehr breit gefächert. Eine jedoch praktisch universell angenommene Voraussetzung ist jene, dass das Wissen wahre Überzeugung ist, aber nicht ausschließlich wahre Überzeugung. Beispielsweise sind zufälligerweise zutreffende Vermutungen oder wahre Überzeugungen infolge von Wunschdenken kein Wissen. Deshalb ist es eine zentrale Frage der Erkenntnistheorie, was zu den wahren Überzeugungen noch hinzukommen muss, damit sie zu Wissen werden. 1. Die normativen Antworten: Letztbegründungstheorie und Kohärentismus 2. Die naturalistischen Antworten: Ursachen von Überzeugungen 3. Skeptizismus 4. Neuere Entwicklungen der Erkenntnistheorie 1. Die normativen Antworten: Letztbegründungstheorie und Kohärentismus Die historisch dominante Tradition der Erkenntnistheorie beantwortet die vorgenannten, zentralen Fragen durch die Behauptung, dass es die Qualität der Gründe für unsere Überzeugungen sei, die wahre Überzeugungen zu Wissen mache. (siehe Erkenntnistheorie, Geschichte der). Wenn die Vernunft ausreichend zwingend ist, so haben wir Wissen von etwas. Dies ist die normative Tradition der Erkenntnistheorie. Eine Analogie zur Ethik ist hier angebracht: genauso wie eine Handlung gerechtfertigt ist, wenn ethische Prinzipien ihre Vornahme sanktionieren, so ist eine Überzeugung gerechtfertigt, wenn erkenntnistheoretische Prinzipien deren Annahme sanktionieren (siehe Erkenntnistheorie und Ethik; Rechtfertigung, erkenntnistheoretische). Die zweite Tradition in der Erkenntnistheorie, nämlich die naturalistische, konzentriert sich nicht auf die Qualität der Gründe für Überzeugungen, sondern fordert vielmehr, dass die Bedingungen, unter denen Überzeugungen erworben werden, typischerweise wahre Überzeugungen hervorbringen (siehe Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie; Naturalisierte Erkenntnistheorie) Innerhalb der normativen Tradition haben sich zwei Auffassungen über die eigentliche Struktur von Überzeugungsgründen herausgebildet. Die bei weitem verbreitetste Auffassung ist der Letztbegründungsansatz. Er besagt, dass solche Gründe auf einer Begründungsstruktur aufbauen, die auch ‚grundlegende‘ Überzeugungen (siehe Letztbegründungstheorie) umfasst. Die letztbegründenden Aussagen leiten, selbst wenn sie gerechtfertigt sind, keine dieser Rechtfertigungen mehr von anderen 374
Erkenntnistheorie
Aussagen ab. (Der sog. Kohärentismus, der weiter unten diskutiert wird, leugnet, dass es solche letztbegründenden Aussagen gibt.) Diese grundlegenden Überzeugungen können unterschiedlicher Art sein. Empiristen (wie z.B. Hume und Locke) meinten, dass grundlegende Überzeugungen ein Wissen aufweisen, das ganz am Anfang durch die Sinne oder durch Introspektion gewonnen wird (siehe A posteriori; Empirismus). Die Rationalisten (wie z.B. Descartes, Leibniz und Spinoza) meinten dagegen, dass zumindest einige grundlegende Überzeugungen das Ergebnis einer rationalen Intuition seien (siehe A priori; Rationalismus). Da nicht alles Wissen auf Wahrnehmungserfahrung, Introspektion oder rationaler Intuition zu fußen scheint, behaupten einige Erkenntnistheoretiker, dass einiges Wissen angeboren sei (siehe Kant, I.; Platon; Wissen, stillschweigendes). Wieder andere behaupten, dass einige Aussagen infolge von Merkmalen des jeweiligen Gesprächszusammenhanges grundlegender Natur sind. Das heißt, dass bestimmte Aussagen durch die jeweilige epistemische Gemeinschaft für selbstverständlich genommen werden und für sie somit ‚grundlegend‘ sind (siehe Kontextualismus, erkenntnistheoretischer). Letztbegründungstheoretiker meinen, dass erkenntnistheoretische Schlussprinzipien benannt werden können, die es einem epistemischen Akteur erlauben, von den Grundaussagen auf die nicht grundlegenden (d.h. geschlossenen) Aussagen zu schließen. Sie schlagen beispielsweise vor, dass, wenn eine Menge grundlegender Aussagen durch irgendeine Hypothese erklärten werden und zusätzlich bestätigende Evidenzen für diese Hypothese entdeckt werden, dass dieser Schluss dann als gerechtfertigt zu gelten hat. Ein notorisches Problem dieses Vorschlages ist jedoch, dass es immer möglich ist, mehr als eine Hypothese zu bilden, die sich im Kreise aller verfügbaren Daten als ebenso gut bestätigt erweist wie die anderen, parallel dazu bestehenden Hypothesen, und das folglich keine dieser Hypothesen als die zu bevorzugende daraus hervorgeht (siehe Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der). Einige Erkenntnistheoretiker meinten, dieses Problem könne durch Berufung auf Merkmale der jeweils konkurrierenden Hypothesen jenseits ihrer Erklärungskraft überwunden werden. Beispielsweise könnte die relative Einfachheit einer Hypothese als Grund zu ihrer Bevorzugung betrachtet werden (siehe Einfachheit [in wissenschaftlichen Theorien]; theoretische [Erkenntnistheoretische] Tugenden). Im Gegensatz zu Letztbegründungstheorien behauptet der Kohärentismus (auch ‚Kohärenztheorie‘ genannt), dass jede Überzeugung einen Teil ihrer Rechtfertigung von anderen Überzeugungen ableitet (siehe Bosanquet, B; Bradley, F.H.; Wissen und Rechtfertigung, Kohärenztheorie der). Alle Kohärenztheoretiker meinen, dass Überzeugungen sich wie die oben aufeinander zulaufenden Stützen eines Indianerzeltes gegenseitig stärken. Einige Kohärenztheoretiker schreiben jedoch jenen Aussagen eine besonders rechtfertigende Rolle zu, die schwieriger auszuhebeln seien, weil sie in stärkerem Umfang als Stütze anderer Aussagen dienen und von diesen im Gegenzug ebenfalls mehr gestützt werden. Die Menge dieser speziellen Aussagen überschneidet sich mit der Menge der grundlegenden Aussagen, die von der Letztbegründungstheorie geltend gemacht werden. Es gibt einige Einwände, die speziell gegen die Letztbegründungstheorie gerichtet sind, und wieder andere, die sich eher gegen die Kohärenztheorie richten. Es gibt jedoch eine tief greifende Schwierigkeit, die beide der traditionell-normativen Darstellungen betrifft. Dieses Problem ist unter dem Namen ‚Gettier-Problem‘ bekannt 375
Erkenntnistheorie
(so benannt nach dem berühmten, dreiseitigen Aufsatz von Edmund Gettier aus dem Jahre 1963). Es kann folgendermaßen beschrieben werden (siehe Gettier-Problem): Angenommen, eine falsche Überzeugung lässt sich rechtfertigen (siehe Fallibilismus), und ferner sei angenommen, dass der Rechtfertigungsstatus dieser falschen Überzeugung sich auf eine andere Aussage im Wege eines deduktiven Schlusses oder anderer Schlussprinzipien übertragen lässt (siehe Deduktives Schlussprinzip). Weiter sei angenommen, dass dieses letztere Schlussergebnis wahr ist. Wenn alle diese Annahmen logisch gleichzeitig wahr sein können, und dies scheint der Fall zu sein, dann wäre die Aussage des letzten Schlussergebnisses wahr, gerechtfertigt (und zwar sowohl nach letztbegründungs- als auch nach kohärenztheoretischen Kriterien) und somit überzeugend, obwohl es sich offenkundig um kein Wissen handelt, da diese Aussage doch auf dem Schluss von einer falschen Prämisse beruht. Es war lediglich ein glücklicher Umstand, dass dieser Schluss die Wahrheit ergab. Eine Strategie zur Lösung des Gettier-Problems bewegt sich weiterhin fest in der normativen Tradition. Sie wendet die ursprüngliche normative Intuition an, dass es die Qualität der Gründe ist, die Wissen von lediglich wahren Überzeugungen unterscheiden. Dieser Ansatz nennt sich die ‚Widerlegbarkeitstheorie des Wissens‘. Es gibt mehrere Fassungen der Widerlegbarkeitstheorie, und im Allgemeinen gehen sie alle davon aus, dass die zufällig glückliche Übereinstimmung dadurch vermieden werden kann, dass die Gründe zur Rechtfertigung der Überzeugung so beschaffen sein müssen, dass sie nicht durch weitere Wahrheiten widerlegt werden können. 2. Die naturalistischen Antworten: Ursachen von Überzeugungen Es gibt noch eine zweite allgemeine Strategie zur Lösung des Gettier-Problems. Diese fällt aus dem Rahmen der normativen Tradition heraus und liegt mitten in der naturalistischen Tradition (siehe Quine, W.V.). Wie bereits der Name verrät, beschreibt die naturalistische Tradition das Wissen als ein natürliches Phänomen, das an mannigfaltigen Gegenständen auftritt. Erwachsene Menschen mögen die Vernunft einsetzen, um zu einem Teil ihres Wissens zu gelangen. Die Naturalisten wenden hierauf jedoch umgehend ein, dass Kinder und Erwachsene Wissen auch auf Wegen erlangen, an denen überhaupt kein Vernunftgebrauch beteiligt zu sein scheint. Grob gesagt gilt eine Überzeugung dann als Wissen, wenn eine wahre Überzeugung eine entsprechende kausale Geschichte hat (siehe Wissens, Kausaltheorie des). Angenommen, ich bin durch eine vertrauenswürdige Person darüber informiert worden, dass die Außentemperatur jetzt höher als vor zwei Stunden ist. Das schaut gewiss nach einem Stück gewonnenen Wissens aus, und es wird gute Gründe geben, die zu dieser Überzeugung führten. Die Normativisten würden sich auf diese guten Gründe berufen, um den Wissenserwerb darzustellen. Die Naturalisten würden jedoch einwenden, dass die wahre Überzeugung, die auf dem Zeugnis einer verlässlichen Quelle beruht, ungenügend für den Wissenserwerb ist (siehe Soziale Erkenntnistheorie; Zeugnis). Das Zeugnis ist ein verlässlicher Weg zur Gewinnung von Wissen. Es gibt aber auch andere Wege, wie z.B. die Sinneswahrnehmung, die Erinnerung und die Vernunft. Natürlich sind diese Quellen manchmal mangelhaft (siehe Erinnerung, Erkenntnistheorie der). Eine zentrale Aufgabe der naturalisierten Erkenntnistheorie ist die Charakterisierung der Bedingungen, unter denen man verlässliche Informationen erlangt. Daher kann die naturalisierte Erkenntnistheorie in einigen ihrer Aus376
Erkenntnistheorie
prägungen als ein Zweig der kognitiven Psychologie verstanden werden, und die Fragen sind somit der empirischen Forschung zugänglich. Doch kehren wir zurück zum Gettier-Problem. Wir erinnern uns, dass es als Antwort auf die Anerkennung des Umstandes entstand, dass wahre Erkenntnis auch im Wege zufälliger Übereinstimmung erlangt werden kann. Die naturalistische Tradition verknüpft die Überzeugung und die Wahrheitsbedingungen des Wissens auf direktem Wege, indem sie fordert, dass die Mittel, durch die eine wahre Überzeugung erlangt oder aufrecht erhalten wird, verlässlich sein sollten. 3. Skeptizismus Der Gegensatz zwischen normativer und naturalisierter Erkenntnistheorie zeigt sich ganz offen in der Art und Weise, wie jede von ihnen die wichtigste erkenntnistheoretische Frage angeht, nämlich den Skeptizismus (siehe Skeptizismus). Der Skeptizismus zeigt sich in vielen Formen. In einer von ihnen werden die Voraussetzungen zum Wissenserwerb zu hoch geschraubt, sodass der Wissenserwerb faktisch unmöglich wird. Beispielsweise geht man davon aus, dass eine Überzeugung nur dann Wissen sei, wenn sie jenseits allen logischen Zweifels steht. Wissen würde unter diesen Umständen zu einem sehr raren Gut werden (siehe Zweifel). Andere Formen des Skeptizismus fordern nur gute, nicht aber logisch unangreifbare Begründungen. Wir sprachen bereits im Zusammenhang mit der Induktion vom Skeptizismus. Diese Form des Skeptizismus illustriert das allgemeine Muster des skeptischen Problems: es zeigen sich dort Wissenstypen, die intuitiv klare Fälle ausgemachten Wissens zu sein scheinen, die aber vom Skeptiker in Frage gestellt werden, weil er seinerseits intuitiv plausible, jedoch allgemeine erkenntnistheoretische Prinzipien geltend macht, die genau diesen Wissenstyp vom Begriff des Wissens auszuschließen scheinen. Ein weiteres Beispiel wird helfen, das allgemeine Muster des skeptischen Problems zu erhellen. Man bedenke die (zwar gegenwärtig noch nicht realisierbare, aber dennoch widerspruchsfrei denkbare) Möglichkeit, dass mein Gehirn nicht in meinem Schädel untergebracht ist, sondern in einem Gefäß, das an einen sehr mächtigen Computer angeschlossen ist, der es stimuliert, so dass es exakt die Erfahrungen, Erinnerungen und Gedanken hat, die ich jetzt habe. Wir nennen dies die ‚skeptische Hypothese‘. Diese hypothetische Situation ist klarerweise unvereinbar mit der Art und Weise, wie ich mir die Welt vorstelle. Nun scheint es ein annehmbares, normativ-erkenntnistheoretisches Prinzip zu sein, dass, wenn ich gerechtfertigterweise davon überzeugt bin, dass die Welt so beschaffen ist, wie ich das annehme (d.h. mit anderen Menschen und Tischen, Regierungen etc., und zwar solchen, die es in dieser hypothetischen Wirklichkeit eben nicht gibt), ich auch über irgendein gutes Argument verfügen sollte, um die skeptische Hypothese zurückweisen zu können. Diese behauptet jedoch gerade, dass ich über solche Argumente gar nicht verfügen kann. Denn wenn die skeptische Hypothese wahr ist, würde mir immer noch alles genau so erscheinen, wie es mir ohnehin gerade erscheint. Es scheint sich also ein Konflikt zwischen der Intuition aufzutun, dass wir diesbezüglich über Wissen verfügen, und dem genannten, ebenfalls intuitiv anziehenden erkenntnistheoretischen Prinzip. Somit kann dieser Skeptiker als eine von mehreren Instanzen eines interessanten Feldes erkenntnistheoretischer Paradoxa gesehen werden (siehe Paradoxa, erkenntnistheoretische). 377
Erkenntnistheorie
Selbstverständlich haben die Erkenntnistheoretiker diverse Antworten auf den skeptischen Einwand entwickelt. Innerhalb der normativen Tradition sind bereits eine ganze Reihe von Erwiderungen verfügbar. Eine von ihnen lautet einfach, ein jegliches erkenntnistheoretisches Prinzip zu leugnen – selbst wenn dies zunächst plausibel erscheint –, das uns davon abhält anzunehmen, was wir normalerweise als Teil unserer Kenntnisse auffassen (siehe Chisholm, R.M.; Common-Sense-Philosophie; Moore, G.E., Reid, T.). Eine weitere Antwort empfiehlt, die erkenntnistheoretischen Prinzipien sorgfältig zu prüfen, um zu zeigen, dass sie, richtig interpretiert, nicht zum Skeptizismus führen. Natürlich gibt es immer die Option einfach zu erklären, dass wir kein Wissen haben. Welche Wahl aber man auch trifft, einige zunächst plausible Intuitionen werden ihr zum Opfer fallen. Innerhalb der naturalistischen Tradition scheint es einen leichten Weg zu geben, um mit den skeptischen Einwänden fertig zu werden. Wissensbesitz ist nicht dadurch bestimmt, ob wir ausreichend gute Gründe für unsere Überzeugungen haben, sondern vielmehr dadurch, ob der Prozess zum Erwerb der fraglichen Überzeugungen hinreichend verlässlich ist. Wenn ich beispielsweise ein Gehirn in einem Gefäß bin (und die Welt im Allgemeinen sich so verhält, wie ich das von ihr denke), dann habe ich Wissen. Freilich werden die Anhänger der normativen Tradition hier einwenden, dass wir verpflichtet sind, unsere volle Zustimmung zu Aussagen zurückzuhalten, für die uns weniger als angemessene Gründe gegeben sind, unabhängig von der kausalen Geschichte der jeweiligen Überzeugung. 4. Neuere Entwicklungen der Erkenntnistheorie Einige neuere Entwicklungen in der Erkenntnistheorie stellen einige Aspekte der Traditionen in Frage oder erweitern sie. Die Tugenderkenntnislehre konzentriert sich auf die Eigenheiten und Merkmale des Wissenden, statt auf die individuelle Überzeugung oder Überzeugungsgesamtheiten (siehe Tugenderkenntnislehre). Kurz gesagt lautet ihre Behauptung, dass, wenn eine wahre Überzeugung das Ergebnis einer Ausübung intellektueller Tugend ist, sie ceteris paribus auch Wissen ist. So kann der Tugenderkenntnistheoretiker gewisse Merkmale sowohl der normativen, als auch der naturalistischen Tradition übernehmen. Tugenden sind im Gegensatz zu den Lastern gute, hoch angesehene dispositionale Zustände. Insbesondere die intellektuellen Tugenden sind solche grundlegenden Dispositionen, die die meisten wahren Überzeugungen hervorbringen. Ein solcher Ansatz führt uns wieder in einige vernachlässigte Gebiete der Erkenntnistheorie wie z.B. die Verbindung des Wissens mit der Weisheit und dem Verstehen hinein. Darüber hinaus zeichnen sich bereits Infragestellungen gewisser Vorannahmen der traditionellen Erkenntnistheorie ab. Beispielsweise wird eingewendet, dass es keine feste Menge von Regeln für den Erwerb von Überzeugungen gibt, die auf alle Menschen und alle Situationen anwendbar sind. Andere schlugen vor, dass viele der vorgebrachten Bedingungen eines guten Vernunftgebrauchs, z.B. ‚Objektivität‘ oder ‚Neutralität‘ besser nicht im Dienst der Wahrheitsfindung in Anspruch genommen werden sollten, wie die traditionelle Erkenntnistheorie meint, sondern dass sie vor allem zur Erhaltung eingefleischter Machtverhältnisse eingesetzt werden und mindestens in einigen Fällen die Gegenstände des Wissens verzerren (siehe Feministische Erkenntnistheorie).
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Erkenntnistheorie, Geschichte der
Trotz dieser fundamentalen Herausforderungen und der Annahme, die einigen Formen der naturalisierten Erkenntnistheorie zugrunde liegt, dass nämlich die einzig interessierenden Fragen jene seien, die sich empirisch beantworten lassen, ist es doch klar, dass die Erkenntnistheorie ein Gebiet leidenschaftlicher Forschung im Herzen der Philosophie bleibt. Siehe auch: Hermeneutik; Kriterien; Nächstenliebe, Prinzip der; Phänomenalismus; Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der; Rorty, R.M.; Solipsismus
Anmerkungen und weitere Lektüre: BonJour, L. (1985): ‚The Structure of Empirical Knowledge‘, Cambridge, MA: Harvard University Press. (Der Autor entwickelt hier einen kohärenztheoretischen Standpunkt des Wissens und der Rechtfertigung.) Chisholm, R. (1966/1977/1989): ‚Theory of Knowledge‘, Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1.–3. Aufl. (Die aufeinander folgenden Auflagen enthalten eine allgemeine Einführung in viele Fragen der Erkenntnistheorie und die immer komplexer werdenden Letztbegründungstheorien des Wissens.) Luper, S. (Hrg.) (2004): ‚Essential Knowledge‘, New York, NY: Pearson Longman. (Dieser Band enthält historische und zeitgenössische Aufsätze und Buchexzerpte mit hilfreichen Einführungen zu verschiedenen Themenbereichen.) PETER D. KLEIN
Erkenntnistheorie, Geschichte der Einführung Die Erkenntnistheorie hat sich schon immer um Fragen beispielsweise zum Wesen, dem Umfang, den Quellen und der Legitimität des Wissens bemüht. Im geschichtlichen Verlauf der westlichen Philosophie haben sich die Philosophen manchmal nur auf eine oder zwei dieser Themen konzentriert und die anderen ausgeschlossen; selten hat sich ein Philosoph mit allen von ihnen beschäftigt. Einige zentrale Fragen sind: (1) Was ist Wissen? Wie lautet die korrekte Analyse oder Definition oder der Begriff des Wissens? (2) Was ist der Umfang unseres Wissens? Über welche Arten von Erkenntnisgegenständen wird derzeit Wissen behauptet? (3) Welches sind die Quellen des Wissens? Wie wird Wissen erworben? (4) Gibt es ein echtes Wissen? Die Bemühung um den ersten Fragenkomplex war in der Philosophie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend, wurde aber schon in der Antike ausgedehnt diskutiert. Die Aufmerksamkeit für den zweiten Fragenkomplex scheint mit Platon eingesetzt zu haben und hielt mit wenigen Unterbrechungen bis in die Gegenwart an. Der dritte Fragenkomplex war ebenfalls bereits in der Antike wichtig, stand aber auch im Zentrum der erkenntnistheoretischen Diskussionen während des Mittelalters und der frühneuzeitlichen Epoche. Die vierte Frage wirft die skeptische Frage auf, die ihrerseits bereits seit der Antike bis in die Gegenwart Interesse auf sich zog, obwohl es Zeiten gab, in denen die skeptischen Anfechtungen weitgehend ignoriert wurden.
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Unterschiedliche Versuche zur Beantwortung aller dieser Fragen durch die gesamte Geschichte der Philosophie hindurch haben immer wieder zusätzliche Fragen aufgeworfen, auf die sich die jeweilige Untersuchung konzentrierte. Die grundsätzliche Frage, die im Folgenden behandelt wird, kann folgendermaßen formuliert werden: (5) Was ist eine gerechtfertigte Überzeugung? Unter welchen Bedingungen ist eine Überzeugung gerechtfertigt? Nur gelegentlich zeigte sich dagegen in der Geschichte der Philosophie Interesse an dieser letzten Frage. Gleichwohl ist sie für viele Philosophen des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselfrage gewesen. 1. Antike Philosophie 2. Hellenistische Philosophie 3. Mittelalterliche Philosophie 4. Moderne Philosophie: Descartes 5. Moderne Philosophie: Spinoza und Leibniz 6. Moderne Philosophie: Locke und Berkeley 7. Moderne Philosophie: von Hume zu Peirce 8. Zwanzigstes Jahrhundert 9. Gegenwärtige Themen 1. Antike Philosophie Die überlieferten Schriften der Vorsokratiker behandeln hauptsächlich Fragen der Metaphysik und Kosmologie; erkenntnistheoretische Bemühungen kommen erst mit Platon auf. Im ‚Menon‘ erzählt Platon die Geschichte eines Sklavenjungen, der keine formale Ausbildung genossen hat und insbesondere niemals Geometrie studiert hat. In einer Unterhaltung mit Sokrates wird dieser Junge zu einer Antwort auf Fragen über eine geometrische Figur gebracht, und seine Antworten erweisen sich als richtig. Der Junge kommt auf die Aussage, dass in einem gegebenen Quadrat mit der Seitenlänge S dessen Fläche S2 ist, sodann darauf, dass man ein Quadrat mit der Fläche 2S2 bildet, indem man als seine Seite die Diagonale des ursprünglichen Quadrats nimmt. Der Junge konnte dies kaum früher gelernt haben, da er nicht ausgebildet wurde. Platon nimmt dieses Beispiel um zu zeigen, dass der Junge die geometrische Wahrheit bereits wusste, und allgemeiner, dass sich die Seele dieses Jungen schon früher in einem Zustand des Wissens befand. Tatsächlich behauptete er, dass die Seele des Jungen früher alle Wahrheiten wusste, sie aber seitdem vergessen hat. Was der Junge in Wirklichkeit in seinem Gespräch mit Sokrates tat, war nur das Einsammeln von etwas, was er nur vergessen hatte. Und dies, meint Platon, gilt für jeden: wenn wir meinen, dass wir etwas gerade begreifen, so sammeln wir es in Wirklichkeit nur wieder ein. Die Seele oder der Wissende ist irgendwann einmal entstanden, und folglich wird sie nicht schon immer Wissen gehabt haben. Oder aber sie hat bereits immer bestanden, aber irgendwann ihr Wissen erworben. Oder sie hat immer bestanden und auch schon immer ihr Wissen gehabt. Platon weist sicherlich die erste dieser Möglichkeiten zurück, speziell im ‚Phaidon‘, wo er die Unzerstörbarkeit und die unendliche, vorrangige Existenz der Seele behauptet. Er scheint aber auch die zweite Möglichkeit zu verwerfen (‚Menon‘ 86b), so dass seine Auffassung also jene wäre,
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Erkenntnistheorie, Geschichte der
dass die Seele schon immer existierte und früher eine große Menge Wissen hatte, ohne dass sie dieses Wissen zu irgendeiner Zeit erworben hätte. Der ‚Menon‘-Dialog macht ferner eine Unterscheidung zwischen wahrer Überzeugung und Wissen geltend (97d–98b). Wissen, so sagt Platon, sei auf eine Weise ‚angebunden‘ oder ‚festgebunden‘, wie es die wahre Meinung nicht ist. Diese Auffassung, die nahe zu legen scheint, dass Wissen gerechtfertigte wahre Überzeugung ist, wird nochmals im ‚Theatet‘ aufgegriffen, wo Platon meint, das Wissen wahre Überzeugung zuzüglich einer Begründung oder einem logos (201d) sei. Es werden jedoch zahlreiche Versuche zur Ausführung des Begriffs der Begründung zurückgewiesen, und der Dialog endet unschlüssig. Es ist nicht klar, ob Platon diese Darstellung des Wissens rundherum zurückweist, oder ob man ihn besser so versteht, dass er diese Definition nur wegen der mangelhaften Vorstellung davon, was eine Begründung ist, zurückweist (‚Theatet‘ 210a–b). In der ‚Politeia‘, speziell in Buch V, behandelt Platon eine Fassung unserer Frage, die den Umfang des Wissens anspricht. Hier unterschiedet er zwischen Wissen an einem Ende und dem Nichtwissen am anderen. Er macht, kurz gesagt, einen mittleren Zustand der Meinung oder der Überzeugung aus. Jeder dieser geistigen Zustände, so sagt Platon, hat einen Gegenstand. Der Gegenstand des Wissens ist das, was existiert. Der Gegenstand des Nichtwissens ist das, was nicht existiert. Und der Gegenstand der Überzeugung ist eine Art Übergangsentität, die oft als das verstanden wird, was im Werden begriffen ist, oder als die wahrnehmbare physische Welt der Gegenstände und ihrer Eigenschaften (‚Politeia‘ 508d–e; ‚Kratylos‘ 440a–d). Für Platon existieren wahrhaft nur die unveränderlichen Formen, und diese werden als die wahren Gegenstände des Wissens bezeichnet (siehe Form, platonische). Darüber hinaus ist das Wissen unfehlbar, während die Überzeugung falsch sein könne (‚Politeia‘ 477e). Indem er so das Wissen mit der Unfehlbarkeit oder Gewissheit identifiziert, weicht Platon weit von der Auffassung des Wissens ab, die er im ‚Menon‘ oder im ‚Theatet‘ geäußert hat. Und seine Darstellung vom Umfang unseres Wissen ist ebenfalls streng begrenzt: echtes Wissen ist nur in den höheren Regionen der unabänderlichen, idealen Formen zu erlangen (siehe Fallibilismus; Platon §§ 11, 15). Aristoteles diskutiert eine spezielle Form des Wissens, nämlich das wissenschaftliche Wissen, in der ‚Zweiten Analytik‘. Eine Wissenschaft muss nach dem Verständnis von Aristoteles als eine Gruppe von Theoremen gedacht werden, von denen jedes einzelne in einem demonstrativen Syllogismus bewiesen ist. In der ersten Instanz ist ein demonstrativer Syllogismus11 in der Wissenschaft S ein syllogistisches Argument, dessen Prämissen erste Prinzipien von S sind. Diese ersten Prinzipien müssen andererseits wahr, grundlegend, unmittelbar und besser bekannt 11 Die Syllogismen (altgr.: syllogismos = Zusammenrechnen, Aufrechnung) sind eine systematisch geordnete Menge logischer Argumente. Sie bilden den Kern der aristotelischen Logik und blieben praktisch ohne substanzielle Erweiterung das Fundament der Logik noch bis ins späte 19. Jahrhundert, bis schließlich Gottlob Frege und anschließend Bertrand Russell u.a. den Grundstein der modernen Aussagen- bzw. Prädikatenlogik legten. Die Syllogistik ist die Lehre von den Syllogismen. Sie untersucht, unter welchen Bedingungen syllogistische Schlüsse gültig sind. Die Struktur eines Syllogismus ist dreiteilig: jeweils zwei Prämissen als Voraussetzungen, die als Obersatz und Untersatz bezeichnet werden, ergeben eine gültige oder ungültige Konklusion, d.h. die Schlussfolgerung. [WS]
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sein als die Konklusion, und müssen ihr gegenüber ferner vorrangig sein (‚Zweite Analytik‘ 71b 21–22). Erste Prinzipien sind grundlegend und unmittelbar, wenn sie selbst nicht demonstrierbar sind. Dennoch sind solche Prinzipien immer Teil des Wissens. Tatsächlich sind sie besser bekannt als die aus ihnen demonstrierte Schlussfolgerung, wobei dies eine Behauptung ist, die entweder bedeutet, dass die ersten Prinzipien uns vertrauter sind als die Schlussfolgerungen daraus, oder dass sie gewisser sind als jene. Von den ersten Prinzipien heißt es auch, dass sie erkenntnistheoretischen Vorrang vor den Konklusionen haben: Das Wissen der Konklusion erfordert das Wissen der ersten Prinzipien, jedoch nicht umgekehrt. Und die ersten Prinzipien tragen die Beweislast, warum die demonstrierte Konklusion wahr ist. Die Wissenschaft kann ausgeweitet werden, indem man Theoreme, die von ersten Prinzipien abgeleitet wurden, als Prämissen weiterer demonstrativer Syllogismen einsetzt. Auch hier müssen die Prämissen die Wahrheit der Konklusion beweisen. Eine Wissenschaft ist die Summe aller dieser Theoreme, die entweder aus ersten Prinzipien oder von bereits demonstrierten Theoremen in geeigneten Syllogismen abgeleitet wurden. Und eine Person, die alle diese Syllogismen mit dem erforderlichen Verständnis durchführt, hat Wissen aller dieser Theoreme. Die ersten Prinzipien sind jedoch Teil des Wissens, obwohl sie nicht als Theoreme bewiesen wurden. An diesem Punkt bringt Aristoteles ein Argument ins Spiel, das man als die erste Behauptung eines Regressarguments zugunsten einer Art von Letztbegründungsposition verstehen kann (siehe Letztbegründungstheorie). Mancher wird vielleicht einwenden, dass sogar die ersten Prinzipien demonstriert werden müssen, wenn sie zum Wissen zählen sollen. Dies würde jedoch in einen infiniten Regress führen, da diese ersten Prinzipien selbst Schlüsse aus Syllogismen wären, deren Prämissen wieder andere erste Prinzipien sind, und die, um als Wissen zu gelten, erneut bewiesen werden müssten etc. Um dies zu vermeiden, müsste entweder eine zirkuläre Beweisführung zugelassen werden, oder man müsste zugeben, dass die ersten Prinzipien selbst gar kein Wissen sind, sondern einfache Annahmen. Aristoteles verwirft alle diese Möglichkeiten zugunsten der Letztbegründungsperspektive, nach der die ersten Prinzipien als Wissen zu gelten haben, selbst wenn sie nicht demonstrierbar sind. Er meint, dass man eine unmittelbare, intuitive Auffassung von den ersten Prinzipien hat. Seine Fassung der Letztbegründungstheorie muss jedoch von den weiter unten besprochenen unterschieden werden, denn seine Grundlegungen gehen von den Fundamentalprinzipien besonderer Wissenschaften aus. In De Anima diskutiert Aristoteles die Wahrnehmung und das Wahrnehmungswissen. Bezüglich der wahrnehmbaren Gegenstände unterscheidet er zwischen eigentlichen und allgemeinen Gegenständen der Wahrnehmung. Allgemeine Gegenstände der Wahrnehmung sind solche, die durch mehr als einen Sinn wahrnehmbar sind, wie beispielsweise eine Kiste, die man sowohl sehen, als auch anfassen kann. Eigentliche Gegenstände der Wahrnehmung sind solche, die nur durch einen einzigen Sinn wahrgenommen werden können; beispielsweise ist Farbe etwas, was nur visuell wahrnehmbar ist. Hinsichtlich dieser eigentlichen Gegenstände sagt Aristoteles, dass man sich darüber nicht irren und auch nicht getäuscht werden kann (‚De Anima‘, 418a 9–13; 428b 17–21). Wenn also eine Person eine weiße Katze sieht, dann kann sie sich darin täuschen, ob dies überhaupt eine Katze ist, sie kann sich aber nicht darin irren, dass sie dort etwas Weißes sieht. Dasselbe gilt für Wahrnehmungs382
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gegenstände anderer Sinne. Wenn wir nun annehmen, was auch Aristoteles getan zu haben scheint, dass die Unmöglichkeit einer Täuschung über X hinreicht, um Wissen von X zu haben, dann kommen wir zu dem Schluss, dass wir ein bestimmtes Wahrnehmungswissen über die eigentlichen Gegenstände eines jeden Sinnes haben. Unklar ist hier, ob Aristoteles meinte, dass jemand über die wirklichen Qualitäten physischer Gegenstände, wie beispielsweise ihre Farbe, nicht im Irrtum sein kann, oder nur über die an dem jeweiligen Gegenstand wahrgenommenen Qualitäten. Offensichtlich ist Ersteres weniger plausibel als Letzteres (siehe Aristoteles, § 6). 2. Hellenistische Philosophie Die hellenistische Phase der Philosophie umfasst mehrere Jahrhunderte nach Aristoteles’ Tod (322 v. Chr.). Sie ist bekannt für ihre drei philosophischen Schulen: den Epikureismus, den Stoizismus und den Skeptizismus. Die skeptische Tradition setzte sich noch bis in das 2. nachchristliche Jahrhundert fort. Die epikureische Schule unterstützte einen sogar noch tiefgründigeren Empirismus, als wir ihn bei Aristoteles finden. Er ist bekannt geworden wegen seiner Lehre, dass alle Wahrnehmungen wahr sind. Während der Wahrnehmung, so sagt Epikur, werden dünne Filme oder Lagen von Atomen von externen physischen Gegenständen ausgesandt (die sog. eídōla) und erreichen unsere Sinne, die sie passiv aufnehmen und genau so, wie sie ankommen, auch registrieren. Dies ist aber per se gerade kein Wissen von den externen Ursachen unserer Erfahrungen der eídōla. Um dies zu erlangen, müssen wir gut begründete Schlüsse auf die Existenz und das Wesen dieser externen Gegenstände ziehen. Epikur meint allerdings, dass diese Schlüsse, die zweifellos kausaler Art wären, legitimerweise gezogen werden können, und dass es folglich echtes Wahrnehmungswissen physischer Gegenstände gibt. Die Tatsache, dass diese Schlüsse bei genauer Betrachtung sich als unzureichend erweisen könnten, beachtete er nicht weiter, wahrscheinlich weil er nicht dachte, dass die Entkräftung skeptischer Einwände ein notwendiges Unternehmen innerhalb der Erkenntnistheorie sei (siehe Epikureismus). Die stoische Position ist dagegen deutlich weniger optimistisch. Ihr zentraler Begriff ist jener des kognitiven Eindrucks. Unter normalen Bedingungen erscheint ein roter Gegenstand als rot, und jemand denkt daraufhin (d.h. hat den kognitiven Eindruck) ‚Dies ist rot‘. Ein solcher kognitiver Eindruck, so meinten die Stoiker, kann nur wahr sein. Es handelt sich dabei allerdings an sich selbst um kein Wissen des roten Gegenstandes, denn die Person mag diesem Eindruck gar nicht zustimmen. Wissen von etwas hat man nur, wenn man einem kognitiven Eindruck zustimmt und diese Zustimmung fest ist, d.h. von einer Art ist, dass man denjenigen, der sie äußert, nicht dazu bringen kann, sie wieder aufzugeben. Normale Menschen schaffen es nicht, eine dergestalt feste Zustimmungshaltung zu einem kognitiven Eindruck einzunehmen und haben deshalb in Wirklichkeit nur Meinungen über Gegenstände. Nur die weisen Menschen sind typischerweise zu einer solchen festen Zustimmung zu lediglich kognitiven Eindrücken imstande; deshalb erlangen nur die weisen Menschen Wissen von solchen Gegenständen (siehe Stoizismus). Indem sie das Wissen auf diese Weise eingrenzt, ist die stoische Position wirklich gegen die skeptische Lehre gefeit. Die beiden Schulen des antiken Skeptizismus, d.h. die akademische und die pyrrhonische, unterschieden sich diesbezüglich beachtlich, und jede entwickelte sich über beinahe fünf Jahrhunderte bis zu Sex383
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tus Empiricus im späten zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Ein gemeinsames Merkmal beider Schulen ist allerdings ihr Angriff auf bestimmte Formen von Wissensbehauptungen. Hinsichtlich jedes Arguments für einen Schluss, das über die sinnlich wahrgenommene Erscheinung hinausgeht, meinten die Skeptiker ein Gegenargument präsentieren zu können, das genauso stark sei wie das erstere. Andere skeptische Argumente weisen auf die Relativität aller Wahrnehmung hin, die von Veränderungen beim Wahrnehmenden oder von den Beobachtungsbedingungen bzw. -perspektiven abhängen. Sie schließen daraus, dass wir von externen physischen Gegenständen überhaupt kein Wissen durch die Wahrnehmung erlangen. Wenn man sich auf ein Kriterium für den Wissenserwerb verlässt, wie beispielsweise die Wahrnehmung oder kausal-induktive Schlüsse bei Epikur, so könnte dieses Kriterium ferner insofern selbst in Zweifel gezogen werden, als es womöglich gar nicht die erwartete Verlässlichkeit aufweist. Diese skeptischen Argumente wurden eigentlich eingesetzt, um damit die Aufhebung einer Überzeugung (epochē) zu bewirken, und nicht zu der Behauptung, dass es gar kein Wissen gibt. Darüber hinaus wiesen die pyrrhonischen Skeptiker darauf hin, dass das letzte Ziel ihrer Argumente ein außer-erkenntnistheoretisches sei, nämlich das der ataraxía, d.h. der ‚Ungestörtheit‘. Von diesem Ruhezustand nahmen sie an, dass er erreichbar sei, sobald die Überzeugungen aufgehoben sind und jemand zufrieden damit ist, sein Leben damit zuzubringen, sich nur mit den Erscheinungen abzugeben (siehe Pyrrhonismus; Sextus empiricus). Der Skeptizismus wurde im Frühmittelalter durch Augustinus in seinem Werk ‚Contra Academicos‘ herausgefordert, in dem er kritisch auf die Argumente Ciceros als den letzten der großen akademischen Skeptiker einging (siehe Augustinus; Cicero, M.T.). Ansonsten war der Skeptizismus im Mittelalter aber kein größeres Problem und erfuhr daher bis zum Beginn der Renaissance auch keine besondere philosophische Aufmerksamkeit. 3. Mittelalterliche Philosophie Die mittelalterliche Philosophie kümmerte sich hauptsächlich um Fragen der Metaphysik, der Logik und der natürlichen Theologie, weniger dagegen um erkenntnistheoretische Themen. Thomas von Aquin und William von Ockham waren allerdings zwei Denker, für die erkenntnistheoretische Fragen sehr interessant und auch sehr wichtig waren. Thomas folgte in vielen Fragen dicht der aristotelischen Position, einschließlich der Darstellung Aristoteles’ vom wissenschaftlichen Wissen (siehe oben § 1). Daher ist die scientia oder das echte wissenschaftliche Wissen auf Aussagen beschränkt, die in demonstrativen Syllogismen bewiesen sind, deren Prämissen wiederum selbst zum Wissen zählen. Und wie Aristoteles meint auch Thomas, dass diese Darstellung der scientia in einigen demonstrativen Syllogismen erste Prinzipien als Prämissen voraussetzt, die per se gewusst werden, d.h. unmittelbar und ohne Schluss. Dass es solche ersten Prinzipien geben muss, wird von ihm durch die Tatsache gezeigt, dass wir bezüglich der Gegenstände des Wissens andernfalls mit einem unendlichen Regress oder mit einem Schlusszirkel konfrontiert wären. Ersteres kommt nicht in Betracht, da niemand zu einer unendlichen Anzahl von Schlüssen imstande ist, und der Zirkelschluss, bei dem jemand p auf der Grundlage von q, und gleichzeitig q auf der Grundlage von p weiß, wird verworfen, weil er zur Folge hätte, dass eine 384
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bestimmte Aussage p erkenntnistheoretisch sowohl vor-, als auch nachrangig zu q stehen kann. Sowohl für Thomas, als auch schon für Aristoteles, genießen die Prämissen eines Syllogismus epistemischen Vorrang vor ihren Konklusionen in dem Sinne, dass jemand die Konklusion nicht wissen kann, ohne zunächst die Prämissen zu kennen, und nicht umgekehrt. Erste Prinzipien demonstrativer Syllogismen sind für Thomas notwendige Wahrheiten, d.h. Aussagen, in denen es eine notwendige Verbindung zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat gibt. Um ein erstes Prinzip zu verstehen oder zu wissen, ist folglich erforderlich, dass jemand diese notwendige Verbindung begreift. Um dies zu erreichen, muss jemand zunächst die allgemeinen Begriffe verstehen, die durch den Subjekt- und den Prädikatausdruck ausgesagt werden. Folglich stellt Thomas dar, wie man sich solche Begriffe aneignen kann. Um dies zu erreichen muss man die erkennbare Art oder Form von Gegenständen von ihrem Sinneseindruck, den man durch ihre Wahrnehmung erhalten hat, abstrahieren. Schlussendlich hängt das Wissen der ersten Prinzipien von der Wahrnehmung ab, obwohl es erkenntnistheoretisch nicht auf der Wahrnehmung basiert. William von Ockham vollzieht dann einen interessanten Bruch gegenüber der thomistischen Konzeption des Wissens. Ein Teil dieses Bruchs betrifft den Umstand, dass Ockham auch die kontingenten Wahrheiten als Wissen zulässt, und das Wissen damit nicht nur auf die notwendigen Wahrheiten beschränkt. Ein weiterer Unterschied betrifft die Wahrnehmung. Thomas meinte, dass man in der Wahrnehmung die Erfahrung eines Bildes oder auch einer geistigen Bilderscheinung macht, von der man im Wege gewisser kognitiver Mechanismen (die er als ‚intellektuellen Akteur‘ bezeichnete) die intelligible Spezies oder Form des wahrgenommenen Gegenstandes abstrahiert. Durch diesen abstrahierten Gegenstand weiß man bestimmte universelle Merkmale des wahrgenommenen Gegenstandes (siehe Thomas von Aquin, § 11). Ockham ist mit dieser Auffassung in mehrfacher Hinsicht nicht einverstanden. Für ihn gibt es bei der Wahrnehmung eines externen physischen Gegenstandes keine vermittelnde Instanz wie ‚geistige Bilderscheinungen‘ oder Arten von Wahrnehmungsdaten. Stattdessen wird der Gegenstand selbst direkt wahrgenommen, und Ockham betrachtet diese Erfahrung als eine intuitive Kognition. In dieser Hinsicht rückt Ockhams Darstellung in die Nähe des direkten Wahrnehmungsrealismus. Er vertritt den direkten erkenntnistheoretischen Realismus aber auch, wenn er meint, dass die direkte visuelle Bewusstheit externer Gegenstände genüge, um unmittelbares und sicheres Wissen ihrer Existenz und einiger ihrer Eigenschaften zu erlangen. In dieser Hinsicht ‚weiß man den einzelnen Gegenstand‘, und nicht irgendeine Universalie; und den Aussagegehalt, den jemand durch Wahrnehmungen lernt, ist eine kontingente Wahrheit. So mag jemand durch die Wahrnehmung eines roten Kartons lernen, dass er einen roten Karton vor sich hat. Aber selbst in diese Auffassung können skeptische Einwände eindringen. Jemand könnte einen roten Karton wahrnehmen und sich in der daraus ergebenden Bedeutung dennoch irren. Man könnte deshalb einwenden, dass die Herausbildung einer Überzeugung als Ergebnis der Erfahrung des Sehens eines roten Kartons für den Erwerb von Wissen nicht genügt. Ockham ist sich dieses Einwandes wohl bewusst, er hat allerdings eine zweiteilige Antwort darauf. Erstens stellt er fest, dass die reine Möglichkeit einer irrtümlichen Überzeugung den Wissenserwerb nicht ausschließt. Er stellt ferner fest, dass die Parallelisierung des Begriffs der Gewissheit mit dem 385
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der Unmöglichkeit der irrtümlichen Überzeugung selbst ein Irrtum ist. Gewissheit erfordere, so sagt er, nur die Abwesenheit von echtem Zweifel oder Gründen für einen solchen. Gewissheit dieser schwächeren Art sei alles, so meint er, was für den Wissenserwerb notwendig ist (siehe William von Ockham). Dies stellt einen entscheidenden Bruch mit vorangehenden Auffassungen dar, sowohl hinsichtlich des Begriffs der Gewissheit, als auch hinsichtlich der Beziehung dieses Begriffs zu jenem des Wissens. Abgesehen von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen wurden diese Vorstellungen jedoch erst wesentlich später von anderen aufgegriffen. 4. Moderne Philosophie: Descartes Es ist üblich, die Erzählung der modernen Philosophie mit Descartes zu beginnen. Wir müssen jedoch etwas früher ansetzen, und zwar mit einer Diskussion des Skeptizismus. Wir sagten bereits, dass der antike Skeptizismus im Mittelalter kaum bekannt war. Im 16. Jahrhundert wurden aber die alten skeptischen Texte des Cicero erneut veröffentlicht, und die Werke des Sextus Empiricus wurden ins Lateinische übersetzt und damit den Gelehrten zugänglich. Diese Texte und ihre Argumente wurden für beide Seiten des Disputs über die Legitimität und den Umfang religiösen Wissens sehr wichtig, der im Zuge der Reformation und der Gegenreformation hoch kam. Unter dem direkten Einfluss von Sextus Empiricus veröffentlichte Montaigne seine ‚Apologie für Raimond Sebond‘ von 1576, in der er skeptische Argumente entwickelte und die Aufhebung der Überzeugung in praktisch allen Bereichen empfahl. Sein Schüler, Pierre Charron, machte die skeptischen Lehren sogar noch populärer. Dieses skeptische Klima in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war Descartes wohl bekannt. Noch später sollte das ‚Dictionnaire historique‘ des Pierre Bayle, das eine Reihe skeptischer Einträge enthielt, einen großen Einfluss auf Berkeley und Hume haben (siehe Bayle, P.). Descartes war sich der skeptischen Schriften und Debatten seiner Zeit gründlich bewusst, und ebenso der Entwicklung der skeptischen Literatur seit Montaigne. Descartes selbst war allerdings kein Skeptiker. Im Gegenteil, er erwies sich als jemand, der den Skeptizimus auf seine eigene Weise schlug, indem er ein Wissen ausfindig machte, dass vollständig gewiss ist und daher immun gegen die skeptische Kritik. Um dies zu erreichen setzt Descartes die Methode des Zweifels ein, wobei eine Aussage als falsch angesehen wird, sofern es nur den leisesten, möglichen Grund für einen Zweifel an ihr gibt. Ganze Klassen von Aussagen fallen damit als NichtWissen heraus. Alles, was jemand auf der Grundlage von Sinneserfahrungen meint, ist nach diesem Kriterium zweifelhaft und deshalb kein Wissen. Es gibt viele Aussagen der Wissenschaft, die damit ebenfalls als zweifelhaft zu qualifizieren wären, und dies ist eben nicht bei den Gegenständen des Wissens der Fall. Tatsächlich ist es möglich, so meint Descartes, dass ein böser Dämon uns in allem systematisch täuscht, sogar im Hinblick auf die notwendigen Wahrheiten der Mathematik. Wenn ein solcher Dämon auch nur möglich ist, dann gibt es zumindest die Möglichkeit von Gründen für den Zweifel, und somit würde praktisch gar nichts mehr als Wissen Geltung behalten. Descartes behauptet jedoch, dass ein solcher Dämon ihn in einem Punkt nicht täuschen kann, nämlich darin, dass er, Descartes, von sich selbst bemerkt, dass er denkt. Selbst wenn der Inhalt seiner Gedanken dem Zweifel verfällt, so muss er 386
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doch als etwas Denkendes existieren. Deshalb behauptet er als Gewissheit ‚cogito, ergo sum‘ – ‚ich denke, also bin ich‘. Dies ist ein Punkt, über den er nicht getäuscht werden kann, und folglich ist dieser Punkt für Descartes unzweifelhaft oder gewiss, d.h. ein gesicherter Fall von Wissen. Descartes erkenntnistheoretisches Projekt untersucht daraufhin, ob irgendein weiteres echtes Wissen von dieser sehr dürren Basis abgeleitet werden kann. Zunächst findet er ein Kriterium für die Gewissheit: solche Gedanken oder Vorstellungen, die klar und bestimmt sind, sind ebenfalls wahr. Tatsächlich meint er, dass die Klarheit und Bestimmtheit eines Gedankens oder einer Vorstellung ausreichen um sich ihrer Wahrheit zu versichern. Indem Descartes dieses Kriterium zusammen mit dem Wissen, das er existiert, verwendet, konstruiert er ein komplexes kausales Argument für die Existenz von Gott. Die Klarheit und Bestimmtheit des Gedankens, dass Gott kein Betrüger ist, und dass Gott nicht zulassen würde, dass die totale Täuschung ins Werk gesetzt wird, wird dann zur Ableitung von Aussagen eingesetzt, die zunächst durch die Methode als zweifelhaft ausgeschlossen waren. Besonders wichtig sind hier Aussagen über die Existenz externer physischer Gegenstände. Descartes’ Letztbegründungsprojekt ist folglich eines der kargen Art. Für ihn sind die Letztbegründungen auf die Aussagen beschränkt, dass er selbst existiert, dass er gewisse Vorstellungen hat, und dass Gott existiert. Von hier aus kann die Grundlegung unter Einsatz des Kriteriums der Klarheit und Bestimmtheit so erweitert werden, dass es Aussagen über die unmittelbar erfahrenen Sinneseindrücke einschließt. Die Ableitungen weiterer Aussagen aus diesen grundlegenden müssen jedoch auf solche beschränkt werden, die selbst als klar und bestimmt angesehen werden können. Sobald die Ableitungen induktiver Art sind, gäbe es wieder Gründe für den Zweifel daran, dass die Schlussfolgerungen möglich sind. Und selbst wenn die Ableitungen deduktiv sind, gäbe es doch, wenn man nicht nachvollziehen kann, dass sie in jedem Einzelfall gültig auf unzweifelhaften Prämissen beruhen, wieder Gründe zum Zweifel an diesen Schlussfolgerungen. Nur wenn alle Möglichkeiten solcher Gründe eliminiert werden, können diese abgeleiteten Schlussfolgerungen als Gegenstände des Wissens gelten. Descartes verewigt und betont sogar auf diese Weise die enge begriffliche Verbindung zwischen dem Wissen und der striktesten Art von Gewissheit. Er bringt damit auch das Problem der externen Welt auf, d.h. das Problem abgeleiteter Aussagen betreffend externe physische Objekte von grundlegenden Aussagen, die weitgehend auf Aussagen über Sinneswahrnehmungen beruhen. Natürlich hat Descartes Aussagen über den nicht-betrügerischen Gott in seiner Grundlegung, was ihn von anderen Autoren unterscheidet, die sich später mit diesem Problem beschäftigten. Auf diese Weise gewappnet beansprucht Descartes in der sechsten Meditation, er könne die generelle Behauptung ableiten, es gäbe externe physische Gegenstände, und diese hätten bestenfalls so genannte primäre Qualitäten. Aber selbst wenn die Behauptungen als Wissen gelten, so dass der Skeptizismus in gewissem Umfang besiegt wird, scheint es doch nicht, dass Descartes das Wissen individueller Aussagen über physische Gegenstände und ihre Qualitäten gesichert hat. Denn er gibt zu, dass im Hinblick darauf der Irrtum noch unter den besten Umständen möglich ist, d.h. selbst mit Gottes Hilfe (siehe Descartes, R., §§ 3–5).
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5. Moderne Philosophie: Spinoza und Leibniz Es ist üblich, Spinoza und Leibniz zusammen mit Descartes als Rationalisten einzuordnen. In der Erkenntnistheorie ist der Rationalismus jene Auffassung, die die Rolle der Vernunft beim Wissenserwerb betont, und entsprechend wird dort die Rolle der Erfahrung oder Beobachtung heruntergespielt. Ein Grenzfall des Rationalismus wäre folglich jene Position, die behauptete, dass nur die Vernunft beim Erwerb von Wissen wirksam ist. Vielleicht war es Spinoza, der einer rationalistischen Position dieser Art am nächsten kam (siehe Rationalismus). Für Spinoza ist eine wahre Vorstellung [Idee] eine solche, die mit ihren Gegenständen übereinstimmen muss (‚Ethik‘ I, dx. 6). Eine angemessene Vorstellung ist eine solche, die an sicht selbst betrachtet ein internes Zeichen oder ein inneres Kennzeichen einer wahren Vorstellung aufweist (‚Ethik‘ II, def. 4). Eine angemessene Vorstellung zu haben genügt dann zu ihrer Anerkennung als wahr. Es gibt folglich keinen Bedarf an einem Kriterium der Klarheit und Bestimmtheit zur Bestimmung, welche Vorstellungen wahr sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Spinoza scharf von Descartes. Spinoza unterscheidet drei Stufen des Wissens. Die erste ist jene, die wir durch die Sinneserfahrung erhalten bzw. jene, die er ‚Zeichen‘ nennt, als wenn das Sehen von gedruckten Worten einen dazu veranlasst, sich an etwas zu erinnern. Die Erkenntnis auf dieser ersten Stufe ist im strikten Sinne allerdings noch keine Erkenntnis, sondern eher Meinung oder Imagination. Die Erkenntnis zweiter Stufe bzw. der Verstand (ratio) ist das Wissen von den Eigenschaften der Gegenstände und der Beziehungen zwischen ihren Eigenschaften. Die Erkenntnis dritter Stufe ist intuitive Wissenschaft, die, wie Spinoza sagt, „von der vollentsprechenden [adäquaten] Idee des wirklichen Wesens gewisser Attribute Gottes zur vollentsprechenden Erkenntnis des Wesens dieser Dinge fortschreitet.“ Die Erkenntnis dritter Stufe schreitet von einem Gegenstand zum nächsten in dem Sinne fort, dass eine Person, die eine vollentsprechende Vorstellung vom wirklichen Wesen eines der göttlichen Attribute hat, daraus logisch auf eine vollentsprechende Erkenntnis des Wesens der Dinge schließen kann. Eine Erkenntnis ist vollentsprechend [adäquat], wenn jemand lediglich von der vollentsprechenden Idee von x (zweite Stufe) auf irgendeine allgemeine Wahrheit über x’s Wirkungen (dritte Stufe) schließen kann. Deshalb kann man von der vollentsprechenden Idee eines Körpers auf der zweiten Stufe schließen, dass alle Körper bewegungsfähig sind, und deshalb ist das Wissen dieser Aussage vollentsprechend. Und von der vollentsprechenden Idee von dem Wesen eines göttlichen Attributs kann man auf das Wesen der Natur von Gegenständen schließen, und folglich ist die Aussage betreffend das Wesen der Gegenstände eine vollentsprechende Erkenntnis. Spinoza meinte sicherlich, dass wir vollentsprechende Ideen und deshalb auch Erkenntnisse haben (‚Ethik‘ II, prop. XXXIV). Und er meinte, dass die propositionalen Erkenntnisse auf der zweiten und dritten Stufe notwendig wahr sind (‚Ethik‘, XLI). Es ergibt sich hieraus, dass Spinoza der Auffassung verpflichtet war, Erkenntnisse der zweiten und dritten Stufe seien apriorischer Natur, d.h. Erkenntnisse, die sich nicht auf Erfahrung stützen müssen, und in dieser Hinsicht ist er als Rationalist einzustufen (siehe Spinoza, B. de, §§ 7–8). Leibniz, der andere große Philosoph, der üblicherweise als Rationalist eingeordnet wird, entwickelte keinen systematischen Standpunkt in der Erkenntnisthe388
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orie. Seine Einstufung als Rationalist folgt zweifelsohne aus zwei wichtigen Aspekten seines Denkens. Für einfache Subjekt-Prädikat-Aussagen, die für Leibniz grundlegend sind, schlug er das ‚Prinzip des Prädikats in der Vorstellung‘ vor. Dies ist die These, dass der Begriff des Prädikats in einer solchen Aussage im Begriff des Subjekts enthalten ist. Dieses Prinzip scheint zu implizieren, dass alle SubjektPrädikat-Aussagen notwendig wahr sind. Denn die Lehre vom begrifflichen Enthalten führt zu der Behauptung, dass solche Aussagen kraft ihrer Bedeutungen oder eben begrifflich wahr sind. Dies führt wiederum zu dem zweifachen Ergebnis, dass Wahrheit notwendig wahr ist, da Subjekt-Prädikat-Aussagen grundlegend sind; und ferner dazu, dass alle Erkenntnis a priori wahr ist oder sein kann, letzteres unter der Annahme, dass, wenn eine Aussage eine notwendige Wahrheit ist, sie auch a priori erkennbar ist. Wenn Leibniz dieser Auffassung war, so wäre sein Status als Rationalist gesichert. Leibniz bemühte sich, diese Konsequenzen im Wege einer Analyse abzuwehren. Er meinte, dass in einer notwendigen Aussage das Merkmal des begrifflichen Enthaltenseins es erlaubt, diese Aussage in einer endlichen Schrittfolge auf eine Identitätsaussage hin zu analysieren oder zu reduzieren. Kontingente Wahrheiten können jedoch nicht auf diese Weise analysiert werden, d.h. auch dann nicht, wenn die These des begrifflichen Enthaltenseins gilt. Stattdessen würden solche Aussagen in diesem Falle in einer endlichen Folge analytischer Schritte auf eine Identitätsaussage hinauslaufen. (Leibniz selbst meinte manchmal, dass solche Aussagen durch Gott in Identitätsaussagen zerlegt werden könnten.) Es sind also nicht alle Wahrheiten notwendiger Art, und folglich ist auch nicht alle unsere Erkenntnis apriorischer Natur. Trotzdem gibt es einen streng rationalistischen Zug bei Leibniz, der sich in der zweiten großen Linie seines Denkens zeigt, nämlich seine Verteidigung der angeborenen Wahrheiten. In einem Disput mit Locke behauptete Leibniz, dass es zahlreiche angeborene Begriffe und Prinzipien der reinen Mathematik, der Logik, der Metaphysik und der Ethik gebe. Diese angeborenen Wahrheiten seien allesamt notwendige Wahrheiten, und sie seien alle a priori erkennbar. Die Sinne, so Leibniz, fungierten lediglich als die Gelegenheiten, durch die diese Wahrheiten ins Bewusstsein gebracht werden (siehe Leibniz, G.W. §§ 8–9). 6. Moderne Philosophie: Locke und Berkeley Locke steht in starkem Gegensatz sowohl zu Spinoza, als auch zu Leibniz. Für Locke sind die grundlegenden Elemente allen Erkennens die Vorstellungen (ideas), die sich in solche der Wahrnehmung und solche der Reflexion teilen. Erstere werden durch die Sinnesorgane erworben, letztere durch die introspektive Aufmerksamkeit gegenüber den Inhalten und den Abläufen des eigenen Geistes. Wahrnehmung und Reflexion ergeben zusammen nach Locke die Erfahrung, und die grundlegende empiristische These lautet, dass alle Vorstellungen und alle Erkenntnis von der Erfahrung abgeleitet sind. Es folgt aus einem dergestalt konstruierten Empirismus, dass keine Vorstellungen angeboren sind. Für Locke ist der Geist im Moment der Geburt ein ‚reiner Tisch‘, und nur durch die Erfahrung erwirbt er einen Vorrat an Vorstellungen. In seinem ‚An Essay concerning Human Understanding‘ (‚Über den menschlichen Verstand‘) definiert Locke die Erkenntnis als die Wahrnehmung der Über389
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einstimmung oder der Nicht-Übereinstimmung zweier Vorstellungen (1689: IV, I, 1 und 5). Diese Definition hat die unmittelbare Wirkung einer Beschränkung aller Erkenntnis auf Vorstellungen, was Locke anerkennt und offenbar akzeptiert (1689: IV, II 1). Dies scheint ferner zur Folge zu haben, dass die Erkenntnis auf die Beziehung zwischen Vorstellungen beschränkt ist. Die Definition und die Beschränkung passen gut zu dem meisten, was Locke über die Erkenntnis sagt. Intuitive Erkenntnis ist die Wahrnehmung der Übereinstimmung oder NichtÜbereinstimmung zwischen zwei Ideen, die uns „von sich aus unmittelbar, ohne das Eingreifen von irgendetwas anderem“ vorstellig werden (‚Essay‘ [1689]: IV, II, 1). Dass die Wahrnehmung von etwas Weißem nicht dasselbe wie jene von etwas Schwarzem ist, ist beispielsweise unmittelbar und erfordert keine vermittelnde Vorstellung zwischen der vom Weißen und der vom Schwarzen. Intuitive Erkenntnis ist für Locke die gewisseste; sie kann nicht zurückgewiesen werden und ist unfehlbar. Locke scheint seine Definition der Erkenntnis jedoch in drei wichtigen Fällen aufzugeben, und in zweien dieser Fälle geht es dabei um die intuitive Erkenntnis. Man hat beispielsweise eine intuitive Erkenntnis individueller Vorstellungen, so wie wenn jemand weiß, dass irgendein Schmerz sehr scharf ist (‚Essay‘ IV, II, 1). Locke meint ferner, dass man ein intuitives Wissen seiner selbst hat. In einem solchen Fall ist das Selbstwissen, selbst wenn sich dabei eine Vorstellung von der Reflexion ergibt, keine Wahrnehmung einer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zweier Vorstellungen. Vielmehr ist es Wissen über das Selbst, was keine Vorstellung von einer Gruppe von Vorstellungen ist. In diesem Fall weicht Locke nicht nur von seiner Definition, sondern auch von seiner expliziten Behauptung über den Umfang unserer Erkenntnis ab. Demonstrative Erkenntnis setzt nach Locke voraus, dass jeder Schritt der Demonstration intuitiv erkannt wird, und dass die Beziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion ebenfalls intuitiv erkannt wird. Eine Erfüllung dieser Einschränkungen des demonstrativen Wissens sichert, dass es praktisch so gewiss ist wie die intuitive Erkenntnis. Die Erfüllung dieser Bedingungen ist jedoch nicht einfach, speziell nicht in langen Demonstrationen, wo man sich die zuvor vollzogenen Schlüsse merken muss. In diesen Fällen, so Locke, fällt der Grad der Gewissheit im Hinblick auf die Konklusion ab, so dass man hier nicht mehr von demonstrativem Wissen im eigentlichen Sinne sprechen kann. Lockes Darstellung der Wahrnehmungserkenntnis kennzeichnet einen dritten Punkt, an dem er von seiner offiziellen Definition der Erkenntnis und der Beschränkung der Erkenntnis auf unsere Vorstellungen abzuweichen scheint. Wahrnehmungserkenntnis ist Wissen über die Existenz externer physischer Gegenstände. Sie ist nicht so gewiss wie die intuitive Erkenntnis, aber sie ist immer noch Erkenntnis. Und Locke ist ganz klar der Auffassung, dass wir solches Wissen haben, zumindest in jenen Fällen, wo der externe physische Gegenstand wirklich unseren Sinnen anwesend ist (‚Essay‘ IV, III, 5). Locke stellt die Wahrnehmungserkenntnis von gegenwärtig wahrgenommenen physischen Gegenständen als Schlusserkenntnis dar. Aus der Erkenntnis gegenwärtig erfahrener Vorstellungen schließt man, dass es externe physische Gegenstände gibt, die als Ursache solcher Vorstellungen gegenwärtig sind. Locke hat keine Schwierigkeiten mit skeptischen Einwänden der Art, ob solche Schlüsse legitim sind.
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Die Unterscheidung zwischen intuitiver und gewisser Erkenntnis von Vorstellungen einerseits und Wahrnehmungserkenntnis physischer Gegenstände andererseits, wobei letztere Erkenntnisart induktiv auf der ersteren aufbaut, ist ein Kennzeichen der letztbegründenden Position Lockes. Sie weicht jedoch von derjenigen Descartes in zwei wichtigen Punkten ab. Erstens betrifft dies jene Sätze, die bewirken, dass die Letztbegründungen sich überhaupt unterscheiden. Für Locke sind diese Sätze auf Aussagen über individuell erfahrene Vorstellungen beschränkt, oder auf Aussagen, die eine wahrgenommene Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zwischen Vorstellungen beschreiben. Daher diktiert Lockes Verbindlichkeit gegenüber dem Empirismus ihm, wie die Letztbegründungen auszusehen haben. Ein weiterer Unterschied liegt in den Schlüssen von den letztbegründenden Aussagen, die Locke akzeptabel findet. Er erlaubt sowohl deduktive, als auch induktive Schlüsse, während für Descartes nur deduktive Schlüsse zulässig sind. Locke kennzeichnet daher eine Liberalisierung der letztbegründenden Einschränkungen, die von Descartes gesetzt worden waren (siehe Locke, J. §§ 2–3). Berkeley kritisierte Lockes Darstellung der Erkenntnis physischer Gegenstände, genauso wie Hume (obwohl Hume, anders als Berkeley, Locke nicht namentlich erwähnte). Locke bemerkte, dass induktive Schlüsse von gerade erfahrenen Vorstellungen auf physische Gegenstände nur dann Erfolg haben werden, wenn es eine Konformität zwischen den Vorstellungen und den physischen Gegenständen gibt (‚Essay‘ IV, IV, 3). Das heißt, Vorstellungen müssen die physischen Gegenstände auf irgendeine Weise repräsentieren. Berkeley leugnet, dass Vorstellungen diese Rolle spielen können. Eine Vorstellung, so sagt er, kann nur einer anderen Vorstellung gleich oder ähnlich sein, nicht dagegen einem physischen Gegenstand. Darüber hinaus hängt der benötigte induktive Schluss, selbst wenn man diese Ähnlichkeit zuließe, davon ab und erfordert die Feststellung, dass gewisse Vorstellungen auf vollentsprechende, d.h. angemessene Weise diese Aufgabe auch wirklich erfüllen. Um dies zu erfüllen, so argumentiert Berkeley, muss man imstande sein, eine Vorstellung und ‚ihren‘ physischen Gegenstand miteinander zu vergleichen. Dies ist jedoch eine Position, wie Berkeley feststellt, die man nach Lockes Darstellung der Wahrnehmung gar nicht einnehmen kann, weil sie sich auf die unmittelbare Wahrnehmung von Vorstellungen beschränkt und deshalb eine unmittelbare Wahrnehmung physischer Gegenstände gar nicht zulässt. Lockes gesamte Theorie führt nach Berkeley in der Tat in den Skeptizismus bezüglich der physischen Gegenstände. Um dies zu vermeiden könnte Locke die Forderung fallen lassen, dass aktuell wahrgenommene Vorstellungen mit Gegenständen übereinstimmen oder sie repräsentieren. Berkeley legt jedoch nahe, dass dieses Manöver nicht hilft, weil Lockes Theorie immer noch der induktiven Schlüsse von den Vorstellungen auf physische Gegenstände bedarf. Er stellt nämlich fest, dass die Schlüsse, um die es hier geht, explanatorischer Natur seien, wohinter die Annahme stünde, dass die Anwesenheit physischer Gegenstände kausal die Vorstellungen erklärten, die jemand hat, gleichzeitig aber geleugnet würde, dass diese zwingend seien (‚Principles of Human Knowledge‘, dt.: ‚Abhandlung über die menschliche Erkenntnis‘ [1710]). Berkeley wendet dagegen ein, dass die Annahme einfacher und besser wäre, unsere Vorstellungen als durch ein einziges, mächtiges Wesen wie z.B. Gott verursacht zu erklären. Lockes empiristische Fassung der Letztbegründungstheorie wird oft Berkeley zugeschrieben. Berkeley scheint eine solche Theorie jedoch zugunsten eines 391
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Letztbegründungsansatzes zurückzuweisen, der sowohl ausgedehnter, als auch bescheidener ist. Er ist ausgedehnter, weil Berkeley zulässt, dass wir unmittelbare und gewisse Erkenntnis sowohl durch Aussagen über physische Gegenstände haben, als auch durch Aussagen über aktuell erfahrene Vorstellungen. Daher umfassen die Aussagen, die Berkeley als eine empiristische Fassung der Letztbegründungstheorie akzeptiert, wesentlich mehr als jene, die Lockes Theorie zulässt. Berkeleys Theorie ist bescheidener hinsichtlich des Begriffs der Gewissheit. Für ihn ist eine Aussage gewiss, wenn dafür gesorgt ist, dass man keine wirklichen Gründe für einen Zweifel an ihnen hat. Es ist darüber hinaus nicht erforderlich, dass die irrtümliche Überzeugung logisch unmöglich ist. Auf diese Weise ist Berkeley in der Lage zuzugeben, dass Aussagen über physische Gegenstände gewiss sind, und er kann sich eines wesentlich bescheideneren Kriteriums dessen bedienen, was überhaupt als Letztbegründungstheorie zu gelten hat. An diesem Punkt liegt Berkeley auf einer Linie mit Ockham (siehe oben § 3), sowie mit bestimmten Philosophen des 20. Jahrhunderts (siehe unten § 8). Berkeley ging es auch darum, den Skeptizismus betreffend die externe Welt zu widerlegen. Er bringt vor, dass man dies erreichen könne, sofern man einen Weg finde, die unmittelbare Wahrnehmung physischer Gegenstände anzuerkennen. Sein Gedanke dabei ist, dass wir im Falle einer unmittelbaren Wahrnehmung physischer Gegenstände auch unmittelbares gewisses Wissen von ihnen haben. Er behauptet, dass alle diese Ergebnisse erreicht werden, wenn man den Realismus bezüglich der physischen Gegenstände aufgibt und stattdessen eine These annimmt, die es mit sich bringt, dass Gegenstände ausschließlich existieren, wenn sie wahrgenommen werden. Er verteidigt damit die phänomenalistische These, dass ein physischer Gegenstand mit einer Gruppe von Vorstellungen identisch sei (siehe Phänomenalismus). Gegenstände, die solche Gruppen von Vorstellungen sind, sind auch unmittelbar wahrnehmbar, so lange man unmittelbar einige der Mitglieder ihrer betreffenden Vorstellungsgruppe wahrnimmt. Auf diese Weise erlaubt es die phänomenalistische These über die physischen Gegenstände Berkeley die Ansicht zu verteidigen, dass physische Gegenstände unmittelbar wahrnehmbar sind, und folglich kann er für die behauptete Widerlegung des Skeptizismus und eine weiter gefasste Letztbegründungstheorie eintreten. In dieser Hinsicht, so Berkeley, verteidige er lediglich die Auffassungen des Common sense (siehe Berkeley, G. §§ 5–9). 7. Moderne Philosophie: von Hume zu Peirce Sowohl Locke, als auch Berkeley akzeptierten die Theorie, dass man sich in jeder Wahrnehmungserfahrung unmittelbar zumindest einer Vorstellung bewusst ist. Hume folgt ihnen darin, er unterscheidet aber zwischen Eindrücken, die lebendigere und ursprünglichere Wahrnehmungen sind, und solchen Vorstellungen, die weniger lebendig sind. Indem man eine rote Tasse sieht, erfährt man einen roten Eindruck (oder vielleicht den Eindruck von etwas Rotem), während man sich in der Erinnerung an die Tasse einer Vorstellung von der roten Tasse zuwendet. Humes grundlegendes Prinzip ist, dass alle Vorstellungen (ideas) von Eindrücken (impressions) abgeleitet sind, und in dieser Hinsicht ist er durch und durch ein Empirist der ideas als Begriffe. Er scheint ferner den erkenntnistheoretischen Empirismus zu akzeptieren, zumindest in dem Sinne, dass eine Aussage über einen Gegenstand, der den eigenen 392
Erkenntnistheorie, Geschichte der
Sinnen nicht gegenwärtig anwesend ist, nur dann als Erkenntnis gelten kann, wenn diese Aussage aus anderen Aussagen über gegenwärtig erfahrene Eindrücke abgeleitet werden kann. Hume leugnet, dass physisch-gegenständliche Aussagen von Aussagen über Eindrücke abgeleitet werden können. Er vermerkt auch, dass dem induktiven Schluss keine nicht-zirkuläre Definition gegeben werden kann. Folglich ist der induktive Schluss von Eindrucksaussagen auf physisch-gegenständliche Aussagen nicht gerechtfertigt, und daraus ergibt sich der Skeptizismus bezüglich physischer Gegenstände. Hume vermerkt jedoch auch, dass uns die Natur oder unsere psychologische Verfassung nicht erlaube, den Skeptizismus wirklich zu akzeptieren, oder uns von induktiven, speziell den kausalen, Schlüssen zu enthalten. Er meint eher, dass der Umstand, demzufolge wir so beschaffen sind, oder psychologisch gesprochen, dass wir induktiv über unsere Eindrücke hinaus auf Überzeugungen über physische Gegenstände schlussfolgern, sich selbst als gerechtfertigt herausstellt, und zwar einfach dadurch, dass wir eben diese Überzeugungen haben und diese Schlüsse ziehen. Wenn dies so ist, dann ist Hume hinsichtlich der Rechtfertigung und der Erkenntnis ein früher Externalist (siehe Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie). Oder er meinte vielleicht, dass wir nur unsere Überzeugungen und die von uns gezogenen Schlüsse beschreiben können. Fragen betreffend die Rechtfertigung dieser Schlüsse, und ob diese Überzeugungen als Erkenntnis zu gelten haben, kann man nicht lösen. In diesem Falle akzeptiert Hume die skeptischen Ergebnisse, die oben beschrieben wurden (siehe Hume, D., § 2). Zwei sehr wichtige Kritiker dessen, was sie als den Humeschen Skeptizismus betrachteten, waren Reid und Kant. Reid meinte, dass Humes Skeptizismus durch eine Akzeptanz der Theorie der Vorstellungen und Eindrücke entstand, wobei er vorbrachte, dass kein Philosoph jemals gute Gründe zur Annahme dieser Theorie vorgelegt hätte, und dass sie ferner in jedem Falle eine irrige Darstellung der Wahrnehmung gäbe. Die korrekte Darstellung ist für Reid eine komplexe Fassung des direkten Realismus, in dem wir unmittelbare und gewisse Erkenntnis physischer Gegenstände gewinnen. Die Überzeugungen, die wir in direkter Wahrnehmung von Gegenständen gewinnen, sind typischerweise unwiderstehlich, und es ist ein erstes Prinzip für Reid und eine Sache des Common sense, dass die Wahrnehmung verlässlich ist, und dass solche Überzeugungen gerechtfertigt sind und als Erkenntnis gelten. Humes Skeptizismus erstreckte sich nicht auf das, was er ‚Beziehungen von Vorstellungen‘ nannte. Diese umfassen die notwendigen Wahrheiten der Mathematik, und von diesen erlaubte Hume eine apriorische Erkenntnis (‚Untersuchung über den menschlichen Verstand‘ (1748): IV, 1). Humes Skepsis betraf nur einige Tatsachenbehauptungen. Für Kant sind die Beziehungen von Vorstellungen analytische Sätze, während Tatsachenbehauptungen synthetische Urteile sind (siehe A priori; A posteriori; Analytizität). Er spürte jedoch, dass es noch eine dritte Kategorie gab, die Hume übersehen hatte, nämlich die synthetischen Urteile a priori. Dieses sind notwendige Wahrheiten, in denen die Bedeutungen der Prädikatsterme nicht in den Bedeutungen ihrer Subjektterme enthalten sind; folglich sind sie synthetisch. Kant meinte jedoch, dass die notwendigen Wahrheiten der Geometrie und der Arithmetik a priori synthetisch seien, ebenso wie einige sehr allgemeine Prinzipien der Naturwissenschaften, und dass alle diese a priori erkannt werden können. Er behauptete, 393
Erkenntnistheorie, Geschichte der
dass die apriorischen Begriffe, die er ‚Kategorien‘ nannte, wirklich auf die Gegenstände zutreffen, die wir erfahren, und dass unsere Erfahrung wirklich objektiv ist in dem Sinne, dass sie von physischen Gegenständen handelt. Kant meinte ferner, dass die Erfahrung von Gegenständen genügt, um Wissen über solche Gegenstände zu erlangen, und dass deshalb der Skeptizismus betreffend die physischen Gegenstände unrichtig ist (siehe Kant, I., §§ 4, 6). Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) enthält eine ausgedehnte Kritik der Lehre, von der oft angenommen wird, dass sie allen Empiristen gemeinsam sei, nämlich dass es eine unmittelbare Erkenntnis von etwas gebe, dass in der Wahrnehmung gegeben ist (für die klassischen Empiristen sind dies die Vorstellungen, engl. ideas), und dass diese Erkenntnis in dem Sinne passiv ist, dass sie unvermittelt durch Begriffe besteht. Diese Kritik würde selbstverständlich alle Varianten des Empirismus treffen, einschließlich jener Auffassung, die besagt, dass physische Gegenstände und nicht subjektive Vorstellungen in der Wahrnehmung gegeben und Gegenstände eines passiven, unmittelbaren Wissens (unmittelbarer Erkenntnis) seien. Hegels Auffassung ist, dass es eine Erkenntnis solcher Art schlicht nicht gibt. Stattdessen ist alle Erkenntnis begrifflich vermittelt. Hegel scheint zu der Schlussfolgerung gekommen zu sein, dass überhaupt nichts gegeben ist, was als Lehre später im 20. Jahrhundert sehr populär wurde (siehe Hegel, G.W.F., § 5). Charles S. Peirce war ein weiterer wichtiger Kritiker der Letztbegründungstheorie, und zwar sowohl der empiristischen, als auch der kartesischen. Gegen die erstere wandte Peirce ein, dass keine empirische Überzeugung gewiss sei, d.h. dass wir uns in jeder empirischen Überzeugung irren können und alle solche Überzeugungen revidierbar seien, so dass wir vernünftigerweise dazu gebracht werden können, jegliche empirische Überzeugung im Licht neuer Evidenz aufzugeben. Diese beiden Punkte bilden einen Teil von Peirces Fallibilismus (siehe Fallibilismus). Das kartesische Programm kritisiert er dagegen mit dem Argument, dass ein allumfassender Zweifel eine psychologisch unmögliche Handlung sei, so dass Descartes mit seiner Methode der Grundlagensicherung von Erkenntnis keinen Erfolg haben könne. 8. Zwanzigstes Jahrhundert Die empiristische Tradition setzte sich im 20. Jahrhundert mit Sinnesdaten-Theorien fort, wie sie sich bei Russell finden, wobei besondere Aufmerksamkeit der Erkenntnis der externen, physischen Welt zuteil wurde. Es wurde argumentiert, dass in jeglicher Wahrnehmungserfahrung ein unmittelbares Bewusstsein von Sinnesdaten gegeben sei, und nicht von physischen Gegenständen. Sinnesdaten werden nun als phänomenale Gegenstände aufgefasst, die Qualitäten wie beispielsweise Farbe und Form haben (siehe Sinnesdaten). Unmittelbares Gewahrwerden von Sinnesdaten heißt jetzt ‚Vertrautheit‘, die wiederum selbst eine Form von gewisser Erkenntnis sei, nämlich die Kenntnis von Gegenständen, statt nur von Aussagen über Gegenstände. Propositionales Wissen von Gegenständen sei dagegen Kenntnis durch Beschreibung und wird im Wege eines Schlusses erlangt, der auf dem Vertrautheitswissen der Sinnesdaten aufbaut (siehe Russell, B.). Die dazu notwendigen Schlüsse sollten vom analytischen Phänomenalismus mit der These beschrieben werden, dass alle physisch-gegenständlichen Sätze in Mengen von Sinnesdaten-Sätzen analysierbar und als solche mit diesen bedeutungsäquivalent seien. Betrachtet man diese Äquivalenz als gegeben, meinte man, so 394
Erkenntnistheorie, Geschichte der
wären Schlüsse von Sinnesdaten-Sätzen zu Sätzen über physische Gegenstände als legitim gesichert; damit wäre dann auch das Problem der externen Welt gesichert. Damit verwandte Theorien wurden von Ayer und C.I. Lewis verteidigt. Ayer ließ allerdings den Russellschen Begriff der Vertrautheit (engl.: acquaintance) fallen. Stattdessen nahm er Sinnesdaten als Elemente des unmittelbaren Gewahrwerdens, die typischerweise als unkorrigierbares propositionales Erkennen auftreten. Lewis wiederum löste sich vom Begriff der Sinnesdaten; er drückte grundlegende Sätze aus, indem er hierzu alltägliche Wendungen wie beispielsweise ‚Dies scheint rot zu sein‘verwendete. Er forderte jedoch von diesen dasselbe wie Ayer von den Sinnesdaten-Sätzen. Sie seien gewiss und die Grundlage aller weiteren empirischen Erkenntnis. Wie bei Russell werden die Schlüsse aus solchen Sätzen so betrachtet, als seien sie durch den analytischen Phänomenalismus gedeckt. Interessanterweise verteidigte auch G.E. Moore eine Sinnesdatentheorie der Wahrnehmung, koppelte sie aber nicht mit einer empiristischen Fassung der Letztbegründungstheorie. Stattdessen verteidigte er den Common sense, der die Auffassung einschloss, dass es viele einzelne, materiell-gegenständliche Aussagen gebe, die unmittelbar und mit Gewissheit gewusst würden. Moore behauptete beispielsweise unmittelbar und mit Gewissheit zu wissen, dass ein bestimmter Kaminsims sich in kürzerer Entfernung zu seinem Körper befinde als ein bestimmtes Bücherregal. Für Moore muss das Wissen aus dieser und vielen anderen materiell-gegenständlichen Aussagen nicht auf noch mehr sicherem Wissen von Sinnesdaten aufbauen. In dieser Hinsicht ist Moores Auffassung folglich eher eine Fassung des erkenntnistheoretisch-direkten Realismus als einer empiristischen Letztbegründungstheorie. Das empiristische Letztbegründungsprogramm und der analytische Phänomenalismus wurden umfassend kritisiert. Die angebliche Unkorrigierbarkeit oder Gewissheit des Wissens von Sinnesdaten wurde auf einflussreiche Weise von J.L. Austin angegriffen. Alle empirischen Sätze, wandte er ein, seien korrigierbar, weil dadurch, dass sie eine Überzeugung über einen Gegenstand ausdrückten, wie sie durch Wendungen wie ‚Dies ist rot‘ ausgedrückt werden, eine Klassifizierung dieses Gegenstandes als ein rotes Ding stattfinde, und eine solche Aussage sich somit auf die rundum irrtumsanfällige Erinnerung einer Person mit anderen, vergleichbaren roten Gegenständen stütze. Darüber hinaus sei die Gewissheit oder Unkorrigierbarkeit für die Erkenntnis gar nicht notwendig. Viele Kritiker wandten auch ein, dass die Gewissheit im Sinne eines Mangels wirklicher Gründe zum Zweifel eine angemessenere Analyse dieses Begriffes sei, und in diesem Sinne würden viele physischgegenständlichen Sätze als gewiss gelten. Der analytische Phänomenalismus wurde auch und grundsätzlich von Chisholm kritisiert (siehe Phänomenalismus). Er zeigte, dass physisch-gegenständliche Sätze nicht aus Sinnesdaten-Sätzen hervorgehen, und dass beide folglich nicht äquivalent sind. Ayer und Lewis stimmten ferner im Großen und Ganzen in der Definition des Begriffs der Erkenntnis überein. Sie meinten, dass propositionale Kenntnis gerechtfertigte, wahre Überzeugung sei, was auch von vielen anderen Autoren geteilt wird. Edmund Gettier wandte hiergegen allerdings ein, dass diese Definition unrichtig sei. Seine Idee war, dass jemand eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung haben könne, die gleichwohl in einer Situation kein Wissen sei, in denen jemand von irgendwelchen bereits gerechtfertigten Überzeugungen auf eine neue Überzeugung schließe, die aber nur zufälligerweise wahr sei. Da es hier aber nur ein Zufall sei, 395
Erkenntnistheorie, Geschichte der
dass die betreffende Überzeugung richtig sei, gelte diese nicht als Wissen bzw. nicht als Erkenntnis, obwohl sie eine gerechtfertigte Überzeugung war, weil sie wissentlich von einer bereits bestehenden, gerechtfertigten Überzeugung abgeleitet wurde (siehe Gettier Problem). Gettiers Aufsatz von 1963 rief großes Interesse hervor. Während einige meinten, dass dieses Argument unbefriedigend sei, nahm eine Mehrheit an, dass er mehr oder weniger Recht habe, woraufhin zahlreiche neue Analysen der Erkenntnis vorgelegt wurden, einschließlich vieler, die die Analyse der gerechtfertigten, wahren Überzeugung weiterhin enthielten. Was sich dabei als das vielleicht am Vielversprechendste und am wenigsten Anfälligste gegen neue Gegenbeispiele zeigte, war die sog. defeasibility analysis (‚Anfechtbarkeits-Analyse‘). Deren Kerngedanke ist jener der angefochtenen Rechtfertigung: Wo jemand gerechtfertigterweise von einer Aussage p auf der Grundlage der Evidenz e überzeugt ist, wird dessen Überzeugung entwertet, wenn es eine wahre Aussage q gibt, die zeigt, dass die Konjunktion (e&q) die Aussage p nicht rechtfertigt. Die Anfechtbarkeits-Analyse ergäbe dann, dass die Erkenntnis eine gerechtfertigte, wahre und nicht angefochtene Überzeugung ist. Sehr ausgefeilte Fassungen der Anfechtbarkeits-Analyse wurden inzwischen von einer Reihe Autoren im Detail ausgearbeitet, einschließlich Klein, Lehrer und Swain (siehe Erkenntnis, Anfechtbarkeitstheorie der). Eng verbunden mit dem Begriff des Wissens bzw. der Erkenntnis ist der Begriff der gerechtfertigten Überzeugung, und so wurden bereits eine Reihe wichtiger Theorien der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung vorgelegt, von denen die hauptsächlichen Letztbegründungstheorien, Kohärenztheorien und Verlässlichkeitstheorien sind (siehe Rechtfertigung, erkenntnistheoretische). Wir haben bereits kartesische und empiristische Fassungen der Letztbegründungstheorie erwähnt. Kürzlich haben einige Philosophen bescheidenere Versionen der Letztbegründungstheorie verteidigt. Das heißt, sie verteidigten die Auffassung, dass eine Überzeugung ausschließlich gerechtfertigt sei, wenn sie entweder eine grundlegende, letztbegründende ist, oder wenn sie von solchen grundlegenden Überzeugungen ableitbar ist. Die Bescheidenheit dieser Theorie würde sich dann aus dem Umstand ableiten, dass grundlegende Überzeugungen nicht vollkommen gewiss oder unkorrigierbar sein müssten. Es würde genügen, wenn die Grundüberzeugungen ohne weitere Schlussfolgerungen gerechtfertigt wären. Überzeugungen sind ohne weitere Schlussfolgerungen gerechtfertigt, wenn ihre Rechtfertigung sich nicht daraus ergeben muss, dass sie auf anderen gerechtfertigten Überzeugungen aufbauen oder von diesen ableitbar sind. Viele Philosophen fanden selbst noch die bescheidene Fassung der Letztbegründungstheorie suspekt, vor allem deshalb, weil sie die Vorstellung einer grundlegenden, durch keine Schlussfolgerung gerechtfertigte Überzeugung problematisch fanden. Entsprechend haben einige von ihnen diesen Ausdruck vollständig vermieden und entwickelten Kohärenztheorien der gerechtfertigten Überzeugung. Die Kernidee in allen solchen Kohärenztheorien ist, dass eine Überzeugung ausschließlich dann gerechtfertigt ist, wenn sie Mitglied eines Systems von Überzeugungen ist und dieses Überzeugungssystem kohärent ist. Eine Reihe unterschiedlicher Darstellungen der systemischen Kohärenz wurden vorgelegt, wobei jenes der explanatorischen Kohärenz die größte Zustimmung fand. Nach dieser Auffassung ist eine Überzeugung (das zu Erklärende) in einem kohärenten System gerechtfertigt, wenn sie durch andere Überzeugungen dieses Systems erklärt werden kann. Die 396
Erkenntnistheorie, Geschichte der
verbleibenden Überzeugungen des Systems sind dann gerechtfertigt kraft ihrer Rolle bei der Erklärung des zu Erklärenden. Ein Problem dieser Theorien ist es, einen vernünftigen Weg zur Aussonderung jener Überzeugungen innerhalb des Systems nennen zu können, die einer Erklärung bedürfen (siehe Erkenntnis und Rechtfertigung, Kohärenztheorie der). Die am umfangreichsten diskutierte Verlässlichkeitstheorie ist die sog. ‚Theorie des verlässlichen Prozesses‘ (engl.: reliable-process theory). Ein Prozess ist verlässlich, wenn er ein hohes Wahrheitsverhältnis aufweist, d.h. wenn dieser Prozess mehr wahre Überzeugungen als falsche hervorbringt. Typische Prozesse, die als verlässlich und überzeugungsbildend oder überzeugungsunterstützend genannt wurden, sind jene der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Introspektion und des Schließens oder vernünftigen Argumentierens. Ein Problem, das sich als besonders leidig für die Anhänger der Theorie des verlässlichen Prozesses herausgestellt hat, ist jenes der Allgemeinheit. Irgendeine spezifische Überzeugung wird durch einen Prozesstyp hervorgebracht oder unterstützt, der eine Instanz vieler unterschiedlicher Prozesstypen ist. Das Problem der Allgemeinheit besteht hier wesentlich in der Feststellung, wie breit die fraglichen Prozesstypen im Einzelfall sein sollen. 9. Gegenwärtige Themen In einer Theorie des verlässlichen Prozesses müssen die Erkenntnissubjekte nicht unbedingt Kenntnis oder auch nur Bewusstsein jener Prozesse haben, die ihre Überzeugungen verursachen oder kausal unterstützen, noch müssen sie etwas von der Verlässlichkeit dieser Prozesse wissen. Die meisten Letztbegründungs- oder Kohärenztheorien konstruieren den Begriff der Rechtfertigung allerdings so, dass die Überzeugung einer Person nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie irgendeinen Zugang zu oder Bewusstsein von irgendetwas haben, was der Rechtfertigung ihrer Überzeugung dienlich ist. Theorien mit einer solchen Zugangsbedingung werden allgemein als ‚internalistische‘ Theorien bezeichnet, während jene, die auf ein solches Zugangserfordernis verzichten, ‚externalistische‘ Theorien heißen. Obwohl all dies sehr umfangreich diskutiert wurde, ist die Frage doch nicht vollständig gelöst, ob einer Rechtfertigungstheorie immer ein solches Zugangserfordernis auferlegt werden sollte (siehe Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie). Die Verfechter einer Theorie des verlässlichen Prozesses versuchten in der Regel eine naturalistische Theorie zu entwickeln (siehe naturalisierte Erkenntnistheorie). Der geringste Nenner einer naturalistischen Erkenntnistheorie ist jener, dass die erkenntnistheoretischen Schlüsselbegriffe wie z.B. Wissen, Erkenntnis oder Rechtfertigung in einer Form analysiert oder gerechtfertigt werden, die nur von nicht-erkenntnistheoretischen Begriffen Gebrauch macht. Eine radikalere Form des Naturalismus in der Erkenntnistheorie, die von Quine vorgeschlagen wurde, verzichtet generell auf die normativen Elemente der traditionellen Erkenntnistheorie und konzipiert den Subjektbegriff neu als Teil einer empirischen Psychologie (siehe Quine, W.V., § 2). Nach dieser Auffassung wird die Erkenntnistheorie zu einer vollständig deskriptiven Disziplin, d.h. zu einer, die untersucht, wie sich Überzeugungen bilden, und wie sie mit dem verbunden sind, was wir als ihre Evidenz auffassen. Ob eine minimale oder radikale Form der Erkenntnistheorie annehmbar ist, gehört zu den gegenwärtig offenen Fragen. 397
Erkenntnistheorie, Indische Schulen der
Zahlreiche Fragen der sozialen Erkenntnislehre haben sich ebenfalls in jüngerer Zeit aufgetürmt, zugleich mit Themen der feministischen Erkenntnislehre. Innerhalb der ersteren sind zwei wichtige Fragen, ob soziale Faktoren bei der Bestimmung eine Rolle spielen, ob einer Person Kenntnis oder eine gerechtfertigte Überzeugung von etwas zugesprochen wird, und ob man von Nicht-Individuen wie beispielsweise Gruppen oder Institutionen sagen kann, dass sie Wissen oder gerechtfertigte Überzeugungen haben (siehe Soziale Erkenntnistheorie). Innerhalb der feministischen Erkenntnislehre erwies sich als eine der führenden Fragen, ob Frauen Kenntnisse auf eine Weise erwerben, der sich von jener unterscheidet, der sich die Männer bedienen. Eine weitere wichtige Frage ist, ob soziale und kulturelle Faktoren, die die Frauen betreffen, in Beziehung zum Wissen von Frauen stehen (siehe feministische Erkenntnistheorie). Alle diese aktuellen Entwicklungen der Erkenntnistheorie werden energisch verfolgt und untersucht. Sie führten bereits zu einer Ausweitung und Anreicherung dieses Gebietes auf eine Art und Weise, die in den vorangehenden Jahrzehnten noch nicht absehbar war. Siehe auch: Chinesische Philosophie; Erkenntnistheorie, Indische Schulen der; Wissens, Begriff des Anmerkungen und weitere Lektüre: Irwin, T. (1988): ‚Aristotle’s First Principles‘, Oxford: Clarendon. (Eine sehr gute, detaillierte Behandlung der aristotelischen Erkenntnislehre.) Popkin, R. (1979): ‚The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza‘, Berkeley, CA: University of California Press. (Eine großartige Informationsquelle, sowohl in historischer, als auch in philosophischer Hinsicht.) GEORGE S. PAPPAS
Erkenntnistheorie, Indische Schulen der
Jede klassische indische philosophische Schule lässt sich im Hinblick auf einen Gründungstext oder eine Gründerfigur einordnen und definieren. Dies geschieht über die Ausarbeitung überlieferter Positionen, sowie durch die Diskussion von Auffassungen anderer Schulen. Darüber hinaus verfügt jede Schule über ihre eigene Literatur, die sie in sehr konkreter Weise definiert. Diese Textkörper erstrecken sich in einigen Fällen über zwanzig Jahrhunderte und umfassen Hunderte von Texten. Und ausnahmslos nimmt jede dieser Schulen zum Wesen der Erkenntnis und deren Rechtfertigung Stellung, und sei es nur, wie im Falle des Mādhyamika Buddhismus, um die Position anderer Schulen anzugreifen. Eine Mischung aus Erkenntnistheorie, Ontologie oder Metaphysik, und manchmal auch religiöser oder ethischer Lehren, bilden die Auffassung der meisten Schulen, und manchmal unterscheiden nur sehr subtile Bewegungen in dem einen oder anderen Punkt die jeweilige Haltung einer Schule von derjenigen einer anderen. Die Umbenennung von Schulen der indischen Erkenntnistheorie unter Verwendung einer Terminologie, die in der westlichen Tradition geprägt wurde (wie z.B. ‚Letztbegründungstheorie‘, ‚Kohärentismus‘ etc.) riskiert eine Verzerrung der Prioritäten der klassischen Diskussionsteilnehmer und eine Verdrehung der klassischen Debatte. Gleichwohl gibt es gemeinsame Standpunkte unter einigen der Schulen, und auch Verfeinerungen von Positionen, die offensichtlich aufgrund ihres Wertes in der klassischen Diskussion eine größere Aufmerksamkeit erfuhren und diese auch noch 398
Erkenntnistheorie und Ethik
heute verdienen. In Anbetracht des breiten Kontextes der Weltphilosophie kann auch eine solche Selektivität nicht frei von Neigungen sein, die noch von dem Nachhall nicht-indischer Denkschulen abstammen. Mit diesen Warnungen im Kopfe können wir beginnen, die drei wichtigen Ansätze innerhalb der klassischen indischen Philosophie auf Fragen der Erkenntnistheorie zu untersuchen. Am Anfang präsentierten die späten buddhistischen Yogācāra-Philosophen Dignāga (geb. ca. 480), Dharmakīrti (ca. 600–660) und ihre Nachfolger einen komplexen Ansatz der Ersten Person Singular auf Fragen über das Wissen, der noch durch eine antimetaphysische Haltung beschränkt ist (das sich in früheren buddhistischen Abhandlungen findet), und zwar zusammen mit einem Phänomenalismus, der sich aus einem lebendigen Sinn für die reale Möglichkeit des Nirvāna als dem höchsten Guten entwickelte. Ihr Denken zeigt ferner eine akademische Seite, die sich auch nicht-buddhistischen philosophischen Diskussionen zuwendet. Zweitens steht innerhalb der klassisch-indischen Erkenntnislehre jene Verlässlichkeitstheorie, die Quellen wahrhaftigen Bewusstseins ausmacht, genau im Zentrum und ist damit der bestimmteste erkenntnistheoretische Ansatz innerhalb der gesamten, klassischen indischen Philosophie. Sogar der Erste-Person-Ansatz des Yogācāra wird noch als verlässliche Quelle erfasst (Wahrnehmungen und Schlüsse als pramāṇas, d.h. ‚Quellen der Erkenntnis‘). Philosophen unterschiedlicher Herkunft leisteten Beiträge zu etwas, was man ein Feld des Denkens nennen könnte (als Gegensatz zur Bezeichnung als ‚Ansatz‘), und dies ist, wie gesagt, die philosophische Hauptorientierung. Allerdings ist innerhalb dieses Feldes die Nyāya Schule (die ‚logische‘ Schule) in den meisten Epochen führend. Schließlich entwickelte die Brahmanische Schule, die als Mīmāṃsā (‚Exegese‘) bekannt ist, und die durch Jahrhunderte der Reflexion im Zeichen der Advaita Vedānta gegangen ist, etwas, was man als eine Ethik der Überzeugung bezeichnen könnte, d.h. eine Lehre dessen, was wir beispielsweise als wirklich annehmen sollten (und was auch den Inhalt von Aussagen über das Wahrnehmungsbewusstsein betrifft), oder was uns von anderen als wahr mitgeteilt wird, was wir als wahr schließen etc., jeweils mit Ausnahme besonderer Umstände, die eine Aussage als falsch oder zumindest fragwürdig erweisen. Die erkenntnistheoretische Hauptströmung des Nyāya nimmt schließlich eine Variante dieser Position in sich auf; denn Mīmāṃsā und Advaita, die ‚Selbst-Vergewisserung‘ (svataḥprāmāṇya), oder die innere Wahrhaftigkeit der Kognition, definiert eine alternative Herangehensweise an Fragen über das Wissen, das Bewusstsein und die angenommene Verpflichtung zum Glauben. Siehe auch: Mīmāmṣ ā; Nyāya-Vaiśesị ka; Sān˙ khya STEPHEN H. PHILLIPS
Erkenntnistheorie, soziale
Siehe: Soziale Erkenntnistheorie
Erkenntnistheorie und Ethik
Sowohl die Erkenntnistheorie, als auch die Ethik beschäftigen sich beide mit Bewertungen: die Ethik mit der Bewertung von Verhalten, die Erkenntnislehre mit der Bewertung von Überzeugungen und anderen kognitiven Handlungen. Für Philosophen sind die Weisen von beachtlichem Interesse, auf denen diese beiden Arten von Bewertungen zueinander in Beziehung stehen. Die philosophischen Erkundungen dieser Beziehungen können in zwei große Gruppen eingeteilt werden: 399
Erklärung
einerseits die Prüfung möglicher Analogien zwischen den beiden Feldern, und andererseits die Versuche zur Identifikation notwendiger oder begrifflicher Verbindungen zwischen den beiden Gebieten. Es besteht kaum Zweifel, dass es zumindest oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen der Ethik und der Erkenntnislehre gibt. Man könnte sagen, dass sich die Ethik mit der Bewertung sozialen Verhaltens und sozialer Akteure beschäftigt, während die Erkenntnistheorie sich mit der Bewertung kognitiver Handlungen und kognitiv handelnder Akteure beschäftigt. Andererseits legt die weit verbreitete Auffassung, dass das moralisch zu bewertende Verhalten frei und freiwillig sei, während die Überzeugungen dies nicht seien, eine wichtige Disanalogie zwischen den beiden Gebieten nahe. Siehe auch: Begründung, erkenntnistheoretische; Konfuzianische Philosophie, chinesische RICHARD FELDMAN
Erklärung Einführung Philosophische Reflexionen über die Erklärung sind in der Geschichte der Philosophie häufig anzutreffen, und wichtige Vorschläge dazu wurden von Aristoteles, Hume, Kant und Mill vorgelegt. Der Gegenstand verlor jedoch im 20. Jahrhundert mit der Erarbeitung detaillierter Modelle der naturwissenschaftlichen Erklärung an Interesse, am herausragendsten durch das Covering-law-Modell (‚Modell des abdeckenden Gesetzes‘), das Erklärungen dann als Argumente zulässt, wenn ein Naturgesetz eine wesentliche Rolle in den Prämissen spielt. Auf dem Höhepunkt des Logischen Empirismus einigen sich Philosophen auf das Covering-law-Modell, aber während der 1960er und 1970er Jahre wurde dieser Konsens infolge der Anerkennung vier größerer Arten von Schwierigkeiten in Frage gestellt: erstens das Problem der Beziehung zwischen idealisierten Argumenten und der wirklichen Erklärungspraxis; zweitens die Schwierigkeit einer Charakterisierung des zugrunde liegenden Begriffs des Naturgesetzes; drittens Schwierigkeiten in der Darstellung der Erklärungsasymmetrien; und viertens hartnäckige Probleme bei der Behandlung statistischer Erklärungen. Eine Bewertung dieser Schwierigkeiten führte in weiten Kreisen zur Aufgabe des Covering-law-Modells, und gegenwärtig gibt es keinen Konsens mehr darüber, wie eine Erklärung zu verstehen ist. Der relativ stärkste gegenwärtige Standpunkt versucht die Erklärung als Verursachung zu charakterisieren, d.h. Erklärungen sind Darstellungen, die den Ursachen von zu erklärenden Ereignissen (Zuständen, Umständen) nachgehen. Andere Philosophen sind überzeugt, dass es keine allgemeine Darstellung der Erklärung gibt und bieten pragmatische Theorien an. Eine dritte Option besteht darin, Erklärungen als etwas zu sehen, was aus der Vereinheitlichung von Phänomenen besteht. Alle diese Ansätze können Erfolge vorweisen, haben aber genauso jeweils bestimmte Anomalien. Obwohl der allgemeine Charakter der Erklärung nunmehr ein Gegenstand philosophischer Debatte ist, gibt es doch nach wie vor gewisse Formen der Erklärung, die recht gut verstanden werden. Insbesondere können funktionale Erklärungen in der Biologie, die die logischen Empiristen rätselhaft fanden, offenbar recht selbst400
Erklärung
verständlich behandelt werden, indem man annimmt, dass sie stillschweigend auf die natürliche Auslese Bezug nehmen. 1. Frühe Geschichte 2. Das Covering-law-Modell 3. Vier Arten von Schwierigkeiten 4. Die Stücke zusammenfügen 5. Funktionale Erklärung: eine junge Erfolgsgeschichte 1. Frühe Geschichte Das Nachdenken über Erklärungen geht mindestens bis zu Aristoteles zurück, dessen Diskussion der vier Arten der Verursachung in der ‚Zweiten Analytik‘ durchaus als Unterscheidungsweisen der wissenschaftlichen Erklärung interpretiert werden können (siehe Aristoteles, § 9). In der Neuzeit eröffnen die Schriften von Hume, Kant und Mill viele Einsichten in die Verursachung, die Gesetze und Regularitäten der Natur und schlagen, manchmal explizit, manchmal indirekt, Lehren zum Charakter der wissenschaftlichen Erklärung vor (siehe Hume, D., § 2; Kant, I., §§ 4–7; Mill, J.S., § 5). Mit der Entstehung einer orthodoxen Lehre der wissenschaftlichen Erklärung im mittleren 20. Jahrhundert gerieten aber auch Fragen über die wissenschaftliche Erklärung ins Rampenlicht der Betrachtung. Gleichwohl gilt diese Lehre trotz ihres späteren Niedergangs als eine der bedeutendsten Leistungen jener Bewegung, die unter dem Namen ‚logischer Empirismus‘ bekannt wurde (siehe Logischer Positivismus, § 4). Die Schriften von Karl Popper, R.B. Braithwaite, Ernest Nagel und insbesondere C.G. Hempel entwarfen eine einflussreiche Konzeption. Die naturwissenschaftliche Erklärung wurde dort als eine Summe von Argumenten gesehen, in denen eine Aussage die zu erklärende Tatsache (oder Regularität) von den Prämissen ableitet, von denen wenigstens eine ein Naturgesetz ist. Die zugrunde liegende Idee ist hier, dass die wissenschaftliche Erklärung zum Verständnis beiträgt, in dem sie zeigt, dass die zu erklärenden Phänomene als die Konsequenz der allgemeinen Naturgesetze zu erwarten sind. 2. Das Covering-law-Modell Eine wichtige und viel diskutierte Art der wissenschaftlichen Erklärung nach diesem allgemeinen Schema ist die deduktiv-nomologische Erklärung (D-N-Erklärung). In Fällen dieses Typs ist das Argument deduktiv, so dass die Aussage, die das zu beschreibende Phänomen beschreibt (das explanandum) eine deduktive Konsequenz der Prämissen ist, die als Erklärung (das explanans) vorgezogen werden. D-N-Erklärungen können für explananda geliefert werden, die einzelne Tatsachen beschreiben, oder für explananda, die allgemeine Regularitäten anzeigen. Im ersteren Falle gibt es ein einfaches Schema, das die Form der Erklärung darstellt: C1, C2, … ,Cn L1, L2, … ,Lm E wobei die Erklärung E das explanandum ist, das die zu erklärende Tatsache beschreibt. Die Aussagen L1, L2, …, Lm sind Naturgesetze, und die Aussagen C1, C2, …, Cn beschreiben einzelne Tatsachen (wie z.B. Ausgangsbedingungen). Es ist nicht schwer, Argumente zu konstruieren, die auf dieses Schema passen, und die ihre Schlussfolgerungen zu erklären scheinen: z.B. bieten Ableitungen der klassischen 401
Erklärung
Newtonschen Dynamik, die die Trajektorien von Körpern von den Gesetzen der Kraft ableiten, sowie ihre Ausgangsbedingungen, hierfür viele Beispiele. Nicht alle explanatorischen Argumente sind deduktiv. Die orthodoxe logischempiristische Lehre ließ auch induktiv-statistische Erklärungen (I-S-Erklärungen) neben den D-N-Erklärungen zu. In einer I-S-Erklärung wird das Explanandum induktiv aus Prämissen geschlossen, von denen mindestens eine ein Wahrscheinlichkeitsgesetz ist, beispielsweise eine Aussage, die einer Wahrscheinlichkeit einen Wert zuweist, womit ein bestimmtes Merkmal unter Mitgliedern einer bestimmten Klasse gekennzeichnet wird. Daher können wir erklären, um ein berühmtes Beispiel von Hempel zu zitieren, warum sich ein Kind, z.B. Henrietta, die Masern zuzog, indem wir feststellen, dass sie in Kontakt mit einem anderen Kind, nämlich Henry, war, der Masern hatte, und dass ein großer Prozentsatz der Kinder, die mit Masern-Patienten in Kontakt kommen (z.B. 99%) nachfolgend ebenfalls Masern bekommen. Wenn wir das Schema für die D-N-Erklärung imitieren, können wir diese bescheidene Ableitung wie folgt darstellen: Henrietta hatte Kontakt mit Henry, und Henry hatte Masern. Die Häufigkeit, mit der Kinder im Kontakt mit Masernpatienten ebenfalls Masern bekommen, beträgt 99%. (0,99) Henrietta hat Masern Hier weist die Regel darauf hin, dass der Schluss von den Prämissen auf die Konklusion induktiv stark ist, dafür deduktiv nicht gültig. Die eingeklammerte Zahl (0,99) drückt die Stärke des Schlusses aus. I-S-Schlüsse müssen zahlreiche Erfordernisse erfüllen. Erstens muss die numerische Stärke des induktiven Schlusses hoch sein (nahe 1). Zweitens muss das Explanans die Voraussetzung maximaler Bestimmtheit erfüllen: es dürfen keine weiteren Prämissen bekannt sein, die, wenn man sie zum Explanans hinzufügt, die Kraft des Schlusses verändern würden, wie beispielsweise die induktive Schlussfolgerung verändert wäre, wenn wir wüssten, dass Henrietta eine Masern-Impfung erhalten hat, und dass Kinder mit einer solchen Impfung eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit der Ansteckung mit dieser Krankheit aufweisen. Leider schauen die Erklärungen, die Wissenschaftler und andere wirklich geben, diesen schematischen Argumenten nicht besonders ähnlich. Die logischen Empiristen behaupteten lediglich, dass die alltägliche Beschaffung von Erklärungen rekonstruiert werden könne, indem man Argumente der D-N- oder I-S-Form identifiziert, und dass diese Rekonstruktionen offen legen, wie es sich mit der jeweiligen Erklärung verhält, die uns in die Lage versetzte, ihre Funktion zu erfüllen. In den 1940er und 1950er Jahren waren viele Gelehrte glücklich zugeben zu können, dass das Covering-law-Modell der Erklärung, das Erklärungen an Argumente mit Gesetzen neben anderen Prämissen anglich, als Rekonstruktion von Erklärungen in den Naturwissenschaften gute Dienste leistete, speziell in der Physik und der Chemie. Es gab aber auch wichtige Debatten über die Anwendung des Modells auf die Sozialwissenshaften und die Erklärung im alltäglichen Leben. Die Kontroversen konzentrierten sich speziell auf die Tätigkeit der historischen Erklärung. Historiker konstruierten detaillierte Darstellungen zur Erklärung bestimmter Ereignisse, z.B. den 402
Erklärung
Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges oder die Auflösung der Klöster durch Heinrich VIII. Wenn das Covering-law-Modell richtig ist, dann muss eine sachgerechte Rekonstruktion dieser Darstellung allgemeine Gesetze enthalten. Gibt es aber wirklich allgemeine Gesetze der Geschichte? Oder sind die allgemeinen Gesetze, die der historischen Erklärung zugrunde liegen, einfach psychologische Gesetze, die die Motivationen der historischen Akteure mit ihren Handlungen verbinden (siehe Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften)? 3. Vier Arten von Schwierigkeiten Abgesehen von den Problemen mit der Geschichte erwies sich das Coveringlaw-Modell als bemerkenswert erfolgreich, was ein seltenes Beispiel einer überzeugenden Lösung eines philosophischen Problems ist. Gleichwohl geriet es in den 1960er Jahren unter anhaltende Kritik, und am Ende dieser Dekade wurde es beinahe zur Gänze aufgegeben. Vier voneinander getrennte Arten von Überlegungen trugen zu diesem raschen Wechsel ihres Schicksals bei. Die erste war eine Beschwerde, die von Michael Scriven vorgetragen wurde, derzufolge vollkommen befriedigende Erklärungen von Leuten geliefert und verstanden werden können, die von covering-laws recht wenig verstehen, d.h. den in der Schlussfolgerung bezogenen Naturgesetzen, die für die jeweilige Rekonstruktion wesentlich sind. Es ist ganz einfach, einem Freund zu erklären, warum dort Schmutz auf dem Boden ist, indem man einfach darauf hinweist, dass man mit dem Arm das offene Tintenfass vom Tisch gestoßen hat, an dem man gerade geschrieben hat. Vielleicht wäre es für einen erfahrenen Wissenschaftsphilosophen möglich, das allgemeine Gesetz zu nennen, dass das Verhalten der Flasche und der verspritzten Tinte leitet. Dieses Wissen scheint aber gänzlich irrelevant für das Ereignis zu sein, indem der verdrossene Fleckverursacher erklärt, was ihm geschah. Im Kern der Beschwerde von Scriven liegt die Einsicht, dass das Covering-law-Modell darin versagt zu beschreiben, wie die idealisierten Ableitungen, die angeblich zeigen sollen, wie die Erklärung vor sich geht, an die örtlich spezifischen Situationen angepasst werden, um das Verständnis dafür von einer Person zur nächsten zu kommunizieren. Ohne eine praktische Umsetzung der Erklärung, d.h. einer Darstellung, in welcher Beziehung die idealen Argumente, die auf bestimmte logische Zusammenhänge passen, zu dem stehen, was die Menschen wirklich tun, wenn sie Erklärungen abgeben, ist es möglich, jenen Anspruch in Frage zu stellen, dass die von den logischen Empiristen dargestellten Strukturen wirklich die entscheidenden Merkmale enthüllen, durch die die Erklärung erst erfolgreich wäre. Eine zweite Schwierigkeit ergab sich aus der fortgesetzten Unmöglichkeit einer befriedigenden Darstellung der Naturgesetze. In den frühesten Formulierungen des Covering-law-Modells bestanden seine Befürworter darauf, dass nicht jede Verallgemeinerung als ein Gesetz zu gelten habe. So genannte zufällige bzw. akzidentelle Verallgemeinerungen können keinerlei explanatorische Funktion erfüllen. Es mag eine zeitlose Wahrheit im gesamten Universum sein, dass alle Ballspiele, die von rothaarigen, auf ihr Mittagessen verzichtenden Linkshändern gespielt werden, durch das gegnerische Team gewonnen werden, aber diese zufällige Verallgemeinerung wirft kein Licht auf das Ergebnis irgendeines bestimmten Spiels (siehe Naturgesetz). Noch vor Nelson Goodmans Formulierung eines ganzen Haufens von Schwierigkeiten rund um die kontrafaktischen Aussagen, die Induktion und 403
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die Naturgesetze, ergab sich das Problem der Unterscheidung der Gesetze von den zufälligen Verallgemeinerungen als eine interessante Herausforderung des logischempiristischen Projekts. Nachdem die ganze Tiefe von Goodmans ‚neuem Rätsel der Induktion‘ erkannt worden war, schien es unmöglich, eine Lösung innerhalb der Schranken, die sich die Empiristen selbst gesetzt hatten, zu finden (siehe Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der). Ein drittes Problem ergab sich aus der Erkenntnis, dass das Covering-lawModell selbst dann, wenn eine Unterscheidung zwischen Gesetzen und zufälligen Verallgemeinerungen getroffen werden kann, noch zu weit gefasst wäre. Mit einem Beispiel, dass nachgerade berühmt wurde, wies Sylvain Bromberger darauf hin, dass das Modell blind gegenüber bestimmten Erklärungsasymmetrien ist. Wir können die Länge eines Schattens erklären, der von einem Fahnenmast geworfen wird, indem wir eine Aussage der Zuschreibung entsprechender numerischer Werte aus den Prämissen ableiten, in denen die Höhe des Mastes und der Winkel des Sonnenstandes genannt werden, zusammen mit dem Gesetz der rechtwinkligen Ausbreitung des Lichts. Diese Ableitung passt wunderbar in das D-N-Schema. Das Problem ist jedoch, dass wir auch ein modifiziertes Argument herleiten können, das sich mit dem D-N-Schema ebenso gut verträgt, indem wir die Prämisse, durch die die Höhe des Mastes bestimmt wird, mit der Schlussfolgerung austauschen: die Höhe des Mastes ist aus der Länge des Schattens, dem Sonnenstand und der rechtwinkligen Ausbreitung des Lichts ableitbar. Diese neue Ableitung scheint keinen Erklärungswert zu haben, denn es wirkt falsch, die Höhe des Fahnenmastes (oder allgemein die Maße physischer Gegenstände) aus der Messung der Schatten abzuleiten, die sie werfen. In ihrem gewissenhaften Umgang mit einer Berufung auf die Verursachung versuchten die logischen Empiristen eine Erklärung zu konstruieren, die ohne jene kausale Begriffe auskam, die die Humeschen Einwände (und damit die Schwierigkeit einer Charakterisierung von Naturgesetzen) herausgefordert hätten. Brombergers Kritik legt nahe, dass die Umgehung kausaler Begriffe Fälle einander angleicht, die sich in wichtiger Hinsicht voneinander unterscheiden. Es ist schließlich nahe liegend, den Unterschied zwischen den beiden Ableitungen dadurch zu kennzeichnen, indem man darauf hinweist, dass die Höhe des Fahnenmastes die tatsächliche Länge des Schattens verursacht, nicht so jedoch die Länge des Schattens die Höhe des Fahnenmastes. Die vielleicht folgenreichste Schwierigkeit war die vierte, die sich auf das Versagen der Darstellung statistischer Erklärungen konzentrierte. Alberto Coffa untersuchte die Bedingungen, die für eine I-S-Erklärung erfüllt sein mussten und entdeckte, dass sie eine wesentliche Bezugnahme auf den Wissensstand des Aussagenden enthielten, wodurch es unmöglich wurde, einen Begriff der wahren induktiven Erklärung zu entwickeln. Coffas Kritik ergänzte die Arbeit von Richard Jeffrey, der schon früher eingewandt hatte, dass es möglich ist, individuelle Ereignisse zu erklären, die nicht die hohe Wahrscheinlichkeit gemäß den Hintergrundbedingungen aufweisen, und dass deshalb das Erfordernis der hohen Wahrscheinlichkeit ebenfalls fehlerhaft war. Zur selben Zeit arbeitete Wesley Salmon in seinem Buch ‚Statistical Explanation‘ (1970) in bemerkenswerter Detaillierung eine Darstellung der statistischen Erklärung heraus, die wie Jeffreys Arbeit die These zurückwies, dass Erklärungen schlüssige Argumente sind. Im Zentrum von Salmons Darstellung stand die Idee, dass wir Erklärungen liefern, indem wir wahrscheinlichkeitsrelevante 404
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Informationen zitieren. In den frühen Fassungen seines Modells der statistischen Erklärung hatte Salmon vorgeschlagen, dass statistische Erklärungen ihre Kraft aus der Anerkennung beziehen, dass die Wahrscheinlichkeit, nach der ein einzelner Gegenstand eine Eigenschaft aufweist, in Anspruch genommen wird. Schematisch betrachtet hilft die Information, dass a ein F ist, bei der Erklärung, warum a ein G ist, sofern die Wahrscheinlichkeit von etwas, ein G zu sein, dadurch erhöht ist, dass dieses Ding ein F ist (formal gesagt: P(G/F) > P(G)). Auf diesem Weg war Salmon imstande auf die Schwierigkeit einzugehen, die zuvor von Scriven formuliert worden war: wir können z.B. die Tatsache, dass der Bürgermeister eine Parese12 aufweist, durch die Feststellung erklären, dass er eine zuvor unbehandelte Syphilis hatte, selbst wenn die Häufigkeit, mit der die unbehandelte syphilitische Infektion eine Parese nach sich zieht, gering ist (um die 15%). Nach Salmon verleiht die Feststellung, dass der Bürgermeister eine unbehandelte Syphilis hat, der Wahrscheinlichkeit einer Parese bei ihm enormen Nachdruck, indem sie nämlich von einem normalen, nahe bei Null liegenden Wert auf ca. 15% ansteigt. 4. Die Stücke zusammenfügen Salmons Darstellung der Erklärung war gründlich überlegt, aber es wurde das Bedürfnis geäußert, auch Erklärungen in den indeterministischen Zusammenhängen der zeitgenössischen Physik zuzulassen. Sein Ansatz passte exakt zu Versuchen wie jenem von Patrick Suppes, um eine Konzeption der Kausalität zu schmieden, die nicht länger auf deterministische Situationen beschränkt war (siehe Verursachung; Determinismus und Indeterminismus). Von 1970 an bis in die Gegenwart hat eine der großen Strömungen in der zeitgenössischen Erklärungstheorie die Erklärung dahingehend aufgefasst, dass sie in der Nachzeichnung von Ereignisursachen besteht, und versuchte damit Humes Einwand gegen die Anrufung der Kausalität in Ehren zu halten, indem sie eine Theorie der Kausalität lieferten, die kausale Beziehungen statistisch definiert. Die einfachste Darstellung der probabilistischen Kausalität würde besagen, dass A für B genau in dem Falle kausal relevant ist, wenn P(B/A) ≠ P(B) ist. Leider ist jedoch diese Darstellung zu einfach. Wie Hans Reichenbach in den 1950er Jahren zeigte, erhält man diese Ungleichheit auch für den Fall, dass A und B beide Wirkungen einer gemeinsamen Ursache sind. Also müssen weitere Bedingungen eingeführt werden, um die statistischen Beziehungen zu bestimmen, die für die probabilistische Verursachung konstitutiv sind. Seit den 1970er Jahren konkurrieren eine Reihe unterschiedlicher Vorschläge um das Erbe der orthodoxen Position, die einst das Covering-law-Modell eingenommen hatte. Am populärsten erwiesen sich dabei die kausalen Ansätze der Erklärung, und anfänglich auch Vorschläge zur Fundierung der Erklärung in einer detaillierten Konzeption der probabilistischen Kausalität, die eine Antwort (oder eine Umgehung) der vier oben genannten, hauptsächlichen Schwierigkeiten versprach. Es hat sich jedoch als bemerkenswert schwierig gezeigt, eine befriedigende Darstellung der Erklärung unter diesen Voraussetzungen zu entwickeln, und eine Reihe von Kritiken, insbesondere jene von Nancy Cartwright, haben die Erfolgsaussichten des gesamten Unternehmens getrübt. In Anbetracht solcher starker Einwände haben die Vorreiter der kausalen Erklärungsansätze jeweils eine von zwei Optionen gewählt. Die eine von beiden besteht darin, die Humeschen Sorgen betreffend die 12
Eine Parese ist eine krankhafte, partielle Muskellähmung. [WS]
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Erklärung
Kausalbeziehung weiter zu berücksichtigen und folglich eine Analyse der Kausalität zu suchen, die keine metaphysischen Begriffe in Anspruch nimmt, welche von den Empiristen als zweifelhaft betrachtet werden. Der gründlichste Versuch, ein solches Programm durchzuführen, wurde von Wesley Salmon unternommen, der Reichenbachs Darstellung der Kausalität im Sinne eines grundlegenden Begriffs zur Bezeichnung von Ereignisübergängen weiter zu entwickeln suchte. Der alternative Ansatz lautet, das Problem dadurch zu meistern, dass man einige Kausalbegriffe zu unanalysierbar einfachen Begriffen erklärt und sich damit über die Humeschen Skrupel hinwegsetzt, wie wir wissen können, wie man die Anwendung eines solchen Begriffs dann noch als irreführend erkennen kann (vielleicht sollten die Vorschläge von Humphrey und Cartwright so betrachtet werden, dass sie diesem Ansatz folgen). Eine offenkundige Attraktion des Kausalprogramms liegt darin, dass es eine unmittelbare Antwort auf das Problem liefert, dass durch die Erklärungsasymmetrie aufgeworfen wird. Allerdings sehen nicht alle zeitgenössischen Theorien die Erklärung als eine Sache der Verfolgung von Ursachen. In den letzten Jahren haben Bas van Fraassen, Peter Achinstein und Peter Railton wichtige Beiträge zum Erklärungsverfahren geleistet, und die ersten der beiden genannten Autoren verteidigten dabei die Auffassung, dass das Unternehmen einer Suche von wesentlichen Notwendigkeitsbedingungen, die in allen Zusammenhängen anwendbar sein sollen, wo Menschen Erklärungen suchen und geben, in die Irre geht. Die Gefahr ist hier, dass solche pragmatischen Theorien der Erklärung das ganze Unternehmen trivialisieren. Denn für jede erklärungsbedürftige Frage und jede Aussage, die wir wählen, scheint irgendein Kontext konstruierbar zu sein, aus dem diese Aussage als eine angemessene (oder sogar vollkommene) erklärende Antwort auf diese Frage hervorgeht. Ein drittes Positionsbündel liegt nahe bei der Erklärungskonzeption des Covering-law-Modells. Dort wird behauptet, dass explanatorische Argumente nicht einzeln unterschieden werden, sondern durch die jeweils beste Form einer Systematisierung unseres Gesamtwissens entstehen. Michael Friedman und Philip Kitcher haben jeweils unterschiedliche Darstellungen der Erklärung entwickelt, die Argumente als explanatorisch auffassen, wenn sie zu einem System von Argumenten gehören, die bestmöglich unsere Überzeugungen vereinheitlichen. Eine Tugend dieses Ansatzes ist seine Leistung einer durchgehenden Analyse der theoretischen Erklärung; seine Hauptschwierigkeiten liegen in der richtigen Formulierung von Kriterien zur Vereinheitlichung und zur Behandlung der Erklärungsymmetrien. Die gegenwärtige Debatte ist ein Echo von Themen aus früheren Kapiteln der Geschichte der Philosophie. Humes Vorbehalte gegenüber der Verursachung schimmern hinter einigen der Bemühungen um die Artikulation kausaler Erklärungstheorien durch, wobei diejenigen, die Hume in der Frage der Verursachung widersprechen (wie etwa Cartwright), manchmal an Aristoteles erinnern, und der Vereinheitlichungsansatz schließt explizit an Kant an. Vielleicht deuten diese Affinitäten darauf hin, dass die zeitgenössischen Debatten über die wissenschaftliche Erklärung in größere metaphysische Fragen einmünden, die man unmittelbar behandeln müsste (siehe Einheit der Wissenschaft). 5. Funktionale Erklärung: eine junge Erfolgsgeschichte Ironischerweise ereignete sich gerade nach dem Zerbrechen des Konsens über das Covering-law-Modell ein bemerkenswerter Fortschritt beim Studium einer Art 406
Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
von Erklärung, die trotz sorgfältiger Studien von Hempel und Nagel, für die logischen Empiristen immer irgendwie schwierig war. Die Biologen möchten die Gegenwart eines Merkmals oder einer Struktur oft durch die Identifikation ihrer Funktion erklären, und es ist nicht klar, wie solche Erklärungen dem D-N-Schema (oder auch dem I-S-Schema) angepasst werden können. Dank der Pionierarbeit von Larry Wright sind sich die zeitgenössischen Biologie-Philosophen weitgehend in einer zentralen Idee einig: funktionale Erklärungen sind abgekürzte Fassungen von Erklärungen im Sinne der natürlichen Selektion. Die Identifikation der Funktion wird hier als das Heraussuchen einer Art von Selektionsdruck betrachtet, der dieses Merkmal (oder diese Struktur) hervorbringt und es damit ursprünglich etabliert oder vielleicht auch erhält. Die Einzelheiten dieser Idee werden auf verschiedenen Wegen von unterschiedlichen Autoren entwickelt, aber die selektionistische (oder ätiologische) Aufmachung der funktionalen Erklärung scheint eine philosophisch befriedigende Rekonstruktion von Teilen der biologischen Erkenntnispraxis zu liefern (siehe Evolution, Theorie der; Funktionale Erklärung). Eine mögliche Lehre aus dem vergleichsweise guten Erfolg beim Studium der funktionalen Erklärung ist, dass Philosophen vielleicht zu anspruchsvoll bei der Suche nach einer allgemeinen Theorie der Erklärung sind. Pragmatiker wie van Fraassen schlagen manchmal vor, dass es viele unterschiedliche Arten erfolgreicher Erklärungen geben kann, und dass es keine interessanten allgemeinen Bedingungen gibt, die von allen Fällen erfüllt sein müssen. Vielleicht ist daher die grundlegendste Frage der heutigen Erklärungstheorie, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Theorie zu suchen, die über alle Kontexte und Epochen gültig ist, oder ob das Studium der wissenschaftlichen Erklärung nicht besser lokal angesiedelt sein sollte, indem es sich auf spezifische Erklärungsformen richtet. Anmerkungen und weitere Lektüre: Pitt, J. (1989): ‚Theories of Explanation‘, New York: Oxford University Press. (Eine Sammlung vieler wichtiger, zeitgenössischer Aufsätze zur Theorie der Erklärung.) Rubin, D.-H. (1994): ‚Explanation‘, Oxford: Oxford University Press. (Eine Sammlung, die ausdrücklich zur Ergänzung des Bandes von Pitt [1989] zusammengestellt wurde.) PHILIP KITCHER
Erklärung, funktionale
Siehe: Funktionale Erklärung
Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Historiker und Sozialwissenschaftler erklären zumindest zwei Arten von Dingen ihres Gegenstandsgebietes: (a) jene individuellen menschlichen Handlungen, die eine historische oder soziale Relevanz aufweisen, wie z.B. Stalins Entscheidung, Schauprozesse abzuhalten, Diocletians Teilung des Römischen Reichs und der Versuch des Lord Chief Justice zur Reform des britischen Justizsystems; und (b) historische und soziale Ereignisse und Strukturen (soziale Großphänomene), wie z.B. Kriege, Wirtschaftsdepressionen, soziale Gewohnheiten, das Klassensystem, die Familie, der Staat und die Kriminalitätsrate. Philosophische Fragen ergeben sich hinsichtlich der Erklärungen sowohl hinsichtlich (a), als auch hinsichtlich (b).
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Erzählung
In Betreff von (b) ist die vielleicht dringendste Frage, ob Erklärungen dieser Art letztlich schlicht als einzelne Erklärungen einer großen Anzahl menschlicher Handlungen zu verstehen sind, d.h. als eine komplexe Menge von Erklärungen der ersten Art (a). Eine Kausalerklärung ist eine Erklärung von etwas nach Maßgabe seiner Ereignisursache(n). Einige Erklärungen unter (b) scheinen keine Kausalerklärungen in diesem Sinne zu sein. Dies ergibt sich auf zwei verschiedene Weisen. Erstens scheinen wir soziale Strukturen oder Ereignisse dadurch zu erklären, dass wir ihnen eine Funktion oder einen Zweck zuschreiben. Dies wäre jedoch eine Erklärung aus der Sicht der Wirkungen, statt aus jener der Ursachen. Beispielsweise könnte man behaupten, dass die Erklärung für eine gewisse soziale Gewohnheit in einer Stammesgesellschaft der Beitrag ist, den diese Gewohnheit zur sozialen Stabilität oder Gruppensolidarität beiträgt. Eine Erklärung einer Sache in Anbetracht ihrer Wirkungen kann folglich keine Kausalerklärung im Sinne der aristotelischen Wirkursache dieser Sache sein, sondern höchstens (in aristotelischer Begrifflichkeit) deren Zweckursache. Zweitens berufen wir uns häufig auf soziale Strukturen als die Erklärung eines Phänomens. Was auch immer eine soziale Struktur sein mag, ist sie doch selbst kein Ereignis, und da (wie oft behauptet wird) nur Ereignisse Ursachen sein können, scheint eine solche ‚strukturale‘ Erklärung wiederum nicht die Form einer kausalen Erklärung zu haben. Erklärungen des Typs (a) sind eine echte Teilmenge von Erklärungen allgemeiner menschlicher Handlungen. Obwohl ein Teil der Diskussion dieser Fragen in Gestalt seiner eigenen Literatur innerhalb der Geschichtsphilosophie auftrat, ist diese Diskussion nunmehr in der allgemeineren philosophischen Handlungstheorie aufgegangen. Aber selbst wenn dies so ist, bleibt die Frage offen, welche Teilmenge der menschlichen Handlungen es genau ist, die für die historischen und die Sozialwissenschaften von Interesse sind: Wie kann man bei den menschlichen Handlungen zwischen solchen unterscheiden, an denen Historiker und Sozialwissenschaftler ein legitimes Interesse haben, und solchen, die außerhalb ihres Zugriffs liegen? Siehe auch: Funktionale Erklärung DAVID-HILLEL RUBEN
Ersten Ursache, Argument der
Siehe: Gott, Argumente für die Existenz von
Erzählung
Der Begriff der Erzählung meint im weitesten Sinne das Mittel, durch das eine Geschichte erzählt wird, sei sie fiktiver Natur oder tatsächlicher, und zwar unabhängig vom Medium. Romane, Theaterstücke, Filme, historische Texte, Tagebücher und Zeitungsartikel richten sich alle auf unterschiedliche Weise auf bestimmte Ereignisse und ihre zeitlichen und kausalen Beziehungen. Im obigen Sinne des Wortes sind sie allesamt Erzählungen. Darstellungen mathematischer, physischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Prinzipien sind dies nicht. Ein engerer Sinn des Begriffs der Erzählung erfordert bereits die Anwesenheit eines Erzählers, der zwischen einer Zuhörerschaft und dem Gang des Erzählten vermittelt, oder zusätzlich auch Gegensätze durch imitierendes Sprechen, wodurch die Handlung direkt dargeboten wird, wie z.B. im Drama. Die Grenze zwischen der Erzählung im engen Sinne und
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Erziehung und Ausbildung, Philosophie der
der Imitation ist strittig, wobei einige Autoren meinen, dass offenkundig imitierende Formen immer verdeckt erzählend seien. Es wurden Versuche zur Charakterisierung fiktionaler Erzählungen in linguistischen Begriffen unternommen; eine weitere Auffassung lautet, dass die Fiktion aus Dingen besteht, die eine bestimmte – absichtliche oder tatsächliche – Wirkung auf die Zuhörerschaft haben. Theoretiker der Erzählung haben sich meist auf Beispiele der fiktionalen Art konzentriert und entwickelten eine komplexe Klassifizierung der verschiedenen erzählerischen Möglichkeiten. In jüngerer Zeit wurde der Unterschied zwischen historischer und fiktionaler Erzählung durch diejenigen betont, die überzeugt sind, dass die Geschichte nicht von den verschiedenen und miteinander widerstreitenden Erzählfassungen ist, die wir von ihr haben. Es wurde auch vorgebracht, dass dem Leben und den Handlungen eines Akteurs Wert zukommt, wenn diese Handlungen einer Konzeption dieses Lebens im Sinne einer exemplifizierenden Erzählung entsprechen. Siehe auch: Barthes, R.; Geschichte, Philosophie der; Nietzsche, F. GREGORY CURRIE
Erziehung und Ausbildung, Philosophie der
Die Philosophie der Erziehung und Ausbildung13 beschäftigt sich vor allem mit dem Wesen, den Zielen und den Mitteln der Erziehung, und darüber hinaus mit dem Charakter und der Struktur der Erziehungstheorie, sowie mit ihrer eigenen Stellung innerhalb dieser Struktur. Die Erziehungstheorie kann man am ehesten als eine Art praktischer Theorie betrachten, die im Idealfall ein nützlicher Führer in allen Fragen der täglichen Erziehungspraxis ist. Eine solche Anleitung müsste auf einer fundierten und ausgearbeiteten Darstellung von Erziehungszielen und den moralischen und politischen Dimensionen der Erziehung, und ferner auf einer angemessenen Wissenskonzeption der Lehrtätigkeit und des Lernens, auf der Bewertung, der Struktur und der Dynamik von Erziehungs- und Sozialsystemen, der Rolle der relevanten Beteiligten usw., aufbauen. Erziehungsphilosophen behandeln Fragen der Erziehung oft aus der Perspektive anderer philosophischer Unterdisziplinen und leisten auf vielfältige Weise Beiträge zu dem größeren und bislang unvollendeten Projekt einer allgemeinen Erziehungstheorie. Diese Beiträge kann man unterscheiden in Arbeiten zum Wesen und den Zielen der Erziehung, zu den normativen Dimensionen der Erziehungs- und Ausbildungsmethoden bzw. -umstände, und in solche über die konzeptionellen und methodologischen Grundlagen ihrer Methoden und Verhältnisse. Diese Beiträge können direkt geleistet werden oder im Wege einer Arbeit an den Grundlagen anderer Formen der Forschung, auf die sich die Erziehungs- und Ausbildungsphilosophie stützt. In der philosophischen Analyse und Auseinandersetzung wurden bestimmte Ziele als wesentlich für die Erziehung und Ausbildung ausgemacht, und unterschiedliche Bewegungen und Zweige der Philosophie, vom Marxismus und Existenzialismus bis zur Erkenntnistheorie und Ethik, haben ihrerseits Ziele vorgeschla13 Der englische Ausdruck education bezeichnet nicht nur das, was man auf deutsch ‚Erziehung‘ nennt, sondern bedeutet auch ‚Ausbildung‘, bzw. in zusammengesetzten Ausdrücken auch ‚Bildungs-…‘. In diesem Stichwort geht es allerdings nicht nur um einen dieser Bedeutungspunkte, sondern um den ganzen Bereich menschlicher Erziehung und Ausbildung. Deswegen wurde vorstehend der etwas umständliche Titel gewählt, um den bei einer Übersetzung als ‚Erziehungsphilosophie‘ entstehenden Eindruck zu vermeiden, es ginge nur um die kindliche Erziehung.
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Essentialismus
gen, die jedoch in allen Fällen umstritten waren. So finden wir also nebeneinander normative Theorien der Erkenntnis, des Verhaltens und der Ziele von Erziehung und Ausbildung, die durch ausgedehnte erkenntnistheoretische, logische, ästhetische und ethische Überlegungen inspiriert sind, aber auch durch den Marxismus, den Feminismus und eine Menge weiterer Lehren und Strömungen. In dieser Form des Philosophierens über die Erziehung und Ausbildung werden die Gegenstände verschiedener Zweige des philosophischen Studiums jeweils als der Zweck der Erziehung und Ausbildung vorgeschlagen, und die Bedeutung und die Verfolgung dieser Zwecke werden im Detail unter Bezugnahme auf diese Wissenszweige ausgearbeitet. Eine zweite Form der Philosophie der Ausbildung und Erziehung leitet sich von grundlegenden ethischen Theorien und Argumenten, von der Sozial- und der politischen Philosophie und von der Rechtsphilosophie ab und beschäftigt sich mit den Zielen der Erziehung und Ausbildung und der Bewertung unterschiedlicher Mittel zu ihrer Erreichung. Sie entwickelt sich aus Argumenten über die moralische, soziale und politische Eignung von Erziehungs- und Ausbildungszielen, -initiativen und -verhaltenskodizes, sowie aus solchen der moralischen Bewertung und der Methoden, Verhältnisse und Wirkungen von Erziehung und Ausbildung. Die aktuelle Debatte ist beherrscht von Bemühungen um die Rechte und die Freiheit der Kinder, sowie um Fragen der Autorität, der Kontrolle und der Berufsethik. Die Philosophie der Erziehung und Ausbildung hat sich mittels Überprüfung ihrer Vorannahmen über die Struktur bestimmter Wissensbereiche und die mentale Situation von Lernenden auch um die Entwicklung von Leitlinien für die Praxis bemüht; dies betraf auch das Lernen, die Entwicklung, die Motivation und die Kommunikation und den Erwerb von Wissen und Verständnis. Die Wissenschaftsphilosophie und die Philosophie der Mathematik haben wiederum Einfluss auf die Lehrpläne, die Pädagogik und die Leistungsbewertung in der naturwissenschaftlichen und mathematischen Lehre genommen. Die Philosophie des Geistes, der Sprachphilosophie und jene der Psychologie haben Einfluss auf die Grundlagen unseres Verständnisses, wie Lernen vor sich geht, und folglich auch darauf, wie die Lehre am sinnvollsten stattzufinden hat. RANDALL R. CURREN
Essentialismus
Die Essentialisten meinen, dass nicht alle Eigenschaften eines Gegenstandes denselben Status haben. Einige seien ‚essentiell‘ oder ‚wesentlich‘ für diesen Gegenstand, andere nur ‚akzidentell‘. Es ist allerdings schwierig zu erklären, was der Ausdruck ‚wesentlich‘ überhaupt meint. Die wesentlichen Eigenschaften eines Dinges sind jene, derer dieses Ding bedarf, um dasjenige Ding zu sein, das es tatsächlich ist. Dies kann jedoch auf unterschiedliche Weise aufgefasst werden. Traditionell meinte man, dass F ausschließlich wesentlich für x ist, wenn F Teil von dem ist, ‚was x ist‘, wie es sich aus der Definition von x ergibt. Seit den 1950er Jahren verliert diese definitionsbasierte Konzeption des Wesens an Nachvollziehbarkeit zugunsten der modalen Konzeption: x ist ausschließlich dann wesentlich F, wenn notwendigerweise, was immer auch x ist, dies die Eigenschaft F hat. Hiermit äquivalent ist die Aussage, dass x F sein muss, damit es überhaupt existiert. Ein weiterer Ansatz betrachtet die wesentlichen Eigenschaften von x als jene, die der Masse der übrigen Eigenschaften von x zugrunde liegen und deren Grund sind. 410
Ethik
Die Akzeptanz irgendeiner Form von Unterscheidung zwischen den wesentlichen und den akzidentellen Eigenschaften scheint der Praxis des metaphysischen Denkens selbst innezuwohnen. Denn die Metaphysiker interessiert nicht nur irgendein altes Merkmal von Gegenständen, sondern diejenigen Eigenschaften, die diesen Gegenstand zu dem machen, was er ist. Die Unterscheidung zwischen wesentlichen und akzidentellen Eigenschaften hilft, mit anderen Worten, zur Bezeichnung und Abgrenzung des Gegenstandsgebietes der Metaphysik. Sie bildet aber auch einen Teil dieses Gegenstandsgebietes. Wenn Gegenstände bestimmte Eigenschaften auf besondere, grundlegende Weise haben, dann ist dies ein Phänomen von großer metaphysischer Bedeutung. Siehe auch: Aristoteles, § 8; Definition; Identität des Ununterscheidbaren; Locke, J., § 5; Natürliche Arten; Substanz STEPHEN YABLO
Essenz
siehe: Essentialismus
Ethik 1. Ethik und Metaethik 2. Ethische Begriffe und ethische Theorien 3. Angewandte Ethik 1. Ethik und Metaethik Was ist Ethik? Erstens wird das System der Werte und Gebräuche, die in den Lebensformen bestimmter Gruppen von Menschen verwirklicht werden, als die Ethik dieser Gruppen beschrieben. Philosophen mögen sich zwar um die Darstellung dieser Systeme bemühen; üblicherweise wird dies jedoch als eine Aufgabe der Anthropologie betrachtet. Zweitens wird der Ausdruck ‚Ethik‘ zur Bezugnahme speziell auf ein Element dieses Systems verwendet, nämlich der Moralität, die wiederum solche Begriffe wie die Richtigkeit oder Falschheit, Schuld und Scham etc. mit sich bringt. Eine zentrale Frage ist hier, wie man am besten dieses System charakterisieren kann. Hat ein moralisches System bestimmte Funktionen, wie beispielsweise jene, die Kooperation zwischen Einzelnen zu ermöglichen, oder muss es gewisse Gefühle beinhalten wie beispielsweise jene, die mit der Schuld zu tun haben (siehe Moralität und Ethik; Moralische Gefühle)? Dritten kann sich der Ausdruck ‚Ethik‘ innerhalb dieses Moralsystems selbst noch auf aktuelle moralische Prinzipien beziehen: ‚Warum hast Du dieses Buch nicht zurückgegeben? ‘ – ‚Weil dies unter diesen Umständen das einzig mögliche ethische Verhalten war.‘ Schließlich ist die Ethik jenes Gebiet der Philosophie, die sich mit dem Studium der Ethik in den anderen Bedeutungen dieses Wortes beschäftigt. Es ist wichtig die Erinnerung daran wach zu halten, dass die philosophische Ethik nicht unabhängig von anderen Gebieten der Philosophie ist. Die Antworten auf viele ethische Fragen hängen von Antworten auf andere Fragen der Metaphysik und anderen Bereichen des menschlichen Denkens ab (siehe Ästhetik und Ethik; Metaphysik). Darüber hinaus 411
Ethik
haben sich die Philosophen bemüht, eine Brücke zwischen der ethischen Sphäre des Lebens selbst und anderen Sphären zu schlagen (siehe Kunst und Moralität; Gesetz und Moralität). Einige Philosophen haben aus philosophischen Gründen Zweifel daran geäußert, ob die Philosophie überhaupt der beste Ansatzpunkt für die Ethik ist. Und selbst diejenigen, die meinen, die Philosophie habe einen Beitrag zu leisten, können der Auffassung sein, dass sich die ethische Rechtfertigung auf alltägliche Überzeugungen oder Beispiele des wirklichen Lebens außerhalb der Philosophie beziehen muss (siehe Moralische Begründung). Eine zentrale Aufgabe der philosophischen Ethik ist es zu artikulieren, aus was die Ethik oder Moral besteht. Dies ist die Aufgabe der Metaethik. Was kennzeichnet gerade den moralischen Standpunkt, im Gegensatz zu anderen? Einige meinten, dass die Forderungen der Moral äquivalent seien mit den Forderungen der allgemeinen Vernunft, wogegen andere die Moralität lediglich als eine Quelle der Vernunft sehen (siehe Normativität; Praktische Vernunft und Ethik). Wieder andere schlugen vor, dass alle Vernunft von Eigeninteressen gekennzeichnet sei, und meinten, dass die Sorge um andere letztlich irrational ist (siehe Egoismus und Altruismus). Dies muss an sich dem Begriff der Moralität allerdings noch nicht abträglich sein, denn ein moralisches System kann so betrachtet werden, dass es seine Teilnehmer begünstigt (siehe Vertragstheorie; Entscheidungs- und Spieltheorie). Der moralische Standpunkt wird oft so beschrieben, als gründe er auf einer Konzeption des gegenseitigen Respekts (siehe Gleichheit). Es gibt aber auch Debatten darüber, welches Verhalten eine unvoreingenommene Moral voraussetzt (siehe Unvoreingenommenheit). Ein weiterer Fragenkreis bezieht sich darauf, was einem Wesen moralischen Status verleiht, entweder als Gegenstand moralischer Sorge, oder selbst als ein moralischer Akteur (siehe Moralischer Akteur; Verantwortung). Und wie wirkt sich unser Verständnis der menschlichen Natur auf unsere Konzeption von Moralität und moralischem Handeln aus? Sobald wir eine Vorstellung davon entwickelt haben, was Ethik ist, können wir nach den moralischen Prinzipien selbst zu fragen beginnen. Moralische Prinzipien werden häufig so aufgefasst, als bezeichneten sie nur zu erfüllende Pflichten. Gegen diese Auffassung hat sich jedoch in neuerer Zeit Widerstand geregt. Es wurde eingewandt, dass ein solcher Begriff des moralischen Prinzips veraltet sei, und dass er von einer Konzeption der Moral als einem göttlichen Gesetz abhinge, dass in der modernen Welt nunmehr geringe Relevanz hätte (siehe Anscombe, G.E.M.; Schopenhauer, A.). Andere wiederum brachten dagegen vor, dass es das Ergebnis einer maskulinen Überbetonung von Regeln auf Kosten der Empathie und der gegenseitigen Hilfe sei (siehe Wollstonecraft, M.). Diese Zweifel stehen in Bezug zu allgemeinen Bemühungen um die Rolle, die die Prinzipien im ethischen Denken spielen sollten. Die Situationsethiker meinen, dass bestimmte Umstände zur Aufgabe jeglicher moralischer Bestimmungen führen können, und die Partikularisten sagen ergänzend, dass dies so sei, weil man nicht davon ausgehen könne, dass eine Begründung, die in einem Falle gilt, auch in anderen Fällen gelten wird (siehe Moralischer Partikularismus; Situationsethik). Die kasuistische Tradition hat moralische Prinzipien angewandt, aber immer auf der Grundlage, dass es kein absolut übergeordnetes Prinzip gibt, mit dessen Hilfe man Prinzipienkonflikte entscheiden könnte. Am anderen Ende des Spektrums versuchten 412
Ethik
einige Philosophen die Moral so zu verstehen, als bestünde sie selbst aus nichts als einem Prinzip, wie beispielsweise dem Satz ‚Du sollst nicht lügen‘. Pflichten wurden ebenfalls als etwas betrachtet, was nur einen Teil der Moral ausmacht, was auch die Möglichkeit eröffnet, heroisch über den Ruf der Pflicht hinauszugehen (siehe Überverdienstlichkeit). Dies ist eine Frage der Geltungsbreite des Begriffs der Pflicht innerhalb der Moral. Es gibt aber auch Fragen betreffend den Geltungsbereich moralischer Prinzipien im allgemeinen Sinne. Ist ein geltendes moralisches Prinzip überall und zu allen Zeiten anwendbar, oder ist die Moralität in irgendeiner Form an einen Ort und eine Zeit gebunden (siehe Moralischer Relativismus; Universalismus in der Ethik)? Diese Frage steht im Zusammenhang mit jener, was passiert, wenn jemand sich von der Moral leiten lässt oder ein moralisches Prinzip aufstellt (siehe Erkenntnistheorie und Ethik; Moralisches Urteil; Moralisches Wissen). Wie wird die Fähigkeit zum moralischen Urteil erworben (siehe Murdoch, I.)? Der Standpunkt, demzufolge die Menschen einen besonderen moralischen Sinn besitzen oder eine intuitive Fähigkeit dazu, die oft mit dem Gewissen identifiziert wird, findet sich noch unter jüngeren Intuitionisten (siehe Cudworth, R.; Hutcheson, F.; Intuitionismus in der Ethik; Moralischen Empfindens, Theorien des; Moore, G.E.; Ross, W.D.). Andererseits ist auch der Skeptizismus gegenüber den Ansprüchen der Moralität weiterhin eine verbreitete Ansicht (siehe Moralischer Skeptizismus; Nietzsche, F.). In den letzten Jahrhunderten hat sich eine Dichotomie zwischen denen ergeben, die meinen, dass die Moral allein auf der Vernunft basiere, und jenen, die davon ausgehen, dass auch irrationale Komponenten, wie beispielsweise der Wunsch oder die Gefühle, daran beteiligt seien (siehe Hume, D.; Moral und Gefühl; Rationalismus). Die Leugnung des reinen Rationalismus muss nicht notwendig zu einer Aufgabe der Moral führen. Viel Mühe wurde im 20. Jahrhundert auf die Frage verwandt, ob moralische Urteile nicht am ehesten als Überzeugungen verstanden werden sollten (und somit zu Kandidaten wahrer und falscher Aussagen würden), oder als verkleidete Gefühlsausdrücke oder Befehle (siehe Emotivismus; Präskriptivismus). Gibt es moralische Experten, oder ist jede Person vollkommen dafür verantwortlich, seine eigene Moral zu entwickeln (siehe Moralische Expertise)? Diese Fragen werden in enger Beziehung zu solchen betreffend die moralische Motivation gesehen (siehe Moralische Motivation). Moralische Urteile scheinen die Menschen zu motivieren, und folglich ist man versucht zu denken, dass die Wünsche eine Schlüsselrolle in ihnen spielen. Moralische Prinzipien kann man so verstehen, als beruhten sie auf moralischen Werten, und die Diskussion darüber ist noch nicht zu Ende, wie man diese Werte beschreiben kann, und welche bewertenden Vorannahmen ethisch begründet werden müssen (siehe Werte). Gegen die Emotivisten und andere haben die moralischen Realisten die Existenz von Werten eingewandt, wobei einige die moralischen Eigenschaften mit solchen Eigenschaften identifizieren, die sonst in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen postuliert werden (siehe Tatsache/Wert-Unterscheidung; Moralischer Realismus; Naturalismus in der Ethik). 2. Ethische Begriffe und ethische Theorien Einige ethische Theorien sind breit angelegt und sehr allgemein, d.h. sie suchen nach allgemeinen Prinzipien oder Erklärungen der Moral. Diese konzentrieren sich 413
Ethik
allerdings meist auf die Analyse der zentralen ethischen Begriffe selbst. Ein solcher Begriff, der im Brennpunkt vieler Diskussionen der vergangenen Jahre stand, ist jener der Autonomie (siehe Autonomie, ethische). Das Interesse an der Selbststeuerung liegt in direkter Nachbarschaft zu anderen Fragen, die das Selbst betreffen, sowie dessen moralisches Wesen und seine ethischen Beziehungen zu anderen (siehe Akrasie; Determinismus und Indeterminismus; Evolution und Ethik; Freier Wille; Selbsttäuschung, Ethik der; Wille, der) und die Beziehungen dieses Selbst zu anderen solchen im sozialen Kontext (siehe Solidarität). Andere diskutierte Punkte betreffen das Wesen der moralischen Ideale und den Begriff des verdienten Lohns und der moralischen Verantwortung (siehe Ideale; Moralisches Glück). Die Frage, was ein gutes menschliches Leben ausmacht, steht im Zentrum der Ethik, seit die Griechen die Eudämonie (‚das Glück‘) untersuchten (siehe Aristoteles; Eudämonie; Glück; Lebens, Sinn des; Platon; Sokrates). Die Theorie eines Philosophen über das Gute wird praktisch immer recht eng mit seinen Ansichten über andere zentrale Fragen verbunden sein (siehe Guten, Theorien des). Beispielsweise waren einige derjenigen, die ein starkes Gewicht auf die Sinneserfahrung in unserem Verständnis der Welt legen, von der Sichtweise angezogen, dass das Gute vollständig aus einer bestimmten Art von Erfahrung besteht, nämlich der Lust (siehe Empirismus; Lust). Andere behaupteten, dass es im Leben mehr gibt als nur das reine Vergnügen, und dass das gute Leben in der Erfüllung unserer komplexen menschlichen Natur liegt. Aber auch ‚das Böse‘ haben die Philosophen nicht vergessen. Die Moralphilosophie oder die Ethik hat sich über lange Zeiträume, und sei es nur teilweise, mit dem Eintreten für bestimmte Lebensweisen oder Handlungen beschäftigt. Einige dieser Traditionen sind inzwischen untergegangen (siehe Askese, MacIntyre, A.); es gibt aber immer noch eine große Bandbreite an Vorschlägen, wie wir leben sollten. Eine zentrale moderne Tradition ist in Gestalt des Konsequenzialismus entstanden (siehe Konsequenzialismus). Nach dieser Auffassung sind wir, zumindest nach ihrem üblichen Verständnis, moralisch verpflichtet, überall das größtmögliche Gut hervorzubringen. Die einflussreichste Theorie war jene, dass das einzige Gute das Wohlergehen oder das Glück individueller Menschen oder anderer Tiere ist, die, wenn man sie mit dem Konsequenzialismus kombiniert, zum Utilitarismus wird (siehe Bentham, J.; Mill, J.S. ; Utilitarismus). Üblicherweise sagt man, dass die konsequenzialistischen Auffassungen auf dem Guten beruhen statt auf dem Richtigen (siehe Richtige und Gute, Das; Rechte). Theorien, die auf dem Recht aufbauen, könnte man als deontologisch bezeichnen (siehe Deontologische Ethik). Die krönende Figur in der deontologischen Tradition war im 18. Jahrhundert Immanuel Kant (siehe Kant, I.; Kantische Ethik). Solche Theorien fordern beispielsweise, dass wir ein Versprechen halten sollten, selbst wenn das Gute allerorten mehr befördert würde, wenn wir das Versprechen brächen, oder dass es Einschränkungen dessen gibt, was wir vorsätzlich zur Beförderung des Guten tun können (siehe Doppeleffekts, Prinzip des; Versprechen). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regte sich Widerstand gegen einige der als übertrieben empfundenen Forderungen des Konsequenzialismus und der deontologischen Ethik, und man wandte sich wieder dem Begriff der antiken Tugendethik zu (siehe Aretē; Tugendethik; Tugenden und Laster). Die Arbeiten auf diesem Gebiet enthielten teilweise Angriffe gegen die vorangehende moderne Ethik,
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Ethik
darüber hinaus aber auch weitere Ausarbeitungen und Analysen der Tugenden und damit zusammenhängender Begriffe (siehe Liebe; Vertrauen; Wahrhaftigkeit). 3. Angewandte Ethik Die philosophische Ethik ist immer in gewissem Umfang auch auf das wirkliche Leben angewandt worden. Schon Aristoteles meinte beispielsweise, es hätte keinen Sinn, die Ethik zu studieren, so lange man darin keinen Nutzen für das eigene Leben sehe. Seit den 1960er Jahren hat sich das Interesse an einer detaillierten Diskussion spezieller Fragen der zeitgenössischen, praktischen Ethik jedoch nochmals erhöht (siehe Angewandte Ethik). Ein Gebiet, in dem die Ethik schon immer eine wichtige Rolle spielte, ist die Medizin, und zwar speziell in Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht (siehe Bioethik; Leben und Tod; Medizinische Ethik; Selbstmords, Ethik des). Kürzlich wurden neue Forschungsgebiete eröffnet, teilweise infolge des Fortschritts der Naturwissenschaften und der Technik (siehe Genetik und Ethik; Reproduktion und Ethik). Ferner haben gewisse Bereiche der medizinischen Praxis, die zuvor nicht über eine eigene, abgegrenzte Ethik verfügten, nunmehr auch an deren eigener Formulierung zu arbeiten begonnen. Diese Entwicklung ist Teil einer größer angelegten Bewegung, in die auch Forschungsbemühungen zu den ethischen Erfordernissen bestimmter Berufsgruppen einfließen. Ein Teil dieser Forschungsbemühungen verdankt sich wiederum dem naturwissenschaftlichen Fortschritt und seinen Folgen für die öffentlichen Belange (siehe Technologie und Ethik). Aber auch solche Berufsgruppen erfuhren neue Aufmerksamkeit, die bislang keiner besonderen ethischen Analyse ausgesetzt waren (siehe Wirtschaftsethik; Journalismus, Ethik des; Berufsethik). Unser Planet und jene, die auf ihm leben und auch leben wollen, sind in jüngster Zeit insgesamt Gegenstand politischer Sorge geworden, und dies hatte auch eine Wirkung auf die Philosophie (siehe Tiere und Ethik; Umweltphilosophie; Umweltethik; Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber; Bevölkerung und Ethik; Nachhaltigkeit). Aber in dem Umfang, wie sich die Bandbreite der ethischen Betrachtung erweitert hat, hat sich auch das Interesse an einzelnen Details menschlicher Beziehungen erneuert, sei es der persönlichen, oder jener zwischen Staaten und Individuen (siehe Familie, Ethik und die; Freundschaft; Marktes, Ethik des; Paternalismus; Politische Philosophie; Pornographie; Sexualität, Philosophie der; Wirtschaftswissenschaft und Ethik). Siehe auch: Aristoteles, §§ 22–26; Augustinus; Daoistische Philosophie; Konfuzianische Philosophie, chinesische; Mencius; Pflicht und Tugend, Indischer Begriff von
Anmerkungen und weitere Lektüre: Rachels, J. (1986): ‚The Elements of Moral Philosophy‘, New York: Random House. (Eine hilfreiche Einführung in die Metaethik und die ethische Theorie, die auch sinnvolle Beispiele des täglichen Lebens enthält. Mit weiterführenden bibliographischen Hinweisen.) Singer, P. (Hrg.) (1991): ‚A Companion to Ethics‘, Oxford: Blackwell. (Enthält kurze und prägnante Aufsätze zu zentralen Fragen der Ethik einschließlich der Metaethik, der ethischen Theorie und der angewandten Ethik. Die Aufsätze werden ergänzt durch nützliche Bibliographien.) 415
Eudämonie
Timmons, M. (2002): ‚Moral Theory: An Introduction‘. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. (Ein klarer und informierter Überblick über verschiedene ethische Theorien einschließlich der Theorie des göttlichen Befehls, des moralischen Relativismus, des Naturgesetzes, des Utilitarismus, des Kantianismus, des moralischen Pluralismus, der Tugendethik und des Partikularismus.) ROGER CRISP
Ethik in der indischen Philosophie
Siehe: Pflicht und Tugend, Indischer Begriff von
Ethischer Naturalismus
Siehe: Naturalismus in der Ethik
Euklidische Geometrie Siehe: Thales
Eudämonie
Die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes eudaimonia lautet: ‚einen guten Wächtergeist haben‘, d.h. der Zustand, in dem man ein objektiv wünschenswertes Leben hat. Dies war das in der antiken philosophischen Theorie und auch dem damaligen populären Denken allgemein höchste anerkannte menschliche Gut. Der objektive Charakter unterscheidet die Eudämonie vom modernen Begriff des Glücks als ein subjektiv befriedigendes Leben. Große Teile der antiken Theorie bemühten sich um die Frage, was ein gutes Leben auszeichnet, ob dafür beispielsweise die Tugendhaftigkeit eines Menschen ausreiche, wie Sokrates und die Stoiker meinten, oder ob hierfür auch externe Güter erforderlich seien, wie Aristoteles behauptete. Immoralisten wie Thrasymachos (in Platons Politeia) versuchte die Moral mit dem Einwand zu diskreditieren, dass sie die Erlangung der eudaimonia verhindert, während ihre Verteidiger (einschließlich Platon) vorbrachten, dass sie notwendig und/oder hinreichend für die eudaimonia sei. Der Vorrang der eudaimonia impliziert jedoch weder den Egoismus (da der Altruismus selbst ein Bestandteil des guten Lebens ist), noch den Konsequenzialismus (weil das gute Leben nicht unabhängig vom moralischen Leben bestimmt werden kann). Die Kluft zwischen den eudämonistischen und den kantischen Theorietypen ist daher enger, als allgemein angenommen wird. C.C.W. TAYLOR
Euthanasie
Siehe: Leben und Tod (§§ 3, 4)
Evidenz
Der Ausdruck ‚Evidenz‘ (lat. evidentia = Offensichtlichkeit; engl.: evidence = Aussage, Zeugnis, Beweis; Ergebnis, Unterlage, Beleg) bedeutet alltagssprachlich: Augenschein, Offenkundigkeit, völlige Klarheit. ‚Das ist doch evident‘ bedeutet somit, dass etwas nicht weiter hinterfragt werden muss. Immanuel Kant bezeichnete sie als „anschauliche Gewissheit“, Edmund Husserl als „Selbstgegebenheit“. Die Evidenz ist folglich eine Art Wahrheitskriterium für solche Sätze, die man nicht von grundlegenderen Sätzen ableiten oder auf andere Weise hinterfragen kann. In der Rhetorik interessiert weniger die objektive Evidenz, in der sich eine Wahrheit oder ein Sachverhalt als solche(r) unbezweifelbar ‚zeigt‘,
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Eudämonie
als vielmehr die subjektive oder psychologische Evidenz, die sich in einem Gefühl der Überzeugtheit ausdrückt. Obwohl wir in der Evidenz eine Einsicht ohne methodische Vermittlungen vor uns haben, ist sie eine der wesentlichen Säulen unseres Argumentierens und als solche, wie der deutsche Philosoph Wolfgang Stegmüller in seinem Buch ‚Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft‘ (Berlin 1969) ausführt, selbst Methode: „All unser Argumentieren, Ableiten, Widerlegen, Überprüfen ist ein ununterbrochener Appell an Evidenzen, wobei [...] das ‚Appell an...‘ nicht so misszuverstehen ist, als würde die Evidenz jeweils den Gegenstand der Rechtfertigung darstellen. Sie ist das ‚Wie‘ und nicht das ‚Worüber‘ des Urteilens.“ So berufen wir uns in Wissenschaft und Alltag also beständig auf ‚evidente‘ Sätze, auf ‚offensichtliche‘ und ‚selbstverständliche‘ Einsichten, ohne den eigentlichen Charakter dieser Einsichten jemals beweisen zu können, denn, so Stegmüller: „... das Evidenzproblem ist absolut unlösbar ... alle Argumente für die Evidenz stellen einen circulus vitiosus dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch. ... Wer für die Evidenz argumentiert, begeht einen Zirkel, denn er will beweisen, dass es die Evidenz gibt; das zu Beweisende soll also das Ergebnis der Überlegungen darstellen, während er vom ersten Augenblick seiner Argumentation an Evidenz bereits voraussetzen muss. Wer gegen sie argumentiert, begeht einen Selbstwiderspruch; denn er muss ebenfalls voraussetzen, dass seine Argumentationen evident sind.“ Gleichwohl ist die Berufung auf die unmittelbare, d.h. nicht weiter hinterfragbare Selbstgewissheit einer intersubjektiv bestätigten Wahrnehmung (in verbesserter Form: die mehrfach bestätigte Selbstgewissheit mehrerer Individuen, die alle ein entsprechendes Urteilsvermögen besitzen) eine unverzichtbare, ja fundamentale Voraussetzung aller empirischen Wissenschaft, und vielleicht sogar noch der rein logischen Aussagen. Wer dies leugnet, begibt sich faktisch in eine solipsistische Position, die im Übrigen selbst nicht mit Gewissheit behauptet werden kann, weil auch das Gegenteil der Evidenz, also die Nicht-Evidenz, für einen solchen Skeptiker unbeweisbar ist. Die Frage ist also weniger, ob eine Berufung auf die Evidenz einer behaupteten Tatsache grundsätzlich zulässig ist, als vielmehr, welche Anforderungen an die Behauptung von Evidenzen gestellt werden müssen, damit eine solche Aussage als wahr gelten kann. Diesbezüglich liegt es nahe, ein probabilistisches Kriterium einzuführen: versteht man eine empirische Behauptung primär nicht an sich als wahr oder falsch, sondern als eine Behauptung der (sehr hohen) Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines gleichen Evidenzereignisses unter gewissen Bedingungen, so sind es diese bestimmten Bedingungen, die von jedem Interessierten nachvollzogen und auf das Eintreten ihrer Konsequenzen hin geprüft werden können. Damit verschiebt sich die Frage nach dem Recht einer Berufung auf die Evidenz im Wesentlichen auf die Frage nach der Gültigkeit induktiver Schlüsse. Siehe auch: Induktiver Schluss GEORG SULTAN
Evolution und Ethik
Die Tatsache, dass die Menschen ein Produkt der biologischen Evolution sind, scheint sich auf zwei verschiedene Weisen auch auf das Studium der Ethik auszuwirken. Erstens können evolutionäre Ideen Hilfestellung bei der Darstellung geben, warum die Menschen die ethischen Gedanken und Gefühle haben, die sie tatsächlich aufweisen. Zweitens können evolutionäre Ideen ein Licht darauf werfen, wel417
Evolution, Theorie der
che normativen ethischen Ansprüche, wenn es denn solche gibt, wahr oder richtig sind. Diese Zwillingsaufgabe in Gestalt von Erklärung und Rechtfertigung kann auf jeder Seite nochmals unterteilt werden. Evolutionäre Überlegungen könnten relevante Erklärungsmomente zu einer Moral beisteuern, die kulturell universell ist; darüber hinaus kann sie erklären helfen, warum sich einzelne Menschen oder ganze Gesellschaften für unterschiedliche Ethiken einsetzen. Hinsichtlich der Frage der Rechtfertigung wurden immer wieder Überlegungen laut, die zeigten, dass die Ethik eine ausgefeilte Illusion ist, d.h. ein Mittel zur Verteidigung von unterschiedlichen Fassungen eines ethischen Subjektivismus und Emotivismus. Evolutionäre Überlegungen wurden jedoch ins Feld geführt, um ethische Normen zu rechtfertigen. Obwohl es keinen Konflikt zwischen einer Verwendung evolutionärer Auffassungen sowohl zur Erklärung von universellen Zügen, als auch zur Erklärung von sich wandelnden Aspekten der Ethik gibt, ist es doch inkonsistent zu behaupten, dass die Evolution die Ethik demaskiert, um andererseits mit ihr ethische Normen zu rechtfertigen. Siehe auch: Menschliche Natur; Soziobiologie; Spencer, H. ELLIOTT SOBER
Evolution, Theorie der
Die biologische Theorie der Evolution arbeitet an der Auffassung, dass die Vielfalt der Formen des Lebens auf der Erde das Ergebnis einer Abstammung unter Veränderungen von den frühesten Lebensformen ist. Die Evolutionstheorie versucht nicht die Ursprünge des Lebens selbst zu erklären, d.h. wie die frühesten Lebensformen zustande kamen, noch ist sie auf die Geschichte der Veränderungen des nicht-biologischen Teils des Universums anwendbar, der ebenfalls oft als ‚evolutionär‘ beschrieben wird. Die Mechanismen der natürlichen Auslese, der Mutation und der Artbildung werden in der Evolutionstheorie zur Erklärung der Beziehungen und Merkmale aller Formen des Lebendigen eingesetzt. Die moderne Evolutionstheorie erklärt eine große Bandbreite natürlicher Phänomene, einschließlich der tiefen Ähnlichkeiten zwischen Organismen, der Vielgestaltigkeit der Lebensformen, die Existenz rudimentärer Organe in Organismen und die Angepasstheit von Organismen an ihre Umwelt. Der Mechanismus der natürlichen Auslese, der oft mit dem Slogan ‚The survival of the fittest‘ (dt.: ‚Der Angepassteste überlebt‘) zusammengefasst wird, umfasst in Wirklichkeit zahlreiche sehr unterschiedliche Prozesse. Es muss Unterschiede in den Eigenschaften der Mitglieder einer Population geben; diese Eigenschaften müssen von Eltern zu ihren Nachkommen weitergegeben werden; und die unterschiedlichen Merkmale müssen wiederum unterschiedliche Vorteile für die erfolgreiche Reproduktion in der jeweiligen Umwelt mit sich bringen. Weil der Beweis für jeden dieser Prozesse unabhängig von einem evolutionären Anspruch erbracht werden kann, können Szenarien der natürlichen Selektion sehr stabil getestet werden. Wenn sich ein Merkmal einer Population etabliert hat, weil es direkt auf diesem Wege selektiert wurde, so nennt man dieses Merkmal eine Anpassung. Die genetische Mutation ist die treibende Quelle der Veränderung, und der Selektionsprozess gestaltet diese Veränderungen zu Anpassungsformen um. Zufällige genetische Bewegungen und unterschiedliche Ebenen und Formen der Selektionsdynamik, die von Genetikern entwickelt wurden, fließen in eine allgemeine Theorie des evolutionären Wandels ein, der die natürliche Auslese und die genetische Mu418
Ewigkeit
tation als komplementäre Prozesse umfasst. Detaillierte ökologische Studien verschaffen weiteren Einblick in Selektionsszenarien, die auch die Evolution der Arten in der Wildnis einschließen. Die Evolutionstheorie wird durch einen ungewöhnlich breiten Bereich naturwissenschaftlicher Beweise unterstützt, der so verschiedene Gebiete wie die Geologie, die Embryologie, die Molekulargenetik, die Paläontologie, die Klimatologie und die funktionale Morphologie umfasst. Wegen der Spannungen zwischen einer evolutionären Sicht des homo sapiens und einigen religiösen Überzeugungen ist die Evolutionstheorie in der öffentlichen Diskussion viel länger umstritten gewesen als andere naturwissenschaftliche Theorien, die in nicht geringerem Maße von anderen Wissenschaften bestätigt wurden. Siehe auch: Darwin, C.R.; Evolution und Ethik ELISABETH A. LLOYD
Ewigkeit
Der kennzeichnungsstarke und philosophisch interessante Begriff der Ewigkeit kam sehr früh in der Geschichte der Philosophie als der Begriff für eine Weise des Existierens auf, das nicht nur ohne Anfang und ohne Ende sein sollte, sondern auch wesentlich von der Zeit selbst unterschieden. Er wurde in die frühe griechische Philosophie als eine Existenzweise eingeführt, die für die grundlegende Wirklichkeit erforderlich war (das Sein), im Gegensatz zur gewöhnlichen Erscheinung (das Werden). Dem Begriff wurde seine klassische Formulierung aber erst durch Boethius gegeben, der die Ewigkeit als die Existenzweise Gottes ansah, und der Gottes Ewigkeit als die „vollständige und gleichzeitige Einnahme des unbeschränkbaren Lebens“ ansah. In der von Boethius definierten Form war der Begriff in der mittelalterlichen Philosophie wichtig. Die Elemente der Definition des Boethius sind das Leben, die Unbeschränkbarkeit (und folglich die Dauer), und die Abwesenheit der Nachfolge (oder der Zeitlosigkeit). Definiert man ihn auf diese Weise, ist die Ewigkeit etwas, was einer Entität zukommt, die als Geist oder eine Person identifiziert werden kann (und lebt genau in diesem Sinne), gleichwohl aber ohne Anfang, noch Ende, und auch zeitlos existiert. Ein solcher Begriff wirft offenkundig Schwierigkeiten auf. Einige Philosophen meinen, dass diese Schwierigkeiten gelöst werden können, andere wiederum meinen, dass der Begriff im Licht solcher Schwierigkeiten verändert oder einfach als inkohärent verworfen werden muss. Die deutlichste Schwierigkeit betrifft dabei die Kombination von Zeitlosigkeit und Dauer. Spezielle Einwände zeigten sich auch in Verbindung mit der Zuschreibung der Ewigkeit zu Gott. Teilweise wurde behauptet, dass ein ewiges Wesen überhaupt nichts tun könne, insbesondere nicht in der zeitlichen Welt. Aber der Begriff eines Handelns nichtzeitlicher Personen ist nicht inkohärent. Solche Handlungen wie beispielsweise das Wissen notwendiger Wahrheiten oder der Wille, dass die Welt für eine bestimmte Zeitdauer existiert, sind Handlungen, die für sich gesehen keine Zeit in Anspruch nehmen und auch keiner zeitlichen Verortung bedürfen. Ein ewiger Gott könnte solche Erkenntnis- und Willensakte vollziehen, und er könnte sogar Dinge tun, die so aussehen, als erforderten sie eine zeitliche Verortung, wie beispielsweise die Antwort, die er einem Betenden gibt. Der Begriff von Gottes Ewigkeit ist in zahlreichen Fragen der Philosophie und der Religion relevant, einschließlich der offensichtlichen Unversöhnlichkeit der 419
Existenzialismus
göttlichen Allwissenheit mit der ebenfalls göttlichen Unveränderlichkeit und mit der menschlichen Freiheit. Siehe auch: Gott, Begriffe von ELEONORE STUMP, NORMAN KRETZMANN
Existenz
Philosophische Probleme betreffend die Existenz fallen unter zwei Haupttitel: ‚Was ist Existenz?‘ und ‚Was für Dinge existieren?‘. Die Schwierigkeit liegt in der Trennung dieser beiden Fragen. Die Frage ‚Was ist Existenz?‘ hat eine überraschende Vielfalt von Antworten hervorgebracht. Manche meinten, die Existenz sei eine Eigenschaft, die jedes Einzelding besitzt, andere sagen, sie sei ein Merkmal, dass einigen Einzeldingen zukomme, anderen wiederum nicht (beispielsweise den imaginären Dingen), während Verfechter der These ‚Die Existenz ist kein Prädikat‘ behaupten, dass die Existenz überhaupt keine Eigenschaft bzw. kein Merkmal von Einzeldingen ist. Andere philosophische Diskussionen betreffend die Existenz fragen, ob es abstrakte Gegenstände (z.B. Zahlen oder Universalien) genauso gibt wie konkrete Dinge, immaterielle Seelen genauso wie Körper, mögliche Gegenstände genauso wie wirkliche etc. Und es gibt Fragen darüber, welche Entitäten (wenn es überhaupt solche gibt) die fundamentalen Bestandteile der Wirklichkeit sind. Siehe auch: Sein; Freie Logiken; Ontologische Verpflichtung; Ontologie PENELOPE MACKIE
Existenzialismus Einführung Der Ausdruck ‚Existenzialismus‘ wird manchmal für die Werke Jean-Paul Sartres reserviert, der ihn zur Bezeichnung seiner eigenen Philosophie in den 1940er Jahren verwendete. Häufiger wird er dagegen als allgemeiner Name für eine Reihe von Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts verwandt, die das konkrete Individuum in den Mittelpunkt ihres Denkens stellten. Der Existenzialismus kam in diesem weiteren Sinne als Gegenbewegung zu philosophischen und naturwissenschaftlichen Systemen auf, die alle Einzeldinge einschließlich der Menschen als Mitglieder einer Seinsgattung oder Instanzen eines universellen Gesetzes auffassten. Der Existenzialismus behauptet dagegen, dass unsere eigene Existenz als einzigartige Individuen in konkreten Situationen in solchen Theorien nicht adäquat zu erfassen ist, und dass Systeme dieser Art die außerordentliche persönliche Aufgabe vor uns verbergen, die Selbsterfüllung in unserem Leben zu erreichen. Die Existenzialisten beginnen deshalb mit einer detaillierten Beschreibung des Selbst als einem ‚existierenden Individuum‘, dass sie als einen Akteur verstehen, der in eine spezifische soziale und historische Welt geworfen ist. Eines ihrer Hauptziele ist es zu verstehen, wie das Individuum das reichhaltigste und erfüllteste Leben in der modernen Welt erreichen kann. Die Existenzialisten haben sehr unterschiedliche Standpunkte über die menschliche Existenz. Es gibt aber eine Reihe wiederkehrender Themen in ihren Arbeiten. Erstens meinen die Existenzialisten, dass die Menschen keinen vorgegebenen Zweck und auch kein solches Wesen haben, das von Gott oder der Natur entworfen wurde. Es ist die Sache jedes einzelnen von uns, sich durch seine eigenen Handlungen zu 420
Existenzialismus
entscheiden, wer und was er ist. Dies ist der Sinn von Sartres Definition des Existenzialismus als der Standpunkt, demzufolge für Menschen ‚die Existenz dem Wesen vorangeht‘. Dies bedeutet, dass wir zuallererst und ganz einfach existieren, d.h. wir finden uns selbst in eine Welt geboren, die wir nicht selbst gewählt haben, und es ist dann Sache jedes einzelnen von uns, unsere jeweilige Identität oder unsere wesentlichen Eigenschaften unserer Identität im Verlauf dessen, was wir in unserem Leben treiben, zu definieren. Daher ist unser Wesen (die Menge der uns definierenden Merkmale) gewählt, nicht gegeben. Zweitens meinen die Existenzialisten, dass die Menschen ihre eigenen Schicksale herbeiführen und für das verantwortlich sind, was sie aus ihrem Leben machen. Menschen haben einen freien Willen in dem Sinne, dass sie unabhängig von den sozialen und biologischen Faktoren, die ihre Entscheidungen beeinflussen, diese Bedingungen reflektieren können, d.h. sie können sie nach ihrem Willen entscheiden und treffen daraufhin ihre eigene Wahl, wie sie als in der Welt handelnde Menschen mit diesen Faktoren umgehen wollen. Weil wir selbsterschaffende oder selbstgestaltende Wesen in diesem Sinne sind, tragen wir die volle Verantwortung, was wir aus unserem Leben machen. Schließlich befassen sich die Existenzialisten mit der Suche nach der authentischsten und maximal selbsterfüllenden Lebensform für den einzelnen Menschen. Nach ihrer Auffassung tendieren die meisten von uns dazu, ihr Leben dem der ‚Herde‘ anzupassen: wir haben das Gefühl, uns richtig zu verhalten, wenn wir tun, was ‚man‘ in gewohnten sozialen Situationen tut. In dieser Hinsicht ist unser Leben ‚unauthentisch‘, d.h. nicht wirklich unser Leben. Um authentisch zu werden, muss ein Individuum nach dieser Auffassung seine eigene Existenz in die Hand nehmen, und zwar klar und intensiv. Eine solche Transformation wird durch tief greifende, emotionale Erfahrungen wie Angst oder existenzielle Schuld möglich. Wenn wir uns klarmachen, was sich in solchen Erfahrungen enthüllt, so behaupten die Existenzialisten, werden wir klarer verstehen, um was es in unserem Leben geht, und wir werden dadurch zu stärker eingebundenen, integrierten Individuen. 1. Historische Entwicklung 2. Die ‚conditio humana‘ 3. In-der-Welt-Sein 4. Freiheit und Verantwortung 5. Alltägliche Existenz, Angst und Schuld 6. Authentizität 7. Kritik und Ausblick 1. Historische Entwicklung Obwohl solche frühen Denker wie Augustinus, Montaigne, Shakespeare und Pascal bereits Existenzialisten genannt werden, sollte dieser Ausdruck doch für eine lose miteinander verbundene Gruppe von Denkern der jüngeren Zeit reserviert bleiben, die auf bestimmte Auffassungen eingehen, die ihrerseits bereits im 19. Jahrhundert sehr verbreitet waren. Diese Standpunkte betreffen erstens das wissenschaftliche Bild der Wirklichkeit als einer bedeutungslosen, wertfreien Sammlung materieller Gegenstände in kausaler Wechselwirkung, und zweitens den modernen Sinn der Gesellschaft als einem künstlichen Konstrukt, dass unvermeidlich mit den
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Hoffnungen des Individuums in Konflikt steht. Der deutsche Idealismus hatte versucht, den Implikationen dieser neuen Ideen entgegenzuwirken, er stürzte aber um 1840 in sich zusammen, und das Ergebnis davon war das wachsende Gefühl, dass das Individuum letztlich allein und ohne Hilfe in einem kalten und bedeutungslosen Universum dasteht (siehe Deutscher Idealismus; Idealismus). Der Existenzialismus entstand im 19. Jahrhundert neben der Romantik, unterschied sich von dieser aber in wichtigen Punkten. Zum Einen meinte der erste große Existenzialist, Søren Kierkegaard, während die Romantiker um ihn einen Sinn für die Teilhabe des Individuums am größeren Kontext der Natur zu wecken suchten, dass die Menschen auf der untersten Ebene einsame ‚existierende Individuen‘ mit keiner realen Verbindung zu irgendetwas dieser Welt seien. Statt zu beschreiben, dass wir in dieser Welt zu Hause sind, versuchte Kierkegaard das Gefühl der Angst und Verzweiflung des Einzelnen zu intensivieren, um einen ‚Vertrauens- oder Glaubenssprung‘ zu produzieren, der den Menschen in eine definierende Beziehung zum Gott-Menschen (Christus) bringen sollte. Die nächste Figur, die üblicherweise zum Pantheon der Existenzialisten gerechnet wird, ist Friedrich Nietzsche. Er ging von der Annahme aus, dass die Entwicklung der Wissenschaften und des kritischen Denkens in der Geschichte des Abendlandes zu dem Ergebnis geführt habe, dass die Menschen ihre Fähigkeit zum Glauben an eine transzendente Grundlage von Werten und Überzeugungen verloren haben. Wenn Nietzsche sagt, ‚Gott ist tot‘, so meint er, dass alle Dinge, die Menschen zuvor als absolut angesehen haben, z.B. die kosmische Ordnung, die platonischen Ideen, den göttlichen Willen, die Vernunft, die Geschichte, sich als menschliche Konstrukte ohne eine letzte Autorität erwiesen hätten, die uns noch sagen könnte, wie wir zu leben haben. Angesichts des wachsenden ‚Nihilismus‘, der aus dem Tod Gottes resultiert, versucht Nietzsche eine Vision der gesunden Lebensform zu beschreiben, die die Menschen erreichen kann, sofern sie allen ihren Glauben an Absolutes aufgeben (siehe Nihilismus). Die Übersetzung von Kierkegaards Schriften und die Entdeckung von Nietzsches Schriften hatten eine enorme Wirkung auf das deutsche Denken nach dem Ersten Weltkrieg. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers stützte sich auf diese beiden Figuren, um das zu entwickeln, was er die ‚Existenzphilosophie‘ nannte. Martin Heidegger, der sowohl von Kierkegaard, als auch von der Bewegung der ‚Lebensphilosophie‘ beeinflusst war (die vor allem mit dem Denken von Nietzsche, Wilhelm Dilthey und Henri Bergson in Zusammenhang gebracht wird), begann sein größtes Werk ‚Sein und Zeit‘ (1927) mit einer ‚existenzialen Analytik‘, die das Leben aus der Perspektive eines konkreten, alltäglichen In-der-Welt-Seins beschreiben sollte (siehe Lebensphilosophie). Heideggers Denken war ebenfalls von Edmund Husserls Phänomenologie beeinflusst, einem philosophischen Ansatz, der die Beschreibung unserer Erfahrung als etwas vornimmt, was unserer Reflexion und Theoriebildung vorausgeht. Unabhängig davon schloss Gabriel Marcel an Bergsons Philosophie an, um eine Alternative zur dominanten idealistischen Philosophie zu entwickeln, die an den Universitäten gelehrt wurde. Indem er seine eigene Lebenserfahrung zur Grundlage seiner Reflexionen machte, behauptete Marcel, dass ein menschliches Wesen als eine verkörperte Existenz verstanden werden muss, die mit konkreten Situationen verbunden ist. Weil jedoch der Körper und die Situation niemals vollständig 422
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durch den Intellekt erfasst werden können, sieht Marcel sie als Teil dessen, was er das ‚Mysterium‘ nennt. Maurice Merleau-Ponty übernahm Marcels Begriff vom verkörperten In-einer-Situation-Sein als grundlegend für seine eigene existenziale Phänomenologie. Jean-Paul Sartre nahm ebenfalls auf Marcel Bezug, war jedoch insbesondere von Husserl und Heidegger beeinflusst. Es scheint, dass der Ausdruck ‚Existenzialismus‘ zunächst von den Kritikern Sartres verwendet wurde. Er wurde dann jedoch im Verlauf der 1940er Jahre von Sartre und Simone de Beauvoir in ihren Antworten auf diese Kritiken akzeptiert. Merleau-Ponty und Albert Camus waren anfänglich mit einer als ‚Existenzialismus‘ bezeichneten Bewegung verbunden, die ihren Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg hatte, aber beide verwarfen diesen Ausdruck schließlich, als sie sich infolge politischer Differenzen von Sartre distanzierten. Es gab aber diesbezüglich auch wichtige Entwicklungen außerhalb von Deutschland und Frankreich. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, der von Diltheys Lebensphilosophie beeinflusst war, entwickelte eine Reihe von Vorstellungen, die nahe bei jenen von Heidegger und anderen existenzialistischen Denkern lagen. Die Novellen und Kurzgeschichten des russischen Schriftstellers Fjodor M. Dostojewski übten einen starken Einfluss nicht nur auf russische Existenzialisten wie z.B. Nikolai Berdiaev aus, sondern auch auf Heidegger, Sartre und Camus. Der Existenzialismus hatte aber auch eine tiefe Wirkung auf anderen Gebieten. Die Bewegung der existenzialen Theologie ist bis auf den heutigen Tag einflussreich, und die existenziale Psychoanalyse (insbesondere von Ludwig Binswanger, Medard Boss und Rollo May) ist von fortbestehendem Interesse für die Psychotherapie. Obwohl der Existenzialismus keine zentrale Strömung der Philosophie mehr ist, sind doch viele ihrer Hauptvertreter nach wie vor in den gegenwärtigen philosophischen Diskussionen wichtig. 2. Die ‚conditio humana‘ Existenzialisten gehen davon aus, dass man nicht länger meinen kann, es gäbe irgendeine transzendente Rechtfertigung oder Grundlage für unsere Existenz. Wenn Gott tot ist, dann finden wir uns ‚verlassen‘, ‚verloren‘, d.h. ohne vorgegebene Richtung oder Legitimation in eine Welt geworfen. Obwohl wir irgendeine alles überspannende Bedeutung bzw. einen solchen Zweck in unserem Leben suchen, müssen wir uns damit konfrontieren, dass es kein ‚richtiges Funktionieren von Menschen‘ mehr gibt, und auch keinen ‚Plan in Gottes Geist‘, der uns den richtigen Weg zum Menschsein weist. Dieses Bild unserer Zwangslage führt zu einer speziellen Sichtweise der menschlichen Existenz, die von vielen Existenzialisten akzeptiert wird. Im Gegensatz zu traditionellen Theorien, die den Menschen als ein Ding oder einen Gegenstand bestimmter Art auffassen (sei es ein Geist oder ein Körper oder eine Kombination von beidem), beschreiben die Existenzialisten die menschliche Existenz als eine, die von einer tiefen Spannung oder einem Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten unseres Seins gekennzeichnet ist. Einerseits sind wir Organismen unter anderen lebenden Wesen, also Geschöpfe mit spezifischen Bedürfnissen und Antrieben, die im Umgang mit der Gegenwart auf der Ebene der Empfindung und des Wunsches handeln. Auf dieser Ebene unterscheiden wir uns nicht besonders von anderen Tieren. Andererseits gibt es einen entscheidenden Aspekt, in dem wir uns 423
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von anderen Organismen unterscheiden. Ein Weg zur Beschreibung dieses Unterschiedes ist es zu sagen, dass wir, weil wir zum Bewusstsein unserer selbst imstande sind, auch in der Lage sind, unsere eigenen Wünsche zu reflektieren und uns nach Maßgabe einer weiter ausholenden Vision zu bewerten, was unser Leben bedeutet. In diesem Sinne transzendieren wir unser eigenes Sein als bloße Dinge. Das Charakteristische für uns als Menschen ist, dass wir uns um die Seinsart kümmern, die wir sind, und dass wir deshalb zu unseren grundlegenden Wünschen Stellung nehmen. Nach den Existenzialisten sind Menschen einzigartige Entitäten in dem Sinne, dass sie Wünsche zweiten Grades über ihre Wünsche ersten Grades ausbilden und deshalb auf eine Weise Bestrebungen entwickeln, die über die Unmittelbarkeit ihres sinnlichen Lebens hinausgehen. Heidegger und Sartre versuchen diese reflexive Dimension der menschlichen Existenz dadurch zu erfassen, dass sie das, was einzigartig am Menschen ist, als etwas bezeichnen, was an ihrem eigenen Sein für sie ‚fraglich‘ist. Es ist für mich von Belang, wer ich bin; und weil es mich angeht, wer ich bin und sein werde, nehme ich eine bestimmte Position gegenüber meinem Leben ein, indem ich Rollen übernehme und einen bestimmten Charakter durch mein Handeln auspräge. Dies bedeutet aber, dass meine Existenz durch eine fundamentale Spannung oder eine Kollision zwischen meinen unmittelbaren Empfindungen und Wünschen einerseits, und meinen langfristigen Zielen und Vorhaben andererseits gekennzeichnet ist. Die menschliche Existenz trägt mit den Worten Sartres eine ‚Spalte‘ oder einen ‚Riss‘, d.h. ein Nichts in die Erfülltheit des Seins im Universum hinein. Weil das Bewusstsein aus uns mehr macht, als das wir Geschöpfe mit nur unmittelbaren Empfindungen und Wünschen wären, meint Sartre, dass die menschliche Wirklichkeit ‚nicht das ist, was sie ist, und das ist, was sie nicht ist.‘ Die Konzeption der menschlichen Existenz als einer Spannung erscheint bereits in Kierkegaards Beschreibung des Selbst. Für Kierkegaard sind Menschen sowohl endlich, als auch unendlich, zeitlich und ewig, kontingent und frei. Was unsere Identität als Selbstheiten definiert, ist die konkrete Art und Weise, auf die wir uns zu dieser Spannung in Beziehung setzen. Auf ähnliche Weise meint Nietzsche, dass wir sowohl Geschöpfe, als auch Schöpfer sind, und wir müssen diese beiden Dimensionen von uns selbst willkommen heißen, um ganz Mensch zu sein. Heidegger und Sartre beziehen sich auf die beiden Aspekte des Selbst als ‚Faktizität‘ (unsere reine Gegebenheit) und ‚Transzendenz‘ (unsere Fähigkeit zur Überschreitung unserer Gegebenheit durch Interpretationen und unser Streben). Nach ihrer Auffassung ist das Leben eine fortgesetzte Spannung zwischen diesen Elementen, eine Spannung, die nur im Tode gelöst wird. Schließlich scheint auch Jaspers eine ähnliche Konzeption des Menschen im Kopf zu haben, wenn er auf die Polarität zwischen unserem Sein als einem empiristischen Bewusstein-als-solches und unserem Wunsch nach einem Begreifen des Allgemeinen und zur Realisierung unserer Freiheit als Existenz hinweist. Wenn wir das Selbst als eine Spannung oder einen Kampf betrachten, so ist es selbstverständlich, die menschliche Existenz nicht als ein Ding oder irgendeine Art von Gegenstand zu betrachten, sondern als ein sich entfaltendes Ereignis oder ein Geschehen, d.h. die Geschichte davon, wie der Einzelne mit dieser Spannung umgeht. Was meine Existenz definiert, ist nach dieser Auffassung nicht irgendeine Menge von Eigenschaften, die über die Zeit immer dieselben bleiben, sondern das 424
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‚Ereignis des Werdens‘, durch das ich den Kampf austrage, um die Spannung zu lösen, die meine Bedingtheit in der Welt definiert. Als ein fortschreitendes Geschehen bin ich, was ich aus mir selbst im Verlauf meines Lebens als einer Gesamtheit mache. In Ortegas Worten heißt dies, ein Mensch ‚hat keine Natur, sondern vielmehr eine Geschichte‘ (siehe Ortega y Gasset, J.). Meine Existenz als Individuum wird definiert durch die laufende Geschichte dessen, was ich während meines Lebens erreiche. Den Menschen als eine sich entfaltende Geschichte zu betrachten legt nahe, dass die menschliche Existenz eine spezifische Form zeitlicher Struktur aufweist. Wir sind nicht wie Steine und Blumenkohl, die durch eine endlose Reihe von ‚Jetzt-Momenten‘ hindurch existieren. Stattdessen weist die menschliche Zeitlichkeit eine Art von Kumulierung und Zukunftsausrichtung aus, die sich von der andauernden Gegenwart physischer Gegenstände unterscheidet. Zunächst ist unsere Existenz auf die Zukunft gerichtet, so dass wir die Realisierung von etwas für unser Leben anstreben. Heidegger bezeichnet dieses Elemente der ‚Zukünftigkeit‘ als unser ‚Sein-zum-Tode‘, wobei er dies als eine Bewegung in Richtung einer Realisierung unseres eigenen Seins versteht, indem wir bestimmte Dinge im Wege unseres aktiven Lebens erreichen. Zweitens zeigt sich die Vergangenheit für uns als etwas, das festgehalten und für zukünftige Zwecke mitgeschleppt wird. In Abhängigkeit von unseren Projekten zu irgendeinem Zeitpunkt erweisen sich unsere jeweils vergangenen Handlungen als Aktiva und Passiva im Verhältnis zu dem, was wir tun. Und schließlich zeigt sich uns die Gegenwart als ein Schnittpunkt zwischen unseren künftigen Projekten und dem zuvor Erreichten. Weil wir zeitbindende Wesen sind, deren Leben immer in die Zukunft hinausragen und dabei die Vergangenheit festhalten wird, schaffen wir niemals diese Art von direkter Gegenwart des Selbst dem eigenen Selbst gegenüber, von dem Descartes meinte, er hätte es im Cogito (‚ich denke‘) gefunden. Zu sagen, die menschliche Zeitlichkeit sei kumulativ, heißt zu sagen, dass alles, was wir tun, ein Beitrag zur Schöpfung unseres ‚Seins‘ als einer Totalität sei. In diesem Sinne sind wir, was wir in unserem Leben jeweils tun. Wir definieren unsere eigene Identität durch die Wahlentscheidungen, die wir im Umgang mit dieser Welt treffen. Weil es keine fixierte, essentielle Natur gibt, die uns von vornherein eigen ist, so ist unser ‚Wesen‘ als Individuen durch unsere konkrete Existenz in dieser Welt definiert und verwirklicht. Welche Fähigkeiten und Züge mir auch immer angeboren sind, liegt es doch an mir, sie zu übernehmen und durch mein Tun etwas aus ihnen zu machen. Deshalb erschaffe ich meine eigene Identität durch meine Handlungen, ob es mir bewusst ist oder nicht. 3. In-der-Welt-Sein Existenzialisten sind zutiefst misstrauisch gegenüber hochstehenden, abstrakten Theoriebildungen über die Menschen, die sich in der traditionellen Philosophie und in den Wissenschaften finden. Nach ihrer Auffassung tendiert die Bemühung um eine Subsumtion aller Einzeldinge unter Begriffe und die Errichtung von Systemen zur Bemäntelung entscheidender Merkmale unserer Leben als Individuen. Aus diesem Grund gehen die Existenzialisten allgemein von einer Beschreibung unseres Selbst als einem Akteur im alltäglichen Zusammenhang aus, noch vor jeder Reflexion und Theoriebildung. Diese Beschreibungen enthüllen, dass es ein Teil unserer ‚Faktizität‘ ist, dass wir im Allgemeinen von den Dingen vollständig eingenom425
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men sind, miteinander verstrickt in dem Versuch, spezifische Ziele zu erreichen, und dabei durch Stimmungen und Bindungen affiziert, die unsere Wahrnehmungen und unsere Gedanken beeinflussen. Darüber hinaus sind wir körperliche Wesen, die der Welt nur aus der Sicht einer spezifischen körperlichen Orientierung begegnen, die uns wiederum ein Bild von den Dingen geben. ‚Ich bin mein Körper‘, schrieb Marcel, und dieses Thema der Verkörperung wurde zum zentralen Motiv im Denken von de Beauvoir und Merleau-Ponty. Wir sind ferner in gegenständliche Zusammenhänge praktischer Situationen eingebunden, wo es uns um die Erreichung gewisser Ziele geht. Und schließlich finden wir uns als soziale Wesen immer in eine bestimmte Kultur und ein bestimmtes historisches Milieu eingebettet, dass die Bedingung unserer Aussichten setzt und unsere grundlegende Orientierung in der Welt bestimmt. Zu sagen, dass wir ‚faktische‘ Wesen sind, heißt zu sagen, dass wir immer ‚In-einer-Situation-Seiende‘ sind, wo unser Sein als Selbstheit von einer mit anderen geteilten, bedeutungsvollen Lebenswelt nicht zu trennen ist. Wenn wir immer in eine Situation eingebettet sind, dann muss alle Untersuchung von einer ‚Insider‘-Perspektive auf die Dinge ausgehen, d.h. von einer Beschreibung der Welt, wie sie uns erscheint, d.h. uns als Menschen, die Teilhaber unserer Lebensformen sind, allerdings mit einer einzigartigen körperlichen und gefühlsmäßigen Zuständlichkeit und entsprechenden Weise der Wahrnehmung. Wir haben keine Wahl, als dort zu beginnen, wo wir inmitten unseres tatsächlichen Lebens stehen, zusammen mit unseren örtlichen Gegebenheiten und privaten Sorgen und Bemühungen. Dies bedeutet aber, dass es keine Möglichkeit gibt, jene Art globaler Perspektive eines ‚göttlichen Auges‘ auf uns selbst und unsere Welt einzunehmen, die sich die Philosophen seit Platon immer vorgestellt haben. Existenzialisten sind kritisch gegenüber dem philosophischen Ideal eines total desinteressierten, losgelösten und neutralen ‚Blicks von nirgendwo‘, der uns mit vollkommen objektivem Wissen versorgt. Der Versuch, uns von unseren alltäglichen Sorgen zu distanzieren, um eine vollständig losgelöste und leidenschaftslose Position einzunehmen – eine Position, die Marcel ‚Fahnenflucht‘ (desertion) und Merleau-Ponty ‚hochfliegendes Denken‘ nennt – wird uns immer einen verzerrten Blick auf die Welt geben, denn er bleicht unsere normalen Sinne für die Bedeutung und den Wert der Dinge um uns aus. Um in der Lage zu sein, eine Einsicht in die Art und Weise zu gewinnen, wie sich uns die Wirklichkeit auf der grundlegendsten Ebene präsentiert, müssten wir vielmehr von einer Beschreibung dessen ausgehen, was Heidegger unsere ‚durchschnittliche Alltäglichkeit‘ nannte, d.h. unsere gewöhnliche, uns vertraute Art und Weise des Seins, wie es in den praktischen Dingen absorbiert ist. Die Idee, dass unser ‚Sein-in-einer-Situation‘ oder ‚Sein-in-der-Welt‘ grundlegend und unentrinnbar ist, gibt den Existenzialisten die Möglichkeit zur Kritik der anderen Idee, die seit Descartes zum zentralen Bestand der Philosophie gehört, dass wir auf der untersten Seinsebene Geister sind, die sensorische Daten und Prozessinformationen empfangen. Sartre verwirft beispielsweise die Idee, dass das Selbst eine ‚denkende Substanz‘ oder ein in sich selbst abgeschlossenes ‚Bewusstseinsfeld‘ sei, das von der Welt getrennt ist. „In meinen vorreflexiven Tätigkeiten“, meint Sartre, „finde ich mich nicht als ein Bündel von Überzeugungen und Wünschen in einer Art mentalem Verhältnis, sondern als ein Sein ‚dort draußen‘ zusammen mit den Dingen, um die ich mich kümmere. Wenn ich dem Bus hinterherhetze, erlebe ich mein Selbst als ein ‚Dem-Bus-Hinterherrennendes‘. Mein Sein findet sich dabei nicht in meinem 426
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Kopf, sondern zusammen mit dem Bus.“ Sartre denkt, dass dies aus Husserls Ansicht folgt, derzufolge das Bewusstsein immer intentional, d.h. immer auf Entitäten der Welt gerichtet ist (siehe Intentionalität). Wenn Husserl Recht hat, so Sartre, dann ist das Ich kein Gegenstand, noch ein Etwas, sondern ist die reine, intentionale Aktivität, die auf die Dinge in der Welt gerichtet ist. Die Gesamtheit meiner intentionalen Handlungen definiert mich. Es gibt keinen Rest irgendeiner ‚substanziellen Dingheit‘, die neben meinen Handlungen besteht. Die existenzialistische Konzeption unseres irreduziblen ‚In-der-Situation-Sein‘ lässt einige der Dualismen fraglich erscheinen, die so große Bereiche des abendländischen Denkens dominiert haben. Erstens bestreiten die Existenzialisten die romantische Unterscheidung eines äußeren Selbst – was wir in der Welt tun – von einem inneren, ‚wahren‘ Selbst, dass unsere eigentliche Natur verkörpert. Wenn wir genau das sind, was wir tun, wie die Existenzialisten meinen, dann gibt es keine Grundlage für die Behauptung eines substanziellen ‚wirklichen Ich‘, das sich von den Rollen unterscheidet, die ich spiele, und den Dingen, die ich tue. Zweitens tendiert die Darstellung vom Vorrang des ‚In-der-Welt-Sein‘ dazu, das traditionelle Subjekt-ObjektModell unserer erkenntnistheoretischen Situation zu untergraben. Die Existenzialisten suggerieren, dass die Annahme, derzufolge Menschen auf der untersten Ebene Subjekte der Erfahrung seien, die sich um die Bildung von Überzeugungen über Gegenstände auf der Grundlage von deren innerer Repräsentation bemühen, unsere Situation verzerrt. Wenn es wahr ist, dass wir anfänglich und ganz grundlegend schon zusammen mit den Dingen in der Welt sind, dann kann etwas nicht richtig sein an den traditionellen erkenntnistheoretischen Rätseln darüber, wie ein erkennendes Subjekt den Schleier der Vorstellungen ‚transzendieren‘ kann, um Wissen über Gegenstände der externen Welt zu gewinnen. Und schließlich scheint das existenzialistische Bild unserer grundlegenden Situation als einer solchen, die immer schon mit der praktischen Lebenswelt verbunden ist, Fragen über die traditionelle Unterscheidung von Tatsache und Wert aufzuwerfen. Die Existenzialisten behaupten, dass wir immer schon die alltägliche Lebenswelt als einen Zusammenhang von Geräten vorfinden, die mit unseren Zielen als Akteure dieser Welt verbunden sind. Wenn jedoch die Dinge, die wir vorfinden, von Anfang an und ganz grundlegend funktionale Entitäten sind, die mit unseren zweckgerichteten Aktivitäten verbunden sind, dann ist es illusorisch zu glauben, dass das, was ‚zuerst‘ gegeben sein soll, eine Ansammlung roher Gegenstände ist, denen wir nachträglich subjektive Werte zuschreiben. In unserem alltäglichen Leben sind Tatsache und Wert dann nicht voneinander zu trennen. Im Allgemeinen meinen die Existenzialisten, dass traditionelle Dualismen nur dann auftauchen, wenn wir versuchen, eine unberührte, losgelöste, theoretische Position gegenüber den Dingen einzunehmen. Da aber eine solche Position nur parasitär von einer grundlegenden Seinsweise abgeleitet ist, in der wir auf untrennbare Weise mit den Dingen in praktischen Zusammenhängen verbunden sind, kann eine solche Sichtweise nicht als etwas betrachtet werden, was uns eine privilegierte Einsicht in die Art und Weise verschafft, wie die Dinge angeblich wirklich sind. 4. Freiheit und Verantwortung Als ‚In-der-Welt-Seiende‘ sind wir immer schon in einer gemeinsamen Lebenswelt engagiert, die uns einen vorrangigen Sinn für das vermittelt, was möglich ist, 427
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und wir finden uns vor Entscheidungen in unserer Vergangenheit gestellt, die gewichtigen Einfluss darauf haben, wie wir in Zukunft handeln können. Dies ist unsere ‚Faktizität‘, und daraus ergibt sich, was in unserem Leben einfach ‚gegeben‘ ist. Die Existenzialisten betrachten die Faktizität jedoch nur als einen Aspekt der menschlichen Existenz, denn sie sind der Auffassung, dass Menschen immer in der Lage sind, ihre gegebene Situation zu transzendieren, indem sie einen Standpunkt gegenüber ihrem eigenen Leben einnehmen. Als ‚Transzendenz‘ übernehmen wir immer unsere Situationen und machen im Wege unserer Wahlentscheidungen etwas aus ihnen. Diese Fähigkeit, unsere Faktizität zu transzendieren bedeutet, dass wir einen freien Willen haben. Unsere Wahlentscheidungen sind in dem Sinne frei, dass (1) keine äußeren Faktoren unseren Willen determinieren, (2) wir in jedem Einzelfall uns hätten anders verhalten können, als wir es tatsächlich taten, und (3) wir deshalb für unsere Wahlentscheidungen auf eine Weise verantwortlich sind, die moralisches Lob und ebensolchen Tadel rechtfertigen (siehe Freier Wille). (Nietzsche neigt dazu, den dritten hier genannten Sinn des Ausdrucks wegen seiner Funktion, den Menschen Schuldgefühle aufzudrängen, zurückzuweisen. In anderer Hinsicht scheint er sich jedoch einem Glauben an die menschliche Freiheit verpflichtet zu fühlen.) Der existenzialistische Glaube an die menschliche Freiheit basiert auf einer phänomenologischen Beschreibung unseres Alltagslebens. Indem ich Situationen ausgesetzt bin, in denen ich mich entscheiden muss, stehe ich vor einem offenen Bereich möglicher Handlungsverläufe, wo mich nichts zwingt, einen dieser Verläufe den anderen vorzuziehen. Selbst in Fällen, wo ich mir gar nicht bewusst bin, dass ich vor einer Wahlentscheidung stehe, zeigt doch die Reflexion sofort, dass ich tatsächlich über mein eigenes Leben entscheide. Angenommen, ich erscheine vertrauensvoll jeden Tag zur Arbeit und glaube, dass ich hierzu gezwungen bin, weil ich den Lebensunterhalt für meine Familie verdienen muss. Heißt dies, dass ich gezwungen bin, das zu tun, was ich tatsächlich tue? Ein Existenzialist wie Sartre würde sagen, dass es eine Selbsttäuschung ist zu glauben, dass ich gezwungen bin, ein gewissenhafter Arbeiter zu sein, denn ich könnte jederzeit all das im Stich lassen und in ein Kloster gehen oder mich einer kriminellen Existenz zuwenden. Wenn ich mich dafür entscheide, Überlegungen der Pflicht oder des Geldes zu entscheidenden Faktoren für mich zu machen, dann ist auch dies meine Wahl. Dies legt nahe, dass ich selbst in meinem angestammten und sichtlich ‚automatischen‘ Handeln immer noch von einer ganz bestimmten Identität meiner Person im Wege meiner eigenen, freien Wahlentscheidungen ausgehe, und deshalb bin ich auch verantwortlich für das, was ich tue. Sartre versucht diese Idee zu fassen, indem er sagt, dass die Menschen ‚zur Freiheit verurteilt‘ sind. Weil unser Sein für uns ‚fraglich‘ ist, übernehmen wir es jeweils wieder und geben ihm durch unsere Handlungen irgendeine konkrete Gestalt. Und dies bedeutet, dass wir in einem fortwährenden Handeln auf vertraute Weise, sei es uns bewusst oder nicht, beständig unsere Entscheidungen in jedem Moment erneuern, denn wir könnten immer unsere Lebensweise mittels einer radikalen Selbsttransformation ändern. Darüber hinaus entscheiden wir uns auch, da alle Kriterien oder Standards zur Bewertung unserer Handlungen ebenfalls frei gewählt sind, für die Gründe, die unser Handeln leiten. Da es kein höheres Gericht zur Bewertung der Gründe unseres Handelns gibt, sind wir vollkommen verantwortlich für das, was wir tun: wir haben ‚keine Entschuldigungen hinter uns, noch Rechtfertigungen vor uns‘. 428
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Die Existenzialisten meinen allgemein, dass wir nicht für die Richtung verantwortlich sind, die wir mit unserem Leben einschlagen, sondern auch für die Art und Weise, wie die Welt um uns herum erscheint. Diese Idee wurzelt in Kants Auffassung, dass die Wirklichkeit, die wir erfahren, teilweise durch die sie begründende Aktivität unseres eigenen Geistes geformt ist, auch wenn sich die Existenzialisten von Kant dahingehend unterscheiden, dass sie meinen, unsere Konstruktion der Wirklichkeit hänge von unseren eigenen Wahlentscheidungen ab (siehe Kant, I., § 5). Kierkegaard behauptet beispielsweise, dass das Wirklichkeitsempfinden durch die ‚Sphäre der Existenz‘ bestimmt ist, in der wir leben, so dass die Person, die ein lustorientiertes Ästheten-Dasein führt, eine Welt erfahren wird, die sich deutlich von jener unterscheidet, die ein pflichtbewusster Anhänger des Ethischen erlebt. Ähnlich meint Nietzsche, dass die Wirklichkeit uns nur durch irgendeine ‚Perspektive‘ zugänglich ist, und dass es keine Möglichkeit gibt, mit der Wirklichkeit, wie sie an sich selbst ist, in Kontakt zu kommen, d.h. unabhängig von jeglichem Standpunkt oder Interpretationsrahmen. Sartre arbeitete eine besonders strenge Fassung dieses Kantischen Ausblicks aus, indem er die Konstitutionstheorie in Husserls Phänomenologie weiterentwickelte. Husserl sagt, dass die Welt, die wir erfahren, vermittels einer bedeutungsgebenden Aktivität des Bewusstseins gebildet wird. Sartre greift diese Konstitutionsdarstellung auf, indem er ihr die Bedeutung verleiht, dass wir, weil wir alle die Welt um uns durch unsere bedeutungsgebenden Aktivitäten konstituieren, schlussendlich für die Art und Weise selbst verantwortlich sind, wie sich uns und unserer Erfahrung die Welt darstellt. Daher liegt es an mir, wenn ich als Kind schmerzvolle Erfahrungen machte, was das für mich bedeutet. Ich kann diese Erfahrungen als eine Entschuldigung benutzen, um wie ein Betrogener durchs Leben zu gehen, oder sie auch als Herausforderungen betrachten, die mich stärker machen. Sartres Standpunkt ist nicht, dass es keine Beschränkungen dafür gibt, wie ich meine Situation interpretiere, sondern dass Beschränkungen und Hindernisse ihre Bedeutung durch mich erhalten, und da es unendlich viele mögliche Bedeutungen gibt, die man einer Situation zuschreiben kann, gibt es keine Möglichkeit, irgendwelche angenommenermaßen ‚harten‘ Fakten auszumachen, von denen man sagen könnte, sie seien zwingend dafür, dass die Dinge auf die eine Weise und nicht auf die andere zu verstehen seien. Dies bedeutet aber nach Sartre, dass ich in der Wahl der Interpretation meiner selbst gleichzeitig eine Welt wähle. Es ist unser eigenes, frei gewähltes Projekt, dass bestimmt, wie die Wirklichkeit zu nehmen und die Dinge zu verstehen sind. Sartre geht sogar so weit zu sagen, dass wir, wenn um uns herum ein Krieg ausbricht, ich für diesen Krieg verantwortlich bin, weil es an mir liegt zu entscheiden, was dieser Krieg in meinem Leben zu bedeuten hat. Andere Existenzialisten versuchten eine etwas ausgeglichenere Konzeption der Freiheit zu formulieren. Weil das menschliche Dasein sowohl Notwendigkeit, als auch Möglichkeit mit sich bringt, meinte Kierkegaard, dass das Extrem einer ‚Alles-ist-möglich‘-Freiheit (der Art, wie sie später von Sartre entworfen wurde) zu einem ‚verzweifelten Mangel an Notwendigkeit‘ führen würde. Sowohl Heidegger, als auch Merleau-Ponty arbeiteten an einem Begriff der ‚situierten Freiheit‘, demzufolge die Wahlentscheidung immer in die bedeutungsvollen Wahlmöglichkeiten eingebettet ist, die sich durch eine spezifische soziale und historische Situation eröffnen, und hiervon auch abhängt. De Beauvoir versucht zu zeigen, wie die Insti429
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tutionen und sozialen Praktiken diese Wahlmöglichkeiten für Frauen und andere unterdrückte Gruppen beschneiden können. Und auch Nietzsche macht auf die Art und Weise aufmerksam, wie biologische und historische Faktoren hinter unserem Rücken wirken, indem sie unsere Entscheidungen außerhalb unseres Bewusstseins beeinflussen. Aber selbst, wenn man solche Beschränkungen anerkennt, bleibt doch die Überzeugung, dass wir uns über unsere Situation erheben können, um selbst zu Schöpfern zu werden, ein fundamentaler Aspekt des existenzialistischen Denkens. 5. Alltägliche Existenz, Angst und Schuld Obwohl sich die Existenzialisten darin einig sind, dass die Menschen frei darin sind, ihr eigenes Schicksal zu wählen, meinen sie aber auch, dass sich die meisten Menschen ihrer Freiheit kaum bewusst sind. Diese Unbewusstheit ist nicht das Ergebnis von Nichtwissen oder einem Übersehen, sondern von der Tatsache, dass wir gewöhnlich zu vermeiden versuchen, uns mit der Verantwortung für unser Leben zu konfrontieren. Die meiste Zeit ‚fliehen‘ wir vor uns selbst, werfen uns in weltliche Angelegenheiten und treiben in standardisierten öffentlichen Verhaltensformen. Die Existenzialisten stehen der alltäglichen sozialen Existenz im Allgemeinen sehr kritisch gegenüber. Aus ihrer Sicht gibt es eine starke Versuchung, sich von der Öffentlichkeit ‚schlucken‘ zu lassen, d.h. vom ‚man‘, der ‚Herde‘ oder den ‚Massen‘. Wir tun, was ‚man‘ in gewohnten Situationen eben tut, und wir nehmen an, dass unser Leben so lange gerechtfertigt ist, wie wir den Normen und Konventionen folgen, die in unserem sozialen Kontext gelten. Indem wir uns in diese Art von Geschäftigkeit werfen, die so charakteristisch für die gegenwärtige Gesellschaft ist, werden wir immer effektiver im Auffinden von Mitteln zur Erreichung sozial akzeptierter Ziele, aber gleichzeitig verlieren wir die Fähigkeit zu verstehen, was mit unserer Existenz auf dem Spiel steht. Das Leben wird dann zu einer losen Aneinanderreihung von Episoden ohne reale Kohärenz oder Richtung, und wir sind am Ende zerstreut und abgelenkt, und es fehlt uns schließlich jegliche Grundlage für ein bedeutungsvolles Handeln. Die Existenzialisten zeichnen ein ähnliches Bild davon, wie die soziale Existenz unsere Fähigkeit zur Selbstverwirklichung untergräbt. Kierkegaard beschreibt, wie das Dasein eines gut angepassten Mitglieds der ‚öffentlichen‘ Sphäre auf einen gemeinsamen Nenner herunternivelliert wird, mit dem Ergebnis, dass die Menschen einander nichts mehr angehen und sich egal sind. Ähnlich beschreibt auch Nietzsche, wie unser Dasein als ‚Herdentiere‘ uns domestiziert und unsere Kreativität abtötet; und Heidegger weist auf die Beruhigung und Selbstentfremdung hin, die sich aus unserer Eingenommenheit in der gewohnten sozialen Welt ergibt. Sartre entwirft ein besonders schroffes Bild der sozialen Beziehungen. Da die Menschen nach seiner Auffassung sich gegenseitig nur als Gegenstände und nicht als freie Menschen sehen können, verdinglicht mich der Blick des Anderen immer und presst mich in die Vorstellung, ich sei nur ein rohes Ding. Da jedes Individuum um seine Bestätigung als eine freie ‚Transzendenz‘ gegen diesen verdinglichenden Blick der Anderen ringt, ist das Ergebnis unvermeidlich ein Konflikt; in den Worten einer Figur in einem von Sartres Schauspielen heißt es: ‚Die Hölle sind die anderen.‘ Viele Existenzialisten sehen aber auch eine positive Seite des sozialen Lebens. Obwohl Heidegger die Versuchung des Selbstverlustes in unserer Teilnahme am ‚man‘ beklagt, meint er auch, dass alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten 430
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zur Selbstinterpretation letztendlich aus dem sozialen Kontext stammen, in dem wir uns befinden. Aus diesem Grund ist es keine Frage der Flucht aus der Gesellschaft, wenn man zu sich selbst findet, sondern es geht darum, seine soziale Existenz auf die richtige Weise willkommen zu heißen. Marcels Haltung gegenüber der sozialen Existenz zeigt, wie stark er sich von Sartre unterscheidet. Er kritisiert die ‚technokratische Attitüde‘ der Massengesellschaft nicht deshalb, weil sie zum Konformismus führt, sondern weil sie einen ‚atomisierten Individualismus‘ ausbrütet, der uns unseres tiefsten Sinns für die Verbundenheit und die Verpflichtung gegenüber den anderen beraubt. Und Jaspers und Buber betonen beide die Wichtigkeit der ‚IchDu‘-Beziehungen zur Verwirklichung eines vollen und bedeutungsreichen Lebens. Obwohl die Existenzialisten sich in ihrer Einschätzung der sozialen Existenz unterscheiden, sind sie sich doch darin einig, dass unsere gewöhnliche, tagtägliche Existenz durchsetzt ist mit Verbergung und Selbsttäuschung. Was uns von diesem verzerrten Blick auf die Dinge befreien kann, ist nicht die rationale Reflexion, sondern eine tief greifende affektive Erfahrung. Diese Betonung der Rolle der Gefühle oder Stimmungen in uns, die uns einen Zugang zur Wahrheit über uns selbst verschaffen, ist eines der typischsten Merkmale des existenzialistischen Denkens. Kierkegaard und Heidegger fokussieren sich beispielsweise auf die enthüllende Rolle der Angst, die uns dazu bringt, uns mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass wir endliche Wesen sind, die über den Inhalt unseres eigenen Lebens entscheiden müssen. Jaspers’ Begriff der ‚Grenzsituationen‘ bezieht sich auf Situationen, in denen unsere gewohnten Formen des Umgangs mit unserem Leben zerbrechen und wir uns gewissen, unentrinnbaren ‚Antinomien‘ des Lebens ausgesetzt sehen. Für Sartre zeigt uns das Gefühl der nausea, also des Brechreizes, dass es an uns ist, den Dingen einen Sinn zu geben, und Ängste und Qualen enthüllen unsere ‚furchtbare Freiheit‘ zur Entscheidung über unser eigenes Schicksal. Schließlich bezieht sich Marcel auf die Erfahrung des Mysteriums, in dem wir dem begegnen, was sich unserer Fähigkeit zur intellektuellen Meisterung unseres Lebens vermittels unserer problemlösenden Fertigkeiten entgegenstellt. Einige Existenzialisten sprechen auch über die Erfahrung des Absurden, das uns in unserem rationalistischen Zeitalter überkommen kann. Sartre behauptet, dass es keinen letzten Grund gibt, der über die Richtigkeit unserer Wahlentscheidungen entscheidet, so dass jedes fundamentale Vorhaben, dem wir uns widmen, absurd in dem Sinne sein muss, dass es letztlich ungerechtfertigt ist. Camus’ Konzeption des Absurden ist vielleicht die bekannteste von allen, obwohl sie für das existenzialistische Denken nicht wirklich repräsentativ ist. In seinem ‚Mythos des Sisyphos‘ (1942) beschreibt er das Gefühl der Nutzlosigkeit, das wir erfahren können, wenn wir uns der Wiederholung und Sinnlosigkeit unserer täglichen Handlungsroutinen und Rituale bewusst werden. Für Camus ist dieses Gefühl der Absurdität der Existenz – für ihn ein Gefühl, in dem der Suizid zur realen Möglichkeit wird – die grundlegendste Erfahrung, der sich die Philosophie stellen muss. Schließlich weisen viele Existenzialisten auf die Erfahrung der Schuld hin, die uns Einsicht in unser eigenes Dasein verschafft. Existenzielle Schuld bezieht sich auf etwas Breiteres als nur das Gefühl, dass uns manchmal beschleicht, wenn wir etwas Falsches gemacht haben. In seiner breiteren Bedeutung bezieht sich die existenzielle Schuld auf die Tatsache, dass es keine vorgegebene Legitimation oder Rechtfertigung für unsere Existenz gibt. Obwohl wir Geschöpfe sind, die ein Be431
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dürfnis nach so etwas wie einem ‚Grund für unsere Existenz‘ spüren, finden wir uns doch in eine Welt geworfen, in der es kein höheres Gericht gibt, das unserem Leben eine solche Begründung verschaffen könnte. Wir müssen uns schlussendlich selbst diese Antwort geben. In einem etwas engeren Sinne kann sich ‚existenzielle Schuld‘ auf die Tatsache beziehen, dass wir, weil wir immer in konkrete Situationen eingewoben sind, auch immer Teilnehmer und Teilhaber all dessen sind, was in der Welt geschieht, so dass wir also niemals eine ‚weiße Weste‘ haben. 6. Authentizität Erfahrungen der Angst und existenziellen Schuld werden den Existenzialisten zufolge wichtig, weil sie die grundlegenden Wahrheiten über unsere Befindlichkeit als Menschen enthüllen. Das tägliche Leben ist von ‚Unauthentizität‘ gekennzeichnet, und in unseren gewöhnlichen Verrichtungen und unserem sozialen Konformismus lehnen wir es ab, Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen. Indem wir uns in sozial erprobte Tätigkeiten und Rollen stürzen, setzen wir uns außerhalb unserer selbst und spinnen ein Netz der Selbsttäuschung, indem wir versuchen, der Wahrheit dessen, wer und was wir sind, nicht in die Augen schauen zu müssen. Dieses Bild einer unauthentischen Existenz steht im Gegensatz zu einer Vision einer Lebensform, in der uns das Selbst nicht entgleitet und zum Trugbild mutiert. Ein solches Leben ist (in der Ausdrucksweise von Heidegger und Sartre) ‚authentisch‘. Authentizität suggeriert die Idee einer Wahrheit gegenüber sich selbst, einer Art von Besitznahme des wirklichen, eigenen Selbst. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass eine solche Authentizität nichts mit dem romantischen Ideal zu tun hat, mit seinem ‚inneren Selbst‘ in Kontakt zu kommen, das die eigene, wahre Natur enthalten soll. Denn die Existenzialisten meinen, dass wir gar keine vorgegebene ‚Natur‘ und auch kein solches ‚Wesen‘ haben, das sich von dem unterscheidet, was wir in der Welt tun. Wenn Authentizität keine Frage der Wahrheit irgendwelcher Kerneigenschaften ist, die das ‚reale Ich‘ definieren, was ist es dann? Für die meisten Existenzialisten ist das Erreichen der Authentizität zu allererst eine Frage des klaren Begreifens der Ernsthaftigkeit unserer eigenen Existenz als Individuen, also der rohe Fakt des ‚ich existiere‘, und sich dann der Aufgabe zu stellen, aus einem Leben etwas zu machen. Kierkegaard meint beispielsweise, dass der einzig erfolgreiche Weg zum ‚Selbst‘ (im Sinne eines existierenden Individuums) darin besteht, auf eine solche Weise zu leben, dass man eine ‚unendliche Leidenschaft‘ in seinem Leben entdeckt. Diese Art von Intensität, denkt er, ist nur durch eine umfassende, lebensdefinierende Verpflichtung auf etwas möglich, das dem jeweiligen Leben den abschließenden Inhalt und die äußerste Bedeutung verleiht. Nietzsche beschäftigt sich ebenfalls damit, uns dazu zu bewegen, dass wir unser eigenes Leben auf eine intensivere und klarsichtigere Weise in die Hand nehmen. Um die Menschen von der Versuchung zu befreien, irgendeine alles überspannende Bedeutung für ihr Leben zu finden, präsentiert er die Idee der ‚ewigen Wiederkehr‘: alles, was in deinem Leben geschieht, ist genau so schon zuvor passiert und wird in einer endlosen Reihe immer wieder geschehen. Wenn wir dies akzeptieren, so meint Nietzsche, kommen wir in die Lage, unser Leben in seiner je eigenen Gestalt anzunehmen, wie es ist, ohne Bedauern und Träume davon, dass die Dinge irgendwie anders sein könnten. Heidegger meint, dass wir uns in der Erfahrung der Angst mit unserer eigenen, nackten Existenz als einer ‚indivi432
Existenzialismus
dualisierten, reinen und geworfenen‘ konfrontieren. Indem wir uns in dieser Erfahrung des ‚Sein-zum-Tode‘ bewusst werden, werden wir das ganze Gewicht unseres endlichen Lebens umfänglich, beharrlich und mit Treue zu uns selbst begreifen. Viele Existenzialisten sind sich darin einig, dass das Zugeben der eigenen Existenz eine definierende Verpflichtung voraussetzt, das dem eigenen Leben einen Brennpunkt und eine Richtung gibt. Für Kierkegaard als einem religiösen Denker ist die Selbsterfüllung nur als ‚Glaubensritter‘ möglich, d.h. für eine Person, die eine definierende Beziehung seiner ganzen Welt zu einem bestimmten Wesen hat, das unendlich wichtig ist (bei ihm das ewige Wesen, dass dennoch in der Zeit existierte, nämlich der Gott-Mensch). Für Heidegger setzt die Authentizität ‚Resolutheit‘ voraus, d.h. eine Verbindlichkeit gegenüber irgendeinem spezifischen Möglichkeitsbereich, der sich uns durch unser jeweiliges historisches ‚Erbe‘ eröffnet. Die Tatsache, dass das Ideal der Bindung oder des Engagements in ansonsten sehr unterschiedlichen existenzialistischen Arbeiten erscheint, wirft die Frage einer Unterscheidung auf, die als erster Sartre ansprach, nämlich zwischen den ‚religiösen‘ und den ‚atheistischen‘ Existenzialisten. Kierkegaard, Marcel und Jaspers werden oft als die Gruppe der religiösen Existenzialisten bezeichnet, obwohl es grundlegende Differenzen in ihrer Sichtweise der Natur oder ihrer religiösen Bindung gibt. Während Kierkegaard die Bedeutung unserer Beziehung zum konkreten Einzelnen betont, sprechen Marcel und Jaspers von der Beziehung zum ‚Mysterium‘ bzw. der ‚Transzendenz‘. Gleichzeitig neigen die so genannten ‚atheistischen‘ Existenzialisten wie Heidegger und Sartre dazu, Kierkegaard darin beizupflichten, dass man ‚engagiert‘ sein oder ein ‚fundamentales Projekt‘ haben müsse, um ein konzentriertes, intensives und kohärentes Lebens zu erreichen. Die Unterscheidung zwischen atheistischen und religiösen Existenzialisten ist schwieriger aufrecht zu erhalten, wenn wir uns klarmachen, dass für die religiösen Denker weniger die faktischen Eigenschaften des Gegenstandes der Verbindlichkeit wichtig sind, als vielmehr die innere Bedingung des Glaubens an das Individuum, das die andere Seite dieser Verpflichtung ist. Daher sagt Kierkegaard auch, dass nicht die ‚objektive Wahrheit‘ entscheidend dafür ist, was man glaubt, sondern die Intensität der Glaubensverbindlichkeit (die ‚subjektive Wahrheit‘). Die Idee, dass Intensität und Verbindlichkeit für ein Sein im Zustand der Authentizität im Mittelpunkt stehen, wird von allen Arten von Existenzialisten geteilt. Ein weiteres Merkmal, das dem authentischen Leben von den meisten Existenzialisten zugeschrieben wird, ist das klare Bewusstsein einer Person über ihre Eigenverantwortlichkeit in den Entscheidungen, die das eigene Leben formen. Für Sartre bringt die Authentizität das Bewusstsein mit sich, dass wir, weil wir immer frei darin sind, unser Leben durch Entscheidungen umzuformen, dies als die Wahl unserer Identität in jedem Moment erleben. Ähnlich sprechen auch Heidegger und Kierkegaard über das Bedürfnis, unsere Identität in jedem Moment vermittels einer ‚Wiederholung‘ unserer Wahl dessen, der wir sind, zu stärken. Durch die Anerkennung unserer Freiheit zur Bestimmung unseres eigenen Lebens akzeptieren wir schließlich auch unsere Verantwortung dafür, wer wir sind. Der Begriff der Authentizität soll uns einen Eindruck eines denkbar am weitesten erfüllten Lebens nach dem ‚Tod von Gott‘ verschaffen. Es ruft uns auf, unsere eigene Identität zu übernehmen, indem wir unser Leben willkommen heißen und in unserer eigenen Weise etwas daraus machen. Es setzt Klarheit, Aufrichtigkeit, Mut, Intensität, Offenheit für die Wirklichkeit der eigenen Situation und ein festes 433
Existenzialismus
Bewusstsein der Verantwortung für das eigene Leben voraus. Es wäre aber falsch, sich die Authentizität als ein ethisches Ideal vorzustellen, wie dies häufig aufgefasst wird. Erstens impliziert die Erlangung der Authentizität nicht, dass man irgendeinen bestimmten moralischen Code annimmt oder überhaupt irgendeinem bestimmten Pfad folgt. Ein authentisches Individuum kann liberal oder konservativ, ein pflichtbewusster Bürger oder ein grimmig schauender Revolutionär sein. In dieser Hinsicht sagt die Authentizität nichts darüber, was genau jemand unternehmen soll, sondern vielmehr wie jemand lebt; es ist folglich eine Frage des Lebensstils, und weniger seines konkreten Inhalts. Zweitens beschreiben viele Existenzialisten mittels ihrer unterschiedlichen Konzeptionen der Authentizität das Ideal dieser Authentizität als etwas, von dem man sich vorstellen kann, dass es der Ethik im üblichen Sinne des Wortes auch durchaus entgegenstehen kann. Kierkegaard sagt beispielsweise, es sei möglich, dass der ‚Glaubensritter‘ möglicherweise ‚das Ethische transzendieren‘ muss, und Nietzsche behauptet, dass authentische Individuen ‚jenseits von Gut und Böse‘ leben. Die Authentizität scheint daher mehr mit dem zu tun zu haben, was man die ‚Kunst der Selbst-Kultivierung‘ nennen könnte, als mit ethischem Verhalten im traditionellen Sinne des Ausdrucks. 7. Kritik und Ausblick Der Existenzialismus wurde aus verschiedenen Blickwinkeln kritisiert. Eine Gruppe der Kritiker meint, dass die Betonung der individuellen Freiheit und die Zurückweisung alles Absoluten im Existenzialismus dazu tendiert, die Ethik zu untergraben; indem suggeriert wird, dass das tägliche Leben ‚absurd‘ sei, und durch die Leugnung des Bestehens fester, bindender Prinzipien zur Bewertung unserer Handlungen beförderten die Existenzialisten eine Haltung des ‚Alles ist möglich‘, d.h. einer Freiheit, die den Nihilismus stärkt, der ohnehin in unserem täglichen Leben so gegenwärtig ist. Camus’ Novelle ‚Der Fremde‘ (1942) fiel beispielsweise unter den Vorwurf einer Glorifizierung unmoralischer, weil unbegründeter Handlungen auf einem Weg zur Bestätigung der eigenen absoluten Freiheit. Im Gegenzug haben Anhänger des Existenzialismus festgestellt, dass die Position, die in diesem Werk eingenommen wird, für die existenzialistische Haltung überhaupt nicht typisch ist, und dass die existenzialistischen Ideale der Freiheit und ihr Gespür für das Bedürfnis nach menschlicher Solidarität in der Folge des ‚Todes von Gott‘ ganz abseits einer Untergrabung der Ethik eine sehr gute Grundlage für einen moralischen Standpunkt in der modernen Welt schafft. Andere Kritiker versuchten zu zeigen, dass das grundlegende Bild der Wirklichkeit, das vom Existenzialismus gezeichnet wird, notwendig in den Nihilismus führt. Hans Jonas wandte ein, dass der Existenzialismus trotz des von ihm beschworenen Ziels der Überwindung des Kartesianismus zur Einführung einer neuen Art von Dualismus mit einer scharfen Unterscheidung zwischen Menschen (die als absolut freie Mittelpunkte von Wahlentscheidungen und Handlungen gedacht werden) und einem trägen, bedeutungslosen ‚Sein‘, das den Menschen zuhanden ist, um von ihnen nach Belieben interpretiert und transformiert zu werden, tendiert. Dieser extreme Gegensatz schließt nicht nur die Tiere aus dem Reich der Wesen mit innerem Wert aus, sondern diese Sichtweise der Menschen als Geworfene in einem indifferenten Universum scheint uns die Freiheit nur auf Kosten eines Tuns zu gewähren, das gar keiner wirklichen Wahlentscheidung wert ist. 434
Existenzialismus
Diese Linie der Kritik ist eng verknüpft mit dem Anspruch, der von verschiedenen postmodernen Theoretikern vorgetragen wurde, dass der Existenzialismus immer noch in den Voraussetzungen des Humanismus gefangen ist, d.h. einer Sichtweise, die inzwischen diskreditiert zu sein scheint. Der Ausdruck ‚Humanismus‘ meint in diesem Zusammenhang die Auffassung, die im Zentrum des Denkens moderner Denker von Descartes bis Kant steht, dass das menschliche Subjekt sich selbst unmittelbar als der Mittelpunkt des Denkens und Handelns bewusst ist, und dass der Rest des Universums als eine Ansammlung von Gegenständen betrachtet werden sollte, die dem Subjekt zur Verfügung steht, um von ihm repräsentiert und manipuliert zu werden. Postmoderne Theoretiker behaupten, dass eine Reihe intellektueller Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrhunderte es unmöglich machen, dieses Bild von der zentralen Stellung des Subjekts zu akzeptieren. Die semiotischen Theorien von Saussure hätten beispielsweise gezeigt, wie die Sprache dazu tendiert, hinter unserem Rücken zu arbeiten und dabei unsere Fähigkeiten zu denken und zu sprechen kontrolliert; und die Freudsche Theorie habe gezeigt, wie unbewusst Triebe und Wünsche hinter vielen unserer bewussten Gedanken und Handlungen liegen. In Anbetracht dieser Entwicklungen, so heißt es, könne man nicht länger akzeptieren, dass Menschen zu einer Selbst-Transparenz und Selbstbestimmung der Art imstande seien, die offenbar von Existenzialisten für Sartre vorausgesetzt wird (siehe Postmodernismus). Als Entgegnung auf diesen Einwand könnte man darauf hinweisen, dass die meisten Existenzialisten dem kartesischen Glauben an die Transparenz des Bewusstseins für das Selbst sehr kritisch gegenüber standen. Solche Themen wie das In-derSituation-sein, die ‚Geworfenheit‘, die Verkörperung und das Mysterium zeigen den Umfang, in dem viele Existenzialisten den Menschen in einen weiteren Kontext eingebettet sehen, den sie niemals vollständig beherrschen oder begreifen können. Darüber hinaus untergräbt die existenzialistische Beschreibung der Menschen als zeitliche Wesen, deren Gegenwart immer dadurch vermittelt ist, was sie in die Zukunft projizieren und aus der Vergangenheit zurückhalten, jede kartesische Konzeption der unmittelbaren Gegenwart des Selbst sich selbst gegenüber im so genannten Selbstbewusstsein. Schließlich, so wendet Sonia Kruks ein, scheinen postmoderne Theoretiker in ihrem Versuch einer ‚Dezentrierung des Subjekts‘ nicht voranzukommen. Nachdem die ausgedehnten Hintergrundstrukturen erkundet wurden, die das Denken und die Handlungen von Subjekten beeinflussen, erachten es diese Theoretiker nunmehr als schwierig, den Menschen auf die kritische Art und Weise zu schildern, die sie wiederum als zentrales Element des postmodernen Standpunktes sehen. Nach Kruks Auffassung haben die Existenzialisten der postmodernen Theorie viel bei der Formulierung einer Konzeption einer ‚situierten Subjektivität‘ zu bieten, die jene Lücke schließen könnte. Es ist nicht klar, wie die Zukunft mit dem Existenzialismus als einer philosophischen Bewegung umgehen wird. Viele der Ideen, die im Paris der 1940er Jahre so aufregend klangen, wirken inzwischen schrecklich altmodisch. Viele der langfristigeren Themen des Existenzialismus wurden von neuen philosophischen Bewegungen übernommen, speziell in die Hermeneutik mit ihrer Betonung des Menschen als einem selbstinterpretierenden Wesen (siehe Hermeneutik). Während einige existenzialistische Autoren inzwischen aus dem Blickfeld geraten sind, wurden andere immer einflussreicher (wenn auch nicht immer als Existenzialisten). Es gab kürzlich 435
Experiment
ein förmlich explosionsartig anwachsendes Interesse an Heidegger und Nietzsche, und die Arbeiten von Kierkegaard, Sartre und de Beauvoir werden in weiten Kreisen diskutiert. Unabhängig davon, ob der Existenzialismus an sich weiter gedeihen wird, schaut es so aus, als ob es immer einen Platz für eine Art von Gesellschaftskritik und der Sorge um die konkrete Realität des Lebens geben wird, die auch im Mittelpunkt des existenzialischen Denkens steht. Als eine reaktive Bewegung stellte der Existenzialismus die unkritischen Annahmen der Mainstream-Philosophie genauso wie die Selbstzufriedenheit der alltäglichen sozialen Existenz in Frage. Positiv zu vermerken ist ferner, dass er sich der Tendenz zur Selbstverlorenheit im zeitgenössischen Leben entgegenstellte, indem er die Vision einer kohärenten, fokussierten Lebensweise formulierte, die als Grundlage bedeutungsvollen Handelns dienen kann. Dies sind offenbar wertvolle Ziele, und es ist wahrscheinlich, dass existenzialistische Autoren weiterhin wichtige Beiträge zu ihrer Realisierung leisten werden. Anmerkungen und weitere Lektüre: Cooper, D.E. (1990): ‚Existentialism: A Reconstruction‘, Oxford: Blackwell, 2. Aufl. 1999. (Eine recht aktuelle und gründliche Übersicht über das existenzialistische Denken. Einschließlich hilfreicher Bibliographie.) Guignon, C. (Hrg.) (2004): ‚The Existentialists: Critical Essays on Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, and Sartre‘, Lanham, MD: Rowman & Littlefield. (Akademische Essays von bedeutenderen englischsprachigen Philosophen über vier bedeutendere Vertreter der existenzialistischen Tradition.) McBride, W.L. (Hrg.) (1997): ‚Sartre and Existentialism: Philosophy, Politics, Ethics, the Psyche, Literature, and Aesthetics‘, New York: Garland, 8 Bde. (Eine Sammlung klassischer englischer Essays über den Existenzialismus, einschließlich ausführlicher Beiträge über dessen Hintergrund und seine Entwicklung.) CHARLES B. GUIGNON
Experiment
Das Experiment als eine bestimmte Kategorie der naturwissenschaftlichen Aktivität entstand erst mit der Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. Zunächst wurde es nur als Schiedsrichter bei der Theoriewahl betrachtet, und so gab es wenig oder überhaupt keine Analysen der experimentellen Techniken bzw. Formen, wie die Daten zu bestätigten Tatsachen umgeformt wurden. Die philosophische Analyse des Experiments war typischerweise stark vereinfachend, konzentrierte sich auf die Rolle der Beobachtung als der alleinigen Begründung experimenteller Fakten. Dies wurde 1962 von Thomas Kuhn in Frage gestellt, der die Bedeutung der jeweiligen Hintergrundtheorie und -überzeugung in jeder Wahrnehmung hervorhob, einschließlich deren Rolle im naturwissenschaftlichen Experiment. Diese wechselseitige Verbundenheit zwischen Theorie und Experiment untergrub ernsthaft die Vorstellung, dass das Experiment als ein unabhängiges und objektives Kriterium zum Urteil über die Verdienste einer Theorie gegenüber einer konkurrierenden anderen taugt. In den 1980er Jahren wurden neue philosophische Analysen des Experiments vorgelegt, die zeigten, dass Experimente als etwas gänzlich Eigenständiges gesehen werden können, indem sie Aktivitäten verkörpern, die angeblich ohne Rückgriff auf die Theorie verstanden werden konnten. Faktoren, die für die Auswertung experimenteller Ergebnisse relevant wurden, gerieten genauso wie die Art und Weise, auf 436
Experiment
die sich die Laborwissenschaften von ihren theoretischen Gegenstücken unterscheiden in das Blickfeld einer neuen Geschichte und Philosophie des Experiments. In der Folge hiervon entstanden Debatten über die Beziehung des Experiments zur Theorie, und ob es möglich ist, einen methodologischen Rahmen aufzuspannen, innerhalb dessen die experimentelle Praxis bewertet werden kann. Siehe auch: Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus MARGARET C. MORRISON
Experiment, entscheidendes siehe: Schlüsselexperiment
Externe-Welt-Skeptizismus Siehe: Skeptizismus
Externalismus in der Erkenntnistheorie
Siehe: Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie
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F Fakten
Siehe: Tatsachen
Fallibilismus
Der Fallibilismus ist eine philosophische Lehre betreffend die Naturwissenschaften, die sehr eng mit Charles Sanders Peirce in Verbindung gebracht wird, der behauptete, dass unsere Geltungsansprüche des wissenschaftlichen Wissens unvermeidbar angreifbar seien und sich als falsch erweisen könnten. Wissenschaftliche Theorien können nicht kategorisch als wahr behauptet werden, sondern man kann nur behaupten, dass ihnen eine gewisse Wahrheitswahrscheinlichkeit zukommt. Die Fallibilisten beharren bezüglich der theoretischen Bemühungen der Naturwissenschaften auf unserer Unfähigkeit zum Auffinden einer endgültigen und definitiven Wahrheit – insbesondere auf der Ebene der theoretischen Physik. Wie immer man auch eine entsprechende Theorie formuliert, kann sich auf diesem Niveau der Allgemeinheit und Genauigkeit doch jede der von uns akzeptierten Überzeugungen als falsch erweisen, und bei vielen ist dies auch der Fall. Der Fallibilismus beharrt nicht auf der Falschheit unserer wissenschaftlichen Behauptungen, sondern vielmehr auf ihrer Vorläufigkeit als einer unvermeidbaren Vermutung. Er sagt nicht, dass man kein Wissen erlangen kann, sondern dass es immer nur provisorisch ist. Siehe auch: Alltagsphilosophie; Erkenntnistheorie und Ethik; Skeptizismus NICHOLAS RESCHER
Falsifikation
Siehe: Schlüsselexperiment; Fallibilismus; Popper, Karl Raimund
Familie, Ethik und die
Gehen die Verpflichtungen gegenüber Kindern anderen familiären Verpflichtungen vor? Folgen aus der Blutsverwandtschaft strengere moralische Forderungen als jene, die Menschen durch ihre Hochzeit eingehen bzw. erwerben? Was auch immer ihr Ursprung sein mag: genießen familiäre Verpflichtungen Vorrang vor solchen gegenüber Freunden, Nachbarn, Mitbürgern? Setzen familiäre moralische Bindungen ein spezifisches Familiengefühl voraus wie z.B. Liebe oder Treue? Ist die traditionelle Familie eines verheirateten, heterosexuellen Paares mit biologischen Nachkommen solchen Familien vorzuziehen, die sich aus Adoptivkindern, allein lebenden Elternteilen, wiederverheirateten oder gleichgeschlechtlichen Partnern zusammensetzen, oder die mit Hilfe von Samenspenden oder Leihmüttern zustande kommen? Aus welchen Gründen können sich Freunde, Nachbarn oder Behörden in die familiäre Privatsphäre einmischen? Zur Vereinfachung dieser Komplexität und Vielgestaltigkeit des familiären Lebens können rationale Antworten auf solche Fragen eine bestimmte Fragendimension hervorheben. Ein metaphysischer Ansatz stützt sich dagegen auf die Befehle einer Gottheit oder die Notwendigkeiten einer Nation. Ein biologischer Ansatz beruft sich auf körperliche Ähnlichkeiten, ‚das Blut‘ oder die Gene. Ein wirtschaftlicher Ansatz konzentriert sich auf das Familienvermögen, das Einkommen, die Teilung von Arbeit und Ressourcen, sowie auf die Erbschaft. Ein damit zusammenhängender politischer Ansatz betrachtet die Macht, die Unterordnung und die Rechte innerhalb 438
Farbe und Qualia
einer Familie, sowie deren Regulierung durch den Staat. Ein psychologischer Ansatz betrachtet wiederum die Affekte, die Identifikation, die Intimität und die emotionalen Bedürfnisse als moralisch entscheidend. Und ein narrativer Ansatz erinnert uns an Familiengeschichten auf der Grundlage der moralischen Erziehung und der Definition der familiären Bande. Obwohl alle diese Ansätze miteinander vereinbar sind, tendieren sie doch alle zur Bevorzugung eigener Moraltheorien. Siehe auch: Freundschaft; Genetik und Ethik; Liebe; Reproduktion und Ethik; Sexualität, Philosophie der; Unparteilichkeit WILLIAM RUDDICK
Farbe und Qualia1
Es gibt zwei grundlegende philosophische Probleme hinsichtlich der Farbe. Die erste betrifft das Wesen der Farbe selbst. Was für eine Eigenschaft ist sie? Wenn ich von einem Hemd, das ich trage, sage, es sei rot, welche Art von Tatsache dieses Hemdes beschreibe ich dann? Das zweite Problem betrifft die Natur der Farberfahrung. Wenn ich auf das rote Hemd schaue, so habe ich einen visuellen Eindruck von einer bestimmten qualitativen Eigenheit, nämlich einen ‚rötlichen‘ Eindruck. Deshalb scheint die Farbe in mancher Hinsicht eine Eigenschaft meiner sinnlichen Erfahrung zu sein, und darüber hinaus auch eine Eigenschaft meines Hemdes. Um was für eine Art mentaler Eigenschaft handelt es sich dabei? Offensichtlich sind die beiden Probleme eng miteinander verknüpft. Insbesondere gibt es sehr viel Diskussion über die folgende Frage: wenn wir die erste Art von Eigenschaft ‚objektive Farbe‘, und die zweite ‚subjektive Farbe‘ nennen, welchen von den beiden ist dann grundlegender? Oder haben sie beide einen voneinander unabhängigen ontologischen Status? Die meisten Philosophen hängen der Lehre des Physikalismus an, d.h. der Auffassung, dass alle Gegenstände und Ereignisse letztlich von den fundamentalen physikalischen Partikeln, Eigenschaften und Beziehungen bestimmt werden, die in der theoretischen Physik beschrieben werden. Die Phänomene sowohl von objektiven, als auch von subjektiven Farben geben dem Physikalismus ein Problem auf. Hinsichtlich der objektiven Farben ist es schwierig, irgendeinen natürlichphysikalischen Kandidaten zu finden, mit dem man sie identifizieren könnte. Unser visuelles System antwortet in einer ähnlichen Weise auf die Oberflächen, die sich entsprechend einer großen Bandbreite physikalischer Parameter wandeln, sogar in Betreff der Reflektion von Lichtwellen. Was könnte aber offenkundiger sein als die Tatsache, dass Gegenstände farbig sind? Im Falle der subjektiven Farbe, dem Hauptanliegen dieses Beitrages, gibt es sogar noch ein tieferes Rätsel. Es ist selbstverständlich, die Rötlichkeit einer visuellen Erfahrung, d.h. ihr qualitativer Charakter, als eine innere Eigenschaft der Erfahrung aufzufassen. Intrinsische Eigenschaften sind von relationalen Eigenschaften dahingehend zu unterscheiden, dass die gegenständliche Eigenschaft der ersteren Art nicht von ihren Beziehungen zu anderen Gegenständen abhängt, während die letztere Eigenschaft dies doch zu sein scheint. Wenn subjektive Farbe intrinsisch ist, 1 Der philosophische Fachterminus Quale (sing.) bzw. Qualia (Pl.) bezeichnet die phänomenale, d.h. innere Erlebnisqualität eines bestimmten mentalen Zustandes oder Ereignisses; da er lateinischen Ursprungs ist, wird er auch im Deutschen so gebraucht und ist nicht übersetzbar. [WS]
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Farbe und Qualia
dann wäre dies eine neutrale Eigenschaft eines Gehirnzustandes. Welche Art neuronaler Eigenschaften könnte aber die Rötlichkeit einer Erfahrung erklären? Ferner würde die Reduktion der subjektiven Farbe auf eine neuronale Eigenschaft sogar schon die Möglichkeit ausschließen, dass Lebensformen mit unterschiedlichen physiologischen Strukturen oder intelligente Roboter Erfahrungen der qualitativ selben Art haben könnten, wie dies unsere Erfahrung des Roten ist. Während einige Philosophen diese Konsequenz gutheißen, finden viele andere sie ziemlich unplausibel. Neuronale Eigenschaften scheinen am geeignetsten zu sein um zu erklären, wie bestimmte Funktionen hervorgebracht werden, und deshalb mag es besser sein, die subjektive Farbe mit der Eigenschaft der Ausübung einer bestimmten funktionalen Rolle innerhalb des gesamten kognitiven Systems, das durch das Gehirn verwirklicht wird, zu identifizieren. Dies gibt der Möglichkeit Raum, dass Strukturen, die sich von jener des menschlichen Gehirns unterscheiden, Farberfahrungen derselben Art wie unsere eigenen unterstützen. Viele Rätsel untergraben jedoch die Plausibilität dieses Anspruchs. Beispielsweise scheint es möglich zu sein, dass zwei Menschen in allen ihren Urteilen über eine relative Ähnlichkeit zweier Farbtöne übereinstimmen, und gleichwohl der eine grün und der andere rot sieht. Wenn dieser Fall des ‚invertierten Spektrums‘ eine echte logische Möglichkeit darstellt, wie viele Philosophen meinen, dann ergibt sich, dass die subjektive Farbe keine Sache der funktionalen Rolle, sondern vielmehr eine intrinsische Eigenschaft der Erfahrung ist. Konfrontiert mit dem Dilemma der subjektiven Farbe für die physikalistische Doktrin, entscheiden sich einige Philosophen für den Eliminativismus, d.h. die Lehre, dass subjektive Farbe am Ende gar kein echtes oder wirkliches Phänomen ist. Nach dieser Auffassung ist die Quelle des Rätsels eine Begriffsverwirrung, eine Neigung zur Ausweitung unseres Urteils über objektive Farben, die sich als intrinsische Eigenschaft der Oberfläche physikalischer Gegenstände zeigen, auf die Eigenschaften unserer mentalen Zustände. Haben wir einmal eingesehen, dass all das, was ‚inwendig‘ geschieht, ein Wahrnehmungsurteil über die Eigenschaften externer Gegenstände ist, dann werden wir verstehen, warum wir keinen Zustand und keine Eigenschaft des Gehirns ausmachen können, mit denen man die subjektive Farbe identifizieren kann. Die Kontroverse über die Natur der subjektiven Farbe ist Teil einer größeren Debatte über den subjektiven Aspekt der bewussten Erfahrung im Allgemeinen. Wie passt der qualitative Charakter der Erfahrung, d.h. was es bedeutet zu sehen, zu hören und zu riechen, in ein wissenschaftlich-physikalistisches Weltbild? Gegenwärtig haben sämtliche der vorstehend dargestellten Wahlmöglichkeiten ihre Anhänger, und es gibt keinen allgemeinen Konsens. Siehe auch: Bewusstsein; Farbe, Philosophie der; Qualia; Vorstellung JOSEPH LEVINE
Farbe, Theorien der
Die Welt ist so, wie sie von Menschen wahrgenommen wird, voller Farben. In der Beschreibung von Physikern ist die Welt aus farblosen Partikeln und Feldern zusammengesetzt. Philosophische Theorien der Farbe waren seit der wissenschaftlichen Revolution2 vor allem von dem Wunsch getrieben, diese beiden offensichtlich Der Ausdruck scientific revolution (‚wissenschaftliche Revolution‘) ist im deutschen Sprachraum nicht so üblich wie im anglo-amerikanischen. Er bezieht sich ungefähr auf die Kulturepoche, die
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Farbe, Theorien der
konflingierenden Weltbilder in Übereinstimmung zu bringen. Eine jede adäquate Theorie der Farbe muss mit den Eigenheiten der Farbe als etwas Wahrgenommenem vereinbar sein, ohne den Einsichten der physikalischen Wissenschaften zu widersprechen. In Anbetracht dieser Zielausrichtung einer Theorie der Farbe gibt es drei Möglichkeiten zur Lösung des offenkundigen Konfliktes zwischen den wissenschaftlichen und den wahrgenommenen Fakten. Die erste ist es zu leugnen, dass physikalische Gegenstände überhaupt Farben haben. Theorien dieser Art lassen zu, dass Gegenstände farbig erscheinen, bestehen aber darauf, dass diese Erscheinungsweisen irreführend sind. Der Konflikt wird hier gelöst, indem die Farbe aus der externen Welt ‚entfernt‘ wird. Zweitens kann es sein, dass die Farbe eine relationale Eigenschaft ist. Damit ein Gegenstand eine bestimmte Farbe aufweist, muss er in diesem Falle auf die richtige Weise mit einem Wahrnehmenden in Beziehung stehen. Eine übliche Version dieser Auffassung versteht die Farbe als eine Neigung zur Verursachung einer bestimmten Art menschlicher Wahrnehmungserfahrung. Weil sich die physikalischen Wissenschaften nur mit den spezifischen Eigenschaften physischer Gegenstände und ihren Beziehungen zu anderen physischen Gegenständen beschäftigen, nicht dagegen mit ihren Beziehungen zu wahrnehmenden Subjekten, gibt es keine Konfliktmöglichkeit mehr. Eine dritte mögliche Antwort wäre es zu behaupten, dass die Farbe wirklich eine Eigenschaft externer Gegenstände ist, und dass der Konflikt nur scheinbar besteht. Einige Theorien dieser Form sagen, dass die Farbe identisch mit einer physikalischen Eigenschaft des Gegenstandes ist. Andere sagen, dass die Farbe eine Eigenschaft ist, die physische Gegenstände vor allen ihren anderen physikalischen Eigenschaften besitzen. Philosophische Diskussionen über die Farbe weisen gewöhnlich die Form auf, dass sie entweder eine dieser drei Möglichkeiten genauer ausführen, oder allgemeiner zu zeigen versuchen, dass einer dieser drei Antworttypen den anderen vorzuziehen ist. DAVID R. HILBERT
Faschismus
Der Ausdruck ‚Faschismus‘ bezieht sich sowohl auf eine politische Ideologie, als auch auf eine konkrete Gruppe politischer Bewegungen und Regimes. Ihre bekanntesten Beispiele waren der italienische und der deutsche Faschismus in der Zwischenkriegsperiode. Die faschistische Ideologie wird manchmal als eine Bemäntelung für das Machtstreben einer politischen Bewegung bezeichnet, aber in Wirklichkeit gebiert sie eine neue Vision der Gesellschaft, in die sowohl links-, als auch rechtsradikale Momente verwoben sind. Die Faschisten betonen regelmäßig das Bedürfnis nach sozialem Zusammenhang und einer starken Führung. Sie sorgen sich mehr um die Wiederbelebung der jeweiligen Nation durch den kulturellen Wandel, als durch Vorschläge für institutionelle Änderungen, sehen sich selbst dabei aber als die Anbieter eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Es gibt keine faschistische Philosophie im eigentlichen Sinne, aber die faschistischen Ideologien in Europa bezogen Inspirationen von früheren Philosophen, vor allem mit den Entdeckungen Keplers und Galileis im frühen 17. Jahrhundert begann und mit der Veröffentlichung der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 durch Isaac Newton endete. [WS]
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Fechner, Gustav Theodor (1801‑1887)
von Nietzsche und Sorel. Sie wurden von zahlreichen damals zeitgenössischen Philosophen unterstützt, einschließlich Heidegger, Gentile und Schmitt. Siehe auch: Antisemitismus; Totalitarismus ROGER EATWELL
Fatalismus
Der Ausdruck ‚Fatalismus‘ wird manchmal verwendet, um die Akzeptanz eines Determinismus zu bezeichnen, im Verein mit einer Bereitschaft zur Annahme der Konsequenz, dass es so etwas wie die menschliche Freiheit nicht gibt. Der Ausdruck wird auch häufig in Verbindung mit der theologischen Frage gebraucht, ob Gottes angenommenes Vorherwissen bedeutet, dass die Zukunft bereits festgelegt ist. Er wird manchmal aber auch ganz anders erklärt, nämlich als die Sichtweise, dass die menschliche Wahl- und Handlungsfreiheit keinen Einfluss auf zukünftige Ereignisse hat, die vielmehr ihren Lauf nehmen, egal was wir denken oder tun. Angesichts dieser Sichtweise ist die bewertende Aussage durchweg kohärent, dass der Fatalismus schlicht der Ausdruck eines resignierten Hinnehmens ist. Siehe auch: Determinismus und Indeterminismus; Freier Wille; Mehrwertige Logik, Philosophische Fragen der; Prädestination; Stoizismus EDWARD CRAIG
Fechner, Gustav Theodor (1801–1887)
Fechner war ein Pionier der experimentellen Psychologie und der Begründer der Psychophysik, einer Unterdisziplin innerhalb der Psychologie, die sich den quantitativen Studien der Wahrnehmung widmete. In seinem grundlegenden Werk ‚Elemente der Psychophysik‘ (1860) definierte er die Aufgabe der neuen Wissenschaft als die Entwicklung einer ‚exakten Theorie der funktional abhängigen Beziehungen […] der physischen und der psychischen Welten‘. In diesem Werk entwickelte Fechner auch das Gesetz der Empfindungsgrößen (‚Fechners Gesetz‘): die Stärke einer Empfindung ist proportional zum logarithmischen Wert der Intensität des Stimulus. Bei seinen Zeitgenossen war er nicht nur für seine Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Elektrizität bekannt, sondern auch als Autor einer Reihe von satirischen Werken unter dem Pseudonym ‚Dr. Mises‘. Philosophisch war Fechner Anhänger einer idealistischen Variante namens ‚Panpsychismus‘, die davon ausgeht, dass das Universum aus Elementen besteht, die allesamt beseelt sind, wenn auch nicht notwendig auf dem Entwicklungsstand von Tieren oder Menschen, so aber doch mit einem gewissen Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Bezogenheit auf andere solche psychischen Elemente. Siehe auch: Panpsychismus; Idealismus DANIEL N. ROBINSON
Fegefeuer
Nach den Lehren der Katholischen Kirche ist das Fegefeuer der Ort oder Zustand der Läuterung (Reinigung) nach dem Tode, wo diejenigen, die im Zustande der Gnade sterben (und sich daher gewiss sein können, erlöst zu werden), für unvergebene verzeihliche Sünden Sühne leisten, oder aber eine zeitlich begrenzte Strafe für Todsünden oder solche, die bereits vergeben wurden, erleiden. Danach kommen die Seelen, die im Besitz der heiligmachenden Gnade sind, in den Himmel, d.h. in die Nähe Gottes; die Übrigen kommen auf ewig in die Hölle. Der Begriff des Fegefeuers wurde zur Lösung der theologischen Verwirrung über den Zustand der Seelen 442
Feminismus
zwischen persönlichem Tod und der allgemeinen Auferstehung, sowie dem Jüngsten Gericht entwickelt, um zu erklären, was mit denjenigen geschieht, die schon vor dem Tode bereuen, aber nicht lange genug leben, um für ihre Sünden Buße tun zu können, und auch um die verbreitete Praxis des Betens für die Seelen der Verstorbenen einzuordnen. Die Lehre entwickelte sich zusammen mit einer hochgestellten eucharistischen Theologie, nach der alle im rechten Glauben Verstorbenen an der Liturgie der Kirche teilnehmen. Die Idee des Fegefeuers ist deshalb sehr eng mit der christlichen Idee der Sünde, des Gerichts, des Straflohns, der Vereinigung der Heiligen und der Idee, dass die Erlösung Teil der Geschichte ist, verbunden. Sie wurde von den Reformatoren verworfen, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwand auch das Interesse der katholischen Theologen daran. Gleichwohl haben einige moderne protestantische Denker den Begriff des Fegefeuers als eine Zwischenphase in der Erlösung verteidigt. Siehe auch: Hölle; Vorhölle LINDA ZAGZEBSKI
Feminismus 1. Einleitung Der Feminismus gründet sich auf die Überzeugung, dass Frauen im Vergleich mit Männern unterdrückt oder benachteiligt werden, und dass ihre Unterdrückung in gewisser Weise illegitim oder ungerechtfertigt ist. Unter dem Dach dieser allgemeinen Beschreibung gibt es jedoch zahlreiche Interpretationen der Frauen und ihrer Unterdrückung, so dass es ein Fehler wäre, den Feminismus für eine einzige philosophische Lehre zu halten, oder als impliziere er ein übereinstimmendes politisches Programm. So viele Vorstellungen es von der Befreiung der Frau gibt, so viele feministische Philosophien gibt es auch, die weniger durch ihre privaten Ansprüche oder Empfehlungen, als vielmehr durch ihr Interesse an einem gemeinsamen Thema miteinander verbunden sind. In den frühen Phasen des Feminismus konzentrierten sich seine Befürworter weitgehend auf die Reform der Sozialstellung der Frauen, indem sie forderten, sie müssen Zugang zur Erziehung, zur Arbeit oder den Bürgerrechten haben. Während der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessierte sich der Feminismus jedoch zunehmend für die großen Fragen sozialer Praxis (einschließlich theoretischer Fragen), durch die unser Verständnis der Weiblichkeit und der Männlichkeit erzeugt und fortgeschrieben werden. Als Ergebnis hiervon hat sich der Gegenstandsbereich der feministischen Forschung erweitert und schließt jetzt beispielsweise auch die Rechtswissenschaft und die Psychoanalyse, sowie viele Gebiete der Philosophie mit ein. Diese Art feministischer Arbeit bezieht sich auf und kämpft typischerweise mit einer Reihe tief verwurzelter, historischer Erklärungsversuche betreffend die Beherrschung der Frauen. Aristoteles’ Behauptung, dass sie verstümmelte Männer seien, ähnlich wie die biblische Darstellung der Sünde Evas, trugen zu einer autoritären Tradition bei, in der angebliche Eigenschaften wie die Schwäche, Irrationalität und Unausgebildetheit der Frau, ihr Mangel an Beharrungsvermögen, ihre Unfähigkeit zur Kontrolle über ihre Gefühle und ihr Mangel an moralischen Tugenden pauschal
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als Grund dafür angenommen wurde, sie zu kontrollieren und aus der öffentlichen Sphäre auszuschließen. 1. Feminismus und Feminismen 2. Renaissance und früh-neuzeitliche Vorläufer 3. Einforderung von Rechten 4. Sexuelle Unterdrückung und Emanzipation 5. Die Verbreitung der männlichen Herrschaft 6. Feminismus der zweiten und dritten Generation 1. Feminismus und Feminismen Im Verlauf der Geschichte der Philosophie gab es Autoren, die die sexuellen Stereotype betreffend die Frauen durchbrachen. Ihre Werke formen aber keine durchgehende Geschichte. Es wäre daher irreführend, sie vorschnell in die philosophische Literatur und die politischen Kampagnen einzuordnen, die die späteren feministischen Bewegungen initiierten, oder gar in die zeitgenössische feministische Position. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts gewann eine Reihe philosophischer Diskussionen, die es auf die Emanzipation der Frauen abgesehen hatten, an Kraft zu gewinnen. Und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchte der Ausdruck féminisme zum ersten Male auf, kam im Verlauf der 1890er Jahre dort in Umlauf und verbreitete sich rasch im übrigen Europa und in Amerika. Die Bezeichnung einer entsprechend aktiven Frau als ‚Feministin‘ entwickelte sich hieraus und ging einher mit einer Reihe von Kampagnen des 20. Jahrhunderts für das Frauen-Wahlrecht, für ihren Zugang zu Ausbildung und Beruf, für das Recht der verheirateten Frauen auf eigenes Vermögen und ein Sorgerecht für ihre Kinder, für die Abschaffung der Gesetze über die weibliche Prostitution, der auf einer Doppelmoral gründete, etc. Weil der Charakter und der Erfolg dieser Bewegungen von Land zu Land unterschiedlich ausfielen (beispielsweise wurde das Frauenwahlrecht in Neuseeland 1893 eingeführt, in Finnland 1906 und in England 1928), bezogen sich alle Argumente auf das Wesen und die Fähigkeiten der Frauen und enthielten direkt oder implizit Bilder ihrer Befreiung. Viele der einflussreichsten philosophischen Verteidigungen der weiblichen Emanzipation dieser Zeit wurden von Menschen geschrieben, die auch politisch aktiv waren, beispielsweise, um nur zwei Namen zu nennen, John Stuart Mill, dem Autor von ‚The Subjection of Women‘ (‚Die Unterwerfung der Frau‘), der dem britischen Parlament 1867 eine Änderung des Reformgesetzes vorschlug mit dem Ziel, den Frauen das Wahlrecht zu verschaffen, während Emily Davies, die Verfasserin von ‚The Higher Education of Women‘ (‚Die höhere Bildung von Frauen‘), die Gründerin des Girton College in Cambridge war, der ersten Höheren Schule für Frauen in England. Wir haben kein Problem bei einer rückwirkenden Einordnung von Arbeiten z.B. als feministisch, obwohl dies keine Beschreibung ist, die ihre Autor(inn)en selbst verwendet hätten, denn sie enthalten Analysen der Unterdrückung von Frauen und Vorschläge zu ihrer Überwindung, die ohne weiteres zu Analysen und Vorschlägen passen, die später dem feministischen Kerngedankengut zugerechnet wurden. Zur selben Zeit gibt es aber auch Divergenzen zwischen feministischen Autor(inn)en, und zwar sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart. Unterschiedliche Interpretationen der Nachteile, denen Frauen ausgesetzt sind, zusammen mit
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unterschiedlichen Konzeptionen zur Verbesserung der Machtverteilung ließen auseinander strebende und teilweise unversöhnliche Feminismen entstehen. Man vergleiche beispielsweise den weitgehend liberalen Standpunkt, dass die Unterdrückung der Frauen sich durch einen Mangel politischer Gleichheit gegenüber den Männern äußert und dadurch gemildert werden kann, dass beiden Geschlechtern dieselben politischen Rechte gewährt werden, mit jener separatistischen Sichtweise, dass die Unterdrückung der Frauen grundsätzlich durch ihre sexuelle Unterordnung unter den Mann begründet ist und deshalb nur in Gesellschaften überwunden werden kann, die soweit als möglich ausschließlich weiblich sind. Historiker(innen), die an ersterem Standpunkt interessiert sind, müssen sich auf Arbeiten wie z.B. ‚De L´Égalité des deux sexes‘ (1673, dt.: ‚Von der Gleichheit der beiden Geschlechter‘) von Poulain de la Barre konzentrieren, oder auf Mary Wollstonecrafts ‚Vindication of the Rights of Women‘ (‚Einforderung der Rechte der Frauen‘). Im Gegensatz dazu werden Autoren, die die Geschichte des letzteren Standpunktes verfolgen möchten, eher Mary Astells Vorschlag vornehmen, dass die Damen sich aus der Herrengesellschaft zurückziehen sollten, die sie von der Erfüllung des natürlichen Wunsches abhalten, ihr Wesen zu vervollkommnen, oder auch Charlotte Perkins Gilmans Utopie ‚Herland‘ über eine isolierte Frauengesellschaft, die in der Lage ist, Kinder ohne männliche Hilfe zu bekommen. Wie diese Beispiele zeigen, gibt es viele Formen des Feminismus, von denen jede ihre eigene Geschichte hat. 2. Renaissance und früh-neuzeitliche Vorläufer Obwohl die weibliche Geringerwertigkeit der dominante Tonfall ist, der sich durch die abendländische Philosophie zieht, herrschte über deren genaue Beschaffenheit doch nie Einigkeit. Sich lang hinziehende theologische Debatten darüber, ob die Frau überhaupt ein menschliches Wesen sei, ob sie nach dem Ebenbild Gottes gemacht sei, ob sie eine vollkommene Schöpfung Gottes oder nur eine unvollkommene Kopie des Mannes sei, ob Männer und Frauen vor Gott gleich seien etc. pp., beziehen sich alle auf die klassischen Autoritäten, d.h. auf die Bibel und die Kirchenväter, und rumpeln durch das Mittelalter noch bis in die Renaissance. Als Ergänzung dazu gab es eine Reihe etwas säkularerer Diskussionen, von denen eine als die konsistenteste sich auf die intellektuellen Fähigkeiten der Frau konzentriert. In ihrem Buch ‚Livre de la cité des dames‘ (1405, dt.: ‚Buch über die Stadt der Damen‘) rühmt Christine de Pizan die Vorzüge einer Ausbildung der Frauen, was ein Thema war, das in der Folge von Renaissance-Autoren aufgegriffen wurde, weil es für sie eine Rolle in der so genannten ‚Querelle des Femmes‘ (‚Klage der Frauen‘) spielte, einer Reihe philosophisch wiederholt geführter Dispute darüber, ob die eheliche Treue von beiden Geschlechtern verlangt werden sollte, ob bzw. bis zu welchem Umfange Frauen ausgebildet werden sollten, und ob Frauen ein Recht auf den Respekt und die Dankbarkeit des Mannes für die Dienste hätten, die sie ihm erbringen. Auf der einen Seite dieser Debatten wird die Geringerwertigkeit der Frauen neuerlich behauptet, indem man sich auf Beispiele, Autoritäten und die Vernunft beruft. Auf der anderen Seite wird ihre Überlegenheit auf verschiedene Weise verteidigt. Einige Autoren, beispielsweise Cornelius Agrippa, wandten die rhetorische Methode der paradoxen Lobrede an, wodurch sie versuchten, das Publikum durch Umkehrung konventioneller Bewertungen von Männern und Frauen zu 445
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überraschen und zu beeindrucken (siehe Agrippa von Nettesheim). Andere beziehen sich auf einen wohlbekannten Vorrat an Fällen, um die überlegene Tugend, Intelligenz oder Umsichtigkeit der Frauen zu illustrieren. Die Wahl dieser Genres verstärkt den Eindruck, dass diese Verfechter der weiblichen Sache, während sie manchmal beschränkte soziale Reformen vorschlagen, insgesamt doch aber ängstlich sind, den status quo umzustoßen. Ihr Ziel ist es zu unterhalten, d.h. die Männer zu necken und den Frauen zu schmeicheln. Und vielleicht überdenken beide dadurch ihre Rollen, statt den sozialen Wandel zu fördern. Spuren dieses Denkstils dauerten bis weit in das 17. Jahrhundert an und sind noch bei Autoren spürbar, die auf andere Weise mit der querelle brachen. Ein besonders auffallender Wandel ist der Schritt hinweg von den Debatten über die relative Geringerwertigkeit oder die Überlegenheit der Frauen zur Unterstützung einer Perspektive, derzufolge die Geschlechter gleichwertig sind. Marie de Gournay, die für sich in Anspruch nimmt, die erste zu sein, die dies behauptete, publizierte ihr Buch ‚Égalité des hommes et des femmes‘ (‚Gleichheit der Männer und Frauen‘) im Jahre 1622, und dasselbe Thema wurde mit neuer Bestimmung im selben Jahrhundert nochmals aufgegriffen. In Frankreich unternahm Poulain de la Barre einen frischen Anlauf, als er sich auf die kartesische wissenschaftliche Methode berief: ein klares und bestimmtes Verständnis der Frage erreiche man, darauf beharrte er, durch rationale Demonstration. Obwohl sein ‚De l´Égalité des deux sexes‘ (1673, dt.: ‚Von der Gleichheit der Geschlechter‘) manchmal noch in den alten Argumentationsstil verfällt, z.B. dass Frauen anständiger und diskreter seien als Männer, dass die Arbeit von Frauen wertvoller sei als die der Männer etc., ist Poulain doch bemerkenswert fortschrittlich mit seiner Behauptung, dass die Beziehungen zwischen Geist und Körper und die Fähigkeiten des Geistes bei beiden Geschlechtern dieselben seien. Aus diesen Behauptungen leitet er noch weitere Konsequenzen ab. Nach seiner Auffassung gibt es keinen Grund, warum Frauen nicht alle jene Rollen besetzen sollten, die seinerzeit von Männern eingenommen wurden. Da sie den Männern im Verständnis aller Wissenschaften (einschließlich des zivilen und des kanonischen Rechts) in nichts nachstehen, könnten sie, wenn sie entsprechend ausgebildet wären, in den Universitäten lehren, Gesetzgeber, Regierende, Armeegeneräle, Richter und – was das radikalste in dieser Reihe ist – Priester und Geistliche der Kirche sein. Poulains Bereitschaft, solche sozialen Änderungen in Betracht zu ziehen, ist ungewöhnlicher als seine Betonung der intellektuellen Gleichheit oder sein Herunterspielen der körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Eine Reihe von Frauen kritisierten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Männer dafür, dass sie sie vom Lernen und von der Ausbildung fernhalten, was implizierte, dass Frauen sehr wohl imstande seien, sich selbst und sogar die Männer zu führen. Beispielsweise schrieben Anna Maria von Schurman in den Niederlanden, Sor Juana Ines de la Cruz in Mexiko, Jacqueline Pascal und Madame de la Maintenon in Frankreich und Bathusa Makin in England alle zugunsten der Ausbildung von Mädchen. Autorinnen wie Margaret Cavendish und Mary Astell sind dagegen eher bitter und witzig in ihren weit ausgreifenden kritischen Erkundungen der Unterwerfung der Frauen unter die Männer.
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3. Einforderung von Rechten Bereits im Jahre 1673 wandte Poulain de la Barre ein, dass Frauen und Männer das gleiche Recht auf Wissen hätten, weil es ihnen durch die Natur verliehen worden sei. Alle Menschen suchen das Glück; niemand kann das Glück ohne Wissen erreichen, also braucht jedermann Wissen. Zur Sicherstellung, dass die Menschen ihren eigenen Zielen nachgehen, hat die Natur sie mit den notwendigen Mitteln in Gestalt eines Rechtes darauf ausgestattet. Wir sehen hier den Beginn einer Berufung auf Rechte, die schrittweise immer mehr in den Mittelpunkt rückte, bis ungefähr ein Jahrhundert später dieser Punkt die Debatten dominierte. Direkt beim Aufflackern der Französischen Revolution präsentierte Olymphe de Gouges der Französischen Nationalversammlung eine Erklärung der Rechte der Frauen (deren Ratifizierung von der Nationalversammlung abgelehnt wurde). Frauen, so argumentierte sie, sollten ein Recht auf Beschäftigung, gesetzliche Rechte in der Familie, ein Recht auf freie Meinungsäußerung und eine gesonderte Versammlung haben, in der sie sich selbst repräsentieren können. Dasselbe Thema wurde in England von Mary Wollstonecraft aufgegriffen, die 1792 ‚A Vindication of the Rights of Women‘ (‚Eine Rechtfertigung der Rechte der Frauen‘) publizierte. Sie forderte Rousseau heraus, indem sie argumentierte, dass die Ausbildung und Emanzipation der Frauen Bedingungen einer wirklich zivilisierten Gesellschaft seien. Gott habe alle Menschen mit der Vernunft ausgestattet, so dass sie diese zur Zügelung ihrer Leidenschaft und zum Wissens- und Tugenderwerb einsetzen können. Frauen ihre Chance zur Vervollkommnung ihrer Natur und zur Erhöhung ihres Lebensglücks vorzuenthalten heißt, sie nicht als Menschen zu behandeln und sie zu ‚liebenswürdigem, häuslichem Vieh‘ zu degradieren. Damit trampele man auf ihren Rechten herum und halte sie im Zustand der Unterwerfung, was sowohl ihnen, als auch ihren männlichen Gefangenenwärtern Schaden zufüge. Jenseits aller Selbstverständlichkeit erklärte Wollstonecraft, indem sie die Argumente von Mary Astell ausführte, die angebliche Geringerwertigkeit der Frauen verdanke sich hauptsächlich ihrem Mangel an Ausbildung. Weil sie vom Lernen abgeschnitten und darin bestärkt würden, sich nur um Liebe und Mode zu kümmern, seien sie unfähig, irgendeine solide Tugend zu entwickeln und zeigten in der Tat jene Flatterhaftigkeit und Dümmlichkeit, für die sie dann kritisiert werden. Genauso wie sie sich damit selbst Schaden zufügen, setzen Frauen in diesem Zustand allerdings auch andere herab. Erstens fügen sie den Männern Schaden zu. Seine Mitmenschen despotisch zu behandeln ist ein Mangel an Tugend, und so wie Könige korrupt werden durch das Übermaß der ihnen gewährten Macht, so werden die Männer korrupt durch die Tyrannei, die sie gegenüber ihren Schwestern, Töchtern und Ehefrauen ausüben. Zweitens sind unwissende und machtlose Frauen nicht geeignet, die Tugend an ihre Kinder weiterzugeben. ‚Um eine gute Mutter zu sein, muss eine Frau mental wach sein und jene Unabhängigkeit des Geistes zeigen, die nur wenige Frauen besitzen, denen beigebracht wurde, sich in die vollständige Abhängigkeit von ihrem Ehemann zu begeben‘ (‚A Vindication‘). Obwohl Wollstonecrafts Argument von ihrer Behauptung abhängt, dass Frauen so rational wie Männer sind, hat sie doch keine Sympathie für das, was sie ‚maskuline Frauen‘ nennt. Das Ziel der Erziehung von Frauen ist nach ihrer Auffassung, dass sie zu tugendhaften Ehefrauen und Müttern werden, die durch Erfüllung dieser biologischen Pflichten zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden. Einmal 447
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befreit von der Unterwerfung unter den Mann würden gebildete Frauen nicht die Rollen von Männern einnehmen, sondern frei und tugendhaft ihr häusliches Leben führen, zum Nutzen der Gesellschaft als Ganzem. Die Behauptung, dass Männer und Frauen intellektuell gleich seien, geht hier einher mit der Sichtweise, dass es natürliche Unterschiede zwischen ihnen gibt, was sie für verschiedene Lebensformen auszeichnet: rationale Frauen werden sehen, dass ihr Platz zu Hause ist. Diese leichthin vollzogene Teilung der Arbeit kam im 19. Jahrhundert unter steigendem Druck, als das feministische Denken sich weniger um das überragende moralische Recht auf Freiheit sorgte, als vielmehr um das Recht auf Eigentum, zur Ausübung von Berufen, und vor allem zum Wählen. Gleichwohl blieben Argumente, die sich gleichzeitig auf die Gleichheit und den Unterschied der Geschlechter beriefen und dabei die Auffassung vertraten, dass Frauen in gewissen häuslichen Tugenden herausragend sind, durchaus üblich. Die US-Suffragette Elizabeth Cady Stanton verlangte das Frauenwahlrecht von der New Yorker Legislative in den 1850er Jahren mit der Begründung, dass „die Rechte eines jeden Menschen die gleichen und identisch seien“. Sie meinte aber auch, dass Frauen, wenn sie zur Selbstrepräsentation durch Wahlen imstande wären, einen eigenen Beitrag leisten würden, der das Gleichgewicht gegenüber den Männern herstellen würde. Derselbe Wunsch zur Versöhnung der Forderungen nach Gleichheit und Unterschied wird in John Stuart Mills ‚The Subjection of Women‘ (1869) deutlich. Mill trägt vor, dass Frauen dieselben Rechte zustehen wie Männern, und dass ihnen der Zugang zu öffentlichen Ämtern gewährt werden sollte, ferner zur Arbeit, zum Eigentum und das Wahlrecht. Er verlangt auch, dass verheiratete Frauen nicht verpflichtet werden sollten, ihren Männern zu gehorchen und das Sorgerecht für ihre Kinder haben sollten. Sein vorrangiger Grund für diese Schlussfolgerungen war, dass Frauen und Männer gleich sind; er ergänzt dieses Argument aber durch weitere Behauptungen über die Vorteile, die die Freiheit der Frauen mit sich bringen würde. Wie Wollstonecraft behauptet er, dass die Macht der Männer über die Frauen „die ganze Existenzweise der Männer pervertiert, sowohl als Individuum, als auch als soziales Wesen“, und er wiederholt ihre Auffassung, dass es keine wirkliche gute Beziehung zwischen Eheleuten geben kann, die nichts gemeinsam haben. Erst wenn die Frauen Zugang zur Bildung haben, ist eine solide und dauerhafte Freundschaft zwischen den Geschlechtern möglich, die eine moralische Regeneration der Menschheit ankündigen würde. Zwei weitere Gedanken berufen sich jedoch auch auf angenommene Unterschiede. Mill trägt zunächst vor, dass Frauen eine sehr ausgeprägte Aversion gegen den Krieg und eine ‚Sucht‘ nach Menschenfreundlichkeit hätten, die sie besser einsetzen würden, wenn sie besser informiert wären. Zudem meint Mill, dass die Frauen, obwohl sie das Recht haben sollten, (gewerblich) arbeiten zu dürfen, im Falle ihrer Verheiratung „die Führung des Haushalts und die Aufzucht ihrer Kinder“ als ihre erste Aufgabe ansehen würden. Ältere Frauen, die diese Aufgabe bereits erledigt haben, mögen sich entscheiden, ihre Energien dem öffentlichen Leben zu widmen, beispielsweise durch Aufnahme ins Parlament. Aber der erste Platz der verheirateten Frau sei doch, so wiederholt er, der Haushalt. 4. Sexuelle Unterdrückung und Emanzipation Die Auffassung, dass die Unterdrückung der Frauen überwunden werden könne, sobald sie dieselben Rechte wie die Männer bekämen, war daher mit einem konven448
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tionellen Verständnis einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung vereinbar. Zweifel gegen diesen ganzen Emanzipationsansatz wurden jedoch infolge des Umstandes angemeldet, dass die Frauen, nachdem dies einmal erreicht war, ihre neu erworbene politische Macht alles in Allem gar nicht einsetzten, um weitere Reformen herbeizuführen. Viele Suffragetten waren darüber sehr enttäuscht, und Feministinnen mit einer etwas radikaleren Gesinnung wurden dadurch in ihrer Überzeugung bestärkt, dass die Quelle der Unterdrückung der Frau nicht ihr Mangel an Rechten sei. Reformen wie beispielsweise das Recht der verheirateten Frau auf Eigentum und ihr Recht auf eine höhere Bildung, betonten sie, begünstige die Mittelklasse mehr als die Arbeiterfrauen. Wichtiger noch war, dass die Wurzel der Unterordnung der Frauen nicht in ihrer bürgerlichen, sondern in ihrer privaten Rolle liege, d.h. in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter. Diese Auffassung wurde teilweise aus Engels’ Buch ‚Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‘ (1884) abgeleitet, in dem er vortrug, dass die Unterdrückung der Frau vorrangig eine sexuelle sei. Die patriarchalische Familie sei keineswegs ein Naturzustand. Diese Institution sei vielmehr als ein ganz eigenes Merkmal der Geschichte zusammen mit dem Privateigentum entstanden. Um ihr Eigentum an ihre Söhne weitergeben zu können, hätten die Männer den vollständigen sexuellen Besitz an den Müttern ihrer Kinder benötigt, und aus diesem Grund reduzierten sie die Frauen zu Sklaven. In der kapitalistischen Gesellschaft bestünde die Unterwerfung der Frau nicht in einem Mangel gesetzlicher Rechte, sondern in ihrer schwachen Position auf dem Arbeitsmarkt, was sie umgekehrt in die Ehe treibe. Frauen stünden vor der Wahl zwischen der Beinahe-Armut als Arbeiterinnen oder einem Leben in Sklaverei als Hausfrauen und Mütter, oder im Falle von Arbeiterklassenfrauen sowohl einer Ausbeutung durch Arbeit, als auch einer Unterwerfung in der Ehe. Nur wenn man den Kapitalismus überwinde, würden sie dieser Notlage entkommen und von ihrer Abhängigkeit befreit. In Russland griff die Revolutionärin Alexandra Kollontai (1872–1952) die von Engels diagnostizierte Zwangslage auf und beharrte in ihrem Buch ‚Die soziale Grundlage der Frauenfrage‘ (1909) darauf, dass die proletarischen Frauen jede Zusammenarbeit mit der bourgeoisen feministischen Bewegung zurückweisen und den Kapitalismus angreifen müssten, der die Quelle ihrer Unterdrückung sei. Als ‚Kommissarin für Soziale Wohlfahrt‘ in der Russischen Revolutionären Regierung von 1917 beaufsichtigte Kollontai den Entwurf gesetzlicher Reformen zur Revolutionierung der Familie und der sexuellen Beziehungen zwischen Männern und Frauen, und zur Erleichterung der Frauen hinsichtlich ihrer „dreifachen Last“ als Lohnarbeiterinnen, Haushälterinnen und Mütter. Diese Reformen gründeten sich auf einer Unterscheidung zwischen produktiver und nicht-produktiver Arbeit, sowie auf der Auffassung, dass Frauen Erleichterung von der Last der nicht-produktiven, häuslichen Arbeit (Reinigen, Kochen, Waschen, Wäsche machen und viele weitere Aspekte der Kinderaufzucht), um sich in produktiver Arbeit zusammen mit den Männern engagieren zu können. Auf diese Weise würden sie wirtschaftliche Unabhängigkeit erreichen. Gleichzeitig sei es eine Arbeit der Frauen, ihre produktive Arbeit des Kinderkriegens wahrzunehmen. Die Arbeit der Kinderaufzucht wurde nicht mehr als etwas gesehen, was in die alleinige Verantwortung einer Familie fiele, sondern als eine Aufgabe des Staates, denn es sei im Interesse des Arbeitskollektivs,
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dass die Kinder geboren würden, und dass sie körperlich leistungsfähig aufwachsen und gute Revolutionäre werden. In den ersten Jahren der bolschewistischen Regierung begann Kollontai mit der Einführung einer Reihe radikaler, wenn auch kurzlebiger Änderungen. Die Frauen sollten vollumfängliche bürgerliche Rechte erhalten; die Zivilehe und das Scheidungsrecht wurden eingeführt; eheliche und nichteheliche Kinder wurden rechtlich gleichgestellt, und im Jahre 1920 wurde die Abtreibung legalisiert. Soweit es die Arbeit betraf, wurde auf das Kinderkriegen Rücksicht genommen. Die Frauen mussten keine schwere körperliche Arbeit leisten, die ihrer Gesundheit schaden könnte, oder Überstunden machen oder Nachtschichten leisten. Ihnen wurden Mutterschaftsgeld und die Krankenkosten während der Schwangerschaft bezahlt. Sobald die Kinder herangewachsen waren, wurden sie in Krippen, Kindergärten und Schulen betreut, wo sie auch Essen und Kleidung erhielten. Nach Kollontai wird die Diktatur des Proletariats die Familie letztlich abschaffen und mit ihr auch die bourgeoise Sexualmoral. Denn obwohl der Staat sich nach ihrer Auffassung um die Kinder kümmern sollte, hat er doch kein besonderes Interesse mehr an den Beziehungen zwischen Erwachsenen. Konventionelle Vorstellungen von der romantischen Liebe dürften die Kameradschaft nicht untergraben. Doch Kollontai betont auch, dass die Solidarität nur zwischen jenen bestehen kann, die zur Liebe und Sympathie fähig sind, und sie favorisiert eine Gesellschaft, in der die Menschen auch emotional gebildet sind, um viele unterschiedliche Formen von Liebe zu unterschiedlichen Menschen empfinden zu können. In den USA wurde Engels’ Standpunkt, dass die Unterdrückung der Frauen ihre Wurzeln in der Familie hat, von der Anarchistin Emma Goldman (1869–1940) verwendet, um ganz andere Schlussfolgerungen daraus abzuleiten. Zugang zu Bildung und Arbeit, wofür die emanzipatorischen Frauen so lange gekämpft hatten, würden angeblich Frauen hervorbringen, die ‚Berufsautomaten‘ wären, und denen jener Wesenszug abginge, der ‚die Seele bereichert‘. Indem sie sich in die öffentlichen Belange einmischten, würden die Frauen einen unreinen Zustand annehmen, der sowohl die Frauen, als auch die Männer davon abhielte, ihre inneren Qualitäten zu entwickeln, die aus der sexuellen Intimität herrühren und ihre Freiheit ausmachen, und dies würde insbesondere die Frauen entstellen, für die Liebe sogar noch wichtiger sei als für die Männer. Die Frage, wie man Freiheit erlangen könne, sei daher eine Frage danach, wie man den sexuellen Selbstausdruck hegen könne, und Goldman ist unnachgiebig darin, dass dies nur möglich sei, wenn die Frauen nicht mehr sexueller Besitz ihrer Ehemänner seien. Genauso, wie sie auf die öffentliche Sphäre verzichten sollten, müssten die Frauen die private Institution der Ehe zurückweisen, in der sie, getrieben von wirtschaftlicher Notwendigkeit, finanzielle Sicherheit zum Preis ihrer Unabhängigkeit erwerben. Sie müssten stattdessen lernen anzuerkennen und dem zu folgen, was Goldman ihren Instinkt nennt. Goldman und Kollontai teilen mit einigen ihrer liberalen Vorgänger und Zeitgenossinnen die Prämisse, dass eine Institution der Ehe ihnen die Freiheit nimmt, in der Frauen sexuell von ihren Männern dominiert werden und wirtschaftlich von ihnen abhängig sind. Und noch radikaler behaupten beide, dass diese beiden Formen des Bösen nur überwunden werden können, wenn man die konventionelle Vorstellung der Ehe und Familie abschaffe. Im Übrigen unterscheiden sie sich allerdings scharf. Für Kollontai besteht die Freiheit in der produktiven Arbeit, in der sowohl Frauen, 450
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als auch Männer sich engagieren müssen, wenn sie wirklich gleich und gleichermaßen frei sein wollen. Im Falle der Frauen kann die produktive Arbeit allerdings auch die Form des Kinderkriegens annehmen. Mutterschaft (der Unterschied, der die Frau ausmacht), wird einer überragenden Konzeption der Gleichheit untergeordnet, nach der Männer und Frauen zwar nicht auf dieselbe Weise behandelt werden, aber doch einen gleichartigen Beitrag insofern leisten, als beide produktiv arbeiten. Im Gegensatz dazu sieht Goldman die Freiheit als einen Zustand der individuellen Erforschung und des Selbstausdrucks, der fern aller Unreinheit und Korruption des Staates verfolgt werden sollte, und wenig mit Arbeit zu tun hat. Aber sowohl Männer, als auch Frauen brauchen die Liebe, um frei zu werden, aber für die Frauen spielt die sexuelle Intimität eine besonders große Rolle in diesem Prozess. Während Kollontai die reproduktive Sexualität von sonstigen erotischen Beziehungen trennt, löst Goldman die Mutterschaft aus jener Ganzheit heraus: die unbeschränkte Liebe, die die Liebe einer Mutter gegenüber ihren Kindern sein kann oder auch nicht, sei das, was die Frauen in die Lage versetze, ihr Leben zu erfüllen und damit frei zu werden. 5. Die Verbreitung der männlichen Herrschaft Es ist inzwischen üblich, eine erste Welle des Feminismus, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre reichte, von einer zweiten Welle zu unterscheiden, die mit den 1970er Jahren anbrach. Diese Chronologie eignet sich zur Beleuchtung der Abwesenheit spezifisch feministischer politischer Kampagnen in den dazwischen liegenden Zeiträumen. Sie muss jedoch mit Vorsicht angewandt werden, denn eine der einflussreichsten Arbeiten der modernen feministischen Philosophie, nämlich Simone de Beauvoirs ‚Das andere Geschlecht‘, wurde im Jahre 1949 publiziert (siehe Beauvoir, Simone de). De Beauvoir stellte aus ihrer Unzufriedenheit mit den vorhandenen Darstellungen der weiblichen Unterordnung unter den Mann erneut die Frage: ‚Was ist eine Frau?‘, indem sie die beschränkten Antworten erforschte, die bis dahin vom historischen Materialismus und der Psychoanalyse gegeben worden waren. Diese beiden Theorien, behauptete sie, sind im Kern zirkulär. In seinem Buch ‚Der Ursprung der Familie‘ habe Engels festgestellt, dass die Institution des Privateigentums die Versklavung der Frau zur Folge habe, biete aber selbst keine Erklärungsmittel dafür an, warum dies so verlaufen müsse. Ebenso versage Freuds Darstellung der sexuellen Differenzierung darin zu sagen, welche vorangehende Bewertung ihrer Männlichkeit Jungen dazu bringt, überhaupt auf ihren Penis stolz zu sein, und was Mädchen umgekehrt dazu bringe, dem Mangel an diesem Körperteil eine besondere Bedeutung beizumessen. Zur Erklärung der Unterdrückung der Frau, an der die Frauen selbst mitschuldig seien, genüge es nicht, sich nur auf wirtschaftliche Kategorien oder psychologische Entwicklungsmuster zu berufen, die bereits mit genau jenen Bewertungen durchtränkt seien, die die männliche Macht ausmachen. Hier sei vielmehr eine Theorie vonnöten, die der enormen Vielzahl von Lebenspraktiken gerecht werde, die zur Unterordnung der Frau beitragen. Zur Begründung ihrer Analyse beruft sich de Beauvoir auf Hegels Diagnose jenes Konflikts, der der Beziehung zwischen einem Herrn und seinem Knecht zugrunde liegt. Im Bewusstsein selbst liege eine grundlegende Feindseligkeit gegenüber jedem anderen Bewusstsein; das Subjekt könne nur als Gegensätzliches gesetzt 451
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werden – es setze sich selbst als Wesentliches, d.h. als etwas, das dem Anderen, Unwesentlichen, dem Gegenstand, entgegengesetzt ist (siehe Hegel, G.W.F., § 5). Etwa so, wie der Meister seine Subjektivität nur dadurch erreicht, dass er den Widersacher besiegt, der damit zu seinem Sklaven wird, so stellt sich der Mann als ein freies Subjekt dar, indem er die Frau beherrscht, die ihm wiederum als sein Anderes dient. In Sartres Worten heißt dies, dass er, der Mann, transzendent würde, während sie, die Frau, schmutzig in der Immanenz zurückbleibe (siehe Sartre, J.-P.). Eine solche Situation ist jedoch rätselhaft. Frauen sind wie Männer bewusste Wesen, die in der Lage sind, das männliche Anstarren zu parieren. Und dennoch lassen sie es zu, beherrscht zu werden. Warum nehmen sie diese Position ein? Warum versuchen sie nicht umgekehrt, die Männer zu dominieren? Obwohl de Beauvoir nahe legt, dass die vergleichsweise Passivität der Frauen durch ihr Kinderkriegen begründet sei, ist sie doch hauptsächlich an der Analyse einer Vielzahl jener sozialen Praktiken interessiert, die bei ihr im Verdacht stehen, die Frauen in der Position des Anderen zu halten und sie davon abzuhalten, ihre eigene Transzendenz zu suchen. Diese Praxis, so wendet sie ein, wird sowohl von den Männern aufrecht erhalten, die die weibliche Passivität verstärken und belohnen, als auch durch die Frauen, die mit ihnen zu ihrer eigenen Beherrschung zusammenarbeiten. Letzteres jedoch sei am Ende eine Form der Sklaverei. Jemandem zu erlauben, dass er einen wie einen Gegenstand behandelte, heiße sein eigenes Dasein nicht selbst in die Hand zu nehmen und sich vor dem schmerzvollen Prozess der Befreiung zu drücken. Wie aber können die Frauen sich dann selbst befreien? Die Frauen, so legt de Beauvoir nahe, müssten die Rollen von Hausfrauen und Müttern meiden, in denen sie am leichtesten zu verdinglichen sind, und müssten sich selbst durch Arbeit entdecken. Wenn sie einmal begännen, ihren Ausdruck und Mut, die beide für die Freiheit wesentlich sind, zu erproben, würde sich ihre Vorstellung davon, was es heißt, eine Frau zu sein, ändern, und die Frauen und die Männer würden schrittweise Wege finden, um einander gleich zu behandeln. Einer von de Beauvoirs tiefgreifendsten Beiträgen zur feministischen Philosophie lag in ihrem Bestehen darauf, dass die Frauen in allen Aspekten ihres Lebens beherrscht werden. Ihr vergleichsweiser Mangel an Freiheit besteht nicht etwa nur in der Abwesenheit bürgerlicher Rechte oder in bestimmten Institutionen wie der Mutterschaft und der Ehe, obwohl dies maßgebliche Faktoren sind. Sondern sie sind in ihrem unterbewerteten Platz durch „das Ganze der Zivilisation“ befangen, und zwar durch eine Vielzahl von Bewertungen und sozialen Praktiken (sehr aufschlussreich erzählt in den Kapiteln über die Kindheit, das junge Mädchen, die sexuelle Initiation etc.), die unser Verständnis von Mann und Frau, des Männlichen und des Weiblichen formen. Wie sie in ihrer berühmten Bemerkung „Man ist nicht als Frau geboren, sondern wird erst zu einer Frau“ andeutet, meint de Beauvoir, dass es die sozialen Praktiken sind, die die Körper verstehen lernen und als Mann oder Frau leben; und durch diese selben Praktiken lernen sie, dass der Unterschied zwischen ihnen wertende Bedeutung hat. Eine Frau zu werden ist ein kultureller und ein historischer Prozess, der niemals vollendet ist. Obwohl de Beauvoir zugibt, dass es immer Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben wird, die sich aus ihrer körperlichen Verschiedenheit und den Wirkungen, die dies auf ihre Wahrnehmungskraft hat, herleitet, geht sie doch davon aus, dass es nichts gibt, was Frauen intrinsisch oder von Natur aus sind. Daraus folgt, dass es keine objektiv auszumachende Grenze gibt, die ihr Werden einschränkt. 452
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6. Feminismus der zweiten und dritten Generation Viele der kritischen und konstruktiven Themen, die de Beauvoir diskutierte, wurden nochmals in den späten 1960er und 1970er Jahren von einer Frauengeneration aufgegriffen (wenn auch oft ohne ausdrückliche Bezugnahme auf ‚Das andere Geschlecht‘), die angesichts ihrer eigenen Erfahrung darum rangen, die sozialen und psychologischen Theorien zu revidieren, um die sich die akademischen Debatten drehten. Auf einer kritischen Ebene erweiterten sie de Beauvoirs Einwände gegen den Marxismus und die Psychoanalyse und fügten ihnen weitere Kritiken gegen andere soziologische Ansätze hinzu, wie beispielsweise gegen den Funktionalismus, wobei sie manchmal Debatten auslösten, die sich noch bis in die folgenden beiden Jahrzehnte hinein fortsetzten. Für Feministinnen, die sich mit dem Marxismus auseinandersetzten, war die Schlüsselfrage, ob Frauen befriedigend in eine Theorie einbezogen werden können, die sich auf die Klassenstruktur der Gesellschaft konzentriert, und ob die Unterdrückung der Frau damit adäquat erklärt werden kann, dass man auf ihren Platz in den Produktionsbeziehungen und den daraus folgenden Ideologien abstellt. Studien über die häusliche Arbeit und über die sexuelle Unterordnung der Frau legten nahe, dass die Antwort auf diese Fragen negativ ausfällt, wenn auch die marxistischen Analysen von Frauen in kapitalistischen Gesellschaften trotzdem wertvoll blieben. Indem sie sich der Psychoanalyse zuwandten, griffen eine Reihe von einflussreichen Autorinnen Freuds Konstruktion der Weiblichkeit als passiv, masochistisch, narzisstisch und intellektuell beschränkt an. Ihre erneute Lektüre gewährte den Feministinnen eine Pause und leitete schließlich eine Reihe fruchtbarer Neuinterpretationen und Änderungen innerhalb der psychoanalytischen Theorie ein (siehe Irigaray, L.; Kristeva, J.). Kritische Interpretationen dieses Typs dienten ferner als Vehikel für eine Reihe bedeutender Neuerungen im feministischen Denken, das neue Fragen aufwarf und neuartige Ansätze konsolidierte. Autorinnen wie beispielsweise Kate Millett und Shulamith Firestone wandten bereits in den frühen 1970er Jahren ein, dass die Formen der Beherrschung, die von Feministinnen ausgemacht worden waren, alle relativ oberflächlich wirkten im Vergleich zum Patriarchat, d.h. der sexuellen Macht, die die Männer über Frau ausüben, vor allem innerhalb der Familie, aber auch in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Sie wiesen darauf hin, dass in einer großen Bandbreite von Gesellschaften die Sexualität der Männer die Quelle und Rechtfertigung ihrer Macht ist, und zwar deren angeblich naturgegebene Eigenart, die ihnen das Recht zur Bestimmung über die Frauen gibt. Die Funktionsweise des Patriarchats äußert sich gerade nicht in den erotischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern in den mannigfaltigen Bedeutungen, mittels derer Männer und Frauen in ihrem Temperament, ihrer Rolle und ihrem Status sozialisiert werden, wobei die Männer so erzogen werden, dass sie sich selbst als potent und aktiv betrachten, während die Frauen sich selbst als untergeordnet und sexuell unrein wahrnehmen. Das Patriarchat beruht dann weniger auf den biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau, als vielmehr auf tief sitzenden kulturellen Interpretationen, die ihnen Werte und Bedeutungen zuordnen. In den frühen 1970er Jahren begann man, dies als den Schlüsselunterschied zu betrachten, und Autorinnen wie z.B. Millett und Ann Oakley übernahmen Ausdrücke wie sex und gender zur folgenden Unterscheidung: sex bezog sich nunmehr auf die biologischen Merkmale, die ei453
Feminismus
ne Person als männlich oder weiblich kennzeichnen, während gender die kulturell veränderlichen Konzeptionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit bezeichnete. Beides zusammen genommen, zusammen mit dem Begriff des Patriarchats, lieferten eine anglo-amerikanische Artikulation über viele der Themen, die bereits von de Beauvoir angesprochen worden waren, und riefen eine Reihe theoretischer Debatten hervor, von denen einige noch im Gange sind. Ist sex wirklich vom gender trennbar, oder ist unsere Erfahrung und Theoriebildung so stark durch die Kultur vermittelt, dass die Vorstellung des einfach Biologischen ihren Sinn verliert? Ist das Patriarchat eine nützliche analytische Kategorie, oder ist sie entweder eine falsche Verallgemeinerung, oder eine falsche Reduktion? In welcher Beziehung – wenn überhaupt – steht patriarchalische Macht zu anderen Formen der politischen und wirtschaftlichen Macht? Und ist diese Macht tatsächlich so stark und verbreitet, wie ihre Verfechter dies glauben? Unabhängig vom Schicksal dieser Fragen hatte die Überzeugung, dass die Herrschaft der Männer über die Frauen über alle Arten sozialer Praktiken aufrecht erhalten wird, eine tiefe Wirkung auf den akademischen Betrieb, da die Feministinnen begannen, mit neuen Augen auf die Texte und Theorien zu schauen, die sie mit professionellem Blick studierten. Dieser Ansatz erwies sich als außergewöhnlich fruchtbar, sobald er auf literarische Texte angewandt wurde. Simone de Beauvoir hatte selbst eine Untersuchung von ‚Der Mythos der Frau bei fünf Autoren‘ in ihr Buch ‚Das andere Geschlecht‘ eingefügt, und Milletts ‚Sexual Politics‘ beginnt mit tiefgründigen Interpretationen von Henry Miller, Norman Mailer und Jean Genet. Dies wurde bald von Philosoph(inn)en übernommen, die mit der Analyse der Konzeptionen des gender begannen und diese in den großen Werken der philosophischen Tradition aufsuchten. Genevieve Lloyds ‚The Man of Reason‘ (1984) und Carole Patemans Aufsätze über die Theorie des Gesellschaftsvertrages sind bemerkenswerte frühe Beispiele dieser Art von Arbeit, und ihnen folgten rasch kritische Untersuchungen sowohl in unterschiedlichen Gebieten der Philosophie, als auch einzelne Positionen innerhalb dieser Gebiete (siehe Feministische Erkenntnistheorie). Während die Ergebnisse dieser akademischen Blüte extrem unterschiedlich waren, blieb eine Reihe von Themen doch unbeachtet. Zunächst zeigten einige beeindruckende Arbeiten der jüngsten Zeit, wie philosophische Standards und Lehren, die für sich selbst einen objektiven und universellen Status beanspruchten, doch Einzelinteressen wiedergeben, d.h. Werte und Prioritäten, die von weiter gefassten Konzeptionen der Männlichkeit überformt sind. Diskussionen von Menschen erweisen sich, wenn man genauer hinschaut, als Diskussionen über Männer, und Normen, die für allgemein anwendbar gehalten werden, erweisen sich manchmal als solche, die auf Männer besser anwendbar sind als auf Frauen. Auf diese Weise hat die Philosophie zur kulturellen Konstruktion des Geschlechts (gender) beigetragen, die eine Rolle bei der Legitimierung und der Erhaltung männlicher Macht spielt. Feministische Philosophen gewannen Einsicht in dieses Phänomen, indem sie die Geschichte und auch die gegenwärtige soziale Praxis ihres Gegenstandes studierten, wobei sie nicht nur auf die inhaltliche Substanz der Arbeit eines Autors achteten, sondern auch auf die von ihm gewählte literarische Form. In einer einflussreichen Reihe von Aufsätzen, die 1989 ins Englische übersetzt wurden, argumentiert Michele le Doeuff, dass eine Analyse der Bilderwelten und Metaphern geschlechtsspezifische Vorannahmen innerhalb eines Textes enthüllen kann. Dieser Ansatz hat 454
Feminismus
uns geholfen, über die schlichte Identifikation mit dem Sexismus in den Werken der großen Philosophen hinaus zu gehen, und damit zu einem viel reicheren Verständnis der Quellen der Vergangenheit zu kommen. Obwohl es wahr ist, dass Merkmale, die den Frauen zugeschrieben werden, wie z.B. Vorstellungskraft oder Gefühle, innerhalb der philosophischen Tradition oft verunglimpft und marginalisiert wurden, können diese doch Argumente enthalten, die dazu verwendet werden können, die gegenwärtigen Debatten voran zu bringen. Feministische Gelehrsamkeit hat auch Schriften von Philosophinnen zu neuem Leben erweckt und führte zu einer Prüfung des Prozesses, durch den diese missachtet worden waren. Beispielsweise erleben wir jetzt eine größere Wertschätzung der Beiträge von Frauen während der frühen Neuzeit zur Naturphilosophie (bedeutende Autorinnen sind hier Margaret Cavendish, Anne Conway, Jeanne Dumee und Aphra Behn), sowie auf dem Gebiet der Moralphilosophie (vor allem im Werk von Madeleine de Scudery, Damarys Masham, Mary Astell, Catherine Trotter und Gabrielle Suchon). Alle Feministinnen haben neue philosophische Fragen und Kritikperspektiven eröffnet. Diese wurden weithin von den institutionellen Sektoren übernommen und in den mainstream integriert. Analysen des politischen Ausschlusses von Frauen wurden im multikulturellen Kontext angewandt. Moralphilosophen erwiesen sich als weniger geneigt, Vernunft und Leidenschaft als Gegensätze zu betrachten. Und die feministischen Argumente über den sozialen Charakter der Macht werden in steigendem Umfange von der Erkenntnistheorie und der Sprachphilosophie berücksichtigt. In gewissem Umfange hat die feministische Philosophie daher aufgehört, die Rolle des Anderen einzunehmen, und sie findet jetzt Wege, in ein und derselben Sprache mit den Vertretern der traditionellen Formen zu reden, denen sie entsprang. Sie entwickelt sich aber auch noch intern weiter und hat gerade erst kürzlich ihre eigenen kritischen Techniken gegenüber der alten Gewohnheit trainiert, immer nur Ansprüche im Namen der Frauen zu erheben. Diese angeblich universellen Äußerungen, so wurde gezeigt, gehen nicht auf die Unterschiede zwischen Frauen unterschiedlicher Rassen, sexueller Orientierungen, Nationalitäten oder Klassen ein. Darüber hinaus kann man, wenn gender keine natürliche Kategorie ist, wenig über Frauen als solche sagen, und wir müssen sensibler gegenüber den vielen Konzeptionen der Weiblichkeit werden, die sich in verschiedenen Gesellschaften zeigen. Dieser Antiessentialismus hat tief greifende Konsequenzen für den Feminismus, und zwar als akademische Frage, als auch als politische Bewegung, und bezeichnet eine wichtige Wende weg von ihren Ursprüngen. Innerhalb der Philosophie hat sich neuerlich die Debatte gegen die Natur und den Status von Frauen eröffnet, denn mit dem Ausdruck ‚Frau‘ doch der Schlüssel dessen bezeichnet wird, um den sich der Feminismus dreht. Anmerkungen und weitere Lektüre: Beauvoir, Simone de (1949): ‚Das andere Geschlecht, Sitte und Sexus der Frau‘. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2000. (Die klassische existenzialistische Interpretation der Männlichkeit und Weiblichkeit und eine wegbereitende Analyse der sozialen Konstruktion des gender.) Millett, K. (1969): ‚Sexual Politics‘, London: Virago, 1977. (Eine gründliche Analyse der Konstruktion der Weiblichkeit in der Literatur und der Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts.) SUSAN JAMES 455
Feministische Erkenntnistheorie
Feministische Erkenntnistheorie
Die Wirkung des Feminismus auf die Erkenntnistheorie bestand darin, die Frage: ‚Über wessen Wissen reden wir hier?‘ ins Zentrum der erkenntnistheoretischen Forschung zu rücken. Folglich produzieren feministische Erkenntnistheoretiker(innen) Konzeptionen des Wissens, die sehr spezifisch auf den jeweiligen Zusammenhang abgestimmt sind, sowie auf das sozial verantwortliche erkenntnistheoretische Handeln abstellen. Sie haben genealogische bzw. interpretatorische Methoden entwickelt, haben sich für die Rekonstruktion des Empirismus eingesetzt, haben hinsichtlich der psychosozialen und poststrukturalen Analyse Standpunkte entwickelt und auch deren Potential bewiesen, der Hegemonie zentraler erkenntnistheoretischer Paradigmen etwas entgegenzusetzen. In diesen neu zusammengesetzten Erkenntnistheorien haben Feministinnen vorgebracht, dass der kognitive Status und die Lebensumstände des bzw. der Erkennenden zu den zentralen Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis gehören. Sie haben gezeigt, dass bei der Auswertung eines beliebigen erkenntnistheoretischen Ereignisses die soziale Verteilung der Macht und Privilegien augenfällig ist, durch die ein solches Ereignis legitimiert oder diskreditiert wird. Feministinnen sind gleichzeitig engagiert in kritischen Projekten wie der Demonstration des Privilegien erhaltenden, androzentrischen Charakters des ‚erkenntnistheoretischen Projekts‘ in den meisten bekannten Formen, und in transformativen Projekten der Rekonstruktion von Methodologien und Rechtfertigungsprozeduren, um deren unterdrückenden und ausgrenzenden Charakter zu beseitigen. Sie haben gezeigt, dass in der Philosophie des späten 20. Jahrhunderts die Gegebenheiten reifer weißer Männer weiterhin herrschende Ideale und Normen der sog. ‚menschlichen Natur‘ hervorbringen, wobei die Ideale der Vernunft, der Objektivität und Werteneutralität, um die herum die gegenwärtigen Haupttheorien der Erkenntnis konstruiert sind, genauso wie das Wissen, das sie legitimieren, stillschweigend die Erfahrungen und Werte wohlhabender Männer legitimieren. Wissenschaftliches Wissen, das immer noch eine überwältigend männliche Domäne ist, gilt als das regulative Modell objektiver erkenntnistheoretischer Autorität; und die Erfahrungen und Werte von nicht-männlichen, nicht-weißen und sonstwie anders gearteten Wissensträgern haben sich normalerweise an das Prokrustes-Bett einer idealisierten wissenschaftlichen und implizit maskulinen Norm zu gewöhnen, bei Strafe ihrer Missachtung als inkonsequente, abwegige, irrelevante Meinung. Indem sie sich in diesen Fragen engagieren, bewahren die meisten Feministinnen, wie auch viele andere Teilnehmer eines erkenntnistheoretischen ‚Nachfolgeprojekts‘, eine realistische Bindung an die empirische Evidenz, während sie gleichzeitig bestreiten, dass Tatsachen oder Erfahrungen ‚für sich selbst sprechen‘ und stattdessen meinen, dass die meisten Wahrheiten in demselben Umfange Artefakte wie Tatsachen sind. Fragen der kognitiven Autorität und Beantwortbarkeit spielen daher eine prominente Rolle in Fragen der Erkenntnisvergewisserung dieser Projekte, wobei sich die Feministinnen weniger auf formale, universale Bedingungen zur Gewinnung und Rechtfertigung von Wissen im Allgemeinen konzentrieren, als auf die Besonderheiten der Wissenskonstruktion. Daher sind diese Untersuchungen oftmals interdisziplinär und bringen detaillierte Analysen der Produktion von Alltagswissen oder der natur- bzw. sozialwissenschaftlichen Forschung hervor, indem sie ihre geschlechterspezifische und andere umstandsbedingte Implikationen ans 456
Feministische politische Philosophie
Licht bringen. In diesen Projekten zeigen Feministinnen, dass eingestandenermaßen engagierte, politische Stellung beziehende Forschungen durchaus gut gestützte Schlussfolgerungen ergeben können. Siehe auch: Feministische politische Philosophie LORRAINE CODE
Feministische politische Philosophie
In allen ihren Formen behauptet der Feminismus, dass die sozialen und politischen Strukturen einer Gesellschaft die Frauen diskriminieren. Feministische Philosophie zielt deshalb darauf ab zu zeigen, wie die traditionelle politische Philosophie in diese Diskriminierung verwoben ist, und wie die Ressourcen der politischen Philosophie dennoch im Dienste der Frauen verwendet werden können. Manchmal erweitert die feministische politische Philosophie die Argumente der traditionellen politischen Philosophie, um dadurch zu zeigen, dass Frauen ungerecht behandelt werden, und um Wege aufzuzeigen, wie diese Ungerechtigkeit beseitigt werden kann. Dies wird am klarsten im liberalen Feminismus, wo eingewandt wird, dass die Frauen, weil sie als denkende Wesen wesentlich dasselbe sind wie Männer, sie deshalb einen Anspruch auf dieselben gesetzlichen und politischen Rechte haben wie die Männer; dies sind Argumente, die die Rechte der Männer ebenso unterstützen wie jene der Frauen. Auf ähnliche Weise erweitert der marxistische und sozialistische Feminismus die Einsichten des Marxismus und des Sozialismus, um damit die Unterdrückung der Frauen deutlich zu machen und zu beseitigen. Die marxistische Betonung der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital wird ergänzt durch den marxistischen Feminismus mit der Betonung der Ausbeutung der Frauen durch das Patriarchat. Es gibt aber auch Formen der feministischen politischen Philosophie, die der traditionellen politischen Philosophie kritischer gegenüberstehen und die Unterscheidungen, auf denen sie aufbauen, in Frage stellen. Beispielsweise stellen radikale feministische Philosophinnen den Geltungsbereich des Ausdrucks ‚politisch‘, wie er normalerweise durch politische Philosophen verwendet wird, in Frage und wenden ein, dass die traditionelle politische Philosophie durch den Ausschluss der häuslichen Sphäre viele Dinge ausschließt, die für Frauen gerade am wichtigsten sind. Hier ist das Ziel nicht die Erweiterung der Einsichten der politischen Philosophie, sondern vielmehr eine Beleuchtung der Umstände, unter denen die politische Philosophie selbst zur Ungleichbehandlung der Geschlechter neigt. Noch radikaler standen die Denker(innen) der Postmoderne kritisch der philosophischen Betonung der Wahrheit und Objektivität gegenüber, und einige Feministinnen haben ihre Argumente erweitert, um zeigen zu können, dass die Sprache der Philosophie selbst, und im weiteren Sinne auch die politische Philosophie, von Männern gemacht ist. Die feministische politische Philosophie ist daher keine einheitliche Angelegenheit, und die feministischen politischen Philosophinnen sind tief uneins darüber, ob die traditionelle politische Philosophie überhaupt veränderungsfähig ist, so dass sie auch die Interessen der Frauen aufnehmen kann, oder ob sie selbst nur eine weitere der Formen ist, in der die Benachteiligung der Frau neuerlich legitimiert und fortgeschrieben wird. Siehe auch: Feminismus SUSAN MENDUS 457
Feuerbach, Ludwig Andreas (1804–1872)
Feuerbach, Ludwig Andreas (1804–1872)
Ludwig Feuerbach, einer der kritischen jungen, intellektuellen Hegelianer des 19. Jahrhunderts, wurde für seine radikale Kritik des religiösen Glaubens berühmt. In seinem Buch ‚Das Wesen des Christentums‘ (1841) entwickelt er die Idee, dass Gott nicht in Wirklichkeit existiert, sondern nur als menschliche Projektion, und dass die christlichen Prinzipien der Liebe und Solidarität direkt auf die Mitmenschen angewandt werden sollten, statt als ein indirekter Reflex der Liebe Gottes. In der Religion projiziere der Gläubige sein Dasein in die Objektivität, und damit mache er sich selbst zum Objekt dieses Gegenstandes, der ein anderes Sein als er selbst sei. Die religiöse Orientierung sei eine Illusion und deshalb ungesund, denn sie trenne und entfremde den Gläubigen von der wahren Autonomie, Tugend und sozialen Gemeinschaft, denn selbst die Liebe als an sich selbst das tiefste, wahrste Gefühl, werde durch die Religiosität nur äußerlich, illusorisch, weil sich die religiöse Liebe dem Menschen nur durch Gottes Gnade vermittele, so dass sie dem Menschen nur als Erscheinung gegeben sei, aber in Wirklichkeit Gott gegenüber bestehe. In ‚Grundsätze der Philosophie der Zukunft‘ (1843) weitet er seine Kritik auf alle Formen der Metaphysik und Religion aus: Wahre Dialektik sei nicht der Monolog des einsamen Denkers, sondern der Dialog zwischen dem Ich und dem Du, schreibt er in Abs. 62 (‚Sämtliche Werke‘ 1846–1866, II: 345), womit er insbesondere seinen früheren Lehrer Hegel kritisiert. Die Philosophie der Zukunft habe sowohl sinnlich, als auch allgemein zu sein, und dabei gleichermaßen auf die Theorie und die Praxis zwischen den Individuen zurückzugehen. In einem anonymen enzyklopädischen Artikel von 1847 definiert er seine Position als das Prinzip, von dem er selbst (er schreibt von sich als ‚Feuerbach‘) alles ableite, und zu dem alles hinstrebe; dieses Prinzip sei das menschliche Wesen auf dem Grunde und der Grundlage der Natur, ein Prinzip, dass wirklich auf der Wahrnehmungserfahrung aufbaue und daher die vorangehenden einzelnen und abstrakten philosophischen und religiösen Prinzipien ersetze (‚Gesammelte Werke‘ 1964–, III: 331). Feuerbachs Sensualismus und Kommunitarismus hatte großen Einfluss auf die Entwicklung eines anthropologischen Humanismus beim jungen Karl Marx, aber auch auf seine Zeitgenossen durch die Bereitstellung eines kulturellen und moralischen Bezugssystems für einen Humanismus außerhalb jeglicher religiöser Orientierung und rationalistischer Psychologie. Im 20. Jahrhundert beeinflusste Feuerbach die existenzialistische Theologie (Martin Buber, Karl Barth) ebenso wie das existenzialistische und phänomenologische Denken. Siehe auch: Hegelianismus HANS-MARTIN SASS
Feyerabend, Paul Karl (1924–1994)
Feyerabend war ein österreichischer Wissenschaftsphilosoph, der den größten Teil seiner akademischen Laufbahn in den USA verbrachte. Er war ein Führer, beharrlicher und einflussreicher Kritiker der positivistischen Interpretation der Wissenschaft. Obwohl seine Ansichten einige Ähnlichkeit mit jener von Thomas Kuhn haben, sind sie in wichtiger Hinsicht radikaler. Feyerabend wurde nicht nur berühmt (oder bekannt) wegen seines Eintretens für einen ‚erkenntnistheoretischen Anarchismus‘, d.h. die Position, dass es so etwas wie eine wissenschaftliche Methode gar nicht gibt, so dass beim Fortschritt wissenschaftlicher Forschung alles möglich ist, sondern er trat auch dafür ein, dass die wissenschaftliche Einstellung selbst nur eine
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Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814)
von mehreren Ansätzen zum Umgang mit der Welt, und dieser Ansatz nicht einmal evidenterweise allen anderen Ansätzen überlegen sei. Diese Radikalität führte dazu, dass er weithin als Irrationalist angegriffen wurde, obwohl er vielleicht besser als Skeptiker in der Humeschen und toleranten Tradition eines Sextus Empiricus oder Montaigne einzuordnen ist. MICHAEL WILLIAMS
Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814)
Fichte entwickelte Kants Kritische Philosophie zu einem eigenen System weiter, das er ‚Wissenschaftslehre‘ nannte. Obwohl Fichte an seinem System bis ans Ende seines Lebens weiter arbeitete, schrieb er praktisch alle seiner bekanntesten und einflussreichsten philosophischen Arbeiten schon im ersten Abschnitt seiner Laufbahn, als er noch Professor an der Universität von Jena war. Die Aufgabe der Philosophie ist im Verständnis von Fichte die Lieferung einer transzendentalen Erklärung des gewöhnlichen Bewusstseins der alltäglichen Erfahrung, von dem die Philosophie folglich abstrahieren muss. Eine solche Erklärung kann entweder beim Begriff der freien Subjektivität ansetzen (dem ‚Ich‘), oder mit dem der reinen Objektivität (dem ‚Ding an sich‘), wobei ersteres das Prinzip des Idealismus ist, und letzteres jenes, dass Fichte ‚Dogmatismus‘ (oder transzendentalen Realismus) nennt. Obwohl keines dieser ersten Prinzipien theoretisch demonstriert werden kann, besetzt das Prinzip der Freiheit doch den Vorzug, praktisch oder moralisch gewiss zu sein. Darüber hinaus, so Fichte, kann nur der transzendentale Idealismus, der mit dem Prinzip der subjektiven Freiheit beginnt und daraus die Objektivität und die Beschränkung als Bedingungen für die Möglichkeit einer jeglichen, wie auch immer gearteten Selbstheit ableitet, wirklich die Aufgabe der Philosophie erfüllen. Eines der distinkten Merkmale des Fichteschen Jenaer Systems ist die tiefgründige Integration der theoretischen und praktischen Vernunft, d.h. die Demonstration, dass es keine (theoretische) Erkenntnis ohne (praktisches) Bemühen geben kann und umgekehrt. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist Fichtes Beweis der notwendigen Endlichkeit aller wirklichen Selbstheit. Das ‚absolute Ich‘, mit dem das System zu beginnen scheint, erweist sich im Weiteren nur als ein praktisches Ideal der totalen Selbstdetermination, d.h. als ein Ideal, zu dem das finite Ich hinstrebt, es aber niemals erreichen kann. Die Fichteschen Jenaer Schriften betonen aber auch den sozialen oder intersubjektiven Charakter aller Selbstheit: ein Ich ist dies nur in der Beziehung zu anderen endlichen, rationalen Subjekten. Diese Einsicht liefert die Grundlage für Fichtes politische Philosophie oder ‚Rechtstheorie‘, die einer der ursprünglicheren Teile des gesamten Systems der Wissenschaftslehre ist, die ihrerseits auch eine Grundlegung (oder ‚erste Philosophie‘) enthält, ferner eine Naturphilosophie, eine Ethik und eine Religionsphilosophie. Siehe auch: Aufklärung, Europäische; Idealismus; Kantische Ethik DANIEL BREAZEALE
Ficino, Marsilio (1433–1499)
Zusammen mit Giovanni Pico della Mirandola war Marsilio Ficino der wichtigste Philosoph, der unter der Schutzherrschaft von Lorenzo di Medici (‚Il Magnifico‘) im Florenz der Hochrenaissance arbeitete. Ficinos Hauptbeitrag war die Übersetzung der platonischen Philosophie vom Griechischen ins Lateinische; er 459
Fiktionale Entitäten
besorgte die erste vollständige lateinische Fassung der Werke Platons (1484) und Plotins (1492), sowie eine Reihe unbedeutenderer Platoniker. Er versah viele seiner Übersetzungen überdies mit philosophischen Kommentaren, und diese sollten daraufhin einen großen Einfluss auf die Interpretation der platonischen Philosophie in der Renaissance und der frühen Neuzeit ausüben. Ficinos wichtigste philosophische Arbeit, die ‚Theologia platonica de immortalitate animae (‚Die platonische Theologie der Unsterblichkeit der Seele‘, 1474), zielte darauf ab, platonische Argumente zum Kampf gegen die Averroisten einzusetzen, die als ‚gottlose‘ scholastische Philosophen bezeichnet wurden, weil sie bestritten, dass die Unsterblichkeit der Seele durch die Vernunft bewiesen werden könne. Der berühmteste Begriff, der mit Ficinos Namen verknüpft ist, ist jener der ‚platonischen Liebe‘. Siehe auch: Hermetismus; Humanismus; Renaissance; Pico della Mirandola, G.; Platon; Platonismus der Renaissance; Renaissance-Philosophie; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der JAMES HANKINS
Fideismus
Siehe auch: Rationalität und kultureller Relativismus (Fußnote 2)
Fiktionale Entitäten
Unter ‚fiktionalen Entitäten‘ verstehen Philosophen grundsätzlich solche Entitäten, die durch Mythen, Legenden, Märchen, Romanen und Novellen, Dramen und anderen fiktiven Erzählungen entstehen und von ihnen definiert werden. In diesem Sinne sind Einhörner, Zentauren, Pegasus, die Zeitmaschine und Sherlock Holmes allesamt fiktionale Entitäten. Eine etwas andere Kategorie der fiktionalen Entitäten wird mit der empiristischen Philosophie in Verbindung gebracht. Dies betrifft Entitäten, die offenkundig vom Alltagsdiskurs in Anspruch genommen werden, die aber gleichwohl keine direkte empirische Erfahrung ermöglichen. So klassifizierte Jeremy Bentham die Bewegung, die Beziehung, die Kraft und die Materie als fiktionale Entitäten, genauso wie selbstverständlich die Rechte und Pflichten. David Hume nannte die Substanz, das Selbst, sogar den Raum und die Zeit ‚Fiktionen‘, und Bertrand Russell meinte, dass gewöhnliche Dinge wie z.B. der Piccadilly Circus in London oder Sokrates Fiktionen seien, und zwar deshalb, weil sie aus einfacheren, unmittelbareren und vertrauteren Gegenständen ‚konstruiert‘ seien. Das philosophische Interesse an den fiktionalen Entitäten deckt einen überraschend großen Bereich ab, einschließlich der Ontologie und der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Logik, der Sprachphilosophie und der Ästhetik. Die erste Frage, die sich hier stellt, ist die nach einer Unterscheidung der fiktionalen von der nichtfiktionalen Entität. Wie die Beispiele von Bentham, Hume und Russell zeigen, ist dies keineswegs eine ganz einfache Angelegenheit. Daran schließt sich die Frage an, was man mit den fiktionalen Entitäten anfängt, wenn man sie einmal identifiziert hat. Hier war es die vorrangige philosophische Aufgabe, zwei mächtige, aber miteinander in Konflikt stehende Intuitionen miteinander zu versöhnen: auf der einen Seite die Intuition, dass es so etwas wie fiktionale Entitäten gar nicht gibt, so dass jede angebliche Referenz auf sie wegerklärt werden muss; auf der anderen Seite die Intuition, dass ‚Dinge‘ wie Sherlock Holmes und Anna Karenina so lebendig gezeichnet werden, d.h. so offenbar ‚reale‘ Gegenstände unseres Denkens und unserer 460
Films, Ästhetik des
Gefühle sind, dass ihnen irgendeine Form von Wirklichkeit zukommen muss. Im Großen und Ganzen können wir zwei Arten philosophischer Ansätze unterscheiden: jene, die zur letzteren Intuition tendieren und den fiktionalen Entitäten freundlich gesonnen sind, und den weniger Geneigten, die zu ersterer Intuition neigen und lediglich zeigen wollen, wie fiktionale Entitäten unter der strikten Herrschaft des rationalen Diskurses gänzlich eliminiert werden können. Siehe auch: Carnap, R.; Existenz; Gefühl als Antwort auf Kunst; Ontologische Verpflichtung; Referenz; Rechte; Semantik PETER LAMARQUE
Films, Ästhetik des
Die Filmästhetik stand bisher im Zeichen von Fragen zum Realismus. Drei Arten von Realismus, die sich von einem Film aussagen lassen, können unterschieden werden: (1) der dem Film inhärente Realismus infolge seiner Verwendung der photographischen Methode (Methodenrealismus); (2) Realismus als Stil, der sich den normalen Bedingungen der Wahrnehmung annähert (Stilrealismus); (3) Realismus als die Fähigkeit eines Films, im Betrachter eine Illusion der Wirklichkeit und der Gegenwärtigkeit fiktionaler Charaktere und Ereignisse zu erzeugen (Effektrealismus). Einige Theoretiker haben behauptet, dass der Methodenrealismus die Vermeidung des Stilrealismus voraussetzt, andere meinten dagegen, dass der Stilrealismus gerade eine Voraussetzung des Methodenrealismus ist. Man ist sich allgemein darin einig, dass ein realistischer Stil einem Realismus der Wirkung förderlich ist, uneins dagegen darin, ob dies ein erwünschtes Ziel ist. Ferner wird vorgebracht, dass diese Realismen unabhängig voneinander seien, dass der Stilrealismus keine Form des metaphysischen Realismus mit sich bringe, und dass der Effektrealismus für das Verständnis der normalen Erfahrung des Kinos irrelevant sei. Der Stilrealismus geht von einer Form der Präzisierung der Behauptung aus, derzufolge das Kino eine Art von Zeit und von Raum ist, weil diese Art von Realismus teilweise als eine Repräsentation der Zeit durch die Zeit und des Raums durch den Raum dargestellt wird. Das psychologische Theoretisieren über das Kino wurde stark mit dem Effektrealismus in Verbindung gebracht, sowie mit der Idee, dass eine Illusion der filmischen Realität durch die Identifikation des Betrachterstandpunktes mit jenem der Kamera identifiziert wird. Eine andere Version des Illusionismus lautet, dass die Erfahrung des Betrachtens eines Films dem des Träumens auf bedeutende Weise ähnlich ist. Solche Lehren werden jedoch untergraben, wenn wir zugeben, dass der Effektrealismus ein unbedeutendes Phänomen ist. Siehe auch: Abbildung; Erzählung; Malerei; Ästhetik der; Photographie; Ästhetik der; Semiotik GREGORY CURRIE
Filmer, Sir Robert (1588–1653)
Filmer war einer der wichtigsten politischen Denker im England des 17. Jahrhunderts, und er war der Autor von ‚Patriarcha‘. Locke ging auf dieses Buch und andere Werke von Filmer in seinen ‚Two Treatises of Government‘ ein, dem vielleicht berühmtesten aller Texte zur liberalen politischen Theorie. Filmer behauptete, dass Vorstellungen einer gemischten oder beschränkten Regierung falsch und schädlich seien, und dass die Macht eines legitimen Herrschers nicht von den Menschen, sondern direkt von Gott abgeleitet sei, dem allein die Herrscher verantwortlich 461
Föderalismus und Konföderalismus
seien. Filmers Zeitgenossen meinten gewöhnlich, dass die Autorität des Vaters und Ehegatten über seine Familie sich nicht auf die Zustimmung seiner Frau und seiner Kinder gründe, sondern eine Folge der natürlichen und göttlich gewollten Ordnung der Dinge sei. Filmer spannte solche Ideen zur Begründung des königlichen Absolutismus ein, indem er behauptete, dass der Staat und die Familie im Kern dieselbe Institution seien. JOHANN P. SOMMERVILLE
Finch, Anne
Siehe: Conway, Anne
Föderalismus und Konföderalismus
Föderative Strukturen umfassen zwei oder mehr Regierungen, die über dasselbe Territorium und dieselbe Bevölkerung regieren. Sie waren für politische Philosophen interessant, weil sie einige grundlegende politische Begriffe wie die Autorität, die Souveränität, die Demokratie und die Bürgerschaft, wenn nicht in Frage stellten, so doch zumindest komplizierten. Wie die Bürger in wirklichen Föderationen, behandeln auch die Philosophen den Ausdruck der Föderation nicht als eine lediglich technokratische Angelegenheit. Sie glauben vielmehr, dass es moralisch legitime und illegitime Formen z.B. der Teilung der Macht zwischen Regierungen, der Bestimmung bzw. Bildung von Untereinheiten (z.B. Provinzen) innerhalb föderaler Institutionen und der Änderungen einer Verfassung gibt. Die Philosophen sehen im Föderalismus ein Mittel der Sicherung eines Mindestmaßes an Selbstbestimmung für ethnische Minderheiten, die, realistisch betrachtet, nicht auf einen eigenen, homogenen Nationalstaat hoffen können. Siehe auch: Multikulturalismus WAYNE NORMAN
Fodor, Jerry Alan (1935–)
Jerry Fodor ist eine der einflussreichsten Figuren in der Philosophie des Geistes, der Philosophie der Psychologie und der cognitive science (Erkenntniswissenschaft) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Sein vorrangiges Bemühen war sein (leidenschaftliches) Eintreten für eine bestimmte Sichtweise der Natur des Gedankens. Nach seiner Auffassung ist Denken Informationsverarbeitung in einer ‚Gedankensprache‘. Der Geist kann als ein Computer verstanden werden, der die Handlungen mit Hilfe einer internen Repräsentation der Welt leitet. Siehe auch: Gedankensprache PETER GODFREY-SMITH
Folgebeziehung (Semantische Implikation) Siehe: Relevanz-Logik und Folgebeziehung
Formalismus
Siehe: Hilberts Programm und Formalismus
Formalismus in der Kunst
Der Formalismus in der Kunst ist eine Lehre, derzufolge der künstlerische Wert eines Kunstwerks allein durch die Form der jeweiligen Arbeit bestimmt ist. Der Begriff der künstlerischen Form ist jedoch vieldeutig, und die präzise Bedeutung des Formalismus hängt davon ab, welcher Formbegriff ihm zugrunde liegt. Hier gibt es zwei Hauptmöglichkeiten. Die erste versteht unter der Form die Struktur der 462
Formen, platonische
Elemente eines Kunstwerks, während die zweite darin die Art und Weise sieht, in der diese Struktur ihren Inhalt übersetzt. Wenn die Form als Struktur verstanden wird, ist der Ausdruck ‚Formalismus‘ aber immer noch zweideutig: auf die eine Weise verstanden wurde er nie bestritten; versteht man ihn auf die andere Weise, so ist er unhaltbar. Wenn man die Form dagegen als Art und Weise der inhaltlichen Übersetzung versteht, ist der Formalismus falsch. Siehe auch: Kunst, Wert der; Hanslick, E.; Kant, I., § 12 MALCOLM BUDD
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Platon meinte, dass zusätzlich zu den veränderlichen, ausgedehnten Körpern, die wir um uns herum wahrnehmen, es noch unveränderliche, ausdehnungslose Entitäten gibt, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind, die jedoch die Welt strukturieren und auch unser Wissen von ihr. Eine solche Entität nannte er ‚Form‘ (eidos) oder ‚Idee‘ (idea), oder er bezog sich auf sie durch Ausdrücke wie ‚das so-und-so Selbst‘. Daher gibt es nach seiner Auffassung über die einzelnen schönen Menschen und Dinge hinaus noch die Form der Schönheit, oder die Schönheit selbst. Man kann darüber spekulieren, ob Platons vorsokratische Vorgänge dieser Theorie Vorschub geleistet haben. Gewiss ist jedoch, dass Sokrates den größten Einfluss infolge seiner Suche nach den Definitionen ethischer Begriffe auf ihn hatte. Die Merkmale, die eine Definition aufweisen muss, um Sokrates’ Kriterien der Angemessenheit zu erfüllen, werfen bereits Licht auf die Merkmale, die die Formen in Platons Theorie haben. Beginnend in seinem ‚Menon‘-Dialog wandte sich Platon den Vorannahmen des sokratischen Forschungsprojektes und den Vorbedingungen seiner Möglichkeit zu: was muss hinsichtlich der Tugend, des Wissens und unserer Seelen wahr sein, wenn das sokratische Kreuzverhör eine Chance auf Erfolg haben soll? Er beantwortet diese Fragen mit einer Reihe von Lehrsätzen: der Existenz von Formen, der Unsterblichkeit der Seele und ihre Kenntnis der Formen durch ihr ‚Einsammeln‘, die dann in den großen Dialogen seiner mittleren Schaffensperiode ausgeführt und dargestellt werden. Dies sind der ‚Phaidon‘, das Abendmahl (‚Symposion‘), der ‚Phaidros‘ und die ‚Politeia‘. Nicht alle Gedanken Platons über die Form kommen bereits in der Theorie dieser mittleren Schaffensperiode zur Darstellung, gleichwohl ist dies die Formtheorie, die mit Abstand die historisch einflussreichste war und damit jene, auf die sich die Menschen meist beziehen, wenn sie von den ‚platonischen Formen‘ sprechen. Die Dialoge der späteren Schaffensperiode weisen eine Reihe von Rätseln auf. Übereinstimmung besteht darin, dass sich seine Auffassungen entwickelt haben: im ‚Sophistes‘, im ‚Politikos‘ (Staatsmann) und im ‚Philebos‘ stößt Platon mit seiner metaphysischen Forschung klar in neue Richtungen vor. Weniger klar ist das Maß an Kontinuität oder Brechung zwischen der alten und der neuen Sichtweise; der ‚Parmenides‘ wurde manchmal so aufgefasst, dass er eine umfassende ZurückweiIm Englisch wird das, was wir im Deutschen als ‚Ideenlehre‘ im Sinne eines Namen für eine der zentralen Lehren Platons bezeichnen, manchmal als ‚Theory of Ideas‘, überwiegend aber als ‚Theory of Forms‘ bezeichnet. Deshalb wird in dieser Enzyklopädie durchgehend als Übersetzung von Theory of Forms der Ausdruck ‚Theorie der Formen‘ verwendet. Siehe hierzu mit weiteren Erläuterungen auch die erste Fußnote zum Beitrag Platon. [WS]
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sung Platons seiner eigenen Theorie der mittleren Schaffensperiode andeutet, dann wieder scheint der ‚Timaios‘ diese zu bestätigen und zu stützen. Die Sache wird dadurch kompliziert, dass Aristoteles berichtet, Platon habe die Grundlegung der Form in seiner letzten Schaffensperiode irgendwie auf die Zahlen gestützt. Das hierzu überlieferte Material ist aus sich selbst heraus nicht erhellend und auch schwer in das Material von Platons eigenen Dialogen zu integrieren. Große Teile des gegenwärtigen Verständnisses von Platons Theorie der mittleren Schaffensperiode gehört zu einer Gruppe von Argumenten, die auf Unterschiede zwischen Formen und wahrnehmbaren Gegenständen oder Eigenschaften aufmerksam machen. Diese Argumente scheinen Aristoteles’ Bericht zu stützen, demzufolge die Theorie aus einem Zusammenstoß von Sokrates’ Auffassungen über die Definitionen und der Herakliteischen Sichtweise über den Fluss der Dinge resultiert. Die allgemeine Form des Arguments sagt, dass eine Definition oder Erkenntnis die Existenz einer Klasse von Entitäten mit gewissen Merkmalen voraussetzt, und dass wahrnehmbare Dinge diese Merkmale nicht aufweisen. Sie folgern daraus, dass es eine Klasse von Entitäten gibt, die sich von den bekannten wahrnehmbaren Dingen unterscheidet, nämlich die Klasse der Formen. Wie aber häufig in historischen Studien sind die Argumente hinsichtlich vieler Punkte, über die sich die Kritiker klar werden wollen, selbst schweigsam oder mehrdeutig: ob Platon z.B. dachte, dass die Formen gesondert von den Einzeldingen existieren, ob er sie als aristotelische Substanzen behandelte, ob es möglich ist, Erkenntnisse von wahrnehmbaren Gegenständen zu haben, ob Platon die Theorie seiner mittleren Schaffensperiode schließlich zurückwies, und so weiter. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neigten die Interpreten eher dazu, die verbliebenen Auslegungsfragen dadurch zu klären, dass man Platon schlicht seine je eigenen philosophischen Präferenzen zuschrieb und dies mit der Berufung auf die ‚Barmherzigkeit der Auslegung‘ rechtfertigte. Die Praxis, eine Auslegung der platonischen Form allein auf eine Handvoll Argumente zu stützen, war ein Fehler; die wachsende Tendenz zur Erweiterung der Beweisgrundlage ist eine gesunde Entwicklung. Wo die Auslegung eines Arguments eine Frage offen ließ, vermag ein Zurückgreifen auf Platons Mythen und Metaphern manchmal ein starkes Gewicht zugunsten der einen oder anderen Seite beizusteuern. Hierzu ein Beispiel: Platons Darstellung der Einzeldinge lässt es äußerst unplausibel erscheinen, dass die ‚Unvollkommenheit‘ dieser Einzeldinge, auf die einige Argumente hinweisen, lediglich der gleichzeitigen Anwesenheit von Gegensätzen geschuldet ist. Die meisten von Platons Nachfolgern in der frühen Akademie bewahrten die Formen. Aristoteles’ Schriften sind voll von Bezügen darauf, und sie hinterließen sichtbare Spuren in seiner eigenen Theorie. Die hellenistische Periode war Zeuge einer umfassenden Zurückweisung sämtlicher immaterieller Entitäten, aber sogar hier wird noch der Einfluss der Formen versteckt sichtbar. Das Wiederaufleben des Platonismus am Ende der hellenistischen Epoche erlebte die Wiedergewinnung des philosophischen Respekts gegenüber den Formen. Siehe auch: Angeborene in der antiken Philosophie, Das; Aristoteles; Platon; Plotin; Sokrates; Universalien TAD BRENNAN
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Fortbestehende Dinge
Formen, Theorie der
Siehe: Formen, Platonische
Fortbestehende Dinge
Wir unterscheiden im Alltag zwischen Ausdrücken wie z.B. ‚Statue‘ oder ‚Stuhl‘ auf der einen Seite, und ‚Konzert‘ oder ‚Krieg‘ auf der anderen. Seit alters her gesteht die Metaphysik dieser Unterscheidung eine gewisse Bedeutung zu, indem sie behauptet, dass die erste Art von Ausdrücken verwendet wird, um fortbestehende Dinge zu bezeichnen, während die zweite Art zur Bezeichnung von Ereignissen oder Prozessen verwendet wird. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass man von fortbestehenden Dingen sagt, sie wandelten sich, und deshalb beharren sie durch die Zeit, während die Ereignisse dies nicht tun. Diese Unterscheidung zwischen den fortbestehenden Dingen und den Ereignissen wurde jedoch dadurch herausgefordert, dass in Wirklichkeit kein konkreter Gegenstand seine Identität über die Zeit beibehält. Es wurde zum Beispiel eingewandt, dass wir, solange wir nicht den Begriff der Identität über die Zeit aufgeben, mit Fragen konfrontiert sind, auf die es keine Antwort gibt. Darüber hinaus ist die Aussage, Dinge beharrten durch ihren Wandel hindurch, offenkundig bedroht durch eine gewisse Auffassung von der Zeit. Nach dieser Auffassung gibt es ‚in Wirklichkeit‘ nämlich gar keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft, sondern nur unwandelbare temporale Beziehungen zwischen Ereignissen. Eine solche Auffassung, so hieß es wiederum, sei der Vorstellung verpflichtet, dass Gegenstände aus zeitlichen Stücken bestehen, und diese können definitionsgemäß nicht durch die Zeit beharren. Siehe auch: Prozess ROBIN LE POIDEVIN
Fortpflanzung und Ethik Einführung Der erste Diskussionspunkt im Zusammenhang mit der Fortpflanzung, der ausführlich auf Seiten der Philosophie debattiert wurde, war die Abtreibung. Die Debatten über ihren moralischen Status waren und sind beherrscht von der Frage nach dem moralischen Status des Fötus, auf die eine weit auseinander gehende Anzahl von Auffassungen vorgetragen wurde. Die konservativste Auffassung ist jene, die üblicherweise mit einer sehr restriktiven Abtreibungspolitik assoziiert wird und unvereinbar ist mit dem ‚Entscheidungsrecht der Frau‘ (diese Verbindung wurde allerdings von Judith Jarvis Thomson in Frage gestellt). Allerdings finden es alle bis auf die Konservativsten im oben genannten Sinne schwer, die neuere Frage der Verwendung menschlicher Embryonen zu wissenschaftlichen Forschungszwecken auf der Basis der vorherrschenden moralischen Intuitionen zu entscheiden. Embryonen, und sogar Stammzellen, gelten als wichtig im Zusammenhang mit der Suche nach Methoden zur Überwindung der Unfruchtbarkeit (z.B. bei der künstlichen Befruchtung durch einen Spender, bei der Ei- und Samenspende im Zuge einer In-VitroFertilisation und bei der Leihmutterschaft zusammen gebracht werden). Hierbei können Fragen über die Rechte und sogar das Eigentum entstehen. Betrachtungen über die Wohlfahrt des Kindes, die oft in Diskussionen über die Leihmutterschaften ins Feld geführt werden, werfen die Frage auf, was getan werden kann oder sollte, um die Geburt eines Kindes mit genetischer Anomalität zu verhindern. Die aktuelle 465
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philosophische Literatur zu Fortpflanzungsfragen beschränkt sich weitgehend auf das Rechtsvokabular und verwendet nur geringe Aufmerksamkeit auf die sozialen und familiären Zusammenhänge, in denen Fortpflanzungsentscheidungen normalerweise getroffen werden. 1. Der Status des Fötus 2. Embryonen- und Fötenforschung 3. Das Recht am eigenen Körper 4. Rechte, speziell Besitz- und Eigentumsrechte 5. Wohlfahrtsüberlegungen 6. Moral, Gesetzgebung und Rechte 1. Der Status des Fötus Es wurde bereits eine sehr breite Palette von Ansichten über den moralischen Status des Fötus, und darüber, ob es sich dabei um etwas handelt, was getötet bzw. nicht getötet werden dürfe, vorgetragen. (1) Nach der konservativen Position hat der Fötus vom Moment der Empfängnis an denselben moralischen Status wie ein erwachsener Mensch. (2) Auf der anderen, ‚liberalen‘ Seite wird behauptet, der Fötus sei nicht mehr als ein Zellhaufen, ein Teil des Körpers der schwangeren Frau, ähnlich ihrem Blinddarm, und zwar bis zum Moment der Geburt. Seltsamerweise sind diesen beiden Auffassungen zwei Aspekte gemeinsam. Beide gehen davon aus, dass der moralische Status des Fötus von der Empfängnis bis zu Geburt unverändert bleibt, und beide gehen davon aus, dass der Fötus, moralisch gesprochen, wie etwas anderes zu betrachten sei, nämlich wie ein Erwachsener oder wie ein Blinddarm. Drei weitere Auffassungen lehnen zumindest eine dieser Annahmen ab. (3) Eine ‚moderate‘ Auffassung behauptet, dass der moralische Status des Fötus sich an einem bestimmten ‚Trennungspunkt‘, wie z.B. bei Eintritt der Bewegungsfähigkeit oder der selbständigen Lebensfähigkeit ändere. (4) Nach der ‚Stufenauffassung‘ ändert sich der moralische Status des Fötus allmählich oder stufenweise, und zwar fortschreitend mit seinem Wachstum. (5) Nach der ‚Möglichkeitsauffassung‘ hat der Fötus einen eigenen und einzigartigen moralischen Status, der allen anderen Dingen und Menschen gänzlich unähnlich ist, nämlich den eines potenziellen Menschen, und dies vom Moment der Empfängnis an. Kleinere Abweichungen von den vorstehend präsentierten Auffassungen gehen über den Betrachtungshorizont dieses Beitrages hinaus. Allerdings muss noch ein bekannter sechster Ansatz erwähnt werden. (6) Nach Michael Tooley und seinen Anhängern ist der Fötus, was auch immer er sein mag, zumindest keine Person, d.h. er hat kein Recht auf Leben, und dasselbe gelte auch für Säuglinge (siehe Rechte). Jede dieser Auffassungen wurde nicht nur argumentativ verteidigt, sondern auch angegriffen. Keine von ihnen konnte einen Beweis darüber erbringen, welcher der moralische Status des Fötus sei, der von den jeweiligen Gegnern als schlüssig betrachtet wird, und jede von ihnen hat Schwierigkeiten mit ihren prima-facie-Konsequenzen, die von ihren jeweiligen Gegnern als inakzeptabel denunziert werden. So ist beispielsweise die Schwierigkeit der Möglichkeitsauffassung, dass daraus praktisch gar nichts folgt. Die konservative Auffassung scheint die Konsequenz zu haben, dass man, wenn man die Wahl treffen muss, ob man entweder ein gesundes Baby oder einen zwei Tage alten Embryo in vitro vor dem sicheren Tode retten soll,
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man vor genau demselben moralischen Dilemma steht, wie wenn man nur eines von zwei Babys in einer Wiege retten kann. Tooleys berüchtigte Auffassung erlaubt die Kindestötung und anderes. Die Schwierigkeiten spitzen sich sogar noch zu, wenn wir die Behandlung des Fötus betrachten, der sich nicht mehr im Uterus befindet. 2. Embryonen- und Fötenforschung Die Debatte über den Status des Fötus erlangte eine gewisse Prominenz in Zeiten, als die Abtreibung zu einer Frage der Frauenrechte wurde, und dies war noch einige Zeit, bevor die technischen Möglichkeiten zur in-vitro-Extraktion von Eizellen gegeben waren, und auch bevor man entdeckte, dass fötales Gehirngewebe das Leiden erwachsener Menschen lindern helfen kann, die an der Parkinsons-Krankheit leiden, ganz zu schweigen von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms (siehe Genetik und Ethik). Die Stufen- und die moderate Auffassung gewannen vielleicht an Zustimmung, weil sie der herrschenden Gesetzgebung betreffend die Abtreibung in vielen westlichen Ländern entsprachen, bei der in steigendem Maße ‚ernsthafte‘ Gründe für eine Abtreibung in dem Umfange gefordert werden, wie sich die Schwangerschaft entwickelt, wo aber der Schwangerschaftsabbruch auf Bitten der Frau in den ersten drei Monaten erlaubt ist. Dann jedoch gerieten neue Fragen über die Behandlung von 3-Monats-Föten (diese werden gemeinhin ‚Embryonen‘ genannt) in die Schlagzeilen und riefen bei den Menschen neue Skrupel hervor. Tatsächlich ging die Forschung an vollkommen gut entwickelten, sogar lebensfähigen Föten weiter, aber wenige Menschen wussten davon, und in vielen Ländern gab es auch keine gesetzlichen Regelungen hierzu. Nunmehr gibt es diese, aber die wesentlichen Beschränkungen, die diese mit sich bringen, scheinen schlecht zu den Auffassungen zu passen, die recht liberal zu den Abtreibungen während der ersten drei Monate stehen. Wenn der moralische Status eines zehn Wochen alten Fötus so minimal ist, dass die Abtreibung auf Bitten der schwangeren Frau moralisch zulässig ist, warum besteht man dann auf Gesetzen, die die Verwendung von sogar nur zwei oder drei Tage alten Embryonen für die Forschung verbieten? Insbesondere ist nicht einzusehen, warum immer angenommen wird (wie dies der Fall ist), dass Embryonen als letztes Mittel in Anspruch genommen werden dürfen, d.h. wenn z.B. keine anderen Tiere für die weitere Forschung mehr zur Verfügung stehen. Dies ist eine Einschränkung, die für jene, die sich über unsere Ausbeutung der anderen Tiere und ihre Rechte Sorgen machen und darauf hinweisen, einer Rechtfertigung bedarf (siehe Tiere und Ethik). Tatsächlich neigen die Debatten über diese Fragen zu einem Ausweichen gegenüber den moralischen Fragen und konzentrieren sich stattdessen auf die Gesetzgebung, wobei Überlegungen zu den allgemeinen Konsequenzen eines Erlaubens oder Verbietens bestimmter Praktiken offenkundig relevant werden. Daher können prima facie unvereinbare Positionen, die eine liberale Abtreibungsgesetzgebung mit sehr restriktiven Gesetzen betreffend die Verwendung von Embryonen und Föten mit der Begründung vertreten werden, dass nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge die liberale Abtreibungsgesetzgebung ein notwendiges Übel sei, nämlich der einzige zur Verfügung stehende Weg zur Vermeidung verzweifelter Frauen, die zum letzten Mittel greifen und zu sog. ‚Hinterzimmer-Pfuschern‘ gehen, oder aber die wirtschaftliche und soziale Härte erleiden, Babys zu haben, die sie nicht wollten und sich auch gar nicht leisten können. Dies ist jedoch kaum ein Verteidigungsmittel, 467
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dessen sich die Konservativen betreffend den moralischen Status der Föten bedienen können, noch empfiehlt es sich für jene, die sich für das biologische Wahlrecht der Frau einsetzen. 3. Das Recht am eigenen Körper Die vorherrschende Betonung des Status des Fötus hat einen seltsamen Effekt. Man könnte, wenn man über die menschliche Fortpflanzung nicht Bescheid weiß, Hunderte von Artikeln über die Abtreibung lesen und sich wundern, was damit überhaupt gemeint ist. Diejenigen, die meinen, dass der Fötus zumindest in der Frühphase lediglich ein Gewächs im weiblichen Körper sei, erwähnen nicht die Tatsache, dass dies ein Gewächs wie kein anderes ist, nämlich einzigartigerweise eines, das aus den Zellen zweier Menschen entstanden ist, und aus dem normalerweise ein Baby wird, das Kind von jemandem, wenn man seine Entwicklung zulässt. Diejenigen, die sich der konservativen oder auch der sog. ‚Möglichkeitsauffassung‘ anschließen, betonen den Umstand, dass sich ein befruchtetes Ei normalerweise zu einem Baby entwickelt. Einige erwähnen den Umstanden, dass ein Ei durch eine männliche Zelle befruchtet wird, und dass dies in der Regel als Folge einer sexuellen Begegnung geschieht. Doch nur bemerkenswert wenige erwähnen den Umstand, dass die neunmonatige Entwicklung zum Baby normalerweise und meist unter Beschwerden im Körper einer Frau stattfindet. Wüssten wir es nicht besser, so könnte man aus allen diesen Texten auch schließen, dass die unbefleckte Empfängnis üblich sei, und dass viele der Ergebnisse des Geschlechtsverkehrs komplett in Brutkästen aufgezogen würden wie in Aldous Huxleys ‚Schöne neue Welt‘. Die Konservativen hinsichtlich des Status des Fötus, als auch hinsichtlich der Abtreibung, leugnen nicht, dass wir alle ein gewisses Recht an unseren eigenen Körpern haben. Sie behaupten lediglich, dass dies eingeschränkt sei oder überwogen werden kann durch das Recht des Fötus auf Leben. Diese zunächst einmal plausible Denkbewegung wurde jedoch fraglich durch einen berechtigtermaßen berühmt gewordenen Aufsatz von Judith Jarvis Thomson, der trotz seines Alters fast alleine steht in seinem Versuch, auf das einzugehen, was an der Abtreibung das Besondere ist, nämlich die Beendigung einer (menschlichen) Schwangerschaft. Eine menschliche Schwangerschaft ist, unabhängig von der Auffassung des Einzelnen über den Status des Fötus, ein Zustand des menschlichen Körpers, der normalerweise eine Folge von freiwilligem oder unfreiwilligem sexuellem Verkehr ist, in der Hoffnung oder auch in der Befürchtung, dass dabei eine Befruchtung erfolgte. Thomson erlaubt den Konservativen mutig ihre Prämisse über den moralischen Status des Fötus und wendet ein, dass, selbst wenn dies zugestanden wird, die Unzulässigkeit der Abtreibung daraus nicht in vielen Fällen folgt. Ihr Argument hängt von der Behauptung ab, dass das Recht auf Leben als solches nicht das Recht beinhaltet, den Körper einer anderen Person für das eigene Überleben zu benutzen. Wenn man aber nur dadurch überleben kann, dass man für neun Monate an den Blutkreislauf und den Stoffwechsel einer anderen Person (der späteren Mutter in spe) angeschlossen ist, dann erlaubt das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren an ihrem eigenen Körper ihr nicht nur, dies zu verweigern und damit den Fötus sterben zu lassen, sondern darüber hinaus noch, ihn von seinem eigenen Körper zu trennen und ihn damit zu töten, wenn man ihm nicht das Recht zugestanden hat, den Körper der Schwangeren
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zu benutzen, und a fortiori, wenn die Einpflanzung dieses fremden Lebens z.B. geschah, als man entführt wurde und bewusstlos war. Die recht wilde Unwahrscheinlichkeit des letzteren Szenarios spiegelt Thomsons heroischen Versuch der Beschreibung von etwas, was gar keine Schwangerschaft im üblichen Wortsinne ist, sondern bestenfalls eine unbeabsichtigte Schwangerschaft in der (angenommenermaßen) relevanten Hinsicht, dass eine Person (hier: der Fötus in der Sicht der Konservativen) die Benutzung des Körpers einer anderen Person braucht, um zu überleben, während die zweite Person (hier: die Schwangere) nichts dazu getan hat, was als das Zugeständnis des Rechts umgedeutet werden könnte, ihren Körper auf diese Weise zu benutzen. Die etwas angestrengte Analogie von Thomson hat viel Kritik ausgelöst, aber wenige ihrer Kritiker haben innegehalten und darüber nachgedacht, dass jede Analogie zur Schwangerschaft etwas an den Haaren herbeigezogen wirken muss, einfach weil es keinen anderen körperlichen Zustand gibt, der auch nur entfernt damit vergleichbar wäre. Ihr Aufsatz anerkennt bemerkenswert viele der einzigartigen Merkmale der Schwangerschaft, und doch sind einige nicht erwähnt. Wenn wir uns von der Frage der Abtreibung zu jener der Leihmutterschaft wenden, zur künstlichen Befruchtung durch Spende und zur In-vitro-Fertilisation, dann tritt der Umstand, dass hieraus ein Baby wird, nämlich das Kind von jemandem, sofern man ihm seine Entwicklung in utero erlaubt, unvermeidlich in den Vordergrund. Ferner werden Fragen darüber, was das Recht der Entscheidung über den eigenen Körper beinhaltet, und noch allgemeiner, was überhaupt als eigener Körper zählt, immer problematischer. 4. Rechte, speziell Besitz- und Eigentumsrechte Künstliche Befruchtung, In-vitro-Fertilisation und die Leihmutterschaft gehen als moralische und politische Fragen vor allem jene Menschen an, die sehr wünschen, ein Kind zu haben; folglich tendiert die Frage, ob der Fötus den moralischen Status von etwas hat, das getötet werden kann, dazu, in den Hintergrund zu treten, und leidenschaftliche Gefühle über das Elterndasein, die Familie und ‚mein / unser Kind‘ treten in den Vordergrund. Jene, die eher einem konservativen Weltbild über den Status des Fötus anhängen, wenden sich tatsächlich gegen die gängige Praxis der In-vitro-Fertilisation, weil sie dazu neigen ‚Ersatzembryos‘ zu produzieren, deren Tötung entweder zugelassen werden müssen, oder aber ihr Einfrieren und damit die Aufbewahrung; doch die zahlreichen Methoden zur Milderung der Unfruchtbarkeit führen viele weitere Problem mit sich. Die Feministen teilten sich über die Frage, wie man sich zur Leihmutterschaft stellen sollte, in zwei Lager. Das eine neigte zu einer Verteidigung der Ansicht, dass das Recht der Frau zur Entscheidung, was mit ihrem Körper geschehe, sicherlich auch auf die Entscheidung auszudehnen sei, ob sie als Leihmutter auftreten wolle; andererseits neigten sie dazu, die Leihmutterschaft wie ein andere Art von Prostitution zu betrachten, indem sie sie als etwas ansahen, wodurch der weibliche Körper wieder auf ausbeuterische und erniedrigende Weise benutzt wird, selbst wenn sich die jeweilige Frau in einem gewissen Sinne freiwillig dazu entschieden hat. Jeder, der aus irgendeinem Grunde dazu neigt, zumindest irgendeine Form der Leihmutterschaft zu verteidigen, muss bedenken, was geschehen soll, wenn die Vereinbarung zwischen den betroffenen Parteien zerbricht, wenn beispielsweise die Leihmutter ihre Meinung ändert und das Kind einfach doch behalten will, oder wenn 469
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das auftraggebende Paar die ihrige ändert und das Kind nicht mehr haben wollen. Einige möchten diese unfrohen Fragen dadurch lösen, dass sie sagen, die Leihmutterschaft sei eine Form der ‚pränatalen Adoption‘, wobei das auftraggebende Paar Elternrechte und -pflichten an dem Embryo erwerben kann, sobald die Befruchtung stattgefunden hat. Die Leihmutter darf es nicht abtreiben, noch es für sich selbst beanspruchen, noch kann sich das auftraggebende Paar weigern, das Kind nach der Geburt zu übernehmen, ohne dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, sie hätten ihr Kind ausgesetzt. Andere möchten die Frage lösen, indem sie überlegen, wem das ursprüngliche Ei und die ursprüngliche Samenzelle gehört, wer seine Rechte an diesen Stammzellen aufgegeben oder gespendet hat, und wer sie erhalten hat; ferner ob die Leihmutter ein Recht an dem Baby erwirbt, indem sie (in einem neuen Sinne des Ausdrucks) ihre ‚Arbeit‘ darauf verwendet und deshalb das Baby besitzen würde, so als wenn Babys, Stammzellen, Föten und Kinder besitzfähige Dinge wie andere Gegenstände seien. Aber wie schon die beiden extremsten Positionen zum moralischen Status der Föten nimmt auch jeder dieser Ansätze nur einige der relevanten Tatsachen der menschlichen Reproduktion wahr und ignoriert immer gerade die, die von der anderen Seite stark gemacht werden, und lässt wieder andere ganz unter den Tisch fallen. 5. Wohlfahrtsüberlegungen Wie steht es nun insbesondere um die ‚Wohlfahrt des Kindes‘, also um jene Überlegung, auf die in der Praxis vor allem Bezug genommen wurde, um Streitigkeiten zu lösen, wenn die Leihmutterschaftsvereinbarungen zerbrachen? Dies übersteigt zweifellos den Diskussionshorizont betreffend die unterschiedlichen Rechte der Erwachsenen; gleichwohl ist diese Überlegung nicht unabhängig von den Tatsachen, auf welche in diesen Debatten Bezug genommen wird. Denn man könnte sagen, es sei im besten Interesse eines jeden Kindes, dass es nicht nur von zwei Erwachsenen gewollt und geliebt wird, sondern auch im Interesse der Mutterliebe, dass diese aus dem natürlichen Band entspringt, das zwischen dem Kind und jener Mutter entsteht, die es austrägt und gebiert, und sogar im Interesse des Kindes, die Gelegenheit zu haben, seine genetischen Eltern zu kennen und hoffentlich auch zu lieben. Aber diese Überlegungen lösen das Problem einer gescheiterten Leihmutterschaftsvereinbarung nur dann angemessen, wenn überhaupt, in dem speziellen Falle, wo das ‚Leihkind‘ der genetische Abkömmling der Leihmutter ist und sie und ihr Partner sich beide entscheiden, das Kind behalten zu wollen. Andernfalls müsste die Entscheidung danach ergehen, welche Umstände die besten für das Kind wären. Dass die Leihmutterschaft und tatsächlich auch die künstliche Befruchtung, sowie die Ei- und Embryonenspende alles Methoden zur Überwindung der Unfruchtbarkeit sind, die vermutlich zur Erzeugung eines benachteiligten Kindes führen, liefert wahrscheinlich die stärksten Argumente für diejenigen, die sich moralisch all dem entgegenstellen. Üblicherweise heißt es dann, dies sei alles ‚unnatürlich‘ oder beteilige Dritte an Dingen, was ausschließliche Sache der Partnerschaft zwischen Ehefrau und Ehemann sein sollte. Dies alles würde folglich die Familie untergraben, kollidiere mit der offensichtlichen Tatsache, dass wenige Dinge so natürlich seien oder den Wert des Familienlebens stärker betonen würden als der Wunsch eines Paares nach einem Kind. Niemand denkt jedoch, dass dieser natürliche, richtige und in manchen Fällen ziemlich zeitraubende Wunsch es moralisch rechtfertige, durch 470
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beliebige Mittel erfüllt zu werden. Man kann kein Kind rauben, um eines zu haben, und so kann man auch sagen, kann man auch nicht planen, ein benachteiligtes Kind zur Welt zu bringen, nur um überhaupt eines zu haben. Der Umfang, in dem unterschiedliche Methoden zur Überwindung der Unfruchtbarkeit ein benachteiligtes Kind hervorbringen oder hervorbringen können, wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrages meinen viele Menschen in Großbritannien, dass es für ein Kind schrecklich wäre zu wissen, dass seine ‚Mutter‘ ein abgetriebener Fötus war, und sie unterstützen aus diesem Grunde die Gesetzgebung zur Unterbindung jeglicher zukünftiger Nutzung von Eizellen, die schon einmal in weiblichen Föten anwesend waren. Es ist wichtig, sich in Fälle wie solchen zu erinnern, dass die Existenz des Kindes selbst, dessen Wohlergehen hier auf dem Spiele steht, von der getroffenen Entscheidung abhängt. Die Wahlentscheidung hier ist beispielsweise nicht jene zwischen der Existenz mit einem Fötus als Mutter und der Existenz ohne diesen Umstand, sondern zwischen der Existenz mit einem Fötus als Mutter und der Nichtexistenz. Allerdings gehen Eizellenspenden von Seiten reifer Frauen, die Embryonenspende und die künstliche Befruchtung, wenn sie nicht durch eine Leihmutterschaft kompliziert werden, oft ohne viel Fragen durch. Doch die kürzliche Entdeckung, dass ein skrupelloser Arzt an einer Unfruchtbarkeitsklinik in den USA der genetische Vater von Hunderten von Kindern war, weil er sein eigenes Sperma zur Befruchtung aller seiner Patientinnen verwendet hatte, gab einigen Menschen ordentlich zu denken. Betrachtungen darüber, welche Art von Leben ein Kind unter bestimmten Umständen geführt hätte – nämlich wahrscheinlich ein sehr schlechtes –, liefert auch die Grundlage für das entgegengesetzte moralische Urteil, dass die Menschen häufig egoistisch und unverantwortlich seien. Viele verdammten eine neunundfünfzig Jahre alte Frau, die sich für ein Kind im Wege einer In-vitro-Fertilisation entschied, obwohl dasselbe Urteil selten gegenüber sogar noch älteren Männern als Vätern von Kindern zu hören ist, und einige bestehen darauf, dass die Menschen, die bestimmte Gene in sich tragen, sich sterilisieren lassen und sich mit der Kinderlosigkeit oder einer Adoption zufrieden geben sollten. Es ist manchmal sogar zu hören, dass es von schwangeren Frauen egoistisch und unverantwortlich sei, die sich weigern, sich auf genetische Anomalien untersuchen zu lassen, oder die Abtreibung abzulehnen, wenn eine solche Anomalie festgestellt würde. Aber ob sie dies wirklich sind, hängt sicherlich von den Gründen für ihre Ablehnung ab. Wenn sie z.B. meinen, dass die genetische Anomalie das betroffene Leben nicht unbedingt zu einem schlechten Leben machen muss, vielleicht sogar, weil sie oder ihr Partner selbst diese Anomalie haben, oder wenn sie denken, dass die Abtreibung, zumindest unter ihren Umständen, falsch sei, dann haben sie womöglich einen guten Grund dafür, das Glück bei dieser Gelegenheit nicht zu ‚maximieren‘ (siehe Utilitarismus). 6. Moral, Gesetzgebung und Rechte An diesem Punkte kommen wir zurück zur Abtreibungsdebatte, nun jedoch unter einem neuen Aspekt und auf eine Weise, die Fragen über den Kindsmord klarer als zuvor in den Vordergrund bringt. Der fundamentalste Einwand gegen die konservative Haltung über den Status des Fötus ist jene, die die Abtreibung auf jeder Stufe mit dem Kindsmord gleichstellt, und im üblichen Kontext der Abtreibungsdebatte den Kindsmord dem Mord gleichgestellt hat. Aus konservativer Sicht ist die 471
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Abtreibung im Falle der Vergewaltigung kein bisschen mehr gerechtfertigt als der Mord an einem Kind durch Vergewaltigung, und vermutlich sogar noch weniger gerechtfertigt oder entschuldbar (in Anbetracht der Unschuld des Kindes) als die Tötung des Vergewaltigers durch die vergewaltigte Frau. Aber im Zusammenhang mit der Euthanasie4 zählt das Töten eines Kindes oder die Erlaubnis dazu, dass es ohne seine Zustimmung stirbt, keineswegs als Mord, selbst aus konservativer Sicht nicht, und zwar ganz allgemein nicht etwa deshalb, weil Kinder keine Personen mit einem Recht auf Leben seien, die deshalb aus jedem Grund getötet werden dürfen (wie Tooley meint), sondern weil, wenn ein Mensch infolge seiner extremen Jugend oder vielleicht einer extremen Beeinträchtigung unfähig zur Selbstbestimmung ist, die ‚paternalistischen‘ Überlegungen zu ihrem Wohlergehen der vollkommen bestimmende Faktor sind (siehe Leben und Tod). Selbst in der konservativen Auffassung über den Status des Fötus kann also die Abtreibung in der Form einer ‚fötalen Euthanasie‘ gerechtfertigt sein, wie es auch die Kindes-Euthanasie wäre. Und nach jeder Auffassung, die den Fötus als etwas betrachtet, das keineswegs dasselbe wie ein geborenes Baby ist, steigen auch die Möglichkeiten der Rechtfertigung. Hier tritt jedoch noch eine weitere Komplikation ein. Die Euthanasie entwickelt ihre eigene Motivation, denn sie wird um dessentwillen vorgenommen, der stirbt. Moralisch gesprochen gibt es keinen größeren Unterschied zwischen dem Willen zur Abtreibung, weil jemand ein ‚Reißbrett-Baby‘ möchte, und dem Willen zu Abtreibung, weil jemand meint, dass es falsch sei, ein benachteiligtes Kind auf die Welt zu bringen, genauso wie es einen Unterschied gibt zwischen meiner Anweisung an den Arzt, meiner Mutter die lebensverlängernden klinischen Maßnahmen um ihretwillen zu entziehen, und dem äußerlich selben Anliegen, um für mich Arztkosten zu sparen. In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass Menschen über ihre Beweggründe die Unwahrheit sagen, gibt es keine Möglichkeit, wie die Gesetzgebung effektiv die gut begründeten Fälle zulassen und die gefühllosen verbieten kann. Viel Literatur zur Fortpflanzungsethik schwankt tatsächlich zwischen einer Diskussion von Moral und Gesetzgebung, wobei häufig unklar bleibt, um welchen der beiden Bereiche es gerade geht. Dies ist zweifellos zum Teil das Ergebnis der heutigen Neigung, fast ausschließlich von Rechten zu reden, denn wir neigen dazu, uns die moralischen Rechte wie Dinge vorzustellen, die durch eine gute Gesetzgebung geschützt werden müssen. Aber wir vergessen zu leicht, besonders innerhalb der Familien, dass es von mir moralisch vollkommen falsch sein kann, ein Recht auszuüben, obwohl es mir zusteht, und noch allgemeiner, dass es reichlich Gelegenheiten innerhalb der Familien gibt, sich moralisch gut oder falsch zu verhalten, wo Rechtsfragen oder Fragen der Pflicht gar keine Rolle spielen. Die meisten Fortpflanzungsfragen werden von Paaren getroffen, die einander lieben, die diskutieren, was ‚ihre‘ Entscheidung sein wird. Diese Diskussion wird oft auf andere Familienmitglieder ausgedehnt, die dann sagen, „wir haben entschieden“. Die meisten dieser Paare wollen gute Eltern und moralisch gute Menschen sein. So sollen die Dinge tatsächlich auch meistens sein, aber nichts davon kann durch die Gesetzgebung allein realisiert werden, und praktisch alle diese Aspekte werden rundum in der gegenwärtigen Literatur ignoriert (siehe Familie, Ethik und die). Zur unterschiedlichen Bedeutung des Wortes ‚Euthanasie’ im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum siehe Anm. 1 zum Stichwort Leben und Tod. [WS]
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Foucault, Michel (1926–1984)
Siehe auch: Angewandte Ethik; Bioethik; Klonen Anmerkungen und weitere Lektüre: Alpern, K.D. (1992): ‚The Ethics of Reproductive Technology‘. Oxford: Oxford University Press. (Aufsätze, die einen weiten und nicht nur modernen Bereich abdecken, einschließlich nützlicher Fallstudien.) Feinberg, J. (1984): ‚The Problem of Abortion‘. Belmont, California: Wadsworth, 2. Aufl. (Dies ist die umfassendste Aufsatzsammlung zum Thema, einschließlich jener von Judith Jarvis Thomson und Michael Tooley, inkl. einer hilfreichen Einführung.) ROSALIND HURSTHOUSE
Foucault, Michel (1926–1984) Einführung Michel Foucault war ein französischer Philosoph und Historiker der Geschichte des Denkens. Obwohl seine frühesten Schriften noch innerhalb eines marxistischen und existenzialistisch-phänomenologischen Rahmens lagen, trat er doch bald über diese Einflussbereiche hinaus und entwickelte seinen eigenen und sehr bestimmten Ansatz. In Foucaults Denken gibt es keine methodische oder theoretische Einheit, aber seine Schriften lassen sich in verschiedene Hauptgruppen einteilen, von denen jede durch bestimmte Probleme und Methoden gekennzeichnet ist. In seinen frühen Studien über die Psychiatrie, die klinische Medizin und die Sozialwissenschaften entwickelte Foucault eine ‚Archäologie des Wissens‘, die Gedankensysteme unabhängig von den Überzeugungen und Absichten Einzelner als ‚diskursive Formationen‘ behandelte. Foucaults Archäologie nahm dem menschlichen Subjekt seine zentrale Rolle, die es in einem seit Kant dominanten Humanismus gespielt hatte. Während die Foucaultsche Archäologie keine Darstellung des Übergangs von einem diskursiven System zum anderen beisteuerte, lieferte Foucault selbst später einen ‚genealogischen‘ Ansatz, der die Wechsel von Diskurs-Systemen durch ihre Verbindungen mit nicht-diskursiven Praktiken der sozialen Machtstrukturen zu erklären versucht. Wie Nietzsche weisen auch Foucaults Genealogien alle zusammenfassenden explanatorischen Schemata wie beispielsweise jene von Marx oder Freud von sich. Stattdessen fasst er Denksysteme als kontingente Produkte vieler kleiner, untereinander unverbundener Ursachen auf. Foucaults genealogische Studien betonen auch die wesentliche Verbindung von Wissen und Macht. Wissensgesamtheiten sind keine autonomen intellektuellen Strukturen, die wie Baconsche Machtinstrumente eingesetzt werden. Stattdessen sind sie in ihrem Wesenskern zu Systemen der sozialen Kontrolle verknüpft. Foucault setzte seinen genealogischen Ansatz zunächst zum Studium der Beziehungen zwischen modernen Gefängnissen und dem psychologischen und soziologischen Wissen ein, auf dem sie gegründet sind. Dann schlug er eine ähnliche Analyse der modernen Praxis und der ‚Wissenschaften‘ der Sexualität vor, entschied sich aber letztlich, dass eine solche Studie mit einem Verständnis der antiken griechischen und römischen Konzeptionen des ethischen Selbst zu beginnen hätte. Diese Studie wurde in zwei Bänden veröffentlicht, die kurz vor seinem Tode erschienen. Foucault verbot die posthume Veröffentlichung seiner Schriften; dieser Bann bezog sich jedoch nicht auf seine öffentlichen Vorlesungen
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Foucault, Michel (1926–1984)
am Collège de France. Zahlreiche Bände dieser Vorlegungen sind bereits erschienen, und noch weitere sind geplant. 1. Biographie 2. Die Geschichte des Wahnsinns 3. Die archäologische Methode 4. Die Genealogie 5. Sexualität und Ethik 6. Schlussfolgerung 1. Biographie Foucault wurde am 15. Juni 1926 in Poitiers geboren, wo sein Vater ein bekannter Physiker war. 1946 kam er nach vorbereitenden Studien mit Jean Hyppolite auf dem Lycée Henri IV auf die École Normale Supérieure. Er schloss sein Studium sowohl in Philosophie, als auch in Psychologie ab und arbeitete unter anderem mit Maurice Merleau-Ponty. Wegen seiner Unzufriedenheit mit der französischen Kultur und Gesellschaft übernahm Foucault von 1955 bis 1960 verschiedene akademische Positionen in Schweden, Polen und Deutschland, während er gleichzeitig seine Doktoratsthese (über den Wahnsinn in der Antike) für das doctorat ès lettres vollendete. In den 1960er Jahren besetzte Foucault eine Reihe von Posten an französischen Universitäten, deren Höhepunkt er mit seiner Aufnahme in das Collège de France im Jahre 1969 erreichte, wo er eine Professur für die Geschichte der Denksysteme übernahm und bis zu seinem Tode behielt. Durch die 1970er Jahre und bis zu seinem Tode war Foucault politisch aktiv, half bei der Gründung der Groupe d’Information sur les Prisions und unterstützte Proteste im Namen von Homosexuellen und anderen Randgruppen. Er las auch häufig außerhalb von Frankreich, vor allem in den USA, und im Jahre 1983 nahm er eine Einladung für jährliche Vorlesungen an der University of California in Berkeley an. Als eines der ersten Opfer von AIDS starb Foucault am 25. Juni 1984 in Paris. Im Gegensatz zur üblichen Auffassung von Autorenschaft als Selbstausdruck sagte Foucault, dass er schrieb, um sich selbst zu entkommen, d.h. um ein anderer zu werden, als er war. Entsprechend gibt es keine methodische oder theoretische Einheit in seinem Denken, die bei der Interpretation eines einzelnen seiner Werke helfen könnte. Seine Schriften fallen stattdessen in mehrere Hauptgruppen, von denen jede durch eine ganz bestimmte Problematik und Methode des Ansatzes gekennzeichnet ist. Es ist fruchtbar, bestimmte Themen durch einige oder alle dieser Gruppen zu verfolgen, aber der Kern seiner Bemühungen ist an jedem Punkt durch das definiert, was die spezifische, ihn beschäftigende Problematik vorgab. 2. Die Geschichte des Wahnsinns Foucaults früheste Publikationen beschäftigten sich mit der Psychologie und der Geisteskrankheit. Sein ursprünglicher Ansatz, den er in einer langen Einleitung in die französische Übersetzung von Ludwig Binswangers ‚Traum und Existenz‘ (1954) darlegte, lag auf der Linie einer existenzialen Phänomenologie, speziell auf jener des frühen Heidegger. Sein Buch ‚Maladie mentale et personnalité‘ (‚Psychologie und Geisteskrankheit‘, 1954) kombinierte seinen Ansatz mit einer marxistischen Analyse (die Foucault allerdings kurz darauf wieder entschieden zurückwies). Seine erste größere Arbeit, ‚Folie et déraison: histoire de la folie à l’âge 474
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classique‘ (‚Wahnsinn und Gesellschaft‘, 1961) versuchte dagegen, die Emphase der Erfahrung in seinen früheren, phänomenologischen Diskussionen mit einem im Kern historischen Ansatz zu kombinieren. ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘ ist eine Herausforderung der modernen Verwendung des Wortes ‚wahnsinnig‘ und ‚geisteskrank‘ als Synonyma. Er beginnt im frühen 19. Jahrhundert, wo Ärzte und andere Therapeuten solche traditionellen Konzeptionen wie den Wahnsinn als göttliche Ekstase oder teuflische Besessenheit zugunsten der ‚aufgeklärten‘ Sichtweise zurückzuweisen trachteten, dass der Wahnsinn eine Geisteskrankheit ist. Die Standardgeschichte der Psychiatrie übernahm diese Auffassung, indem sie die Geschichte so erzählte, dass tapfere und mitfühlende Männer wie z.B. Tuke und Pinel die abergläubische Grausamkeit durch eine wissenschaftliche Behandlung des Wahnsinnigen ersetzten. Foucaults Zurückweisung dieser Sichtweise basiert auf einer detaillierten Analyse der Erfahrung des Wahnsinns, der in der neuzeitlichen Ära vorherrschte (ungefähr von 1650 bis 1800). Seinerzeit, so behauptet er, wurde der Wahnsinn nicht als Geisteskrankheit betrachtet, sondern als eine grundlegende Wahl zugunsten der Unvernunft (déraison), wobei unter Unvernunft jegliche grundlegende Zurückweisung der Rationalitätsnormen zu verstehen ist, die die Grenzen des bürgerlichen sozialen Lebens bilden. Unter den verschiedenen Formen der Unvernunft (einschließlich der sexuellen Promiskuität und sonstigem abweichendem Verhalten, der Irreligion und dem Müßiggang) wurde der Wahnsinn dadurch unterschieden, dass er den tierischen Aspekt der menschlichen Natur auf Kosten aller höheren menschlichen Merkmale in den Vordergrund schob. Die Wahnsinnigen waren diejenigen, die alles abgelegt hatten, was für ihre Menschlichkeit bestimmend war, und hatten sich folglich entschieden, wie die Tiere zu leben. Da nach der klassischen Auffassung der Wahnsinn durch seine Zurückweisung der Vernunft definiert war, war die einzig mögliche rationale Reaktion darauf seine Ablehnung und der Ausschluss des Wahnsinnigen. (Foucault betrachtete als ein Paradebeispiel dieses Punktes Descartes’ Ablehnung seines möglichen Wahnsinns als Anlass zu Zweifeln.) Da diese hochneuzeitliche Epoche über keine kohärente Art und Weise verfügte, um dem Wahnsinnigen einen Platz in der Gesellschaft zu geben, bestand die einzige Alternative darin, ihn aus der rationalen Gesellschaft auszuschließen, was sich durch die große Inhaftierungswelle von 1656 in Frankreich körperlich ausdrückte. Die Folge der Foucaultschen Analyse ist, dass es sogar noch in der relativ jungen Vergangenheit unserer eigenen Kultur eine Sichtweise gab, die sich von der unsrigen radikal unterschied und nicht weniger vertretbar als die unsrige war. Dies allein, so meint er, hätte bereits unsere Idee untergraben, dass unsere Konzeption des Wahnsinns unvermeidlich sei. Foucault belegt diesen Punkt mittels einer Analyse der Entwicklung der frühmodernen (d.h. in der Zeit nach der Französischen Revolution auflebenden) Erfahrung des Wahnsinns als Geisteskrankheit. Diese Erfahrung stellt dem Wahnsinn wieder einen sozialen Ort zur Verfügung, indem sie ihn als Abweichung von der Norm (eben als Krankheit), und nicht als Abweisung des gesamten Rationalitätsrahmens versteht, der diese Normen definiert. Besondere Mühe gibt er sich zu zeigen, dass die moderne Sichtweise trotz aller Fassade einer wissenschaftlichen Objektivität mehr auf moralischer Ablehnung von Werten, die dem Wahnsinn inhärieren, beruht, als auf irgendeiner objektiven wissenschaftlichen Wahrheit. Ähnlich argumentiert er, dass die frühmoderne Behandlung des Wahnsin475
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nigen (in Asylen) weniger eine Folge medizinischen Mitgefühls war, als vielmehr eine kollektive Anstrengung, den Wahnsinnigen wieder in das Joch der bürgerlichen Moral zurück zu zwingen. In dem er in ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘ ein Thema aufgreift, das er in weiteren literarischen Essays der 1960er Jahre weiter entwickelt, beschwört er das Leben und die Arbeiten von Künstlern, die vom Wahnsinn verfolgt waren (Van Gogh, Roussel, Artaud, Nietzsche) als wertvolle Ausdrücke einer sowohl von der neuzeitlichen, als auch von der frühmodernen Erfahrung des Wahnsinns unterdrückten Wahrheit. 3. Die archäologische Methode Die zweite große Abteilung in Foucaults Werk beginnt mit seiner Geschichte der Ursprünge der modernen Medizin in dem Buch ‚Naissance de la clinique: une archéologie du régard médical‘ (‚Die Geburt der Klinik, 1963). Dessen erste Seiten lassen vermuten, dass es sich dabei um eine Ausweitung der Foucaultschen ethischen Kritik des Begriffs der Geisteskrankheit auf denjenigen der physischen Krankheit handelt. Aber schon bald wird der Text zu einer Analyse der linguistischen und begrifflichen Struktur, die dem modernen Medizinbetrieb zugrunde liegen, oder in der Sprache des Untertitels, ‚eine Archäologie der medizinischen Wahrnehmung‘. Foucaults Entwicklung dieser ‚archäologischen Methode‘ bringt drei fundamentale Einflussbereiche auf sein Denken zusammen: die ‚Geschichte und Philosophie der Wissenschaften‘ von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, die modernistische Literatur vor allem von Raymond Roussel, George Bataille und Maurice Blanchot, und die Geschichtsschreibung von Fernand Braudel und seiner Annales-Schule. Der Konvergenzpunkt aller dieser Einflüsse war die Beseitigung des Subjekts als dem Mittelpunkt der historischen und philosophischen Analyse. Bachelard und Canguilhem stellten das in Frage, was Foucault den ‚transzendentalen Narzissmus‘ der existenzialen Phänomenologie nannte, in dem sie eine Philosophie der objektiven Begriffe der existenzialistischen Philosophie der subjektiven Erfahrung gegenüber stellten. Bachelard arbeitete vor allem im Bereich der physikalischen Wissenschaften, und Canguilhem im Bereich der Biologie und der Medizinwissenschaften. Foucault dehnte nun ihren Standpunkt auf die Kernzone der modernen Konzeption der Subjektivität aus, nämlich auf die sog. ‚Humanwissenschaften‘. Die Texte der Moderne waren für Foucault wegen ihres Potentials zur – um in Batailles Terminologie zu sprechen – ‚Grenzüberschreitung‘ im Standardwissen und der Standarderfahrung aufregend. Wie er in seinem Aufsatz ‚Was ist ein Autor?‘ (1969) darlegt, war Foucault besonders von der modernistischen Dezentrierung des Autors und der dortigen Bildung von Sprache als dem eigentlichen Wesen der Literatur beeindruckt. Braudel und seine Schule hatten extrem interessante Ergebnisse dadurch erzielt, dass sie die historiographische Perspektive wechselten, d.h. in dem sie die Geschichte nicht als individuelle Erfahrung beschrieben, sondern von einem höheren Standpunkt langfristiger Faktoren z.B. aus der Geographie, aus der Perspektive des Klimas oder der natürlichen Ressourcen. Foucaults Archäologie übernahm keines von Braudels einzelnen Ergebnissen und auch keine seiner Methoden, versuchte aber einen ähnlichen Wandel der Perspektive in der Geschichte des Denkens zu bewirken, d.h. eine Bewegung weg vom individuellen Denker, und hin zu grundlegenderen Kategorien und Strukturen.
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Foucaults vollständigste Darstellung seiner archäologischen Methode findet man in ‚Les Mots et les choses: une archéologie des sciences humaines‘ (‚Die Ordnung der Dinge‘, 1966), wo er die sprachlichen Systeme (‚Epistemen‘) analysiert, die charakteristisch für eine bestimmte Periode des Denkens sind. Insbesondere entwirft Foucault hier die sprachlichen Systeme, die den klassischen Disziplinen der allgemeinen Grammatik, der Naturgeschichte und der Analyse des Wohlstands zugrunde liegen, sowie jene der modernen Disziplinen der Philosophie, der Biologie und der Wirtschaftslehre, die jene ersetzten. Er argumentiert, dass es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den drei klassischen und den drei modernen Disziplinen gibt, jedoch einen scharfen Bruch zwischen den klassischen und modernen Denkweisen, wenn man sie als Ganzes sieht. Auf dieser Grundlage verwirft er beispielsweise die übliche Auffassung, dass die Arbeit der Biologen des 19. Jahrhunderts, wie jene Darwins, in einer kontinuierlichen Entwicklung der Arbeit der Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts stand, wie z.B. Lamarck. Insbesondere besteht er darauf, dass es bei Lamarck oder einem der klassischen Denker keinen Hinweis auf den Darwinschen Begriff der Evolution gibt. Er verstand solche Ergebnisse als Illustration der Überlegenheit seines archäologischen Ansatzes gegenüber jenem der Standardideengeschichte, die sich auf bestimmte Begriffe und Theorien einzelner Denker konzentriert, und nicht auf die sprachlichen Strukturen, die ihnen zugrunde liegen. ‚L’Archéologie du savoir‘ (‚Die Archäologie des Wissens‘, 1969) bringt systematisch die Methodologie zum Ausdruck, die Foucault in den vorangehenden historischen Arbeiten schrittweise verfälscht hatte. Er leistete dies mittels einer Darstellung des Diskurses, der auf seinem Begriff der énoncé (‚Äußerung‘) aufbaut, und der eine Ebene der sprachlichen Struktur beschreibt, die dem Bereich der Dinge, Begriffe, methodischen Ressourcen und theoretischen Formulierungen, die sprechenden und schreibenden Individuen zur Verfügung stehen, vorausgeht und diese bestimmt. Dies ergibt eine theoretische Beleuchtung der Dezentrierung des Subjekts, das von Foucaults Geschichtsdarstellung betroffen ist. 4. Die Genealogie Foucaults Schriften während der 1970er Jahre ergeben zusammen eine dritte große Abteilung seines Werks. Obwohl er die archäologische Methode in dieser Zeit nicht aufgibt, ordnet sie sich doch einem neuen Stil der Analyse unter, den Foucault, mit einer Verbeugung vor Nietzsche, ‚genealogisch‘ nennt. Eine genealogische Analyse erklärt Änderungen im System eines Diskurses, indem sie diese Änderungen mit Änderungen in der nicht-diskursiven Praxis der sozialen Machtstrukturen in Beziehung setzt. Foucault erkennt die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen solcher Änderungen an, aber er verwirft die Bemühungen vieler Historiker, diese Ursachen in ein einheitliches, teleologisches Schema zu pressen, etwa wie das Aufkommen des Bürgertums und den napoleonischen Ehrgeiz. Stattdessen sieht er Veränderungen in den nicht-diskursiven Praktiken infolge einer Unmenge winziger und untereinander unverbundener Fakten von der Art der geringfügigen, unbedeutenden Ursachen, die Nietzsche in seinen Genealogien beschwört (siehe Genealogie). Foucaults genealogische Studien betonen die wesentliche Verbindung zwischen Wissen und Macht. Wissensgesamtheiten sind keine autonomen intellektuellen Strukturen, die nur als Instrumente der Macht angewandt werden. Vielmehr 477
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sind sie als Wissenskörper an Systeme der sozialen Kontrolle gebunden, wenn auch nicht auf diese Funktion reduzierbar. Diese wesentliche Verbindung von Macht und Wissen spiegelt sich in Foucaults Auffassung, dass Macht nicht nur repressiv ist, sondern auch eine schöpferische, wenn auch gefährliche Quelle positiver Werte. Obwohl Wissenssysteme objektive Wahrheiten eigengesetzlich ausdrücken können, sind sie gleichwohl immer an aktuelle Machtstrukturen gebunden. Umgekehrt bringen Machtstrukturen notwendig Wissensgesamtheiten über die Gegenstände, die sie kontrollieren, hervor. Dieses Wissen kann aber, in seiner Objektivität, über das Projekt der Beherrschung hinausgehen und letztendlich sogar bedrohen, aus dem heraus es gewachsen ist. ‚Surveiller et punir: naissance de la prison‘ (‚Überwachen und Strafen‘, 1975) ist das beste Beispiel für Foucaults genealogischen Ansatz. Hier wendet Foucault seine Konzeption des Wissens bzw. der Macht auf die Verbindung zwischen den frühmodernen Disziplinierungspraktiken und den frühmodernen sozialwissenschaftlichen Disziplinen an. Sein primäres Beispiel ist die Beziehung der Haftpraxis zu solchen Disziplinen wie der Kriminologie und der Sozialpsychologie. Die Inhaftierung wird jedoch rasch zu einem Modell für die gesamte Bandbreite der modernen Disziplinierungspraxis, wie sie in Schulen, Fabriken, Militär etc. zur Anwendung kommt. ‚Überwachen und Strafen‘ ist eine genealogische Studie in dem präzisen Sinne, dass sie zeigt, wie fundamentale Änderungen des Denkens (das Auftauchen neuer sozialwissenschaftlicher Disziplinen) in ursächlichem Zusammenhang mit Veränderungen der nicht-diskursiven Praxis stehen (typischerweise moderne Mittel der Körperkontrolle). Foucaults ‚Histoire de la sexualité‘ (‚Geschichte der Sexualität‘, 1976–1984) war ursprünglich als direkte Erweiterung des genealogischen Ansatzes auf die Sexualität gedacht. Seine Idee war, dass moderne Wissenssammlungen über die Sexualität (die ‚Sexualwissenschaften‘, einschließlich der Psychoanalyse) in einer intimen Verbindung zu den Machtstrukturen der modernen Gesellschaft stehen. Der erste Band, der 1976 veröffentlicht wurde, war als eine Einführung in eine Reihe von Studien über die einzelnen Aspekte der modernen Sexualität (Kinder, Frauen, Perverse und Bevölkerungsgruppen) gedacht, wobei die grundlegende Auffassung und die Methoden des Projekts umrissen werden sollten. Ein zentraler Kritikpunkt lautet hier, dass die Geschichte der Sexualität durch unsere Akzeptanz der ‚repressiven Hypothese‘ verzerrt ist, nämlich die Aussage, derzufolge die ursprüngliche Einstellung gegenüber der Sexualität in den letzten drei Jahrhunderten eine des Widerstandes dagegen, des Verschweigens und, soweit möglich, der Ausmerzung ist. Foucault argumentiert, dass dieser Zeitraum tatsächlich eine ‚diskursive Explosion‘ betreffend die Sexualität erzeugte, die mit den Regeln der Gegenreformation beginnt, die die Beichte bei den Sakramenten leitet. Diese Regeln betonten das Bedürfnis nach bußfertigen Menschen, die sich selbst zu prüfen, dann allerdings nicht alle ihre sündigen sexuellen Handlungen gestehen, sondern vielmehr die Gedanken, Wünsche und Neigungen hinter diesen Handlungen. Die entsprechende moderne Wendung hierzu ist die Säkularisierung der Sorge um das Wissen und Aussprechen der Wahrheit über die Sexualität (z.B. in der Psychoanalyse). Foucault betont die Ähnlichkeiten unserer Sichtweisen der Sexualität und des Verbrechens. Beide sind Gegenstand angeblich wissenschaftlicher Disziplinen, die gleichzeitig Wissen und Beherrschung ihrer Gegenstände anbieten. Im Falle der Se478
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xualität wird die Kontrolle jedoch nicht nur durch das Wissen anderer über einzelne Menschen ausgeübt, sondern auch durch das individuelle Wissen jeweils über sich selbst. Wir internalisieren die Normen, die durch die Sexualwissenschaften festgelegt werden, und beobachten unsere eigene Konformität mit diesen Normen. Wir sind folglich nicht nur als Gegenstände der Disziplinen kontrollierte Wesen, sondern auch als selbstprüfende und selbstformende Subjekte dieser Disziplinen. Foucault sieht daher unseren sich offenkundig liberalisierenden Blick auf unsere Sexualität als eine Verstärkung der Mechanismen sozialer Kontrolle. Die Selbstprüfung, die die psychische Repression zur Offenlegung unserer tiefen Sexualnatur ablöst, ist also nur ein subtiles Mittel zu unserer Anpassung an die Normen der modernen Gesellschaft. 5. Sexualität und Ethik Foucault plante den zweiten Band seiner Geschichte der Sexualität als eine Studie über die Ursprünge des modernen Begriffs des Subjekts im Vollzug der christlichen Beichte. Er schrieb eine solche Studie unter dem Titel ‚Les Aveux de la chair‘ (‚Die Beichte des Fleisches‘), veröffentlichte sie aber nicht, weil er sich entschied, dass ein richtiges Verständnis der christlichen Entwicklung ihren Vergleich mit der antiken Konzeption des ethischen Selbst voraussetzt. Dies führte zur Herausgabe der beiden Bände über die griechische und römische Sexualität: ‚L’Usage des plaisirs‘ (‚Der Gebrauch der Lüste‘, 1984) und ‚Le Souci de soi‘ (‚Die Sorge um sich‘, 1984). Diese beiden Bände markieren den Eintritt in den vierten und letzten Abschnitt von Foucaults Werk, und zwar eine Periode, die sich vor allem durch ihre Betonung des individuellen Selbst abhebt, d.h. die Problematisierung ihrer Welt und ihrer Handlungen, sowie der ‚Ästhetik der Existenz‘, wodurch das Selbst sein Leben zu einem Kunstwerk macht. Man könnte meinen, dass Foucault schlussendlich den lediglich abgeleiteten und ephemeren Status des Individuums verwarf. Dies ist jedoch in zweifacher Hinsicht nicht der Fall. Einerseits sieht er auch jetzt noch unsere Geschichte als etwas, dass stark durch die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken strukturiert ist, und zwar auf einer wesentlich tieferen Ebene, als sie dem menschlichen Individuum bewusst ist. Andererseits ist jede Stufe des Foucaultschen Werks darauf gerichtet, die Beschränkungen des Individuums zu überwinden (gegenüber sich selbst und gegenüber anderen). Zuvor war seine Bemühung eine negative im Sinne einer Auflösung der offenkundig notwendigen Beschränkungen der Gesellschaft und ihrer Diskurse. In der abschließende Hinwendung zu dem, was er ‚Ethik‘ nennt, begann er auch die positiven Möglichkeiten der Selbsterschaffung zu erkunden. In ‚Der Gebrauch der Lüste‘ und ‚Die Sorge um sich‘ vergleicht Foucault die antike heidnische und die christliche Ethik über Studien am Testfall der Sexualität. Er bemerkt, dass die moralischen Codes der Heiden und Christen einander ähnelten, stellt aber gleichzeitig fest, dass es grundlegende Differenzen der Art und Weise gab, auf die Individuen diesen Codes unterstellt wurden (er nennt dies die ‚Formen der Unterwerfung‘). Die Griechen des 4. und 5. Jahrhunderts v. Chr. betrachteten, im Unterschied zu den frühen Christen, den Bereich sexueller Handlungen (ta aphrodisia) als Übel an sich selbst, aber als ein natürliches und notwendiges. Die Griechen sahen sexuelle Handlungen wegen ihrer tierischen Natur und ihrer großen Intensität als Gegenstand moralischer Sorge. Das Gefährliche daran war jedoch nicht die Sexualität selbst, sondern ihre Exzesse. Deshalb war die griechische Form der Un479
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terwerfung unter den Code der sexuellen Ethik eine Frage des richtigen Gebrauchs (chresis) der Lüste. Anders als die Christen erlaubten die Griechen im gemäßigten Rahmen die gesamte Breite sexueller Aktivitäten (heterosexuelle, homosexuelle, innerhalb und außerhalb der Ehe). Richtig eingesetzt bildete die Sexualität einen größeren Bereich innerhalb der Ästhetik des Selbst: die Erschaffung des Selbst im Sinne einer schönen und genießenden Existenz. ‚Der Gebrauch der Lüste‘ analysiert eine Vielzahl primärer Texte (z.B. jene von Platon und Xenophon), um die griechisch-klassische Konzeption einer Ästhetik der Existenz zu verstehen. ‚Die Sorge um sich‘ setzt diese Studien mit der Lektüre z.B. von Galen, Artemidorus und Plutarch fort und zeigt dabei, wie die Spätantike sich schrittweise von dieser Ästhetik hinweg bewegte zu einer Hermeneutik des Selbst. Letztere, die erst von den Christen voll entwickelt wurde, ersetzte das Ideal der ästhetischen Selbst-Schöpfung durch jenes eines tiefen Verständnisses eines verborgenen ‚wirklichen Selbst‘. Foucault betrachtet diese Konzeption als die Wurzel unserer Beherrschung durch die Sexualwissenschaften, die in der ‚Geschichte der Sexualität‘, Bd. 1, diskutiert wird. Obwohl er darauf besteht, dass der Ruf ‚Zurück zu den Griechen‘ keine reale Möglichkeit darstellt, schlägt er doch vor, dass uns eine Reflexion der Ästhetik unserer Existenz bei der Eröffnung von Alternativen zu den Fallen der modernen Sexualität bringen kann (siehe Sexualität, Philosophie der). Foucault verbot die posthume Veröffentlichung seiner Schriften; dieser Bann bezog sich jedoch nicht auf die Texte seiner öffentlichen Vorlesungen am Collège de France, von denen zahlreiche Bände bereits erschienen und weitere geplant sind. Die veröffentlichten Bände umfassen bereits wichtiges Material über solche Punkte wie die Hermeneutik des Subjekts, den Begriff des Abnormalen, die Macht der Psychiatrie und die moderne Idee des Krieges. 6. Schlussfolgerung Es ist unmöglich, Foucaults Werk in der typischen Art und Weise zu verstehen, auf die man sich normalerweise der Geschichte der Philosophie nähert. Es gibt hier nicht nur kein System, sondern auch keine nachhaltige Vision, keine Quintessenz und kein Projekt (das man sogar noch bei solchen Einzelgängern wie Nietzsche, Kierkegaard und Wittgenstein findet). Für Foucault ist die Philosophie immer nur ein Mittel der Überwindung von bestimmten historischen Ausgangsbedingungen gewesen. Sie hat an sich selbst kein abschließendes Ziel, keine spezifische Wahrheit oder Wirkung. Sie ist lediglich eine Sammlung intellektueller Techniken, die zu einem Bewusstsein für die Historizität des Unternehmens gebündelt werden, das man Philosophie nennt. Wenn sich Philosophie jemals zur Selbst-Konzeption im Sinne der Foucaultschen Praxis umformt, dann wird er als ein großer Philosoph anerkannt werden (oder wahrscheinlich eher als jemand, der eine größere Rolle bei der Auflösung der Philosophie spielte, wie sie seit Platon verstanden wurde). Geschieht dies nicht, wird er mit aller Wahrscheinlichkeit eine unbedeutendere Figur bleiben, die wegen ihrer seltsamen historischen Perspektiven und ihrer etwas schrulligen Sozialkritik interessant ist. Anmerkungen und weitere Lektüre: Gutting, G. (2005): ‚Foucault: a Very Short Introduction‘, Oxford: Oxford University Press. (Ein kurzer Überblick über Foucaults Arbeit aus literarischer, historischer, politischer und philosophischer Sicht.) 480
Frankfurter Schule
Macey, D. (1993): ‚The Lives of Michael Foucault: a Biography‘, New York: Pantheon. (Die beste der zahlreichen englischen Biographien über Foucault.) McNay, L. (1994): ‚Foucault: a Critical Introduction‘, New York: Continuum. (Ein ausgezeichneter, einführender Überblick über Foucaults Werk.) GARY GUTTING
Fourier, Charles (1772–1837)
Fourier war ein französischer utopischer Sozialist, der die wirtschaftlichen und innenpolitischen Strukturen der modernen sozialen Welt kritisierte, weil sie die menschliche Natur nicht respektieren. Er unterschied zwölf grundlegende menschliche ‚Leidenschaften‘, die er zur Erzeugung von 810 allgemeinen Persönlichkeitstypen kombinierte. Auf der Grundlage dieser Darstellung der menschlichen Vielfalt trat er für die Errichtung kleiner, freiwilliger Gemeinschaften ein, die so eingerichtet sein sollten, dass sie eine erfüllende Arbeit und eine sexuelle Befreiung ermöglichen. Einige seiner etwas extravaganteren Elemente seiner ‚Sozialtheorie‘ (seine Ansichten über die Kosmogonie, die Metempsychose, d.h. der Reinkarnation oder Seelenwanderung, und die von ihm so genannte ‚universelle Analogie‘) wurden von seinen Nachfolgern bagatellisiert. Siehe auch: Marx, K.; Saint-Simon, C.H. de Rouvroy; Utopismus DAVID LEOPOLD
Frankfurter Schule
Die Ursprünge des Kreises jener Philosophen und Sozialwissenschaftler, die jetzt als die Frankfurter Schule bekannt sind, liegen in den 1920er Jahren, als eine Reihe von Kritikern und Intellektuellen versuchte, den Marxismus an die theoretischen und politischen Bedürfnisse jener Zeit anzupassen. Das Unterscheidungsmerkmal jenes Ansatzes, den die Frankfurter Schule wählte, liegt weniger in seiner theoretischen Orientierung, als vielmehr in seiner expliziten Absicht, alle Disziplinen der Sozialwissenschaften in das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft einzubeziehen. Die Ziele dieser theoretischen Neuerung gegenüber allen traditionellen marxistischen Ansätzen wurden von Max Horkheimer in verschiedenen Aufsätzen aufgestellt, die er in den 1920er und 1930er Jahren schrieb. Seine Kritik der neoidealistischen Philosophie und des zeitgenössischen Empirismus war auf die Entwicklung einer Geschichtsphilosophie gerichtet, die auch die Entwicklung der menschlichen Vernunft umfassen sollte; in dieser Beziehung stützte er sich auf die empirische Forschung. Deshalb wurde 1929 das Institut für Sozialforschung, das zur Realisierung dieses Plans gedacht war, gegründet. Dessen Arbeit griff auf die Wirtschaftslehre, die Psychologie und die Kulturtheorie zurück, indem sie von einem historischen Standpunkt aus zu analysieren versuchte, wie eine rationale Organisation der Gesellschaft erreicht werden könnte. Nachdem jedoch die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren und das Institut ins Exil trieben, wich der historisch-philosophische Optimismus einem kulturkritischen Pessimismus. Horkheimer und Adorno sahen die Funktion einer Kritischen Theorie der Gesellschaft nunmehr in dem Versuch, durch eine Rückwendung auf die Geschichte der Zivilisation die Gründe für das Auftauchen des Faschismus und des Stalinismus festzustellen. Ihre ‚Dialektik der Aufklärung‘, die einige Ähnlichkeit zu Heidegger aufweist, bezeugt auf beeindruckende Weise diesen Orientierungswandel: sie fragt, warum der Totalitarismus entstand, und identifiziert eine kognitive und praktische Sicht der Welt, die infolge ihrer Bemühung um eine 481
Frege, Gottlob (1848–1925)
technische Kontrolle von Gegenständen und Personen nur noch eine instrumentelle Rationalität zulässt. Es gab aber auch einigen Widerspruch gegen diese Auffassung der Vernunft, die dazu neigte, den Totalitarismus als Folge eines unausweichlichen Kreislaufs der instrumentellen Vernunft und der sozialen Kontrolle zu betrachten. Der Begriff der totalen Verdinglichung wurde durch einige der mehr am Rande stehenden Mitglieder des Instituts, das unter Adorno und Horkheimer arbeitete, in Frage gestellt. Diese interessierten sich viel stärker dafür, ob unter totalitären Bedingungen noch Überreste eines Wunsches nach kommunikativer Solidarität feststellbar seien. Die Arbeit des Philosophen Walter Benjamin stellt eine Analyse der wechselseitigen Beziehung von Macht und Vorstellungskraft dar, Franz Neumann und Otto Kirchheimer hinterfragten die Kultur eines gesetzlichen Konsens und der sozialen Kontrolle, während Erich Fromm eine psychoanalytische Untersuchung der kommunikativen Bedürfnisse und ihres Widerstandspotentials leitete. Nachdem die wichtigsten Mitglieder der Schule aus dem Exil zurückgekehrt waren, nahm das Institut wieder seine Arbeit in Frankfurt auf und begann mit groß angelegten empirischen Projekten. Bereits von Anbeginn an bestand jedoch ein bemerkenswerter Riss zwischen den empirischen Forschungen, die sich auf den industriellen Arbeitsplatz bezogen, und der philosophischen Radikalisierung der Negativität, an der Adorno und Horkheimer arbeiteten, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung. Dieser Spalt wurde nur einmal überbrückt, als Habermas anfing, die systematische Grundlage der Kritischen Theorie in Frage zu stellen und damit nochmals auf eine gegenseitige Bezugnahme der grundlegenden philosophischen Begriffe und der sozialempirischen Forschung hinwirkte. Die zentrale Idee, durch die Habermas eine neue Phase in der Geschichte der Frankfurter Schule einleitete, war sein Verständnis einer Form der Rationalität, die die kommunikative Übereinstimmung zwischen Subjekten beschreiben sollte, statt der instrumentellen Kontrolle der Dinge. Der Begriff der kommunikativen Rationalität, der aus dieser Idee entstand, bildet seitdem die Basis für eine moralische Begründung und die demokratische Anwendung der kritischen Theorie. Siehe auch: Kritische Theorie AXEL HONNETH
Frege, Gottlob (1848–1925) Einführung Gottlob Frege, ein deutscher Mathematiker und Philosoph, war primär an einem Verständnis sowohl des Wesens der mathematischen Wahrheiten, als auch an den Mitteln, mit denen sie abschließend gerechtfertigt werden können, interessiert. Allgemein meinte er, dass die Vernunft allein mathematische Aussagen zu rechtfertigen vermag; ihre Rechtfertigung erfolgt ohne einen Nutzen für oder ein Bedürfnis nach Wahrnehmungsinformationen, und auch nicht irgendeinem sonstigen intuitiven Vermögen. Um diese Anschauung zu untermauern, musste Frege eine Konzeption der Vernunft vorlegen, die unabhängig von der Erfahrung und der Intuition war. 1879 stellte er zunächst mit extremer Klarheit, Strenge und technischer Brillanz seine Konzeption der rationalen Rechtfertigung vor. Tatsächlich stellt dieses Werk vielleicht die 482
Frege, Gottlob (1848–1925)
größte Einzelleistung zur Logik aller Zeiten dar; mit Sicherheit war es in jedem Falle der wichtigste Fortschritt seit Aristoteles. Zum ersten Male wurde dadurch eine Tiefanalyse der deduktiven Schlüsse möglich, wobei auch Sätze mit einbezogen wurden, die mehrfache, eingebettete allgemeine Terme enthielten, wie beispielsweise der Satz ‚Jeder liebt jemanden‘. Darüber hinaus legte er ein logisches System vor, innerhalb dessen solche Argumente transparent dargestellt werden konnten. Dies war die bedeutendste Entwicklung in unserem Verständnis der axiomatischen Systeme seit Euklid. Freges Ziel war es zu zeigen, dass der größte Teil der Mathematik auf die Logik reduziert werden kann, und zwar in dem Sinne, dass der volle Gehalt aller mathematischen Wahrheiten allein unter Verwendung logischer Ausdrücke dargestellt werden kann, sowie dass die auf diese Weise ausgedrückten Wahrheiten von logischen ersten Prinzipien allein durch Verwendung logischer Schlussmittel abgeleitet werden können. An dieser Aufgabe ist Frege nach verbreiteter Auffassung gescheitert, aber die versuchte Durchführung seines Vorhabens war dennoch nicht vergeblich; denn Frege zeigte, wie die Axiome der Arithmetik von ersten Prinzipien abgeleitet werden können, indem man lediglich auf logische Ressourcen zurückgreift, und zwar von einem einzigen Prinzip, von dem einige meinten, dass es, wenn auch kein logisches, doch immerhin ein sehr grundlegendes Prinzip ist. Ferner trug Frege sehr Wichtiges zur Philosophie der Mathematik mittels seiner schneidenden Kritiken alternativer Konzeptionen der Mathematik bei, insbesondere jener, die von John Stuart Mill und Immanuel Kant vorgetragen worden waren, und durch seine gründlichen Forschungen zum Wesen der Zahl bzw. noch allgemeiner der abstrakten Gegenstände. Im Verlauf seiner Vorstellung einer Analyse des deduktiven Schlusses kam Frege auch zu einer Untersuchung unterhalb der Oberflächenbeschaffenheit von Sätzen zu deren zugrunde liegender Struktur, durch die sich die Notwendigkeit des jeweiligen Schlusses ergibt. Als Ergebnis seiner Erkundungen stellte Frege die erste nichttriviale und weitestgehend plausible Systematik über das Funktionieren der Sprache vor. Viele seiner spezifischen Thesen über die Sprache, z.B. jener, dass das Verständnis eines sprachlichen Ausdrucks nicht allein dadurch gegeben ist, dass man weiß, auf welchen Gegenstand sich dieser Ausdruck bezieht, wird fundamentale Wichtigkeit selbst durch jene bescheinigt, die ihn ablehnen. Allgemeiner gesagt formten drei Merkmale der Fregeschen Herangehensweise an philosophische Probleme die Auffassungen und Methoden der analytischen Philosophie, die wiederum eine der dominanten Denkströmungen des 20. Jahrhunderts war. Erstens übersetzte Frege zentrale philosophische Probleme in Probleme der Sprache; beispielsweise ersetzt Frege angesichts der erkenntnistheoretischen Frage, wie wir dazu imstande sind, Wissen von Gegenständen zu haben, die wir weder beobachten noch intuitiv erfassen können, wie z.B. die Zahlen, diese philosophische Frage durch jene, wie wir in der Lage sind, über diese Gegenstände unter Verwendung der Sprache zu reden. Nach dieser Umformulierung der Frage zeigen sich plötzlich zuvor unsichtbare Wege als plausibel und sogar selbstverständlich. Zweitens ist Freges Konzentration auf die Sprache von dem Prinzip geleitet, dass es die Funktionsweise der Sätze ist, die explanatorisch vorrangig ist: die Erklärung des Funktionierens aller Teile des Sprechens erfolgt nach Maßgabe ihres jeweiligen Beitrages zu den Bedeutungen der vollständigen Sätze, in denen sie erscheinen. Und schließlich besteht Frege darauf, dass wir diese Erklärungen nicht mit psycholo483
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gischen Darstellungen des geistigen Zustandes von Sprechern verwechseln: die Untersuchung des Wesens der Verbindung von Sprache und Welt muss an sich selbst nicht die unteilbaren Aspekte individueller Erfahrung betreffen. Diese drei leitenden Ideen – Sprachzentrismus, der Vorrang des Satzes und ein Antipsychologismus – übten einen beherrschenden Einfluss auf die frühe analytische Philosophie aus, ähnlich dem von Wittgenstein, Russell und Carnap. Durch Letztere wurden diese Ideen weit verbreitet, und sie erzeugten und formten schließlich die analytische Philosophie, deren Vaterschaft mehr als jedem anderen Frege zugeschrieben werden muss. 1. Leben und Arbeit 2. Sprache und Ontologie 3. Sinn und Bedeutung 4. Gedanke und Denken 5. Objektivität und Privatheit 6. Beiträge zur Logik 7. Die ‚Grundlagen der Arithmetik‘: drei fundamentale Prinzipien 8. Die ‚Grundlagen der Arithmetik‘: das Kontext-Prinzip 9. Freges formale Theorie der Arithmetik 10. Das Schicksal des Fregeschen Logizismus 1. Leben und Arbeit Der deutsche Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege ist der Vater der modernen Logik und einer der Gründer der analytischen Philosophie. Ausgebildet als algebraischer Landvermesser verbrachte er sein berufliches Leben an der Universität von Jena, wo er, infolge seiner Auffassungen über die Logik, die Mathematik und die Sprache, die im Allgemeinen im Widerspruch zu den vorherrschenden Trends seiner Zeit lag, unabhängig an seinem zentralen philosophischen Projekt arbeitete. Freges Hauptwerk besteht aus seiner ‚Begriffsschrift‘ (1879), in der er zum ersten Male seine Logik vorstellte, den ‚Grundlagen der Arithmetik‘ (1884), in denen er die Strategie skizzierte, die er bei der Reduktion der Arithmetik auf die Logik einschlagen würde, und die diese Reduktion mit einer philosophischen Begründung durchführt, sowie dem Werk ‚Grundgesetze der Arithmetik‘ (Bd. 1: 1893, Bd. 2: 1903), in dem er das Programm im Detail durchzuführen versucht (ein geplanter dritter Band ließ er fallen, nachdem Frege 1902 von Bertrand Russell die Nachricht vom Paradox in seiner Logik erhalten hatte); und ferner eine Reihe philosophischer Aufsätze über die Sprache, von denen die wichtigsten ‚Funktion und Begriff‘ (1891), ‚Über Sinn und Bedeutung‘ (1892), ‚Über Begriff und Gegenstand‘ (1892) und ‚Der Gedanke: eine logische Untersuchung‘ (1918) sind. Allgemein war Frege philosophisch nicht besonders besorgt darum, was die spezifische conditio humana sei. Beispielsweise kümmerte er sich weder um eine Untersuchung des Wesens und der Grenzen des menschlichen Wissens, noch um ein Verständnis der tatsächlichen menschlichen Vernunft. Gleichwohl verfolgte er seine unkonventionellen philosophischen Interessen unter sorgfältiger Beachtung der natürlichen Sprache und der Art und Weise, wie sie dem Ausdruck unserer Gedanken dient. Freges Ansatz entfachte in Verbindung mit seiner mächtigen Methode der sprachlichen Analyse (Logik) und einer Sammlung von feinsinnigen, innovativen
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und untereinander verwobenen Thesen über die Sprache, die er ausarbeitete, bei anderen nicht nur ein intensives Interesse an der Sprache als einem Gegenstand der Untersuchung, sondern brachte auch Anhänger einer ganz anderen Methodologie hervor, die schließlich einen großen Teil der vergangenen und gegenwärtigen analytischen Philosophie auszeichnet. 2. Sprache und Ontologie Frege kleines Buch ‚Begriffsschrift‘ revolutionierte das Studium des deduktiven Schlusses. Im Verlauf der Erklärung, in welcher Beziehung seine ‚begriffliche Notation‘ zur natürlichen Sprache steht, wirft Frege ein wichtiges Licht auf die der Sprache zugrunde liegenden Struktur. Er erkennt, dass die traditionellen grammatischen Kategorien keine logische Bedeutung haben, und er bezog dies auch auf die Kategorie der singulären Bezeichner (die er ‚Eigennamen‘ nannte) und auf jene der Prädikate (die er ‚Begriffswörter‘) nannte. Für Frege ist ein singulärer Bezeichner ein vollständiger Ausdruck, der keine Lücken enthält, in die ein anderer Ausdruck eingesetzt werden könnte. Beispielsweise sind die Ausdrücke ‚Virginia Woolf‘, ‚der dritte Planet von der Sonne aus gesehen‘ und ‚die größte Primzahl‘ alle singuläre Bezeichner nach Frege. Im Unterschied dazu ist ein Prädikat wie ‚(…) wurde von Virginia Woolf geschrieben‘ etwas Unvollständiges. Dies ist ein sprachlicher Ausdruck, der eine Lücke enthält, die durch einen singulären Bezeichner gefüllt wird. (Die Klammern sind nicht Teil des Prädikats, sondern sollen nur die Position der Lücke anzeigen.) Wenn wir also die Lücke mit ‚der dritte Planet von der Sonne aus gesehen‘ füllen, so bekommen wir einen vollständigen Satz. Dieses Beispiel zeigt, dass der resultierende Satz falsch oder sogar unsinnig sein kann; wichtig daran ist jedoch, dass es ein vollständiger Satz ist. Andere Beispiele für Prädikate sind ‚Leonard Woolf heiratete (…)‘, (…) umkreist den Jupiter‘ und (…) ist eine gerade Primzahl größer als zwei‘. Es gibt unendlich viele Prädikate in jeder natürlichen Sprache. Frege unterscheidet noch feiner zwischen Prädikaten, je nachdem, wie viele Lücken sie enthalten, und auch die Arten der sprachlichen Ausdrücke, die sie füllen können. Die von uns bislang bedachten Prädikate habe jedoch nur jeweils eine Lücke und sind als ‚einstellige‘ Prädikate bekannt. ‚(…) ist die Mutter von (…)‘ ist ein Beispiel für ein zweistelliges Prädikat, denn der Ausdruck enthält zwei Lücken, die beide von singulären Bezeichnern gefüllt werden müssen. Prädikate, deren Lücken von einem oder mehreren singulären Bezeichnern gefüllt werden müssen, wie dies in allen bisher erwähnten Prädikaten der Fall ist, heißen Prädikate ‚erster Stufe‘. Prädikate, deren Lücken durch Prädikate erster Stufe gefüllt werden müssen, heißen Prädikate ‚zweiter Stufe‘, und so weiter. Beispielsweise ist der Ausdruck ‚Alle […] sind Säugetiere‘, richtig analysiert, ein Prädikat zweiter Stufe: seine Struktur ist tatsächlich ‚Alles ist so, dass, wenn es […] ist, dann ist es ein Säugetier‘, wodurch klarer wird, dass die Lücke eine ist, die durch ein Prädikat erster Stufe zu füllen ist. (Wir verwenden eckige Klammern zur Unterscheidung solcher Lücken, die durch Prädikate erster Stufe gefüllt werden müssen, von solchen in Prädikaten erster Ordnung, die durch singuläre Bezeichner gefüllt werden müssen.) Und für Frege ist der Ausdruck ‚Es gibt mindestens eine Sache, die […]‘ ebenfalls ein Prädikat zweiter Stufe; wie wir gleich sehen werden, entspricht dies seiner Auffassung, dass die Existenz kein Begriff ist, der auf Gegenstände angewendet wird, sondern vielmehr auf 485
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Begriffe. Diese feinere Einteilung wird hier nicht weiter diskutiert. Auch über die Frage, wie die Unvollständigkeit der Prädikate bzw. die entsprechende Unvollständigkeit singulärer Bezeichner genau zu verstehen ist, wird hier nicht weiter gesprochen; dies sind im Übrigen Fragen, die weiterhin strittig sind. Die folgenden zwei Punkte sind allerdings nicht mehr streitig. Erstens unterscheidet Frege in den Kategorien der Wirklichkeit die Entsprechungen der sprachlichen Kategorien der singulären Bezeichner und der Prädikate. Er nennt diese ontologischen Kategorien ‚Gegenstand‘ und ‚Begriff‘. Zweitens versteht Frege die Begriffe (in seiner Terminologie) im Rahmen des Modells der Funktion, wie man sie üblicherweise in der Mathematik findet. Ein singulärer Bezeichner bezieht sich auf oder bezeichnet einen Gegenstand. Ein Prädikat bezieht sich auf oder bezeichnet einen Begriff. (Wir verwenden die Ausdrücke ‚bezeichnen‘ und ‚sich beziehen auf‘ und ihre artverwandten Wörter als miteinander austauschbar; in einigen Diskussionen Freges werden dafür auch die Wörter ‚bedeuten‘ und ‚meinen‘ verwendet). Entsprechend dem Umstand, dass ein Prädikat erster Stufe einen vollständigen Satz ergibt, wenn seine Lücke mit einem singulären Bezeichner gefüllt wird, ergibt sich, dass ein Begriff erster Stufe in Bezug auf einen Gegenstand wahr oder falsch ist, oder in Freges Worten, dass ein Gegenstand unter einen Begriff fällt oder nicht. Aus diesem Grunde nennt Frege die Begriffe ‚ungesättigt‘: anders als Gegenstände erwarten sie ihre Vervollständigung, wodurch sie einen von zwei möglichen Wahrheitswerten annehmen, die Frege ihrerseits als Gegenstände betrachtet: das Wahre und das Falsche (siehe ‚Funktion und Begriff‘). Beispielsweise ergibt der Begriff, der durch ‚(…) war ein Bewohner von Oxford‘ bezeichnet wird, das Falsche, wenn er mit dem Gegenstand gefüllt wird, der durch den Ausdruck ‚Gottlob Frege‘ bezeichnet wird, und er ergibt den Wert des Wahren, wenn er mit dem Gegenstand gefüllt wird, der durch die Worte ‚John Locke‘ bezeichnet wird. Begriffe sind in dem Sinne unvollständig, wie dies auch die Funktionen der Mathematik sind. Beispielsweise ergibt die Funktion, die mit ‚2 + (…)‘ bezeichnet wird, den Wert 8, wenn sie mit dem ‚Gegenstand‘ 6 vervollständigt wird. Man kann auch einfacher sagen, sie ergibt diesen Wert für das Argument 6. Die Funktion ‚2 + (…)‘ ist kein Gegenstand, ergibt aber einen, wenn sie durch ein Argument vervollständigt wird. Nach Freges Auffassung sind Begriffe eine Art von Funktion, nämlich eine solche, deren einziger Wert das Wahre oder das Falsche sein kann. Bei seiner Beschreibung dieser Übereinstimmung sprachlicher und ontologischer Kategorien verwechselt Frege nicht den Gebrauch eines Ausdrucks mit der Erwähnung eines Gegenstandes (siehe Zitat, Wortgebrauch und Gegenstandserwähnung, Unterschied von); tatsächlich bewies Frege ein Verständnis für die Unterscheidung zwischen Worten und dem, was sie bezeichnen, in einem Maße, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unübertroffen war. Obwohl sprachliche Ausdrücke in eine bestimmte Gruppe von Kategorien passen sollen und die Dinge der Wirklichkeit in eine andere Gruppe, besteht doch offensichtlich eine enge Verbindung zwischen diesen beiden kategorialen Schemata. Ob Frege das sprachliche oder eher das ontologische Schema als grundlegend betrachtete, ist diskutierbar und hängt mit der Frage zusammen, ob und in welchem Sinne Frege eine Reflexion der Sprache als eine Grundlegung der Philosophie betrachtete.
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Unabhängig vom Ergebnis einer solchen Diskussion wissen wir, dass Frege die Kategorien des Begriffs und des Gegenstands als grundlegend ontologische auffasste, die folglich keiner weiteren Analyse zugänglich sind. Darüber hinaus werfen grundlegende strukturelle Merkmale der Sprache unüberwindliche Hindernisse auf, wenn man bestimmte Wahrheiten über diese Kategorien sagen will. Dies kann man zeigen, indem man die einfache Behauptung (1) zu formulieren versucht: (1) Der Begriff, der durch ‚(…) ist ein Pferd‘ bezeichnet wird, ist ein Begriff. Dies scheint vollkommen korrekt zu sein. Frege erkennt jedoch in ‚Über Begriff und Gegenstand‘ (1892), dass wir (1) für falsch erachten müssen. Dies folgt daraus, dass der Ausdruck ‚Der Begriff, der durch (…) bezeichnet wird, ist ein Pferd‘ ein singulärer Bezeichner ist und deshalb auf einen Gegenstand verweist, und nicht auf einen Begriff. (Der Ausdruck enthält keine Lücke, obwohl er eine erwähnt.) Satz (1) drückt also nicht aus, was wir beabsichtigten. Um dies zu tun, müssen wir die Lücke in ‚(…) ist ein Begriff‘ durch einen Ausdruck füllen, der sich auf einen Begriff bezieht. Tut man dies aber ganz direkt, so ergibt sich (2): (2) (…) ist ein Pferd ist ein Begriff. Dies ist nicht einmal mehr ein Satz. In unserem Versuch unseren Gedanken auszudrücken, geraten wir entweder immer ins Falsche oder zu etwas, dass überhaupt keine Behauptung mehr ist. Diese „Unvollkommenheit der Sprache“, wie Frege sich ausdrückt, war Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen, es scheint aber klar, dass Frege daraus die Lehre zog, dass es elementare Tatsachen der Sprache und der Welt gibt, die sich notgedrungen jedem Ausdruck entziehen. 3. Sinn und Bedeutung In welcher Beziehung steht das, worauf Worte verweisen (Begriffe und Gegenstände), zu unserem Verständnis von Sprache? In seinem fruchtbaren Aufsatz ‚Über Sinn und Bedeutung‘ (1892) dachte Frege darüber nach, ob der Sinn eines Ausdrucks, d.h. das, was wir wissen, wenn wir diesen Ausdruck verstehen, einfach identisch mit dem ist, was es bezeichnet (seiner Bedeutung). Frege entwickelt das folgende Argument, das so berühmt wie einfach ist, um zu zeigen, dass unser Verständnis eines singulären Bezeichners nicht einfach darin bestehen kann, dass man seine Bedeutung kennt: (3) a. Wenn zwei singuläre Bezeichner t und t’ denselben Sinn haben und C irgendein Prädikat erster Stufe ist, dann hat C(t) denselben Sinn wie C(t’). b. ‚Der Abendstern = der Morgenstern‘ hat nicht denselben Sinn wie ‚Der Abendstern = der Abendstern‘. c. ‚Der Abendstern‘ hat nicht denselben Sinn wie ‚der Morgenstern‘. [Dies folgt aus a) und b): C sei in a) ‚Der Abendstern = (…)‘.] d. ‚Der Abendstern‘ bezieht sich auf denselben Gegenstand wie ‚der Morgenstern‘. e. Die Bedeutung von ‚der Abendstern‘ ist nicht identisch mit dem Sinn dieses Ausdrucks. [Dies folgt aus c) und d).] Also kann der Sinn eines Ausdrucks, also das, was ein Sprecher wissen muss, um ihn zu verstehen, nicht mit seiner Bedeutung identifiziert werden (siehe Sinn und Bedeutung). (Hierzu eine terminologische Nebenbemerkung: in seinem Aufsatz von 1892 verwendete Frege genau die Worte ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘. Es besteht in der englischsprachigen Welt allerdings keine Einigkeit darüber, wie diese Worte ins 487
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Englische zu übersetzen seien. Und was noch wichtiger ist, es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, wie diese Ausdrücke genau zu verstehen seien und in welcher Beziehung sie zu alltäglicheren englischen Ausdrücken wie z.B. meaning stehen.) Freges Rechtfertigung für die Prämisse a) stützt sich auf die sog. Kompositionalitätsthese: der Sinn eines Satzes bestimmt sich durch die Sinne seiner Bestandteile (und nebenbei auch dadurch, auf welche Weise der Satz aus ihnen aufgebaut ist; siehe Kompositionalität). Die Prämisse b) ist durch die Feststellung gerechtfertigt, dass ein aufmerksamer Sprecher den einen Satz selbstverständlich fände, nicht jedoch den anderen: ‚Der Abendstern = der Abendstern‘ ist eine informationslose Erklärung der Selbstidentität, wogegen ‚Der Abendstern = der Morgenstern‘ eine bislang unerwartete Information enthalten kann. Der jeweilige Unterschied dessen, was Frege den ‚Erkenntniswert‘ nannte, genügt nach seiner Auffassung zur Anzeige eines unterschiedlichen Sinns. Schließlich folgt die Prämisse d) auf der Beobachtung, dass beide singulären Bezeichner den Planeten Venus bezeichnen, der einer astronomischen Entdeckung zugrunde liegt, die noch nicht sehr alt ist. Wenn der Sinn nicht die Bedeutung ist, was ist er dann? Hierauf gibt Frege keine klare Antwort. In ‚Über Sinn und Bedeutung‘ schreibt er, dass der Sinn eines Ausdrucks „die Art und Weise des Gegebenseins“ dessen sei, was bezeichnet wird, aber er bietet uns diesbezüglich nichts Weitergehendes zum Wesen dieser Modi an (siehe Eigennamen). Frege entwickelte jedoch eine Reihe weiterer Thesen zur Beziehung zwischen Sinn und Bedeutung. Der Sinn eines Ausdrucks bestimmt vor allem die Identität seiner Bedeutung, nicht jedoch umgekehrt. Beispielsweise bezeichnet der Ausdruck ‚der Autor der Begriffsschrift‘ eine bestimmte Person, nämlich Frege, und jeder Ausdruck mit demselben Sinn bezeichnet dieselbe Person. Der Ausdruck ‚Der Autor der Grundlagen der Arithmetik‘, der ebenfalls auf Frege verweist, hat jedoch einen anderen Sinn. Genauso haben die beiden singulären Bezeichner ‚George Orwell‘ und ‚Eric Blair‘, obwohl sie beide dieselbe Person bezeichnen, d.h. dieselbe Bedeutung haben, einen jeweils anderen Sinn. Zweitens könnten Ausdrücke gebildet werden, die zwar einen Sinn, aber keine Bedeutung haben. Beispielsweise ist ‚Sherlock Holmes‘ ein singulärer Bezeichner, der einen Sinn, aber keine Bedeutung hat, denn Holmes existierte nie. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass man sagt, der Sinn bestimme die Bedeutung. Denn dies meint, dass, wenn zwei Ausdrücke denselben Sinn haben, dann haben sie auch dieselbe Bedeutung. Man könnte sich allerdings fragen, ob diese These nicht quer läuft zu Freges eigener Beschreibung des Sinns als der Art und Weise des Gegebenseins des Bezeichneten: Wie kann es eine solche Art und Weise geben, wenn das Bezeichnete, also die Bedeutung, gar nicht existiert? Viele fanden in der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung Erleichterung von der philosophischen Not, die aus der Vermutung folgt, dass wir erstens einen Ausdruck dadurch verstehen, dass wir direkt eine Bedeutung mit ihm verbinden, und dass wir Ausdrücke zweitens verstehen, die gar keine Bedeutung haben. Das gleichzeitige Behaupten von beiden Vermutungen hat die Philosophen bereits zu recht außergewöhnlichen Behauptungen über die Wirklichkeit geführt, die tatsächlich durch unsere Ausdrücke bezeichnet werden, beispielsweise zu der Behauptung, dass Holmes auf irgendeine Weise existieren muss, wenn wir auf einsehbare Weise von ihm sprechen können (und selbst dann, wenn man nur seine Existenz bestreiten möchte). Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung und seine These, 488
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dass ein Ausdruck einen Sinn, aber keine Bedeutung haben muss, löst dieses Problem ganz einfach, indem sie die erste der beiden Vermutungen zurückweist (siehe Beschreibungen). Das Argument (3) betrifft singuläre Bezeichner. Frege meinte aber, dass andere Arten von Ausdrücken Sinn und Bedeutung haben. Die Unterscheidung kann also auch im Falle von Prädikaten gezogen werden: (4) Etwas ist eine Flasche Rotwein ausschließlich dann, wenn es eine Flasche Rotwein ist. (5) Etwas ist eine Flasche Rotwein ausschließlich dann, wenn es eine Flasche des von Hume bevorzugten Weines ist. (4) hat nicht denselben Sinn wie (5). Niemand würde den ersten der beiden bestreiten, während der zweite als eine gastronomische Entdeckung gelten könnte. Obwohl ‚(…) ist eine Flasche Rotwein‘ und ‚(…) ist eine Flasche des von Hume bevorzugten Weines‘ Prädikate sind, die auf denselben Begriff verweisen, haben sie doch einen verschiedenen Sinn. (Frege identifizierte zwei Begriffe miteinander, wenn ein Gegenstand ausschließlich dann unter den einen von ihnen fällt, wenn er auch unter den anderen fällt.) Was ist die Bedeutung eines ganzen Satzes? Frege beantwortet dies durch die Beobachtung dessen, was an einem Satz unverändert bleibt, wenn wir Ausdrücke darin durch gleichbedeutende ersetzen, d.h. durch solche Ausdrücke, die auf dasselbe verweisen. Unter der Annahme der Kompositionalitätsthese für die Bedeutung (d.h. dass die Bedeutung eines Satzes bestimmt ist durch die Bedeutung seiner Bestandteile), haben wir einigen Anlass dazu, das jeweils Unveränderte eines Satzes als seine Bedeutung zu betrachten. Man betrachte (6) und (7): (6) George Orwell schrieb ‚1984‘. (7) Eric Blair schrieb ‚1984‘. Was bleibt hier unverändert? Nicht etwa der ‚Gedanke‘, der durch jeden der beiden Sätze ausgedrückt wird. Jemand könnte den einen Satz für wahr halten, den anderen jedoch nicht. Vielmehr ist es der Wahrheitswert des Satzes, der konstant bleibt. (6) und (7) sind entweder beide wahr oder beide falsch. Dies führte Frege dazu, die Bedeutung eines Satzes mit seinem Wahrheitswert zu identifizieren; ein Satz nimmt einen von zwei Wahrheitswerten an. Frege versteht die beiden Wahrheitswerte selbst als Gegenstände und beobachtet, dass nach seiner Auffassung alle wahren bzw. falschen Sätze wirklich singuläre Bezeichner sind, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, nämlich das Wahre oder das Falsche. Weil sich die Wissenschaften für das Wahre interessieren, verstehen wir, warum Frege meinte, dass die Bedeutung überall das Wesentliche für die Wissenschaften ist (‚Ausführungen über Sinn und Bedeutung‘, 1892–1895). Die natürliche Sprache erlaubt die Bildung von Ausdrücken, die keine Bedeutung haben. Deshalb befand Frege sie für ungeeignet als Werkzeug der rationalen Untersuchung. Weil sie für seine Begriffsschrift unbrauchbar war, entwarf er eine formale Sprache mit der Absicht, dass dort kein Ausdruck konstruiert werden könne, der keine Bedeutung hat. Frege schrieb, dass für den Fall der Korrektheit seiner These, derzufolge die Bedeutung eines Satzes ihr Wahrheitswert sei, wir bei Ersetzung eines untergeordneten Satzes durch einen gleichbedeutenden (der also den gleichen Wahrheitswert hat) voraussagen könnten (wiederum auf der Grundlage der Kompositionalitätsthese
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für die Bedeutung), dass die Bedeutung des gesamten übergeordneten Satzes (d.h. seines Wahrheitswertes) unverändert bleibt. Man betrachte beispielsweise: (8) Ronald Reagan wurde 1984 zum Präsidenten gewählt und George Orwell schrieb ‚1984‘. (9) Ronald Reagan wurde 1984 zum Präsidenten gewählt und Eric Blair schrieb ‚1984‘. (8) und (9) haben denselben Wahrheitswert, wie vorausgesagt für den Fall, dass die Bedeutung eines Satzes ihr Wahrheitswert ist. Nun betrachte man aber: (10) Stimpson glaubte, dass George Orwell ‚1984‘ schrieb. (11) Stimpson glaubte, dass Eric Blair ‚1984‘ schrieb. Wenn Stimpson nicht merkte, dass George Orwell und Eric Blair ein und dieselbe Person sind, hätten (10) und (11) vielleicht unterschiedliche Wahrheitswerte, d.h. ihre Bedeutung könnte sich unterscheiden. Und doch erhält man den einen Satz von beiden aus dem jeweils anderen einfach durch Ersetzung dessen, was nach Freges Hypothese die gleichbedeutenden Sätze (6) und (7) sind. Frege verteidigte seine Hypothese durch die Behauptung, dass Ausdrücke in bestimmten Zusammenhängen nicht auf ihre gewöhnliche Bedeutung verweisen, sondern auf eine ‚indirekte‘ Bedeutung. Und, so fügte er hinzu, die indirekte Bedeutung eines Ausdrucks ist genau ihr gewöhnlicher Sinn. Weil ‚Stimpson glaubte, dass (…) 1984 schrieb‘ genau so ein Zusammenhang ist, und weil ‚George Orwell‘ einen anderen Sinn hat als ‚Eric Blair‘ (und in diesem Zusammenhang also auch eine andere Bedeutung), zwingt uns die Kompositionalitätsthese der Bedeutung nicht länger zu der Schlussfolgerung, dass (10) und (11) denselben Wahrheitswert haben. Freges Antwort leitete eine lange, fruchtbare und immer noch andauernde Debatte über das Wesen solcher sprachlicher Zusammenhänge ein (für eine weitere Diskussion siehe Indirekter Diskurs; Sinn und Bedeutung). Und was ist mit dem Sinn eines ganzen Satzes? Nimmt man die Kompositionalitätsthese auch für den Sinn an, so bleibt dieser bei einer Ersetzung eines Ausdrucks in einem Satz durch einen anderen mit einem identischen Sinn erhalten. Frege sagt, dass eine solche Ersetzung den Gedanken bewahrt, der durch den Satz ausgedrückt wird, und konsequenterweise identifiziert er diesen Gedanken mit dem Sinn des Satzes. Weil ‚lügen‘ denselben Sinn hat wie ‚etwas zum Ausdruck bringen, was man für falsch hält, und zwar mit Täuschungsabsicht‘, würde Frege voraussagen, dass die folgenden beiden Sätze denselben Gedanken ausdrücken: (12) Jeder hat gelogen. (13) Jeder hat etwas ausgedrückt, was er für falsch hält, und zwar mit Täuschungsabsicht. Und diese Voraussage scheint richtig zu sein. Was aber ist genau der Sinn eines Satzes? 4. Gedanke und Denken Wenn einer den Gedanken denkt, dass Zitronen sauer sind, so mag dies zahlreiche und unterschiedliche Arten psychologischer Ereignisse auslösen; bestimmte Erinnerungen, Bilder oder Gefühle können dadurch hervorgerufen werden. Diese Ereignisse gehören nach Frege zur psychologischen Welt des Subjekts und können daher nicht vollständig mit anderen geteilt werden. So viel dies einer auch versuchen mag, er wird doch nicht erfahren, was ein anderer tut. Frege sagt, es sei ein 490
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ernsthafter Irrtum, solche privaten Ereignisse, wie sie vielleicht das Aufkommen eines Gedankens begleiten, mit dem aufgekommenen Gedanken zu verwechseln. Man begehe die Sünde des Psychologismus, wenn man nicht scharf zwischen dem psychologischen Prozess des Denkens und den Gedanken unterscheide, die als Konsequenz dieser privaten Aktivität, erfasst werden. Gedanken sind demzufolge im Gegensatz zu dem, was Frege ‚Vorstellungen‘ nennt, vollständig gemeinsam erfahrbar. Wenn Sie und ich den Sinn von ‚Zitronen sind sauer‘ begreifen, so haben wir genau denselben Gedanken: es gibt keine zwei unterschiedlichen, aufeinander bezogenen Gedanken (so wie wir z.B. zwei unterschiedliche mentale Bilder von Zitronen haben können), sondern genau den einen, den wir, wenn auch vielleicht auf eigenen und privaten Wegen, schließlich erfassen. Und so verhält es sich allgemein mit dem Sinn: er ist nicht Teil der mentalen Welt, sondern objektiv in dem Sinne, dass ihn verschiedene Einzelpersonen begreifen und mit ihren Worten assoziieren können. Von dieser Auffassung abzuweichen heißt nach Frege schlicht die Auffassung preiszugeben, dass Kommunikation möglich ist, dass zwei Sprecher einen sprachlichen Ausdruck auf dieselbe Weise zu verstehen vermögen. Einen Gedanken zu erfassen heißt nicht, ihn für wahr zu halten. Denn auch wenn jemand einen Gedanken während seiner Behauptung erfasst, wird er gleichermaßen bei der Annahme seiner Wahrheit erfasst, wie auch bei dem Wunsch, dass er wahr sei, oder bei der Anweisung, ihn wahr zu machen, in Frage zu stellen, ob er wahr sei etc. Diese Handlungen korrespondieren den unterschiedlichen Arten von ‚Wirkung‘, die einem Gedanken anhängen mag. Dies ist nicht genau Freges Position, aber gleichwohl eine einflussreiche, die zu seinen Auffassungen in naher Beziehung steht, wie er sie in ‚Über Sinn und Bedeutung‘ zum Ausdruck brachte. Diese Auffassungen waren für viele Sprachforscher attraktiv, weil sie das übergroße Projekt einer Erklärung des sprachlichen Verstehens und der Sprachverwendung in zwei möglicherweise handlichere Bestandteile aufteilt. Die erste Aufgabe, nämlich die Artikulation einer ‚Theorie des Sinns‘ oder einer ‚Theorie der Bedeutung‘ sucht nach einer Erklärung, wie der Sinn eines Satzes durch die einzelnen Sinnstücke seiner Bestandteile bestimmt werden kann. Die zweite Aufgabe, nämlich die Artikulation einer ‚Theorie der Wirkung‘ (die auch ‚Pragmatik‘ genannt wird), die es für gegeben nimmt, dass Gedanken durch Sätze ausgedrückt werden, sucht nach einer Erklärung für die unterschiedlichen Sprechakte, die solche Gedanken annehmen können. Beispielsweise fällt es in die Bedeutungstheorie, wenn man den Inhalt von ‚Lemuren sind gebürtige Londoner‘ beschreiben und zeigen will, wie dieser Gedanke durch die Sinnstücke der einzelnen Bestandteile dieses Satzes bestimmt wird. Dagegen fällt es in die Krafttheorie danach zu suchen, was jenseits eines Begreifens dieses Gedankens mit der Frage ‚Sind Lemuren gebürtige Londoner?‘ oder mit dem Wunsch ‚Ach, wären die Lemuren doch gebürtige Londoner!‘ verbunden ist. Sollte die Wirkungstheorie einer Bezugnahme auf mentale Zustände von Akteuren bedürfen, dann ist es nicht nur hilfreich, die Darstellung des sprachlichen Verstehens und der Sprachverwendung in diese zwei Bereiche aufzuteilen, sondern auch von wesentlichem Belang, würde Frege betonen, wenn wir die Psychologie aus einer Darstellung des Sinns heraushalten (siehe Pragmatik; Sprechakte).
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5. Objektivität und Privatheit Im vorangehenden Abschnitt sahen wir, dass Frege auf der Objektivität der Gedanken (und allgemein des Sinns) bestand, wobei er beabsichtigte, dass verschiedene Sprecher ihren Sätzen genau denselben Sinn zuordnen können. Es gibt aber noch eine zweite Art und Weise, auf die Frege die Gedanken als objektiv auffasst. Zu sagen, die Gedanken seien gemeinsam erfahrbar, ist vereinbar damit, dass ihre Existenz und ihre Eigenschaften von menschlichen Tätigkeiten abhängen. Freges Auffassung scheint hier jene zu sein, dass Gedanken auch darin objektiv sind, dass sie unabhängig von menschlichen Tätigkeiten existieren. Gedanken werden nicht durch den Prozess des Denkens erzeugt oder geformt; sie existieren unabhängig davon, ob wir sie erfassen, unabhängig davon, ob wir sie jemals fassen. Gedanken erwarten ihre Erfassung durch uns auf eine ähnliche Weise, wie physische Gegenstände ihre Beobachtung erwarten, obwohl letztere in Raum und Zeit angesiedelt sind, während die Gedanken dies nicht sind. Diese zwei Arten von Objektivität – die Teilbarkeit und ihre Unabhängigkeit – versteht Frege so, dass sie auch auf die Wahrheit anwendbar sind, die er als eine Eigenschaft der Gedanken ansieht. Es gibt keine unterschiedlichen Wahrheitseigenschaften – beispielsweise ‚wahr-für-dich‘ und ‚wahr-für-mich‘ – die zum privaten Bereich von Einzelpersonen gehören. Es gibt nur genau eine diesbezügliche Eigenschaft, nämlich wahr zu sein, die einige Gedanken aufweisen, und andere nicht. Ferner hängt der Besitz dieser Eigenschaft durch einen Gedanken keineswegs von unserer Fähigkeit zu ihrem Erkennen ab. Die Wahrheit eines Gedanken muss scharf von unserem Meinen unterschieden werden, ob er wahr ist, oder von unserer Rechtfertigung, sie für wahr zu halten. Nach Freges Auffassung hängt die Wahrheit eines Gedankens nicht von unserem Meinen ab, ja nicht einmal von unserer Überzeugung betreffend irgendeine ideale epistemische Situation. Die Wahrheit ist eine Sache, und unsere Anerkennung der Wahrheit etwas ganz anderes. Diese Position betreffend die Unabhängigkeit der Wahrheit, die durch sämtliche Schriften Freges hindurch spürbar ist, stellt ein robustes realistisches Motiv seines Denkens dar, dessen Auswertung den Mittelpunkt eines großen Teils der zeitgenössischen Sprachphilosophie in Anspruch genommen hat (siehe Realismus und Antirealismus, § 4). Da nach Freges Auffassung ein Satz ausschließlich dann wahr ist, wenn er sich auf den Wert der Wahrheit bezieht, läuft sein Realismus darauf hinaus zu sagen, dass ein Satz sich auf das bezieht, was er unabhängig von unserer Anerkennung dieses Faktums tut. Ein Satz bezieht sich aber nur über seinen Sinn auf einen Gegenstand (d.h. den Gedanken, den er ausdrückt), und der das ist, was seine Bedeutung bestimmt. Und sein Sinn ist nicht irgendetwas, dass er unabhängig von Sprechern hat (schließlich kann ein Ausdruck wie beispielsweise ‚Plauderei‘ in einer Sprache den einen und in einer anderen Sprache einen anderen Sinn haben), sondern er hängt mit ihm über menschliche Tätigkeiten zusammen. In der Zusammenschau sehen wir, dass die Menschen nach Frege Sinnstücke mit sprachlichen Ausdrücken assoziieren; darin besteht ihr Verständnis von Sprache. Nach deren Maßgabe erhalten diese Ausdrücke ihre Bedeutung; deren Identität mag für immer unbekannt bleiben. Dass ein solcher Realismus aus den Sinnstücken folgen soll, die den sprachlichen Ausdrücken anhängen, lenkt unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf die Fregesche Vorstellung des Sinns, sondern damit zusammenhängend auch auf seine Konzeption dessen, was es heißt, einen Sinn zu erfassen und ihn mit einem Ausdruck zu 492
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assoziieren. Freges Antipsychologismus in Bezug auf den Sinn wurde von ihm nicht auf eine Darstellung des Erfassens von Sinn ausgedehnt, denn in seinen wenigen Bemerkungen über diesen Diskussionsgegenstand scheint er ein psychologisches Bild des Prozesses des Erfassens eines Gedankens, d.h. von dem Urteil des Wahrseins etc., zu zeichnen (siehe seine ‚Logik‘, 1897). In Anbetracht seiner Auffassung von der Privatheit mentaler Ereignisse scheint es, dass man laut Frege nicht immer bestimmen kann, welchen Gedanken jemand mit einem Satz verbunden hat. Nicht etwa, dass man nicht denselben Gedanken wie ein anderer haben kann (denn ein Merkmal der Objektivität eines Gedankens garantiert es, dass er von allen gleichermaßen erfasst werden kann); aber man kann sich nicht immer sicher sein, dass jemand ihn begriffen hat. Die Auffassung, dass das sprachliche Verständnis eines Sprechers privat bleiben kann, hat viele beunruhigt, vor allem jene, die durch die Arbeit von Ludwig Wittgenstein beeinflusst waren (siehe Privatsprachenargument). Michael Dummett, der einflussreichste Interpret der Fregeschen Philosophie (siehe Dummett [1973]), bringt vor, dass, während viel von Freges Auffassung der Sprache von bleibendem Wert ist, diese dahingehend verändert werden sollte, dass nicht nur Sinnstücke gemeinsam erfassbar sein müssten – worauf Frege immer bestanden hat –, sondern das Anhängen von Sinnstücken an Ausdrücken muss ebenso zugänglich sein; das heißt, das Wesen des sprachlichen Verständnisses eines Sprechers muss eine tief greifende öffentliche Angelegenheit sein (siehe Private Zustände und Sprache). Nimmt man diese Veränderungen vor, so behauptet Dummett, folgen daraus wichtige Dinge hinsichtlich dessen, welche Arten von Sinn kohärent erfasst werden können: wenn die einzigen intelligiblen Sinnstücke jene sind, deren Erfassen als ein Gegenstand öffentlicher Begutachtung zugänglich ist, dann müssen wir einer jeden Analyse des sprachlichen Verstehens als Formen von Sinn skeptisch gegenüberstehen, die dem Realismus verschrieben sind, und wir sollten stattdessen über ernsthafte Analysen der Verwendung von Sinn nachdenken, die nicht die Möglichkeit solcher Sätze in Betracht ziehen, die unabhängig von allem möglichem menschlichen Wissen wahr sind. Sowohl Dummetts Argument, als auch seine Annahmen wurden diskutiert, und die Auseinandersetzung dauert noch auf lebhafte Weise an. Dies ist keine Frage, zu der sich Frege viel geäußert hat, aber sie gehört zu den vielen tiefen Debatten über das Wesen der Sprache und des Denkens, die sein Werk ermöglichte. 6. Beiträge zur Logik Obwohl Freges ‚Begriffsschrift‘ für ihre schwierig zu lesende Notation berüchtigt ist, ist dieses Werk doch eines der größten logischen Werke, das je geschrieben wurden. Es enthält eine Reihe bedeutender Innovationen, von denen zwei von grundlegender Wichtigkeit für die zeitgenössische Logik sind: eine zufriedenstellende logische Behandlung der Allgemeinheit, und die Entwicklung des ersten formalen Systems. Die ‚Begriffsschrift‘ führt auch – was wesentlich ist – die Wahrheitstabellen ein, enthält Freges Definition der Abstammung (§ 9) und legt die Fundamente seiner Philosophie der Sprache (§§ 2 bis 5). Wir werden zunächst Freges Behandlung der Allgemeinheit diskutieren, d.h. seine logische Analyse von Sätzen, die solche Worte wie ‚alle‘, ‚etwas‘, ‚kein‘ etc. enthalten. Die betreffende Grundlegung ist Freges Analyse einfacher Sätze aus singulären Bezeichnern und einem Prädikat (§ 2). Sätze wie ‚Tony lebt‘ enthalten einen 493
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singulären Bezeichner, nämlich ‚Tony‘, und ein Prädikat, nämlich ‚(…) lebt‘. Wir können diese Analyse auf solche Sätze wie ‚Alles lebt‘ erweitern, indem wir uns der Formelsprache der Arithmetik bedienen. In der Arithmetik ist ein Satz, der eine Variable x enthält, ausschließlich dann wahr, wenn sich bei Verwendung von x immer ein wahrer Satz ergibt, d.h. unabhängig davon, was x ist. Beispielsweise ist ‚x + 2 = 2 + x‘ ausschließlich dann wahr, wenn ‚x + 2 = 2 + x‘ unabhängig davon gilt, welchen Wert x annimmt. Wenn wir also das Argument von ‚(…) lebt‘ als Variable zulassen, so stellt der resultierende Satz ‚x lebt‘ einen verallgemeinerten Ausdruck von ‚Tony lebt‘ dar. Dieser Satz wird ausschließlich dann wahr sein, wenn unabhängig davon, was x ist, x lebt. Auf ähnliche Weise kann ‚Alles lebt nicht‘ dargestellt werden als ‚x lebt nicht‘. Nimmt man die gerade erläuterte Konvention als gegeben, wird dieser Ausdruck ausschließlich dann wahr sein, wenn unabhängig davon, was x ist, x nicht lebt. Wie aber ein wenig Herumprobieren zeigt (und auch bewiesen werden kann), ist es unmöglich, solche Sätze wie ‚Nicht alles lebt‘ formal darzustellen, solange wir Variable nur auf diese Weise verwenden. Und auch der Satz ‚Wenn alles lebt, dann ist Schnee schwarz‘ lässt sich auf diese Weise ausdrücken. Man könnte dies in der Form ‚Wenn x lebt, dann ist Schnee schwarz‘ ausprobieren. Dies ist aber in Wirklichkeit die Formel für ‚Für alles gilt: wenn es lebt, dann ist Schnee schwarz‘ (§ 11). Hier ist eine Einschränkung der Allgemeinheit, die durch die Variable ausgedrückt wird, auf einen Teil des Satzes erforderlich. In dieser informellen Diskussion verwendet Frege die Wendung „unabhängig davon, was x auch immer sein mag“, um dies zu erreichen (beispielsweise in § 12). Wir können dann also den Satz ‚Nicht alles lebt‘ darstellen als ‚Es ist nicht der Fall, dass, unabhängig davon, was x auch immer sein mag, x lebt‘; und ‚Wenn alles lebt, dann ist Schnee schwarz‘ als ‚Wenn unabhängig davon, was x auch immer sein mag, x lebt, dann ist Schnee schwarz.‘ Die Wendung ‚unabhängig davon, was x auch immer sein mag‘ und ihre Platzierung in einem Satz soll den ‚Geltungsbereich‘ der Variablen begrenzen (siehe Geltungsbereich). Freges wichtigste Entdeckung ist nicht etwa, dass Variable zur Anzeige von Allgemeinheit verwendet werden können, sondern dass Variable einen Geltungsbereich haben; seine bedeutendste Innovation ist die Entwicklung einer Notation, in welcher der Geltungsbereich abgebildet werden kann, d.h. die Einführung des Quantors. Freges zweiter grundlegender Beitrag war die Konstruktion des ersten formalen Systems. Ein formales System in der Art, wie Frege es konzipierte, hat drei Teile: erstens eine hoch strukturierte ‚Sprache‘, in der die Gedanken ausgedrückt werden können; zweitens präzise spezifizierte ‚Axiome‘ oder grundlegende Wahrheiten über den fraglichen Gegenstand; und drittens ‚Schlussregeln‘, die anleiten, wie man Sätze von anderen schon festgestellten Sätzen ableiten kann. Frege glaubte, dass es eine Reihe von Vorteilen böte, Beweise in solchen formalen Systemen zu erbringen, beispielsweise jenen, dass ein Beweis in einem formalen System das Verständnis für den Beweis erhöhen würde, indem präzise dargelegt wird, welche Prinzipien hier in Anspruch genommen werden. Angenommen, jemand möchte zeigen, dass ein gegebenes Theorem ohne Verwendung des Wahlaxioms bewiesen werden kann. Die offenkundige Methode wäre hier, das Theorem ohne Verwendung dieses Axioms zu beweisen. Wie kann man sich aber sicher sein, dass das Axiom nicht stillschweigend verwendet wurde (wie dies in Richard Dedekinds Beweis des Theorems 159 in ‚Was sind und was sollen die Zahlen?‘ von 1888 der Fall war)? Der Beweis eines The494
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orems in einem formalen System macht dies möglich; die Axiome, die verwendet werden sollen, sind klar benannt, und die Beweisschritte dürfen nur nach gewissen Regeln vorgenommen werden. (Man vergleiche das Vorwort der ‚Begriffsschrift‘ mit § 2 in den ‚Grundlagen der Arithmetik‘. Formale Systeme sind in der zeitgenössischen Logik aus ähnlichen Gründen wichtig.) Das formale System der ‚Begriffsschrift‘ erreicht nicht tatsächlich die Standards, die Frege ihm auferlegt: nicht alle ihrer Schlussregeln sind ausdrücklich genannt. Diese Beschwerde gilt jedoch nicht gegenüber dem System, dass im ersten Teil seine ‚Grundgesetze der Arithmetik‘ (1893) dargestellt werden. Das Fragment erster Ordnung dieses Systems ist vollständig; das Fragment zweiter Ordnung ist eine Formulierung der Standardlogik zweiter Ordnung. Die Strenge der Fregeschen Formulierung wurde erst wieder in Kurt Gödels Arbeit in den frühen 1930er Jahre erreicht, also fast vierzig Jahre später. Es ließe sich sogar behaupten, dass Frege noch weiter ging und in den ‚Grundgesetzen‘ eine Semantik seines Systems präsentierte; das heißt, er versuchte mit aller Strenge zu erklären, wie das formale Systeme zu interpretieren ist, bzw. wie seine Symbole zu verstehen sind. Unter Verwendung dieser Erklärungen versuchte er zu beweisen, dass die Axiome des Systems, auf diese Weise interpretiert, wahr sind, und dass die Regeln des Systems, auf diese Weise interpretiert, die Wahrheit erhalten (d.h. technisch gesprochen, die Schlüssigkeit des Systems zu beweisen). Wenn diese strittigen Behauptungen richtig sind, so zählt es auch zu Freges Leistungen, dass er in begrenztem Umfange sogar die Modelltheorie vorweggenommen hat. 7. Die ‚Grundlagen der Arithmetik‘: drei fundamentale Prinzipien Im Vorwort zur ‚Begriffsschrift‘ kündigt Frege sein Interesse daran an zu bestimmen, ob die grundlegenden Wahrheiten der Arithmetik „mit den Mitteln der reinen Logik“ bewiesen werden können. Kants Antwort auf diese Frage war negativ. Nach Kant sind die Wahrheiten der Arithmetik synthetisch a priori; beispielsweise erfordert das Wissen von ‚7 + 5 = 12‘ eine Berufung auf die Intuition (siehe Kant, I., §§ 4–5). Eines der Hauptziele von Frege in den ‚Grundlagen der Arithmetik‘ war es, diese Auffassung durch die Vorlage rein logischer Beweise der grundlegenden Gesetze der Arithmetik zu widerlegen und damit zu zeigen, dass die arithmetischen Wahrheiten unabhängig von jeglicher Intuition gewusst werden können. Frege konzipierte das formale System der ‚Begriffsschrift‘ als eine wichtige Voraussetzung für dieses Projekt. Ohne diese Voraussetzung wäre es unmöglich gewesen zu bestimmen, ob die erforderlichen komplexen Beweise wirklich einzig von den Axiomen der ‚reinen Logik‘ abhängen. Es gab eine Kontroverse darüber, was Freges Motive für seinen Logizismus waren, nämlich seine Auffassung, dass die Wahrheiten der Arithmetik solche der Logik sind (siehe Logizismus). Frege sagte, sein Vorhaben sei sowohl von mathematischen, als auch von philosophischen Interessen inspiriert (§§ 1 bis 3). Einige, z.B. Paul Benacerraf, haben die Auffassung vertreten, dass Frege an philosophischen Fragen nur insoweit interessiert war, als sie einer mathematischen Lösung zugänglich waren. Wie dem auch sein mag, haben Mark Wilson und Jamie Tappenden eingewandt, dass es eine wichtige Verbindung zwischen Freges Arbeit an der Arithmetik und damals neuen Entwicklungen der Geometrie gab, von denen er während seines Studiums erfahren haben wird. 495
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Die ‚Grundlagen‘ sind aus einer ganzen Reihe von Gründen wichtig. Die Philosophie der Arithmetik, die in diesem Buch entwickelt wird, ist von fortgesetztem Interesse. Darüber hinaus hatte eine große Zahl speziellerer Thesen, die hier ausgeführt werden, einen tief greifenden Einfluss auf spätere Philosophen, einschließlich Ludwig Wittgenstein, W.V. Quine und Michael Dummett, um nur drei von ihnen zu nennen. Ganz allgemein sind die ‚Grundlagen‘ die erste Arbeit der analytischen Philosophie. Ein entscheidender Punkt in diesem Buch ist, dass Frege den linguistic turn vollzieht, d.h. er fasst ontologische oder erkenntnistheoretische Fragen als solche über die Sprache auf. Anders als einige ‚Sprachphilosophen‘ ist es jedoch nicht seine Absicht, das philosophische Problem zu lösen, d.h. es als ein ‚Pseudoproblem‘ zu entlarven, sondern es umzuformulieren, so dass es gelöst werden kann. Nach Frege ist seine Arbeit in den ‚Grundlagen‘ von drei grundlegenden Prinzipien geleitet, die er im Vorwort darlegt: (1) Es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjektive von dem Objektiven scharf zu trennen; (2) Nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhang, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden. (3) Der Unterschied zwischen Begriff und Gegenstand ist im Auge zu behalten. (1884, S. X). Alle diese Thesen sind wichtig genug, um jeweils gesondert diskutiert zu werden. Die erste, die Freges Widerstand gegen den ‚Psychologismus‘ ankündigt, wurde in den §§ 4 f. diskutiert; die zweite, die auch das ‚Kontextprinzip‘ genannt wird, werden wir in § 8 diskutieren. Das dritte Prinzip, das Arten von Dingen, die von singulären Bezeichnern bezogen werden, also Gegenständen, von Arten von Dingen unterscheidet, die von Prädikaten bezeichnet werden, also Begriffe, wurde bereits in § 2 diskutiert. Von gegenwärtigem Interesse ist die Anwendung, die Frege von seiner Unterscheidung in den ‚Grundlagen‘, §§ 45–54, macht. Genau vor diesen Abschnitten beschäftigt sich Frege damit, was Zahlen sind, wobei seine Ergebnisse fast durchgehend negativ sind: Zahlen sind weder physische Gegenstände, noch Sammlungen von Eigenschaften als solche, noch sind sie subjektive Vorstellungen. Frege schlägt nun vor, dass man in dieser Frage voranschreiten könne, wenn man fragt, wem oder was genau Zahlen zugeschrieben werden. Die entscheidende Beobachtung ist, dass ein und demselben Ding offenbar unterschiedliche Zahlen zugeschrieben werden können. Von einem Päckchen Karten könnte man beispielsweise sagen, sei ein Päckchen oder zweiundfünzig Karten. Frege leitet daraus ab, dass hieraus die Annahme folgen könne, die Zuschreibung von Zahlen sei subjektiv, d.h. abhängig von unserer Art über den fraglichen Gegenstand zu denken (§§ 25 f.). Was sich aber in unserer Art der Auffassung dieses Päckchens spezifisch unterscheidet, ist der ‚Begriff‘, den wir vorziehen zu gebrauchen, also das, was durch ‚(…) ist ein Päckchen‘ in dem einen Falle, oder durch ‚(…) ist eine Karte‘ in dem anderen Falle bezeichnet wird. Wenn wir mit Frege darauf bestehen, dass Begriffe und Tatsachen von Begriffen genauso objektiv sein können wie Gegenstände und Tatsachen von Gegenständen (siehe auch ‚Funktion und Begriff‘, § 48), dann besteht keine Notwendigkeit mehr, die Zahl als etwas Subjektives anzusehen. Stattdessen müssen wir erkennen, dass die Zahl nicht etwa Gegenständen, noch Sammlungen von Gegenständen, sondern Begriffen zugeordnet wird: 496
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„Wenn ich sage ‚Die Venus hat 0 Monde‘, so ist gar kein Mond oder Aggregat von Monden da, von dem etwas ausgesagt werden könnte; aber dem Begriff ‚Venusmond‘ wird dadurch eine Eigenschaft beigelegt, nämlich die, nichts unter sich zu befassen. Wenn ich sage: ‚der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen‘, so lege ich die Zahl vier dem Begriffe ‚Pferd, das den Wagen des Kaisers zieht‘ bei.“ (§ 46; Kursivdruck nicht im Original.) (Man beachte, dass wir ‚Venusmond‘ und ‚(…) ist ein Venusmond‘ zur Bezeichnung desselben Begriffs verwenden.) Oder wie Frege es in seiner berühmten Formulierung in § 55 sagt: „[D]ie Zahlangabe [enthält] die Aussage von einem Begriff.“ (d.h. der Inhalt einer Zahlaussage ist eine Behauptung über einen Begriff.) Hier lässt sich beobachten, wie Freges Interesse daran, was Zahlen sind, ihn zu einem Interesse am Wesen der Zuschreibung von Zahlen, und speziell zu einer Untersuchung der logischen Form entsprechender Aussagen führt. Nach Frege ist die grundlegendste Art und Weise der Bezugnahme auf eine Zahl jener eines Ausdrucks in der Form ‚die Zahl, die zu dem Begriff F gehört‘. Beispielsweise bezieht sich ‚die Zahl, die zu Begriff Mond der Erde gehört‘ auf die Zahl eins, denn es gibt genau einen Gegenstand, der ein Mond der Erde ist. Diese scheinbar harmlose sprachliche Behauptung spielt eine entscheide Rolle in Freges Darstellung, was Zahlen sind. 8. Die ‚Grundlagen der Arithmetik‘: das Kontext-Prinzip Frege bestritt sowohl, dass Zahlen physische Gegenstände sind, als auch, dass sie Gegenstände der Intuition im kantischen Sinne sind. In den ‚Grundlagen‘, § 62, wirft er deshalb die Frage auf, wie ‚uns die Zahlen gegeben sind, wenn wir keinerlei Vorstellungen oder Intuitionen von ihnen haben können‘. Diese Frage ist klar eine erkenntnistheoretische, insofern es darum geht, wie wir Wissen von Gegenständen der Arithmetik haben können (und damit von deren Wahrheit). Überraschend daran ist, wie Frege die Antwort hierauf angeht: „Da Worte nur im Kontext einer Aussage irgendeine Bedeutung haben, ist unser Problem, den Sinn von Aussagen zu definieren, in denen ein Zahlwort auftritt.“ Wie Michael Dummett betonte, vollzieht Frege hier den sog. linguistic turn (d.h. die Hinwendung zur sprachlichen Formulierung bestehender philosophischer Probleme) auf eine gründliche Weise. Was ganz selbstverständlich eine erkenntnistheoretische Frage war, wird hier zu einer Frage über die Sprache umgeformt. Die Frage lautet nun, wie wir Wissen von Zahlen haben können, wird nun zu der Frage, wie wir uns auf Zahlen beziehen, d.h. wie man erfolgreich über Zahlen sprechen kann. Frege schlägt vor, diese Frage dadurch zu beantworten, dass man ganze Sätze prüft, in denen Namen von Zahlen auftreten. An dieser Stelle kommt das zweite der grundlegenden Fregeschen Prinzipien, das Kontextprinzip, zur Anwendung. Frege weist jegliche Forderung zurück, seiner Leserschaft Zahlen zu ‚zeigen‘ oder anderweitig auf sie aufmerksam zu machen. Er hat bereits feststellt, dass dies unmöglich ist, weil Zahlen nicht in der Wahrnehmung anzutreffen sind (wir haben keine ‚Vorstellung‘ von ihnen), und auch nicht in der Intuition. Stattdessen besteht Frege darauf, dass man die Fähigkeit des Menschen, sich auf Zahlen zu beziehen, als sein Verständnis vollständiger Sätze verstehen sollte, in denen Zahlworte gebraucht werden. Das heißt, Frege wehrt sich dagegen zu sagen, worauf sich ‚null‘ bezieht, außer dann, wenn es darum geht zu sagen, was ein Satz wie ‚Null ist die Zahl, die zu dem Begriff Mond der Venus gehört‘ bedeutet. Genauer gesagt, er besteht darauf, dass 497
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die Erklärung der Bedeutung eines solchen Satzes heißt zu sagen, worauf sich ‚null‘ bezieht. Frege versucht diese Auffassung zu verallgemeinern. Tatsächlich betrifft seine eigene Diskussion dieser Frage nicht direkt die Zahlen, sondern den analogen Fall der Richtungen. So genannte abstrakte Gegenstände stellen ernsthafte philosophische Probleme dar, und zwar sowohl ontologischer, als auch erkenntnistheoretischer Art. Freges Strategie zur Verteidigung ihrer Existenz und zur Zerstreuung von Sorgen betreffend ihre kognitive Zugänglichkeit ist attraktiv und könnte durchaus der einzige gangbare Weg sein. Seine allgemeine Idee, dass unsere Fähigkeit, uns auf Gegenstände einer bestimmten Art zu beziehen, nur im Zusammenhang mit dem Verständnis von Sätzen erklärt werden kann, die Namen dieser Gegenstände enthalten, ist von fortdauerndem Einfluss. Doch kehren wir zu unserem eigentlichen Thema zurück. Das unmittelbare Ziel lautet hier die Bedeutung von Sätzen zu erklären, in denen auf Zahlen Bezug genommen wird. Frege behauptet, dass wir, wenn wir mit den Namen von Gegenständen zu tun haben, die wichtigsten Sätze dieser Art jene sind, die eine Identitätsbehauptung enthalten. Weil Frege Zahlen für Gegenstände hält, konzentriert er sich auf solche Sätze wie ‚Die Zahl, die dem Begriff Teller auf dem Tisch zukommt, ist dieselbe wie diejenige, die dem Begriff Gäste zum Abendbrot zukommt‘. Frege stellt fest, dass dieser Satz ausschließlich dann wahr sein wird, wenn es eine Möglichkeit gibt, die Teller den Gästen so zuzuordnen, dass jeder Gast genau einen Teller bekommt, und jeder Teller zu einem Gast gehört, d.h. ausschließlich dann, wenn es eine Eins-zueins-Korrelation zwischen Tellern und Gästen gibt. Oder allgemeiner, der Begriff F ist mit dem Begriff G ausschließlich dann gleichzahlig, wenn es eine Eins-zu-einsKorrelation zwischen den Gegenständen, die unter F fallen, und jenen, die unter G fallen, gibt. Der Gedanke ist nun dieser: die Zahl, die dem Begriff F zukommt = (ist gleich) die Zahl, die dem Begriff G zukommt, aber ausschließlich dann, wenn der Begriff F gleichzahlig mit dem Begriff G ist. Weil Frege dies mit einem Zitat von Hume einführt, wird dieser Gedanke manchmal auch das ‚Humesche Prinzip‘ genannt (1884: §§ 55–63). Dieses Prinzip war bereits seit einiger Zeit bekannt, es wurde aber erst durch das Werk von Georg Cantor in seiner ganzen mathematischen Bedeutung erkannt (siehe Mengentheorie). Natürlich muss die Vorstellung der Gleichzahligkeit, wenn das Humesche Prinzip irgendeine Rolle in Freges Versuch eines Beweises der Axiome der Arithmetik allein aus logischen Prinzipien spielen soll, in rein logischen Ausdrücken definierbar sein. Frege zeigt nun, dass dies möglich ist, wenn die allgemeine Theorie der Beziehungen als Teil der Logik akzeptiert wird (§§ 70 ff.). Aus Gründen, die nicht ganz klar sind, weist Frege die Behauptung zurück, dass Humes Prinzip zur Erklärung numerischer Identität ausreicht. Der von ihm genannte Grund (§ 66, vergleiche auch § 56) ist, dass das Humesche Prinzip nicht zu entscheiden vermag, ob Julius Cäsar die Zahl Null ist! Es gibt allerdings nur wenig Einigkeit über diese Beschwerde oder ihre argumentative Kraft. Humes Prinzip ist weiterhin wichtig für Frege, da er darauf besteht, dass aus jeder richtigen Erklärung von Zahlen das Humesche Prinzip relativ unmittelbar folgen muss. Er selbst zog sich auf eine explizite Definition der Namen von Zahlen zurück: die Zahl, die dem Begriff F zukommt ist die Extension des Begriffs zweiter Stufe ‚[…] ist ein Begriff, der gleichzahlig ist mit dem Begriff F.‘ (Grob gesagt, die Extension eines Begriffs 498
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ist die Sammlung der Dinge, die unter diesen Begriff fallen.) Frege zeigt, wie Humes Prinzip von dieser Definition abgeleitet werden kann (§ 73). Um die Definition und den Beweis zu präzisieren, muss er sich allerdings auf einige Axiome betreffend die Extensionen berufen. Freges in den ‚Grundgesetzen‘ entwickelte Idee ist, dass die Extensionen durch ein Prinzip analog zum Humeschen Prinzip beschrieben werden können, nämlich seinem V. Grundgesetz: die Extension des Begriffs F ist ausschließlich dann dieselbe wie die des Begriffs G, wenn genau dieselben Gegenstände unter die Begriffe F und G fallen (‚Grundgesetze‘, §§ 3, 20). Bekanntlich und unglücklicherweise zeigte Bertrand Russell jedoch Frege im Jahre 1902, dass die sich ergebende Theorie der Extensionen inkonsistent ist, weil Russells Paradox vom V. Grundgesetz in der Standardlogik zweiter Stufe abgeleitet werden kann (siehe Paradoxa der Menge und der Eigenschaft). 9. Freges formale Theorie der Arithmetik Die Geschichte der Fregeschen Arbeit an der Arithmetik könnte hier enden. In den ‚Grundlagen‘ skizziert Frege Beweise der Axiome für die Arithmetik (§§ 70–83), und in den ‚Grundgesetze‘ bietet er eine formale Fassung dieser Beweise an (§§ 78– 119). Fast ein Jahrhundert lang wurde diesen Beweisen allerdings keine Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar aus dem Grunde, weil Frege seine Theorie im Rahmen einer inkonsistenten Theorie führte, und in einer inkonsistenten Theorie kann alles bewiesen werden. Frege selbst entschied sich 1906, dass keine genügende Neuformulierung des V. Grundgesetzes möglich sei, und nach dem Tode seiner Frau im Jahre 1904 scheint er unter tiefen Depressionen gelitten zu haben. Er veröffentlichte zwischen 1908 und 1917 überhaupt nichts mehr, und danach nur noch drei Aufsätze. Eine nähere Betrachtung der Struktur der Fregeschen Beweise enthüllt jedoch einiges Interessantes. Wie bereits bemerkt, forderte Frege, dass seine explizite Definition der Namen von Zahlen Humes Prinzip impliziert, und er zeigt, das dies tatsächlich der Fall ist (unter der Voraussetzung des V. Grundgesetzes). Aber weder die explizite Definition, noch das V. Grundgesetz ist für den Beweis irgendeines anderen arithmetischen Theorems wesentlich; diese anderen Theoreme werden unter Verwendung lediglich der Logik zweiter Stufe und des Humeschen Prinzips bewiesen. Daher beweist Frege tatsächlich, dass Axiome der Arithmetik in der Logik zweiter Stufe allein von Humes Prinzip abgeleitet werden können. Frege selbst wusste dies, schätzte leider aber die philosophische und mathematische Bedeutung seines Ergebnisses gering. Dies ist nunmehr als Freges Theorem bekannt. Die Details des Fregeschen Beweises dieses Ergebnisses liegen jenseits dieses Beitrages. Aber einige wenige Punkte sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Erstens kann man nicht wirklich alle der unendlich zahlreichen Wahrheiten der Arithmetik ausgehend von logischen oder sonstigen Prinzipien beweisen. Vielmehr wird jeder Versuch des Nachweises, dass alle Wahrheiten der Arithmetik aus logischen Prinzipien oder aus dem Humeschen Prinzip folgen, von der Identifikation einer endlichen Anzahl grundlegender Gesetze oder Axiome der Arithmetik abhängen, von denen wir mit Gewissheit annehmen, dass alle anderen arithmetischen Wahrheiten daraus folgen. Die berühmtesten dieser Axiome sind jene von Dedekind (obwohl sie weithin als die Peano-Axiome bekannt sind). Frege wendet seine eigene Axiomatisierung an, die sich, obwohl ähnlich, doch in wichtigen Dingen unterscheidet und vermutlich intuitiver ist (‚Grundgesetze‘, §§ 128–157). 499
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10. Das Schicksal des Fregeschen Logizismus Frege bewies Freges Theorem, d.h. dass die Axiome der Arithmetik das Ergebnis einer logischen Ableitung zweiter Stufe des Humeschen Prinzips sind. Dies wäre vielleicht hinsichtlich des Umstandes interessant, dass das Humesche Prinzip, anders als das V. Grundgesetz, konsistent ist. Wenn man vom Humeschen Prinzip daher sagen kann, es sei eine logische Wahrheit, dann wären die Wahrheiten der Arithmetik, da sie logische Konsequenzen einer logischen Wahrheit sind, ebenfalls allesamt logische Wahrheiten, und der Logizismus wäre gerechtfertigt! Die Arbeit an Freges Philosophie der Arithmetik tendierte daher dazu, von Freges verunglückter, ausdrücklicher Definition zu abstrahieren und sich mit der Auffassung auseinanderzusetzen, die von Frege selbst zurückgewiesen wurde, nämlich dass die Namen von Zahlen durch das Humesche Prinzip definiert oder erklärt werden können. Heutzutage meint allerdings niemand mehr wirklich, dass das Humesche Prinzip eine logische Wahrheit ist. Vielleicht halten es manche noch für bestimmte Arten von Definitionen für geeignet, oder für eine philosophische Erklärung von Zahlen. Wenn sich die Wahrheiten der Arithmetik aber als logische Konsequenzen einer Erklärung erweisen, so argumentiert Crispin Wright, ist dies nicht ebenso viel wert, wie wenn sie Wahrheiten der Logik wären? Diese Auffassung ist attraktiv genau deshalb, weil das Humesche Prinzip etwas sehr Grundlegendes bezüglich der kardinalen Zahlen zu erfassen scheint: zu sagen, dass die Zahl, die dem Begriff F zukommt, dieselbe ist wie jene, die G zukommt, und zwar ausschließlich dann, wenn die Begriffe F und G gleichzahlig sind, scheint eine sehr gute Erklärung dessen zu sein, was kardinale Zahlen sind. Dennoch gibt es auch hier ernsthafte Probleme. Sagt man, die Extension von F sei dieselbe wie G ausschließlich dann, wenn dieselben Gegenstände unter F und G fallen, scheint auch ein guter Weg zu sein um zu erklären, was eine Extension ist – so lange bis man erkennt, dass diese Erklärung inkonsistent ist. Das Humesche Prinzip ist zwar nicht inkonsistent, aber man kann sich fragen, ob es wirklich einen Erklärungswert für die Frage hat, was Zahlen sind, wenn ein derartig verwandtes Prinzip nicht einmal als wirkliche Erklärung dafür angesehen werden kann, was Extensionen sind. Es ist diese Debatte, in der George Boolos und Michael Dummett den ‚Einwand der schlechten Gesellschaft‘5 erhoben, wo sich das Schicksal des Fregeschen Logizismus entscheiden wird. Siehe auch: Intuitionistische Logik und Antirealismus; Bedeutung und Wahrheit Anmerkungen und weitere Lektüre: Dummett, M. (1973): ‚Frege: Philosophy of Language‘, London: Duckworth, 2. Aufl. 1992. (Dies ist eine lange und schwierige, aber hervorragende und fruchtbare Studie der Fregeschen Auffassungen über die Sprache und die Logik.) Frege, G. (1884): ‚Die Grundlagen der Arithmetik: eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl‘. Breslau: Koebner. Neuauflagen bei ReAuf Englisch: The bad company objection. Die Neo-Fregeaner kommen in Erklärungsnot, wenn man sie fragt, wieso bestimmte Abstraktionsprinzipien analytisch sind (z.B. das Humesche Prinzip), und andere nicht. Die einfache Antwort, dass das eine von beiden einfach inkonsistent sei, ist nicht ausreichend. Denn George Boolos zeigte im Jahre 1998, dass es Paare von Abstraktionsprinzipien gibt, von denen jedes einzelne für sich, d.h. isoliert gesehen, konsistent ist, die jedoch im Falle ihres gemeinsamen Auftretens inkonsistent werden. Dies ist Boolos’ ‚Einwand der schlechten Gesellschaft‘. [WS]
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clam und Meiner. (Enthält auch eine Kritik der damals bestehenden Auffassungen über das Wesen der Arithmetik, die Motivation für Freges eigenen Vorschlag und informelle Beweise für die Gesetze der Arithmetik. Dies ist einer der zentralen Texte von Frege.) ALEXANDER GEORGE, RICHARD HECK
Freie Logiken
Wir müssen oft über Dinge nachdenken, die nicht oder vielleicht nicht existieren. Wir möchten beispielsweise beweisen, dass es keine höchste Primzahl gibt, indem wir seine Existenz annehmen und daraus einen Widerspruch ableiten. Unsere gewöhnliche formale Logik, d.h. alle Logik einschließlich der Standard-Quantorenlogik, geht jedoch automatisch davon aus, dass jeder verwendete Einzelausdruck etwas bezeichnet: wenn man den Ausdruck ‚Gott‘ verwenden kann – und sofern dieser Ausdruck Teil unserer Sprache ist – so gibt es nach dieser Auffassung automatisch auch ein Denotat (ein Bezeichnetes) dafür, und das bedeutet: Gott existiert. Einige Logiker dachten, dass diese Annahme voreilig über viele wichtige Fragen ein Urteil fällt, und dass es folglich am besten wäre, auf sie zu verzichten. Deshalb konstruierten sie Logiken, die frei von diesen Annahmen waren. Diese heißen ‚freie Logiken‘. Siehe auch: Existenz ERMANNO BENCIVENGA
Freier Wille Einführung ‚Freier Wille‘ ist die konventionelle Bezeichnung eines Diskussionsgegenstandes, den man am besten ohne Bezugnahme auf den Willen bespricht. Seine zentrale Fragen lauten: ‚Was heißt es, frei zu handeln oder eine freie Wahlentscheidung zu treffen?‘ und ‚Was heißt es, moralisch für Handlungen oder Wahlentscheidungen verantwortlich zu sein?‘. Diese beiden Fragen sind eng miteinander verbunden, denn die Handlungsfreiheit ist zur Begründung der moralischen Verantwortung notwendig, selbst wenn sie hierfür keine hinreichende Bedingung darstellt. Die Philosophen geben sehr unterschiedliche Antworten auf diese Fragen, und sie stellen auch noch zwei weitere, spezifischere Fragen über uns: (1) Sind wir freie Akteure? und (2) Kann man uns moralisch für das zur Verantwortung ziehen, was wir tun? Antworten auf (1) und (2) reichen von ‚ja / ja‘ über ‚ja / nein‘ und verschiedene Stufen von ‚vielleicht / möglicherweise‘ oder auch ‚in gewissem Sinne‘ bis hin zu ‚nein / nein‘. (Das klare Antwort-Paar ‚ja / nein‘ ist selten, wird aber von einigen Protestanten akzeptiert.) Unter den ‚ja / ja‘-Vertretern ragen die Kompatibilisten heraus, die meinen, dass der freie Wille mit dem Determinismus kompatibel (vereinbar) ist. Kurz gesagt ist der Determinismus die Auffassung, dass alles, das passiert, notwendig infolge dessen geschieht, was schon zuvor geschehen ist, und zwar auf solche Weise, dass nichts anders geschehen kann, als es gerade geschieht. Nach den Kompatibilisten ist die Freiheit mit dem Determinismus vereinbar, weil die Freiheit im Kern daraus folgt, dass man nicht auf bestimmte Weise eingeschränkt oder behindert wird, wenn man handelt oder eine freie Wahlentscheidung trifft. Daher sind normale erwachsene Menschen unter normalen Umständen imstande, frei zu handeln und freie Wahlentscheidungen zu treffen. Niemand hält ihnen eine Pistole an die Schläfe. Sie stehen nicht unter Drogen und liegen nicht in Ketten, und sind auch 501
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keinem psychischen Zwang ausgesetzt. Sie sind deshalb vollkommen frei zu wählen und zu handeln, selbst wenn ihre gesamte psychische und physische Verfassung komplett durch Dinge determiniert ist, für die sie letztlich nicht verantwortlich sind, angefangen bei ihrem genetischen Erbe und ihrer frühen Kindheit etc. Die Inkompatibilisten meinen dagegen, dass die Freiheit mit dem Determinismus nicht zu vereinbaren ist. Sie weisen darauf hin, dass jede unserer Handlungen, wenn der Determinismus wahr wäre, so geschehen müsste, wie dies schon feststand, bevor wir überhaupt geboren waren. Sie behaupten, dass man unter diesen Umständen niemanden für wirklich frei und damit auch letztendlich nicht für moralisch verantwortlich erklären kann. Sie meinen, der Kompatibilismus sei nur eine elende List und belanglose Wortspielerei, wie Kant sie in seiner Kritik der reinen Vernunft (1788) nannte. Er versage vollständig bei der Festigung unserer selbstverständlichen Überzeugung über das Wesen der moralischen Verantwortung. Die Inkompatibilisten sehen in dieser Diskussion recht gut aus und können in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die Freidenker antworten ‚ja / ja‘ auf die Fragen (1) und (2). Sie behaupten, dass wir tatsächlich frei und vollkommen moralisch verantwortliche Akteure sind, und dass der Determinismus folglich falsch sein muss. Ihre große Schwierigkeit ist es allerdings zu erklären, warum die Falschheit des Determinismus bei der Feststellung unserer Handlungsfreiheit und moralischen Verantwortung überhaupt besser ist als seine Wahrheit. Denn angenommen, nicht jedes Ereignis sei determiniert und manche Ereignisse geschehen folglich zufällig: was hilft es unserem Anspruch auf moralische Verantwortung, wenn es teilweise dem Zufall zu verdanken ist, dass wir und unsere Handlungen so sind, wie sie sich zeigen? Die zweite Gruppe der Inkompatibilisten ist weniger zuversichtlich. Sie antworten ‚nein / nein‘ auf die Fragen (1) und (2). Sie stimmen mit den Freidenkern darin überein, dass die Wahrheit des Determinismus eine echte moralische Verantwortung ausschließt, wenden aber ein, dass die Falschheit des Determinismus uns auch nicht weiterhilft. Entsprechend kommen sie zu dem Schluss, dass wir keine wirklich freien Akteure sind und auch nicht wirklich moralisch verantwortlich, egal ob der Determinismus wahr ist oder nicht. Eines ihrer Argumente kann man wie folgt zusammenfassen. Wenn jemand handelt, so tut er dies auf genau diese Weise, weil er auf eine bestimmte Weise beschaffen ist. Um also für seine Handlungen wirklich moralisch verantwortlich zu sein, müsste jemand auch wirklich verantwortlich dafür sein, wie er beschaffen ist, d.h. jemand müsste seine eigene Ursache (causa sui) sein, jedenfalls zumindest in bestimmter, entscheidender mentaler Hinsicht. Es kann aber nichts causa sui sein, d.h. nichts kann letztlich in irgendeiner Hinsicht die Ursache seiner selbst sein. Also kann auch nichts bzw. niemand wirklich moralisch verantwortlich sein. Entwickelt man dieses Argument gegen die moralische Verantwortung richtig weiter, so scheint es sehr stark zu sein. Vielen Menschen vermittelt ihre Erfahrung der Wahlentscheidung aber die Überzeugung einer absoluten Verantwortung, die von philosophischen Argumenten unberührt ist. Diese Überzeugung sitzt tief und ist die unerschöpfliche Quelle des Problems des freien Willens; kraftvolle Argumente, die zu beweisen scheinen, dass wir moralisch letzten Endes nicht in der Weise zur Verantwortung gezogen werden können, wie wir dies annehmen, stehen gleichermaßen machtvollen psychologischen Gründen gegenüber, warum wir beharrlich glauben, das wir letzten Endes doch moralische Verantwortung tragen. 502
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1. Der Kompatibilismus 2. Der Inkompatibilismus 3. Der Pessimismus 4. Moralische Verantwortung 5. Metaphysik und Moralpsychologie 6. Herausforderung des Pessimismus 1. Der Kompatibilismus Haben wir einen freien Willen? Das hängt davon ab, was man mit dem Wort ‚frei‘ meint. Es lassen sich mehr als 200 Bedeutungen dieses Wortes unterscheiden. Die Geschichte der Diskussion des freien Willens ist gehaltvoll und bemerkenswert. David Hume nannte das Problem des freien Willens ‚die strittigste Frage der Metaphysik, die selbst die strittigste Wissenschaft ist‘. (‚Untersuchung über den menschlichen Verstand‘; 1748). Den Kompatibilisten zufolge besitzen wir einen freien Willen. Sie vertreten einen Sinn des Wortes ‚frei‘, nach dem der freie Wille mit dem Determinismus vereinbar ist, und dies, obwohl der Determinismus die Auffassung bezeichnet, dass die Geschichte des Universums dergestalt fixiert ist, dass nichts anders geschehen kann, als es tatsächlich geschieht, weil alles, was geschieht, notwendig aus dem folgt, was schon zuvor geschehen ist (siehe Determinismus und Indeterminismus). Angenommen, morgen sei ein nationaler Feiertag. Sie denken darüber nach, was Sie an diesem Tag unternehmen könnten. Sie könnten einen Berg besteigen oder Lao Tse lesen. Sie könnten Ihr Fahrrad reparieren oder in den Zoo gehen. Genau in diesem Moment lesen Sie nun die ‚Routledge Encyclopedia of Philosophy‘. Sie können sich frei entscheiden, ob Sie weiter lesen wollen oder damit jetzt aufhören. Sie haben mit diesem Satz begonnen, aber Sie müssen ihn … nicht zu Ende lesen! In dieser Situation haben Sie, wie so oft im Leben, eine Reihe von Wahlmöglichkeiten. Nichts zwingt Ihre Hand. Es scheint ganz selbstverständlich zu sein, wenn man sagt, dass Sie vollkommen frei in Ihrer Wahl sind, was Sie tun möchten. Und in Anbetracht des Umstandes, dass Sie nichts daran hindert, scheint es auch ganz selbstverständlich zu sein, wenn man sagt, dass sie vollkommen frei gerade das tun, für das Sie sich gerade entschieden haben. Die Kompatibilisten behaupten, dass diese Auffassung die richtige ist. Sie glauben, einen freien Willen zu haben, um damit frei wählen und handeln zu können, heißt nicht mehr als frei von Einschränkungen bestimmter Art zu sein. Freiheit ist eine Frage der Abwesenheit physischen oder psychischen Zwanges, d.h. dass man zu nichts gezwungen wird. Der Charakter, die Persönlichkeit, die Vorlieben und allgemeine motivationale Zustände mögen vollkommen durch Ereignisse bestimmt sein, für die man in keiner Weise verantwortlich ist (beispielsweise durch das genetische Erbe, das Aufwachsen, die nachfolgende Erfahrung etc.). Man darf nur nicht unter der aktuellen Kontrolle einer dieser Umstände stehen, dann ist man nach kompatibilistischer Auffassung frei. Diese Umstände stellen an und für sich gesehen keinen Zwang dar, denn die kompatibilistische Freiheit stellt schlicht darauf ab, dass man zu einer Wahlentscheidung imstande ist und auf diejenige Weise handelt, die man bevorzugt, oder von der man meint, sie sei unter den gegebenen Umständen das beste für einen. Wie schon der Name sagt, ist diese Auffassung mit dem Determinismus vereinbar. Sie ist mit ihm sogar noch dann vereinbar, wenn aus 503
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dem Determinismus folgt, dass jeder Aspekt unseres Charakters und alles, was wir jemals tun werden, bereits unvermeidlich war, bevor wir überhaupt geboren wurden. Wenn aber nicht einmal der Determinismus als Beschränkung oder Zwang gilt, was dann? Die Kompatibilisten sind normalerweise der Meinung, dass die Freiheit durch solche Dinge wie Gefängnisse, auf den Kopf einer Person gerichtete und geladene Gewehre oder die Bedrohung des Lebens der Kinder einer Person, oder auch durch eine psychische Besessenheit etc. eingeschränkt werden kann. Es lässt sich jedoch bestreiten, dass die kompatibilistische Freiheit etwas ist, was jemand unvermindert so lange besitzt, wie er überhaupt auf irgendeine Weise handeln oder sich entscheiden kann. Jemand besitzt diese Freiheit auch noch in solchen Situationen, in der er zwar noch nicht von Panik überwältigt oder buchstäblich gezwungen ist, etwas Bestimmtes auf eine Weise zu tun, wo man aber von ihm kaum mehr mit Bestimmtheit sagen kann, er handele oder wähle frei (wie wenn jemand einen Knopf drückt, weil sein Finger tatsächlich von einer Kraft auf den Knopf herabgedrückt wird). Man stelle sich die Piloten eines entführten Flugzeuges vor. Normalerweise bleiben sie ruhig. Sie wählen die Handlungsmöglichkeit, den Forderungen der Entführer nachzukommen. Sie handeln verantwortlich, würden wir ganz selbstverständlich sagen. Sie wären durchaus in der Lage sich anders zu verhalten, als sie es tatsächlich tun, aber sie entscheiden sich dafür, dies nicht zu tun. Sie tun, was sie unter den gegebenen Umständen am ehesten tun wollen. Alle Umstände beschränken unsere Wahlmöglichkeiten auf die oder andere Weise. Es ist wahr, dass einige Umstände unsere Wahlmöglichkeiten auf drastische Weise stärker einschränken als andere; aber daraus folgt nicht, dass jemand unter diesen Umständen nicht frei ist zu wählen. Nur der buchstäbliche Zwang, die Panik oder unkontrollierbare Impulse beseitigen unsere Freiheit der Wahl und damit unsere Freiheit, das zu tun, was wir in Anbetracht unseres Charakters und unserer Persönlichkeit am ehesten tun möchten. Selbst wenn unser Finger mit Gewalt auf den Knopf herabgedrückt wird, kann man sich immer noch frei entscheiden, diesem Druck Widerstand zu leisten, nebst anderen Möglichkeiten. Die meisten von uns besitzen der kompatibilistischen Konzeption der Freiheit zufolge diese Wahlfreiheit während unseres gesamten Wachzustandes. Wie sind frei darin, uns zwischen den Wahlmöglichkeiten zu entscheiden, die wir als für uns verfügbar wahrnehmen. (Manchmal würden wir lieber keine Wahlmöglichkeiten sehen, sind aber außerstande, den Fakt zu leugnen, dass diese Möglichkeiten tatsächlich bestehen.) Man besitzt diese Möglichkeiten selbst dann noch, wenn man in Ketten liegt oder durch den freien Raum fällt. Selbst wenn jemand vollkommen gelähmt ist, ist er immer noch insofern frei, als er sich entscheiden kann, an die eine oder an eine andere Sache zu denken. Sartre beobachtete, dass wir in gewissem Sinne zur Freiheit ‚verdammt‘ sind, und nicht frei dazu. Natürlich sind wir nicht imstande, einfach alles zu tun, was wir möchten; jemand möchte beispielsweise ohne Hilfe fliegen, alle Schusswaffen in den USA durch reine Gedankenkraft in Staub auflösen oder bis zum Ende des Monats für alle Obdachlosen von Kalkutta eine Bleibe schaffen. Aber nur wenige verstanden den freien Willen oder das freie Handlungsvermögen so, dass es bedeute, man könne alles tun, was man sich nur irgend vorstelle. Dies ist zwar eine mögliche Sichtweise dessen, was es heißt, frei zu sein. Den Kompatibilisten zufolge ist der freie Wille 504
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nicht anderes, als dass wir echte Wahlfreiheit und Handlungsmöglichkeiten haben, und dass wir in der Lage sind zwischen ihnen zu wählen, je nachdem, was einer möchte oder was er für das Beste hält. Hierauf ließe sich einwenden, dass nach diesem kompatibilistischen Rahmen auch Hunde oder andere Tiere freie Agenten sein können. Hierauf könnten die Kompatibilisten wiederum antworten, dass Hunde in der Tat freie Akteure sein können. Gleichwohl meinen wir nicht, dass Hunde frei oder moralisch verantwortlich in dem Sinne seien, wie wir dies sein können. Deshalb müssen die Kompatibilisten den relevanten Unterschied zwischen z.B. Hunden und uns angeben. Viele meinen, dass es unsere Fähigkeit zum seiner selbst bewussten Denken ist, dass diesen entscheidenden Unterschied ausmacht, denn diese Fähigkeit ermöglicht es uns, ausdrücklich unserer selbst bewusst zu sein als jemand, der vor einer Wahl steht und an einem Prozess des Nachdenkens darüber beteiligt ist, was zu tun ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass uns das Selbstbewusstsein auf irgendeine Weise von den Tatsachen des Determinismus befreien kann. Wenn der Determinismus wahr ist, so sind wir auch genau zu jenen selbstbewussten Gedanken bestimmt, die wir gerade haben, egal wie komplex sie sind. Und dennoch neigen viele dazu, das ausdrückliche Bewusstsein eines Geschöpfes seiner selbst als einem Wählenden und Handelnden als das zu sehen, was seine freie Akteursrolle ausmacht, und zwar auf eine fundamentale Weise, die einem seiner selbst unbewussten Akteur nicht zur Verfügung steht. Kompatibilisten können dem zustimmen. Sie können die Sichtweise anerkennen und mit der ihrigen in Einklang bringen, dass das Bewusstsein seiner selbst als jemandem, der vor Wahlentscheidungen steht, zu einer Art von Freiheit führen kann, dass dem seiner selbst unbewussten Akteur unzugänglich ist. Sie werden vielleicht hinzufügen, dass sich Menschen von Hunden stark durch ihre Fähigkeit unterscheiden, aus Gründen zu handeln, die sie ausdrücklich für moralische Gründe halten. Der Kompatibilismus tritt in vielen Varianten auf. In der Fassung von Harry Frankfurt besitzt jemand beispielsweise einen freien Willen, wenn er zu einer Handlung durch die Motive bewegt sein möchte, die ihn auch tatsächlich zum Handeln brachten. Nach dieser Auffassung ist die Freiheit eine Frage der Persönlichkeit, die auf eine bestimmte Weise harmonisch ist. Eine Freiheit in diesem Sinne ist ohne weiteres mit dem Determinismus vereinbar. Der Kompatibilismus wurde auf vielerlei Weise verfeinert, und hier werden nur seine Grundlagen vermittelt. ‚Wie könnte die Handlungsfreiheit möglicherweise noch aussehen?‘ fragen die Kompatibilisten häufig (und werden dabei, neben anderen, von Hobbes, Locke und Hume gedeckt). Und dies ist eine sehr mächtige Frage. 2. Der Inkompatibilismus Diejenigen, die auf die Schlussfolgerung hinaus wollen, dass wir freie Akteure sind, tun gut daran, sich einer kompatibilistischen Theorie der Freiheit anzuschließen, denn der Determinismus ist unfalsifizierbar und könnte wahr sein. (Die zeitgenössischen Physiker geben uns keinen stärkeren Anlass zu der Annahme, dass der Determinismus falsch sei, als zu der entgegengesetzten Annahme, dass er wahr sei, obwohl dies strittig ist. Für weitere Diskussionen hierzu siehe Determinismus und Indeterminismus).
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Was bedeutet es, so sagen sie, wenn man die Freiheit auf eine Weise definiert, dass sie mit dem Determinismus vereinbar ist? Man müsste sie dann auf eine Weise definieren, dass ein Geschöpf ein freier Akteur sein kann, selbst wenn alle seine Handlungen während seines gesamten Lebens determiniert sind so zu verlaufen, wie sie es infolge von Ereignissen tatsächlich tun, die bereits stattfanden, bevor dieses Geschöpf überhaupt geboren war. Dies würde bedeuten, dass es in seinem Leben keinen einzigen Moment gab, in dem es anders hätte handeln können, als es tatsächlich tat. Das, sagen sie, ist sicherlich kein freier Wille. Und was noch wichtiger ist: dies ist keine ausreichende Grundlage zur Behauptung einer wirklichen moralischen Verantwortung. Jemand kann nicht wirklich oder letztlich moralische Verantwortung tragen, wenn alles, was er tut, am Ende das deterministische Ergebnis von Ereignissen ist, die stattfanden, bevor er geboren wurde, d.h. allgemein für das Ergebnis von Ereignissen, für deren Eintritt er letztlich gar nicht verantwortlich ist. Diese Anti-Kompatibilisten oder Inkompatibilisten teilen sich in zwei Gruppen: die Libertären und die Unfreiheitstheoretiker oder die Pessimisten bezüglich des freien Willens und der moralischen Verantwortung. Die Libertären meinen, dass die kompatibilistische Darstellung der Freiheit verbesserungsfähig ist. Sie meinen (1), dass wir einen freien Willen haben, und (2), dass der freie Wille mit dem Determinismus nicht vereinbar ist, sowie (3), dass der Determinismus deshalb falsch ist. Hier stehen sie allerdings vor einer extrem schweren Aufgabe: sie müssen zeigen, wie der Indeterminismus (die Falschheit des Determinismus) dem freien Willen überhaupt förderlich sein kann, und speziell der moralischen Verantwortung. Die Pessimisten oder Unfreiheitstheoretiker glauben nicht, dass man dies zeigen kann. Sie sind sich mit den Libertären darin einig, dass die kompatibilistische Darstellung des freien Willens unangemessen ist, aber sie sehen nicht, wie man sie verbessern könnte. Sie sind sich ferner darin einig, dass der freie Wille mit dem Determinismus nicht vereinbar ist, leugnen aber, dass der Indeterminismus uns (bzw. überhaupt jemandem) dabei helfen kann, frei zu sein. Sie meinen, dass der freie Wille oder dasjenige, dessen wir für eine echte moralische Verantwortung bedürfen, nachweislich unmöglich ist. Die Pessimisten bezüglich des freien Willens geben zu, was jeder zugeben muss, nämlich dass es eine klare und wichtige kompatibilistische Vorstellung davon gibt, nach der wir freie Akteure sein können (d.h. wir können, wenn wir nicht eingeschränkt sind, frei wählen und in Anbetracht dessen, wer wir sind, tun, was wir möchten oder wovon wir meinen, dass es das Beste für uns sei). Sie bestehen aber darauf, dass dieses kompatibilistische Verständnis von Freiheit nicht ausreicht; es gibt uns nicht das, was wir als freien Willen suchen, noch gibt es uns das, was wir bereits zu besitzen meinen. Und die Kompatibilisten vermissen ja gar nichts. Tatsächlich bekommen wir nirgendwo das, was wir uns wünschen oder uns zu wünschen meinen, oder auch, was wir üblicherweise bereits zu haben meinen. Alle Versuche zur Lieferung eines starken Begriffs des freien Willens schlagen fehl. Wir können nicht auf eine moralisch absolut sichere Weise verantwortlich sein, wie wir dies oft auf unreflektierte Weise annehmen. Wir können keinen ‚starken‘ freien Willen jener Art haben, den wir haben müssten, um auf eine solche Weise moralisch verantwortlich zu sein. Der fundamentale Antrieb der Debatte über den freien Willen liegt in der Sorge über die moralische Verantwortlichkeit (siehe Verantwortung). Wenn sich niemand 506
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mit dieser Sorge trüge, wäre es zweifelhaft, ob das Problem des freien Willens überhaupt jemals zu philosophischer Berühmtheit gelangt wäre. Der Rest dieser Diskussion wird sich folglich um die Frage der moralischen Verantwortlichkeit bemühen. Zunächst muss allerdings bemerkt werden, dass die Sorge über den freien Willen sich nicht notwendig als eine Sorge über die Gründe moralischer Verantwortlichkeit zeigen muss. Der Glaube an den freien Willen mag ein integraler Bestandteil von Gefühlen sein, die uns extrem wichtig sind, und zwar unabhängig von der Frage nach der moralischen Verantwortung, z.B. von Gefühlen der Dankbarkeit oder auch der Liebe. Unser Glaube in einen starken freien Willen mag auch einfach von der Überzeugung getrieben sein, dass wir unsere Handlungen radikal selbst bestimmen können (auf eine Weise, die mit dem Determinismus unvereinbar ist). Zu dieser Überzeugung bedarf es keines großen Gedankenaufwandes über moralische Verantwortung. Die Geschöpfe scheinen sich selbst sogar dann noch als etwas radikal Selbstbestimmtes aufzufassen, wenn sie überhaupt keinen moralischen Begriff von richtig und falsch haben, d.h. selbst dann noch, wenn sie überhaupt keine moralischen Akteure sind. 3. Der Pessimismus Eine Form der Darstellung der Auffassung des Unfreiheitstheoretikers lässt sich folgendermaßen beschreiben: (1) Wenn jemand handelt, so handelt er entsprechend der Situation, in der er sich befindet und deshalb auf eine bestimmte Weise, weil er so und so beschaffen ist. Daraus scheint zu folgen: (2) Um wirklich oder letztlich moralisch für das verantwortlich zu sein, was man tut, muss man wirklich oder letztlich verantwortlich sein für die Art und Weise, wie man beschaffen ist, zumindest in der entscheidenden mentalen Hinsicht. (Offenkundig muss man nicht verantwortlich sein für alle Aspekte der eigenen Beschaffenheit. Man muss beispielsweise nicht für seine Körpergröße, für sein Alter, sein Geschlecht etc. verantwortlich sein. Aber man scheint doch die Verantwortung für die eigene Beschaffenheit hinsichtlich einiger mentaler Aspekte tragen zu müssen. Schließlich ist es der geistige Gesamtzustand, der jemanden zu einer bestimmten Handlung führt.) Aber: (3) Man kann letztlich überhaupt nicht für seine eigene Beschaffenheit verantwortlich sein, und folglich kann man letztlich auch nicht moralisch verantwortlich dafür sein, was man tut. Warum kann man letztlich nicht für seine Beschaffenheit verantwortlich sein? Der Grund hierfür ist: (4) Um letztlich verantwortlich zu sein für die eigene Beschaffenheit, müsste man diese eigene Beschaffenheit absichtlich herbeigeführt haben, was unmöglich ist. Diese Unmöglichkeit ergibt sich folgendermaßen: (5) Angenommen, man habe absichtsvoll die eigene, aktuelle Beschaffenheit hervorgebracht, und zwar in gewisser mentaler Hinsicht. Angenommen, man habe es beispielsweise absichtlich herbeigeführt, dass man eine bestimmte mentale Beschaffenheit N aufweist, und man habe diese Beschaffenheit auf eine Art und Weise 507
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bewirkt, dass man von dieser Person nunmehr sagen kann, sie sei letztlich dafür verantwortlich, dass sie die Beschaffenheit N aufweist. (Der Grenzfall dieser Situation wäre es, wenn man lediglich der bereits bestehenden mentalen Beschaffenheit N zugestimmt hat, und zwar von einer Position aus, in der man die Macht hatte, dies zu ändern.) Damit dies wahr ist, müsste folgendes der Fall sein: (6) Man müsste bereits eine bestimmte mentale Beschaffenheit N-1 aufweisen, infolge derer man bewirkte, dass man nunmehr die Beschaffenheit N aufweist. (Wenn man gar keine bestimmte mentale Beschaffenheit aufweist, kann man auch keine Absichten oder Präferenzen haben, und daraus folgte, dass man selbst für irgendeine eingetretene Änderung zu der jetzigen Beschaffenheit nicht verantwortlich gemacht werden könnte.) Dann aber gälte: (7) Damit es wahr ist, dass jene Person ganz allein und wirklich dafür verantwortlich ist, wie sie genau jetzt beschaffen ist, müsste sie wirklich verantwortlich dafür sein, dass sie sich zuvor im Zustand N-1 befand, aus dem heraus sie bewirkte, dass sie jetzt die Beschaffenheit N aufweist. Daraus folgt: (8) Man müsste absichtlich bewirkt haben, dass man die Beschaffenheit N-1 aufweist. In diesem Falle müsste man sich zuvor jedoch bereits in dem Zustand N-2 befunden haben, aus dem heraus man es bewirkte, danach in dem Zustand N-1 zu sein. Und so fort. Hieraus ergibt sich ein unendlicher Regress. Damit jemand letztlich oder wirklich verantwortlich dafür sein kann, wie er jetzt beschaffen ist, und zwar so, dass er auch wirklich moralisch verantwortlich dafür ist, was er tut, müsste etwas Unmögliches wahr sein: es müsste einen Anfangspunkt in der Wirkungsreihe geben, aus der sich die bestimmte Beschaffenheit der Person ergibt, d.h. einen Anfangspunkt, der eine Handlung der äußersten Selbsthervorbringung darstellt. Dies ist nicht möglich. Es gibt eine knappere Form der Darstellung, worum es hier geht: Damit jemand wirklich moralisch verantwortlich für das sein kann, was er tut, scheint er letztlich die Ursache seiner selbst sein zu müssen, oder zumindest einiger entscheidender Aspekte des eigenen mentalen Zustandes. Man müsste seine causa sui sein, in alter Begrifflichkeit gesprochen. Selbst wenn die Eigenschaft causa sui zu sein, auf uneinsehbare Weise Gott zugeschrieben würde, so kann doch nicht einfach angenommen werden, dass auch einfache endliche Menschen sie besitzen. „Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Notzucht und Unnatur […]“, bemerkte Nietzsche in ‚Jenseits von Gut und Böse‘: „[…] eine Art logischer Notzucht und Unnatur; aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach ‚Freiheit des Willens‘, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstand, wie er leider noch immer in den Köpfen der HalbUnterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausenschen Verwegenheit, sich selbst aus dem 508
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Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehen.“ (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Werke Bd. 2, S. 584). Tatsächlich verwendet praktisch niemand derjenigen, die an einen starken freien Willen glauben, einen Gedanken darauf, dass dies eine ursprüngliche Selbsterzeugung erfordert. Und dies ist das Einzige, was wirklich jene Art von freiem Willen begründen könnte, an den wir normalerweise glauben. So scheint es also, dass sich der Glaube an irgendeine radikale Verantwortung für den eigenen mentalen Zustand, und zumindest für seine entscheidenden Aspekte, nur als ein sehr vager und notwendig unüberprüfter Glaube äußert. Die Argumentation des Pessimisten wirkt vielleicht etwas konstruiert. Sie kann aber genauso gut auch auf eine natürlichere Art geführt werden. (i) Es lässt sich nicht leugnen, dass jemand seine Beschaffenheit als ursprüngliches Ergebnis seines angeborenen Erbes und seiner frühkindlichen Erfahrung vorfindet. (ii) Es lässt sich nicht leugnen, dass man für diese Dinge niemanden auf irgendeine Weise verantwortlich machen kann (was allerdings nicht wahr sein muss, wenn es eine Reinkarnation gibt; aber die Reinkarnation würde das Problem auch nur ‚rückwärts‘ verschieben). (iii) Man kann für spätere Stationen seines Lebens nicht darauf hoffen, eine wahre oder abschließende Verantwortlichkeit dafür zu erlangen, wie man beschaffen ist, indem man die Art und Weise seiner Beschaffenheit als das Ergebnis des eigenen genetischen Erbes oder vorangehender Erfahrung zu ändern versucht. Zwar mag man sich durchaus um eine Veränderung seiner selbst bemühen, aber (iv) sowohl der spezifische Weg, auf dem man versucht, sich zu ändern, als auch der Umfang des Erfolgs solcher Bemühung wird wiederum nur das Ergebnis des angeborenen Erbes und der vorangehenden Erfahrung sein. Und (v) alle weiteren Änderungen, die jemand zu bewirken vermag, nachdem er bereits einige anfängliche Änderungen hervorgebracht hat, werden wieder über die ursprünglichen Änderungen determiniert sein, d.h. durch angeborenes Erbe und vorangehende Erfahrung. (vi) Diese Darstellung ist vielleicht nicht vollständig, denn einige der Änderungen der Art und Weise, wie jemand beschaffen ist, könnten eventuell auf indeterministische oder zufällige Faktoren zurückführbar sein. (vii) Es wäre aber dumm anzunehmen, dass indeterministische oder zufällige Faktoren, für die ex hypothesis niemand verantwortlich ist, aus sich heraus etwas dazu beitragen zu können, dass jemand wirklich oder letztlich dafür verantwortlich ist, wie er beschaffen ist. Die Behauptung lautet deshalb nicht etwa, dass die Menschen ihren Zustand nicht ändern können. In bestimmter Hinsicht können sie dies durchaus (was tendenziell von Nordamerikanern übertrieben, und vielleicht von Mitgliedern vieler anderer Kulturen unterschätzt wird). Die Behauptung lautet lediglich, dass die Menschen nicht davon ausgehen können, dass sie sich auf eine solche Art und Weise ändern können, dass sie dadurch wirklich und letztendlich verantwortlich dafür werden, wie sie beschaffen sind, und deshalb auch für das, was sie tun. Man kann dies auf den Punkt bringen, indem man sagt, dass der eigene Zustand letztlich und bis ins letzte Detail eine Sache des Glücks oder des Unglücks ist. 4. Moralische Verantwortung Zwei Hauptfragen werden durch die pessimistische Argumentation aufgeworfen. Zunächst fragt sich, ob es wirklich wahr ist, dass man sich irgendwie selbst erschaffen oder causa sui sein muss, um wirklich und letztlich dafür verantwortlich 509
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zu sein, was man tut, wie Schritt (2) des pessimistischen Arguments behauptet. Das Eingehen auf diese Fragen wird hier auf § 6 verschoben, denn zunächst drängt sich eine noch fundamentalere Frage auf: Welcher Begriff der Verantwortung wird in diesem Argument überhaupt in Anspruch genommen? Was genau ist eigentlich diese ‚letztliche‘ Verantwortlichkeit, an der wir trotz Nietzsches Verachtung festhalten? Und wenn wir an sie glauben, was ist es dann, dass uns an sie glauben macht? Eine dramatische Weise der Erläuterung des Begriffs der Verantwortung ist die Bezugnahme auf die Geschichte des Himmels und der Hölle: ‚letzte‘ moralische Verantwortung wäre dann eine von der Art, dass wir, vorausgesetzt wir besäßen sie, sinnvoll davon ausgehen können, es sei gerecht, dass einige von uns mit Höllenqualen bestraft und andere mit himmlischer Glückseligkeit belohnt werden. Dies wäre sinnvoll, weil es (infolge einer bestimmten Vorstellung von Verantwortung) vollständig an uns läge, wohin wir kommen. Das Wort ‚sinnvoll‘ wird hier betont, weil man gewiss nicht an Himmel und Hölle glauben muss, um den Begriff einer ‚letzten Verantwortung‘ zu verstehen, der hier zu Illustrationszwecken verwendet wird. Und man muss auch nicht an die Geschichte des Himmels und der Hölle glauben, um dennoch an einer letzten Verantwortung festzuhalten (viele Atheisten haben an sie geglaubt). Man muss noch nicht einmal davon gehört haben. Die Geschichte ist jedoch nützlich, weil sie die Art und Weise einer absoluten oder letzten Verantwortung illustriert, von der viele ausgingen und noch immer ausgehen, sie zu besitzen. Dies wird besonders wichtig, wenn jemand sehr um seine moralische Verantwortung und um Fragen des verdienten Lohns besorgt ist. Es eignet sich aber auch gut zur Illustration eines Sinnes von radikaler Freiheit und Verantwortung, den vielleicht ein sich selbst bewusster Akteur vertritt, der gar keinen Begriff von Moralität hat. Und man muss sich nicht auf die Geschichte von Himmel und Hölle beziehen, um jene Art von Alltagssituationen zu beschreiben, die von vorrangigem Einfluss auf unseren Glauben an eine letzte Verantwortung zu sein scheinen. Angenommen, Sie machen sich am Vorabend eines nationalen Feiertags auf den Weg zu einem Geschäft, in der Absicht, mit Ihrem letzten 10-Euro-Schein einen Kuchen zu kaufen. Alle Geschäfte sind bereits geschlossen. Es gibt nur noch einen Kuchen, und der kostet 10 Euro. Auf der Treppe des Geschäfts steht ein Mann von einer Hilfsorganisation und schüttelt eine Spendendose. Sie halten inne, und es ist Ihnen vollkommen klar, dass es vollständig an Ihnen liegt, was sie jetzt tun. Das heißt, es wird Ihnen klar sein, dass Sie wahrlich radikal frei in der Wahl sind, und zwar so, dass sie letztverantwortlich sind für das, was sie schließlich zu tun wählen. Sie können das Geld in die Dose werfen oder den Kuchen kaufen gehen, oder auch einfach weggehen. (Sie sind nicht einmal nur frei zu wählen; Sie sind sogar frei, nicht zu wählen.) An diesem Punkte angelangt mag man glauben, der Determinismus sei wahr. Sie werden vielleicht glauben, dass Sie innerhalb von fünf Minuten in der Lage sein werden, auf diese Situation zurückzublicken und über das, was Sie getan haben, zu sagen, dass es ‚determiniert war, dass ich mich so und so verhalten habe‘. Aber selbst wenn Sie dies glauben, scheint dies immer noch nicht ihr aktuelles Gefühl der Absolutheit Ihrer Freiheit zu untergraben, und auch nicht jenes Ihrer moralischen Verantwortung für Ihre Wahl. Eine Diagnose dieses Phänomens lautet, dass man in solchen Wahlsituationen nicht wirklich davon überzeugt sein kann, der Determinismus sei wahr, sondern 510
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nicht anders kann als zu denken, die Falschheit des Determinismus könnte die Freiheit möglich machen. Aber das Gefühl einer letzten Verantwortung scheint unvermeidlich zu sein, selbst wenn man gar nicht daran denkt, und sogar selbst dann, wenn man von der gesamten Argumentation gegen die Letztverantwortung nach § 3 überzeugt ist. Angenommen, jemand geht davon aus, dass niemand auf irgendeine Weise (d.h. in gewisser mentaler Hinsicht) causa sui sein kann, um dadurch letztverantwortlich für seine Handlungen zu sein. Dies scheint keinerlei Auswirkung auf das Gefühl radikaler Freiheit und Verantwortung für uns zu haben, wie wir hier stehen und uns fragen, was wir tun sollen. Die grundlegende Verantwortlichkeit scheint einfach daher zu rühren, dass man sich seiner Situation vollständig bewusst ist und weiß, dass man wählen kann, und dass man der Auffassung ist, eine der Handlungen sei besser als die übrigen. Dies scheint unmittelbar auszureichen, um die volle und letztlich Verantwortung zu erzeugen. Und dennoch ist dies nicht möglich, folgt man den Pessimisten. Denn was auch immer jemand tut, er wird es deshalb tun, weil er eine bestimmte Beschaffenheit aufweist, und diese Beschaffenheit ist etwas, für das er weder verantwortlich ist, noch was man ihm als Verantwortlichem zuschreiben kann, egal wie jemand sich seiner selbst und seiner Situation auch immer bewusst sein mag. Das Beispiel des Kuchens mag künstlich sein, aber ähnliche Wahlsituationen ereignen sich ständig im menschlichen Leben. Sie sind das Gestein der Erfahrung, auf dem die Überzeugung in die Letztverantwortung gegründet ist. Diese Überzeugung nimmt oft die Form eines Glaubens an eine bestimmte Moral oder Verantwortung an, mit der eine Art von Lohn verbunden ist. Ein Akteur kann aber, wie bereits bemerkt, ein Gefühl der Letztverantwortung haben, ohne über den Begriff der Moralität zu verfügen, und es gibt sogar eine interessante Fallgestalt, die dazwischen liegt: ein Akteur könnte die nicht zu unterdrückende Erfahrung einer Letztverantwortung machen und an das objektiv moralische Richtige und Falsche glauben, während er gleichzeitig die Konsistenz der Rede vom ‚verdienten Lohn‘ bestreitet. 5. Metaphysik und Moralpsychologie Wir verfügen nun über die Hauptelemente des Problems des freien Willens. Normalerweise beginnt man mit der kompatibilistischen Position. Diese wird jedoch nur vorgebracht, um den Einwand auszulösen, dass der Kompatibilismus vermutlich nicht in der Lage ist, unsere Intuitionen zur moralischen Verantwortung zu befriedigen. Diesem Einwand zufolge ist ein inkompatibilistischer Begriff des freien Willens wesentlich, um der Vorstellung einen Sinn zu verleihen, wir seien wirklich moralisch verantwortlich. Dieser Standpunkt wird aber ebenfalls nur vorgebracht, um den Einwand des Pessimisten auszulösen, dass indeterministische Ereignisse ebenfalls nichts zur moralischen Verantwortung beitragen: man kann von jemandem kaum sagen, er sei für seine Wahlentscheidungen und Handlungen oder seinen Charakter wirklich moralisch verantwortlich, weil indeterministische Ereignisse bei ihnen eine kausale Rolle spielten, und das dies anders sei, wenn sie keine solche Rolle gespielt hätten. Der Indeterminismus eröffnet nur die Unvorhersehbarkeit, nicht jedoch die Verantwortung. Er kann uns überhaupt nicht helfen. Der Pessimist wird daraus schließen, dass der freie Wille nicht möglich ist, und dass die letzte Verantwortung folglich auch nicht möglich ist. Also ist keine Be-
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strafung oder Belohnung jemals wirklich gerecht oder angemessen, wenn man sie moralisch betrachtet. Diese Schlussfolgerung mag eine weitere Frage aufwerfen: Was genau ist eigentlich diese ‚letzte Verantwortung‘, an die wir angeblich so stark glauben? Eine mögliche Antwort darauf führt uns zu der Geschichte vom Himmel und der Hölle, die als Illustration der Art von Verantwortung dient, die sich hier infolge des pessimistischen Arguments als unmöglich erwiesen hat, und von der gleichzeitig und unzweifelhaft viele Leute meinen sie zu besitzen, wie unscharf auch immer sie über die Angelegenheit denken mögen. Eine weniger anschauliche Antwort auf diese Frage ist gleichwohl genauso bedeutend, obwohl sie mehr Nachdenken erfordert: ‚letzte‘ Verantwortung gibt es ausschließlich dann, wenn Bestrafung und Belohnung angemessen sein können, ohne irgendwie pragmatisch gerechtfertigt zu sein. Nun schwingt das Pendel womöglich zurück zum Kompatibilismus. Wenn man darauf hinweist, dass eine ‚letzte‘ moralische Verantwortung offenkundig unmöglich ist, dann kann der Kompatibilismus behaupten, dass wir uns doch mit seiner Darstellung der Dinge zufrieden geben sollten, denn das sei das Beste, was wir tun können. Diese Behauptung reaktiviert aber erneut den imkompatibilistischen Einwand, und so dreht sich das Rad weiter. An diesem Punkt gibt es nun eine alternative Strategie: man verlasse den traditionellen metaphysischen Kreislauf zugunsten der Moralpsychologie. Die grundsätzlichen Positionen in der traditionellen metaphysischen Debatte sind klar. Nach Jahrtausenden der Diskussion ist es nicht wahrscheinlich, dass noch eine radikal neue Option auftaucht. Die verbleibenden Fragen sind vor allem psychologischer Natur: Warum glauben wir einen freien Willen und Letztverantwortlichkeit jener Art zu besitzen, die man durch Verweis auf Himmel und Hölle darstellen kann? Was bedeutet es, mit einem solchen Glauben zu leben? Wie sehen die Variationen eines solchen Glaubens aus? Welche Veränderung wird mit uns vor sich gehen, wenn wir intensiv bei der Sichtweise verweilen, dass eine Letztverantwortung unmöglich ist? Eine vollständige Antwort auf diese Fragen liegt außerhalb des Bereichs dieses Beitrags. Eine grundlegende Ursache unseres Glaubens an die Letztverantwortung wurde aber schon erwähnt. Sie liegt in der Erfahrung des Wählens, die wir als uns selbst bewusste Akteure haben, als die wir zu einem vollen Bewusstsein darüber imstande sind, was wir tun, wenn wir uns überlegen, was zu tun sei und Wahlentscheidungen treffen. (Wir wählen zwischen der Spendendose und dem Kuchen; oder wir treffen eine schwierige, moralisch neutrale Entscheidung darüber, welches von zwei Gemälden wir kaufen sollten.) Dies wirft die folgende interessante Frage auf: Ist es wahr, dass irgendein sich selbst bewusstes Geschöpf, dass einer Wahlentscheidung gegenüber steht und sich voll der Tatsache bewusst ist, dass es sich selbst als etwas erleben muss, dass einen starken freien Willen hat, oder auch als jemand, der radikal selbstbestimmt ist, und zwar einfach deshalb, weil er ein sich selbst bewusster Akteur ist (und zwar unabhängig davon, ob er eine Vorstellung von moralischer Verantwortung hat)? Es scheint, als könnten wir unsere Wahlentscheidungen nicht als determiniert erleben oder erfahren, selbst wenn der Determinismus wahr ist. Aber vielleicht ist dies nur eine menschliche Eigenheit, und kein unvermeidliches Merkmal aller möglichen selbstbewussten Akteure. Und vielleicht gilt dies nicht einmal universell für alle Menschen.
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Man wird noch weitere Ursachen für den Glauben an einen starken freien Willen vorbringen können. Hume betonte unsere Erfahrung der ernsthaften Unentschiedenheit, wie oben gezeigt. Spinoza schlug vor, dass eine der Gründe einfach darin zu suchen sei, dass wir uns nicht der determinierten Natur unserer Wünsche bewusst seien. Kant meinte, dass unsere Erfahrung der moralischen Pflicht den Glauben an einen starken freien Willen unvermeidlich macht. P. F. Strawson brachte vor, die grundlegende Tatsache sei, dass wir unwiderstehlich einer gewissen natürlichen Reaktion gegenüber anderen Leuten verbunden seien, wie z.B. jener der Dankbarkeit und dem Ärger. Zahlreiche weitere Vorschläge wurden gemacht: jene, die schwer über den freien Willen nachdenken, werden sich wahrscheinlich davon überzeugen, dass die Erforschung der komplexen Moralpsychologie des Glaubens an die Freiheit und der möglichen moralischen und psychologischen Konsequenzen einer Änderung dieses Glaubens das fruchtbarste noch verbleibende Forschungsgebiet ist. Spätere Generationen werden jedoch unzweifelhaft weiter versuchen, sich erneut in die alte metaphysische Debatte einzubringen. 6. Herausforderung des Pessimismus Die vorangehende Diskussion versucht die interne Dynamik der Diskussion des freien Willens zu veranschaulichen und dabei zu erklären, warum diese Diskussion wahrscheinlich so lange weitergehen wird, wie der Mensch denken kann. Die tiefste Frage dabei ist jene: mächtige logische und metaphysische Gründe für die Annahme, dass wir keinen starken freien Willen haben können, stehen gleichermaßen mächtigen psychologischen Gründen gegenüber, warum wir nicht anders können, als dies zu glauben. Die Schlussfolgerungen der Pessimisten oder Unfreiheitstheoretiker mögen in einer philosophischen Debatte unwiderstehlich erscheinen, aber sie werden ihre Kraft kaum einbüßen, und es scheint im Leben offenkundig irrelevant zu sein, wenn jemand aufhört, darüber zu philosophieren. Es wurden bereits zahlreiche Herausforderungen des pessimistischen Arguments vorgetragen, von denen sich manche auf die Erfahrung oder die ‚Phänomenologie‘ der Wahlentscheidung stützen. Eine dieser Herausforderungen gibt zu, dass man letztendlich nicht für sein eigenes mentales Wesen verantwortlich sein kann, d.h. für seinen Charakter, seine Persönlichkeit oder seine motivationale Struktur; gleichzeitig leugnet sie die Schlussfolgerungen daraus, dass jemand nicht wirklich moralisch für das verantwortlich sein kann, was er tut (womit Schritt 2 des Arguments oben in § 3 angegriffen wird). Diese Herausforderung liegt in mindestens zwei Fassungen vor. Eine davon wurde bereits dargestellt: wir sind von der Vorstellung angezogen, dass unsere Fähigkeit zum vollständig und ausdrücklich selbstbewussten Abwägen in einer Situation der Wahlentscheidung an sich selbst genügt, um uns als wirklich moralisch verantwortliche Akteure im strengsten Sinne des Wortes zu begründen. Die Vorstellung dahinter ist die, dass eine solche, sich selbst bewusste Aufmerksamkeit die Tatsache irgendwie irrelevant erscheinen lässt, dass jemand für sein mentales Wesen weder letztlich unverantwortlich ist, noch dies sein kann. Nach dieser Auffassung begründet die nackte Tatsache des eigenen Selbstbewusstseins in einer Situation der Wahlentscheidung wahre moralische Verantwortung: es mag unbestreitbar sein, dass jemand in der abschließenden Analyse sich als etwas herausstellt, dass durch Faktoren bestimmt ist, für die er letztlich auf keine Weise verantwortlich gemacht werden 513
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kann. Aber die Drohung, dass diese Tatsache sich der Behauptung einer wirklichen moralischen Verantwortung entgegenstellt, ist schlicht dadurch gegenstandslos, dass man sich seiner Situation voll bewusst ist. Der Pessimist antwortet hierauf: Dies mag durchaus richtig eine starke Quelle unseres Glaubens in eine letzte (moralische) Verantwortlichkeit beschreiben. Dies ist allerdings keine Darstellung von irgendetwas, dass eine letzte (moralische) Verantwortlichkeit herstellen kann. Wenn jemand aufgrund einer ausdrücklich seiner selbst bewussten Überlegung handelt, so handelt jemand aus bestimmten Gründen. Aber welche Gründe sich schließlich durchsetzen ist eine Frage des mentalen Wesens einer Person, wofür wiederum niemand auf welche Weise auch immer letztlich verantwortlich gemacht werden kann. Man kann sicherlich ein moralisch verantwortlicher Akteur in dem Sinne sein, dass man sich bestimmter moralischer Überlegungen bewusst ist, während man handelt. Man kann aber nicht moralisch verantwortlich sein in der Weise, dass jemand abschließend Bestrafung oder Belohnung dafür verdient, was er tut. Die Überzeugung, dass die vollkommen explizite Selbstbewusstheit bezüglich einer Situation eine ausreichende Begründung für einen starken freien Willen sei, ist außerordentlich mächtig. Die Argumentation des Unfreiheitstheoretikers mag zwar zeigen, dass diese Überzeugung falsch ist. Gleichwohl handelt es sich dabei um eine Überzeugung, die tiefer reicht als rationale Argumente, und sie überlebt diese unberührt in der täglichen Lebensführung, selbst noch nach dem Erweis der Gültigkeit der Argumente des Unfreiheitstheoretikers. Eine weitere Fassung dieser Herausforderung lautet folgendermaßen. Der Grund dafür, dass jemand wirklich oder letztlich (moralisch) für etwas verantwortlich gemacht werden kann, was er getan hat, ist, dass das Selbst einer Person – also das, was man das Selbst des Akteurs nennen könnte – in einem entscheidenden Sinne als etwas betrachtet wird, dass unabhängig sei von der allgemeinen mentalen Natur einer Person (also seinem Charakter, seiner Persönlichkeit, seiner motivationalen Struktur etc.). Die mentale Natur einer Person neigt vielleicht dazu, das eine oder andere zu tun, es zwingt jemanden aber nicht dazu, eine Handlung gegenüber der anderen zu bevorzugen. (Die Unterscheidung zwischen Neigung und Notwendigkeit stammt von Leibniz [‚Discours de Métaphysique‘, 1686; ‚Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand‘, 1704–1705].) Als ein Akteurs-Selbst besitzt die Person eine Kraft zur freien Entscheidung, die auf eine Weise unabhängig von allen Besonderheiten der jeweiligen mentalen Natur ist, dass jemand schließlich und letztlich als moralisch verantwortlich für seine Entscheidungen und Handlungen gelten kann, selbst wenn man nicht in jeder Hinsicht für seine eigene mentale Beschaffenheit verantwortlich ist. Hierauf antwortet der Pessimist: Selbst wenn man die Gültigkeit einer solchen Konzeption des Akteurs-Selbst um des Arguments willen dahingestellt sein lässt, hilft dies dennoch nicht bei der Begründung einer letzten moralischen Verantwortung. Nach dieser Konzeption entscheidet das Akteurs-Selbst in Ansehung der mentalen Natur des Akteurs, ist aber nicht durch diese Natur determiniert. Daraus ergibt sich sofort die folgende Frage: Warum entscheidet sich das Akteurs-Selbst auf die eine oder andere Weise? Die allgemeine Antwort hierauf ist klar. Was auch immer das Akteurs-Selbst entscheidet, es tut dies infolge seiner allgemeinen Beschaffenheit. Diese notwendige Wahrheit bringt uns zurück an den Anfang. Denn, um es noch514
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mals zu sagen, es scheint auch hier der Fall zu sein, dass das Akteurs-Selbst dafür verantwortlich sein muss, wie es beschaffen ist, damit die Quelle einer wirklichen oder letzten Verantwortlichkeit sein kann. Dies ist jedoch aus den in § 3 dargelegten Gründen unmöglich; nichts kann auf diese erforderliche Weise causa sui sein. Was auch immer die Natur des Akteurs-Selbst ist, am Ende ist es eine Sache des Glücks oder Schicksals (oder für diejenigen, die an Gott glauben, eine Sache der Gnade). Man könnte einwenden, dass sich das Akteurs-Selbst so entscheidet, wie es das bereits teilweise oder auch immer im Entscheidungsprozess beim Auftreten indeterministischer Ereignisse tut. Es ist jedoch klar, dass indeterministische Ereignisse niemals eine Quelle wahrer moralischer Verantwortlichkeit sein können. Einige meinen, dass der freie Wille und die moralische Verantwortlichkeit vor allem eine Sache der Wahlentscheidung und der Handlungen sind, die von der Vernunft einer Person gesteuert werden. Der Besitz einer Eigenschaft, kraft derer man durch die Vernunft gesteuert wird, kann nicht der Grund für eine radikale, moralische Verantwortung sein, wie sie üblicherweise verstanden wird. Sie kann für diejenigen, die über sie verfügen, keine Eigenschaft sein, die beispielsweise eine Bestrafung letztlich rechtfertigt oder angemessen erscheinen lässt, denn dann müsste sie unangemessen denjenigen gegenüber sein, die nicht darüber verfügen. Warum ist dies so? Nach dieser Ansicht bedeutet moralische Letztverantwortung schlicht, eine bestimmte Art von motivationaler Struktur neben anderen möglichen Strukturen zu besitzen. Infolge dieser Struktur bewertet man oder antwortet ganz selbstverständlich auf rationale Erwägungen, von denen diejenigen, die diese Ansicht vertreten, häufig denken, dass sie auch die moralischen Überlegungen einschließen. Eine solche, allgemeine motivationale Struktur mag attraktiv und sozial vorteilhafter als viele andere solcher Strukturen sein. Damit entkommt man aber nicht der Tatsache, dass jemand, der eine solche motivationale Struktur aufweist, sich einfach glücklich schätzen kann, sie zu besitzen – wenn sie denn wirklich gut ist –, während derjenige, dem sie fehlt, einfach Pech hat. Dies kann man bestreiten. Man könnte sagen, dass einige Menschen sich darum bemühen, moralisch verantwortungsvoller zu werden, und sich dafür sogar enorm anstrengen. Ihre moralische Verantwortlichkeit ist dann keine Frage des Glücks, sondern eine hart erarbeitete Leistung. Die Antwort des Pessimisten hierauf folgt auf dem Fuße. Angenommen, Sie sind jemand, der sich anstrengt, ein moralisch verantwortungsvollerer Mensch zu werden, und sie arbeiten hart daran. Nun, auch dies ist letztlich eine Frage des Schicksals. Sie können sich glücklich schätzen, jemand zu sein, der einen Charakter hat, der Sie zu dieser Leistung befähigt. Jemand, der über keinen solchen Charakter verfügt, hat einfach Pech gehabt. Kant ist ein berühmtes Beispiel für einen Philosophen, der sich von der Idee angezogen fühlte, dass der freie Wille sich darin zeigt, dass die Handlungen einer Person von ihrer Vernunft gesteuert werden. Er wurde sich jedoch des gerade beschriebenen Problems bewusst und bestand in einem späteren Werk (‚Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, 1793) darauf, „[w]as der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sei.“ Da er sich dem Glauben an die moralische Letztverantwortung verschrieben hatte, meinte Kant, dass eine 515
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solche Selbstschöpfung tatsächlich stattfindet, und folglich schrieb er in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ von dem Charakter des Menschen, den dieser aus sich selbst heraus erzeugt, und im ‚Opus postumum‘ auch von dem Wissen, das man von sich selbst als einer Person hat, die sein eigener Erzeuger ist. Hier stellte er die Forderung nach einer Selbsterzeugung auf, die selbstverständlich für jemanden ist, der an die moralische Letztverantwortung glaubt, und der durchdenkt, was dies voraussetzt. Letztlich wird alles vom zufälligen Schicksal vereinnahmt. Dies ist eine Möglichkeit der Argumentation, dass es keine Letztverantwortung geben kann, wenn man jene Konzeption der Verantwortlichkeit für gegeben nimmt, die zu Beginn von § 4 dargestellt wurde. Nach dieser Konzeption ist keine Bestrafung oder Belohnung je gerecht oder angemessen, wie selbstverständlich oder nützlich oder sonst wie menschlich richtig dies auch immer erscheinen mag. Alle diese Dinge sind klar, und dies bereits seit geraumer Zeit. Kommt man auf die Metaphysik des freien Willens zu sprechen, gilt André Gides Bemerkung: „Alles ist bereits gesagt, aber weil niemand zuhört, müssen wir immer wieder zurückkehren und von neuem beginnen.“ Offenbar ist unsere einzige mögliche Freiheit eine kompatibilistische. Wenn dies jedoch nicht für eine Letztverantwortung ausreicht, so gibt es eine solche nicht. Die einzige Alternative zu dieser Schlussfolgerung ist die Berufung auf Gott und die Mystik, wenn man die Behauptung rechtfertigen will, dass etwas, das sich als erwiesenermaßen unmöglich zeigt, nicht nur möglich sei, sondern sogar wirklich. Die Debatte geht weiter. Einige dachten, dass die Philosophie sich voranbewegen sollte. Es besteht jedoch wenig Anlass zu der Erwartung, dass sie dies tun wird, insofern jede Generation erneut Philosophen hervorbringt, die von der Überzeugung gepackt sind, dass es eine Letztverantwortung gibt. Wäre es gut, wenn sich die Philosophie voranbewegte, oder wenn wir uns noch klarer über den freien Willen würden, als wir es ohnehin bereits sind? Das ist schwer zu sagen. Siehe auch: Handlung; Mentale Verursachung; Moralische Akteure; Moralpsychologie; Verbrechen und Strafe; Wille, der Anmerkungen und weitere Lektüre: Cicero (106–43 v. Chr.): ‚Über das Schicksal‘. (Die Kritik eines Akademikers an der stoischen und epikureischen Anschauung des Determinismus; die einzige Quelle der herausragenden Verteidigung des Inkompatibilismus durch Carneades, den akademischen Philosophen des 2. vorchristlichen Jahrhunderts.) Kane, R. (2002): ‚The Oxford Handbook of Free Will‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine Sammlung speziell in Auftrag gegebener Aufsätze, die alle wesentlichen Aspekte des Problems des freien Willens abdecken.) Watson, G. (2003): ‚Free Will‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine umfassende Sammlung von Aufsätzen über den freien Willen und die moralische Verantwortung der letzten fünfzig Jahre.) GALEN STRAWSON
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Freiheit6 Einführung Es gibt mindestens zwei grundlegende Vorstellungen in dem begrifflichen Komplex, den wir ‚Freiheit‘ nennen, nämlich zum einen die rechtmäßige Selbstbestimmung (Autonomie), und zum anderen die umfassende Fähigkeit, Dinge zu wählen oder zu erreichen, die man ‚Handlungsfreiheit‘ nennen und sie als den Besitz offener Wahlmöglichkeiten definieren kann. Autonom zu sein heißt frei zu sein im Sinne von ‚selbstbestimmt‘ und ‚unabhängig‘, und zwar analog der Souveränität von Staaten. Handlungsfreiheit liegt vor, wenn eine Person die Wahl hinsichtlich einer möglichen Handlung x so treffen kann, dass sie, wenn sie durch nichts an der Vornahme von x gehindert wird, diese Handlung vornehmen könnte, und wenn niemand von ihr die Vornahme von x fordert, sie diese Handlung auch unterlassen könnte. Jemand ist im Zustand der Handlungsfreiheit, wenn er tun kann, was er will. Damit dieser Person aber der volle Nutzen ihrer Handlungsfreiheit zugute kommt, muss sie aber zusätzlich auch im Besitz einer Entscheidungsfreiheit (einem freiem Willen) sein, die in der Fähigkeit besteht, das zu wollen, was man wollen möchte, d.h. in einer Freiheit von psychischen Hindernissen. Autonomie und Handlungsfreiheit können sich unabhängig voneinander unterschiedlich verhalten. Ein großes Maß des einen kann ohne weiteres mit einer geringen Kapazität am anderen einhergehen. Die vielleicht umstrittenste philosophische Frage betreffend die Freiheit betrifft ihre Beziehung zum Gewollten oder den Wünschen. Einige Philosophen behaupten, dass nur die wirklichen Wünsche, die eine Person zu einer bestimmten Zeit hat, für ihre Freiheit relevant sind, und dass eine Person in dem Umfange frei ist, wie sie tun und lassen kann, was sie will, selbst wenn sie nicht zu allzu vielem imstande ist. Andere Philosophen betonen, dass die Funktion der Freiheit darin bestünde, ‚Raum zum Atmen‘ zu verschaffen, d.h. sie bestehen darauf, dass die Freiheit eine Funktion der personalen Fähigkeit zur Befriedigung sowohl möglicher (hypothetischer), als auch wirklicher Wünsche ist. Wiederum eine dritte Gruppe stützt sich auf eine wertorientierte Theorie, nach der die Freiheit nicht nur die Kraft oder Macht ist, das zu tun, was man jetzt oder irgendwann einmal will, sondern vielmehr die Fähigkeit, etwas zu tun, was es ‚wert ist, dass man es tut oder sich daran erfreut‘, also etwas Wichtiges oder Bedeutendes für jene Person, von der es heißt, sie sei frei, oder auch für andere. 1. Der Unterschied von freedom und liberty 2. Freiheit als Autonomie 3. Negative und positive Freiheit Der englische Originaltitel dieses Beitrages lautet: ‚Freedom and Liberty‘. Dies lässt sich nicht ohne weiteres ins Deutsche übersetzen. Etymologisch liegt dem Wortstamm free- bei dem ersten der beiden Worte eine germanische, dem zweiten (liber-) eine lateinische Wurzel zugrunde, die ursprünglich dasselbe bedeuten. Gleichwohl haben beide Worte im heutigen Englisch eine leicht unterschiedliche Bedeutung. Freedom meint die innere, emotionale oder auch persönliche Freiheit, damit vor allem die subjektive Handlungsfreiheit und auch den inneren Frieden (im Gegensatz zum primär sozialen Frieden, dem peace), während liberty eine tendenziell äußere, allgemeine, sozial gewährende und juristisch zu definierende Handlungsfreiheit meint (z.B. the liberty of free speech). Der Beitrag geht unter § 1 auf diesen Unterschied noch detaillierter ein.
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4. Freiheit als Handlungsfreiheit 1. Der Unterschied von ‚freedom‘ und ‚liberty‘ Die beiden Ausdrücke freedom und liberty werden im Englischen häufig miteinander austauschbar verwendet. Bei solchen Gelegenheiten, wo sie nicht als synonym gelten, ist die Grundlage der Unterscheidung allerdings meist klar. Der Ausdruck freedom bezieht sich, wenn er auf Personen und ihre Handlungen bezogen wird, auf die Fähigkeit einer Person, unter bestimmten Umständen auf eine ihr je eigene Weise handeln zu können. Der Ausdruck liberty bezieht sich dagegen auf die autoritative Erlaubnis, auf eine bestimmte Weise handeln zu dürfen. Dieser Gegensatz ist die Grundlage für die grammatische Unterscheidung zwischen den beiden englischen Verben für ‚können‘, nämlich can7 und may8, nämlich die Perspektive de facto oder de jure, oder auch zwischen (allgemein) Fähigkeit und Erlaubnis. Der Begriff der liberty spielt eine wichtige Rolle in der englischsprachigen Jurisprudenz. Eine Gruppe allgemeiner Regeln kann denjenigen Personen duties (Pflichten) auferlegen, die der Autorität dieser Regeln unterworfen sind. Wenn diese Regeln aber auf einen bestimmten Handlungstyp x nicht anwendbar sind, dann heißt es im juristischen Sprachgebrauch, diese Regeln ‚stellen die Handlung x frei‘ (‚they leave the subjects at liberty to x or not to x‘), das heißt, sie stellen ihre Vornahme ins Belieben der betreffenden Person. Hinsichtlich x frei zu sein (‚to be at liberty to x‘) heißt nur, dass es keine Pflicht gibt, x zu tun (siehe Rechte, § 2). So betrachtet können freedom und liberty sich unabhängig voneinander verändern. Wenn beispielsweise eine Satzung nur sporadisch mit Zwang durchgesetzt wird, so ist eine ihr unterworfene Person praktisch frei darin zu tun, was die Satzung eigentlich verbietet. So können beispielsweise unverheiratete Paare im amerikanischen Bundesstaat Arizona durch ihr Zusammenleben ohne weiteres etwas gesetzlich Verbotenes zu tun, einfach deshalb, weil das sie betreffende Gesetz kaum je durchgesetzt wird. Zusammenlebende, unverheiratete Paare besitzen praktisch die vollkommene de-facto-Freiheit zum Zusammenleben, weil die Ignoranz der Polizei das Risiko der Entdeckung und Verurteilung minimiert. Wir sind manchmal (in dem einen oder anderen Maße) nicht nur frei (free), etwas zu tun, wozu uns eigentlich keine Freiheit (liberty) zugestanden wurde; wir können umgekehrt auch äußerlich die Freiheit (liberty) zu etwas besitzen, wozu wir dennoch innerlich nicht frei (free) sind, so beispielsweise, wenn andere als zwangsweise durchgesetzte Regeln uns daran hindern das zu tun, was uns gesetzlich ohne weiteres erlaubt wäre. 2. Freiheit als Autonomie Man urteilt nicht nur über die Freiheit einzelner Personen, sondern auch über jene ihrer politischen Gemeinschaften. Viele Staaten hatten und haben in bestimmten Momenten ihrer Geschichte die Gelegenheit, ihre Unabhängigkeit zu erklären, oder auch, was auf dasselbe hinausläuft, ihre Souveränität bzw. ihren Status als freie Staaten. Gleichzeitig können andere Staaten ihre Freiheit (d.h. ihre Unabhängigkeit) verlieren und zu reinen Kolonien stärkerer Staaten werden. Wenn ein Staat auf diese 7 Can bedeutet ‚können’ mit einer Bedeutungsorientierung im Sinne von ‚imstande sein’, also der von sozialen Belangen unabhängigen Fähigkeit, etwas zu tun. [WS] 8 May bedeutet ebenfalls ‚können’ (‚mögen‘), aber auch ‚dürfen’, drückt damit also eine soziale Freiheit qua Erlaubnis aus. [WS]
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Weise unfrei wird, kann jeder seiner Bürger sich selbst als jemanden betrachten, der ebenfalls um dieselbe oder eine analoge Freiheit gebracht wurde, denn wenige von ihnen bleiben vollständig selbstbestimmt, wenn ihr eigenes Land aus der Ferne von Herren bestimmt wird, die ihnen einfach ihre Befehle aufzwingen. ‚Keiner von uns ist wirklich frei, solange es unsere Nation nicht ist‘, könnte ein lokaler Patriot sagen, und dies sogar selbst dann, wenn er zugibt, dass die Kolonialmacht, von der sie regiert werden, sie anständig behandelt hat und ihnen viele Freiheiten gab. Die Frage, wer sie zu Recht regiert, ist nach Sir Isaac Berlin logisch zu unterscheiden von der Frage, wie ihre Herrscher – seien sie fremde oder eigene, legitime oder nicht – ihre Freiheit verteidigen. Die erste Frage betrifft die Autonomie, die zweite die Handlungsfreiheit. Autonomie und Handlungsfreiheit können sich unabhängig voneinander ändern. Die nationale Autonomie kann ihre eigene Tyrannei hervorbringen, wenn beispielsweise eine kürzlich unabhängig gewordene Nation, die nunmehr frei von ihren Unterdrückern ist, es ablehnt, demokratisch zu regieren und seinen Bürgern keine bürgerlichen Rechte zuerkennt. In einem solchen Falle mag sich die ansässige Bevölkerung durch ihre eigene Regierung übel oder noch schlechter behandelt vorkommen als durch die früheren Kolonialherren. Autonomie oder Selbstbestimmung kann darin bestehen, dass man mit seinen Mitbürgern die politische Unabhängigkeit teilt, oder sie kann in der Selbstführung durch jenes Element des Selbst bestehen, das durch die Natur zu herrschen bestimmt ist (und das oft mit der Vernunft identifiziert wird). Selbstbestimmung setzt voraus, dass wir nicht durch unberechtigte Außenstehende beherrscht werden, und auch nicht durch uns fremde innere Kräfte. Man beachte die nahe Analogie zur Sklaverei. Der eine Sklavenhalter A ist sehr streng im Umgang mit seinem einzigen Sklaven S1, indem er ihm nur minimalen Bewegungsspielraum lässt, auch keine Wahl hinsichtlich seines Verhaltens außerhalb seines Dienstes, oder ihm befiehlt, was er lesen soll, wie er sich anziehen soll etc. Ein weiterer Sklavenhalter B ist sehr locker. Er behandelt seinen einzigen Sklaven S2 wie einen wertvollen Freund und erlaubt ihm alles, bis auf Dinge, die anderen Menschen Schaden zufügen, oder die Plantage zu verlassen. Es ist offensichtlich, dass S2 alle diese Dinge nur tun kann, weil B sie ihm zugesteht, wohlgemerkt nicht als dessen Recht. Die einzigen Rechte in dieser Situation sind B’s Eigentumsrechte. Die Eigentums- und Besitzregeln erlauben es B, so streng mit S2 umzugehen, wie es ihm beliebt. Er zieht es jedoch vor, freundlich zu sein. In der Lebenssituation von S2 dominiert also die Fremdbestimmung (Heteronomie), die mit einer hohen Handlungsfreiheit (einer de facto-Freiheit) zusammenfällt. Es ist klar, dass jemand in geringer oder überhaupt keiner Autonomie leben kann, und trotzdem in Zufriedenheit und sogar mit hohem Lebensstandard lebt, d.h. in einer Situation, die etwas von Freundschaft und Respekt widerspiegelt, und was am wichtigsten ist: mit offenen Wahlmöglichkeiten, die jemand für sich entscheiden kann, wenn auch nicht aus eigenem Recht. Angenommen, hinsichtlich einer bestimmten Wahlentscheidung gibt es für S2 zwei Möglichkeiten. Sein Herr kann seine Autonomie wieder herstellen und ihn in eine unfreundliche Welt entlassen, wo andere Menschen ihn schlecht behandeln, selbst wenn sie gar keine Autorität über ihn haben, und ihm dadurch viele Schlüsselfreiheiten nehmen, die ihm bei seinem früheren, ihm wohlmeinenden Herrn offen 519
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gestanden hätten. Soll er dieses Angebot auf Kosten einer so umfangreichen de-facto-Freiheit annehmen? Sofern diese Frage schwierig zu beantworten ist, zeigt sich damit, dass ihm nicht klar ist, welche der beiden widerstreitenden Werte, Unabhängigkeit oder faktische Handlungsfreiheit, er für wichtiger erachtet (siehe Autonomie, ethische). 3. Negative und positive Freiheit Philosophische Fürsprecher einer ‚positiven Freiheit‘ reagieren häufig auf eine Tradition unter den englischen Empiristen, die sich von Hobbes über J.S. Mill bis Russell erstreckt. Hobbes verstand seine Definition der Freiheit so, dass sie auf die meisten oder wesentlichen gemeinsamen Elemente des freien Handelns und allgemein der Bewegungsfreiheit anwendbar sei. Er definierte ‚frei‘ als die Abwesenheit von äußeren Behinderungen, was gleichermaßen beispielsweise auf frei hin und her flutende (d.h. nicht durch Dämme gehinderte) Wassermassen, wie auch auf menschlich-zweckvolles Verhalten anwendbar sein sollte. Nachfolgende Empiristen, einschließlich Locke (§ 10) und Hume (§ 5) meinten ebenfalls, dass alle Freiheit im Kern etwas Negatives ist, nämlich die Abwesenheit von Einschränkungen oder Behinderungen unserer Handlungen. Die Theoriefamilie, der Berlin den Namen ‚positive Freiheit‘ gab, ist jene, die die Freiheit (freedom und liberty) mit personaler Autonomie oder Selbstbestimmung identifiziert. Eine Version dieser Theorie betont das interne ‚Forum‘, als das sich das Selbst des Akteurs darstellt, und den rechtmäßigen Anspruch des rationalen Selbst auf die Herrscherrolle gegenüber den geringeren Elementen des Selbst. Die zweite Gruppe der Autonomietheorien ist weniger individualistisch und stattdessen politischer orientiert. Sie besagt, dass kein Einzelner sein Leben in Autonomie leben kann, wenn er nicht Mitglied einer politisch freien Gemeinschaft ist, d.h. eines Staates, der nicht nur unabhängig von anderen Staaten ist, sondern der auch selbst demokratisch organisiert ist, so dass alle Bürger an der Regierung teilhaben können und in diesem Sinne zumindest selbstbestimmt sind. Die positiven Freiheitstheoretiker könnten einwenden, dass die negativen Freiheitstheoretiker nicht zu erklären vermögen, warum die sehr vorteilhafte Bezeichnung als ‚frei‘ überhaupt auf eine Person angewendet werden soll, die womöglich paralysiert, geisteskrank, unmündig, verarmt und unwissend ist. Es kann nur einen ironischen Sinn haben zu sagen, so meinen sie, eine solche unglückliche Person als jemanden zu bezeichnen, die reich an Freiheit sei. Negative Freiheitstheoretiker argumentieren, dass frei zu sein nicht bedeute, an irgendetwas reich zu sein. Man kann frei und gleichwohl unzufrieden, unglücklich, unwissend, hungrig oder von Schmerzen geplagt sein. Eine Einzelperson mag frei sein und gleichwohl finden, dass dies unter ihren Lebensumständen nicht viel wert ist. Dies zeigt, dass Freiheit ein Gut ist, dessen Wert schwankt, oder in den Worten von John Rawls (§§ 1–2): „Der Wert der Freiheit [liberty] ist nicht für jedermann derselbe.“ (‚A Theory of Justice‘, 1971, S. 204). Der Arme ist nicht imstande, sich einen Mercedes zu kaufen, aber nach der Lehre von der negativen Freiheit liegt dies nicht etwa daran, dass er unfrei sei, sich einen zu kaufen. Die meisten Autoren aus der Tradition der negativen Freiheit bestreiten, dass jede Form von Unvermögen auch immer ‚Unfreiheit‘ ist. Jenes Unvermögen, das eine Unfreiheit ausmacht, darauf beharren sie, ist eines, das direkt 520
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oder indirekt auf eine überlegte Handlung oder Vorschriften von anderen Menschen zurückgeführt werden kann, insbesondere vom Gesetzgeber und der Polizei, die direkt und gewaltsam auf das Leben anderer Menschen einwirken können. Manchmal kann man die angemessene Erklärung für die Unfähigkeit einer Person (z.B. zum Erwerb eines normalen Lebensunterhaltes) indirekt mit verschiedenen sozialen Einflüssen in Verbindung bringen. Die Person mag verarmt sein, weil sie über keine technischen Fertigkeiten verfügt, und dieser Mangel könnte wiederum das Ergebnis einer armseligen Ausbildung sein, was seinerseits, wenn auch nur undeutlich, auf die Ungleichheiten eines nationalen Systems der Rassentrennung zurückgeführt werden könnte, die als wohlüberlegte politische Absicht von einer Apartheidregierung verfolgt wurde. In diesem Falle könnten wir sagen, dass die Betroffenen nicht nur nicht in der Lage sind, x zu tun, sondern auch, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht frei sind dies zu tun. Der Spalt zwischen den positiven und negativen Freiheitstheoretikern kann noch weiter durch eine Theorie verringert werden, die einen weiteren Begriff von ‚Beschränkung‘ und ‚Behinderung‘ hat. Eine solche Theorie würde sowohl negative Beschränkungen wie z.B. den Mangel an Geld, und interne Beschränkungen wie z.B. intensive Kopfschmerzen abdecken. Eine solche Theorie könnte die negative Freiheit befürworten (d.h. dass alle Freiheit in der Abwesenheit von Behinderungen besteht, seien sie positiv, negativ, innerlich oder äußerlich), und gleichzeitig den wichtigen Aspekt der positiven Freiheit mit umfassen (dass die Freiheit wesentlich mehr ist als eine einfache Abwesenheit von Störungen durch Polizisten und andere Personen, auch wenn dies sehr wichtig ist). Sehr viele Philosophen weisen inzwischen die Auffassung zurück, dass es zwei nicht aufeinander reduzierbare Begriffe der Freiheit gibt, nämlich einen positiven und einen negativen. Diese ‚Einheitsbegriffstheoretiker‘ stören sich nicht daran, dass einer aus dem Paar der mutmaßlich unterschiedlichen Begriffe der einzig „wahre oder einzig lohnende“ ist (MacCallum, ‚Negative and Positive Freedom‘, 1967, S. 312), sondern vielmehr daran, dass es ein Irrtum sei, von vornherein zwischen dem positiven und negativen Freiheitsbegriff zu unterscheiden. Nach MacCallum gibt es nur einen Begriff der Freiheit (liberty), und den versteht man am besten als „immer ein und dieselbe dreistellige Beziehung“ zwischen einer Person (einem Staatsbürger oder einem Akteur), einer beabsichtigten Handlung (d.h. einer wirklichen oder möglichen), und dem, was MacCallum eine „Verhinderungsbedingung“ nennt, d.h. Sperren, Zwänge und Beschränkungen (‚Negative and Positive Freedom‘, S. 312 ff.). Freiheit (freedom) ist dieser Auffassung zufolge immer etwas, was jemandem zukommt, oder eine Freiheit von etwas, oder jene zu etwas zu tun, zu haben oder zu sein. Streitigkeiten über das Wesen der Freiheit wie jene, die die Anhänger der positiven Freiheit von den Anhängern der negativen Freiheit trennte, sind nach MacCallum in Wirklichkeit Uneinigkeiten über den Geltungsbereich einer oder mehrerer der drei Variablen in einem einzigen analytischen Modell dessen, wofür der Ausdruck ‚Person‘ steht, und was als Hindernis oder Beschränkung oder gewaltsame Störung zu gelten hat bzw. was eine gewollte oder beabsichtigte Handlung ist. 4. Freiheit als Handlungsfreiheit Unter den Kontroversen, die nach wie vor die Autoren trennen, die über die Freiheit schreiben, ist die Frage, ob die Freiheit (freedom) im Sinne einfacher Hand521
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lungsfreiheit schlicht als die Abwesenheit einer gegenwärtigen Frustration gedacht werden sollte, oder ob man sie am besten als die Abwesenheit von weiter gefassten Gelegenheiten auffasst, die mehr meinen als nur das, was einer gerade jetzt tun will. Erstere Auffassung können wir die ‚Theorie der Befriedigung der aktuellen Wünsche‘ nennen, oder auch die ‚dispositionale Theorie‘. Diese erlaubt es, eine Person frei zu nennen in dem Umfange, wie sie ihre gegenwärtigen Wünsche zu befriedigen vermag, ohne daran gehindert zu werden, und ohne Frustration. Der dispositionale Freiheitsbegriff wird sie allerdings solange nicht als frei betrachten, wie sie nicht nur die Dinge tun können, die sie gerade im Moment tun wollen, sondern nach allem, was sie gegenwärtig wissen, auch all das, was sie irgendwann in der Zukunft tun möchten. Hier könnte man fragen, um was sich denn die Freiheit einer Person noch vermehren kann, wenn jeweils alle ihre aktuellen Bedürfnisse befriedigt werden können? Die übliche Antwort hierauf weist darauf hin, dass die Freiheitsliebe auch eine Liebe zum Bewegungsspielraum und zum Ausprobieren sein kann, eine Neigung zu den häufigen Gelegenheiten, die einen die eigene Meinung ändern lassen. Diese hypothetische Erweiterung der Handlungsfreiheit könnte man auch die ‚Theorie des Bewegungsspielraums‘ nennen. Die einflussreichsten Fürsprecher der ‚Theorie der aktuellen Wünsche‘ waren die alten Stoiker (siehe Stoizismus). Der stoischen Lehre zufolge gibt es zwei Wege, wie eine Person den Grad ihrer Wunschbefriedigung steigern kann. Der zweite davon ist es zu vermeiden, die Welt ändern zu wollen – das ist der Weg ins Elend – und stattdessen Techniken zu entwickeln, um seine Wünsche zu ändern, so dass sie immer mit dem zusammenfallen, was gerade passiert. Die Stoiker brauchen keinen Bewegungsspielraum. Was auch immer passiert, gefällt ihnen, denn ihr einziger Wunsch ist es, dass sich Gottes Wille erfüllt und dass Zeus für allmächtig gehalten wird. Dieser Wunsch kann nicht frustriert werden. Man stelle sich beispielsweise eine junge Frau namens Dorothy Doe vor, die unter tausend Dingen zum Zeitpunkt t auswählen kann, die aber am Wählen gehindert wird, oder vielmehr am Tun desjenigen, das sie am liebsten tun würde. Ein junger Mann namens Richard Roe dagegen kann zum Zeitpunkt t nur eine Sache tun, aber zufällig ist es genau das, was er ohnehin am liebsten tun möchte. Richard Roe, so könnte man sagen, ist nicht nur ‚vergleichsweise‘ oder ‚weitgehend‘ unfrei; er ist vielmehr vollkommen unfrei, denn wenn man sagt, dass einer nur eine Sache tun kann, so heißt dies, dass er gezwungen ist, genau diese Sache zu tun. Und es ist unstreitig, dass jemand nicht frei sein kann und gleichzeitig gezwungen ist, genau eine bestimmte Sache zu tun. Es kann jedoch sein, dass Richard Roe total zufrieden ist mit der Anordnung der Dinge und den Zwang sogar willkommen heißt. Dies zeigt einmal mehr, dass jemand mit der Unfreiheit zufriedener sein kann als mit der Freiheit. Dies ist zumindest die Lehre, die aus dem Beispiel des ‚Theoretikers der hypothetischen Wünsche‘ folgt. Der ‚Theoretiker der aktuellen Wünsche‘ wird bestreiten, dass Roe wirklich unfrei ist; denn immerhin kann Roe genau das tun, was er am liebsten tun möchte. Dorothy Doe könnte andererseits gerade die letzte Gelegenheit verpasst haben, ihrer Karriere als medizinische Wissenschaftlerin nachzugehen, oder ihre letzte Chance den Mann zu heiraten, den sie liebt, oder ein Heilmittel gegen die Krankheit ihres Kindes zu finden. Sie ‚erfreut‘ sich aber tausender Wahlmöglichkeiten mehr als Richard Roe. Sie scheint beispielsweise hinsichtlich künftiger Heiratspartner 522
Freiheit
freier zu sein als er (einhundert Philosophen stehen bereit, um sie schon morgen zu heiraten, aber sie verschmäht sie alle). Doch ihre größere Freiheit ist von keinem merklichen Nutzen für sie. Sie wird freier, aber dennoch unglücklicher sein als Roe. Dieses Beispiel mag dem Theoretiker des Bewegungsspielraums mehr gefallen als jenem der aktuellen Wünsche, es mag aber noch stärker den wertorientierten Freiheitsphilosophen unterstützen, der nachstehend betrachtet wird. Ist Dorothy Doe wirklich freier, nur weil sie mehr Wahlmöglichkeiten hat? Ist nicht die übergeordnete Intensität des Wunsches aus ihrer Sicht genauso wichtig wie die reine Anzahl der Wahlmöglichkeiten? Die Befürworter der Theorie einer Freiheit der hypothetischen Wünsche sträuben sich häufig dagegen, die Wunschintensität in unsere Überlegungen aufzunehmen, teilweise wegen der Gefahr, dass die Frage dadurch auf eine rein normative Angelegenheit reduziert würde, die sich einfach durch die Überlegung entscheidet, welche Definition des Wortes ‚frei‘ seine Bedeutung am besten mit etwas verbindet, das die Wertschätzung verdient, die wir eben mit diesem Wort verbinden. Das Problem einer numerischen Zählung von Wahlmöglichkeiten bleibt eine Schwierigkeit für alle der oben genannten Theorien. Berlin hatte anfangs geschrieben, dass „die Methode des Zählens [von Möglichkeiten] niemals mehr sein kann, als einen ersten Eindruck zu vermitteln. Handlungsmöglichkeiten sind keine gesonderten Dinge wie Äpfel, die man erschöpfend zählen kann“ (‚Two Concepts of Liberty‘, 1958, S. 130, Fn. 1). Aber diese Vereinzelung möglicher Handlungen ist nicht das einzige Problem für einen Philosophen, der quantitative Messmethoden auf die zahlreichen Dimensionen der Freiheit anwenden will, einschließlich jener der Umfassendheit, der Fruchtbarkeit und der Verschiedenheit. Und man erschöpft die relevanten Möglichkeiten nicht durch eine Aufteilung aller Handlungen in mögliche und unmögliche. Es gibt auch noch die komplexen Kategorien wie z.B. schwierig und leicht, möglich bei großem Aufwand und möglich bei geringem Aufwand, statistisch wahrscheinlich und statistisch unwahrscheinlich, Mehrfachwahlmöglichkeiten gegenüber disjunktiv ausschließlichen Wahlmöglichkeiten etc. Es ist schwierig genug, mit solchen Messmethoden umzugehen, aber sie sind meistens ebenso schwer zu umgehen, insbesondere dann, wenn wir fortfahren, von einer Einzelperson oder eine Gesellschaft zu sprechen, die mehr Freiheit hat als eine andere. Überdies treten alle Schwierigkeiten erneut auf, wenn ein Philosoph meint, dass sowohl die Anzahl und die Bedeutung, die Wichtigkeit oder der Wert offener Handlungsalternativen bestimmt, wie frei jemand ist (und wahrscheinlich teilen die meisten Philosophen eine solche kombinierte Auffassung), und wenn er dann vom Zählen der Handlungsalternativen Abstand nimmt und sich stattdessen der Bewertung dieser Alternativen zuwendet. Siehe auch: Zwang; Freier Wille; Meinungsfreiheit; Liberalismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Miller, D. (Hrg., 1991): ‚Liberty‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine sehr nützliche Bibliographie philosophischer Analysen der Freiheit. Enthält unter anderem einflussreiche von T.H. Green, Isaiah Berlin, Gerald C. MacCallum und G.A. Cohen.) Pelczynski, Z.A. und Gray, J.N. (Hrg., 1984): ‚Conceptions of Liberty in Political Philosophy‘. London: Athlone Press. (Zeitgenössische Autoren diskutieren die 523
Freiheit, geistige
unterschiedlichen Konzepte der Freiheit, die im Laufe der Geschichte entwickelt wurden, und zwar von den Griechen bis zu John Rawls. Ein ausführlicheres Thema ist der Vergleich zwischen den verschiedenen Auffassungen mit Berlins Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit.) JOEL FEINBERG
Freiheit, göttliche
In der theistischen Tradition meinten viele Denker, dass Gott unendlich mächtig ist, ferner allwissend, vollkommen gut und vollkommen frei. Wie aber verträgt es sich mit der angeblichen Handlungsfreiheit Gottes, dass ein vollständig gutes Wesen unbeirrbar aber jeweils dem besten Verlauf einer Handlung folgt? Zwei unterschiedliche Auffassungen der göttlichen Freiheit haben sich mit der Zeit entwickelt. Nach der ersten handelt Gott frei, vorausgesetzt, sofern nichts Äußerliches bestimmend auf sein Handeln einwirkt. Wenn wir also Gottes Handlung der Welterschaffung bedenken, so ist es klar, dass er der ersten Auffassung zufolge frei handelte, denn es gab nichts Äußerliches, dass ihn bestimmte, das zu tun, was er tat. Die Schwierigkeit dieser Auffassung liegt darin, dass sie die Möglichkeit vernachlässigt, dass Gottes eigenes Wesen von ihm verlangen könnte, eine ganz bestimmte Welt zu schaffen anstatt einer anderen oder gar keiner. Nach der zweiten Auffassung ist Gott frei in seinem Handeln, sofern es auch in seiner Macht liegt, die jeweilige Handlung nicht vorzunehmen. Anders als die erste Auffassung handelt Gott bereits frei, wenn nichts über Gottes Kontrolle hinaus die Notwendigkeit mit sich bringt, dass er diese Handlung ausführt. Das Problem dieser Auffassung ist, dass es Gott als einem vollkommen guten Wesen nicht möglich ist, nicht dem jeweils besten Handlungsverlauf zu folgen; daher ist es schwer einzusehen, wie Gott bei einer Handlung frei sein soll. Siehe auch: Allmacht; Freier Wille; Leibniz, G.W. §§ 3, 7 WILLIAM L. ROWE
Fremdgeistige, Das Einführung Traditionell dachte man, dass das Problem des Fremdgeistigen ein erkenntnistheoretisches sei: wie können wir wissen, dass andere Menschen Gedanken haben, Erfahrungen machen und Gefühle empfinden? Wir verfügen zumindest über kein direktes Wissen, dass dies so ist. Wir beobachten ihr Verhalten und ihre Körper, nicht dagegen ihre Gedanken, Erfahrungen und Gefühle. Die Aufgabe wurde folglich als jene verstanden, die Rechtfertigung dafür freizulegen, dass wir von unserem Glauben an den Geist anderer Menschen überzeugt sind. Gleichzeitig sah man hier auch ein begriffliches Problem: wie können wir eine Vorstellung von mentalen Zuständen außer unseren eigenen haben? Es ist durchaus bemerkenswert, dass auf keine dieser Fragen bislang eine Standardantwort entwickelt wurde. Unsere Antwort auf dieses traditionelle erkenntnistheoretische Problem war bisher der Analogieschluss auf den Geist anderer Menschen, indem wir uns auf die vielen Ähnlichkeiten berufen, die zwischen uns selbst und anderen bestehen. Diese Antwort, obwohl sie von den Philosophen Allgemeinen inzwischen nicht mehr favorisiert wird, hat immer noch ihre Anhänger. Die heutzutage vermutlich favorisierte Auffassung des Fremdgeistigen dürfte sein, die Frage als logisch auf einer Stufe mit jener nach den unbeobacht524
Fremdgeistige, Das
baren, theoretischen Entitäten der Naturwissenschaften zu betrachten. Dass andere Menschen wie wir Erfahrungen machen, wird demnach als die beste Erklärung ihres Verhaltens betrachtet. 1. Was erzeugt die beiden Probleme des Fremdgeistigen? 2. Wer hat damit ein erkenntnistheoretisches Problem? 3. Der Analogieschluss auf das Fremdgeistige 4. Das Fremdgeistige als theoretische Entität 5. Kriterien des Fremdgeistigen 6. Privatsprache und das Fremdgeistige 1. Was erzeugt die beiden Probleme des Fremdgeistigen? Das erkenntnistheoretische Problem des Fremdgeistigen entsteht aufgrund von zwei Tatsachen: (1) Es mangelt uns an direktem Wissen über die mentalen Zustände anderer Menschen. (2) Wir haben ein solches Wissen zumindest von einigen unserer eigenen mentalen Zustände. Fasst man die beiden Behauptungen zusammen, so ergibt sich das Problem des Fremdgeistigen. Die maßgebliche Asymmetrie zwischen unserem eigenen Fall und dem der anderen wird zur Frage des unmittelbaren oder direkten Wissens, nicht der Beobachtung. Selbst wenn man in der Lage wäre, die mentalen Zustände anderer zu beobachten, würden wir das Problem damit nicht umgehen. Erforderlich wäre vielmehr die Fähigkeit zur Beobachtung jener mentalen Zustände als solche anderer Menschen. Sie müssten benannt werden. Erst dann wäre die Situation in dem Sinne symmetrisch, dass wir über unmittelbares Wissen des Fremdgeistigen verfügten, dass uns jetzt fehlt. Dieselbe Asymmetrie erzeugt aber auch ein begriffliches Problem. Wie können wir eine Vorstellung von den Erfahrungen anderer Menschen haben, wenn wir über direktes Wissen doch nur auf der Grundlage eigener Erfahrungen verfügen, die wir auch korrekt unsere eigenen nennen? Und auch hier ist das Problem nicht etwa, dass wir die Schmerzen anderer Menschen nicht beobachten können. Erforderlich wäre vielmehr, dass wir solche Schmerzen wirklich als die Schmerzen anderer beobachten. Über diese begrifflichen Probleme wurde vergleichsweise wenig diskutiert, und deshalb wird auch hier nicht mehr zum begrifflichen Problem des Fremdgeistigen gesagt werden, abgesehen davon, dass seine Lösung nicht das erkenntnistheoretische Grundproblem lösen würde. Dieses wird nunmehr nachstehend diskutiert. 2. Wer hat damit ein erkenntnistheoretisches Problem? Der ‚heroische‘ Weg zur Vermeidung des Problems des Fremdgeistigen lautet, dass die behauptete Asymmetrie zwischen mir und den anderen überhaupt nicht besteht. Einige schlugen diesen Weg ein, indem sie darauf beharrten, dass wir direktes Wissen von den mentalen Zuständen anderer haben, obwohl diese Auffassung allgemein als unplausibel angesehen wird. Es scheint jedoch innerhalb der feministischen Theorie eine wichtige Denkrichtung zu geben, die ebenfalls die besagte Asymmetrie bestreitet. Auf ähnliche Weise besteht in der kontinentaleuropäischen Philosophie allgemein die Auffassung, dass es anderer Menschen bedarf, um uns selbst überhaupt als Personen wahrzunehmen (siehe Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der). Dann würde unser Empfinden für die anderen Menschen sogar dem Empfinden von uns selbst vorausgehen. Dies wiederum würde eine gewisse Fähigkeit zur Erkenntnis des Anderen voraussetzen, bevor man überhaupt sich selbst ken525
Fremdgeistige, Das
nen lernt. Die Asymmetrie würde damit als offenbar umgedreht, und das Problem des Fremdgeistigen würde somit zum Problem der Erkenntnis des eigenen Geistes und wäre damit genauso wenig gelöst wie zuvor. Nimmt man die Asymmetrie so, wie sie allgemein angenommen wird und schließt sich damit dem traditionellen Verständnis des Problems des Fremdgeistigen an, so ist es praktisch ein Gemeinplatz zu glauben, dass nur eine traditionell dualistische Sichtweise des Geistes ein schwieriges Problem des Fremdgeistigen zur Folge hat (siehe Dualismus). Obwohl im Allgemeinen die Theorien des Geistes eine Asymmetrie akzeptieren, haben doch nicht alle ein Problem damit. Der Behaviorismus (siehe Behaviorismus, analytischer) ist eine Theorie des Geistes, die damit entweder überhaupt kein Problem hat, oder wenn sie doch eines hat, dann hat sie zumindest keine Schwierigkeiten, dies zu lösen. Es gibt keine speziellen Probleme betreffend das Wissen über das Verhalten und die Verhaltensdispositionen anderer Menschen. Der Funktionalismus ist eine weitere Theorie des Geistes, von der es heißt, sie habe keinerlei Problem mit dem Fremdgeistigen. Mentale Zustände werden als interne Zustände eines Organismus betrachtet, die seine Antworten und Reaktionen auf seine Umwelt regeln. Diese zahlreichen mentalen Zustände differenzieren sich entsprechend ihren funktionalen Rollen, und sie haben keine weiteren Merkmale, die für ihre Qualifikation als mentale Zustände relevant sind (siehe Funktionalismus). Die Funktionalisten behaupten nun, wenn sie mit dem Verhalten von anderen konfrontiert werden, sie könnten aus den entsprechenden Beziehungen dieser Zustände zum Verhalten anderer direkt schließen, dass solche internen Zustände existieren. Die eliminativen Materialisten betrachten sich ebenfalls als eine Gruppe, die keinerlei Problem mit dem Fremdgeistigen hat. Wenn es gar keinen Geist gibt, dann gibt es auch nichts Fremdgeistiges, und das ganze Problem existiert überhaupt nicht (siehe Eliminativismus). Hiergegen wurde jedoch eingewandt, dass alle diese Theorien des Geistes das Problem des Fremdgeistigen gar nicht berühren und seine Schwierigkeit auch nicht lindern. Theorien des Geistes sind tatsächlich Theorien aller Geister, d.h. des jeweils eigenen und aller anderen. Sofern sie hinsichtlich aller Geister wahr sein sollen, also auch hinsichtlich der fremden Geister, so können sie nicht als Beweis dafür verwandt werden, dass es wirklich andere Geister gibt. Es ist nicht akzeptabel zu argumentieren, dass z.B. der Funktionalismus wahr sei, und dann diese Behauptung zur Lösung der anderen Probleme des Fremdgeistigen einzusetzen. Denn über die Wahrheit solcher Lösung kann nichts ausgesagt werden, wenn sie für ‚den Geist‘ im Allgemeinen gelten soll, solange nicht bewiesen ist, dass sie für einen anderen Geist gilt. Wie aber kann dies erkannt werden, ohne dass zuvor das Problem des Fremdgeistigen gelöst wird? Im Zusammenhang mit dieser Argumentationslinie wurde darauf hingewiesen, dass eine Theorie des Geistes, die von der Existenz vieler Geister ausgeht, auch von der Existenz des eigenen Geistes desjenigen ausgehen muss, der diese Theorie vorträgt. Eine Schlüsselfrage des Beweises einer Theorie des Geistes, die meist implizit verhandelt wird, ist es also, dass diese Theorie zur Erfahrung desjenigen passt, der sie vertritt. Dies ist die einzige Möglichkeit des direkten Beweises, die zu ihren Gunsten vorgetragen werden kann. Die eigene Erfahrung des Vertreters dieser Theorie ist also von ausschlaggebender Bedeutung. An diesem Punkt wurde einge526
Fremdgeistige, Das
wandt, dass es kein Entkommen aus dieser Abhängigkeit von der eigenen Erfahrung gibt, und dass, wie wir noch sehen werden, eine jede solche Abhängigkeit als eine schwerwiegende Schwäche einer jeglichen Rechtfertigung des Glaubens an das Fremdgeistige betrachtet wird, wie auch immer diese Rechtfertigung aussehen mag, 3. Der Analogieschluss auf das Fremdgeistige Die traditionelle Lösung des Problems des Fremdgeistigen ist der Analogieschluss. Andere Menschen verhalten sich unter ähnlichen Umständen wie ich und weisen dieselbe physiko-chemische Beschaffenheit auf. Wenn ich mich verbrenne, tut dies weh und ich schreie auf und zucke zusammen. Wenn andere Leute sich verbrennen, schreien sie ebenfalls auf und zucken zusammen. Ich kann daraus schließen, dass sie ebenfalls Schmerz empfinden. Allgemeiner gesagt: die anderen sind mir sehr ähnlich. Ich weiß, dass ich Überzeugungen, Erfahrungen und Gefühle habe. Deshalb bin ich berechtigt zu schließen, eben weil sie ähnlich wie ich sind, dass andere Menschen auch Überzeugungen, Erfahrungen und Gefühle haben. Dieser traditionelle Analogieschluss auf das Fremdgeistige wird nun allgemein in einen hypothetischen Schluss (d.h. einen wissenschaftlichen Schluss oder einen Schluss auf die beste Erklärung) auf das Fremdgeistige. Um eventuelle andere, alternative Hypothesen über das Fremdgeistige auszuschließen, muss der Beweis die Form eines hypothetischen Schlusses haben (siehe Schluss auf die beste Erklärung). Aber diese Berufung auf den eigenen Fall und auf eventuelle Ähnlichkeiten bleibt die Schlüsselfrage dieses Analogie- bzw. hypothetischen Schlusses. Dass nun tatsächlich der eigene Fall zur Schlüsselfrage wird gibt Anlass zu dem klassischen und immer wieder erhobenen Vorwurf gegen den Analogieschluss auf das Fremdgeistige, dass dies eine (unzulässige) Verallgemeinerung auf der Grundlage lediglich eines Einzelfalls sei. Solche Verallgemeinerungen sind praktisch durchweg unschlüssig. Obwohl es Bemühungen gab, den Analogieschluss auf das Fremdgeistige in eine Form zu bringen, die diesen Einwand vermeidet, wird doch allgemein angenommen, dass alle diese Versuche nicht erfolgreich waren. Ihre Anhänger argumentieren jedoch, dass der analoge bzw. hypothetische Schluss, selbst wenn der Einwand triftig sein sollte, gültig sei, auch wenn er nur auf einem einzigen Fall beruhe. Mehr als ein Beispielfall würde nämlich nur dann benötigt, wenn es um die Frage der kausalen Verknüpfung von Ereignissen ginge. Wo bereits auf der Grundlage eines einzigen Falls heraus das Wissen möglich ist, dass dort eine bestimmte kausale Verknüpfung gegeben ist, wird dieser eine Fall auch genügen. Hier wird also behauptet, dass die relevante kausale Verknüpfung unter Beteiligung von mentalen Zuständen gültig aus der Kenntnis des eigenen Falls heraus erkannt werden kann. Obwohl traditionell darauf bestanden wurde, dass die relevante kausale Verknüpfung eine solche von mentalen Zuständen und Verhalten sei, drängte man andererseits darauf, dass die relevante kausale Verknüpfung eine solche zwischen Gehirnzuständen und mentalen Zuständen sei, wenn der analoge bzw. hypothetische Schluss vertretbar sein solle. Der andere klassische Einwand gegen den Analogieschluss auf das Fremdgeistige lautet, dass seine Schlussfolgerung unmöglich zu überprüfen sei, und zwar nicht nur tatsächlich, sondern grundsätzlich. Dieser Einwand scheint aber inzwischen keine erkenntnistheoretische Bedeutung mehr zu haben.
527
Fremdgeistige, Das
4. Das Fremdgeistige als theoretische Entität Das Fremdgeistige als eine theoretische Entität aufzufassen ist vermutlich die unter den gegenwärtigen angloamerikanischen Philosophen favorisierte Lösung zur Lösung des Problems des Fremdgeistigen. Die Rechtfertigung hat auch hier die Form eines hypothetischen Schlusses. Dass andere Menschen ebenfalls mentale Zustände aufweisen, wird hypothetisch daraus erschlossen, wie sich andere Menschen verhalten. Allerdings geht man hier rein äußerlich vor. Keine Evidenz, die aus dem eigenen Fall gewonnen wurde, taugt zur Bestätigung dieser Hypothese. Damit wird der ‚Einwand des Einzelfalls‘, von dem weitgehend angenommen wird, dass er vernichtend für den Analogieschluss ist, hier umgangen. So jedenfalls lautet eine verbreitete Auffassung. Wiederum besteht weitgehende Einigkeit dahingehend, dass die Behandlung des Fremdgeistigen auf diese Weise, d.h. als theoretische Entitäten, erfolgreich ist, wenn man eine funktionalistische oder dem nahe stehende Auffassung des Geistes vertritt. Diese beiden Ansätze scheinen geradezu füreinander erfunden zu sein. Allerdings würde das Argument aus oben stehendem § 1, demzufolge keine Theorie des Geistes einen Vorteil gegenüber anderen solchen Theorien zur Unterstützung der Überzeugung vom Fremdgeistigen hat, auch bei einer Anwendung auf diesen Fall der versuchsweisen Vermeidung der Abhängigkeit vom eigenen Zustand greifen. Umgekehrt wurde eingewandt, dass eine Behandlung des Fremdgeistigen als theoretische Entität solange erfolglos sein wird, wie man sich nicht mit einer funktionalistischen oder dem Funktionalismus nahe stehender Theorie des Geistes behilft. Eine traditionelle Auffassung der mentalen Zustände, die zugibt, dass diese einen spezifischen Inhalt haben – insbesondere phänomenale Eigenschaften wie z.B. den Schmerz (siehe Qualia) – kann durch diese Methode allerdings nicht unterstützt werden. Eine Behandlung der mentalen Zustände des Fremdgeistigen als theoretische Entitäten, wird eingewandt, versieht diese Zustände nicht mit den benötigten spezifischen Eigenschaften. Der besagte Inhalt kann wieder nur durch eine Berufung auf den eigenen Fall herbeigeschafft werden. 5. Kriterien des Fremdgeistigen Behandelt man das Fremdgeistige als theoretische Entität, jedoch als Alternative zum Analogieschluss, so nimmt dies die Form eines hypothetischen Schlusses an. Jene, die auf die dabei eingesetzten Kriterien einen besonderes Augenmerk werfen, haben dagegen versucht, den sog. ‚Einwand des Einzelfalls‘ dadurch zu vermeiden, dass sie überhaupt jeder Form von Schlussfolgerung aus dem Weg gehen. Sie bestehen darauf, dass die Verknüpfung zwischen Verhalten und mentalen Zuständen weder, wie im Behaviorismus, eine Folgebeziehung darstelle, noch ein Induktionsschluss sei. Vielmehr solle die Verknüpfung eine begriffliche sein, und solche Verknüpfungen würden typischerweise als Grundlage einer Bewertung dienen. Es wurde auch behauptet, dass eine solche, nicht schlussfolgernde Verknüpfung erforderlich sei, wenn wir überhaupt irgendeine Vorstellung von den Erfahrungen anderer haben wollen. Ein Beispiel einer solchen, nicht schlussfolgernden Verknüpfung wäre die Behauptung, dass Jucken begrifflich mit Sich-Kratzen verbunden sei, d.h. dass beide Ausdrücke nicht nur kontingent korreliert seien. Unser Begriff des Juckens lautet, dass das Jucken zum Sich-Kratzen veranlasst. Und darüber hinaus wird behauptet, 528
Fremdgeistige, Das
dass das Sich-Kratzen ein Beweis für das Jucken sei, eben weil das Jucken zum Sich-Kratzen veranlasst. Dass überhaupt solche begrifflichen Verknüpfungen bestehen, wurde gleichermaßen umfassend bejaht und bestritten. Und dass solche Verknüpfungen, selbst wenn sie bestehen, eine ausreichende Grundlage für die Überzeugung von mentalen Zuständen anderer Menschen bilden, wurde noch viel heftiger bestritten. Die Stoßrichtung dieses Angriffs auf die Verwendung von Kriterien zur Unterstützung der Überzeugung von Zuständen anderer Menschen lautet dabei, dass solche begrifflichen Verknüpfungen keine Brücke über den Abgrund zwischen dem beobachteten Verhalten und den unbeobachteten inneren Zuständen schlagen, mit denen sie angeblich begrifflich verknüpft seien. Wenn es keine direkte Folgebeziehung zwischen beidem gibt, und auch keine Berufung auf irgendeine Form des Induktionsschlusses möglich ist, so stünden wir vor dem besagten Abgrund wie zuvor. Dieser kann nicht durch ein einfaches fiat überschritten werden. Eine Möglichkeit zum Verständnis dessen, was als ‚einstellungsbasierter Ansatz‘ gegenüber dem Fremdgeistigen bezeichnet wurde, sieht diesen als einen an, der über die weitere Verwendung von Anhaltspunkten durch das Beharren darauf hinausgeht, dass unsere Konzeption der anderen Menschen darauf aufbaut, dass diese Seelen seien und Erfahrungen hätten. Das sei es, was wir an ihnen wahrnähmen. Und diese Wahrnehmung sei gänzlich unmittelbar und gehe jeder Überzeugung voraus. Diese Auffassung scheint allerdings ebenfalls dem Problem der ‚Kriterienkluft‘ zu verfallen. Wie auch immer wir die Wirklichkeit konzipieren, unsere Vorstellungen können immer wieder falsch sein. Es gibt Einstellungen gegenüber Dingen und Menschen, die, auch wenn sie ganz und gar unmittelbar und viel tiefer verankert sind als eine intellektuelle Schlussfolgerung, trotzdem falsch sein können; rassistische und sexistische Vorurteile liefern hierfür ungute Beispiele. 6. Privatsprache und das Fremdgeistige Sehr verbreitet war ferner die Auffassung, dass die Sprache ein öffentliches Phänomen sei. Viele beharrten darauf, dass sie zumindest im Wesentlichen öffentlicher Natur sei. Eine Möglichkeit, diese Behauptung zu verstehen, ist klassisch mit den Wittgensteinschen Argumenten hierzu verbunden. Eine Sprache, die notwendig privater Natur ist, d.h. die nur eine einzige Person versteht, sei logisch unmöglich und somit, streng genommen, gar keine Sprache (siehe Privatsprache, Argument der). Die Verknüpfung mit dem Problem des Fremdgeistigen ist strittig. Es scheint allerdings klar zu sein, dass diese Verknüpfung in der Begründung besteht, die für die Unmöglichkeit einer solchen Privatsprache gegeben wird. Diese Begründung beruht direkt auf dem Analogieschluss auf das Fremdgeistige. Von einer notwendig privaten Sprache heißt es, sie sei unmöglich, weil eine Sprache grundsätzlich der Auffassung durch jemand anderes als den, der sie gerade verwendet, bedarf. Allgemein betrachtet durchbricht jemand, der sich des Analogieschlusses auf das Fremdgeistige bedient, dieses Prinzip. Man bestand darauf, dass jeder von uns wisse, was ein psychologischer Ausdruck meint (oder zumindest einige von ihnen), und zwar durch Rückbezug auf uns selbst, und nur auf uns selbst. Die Verwendung solcher Ausdrücke wäre damit grundsätzlich keine, deren Konsistenz überprüft werden könne. Die Funktionalisten hingegen behaupten nichts dergleichen, und es lohnt den Hinweis, dass die Verknüpfung der Privatsprache mit dem 529
Freud, Sigmund (1856–1939)
Fremdgeistigen von der Verwendung von Ausdrücken abhängt, deren Bedeutung in dem hier relevanten Sinne privat wäre. Die Verknüpfung ist keine direkte zwischen irgendeinem bestimmten Beweis des Fremdgeistigen. Das Argument der Notwendigkeit einer Überprüfung (Robinson Crusoe hätte also grundsätzlich kein Problem mit dem Fremdgeistigen) wird allgemein so begründet, dass andernfalls keine Unterscheidung mehr möglich wäre zwischen dem Glauben des Sprachverwenders, seine Sprache sei konsistent, und der Tatsache, dass dies wirklich der Fall ist. Es gäbe nicht mehr als einen subjektiven Eindruck oder Glauben, dass dies der Fall sei. Diese Auffassung wurde wiederum heftig angefochten. Das Argument der Unmöglichkeit einer Privatsprache wurde nicht allgemein als ausdrücklicher Beweis für das Fremdgeistige eingesetzt. Dies wäre auch gar nicht möglich. Schließlich gilt, dass eine Sprache nur im Prinzip durch andere Menschen überprüfbar ist. Eine wichtige, wenn auch indirekte Rolle könnte dieses Argument bei seiner Unterstützung jener spielen, die auf der Notwendigkeit einer begrifflichen Verknüpfung zwischen inneren Zuständen und öffentlich beobachtbaren Zuständen bestehen (siehe Kriterien). Anmerkungen und weitere Lektüre: Buford, T.O. (Hrg.) (1970): ‚Essays on Other Minds‘. Chicago, Illinois: University of Illinois Press. (Eine nützliche Sammlung sehr unterschiedlicher Aufsätze, einschließlich einiger klassischer Texte, insbesondere zweier von N. Malcolm mit Darstellungen von Wittgenstein.) ALEC HYSLOP
Freud, Sigmund (1856–1939)
Freud entwickelte die Theorie und Praxis der Psychoanalyse, die eine der einflussreichsten Schulen der Psychologie und Psychotherapie des 20. Jahrhunderts war. Er stellte eine Beziehung mit seinen Patienten her, die die relevante Information zur Interpretation ihres Verhaltens maximierte. Dies erlaubte ihm die Erklärung von Träumen, Symptomen und vielen anderen Phänomenen, die zuvor nicht mit Wünschen in Beziehung gesetzt wurden. Im Ergebnis war er imstande, unsere alltägliche Sicht der Motivationspsychologie radikal zu erweitern. Nach Freuds Darstellungen sind alltägliche Handlungen durch Motive bestimmt, die viel zahlreicher und komplexer sind, als die Menschen gewöhnlich annehmen, oder die von einem Alltagsverständnis in Betracht gezogen werden. Die grundlegendsten und konstantesten Motive, die unsere Handlungen beeinflussen, sind unbewusst, und das heißt, schwierig zu erkennen oder einzugestehen. Solche Motive sind Rückstände von Begegnungen mit bedeutsamen Personen und Situationen der Vergangenheit, die oftmals bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Diese Motive sind nicht etwa wirksam, um reale Befriedigung zu erlangen, sondern vielmehr zur Sicherung einer Form von Beruhigung durch ihre Darstellung. Wenn wir interpretieren, was andere sagen und tun, wenden wir diese Muster der Befriedigung und Beruhigung an, um ihr Verhalten zu erklären. Und soweit wir mit unserem Verständnis der anderen auf diese Weise erfolgreich sind, stimmen wir diesen Mustern als empirischen Verallgemeinerungen zu. Während wir anerkennen, dass die Beruhigung, die einer echten Befriedigung folgt, tiefer ist und länger anhält als eine, die allein durch ihre Darstellung herbeigeführt wurde, wissen wir doch auch, 530
Freud, Sigmund (1856–1939)
dass menschliche Wünsche über die Gelegenheiten zu ihrer Befriedigung in einem solchen Umfange hinausgehen, dass eine Beruhigung durch Einbildung durchaus üblich ist. Dies ist eine Sichtweise, die die Psychoanalyse radikal ausdehnt. Dieses Verständnis des Geistes versetzt Freud in die Lage, eine psychologische Darstellung der Neurose und Psychose zu entwerfen und auszuführen, wie die Vergangenheit der Gegenwart auch in den normalen mentalen Funktionen Bedeutung verleiht. Vergangene Wünsche, selbst noch solche der Kindheit, sind psychologisch nicht aus der Welt; vielmehr werden sie durch den Symbolismus ständig neu artikuliert, um das ganze Leben hindurch Handlungen zwecks ihrer darstellenden (stellvertretenden) Beruhigung zu steuern. Hier liefert Freud sowohl einen holistischen Ansatz der Veranlassung von Handlungen, als auch einer naturalistischen Beschreibung der Erzeugung von Lebenssinn. Neue Ziele erlangen als Repräsentationen der unerinnerten Gegenstände unserer frühesten und tiefsten Leidenschaften Bedeutung; und die Tiefe der Befriedigung, die wir bei der gegenwärtigen Erfüllung spüren, ergibt sich aus ihrer unerkannten Beruhigung des unbekannten Wunsches aus der entfernten Vergangenheit. Paradoxerweise können auf diese Weise bedeutsame Wünsche in ihrem Ausdruck für immer flexibel, erneuerbar und zu befriedigen sein, und zwar genau deshalb, weil sie unveränderlich, frustriert und an der Wurzel ruhelos sind. Siehe auch: Jung, C.G.; Nietzsche, F.; Psychoanalyse, methodologische Fragen in der; Psychoanalyse, Post-freudianische JAMES HOPKINS
Freundschaft
Nach einem langen Niedergang ist das philosophische Interesse an der Freundschaft wieder erwacht. Dies liegt vor allem an dem neuerlichen Interesse an der antiken Moralphilosophie, an der Rolle der Gefühle in der Moral und an den ethischen Dimensionen persönlicher Beziehungen im Allgemeinen. Fragen über die Freundschaft richten sich beispielsweise darauf, ob sie nur einen instrumentellen Wert hat (d.h. ob sie nur ein Mittel für andere Werte ist), oder ob sie auch einen Wert an sich selbst besitzt, d.h. einen intrinsischen Wert; ob sie für psychologische und moralische Selbstgenügsamkeit stehen, oder eher für einen Mangel derselben; und wie die Freundesliebe sich von der unbedingten Liebe der agapē unterscheidet. Andere Fragen richten sich darauf, ob – wenn überhaupt – die Freundschaft zur Gerechtigkeit in Beziehung steht; ob die partikularistische, parteiische Perspektive der Freundschaft mit der universalistischen, unparteiischen Perspektive der Moral versöhnt werden kann; und ob die Freundschaft moralisch neutral ist. Siehe auch: Moral und Gefühle; Sexualität, Philosophie der; Vertrauen NEERA K. BADHWAR
Frieden
Siehe: Krieges und des Friedens, Philosophie des
Fromm, Erich
Siehe: Frankfurter Schule
Frühchristliche Philosophie Siehe: Patristische Philosophie
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Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation
Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation
Fundamentale Übersetzung ist der Name für die Beschreibung eines Gedankenexperiments, dass sich W.v.O. Quine in den spätern 1950er Jahren ausdachte. In diesem Experiment unternimmt es ein Linguist, einige Ausdrücke einer bislang unbekannten Sprache ins Englische zu übersetzen, und zwar aus einer Sprache, die weder historisch noch kulturell mit irgendeiner bekannten Sprache verknüpft ist. Ferner sei angenommen, dass der Linguist keinen Zugang zu Menschen hat, die in beiden Sprachen, also in Englisch und jener Sprache, die Quine ‚Dschungel‘ nennt, bewandert sind. Daher sind die einzigen empirischen Daten, auf die der Linguist zum Aufbau einer ‚Dschungel-Englisch Übersetzungsanleitung‘ verwenden kann, die Verhaltensbeispiele des Dschungel-Muttersprachlers unter öffentlich erkennbaren Umständen. Indem er das fragmentarische Wesen dieser Daten überdenkt, zieht Quine die folgenden Schlüsse: (1) Es ist sehr wahrscheinlich, dass bestimmte theoretische Sätze auf ‚Dschungel‘ auf unterschiedliche Weise als Ganze ins Englische übersetzt werden können, und zwar auf gegenseitig unvereinbare und doch gleichermaßen akzeptable Art und Weise. Mit anderen Worten, die Übersetzung theoretischer Sätze ist unbestimmt. Ausgehend von der Annahme, dass ein Satz und seine Übersetzung dieselbe Bedeutung haben, ist die Folge der Unbestimmtheit der Übersetzung eine Unbestimmtheit der Bedeutung: die Bedeutungen theoretischer Sätze natürlicher Sprachen sind nicht durch empirische Daten fixiert. Tatsache ist vielmehr, dass der ‚fundamentale Übersetzer‘ daran gebunden ist, soviel Bedeutung als er nur entdecken kann, anzunehmen. Dieses Ergebnis, zusammen mit dem Quineschen Diktum ‚No entity without identity‘ (dt.: ‚[Es gibt] keine Entität ohne Identität‘) untergräbt die Idee, dass Propositionen die Bedeutungen von Sätzen sind. (2) Keine der Fragen, welche Dschungel-Ausdrücke als Begriffe zu gelten haben, noch die Frage, auf welche Gegenstände, wenn überhaupt, sich DschungelBegriffe beziehen, kann dadurch beantwortet werden, dass man sich allein auf empirische Daten beruft. Kurz gesagt, die empirischen Daten fixieren nicht die Referenz. Die Idee der fundamentalen Interpretation wurde von Donald Davidson in den 1960er und 1970er Jahren als eine Modifikation und Erweiterung der Quineschen Idee der radikalen Übersetzung entwickelt. Quine beschäftigte sich mit dem Umfang, in dem empirische Daten die Bedeutungen von Sätzen einer natürlichen Sprache bestimmen. In der Fassung der ‚fundamentalen Interpretation‘ beschäftigt sich Davidson mit einer davon verschiedenen Frage, nämlich jener, was eine Person wissen müsste, damit sie imstande wäre, eine andere Sprache zu interpretieren (auszulegen). Was müsste beispielsweise jemand wissen, damit er imstande ist, den englischen Satz ‚It is raining‘ in der Bedeutung von ‚Es regnet‘ zu verstehen? Das erforderliche Wissen für eine Interpretation unterscheidet sich von dem Wissen, das für eine Übersetzung erforderlich ist, denn jemand könnte wissen, dass ‚It is raining‘ als ‚Il pleut‘ ins Französische übersetzt wird, ohne die Bedeutung auch nur eines der beiden Sätze zu kennen. Beginnt man mit dem Wissen, dass der Muttersprachler gewisse Sätze für wahr hält, wenn er sich in bestimmten, öffentlich erkennbaren Umständen befindet, so strebt Davidsons fundamentaler Interpret nach einem Verständnis der Bedeutung dieser Sätze. Davidson trägt vor, dieses Szenario offenbare, dass sich die Interpretationen auf das Wissen einer Person konzentrierten, das mit einer empirisch verifizierten, endlich basierten und rekursiven Bestimmung 532
Funktionale Erklärung
der Wahrheitsbedingungen für eine unendliche Vielzahl von Sätzen vergleichbar sei. Dies sei offenbar eine Theorie ähnlich der Tarskischen Wahrheitstheorie. Deshalb sollten Quines fundamentale Übersetzung und Davidsons fundamentale Interpretation nicht als Konkurrenten betrachtet werden, denn obwohl die in den beiden Zusammenhängen angewandten Methoden ähnlich sind, wurden diese beiden Zusammenhänge doch entworfen, um unterschiedliche Fragen zu beantworten. Ferner ist die Interpretation ein weiter gefasstes Unternehmen als die Übersetzung; Sätze, die nicht übersetzt werden können, kann man dennoch immer noch interpretieren. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Davidson, D.; Hermeneutik; Quine, W.V.O.; Referenz ROGER F. GIBSON
Funktionale Erklärung
Erklärungen, die sich auf die Funktionen der Dinge berufen, sind im alltäglichen Gespräch üblich, und so auch in der Wissenschaft. Wir sagen, dass das Herz Blut pumpt, weil dies seine Funktion ist, und dass das Auto nicht startet, weil die Zündung nicht funktioniert. Darüber hinaus unterscheiden wir die Funktion der Dinge von anderen Dingen, die sie tun: das Herz macht Geräusche, aber das gehört nicht zu seiner Funktion. Philosophische Diskussionen auf diesem Gebiet versuchen die Bedingungen auszumachen, unter denen es angemessen ist, Dingen Funktionen zuzuschreiben, und unter welchen Bedingungen es angemessen ist, sich auf diese Funktionen als Erklärungen zu berufen. Schwierigkeiten entstehen, wenn Funktionen normativer Natur sind: in gewissem Sinne sollen die Dinge ihre Funktionen erfüllen; tun sie dies nicht, so ist dies eine Art von Fehler. Philosophische Diskussionen untersuchen, ob und wie diese Normativität in wissenschaftlich beachtlicher Form verstanden werden kann. Dies ist wichtig, weil biologische Entitäten besonders typische Beispiele für funktionale Gegenstände sind. Dieser Umstand gibt Raum für unterschiedliche Auffassungen, was funktionale Erklärungen eigentlich erklären. Eine Auffassung ist, dass sie etwas darüber aussagen, wie ein inhaltliches System ein Ziel oder eine Wirkung erreicht. Eine weitere sagt, dass funktionale Erklärungen kausal erklären, warum funktionale Aspekte existieren. Siehe auch: Kausalität; Technologie, Philosophie der; Teleologie RICHARD N. MANNING
Funktionalismus
Der Ausdruck ‚Funktionalismus‘ meint unterschiedliche Dinge in vielen unterschiedlichen Disziplinen, angefangen bei der Architekturtheorie bis zur Zoologie. In der zeitgenössischen Philosophie des Geistes jedoch wird er einheitlich als die Auffassung verstanden, dass mentale Zustände durch ihre kausalen Rollen erklärt werden sollten. An einem einfachen Beispiel betrachtet würde eine Funktionalist in der Philosophie des Geistes argumentieren, dass Schmerzen Zustände sind, die normalerweise durch einen körperlichen Schaden verursacht werden, und der dazu neigt, Vermeidungsverhalten hervorzurufen. Der Funktionalismus wird oft im Wege einer Analogie zwischen mentalen Zuständen und mechanischen Vorrichtungen begründet. Man betrachte beispielsweise einen Vergaser. Damit etwas ein Vergaser sein kann, muss es keine bestimmte äußerliche Beschaffenheit aufweisen. Vergaser können in zahlreichen Materialien und Formen hergestellt werden. Was einen Vergaser ausmacht ist lediglich, dass er 533
Funktionalismus
eine bestimmte kausale Rolle spielt, nämlich die, dass er Luft mit einem Kraftstoff mischt, und zwar im Zusammenspiel mit Bewegungen des Gaspedals und der Kraftstoffpumpe. Ähnlich arbeitet der Geist, sagen die Funktionalisten. Der Besitz eines mentalen Zustandes hängt nicht von den physischen Äußerlichkeiten des Gehirns ab; er hängt nur davon ab, dass er die entsprechenden kausalen Strukturen aufweist. Da Organismen mit so unterschiedlichen biologischen Erscheinungsformen wie Tintenfische und Menschen gleichermaßen z.B. Zustände im kausalen Zusammenhang des Schmerzes haben können, folgt für den Funktionalismus daraus, dass Tintenfische und Menschen gleichermaßen Schmerzen haben können. Es gibt eine Reihe von Unterarten des Funktionalismus. Eine wichtige Unterteilung hängt bei ihnen davon ab, wie die relevanten kausalen Rollen bestimmt werden können. Funktionalisten des gesunden Menschenverstands glauben, sie könnten sie durch Alltagspsychologie erhaschen. Wissenschaftsfunktionalisten meinen, sie seien durch die Entdeckungen der wissenschaftlichen Psychologie dingfest zu machen. So werden z.B. die Funktionalisten des gesunden Menschenverstands behaupten, dass die Gefühle jene kausale Rolle spielen, die eine Alltagspsychologie den Gefühlen zuschreibt, während wissenschaftliche Psychologen einwenden werden, dass nur die wissenschaftliche Psychologie diese Rolle identifiziert. Der Funktionalismus in allen seinen Unterarten ist einer Reihe wohlbekannter Kritiken ausgesetzt. Ein zentraler Einwand ist der, dass er den bewussten, qualitativen Aspekt des geistigen Lebens nicht unterzubringen vermag. Könnte nicht auch eine Maschine jene kausale Struktur aufweisen, durch die jemand Schmerz empfindet, und sich dadurch funktional als etwas qualifizieren, das Schmerz empfindet, obwohl sie keinerlei bewusste Gefühle hat? Vielleicht können die Funktionalisten auf diese Schwierigkeiten antworten, in dem sie stringenter die Voraussetzungen fassen, die an der kausalen Rolle einer gegebenen menschlichen Empfindung beteiligt sind. Dann aber besteht die Gefahr, dass der Funktionalismus einen großen Teil seiner Attraktion verliert. Die ursprüngliche Anziehungskraft des Funktionalismus bestand darin, dass ihre ‚liberale‘ Bestimmung der kausalen Rollen es gerade erlaubte, dass Menschen ihre mentalen Zustände mit Nicht-Menschen teilen. Dieses Merkmal geht vermutlich verloren, wenn wir zu einer ‚chauvinistischeren‘ Variante wechseln, die dann erklärt, warum Nicht-Menschen gerade nicht unser bewusstes Leben teilen. Ein weiterer Einwand gegen den Funktionalismus besteht darin, dass er die mentale Repräsentation nicht erklären kann. Der Funktionalismus konzentriert sich auf die Art und Weise, wie mentale Zustände in kausale Strukturen einfließen. Es ist aber zweifelhaft, ob mentale Repräsentationen auf eine rein kausale Weise erklärt werden können. Einige Philosophen meinen, dass die Frage der mentalen Repräsentation dadurch behandelt werden kann, dass man dem Funktionalismus ein teleologisches Moment hinzufügt, d.h. durch Beachtung der biologischen Zwecke, für die die mentalen Zustände geschaffen sind, ähnlich der aktuellen Struktur von Ursachen und Wirkungen. Wenn wir uns jedoch auf die Teleologie auf eine solche Art und Weise berufen, ist nicht mehr klar, dass wir überhaupt noch eine funktionalistische Darstellung der Repräsentation brauchen, denn dann können wir solche Zustände einfach mit ihren biologischen Zwecken identifizieren, statt mit ihren kausalen Rollen.
534
Funktionalismus
der
Siehe auch: Materialismus Philosophie des Geistes DAVID PAPINEAU
in der
Philosophie
Fuzzy-Logik
Siehe: Logik der Vagheit
535
des
Geistes; Reduktionismus
in
G Gadamer, Hans-Georg (1900–2002)
Hans-Georg Gadamer ist durch seine philosophische Hermeneutik sehr bekannt geworden. Gadamer studierte mit Martin Heidegger während dessen Vorbereitung von ‚Sein und Zeit‘ (1927). Wie auch Heidegger verwirft Gadamer die Vorstellung einer Hermeneutik als etwas, das nur eine Methode der Geistes- oder Geschichtswissenschaften sein soll, ähnlich den Methoden der Naturwissenschaften. Die philosophische Hermeneutik handele vielmehr vom menschlichen Prozess des menschlichen Verstehens, der unvermeidlich zirkulär ist, weil wir das Ganze nur durch seine Teile, und die Teile nur über das Ganze verstehen können. Ein Verstehen in diesem Sinne sei nicht eine Handlung, die objektiv methodisch gesichert und verifiziert werden könne. Das Verstehen sei vielmehr Ereignis oder Erfahrung, die wir durchmachen. Es ereigne sich paradigmatisch in unserer Erfahrung von Kunstwerken und der Literatur. Es finde aber auch im disziplinierten und gelehrten Studium der Arbeiten anderer Menschen in den Geistes- und Sozialwissenschaften statt. In jedem Falle bring Verstehen auch Selbstverstehen mit sich. Die philosophische Hermeneutik tritt für eine vermittelte Annäherung an das Selbstverständnis auf der Grundlage eines Modells des Gesprächs mit den Texten und Arbeiten anderer ein. Der Begriff des Dialogs, der hier Verwendung findet, ist jener von Frage und Antwort und stammt von Platon. Ein solches Verstehen wird niemals absolutes Wissen. Es ist endlich, weil wir auf immer durch unsere historische Situation konditioniert sind, und teilweise auch deshalb, weil wir an der Wahrheit interessiert sind, deren Verstehen uns zufällt. Durch die Grundlegung unseres Verstehens in der Sprache und dem Dialog im Gegensatz zur Subjektivität vermeidet Gadamers philosophische Hermeneutik die Gefahren der Beliebigkeit bei der Interpretation der Arbeiten anderer. Gadamers wichtigste Veröffentlichung ist ‚Wahrheit und Methode‘ (1960). Er publizierte ferner vier Bände kürzerer Arbeiten unter dem Titel ‚Kleine Schriften‘ (1967–1977). Diese enthalten wichtige hermeneutische Studien unter anderem zu Platon, Hegel und Paul Celan. Seine zahlreichen Bücher und Aufsätze sind in zehn Bänden, den ‚Gesammelten Werken‘, zusammengetragen. Gadamer war weithin als ein Lehrer bekannt, der den Dialog auch lebendig praktizierte, der im Herzen seiner philosophischen Hermeneutik liegt. KATHLEEN WHRIGHT
Galilei, Galileo (1564–1642)
Galileo Galilei war eine der schillerndsten Figuren in der langen Geschichte der Naturwissenschaften. Man erinnert sich seiner heute hauptsächlich aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen. Er wurde wegen seiner Leistungen auf den Gebieten der Mechanik und der Astronomie und für das, was man heute Wissenschaftsphilosophie nennen würde, ferner für seine Sichtweise einer wissenschaftlichen Praxis, sowie für seine Auffassung von einem abgeschlossenen wissenschaftlichen Unternehmen oft als Vater der modernen Naturwissenschaften bezeichnet. Obwohl keines der Elemente dieser Philosophie wirklich neu war, war doch die Art und Weise, wie er sie kombinierte, so wirksam, dass er viel dazu beitrug alles zu formen, was darauf536
hin in den Naturwissenschaften folgte. Im populären Verständnis eines fortgesetzten Stromes von Biographien ist es jedoch sein Kampf mit der kirchlichen Autorität, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht im Sinne eines Symbols für die häufig schwierige und immer verwickelte Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion. Siehe auch: Erklärung; Gedankenexperimente; Idealisierung; Induktiver Schluss; Kosmologie; Oxford Calculators; Platonismus in der Renaissance; Religion und Wissenschaft; Renaissance-Philosophie; wissenschaftliche Methode ERNAN MCMULLIN
Gans, Eduard
Siehe: Hegelianismus
Gassendi, Pierre (1592–1655)
Pierre Gassendi, ein französischer katholischer Priester, führte die Philosophie des antiken Atomisten Epikur wieder in den Hauptstrom des europäischen Denkens ein. Wie viele seiner Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, versuchte er eine neue Naturphilosophie zu artikulieren, die den alten Aristotelismus ersetzen sollte, der traditionell die Grundlagen der Naturphilosophie geliefert hatte. Bevor die europäischen Intellektuellen die Philosophie des Epikur annehmen konnten, musste sie von zahlreichen ‚irrgläubigen‘ Vorstellungen befreit werden. Entsprechend modifizierte Gassendi die Philosophie seines antiken Vorbildes, um sie mit den Forderungen der christlichen Theologie verträglich zu machen. Wie schon Epikur behauptete Gassendi, dass die physische Welt aus unteilbaren Atomen bestehe, die sich im leeren Raum bewegen. Abweichend von den antiken Atomisten meinte Gassendi aber, dass es nur eine endliche, wenn auch sehr große Anzahl Atome gebe, dass diese von Gott geschaffen seien, und dass die sich daraus ergebende Welt von der göttlichen Vorsehung geleitet sei, und nicht etwa vom blinden Zufall. Im Gegensatz zu Epikurs Materialismus reicherte Gassendi seinen Atomismus dadurch an, dass er die Existenz einer immateriellen, unsterblichen Seele behauptete. Er glaubte auch an die Existenz von Engeln und Dämonen. Seine Theologie war voluntaristisch, indem sie Gottes’ Freiheit betonte, seiner Schöpfung seinen Willen aufzuerlegen. Gassendis empiristische Erkenntnistheorie war eine Folge seiner Antwort auf den Skeptizismus. Indem er die skeptische Kritik des Wahrnehmungswissens akzeptierte, bestritt er, dass wir sicheres Wissen von dem wirklichen Wesen der Dinge haben können. Statt aber in skeptische Verzweiflung zu fallen argumentierte er, dass wir Wissen dadurch erlangen können, wie die Dinge uns erscheinen. Diese ‚Wissenschaft der Erscheinungen‘ basiert auf der Wahrnehmungserfahrung und kann nur Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Es kann gleichwohl ein Wissen ermöglichen, dass für das Leben in der Welt nützlich ist. Gassendi bestritt die Existenz der Wesenheiten sowohl im platonischen, als auch im aristotelischen Sinne und zählte sich selbst zu den Nominalisten. Indem er die hedonistische Ethik des Epikur aufnahm, die die Freude zu maximieren und den Schmerz zu minimieren versucht, reinterpretierte Gassendi den Begriff der Freude auf spezifisch christliche Art. Er glaubte, dass Gott die Menschen mit einem freien Willen ausstattete, sowie mit einem angeborenen Wunsch nach Freude. Dadurch, dass sie sich in dieser Matrix aus Freude und Schmerz bewegen, und durch Ausübung ihrer Fähigkeit zur freien Wahlentscheidung, haben sie teil 537
Gedankenexperimente
an Gottes Vorsehung und seinen Plänen für die Schöpfung. Die größte Freude, die Menschen erreichen können, ist das glückselige Angesicht Gottes nach dem Tode. Auf der Grundlage einer hedonistischen Ethik war Gassendis politische Philosophie eine des Sozialkontrakts und damit eine Auffassung, die die Schriften von Hobbes und Locke beeinflusste. Gassendi war ein aktiver Teilnehmer der philosophischen und naturwissenschaftlichen Zirkel seiner Zeit. Er korrespondierte mit Hobbes und Descartes und führte Experimente zu verschiedenen Fragen durch, schrieb über Astronomie, korrespondierte auch mit wichtigen Naturphilosophen und schrieb einen Aufsatz, in dem er Galileos neue Wissenschaft der Bewegung verteidigte. Seine Philosophie war sehr einflussreich, speziell bei der Entwicklung des britischen Empirismus und Liberalismus. Siehe auch: Atomismus, antiker; Demokrit; Freiheit, Göttliche; Wille, der MARGARET J. OSLER
Gedankenexperimente
Gedankenexperimente sind sonderbar: sie haben die Kraft, ein überraschendes Ergebnis zu produzieren und können unsere Sicht der Welt gründlich ändern, und dies alles, ohne dass wir die Welt auf die Art und Weise befragen müssten, wie es die gewöhnlichen wissenschaftlichen Experimente tun. Philosophen, die alles hypothetische Nachdenken als eine Form des Gedankenexperiments betrachten, sehen diese Methode als so alt wie die Philosophie selbst an. Andere behaupten, dass sich wahrhaft informative Gedankenexperimente nur in der Mathematik und den Naturwissenschaften finden. Dort tauchten sie im 17. Jahrhundert auf, als die neuen Experimentalwissenschaften von Bacon, Boyle, Galileo, Newton und anderen eine Unterscheidung zwischen der passiven Beobachtung der aristotelisch-mentalen Erzählungen und den aktiven Eingriffen der wirklichen Experimente erzwangen. Die neue Wissenschaft gab jedoch auch ein philosophisches Rätsel auf: wie kann das reine Denken so informativ bezüglich der Welt sein? Die Rationalisten machen geltend, dass Gedankenexperimente Übungen seien, in denen das Denken Naturgesetze und mathematische Wahrheiten unmittelbar begreift. Die Empiristen argumentieren, dass Gedankenargumente keine Übungen des ‚reinen Denkens’ seien, weil sie in Wirklichkeit auf verborgenen empirischen Informationen beruhen; sonst würden wie nämlich überhaupt nicht als Experimente gelten. Kürzlich wurde vorgetragen, dass an Gedankenexperimenten nichts Rätselhaftes nur deshalb sei, nur weil sie konstruierte Beweise seien, die in eine Welt eingebettet sind, um logische und begriffliche Analysen mit bedeutsamen Merkmalen dieser Welt zu verbinden. Siehe auch: Empirismus; Experiment; Rationalismus; Wissenschaftliche Methode DAVID C. GOODING
Gedankensprache
Siehe: Sprache der Gedanken
Gefühl und Moral
Siehe: Moral und Gefühl
Gefühle als Reaktion auf Kunst
Die Hauptfragen der Philosophie betreffend die Gefühle als Reaktion auf Kunst sind die folgenden: (1) Welche Arten oder Typen von Gefühlen gibt es als Reaktion auf Kunstwerke? (2) Wie können wir verstehen, dass wir Gefühle für fiktive Per538
Gefühle, Philosophie der
sonen oder auf fiktive Situationen haben, wo wir doch keineswegs an deren Wirklichkeit glauben? (3) Wieso erzeugen abstrakte Kunstwerke, speziell musikalische, Gefühle bei ihrem Publikum? (4) Wie können wir uns das Interesse erklären, das Liebhaber empfinden, wenn sie eindrücklich Kunst erfahren, die negative Gefühle ausdrückt? (Eine spezielle Form dieser Fragen ist das ‚Paradox der Tragödie‘.) (5) Gibt es eine spezielle ästhetische Empfindung, die nur im Zusammenhang mit der Erfahrung von Kunst auftaucht? (6) Gibt es eine unauflösliche Spannung zwischen einer emotionalen Reaktion auf Kunst und den Ansprüchen an eine ästhetische Wertschätzung? – Antworten auf diese Fragen hängen in gewissem Umfange von der Konzeption dessen ab, was man unter ‚Gefühl‘ versteht. Siehe auch: Fiktive Entitäten; Gefühle, Philosophie der; Humor; Kunst, Wert der; Musik, Ästhetik der; Sublime, das; Tragödie JERROLD LEVINSON
Gefühle, Philosophie der
Gefühle haben in der Philosophie immer schon eine Rolle gespielt, und zwar obwohl Philosophen ihnen gewöhnlich keine Hauptrolle zugestehen wollten. Weil die Philosophie so oft als die erste und vornehmste Disziplin der Vernunft beschrieben wurde, wurden die Gefühle oft vernachlässigt oder als primitiv, gefährlich oder irrational angegriffen. Sokrates tadelte seinen Schüler Kriton und unterwies ihn, dass wir uns nicht unseren Gefühlen ergeben sollten, und einige der antiken Stoiker drängten auf ein Leben der Vernunft, das frei ist von der Sklaverei des Gefühls. Sie nannten dies ein Leben in apatheia, d.h. in Apathie (also in Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit). Auch der Buddhismus widmete sich sehr den Gefühlen, die dort als ‚Erregungen‘ oder klesas verstanden werden. Die buddhistische ‚Befreiung‘, ähnlich wie die stoische apatheia, wird zum philosophischen Ideal einer Freiheit vom Gefühl. Die Philosophen haben die Gefühle jedoch nicht immer degradiert. Aristoteles verteidigte die Auffassung, dass Menschen wesentlich rationale Tiere sind, gleichzeitig betonte er aber, wie wichtig es ist, die richtigen Gefühle zu haben. David Hume, der Empiriker des 18. Jahrhunderts, bestand darauf, dass die Vernunft „der Sklave der Affekte ist und sein sollte“ (‚Traktat über die menschliche Natur‘, 2. Buch, III. Teil, 3. Abschnitt). Im 19. Jahrhundert betonte Hegel, obwohl er die Geschichte der Philosophie als eine Entwicklung der Vernunft beschrieb, dass „nichts Großes jemals ohne Leidenschaft“ geschehe. Große Teile der Geschichte der Philosophie können als die sich wandelnde Beziehung zwischen den Gefühlen (oder Leidenschaften bzw. Affekten) und der Vernunft beschrieben werden, die oft im Widerspruch zueinander und manchmal sogar im Krieg miteinander zu stehen scheinen, obwohl sie idealerweise doch miteinander harmonieren sollten. Deshalb malte Platon jenes Bild von der Seele als einem Streitwagen mit drei Pferden, von denen die Vernunft die Begierde und „den geistigen Teil“ leite und alle drei so zusammen arbeiten. Nietzsche meinte gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum, dass jede Leidenschaft ihren eigenen Anteil an Vernunft enthält. Nietzsches Auffassung, dass Emotion und Vernunft nicht wirkliche Gegensätze, sondern einander ergänzen oder ineinander verwoben seien, steht bereits seit alter Zeit im Kern eines großen Teils der Debatte über die Gefühle. Sind Gefühle intelligent, oder handelt es sich dabei schlicht um physische Reaktionen? Sind sie reine Empfindungen, oder spielen sie eine lebendige Rolle in der Philosophie und in unserem Leben? ROBERT C. SOLOMON 539
Gefühle, Wesen der
Gefühle, Wesen der
Was ist ein Gefühl? Diese grundlegende Frage wurde von William James im Jahre 1884 gestellt, und sie steht immer noch im Zentrum einer Reihe wichtiger Debatten der Philosophie des Geistes und der Ethik. Zunächst stellt sich hier die Frage nach einer begrifflichen Definition des Gefühls, darüber hinaus reicht die Frage aber weiter als eine nach der Art und Weise, über uns selbst zu denken. Wie sollten wir über Gefühle denken: als etwas, das in unsere Vernunft eindringt, oder als etwas, das wesentlicher Teil von ihr ist? Als gefährlich oder als unverzichtbar für unser Menschsein? Als Entschuldigungen für unverantwortliches Handeln und umgekehrt als etwas, was wir selbst zu verantworten haben? Unter welche der vielen Kategorien und ‚Vermögen‘ des Geistes lassen sich die Gefühle einordnen, und welche der evidenten Aspekte des Gefühls, z.B. die unterschiedlichen sensorischen, physiologischen, verhaltensabhängigen, kognitiven und sozialen Phänomene, die typischerweise mit Gefühlen einhergehen, sollten wir ihnen als wesentliche zurechnen? Und welche begleiten sie lediglich oder sind ihre Konsequenzen? Viele Philosophen halten sich an die traditionelle Sichtweise, derzufolge ein Gefühl als ein bestimmtes mentales Phänomen einen wesentlichen ‚subjektiven‘ oder ‚introspektiven‘ Aspekt hat, obwohl das, was damit gemeint sein könnte (und auf welche Weise ein Gefühl zugänglich sein oder sich artikulieren muss) selbst Gegenstand beachtlicher Diskussionen ist. Viele Philosophen entwickelten jedoch eine skeptische Haltung gegenüber einem solchen Subjektivismus und haben die Analyse der Gefühle wie ihre Kollegen in den Sozialwissenschaften mehr auf die Grundlage öffentlicher, beobachtbarer Kriterien gestellt, z.B. auf das Verhalten, durch das sich Gefühle ‚ausdrücken‘, die physiologischen Störungen, die Gefühle ‚verursachen‘, die sozialen Umstände und der Einsatz emotionaler sprachlicher Wendungen bei der Zuschreibung von Gefühlen. Gleichwohl bleibt es bei der offenbar selbstevidenten Wahrheit, dass, was auch sonst immer ein Gefühl sein mag, dieses Gefühl zu allererst ein unmittelbares Empfinden ist. Was aber ist ein ‚unmittelbares Empfinden‘? Was unterscheidet Emotionen von anderen unmittelbaren Empfindungen, wie z.B. Schmerz oder Hunger? Und wie soll man die enorme Anzahl unterschiedlicher Gefühle voneinander unterscheiden und identifizieren? Siehe auch: Gefühl als Reaktion auf Kunst; Gefühle, Philosophie der ROBERT C. SOLOMON
Gegebenen, Das Problem des
Siehe: Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
Geist, Materialismus in der Philosophie des Siehe: Materialismus in der Philosophie des Geistes
Geistes, Berechnungstheorien des
Die Berechnungstheorie des Geistes (engl.: Computational Theory of Mind, CTM) besagt, dass der Geist als ein Computer aufgefasst werden kann, oder grob gesagt, als die ‚Software‘ oder das ‚Programm‘ des physischen Gehirns. Diese Theorie ist die einflussreichste Form des Funktionalismus, nach dem das, was den Geist von anderen Dingen unterscheidet, nicht das ist, woraus er gemacht ist, noch die persönlichen Verhaltensdispositionen eines Wesens mit Geist, sondern die Art und Weise der Organisation des Gehirns. Die CTM liegt einigen der wichtigsten Forschungsvorhaben der aktuellen Kognitionswissenschaften zugrunde, zum Beispiel 540
Geistes, Bündeltheorie des
den Theorien der Künstlichen Intelligenz, der Wahrnehmung, der Entscheidungsfindung und der Linguistik. Aus CTM folgt eine Reihe wichtiger Ideen: (1) Berechnungen können über syntaktisch spezifizierbare Symbole definiert werden (d.h. über Symbole, die wiederum durch Regeln spezifiziert werden, die ihre Kombinierbarkeit bestimmen), die semantische Eigenschaften besitzen und damit eine Bedeutung aufweisen. Beispielsweise kann die Addition durch Regeln dargestellt werden, die über Dezimalzahlen (Symbole) definiert werden, die diese Zahlen benennen. (2) Berechnungen können in Gestalt von ‚Algorithmen‘ oder einfache Schritt-für-Schritt-Prozeduren aufgelöst werden, von denen jeder einzelne Schritt durch eine Maschine ausgeführt werden kann. (3) Die Berechnung kann verallgemeinert werden, damit sie nicht nur die Arithmetik, sondern auch die deduktive Logik und andere Schlussformen, einschließlich der Induktion, der Abduktion und der Entscheidungsfindung umfasst. (4) Berechnungen erfassen relativ autonome Ebenen der gewöhnlichen psychologischen Erklärung, die sich von denen der Neurophysiologie und der Verhaltensbeschreibung unterscheiden. Siehe auch: Künstliche Intelligenz; Chinesischen Raumes, Argument des; Vision NED BLOCK, GEORGES REY
Geistes, Bündeltheorie des
Diese Theorie hat ihren Namen von David Hume erhalten, der das Selbst oder die Person (von der er annahm, dass dies der Geist sei) als etwas betrachtete, das ‚nicht mehr als ein Bündel oder eine Sammlung unterschiedlicher Wahrnehmungen [sei], die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aufeinander folgen und in beständigem Fluss und ebensolcher Bewegung sind‘ (‚Traktat über die menschliche Natur‘, 1. Buch, 4. Kapitel, § VI). Die Theorie beginnt mit dem Bestreiten der Auffassung in Descartes’ ‚Zweiter Meditation‘, dass die Erfahrungen einer immateriellen Seele innewohnen; das Besondere dieser Theorie liegt darin, dass sie versucht, die Einheit eines einzigen Geistes durch die Konstruktion lediglich von Beziehungen zwischen den Erfahrungen selbst darzustellen, die bereits den Geist bilden bzw. ausmachen, statt diese Erfahrungen einem unabhängig von den Erfahrungen bestehenden Subjekt zuzuschreiben. Der übliche Einwand gegen die Bündeltheorie ist, dass sich keine Beziehungen auffinden lassen, die dieser Aufgabe gerecht werden. Empirische Untersuchungen wiederum legen nahe, dass eine solche Aufgabe selbst eine Illusion sein könnte. Viele Bündeltheoretiker folgten Hume, indem sie diese Theorie zur Grundlage ihrer Auffassung der personalen Identität machten. Man kann sie aber auch von diesen zusätzlichen Lasten befreit betrachten. Siehe auch: Bewusstsein; Dualismus; Modularität des Geistes; Personen; Strawson, P.F. STEWART CANDLISH
Geistes, Identitätstheorie des Einführung Wir wissen, dass das Gehirn in einem sehr engen Zusammenhang mit der geistigen Tätigkeit eines Lebewesens steht. Tatsächlich definieren die Ärzte den Tod inzwischen als das Aufhören der relevanten Gehirntätigkeit. Die Identitätstheorie des Geistes behauptet, dass dieser enge Zusammenhang in Wirklichkeit einer der 541
Geistes, Identitätstheorie des
Identität ist: der Geist ist das Gehirn, oder genauer gesagt, mentale Zustände sind solche des Gehirns. Diese Theorie richtet sich direkt gegen eine alte Tradition, derzufolge das Mentale und Materielle zu ziemlich unterschiedlichen ontologischen Kategorien gehören: das Mentale ist im Wesentlichen bewusst, das Materielle im Wesentlichen unbewusst. Diese Tradition wird durch das Problem verwirrt, wie tief immaterielle Zustände von der materiellen Welt verursacht werden können, wie es beispielsweise geschieht, wenn wir einen Baum sehen, und wie sie selbst materielle Zustände verursachen können, wie dies beispielsweise geschehen würde, wenn wir uns entscheiden, uns ein Omelett zu braten. Ein großer Verdienst der Identitätstheorie ist es, dass sie dieses Problem vermeidet: die Interaktion zwischen dem Mentalen und dem Materiellen wird zu einer einfachen Interaktion zwischen einer Untermenge materieller Zustände, nämlich gewissen Zuständen eines sehr entwickelten zentralen Nervensystems und anderen materiellen Zuständen. Die Theorie bringt auch den Geist in den Betrachtungshorizont der modernen Naturwissenschaften. Immer mehr Phänomene erweisen sich im modern-wissenschaftlichen Sinne als physikalisch erklärbar: Phänomene, die einst als Verhexung, Besessenheit durch Teufel, Thors Donnerblitze etc. erklärt wurden, werden nunmehr auf eine weltlichere Art in physikalischer Ausdrucksweise erklärt. Wenn die Identitätstheorie richtig ist, so gilt dasselbe auch für den Geist. Die Neurowissenschaft wird mit der Zeit die Geheimnisse des Geistes auf dieselbe, allgemeine Weise erklären, wie die Theorie der Elektrizität die Geheimnisse der Blitze erklärt. Diese Möglichkeit erfuhr eine enorme Unterstützung durch die Fortschritte in der Computertechnik. Wir haben nunmehr zumindest den Schimmer einer Idee, wie ein rein materielles oder physikalisches System etwas von den Dingen zu leisten vermag, die bislang nur ein Geist zu tun vermochte. Gleichwohl gibt es noch viele Fragen an die Identitätstheorie. Wie können Zustände, die uns zumindest als sehr unterschiedlich erscheinen, in Wirklichkeit ein und dieselben sein? Würden die Neurophysiologen wirklich meine Gedanken und Gefühle ‚sehen‘, wenn sie in mein Gehirn ‚hineinschauten‘? Und wenn wir über unsere geistigen Zustände berichten: über was berichten wir dann eigentlich? Über unsere Gehirne? 1. Ursprung der Identitätstheorie 2. Frühe Einwände 3. Qualitäten, die nicht quantitativ zu beschreiben sind (sog. Qualia) 4. Der Funktionalismus und die Identitätstheorie 1. Ursprung der Identitätstheorie Die Identitätstheorie des Geistes besagt, dass jeder geistige Zustand identisch ist mit irgendeinem Zustand des Gehirns. Mein Wunsch nach Kaffee, mein Glücksgefühl und meine Überzeugung, dass der Hund mich gleich beißen wird, sind alles Gehirnzustände. Der Gedanke dahinter ist nicht etwa, dass geistige und Gehirnzustände irgendwie korrelieren, d.h. aufeinander abgestimmt sind, sondern dass sie buchstäblich ein und dasselbe sind. Trotz ihres Namens ist die Identitätstheorie des Geistes keine Auffassung über den Geist als solchen, sondern über geistige Phänomene. Gleichwohl vertreten die meisten Protagonisten der Identitätstheorie und die meisten zeitgenössischen Philosophen des Geistes, wenn sie hierauf angesprochen
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Geistes, Identitätstheorie des
werden, eine Auffassung, dass der Geist eine Konstruktion aus seinen eigenen Zuständen ist, ungefähr wie auch eine Armee eine Konstruktion aus ihren Soldaten und ihrem Gerät ist. Die Identitätstheorie des Geistes entstand aus einer Unzufriedenheit mit dem Dualismus, und zusammen mit dem Behaviorismus als ein Versuch zur Vermeidung dieses Dualismus. Dem Dualismus zufolge sind mentale Zustände etwas vollkommen anderes als jeder materielle Zustand, einschließlich der Gehirnzustände (siehe Dualismus). Die berühmteste Herausforderung des Dualismus befragt ihn darauf, wie man auf befriedigende Weise die Verursachung mentaler Zustände aus körperlichen Ereignissen heraus erklären könne. Wir glauben, dass mein Wunsch nach Eiskrem manchmal die Ursache dafür ist, dass sich mein Arm bewegt und am Ende dieser Bewegung etwas Eis in meinem Mund landet, dass mein beißender Hunger die Ursache dafür ist, dass ich meinen Gürtel enger schnalle etc. Wie aber verursachen Zustände, die mutmaßlich ‚außerhalb‘ der materiellen Welt liegen, materielle Ereignisse wie z.B. meine Armbewegung? Wie stellen sie dies an, ohne die verschiedenen Erhaltungsgesetze der Physik zu verletzen? Und wie tun sie dies, ohne mit dem in Konflikt zu geraten, was uns die Physik oder speziell auch die Neurologie darüber erzählt, wie körperliche Bewegungen verursacht werden? Die letzte Frage ist besonders dringend. Der Erfolg der Physik bei der Erklärung von Phänomenen in ihrer eigenen, physikalischen Ausdrucksweise ist verblüffend. Wir wissen jetzt, dass Blitze nicht von Thor auf uns herabgeschleudert werden, dass die Epilepsie nichts mit dämonischer Besessenheit zu tun hat, und dass Pflanzen nicht deshalb wachsen, weil sie eine Vitalsubstanz enthalten, sondern weil sich ihre Zellen teilen (siehe Vitalismus). Es ist schwer zu begründen, dass körperliches Verhalten sich einer solchen physikalischen Erklärung prinzipiell entziehen kann. Der Dualist kann auf diese Herausforderung eingehen, indem er die Alltagsansicht bestreitet, dass geistige Zustände manchmal körperliche Reaktionen hervorrufen; diese Position wird als Epiphänomenalismus bezeichnet. Sie behauptet, dass mentale Zustände, obwohl physische Zustände gelegentlich mentale Zustände verursachen, niemals irgendetwas verursachen, sondern zusammen mit der entsprechenden materiellen Umgebung lediglich Epiphänomene von Gehirnzuständen sind, und dass es die letzteren sind, die die wahren Ursachen jenes Verhaltens sind, das wir den mentalen Zuständen zuschreiben. Abgesehen davon, dass dies dem common sense grob widerspricht, ist nicht einzusehen, warum sich dann überhaupt ein Geist entwickelt haben sollte (siehe Epiphänomenalismus). Der Behaviorismus behandelt mentale Zustände dagegen als Verhalten und Verhaltensdispositionen. Seine Grundidee entsprang Tatsachen wie den folgenden: jene Geschöpfe, denen wir mentale Zustände zutrauen, sind genau jene, die auch ein sehr ausgeklügeltes Verhalten zeigen und sehr entwickelte Verhaltenskompetenzen besitzen. Die auf dieser Theorie des Behaviorismus beruhende Psychologie wurde zu einer ernsthaften Wissenschaft, als die Psychologen die Erforschung des Geistes mittels der Erforschung von Verhaltenskompetenzen unternahmen. Und tatsächlich bestehen begriffliche Verbindungen zwischen geistigen Zuständen und dem Verhalten; beispielsweise ist es ein Teil des Begriffs der Intention, dass ‚eine Intention haben‘ dasselbe bedeutet wie ‚sich auf eine Weise verhalten, um eine Intention zu erfüllen‘, und dass es ein Teil des Begriffs der Intelligenz ist, dass die Intelligenten
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Geistes, Identitätstheorie des
bessere Problemlöser sind als die Unintelligenten (siehe Behaviorismus, analytischer). Behavioristen weisen gerne darauf hin, dass es schwer zu verstehen sei, wie die Dualisten diese letzten beiden Punkte erklären wollten. Warum aber sollte der Erforschung eines immateriellen Reiches gerade dadurch geholfen werden, dass man auf das Verhalten schaut? Und wie soll man das So-Sein der Dinge in irgendeinem immateriellen Reich begrifflich an rohe Verhaltenstatsachen binden? Für unseren Zweck ist es daher bedeutsam, dass die Behavioristen, genauso wie die Dualisten, ein Problem mit der Verhaltensverursachung haben. Die Alltagsauffassung ist die, dass mentale Zustände für ein bestimmtes Verhalten kausal verantwortlich sind: das Juckgefühl verursacht das Kratzen; und dass sie auch für Verhaltensdispositionen und -kompetenzen zuständig sind: die Intelligenz der Menschen ist für ihre Fähigkeit zur Lösung schwerer Probleme ursächlich. Dann aber sind mentale Zustände nicht dasselbe wie Verhalten und Verhaltensdispositionen bzw. -fähigkeiten, sondern vielmehr ihre zugrunde liegenden Ursachen. Genau dies behauptet der Identitätstheoretiker. Mentale Zustände sind jene Gehirnzustände, auf die alle naturwissenschaftlichen Beweise hindeuten, dass sie kausal für das jeweilige Verhalten ‚verantwortlich‘ sind, und zwar genau jene Verhaltensdispositionen und -fähigkeiten, die solche Kreaturen auszeichnen, denen wir ein geistiges Leben zuschreiben. 2. Frühe Einwände Es folgen einige der Haupteinwände, die gegen die Identitätstheorie des Geistes erhoben wurden, als sie sich langsam durchzusetzen begann. Es wurde eingewandt, dass die antiken Denker bereits mentale Zustände als solche benannten, obwohl sie praktisch noch gar nichts über das Gehirn wussten. Wie kann das sein, wenn mentale Zustände doch identisch mit Gehirnzuständen sein sollen? Wie die Identitätstheoretiker jedoch beobachteten, hat die Naturwissenschaft viele Formen der Identität ausgemacht, die den Alten noch unbekannt waren. Sie wussten beispielsweise nicht, dass der Blitz identisch ist mit einer elektrischen Entladung, dass die Temperatur in Gasen der mittleren molekularkinetischen Energie entspricht, und dass Wasser H2O ist. Die Identität mentaler Zustände mit Gehirnzuständen ist, so insistieren die Identitätstheoretiker, nur ein Spezialfall wissenschaftlicher Identitäten im Allgemeinen. Wir lernten beispielsweise, dass die Temperatur die mittlere molekularkinetische Energie ist, indem wir entdeckten, dass es die mittlere molekularkinetische Energie ist, die für diejenigen Phänomene verantwortlich ist, die wir mit der Temperatur von etwas assoziieren. Auf dieselbe allgemeine Weise, so behaupten die Identitätstheoretiker, haben wir entdeckt, dass mentale Zustände Gehirnzustände sind, indem wir entdeckten, dass Gehirnzustände verantwortlich für die Verhaltensphänomene sind, die wir mit mentalen Zuständen assoziieren, und wir werden folglich auch entdecken, welche bestimmten Gehirnzustände bestimmten mentalen Zuständen entsprechen, indem wir entdecken, welche bestimmten Gehirnzustände für Verhaltensphänomene verantwortlich sind, die wir mit solchen mentalen Zuständen assoziieren. Die Identitätstheoretiker stellten auch fest, dass Blitze und Temperaturen sich uns nicht als elektrische Entladung, mittlere molekularkinetische Energie oder H2O
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Geistes, Identitätstheorie des
präsentieren. Deshalb kann man gegen ihre Theorie auch nicht einwenden, dass sich mentale Zustände nicht selbst als Gehirnzustände darbieten. Viele wandten ferner ein, dass die Identitätstheorie Leibniz’ Gesetz verletze, das besagt: Wenn x = y, dann habe x und y durchgängig gemeinsame Eigenschaften (siehe Identität). Dieser Einwand gelte deshalb, weil mentale Zustände und Gehirnzustände sich in ihren Eigenschaften offenbar unterscheiden würden. Ein visuelles Nachbild ist z.B. gelb und erscheint vor meinem Gesicht. Meine entsprechenden Gehirnzustände sind aber nicht gelb, und sie befinden sich angeblich innerhalb meines Gehirns. Und auch das Jucken mache ich vielleicht auf meinem mittleren Rücken aus, aber mein Gehirn befindet sich nicht an dieser Stelle. Die Kritiker weisen ferner darauf hin, dass sich Gehirnzustände bei einer gewissen physischen Temperatur abspielen, es aber absurd wäre zu behaupten, dass meine Überzeugung, die Erde sei rund, auf einer gewissen Gehirntemperatur beruhe. Die Identitätstheoretiker antworteten hierauf mit dem Einwand, dass unsere Rede über mentale Zustände, aus logischer Sicht betrachtet, irreführend ist. Wir reden, als ob mentale Zustände Beziehungen zu mentalen Gegenständen mit sich brächten. Wir sagen beispielsweise: ‚Ich habe Kopfschmerzen‘, und diese Aussage hat offenkundig dieselbe logische Struktur wie ‚Ich habe ein Auto‘. In beiden Fällen scheinen wir eine Beziehung zwischen einer Person, nämlich z.B. mir selbst, und einem Gegenstand, nämlich im einen Falle dem Kopfschmerz, im anderen Falle dem Auto, zu behaupten. Wie die Identitätstheoretiker jedoch zu Recht feststellten, sind Kopfschmerzen etwas ganz anderes als Autos; ein und dasselbe Auto kann nämlich seinen Besitzer wechseln oder auch gänzlich ohne Besitzer sein, Kopfschmerzen können aber nicht unabhängig von dem Wesen existieren, das sie erlebt; wenn ich sterbe, vergeht mein Kopfschmerz notwendig mit mir. Kopfschmerzen sind, wie allgemein die mentalen Zustände, notwendig diejenigen von jemandem. Folglich argumentieren sie, sollten wir uns die Kopfschmerzen z.B. in der Weise vorstellen, wie wir auch von Gehbehinderungen reden: Gehbehinderungen sind keine ‚Dinge‘, die wir haben, wenn wir hinken. Wenn ich sage, dass ich eine Gehbehinderung habe, dann sage ich damit vermutlich einfach, dass ich hinke. Und genauso bedeutet meine Aussage, dass ich Kopfschmerzen habe, einfach dass mein Kopf schmerzt. Schmerzen und Gehbehinderungen gewissen Eigenschaften zuzuschreiben bedeutet in Wirklichkeit, dem Schmerz und dem Hinken Eigenschaften zuzuschreiben. Eine schwere Gehbehinderung zu haben heißt unter Umständen, schwer zu hinken, und ein gewinnendes Lächeln zu haben heißt folglich, gewinnend zu lächeln. Auf ähnliche Weise bedeutet, einen schlimmen Kopfschmerz zu haben, dass einem der Kopf schlimm weh tut. Genauer gesagt bedeutet dies, dass es keine mentalen Gegenstände gibt, und folglich und insbesondere keine gelben Nachbilder vor dem Gesicht, wenn man in eine helle Lichtquelle geschaut hat, und auch kein Jucken im Rücken hat. Es gibt Erfahrungen des Nachbildes und des Rücken-Juckens. Diese Erfahrungen sind nicht gelb, nicht vor uns und nicht in unserem Rücken, und deshalb ist die Tatsache, dass Gehirnzustände nicht gelb, nicht vor uns und nicht in unserem Rücken sind, kein Einwand gegen die Behauptung der Identitätstheoretiker, dass diese Erfahrungen mit unseren Gehirnzuständen identisch sind. Die entsprechende Diskussion von Überzeugungen folgt einem ähnlichen Muster. Es gibt eine wichtige Unterscheidung zwischen meinem Überzeugungszustand, und dem, von dem ich inhaltlich überzeugt bin. Meine Überzeugung, dass dort ein 545
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Tiger vor mir steht, wird wahrscheinlich dadurch verursacht, dass ich wirklich einen Tiger sehe. Dies ist ein Zustand von mir. Wovon ich dagegen überzeugt bin, nämlich dass dort ein Tiger vor mir steht, also wie es oft heißt: die Aussage, von der ich überzeugt bin (siehe Aussageeinstellungen), wird nicht davon verursacht, dass ich einen Tiger sehe und ist folglich kein Zustand meiner Person. Auch hier wird meine Überzeugung, dass die Erde rund ist, als mein Zustand gedacht, der mich z.B. dazu bringt einem Reisenden zu versichern, er bräuchte keine Angst davor zu haben, über eine Kante ins Nichts zu fallen. Und dann gibt es die Aussage, dass die Erde rund ist, und dies ist es, was ich annehme. Die Identitätstheorie ist folglich keine Auffassung über die Gegenstände einer Überzeugung, d.h. über Aussagen; sie beschränkt sich darauf zu behaupten, dass der Zustand des Überzeugtseins ein Zustand des Gehirns ist. Und die Identitätstheoretiker bringen vor, dass, obwohl es absurd wäre zu behaupten, dass die Gegenstände des Glaubens oder Meinens eine bestimmte Temperatur aufweisen, es doch keineswegs absurd sei zu behaupten, dass der Überzeugungszustand durchaus eine Temperatureigenschaft an sich habe. Schließlich wendeten einige Philosophen ein, dass das Verhalten im Zusammenhang mit dem Geist desjenigen, der sich verhält, und insbesondere jenes im Zusammenhang mit der Intelligenz, Rationalität und dem freien Handeln eine Flexibilität und eine Komplexität aufweise, die mit einer rein materiellen Ursachenangabe unvereinbar sei. Dieser Einwand führt in komplexe Fragen. Wir können aber gleichwohl zwei ernsthafte Probleme, die er mit sich führt, benennen. Erstens haben die modernen maschinellen Berechnungsmöglichkeiten unsere Vorstellungen von der Verhaltensflexibilität und -komplexität in einer Weise erweitert, die mit einer rein materiellen Ursachenlogik durchaus vereinbar ist. Zweitens ist es schwer zu verstehen, wieso die Angabe einer immateriellen Ursachenlogik zu anderen konzeptionellen Ergebnissen führen sollte, um die es hier geht. Und überdies hat die Quantenmechanik auch noch die Bindung zwischen einer materiellen Ursachenangabe und materieller Bestimmtheit zerrissen. 3. Qualitäten, die nicht quantitativ zu beschreiben sind (sog. Qualia) Es gibt allerdings einen schon sehr frühen Einwand gegen die Identitätstheorie, der sich nicht so leicht entkräften ließ. Er betrifft ein uraltes Problem der Philosophie des Geistes, nämlich das Wesen der bewussten Erfahrung der Empfindungsseite der Psychologie. Zunächst müssen wir aber die Bühne für dieses Argument vorbereiten. Die Identitätstheorie des Geistes wird üblicherweise als Teil eines Programms angesehen, durch das eine reine naturalistische oder physikalistische Sichtweise des Geistes begründet werden soll (siehe Materialismus in der Philosophie des Geistes). Er ist folglich keine Art von ‚Theorie der Doppel-Eigenschaftlichkeit des Geistes‘, nach der mentale Zustände, obwohl sie Gehirnzustände sind, doch solche mit nichtphysikalischen Eigenschaften seien, also solchen Eigenschaften, die sich vollkommen von jenen Eigenschaftsarten speziell der Neurowissenschaften und in den physikalischen Wissenschaften im Allgemeinen unterscheiden. Das Problem der Theorien der Doppel-Eigenschaftlichkeit ist nun, dass die Frage, wie diese nichtphysikalischen Eigenschaften im Lichte dessen, was uns die Wissenschaft über die physikalische Natur der Verhaltensverursachung lehrt, verhaltensrelevant sein können, genauso dringend wird wie die Frage, die bereits zuvor aufgeworfen wurde, nämlich wie die nichtphysikalischen Zustände für das Verhalten kausal relevant 546
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werden können. Infolgedessen sehen die meisten Identitätstheoretiker ihre Theorie als eine rein naturalistische Darstellung des Geistes; die Leugnung der Existenz von ‚Gespenster‘-Eigenschaften oder -merkmalen ist ebenso ein Teil ihrer Theorie wie die Leugnung von ‚Gespenster‘-Entitäten oder -zuständen. Der immer wiederkehrende Einwand hierauf lautet, dass die Identitätstheorie, wenn man sie als das betrachtet, als das sie selbst angesehen werden will, nämlich als Teil einer rein naturalistischen Auffassung des Geistes, sie die Natur der bewussten mentalen Erfahrung übergeht, d.h. die phänomenale Seite der Psychologie. Wir unterscheiden solche mentalen Zustände, die nicht mit einem charakteristischen ‚Gefühl‘ oder ‚Gespür‘ verbunden sind, von jenen, die dies in der Tat sind. Typische Beispiele hierfür sind die Überzeugung auf der nicht-empfindenden Seite, und die körperlichen Empfindungen und sinnlichen Wahrnehmungen auf der anderen Seite. Meine Überzeugung, dass die Welt rund ist, weist kein spezifisches bewusstes Gefühl auf, das einer introspektiven Aufmerksamkeit zugänglich ist, mein Juckgefühl und meine Wahrnehmung eines roten Sonnenunterganges dagegen schon. Aber, so lautet der Einwand, keine noch so große Menge an neurophysiologischer Information über unsere Gehirne sagt uns, wie sich ein Jucken anfühlt oder wie es ist, einen Sonnenuntergang zu erleben oder eine Rose zu riechen. Die Protagonisten dieses Einwandes verwenden oft den Ausdruck ‚Qualia‘ (der Singular lautet ‚Quale‘) als Bezeichnung jener speziellen Eigenschaften, hinsichtlich derer sie darauf beharren, dass die Identitätstheorie sie darzustellen versäumt. Typischerweise behaupten sie stattdessen, dass diese Qualia epiphänomenale Merkmale seien. Sie vermeiden den Plausibilitätsmangel einer Leugnung, dass Schmerzen und Rotempfindungen per se kausal wirkungslos seien, müssen aber behaupten, dass das bestimmte Gefühl des Schmerzes und der Rotempfindung kausal irrelevant sei (siehe Qualia). 4. Der Funktionalismus und die Identitätstheorie Als die Identitätstheoretiker zum ersten Male den Qualia-Einwand diskutierten, wiesen sie darauf hin, dass wir, wenn wir uns kratzen oder eine Rose riechen, und ganz allgemein wenn wir uns in einem mentalen Zustand befinden, uns der spezifischen Natur dieses mentalen Zustandes nicht introspektiv bewusst sind. Denn sie gaben zu, wie schon zuvor bemerkt, dass mentale Zustände sich uns nicht als Gehirnzustände präsentieren. Die Identitätstheoretiker meinen stattdessen, dass wir uns, wenn wir in uns hineinschauen, in hohem Maße relationaler Eigenschaften unserer mentalen Zustände bewusst sind, z.B. Eigenschaften wie der Zustand, was in mir vorgeht, wenn ich mich versehentlich mit einer Nadel steche (im Falle von Schmerz), oder was in mir vorgeht, wenn ich Blut oder rote Rosen sehe (im Falle der Rotwahrnehmung), und was in mir vorgeht, wenn ich zum Kratzverhalten geneigt bin (im Falle des Juckens). Indem man relationale Eigenschaften ins Spiel bringt, können die frühen Identitätstheoretiker als die Vorgänger der funktionalistischen Theorien des Geistes angesehen werden. Denn der Funktionalismus ist eine Theorie, derzufolge das, was einen mentalen Zustand ausmacht, ein weitgehend relationales Merkmal dieses Zustandes ist, wobei dieses Merkmal als eines seiner funktionalen Rollen aufgefasst wird. Dem Funktionalismus zufolge können wir uns mentale Zustände als kausale Vermittler zwischen inputs aus der Umgebung vorstellen, sowie outputs in der Form von Verhaltensantworten und anderen mentalen Zuständen. Schmerz wäre demzu547
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folge beispielsweise ein interner Zustand, der typischerweise durch einen körperlichen Schaden verursacht wird, und der typischerweise den Wunsch hervorruft, ihn durch gewisse Verhaltensantworten zu lindern, die gleichzeitig den körperlichen Schaden verringern. Die Wahrnehmung, dass sich z.B. dort vor mir Kaffe befindet, ist ein interner Zustand, der typischerweise durch Kaffe von mir verursacht wird, und die Überzeugung hiervon verursacht, wenn man sie mit dem Wunsch nach Kaffee kombiniert, typischerweise eine Bewegung auf den Kaffee hin. Mentale Zustände sind demzufolge als ein bestimmter funktionaler Ort in einem großen Netzwerk ineinander verwobener Zustände definiert (von dem wir hier gerade ein winziges Beispielfragment beschrieben) (siehe Funktionalismus). Uns geht es hier darum, was dieser allgemeine Ansatz für die Identitätstheorie bedeutet. Der Funktionalismus wird oft als vollkommen im Einklang mit der Identitätstheorie betrachtet, was auch tatsächlich die richtige Art und Weise ist, um für ihn einzutreten. Der Funktionalismus kann aber auch als ein schwerwiegender Einwand gegen die Identitätstheorie aufgefasst werden, was ebenfalls häufiger geschieht. Alles hängt davon ab, auf welche Art von Identitätstheorie man sich bezieht. Wenn mentale Zustände als funktionale Orte im Funktionsnetzwerk definiert werden, dann wird die Frage, was ein gegebener mentaler Zustand eigentlich sei zu der Frage, was für einen Zustand der besagte Ort im funktionalen Netzwerk annimmt. Hierzu eine Analogie: Geld kann man als eine bestimmte funktionale Rolle im Wirtschaftsverkehr definieren, und zwar eine Rolle, mit der wir alle durch unser Wissen davon, was man mit Geld machen kann, wenn man welches hat, bzw. nicht machen kann, wenn man kein Geld hat, sehr vertraut sind. Als Folge davon ist die Frage, was Geld ist, eine Frage nach der geldfunktionalen Rolle, sei es als Banknote, Münze, Muscheln oder was auch immer materialisiert. Die Identitätstheoretiker beobachteten nun, dass die mit Abstand plausibelsten Kandidaten für die funktionale Rolle eines mentalen Zustandes verschiedene Gehirnzustände sind. So gibt uns der Funktionalismus also einen einfachen Beweis für die Identitätstheorie mit der folgenden Struktur: Schmerz = was die Schmerz-Rolle spielt; was die Schmerz-Rolle spielt = ein bestimmter Gehirnzustand, z.B. die Entladung von C-Fasern; daher: Schmerz = sich entladende C-Fasern, und entsprechend so weiter für alle mentalen Zustände. Jene Identitätstheoretiker, die die Identitätstheorie als eine natürliche Frucht des Funktionalismus ansehen, beziehen sich auf diese Theorie oft als ‚Materialismus des zentralen Zustandes‘. Ein Herangehen an die Identitätstheorie über den Funktionalismus bindet die Identitätstheoretiker an eine unessentielle Theorie des Geistes. Denn die Gehirnzustände, die die Schmerz-Rolle einnehmen und die nach dieser Theorie der Schmerz sind, hätten nicht eintreten können, und dann fühlte diese Person auch keinen Schmerz. Dasselbe gelte nach ihrer Auffassung für alle mentalen Zustände. Eine frühe Darstellung der Identitätstheorie stellte dies dar, indem sie darauf bestand, dass die Identität des Schmerzes z.B. mit der Entladung von C-Fasern eine kontingente Identität sei, und stellte in dieser Hinsicht eine Analogie mit den wissenschaftlichen Identitäten her, die wir weiter oben besprochen haben. Zumindest einige dieser Identitäten sind jedoch beweisbar notwendig wahr. Es lässt sich z.B. zeigen, dass Wasser notwendig H2O ist. Selbstverständlich haben wir die Identität von Wasser mit H2O irgendwann auf empirischem Wege entdeckt, wodurch diese Identitätsaussage zu einer aposteriorischen Frage wird. Doch wir entdeckten dabei ein wesentliches Merkmal von Wasser. Die 548
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Identitätstheorie muss jedoch behaupten, dass die Identitäten, die sie setzt, kontingent sind. Sie verhalten sich wie die Identität des Präsidenten der USA im Jahre 1997, die kontingent war, weil die Person, die die Präsidentenrolle im Jahre 1997 tatsächlich besetzte, kontingenter Natur war (sein Herausforderer Dole schwamm zwar gegen einen wirtschaftlichen Strom an, nicht jedoch gegen einen logischen). Obwohl der Funktionalismus geeignet ist, um für die Identitätstheorie einzutreten, taugt er doch auch gleichzeitig als gewichtigerer Einwand gegen eine ihrer Spielarten. Wir stellten bereits fest, dass die Identitätstheoretiker sich auf wissenschaftliche Identitäten berufen, wenn sie ihre Theorie darstellen und anwenden. Diese Identitäten betreffen Arten oder types.1 Wenn Wissenschaftler uns erzählen, dass der Blitz eine elektrische Entladung ist, dann erzählen sie uns nicht nur, dass die Instanz oder der token des Blitzes, den wir letzte Nacht sahen, eine Instanz oder ein token einer elektrischen Entladung ist; sie erzählen uns zusätzlich, von welcher allgemeinen Art das Blitzen überhaupt ist. Wie gesagt, die Behauptung, dass Temperatur die mittlere molekularkinetische Energie ist, sagt etwas über Arten oder types aus. Sie sagt uns, was die Temperatur-Eigenschaft (in Gasen oder woanders) ist, nämlich die mittlere molekularkinetische Energie. Dies legt nahe, dass wir uns die Geist-Gehirn-Identitätstheorie als eine type-type-Identitätstheorie vorstellen sollten. Ferner ist die von den Theoretikern favorisierte Illustration hierzu, also ‚Schmerz = C-Fasern entladen sich‘, eine Identitätserklärung von type und type. Das Problem hierbei ist, dass womöglich unterschiedlichen types von Zuständen die SchmerzRolle bei verschiedenen Wesen besetzen. Vielleicht ist diese Rolle bei den Menschen durch die Entladung von C-Fasern besetzt, bei Delphinen aber durch D-Fasern. Delphine würden dann aber mit ihren D-Fasern genau denselben Schmerz empfinden wie wir bei einer Entladung unserer C-Fasern. Es ist die belegte Rolle und nicht das, was sie belegt, was den entsprechenden Zustand nach dem Funktionalismus auslöst. Und dies ist durchaus plausibel. Wir fühlen Mitleid mit den Delphinen, die alle Zeichen von Schmerz zeigen, selbst wenn wir gar nichts Genaues darüber wissen, wie spezifisch ähnlich ihr und unser Gehirn sind. Aber der Identitätstheoretiker kann nicht zulassen, dass sowohl ‚Schmerz = Entladung von C-Fasern‘, als auch ‚Schmerz = Entladung von D-Fasern‘ gilt. Dies würde infolge der Transitivität der Identität nämlich zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass Entladung von ‚CFasern = Entladung von D-Fasern‘ gilt. Zwei Antworten sind hierauf möglich. Der Identitätstheoretiker kann von seiner Theorie der token-token-Identität zurücktreten. Jeder token oder jede Instanz eines mentalen Zustandes M seien zwar ein Gehirnzustands-token, aber mentale types Die im angloamerikanischen Raum verbreiteten Fachausdrücke des type und des token stammen aus der Linguistik und wurden von dort in die Sprachphilosophie übernommen. Wegen ihrer spezifischen Bedeutungen werden sie auch im Deutschen in der Regel unübersetzt verwendet. Sie bezeichnen grundsätzlich zwei Arten von Ausdrücken in Sätzen: Der Begriff des type ließe sich durchaus unproblematisch als ‚Art-‘ oder ‚Gattungsausdruck‘ verstehen, wobei type kein hierarchieindizierter Ausdruck ist wie ‚Gattung‘ oder ‚Art‘. Der Begriff des token ist dagegen schon etwas spezifischer. Er ist in diesem Zusammenhang nur aus seiner konkretisierenden Beziehung zum type heraus verständlich. Der token ist folglich die gegenstandsspezifische Konkretisierung eines type in einer Satzaussage. Am einfachsten lässt sich dieses Verhältnis vielleicht in der Analogie von ‚Artbegriff‘ (= type) und ‚Fall einer Art‘ (= token) verstehen. In dem Satz: ‚Dieser Kombi ist mein Auto‘ wäre dann beispielsweise ‚Auto‘ der type-Ausdruck, und der token-Ausdruck ‚dieser Kombi‘. [WS]
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seien keine Gehirn-types, sondern vielmehr funktionale types. Alternativ könnten sie erlauben, dass die Identitäten zwischen mentalen types und Gehirn-types eingeschränkt werden müssten. Man bedenke nochmals das Geldbeispiel. Obwohl unterschiedliche Typen von Dingen in unterschiedlichen Gesellschaften Geld sind, können wir doch wahre Identitätsbehauptungen über die Typen von Dingen aufstellen, die alle in ihren verschiedenen Gesellschaften Geld sind. Beispielsweise gilt die Aussage‚Geld in unserer Gesellschaft = Banknoten und Münzen, die von der staatlichen Notenbank herausgegeben wurden‘, wogegen für die alten polynesischen Gesellschaften gilt ‚Geld in den alten polynesischen Gesellschaften = Muschelschalen‘. Ähnlich gilt, obwohl die Aussage ‚Temperatur in Gasen = mittlere molekularkinetische Energie‘ richtig ist, es doch Substanzen gibt, in denen sich die Moleküle nicht frei bewegen können, so dass Temperatur dort etwas anderes ist. Auf dieselbe Weise muss sich der Identitätstheoretiker für den Fall, dass die C-Fasern bei uns diejenige Rolle im Schmerz spielen, die bei den Delphinen die D-Fasern spielen, dann auf die Aussagen ‚Schmerz bei Menschen = Entladung von C-Fasern‘ und ‚Schmerz bei Delphinen = Entladung von D-Fasern‘ beschränken. Die Frage, was der Schmerz von Menschen und der Schmerz von Delphinen gemeinsam haben, bliebe offen, denn ex hypothesi weisen beide in diesem Falle nicht denselben Gehirnzustand auf. Und die Antwort des Identitätstheoretikers hierauf muss sein, dass ihnen gemeinsam wäre, dass jeder einen inneren Zustand hat, der die Schmerzrolle spielt, obwohl dies nicht derselbe Zustand ist. Siehe auch: Reduktionismus in der Philosophie des Geistes Anmerkungen und weitere Lektüre: Armstrong, D.M. (1991): ‚The Mind-Body Problem: An Opinionated Introduction‘. Oxford: Westview Press. (Ein sehr klar geschriebenes Lehrbuch eines der wichtigsten Verteidiger der Identitätstheorie.) Chalmers, David J. (Hrg.) (2002): ‚Philosophy of Mind: Classical and Contemporary Readings‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine umfangreiche Sammlung wichtiger Aufsätze zur Philosophie des Geistes. Enthält recht aktuelles Material.) Rosenthal, D.M. (Hrg.) (1991): ‚The Nature of Mind‘. London: Oxford University Press. (Eine weitere umfangreiche Sammlung wichtiger Aufsätze und Exzerpte aus Büchern, die allgemein die Philosophie des Geistes behandeln. Dieses Buch ist nicht so aktuell wie das vorangehend genannte, enthält dafür aber eine exzellente Bibliographie.) FRANK JACKSON
Geistes, Philosophie des Einführung ‚Philosophie des Geistes‘ und ‚Philosophie der Psychologie‘ sind zwei Ausdrücke für denselben allgemeinen Bereich philosophischer Untersuchung, nämlich des Wesens mentaler Phänomene und ihrer Verbindung mit dem Verhalten bzw. in der jüngeren Diskussion mit dem Gehirn. Umfangreiche Bemühungen auf diesem Gebiet spiegeln eine Revolution in der Psychologie, die ungefähr um die Mitte des 20. Jahrhunderts begann. Davor dachten viele, vor allem als Reaktion auf die traditionelle Behauptung, dass der Geist nichts Physisches sei (siehe Dualismus; Descartes, R.), dass eine wissenschaftli550
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che Psychologie die Rede von ‚privaten‘ mentalen Zuständen vermeiden sollte. Die Erforschung solcher Zustände schien auf unverlässlicher Introspektion zu beruhen, die nicht unabhängig überprüft werden kann (siehe Privatsprachenargument), und die zu den dubiosen Vorstellungen von Telepathie einlädt. Folglich argumentierten Psychologen wie B.F. Skinner und J.B. Watson, und ferner Philosophen wie W.V. Quine und Gilbert Ryle, dass die wissenschaftliche Psychologie sich auf das Studium öffentlich beobachtbarer Beziehungen zwischen Reizen und Antworten darauf beschränken sollte. In den späten 1950er Jahren stellten jedoch verschiedene Entwicklungen diese gesamte Haltung in Frage: (1) Die Experimente, die die Behavioristen selbst mit Tieren anstellten, neigten dazu, die behavioristische These zu widerlegen und legten stattdessen nahe, dass das Verhalten sogar noch von Ratten als mentale Zustände verstanden werden müsste. (2) Der Linguist Noam Chomsky lenkte die Aufmerksamkeit auf die überraschende Komplexität der natürlichen Sprache, die die Kinder vollkommen mühelos lernen, und er schlug Erklärungen für diese Komplexität im Sinne von weitgehend unbewussten mentalen Phänomenen vor. (3) Die revolutionäre Arbeit von Alan Turing (siehe Turing Maschinen) führte zur Entwicklung der modernen Digitalcomputer. Dies schien eine Aussicht auf die Konstruktion einer Künstlichen Intelligenz zu eröffnen, und darüber hinaus auf die Formulierung empirisch überprüfbarer Modelle intelligenter Prozesse sowohl bei Menschen, als auch bei Tieren. (4) Die Philosophen schätzten nunmehr wieder die Tugenden des Realismus hinsichtlich der allgemeinen theoretischen Entitäten, im Gegensatz zum vorangehenden Instrumentalismus. 1. Der Funktionalismus und die Berechnungstheorie des Geistes 2. Geist und Bedeutung 3. Alternativen zum Funktionalismus 4. Fragen der empirischen Psychologie 5. Philosophie des Handelns 1. Der Funktionalismus und die Berechnungstheorie des Geistes Diese Entwicklungen führten in den 1970er Jahren zur Entstehung eines losen Zusammenschlusses von Disziplinen, die sich cognitive sciences (dt.: ‚Kognitionswissenschaften‘) nannten, und die ihre Forschungen z.B. aus der Psychologie, der Linguistik, der Computerwissenschaft, der Neurowissenschaft und einer Reihe von Untergebieten der Philosophie, wie z.B. der Logik, der Sprachphilosophie, der Handlungstheorie etc. einbrachten. In der Philosophie des Geistes führten diese Entwicklungen zum Funktionalismus, demzufolge mentale Zustände als Beziehungen verstanden werden müssen, die sie untereinander und im Verhältnis zu inputs und outputs haben, beispielsweise bei der Vermittlung der Wahrnehmung und von Handlungen in einer Weise, wie Überzeugungen und Wünsche dies gedachtermaßen zu tun scheinen. Das traditionelle Problem des Fremdgeistigen wurde damit zu einer Übung im Schluss vom Verhalten auf das Wesen intern-kausaler Vermittler. Dieser Fokus auf die funktionale Organisation brachte die Möglichkeit verschiedener Realisierungen mit sich: wenn alles Wesentliche an mentalen Zuständen mit den Rollen beschrieben ist, die sich in einem System abspielen, dann könnten mentale Zustände, und folglich auch der Geist, aus unterschiedlichen Substanzen
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zusammengesetzt (oder durch sie ‚realisiert‘) sein. Einige Geister könnten kohlenstoffbasiert sein wie der menschliche, andere eher wie Computer-‚Gehirne‘ in Robotern der Zukunft, und wieder andere vielleicht silikon-basiert, wie dies in manchen Zukunftsromanen über die ‚Marsbewohner‘ erzählt wird. Diese Unterschiede könnten auch dafür sorgen, dass der Geist auf unterschiedliche Weisen und auf unterschiedlichen Ebenen organisiert ist; diese Idee hat zur Einrichtung einer Reihe weiterer Disziplinen der Kognitionswissenschaften geführt, die alle den Geist auf oft sehr unterschiedlichen Erklärungsebenen erforschen. Der Funktionalismus spielte in den Debatten über die Metaphysik des Geistes eine wichtige Rolle. Einige sahen ihn als eine Möglichkeit zur Vermeidung des Dualismus und traten für eine Fassung des Materialismus ein, die als die Identitätstheorie des Geistes (siehe Geistes, Identitätstheorie des) bekannt wurde. Sie argumentieren, dass wir zur Identifikation mentaler Zustände, wenn diese eine spezifische funktionale Rolle spielen, einfach nur die Zustände herausfinden müssten, die diese Rollen spielen, und die damit praktisch sicher für verschiedene Gehirnzustände stehen würden. Hier müssen wir die Identifikation mentaler Zustands-token2 mit Gehirnzustands-token von der Identifikation mentaler types von Gehirnzustands-types unterscheiden (siehe Type/Token-Unterscheidung). Viele Philosophen traten dafür ein, dass die vielfache Realisierbarkeit zeige, dass es ein Fehler wäre, irgendeine bestimmte Art oder ein bestimmter Typ mentaler Phänomene mit einem bestimmten Typ physischer Phänomene zu identifizieren, beispielsweise eine Depression mit der Erschöpfung von Norepinephrin in gewissen Hirnarealen. Denn wenn die Depression ein multipel realisierter funktionaler Zustand ist, dann ist er nicht identisch mit irgendeinem bestimmten Typ von physikalischem Phänomen: unterschiedliche Instanzen oder token von Depressionen können mit token von jeweils ganz anderen Typen physikalischer Phänomene identisch sein (z.B. Norepinephrin-Erschöpfung bei Menschen mit zu wenig Silikon-Aktivierung bei den ‚Marsbewohnern‘). Tatsächlich könnte der Funktionalist zulassen (auch wenn dies nur wenige ernst nehmen), dass es sogar Gespenster geben könnte, die die richtige funktionale Organisation in speziellen dualistischen Substanzen aufweisen. Einige Identitätstheoretiker bestehen jedoch darauf, dass zumindest einige mentale Zustandstypen – wobei sie sich oft auf Zustände wie Schmerz und den Geschmack von Annanas etc. konzentrieren, also auf Zustände mit Qualia (siehe hierzu auch die weiter unten folgende Diskussion) – mit bestimmten Gehirnzustandstypen identifiziert werden müssten, ungefähr auf die Weise, wie auch der Blitz mit der elektrischen Ladung oder das Wasser mit H2O identifiziert wird. Sie halten diese Identifikationen typischerweise für aposteriorisch notwendig. Ein wichtiges Beispiel der funktionalistischen Theorie, und zwar eines, das zur herrschenden Lehre in vielen Untersuchungen der Kognitionswissenschaften wurde, ist die Berechnungstheorie des Geistes (siehe Geist, Berechnungstheorie des), nach der mentale Zustände mit den Rechenzuständen von Computern entweder identifiziert oder zumindest ihnen als sehr nahe stehend angesehen werden müssen. Es gab drei Hauptfassungen dieser Theorie, entsprechend drei Hauptvorschlägen über die kognitive ‚Architektur‘ des Geistes. Nach der ‚klassischen‘ Theorie, die spezi2 Siehe die vorangehende Fußnote unter dem Beitrag ‚Geistes, Identitätstheorie des‘ zu den Begriffen type und token, die hier, dem allgemeinen fachsprachlichen Gebrauch folgend, nicht übersetzt werden. [WS]
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ell mit Jerry Fodor assoziiert wird, finden die Berechnungen an Repräsentationen statt, die jene Art logischer und syntaktischer Struktur besitzen, die auch in logischen Standardformen erfasst wird, d.h. eine Repräsentation in der so genannten Gedankensprache, die in unseren Gehirnen kodiert ist. Ein zweiter Vorschlag, der hin und wieder von F.P. Ramseys Auffassung inspiriert wurde, dass Überzeugungen ‚Landkarten‘ seien, mittels derer wir unser Verhalten steuern (siehe Überzeugung), betont die mögliche Rolle von Abbildungen (‚Landkarten‘) und mentalen Bildern beim Denken. Ein dritter und erst kürzlich viel diskutierter Vorschlag ist der Konnektionismus, der bestreitet, dass es überhaupt irgendwelche strukturierten Repräsentationen gibt; das Gehirn bzw. der Geist bestünde vielmehr aus einem riesigen Netzwerk von Knoten, deren unterschiedliche und schwankende Erregungsniveaus das intelligente Lernen erklären würden. Diese Herangehensweise hat besonders das Interesse jener erregt, die skeptisch gegenüber der Behauptung von großen ‚verborgenen‘ mentalen Strukturen sind, die nicht deutlich im gewöhnlichen Verhalten sichtbar sind (siehe Wittgenstein, § 3, und Daniel Dennett). Diejenigen Bereiche, die sich am selbstverständlichsten an eine Berechnungstheorie anschmiegen, sind jene, die mit der Logik, dem common sense und der praktischen Vernunft, sowie der Syntax der natürlichen Sprache verbunden sind (siehe Rationalität, praktische; Syntax); und Forschungen zu diesen Themen in der Psychologie und der Künstlichen Intelligenz erweisen sich als tief mit der Philosophie verflochten (siehe Semantik; Sprache, Philosophie der). Eine besonders fruchtbare Anwendung der Berechnungstheorien zeigte sich in der Erforschung des Sehvermögens. Frühe Arbeiten der Gestaltpsychologie enthüllten bereits eine Reihe verblüffender Wahrnehmungsillusionen, die die Art und Weise verdeutlichten, wie der Geist die Wahrnehmungserfahrung strukturiert, und die Pionierarbeit von David Marr legte nahe, dass wir diese Strukturierungswirkungen auf berechnendem Wege herbeiführen. Die Vorstellung, dass die Wahrnehmung in hohem Maße erkennend ist, zusammen mit dem funktionalistischen Bild, das einen mentalen Zustand durch seinen Ort in einem funktionalen Netzwerk bestimmt, führte viele Beteiligte zu holistischen Konzeptionen des Geistes und der Bedeutung, nach der Teile des Denkens und der Erfahrung einer Person nicht von dem gesamten Erkenntnissystem dieser Person abgetrennt werden können (siehe Holismus: Mentaler und semantischer; Semantik der Begriffsrollen). Diese Auffassung wurde jedoch kürzlich durch Arbeiten von Jerry Fodor in Frage gestellt. Er wandte ein, dass Wahrnehmungssysteme ‚Module‘ sind, deren Arbeitsweise ‚informationell gekapselt‘ und deshalb von den Wirkungen der Zustände des zentralen kognitiven System isoliert seien (siehe Modularität des Geistes). Er schlug auch eine Darstellung der Bedeutung vor, die sie als lokale (oder ‚atomistische‘) Eigenschaft behandelt, die im Wege gewisser kausaler Abhängigkeiten zwischen Gehirnzuständen und der Welt verstanden werden müssten. Andere wandten darüber hinaus ein, dass die Wahrnehmung, obwohl sie inhaltsvoll sei, auf wichtige Weise auch nicht-begrifflich ist, wie wenn z.B. jemand eine viereckige Gestalt als einen Diamanten erkennt, aber nicht in der Lage ist, den wesentlichen Unterschied zwischen einem Viereck und der Form eines Diamanten zu benennen (siehe Inhalt, nicht-begrifflicher; Wahrnehmung).
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2. Geist und Bedeutung Wie diese letzten Fragen bereits zeigen, muss sich jede Theorie des Geistes mit der sehr schwierigen Frage der Bedeutung auseinandersetzen (siehe Semantik). In der Philosophie des Geistes und der Psychologie geht es dabei nicht an erster Stelle um die Bedeutung von Ausdrücken der natürlichen Sprache, sondern darum, wie ein Zustand des Geistes oder des Gehirns überhaupt eine Bedeutung oder einen ‚Inhalt‘ haben kann: was heißt es z.B. davon überzeugt zu sein, dass Schnee weiß ist oder dass man hofft, eine Wette zu gewinnen. Diese Zustände sind Beispiele sog. ‚propositionaler Einstellungen‘ oder ‚Aussagehaltungen‘ (engl.: propositional attitudes). Sie stehen in jenem Verhältnis zu Aussagen wie z.B. der, dass Schnee weiß ist oder dass man gewinnen wird, dass sie den ‚Inhalt‘ des jeweiligen Überzeugungs- oder des Hoffnungszustandes bilden. Solche Aussagen werfen die allgemeine Frage der Intentionalität auf, oder wie ein mentaler Zustand sich auf Dinge (z.B. Schnee) und Eigenschaften (z.B. weiß) richten kann, und speziell auf solche ‚Dinge‘, die gar nicht existieren oder Ereignisse, die gar nicht eintreten, so wie wenn jemand an den Weihnachtsmann glaubt oder vergeblich auf den Sieg hofft. Es wurden im Wesentlichen drei Vorschläge zur Darstellung des geistigen Inhalts gemacht. Ein Zustand kann einen bestimmten Inhalt aufweisen: (1) kraft der Rolle, die er im Denken spielt (siehe Semantik der Begriffsrollen); (2) kraft kausaler und regelbasierter Beziehungen, die der Zustand im Verhältnis zu Phänomenen der Welt unterhält (siehe Funktionalismus); oder (3) kraft der Funktion, die er in der Evolution und der Biologie von Organismen erfüllt (siehe Funktionale Erklärungen). Im Zusammenhang mit diesen Vorschlägen stehen die traditionellen philosophischen Interessen an Begriffen, obwohl dieses Thema schwierige metaphysische Fragen in Betreff der Universalien aufwirft, und ferner erkenntnistheoretische Fragen bezüglich der Erkenntnis a priori. Spezielle Probleme ergeben sich aus dem indexikalischen Inhalt bzw. dem Inhalt der Gedanken, die ausgedrückte Begriffe in sich tragen, die z.B. durch Ausdrücke wie ‚ich selbst‘, ‚hier‘, ‚jetzt‘, ‚dieses‘ und ‚das dort‘ ausgedrückt werden (siehe Demonstrative und indexikalische Zeichen; Aussageeinstellungen). Hat der Gedanke, dass sich etwas nicht hier befindet, in Berlin denselben Inhalt wie in Wien? Die Bedingungen, unter denen solche Gedanken wahr sind, hängen offenkundig von externen Zusammenhängen ab, z.B. dem Zeitpunkt oder dem Ort des Gedankens. Diese Abhängigkeit von dem externen Kontext stellen sich viele als ein durchgehendes Merkmal des geistigen Inhalts vor. Indem sie sich auf jüngere Arbeiten zur Referenz (Wortbedeutung) beziehen (siehe Referenz; Eigennamen), haben Hilary Putnam und Tyler Burge vorgebracht, dass das, was die Menschen denken, glauben etc. nicht nur davon abhinge, wie sie beschaffen seien, sondern auch von Merkmalen ihrer physischen und sozialen Umgebung. Dies wirft die wichtige Frage auf, ob die Psychologie eines Organismus isoliert von der externen Welt verstanden werden kann, die er bewohnt. Die Vertreter des methodischen Individualismus bestehen darauf, dass dies möglich sei (siehe Methodischer Individualismus). Putnam, Burge und ihre Anhänger wiederum meinen, dass dies nicht möglich sei. Einige Theoretiker reagierten auf die Debatte, indem sie zwischen dem Inhalt im weiten und im engen Sinne unterschieden: der enge Inhalt ist das, was ‚innerhalb ihrer Hautoberfläche‘ identische Individuen unter unterschiedlichen Umgebungsbedingungen gemeinsam haben, während der weite Inhalt sich von einer Umgebung zur nächsten ändern kann 554
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(siehe Inhalt: weiter und enger). Diese Theoretiker weisen diesen beiden Begriffen daraufhin bestimmte Rollen innerhalb einer theoretischen Psychologie zu, was allerdings Gegenstand zahlreicher Kontroversen ist. 3. Alternativen zum Funktionalismus Nicht jeder, der sich mit diesen Themen beschäftigt, schließt sich den funktionalen und den Berechnungstheorien des Geistes an. Einige, die von Ryle und dem späten Wittgenstein beeinflusst sind, meinen, dass eine solche Bemühung um buchstäblich innere Prozesse des Gehirns ein fundamentales Missverständnis der Rede vom Geistigen mit sich bringt, sofern sie sich weitgehend auf äußerliche Kriterien stützt. Andere wieder meinen, dass Berechnungsprozessen die Mittel zum Erfassen der grundlegenden Eigenschaften des Bewusstseins und der Intentionalität fehlten, die für praktisch alle mentalen Phänomene wesentlich sind. Insbesondere John Searle betrachtet seinen ‚Beweis des chinesischen Raumes‘ (siehe Chinesischen Raumes, Argumente des) als einen vernichtenden Einwand gegen alle Berechnungsansätze. Er meint, dass mentale Phänomene nicht funktional, sondern direkt biologisch oder physikalisch aufgefasst werden müssten. Die stärkste Herausforderung für den Funktionalismus stellen jedoch die sog. Qualia dar, d.h. Eigenschaften, die einerseits das Schmerzgefühl, das Rotempfinden, den Geschmack von Ananas etc. von mentalen Zuständen wie Überzeugungen, und andererseits vom Verstehen selbst unterscheiden (siehe Sinnesdaten; Wahrnehmung). Einige brachten hiergegen vor, dass man auf diesem Gebiet unnötige Probleme produziert, wenn man die innere Erfahrung übermäßig verdinglicht, und empfahlen stattdessen eine adverbiale Theorie der mentalen Zustände. Aber auch dann bestehen einige Problem fort und können sehr virulent werden, wenn man die Möglichkeit der ‚invertierten Qualia‘ bedenkt. Beispielsweise könnten zwei Menschen Farbempfindungen haben, die einander genau komplementär gegenüberstehen, also rot für grün, gelb für blau etc.), obwohl ihr Verhalten und ihre funktionale Organisation ansonsten identisch ist. Dieser Frage wird im Beitrag Farbe und Qualia weiter nachgegangen und führt unausweichlich in schwierige Probleme zum Verständnis des Bewusstseins: Was ist dies? Welche Lebewesen bzw. Dinge weisen es auf? Wie berichten wir davon? Welche kausale Rolle, wenn überhaupt, spielt es in der Welt? Ferner gibt es für Funktionalisten Fragen betreffend die Geistige Verursachung. Ein prinzipieller Grund, warum der Dualismus heute wenige Anhänger findet, ist das Erklärungsproblem, wie nicht-physikalische oder nicht-natürliche Phänomene eine kausale Wirkung in der physischen Welt haben können. Und obwohl einige Dualisten sich auf den Epiphänomenalismus zurückgezogen haben, d.h. auf die Auffassung, dass mentale Phänomene verursacht werden, selbst aber keinerlei physische Phänomene verursachen, wird dies überwiegend als unplausibel angesehen. Die Funktionalisten haben aber auch selbst ein Problem. Selbst wenn sie darauf bestehen, dass funktionale Zustände physisch verursacht werden, haben doch funktionale Zustände per se keine kausale Wirkung. Die kausale Wirkung scheint, wenn überhaupt, vielmehr von den zugrunde liegenden physischen Eigenschaften ihrer materiellen Basis auszugehen. Da es die Funktionalisten vermeiden, dem ‚Nicht-Physischen‘ kausale Rollen zuzuschreiben, müssen sie auch zugeben, dass mentale Eigenschaften per se keine kausale Wirkung entfalten.
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Geistes, Philosophie des
Obwohl die Auffassung, dass der Geist ein natürliches Phänomen sei, heutzutage weitgehend akzeptiert wird (hauptsächlich wegen der kausalen Probleme des Dualismus), ist es doch äußerst strittig, was daraus folgt. Einige der Beteiligten meinen, dass dies nicht mehr bedeutet als eine Supervenienz mentaler Phänomene über die physische Natur in dem Sinne, dass es keine geistige Differenz ohne eine physische Differenz geben kann. Donald Davidson meint, dass dies wahr sein kann, selbst wenn es keinerlei strenges Gesetz einer Verbindung der physischen und der mentalen Welt gibt (siehe Anomaler Monismus). Andere wiederum beharren darauf, dass ein Naturalist des Geistes die Reduktion des Mentalen auf das Physische ungefähr auf jene Weise durchführen muss, wie die Thermodynamik auf die statistische Mechanik reduziert wurde, um dadurch eine präzise und in Regeln formulierte bikonditionale Verschränkung des Mentalen und des Physischen darstellen zu können (siehe Reduktionismus in der Philosophie des Geistes). Ein guter Teil der Diskussion hierüber dreht sich um den Status der Alltagspsychologie, d.h. der Theorie des Geistes, die mutmaßlich dem alltäglichen Denken und Reden über den Geist innewohnt. Nach einer Auffassung hierzu sind mentale Zustände einfach solche, die die Rollen dieser impliziten Theorie erfüllen, und die Reduktion besteht aus dieser Sicht im Auffinden der physischen Zustände, die hinter diesen Rollen stehen und deshalb mit den relevanten mentalen Zuständen identifiziert werden müssten. Indem sie darauf hinweisen, dass jede Theorie, und insbesondere solche des Alltags, sich als falsch erweisen könne, wenden die Anhänger des Eliminativismus allerdings hiergegen ein, dass wir die Möglichkeit ernst nehmen müssten, dass die von der Alltagspsychologie behaupteten mentalen Zustände gar nicht existieren, so wie sich bereits herausstellte, dass es auch keine Hexen und kein Phlogiston gibt. 4. Fragen der empirischen Psychologie Die empirische Psychologie spielt in der Philosophie nicht nur deshalb eine Rolle, weil ihre Grundlagen auf die oben dargestellten philosophischen Weisen diskutiert wurden, sondern auch weil einige ihrer spezifischen Ergebnisse für traditionelle philosophische Behauptungen grundsätzlich relevant sind. Beispielsweise haben Experimente an geteilten Hirnhälften die traditionellen Konzeptionen der personalen Identität untergraben (siehe auch Geist, Bündeltheorie des), und Untersuchungen zur Verlässlichkeit der Selbstzuschreibung psychologischer Zustände bei Menschen hat Zweifel an der Introspektion als Quelle einer privilegierten Erkenntnis über den Geist aufkommen lassen. Die Arbeiten von Freud zur Psychopathologie (siehe Psychoanalyse, nach-freudianische; Psychoanalyse, Methodische Fragen der) und von Chomsky zur Linguistik legen nahe, dass die Zustände mit der größten explanatorischen Relevanz nicht die introspektiv zugänglichen sind (siehe Wissen, Stillschweigendes; Unbewusste Geistige Zustände). Chomskys Ideen haben auch die Postulate des Rationalismus über das angeborene Wissen wieder belebt, die durch den Empirismus lange Zeit diskreditiert waren. Und sie haben Forschungen zur allgemeinen kindlichen Kognition über das grammatische Wissen hinaus angeregt, von denen einige auf das sog. ‚Molyneux‘-Problem eingehen, ob nach langer Blindheit zum ersten Male durch ihre Augen wahrnehmende, also sehende Menschen in der Lage sind, Formen wieder zu erkennen, die sie vorher nur aus der Berührung kannten. Andere Fragen zu den grundlegenden Kategorien, in denen die Menschen 556
Geistes, Philosophie des
die Welt verstehen, haben von der Arbeit profitiert, wie sich solche Kategorien in der Kindheit entwickeln und dort verstanden werden (siehe Piaget, J.; MolyneuxProblem). Eine für die Philosophie des Geistes speziell wichtige Frage betrifft den Ursprung unserer geistigen Begriffe; sie wird in der gegenwärtigen Forschung heftig diskutiert und betrifft unser Verständnis der Alltagspsychologie. 5. Philosophie des Handelns Egal, ob die Alltagspsychologie nun letztlich von der empirischen Forschung gerechtfertigt wird oder nicht, ist sie doch ein reicher Fundus an Unterscheidungen, die für das menschliche Leben sehr wichtig sind. Ihre Durchmusterung neigte allerdings zur Konzentration auf Fragen der Erklärung der Handlung, und in ähnlicher Haltung auf psychologische Fragen, die moralisch relevant sind (siehe Moralpsychologie). Die traditionelle Auffassung der Handlung, die in ihrer bekanntesten Fassung von David Hume vorgetragen wurde, lautet, dass eine Handlung sowohl eines Wunsches, als auch einer Überzeugung oder eines Glaubens bedarf. Der Wunsch liefert das Ziel der Handlung, und die Überzeugung oder der Glaube die mutmaßlichen Mittel, um das jeweilige Ziel zu erreichen (siehe auch Überzeugung und Glaube; Wirkungen und Ursachen; Wunsch). Welche Rolle spielt dann aber die Intention (sofern sie überhaupt eine Rolle spielt)? Sind Intentionen nicht mehr als irgendeine Gesamtheit von Überzeugungen und Wünschen? Und wo, wenn überhaupt, finden wir in dem Humeschen Bild einen Platz für den Willen? Ist der Wille etwas, dass auf irgendeine Weise unabhängig von Überzeugungen und Wünschen zu agieren vermag, oder ist er eine Art ihrer Konkretisierung, d.h. eine Art von Urteil, in dem ‚alles zusammen bedacht ist‘, und das zwischen der vorangehenden Unentschlossenheit und dem Handlungsentschluss steht (siehe Wille, der). Berüchtigte, weil schwierige Fragen diesbezüglich lauten, ob es überhaupt so etwas wie Freier Wille gibt, und wie es einer Person möglich sein kann, entgegen ihrem besseren Wissen zu handeln, wie dies im Falle der Akrasie (Willensschwäche) der Fall zu sein scheint. Überzeugungen und Wünsche scheinen eng ineinander verschlungen und überdies mit anderen mentalen Zuständen verbunden zu sein. Überzeugungen betreffend die Vergangenheit machen den Kern der Erinnerung aus. Die Wahrnehmung liefert Überzeugungen darüber, wie die Dinge um uns herum beschaffen sind, und das Träumen scheint ein Erfahrungserlebnis im Schlaf zu sein, das – wenn auch nur fragmentarisch – den Wahrnehmungen in der Weise ähnelt, dass sie dazu neigen, uns zumindest während des Traums von etwas zu überzeugen, das gerade geschieht. Sogar Gefühle und körperliche Empfindungen scheinen Anteile von Überzeugungen und Wünschen zu haben (siehe Gefühle, Wesen der): Wut impliziert sowohl die Überzeugung, dass jemand sich falsch verhalten hat und den Wunsch, darauf zu reagieren, und Schmerz impliziert die Überzeugung, dass etwas verkehrt ist, sowie den Wunsch dies zu beendigen. Ein guter Teil der zeitgenössischen Philosophie des Geistes und der Handlung befasst sich damit, wie man die Beziehung zwischen Überzeugungen und Wünschen und zahlreichen anderen geistigen Zuständen herausbekommen kann, obwohl sich Ansätze der Kognitionswissenschaften oft und stärker auf berechenbare und aktive Zustände konzentrieren, wie z.B. das Bemerken von Etwas, das Entscheiden und den Denkverlauf selbst beim Denken.
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Geisteskrankheit, Begriff der
Siehe auch: Einbildungskraft; Jung, C.G. ; Lust ; Materialismus in der PhiloGeistes; Neutraler Monismus; Nous Anmerkungen und weitere Lektüre: Braddon-Mitchell, D. und Jackson, F. (1997): ‚Philosophy of Mind and Cognition‘. Oxford: Blackwell. (Dieses Buch diskutiert die meisten der aktuellen Positionen in der Philosophie des Geistes; es steht dem analytischen Funktionalismus nahe.) Guttenplan, S. (Hrg.) (1994): ‚A Companion to the Philosophy of Mind‘. Oxford: Blackwell. (Eine Sammlung wesentlicher Aufsätze von einigen der bekanntesten Figuren auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes.) Rey, G. (1997): ‚Contemporary Philosophy of Mind‘. Oxford: Blackwell. (Dieses Buch diskutiert ebenfalls die meisten der aktuellen Positionen in der Philosophie des Geistes, steht aber der Repräsentationstheorie des Geistes näher.) FRANK JACKSON, GEORGES REY
sophie des
Geisteskrankheit, Begriff der
Der Geisteskranke wurde in Europa ungefähr bis ins ausgehende 18. Jahrhundert als jemand betrachtet, der niederträchtig oder besessen ist, während er inzwischen allgemein als ein Kranker bzw. Geisteskranker angesehen wird. Normalerweise wird die letztere Auffassung als die klügere Entscheidung eines informierteren Zeitalters betrachtet; einige sehen sie aber auch als ein zweischneidiges Schwert, insofern der Geisteskranke gleichzeitig sowohl unterstützt, als auch seiner Verantwortung für seine Handlungen beraubt wird, was schließlich auf eine mitfühlendere Behandlung hinausläuft, aber auch Werturteile als objektive Wissenschaft tarnt. Diese Frage wird durch die Vielzahl von Zuständen noch schwieriger, die als psychische Krankheiten eingestuft werden, und auch durch den Umfang, zu dem ihre Ursachen immer noch falsch verstanden werden. Die Schwierigkeit ist aber auch eine begriffliche: was ist am Ende überhaupt eine psychische Krankheit? Die Menschen sind sich gewöhnlich darin einig, dass Krankheit abnorme Körperfunktionen mit sich bringt. Wie aber entscheiden wir, was eine normale Körperfunktion ist? Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir wissen, was wir mit dem Ausdruck ‚kranker Körper‘ meinen: gibt es zu diesem Ausdruck einen parallelen des kranken Geistes, der mehr als eine Metapher ist? Siehe auch: Foucault, M., § 2; Moralische Akteure; Psychoanalyse, Nachfreudianische; Verantwortung KAREN NEANDER
Geistige Verursachung
Sowohl die Alltags-, als auch die wissenschaftliche Psychologie geht davon aus, dass geistige Ereignisse und Eigenschaften an kausalen Beziehungen teilhaben. Diese Annahme wird jedoch von Überlegungen infrage gestellt, die auf der kausalen Vollständigkeit der physischen Welt und der offenkundigen Nicht-Reduzierbarkeit von geistigen Phänomenen auf physische Phänomene aufbauen. Im Falle der geistigen Ereignisse (wie z.B. das Denken einer Person an die Stadt Wien) lief ein Vorschlag darauf hinaus, nicht einfach types� oder Klassen geistiger Ereignisse mit types oder Klassen physischer Ereignisse zu identifizieren, sondern lediglich den individuellen token (d.h. den konkreten Fall einer Type oder das konkrete Element einer Klasse) eines geistigen Ereignisses mit entsprechenden token physischer Ereignisse,
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Geltungsbereich
und zwar jedes einzeln, d.h. dein und mein Denken an die Stadt Wien würde dann durch unterschiedliche Typen physikalischer Zustände ‚realisiert‘. Die Rolle der geistigen Eigenschaften (wie z.B. das Handeln ‚von Wien‘) in der Kausalität ist schon problematischer. Eigenschaften werden überwiegend als etwas konzipiert, das drei Merkmale aufweist, die den Eigenschaften allesamt sämtliche kausale Relevanz zu nehmen scheinen: (1) sie sind mehrfach realisierbar, d.h. sie können an einer unendlichen Vielzahl von Substanzen auftreten; (2) viele von ihnen scheinen nicht supervenient im Verhältnis zu neurophysiologischen Eigenschaften aufzutreten, d.h. Unterschiede geistiger Eigenschaften hängen nicht immer von neurophysiologischen Unterschieden ab, sondern von den Beziehungen, die die Menschen zu Dingen unterhalten, die außerhalb ihres eigenen Körpers liegen; und (3) scheinen viele von ihnen, z.B. die Eigenschaft ‚schmerzhaft sein‘, auf spezifische Weise subjektiv zu sein, wie es offenbar keine physischen Eigenschaften sind. Alle dieser Fragen werden noch durch den Umstand kompliziert, dass allgemein hinsichtlich des Wesens kausaler Relevanz für die Eigenschaften keine Einigkeit besteht. Siehe auch: Determinismus und Indeterminismus; Dualismus; Freier Wille BARRY LOEWER
Geistige Zustände, Unbewusste Siehe: Unbewusste geistige Zustände
Geltungsbereich
Der Ausdruck ‚Geltungsbereich‘ ist ein Begriff, der von Logikern und Linguisten bei der Beschreibung künstlicher und natürlicher Sprachen verwendet wird. Er wird am besten in Bezug auf Sprachen der formalen Logik eingeführt. Man betrachte das bestimmte Auftreten eines Operators, z.B. ‚→‘ in Ausdruck (1), oder den sog. Allquantor ‚∀‘ in Ausdruck (2). (1) A → (B & C) ∀x(Bxy → ∃yAxy) Intuitiv gesprochen ist der Geltungsbereich des Operators jener Teil des Satzes, für den er bestimmend ist. Der Geltungsbereich von ‚→‘ in (1) ist der gesamte Satz; dies macht den gesamten Satz zu einer konditionalen Aussage oder einem Konditional. Der Geltungsbereich von ‚&‘ ist dagegen auf (B & C) beschränkt. In (2) ist der Geltungsbereich des Quantors ‚∀‘ der gesamte Satz, was es ermöglicht, ihn an jedes Auftreten von x zu binden. Der Geltungsbereich von ‚∃‘ ist lediglich ∃yAxy. Da Bxy außerhalb dieses Geltungsbereichs liegt, bleibt y in Bxy ungebunden. Siehe auch: Anapher; Beschreibungen; Quantoren, ersetzende und gegenständliche
MARK RICHARD
Gemeinschaft und Kommunitarismus
Reflexionen über die Natur und Bedeutung der Gemeinschaft haben eine herausragende Rolle in der Geschichte der westlichen Ethik und der politischen Philosophie gespielt, und zwar sowohl in der säkularen, als auch in der religiösen. In der Ethik und der politischen Philosophie bezieht sich der Ausdruck ‚Gemeinschaft‘ auf eine Form der Beziehung zwischen einzelnen Menschen, der qualitativ stärker ist und weiter geht als die schlichte Assoziation. Der Begriff der Gemeinschaft schließt zumindest zwei Elemente ein: (1) Individuen, die einer Gemeinschaft angehören, 559
Gemeinschaft und Kommunitarismus
haben Ziele, die im robusten Sinne des Wortes gemeinsame sind, nicht nur einfach übereinstimmende private Ziele, und die von den Mitgliedern der Gemeinschaft als gemeinschaftliche Ziele gedacht sind und bewertet werden; und (2) das Bewusstsein der beteiligten Individuen, dass sie Mitglieder dieser Gruppe sind, ist ein bedeutender Bestandteil ihrer Identität, d.h. ihrer Wahrnehmung, wer sie sind. In den vergangenen zwei Jahrzehnten bildete sich in den englischsprachigen Ländern eine wichtige und einflussreiche Variante des säkularen ethischen und politischen Denkens unter dem Banner des Kommunitarismus. Der Ausdruck ‚Kommunitarismus‘ bezeichnet die Sichtweise einer großen Bandbreite zeitgenössischer Denker, einschließlich Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Michael Sandel und vielleicht auch Michael Walzer. Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass es keine gemeinsame Weltanschauung gibt, der sich alle diese Denker angehörig fühlen, und dass die meisten von ihnen diesen Ausdruck vermeiden. Es gibt zwei eng miteinander verbundene Vorgehensweisen zur Kennzeichnung, was die Anhänger des Kommunitarismus gemeinsam haben; der eine ist positiv, der andere negativ. Als positive Sichtweise ist der Kommunitarismus eine Perspektive der Ethik und der politischen Philosophie, die die psychosoziale und ethische Bedeutung der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften betont, und die besagt, dass die Möglichkeiten zur Rechtfertigung ethischer Urteile durch den Umstand bestimmt sind, dass das ethische Denken sich innerhalb des Kontextes einer gemeinschaftlichen Tradition und deren kulturellem Verständnis abspielen muss. Als negative Sichtweise ist der Kommunitarismus eine Variante des Antiliberalismus, d.h. eine, die den liberalen Gedanken kritisiert, weil er nicht ausreichend die Wichtigkeit der Gemeinschaft berücksichtigt. Gegenwärtig ist die kommunitaristische Kritik des Liberalismus weiter entwickelt als der Kommunitarismus selbst im Sinne einer systematischen ethischen oder politischen Philosophie. Der existierenden kommunitaristischen Literatur ermangelt es an irgendetwas Vergleichbarem mit Rawls Theorie der Gerechtigkeit oder Feinbergs Theorie der moralischen Grenzen des Strafrechts, die beide paradigmatisch für eine systematische liberal-ethische und politische Theorie sind. Großenteils muss der positive Inhalt der kommunitaristischen Sichtweise aus ihrer Kritik am Liberalismus erschlossen werden. Daher ist der Kommunitarismus weitgehend und hauptsächlich eine Denkungsart über das ethische und politische Leben, das in fundamentaler Opposition zum Liberalismus steht. Für manche Menschen scheint das kommunitaristische Denken ein heilsames Gegenmittel gegen das zu sein, was sie für einen exzessiven Individualismus und eine obsessive Sorge um die personale Autonomie halten. Für andere wiederum repräsentiert der Kommunitarismus das Versagen der Wertschätzung – und der Zerbrechlichkeit – der liberal-sozialen Institutionen. Der Erfolg des Kommunitarismus als einer ethischen Theorie hängt davon ab, ob eine Form des ethischen Denkens entwickelt werden kann, die die Wichtigkeit der sozialen Rollen und der kulturellen Werte bei der Rechtfertigung moralischer Urteile betont, ohne in einen extremen ethischen Relativismus zu verfallen, was eine grundlegende ethische Kritik der jeweils eigenen Gemeinschaft verunmöglichen würde. Der Erfolg des Kommunitarismus als einer politischen Theorie hängt davon ab, ob gezeigt werden kann, dass liberale politische Institutionen nicht die angemessenen Bedingungen für das Aufblühen einer Gemeinschaft herstellen oder keine geeignete Unterstützung zur Bildung personaler Identität in dem Maße sicher560
Gemeinwille
stellen können, wie die Identität der jeweiligen Mitglieder durch ihre Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft bestimmt ist. Siehe auch: Internationale Beziehungen, Philosophie der; Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Nation und Nationalismus; Rawls, J. ALLEN BUCHANAN
Gemeinwille
Die grundlegende Behauptung eines Gemeinwillens besteht darin, dass die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft qua ihrer Mitgliedschaft ein öffentliches oder allgemeines Interesse oder Gut teilen, das ihnen allen zugute kommt, welches den privaten Interessen vorangestellt werden sollte. Wenn die Mitglieder das allgemeine Gute an die erste Stelle setzen, dann wollen sie den Gemeinwillen ihrer Gemeinschaft. Diese Behauptung wurde durch J.J. Rousseau eine spezifische und einflussreiche Form gegeben. Er entwickelte eine Theorie der Legitimität des Staates und der Regierung, die auf dem Gemeinwillen aufbaute. Einige bestreiten, dass dies das zentrale Problem der politischen Philosophie löst, nämlich wie das Individuum sowohl verpflichtet werden kann, den Gesetzen des Staates zu gehorchen, als auch frei zu sein. Wenn Gesetze durch den Gemeinwillen mit dem Ziel des gemeinsamen Guten zustande kommen, und wenn diese Gesetze durch alle Bürger zum Ausdruck kommen, so müssen die Gesetze im Einklang mit dem öffentlichen Interesse stehen und damit mit dem Interesse eines jeden Einzelnen, und jeder ist folglich durch das Gesetz verpflichtet und dennoch frei, weil er selbst an seiner Entstehung beteiligt war. Rousseaus Formulierung wurde von vielen Seiten kritisiert. Wieder andere fanden sie im Grunde richtig und versuchten sie auf verschiedene Weise ihren Erfordernissen anzupassen. PETER P. NICHOLSON
Genealogie
Der Ausdruck ‚Genealogie‘ kam in den 1970er Jahren mit Michel Foucaults Buch ‚Surveiller et punir‘ (dt.: ‚Überwachen und Strafen‘, 1977) und seiner ‚Geschichte der Sexualität‘ (1976–1984) in Umlauf. Foucaults Verwendung dieses Ausdrucks geht auf jene von Nietzsche in seiner ‚Genealogie der Moral‘ (1887) zurück. Für beide Philosophen ist die Genealogie eine Form der historischen Kritik, mit der man die geltenden Normen durch Freilegung ihrer Ursprünge stürzen kann. Während Nietzsches Methode auf psychologischen Erklärungen beruht und die moderne Konzeption der Gleichheit zugunsten einer perfektionistischen Ethik angreift, stützt sich Foucaults ‚genealogische‘ Methode auf mikrosoziologischen Erklärungen und greift die moderne Form des Herrschens zugunsten einer radikal andersartigen Politik an. R. KEVIN HILL
Genetische Veränderungen
Eine genetische Veränderung ist die erbliche Umgestaltung der genetischen Beschaffenheit eines Organismus. Als natürlicher Prozess ist er so alt wie die Gene selbst, und er wurde von den Menschen seit dem Beginn des Ackerbaus eingesetzt. Seit kurzem wird der Ausdruck speziell auf die neu entwickelten Methoden der DNA-Technologie angewandt, wo das Genom eines Organismus durch künstliche Eingriffe unmittelbar verändert wird. Diese beruhen auf der Fähigkeit zu präzisen Schnitten der DNA, zur Isolierung der gewünschten Fragmente und deren neuerli561
Genetik und Ethik
cher Einfügung in eine einzelne Zelle eines anderen Organismus. Von dieser veränderten Zelle ausgehend kann ein neuer, multizellularer Organismus erzeugt werden. Der Anwendungsbereich dieser neuen Technologie ist groß, vom Einsatz in der Hefe zur Erzeugung von Insulin bis zum Schutz von Pflanzen gegen spezifische Krankheiten. Sie hat aber auch erhebliche Kritik auf den Plan gerufen. Sie wurde als unnatürlich kritisiert, weil sie die Umwelt und die Gesundheit uneinschätzbaren Risiken aussetzt, und weil sie die Instrumente zur Manipulation des menschlichen Genoms verwendet, was zu einem ernsthaften Missbrauch führen kann. MARK TESTER; EDWARD CRAIG
Genetik
Siehe: Vererbungslehre
Genetik und Ethik
Die Identifikation der menschlichen Gene wirft das Problem auf, wie man mit dieser Ressource verfahren soll, und wer der Eigentümer und Nutzer (human)genetischer Informationen ist. Dies könnte zu einer Überbetonung der Wichtigkeit der genetischen Beschaffenheit von Lebewesen führen. Das genetische screening (d.h. die massenhafte Erhebung genetischer Daten ganzer Bevölkerungsgruppen oder gar Nationen) wirft andererseits Fragen des Einverständnisses auf, aber auch der Stigmatisierung, der Diskriminierung und der öffentlichen Angst. Hier ist Beratung und Aufklärung erforderlich; ob dies aber eine individuelle Wahlentscheidung ermöglicht, ist unklar. Ferner entstehen auch Vertraulichkeitsprobleme. Auf der anderen Seite ebnet genetisches Wissen den Weg für Gentherapien bei erblichen Krankheiten. Dies wirft die weitere Frage auf, ob eine Therapie, die ein Individuum auf genetischer Ebene verändert, sich von anderen, d.h. konventionellen medizinischen Behandlungen unterscheidet. Genetische Veränderungen, die an künftige Generationen weitergegeben werden, können Probleme des Einverständnisses hervorrufen. Die genetische Intervention könnte aber auch eingesetzt werden, um ‚Verbesserungen‘ am humangenetischen Potential anzubringen, was Ängste über eugenische Versuche zur Umgestaltung der Spezies auslöst. Transgenetik, also die Technik der Einführung fremder Gene in ein Genom, wirft wiederum Fragen über die Integrität einer Spezies und ihrer genetischen Abgrenzung und die Einschätzung der mit solchen Eingriffen verbundenen Risiken auf. Siehe auch: Angewandte Ethik; Bioethik; Klonen; Technologie und Ethik; Vererbungslehre RUTH CHADWICK
Gentile, Giovanni (1875–1944)
Gentile, der für seine selbst entworfene Philosophie des Faschismus bekannt wurde, war zusammen mit Benedetto Croce für den Aufstieg des hegelianischen Idealismus in Italien während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Sein ‚eigentlicher‘ Hegelianismus oder ‚Aktualismus‘ im Sinne einer Philosophie der Eigentlichkeit stellte einen radikalen Versuch der Integration unseres Erfahrungsbewusstseins zusammen mit dessen Erschaffung zum ‚reinen Akt des Denkens‘ dar, wodurch die Unterscheidung von Theorie und Praxis aufgehoben wurde. Er vertrat eine extrem subjektivistische Fassung des Idealismus und wies sowohl empirische, als auch transzendentale Beweise als Formen von Realismus zurück, die eine Existenz von Wirklichkeit außerhalb des Denkens postulierten. 562
Gerechtigkeit
Seine These entstand im Wege einer Radikalisierung der Hegelschen Kritik an Kant, die sich auf die Arbeiten des neapolitanischen Hegelianers Bertrando Spaventa im 19. Jahrhundert auswirkte. Er argumentierte, dass diese Kritik sowohl die natürliche Schlussfolgerung der gesamten Tradition der westlichen Philosophie darstelle, als auch, dass sie ihre Grundlage in der konkreten Erfahrung eines jeden einzelnen Menschen habe. Diese Argumente illustrierte er in sehr ausführlichen Schriften über die Geschichte der italienischen Philosophie und speziell der sog. ‚Bildungs-‘ oder ‚Erziehungsphilosophie‘. Er trat 1923 der faschistischen Partei bei und stellte daraufhin seine Philosophie in die Dienste dieses Regimes. Er meinte, der Faschismus würde am besten durch die erneute Durcharbeitung der hegelischen Idee des ethischen Staates verstanden werden. Diese Auffassung erwies sich für die ideologische Propaganda gelegentlich als nützlich, hatte allerdings geringen praktischen Einfluss. RICHARD BELLAMY
Gerechtigkeit Einführung Die Idee der Gerechtigkeit liegt im Zentrum der Moral und der politischen Philosophie. Sie ist eine notwendige Tugend des Individuums in seiner Interaktion mit anderen, und sie ist die erste Tugend der sozialen Institutionen, wenn auch nicht die einzige. So wie ein Einzelner Qualitäten wie z.B. Integrität, Barmherzigkeit und Loyalität zeigen kann, so kann eine Gesellschaft auch mehr oder weniger wirtschaftlich erfolgreich, künstlerisch kultiviert etc. sein. Traditionell definiert durch die lateinische Wendung ‚suum cuique tribuere‘ (dt.: ‚Jedem das Seine‘) wurde die Gerechtigkeit immer in engem Zusammenhang mit der Vorstellung von Verdienst und Gleichheit gesehen. Belohnungen und Bestrafungen werden gerecht ausgeteilt, wenn sie denjenigen zuteil werden, die sie verdienen. Bei Abwesenheit unterschiedlicher Verdienstansprüche verlangt die Gerechtigkeit nach Gleichbehandlung. Ein Bereich der Gerechtigkeit betrifft den Ausgleich für die Zufügung von Schaden und die Bestrafung für die Begehung von Verbrechen. Der andere betrifft den Inhalt von Gerechtigkeitsprinzipien zur Verteilung von Vorteilen und (nicht bestrafenden) Lasten. Die Konventionalisten behaupten, dass die Pflichten einer jeden Person durch die Gesetze, die Sitten und das allgemeine Selbstverständnis einer Gemeinschaft definiert sind. Die Teleologen meinen, dass es möglich ist, das Gute für die Menschen darzustellen, und dass die Gerechtigkeit das ordnende Prinzip ist, durch das eine Gesellschaft (oder die gesamte Menschheit) dieses Gute verfolgt. Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil besagt wiederum, dass die Regeln der Gerechtigkeit aus einer rationalen Übereinkunft aller beteiligten Akteure abgeleitet werden kann, die miteinander kooperieren, um ihre eigenen Interessen zu fördern. 1. Vergeltungsgerechtigkeit 2. Konventionalismus 3. Teleologie 4. Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil 5. Egalitäre Gerechtigkeit 6. Kritik der Gerechtigkeit
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Gerechtigkeit
1. Vergeltungsgerechtigkeit Es besteht allgemeine Einigkeit darüber, dass eine gerechte Bestrafung die folgenden Voraussetzungen erfüllen sollte: Erstens sollte sie nur einem ordentlich verurteilten Missetäter auferlegt werden. Zweitens sollte der Umfang des Leidens dem Prinzip einer geordneten (‚ordinalen‘, d.h. numerisch gestaffelten) Proportionalität genügen. Dies bedeutet, dass wegen eines Verbrechens gleicher Schwere verurteilte Menschen auch gleich strenge Strafen erhalten sollten, es sei denn, dass mildernde oder erschwerende Umstände vorliegen, die die Schuld des Täters ändern. Drittens sollte das Maß des Leidens auch dem Prinzip einer ‚kardinalen‘ (d.h. einer hierarchisch gestaffelten) Proportionalität genügen: es sollte ein Kriterium für die vertikale Anordnung der Verbrechen und Vergehen nach dem Rang ihrer Schwere geben. Uneinigkeit besteht jedoch hinsichtlich der Rechtfertigung für Strafe, und dies macht es zur Streitfrage, wie Schwere, Strenge und Schuld zu bewerten sind, und wie die Skala der Strafen festgelegt werden kann. Diejenigen, die sich auf die Abschreckung berufen, werden ein verbreitetes und sozial destruktives Delikt als schwerwiegend betrachten (wie auch immer der Grad des Fehlverhaltens sein mag), und daher eine Strafskala befürworten, die geeignet ist, von strafbarem Verhalten abzuschrecken. Diejenigen, die die Vergeltung bevorzugen, betrachten die Schwere jedoch traditionell als einen Faktor der moralischen Schuld und die Strafskala als etwas, dass von irgendeiner Vorstellung des (negativen) Verdienstes abgeleitet ist (siehe Verbrechen und Strafe). 2. Konventionalismus Wendet man sich der sozialen oder Verteilungsgerechtigkeit zu, so ist die Attraktion irgendeiner Form konventionalistischer Ansätze klar. Weil es Institutionen, Konventionen und Rechtssysteme gibt, die bestimmen, was ein jeder schuldet, mag die Lösung von Fragen der Gerechtigkeit nicht mehr erfordern als das korrekte Ablesen der Antwort aus solchen Quellen. Die früheste erhaltene Darstellung einer solchen konventionalistischen Sichtweise der Gerechtigkeit bieten Sokrates’ Gesprächspartner Zephalos und Polemarchos im Ersten Buch von Platons ‚Staat‘. Polemarchos erklärt, Gerechtigkeit bedeute, einem Mann das ihm Zustehende zu geben oder was angemessen sei; und es ist klar, dass für Polemarchos das, was einer Person angemessen sei, von den vorherrschenden Konventionen in der zeitgenössischen athenischen Gesellschaft diktiert wird. Eine modere Darstellung des Konventionalismus wurde von Michael Walzer erarbeitet, der behauptete, dass jedem sozialen Gut (beispielsweise der Gesundheitsfürsorge, der Ausbildung oder den politischen Rechten) ein angemessenes Verteilungskriterium innewohne, das in einer internen Beziehung dazu stehe, wie dieses Gut durch die Gesellschaft verstanden wird. Beispielsweise werde die Gesundheitsfürsorge in Großbritannien (wie auch anderswo) als etwas verstanden, was sich wesentlich mit der Krankheit und Heilung von ihr befasst. Dieses allgemeine Verständnis von Gesundheitsfürsorge, so behauptet Walzer, bringe ein Verteilungskriterium mit sich, nämlich das medizinische Bedürfnis. Daher habe jeder, der behauptet, dass die Gesundheitsfürsorge in Großbritannien (und in vielen anderen Gesellschaften) im Einklang z.B. in Abhängigkeit von der Zahlungsfähigkeit des jeweiligen Patienten angeboten werden sollte, entweder nicht das Wesen des Gutes der Gesundheitsfürsorge verstanden, oder er stelle sich außerhalb der Gemeinschaft, 564
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die durch ihr gemeinsames Verständnis dieser Dinge vereint und definiert sei. Das einzige universelle Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit sei die Forderung, dass unterschiedliche Auffassungen hierzu respektiert werden müssten: keine Gemeinschaft sollte ihr eigenes Verständnis eines gegebenen Gutes und ihr Kriterium zur Verteilung dieses Gutes irgendeiner anderen Gemeinschaft aufzwingen. – Es ist jedoch zweifelhaft, ob irgendeine Gesellschaft so homogen ist, dass sie sich eines einzigen, kohärenten und nicht umstrittenen Verständnisses der Bedeutung eines jeden ihrer sozialen Güter berühmen kann. Und selbst wenn dies bestünde, müsste daraus nicht notwendig die konkrete Verteilungsregel folgen. Und selbst wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind, macht es immer noch Sinn zu fragen, ob diese Verteilung gerecht ist. Zum Beispiel kann eine Gesellschaft, die durch grobe Ungleichheiten aufgrund angeborener Faktoren gekennzeichnet ist, sicherlich aufgrund von Ideen als ungerecht betrachtet werden, die dieser Gesellschaft gar nicht zugänglich sind. Wie immer ist es auch hier so, dass das Problem der Gerechtigkeit erst dann wirklich auftritt, wenn man fragt, warum die Dinge so sind, wie sie tatsächlich sind. 3. Teleologie In der Geschichte des Denkens über die Gerechtigkeit ist die am meisten verbreitete Rechtfertigung irgendeiner Gruppe von Gesetzen, Konventionen oder Bräuchen, dass sie der Förderung irgendeines Gutes förderlich seien. Beispielsweise könnte man behaupten, dass es ein Naturrecht gebe, dass sich durch die Kraft menschlicher Vernunft erkennen lasse (siehe Naturrecht). Diese Tradition, die ihre Ursprünge den griechischen Stoikern verdankt, fand ihren klarsten Vertreter in Cicero und erfuhr ihre definitive christliche Form durch Thomas von Aquin (§ 13). „Das wahre Gesetz“, so schreibt Cicero, „ist die richtige Vernunft im Einklang mit der Natur; es ist universell anwendbar, unveränderlich und immerwährend.“ (‚De republica‘ [ca. 54–51 v. Chr.]: III, XXII, 211). Die Verbindung zum menschlichen Wesen über die menschliche Vernunft ist wichtig, denn daraus folgt, dass Menschen ihre wahren Ziele erreichen oder ihre wahre Natur nur verwirklichen, wenn sie im Einklang mit dem Naturrecht leben. Was die Gerechtigkeit ist, und warum sie ein Gut ist, wird somit in einem Atemzuge beantwortet. Ein größeres Problem dieser Darstellung ist ihr Rückgriff auf eine externe Ressource. Cicero verhält sich typisch, wenn er in derselben Passage behauptet, dass es Gott sei, der „der Autor dieses Gesetzes, sein Verkünder und sein vollstreckender Richter“ sei. Die Naturrechtstheorie steht vor der Schwierigkeit, die Existenz und Verifizierbarkeit einer wahren und unveränderlichen Moralordnung beweisen zu müssen. Üblicherweise und auf bequeme Weise sagte man vom Naturrecht, dass es hinter dem positiven Recht stehe; dies offenbart die Rolle der Mächtigen sowohl in der Formulierung des positiven Rechts, als auch in der Definition des Naturrechts. Angenommen wir fühlen uns von der Vorstellung angezogen, dass menschliche Institutionen durch ihren Beitrag zu menschlichen Gütern gerechtfertigt werden müssen, gleichzeitig aber nicht glauben, dass die menschliche Vernunft in der Lage ist, diesbezüglich einen göttlichen Plan auszumachen. Dann gelangen wir ganz von selbst zu der säkularen Alternative, die der Utilitarismus verkörpert, dass nämlich der Hintergrund der Rechtfertigung das menschliche Wohlergehen, das Glück oder eben der Nutzen sei. Wenn der Nutzen bei unterschiedlichen Menschen zu Konflikten führt, dann ist das Kriterium, um ihre Interessen in Beziehung zueinander zu 565
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setzen, jenes der Maximierung des Gesamtnutzens (siehe Utilitarismus). Allerdings setzte der klassische Utilitarismus die Gerechtigkeit nicht mit der Nutzenmaximierung gleich, sondern behauptete stattdessen, dass die vertrauten Regeln der Gerechtigkeit utilitaristisch begründet werden können. Folglich beschreibt David Hume (§ 12) in seinem ‚Traktat über die menschliche Natur‘ (1739–1740) die Gerechtigkeit als eine ‚künstliche Tugend‘ insofern, als individuelle Gerechtigkeitshandlungen zum Nutzen nicht direkt beitragen (wie dies z.B. bei einem Wohltätigkeitsakt der Fall ist), sondern indirekt durch ihr Festhalten an einer Institution, die aufs Ganze gesehen wohltätig ist. Humes Beispiele waren die Respektierung des Eigentums, die Keuschheit (nur bei den Frauen), die Loyalität gegenüber der Regierung und das Halten von Versprechen. Für Hume ist Gerechtigkeit damit eine Konvention. Es sei jedoch sinnvoll zu fragen, welchem Gut eigentlich gedient ist, wenn man der Gerechtigkeit folgt. Auf ähnliche Weise argumentiert J.S. Mill (§ 11) in seinem Buch ‚Utilitarism‘ (1861), dass ‚Gerechtigkeit‘ der Name sei, den wir jenen Vorschriften geben, deren strikte Einhaltung für die Förderung des utilitaristischen Zwecks wichtig sei. Deshalb wenden die Utilitaristen auch ein, dass die willkürliche Loslösung von sozialen Regeln, die von den Antiutilitaristen immer als eine Implikation dieser Lehre genannt wird, auf lange Sicht dem allgemeinen Guten nicht wirklich nütze. Die Opponenten des Utilitarismus behaupten dagegen jedoch, dass es immer noch Situationen geben könne, in denen auch die Ungerechtigkeit (in ihrem üblichen Verständnis) dem allgemeinen Guten förderlich sein kann. 4. Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil Wenn wir Zweifel daran haben, ob Menschen durch ihren Glauben an das Naturrecht oder durch einen Wunsch dazu motiviert sein können, sich auf eine Weise zu verhalten, die das allgemeine Gute voranbringt, dann fallen wir vielleicht auf die Idee zurück, dass die Gerechtigkeit ein Bündel von Beschränkungen sei, das für jeden Einzelnen vorteilhafter ist als die uneingeschränkte Verfolgung der eigenen Zwecke. Versionen dieser ‚Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil‘ finden sich in Thrasymachos’ ‚Es könnte richtig sein‘-Argument im Buch I von Platons ‚Staat‘ und in dem betrügerischen Sozialkontrakt, der von Rousseau in seinem ‚Diskurs über die Ungleichheit‘ ausgemacht wurde (1755, Teil II), und der dieser Darstellung zufolge von den Reichen an den Armen verübt wurde. Aber der locus classicus dieser Theorie ist zweifelsfrei der ‚Leviathan‘ von Thomas Hobbes (§ 7). Im Rahmen einer Übereinkunft, die (verglichen mit dem uneingeschränkten Streit) jedem Einzelnen zum Vorteil gereichen soll, muss diese Übereinkunft die relative Verhandlungskraft der Kooperationspartner widerspiegeln. Die Starken und Talentierten haben seitens der Schwächeren oder Unsichereren wenig zu gewinnen (oder zu fürchten), und Letztere können sogar moralisch gänzlich irrelevant erscheinen, wenn die Starken keinen Grund haben, deren Interessen überhaupt noch zu berücksichtigen, wie David Gauthier in einer zeitgenössischen Neufassung dieser Lehre aufzeigt (Gauthier, D. [1986]: ‚Morals by Agreement ‘. Oxford: Clarendon Press). Intuitiv mag es verdreht erscheinen, dieses noch eine Theorie der Gerechtigkeit zu nennen. Es ist wahr, dass die Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil über weite Strecken die Struktur einer Theorie der Gerechtigkeit insofern aufweist, als sich daraus Regeln ergeben, die die Verfolgung des Eigeninteresses beschränken. Aber der Inhalt solcher Regeln wird den gewöhnlichen Vorstellungen von Gerech566
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tigkeit nur dann entsprechen, wenn zumindest grob eine Machtgleichheit zwischen allen Parteien gegeben ist. Aber selbst wenn dieser Einwand nicht als entscheidend betrachtet wird, leidet die Theorie an internen Problemen. Dies betrifft die Bestimmtheit der Regeln und ihre Stabilität. Das Bestimmtheitsproblem entsteht infolge der Notwendigkeit, dass alle von einem gemeinsamen Standpunkt betreffend die relative Verhandlungsstärke der Teilnehmer ausgehen. Dies ist eine enorm anspruchsvolle Voraussetzung in Anbetracht der Information über die erforderlichen Ressourcen und die unterschiedlichen Voraussagen, die über das Ergebnis des Konfliktes getroffen werden müssten. Sogar nach einer Abstimmung über die Regeln werden einige Parteien immer noch motiviert sein, auf Änderungen zu drängen, sobald sich ihre Verhandlungsstärke erhöht. Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil mündet in Regeln, die nicht mehr als eine Waffenruhe bedeuten, und genauso wie diese sind sie nicht stabil, wenn es Änderungen im Kräftegleichgewicht zwischen den Seiten gibt (siehe hierzu unten Barry, B. [1995]). Die Stabilität wird auch durch das Risiko der Nichtbefolgung der Regeln herausgefordert. Die Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil beruft sich auf das Eigeninteresse eines jeden Einzelnen und realisiert dies durch die Aufstellung von Regeln, die bei allgemeiner Beachtung, die Interessen aller Individuen fördern werden. Allerdings muss dies für den Handelnden kein Grund sein, die aufgestellten Regeln zu befolgen, wenn es einen größeren Vorteil verspricht, sie zu brechen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Handelnde frei ist, die Regeltreue der anderen Teilnehmer auszubeuten. Alles, was man versuchen kann, ist die Erhöhung der Kosten für die Nichtbefolgung durch eine Verschärfung der Sanktionen, wenn der Handelnde entdeckt wird. Eine Gesellschaft nur unter Verfolgung der Eigeninteressen und von Sanktionen aufrecht zu erhalten würde allerdings heißen, ein Maß an Zwang und politischer Gewalt auszuüben, die bislang als unerhört gelten, und dies selbst in den meisten totalitären Gesellschaften. 5. Egalitäre Gerechtigkeit Egalitäre Theorien der Gerechtigkeiten beginnen wie jene der Gerechtigkeit auf Gegenseitigkeit mit der Prämisse, dass die Rolle der Gerechtigkeit in der Bereitstellung eines Rahmens liegt, innerhalb dessen die Menschen mit konkurrierenden Vorstellungen vom Guten konfliktfrei zusammenleben können; sie bestehen allerdings darauf, dass dieser Rahmen eine bindende Verpflichtung zur Gleichbehandlung bzw. gleichen Beachtung enthalten muss. Die Darstellungen des Inhalts der Gerechtigkeit, die mit einer solchen Forderung vereinbar sind, erweisen sich als weit gespannt. Robert Nozicks Theorie des Anspruchs und John Rawls Theorie der Gerechtigkeit kommen beispielsweise zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen über die Voraussetzungen der Gerechtigkeit, obwohl beide mit der Grundidee beginnen, dass die Gerechtigkeit die Interaktionen freier und gleicher Menschen regeln soll. Nozick behauptet, dass jede Person über ein Bündel unveräußerlicher Rechte verfüge, und in diesem Sinne müsse sie gleich behandelt werden. Von diesem Ausgangspunkt erzeugt er die von ihm so genannte ‚Entitlement Theory of Justice‘ (dt.: ‚Theorie des Anspruchs auf Gerechtigkeit‘, siehe Nozick, R.). Das gerechte Verteilungsmuster ist demzufolge jenes, das sich aus freiwilligen Transferleistungen ergibt, vorausgesetzt die Besitztümer wurden zuvor 567
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unter gerechten Umständen erworben, d.h. durch gerechte Übertragung oder durch eine Aneignung, die zu niemandes Lasten geht. Sodann betrachtet Nozick den Anspruch auf ein Bündel absoluter Rechte als Grenzbestimmung der Gerechtigkeit: jede Handlung, die mit diesen Rechten in Konflikt gerät (wie beispielsweise die Umverteilung), sind ungerecht, und zwar unabhängig von dem Ergebnis oder der Form der Anspruchstheorie. Nozick bietet jedoch keine Darstellung der Existenz solcher stabilen Rechte, und seine intuitiven Argumente zum Beweis, dass jede Kollision mit den individuellen Rechten ungerecht ist, sind nicht überzeugend. Es ist vielmehr denkbar, dass sich aus einer großen Zahl individueller Übertragungen Ungerechtigkeiten ergeben, von denen jede einzelne gerecht zu sein scheint. John Rawls argumentiert in seinem klassischen Werk ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘ (engl.: ‚A Theory of Justice‘, 1971), dass die Gerechtigkeit die Bereitstellung gleicher Grundfreiheiten und fairer Chancen für alle voraussetzt, und dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheit nur dort gerechtfertigt werden kann, wo dies zum Vorteil des am wenigsten Begünstigten ist. Diese beiden Prinzipien werden abgeleitet aus dem Argument, dass sie durch frei handelnde Personen in einer ‚Ursprungsposition‘ angenommen würden, und dass ihre weitere Ausgestaltung die Menschen daran hindere, von ihren natürlichen und sozialen Vorteilen unfairen Gebrauch zu machen (siehe Kontraktualismus; Rawls, J., § 1). Rawls meint im Gegensatz zu Nozick, dass die Gerechtigkeit von uns fordere, viel mehr für die Menschen zu tun, als sie nur mit absoluten Eigentumsrechten auszustatten. Die Verteilungsform sei vielmehr so einzurichten, dass sie den am schlechtesten Gestellten maximal begünstige, unter der zusätzlichen Bedingung, dass die Menschen frei bei der Wahl ihrer Beschäftigungen, Arbeitsbemühungen etc. seien. Rawls ursprünglicher Standpunkt wurde wegen der Reduktion der Prinzipienwahl auf eine individuelle Berechnung kritisiert, denn der von ihm sog. ‚Schleier der Unwissenheit‘ brächte es dadurch mit sich, dass die Teilnehmer identisch erscheinen. Ferner hängt der Vorrang des am schlechtesten Gestellten als dem einzigen Ausweg von einer extremen Risikoabneigung auf Seiten des Wählenden ab. Eine Alternative zu Rawls ursprünglicher Position wäre die Behauptung der Existenz von Teilnehmern, die sich ihrer Identität bewusst sind, und die zur Suche einer Übereinkunft bereit seien, die vernünftigerweise niemand zurückweisen könne. Ein solcher Standpunkt wurde als ethische Theorie von Thomas Scanlon in seinem Buch ‚What We Owe to Each Other‘ (1998) vorgeschlagen und dann von Brian Barry zu einer Theorie der Gerechtigkeit in seinem Werk ‚Justice as Impartiality‘ (1995) weiterentwickelt (siehe Kontraktualismus). Alle diese Theorien der egalitären Gerechtigkeit sehen sich vor das Problem einer Begründung der Bindung an die fundamentale Gleichheit der Menschen gestellt, sowie vor die Frage nach einer Darstellung der Motivation aller Akteure, sich gerecht zu verhalten. Rawls bietet zwei Rechtfertigungen seiner Prinzipien an. Die erste lautet, dass wir zu einem „reflektierenden Gleichgewicht“ kommen können, wo das Prinzip, das sich aus einer korrekt bestimmten Ursprungsposition ergibt, in Einklang mit unseren moralischen Intuitionen gebracht wird. Die zweite Rechtfertigung beschreibt er als eine kantische Interpretation. Nach dieser Darstellung liefert die Ursprungsposition eine „prozedurale Interpretation“ des kantischen Reichs der Zwecke (siehe Kant, I., § 9). Die Ursprungsposition und die Wahl der Prinzipien betrachtet er als den Versuch, Kants Reduktion der Moral auf die Autonomie und jene 568
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der Autonomie auf die Rationalität nachzubilden. Somit verwirklichen wir durch ein Leben im Einklang mit der Gerechtigkeit unsere wahre Natur als autonome Wesen. Und dies liefert die geforderte Motivation. In späteren Arbeiten und in seinem zweiten Buch ‚Political Liberalism‘ (1993) hat Rawls zugegeben, dass die kantische Interpretation eine umstrittene Metaphysik voraussetzt, und dass sie ihn an eine bestimmte Sichtweise des guten Lebens als Autonomie bindet. Stattdessen betont er hier nun, dass seine Theorie sich nunmehr nur noch auf solche Vorstellungen stütze, die „latent in der öffentlichen politischen Kultur“ der modernen westlich-demokratischen Systeme gegeben seien. Dies wirft jedoch das Problem auf, dass viele politische Kulturen mit Rawls Prinzipien nicht vereinbar sind. In seinem darauf folgenden Buch ‚The Law of Peoples‘ (1999) akzeptierte er die Folgerung, dass die Argumente für diese Prinzipien für jene nicht zwingend sind, deren politische Kultur diese Prinzipien nicht bereits latent in sich trage. Dies bringt nun wiederum mit sich, dass einige Gesellschaften, die die fundamentale Gleichheit verletzen, dennoch gerecht sein können. Und dies ist wiederum unvereinbar mit dem Bekenntnis zur Gleichbehandlung oder zur gleichartigen Beachtung. Egalitäre Gerechtigkeitstheoretiker meinen jedoch, dass diese universell für alle Gesellschaften gelten und bestreiten deshalb die konventionalistische Wendung in Rawls späterem Denken. Inzwischen wurden auch Versuche unternommen, die Theorie der egalitären Gerechtigkeit zu verfeinern und auszuweiten und damit neue Wege der Umsetzung ihrer Voraussetzungen zu beschreiten. So kam der Begriff der Gleichbehandlung innerhalb einer Gesellschaft mit einer Mehrheit an religiösen Glaubensbekenntnissen und kulturellen Normen in den prüfenden Blick. Regeln einer offenkundig allgemeinen Anwendbarkeit können tatsächlich eine enorm unterschiedliche Wirkung auf Mitglieder unterschiedlicher Gruppen haben. Beispielsweise können uniforme Kleidungsvorschriften und solche der persönlichen Erscheinungsweise unvereinbar sein mit dem Turban der Sikh, mit islamischen Standards weiblicher Zurückhaltung oder karibischen Rastalocken. Solange diese Vorschriften nicht als inhärente Notwendigkeiten (wie z.B. Schutzhelme auf Baustellen) gerechtfertigt sind, stellen sie eine Ungerechtigkeit dar, insofern sie das Prinzip der Gleichbehandlung verletzen. Umgekehrt haben einige egalitäre Theoretiker bestimmte existierende Anpassungen religiöser Glaubensüberzeugungen oder kultureller Normen deshalb in Frage gestellt, weil der Preis der Gleichbehandlung in diesen Fällen zu hoch ist. Beispielsweise ermöglicht eine Zulassung koscherer bzw. nach islamischen Regeln durchgeführter Tierschlachtung den orthodoxen Juden und Moslems den Genuss von Fleisch, wogegen allerdings eingewandt wurde, dass dies nicht notwendiges Leiden der betroffenen Tiere mit sich bringe, und dies müsse entscheidend mitbeachtet werden. Diese Frage kann als solche der Verantwortung umformuliert werden: wie weit sind Mitglieder unterschiedlicher kultureller Gruppen für die Anpassung ihres Verhaltens verantwortlich, damit dieses mit den Regeln z.B. der Hygiene, Sicherheit oder Vermeidung von Grausamkeit im Gastland zusammenpasst, und wie weit sind die Gesellschaften verpflichtet sicherzustellen, dass ihre Regeln nicht Mitglieder einiger Kulturen bei der Verfolgung ihrer Ziele benachteiligen? Ein Großteil der egalitaristischen Theorie nach Rawls hat sich mit dieser Beziehung zwischen Verantwortung und Gleichbehandlung auseinander gesetzt. Daher kann man eine allgemeine Form des bereits diskutierten Problems so formulieren: wurden Menschen 569
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gleich behandelt, wenn sie einen gleichen Zugang zu den Ressourcen haben, oder ist dies unfair gegenüber denjenigen, die nicht so viel Befriedigung aus der gleichen Teilhabe an den Ressourcen wie andere ziehen, einfach weil sie einen ‚teureren Geschmack‘ haben? Fordert das Prinzip der Gleichbehandlung stattdessen, dass jene mit dem ‚teureren Geschmack‘ auch einen größeren Anteil an den Ressourcen haben sollten? Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit der Verantwortung für die Gleichbehandlung wurde auf die folgende Weise aufgeworfen: wann haben wir ‚genug getan‘, um unsere Mitbürger vor Wahlentscheidungen zu schützen (vielleicht infolge von Unwissenheit), die ernsthafte Gefahren für sie mit sich bringen? Wie weit sollen wir z.B. ‚ungesunde Lebensstile‘ in der Verantwortung jedes Einzelnen belassen, und wie weit sind Gesellschaften dafür verantwortlich, jene Informationen zur Verfügung zu stellen, um den Zugang zu sog. ‚gesunden‘ Lebensstilen sicherzustellen und das Stressniveau am Arbeitsplatz oder überhaupt im ganzen Leben zu senken, für die die sog. ‚ungesunden‘ Wahlentscheidungen nur ein Mittel zur Linderung sind? Eine Möglichkeit des Nachdenkens über die Gleichbehandlung und die Verantwortung besteht in dem Vorschlag, dass die Menschen unter den Bedingungen der Chancengleichheit für die Ungleichheit des Ergebnisses verantwortlich sind. Aber welche Bedingungen müssen für die Chancengleichheit erfüllt sein, damit sie in einer Form vorliegt, die eine solche Schlussfolgerung rechtfertigt? Nach einer schwachen Interpretation wären die Bedingungen erfüllt, wenn die Arbeitsplätze durch die am besten qualifizierten Arbeitnehmer besetzt wären, so dass der Auswahlprozess kein Ort der Diskriminierung oder Vetternwirtschaft ist. Dies wäre jedoch vereinbar mit extrem ungleichen Chancen zur Aneignung wertvoller Qualifikationen. Eine nahe liegende Antwort hierauf ist es hinzuzufügen, dass alle Schulen alle Kinder mit der gleichen Chance zur Erreichung des jeweils besten Ausbildungsergebnisses versehen sollten, zu denen sie jeweils fähig sind, vorausgesetzt sie bemühen sich ausreichend um dieses Ergebnis. Dies ist nach Auffassung einiger Egalitaristen aber immer noch nicht genug, weil das Elternhaus und die sozialen Umgebungsbedingungen die Kinder mit sehr ungleichen Chancen ausstatten, um ihre formale Ausbildung auch wirklich nutzen zu können. Computer, Bücher und ein ruhiger Raum für die Hausarbeiten sind offensichtlich materielle Vorteile. Aber Eltern und Mitschüler verschaffen Kindern sehr ungleiche Entwicklungschancen. Eine intellektuell anregende Umgebung, die elterliche Hilfe und Ermutigung und die Erwartung der Mitschüler können große Unterschiede hervorrufen. Früher Eingriff mit Krippen und Kindergartenangeboten für alle Kinder ohne Ansehen der finanziellen Situation ihrer Eltern verringern zweifellos die ungleichen Fähigkeiten, die Kinder bereits in die Schule mitbringen, reichen aber immer noch nicht aus, um die Lücke zu schließen. Deshalb wäre der nächste Schritt der Vorschlag, dass die Ausbildungsangebote ungleich sein sollten, d.h. mit einem intensiveren und besseren Schulprogramm für die von den Umweltfaktoren Benachteiligten. John Roemer schlug eine Denkweise über die Implikationen einer solchen Vorgehensweise in seinem Buch ‚Equality of Opportunity‘ (1998) vor. Demzufolge können die Mitglieder einer Gesellschaft nach gewissen Kriterien in ‚Typen‘ eingeteilt werden, die im Zusammenhang mit dem Vor- oder Nachteil (z.B. der Rasse oder der ethnischen Abstammung, des Geschlechts o. ä.) stehen, und die Chancen570
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gleichheit wäre dann erreicht, wenn die Mitglieder einer jeden Typgruppe mit demselben Verteilungsergebnis irgendeines bewerteten Gutes (z.B. Einkommen) dastünden. Vorausgesetzt, die Typgruppen sind im Hinblick auf die typbildenden Vor- und Nachteile wirklich homogen, würden sich dann immer noch ergebende ungleiche Ergebnisse innerhalb von Typgruppen mit den Unterschieden zwischen Mitgliedern einer Typgruppe korrespondieren, wofür man ihnen zu Recht die Verantwortung geben kann. Die möglicherweise radikalen Folgen hiervon werden durch Roemers Vermutung illustriert, dass selbst bei einer Aufteilung aller Amerikaner in nur zwei Typgruppen, nämlich weiß und schwarz, ein gleiches Einkommensprofil eine Vervielfachung der finanziellen Aufwendungen für die Ausbildung der schwarzen Bevölkerungsanteile im Verhältnis zu denen der weißen erfordern würde. Sicherlich würde Roemers Vorschlag Entscheidungsprobleme aufwerfen, wie die Typen definiert werden sollen, und wie man einzelne Menschen diesen Typen zuordnen kann. Alternative Methoden zur Erreichung der Chancengleichheit, die von den Egalitaristen unter den Gerechtigkeitstheoretikern vorgeschlagen wurden, würden direkt in die Verteilung von Einkommen und Vermögen eingreifen. Beispielsweise argumentiert Philippe Van Parijs in seinem Buch ‚Real Freedom for All‘ (1995), dass wir so weit wie möglich einen Zustand anstreben sollten, in dem jede Person eine gleiche Chance zur Erfüllung ihres Lebensplanes hat. Diese Chance sollte sich auf alle jene erstrecken, deren Lebensplan lohnabhängige Beschäftigung ausschließt. Dies mag Leute betreffen, die sich wünschen, ihr Leben der Sorge für andere zu widmen (Verwandte oder auch nicht), für wohltätige Einrichtungen oder nicht gewinnorientierte künstlerische Karrieren zu arbeiten. Solche Menschen würden wie jedermann das Recht auf ein zur Lebensführung ausreichendes ‚Basiseinkommen‘ erhalten. Diejenigen, die es vorziehen, mehr Geld zu verdienen, würden dies genauso tun können, wie sie es jetzt bereits können. Als Antwort auf den Einwand, dass viele Menschen nicht bereit sein werden, das Leben anderer in irgendwelchen Wunschregionen zu unterstützen, haben eine Reihe Befürworter des Basiseinkommens vorgeschlagen, dass das Recht hierzu von einer ‚Beteiligung‘ abhängig gemacht werden sollte, die viele Formen annehmen könnte. Unterschiede in der Erwerbskraft würden dann bei der Bestimmung des den Menschen zur Verfügung stehenden Chancenumfanges eine weit geringere Rolle spielen, weil jene mit einer geringen Erwerbskraft nicht gezwungen würden, eine schlecht bezahlte, erniedrigende und gefährliche Arbeit anzunehmen. Eine weitere wichtige Quelle der Chancenungleichheit ist der ungleiche Zugang zum Kapital. Eine Kapitalausstattung z.B. im Alter von achtzehn Jahren wurde durch Egalitätstheoretiker in Großbritannien und den USA vorgeschlagen, z.B. durch Julian Le Grand und Bruce Ackerman, und zwar als Weg zur Senkung dieser Art von Chancenungleichheit. Ackerman behauptet auch, dass es unfair sei, für die höhere Ausbildung unterstützt zu werden, während jene, die nicht auf die Universität gingen, keine äquivalenten staatlichen Vorteile erhalten. Ein universeller Geldvorteil, der entweder zur höheren Schulbildung oder auf andere Weise als ‚Startgeld‘ verwendet werden kann, würde in diesem Umfange auch die Chancengleichheit egalisieren. Der egalitaristische Ansatz hat sich damit als eine fruchtbare Quelle neuer Ideen zu den Prinzipien erwiesen, die er selbst voraussetzt, und darüber hinaus zu den Regeln der Politik, die den Fortschritt egalitärer Gerechtigkeit befördern können. 571
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6. Kritik der Gerechtigkeit Die Diskussion erfolgte bis hierher auf der Annahme, dass hinsichtlich der gesellschaftlichen Institutionen die Gerechtigkeit deren Haupttugend ist. Die Theorien der Gerechtigkeit, die hier geprüft wurden, sollten diese Vorrangstellung auf verschiedene Weise erklären: durch Berufung auf die wichtigsten gemeinsamen Standards, durch die zwingendsten Forderungen der Natur oder Gottes, durch die Zuträglichkeit der Gerechtigkeit als Nutzen oder ziviler Frieden, oder durch die Rolle der Gerechtigkeit bei der Schaffung eines Rahmens zur Verfolgung unterschiedlicher Konzeptionen des Guten. Einig sind sich aber alle darin, dass dort, wo die Gerechtigkeit mit anderen Werten in Konflikt gerät, diese anderen Werte nachgeben müssen. Dieser Konsens wurde in Frage gestellt, weil die Gerechtigkeit unter idealen Bedingungen gar nicht notwendig wäre, und eine Berufung auf sie würde in Wirklichkeit wertvolle soziale Beziehungen zerstören. So würde beispielsweise eine Ehe, wo sich die Ehepartner ständig auf ihre Rechte und Pflichten berufen, weniger gut sein als eine Ehe, in der die gegenseitige Liebe eine spontane Harmonie schaffe. Weitet man diesen etwas sentimentalen Gedanken aus, so würde eine ideale Gemeinschaft so beschaffen sein, dass die Gerechtigkeit in ihr durch einen Geist transzendiert wird, der häufig (bis die feministischen Schulen dagegen Einwände erhoben) Brüderlichkeit genannt wurde. Dies ist der eine Strang im Denken von Marx, und er kehrt in der Arbeit einiger zeitgenössischer Feministinnen und kommunitaristischer Autoren wieder (siehe Feministische Politische Philosophie; Gemeinschaft und Kommunitarismus). Die vorstehend diskutierten Gerechtigkeitstheoretiker würden solche Ansprüche nicht unbedingt bestreiten. Sowohl Hume, als auch Rawls argumentierten, dass es sog. ‚Umstände der Gerechtigkeit‘ geben kann, die die Gerechtigkeit notwendig werden lassen. Dies sind genau jene Bedingungen, z.B. einander widerstreitende Bedürfnisse nach materiellen Gütern und unversöhnliche Ansprüche, von denen die Kritiker der Gerechtigkeit meinen, dass sie durch einen ausreichend starken Gemeinschaftsgeist aufgelöst würden. Die Uneinigkeit ist keine analytische, sondern bringt die Möglichkeit und die Wünschbarkeit einer Schaffung von Gemeinschaft, in der die Gerechtigkeit nicht mehr die erste Tugend ist, in den Blick. Die Fürsprecher der Gerechtigkeit können darauf hinweisen, dass der theoretische Angriff auf die sog. ‚bourgeoise Moral‘ die befürchtete Rechtfertigung für die schrecklichsten Rechtsverletzungen lieferte (beispielsweise in China, Kambodscha und der früheren UdSSR). Sie fragen deshalb, ob es irgendeinen Grund zu der Annahme gebe, dass andere soziale Experimente, die von demselben Geist beseelt seien, irgendwie gutartiger verlaufen würden. Anmerkungen und weitere Lektüre: Barry, B.M. (1995): ‚Justice as Impartiality‘, Bd. 2 von ‚A Treatise on Social Justice‘. Oxford: Clarendon Press. (Eine aktuelle Darstellung einer universellen Gerechtigkeitstheorie, die auch nützliche Diskussionen der ‚Gerechtigkeit als gegenseitiger Vorteil‘ und Rawls Theorie enthält.) Rawls, J.B. (1971): ‚A Theory of Justice‘. Cambridge, MA: Harvard University Press. (Die einzige klassische Arbeit zur politischen Philosophie bzw. Theorie der Gerechtigkeit, die das 20. Jahrhundert hervorbrachte.) 572
Gerechtigkeit, korrigierende
Ryan, A. (Hrg.) (1993): ‚Justice‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine nützliche Sammlung von Schlüsseltexten zur Gerechtigkeit, einschließlich einiger Texte von Rawls und Nozick.) BRIAN BARRY, MATT MATRAVERS
Gerechtigkeit, korrigierende
In seiner Behandlung der Gerechtigkeit artikulierte Aristoteles einen Gegensatz zwischen zwei Formen der Gerechtigkeit, nämlich der korrigierenden und der distributiven. Erstere handelt von der Berichtigung eines Unrechts, das durch eine Person gegenüber einer anderen begangen wurde, und Letztere von der Verteilung von Vorteilen und Lasten. Diese Formen der Gerechtigkeit haben unterschiedliche Strukturen. Der distributiven Gerechtigkeit liegt die Vorstellung des Vergleichs zugrunde: nach dem Verteilungskriterium steht den Verdienstvolleren ein größerer Anteil zu. Der korrigierenden Gerechtigkeit liegt die Vorstellung einer Korrelation oder Gegenseitigkeit zugrunde: ein Rechtsverletzer hat einem Opfer nur dann rechtswidrig Schaden zugefügt, wenn das Opfer unrechtmäßigen Schaden durch das Verhalten des Rechtsverletzers erlitten hat. Die Parteien, d.h. der Täter und die Opfer ein und derselben Missetat, sind die aktiven und passiven Pole eines einzigen Vergehens, was das Gesetz dadurch korrigiert, dass es den Täter dem Opfer gegenüber für verantwortlich erklärt. In den letzten Jahrzehnten hat die korrigierende Gerechtigkeit (zusammen mit ihrer Abgrenzung von der Verteilungsgerechtigkeit) die Aufmerksamkeit von Rechtstheoretikern des Deliktsrechts als einer Fundgrube normativer Urteile und Erkenntnisse über Rechtsverletzungen auf sich gezogen. Diese Theoretiker betrachten den Begriff der Korrelation als den Schlüssel für das Verständnis der Beziehung zwischen dem Kläger und dem Beklagten. Eine Betonung der Korrelation beleuchtet sowohl die Argumente, die im eigentlichen Sinne in das System der Zurechenbarkeit gehören, als auch die Verbindung zwischen der korrigierenden Gerechtigkeit als einer theoretischen Idee und der rechtlichen Verantwortung als einer vertrauten institutionellen Praxis. Siehe auch: Gerechtigkeit ERNEST J. WEINRIB
Geschichte, Erklärung in der
Siehe: Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Geschichte, Holismus und Individualismus in der
Siehe: Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Geschichte, Philosophie der
Die Philosophie der Geschichte ist die Anwendung philosophischer Konzeptionen und Analysen auf die Geschichte sowohl im Sinne eines Studiums der Vergangenheit, als auch der Vergangenheit an sich. Wie die meisten Abteilungen der Philosophie sind ihre intellektuellen Ursprünge ungewiss, sie liegen jedoch in einer Verfeinerung der sog. ‚heiligen‘ Geschichte, insbesondere jener des Judaismus und des Christentums. Der erste bedeutendere Philosoph, der ein Schema der Weltgeschichte entwarf, war Immanuel Kant in seiner ‚Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘ (1784), und der deutsche Idealismus brachte auch Hegels ‚Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte‘ (1837) hervor, die 573
Geschichte, Philosophie der
ein wesentlich ausführlicherer und anspruchsvollerer Versuch sind, der Geschichte der Welt als Ganzem einen philosophischen Sinn abzugewinnen. Nach Hegel ist die Geschichte rational, und zwar in Wirklichkeit die Entwicklung des philosophischen Verständnisses an sich selbst. Der sich beschleunigende Erfolg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert bewirkte eine mächtige Kombination von Empirismus und logischem Positivismus, die wiederum ein philosophisches Klima hervorbrachte, das für die hegelsche Geschichtsphilosophie sehr ungünstig war. Unter den Philosophen verbreitete sich die Überzeugung, dass Hegel, und nach ihm Marx, apriorische Theorien ausgearbeitet hatten, die die historische Kontingenz zugunsten einer historischen Notwendigkeit ignorierten, und die empirisch nicht falsifizierbar waren. Karl Poppers Wissenschaftsphilosophie war besonders einflussreich bei der Umformung der Geschichtsphilosophie zu einem neuen Unternehmen mit den Methoden der historischen Untersuchung anstelle einer Formung der Vergangenheit. Zwei miteinander konkurrierende Konzeptionen der historischen Methoden entstanden. Die eine versuchte die Erklärung in der Geschichte mit den Mitteln dessen zu modellieren, was sie als Erklärung in den Naturwissenschaften verstanden, und dort trat man folglich für die Existenz von übergreifenden Gesetzen ein, mittels derer die Historiker die Ereignisse, die sie erklären möchten, miteinander verbinden mochten. Die andere Methode trat für eine unterscheidende Form der Erklärung in der Geschichte ein, deren Gegenstand die Bedeutung menschlicher Handlungen sein sollte, und deren Struktur folglich eher erzählerisch als deduktiv war. Keine der beiden Seiten dieser Debatte war imstande, einen überzeugenden Sieg zu behaupten, was zur Folge hatte, dass die Philosophen nach und nach das Interesse an der Geschichte verloren und begannen, sich auf allgemeinere Weise mit dem Wesen menschlicher Handlungen zu befassen. Dieses Interesse, in Kombination mit einem Wiederaufleben der deutschen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts als dem Studium von Texten in ihrem sozialen und kulturellen Umfeld, revitalisierte umgekehrt das Interesse unter den analytischen Philosophen an den Schriften Hegels und Nietzsches. Die Wirkung der kontinentaleuropäischen Einflüsse auf die Philosophie, die Kunstkritik und die Sozialtheorie war beachtlich, und sie führte erneut eine historische Dimension ein, die über längere Strecken in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts abhanden gekommen war. Insbesondere begann man damit, die Bildung fundamentaler philosophischer Ideen als einen historischen Prozess zu studieren. Die Aufklärung wurde nun als eine entscheide Phase in der Entwicklung der Philosophie und der Moderne im Allgemeinen gesehen, und mit diesem Verständnis fand sich auch die Überzeugung ein, dass die zeitgenössische westliche Welt postmodern sei. Auf diese Weise kehrten die Sozialtheorie und die Kulturphilosophie tatsächlich wieder zurück, wenn auch in Unkenntnis der Tradition der ‚großen Erzählungen‘ in der Philosophie der Geschichte. Siehe auch: Hermeneutik; Historizismus GORDON GRAHAM
Geschlossenheit, Prinzip der deduktiven Siehe: Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der
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Gesellschaft, Begriff der
Gesellschaft, Begriff der
Der Ausdruck ‚Gesellschaft‘ ist weiter als jener der ‚menschlichen Gesellschaft‘. Von vielen anderen Arten heißt es, dass sie ebenfalls ein soziales Leben besitzen. Doch die reine Geselligkeit der Art, wie sie sich in einer Herde von Rindern oder einem Schwarm von Fischen findet, genügt nicht zur Bildung einer Gesellschaft. Für die Biologen sind die Kennzeichen des Sozialen die Kooperation, die sich über den Lebenszusammenhang zwischen Eltern und der Aufzucht ihrer Nachkommen hinaus erstreckt, und gewisse Formen der Ordnung oder Arbeitsteilung. In der Bewertung der Verdienste von Versuchen zur Herausarbeitung einer präziseren Definition von Gesellschaft können wir fragen, ob es der Definition gelingt, unser intuitives Verständnis des Ausdrucks zu erfassen, und auch ob es ihr gelingt, jene Merkmale des Gesellschaftlichen herauszuarbeiten, die aus einer erklärenden Perspektive heraus am grundlegendsten sind, d.h. ob die Definition das Lockesche ‚wirkliche Wesen‘ von Gesellschaft erfasst. Ein einflussreicher Ansatz hierzu versucht die Idee der Gesellschaft als eine Beschreibung des sozialen Handelns zu erfassen, und zwar nach Maßgabe der bestimmten Arten von Bewusstheit, die hierbei beteiligt sind. Ein weiterer Ansatz konzentriert sich auf die soziale Ordnung und sieht diese als eine Form von Ordnung, die spontan entsteht, wenn rationale und gegenseitig einander bewusste Individuen erfolgreich die Koordination von Problemlösungen schaffen. Ein noch weiterer Ansatz konzentriert sich wiederum auf die Rolle, die die Kommunikation bei der Erreichung kollektiver Übereinkünfte darüber spielt, wie die Welt zu klassifizieren und zu verstehen sei, und zwar im Sinne einer Vorbedingung der Koordination und Kooperation. Siehe auch: Anthropologie, Philosophie der; Konfuzianische Philosophie, Chinesische
ANGUS ROSS
Gesetzesrealismus
Siehe: Rechtsrealismus
Gesunden Menschenverstandes, Philosophie des Siehe: Alltagsphilosophie
Gestaltpsychologie
Der deutsche Ausdruck ‚Gestalt‘ (der auch im Englischen häufig unübersetzt verwendet wird), wurde in die Psychologie durch den österreichischen Philosophen Christian von Ehrenfels eingeführt. ‚Gestalt‘ bedeutet in deutscher Umgangssprache die Form oder Struktur einer Sache. Ehrenfels demonstrierte in einem Aufsatz von 1890, dass es gewisse inhärente strukturelle Merkmale der Erfahrung gibt, die zusätzlich zu einfachen Tönen, Farben und anderen mentalen ‚Atomen‘ oder ‚Elementen‘ der Wahrnehmung anerkannt werden müssen, wenn wir den Gegenständen gerecht werden wollen, auf die sich die Wahrnehmung, die Erinnerung und das abstrakte Denken richten. Sein Aufsatz rief eine Reaktion gegen den seinerzeit dominanten psychologischen Atomismus hervor, die wiederum in der so genannten Berliner Schule der Gestaltpsychologie zur Idee einer ‚zerebralen Integration‘ führte, die sich später bis hin zur zeitgenössischen Forschung an ‚neuronalen Netzwerken‘ in den Kognitionswissenschaften fortentwickelte. Viele der spezifisch empirischen Tatsachen der Wahrnehmung, die von den Gestalttheoretikern bezüglich der Wahr575
Gettier-Problem
nehmung von Bewegung und Kontur, über die Wahrnehmungskonstanz und Wahrnehmungsillusionen, sowie über die Rolle der ‚guten Form‘ in der Wahrnehmung und der Erinnerung entdeckt wurden, wurden in die Psychologie insgesamt übernommen. Siehe auch: Konnektionismus; Wahrnehmung BARRY SMITH
Gettier-Problem
Das Aufkommen des Gettier-Problems war eine Episode in der Geschichte des Projekts, durch das die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Erkenntnis festgestellt werden sollten. Lange wurde angenommen, dass Wissen (Erkenntnis) definiert werden könne als gerechtfertigte, wahre Überzeugung. Im Jahre 1963 jedoch veröffentliche Edmund Gettier einen sehr kurzen Aufsatz, dass dies nicht immer der Fall sein kann: es gibt Fälle des gerechtfertigten, wahre Überzeugungen, die keine akzeptablen Fälle von Wissen sind. Damit sind die vorgeschlagenen Bedingungen des Wissens nicht ausreichend. Gettier beschrieb zwei mutmaßliche Gegenbeispiele dieser Art, d.h. Fälle der gerechtfertigten, wahren Überzeugung, die kein Wissen sind. Zunächst nannte er aber zwei allgemeine Prinzipien, die ein Rezept zur Erzeugung solcher Gegenbeispiele darstellen: 1. In jeglichem Sinne von ‚gerechtfertigt‘, in denen die Rechtfertigung der Überzeugung, dass p, als eine notwendige Bedingung des Wissens von p gedacht werden kann, ist es möglich, die Überzeugung hinsichtlich einer Aussage zu rechtfertigen, die tatsächlich falsch ist. 2. Für eine jegliche Aussage p ist, wenn ein Subjekt S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, und aus p q folgt, und S q aus p ableitet und q als das Ergebnis dieser Deduktion akzeptiert, S in seiner Überzeugung, dass q, gerechtfertigt ist. Wenn man diese Prinzipien annimmt (und keines von beiden lässt sich leicht bestreiten), dann verfahren wir wie folgt. Unter Anwendung von (1) stellen wir uns Umstände vor, in denen eine Person in ihrer Überzeugung irgendeiner Aussage p gerechtfertigt ist, die tatsächlich falsch ist. Nun nehme man an, dass diese Person auf gültige Weise von p eine andere Aussage q ableitet und von dieser neuen Aussage als Ergebnis der Ableitung überzeugt ist. (Man muss sicherstellen, dass q weniger zwingend ist als p, d.h. p impliziert q, aber nicht umgekehrt.) Abschließend lassen wir die Geschichte so verlaufen, dass q sich aus irgendwelchen Gründen doch als wahr erweist (so lange q logisch weniger streng ist als p, ist dies immer möglich). Nun ist die Überzeugung von S infolge von (2) ein Fall von gerechtfertigter, wahrer Überzeugung. Aber weiß S deshalb, dass q? Was S betrifft, ist die Wahrheit von q vollkommen zufällig: sie ist jedenfalls nicht aufgrund von p wahr, wie S dachte, sondern aus irgendeinem vollkommen anderen Grunde, von denen S nichts bekannt ist.3 Hierzu ein Beispiel: Max und Moritz sehen den wütenden Lehrer Lempel mit einer Rute in der Hand auf sich zulaufen. Moritz ist sich sicher: „Haha, jetzt geht’s dem Max an den Kragen, denn Lehrer Lempel hat ihn beim Klauen gesehen.“ Sie laufen weg, Lempel hinterher. Auf der Flucht kommen sie an Freund Thomas vorbei, und Moritz ruft Thomas keuchend zu: „Der Lempel wird gleich denjenigen verprügeln, den er beim Klauen erwischt hat.“ Thomas bleibt zurück. Als Lempel die beiden Missetäter einholt, schnappt er sich allerdings Moritz und verhaut ihn. Moritz’ Mitteilung an Thomas beruhte also auf einer falschen Überzeugung, weil die Strafe am Ende doch ihn selbst traf. Gleichwohl ist Thomas’ Überzeugung am Ende richtig: Lempel hatte offenbar beide
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Glauben
Die Reaktionen hierauf waren unterschiedlich. Einige brachten Einwände gegen die Gegenbeispiele selbst vor, andere akzeptierten sie und versuchten die Definition des Wissens so zu verändern, dass das Problem vermieden wird. Andere wieder sahen sich veranlasst, das ganze Projekt der Definition von Wissen im Rahmen von notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Grund auf neu zu überdenken. Siehe auch: Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie EDWARD CRAIG
Gewalt
Der Ausdruck ‚Gewalt’ ist ein zentraler Begriff in der Diskussion des moralischen und politischen Lebens, doch ein nicht geringer Teil der Debatten, in denen der Begriff verwendet wird, leidet unter einem Mangel an Klarheit über seine Bedeutung und über den moralischen Status, den er in unserer Entwicklung der öffentlichen Verhaltensregeln haben sollte. Ein weites Verständnis des Ausdrucks, beispielsweise als ‚strukturelle Gewalt’, subsumiert nicht nur zu viel unter dem Namen der Gewalt, sondern belastet den Begriff auch moralisch übermäßig. Dies ist auch das Problem einiger anderer Definitionen von Gewalt, wie z.B. die legitimistischen Definitionen, die die Gewalt im Wesentlichen als die illegitime Anwendung von körperlichem Zwang behandeln. Es ist besser, sich direkt mit der wichtigen und beunruhigenden Behauptung auseinanderzusetzen, dass die Gewalt manchmal moralisch zulässig ist, statt sie durch eine definitorische Anordnung erledigen zu wollen. Siehe auch: Zivilier Ungehorsam C.A.J. COADY
Gilson, Etienne Siehe: Thomismus
Glauben
Der Glaube wurde zu einem Diskussionspunkt in der abendländischen Philosophie wegen seiner herausragenden Rolle im Neuen Testament, dessen Autoren auf den Zustand des Glaubens oder auf das Gewinnen des Glaubens häufig drängen. Das Neue Testament spiegelt selbst sowohl den hellenistischen Begriff des Glauben, als auch ältere biblische Traditionen wieder, speziell die von Abraham im Buch Genesis. Die darauf folgende Aufmerksamkeit der Philosophen konzentrierte sich hauptsächlich auf drei Aspekte: die Natur des Glaubens, die Verbindung zwischen Gottes Güte und menschlicher Verantwortung, und die Beziehung des Glaubens zur Vernunft. In den Diskussionen über das Wesen des Glaubens von Thomas von Aquin bis Paul Tillich (1886–1965) wurde er daraufhin untersucht, ob der Glaube eine bestimmte Form von Wissen, Tugend, Vertrauen etc. ist. Bezüglich der göttlichen Güte hat sich die Diskussion vor allem auf die Beziehung zwischen Glaube und freiem Willen konzentriert, und ob ein Mangel an Glaube in den Verantwortungsbereich des Individuums oder Gottes fällt. Betreffend die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft gibt es zwei deutlich voneinander getrennte Fragen: die Beziehung des Glaubens zur Theoriebildung, und die Rationalität des Glaubens selbst. Speziell Thomas von Aquin trat dafür ein, dass der Glaube eine notwendige Vorbedingung beim Diebstahl beobachtet. Doch ist die Überzeugung von Thomas unter diesen Umständen noch Wissen? [WS]
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Gleichheit, Gleichberechtigung
für die vernünftige und intellektuelle Tätigkeit sei, während John Locke später ebenfalls die Beziehung zwischen Glaube, Vernunft und Rationalität untersuchte und zu dem Schluss kam, dass der Glaube durch die Vernunft erreicht werden kann. Letzterer Standpunkt wurde wiederum später von Wittgenstein und seinen Nachfolgern heftig kritisiert. Siehe auch: Naturtheologie; Negative Theologie NICHOLAS P. WOLTERSTORFF
Gleichheit, Gleichberechtigung Einführung Die Gleichberechtigung ist seit langem eine Quelle der politischen und philosophischen Auseinandersetzung. Eine zentrale Frage der Gleichberechtigung ist, wie sich empirische oder moralische Behauptungen über den Umfang der Gleichbehandlung von Personen bei Fragen der moralischen Annehmbarkeit oder Unannehmbarkeit sozialer Ungleichheit überhaupt verbinden lassen, und speziell wie weit Überlegungen der Gleichberechtigung soziale Handlungen rechtfertigen, um jene zu fördern. Ein traditionell liberales Argument lautet, dass die ungefähre Gleichheit menschlicher Kräfte es den Menschen geraten erscheinen lässt, sich selbst unter eine gemeinsame politische Autorität zu stellen, um dadurch eine Rechtfertigung der Gleichberechtigung vor dem Gesetz herzustellen. Jede Verallgemeinerung dieses Arguments vernachlässigt jedoch die Fälle, wo die Kräfte ungleich verteilt sind und die sich ergebende Kräftebilanz folglich ungerecht ist. Im Gegensatz zur Gleichheit der Kräfteverteilung ist die Gleichheit des Wertes dagegen ein in vielen philosophischen Traditionen anerkanntes Prinzip. Doch trotz ihrer breiten Akzeptanz sind immer noch viele Fragen der Interpretation dieses Prinzips offen. Insbesondere ist nicht klar, wie weit aus dem Prinzip eine größere Gleichheit der sozialen Bedingungen folgt. Die Menschen mögen ein Gefühl für den Wert ihrer Arbeit aus dem Genuss der Früchte dieser Arbeit ableiten, und dies kann legitimerweise die Umverteilung blockieren. Gewisse Ungleichheiten können sich zu jedermanns Vorteil auswirken, und die Anwendung des Gleichheitsprinzips ohne Ansehung der Person kann unserer Auffassung als Personen mit spezifischen Eigenheiten zuwider laufen. In diesem Umfeld gab es Bemühungen zur Lockerung des Begriffs der Gleichberechtigung in dem Sinne, dass er nur noch ‚Chancengleichheit‘ bedeutet, oder dass sich die Ungleichheiten nicht kumulieren dürfen. Wie weit solche Ansätze berechtigt sind, ist jedoch strittig. Im Gegensatz dazu können Infragestellungen des Prinzips der Gleichberechtigung, ausgehend von Überlegungen zu Anreizen oder einem verdienten Lohn bzw. bestehenden Unterschieden, leichter beantwortet werden. 1. Die Idee der Gleichberechtigung 2. Gleichheit der Kräfte 3. Gleichheit des moralischen Wertes 4. Herausforderungen der Gleichberechtigung 1. Die Idee der Gleichberechtigung Vor fast 2.500 Jahren bemerkte Aristoteles (336–322 v. Chr.) in seiner ‚Politik‘, dass hinter dem Krieg zwischen Staaten im Allgemeinen Diskussionen über die 578
Gleichheit, Gleichberechtigung
Gleichheit und Ungleichheit stehen. Heutzutage spielt die Frage der Gleichheit auf so verschiedenen Gebieten wie der Verteilung von Einkommen und Reichtum, der Zugang zu öffentlichen Diensten, die Verteilung von Arbeit und Beschäftigungsmöglichkeiten, die politische Repräsentation unterschiedlicher sozialer Gruppen und der Kontrolle natürlicher Ressourcen zwischen Nationen eine zentrale, wenn auch strittige Rolle. Die Idee der Gleichheit taucht in der politischen Philosophie hauptsächlich in drei Weisen auf. Erstens wurde sie manchmal als die angebliche Beschreibung gewisser Merkmale des menschlichen Lebens in der Gesellschaft eingesetzt, am auffallendsten in der Behauptung, dass alle Menschen ungefähr über die gleichen Kräfte verfügen. Zweitens wird sie als Handlungsprinzip mit dem Ziel eingesetzt, dass Personen als solche behandelt werden sollen, die den gleichen moralischen Wert haben. Drittens wird sie eingesetzt, um eine angenommenermaßen erwünschte Menge sozialer Bedingungen zu bezeichnen, beispielsweise in dem Slogan ‚Eine Person, eine Stimme‘, oder einer stärkeren Gleichverteilung des Einkommens. Eine zentrale Frage dabei ist, wie weit man die Prämissen anwenden kann, die aus den ersten beiden Bedeutungen des Ausdrucks folgen, um die sozialen, ökonomischen und politischen Ungleichheiten im Sinne der dritten Bedeutung des Ausdrucks zu bewerten. Insbesondere stellt sich die Frage, wie weit soziale Ungleichheiten gerecht sind, oder zumindest gerechtfertigt werden könnten (siehe Gerechtigkeit, § 5). Von der Gleichheit ohne weitere Qualifikation des Begriffs zu sprechen heißt, unvollständig zu reden. Genau genommen ist die Gleichheit eine Beziehung zwischen Gegenständen oder Personen hinsichtlich einiger ihnen gemeinsamer Merkmale. In praktisch aller Hinsicht sind die Menschen ungleich: sie sind unterschiedlich groß, schwer, intelligent, sind links- oder rechtshändig, besitzen unterschiedliche Erwerbsfähigkeiten etc. Darüber hinaus würde die Gesellschaft oder eine Gesellschaft, wenn sie die Angleichung von Gütern und Ressourcen, wie beispielsweise des Einkommens, verfolgen würden, andere Aspekte der sozialen Beziehungen der Ungleichheit aussetzen, wie z. B. die Effizienz von Arbeitsleistung, wenn alle Menschen den gleichen Lohn für unterschiedliche Arbeiten erhalten. Diese einleuchtenden Überlegungen laufen darauf hinaus, dass die Idee der Gleichheit in einer umfassenderen Theorie der Politik und der Gesellschaft eingebettet sein muss, damit sie eine spezifische Gestalt annimmt. Keine politische Theorie zielt auf die reine und einfache Gleichbehandlung. Sie zielt vielmehr auf spezifische Typen von Gleichheit, die für moralisch und sozial wichtig erachtet werden. 2. Gleichheit der Kräfte Kann man in Anbetracht der Vielfältigkeit menschlicher Existenz überhaupt sagen, dass Menschen in irgendeiner Hinsicht gleich sind? In seinem Leviathan (1651) meint Hobbes, das die Menschen, obwohl sie sich körperlich und geistig unterscheiden, doch darin gleichen würden, dass sie praktisch immer in der Lage seien, einander umzubringen. Diese Idee wurde von Hume im 18. Jahrhundert, und nochmals von H.L.A. Hart im 20. Jahrhundert aufgegriffen. Im Sinne dieser Tradition erscheint es für Menschen in Anbetracht eines derartig rohen Bildes von der Gleichheit der Kräfte angebracht oder rational zu sein, sich einem gemeinsamen Regelkanon unterzuordnen, der zur Bildung eines Systems gegenseitiger Toleranz und Übereinstimmung führt. Aus einer solchen Gleichheit 579
Gleichheit, Gleichberechtigung
der Kräfte in jener hypothetischen, vorgesetzlichen Situation ergäbe sich dann trotz der fortbestehenden Unterschiede im Vermögen und dem sozialen Status von Menschen eine Gleichheit der Pflicht vor dem Gesetz. Politische Akteure sollten deshalb ein System gemeinsamer Autorität nicht nur als weise, sondern auch als gerecht anerkennen. Dieser Gedanke kann jedoch auch zu weit getrieben werden. Denn die Bedingung einer Gleichheit der Kraft gilt nur unter recht spezifischen Umständen, und wo es nicht gilt, sind die Schwachen verletzlich. Eine intuitive Idee der Gerechtigkeit besteht darin, dass die Wahrnehmung von Vorteilen dort nicht erlaubt sein sollte, wo sie zur Vorherrschaft führt und eine solche Vorherrschaft grundlegende Interessen von Personen bedroht. Politische Macht wird folglich nur dort legitim sein, wo sie die Verletzlichen schützt (siehe Gerechtigkeit, § 4). 3. Gleichheit des moralischen Wertes Wenn wir nicht imstande sind, eine angemessene normative Theorie der Politik allein auf dem Begriff einer ungefähren Gleichheit der Kräfte aufzubauen, dann wird die Idee der Gleichheit einen irreduziblen moralischen Gehalt haben. Damit kommen wir zur zweiten Bedeutung dieser Idee, nämlich jener Bedeutung von ‚Gleichheit‘, derzufolge alle Personen den gleichen moralischen Wert und somit ein Anrecht auf gleichen Respekt und auf gleiche Berücksichtigung ihrer Interessen haben. Obwohl diese Idee häufig mit zeitgenössisch-liberalem politischem Denken in Zusammenhang gebracht wird, hat sie doch sowohl in ihrer utilitaristischen, als auch in ihrer kantischen Variante (siehe Liberalismus) ihren Platz in zahlreichen anderen philosophischen und religiösen Traditionen gefunden, einschließlich der jüdischen und christlichen politischen Gedankenwelt, der stoischen und der konfuzianischen Tradition, die mit Mencius, einem chinesischen konfuzianischen Weisen (372–289 v. Chr.), assoziiert wird. Denkströmungen innerhalb des Islam haben genauso wie abtrünnige Sekten des Hinduismus die Idee weiter entwickelt, dass alle Menschen einen gleichen moralischen Wert haben. Lässt sich hieraus aber irgendeine bestimmte Folge für die Ordnung sozialer Beziehungen ableiten, wenn dies doch auf einem Prinzip beruht, dass Denker so unterschiedlicher politischer und philosophischer Überzeugungen gutgeheißen haben? Eine Frage betrifft hier die Bedingungen, unter denen wir die Implikationen größerer Gleichheit formulieren. Größere soziale Gleichheit lässt grundsätzlich die Frage offen, was überhaupt angeglichen werden soll: sollen es die Ressourcen sein, die Wohlfahrt oder irgendein anderer Aspekt des menschlichen Lebens? Es gibt plausible Argumente dafür, eine jede dieser Möglichkeiten zur Grundlage des öffentlichen Handelns zu machen. Aber wie auch immer die Frage nach der Messung von Gleichheit beantwortet wird: die zentralen rechtfertigenden Argumente für die Gleichheit fordern, dass das Prinzip der moralischen Wertegleichheit den Handlungen eines Staates Grenzen setzt (beispielsweise darf er nicht die Interessen einiger auf Kosten der anderen bevorzugen), und dass der Wert von Menschen nicht von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Institutionen abhängen darf, an denen sie als Mitglieder der Gesellschaft teilhaben. Man sieht allerdings, obwohl alle diese Behauptungen im Allgemeinen wahr sein mögen, dass es nicht einfach ist, das genaue Wesen all dieser Beziehungen und Verhältnisse zu bestimmen. 580
Gleichheit, Gleichberechtigung
Angenommen es sei akzeptiert, dass das Selbstwertgefühl der Menschen von den sozialen Institutionen abhängt, an denen sie teilhaben, so dass Armut und soziale Ausgrenzung das Selbstwertgefühl einer Person untergräbt. Es ist nicht klar, bis zu welchem Umfange eine solche Annahme als Erlaubnis einer allgemeinen Angleichung sozialer und wirtschaftlicher Ressourcen dienen kann. Daher haben einige Liberale behauptet, dass solche Angleichungen Umverteilungspraktiken erfordern würden, die im Endeffekt die Reichen nur noch als Mittel zur Erreichung irgendeines sozialen Zwecks betrachten, und zwar auf eine Weise, die im Widerspruch zum Respekt vor den Menschen steht, der wiederum von dem Prinzip des gleichen moralischen Wertes gefordert wird. In dieser einfachen Form ist das libertäre Argument allerdings nicht sonderlich überzeugend, denn es zeigt nicht, warum die an Menschen herangetragene Forderung zur Erfüllung mutmaßlicher Verpflichtungen gemäß einem Gerechtigkeitsprinzip gleichbedeutend sein soll mit ihrer Behandlung als bloße Mittel für einen Zweck. Es weist aber zumindest darauf hin, dass es Schranken der Umverteilung gibt, und dass Menschen im Großen und Ganzen die Früchte ihrer eigenen Arbeit genießen dürfen sollten. Ziemlich abseits dieser libertären Einwände gegen die Angleichung von Eigentum wurde andererseits eingewandt, dass hinsichtlich des Gleichheitsprinzips auch anerkannt werden sollte, dass die soziale Ungleichheit in gewissen Formen einige Vorteile haben kann. So hat beispielsweise Rawls auf konsistente Weise vorgetragen, dass es irrational für Menschen wäre, einerseits ihre eigenen Interessen voranzutreiben, um andererseits eine egalitärere Ressourcenverteilung gegenüber einer ungleicheren Verteilung eines größeren Verteilungsvorrates zu bevorzugen, bei der die Ärmsten immer noch besser dastünden als unter dem Verteilungsschema einfacher Gleichheit. Durch dieses Argument wird das Prinzip des gleichen moralischen Wertes so betrachtet, dass es durchaus neben den zulässigen Ungleichheiten infolge der Zuteilung von Ressourcen oder der Verteilung des Wohlstandes einer Gesellschaft bestehen kann. Weitere Komplikationen ergeben sich aus dem Begriff der Persönlichkeit selbst. Man könnte dafür eintreten, dass sich unsere Selbsteinschätzung als Personen aus der speziellen Anhängerschaft ergibt, die wir anderen Personen entgegenbringen, oder von unserer Zugehörigkeit zu bestimmten Orten oder Institutionen. Unser Gefühl für den moralischen Wert hängt daher von subjektiv bedeutungsvollen Zugehörigkeiten ab, die unsere Fähigkeit zur unvoreingenommenen Wahrnehmung der Interessen anderer einschränkt. Wenn beispielsweise alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben, so scheint eine groß angelegte, internationale Umverteilung notwendig zu sein, um diesem Prinzip Geltung zu verschaffen. Ein solches Vorhaben könnte jedoch den subjektiven Zugehörigkeiten zuwiderlaufen, die Menschen innerhalb ihrer politischen Gemeinschaften ausformen. Das bestimmende Merkmal aller drei dieser Typen von Argumenten ist es, dass sie das Gleichheitsprinzip nicht einfach irgendeinem anderen Prinzip sozialer Organisation gegenüberstellen, sondern stattdessen einen anderen Aspekt dieses Prinzips zu entwickeln versuchen, um den Schluss vom moralischen Wert auf eine gleiche Verteilung von Rechten und Gütern einer Gesellschaft aufzuheben. Als Antwort hierauf besteht zum einen die Möglichkeit, die Implikationen des Gleichheitsprinzips abzuschwächen. Beispielsweise impliziert das Prinzip des glei581
Gleichheit, Gleichberechtigung
chen Wertes vielleicht gar nicht die Gleichverteilung von Rechten und Gütern insgesamt, sondern besagt lediglich, dass es keine Diskriminierung bei ihrer Verteilung geben darf, so dass relative Vorteile nicht auf unfaire Weise erlangt werden können. Auf ähnliche Weise kann man einwenden, dass das Gleichheitsprinzip lediglich fordert, dass den Menschen die gleichen Chancen zur Erreichung ungleicher sozialer und wirtschaftlicher Vorteile eingeräumt werden müssen. Ein besonders einflussreiches Argument dieses Typs lautet, dass es gar nicht die soziale oder wirtschaftliche Ungleichheit selbst ist, gegen die Einwände erhoben werden, sondern vielmehr die Akkumulation sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in vielen und unterschiedlichen Bereichen des sozialen Lebens. Im Zusammenhang mit diesem Argument steht die Behauptung, dass es wichtig sei, nur ganz bestimmte soziale Ungleichheiten zu beseitigen oder zu mildern, speziell jene, die den Zugang zu Gesundheits- und Ausbildungsleistungen betreffen, und damit bereits eine konsistente Erfüllung des Prinzips des gleichen moralischen Wertes hergestellt sei. Ein ganz selbstverständlicher Weg zum Umgang mit dieser Vielzahl von Interpretationen ist es sich zu erlauben, dass man sich nicht nur eine Position, sondern gleich ein ganzes Bündel politischer Positionen zu eigen macht, die alle von sich behaupten, das Prinzip des gleichen moralischen Wertes zu verkörpern. Die Wahl zwischen diesen Positionen hängt teilweise von weiter reichenden Fragen der Sozialtheorie ab (beispielsweise von dem Umfang, in dem jemand annimmt, dass Ungleichheiten auf unterschiedlichen Gebieten getrennt voneinander behandelt werden können), und teilweise von der konkreten Ausübung des eigenen Urteilsvermögens (beispielsweise von dem Umfang, in dem jemand meint, dass ein Gefühl für den menschlichen Wert von solchen Menschen abhängt, die imstande sind, die Früchte ihrer Arbeit aufzusparen, im Unterschied zum Genuss des Zugangs zu kollektiven Rechten und Gütern). 4. Herausforderungen der Gleichberechtigung Die moralischen Forderungen des Gleichheitsprinzips wurden auf vielfältige Weise herausgefordert. Ein vertrautes Argument bezieht sich auf die angenommene Dämpfung des Anreizes zur Arbeit, die sich einstellen würde, wenn man eine Umverteilung von den Produktiveren zu den Unproduktiveren vornähme. Aus der einen Perspektive kann dies als eine pragmatische Frage betrachtet werden, bei der die Gesetzgeber zu bestimmen hätten, wie die Balance zwischen der größeren Produktivität und der größeren Gleichheit auszusehen hat. Das Rawlssche Differenzprinzip, nachdem Ungleichheiten erlaubt sein sollten, kann man unter der Voraussetzung, dass daraus eine Einkommensverbesserung der am wenigsten Bevorzugten folgt, als einen der möglichen und sogar attraktiven Kompromisse bezüglich dieser Fragen verstehen (siehe Rawls, J. § 1). Die Frage der Anreize wirft jedoch auch prinzipielle Aspekte auf, denn einer der Wege zur Vermeidung von anreizdämpfenden Wirkungen wäre die Anwendung eines Bewertungsschemas, das sich nicht auf Arbeitsleistung, sondern auf Fähigkeiten bezieht. Obwohl dergleichen schwierig zu handhaben wäre, würde ein solches Schema den Fähigeren grundsätzlich eine pauschale ‚Besteuerung‘ (im Sinne einer ererbten Schuld) auferlegen, die sie durch ihre Arbeit mit der Zeit abzuzahlen hätten. Offenkundig führt die Frage der Arbeitsanreize in diesem Falle allerdings direkt zurück in einige der Probleme, die bei der Kombination von Gleichheit mit 582
Gleichheit, Gleichberechtigung
einer Art von personaler Gruppenzugehörigkeit auftreten, und die wir bereits im vorangehenden Abschnitt ansprachen. Ein zweites Prinzip, dass oft gegen die Gleichheit ins Feld geführt wird, ist das Prinzip des Verdienstes oder des angemessenen Lohns. Dieses Prinzip stellt eine direkte Herausforderung der Gleichheit dar, denn es fordert, dass die Güter im Verhältnis der Verdienste jener verteilt werden, die sie erhalten, so dass der beste Flötenspieler die beste Flöte erhält, wie bereits Aristoteles sagte. Der Begriff des angemessenen Lohns hat jedoch seine eigenen Probleme, und man könnte einwenden, dass seine Anwendung nur innerhalb des Zusammenhanges einer fortgesetzten Praxis einen Sinn hat, wie bei einem Orchester mit seinen eigenen Aufführungsstandards, nicht dagegen bei einer Anwendung auf die Gesellschaft als Ganzer. Die abschließende Herausforderung des Gleichheitsprinzips resultiert aus der Attraktion des Begriffs des Unterschieds. Hier lautet das Argument, dass die Gleichheit eine Gleichbehandlung impliziere, wohingegen die Interessen innerhalb einer Gesellschaft in Wirklichkeit plural strukturiert seien. Folglich würde das Prinzip des Unterschiedes es erfordern, dass anstelle einer Fundierung der öffentlichen Entscheidungsfindung durch das Prinzip der einen Person mit seiner einen Stimme, dass bestimmte Gruppen ein besonderes Gewicht in gewissen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zukommt, so dass beispielsweise Frauen ein Vetorecht gegen eine Änderung des Abtreibungsrechts haben. Der Umfang, in dem die Berufung auf den Unterschied wirklich eine ernsthafte Herausforderung des Gleichheitsprinzips darstellt, ist allerdings strittig. Das Erfordernis der gleichen Berücksichtigung der Interessen aller Menschen ist vereinbar mit der Anerkennung, dass bezüglich einzelner Fragen die Interessen bestimmter Gruppen stärker sind als anderer, wie man leicht am Schutz der Rechte lokaler Gebietskörperschaften ablesen kann, die Entscheidungen treffen können, die vor allem sie selbst betreffen. Es kann also die Erlaubnis, bestimmten Gruppen in öffentlichen Angelegenheiten ein besonderes Stimmgewicht einzuräumen, mit dem Gleichheitsprinzip durchaus vereinbar sein, vorausgesetzt, die Gewährung dieser Möglichkeit ist nicht auf eine einzelne, besondere Gruppe beschränkt. Trotz dieser Herausforderungen bleibt das Gleichheitsprinzip ein zentrales Prinzip des modernen politischen Denkens. Seine zentrale Stellung bedeutet jedoch, dass die fortgesetzte Diskussion betreffend seine genaue Interpretation und die Folgen daraus wahrscheinlich noch lange andauern wird. Anmerkungen und weitere Lektüre: Barry, B.M. (1989): ‚Theories of Justice‘, London: Harvester Wheatsheaf. (Eine umfangreiche Diskussion der Folgen des Arguments der Kräftegleichheit für die Gleichberechtigung und die soziale Gerechtigkeit, sowie die Schwächen dieses Arguments.) Walzer, M. (1983): ‚Spheres of Justice‘, Oxford: Martin Robertson. (Eine Darstellung der Auffassung, dass es die sog. ‚kumulativen Ungleichheiten‘ im Gegensatz zur Ungleichheit an sich sind, die moralisch fragwürdig sind.) ALBERT WEALE
Globalisierung
Die Globalisierung ist eine der am heißesten diskutierten Fragen zeitgenössischer Sozialforschung und auch der öffentlichen Diskussion. Die Debatten drehen 583
Glück
sich hauptsächlich um sechs ihrer Aspekte: Definition, Maß, Geschichte, Konsequenzen und politische Antworten auf die Globalisierung. Hinsichtlich der Definition kann man fünf breite Verwendungen des Wortes ‚Globalisierung‘ unterscheiden: Internationalisierung, Liberalisierung, Universalisierung, Verwestlichung und ‚Deterritorialisierung‘ (ein Ausdruck, der ursprünglich von Deleuze und Guattari eingeführt wurde und die Effekte beschreibt, die eintreten, wenn man einem Land seine Kultur und seine Selbstkontrolle nimmt). Obwohl diese Begriffe sich in gewissem Umfange überlappen, unterscheiden sie sich dort stark in ihren Akzenten. Hinsichtlich der Stärke der Globalisierung suggerieren ihre Anhänger, dass die heutige Welt bereits gründlich globalisiert sei, wogegen die Skeptiker eine jegliche Behauptung der Globalisierung als Mythos verwerfen. Die meisten Beobachter sind sich darin einig, dass das Auftreten der Globalisierung ungleichmäßig erfolgt, d.h. einige Länder und soziale Kreise haben die Globalität bereits mehr erfahren als andere. Die Chronologie der Globalisierung hängt zu einem guten Teil von der gewählten Definition ab. Internationalisierung, Liberalisierung, Universalisierung und Verwestlichung können als Entwicklungsphänomene mindestens einige Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückverfolgt werden. Auf der anderen Seite findet die Deterritorialisierung in großem Umfange erst seit dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts statt. Darstellungen der kausalen Dynamik der Globalisierung hängen von der jeweiligen theoretischen Überzeugung ab. Die meisten Forscher erklären die Globalisierung jedoch auf die eine oder andere Art als ein Produkt der Moderne und/oder des Kapitalismus. Viele Studien beleuchten auch ihre auslösenden Wirkungen für bestimmte technologische Entwicklungen und auf gewisse regulative Vereinbarungen. Mit Blick auf ihre Konsequenzen für die sozialen Strukturen behandeln einige Analytiker die Globalisierung als radikal transformativ. Solche Darstellungen verbinden die Globalisierung mit dem Ende des Staates, dem Ende der Nationalität, dem Ende der Moderne und ähnlichem. Im Gegensatz dazu spielen andere Bewertungen jede Vermutung des sozialen Wandels in Verbindung mit der Globalisierung herunter. Und noch andere schließen, dass die Globalisierung ein Wechselspiel von Änderungen und Kontinuitäten in den Sozialstrukturen hervorbringen. Schließlich argumentieren neoliberale Ansätze mit Blick auf die Politik, dass die Globalisierung durch den Markt und seine Kräfte gelenkt werden sollte. Im Gegensatz dazu behaupten Reformstrategien, dass die Globalisierung durchdacht mittels öffentlicher Regelungen gesteuert werden sollte, einschließlich und insbesondere mittels überstaatlicher Gesetze und Institutionen. Aus einer radikaleren Perspektive versuchen die Traditionalisten die Entwicklung zu ‚deglobalisieren‘ und damit zu einem vorglobalen status quo ante zurückzukehren. Andere, tiefer gehende Kräfte setzen sich für eine Fortsetzung der Globalisierung ein, allerdings beispielsweise zusammen mit einer revolutionären, sozialen Umformung in eine postkapitalistische Gesellschaft. Siehe auch: Internationale Beziehungen, Philosophie der; Staat, der JAN AART SCHOLTE
Glück
Im alltäglichen Sprachgebrauch hat das Wort ‚Glück‘ etwas mit der Situation einer Person zu tun (‚sie oder er hatte Glück bei etwas‘) oder mit ihrem mentalen 584
Gnostik
Zustand (jemand ist glücklich, auch im Sinne von dankbar), oder häufig auch mit beidem. Diese beiden Elemente zeigen sich mit unterschiedlichen Anteilen bei verschiedenen Gelegenheiten. Wenn man es mit einer langen Zeitspanne zu tun hat (wie in dem Ausdruck ‚in einem glücklichen Leben‘), dann geht es wahrscheinlich mehr um die Situation, als um einen geistigen oder seelischen Zustand. Im Großen und Ganzen sind die Philosophen mehr an den langfristigen Fällen interessiert. Das Leben eines Menschen ist glücklich, wenn jemand zufrieden ist, dass das Leben ihm mehr gegeben hat, als er im positiven Sinne erwartete. Es gibt eine Tendenz in diesen Bewertungen eines ganzen Lebens hin zur objektiven Situation einer Person, und weg von ihren subjektiven Antworten. Der entsprechend wichtige Ausdruck für die Ethik ist das ‚Wohlergehen‘, d.h. ein Ausdruck dafür, was den guten Verlauf eines individuellen Lebens ausmacht. ‚Glück‘ ist wichtig, weil viele Philosophen meinten, dass das Glück die einzige Sache ist, die zum Wohlergehen beiträgt, oder weil sie den Ausdruck ‚Glück‘ ohnehin im Sinne von ‚Wohlergehen‘ verwendeten. Was macht nun einen guten Verlauf eines Lebens aus? Einige dachten, dass es die Gegenwart einer positiven Gefühlslage sei. Andere meinten, dass er aus der Erfüllung der Wünsche einer Person entspringe, und zwar aus der Erfüllung entweder ihrer aktuellen Wünsche (wie manche sagen würden) oder ihrer sog. ‚informierten‘ Wünsche (engl.: informed desires)4. Es ist unklar, wie streng das Erfordernis der ‚Informiertheit‘ hier erfüllt sein muss. Nimmt man es sehr stringent, so kann es in der Tat dazu führen, dass man die Erklärung von Wünschen aufgeben muss und sich stattdessen Erklärungen in Form einer Liste von Merkmalen zuwenden müsste, deren Vorliegen ein Leben glücklich oder gut machen. J. P. GRIFFIN
Gnostik
Die Gnostik umfasst eine lose assoziierte Gruppe von Lehrern, Lehrschriften und Sekten, die sich dazu bekannten, eine Art von‚Gnosis‘ anzubieten, d.h. Wissen zu bewahren oder aufzuklären, verpackt in verschiedenen Mythen, die versuchten, Der Ausdruck informed desire ist mit ‚informierter Wunsch‘ nicht glücklich übersetzt. Es handelt sich hier jedoch um einen Fachterminus, der in der deutschsprachigen Philosophie infolge des Fehlens einer entsprechenden Systematik offenbar weitgehend unbekannt ist und deshalb keine unmittelbare Entsprechung hat. Die sog. ‚aktuellen Wünsche‘ (actual desires) könnte man dieser Systematik zufolge als unmittelbare Wünsche beschreiben, wozu vor allem die körperlichen, und allgemein die nicht kognitiv vermittelten Wünsche gehören, während die sog. ‚informierten Wünsche‘ diejenigen sind, die durch intellektuell vermittelte Informationen zustande kommen, also beispielsweise die Wünsche nach bestimmten politischen Änderungen, oder der Wunsch, dass ein Geschäft sich erfüllen möge. Im weiteren Sinne könnte man darunter aber auch alle Glücksdefinitionen subsumieren, die auf die Erfüllung eines Lebensplans abstellen. Eine solche Perspektive trägt beispielsweise J. Rawls in ‚Ein Theorie der Gerechtigkeit‘ (in der dt. Ausgabe S. 447 f.) vor und beruft sich dabei auf Josiah Royce, der bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts diese Position formuliert hatte. Eine wieder andere Variante des ‚informierten Wunsches‘ könnte man auch in der existenzialistischen Auffassung z.B. von Kierkegaard entdecken, demzufolge ein Leben nur glücklich verlaufen könne, wenn es auf leidenschaftliche oder anderweitig intensive Weise auf ein absolutes Ziel bezogen sei. All dies hat mit Glück im Sinne von Wohlergehen nur wenig zu tun. Im Gegenteil, unter diesen Voraussetzungen kann jemand von sich durchaus behaupten, fortgesetzt glücklich zu sein, obwohl er in seinem Leben überwiegend gelitten hat, z.B. infolge einer schweren chronischen Krankheit. [WS] 4
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Gödels Theorem
die Ursprünge der Welt und der menschlichen Seele und das Schicksal letzterer zu erklären. Alles, was es gibt und gab, entsprang nach ihrer Auffassung einer transzendenten spirituellen Kraft. Doch dann brach die Unredlichkeit über die Welt herein und niedrige Kräfte kamen empor, was zur Schöpfung der materiellen Welt führte, in der die menschliche Seele nunmehr eingesperrt sei. Rettung erlange man durch die Kultivierung des inneren Lebens und die Vernachlässigung des Körpers und der sozialen Pflichten, die mit dem Kult nichts zu tun haben. Die gnostische Bewegung kam im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf und galt als Rivale des orthodoxen Christentums, obwohl einige gnostische Sekten in Wirklichkeit dem Judentum oder der iranischen Religion stärker verbunden waren. Mit dem 4. Jahrhundert schwand ihr Einfluss, in sporadischen Wiederbelebungen bestand er jedoch bis ins Mittelalter fort. CHRISTOPHER STEAD
Gödels Theorem
Unter Einsatz der Formalisierungen der Mathematik und der Logik, wie sie Whiteheads und Russells ‚Principia Mathematica‘ (1910) gefunden hatten, gaben Hilbert und Ackermann einer Reihe von grundlegenden und methodologischen Problemen eine präzise Formulierung, unter denen sich auch das sog. ‚Vollständigkeitsproblem‘ für formale axiomatische Theorien befand. Dies fragt, ob alle Wahrheiten oder Gesetze von Gegenständen innerhalb dieser Wahrheiten oder Gesetze selbst bewiesen werden können. Wendet man das Vollständigkeitsproblem auf irgendein quantorenlogisches System erster Ordnung an, so formuliert sich das Vollständigkeitsproblem als die Frage, ob alle logisch gültigen Ausdrücke auch innerhalb dieses Systems selbst beweisbar sind. In seiner Dissertation von 1929 formulierte Gödel eine positive Lösung des Vollständigkeitsproblems für ein quantorenlogisches System, das auf der Arbeit von Whitehead und Russell aufbauten. Dies ist das erste der drei Theoreme, auf die wir uns hier als ‚Gödels Theoreme‘ beziehen. Die anderen beiden Theoreme entstanden aus Gödels fortgesetzter Forschung am Vollständigkeitsproblem von umfassenderen formalen Systemen, einschließlich und insbesondere von Systemen, die umfassend genug sind, dass sie alle bekannten Methoden mathematischer Beweisführung enthalten. Hier ist die Frage allerdings nicht, ob alle logisch gültigen Ausdrücke beweisbar sind (sie sind es), sondern ob alle Ausdrücke in den beabsichtigten Interpretationen des Systems wahr sind. Damit dies der Fall ist, müsste das System die Gültigkeit des Ausdrucks S für jeden Satz ihrer jeweiligen Sprache entweder beweisen oder bestreiten. In seinem ersten Unvollständigkeitstheorem zeigt Gödel, dass das untersuchte System in diesem Sinne nicht vollständig war. Tatsächlich gibt es sogar Sätze einfacher arithmetischer Typen, die von den Systemen weder bewiesen noch widerlegt werden können, ihre Konsistenz vorausgesetzt. So kann also die Klasse der einfachen arithmetischen Wahrheiten nicht formal axiomatisiert werden. Die Idee hinter Gödels Beweis ist im Grunde die folgende. Angenommen, ein gegebenes System T erfüllt die folgenden Bedingungen: (1) es ist mächtig genug zum Beweis eines jeden Satzes in seiner Sprache, so dass es, wenn es diese Sätze beweist, gleichzeitig beweist, dass es sie beweist, und (2) es ist fähig, für einen bestimmten Satz G (nämlich Gödels selbstreferentiellen Satz) zu beweisen, dass er äquivalent ist mit ‚G ist nicht beweisbar in T‘. Unter diesen Bedingungen kann T G 586
Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832)
nicht beweisen, so lange T konsistent ist. Angenommen nun, T kann G beweisen. Infolge von (1) würde es auch die Aussage beweisen ‚G ist in T beweisbar‘, und durch (2) würde es beweisen ‚G ist nicht in T beweisbar‘. Folglich wäre T inkonsistent. Unter leicht strengeren Bedingungen – insbesondere jenen, dass (2) gilt, sowie der Bedingung (1’), dass jeder Satz der Form ‚X ist in T beweisbar’, der in T beweisbar ist, wahr ist –, kann gezeigt werden, dass ein konsistentes T auch ‚nicht G’ nicht beweisen kann. Denn wenn ‚nicht G’ in T beweisbar wäre, dann würde aus (2) daraus folgen, dass die Aussage ‚G ist in T beweisbar’ ebenso in T beweisbar wäre. Dann aber wäre infolge von (1’) auch G beweisbar. Das folgt wiederum, dass T inkonsistent wäre. Der Beweis von Gödels zweitem Unvollständigkeitstheorem beteiligt im Kern einen formalisierten Beweis eines Ausdrucks in T, der die Aussage enthält, dass für den Fall der Konsistenz von T der Satz G zutrifft. Das zweite Unvollständigkeitstheorem (d.h. die Behauptung, dass für den Fall der Konsistenz von T dieses nicht seine eigene Konsistenz beweisen kann) folgt dann auf diesem und dem ersten Teil des Beweises des ersten Unvollständigkeitstheorems. Die beiden Unvollständigkeitstheoreme wurden in der Folge auf sehr unterschiedliche philosophische Fragestellungen angewandt. Die bekanntesten davon sind die kritische Anwendung auf Hilberts Programm und den Logizismus in der Philosophie der Mathematik, sowie auf die Systematik in der Philosophie des Geistes. Siehe auch: Berechenbarkeitstheorie; Beweistheorie; Churchs Theorem und das Entscheidungsproblem; Churchs These MICHAEL DETLEFSEN
Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832)
Goethe war Staatsmann, Wissenschaftler, Theateragent, Dramatiker, Romanautor, Amateurmaler und Deutschlands herausragendster Dichter. Tatsächlich lieferte er der Romantischen Generation, die ihm darin folgte, den Begriff dessen, was ein Dichter sein sollte. Seine Arbeiten, Tagebücher und rund 12.000 Briefe summieren sich auf beinahe 150 Bände. Sein Drama ‚Faust‘ (1790–1832) ist das längste Dichtkunstwerk der modernen europäischen Literatur und machte die Legende des Dr. Faustus zu einem modernen Mythos. Er kannte die meisten der bedeutenden Personen in der philosophischen Bewegung des deutschen Idealismus persönlich (obwohl er niemals mit Kant zusammentraf), aber er war selbst kein Philosoph. Seine literarischen Arbeiten betrafen jedoch auch zeitgenössische philosophische Themen: ‚Iphigenie auf Tauris‘ (1779–1786) ist wohl eine prophetische Dramatisierung der ethischen und religiösen Autonomie, die Kant seit 1785 proklamiert hatte. In seiner Novelle ‚Die Wahlverwandtschaften‘ (1809) scheint so etwas wie eine rätselhafte natürliche oder übernatürliche Welt der Chemie, des Magnetismus oder des Schicksals, wie sie auch von der damaligen Naturphilosophie ins Auge gefasst wurde, einer menschlichen Geschichte des geistigen Ehebruchs zugrunde zu liegen. Insbesondere im ‚Faust‘, und dort vor allem im zweiten Teil, entwickelt sich die Geschichte des Paktes oder der Wette mit dem Teufel mehr und mehr zu einer Vermessung der gesamten Weltkulturgeschichte, von der angenommen wird, dass in ihr auch Obertöne der Gedankenwelt von Schelling, Hegel oder sogar Marx anklingen. Was aber auch immer ihr begriffliches Material sein mag, die literarische Leistung Goethes erfordert eher eine literarische, als eine philosophische Analyse. Es gibt jedoch einige be587
Gorgias (spätes 5. Jh. vor Chr.)
stimmte, prominente Begriffe in seiner wissenschaftlichen Arbeit oder im Ausdruck seiner ‚Weisheit‘ – Maximen, Aufsätze, Autobiographisches, Briefe und Konversationen – mit denen man besonders den Namen Goethes verbindet, und die gesondert diskutiert zu werden verdienen. Hierzu gehören vor allem: Natur und Metamorphose (die von ihm sog. ‚Bildung‘), Polarität und Intensivierung (die sog. ‚Steigerung‘), die ‚Urphänomene‘, das ‚Dämonische‘ und die ‚Entsagung‘. Siehe auch: Deutscher Idealismus; Dichtung; Naturphilosophie NICHOLAS BOYLE
Goldman, Emma
Siehe: Feminismus (§ 4)
Gorgias (spätes 5. Jh. vor Chr.)
Gorgias, der wichtigste griechische Sophist des 5. vorchristlichen Jahrhunderts nach Protagoras, war ein berühmter Rhetoriker, der größeren Einfluss auf die Entwicklung der künstlerischen Prosa hatte und ein begabter Liebhaber der Philosophie war. Seine öffentlichen Reden, die ‚Lobpreisung der Helena von Troja‘ und die ‚Verteidigung des Palameades‘, sind Meisterstücke der Kunst, einen aussichtslosen Fall stark aussehen zu lassen, und darüber hinaus brillante Übungen in synthetischer und antithetischer Satzstruktur. Von philosophischer Bedeutung ist seine Abhandlung ‚Über das Nichtsein oder vom Wesen der Dinge‘, eine ausgearbeitete Widerlegung des metaphysischen Beweises des Parmenides, die zeigt: (1) dass nichts existiert; (2) dass, wenn irgendetwas existiert, es nicht erkannt werden kann; und (3) wenn irgendetwas erkannt werden kann, es nicht mitgeteilt werden kann. Diese nihilistische tour de force ist wahrscheinlich eher eine Karikatur als die ernsthafte Darstellung einer philosophischen Position. Gorgias ist ein Meister der überzeugenden Verwendung des logos (hier: des Diskurses), womit hier sowohl seine Redegewandtheit, als auch seine argumentativen Fähigkeiten gemeint sind. CHARLES H. KAHN
Gott, Argumente für die Existenz von Einführung Argumente für die Existenz von Gott lassen sich mindestens bis zu Aristoteles zurückverfolgen, der meinte, dass es einen ersten Beweger geben müsse, der selbst unbewegt sei. Alle großen mittelalterlichen Philosophen (die arabischen und jüdischen ebenso wie die christlichen) schlugen Gottesbeweise vor und entwickelten sie, beispielsweise Augustinus, Al-Ghazali, Anselm, Moses Maimonides, Thomas von Aquin, und Duns Scotus. Die meisten der großen modernen Philosophen, insbesondere René Descartes, Gottfried Leibniz und Immanuel Kant, erarbeiteten ebenfalls Gottesbeweise. Sie sind nach wie vor ein Gegenstand bemerkenswerten zeitgenössischen Interesses; das 20. Jahrhundert erlebte wichtige Beiträge aller Hauptrichtungen dieser Argumentation. Die Gottesbeweise wurden in zahlreichen Varianten vorgelegt. Seit Kant waren die traditionell drei größten jene des kosmologischen, des ontologischen und des teleologischen Beweises. Der kosmologische Beweis geht auf Aristoteles zurück, erfuhr seine klassische Formulierung (zumindest für die europäische Philosophie) in den berühmten ‚fünf Wegen‘ des Thomas von Aquin, insbesondere in seinen Beweisen für eine erste, selbst unverursachte Ursache, einen ersten unbewegten Beweger 588
Gott, Argumente für die Existenz von
und ein notwendiges Wesen. Dem Beweis des ersten Bewegers zufolge (der ein Spezialfall des Beweises der ersten Ursache ist) wird alles, was bewegt ist (d.h. für das eine Ursache seiner Bewegung gegeben ist) von etwas anderem bewegt. Es ist jedoch unmöglich, dass es eine unendliche Reihe von bewegten und bewegenden Wesen gibt; folglich muss es einen ersten unbewegten Beweger geben. Thomas von Aquin fährt fort, dass ein erster Beweger sowohl die erste Ursache und ein notwendiges Wesen sein müsse; im nächsten Teil (Ia, qq. 3–11) der ‚Summa theologiae‘ fährt er mit dem Beweis fort, dass ein solches Wesen die Attribute von Gott haben muss. Das immerwährend faszinierende ontologische Argument in der Fassung des Anselm von Canterbury lautet wie folgt: Gott ist per definitionem das Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Man nehme nun an, dass Gott nicht existiere. Wenn etwas existiert, ist es mehr, als wenn es nicht existiert. Wenn also Gott nicht existierte, so könnte ein Wesen gedacht werden, dass größer als Gott ist. Da aber Gott per definitionem das Wesen ist, über das hinaus kein größeres gedacht werden kann, ist dieser Gedanke absurd. Deshalb ist die Annahme, dass Gott nicht existiert, absurd und muss falsch sein. Dieser Beweis fand viele illustre Verteidiger und gleichermaßen illustre Angreifer von der Zeit Anselms an bis in die Gegenwart. Das 20. Jahrhundert erlebte sogar eine neue und modale Version dieses Beweises. Thomas von Aquins fünfter Weg ist eine Fassung der dritten Art von Gottesbeweis, also dem teleologischen Beweis. Es dauerte allerdings bis zur Moderne und der zeitgenössischen Philosophie, um eine reichhaltigere und besser entwickelte Fassung davon zu erarbeiten. Die grundlegende Idee ist einfach: das Universum und viele seiner Teile erwecken den Eindruck, als wären sie entworfen worden, und der einzige reale Kandidat für den Posten des Designers des Universums ist Gott. Viele meinen, dass die Evolutionstheorie diese Art von Beweis erledigt habe, indem sie zeigt, wie dieser gesamte Entwurf das Ergebnis einer blinden, mechanischen Kraft gewesen sein könnte. Verfechter des Beweises bestreiten diesen Anspruch und geben zurück, dass die enorme ‚Feinabstimmung‘ der kosmologischen Konstanten, die für die Existenz von Leben erforderlich ist, stark für einen Entwurf sprechen. Über diese drei traditionellen großen Beweise hinaus gibt es tatsächlich noch viele weitere Gottesbeweise. Diese reichen vom Wesen der Moral, vom Wesen der Aussagen, der Zahlen und Mengen, von der Intentionalität, der Referenz, der Einfachheit, der Intuition und Liebe, von den Farben und Geschmäckern, von den Wundern, vom Spiel und dem Spaß bis zur Schönheit und dem Sinn des Lebens; und es gibt sogar Beweise für die Existenz des Bösen. 1. Kosmologische Gottesbeweise 2.–3. Ontologische Gottesbeweise 4.–5. Teleologische Gottesbeweise 6. Andere Gottesbeweise 1. Kosmologische Gottesbeweise Kosmologische Gottesbeweise beginnen bei irgendeiner offenkundigen und allgemeinen, allerdings aposteriorischen Tatsche über das Universum, z.B. dass es kontingente Wesen gibt, oder dass sich die Dinge bewegen oder sich verändern. Wir finden bereits erste Schritte in Richtung dieses Arguments bei Platon (‚Ge-
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Gott, Argumente für die Existenz von
setze‘, 10). Aristoteles (§ 16) (‚Metaphysik‘ 12; ‚Physik‘ 7, 8) erklärt sich hierzu bereits ausführlicher; die mittelalterlichen arabischen (insbesondere Al-Ghazali) und jüdischen (insbesondere Maimonides) Philosophen lieferten bereits ausgearbeitete Formen des Beweises. Der erste locus classicus (zumindest für die westliche Philosophie) sind die ersten drei der berühmten ‚fünf Wege‘ in Thomas von Aquins ‚Summa theologiae‘. In der Nachfolge von Thomas stellte Duns Scotus eine subtile und mächtige Fassung dieses Beweises vor, und in der Neuzeit findet sich die einflussreichste Fassung des Beweises bei Leibniz (§ 3) und Samuel Clarke. (Die einflussreichste Kritiken des Beweises wurden von Hume (§ 6) und Kant (§ 8) beigesteuert.) Folgt man William Craig (1980), so können wir im Wesentlichen drei Fassungen des kosmologischen Arguments unterscheiden. Erstens gibt es den so genannten kalam-Beweis (kalam ist arabisch und bedeutet ‚spekulative Theologie‘), das von arabischen Denkern entwickelt wurde, z.B. von Al-Kindi und Al-Ghazali. Formuliert man es schematisch, so lautet es: 1. Was auch immer zur Existenz kommt, hat eine Ursache, die ihm zur Existenz verhalf. 2. Das Universum begann zu existieren. 3. Folglich wurde das Universum durch eine Ursache in die Existenz gebracht, und die Ursache seiner Existenz ist Gott. Die zweite Prämisse wurde gestützt durch Argumente für die Schlussfolgerung, dass ein ‚Aktual-Unendliches‘ nicht möglich ist, beispielsweise, dass es unendlich viele, einander zeitlich nicht überlappende Wesen gegeben hat, die jedes mindestens für eine Sekunde existierten. Andererseits ist es auch nicht möglich, dass bereits eine unendliche Anzahl von Sekunden vergangen ist. Diese Beweise stützen sich auf die Herausarbeitung einiger der Widersprüche oder Eigenheiten, die ein AktualUnendliches mit sich bringt (siehe Unendlichkeit). Man nehme beispielsweise an, es gäbe ein Hotel mit unendlich vielen Räumen (‚Hilberts Hotel‘). Das Hotel ist voll. Nun kommt ein neuer Gast an; trotz der Tatsache, dass jeder Raum bereits belegt ist, möchte der Eigentümer dem neuen Gast einen Gefallen tun und weist ihn in Raum 1 ein, wobei er den Bewohner von Raum 1 in Raum 2, jenen von Raum 2 in Raum 3, und ganz allgemein dem Bewohner des Raumes n den Raum n+1 zuweist. Kein Problem! Tatsächlich können auf diese Weise sogar ganze Busladungen voller neuer Gäste, und zwar unendlich viele, allesamt untergebracht werden: für jeden ungeradzahligen Raum n bewege man ihre Bewohner in den Raum 2n (d.h. man verbringe die Bewohner dieses Zimmers n* in das Zimmer 2n*, usw.), so dass man auf diese Weise unendlich viele ungeradzahlige Zimmer freimacht. Tatsächlich, selbst wenn ein geschäftiges Wochenende gegeben ist und eine unendliche Flotte von Bussen anrollt, jeder mit unendlich vielen neuen Gästen beladen, können doch alle leicht untergebracht werden. Und die Frage lautet: ist es im weiteren logischen Sinne wirklich möglich, dass ein solches Hotel existiert? Die Freunde des kalamBeweises meinen, dass dies nicht möglich ist, und fügen hinzu, dass auch keine sonstige Unendlichkeit möglich ist. Wenn dies anders wäre, dann hätte das Universum für eine unendlich lange Zeitspanne nicht existiert und hätte gleichwohl einen Anfang. Zeitgenössische kosmologische Theorie der Physik erschienen manchen so, als würden sie einige wissenschaftliche Beweise oder empirische Unterstützung für die Behauptung liefern, dass das Universum einen Anfang hatte; nach der ‚Urknall‘590
Gott, Argumente für die Existenz von
Theorie entstand das Universum vor ca. 15 Milliarden Jahren oder auch einigen Milliarden Jahren mehr oder weniger (siehe Kosmologie). Nimmt man als gegeben, dass das Universum einen Anfang hatte, so lautet der nächste Schritt zu behaupten (im Wege der ersten Prämisse), dass dieser Anfang folglich eine Ursache gehabt haben muss. Es kann nicht spontan in die Existenz getreten sein. Und der abschließende Schritt ist der Schluss, dass die Ursache des Universums einige wichtige Eigenschaften haben müsste, nämlich die Eigenschaften von Gott. Die zweite Art von kosmologischem Gottesbeweis ist jene, die sich in den ersten drei von Thomas von Aquins ‚fünf Wegen‘ findet. Sein zweiter Weg lautet beispielsweise so: (1) Viele Dinge in der Natur haben eine Ursache. (2) Nichts ist die Ursache von sich selbst. (3) Ein unendlicher Regress von ihrem Wesen nach geordneten Wirkursachen ist unmöglich. (4) Folglich gibt es eine erste, unverursachte Ursache, „der jeder“, wie Thomas sagt, „den Namen Gottes gibt“. Es gibt zwei speziell interessante Punkte an diesem Beweis. Erstens stimmt Thomas nicht der Prämisse des kalam-Beweises zu, nach der es unmöglich ist, dass es ein Aktual-Unendliches gibt. Er argumentiert, dass man nicht beweisen könne, dass das Universum einen Anfang hatte; er hält es für möglich (wenn auch für falsch), dass das Universum bereits über eine unendliche Zeitspanne existiert. Wie ist dann aber Prämisse (3) zu verstehen? Thomas spricht hier von einer bestimmten Art von Reihe, nämlich einer „ihrem Wesen nach geordneten“ Reihe, d.h. einer Reihe von Ursachen, in der jede Ursache einer Wirkung über die ganze Dauer der Wirkung hinweg selbst tätig sein muss. Nur eine solche Reihe, so meint er, kann nicht unendlich fortschreiten. (Thomas gibt das Beispiel eines Stocks, der einen Stein bewegt, sowie eine Hand, die den Stock bewegt usw.) Der springende Punkt des Beweises ist, wenn er denn erfolgreich ist, dass mindestens eine Sache existieren muss, die die Existenz anderer Dinge verursacht, aber selbst durch keine andere Ursache in die Existenz gebracht wird. Könnte es nicht aber viele solcher Dinge geben? Und wäre dann nicht jede von ihnen Gott? Dies bringt uns zu dem zweiten interessanten Punkt. Thomas argumentiert, dass es einen ersten unbewegten Beweger geben muss, eine erste selbst unverursachte Ursache, ein notwendiges Wesen etc. Aber dieses theistische Argument ist damit noch nicht an seinem Ende. In den nächsten acht quaestiones bringt er vor, dass alles, was eine erste Wirkursache sei, immateriell sein müsste, unveränderlich, ewig, einfach, und darüber hinaus im Besitz aller Vollkommenheit, die man in den Dingen findet, die von ihnen abhängen, mit einem Wort: die Gott sein müsste. Es ist deshalb nicht richtig, der üblichen Kritik an Thomas darin zu folgen, er habe voreilig geschlossen, dass eine erste Ursache oder ein unbewegter Beweger oder ein notwendiges Wesen Gott sein müsse. Die dritte Art von kosmologischem Gottesbeweis hängt insbesondere mit Leibniz und Samuel Clarke zusammen. Nach dieser Fassung des Beweises muss es eine hinreichende Ursache für die Wirklichkeit eines jeden kontingenten Sachverhaltes geben, und darüber hinaus, sagt Leibniz, für die gesamte Reihe der kontingenten Wesen. Diese hinreichende Ursache muss die Aktivität von Gott sein. 591
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2. Ontologische Gottesbeweise Anselms ontologischer Beweis hat einen enormen Streit hervorgerufen (siehe Anselm von Canterbury). Thomas von Aquin wies ihn zurück, Duns Scotus ‚kolorierte‘ ihn ein wenig und akzeptierte ihn dann; Descartes (§ 6) und Malebranche unterstützten ihn; wie Duns Scotus meinte auch Leibniz, dass nur ein wenig Arbeit notwendig sei, um seinen Erfolg zu sichern; Kant wies ihn zurück und lieferte alle nur erdenklichen Gedanken, um den Schlusspunkt zu setzen (obwohl andere seine Kritik undurchsichtig und von zweifelhafter Relevanz für den Beweis fanden); und Schopenhauer meinte, dieser Beweis sei ein ‚charmanter Witz‘. Obwohl er im 20. Jahrhundert unter anderem von Charles Hartshorne, Norman Malcolm und Alvin Plantinga verteidigt wurde, weisen vermutlich die meisten zeitgenössischen Philosophen seine Argumente als einen Witz zurück, der allerdings nicht besonders ‚charmant‘ sei. Anselms Fassung lautet folgendermaßen: „Herr, der du dem Glauben die Einsicht verleihst, verleih mir also, dass ich, soweit du es für nützlich erachtest, verstehe, dass du bist, wie wir glauben, und das bist, was wir glauben! Und zwar glauben wir, dass du etwas bist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Oder existiert etwa demnach ein solches Wesen nicht, weil der Tor in seinem Herzen sprach: Es existiert kein Gott? Aber gerade auch der Tor, wenn er eben das vernimmt, was ich aussage als etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, versteht gewiss das, was er vernimmt; und was er versteht, ist in seinem Verstande auch wenn er nicht versteht, dass es existiert. Denn es ist eines, dass etwas im Verstande ist, ein anderes, zu verstehen, dass etwas existiert. Wenn nämlich ein Maler zuvor denkt, was er zu schaffen beabsichtigt, hat er zwar im Verstande, versteht aber noch nicht, dass existiert, was er noch nicht geschaffen hat. Wenn er aber bereits gemalt hat, hat er sowohl im Verstande als er auch versteht, dass existiert, was er bereits geschaffen. Also sieht auch der Tor als erwiesen an, dass etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, zumindest im Verstande ist, weil er das, wenn er es vernimmt, versteht und weil alles, was verstanden wird, im Verstande ist. Und gewiss kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es auch nur allein im Verstande ist, kann gedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit existiert, was größer ist. Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, allein im Verstande ist, ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, eines, über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber ist doch unmöglich der Fall. Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.“ (‚Proslogion‘, 2. Kapitel: ‚Dass Gott wahrhaft existiert‘) Der Beweisgang ist eine reductio ad absurdum: die Nichtexistenz von Gott zu beweisen und zu zeigen, dass dies zu einer Absurdität führt. Vielleicht können wir diesen Beweis wie folgt zusammenfassen: (1) Ein größtes Wesen (eines, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann) existiert im Verstand (d.h. es ist so beschaffen, dass wir es denken können). 592
Gott, Argumente für die Existenz von
(2) Es ist etwas Größeres, in der Wirklichkeit, als nur im Verstand zu existieren. (3) Deshalb wäre das maximal große Wesen, wenn es nur im Verstand existierte, geringer als das maximal größte Wesen. Es ist aber (logisch) unmöglich, dass das größte Wesen kleiner ist als das größte Wesen; folglich existiert es sowohl in der Wirklichkeit, als auch im Verstand, d.h. es existiert. Und natürlich ist dieses größte Wesen Gott. Die frühesten Einwände gegen diesen Beweis wurden von Anselms Zeitgenossen und Mönchgenossen Gaunilo in seinem Text ‚On behalf of the Fool‘ (dt.: ‚In Vertretung des Toren‘, Psalm 14: „Der Tor sagte in seinem Herzen ‚Es gibt keinen Gott‘“). Nach Gaunilo muss der Beweis scheitern, weil wir Argumente genau derselben Form benutzen können, um die Existenzen solcher Absurditäten wie eine Insel (oder ein Schokoladeneis, oder einen Hamster, wie auch immer) zu beweisen, über die hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. (Gaunilo sagt: „Ich weiß nicht, was ich als die größere Torheit betrachten soll: mich selbst, angenommen ich erlaube diesen Beweis, oder ihn, wenn er meint, dass er mit irgendeiner Gewissheit die Existenz dieses Eilandes hergestellt habe.“) Anselm hat jedoch eine Antwort hierauf: die Vorstellung einer maximal größten Insel macht keinen Sinn, genauso wenig wie jene einer größten ganzen Zahl, denn sie kann nicht exemplifiziert werden. Der Grund hierfür ist, dass die Eigenschaften, die für die Größe einer Insel stehen, d.h. ihr Umfang, ihre Anzahl von Palmen, die Qualität ihrer Kokosnüsse etc., kein inneres Maximum aufweisen. Denn für jede Insel, egal wie groß sie ist, und egal wie viele Palmen auf ihr stehen, ist denkbar, dass es eine noch größere mit noch mehr Palmen gibt. Aber die Eigenschaften, die die Größe eines Wesens ausmachen, also z.B. sein Wissen, seine Macht und Güte, haben durchaus innere Maxima: die Allwissenheit, die Allmacht und das vollkommen Gute. 3. Ontologische Beweise (Fortsetzung) Die bekannteste Kritik des ontologischen Arguments wurde von Immanuel Kant vorgebracht, der in seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (B620 / A 592 bzw. Transzendentale Dialektik, 2. Buch, 3. Kapitel, 4. Abschnitt) einwendet, dass, wenn dieser Beweis schlüssig wäre, die Aussage ‚es gibt ein Wesen, über das hinaus kein Größeres gedacht werden kann‘ logisch notwendig sein müsste; es kann aber keine existenzielle Aussage geben, die logisch notwendig ist. Leider ist aber seine Begründung für diese Erklärung selbst undurchsichtig. Er sagt nämlich selbst an dieser Stelle, dass die Existenz kein Prädikat des Wirklichen sei (B 626 / A 598: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d.i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriff eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauch ist es lediglich die Kopula eines Urteils.“), was weithin als der eigentliche Haupteinwand gegen den Beweis aufgefasst wird. Unglücklicherweise ist dieses dictum aber von zweifelhafter Relevanz für Anselms Beweis und an sich selbst bereits dunkel. Was soll es bedeuten, dass die Existenz keine reale Eigenschaft und auch kein solches Prädikat ist? Und wenn sie dies nicht ist, welche Relevanz hat dies für den Beweis? Warum sollte es Anselm kümmern, ob sie dies ist oder nicht? Vielleicht können wir Kant wie folgt verstehen. Der genannte Beweis beginnt mit der Behauptung, dass ein größtes Wesen im Verstand existiert; die Idee dahinter ist, dass dies soweit offenkundig ist, egal, ob dieses Wesen auch in der Wirklichkeit 593
Gott, Argumente für die Existenz von
existiert oder nicht (d.h. außerhalb des Verstandes, also ‚wirklich‘ existiert). Anselm schreitet nun mit dem Nachdenken über dieses Wesen fort, indem er vorbringt, dass ein Wesen mit solchen Eigenschaften, nämlich jener der maximalen Größe, nicht nur im Verstand existieren kann, sondern auch in der Wirklichkeit existieren muss. Der Beweis hängt also an der Vermutung, es gäbe ein größtes Wesen. Die Frage ist nun: existiert dieses Wesen wirklich? Man verwende die Bezeichnung ‚Aktualismus‘ für die Auffassung, dass es keine Dinge gibt und auch nicht geben kann, die nicht existieren; die existierenden Dinge sind allesamt solche, dies ‚es gibt‘. Man beachte: wenn dies wahr ist, dann ist die Existenz eine sehr spezielle Eigenschaft: sie ist redundant insofern, als sie von jeder anderen Eigenschaft impliziert wird; alles, was nur irgendeine Eigenschaft hat (einschließlich der Eigenschaft der maximalen Größe) ist auch im Zustand der Existenz. Wenn der Aktualismus aber wahr ist, dann kann der ontologische Beweis, wie er oben formuliert wurde, nicht funktionieren. Denn es ist nicht möglich, dass es Dinge gibt, die nicht existieren. Mit der eingangs vorgetragenen Prämisse, dass ein größtes Wesen mindestens im Verstand existiert, sagen wir aber bereits, dass ein größtes Wesen existiert (dass es ein solches Wesen ‚gibt‘), und verfallen somit dem Einwand der petitio principii. Wenn aber kein größtes Wesen existiert, dann gibt es schlechterdings kein solches Wesen. In diesem Falle können wir aber nicht, wie Anselm, eingangs voraussetzen, dass das maximal große Wesen zwar nicht in der Realität existiert, dann aber fortschreiten und sagen, dass dieses Wesen größer wäre, wenn es wirklich existieren würde. Wenn der Aktualismus wahr ist, dann ist die Existenz eine redundante Eigenschaft. Dann aber zu sagen, es gäbe ein größtes Wesen, das im Verstand existiert, heißt bereits zu sagen, dass wirklich ein größtes Wesen existiert. So könnte man vielleicht Kants rätselhafte Bemerkung als eine frühe Behauptung des Aktualismus ansehen. Natürlich würde Anselm hierauf erwidern, dass der Fehler nicht in seinem Beweis liegt; in jedem Falle gibt es Fassungen dieses Beweises, die nicht mit dem Aktualismus kollidieren. Charles Hartshorne behauptet, zwei recht unterschiedliche Fassungen des Beweises in Anselms Werk gefunden zu haben; die zweite Fassung ist zum Aktualismus konsistent und umgeht daher Kants Kritik. Diese Fassung geht von dem Gedanken aus, dass ein wirklich größtes Wesen eines wäre, dass ebenso groß wäre, selbst wenn sich die Dinge anders verhalten würden. Seine Größe ist stabil auch über mögliche Welten hinweg, um es in einer bildhaften und daher etwas irreführenden Weise zu sagen. Man gehe nun davon aus, dass einem Wesen maximaler Vorzug in einer gegebenen, möglichen Welt W zukommt, wenn und nur wenn es allmächtig, allwissend und vollkommen gut in W ist, und ferner davon, dass einem Wesen maximale Größe zukommt, wenn ihm ein maximaler Vorzug in jeder möglichen Welt zukommt. Dann ist die Prämisse des Beweises – auf diese Weise begründet – einfach: Maximale Größe ist möglicherweise exemplifiziert. Das heißt es ist möglich, dass es ein Wesen gibt, dem maximale Größe zukommt. Aber unter der weithin akzeptierten Auffassung, dass eine Aussage tatsächlich notwendig ist, wenn sie im weiten logischen Sinne möglicherweise notwendig ist, folgt unter Anwendung der gewöhnlichen modalen Logik, dass die maximale Größe nicht nur möglicherweise exemplifiziert ist, sondern tatsächlich. Denn die
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maximale Größe ist ausschließlich dann exemplifiziert, wenn es ein Wesen B gibt, von dem die Aussage B ist allmächtig und allwissend und vollkommen gut (d.h. ihm kommt maximaler Vorzug zu) notwendig wahr ist. Wenn die maximale Größe möglicherweise exemplifiziert ist, dann ist auch eine jede Aussage dieser Art möglicherweise notwendig. Nach dem oben genannten Prinzip ist alles, was möglicherweise notwendig ist, einfach notwendig; folglich ist diese Aussage notwendig wahr und deshalb wahr. So formuliert bricht das ontologische Argument keine Gesetze der Logik, erzeugt keine Verwirrung und ist vollständig immun gegen Kants Kritik. Die einzige verbleibende interessante Frage ist hier, ob die Prämisse, dass die maximale Größe möglicherweise exemplifiziert ist, tatsächlich wahr ist. Dies scheint allerdings eine rationale Behauptung zu sein; sie ist allerdings nicht so beschaffen, dass sie nicht ebenso rational bestritten werden könnte. Ein verbleibendes Problem bei dem Beweis ist vielleicht der Gedanke, dass der erkenntnistheoretische Abstand zwischen Prämisse und Konklusion zu gering ist. Versteht man einmal, wie der Beweis arbeitet, könnte man meinen, dass die Behauptung oder die Überzeugung der Prämisse bereits soviel ist wie die Behauptung oder die Überzeugung der Konklusion. Der schlaue Atheist wird sagen, dass er nicht von der Möglichkeit überzeugt sei, dass es ein größtes Wesen geben kann. Wäre eine solche Kritik aber nicht gegen jeden gültigen Beweis möglich? Man nehme irgendein gültiges Argument; sobald man versteht, wie es arbeitet, könnte man meinen, dass mit der Behauptung oder Überzeugung von der Prämisse auch schon die Behauptung oder Überzeugung von der Konklusion erledigt sei. Der ontologische Gottesbeweis bleibt also so verwickelt wie eh und je. 4. Teleologische Gottesbeweise Teleologische Gottesbeweise beginnen mit kontingenten Prämissen, die spezifischere Merkmale des Universums einbeziehen, d.h. Merkmale, die auf die eine oder andere Weise suggerieren, dass das Universum von einem bewussten und intelligenten Wesen entworfen wurde. Diese Beweise wurden oft in Verbindung mit der modernen Wissenschaft entwickelt. Sie wurden von einigen der Giganten der modernen Naturwissenschaften unterstützt, einschließlich Isaac Newton. Hier folgt eine klassische Darstellung des Beweises durch William Paley: „Angenommen, beim Durchwandern einer Heide stoße ich mit dem Fuß gegen einen Stein. Danach befragt, wie dieser Stein dort hingekommen sei, könnte ich antworten, dass nach allem, was ich wüsste, der Stein dort schon immer lag. Es wäre auch nicht gerade einfach, die Absurdität dieser Antwort zu beweisen. Angenommen nun, ich fände eine Uhr dort auf dem Boden liegend, und es soll jetzt untersucht werden, wie diese Uhr dorthin kam. Hier allerdings fiele mir kaum die Antwort ein, die ich zuvor gab, dass nämlich die Uhr, nach allem, was ich wüsste, schon immer dort gelegen hätte. Warum aber soll diese Antwort nicht genauso für die Uhr wie für den Stein taugen? Aus diesem und keinem anderen Grunde: Wenn wir die Uhr untersuchen, so nehmen wir wahr (was wir bei dem Stein nicht entdecken würden), dass seine Teile zu einem Zweck erdacht und zusammengefügt wurden.“ (‚Natural Theology‘, 1802)
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Paley weist dann darauf hin, dass das Universum und einige seiner Teile, beispielsweise lebende Dinge und ihre Organe, der Uhr ähneln, insofern sie den Eindruck erwecken, dass sie zur Erfüllung gewisser Zwecke entworfen worden seien. Ein Auge ähnelt beispielsweise einem extrem feinen und klugen Mechanismus, der entworfen wurde, um seinen Eigentümer sehend zu machen. Der einzige seriöse Kandidat für den Posten des Gestalters des Universums sei allerdings Gott. Kant, der wenig mehr als Verachtung für die kosmologischen und ontologischen Gottesbeweise übrig hatte, tat diesen nicht einfach ab. Er wies den Beweis zwar zurück, hob allerdings hervor, dass er höchstens zeige, dass es einen Gestalter oder Architekten des Universums gäbe; und es sei ein langer Weg von einem Gestalter zu dem Gott der theistischen Religionen, d.h. einem allmächtigen, allwissenden, vollkommen guten Schöpfer der Welt, durch dessen Macht das Universum ins Sein kam. Natürlich ist das Bild eines kosmischen Architekten – also ein Wesen, das unser gesamtes Universum entworfen hat, mit allen seinen Elementen über viele Größenordnungen hinweg, von gigantischen Galaxien bis zur allerkleinsten Sache, die wir kennen – keine simple Konklusion in dem hier vorliegenden Beweisfall, und es wirkt etwas flegelig, diesen Beweis mit einer Handbewegung wegzuwischen, nur um darauf hinzuweisen, dass es etwas noch Stärkeres geben könnte, was dieser telelogische Beweis nicht zeigt. 5. Teleologische Gottesbeweise (Fortsetzung) Viele Menschen haben den teleologischen Gottesbeweis jedoch sogar als einen Beweis für die Existenz eines Gestalters zurückgewiesen. Seine Verfechter im 18. Jahrhundert wiesen immer und immer wieder auf die offenkundige Teleologie der biologischen Welt hin. Doch Darwin räumte mit all dem auf, so meinen die Kritiker. Wir wissen nun, dass der offenkundige Entwurf der Welt der lebenden Dinge nur als solcher erscheint. Die enorme Vielfalt der Flora und Fauna, deren sehr entwickelte und artikulierte Mechanismen und stark detaillierten Systeme und Organe, wie beispielsweise das Auge des Säugetiers und das menschliche Gehirn, rufen mit Macht den Eindruck einer Gestaltetheit hervor. Tatsächlich sind sie jedoch das Ergebnis eines solchen blinden Mechanismus wie der genetischen Mutation und natürlichen Auswahl. Die Idee dahinter ist, dass es eine Quelle der genetischen Variation gibt, die Mutationen in der Struktur und Funktion existierender Organismen bewirkt. Die meisten dieser Mutationen sind unnütz; einige wenige sind anpassungsgeeignet, und ihre glücklichen Träger erlangen daraus einen Anpassungsvorteil, der schließlich in einer Population vorherrschend wird. Setze man genügend Zeit an, so lautet die Geschichte, könne dieser Prozess all die wunderbare Komplexität und alle jene Details hervorbringen, die das gegenwärtige Leben der Welt ausmachen (siehe Evolution, Theorie der). Natürlich gibt es wenig wirkliche Beweise, dass dieser Prozess tatsächlich so viel zu leisten vermag; und natürlich sind wir bisher nicht in der Lage, diesem Prozess so weit zu folgen, dass wir beobachten könnten, wie beispielsweise Vögel oder Säugetiere aus Reptilien hervorgehen, oder gar Menschen aus seinen affenartigen Vorgängern. Und selbst wenn wir den Verlauf der Geschichte des Lebendigen verfolgen könnten, d.h. sogar wenn wir z.B. einen detaillierten Filmbericht davon hätten, würde dies doch keineswegs zeigen, dass blinde Mechanismen tatsächlich für diese Art von Wirkung ausreichen. Denn natürlich würde nichts in diesem Film auf596
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scheinen, was uns beweisen könnte, dass diese zufälligen genetischen Mutationen nicht in Wirklichkeit von Gott geleitet und begleitet waren. Die Kritik am teleologischen Beweis behauptet allerdings nicht, dass tatsächlich die Evolution genau durch diese blinden Mechanismen hervorgebracht worden sei, sondern dass es so gewesen sein könnte; wenn dies behauptet werden kann, so gibt es eine reale Alternative zum göttlichen Entwurf. Dass diese Mechanismen wirklich Effekte dieser Größenordnung hervorrufen konnten, ist alles andere als klar. Wir haben wenig Anlass zu der Annahme, dass es einen Pfad durch den Möglichkeitsraum der Tierentwürfe gibt, der genau vom Bakterium zum Menschen führt, und zwar so, dass jeder neue Schritt sowohl anpassungsgeeignet ist, als auch von der jeweils vorangehenden Stufe aus in einer Weise erreichbar, die wir verstehen. Dennoch stellt die Vorstellung eines natürlichen Kandidaten für den Posten des Erzeugers des angeblichen Entwurfs den teleologischen Gottesbeweis in Frage. Die organische Evolution betrifft aber nur ein Gebiet des angeblichen Entwurfs. Es gibt auch noch die Frage nach dem Ursprung des Lebens; selbst die einfache, einzellige Kreatur (Prokaryoten, wie z.B. Bakterien und bestimmte Algen) sind enorm komplex und sehen bei näherer Betrachtung für jedermann so aus, als wären sie entworfen. Es ist deshalb angemessen zu sagen, dass bislang niemand auch nur eine annehmbare Idee hat, wie diese Kreaturen zustande gekommen sein könnten lediglich durch reguläre Vorgänge der Physik oder Chemie. Ferner ist noch Vieles im Zusammenhang mit dem so genannten fine tuning des Universums zu bedenken. Zunächst haben wir hier das Problem der ‚Flachheit‘: die Massedichte des Universums ist gegenwärtig sehr nahe der Grenzlinie zwischen einem offenen und einem geschlossenen Universum (d.h. einem, dass sich entweder auf immer ausdehnt, oder eines, dass sich bis zu einer gewissen Größe ausdehnt und dann wieder kollabiert). Das Verhältnis zwischen den Expansions- und den Kontraktionskräften beträgt beinahe 1. Dann aber, kurz nach dem Urknall, hätte sich dieser Wert bereits innerhalb einer sehr kleinen Bandbreite bewegen müssen. Deshalb sagt Stephen Hawking in seinem Buch ‚The Antisotropy of the Universe at Large Times‘ (1974): Die Verringerung der Expansionsrate um 1/1012 zu einem Zeitpunkt, als die Temperaturen des Universums 1010 Grad Kelvin betrugen, hätten zu einem Start des Universums geführt, der einen Kollaps bereits bei einem Radius von nur 1/3000 des gegenwärtigen Wertes herbeigeführt hätte, und wo die Temperatur immer noch 10.000 Grad Kelvin betrug, also viel zu warm war für die Entwicklung von Leben. Andererseits hätte sich das Universum, wenn die Expansionsrate nur um ein Winziges größer gewesen wäre, viel zu schnell ausgebreitet, um Sterne und Galaxien bilden zu können, die wiederum notwendig sind zur Bildung schwerer Elemente, die ihrerseits notwendig sind für die Bildung von Leben. Eine weitere Art des fine tunings war ebenfalls notwendig, nämlich jenes der fundamentalen physikalischen Konstanten. Wenn irgendeine der vier Fundamentalkräfte (schwache und starke Kernenergie, elektromagnetische Kraft, Gravitation) nur um einen winzigen Betrag anders bemessen wäre, hätte das Leben im Universum keine Chance; auch sie müssen mit einer fast unglaublichen Genauigkeit fein aufeinander abgestimmt sein. Und wiederum lautet hier der Vorschlag, dass in Anbetracht der unendlichen Bandbreite möglicher Werte für die fundamentalen Konstanten ein Entwurf vorliegt infolge der Tatsache, dass die aktuellen Werte in diesen extrem engen Wertebereich fallen, der die Entwicklung intelligenten Lebens erlaubt. 597
Gott, Argumente für die Existenz von
Hierauf gibt es jedoch eine naturalistische Entgegnung. Seit den 1970er Jahren wurden zahlreiche Arten ‚inflationärer‘ Szenarios entworfen. Diese postulieren zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Bildung vieler verschiedener Universen oder Subuniversen mit unterschiedlichen Expansionsraten und unterschiedlichen Werten für die fundamentalen Konstanten. Diese inflationären Modelle gehen teilweise auf den Wunsch nach Vermeidung von physikalischen Singularitäten und den damit einhergehenden, angeblichen Entwurfscharakter zurück. Wenn alle möglichen Werte für die fundamentalen Konstanten und die Expansionsrate wirklich in unterschiedlichen Subuniversen exemplifiziert wären, dann bedürfte die Tatsache, dass es ein Subuniversum mit den Werten gibt, die das unsrige aufweist (also unser Universum) keiner weiteren Erklärung, und auch nicht der Annahme eines Gestalters. Viele dieser Szenarien sind wild spekulativ und unberührt von jeglicher empirischer Evidenz. Sie tendieren aber dazu (sofern dies physikalisch annehmbar ist), das fine-tuningArgument zu entschärfen. Jemand, der bereits an Gott glaubte und keinen Grund sah, die Vorstellung eines Weltentwurfs auszumerzen, wird geneigt sein, diesen Vorschlag als metaphysisch extravagant zurückzuweisen. Es gibt gleichwohl auch hier Gegenargumente; die Diskussion geht weiter. Es ist gegenwärtig schwer, ein Urteil über die Aussichten dieser Formen des Beweises zu fällen. Der teleologische Beweis scheint eine enorme Vitalität zu besitzen; sein Tod wurde oft vorhergesagt, aber der Beweis erscheint normalerweise daraufhin wieder in neuer Form. Im Sinne einer abschließenden Bewertung kommt vielleicht das Beste von Kant, der sagte, dass dieser Beweis „der älteste, klarste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene“ (‚Kritik der reinen Vernunft, B 651 / A 623) sei. 6. Andere Gottesbeweise Wir haben nunmehr die großen Drei unten den Gottesbeweisen untersucht. Es gibt jedoch noch viel mehr. Zunächst gibt es auch moralische Beweise, und zwar zumindest in zweierlei Art. Dies sind die Beweise, dass das Wesen der Moral selbst, d.h. der unbedingte Charakter der moralischen Gesetze einen göttlichen Gesetzgeber voraussetzt. Man mag durchaus von Folgendem überzeugt sein: (a) Die Moral ist objektiv, d.h. nicht abhängig von dem, was Menschen wissen oder denken oder tun. Man mag darüber hinaus auch von Folgendem überzeugt sein: (b) Der objektive Charakter der Moral kann nicht im Rahmen irgendwelcher sog. ‚natürlicher‘ Tatsachen über die Menschen (oder anderer Dinge) erklärt werden; deshalb kann es so etwas wie eine objektive Moral nicht geben, solange es keinen Gott gibt, der diese anordnet. Damit hat man bereits einen Gottesbeweis aus dem Wesen der Moral. Dieser Beweis kann in eine von zwei Richtungen gehen: einige Menschen meinen, wir können einfach sehen, dass moralische Verpflichtung unmöglich außerhalb eines göttlichen Willens und Gesetzgebers ist, während andere denken, dass die Abhängigkeit der moralischen Verpflichtung vom Willen Gottes die beste Erklärung für ihre Objektivität und ihre spezifisch deontologische Kraft ist. Ein zweiter Haupttypus des moralischen Gottesbeweises geht auf Kant zurück, der erstens vorträgt, dass die Tugenden proportional mit Glück belohnt zu werden verdienen; je tugendhafter jemand ist, umso glücklicher verdient er zu sein. Die 598
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Natur an sich selbst scheint jedoch keinerlei Zusammenspiel dieser Art zu garantieren. Wenn die Moral nun Sinn machen soll, so muss angenommen werden, dass es ein solches Zusammenspiel gibt. Die Praktische Vernunft ist daher berechtigt, ein übernatürliches Wesen mit genügendem Wissen, Macht und Güte zu postulieren, um sicherzustellen, dass wir das Glück erhalten, dass wir als Belohnung für unsere Tugendhaftigkeit verdienen. So gesehen ist dies ein Beweis um der Rationalität einer Annahme willen, dass es ein Wesen dieser Art gibt; dies ist nicht wirklich ein Beweis für die reale Existenz eines solchen Wesens. Dieser Beweis wurde von zahlreichen Seiten kritisiert: einige meinen, dass wir nicht annehmen dürften, es gäbe eine Entsprechung von Tugend und Glück, um daraufhin ein tugendhaftes Leben zu führen. Andere (z.B. viele Christen) meinen, dass sowohl das Glück, als auch die Fähigkeit zu einem tugendhaften Leben Geschenke der Gnade sind, und dass wir, wenn wir wirklich bekämen, was wir verdienen, alle ziemlich elend leben würden. Es gibt viele weitere Gottesbeweise, solche ausgehend vom Wesen der richtigen Funktion, vom Wesen der Aussagen, der Zahlen und Mengen, von der Intentionalität, von den kontrafaktischen Aussagen, vom Zusammenfluss der epistemischen Verlässlichkeit mit der epistemischen Rechtfertigung, von der Schlussfolgerung, von der Einfachheit, von der Intuition, der Liebe, den Farben und Geschmacksrichtungen, den Wundern, dem Spiel und Spaß, der Moral, der Schönheit, dem Sinn des Lebens, und sogar von der Erkenntnis des Bösen. Der Platz reicht nicht aus, um alle diese Beweise auch nur zu skizzieren. Also werden wir nur auf drei von ihnen einen näheren Blick werfen. Zunächst ist da der Beweis der Intentionalität (oder der Gerichtetheit-auf-Etwas). Man betrachte Aussagen wie: die Dinge, die wahr oder falsch sind, können geglaubt werden, und dies beides steht in einer logischen Verbindung miteinander. Aussagen haben aber noch eine weitere Eigenschaft, nämlich die Gerichtetheit-aufEtwas oder Intentionalität. Sie repräsentieren die Wirklichkeit oder einen Teil von ihr in dem Sinne, dass sie so oder so beschaffen sei, und wegen dieser Eigenschaft sind die Aussagen (im Gegensatz z.B. zu den Mengen) wahr oder falsch. Die meisten, die über diesen Gegenstand nachgedacht haben, fanden es unglaubwürdig, dass Aussagen unabhängig von der Aktivität des Geistes existieren können sollten. Wie könnten sie einfach da sein, wenn sie nicht zuvor gedacht wurden? Ferner scheint die Repräsentation von Dingen als etwas, was so oder anders beschaffen ist, also das Sein-von-Etwas, eine Eigenschaft oder Aktivität des Geistes oder vielleicht von Gedanken zu sein. Es ist deshalb außerordentlich plausibel, die Aussagen für etwas ontologisch von der mentalen oder intellektuellen Aktivität Abhängiges zu halten, und zwar auf eine Art, dass sie entweder selbst Gedanken sind, oder aber zumindest nicht ohne Gedanken an sie existieren können. Aussagen können aber keine menschlichen Gedanken sein; dafür gibt es viel zu viele von ihnen. (Für jede reale Zahl r gibt es beispielsweise die Aussage, dass r sich vom Kölner Dom unterscheidet.) Folglich ist die einzig gangbare Möglichkeit, dass sie göttliche Gedanken sind, d.h. Gottes Gedanken (so dass wir, wenn wir denken, buchstäblich Gottes Gedanken ihm nachdenken). Zweitens gibt es den Gottesbeweis ausgehend von der Menge. Viele stellen sich Mengen so vor, dass sie die folgenden Merkmale aufweisen: (1) keine Menge ist Element ihrer selbst; (2) Mengen kommt ihre Extension (anders als Eigenschaften) als wesentliches Merkmal zu, folglich sind viele Mengen kontingente Wesen, und 599
Gott, Argumente für die Existenz von
keine Menge könnte existiert haben, wenn eines von ihren Mitgliedern nicht existiert hätte; (3) Mengen bilden eine sich wiederholende Struktur: auf der ersten Stufe gibt es Mengen, deren Mitglieder keine Mengen sind; auf der zweiten Stufe Mengen, deren Mitglieder Nichtmengen oder Mengen erster Stufe sind usf., bis zur n-ten Stufe, wo es Mengen gibt, deren Mitglieder Nichtmengen oder Mengen von Mengen mit einem Index kleiner als n sind, und so weiter. Es ist ebenfalls ganz selbstverständlich, sich Georg Cantor anzuschließen, dem Vater der modernen Mengenlehre, indem man Mengen als Zusammenfassungen auffasst, d.h. als Dinge, deren Existenz von einer gewissen Art geistiger Aktivität abhängt, einem Sammeln und ‚Zusammendenken‘, wie Cantor dies nennt. Wenn Mengen Zusammenfassungen zu einer Gesamtheit sind, so würde dies erklären, warum sie die ersten drei der genannten Merkmale aufweisen. Es gibt aber natürlich viel zu viele Mengen, als dass sie alle ein Produkt des menschlichen Zusammendenkens sein könnten. Es gibt viele Mengen, von denen nie jemals ein Mensch alle ihre Mitglieder zusammengedacht hat, und sogar viele solche, von denen ein Mensch sie jemals zusammendenken könnte. Dies würde einen unendlichen Geist voraussetzen – eben einen solchen wie den von Gott. Für ein drittes Beispiel betrachte man den Beweis ausgehend vom schockierenden Bösen. Viele Philosophen bieten antitheistische Beweise ausgehend vom Bösen an, und vielleicht haben manche von ihnen die Kraft zur Gültigkeit. Es gibt aber einen positiven Gottesbeweis ausgehend vom Bösen. Die Prämisse lautet hier, dass es wirklich und objektiv schreckliches Übel auf der Welt gibt. Beispiele wären bestimmte Arten schockierender böser Merkmale von Nazi-Konzentrationslagern: Wachen haben Spaß an der Durchführung von Folter, lassen Mütter darüber entscheiden, welches ihrer Kinder in die Gaskammer soll und welches verschont werden soll; kleine Kinder wurden gehängt und starben infolge ihres geringen Gewichts einen langsamen und peinvollen Tod; Opfer wurden mit der Behauptung verhöhnt, dass niemals jemand etwas über ihr Schicksal erfahren würde und wie sie behandelt worden seien. Natürlich haben die Nazi-Konzentrationslager kein Monopol auf diese Art des Bösen; es gab auch Mao Tse Tung, Stalin, Pol Pot und Tausende kleinerer Schurken. Diese Sachverhalte, so meint man, sind objektiv erschreckend in dem Sinne, dass sie selbst dann noch ein enormes Übel darstellen würden, wenn wir und jedermann sonst sie perverserweise gutheißen würden. Der Naturalismus verfügt nicht über die Mittel, diese tatsächlichen Sachverhalte zu vermitteln oder zu erklären. Von einem naturalistischen Standpunkt aus gesehen ist alles, was man sagen kann, dass wir sie wirklich hassen. Es genügt aber noch lange nicht, sie als etwas intrinsisch Schreckliches anzusehen. Wie können wir diese intrinsisch schreckliche Eigenart verstehen? Am Ende kann genauso viel Elend und Leid durch einen krebsverursachten Tod wie durch die Niedertracht eines anderen Menschen geschehen. Jene, die sich an solchen Formen des Bösen beteiligen, bestimmen sich selbst, diese niederträchtigen Dinge zu tun. Aber warum ist dies objektiv schrecklich? Eine gute Antwort darauf (und eine, für die man sich nur schwer eine Alternative ausdenken kann) ist es, dass dieses Böse ein Trotz gegenüber Gott ist, der Quelle von allem Guten und Gerechten und dem ersten Wesen des Universums. Das Schreckliche ist hier nicht einfach der Widerspruch gegen Gottes Willen, sondern die bewusste Entscheidung zu einer Umkehrung des Maßstabs aller Werte, d.h. die ausdrückliche Beabsichtigung dessen, was Gott verhasst ist. Dies sei 600
Gott, Begriff von
eine Beleidigung und ein Affront gegenüber Gott; es sei der Widerstand gegen Gott selbst, und deshalb sei es objektiv schrecklich. Das erschreckende Böse habe deshalb eine Art von kosmischer Bedeutung. Aber natürlich könnte kein Böses dieser Art sein, wenn es nicht ein göttliches Wesen gäbe. Siehe auch: Agnostizismus; Atheismus; Deismus; Gott, Begriffe von; Naturtheologie
Anmerkungen und weitere Lektüre: Craig, W. (1980): ‚The Cosmological Argument from Plato to Leibniz‘. London: Macmillan. (Eine hervorragende geschichtliche Darstellung des kosmologischen Arguments, insbesondere bei den Fassungen der arabischen und jüdischen Philosophen.) Plantinga, A. (1974): ‚The Nature of Necessity‘. Oxford: Clarendon Press. (Enthält eine Fassung des ontologischen Gottesbeweises auf der Grundlage einer Metaphysik der Modalität, nämlich der möglichen Welten, die immun ist gegen Kants Kritik, wie präzise sie auch immer formuliert sein mag.) Swinburne, R. (1979): ‚The Existence of God‘. Oxford: Oxford University Press. (Enthält eine sehr vollständige und ausgeklügelte Fassung des teleologischen Gottesbeweises auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeit.) ALVIN PLANTINGA
Gott, Begriffe von
Wir denken Gott als eine äußerste Form von Wirklichkeit, als die Quelle oder den Grund von allem anderen, als etwas Vollkommenes, das Anbetung verdient. Eine solche Konzeption Gottes ist sowohl der östlichen, als auch der westlichen Religion gemein. Einige führen dies auf die menschliche Psyche oder menschliches Sozialverhalten zurück; Freud betrachtete Gott als die Wunsch erfüllende Projektion einer vollkommenen, tröstenden Vaterfigur. Marx sah den Gottesglauben als ein Produkt der kapitalistischen Struktur der Gesellschaft. Gläubige führen ihren Glauben allerdings auf religiöse Erfahrung, geoffenbarte oder autoritative Texte und rationale Reflexion zurück. Philosophen füllen den Begriff Gottes aus, indem sie Schlüsse aus der behaupteten Beziehung Gottes zum Universum ziehen (die sog. ‚Theologie der ersten Ursache‘), und indem sie behaupten, dass Gott ein vollkommenes Wesen sei. Die Theologie der Vollkommenheit ist die grundlegendere Methode. Ihre Geschichte erstreckt sich von Platon und Aristoteles über die Stoiker bis in die christliche Tradition so früher Autoren wie Augustinus und Boethius. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Unterstützung solcher ontologischer Gottesbeweise wie jenem von Anselm und Descartes. Sie stützt sich auf vier basale Intuitionen: jene, dass vollkommen zu sein vollkommenes Sein impliziert; jene, dass dies die Vollständigkeit einschließt, und jene, dass dies das persönliche Sein einschließt. Unterschiedlich gewichtet ergeben diese Intuitionen unsere Begriffe von Gott. Kritiken an der Theologie der Vollkommenheit haben sich sowohl auf die Möglichkeit konzentriert, dass die Menge der Eigenschaftskandidaten für die göttliche Vollkommenheit nicht konsistent oder einzigartig sein könnte, und Zweifel wurden angemeldet, ob das menschliche Urteil überhaupt geeignet ist, um Begriffe von Gott bilden zu können. Ein weiteres Problem mit dieser Methode ist, dass unterschiedliche Darstellungen der Vollkommenheit auch unterschiedliche Darstellungen von 601
Green, Thomas Hill (1836–1882)
Gott ergeben: Ibn Sina und Ibn Rushd scheinen Gott z.B. für etwas gehalten zu haben, das umso vollkommener ist, als ihm bestimmtes Wissen fehlt, während die meisten christlichen Autoren überzeugt sind, dass Vollkommenheit auch Allwissenheit voraussetzt. Auch die Auffassungen von Gottes Beziehung zum Universum unterscheiden sich stark. Die Pantheisten sagen, dass Gott das Universum ist. Die Pantheisten wiederum behaupten, dass Gott das Universum enthält, oder zu ihm in einer Beziehung wie die Seele zum Körper steht. Sie schreiben Gott die Grenzen zu, die mit dem Person-Sein zusammenhängen, wie beispielsweise die begrenzte Macht und begrenztes Wissen, wenden aber ein, dass das Person-Sein nichtsdestotrotz ein Zustand der Vollkommenheit ist. Andere Philosophen sagen wiederum, dass Gott etwas vollkommen anderes als das Universum ist. Einige der Letzteren denken, dass Gott das Universum ex nihilo schuf, d.h. aus einem nicht zuvor existierenden Stoff. Andere fügen hinzu, dass Gott das Universum in seinem Sein von Moment zu Moment bewahrt und somit Vorsorge für seine Geschöpfe trägt. Noch andere denken, dass Gott einiges zuvor existierendes Material ‚fand‘ und es schuf, indem er es stufenweise verbesserte; diese Auffassung geht zurück auf den Mythos des Demiurgen in Platons ‚Timaios‘, und sie bringt auch mit sich, dass Gott die Zukunft vorhersieht. Im Gegensatz dazu bestreiten die Theisten die Vorsehung und meinen, dass Gott das Universum nach Abschluss der Schöpfung sich selbst überließ. Und wieder andere werfen ein, dass Gott weder jetzt noch jemals an der Welt beteiligt war. Der gemeinsame Faden liegt im Begriff der Vollkommenheit: die Denker setzen Gott zum Universum auf eine solche Weise in Beziehung, dass ihre Gedanken über die Vollkommenheit Gottes am besten dazu passen. Siehe auch: Dreifaltigkeit; Epikureismus; Gott, Argumente für die Existenz von; Kabbalah Pantheismus BRIAN LEFTOW
Gournay, Marie de Siehe: Feminismus (§ 2)
Green, Thomas Hill (1836–1882)
Green war ein prominenter, idealistischer Philosoph in Oxford, der sowohl die erkenntnistheoretischen, als auch die ethischen Konsequenzen der vorherrschenden empiristischen und utilitaristischen Theorien seiner Zeit kritisch beurteilte. Er wandte ein, dass die Erfahrung nicht allein als das Produkt der Wahrnehmung, die auf den menschlichen Geist einwirkt, erklärt werden kann. Wie Kant argumentierte Green, dass Wissen gewisse apriorische Kategorien voraussetzt wie z.B. die Substanz, die Kausalität, den Raum und die Zeit, die uns in die Lage versetzen, unser Verständnis der empirischen Wirklichkeit zu verstehen. Physische Gegenstände und sogar die meisten einfachen Gefühle seien nur verständlich, wenn man sie als Beziehungen unserer Vorstellungen verstehe, die durch das menschliche Bewusstsein gebildet werden. Anders als Kant zog er jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass die Dinge an sich folglich unerkennbar seien. Stattdessen meinte er, dass die Wirklichkeit selbst letztlich geistiger Art sei, d.h. das Produkt eines ewigen Bewusstseins, dass sowohl innerhalb der Welt, als auch innerhalb der menschlichen Vernunft am Werke sei. Green nahm eine ähnliche antinaturalistische und holistische Haltung in der 602
Grice, Herbert Paul (1913–1988)
Ethik ein, in der er die Wünsche als etwas darstellt, dass auf die Realisierung des Guten gerichtet sei, und zwar sowohl beim einzelnen Menschen, als auch in der Gesellschaft im Großen. In der Politik führte ihn dies zur Kritik des Laissez-faire des individualistischen Liberalismus von Herbert Spencer, und in geringerem Umfange auch von J. S. Mill, und zum Eintreten für einen stärker kollektivistisch geprägten Liberalismus, in dem der Staat sich um die Förderung der positiven Freiheit seiner Mitglieder bemüht. Siehe auch: Empirismus; Freiheit; Hegelianismus; Naturalismus in der Ethik RICHARD BELLAMY
Grice, Herbert Paul (1913–1988)
Grice war ein führendes Mitglieder der Oxforder Nachkriegsgruppe der analytischen Philosophen. Der schmale Umfang seiner veröffentlichten Arbeiten im Zusammenspiel mit einer mündlichen Überlieferung seiner Lehre war enorm einflussreich sowohl unter Philosophen, als auch unter theoretischen Linguisten. Sein Entwurf der allgemeinen Gesprächsregeln eröffnete eine neue Ära des Studiums der Sprachanwendung. Grice’ Analyse der Bedeutung von Gesprochenem erklärt semantische Vorstellungen auf der Grundlage der psychologischen Begriffe der Intention und der Überzeugung. Seine Theorie des Gesprächs beruht auf dem Wesen der Sprache als einer rationalen, kooperativen Aktivität. Seine Darstellung der Gesprächsregeln gab ihm ein Werkzeug an die Hand, das er auf eine ausgedehnte Klasse philosophischer Probleme anwendete. Obwohl Grice vor allem für seine Arbeit über die Sprache und Bedeutung berühmt wurde, deckte sein Interesse den ganzen Bereich philosophischer Gegenstände ab, einschließlich der Ethik, der Moralpsychologie und der philosophischen Psychologie. Siehe auch: Analytische Philosophie; Kommunikation und Intention JUDITH BAKER
Griechische Philosophie Siehe: Antike Philosophie
Grosseteste, Robert (ca. 1170–1253)
Grossetestes Denken ist repräsentativ für die miteinander im Widerstreit stehenden Strömungen des intellektuellen Klimas im Europa des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Auf der einen Seite macht ihn sein Bemühen, seinen lateinischen Zeitgenossen die Texte und Ideen der neu entdeckten arabischen und griechischen intellektuellen Überlieferungen zwecks Erwerb und Verständnis zugänglich zu machen, zu einem führenden Mitglied jener sehr wirksamen Bewegung, die das europäische Denken während seines Lebens transformierte. Seine Arbeit in den Wissenschaften und der Naturphilosophie ist beispielsweise von Material beeinflusst, was ganz neu aus arabischen Quellen übersetzt worden war, und auch von der neuen aristotelischen Naturphilosophie, insbesondere der ‚Physik‘, ‚De caelo‘ und der ‚Zweiten Analytik‘ (Aristoteles’ Abhandlung über das Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis). Auf ähnliche Weise wendet sich Grosseteste in der Metaphysik, der Ethik und der Theologie den antiken Quellen zu, die den westlichen Denkern zuvor unbekannt oder nur unvollständig bekannt waren, z.B. der aristotelischen ‚Ethik‘ und den Schriften des Pseudo-Dionysos. Seine Arbeit als Übersetzer und als Kommentator von Aristoteles stellt Grosseteste auf eine Stufe mit den Pionieren der Integration dieser wichtigen
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Grotius, Hugo (1583–1645)
Stränge des griechischen intellektuellen Erbes in die Hauptströmungen des europäischen Denkens. Auf der anderen Seite sind Grossetestes Auffassungen in bedeutenden Hinsichten konservativ. Am meisten verdankte er Augustinus, und seine originellsten Ideen, wie z.B. seine Auffassung, dass das Licht ein grundlegender Bestandteil aller körperlichen Wirklichkeit ist, sind Erweiterungen von augustinischen Themen, die man noch in ihnen erkennt. Darüber hinaus ist sein Ansatz, obwohl seine Arbeit über Aristoteles bahnbrechend war, wohlüberlegt und maßvoll. Sie enthält keinerlei Hinweis auf den Eifer der Kreuzfahrer, der sonst die Arbeiten der späteren, radikaleren Aristoteliker kennzeichnet. Im Allgemeinen ist seine Praxis im Einklang mit der überlieferten neuplatonischen Linie, die Aristoteles als einen Führer zur Logik und zur Naturphilosophie sieht, während sie sich dem Platonismus – in Grossetestes Fall dem augustinischen und pseudo-dionysischen Platonismus – zwecks korrekter Darstellung der hochfliegenden Gegenstände der Metaphysik und der Theologie zuwendet. Siehe auch: Augustinus SCOTT MACDONALD
Grotius, Hugo (1583–1645)
Grotius trug als Gelehrter, insbesondere als Rechtsgelehrter und Staatsmann, zu einer Reihe unterschiedlicher Disziplinen etwas bei. Seine Reputation als der Begründer sowohl der neuen internationalen Ordnung, als auch einer neuen Moralwissenschaft beruht vor allem auf seinem Werk ‚De iure belli ac pacis‘ (dt.: ‚Das Gesetz von Krieg und Frieden‘, 1625). Obwohl man heute dazu tendiert, Grotius nur als eine Figur neben anderen bei der Entwicklung des Begriffs des internationalen Rechts zu sehen, wird er andererseits in steigendem Maße als einer der originellsten Moralphilosophen des 17. Jahrhunderts betrachtet, insbesondere als derjenige, der die Grundlagen für die postskeptische Doktrin des Naturrechts schuf, das während der Aufklärung erblühte. Siehe auch: Krieges und des Friedens, Philosophie des; Pufendorf, S.; Recht, Philosophie des; Rechte; Römisches Recht J. D. FORD
Gründe und Ursachen
Siehe: Ursachen und Gründe
‚Grüne‘ Ethik
Siehe: Umweltethik
Gurney, Edmund (1847–1888)
Edmund Gurney war ein englischer Psychologe und Musiker. Seine größte Arbeit, ‚The Power of Sound‘, ist eine ausgedehnte Abhandlung über die musikalische Ästhetik, die von Fragen der Physiologie des Hörens bis zu solchen der Beziehung von Musik und Moral reicht. Ihr größter Teil ist allerdings zentralen Fragen der Form, des Ausdrucks und des Wertes in der Musik gewidmet. Es handelt sich dabei – neben Hanslicks Buch ‚Vom musikalisch Schönen‘ von 1854 – um die bedeutendste Arbeit dieser Art in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kommentatoren nennen häufig Gurney in einem Atemzug mit Hanslick als Verfechter des musikalischen Formalismus. Die Ansichten des Ersteren über die expressiven Dimensionen der Musik sind weder so eingeschränkt, noch so doktrinär wie 604
Guten, Theorien des
jene von Hanslick. Hanslick bestand auf der Leugnung eines spezifisch emotionalen Inhalts der Musik und gestand ihr lediglich die Übermittlung dynamischer Merkmale zu, die den Emotionen und anderen Dingen möglicherweise zukommen. Gurney gibt dagegen zu, dass Musik manchmal auch einen recht bestimmten emotionalen Ausdruck besitzt. Deshalb diskutiert er ausführlich die Gründe solchen Ausdrucks. Ihm geht es vor allem darum zu zeigen, dass die musikalische Impressivität oder Schönheit weder dasselbe wie die musikalische Expressivität ist, noch von ihr abhängt. Gurney ist der Auffassung, dass die allgemeine Form der Musik nicht von erstrangiger Bedeutung für ihre Wertschätzung ist. Dies sei deshalb der Fall, weil das zentrale Merkmal musikalischer Auffassung das Begreifen einzelner Teile in ihrer Erscheinung ist, und das Begreifen von Verbindungen zu unmittelbar benachbarten Teilen, was auch immer die alles überspannende Form eines Stückes sein mag. Der Wert eines Stückes steht in direkter Funktion mit seiner Fähigkeit, Freude oder Lust an seinen einzelnen Teilen zu verschaffen und hinsichtlich der Folgen beim Übergang von einem Teil zum nächsten zu überzeugen; er sei mithin keine Funktion der umfassenden Architektur des Stückes. Siehe auch: Gefühle als Antwort auf Kunst; Formalismus in der Kunst; Kunst, Verständnis von; Künstlerischer Ausdruck; Musik, Ästhetik der JERROLD LEVINSON
Gute und Richtige, Das
Siehe: Richtige und Gute, Das
Guten, Theorien des
‚Das Gute‘ ist die allgemeinste Bezeichnung einer positiven Bewertung, die in weit auseinander liegenden Zusammenhängen verwendet wird, um etwas zu empfehlen oder seine Zustimmung auszudrücken. Es zeigt an, dass etwas wünschenswert ist, oder dass sich seine Wahl empfiehlt, so dass normalerweise, wenn ein Grund dafür gegeben ist, etwas Bestimmtes zu wollen, man auch Grund dazu hat, die gute Variante davon zu bevorzugen. Eine Theorie des Guten könnte in einer allgemeinen Darstellung des Guten bestehen, die auf alle guten Dinge anwendbar wäre; oder in einer Definition des ‚Guten‘ an sich, also eine Darstellung, wie dieser Ausdruck in der Sprache verwendet wird. Theorien des Guten haben metaphysische Auswirkungen hinsichtlich der Beziehungen von Tatsachen und Werten. Viele antike und mittelalterliche Philosophen glaubten an die letztliche Identität des Wirklichen und des Guten. Die moderne Philosophie lehnt eine solche Identifikation ab und nimmt stattdessen viele unterschiedliche Haltungen ein. Die Realisten beispielsweise meinen, dass das Gute ein Teil der Wirklichkeit ist, während manche Theoretiker des Moralempfindens der Auffassung sind, dass wir, wenn wir etwas gut nennen, schlicht menschliche Interessen auf die Wirklichkeit projizieren; und die Emotivisten meinen, dass wir den Ausdruck ‚gut‘ nur zum Ausdruck einer subjektiven Zustimmung verwenden. Die Theoretiker des Guten unterscheiden ferner die Arten des Guten und erklären, wie sie aufeinander bezogen sind. Gute Dinge werden üblicherweise als Ziele oder Zwecke eingestuft, die um ihrer selbst willen bewertet werden, oder Mittel, die um des Ziels oder Zwecks willen bewertet werden, dem sie dienen. Einige Philosophen teilen diese noch in intrinsisch und extrinsisch Gutes auf, wobei Ersterem 605
Guten, Theorien des
sein Wert an sich selbst zukommt, und Letzterem infolge seiner Beziehung zu etwas anderem. Verschiedene Theorien wurden über die Beziehungen dieser beiden Unterscheidungen aufgestellt: ob beispielsweise ein Ziel etwas sein muss, was einen intrinsischen Wert hat. Die Philosophie unterscheidet ferner subjektives Gutes, also Dinge, die für speziell jemand Einzelnen gut sind, von objektiv Gutem, was aus der Perspektive von jedermann gut ist. Auffassungen darüber, wie diese Arten des Guten aufeinander bezogen sind, haben wichtige Auswirkungen auf die Moralphilosophie. Gewöhnlich wird eine Theorie des Guten in der Hoffnung aufgestellt, etwas mehr Licht auf substantiellere Fragen zu werfen, z.B. wann eine Person, eine Handlung oder ein menschliches Leben gut ist. Diese Fragen werfen wiederum weitere Fragen über die Beziehung zwischen ethischen und anderen Werten auf. Beispielsweise fragen wir, ob eine Tugend eine spezielle Art von Gutem ist, oder ein ganz gewöhnliches Gutes, dass einfach auf Menschen angewendet wird. Oder, weil Handlungen als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ bewertet werden, könnte man fragen, in welcher Beziehung diese Werte zu den guten oder schlechten Aspekten dieser Handlungen stehen. Man könnte auch die Frage stellen, ob ein Leben etwas Gutes in dem Sinne sein muss, wie auch das Glücklichsein ein moralisch Gutes des tugendhaften Lebens sein muss. Diese letzte Frage hat die Aufmerksamkeit schon seit Platon gefesselt. Siehe auch: Glück; Praktische Vernunft und Ethik; Richtige und Gute, Das; Xunzi CHRISTINE M. KORSGAARD
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H Habermas, Jürgen (1929–)
Der deutsche Philosoph und Sozialtheoretiker Jürgen Habermas ist vielleicht am bekanntesten für seine umfassende Verteidigung der modernen öffentlichen Sphäre und der mit ihr zusammenhängenden Ideale des Öffentlichen und der freien öffentlichen Vernunft. Er leistete darüber hinaus aber auch wichtige Beiträge zur Theorie der Kommunikation und der informalen Argumentation, zur Ethik und zur Grundlegung und Methodik der Sozialwissenschaften. Er studierte in Göttingen, Zürich und Bonn, wo er 1954 seine Dissertation über Schellings Philosophie vollendete. Nach einer kurzen Phase der Mitarbeit in Theodor Adornos ‚Institut für Sozialforschung‘ in Frankfurt übernahm er eine Professur in Heidelberg und Frankfurt, und von 1971 bis 1981 war er Stellvertretender Direktor des Max-Planck-Instituts in Starnberg. Mit der Veröffentlichung von ‚Erkenntnis und Interesse‘ (1968) erlangte er weithin die Anerkennung als der führende intellektuelle Erbe der sog. ‚Kritischen Theorie‘ der Frankfurter Schule, eine Variante des westlichen Marxismus, die sich auf solche Denker wir Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse bezog. Seine zweibändige ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ (1981) ist ein bedeutender Beitrag zur Sozialtheorie, in dem er die Ursprünge der unterschiedlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Krisen ausmacht, denen die moderne Gesellschaft in einem einseitigen Prozess der Rationalisierung ausgesetzt ist, der mehr vom Geld und von Verwaltungsmacht gesteuert ist als durch Formen kollektiver Entscheidungsfindung auf der Grundlage konsensorientierter Normen und Werte. Siehe auch: Adorno, T.W.; Apel, Karl-Otto; Frankfurter Schule; Marcuse, H. KENNETH BAYNES
Haeckel, Ernst Heinrich (1834–1919)
Haeckel war der führende deutsche Darwinist seiner Zeit. Seine monistische Evolutionsphilosophie unterschied sich substanziell von den Auffassungen Darwins oder der britischen Evolutionsphilosophen wie z.B. Herbert Spencer oder dem Dualisten T.H. Huxley. Haeckels Monismus behauptet die Einheit der physischen und organischen Natur und schloss auch mentale Prozesse und soziale Phänomene mit ein. Ihre frühe Form war mechanistisch und versuchte, vitale Prozesse auf physikochemische Gesetze und Substanzen zu reduzieren. Seine Bemühungen um die Konstruktion einer Geschichte des Lebens hatten jedoch zur Folge, dass sich Haeckel verstärkt um historische Prozesse kümmerte. In ihrer abschließenden Form war sein Monismus pantheistisch. Haeckel wird manchmal als ein Vorläufer des Nationalsozialismus betrachtet; eine kontextorientierte Lektüre seines Werks stützt diese Interpretation jedoch nicht. Siehe auch: Evolution und Ethik; Evolution, Theorie der PAUL WEINDLING
Halakhah
Die zentrale Idee des rabbinischen Judaismus ist die des Lebens nach der Thora, d.h. nach Gottes Lehre. Diese Lehren sind durch ein detailliertes, normatives System vermittelt, das Halakhah heißt und mit ‚der Weg‘ übersetzt werden könnte. Der Ausdruck ‚rabbinische Gesetze‘ greift die Form des halakhischen Diskurses auf, 607
Handlung
hat aber nicht seinen Rang. Entsprechende Abschnitte der Halakhah dienten in der Tat als das Gesetzbuch jüdischer Gemeinschaften über zwei Jahrtausende. Andere Abschnitte stehen wiederum in Beziehung zum menschlichen Bewusstsein und dem religiösen Gehorsam und sind nur durch ein ‚himmlisches Gericht‘ durchsetzbar. Obwohl sie in der Heiligen Schrift begründet sind, ist der Bezugsrahmen der Halakhah die ‚mündliche Thora‘, eine Tradition von Interpretationen und Argumenten, die ihren Höhepunkt in den zwanzig Bänden des Talmud haben. Gottes Autorität ist die grundlegende Regel, sie wird allerdings nur gelegentlich angerufen, um an die Stelle des menschlichen Verständnisses zu treten. Tatsächlich erlaubten die Rabbis keine göttliche Einmischung in ihre Überlegungen, indem sie mit Blick auf die Heilige Schrift behaupteten, die Thora sei ‚nicht der Himmel‘ (Bava Metzia 59b, der wiederum das Deuteronomon, also das 5. Buch Moses, 30:12 zitiert). In Anbetracht des Fehlens eines bindenden Dogmas im Judaismus wurde die halakhische Praxis oft als der gemeinsame Nenner betrachtet, der die jüdischen Gemeinden vereint. Das Unternehmen einer Bereitstellung von ‚Gründen für die Gebote‘ (ta’amei ha-mitzvot), das für viele Denker des Judaismus so wichtig ist, zeigt eine entsprechend große Vielfalt der Orientierungen. Diese reichen im mittelalterlichen Judaismus von den esoterischen mystischen Lehren bis zu Maimonides’ rationalen und historischen Erklärungen, und unter den modernen Autoren vom moralischen Positivismus bis zum Existenzialismus. Siehe auch: Maimonides, M. ; Recht, Philosophie des NOAM J. ZOHAR
Handlung
Das philosophische Studium menschlicher Handlungen verdankt seine Bedeutung zwei Ansatzpunkten verschiedener Art. Zum einen geht es in der Metaphysik und der Philosophie des Geistes um den Status vernunftbegabter Wesen, die auf die natürliche, kausal bestimmte Welt einwirken, und es geht um ethische Fragen und die Rechtsphilosophie betreffend die menschliche Freiheit und Verantwortung. Eine ‚Handlungstheorie‘ ergibt sich aus beiden Ansatzpunkten; im ersteren Falle bemüht sie sich aber nur um eine detaillierte Darstellung, der als Hilfestellung bei der Beantwortung der metaphysischen Fragen dienen soll. Handlungstheoretiker beginnen gewöhnlich mit der Frage: ‚Wie können Handlungen von anderen Ereignisformen unterschieden werden?‘ Damit eine Handlung vorliegt, muss eine Person etwas tun. Aber das gewöhnliche ‚etwas tun‘ deckt nicht alle Handlungen ab, da wir beispielsweise sagen können, dass das Atmen etwas ist, das jeder tut, obwohl wir nicht davon ausgehen, dass Atmen im gewöhnlichen Sinne des Wortes eine Handlung ist. Offenbar muss eine Zweckbezogenheit hinzutreten, d.h. es ist erforderlich, dass jemand etwas absichtlich tut. Die Menschen tun häufig jene Dinge, die sie absichtlich vornehmen, indem sie Teile ihres Körpers bewegen. Dies führte zu der Vorstellung: ‚Handlungen sind körperliche Bewegungen‘. Die Kraft dieser Vorstellung wird deutlich, wenn man bedenkt, was dabei mitspielt, wenn man eine Sache dadurch tut, dass man eine andere Sache tut. Ein Mann, der ein Flugzeug steuert, mag die Motoren z.B. durch Drücken eines Hebels heruntergefahren haben. Hier gibt es nur eine Handlung, wenn dass Drücken des Hebels identisch mit dem Herunterfahren der Motoren ist. Wenn also Identitäten dieser Art anerkannt werden, dann kann eine Handlung als ein Ereignis der körperlichen Bewegung einer Person angesehen werden: das Drücken des He608
Hanslick, Eduard (1825–1904)
bels durch den Piloten war (auch) seine Armbewegung, denn er drückte den Hebel durch eine Armbewegung. Wie aber verhalten sich Körperbewegungen, also solche Ereignisse wie die Bewegung seines Arms, zu Handlungen? Einer traditionellen, empirischen Auffassung zufolge werden sie durch Willensakte verursacht, wenn eine Handlung vorliegt und diese Willenshandlung und die Körperbewegung gleichermaßen Bestandteile der Handlung sind. Zu dieser Darstellung gibt es aber viele andere, konkurrierende über die Ursachen und Bestandteile von Handlungen und von Bewegungen. Und willensbezogene Ausdrücke spielen nicht nur in den allgemeinen Darstellungen jener die Handlungen betreffenden Ereignisse eine Rolle, sondern auch in Darstellungen, die darauf abzielen, auch noch die Erfahrung zu integrieren, die für die Handlungsträgerschaft charakteristisch ist. Siehe auch: Rationalität, praktische JENNIFER HORNSBY
Hanslick, Eduard (1825–1904)
Eduard Hanslick, ein Musikkritiker der populären Wiener Presse, ist vor allem bekannt als Autor des Buches ‚Vom musikalisch Schönen‘ (1854). Dies ist wahrscheinlich das am meisten gelesene Buch zur Ästhetik der Musik, sowohl bei den Philosophen, als auch bei den Musikern, und es ist nach wie vor der Anfangspunkt für jede Diskussion entweder über den Platz der Gefühle in der Musik, oder hinsichtlich der Lehre, die üblicherweise als ‚musikalischer Purismus‘ bezeichnet wird. Über die Ersteren war Hanslick einer Auffassung, die er die ‚negative These‘ nennt, weil sie ‚zuerst und vor allem der weit verbreiteten Ansicht widerspricht, dass die Musik dazu da sei, Gefühle zu repräsentieren‘. Zum Purismus schlug er die positive These oder Antithese vor, „dass die Schönheit eines Musikstücks spezifisch musikalischer Natur ist, d.h. sie wohnt den tonalen Beziehungen ohne Verweis auf einen fremden, außermusikalischen Kontext inne“. Siehe auch: Künstlerischer Ausdruck; Gefühle als Antwort auf Kunst; Gefühle, Philosophie der; Formalismus in der Kunst; Musik, Ästhetik der PETER KIVY
Harmonie
Siehe: Pythagoreismus
Hart, Herbert Lionel Adolphus (1907–1993)
H.L.A. Hart, der von 1952 bis 1968 Professor für Rechtswissenschaft an der Oxford Universität war, ist ein herausragender Vertreter des analytischen Ansatzes in der Rechtslehre und der Rechtsphilosophie. Er formulierte den Rechtspositivismus in der Tradition von Jeremy Bentham und John Austin neu, indem er zwischen der Existenz eines Gesetzes und seinen moralischen Qualitäten unterschied. Er wies aber die Identifikation des Gesetzes von Bentham mit den Befehlen eines Souveräns zurück und unterstützte stattdessen eine Rechtstheorie als etwas, das eine bestimmte, systematisch organisierte Art von sozialem Regelwerk ist. Dies leistete er in einem linguistisch-analytischen Stil und zeigte damit, wie die Aufmerksamkeit gegenüber unserer Art und Weise über Regeln zu sprechen und zu denken neue Einsichten in deren Wesen vermitteln kann. Siehe auch: Austin, J.; Bentham, J.; Rechtsphilosophie; Rechtspositivismus NEIL MACCORMICK 609
Hedonismus
Hedonismus
Der Hedonismus (von altgr.: hēdonē = ‚Lust‘) ist die Lehre, dass die Lust das Gute ist. Als sein Begründer gilt Aristippos von Kyrene, ein Zeitgenosse von Sokrates. In antiken Diskussionen war diese Anschauung wichtig, und vielerlei Haltungen wurden ihr gegenüber eingenommen, angefangen mit der Auffassung, dass man die Lust vermeiden sollte, bis hin zu der Auffassung, dass die unmittelbare körperliche Lust gesucht werden sollte. Etwas entwickeltere Auffassungen der Lust wurden ebenfalls vertreten, und diese haben auch eine Wiederbelebung dieser Denkschule in neuerer Zeit erfahren. Es gibt drei Spielarten des Hedonismus. Der psychologische Hedonist meint, dass wir infolge unserer natur nur der Lust folgen können. Der evaluative (wertende) Hedonist meint, dass wir die Lust suchen sollten. Und der reflektierende Hedonist vertritt die Ansicht, dass es die Lust ist, die nach einiger Überlegung jedem Bemühen seinen Wert gibt. Argumente für den psychologischen Hedonismus gehen davon aus, dass die Handlungen eines Akteurs eine Funktion dessen sind, was sie denken, und dass sie insgesamt ihre Lust maximieren werden. Erklärt man den Altruismus auch auf diese Weise, so können solche Theorien leicht zu Binsenweisheiten werden. Ähnliche Argumente werden für den reflektierenden Hedonismus bemüht, haben jedoch dasselbe Problem zur Folge. Die Schwierigkeit für den evaluativen Hedonismus liegt in der Entscheidung, wie man bestimmte Ziele als wünschenswert feststellen kann. Die Behauptung, dass die Lust maximiert werden sollte, erscheint vielen Menschen als unmoralisch, und zwar sowohl, weil die Lustorientierung zur Respektlosigkeit gegenüber anderen Menschen verleiten kann, als auch, weil sie den Anweisungen zahlreicher Religionen zur Führung eines guten Lebens zuwiderläuft. Im Übrigen hat der Hedonismus auch Probleme mit der Messung der Lust. Siehe auch: Askese; Glück; Moralische Motivation; Ökonomie und Ethik; Rationalen Entscheidung, Theorie der JUSTIN GOSLING
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831) Einführung G.W.F. Hegel ist der letzte der Hauptrepräsentanten einer philosophischen Bewegung, die als Deutscher Idealismus bekannt geworden ist. Der Deutsche Idealismus, dem neben Hegel hauptsächlich Fichte und Schelling zugerechnet werden, ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts besonders in der Reaktion auf die Kantische Philosophie entstanden und hat bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle im philosophischen Leben Deutschlands gespielt. Wie die anderen deutschen Idealisten, so ist auch Hegel davon überzeugt gewesen, dass die Philosophie Kants deshalb nicht das letzte Wort in Sachen Philosophie darstellen kann, weil sich mit ihren Mitteln keine einheitliche Theorie der Wirklichkeit konzipieren lässt. Eine einheitliche Theorie der Wirklichkeit ist für Hegel und seine beiden idealistischen Vorgänger eine solche, die alle Formen der Wirklichkeit auf systematische Weise aus einem einzigen Prinzip oder einem einzigen Sachverhalt erklären kann. Zu den Formen der Wirklichkeit zählen für Hegel nicht nur Sonnensysteme, physikalische Körper und die verschiedenen Erscheinungsweisen organischen Lebens wie z.B. Pflanzen, Tiere und Menschen, sondern auch psychische Phänomene, 610
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
gesellschaftliche und staatliche Organisationsformen sowie die Produkte der schönen Künste und kulturelle Errungenschaften wie etwa Religionen und Philosophie. Alle diese Formen aus einem einzigen Prinzip auf systematische Weise zu erklären und das heißt eine einheitliche Theorie der Wirklichkeit aufzustellen, ist für Hegel deshalb eine unabweisbare Aufgabe der Philosophie, weil nur eine solche Theorie in der Lage ist, an die Stelle des Glaubens das Wissen treten zu lassen. Diese auf die Überwindung des Glaubens gerichtete Zielsetzung stellt Hegels philosophisches Programm wie das der anderen deutschen Idealisten in den weiteren Zusammenhang der Philosophie der deutschen Aufklärung. Das von Hegel zugrunde gelegte Erklärungsprinzip aller Wirklichkeit ist die Vernunft. Vernunft, wie Hegel sie versteht, ist nicht irgendeine Eigenschaft, die irgendeinem Subjekt zukommt, sondern sie ist die Summe aller Realität. Gemäß dieser Auffassung gilt für Hegel die strikte Identität von Vernunft und Wirklichkeit: Nur die Vernunft ist wirklich und nur die Wirklichkeit ist vernünftig. Die Gründe, die Hegel zu dieser Identifikation von Vernunft mit Wirklichkeit bewogen haben, sind unterschiedlicher Natur. Zum einen spielen Motive eine Rolle, die ihre Wurzeln in Hegels theologischen Überzeugungen haben. Ihnen zufolge muss man die Gesamtheit der Wirklichkeit philosophisch so deuten können, dass diese Deutung zugleich eine Rechtfertigung grundlegender Dogmen der christlichen Religion darstellen kann. Zum anderen sind für Hegels Behauptung der Identität von Vernunft und Wirklichkeit epistemologische Überzeugungen namhaft zu machen. Zu ihnen gehören die Annahmen, (1) dass Wissen von der Wirklichkeit nur dann möglich ist, wenn sie vernünftig ist, weil sie sonst der Erkenntnis gar nicht zugänglich wäre, und (2) dass nur das gewusst werden kann, was wirklich ist. Die als alle Wirklichkeit gedachte Vernunft darf jedoch nach Hegel nicht nach dem Modell der Substanz des Spinoza aufgefasst werden. Sie ist vielmehr als ein Prozess zu denken, der die Erkenntnis der Vernunft durch sich selbst zum Ziel hat. Da die Vernunft alle Realität ist, ist dieses Ziel dann erreicht, wenn die Vernunft sich als alle Realität weiß. Diesen Prozess der Selbsterkenntnis der Vernunft darzustellen, ist die Aufgabe der Philosophie. Hegel konzipiert diesen Prozess in Anlehnung an das Modell organischer Entwicklung, die auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Die seine Konzeption leitende Grundvorstellung ist die, dass man die Vernunft nach dem Vorbild eines lebendigen Organismus aufzufassen hat. Ein lebendiger Organismus wird von Hegel gedacht als ein Wesen, das die gelungene Realisierung eines Planes darstellt, in dem alle individuellen Merkmale dieses Wesens enthalten sind. Diesen Plan nennt Hegel den Begriff eines Wesens, und die gelungene Realisierung stellt er sich als das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses vor, in dessen Verlauf jedes der individuellen Merkmale Realität gewinnt. Gemäß diesen Vorgaben unterscheidet Hegel zwischen dem Begriff der Vernunft und dem Prozess der Realisierung dieses Begriffs. Die Exposition des Begriffs der Vernunft unternimmt Hegel in dem Teil seines Systems, den er Wissenschaft der Logik nennt. In diesem ersten Teil des Systems werden die verschiedenen Elemente des Begriffs der Vernunft diskutiert und in einen systematischen Zusammenhang gestellt. Den Prozess der Realisierung dieses Begriffs stellt Hegel in den zwei weiteren Teilen seines Systems dar, der Philosophie der Natur und der Philosophie des Geistes. Diese beiden Teile haben neben ihrer systematischen Funktion, die Vernunft im Hegelschen Sinne als alle Realität zu erweisen, eine jeweils spezifische materiale Funktion. In der Naturphilosophie 611
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
geht es Hegel darum, die Gesamtheit der Naturphänomene als ein System von immer komplexer werdenden Sachverhalten zu beschreiben. Dieses System beginnt mit den einfachen Begriffen von Raum, Zeit und Materie und endet mit der Theorie des tierischen Organismus. Die Geistesphilosophie behandelt verschiedene psychologische, gesellschaftliche und kulturelle Formen der Realität. Sie ist geprägt von der Annahme, dass es so etwas wie genuin geistige Sachverhalte gibt, die sich nicht als subjektive Zustände von mit Bewusstsein ausgestatteten Individuen beschreiben lassen können, sondern eine eigenständige objektive Existenz haben. Fälle solcher Sachverhalte sind für Hegel der Staat, die Kunst, die Religion und die Geschichte. Trotz des relativ abstrakten und mit dem common sense schwer in Übereinstimmung zu bringenden metaphysischen Hintergrundes seiner Philosophie hat es Hegel verstanden, in der Analyse konkreter Sachverhalte zu Einsichten zu gelangen, die ihm einen bleibenden Platz in philosophischen Diskussionen gesichert haben, wenn auch diese Einsichten für den zeitgenössischen Leser mehr den Status von interessanten Hypothesen als den von allgemein akzeptierten Wahrheiten haben. Zu diesen Einsichten zählen weniger seine naturphilosophischen Ergebnisse, die sich schon früh massiver Kritik von Seiten der praktizierenden Naturwissenschaftler ausgesetzt gesehen haben. Diese Einsichten betreffen mehr den Bereich der Erkenntnistheorie sowie der Rechts-, Sozial- und Kulturphilosophie. So gilt Hegel als ebenso scharfsinniger wie origineller Vertreter der These, dass unser Begriff von Objektivität weitgehend durch soziale Faktoren bestimmt ist, die auch eine wesentliche Rolle in der Konstitution des Subjekts der Erkenntnis spielen. Seine Kritik an den Naturrechtskonzeptionen des 17. und 18. Jahrhunderts sowie seine eigenen Überlegungen zur Genesis und Bedeutung des Rechts in der modernen Welt haben ihren nachweisbaren Einfluss auf die Rechtstheorie gehabt. Hegels Analysen des Verhältnisses und des Zusammenspiels gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen sind konstitutive Elemente wirkungsmächtiger Gesellschaftstheorien, vor allem der von Marx, geworden. Ähnliches gilt für seine zentralen Thesen zur Kunsttheorie, zur Religions- und Geschichtsphilosophie. Sie alle haben Sichtweisen auf ihre jeweiligen Gegenstände freigesetzt, die sich als wichtige Hilfsmittel für ein Verständnis dieser Gegenstände erwiesen haben. Seine Überlegungen zur Geschichte der Philosophie können für sich in Anspruch nehmen, die Geschichte der Philosophie als eine philosophische Disziplin überhaupt erst inauguriert zu haben. Dies alles zeigt, dass Hegel ein sehr einflussreicher Philosoph gewesen ist. Wenn seine Philosophie trotzdem zutiefst umstritten geblieben ist, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass Hegels kompromissloser Kampf gegen traditionelle Denkgewohnheiten und sein Versuch, eine zur philosophischen Tradition alternative Sichtweise der Wirklichkeit zu etablieren, durch ein großes Maß an Unklarheit und Dunkelheit ausgezeichnet ist. Diese Merkmale infizieren bedauerlicherweise auch jede Darstellung seiner Philosophie, wie sich leider auch in dem, was folgt, zeigen wird. 1. Leben und Werk 2. – 3. Die Entwicklung des Systems 4. – 8. Das System 1. Leben und Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart als Sohn einer württembergischen Beamtenfamilie geboren. Nach dem Besuch des dortigen
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
Gymnasiums begann er im Herbst 1788 ein Studium am Evangelischen Stift in Tübingen, das ihn zum protestantischen Geistlichen ausbilden sollte. Zu den Freunden unter seinen Mitstudenten gehörten F.W.J. Schelling und F. Hölderlin. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Studiums nahm Hegel im Herbst 1793 eine Hauslehrerstelle in Bern in der Schweiz an. Dort blieb er bis Ende 1796. Von Januar 1797 bis Ende 1800 lebte Hegel als Hauslehrer in Frankfurt/Main, wo er erneut in den direkten Umgang mit Hölderlin kam, der für seine frühen philosophischen Überzeugungen von großer Bedeutung gewesen ist. Eine ihm zufallende Erbschaft ermöglichte es Hegel, das Hauslehrerdasein aufzugeben und seine akademischen Ambitionen zu verfolgen. Anfang 1801 ging er nach Jena. An der dortigen Universität lehrte sein Studienfreund Schelling als Nachfolger Fichtes Philosophie. Mit tatkräftiger Unterstützung Schellings habilitierte Hegel sich im Herbst 1801 mit einer naturphilosophischen Arbeit. Anfänglich arbeiteten Schelling und Hegel eng zusammen, was eine von ihnen seit 1802 gemeinsam herausgegebene philosophische Zeitschrift dokumentiert, die jedoch nach Schellings Weggang aus Jena 1803 ihr Erscheinen einstellte. Im Jahre 1805 wurde Hegel zum außerordentlichen Professor ernannt. Wegen finanzieller Schwierigkeiten musste er im Herbst 1806 seine Tätigkeit an der Universität Jena beenden. Durch die Vermittlung eines Freundes konnte Hegel im März 1807 die Stelle des Redakteurs an einer Bamberger Tageszeitung übernehmen. Derselbe Freund sorgte dann dafür, dass Hegel im November 1808 zum Rektor und Professor eines Gymnasiums in Nürnberg ernannt wurde. Nach einigen Jahren in dieser pädagogischen Position gelang Hegel die Rückkehr an die Universität. Er folgte 1816 einem Ruf an die Universität Heidelberg, die er 1818 wieder verließ, um als Fichte-Nachfolger einen Lehrstuhl an der Universität von Berlin zu übernehmen. In Berlin entfaltete Hegel eine beachtliche Wirksamkeit als akademischer Lehrer und es gelang ihm, seinen philosophischen Lehren eine dominierende Stelle in den zeitgenössischen Diskussionen zu sichern. Hegel starb in Berlin während einer Cholera-Epidemie am 14. November 1831 auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Das Hegelsche Oeuvre lässt sich in drei Textgruppen einteilen: (1) In solche Texte, die von Hegel verfasst und zu seinen Lebzeiten zur Veröffentlichung gebracht worden sind, (2) in die Texte, die zwar von ihm verfasst, aber zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht worden sind, und (3) in die Texte, die weder von ihm verfasst, noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden. Nicht in dieses Schema passen zwei Texte aus seiner frühen Frankfurter Zeit. Der erste ist die von Hegel angefertigte, mit Kommentaren versehene Übersetzung der Schrift des Berner Rechtsanwalts Cart über die politischen Zustände im Waadtland, die er 1798 anonym veröffentlicht hat und die zugleich seine erste Publikation darstellt. Der zweite Text ist das aus der gleichen Zeit stammende Fragment, das unter dem Titel ‚Systemprogramm des deutschen Idealismus‘ bekannt geworden ist. Dieser Text ist zwar in Hegels Hand überliefert, doch ist die Autorschaft Hegels nach wie vor kontrovers. Was nun die erste Textgruppe betrifft, so beginnen die in ihr enthaltenen Schriften am Anfang der Jenaer Zeit Hegels mit der philosophischen Erstlingsschrift ‚Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie‘ (1801), der im gleichen Jahr die Habilitationsschrift ‚De Orbitis Planetarum‘ folgt. In den Jahren 1802/03 veröffentlicht Hegel verschiedene Arbeiten in der gemeinsam mit Schelling herausgegebenen Zeitschrift ‚Kritisches Journal der Philosophie‘. Die 613
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
wichtigsten dieser Arbeiten sind ‚Glauben und Wissen‘, ‚Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie‘ und ‚Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‘. Unmittelbar nach dem Ende der Jenaer Dozententätigkeit und zu Beginn seines Aufenthaltes in Bamberg erscheint sein erstes großes philosophisches Werk, die ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807). Während der acht Jahre am Nürnberger Gymnasium veröffentlicht Hegel die drei Bände seiner ‚Wissenschaft der Logik‘ (1812, 1813 und 1816). In Heidelberg erscheint zum ersten Mal die Gesamtdarstellung seines Systems, seine ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‘ (1817), die in der Berliner Zeit in zwei weiteren, stark veränderten Auflagen vorgelegt wird (1827 und 1830). Ebenfalls in die Berliner Zeit fällt die Veröffentlichung seines Buches über ‚Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ (1821). Ansonsten sind von Hegel zu seinen Lebzeiten nur noch einige kleinere Arbeiten veröffentlicht worden, die er teils aus aktuellen Anlässen, teils hauptsächlich für die von ihm seit 1827 mitredigierten ‚Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‘ verfasst hat. Zu diesen Arbeiten gehört auch seine letzte Publikation ‚Über die englische Reform-Bill‘ (1831). Die zweite Textgruppe enthält solche von Hegel verfassten Texte, die von ihm nicht publiziert worden sind. Fast alle dieser Texte sind eigentlich erst im 20. Jahrhundert einigermaßen authentisch zugänglich gemacht worden. Sie zerfallen hauptsächlich in drei Gruppen. Die erste besteht aus den Manuskripten, die Hegel von der Tübinger Studentenzeit bis zum Ende seiner Jenaer Zeit verfasst hat. Zu den wichtigsten dieser Texte gehören die so genannten ‚Theologischen Jugendschriften‘, die auf Betreiben von Wilhelm Dilthey von dessen Schüler H. Nohl 1907 herausgegeben worden sind. Sie werden heutzutage als Hegels ‚Frühschriften‘ bezeichnet. Weitere wichtige Texte aus dieser Zeit sind die drei ‚Jenaer Systementwürfe‘, die Hegel in den Jahren 1803 bis 1806 zum Teil zum Zwecke der Publikation, zum Teil als Vorlagen für seine Vorlesungen geschrieben hat. Die zweite Gruppe dieser von Hegel nicht veröffentlichten Texte bilden die Arbeiten aus seiner Nürnberger Zeit. Sie sind von Hegels erstem Biographen, K. Rosenkranz, ausschnittweise als ‚Philosophische Propädeutik‘ (1840) vorgelegt worden. Bei diesen Texten handelt es sich um Versuche Hegels, seine philosophischen Ansichten in eine Form zu bringen, die es erlaubt, sie im Rahmen des Gymnasialunterrichts zu behandeln. Die dritte Gruppe dieser Texte stellen Manuskripte und Notizen dar, die Hegel im Zusammenhang seiner Heidelberger und Berliner Vorlesungstätigkeit abgefasst hat. Sie sind teilweise eingegangen in die Editionen, die Hegels Schüler und Freunde als Hegels Werk präsentiert haben. Die dritte große Textgruppe umfasst die von Hegel weder verfassten, noch publizierten Texte. Sie machen fast die Hälfte der Texte aus, die in der ersten Gesamtausgabe der Werke Hegels enthalten sind. Zu ihnen gehören die für die Wirkung Hegels sehr wichtigen Vorlesungen über Ästhetik, Geschichtsphilosophie, Geschichte der Philosophie und Religionsphilosophie. Diese Texte sind in der Form, in der sie wirksam geworden sind, Schülerprodukte, die zum größten Teil das Ergebnis der Kompilation von Nachschriften Hegelscher Vorlesungen darstellen. Diesem bemerkenswerten Faktum, dass einige der für die breite Wirkung Hegels entscheidenden Texte den Status sekundärer Quellen haben, ist selten genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
Nachdem die erste Gesamtausgabe von Hegels Werken, die in den Jahren 1832 bis 1845 erschienen ist, sich als zwar einflussreich, aber als historisch und kritisch sehr unzuverlässig erwiesen hat, hat es seit Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Versuche gegeben, eine neue Gesamtausgabe zu erarbeiten. Sie alle sind bisher nie zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen. Seit 1968 wird eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe herausgegeben, von der bis Mitte 2006 neunzehn Bände vorliegen. Die Entwicklung des Systems 2. Die Jugendschriften Die Anfänge der intellektuellen Laufbahn Hegels sind weniger durch philosophische Ambitionen als durch volksaufklärerische bzw. volkspädagogische Interessen bestimmt. Im Unterschied zu seinen Studienfreunden Hölderlin und Schelling, die ihre Aktivitäten sehr direkt auf innerphilosophische Diskussionen beziehen, will Hegel mit seinen frühen Arbeiten Möglichkeiten ‚zum Eingreifen in das Leben der Menschen‘ finden. Als zeitgemäßen Ausgangspunkt für diese Bemühungen betrachtet er Analysen über die Rolle und die Folgen, die man der Religion, insbesondere der christlichen, für den einzelnen Menschen und für den sozialen Kontext eines Volkes zuschreiben muss. In diesem Ansatz sind zwei unterschiedliche Interessen eingegangen: zum einen möchte Hegel in religionskritischer Absicht zeigen, wie Religion zu einer lebensfeindlichen Macht hat werden können, die durch Furcht wirkt und Unterwerfung fordert. Zum anderen möchte er sich über die Bedingungen verständigen, unter denen Religion als produktiver Faktor des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens gedeihen kann. Hegels Untersuchungen zur Religion unter diesen beiden Aspekten sind in dieser frühen Zeit (ca. 1793– - 1800) stark geprägt durch die kulturkritischen und gesellschaftstheoretischen Schriften Rousseaus sowie die Religionsphilosophie Kants (§§11, 13) auf der einen Seite, und durch die Auseinandersetzung mit den theologischen Positionen seiner akademischen Theologie-Lehrer in Tübingen (G.C.Storr, J.F.Flatt) auf der anderen Seite. Die wichtigsten Arbeiten dieser Periode stellen die fragmentarisch überlieferten Texte dar, die unter den Titeln ‚Die Positivität der christlichen Religion‘ (1795/96) und ‚Der Geist des Christentums und sein Schicksal‘ (1798/99) bekannt geworden sind. Hegels Religionskritik kreist um den Begriff der ‚positiven Religion‘. Eine positive Religion ist für ihn eine solche, deren Inhalte und Glaubenssätze der menschlichen Vernunft nicht einsichtig gemacht werden können, was dazu führt, dass sie dem Menschen als wider- und übernatürlich erscheinen und von ihm als auf Autorität gegründet und Gehorsam befehlend erfahren werden. Das Paradigma einer positiven Religion stellt für Hegel die jüdische Religion dar. Hegel hält nun dafür, dass auch die christliche Religion im Laufe ihrer Geschichte eine positive Religion geworden ist, die den Menschen von sich selbst und seinesgleichen entfremdet (s. Entfremdung). Er sucht als Gründe dieses Wandels kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen zu identifizieren. Dem Konzept einer positiven Religion stellt Hegel das der natürlichen Religion gegenüber. Eine natürliche Religion soll sich dadurch auszeichnen, dass ihre Lehren der menschlichen Natur entsprechen. Der menschlichen Natur entspricht eine Religion dann, wenn sie es erlaubt bzw. befördert, dass Menschen in Übereinstimmung mit sich selbst und mit anderen und das heißt u.a. in Übereinstimmung sowohl mit ihren Bedürfnissen, Neigungen und wohlerwogenen 615
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
Überzeugungen als auch unentfremdet von anderen leben können. Hegel gründet seine Auffassung vom Wert der Übereinstimmung mit sich selbst (und mit anderen) für den Menschen, in die Motive der auch für Kants praktische Philosophie einflussreichen und über Rousseau vermittelten stoischen Ethik eingehen, auf eine quasimetaphysische Konzeption der Liebe und des Lebens. Sie verdankt wesentliche Anstöße den philosophischen Ansätzen Hölderlins, mit dem Hegel in seiner Frankfurter Zeit erneut in enger Beziehung steht. Dieser Konzeption zufolge gibt es so etwas wie ein sittliches Gefühl der Liebe, das über alle Trennungen und Zerrissenheiten hinausgreift, in denen eine Person in der Beziehung auf sich selbst und auf andere befangen sein mag, und das die Einigkeit seiner selbst mit anderen Menschen und sich selbst erfahrbar macht. Dieses Gefühl kann mit den Mitteln der Philosophie, die auf Reflexion und (begrifflicher) Trennung beruhen, nicht angemessen thematisiert werden. Es verweist jedoch eindringlich –- und hier kommt Metaphysik ins Spiel –- auf die wahre Verfassung der Wirklichkeit, die darin besteht, Einheit zu sein, die allen Trennungen und Entgegensetzungen zugrunde liegt und diese erst ermöglicht. Diese als Einheit zu denkende Wirklichkeit nennt Hegel ‚Leben‘ oder auch ‚Sein‘. Die so gefasste Wirklichkeit hinreichend differenziert zu denken, bestimmt Hegels Bemühungen am Ende seiner Frankfurter Zeit. Dabei verfolgt er vor allem das Ziel, Leben als einen Prozess zu konzipieren, der Gegensätze sowohl generiert als auch aufhebt und der als dynamische Einheit von Generation und Aufhebung aufgefasst werden kann. Hegel prägt für diese komplexe Struktur, als die er Leben denkt, im so genannten ‚Systemfragment von 1800‘ die Formel ‚Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung‘. Diese Formel und der ihr zugrunde liegende Lebensbegriff verweisen bereits deutlich auf Hegels spätere organizistische Metaphysik. 3. Jenaer Schriften Die Arbeiten Hegels, die er in seiner Jenaer Zeit (1801 bis 1806) verfasst hat, kann man in kritische und systematische einteilen. Zu den kritischen Schriften zählen seine erste philosophische Publikation über die ‚Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie‘ und die meisten der Abhandlungen, die er in den Jahren 1802/03 in der Zeitschrift ‚Kritisches Journal der Philosophie‘ veröffentlicht hat. In ihnen präsentiert sich Hegel als Kritiker der Philosophie seiner Zeit, vor allem der Positionen von Kant, Jacobi und Fichte, denen er vorwirft, ‚Reflexionsphilosophie der Subjektivität‘ zu betreiben, wie es bereits im Titel der Schrift ‚Glauben und Wissen‘ (1802) heißt. Reflexionsphilosophie ist für Hegel zunächst als Ausdruck einer Zeit, einer geschichtlichen Situation bestimmt. Eine solche Zeit ist den Entzweiungen der Bildung, die das Produkt des als trennend und isolierend aufgefassten Verstandes ist, in der Weise verfallen, dass ihr die Überwindung der Entzweiung, die Wiederherstellung der durch den Verstand ‚zerrissenen Harmonie‘ unmöglich ist. Die einer solchen Zeit verpflichtete Philosophie teilt deren Schicksal insofern, als auch sie nicht in der Lage ist, die existierenden Gegensätze, die als die konkreten Formen der Entzweiung auftreten, wenigstens im Denken aufzuheben. Denn selbst dort, wo die Philosophie die Überwindung dieser Gegensätze anstrebt – nach Hegel ‚das einzige Interesse der Vernunft‘ – und sich insofern auf eine bestimmte Vorstellung von Einheit bzw. Harmonie bezieht, selbst dort bleibt sie nach Hegel den Bedingungen ihrer Zeit verpflichtet und kommt zu nichts anderem als 616
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
zu neuen und schärferen Gegensätzen. Betrachtet man nun die den verschiedenen Gegensätzen zugrunde liegende allgemeine Form, so kann man sie nach Hegel kennzeichnen als die des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt. Die Versuche der Reflexionsphilosophie, diesen Gegensatz zu überwinden, schlagen nach Hegel deshalb fehl, weil sie weitgehend abstrakt sind, d.h. entweder von der Subjekt- oder der Objektkomponente des Gegensatzes absehen und durch diese Leistung des Absehens, des Abstrahierens, den Gegensatz für eingeebnet erklären. Abstrahiert man vom Subjekt, setzt man, wie Hegel es nennt, das Objekt absolut und ordnet ihm das Subjekt unter. Dies ist ein Merkmal aller in Hegels Sinne positiven Religionen. Abstrahiert man vom Objekt und setzt das Subjekt absolut, dann denkt man das Objekt in Abhängigkeit vom Subjekt. Diese einseitige Verabsolutierung des Subjekts nun ist es, die Hegel den Philosophien von Kant, Jacobi und Fichte zum Vorwurf macht, deren Theorien er deshalb als Formen der Reflexionsphilosophie der Subjektivität bezeichnet. Im Unterschied zu den von ihm kritisierten philosophischen Positionen geht Hegel in der frühen Jenaer Zeit mit Schelling davon aus, dass der genannte Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt nur mit identitätsphilosophischen Mitteln überwunden werden kann. Ein identitätsphilosophisches Konzept ist gekennzeichnet durch die Voraussetzungen, (1) dass es zu jedem Gegensatz eine Einheit gibt, die als Einheit der Entgegengesetzten betrachtet werden muss, und (2) dass jedes der Entgegengesetzten nichts weiter ist als die ihnen zugeordnete Einheit in der Form des jeweils Entgegengesetzten. Diese Voraussetzungen legen es nahe, die Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt als einen Prozess zu verstehen, der die den Entgegengesetzten zugrunde liegende und sie erst ermöglichende Einheit rekonstruiert. Gemäß den von Hegel zu jener Zeit favorisierten konzeptuellen Vorgaben wird die identitätsphilosophisch zu rekonstruierende Einheit terminologisch als ‚Subjekt-Objekt‘ gefasst, und Subjekt und Objekt selbst werden als ‚subjektives Subjekt-Objekt‘ bzw. ‚objektives Subjekt-Objekt‘ charakterisiert. Der identitätsphilosophische Prozess der Rekonstruktion des Subjekt-Objekt besteht dann darin, subjektives und objektives SubjektObjekt in ihrer spezifischen Einseitigkeit oder Gegensätzlichkeit zu erkennen, und auf diese Weise Einsicht in die interne Struktur des Subjekt-Objekt als der Einheit zu gewinnen, die den beiden entgegengesetzten Sachverhalten zugrunde liegt und sie erst ermöglicht. Obwohl Hegel an dieser Terminologie nicht allzu lange festgehalten hat, ist er dem Projekt der Entwicklung einer als umfassend gedachten Einheit aus den in ihr gelegenen Gegensätzen den größten Teil seiner Jenaer Zeit verpflichtet geblieben. Die verschiedenen Versuche der formalen Beschreibung eines solchen auf Einheit zielenden Prozesses führen bei Hegel zu verschiedenen Systemmodellen. Sie alle enthalten –- wenn auch unter unterschiedlichen Bezeichnungen und mit zum Teil unterschiedlichen internen Differenzierungen –- eine von Hegel zunächst ‚Logik und Metaphysik‘ genannte Disziplin sowie eine so genannte ‚Realphilosophie‘, d.h. eine Naturphilosophie und das, was später als ‚Geistesphilosophie‘ bezeichnet wird. Die systematischen Arbeiten der Jenaer Zeit umfassen, abgesehen von der ‚Phänomenologie des Geistes‘ (siehe diese), hauptsächlich die drei ‚Jenaer Systementwürfe‘. Von diesen zum Teil umfangreichen Fragmenten sind hauptsächlich die realphilosophischen Teile erhalten geblieben. Was zunächst die Naturphilosophie betrifft, so haben die verschiedenen Jenaer Fassungen der Naturphilosophie alle die Gemeinsamkeit, dass in ihnen die Exposition aller Naturphänomene, die Analyse ihrer Abläufe und ihrer Zusammenhänge geleistet wird durch den Rekurs auf we617
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sentlich zwei Faktoren, die Hegel mit den Termini ‚Äther‘ und ‚Materie‘ kennzeichnet. ‚Äther‘ bezeichnet so etwas wie ein materialisiertes Absolutes, ein in der raumzeitlichen Wirklichkeit sich ausdrückendes und entfaltendes Wesen. Dieses mit dem Terminus ‚Äther‘ gekennzeichnete Wesen wird nun von Hegel im Zusammenhang der Entwicklung von Bestimmungen der Natur als absolute Materie bzw. absolutes Sein eingeführt, und die Aufgabe der Naturphilosophie besteht darin, die verschiedenen Naturphänomene –- angefangen vom Sonnensystem und dessen Bewegungsgesetzen bis hin zu Krankheit und Tod tierischer Organismen –- als ebenso viele verschiedene Erscheinungsweisen eben dieser absoluten Materie zu deuten. Hegel geht es nicht nur darum zu zeigen, dass jedes beliebige Naturphänomen in jeweils eigentümlicher Weise Ausdruck dieser absoluten Materie sei. Es geht ihm vor allem darum aufzuweisen, dass die Natur ein in bestimmter Weise geordnetes Ganzes ist. Jedes Naturphänomen soll als eigentümlicher Ausdruck der absoluten Materie ein Element in der geordneten Abfolge der Naturerscheinungen darstellen. Die Stellung eines Naturphänomens in der Naturordnung ist festgelegt durch die spezifische Art, in der sich die absolute Materie in ihm ausdrückt. Dieser Ansatz hat zur Folge, dass hier die Naturordnung als determiniert verstanden wird durch gewisse Postulate, die sich aus den strukturellen Bestimmungen der absoluten Materie und den methodischen Maximen der vollständigen Darstellung dieser Bestimmungen ergeben. Unterschiede zwischen den Jenaer Fassungen der Naturphilosophie kommen hauptsächlich durch die Hereinnahme neuen, von der Naturwissenschaft der Zeit bereitgestellten Materials zustande, lassen den eigentlichen Ansatz aber unberührt. Anders verhält es sich mit den Jenaer Arbeiten zum zweiten Teil der Realphilosophie, der Philosophie des Geistes, die zunächst von Hegel noch als ‚Philosophie der Sittlichkeit‘ bezeichnet wird. Sie weisen mannigfaltige Veränderungen auf, die allesamt mit Modifikationen des Hegelschen Geistbegriffs zusammenhängen. Hegel stellt seine Geistesphilosophie zunächst als eine Theorie der Sittlichkeit vor, die er dann in eine Theorie des Bewusstseins überführt. Aus Gründen, die mit einer erneuten Beschäftigung mit Fichte und bestimmten neuen Einsichten in die logische Struktur von Selbstbewusstsein zusammenhängen, sieht sich Hegel gegen Ende seiner Jenaer Zeit dazu veranlasst, einen Ansatz zu entfalten, der ihn spätestens seit 1804/05 beschäftigt hat. Dieser Ansatz gibt Hegel die Mittel an die Hand, die Philosophie des Geistes von ihrer engen systematischen Bindung an einen aus anderen Zusammenhängen gewonnenen Begriff der Sittlichkeit zu befreien. Dieser Ansatz geht davon aus, dass nur die formale Struktur des Selbstbewusstseins, nämlich Einheit von Allgemeinheit und Einzelheit zu sein, den Rahmen abgeben kann, innerhalb dessen die logisch-metaphysischen Bestimmungen, die natürliche Welt und psychosoziale Phänomene sich zu einem sinnvollen systematischen Zusammenhang zusammenschließen. Für die Geistesphilosophie heißt dies insbesondere, dass sie methodisch besser ausgestattet ist für die Wahrnehmung ihrer systematischen Aufgabe, Darstellung von Prozessen der Selbstrealisation dessen, was Hegel ‚Vernunft‘ nennt, zu sein. Diese Einsicht in die formale Struktur des Selbstbewusstseins ist die letzte Errungenschaft seiner Jenaer Zeit, die Hegel auch in der Folge nicht mehr preisgegeben hat. Das System 4. Die metaphysischen Grundlagen Hegels systematische Philosophie muss als der Versuch angesehen werden, die gesamte Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen als Selbstdarstellung der 618
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Vernunft aufzufassen. In Hegels Auffassung dessen, was er ‚Vernunft‘ nennt, gehen verschiedene ihm eigentümliche Konnotationen ein. Sein Vernunftbegriff ist ausgezeichnet dadurch, dass er ihm neben einer epistemologischen eine ontologische Konnotation beigibt: ‚Vernunft‘ ist für ihn nicht mehr nur der Name für ein in seinen Leistungen genau zu spezifizierendes menschliches Erkenntnisvermögen. Dies wäre die epistemologische Konnotation. Dieser Begriff bezeichnet für Hegel zugleich das, was eigentlich und eminent wirklich ist. Dies ist die ontologische Konnotation. Die Vernunft ist wirklich, und nur das ist eigentlich wirklich, was vernünftig ist –dieses aus der Vorrede zur Hegelschen ‚Philosophie des Rechts‘ bekannte programmatische Credo ist der den gesamten systematischen Ansatz Hegels bestimmende Grundgedanke. In diesen Grundgedanken von der ontologischen Dignität der Vernunft gehen wenigstens drei verschiedene Überzeugungen ein. Die erste ist die, dass alles, was in welchem Sinne auch immer wirklich ist, als Ausdifferenzierung und partielle Realisierung einer Primärstruktur aufzufassen ist, die allen in irgendeinem Sinne wirklichen Sachverhalten zugrunde liegt. Diese Primärstruktur nennt Hegel ‚das Absolute‘ oder ‚die Vernunft‘. Diese Überzeugung von der Notwendigkeit der Annahme einer ontologisch zu interpretierenden Primärstruktur namens ‚Vernunft‘ reiht Hegel nahtlos in die durch Fichte, Schelling, Hölderlin und andere repräsentierte nachkantische Tradition ein, die unterschiedliche Begriffe zu ihrer Kennzeichnung benutzten. Es ist diese Annahme, die sie alle zu (ontologischen) Monisten macht. Sie ist für Hegel nicht nur dadurch gerechtfertigt, dass sie als einzige die Basis für systematische philosophische Bemühungen darstellt, die sich nach dem Scheitern aller bisherigen philosophischen Versuche anbietet, ein einheitliches und vollständiges Weltbild zu konzipieren. Sie ist ebenfalls dadurch gerechtfertigt, weil, Hegel zufolge, ohne sie die Begriffe des Objekts und der Objektivität keinen Sinn hätten. Letzteres zu zeigen, ist Teil der Aufgabe der ‚Phänomenologie des Geistes‘. Ist diese erste Überzeugung, die in Hegels ontologisierenden Begriff von Vernunft eingeht, für sich betrachtet noch zu unbestimmt, um einen Hinweis darauf abzugeben, wieso denn gerade der Begriff der Vernunft zur Charakterisierung der Primärstruktur herangezogen werden kann, so macht die zweite wichtige Hegelsche Überzeugung dies deutlicher. Diese Überzeugung betrifft die interne Verfassung der als die Vernunft gekennzeichneten Primärstruktur. Sie wird von Hegel gedacht als komplexe Einheit von Denken und Sein. Die sachlichen Motive für diese Überzeugung lassen sich zusammenfassen in die Maxime, dass nur ein solcher philosophischer Ansatz die Realität zu einem für das Wissen kohärenten Zusammenhang organisieren kann, der darauf insistiert, dass alles, was ist, nur ist, insofern es als Aktualisierung irgendwelcher strukturellen Elemente der Vernunft begriffen werden kann. Diese Behauptung von dem wesentlichen Vernunftcharakter alles Seienden, zusammen mit der in der ersten Überzeugung formulierten These von der Unabweisbarkeit der Annahme einer Primärstruktur, führt geradewegs auf den Gedanken von dieser Primärstruktur als einer Einheit von Denken und Sein, verstanden in dem sehr radikalen Sinn, dass Denken und Sein dasselbe sind, oder dass nur das Denken Sein hat. Nennt man nun, wie Hegel, diese Einheit von Denken und Sein ‚Vernunft‘ und ist man, ebenfalls wie Hegel, davon überzeugt, dass die geforderte Primärstruktur als diese Einheit von Denken und Sein gedacht werden muss, dann wird eben die Vernunft einerseits zu dem, was letztlich wirklich, und andererseits zu dem, was 619
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allein wirklich ist, erklärt. Da eine monistische Position eine solche ist, in der eine einzige Entität als letztlich und allein wirklich behauptet wird, hat man Hegels Konzeption zu Recht einen ‚Monismus der Vernunft‘ genannt (siehe Monismus). Die dritte Überzeugung, die in den Grundgedanken von der Vernunft als der die Wirklichkeit konstituierenden und insofern letztlich allein realen Primärstruktur eingeht, ist die, dass diese Struktur die Wirklichkeit und damit ihre eigene Objektivität in einem teleologischen Prozess konstituiert, der als ein Erkenntnisprozess verstanden werden muss. Es ist diese Überzeugung, die auf das für das Hegelsche systematische Unternehmen so typische Dogma führt, dass es ohne Dynamisierung der Ontologie keine adäquate Theorie der Wirklichkeit geben kann. Die Formel, die Hegel seit den frühen Jenaer Arbeiten zur Charakterisierung dieses Prozesses verwendet, verweist sehr deutlich auf die dominierende Rolle, die er dem, was er ‚Vernunft‘ nennt, in seinem auf die Entfaltung seines Grundgedankens angelegten systematischen Ansatz zuweist: Dieser Prozess wird nämlich als der der ‚Selbsterkenntnis der Vernunft‘ beschrieben. In diese Formel versucht Hegel verschiedene Aspekte seines Vernunftbegriffs zu integrieren. Zunächst einmal den Aspekt, der durch die Insistenz darauf bestimmt ist, dass man die als Primärstruktur zu identifizierende Vernunft als etwas aufzufassen hat, dem ein dynamischer Charakter wesentlich zukommt. Damit ist gemeint, dass zu den die Primärstruktur auszeichnenden Momenten das Element der Selbstrealisation gehört. Die Weise, in der Hegel dieses Element der Selbstrealisation in seine Vorstellung von der Vernunft als der Einheit von Denken und Sein einbindet, ist schwierig zu fassen. In eher populärer Verkürzung kann man sich den sachlichen Hintergrund, der zur Einbindung des Elements der Selbstrealisation in das Konzept von der Vernunft als der Primärstruktur nötigt, durch die Einbeziehung einer an der Theorie des Organismus orientierten Metaphorik verdeutlichen. So wie ein Organismus als ein Wesen beschrieben werden kann, dessen Entwicklung derart an den Begriff oder den Strukturplan seiner selbst gebunden ist, dass zu seiner Realität die (mehr oder weniger) gelungene Realisation dieses Begriffs bzw. des Strukturplans wesentlich gehört, so soll auch die Hegelsche Vernunft, verstanden als die ontologisch relevante Primärstruktur, in einem quasi-organischen Entwicklungsprozess die ihren Begriff ausmachende Einheit von Denken und Sein realisieren, um sich insofern als real oder als Realität darstellen zu können. Der zweite Aspekt, auf den Hegel hinweisen möchte, wenn er den Terminus ‚Selbsterkenntnis der Vernunft‘ zur Charakterisierung eines Prozesses verwendet, der eben als jener der Selbstrealisation der Vernunft verstanden werden muss, ist der, dass dieser Prozess für die Vernunft einen Erkenntnisprozess darstellt. Es genügt Hegel offensichtlich nicht, seine Vorstellung von Vernunft als der ontologischen Primärstruktur in eine am Paradigma des Organismus ausgerichtete Realisationskonzeption einzubetten. Eine solche Einbettung ist ihm allem Anschein nach zu unspezifisch, weil sie keine Auskunft darüber gibt, wie denn dieser alles Organische auszeichnende Prozess der Selbstrealisation hinsichtlich der Vernunft genauer und hinreichend differenziert zu fassen ist. Die spezifische Weise der Realisation der Vernunft ist nun deshalb zunächst einmal als Erkenntnisprozess zu charakterisieren, weil nur diese Charakterisierung dem Faktum Rechnung trägt, dass das, was sich da realisiert, eben die Vernunft, als etwas aufzufassen ist, das in sensu stricto nichts anderes als Denken im Sinne von Erkennen ist. Doch auch so ist die Weise der Realisierung der Vernunft noch unterbestimmt, wenn man nicht die These von 620
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der Vernunft als der letztlich allein wirklichen ontologischen Primärstruktur in das Realisierungskonzept mit einbezieht. Die Einbeziehung dieser These führt dann sehr direkt auf die teleologisch bestimmte Beschreibung des Realisationsprozesses der Vernunft als eines Prozesses der Selbsterkenntnis. Wenn es nämlich stimmt, dass es nur die Vernunft – verstanden als Einheit von Denken und Sein – gibt, und wenn es stimmt, dass zu diesem Begriff der Vernunft das Konzept seiner Realisierung in der Form eines Erkenntnisprozesses wesentlich gehört, dann kann dieser Prozess nur auf die Erkenntnis der Vernunft selbst gerichtet sein, weil es außer der Vernunft nichts gibt. Da dieser Prozess zum Ziel hat, die Vernunft darüber zu verständigen, dass sie allein Realität hat, muss nach Hegel die Darstellung dieses Prozesses die Form eines Systems haben, in dem jede Erscheinungsweise der Wirklichkeit seinen Vernunftcharakter dokumentiert. Dieses System tatsächlich auszuführen, beansprucht Hegels Philosophie. Das Projekt, Vernunft nicht nur als Grund aller Wirklichkeit, sondern als selbst alle Wirklichkeit systematisch auszuweisen, ist Hegels einziges philosophisches Ziel. Er hat an ihm Zeit seines Lebens festgehalten. Er hat einige Zeit gebraucht, um dieses Projekt explizit formulieren zu können. Dies hängt mit seiner intellektuellen Entwicklung zusammen (siehe oben Nr. 2). Und er hat verschiedene Ansätze der Realisierung dieses Projekts (siehe oben Nr. 3) erwogen und auszuarbeiten versucht. Doch er hat zu keiner Zeit irgendeinen Grund gesehen, das Projekt selbst in Frage zu stellen. 5. Phänomenologie des Geistes Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807) ist das wohl wirkungsmächtigste philosophische Werk Hegels gewesen. Es hat die Funktion, eine Einleitung in das System der Philosophie durch eine Geschichte der Erfahrung des Bewusstseins zu geben. Unter dem systematischen Gesichtspunkt einer Einleitung betrachtet, stellt die ‚Phänomenologie des Geistes‘ nur einen von verschiedenen einleitenden Versuchen Hegels dar. In den Jenaer Schriften und Systementwürfen nimmt die Funktion der Einleitung eine von Hegel ‚Logik‘ genannte Disziplin wahr. Diese Logik soll ihrer einleitenden Aufgabe dadurch gerecht werden, dass sie unser ‚normales‘ Denken, welches durch das Befangensein in Entgegensetzungen charakterisiert ist, auf den Standpunkt der ‚Spekulation‘ – dies ist Hegels Bezeichnung für ein philosophisches Denken – erhebt. Die Spekulation oder ein spekulatives Denken ist ausgezeichnet durch das Wissen um die Auflösbarkeit von Entgegensetzungen und um die Mechanismen des Zustandekommens derselben. Das Denken, das durch das Festhalten von Entgegensetzungen zugleich deren prinzipielle Unüberwindbarkeit behauptet, nennt Hegel zu jener Zeit ‚Reflexion‘, und die Erhebung dieses Denkens auf den Standpunkt der Spekulation betrachtet er als einen Prozess der Destruktion der die Reflexion auszeichnenden Strukturen, die zusammen die Endlichkeit der Reflexion ausmachen. ‚Endlichkeit‘ der Reflexion oder (von Hegel damit als Synonym gebraucht) des Verstandes ist zunächst eine terminologische Umschreibung des Umstands, dass ein Denken, dem Gegensätze unaufhebbar sind, sich in Grenzen bewegt und daher als endlich betrachtet werden muss. Es ist nun nach Hegel die Aufgabe der Logik, die Destruktion der Endlichkeit der Reflexion oder des Verstandesdenkens durchzuführen und damit zugleich auf den Standpunkt der Spekulation oder des vernünftigen Denkens hinzuführen. Das Problem einer Logik, verstanden als Einleitung 621
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in die Philosophie, besteht für Hegel darin, diese Destruktion so durchzuführen, dass in ihr nicht bloß die Beschränktheiten des Verstandesdenkens sowie dessen Voraussetzungen als Fehler und Absurditäten dargestellt und vernichtet werden, sondern dass in ihr zugleich die Zusammenhänge deutlich werden, die eine vernünftige und d.h. realitätsadäquate Einsicht in die Grundstrukturen der Wirklichkeit garantieren. Gegen Ende seiner Jenaer Zeit gibt Hegel das Projekt auf, eine Logik als Einleitung in das System der Philosophie auszuarbeiten. An ihre Stelle tritt eine neue Disziplin zum Zwecke der Einleitung in das System, die er ‚Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‘ oder ‚Phänomenologie des Geistes‘ nennt. Das erklärte Ziel dieser Disziplin ist ein doppeltes: Sie soll einerseits durch den Nachweis der Widersprüche, die in unseren normalen vielschichtigen Einstellungen zur Welt auftreten, unser von uns für natürlich gehaltenes Weltbild und damit auch unsere Auffassung von uns selbst als der irgendwie konsistenten Träger oder Subjekte dieses Weltbilds destruieren. Und sie soll andererseits seinen ontologischen Monismus rechtfertigen, indem sie zeigt, dass unsere natürliche Tendenz, die Welt als ein Ensemble von Gegenständen aufzufassen, die für uns Fremdes und Anderes sind, sich nicht halten lässt. Wir müssen vielmehr zugestehen, dass wir, um der wirklichen Verfassung der Welt Rechnung tragen zu können, voraussetzen müssen, dass wir und die Welt eine strukturelle Einheit darstellen, deren Wesen es ist, um sich zu wissen und d.h. selbstbewusst zu sein. Hegel verfolgt dieses doppelte Ziel in einem vielschichtigen und ambitionierten Gedankengang, der eine Vielzahl von Themen – historische, epistemologische, psychologische, wissenschaftstheoretische, ideologiekritische, moralphilosophische, ästhetische und religionsphilosophische – miteinander zu verbinden und in einen umfassenden Zusammenhang zu stellen versucht. Dieser ganze Gedankengang beruht auf zwei Überzeugungen, die Hegels gesamte Konstruktion leiten: (1) Man kann alle epistemischen Verhaltensweisen eines Bewusstseins zu einer gegenständlichen Welt so auffassen, dass sie als Beziehungen zwischen einem ‚Wissen‘ genannten Subjekt und einem ‚Wahrheit‘ genannten Objekt interpretiert werden können. Was jeweils als Wissen bzw. Wahrheit auftritt, ist determiniert durch die Beschreibung, die das Bewusstsein von seiner jeweiligen epistemischen Situation und seinem dieser Situation entsprechenden Gegenstand geben kann. (2) ‚Erkenntnis‘ kann nur diejenige epistemische Beziehung zwischen Wissen (Subjekt) und Wahrheit (Objekt) genannt werden, in der Wissen und Wahrheit einander entsprechen und d.h. für Hegel, identisch sind. Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, dass diese Identitätsrelation zwischen Wissen und Wahrheit behauptet werden kann, ist, dass das, was als Wissen bzw. Wahrheit in dieser Relation stehen soll, nicht selbst widersprüchlich bzw. inkonsistent formuliert werden muss. Erkenntnis in sensu stricto ist also für den Hegel der ‚Phänomenologie des Geistes‘, wie auch für den Hegel der ihr folgenden Schriften, eigentlich Selbsterkenntnis. Bei der in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ unternommenen Charakterisierung der unterschiedlichen epistemischen Einstellungen eines Bewusstseins zur Welt geht Hegel aus von dem, was er ‚sinnliche Gewissheit‘ nennt. Mit diesem Terminus kennzeichnet Hegel eine Einstellung, die von der Voraussetzung ausgeht, dass man zum Zwecke der Erkenntnis der wahren Verfassung der Wirklichkeit sich auf das beziehen müsse, was uns als sinnlich gegebener einzelner Gegenstand raum-zeitlich unmittelbar präsent ist. Hegel zeigt die Haltlosigkeit dieser Einstellung dadurch auf, dass er nachzuweisen versucht, dass in solchem unmittelbaren Bezug nichts Wahres 622
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über Gegenstände ausgemacht werden kann, sondern dass dieser Ansatz bereits eine Auffassung impliziert, demzufolge das, womit wir es in Wahrheit zu tun haben, wenn wir uns auf gegenständliche Wirklichkeit beziehen, Dinge mit ihren Eigenschaften sind, die in der Wahrnehmung gegeben sind. Doch auch diese Auffassung lässt sich nach Hegel nicht durchhalten. Weder kann das wahrnehmende Bewusstsein, noch der wahrgenommene Gegenstand, noch die Beziehung, die zwischen beiden bestehen soll, so genommen werden, wie sie in dieser Konstellation auftreten: Das Subjekt, das den Gegenstand der Wahrnehmung als das auffassen möchte, was in Wahrheit ist, kann weder einen konsistenten Begriff dieses Gegenstands formulieren, noch kann es sich selbst in nicht-widersprüchlicher Weise charakterisieren. Das Bewusstsein wird auf diese Weise zu einem Begriff vom Gegenstand geführt, der differenziert zwischen dem, was der Gegenstand an sich ist, und dem, wie er erscheint. Dieses Bewusstsein muss sich, um diese Unterscheidung treffen zu können, als Verstand definieren, dem sich die innere, an sich seiende Verfassung des Gegenstandes als konstituiert durch seine Gesetze, also durch Verstandesgesetze erschließt. Obwohl auch diese Interpretation der gegenständlichen Welt durch das erkennende Subjekt nach Hegel weder einen wahrheitsfähigen Begriff des erkennenden Bewusstseins, noch des Gegenstandes ergibt, führt sie dazu, dass sie eine Auffassung erzwingt, derzufolge ein Bewusstsein, wenn es sich auf einen Gegenstand bezieht, auf etwas bezieht, was es selbst ist. Die Realisierung dieser Einsicht, dass das Bewusstsein, wenn es sich auf Gegenstände bezieht, sich in Wahrheit auf sich selbst bezieht, macht nach Hegel das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein. Die verschiedenen Weisen des Umgangs des Bewusstseins mit sich selbst und die diesen Weisen entsprechenden objektiven Manifestationen als Vernunft und Geist erörtert Hegel im umfangreichen weiteren Verlauf der ‚Phänomenologie des Geistes‘. Es ist dieser Kontext, in dem er einige seiner berühmtesten Lehrstücke vorträgt, wie etwa die Analyse des Herr-Knecht-Verhältnisses, seine Kritik an der Aufklärung und der französischen Revolution, seine Diagnose der Stärken und Schwächen antiker Vorstellungen von Sittlichkeit und seine Theorie der Religion. Den Abschluss der ‚Phänomenologie des Geistes‘ bildet das, was Hegel ‚das absolute Wissen‘ nennt. Hegel charakterisiert dieses Wissen auch als ‚begreifendes Wissen‘. Er will damit auf zweierlei hinweisen: (1) Er will behaupten, dass dieses Wissen nur dann vorliegt, wenn das Subjekt des Wissens sich unter jeder Beschreibung mit dem Objekt des Wissens identisch weiß. Begreifendes Wissen liegt daher nur dann vor, wenn das Ich sich ‚in seinem Anderssein bei sich selbst‘ weiß. Er will (2) darauf aufmerksam machen, dass diese Art von Identität von einem Subjekt mit einem Objekt es ist, die das Wesen dessen ausmacht, was er den ‚Begriff‘ der Vernunft nennt. Diesen ‚Begriff‘ der Vernunft in all seinen logischen Bestimmungen zu entwickeln, ist Aufgabe der ‚Wissenschaft der Logik‘. Das Ziel der ‚Phänomenologie des Geistes‘, verstanden als die Disziplin die auf die Logik einleitend hinführen soll, ist dann erreicht, wenn dem am Anfang auftretenden natürlichen Bewusstsein klar geworden ist, dass (Hegelsche) Wahrheit nur dem (Hegelschen) Begriff zukommt. Doch die ‚Phänomenologie des Geistes‘ soll nicht nur Einleitung in das System sein. Unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, bezeichnet Hegel den phänomenologischen Prozess als ‚sich vollbringenden Skeptizismus‘. Er versucht mit dieser Metapher einen Anknüpfungspunkt an ein Thema herzustellen, das ihn schon in seinen früheren Jenaer Schriften beschäftigt hat. Es ist das zeitkritische 623
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Thema der Entzweiung. Für Hegel ist die moderne Zeit dadurch ausgezeichnet, dass in ihr die Einheit aus dem Leben der Menschen verschwunden ist. Die allumfassende Einheit des Lebens ist dem modernen Menschen nicht mehr erfahrbar, weil er nicht mehr in der Lage ist, die unterschiedlichen Aspekte seines Weltverständnisses in einen konfliktfreien Zusammenhang zu integrieren. So legen ihn z.B. seine moralischen Überzeugungen auf ein Weltbild fest, in dem so etwas wie Freiheit und dem entsprechend auch so etwas wie Kausalität aus Freiheit einen unumstößlichen Platz einnimmt. Dieses auf moralische Überzeugungen gegründete Weltbild steht aber in einem spannungsreichen und in Hegels Augen letztlich aporetischen Verhältnis zu seinem naturwissenschaftlichen Weltbild, das ihn auf ein Weltverständnis verpflichtet, in dem es keine ersten Ursachen oder unbedingte Sachverhalte gibt, weil in diesem Weltbild jede Ursache selbst wieder als Wirkung interpretiert werden muss, deren Ursache auch nur als determiniert durch vorhergehende Umstände angesehen werden kann. In diesem Weltbild ist offensichtlich für Freiheit kein Platz. Dieser hier als Beispiel herangezogene Konflikt zwischen verschiedenen Aspekten des Weltverständnisses ist für Hegel keineswegs singulär, sondern er zieht sich wie ein roter Faden durch die modernen Konzeptualisierungen aller Lebensbereiche. Er wird von Hegel zunächst ganz im Geiste Rousseaus als ein Produkt der Bildung und der Zivilisation gedeutet. Dieser Konflikt ist es, der den Menschen in dem Sinne mit sich selbst entzweit, dass ihm ein einheitliches Weltbild versagt bleibt. Als dieses in Entzweiungen lebende Wesen ist der moderne Mensch ein Fall dessen, was Hegel das ‚unglückliche Bewusstsein‘ nennt. Das moderne Bewusstsein versucht nun diesen Konflikt dadurch zu lösen, dass es jeweils eines der im Konflikt befindlichen Weltbilder zur Leitperspektive seiner gesamten Weltinterpretation macht. Es gelangt auf diese Weise aber nur zu einseitigen Gesamtdeutungen der Wirklichkeit, die der wahren Verfassung der Wirklichkeit ebenso wenig gerecht werden wie dem Bedürfnis des menschlichen Bewusstseins, alle Aspekte der Wirklichkeit unverkürzt in sein auf Kohärenz und Einheit angelegtes Weltverständnis zu integrieren. In einer solchen Situation entsteht nach Hegel das Bedürfnis nach Philosophie. Ihre Aufgabe ist es, diese einseitigen Gesamtdeutungen des Bewusstseins zu destruieren und in dieser Destruktion die Grundlagen für die wahre Gesamtdeutung der Wirklichkeit freizulegen. Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ stellt diesen Destruktions- und Grundlegungsprozess dar. Das Bewusstsein erfährt ihn als einen Prozess der permanenten Destabilisierung aller der Überzeugungen, auf die es seine jeweils einseitigen Weltdeutungen gegründet hat. Es wird dazu getrieben, an allem zweifeln zu müssen und in dieser skeptischen Einstellung alle seine vermeintlichen Gewissheiten preiszugeben. Während der phänomenologische Prozess auf diese Weise dem Skeptizismus ein philosophisches Recht einräumt, überwindet er ihn nach Hegels Verständnis gleichzeitig dadurch, dass er ihm eine wahrheitserschließende Funktion abgewinnen kann. Die ‚Phänomenologie des Geistes‘ will Hegel deshalb auch als einen Traktat über die kathartische Wirkung philosophischer Skepsis verstanden wissen. Es sind vor allem zwei Fragen gewesen, die immer wieder im Zusammenhang mit Hegels Konzeption der ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Einleitung in das ‚System der Wissenschaft‘, insbesondere der Logik, kritisch diskutiert worden sind. Die erste Frage ist die, ob Hegel nicht zentrale Thesen der Disziplin, in die die ‚Phänomenologie des Geistes‘ einführen soll, in dieser Einführung bereits voraussetzt. 624
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Diese Frage verweist auf ein methodologisches Problem, das durch die Hegelsche Behauptung entsteht, der in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ dargestellte Bewusstseinsprozess sei nicht durch irgendwelche diesem Prozess externen Vorgaben geleitet. Diese Behauptung scheint schwer in Übereinstimmung gebracht werden zu können mit gewissen Operationen, die Hegel im Verlauf der ‚Phänomenologie des Geistes‘ ausführt. Die zweite Frage ist mehr immanenter Natur und betrifft den kategorialen Apparat, den Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ in Anspruch nimmt. In diesem Zusammenhang haben besonders seine phänomenologische Konzeption der Negation und der Identität sowie sein Erkenntnisbegriff bereits sehr früh kritisches Interesse erregt. Wie Hegel späterhin selbst den Erfolg der ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Hinführung auf den Standpunkt eingeschätzt hat, der zu Beginn seiner ‚Wissenschaft der Logik‘ vorausgesetzt wird, ist schwer auszumachen. Auf der einen Seite scheint er ihr Zeit seines Lebens einen gewissen Wert auch als Einleitung zugemessen zu haben. Dies belegt nicht nur der Umstand, dass er noch unmittelbar vor seinem Tode Vereinbarungen für eine zweite Auflage dieses Werkes getroffen hat, sondern dies zeigen auch seine späteren Äußerungen in den verschiedenen Auflagen der ‚Wissenschaft der Logik‘ und der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘. Genau diese Äußerungen sind es aber auch, denen man eine zunehmend kritischere Einstellung Hegels zu dem Projekt einer phänomenologischen Einleitung in das System entnehmen kann. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch, dass Hegel spätestens seit 1827, d.h. seit der zweiten Auflage der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘, nicht mehr auf eine Version der Phänomenologie zurückgreift ‚als nähere Einleitung, um die Bedeutung und den Standpunkt, welche hier der Logik gegeben ist, zu erläutern und herbeizuführen‘, sondern zu diesem Zwecke einen Gedankengang einführt, der drei verschiedene ‚Stellungen des Gedankens zur Objektivität‘ thematisiert. 6. Wissenschaft der Logik Das eigentliche Kernstück des Hegelschen System stellt die von ihm ‚Logik‘ genannte Disziplin dar. Sie enthält, wenn man ihren Gegenstand in traditioneller Terminologie beschreiben will, seine Kategorienlehre (s. Kategorien). Hegel hat dieser Disziplin sein umfangreichstes und wohl komplexestes Werk gewidmet, die ‚Wissenschaft der Logik‘ (1812– - 1816). Diesem Werk hat er später eine sehr viel kürzere Version der Logik im Rahmen der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ an die Seite gestellt. Ausgangspunkt der Logik ist die in Hegels Augen durch das Resultat der ‚Phänomenologie des Geistes‘ gerechtfertigte Einsicht, (1) dass alles wahre Wissen ein Wissen um sich selbst ist und (2) dass das Subjekt dieses Wissens, d.h. also das, was da um sich weiß, die Vernunft ist. Aufgrund des Umstands, dass Hegel – Schelling folgend – nur das für real hält, was auch gewusst werden kann, folgt für ihn aus dem Ergebnis der ‚Phänomenologie des Geistes‘, dass nur die Vernunft real ist. Diese Vernunft wird von Hegel als eine intern ungeheuer komplexe Entität gedacht. Hegel unterscheidet nun zwischen dem Begriff der Vernunft und dem Prozess seiner Realisierung. Gegenstand der ‚Wissenschaft der Logik‘ ist die konzeptuelle und d.h. bei Hegel die logische Entfaltung dieses Begriffs. Da dieser Begriff der Begriff dessen ist, was allein wirklich ist, kann Hegel von seiner ‚Wissenschaft der Logik‘ 625
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behaupten, sie trete auch an die Stelle der traditionellen Metaphysik, die sich um die Aufhellung der grundlegenden Weisen bemüht habe, in denen Wirklichkeit gedacht werden kann. Da das, dessen Begriff zur logischen Erörterung ansteht, die als alle Realität verstandene Vernunft ist, müssen in den Begriff der Vernunft sowohl solche Aspekte eingehen, die dem Realitäts- oder Seinscharakter der Vernunft Rechnung tragen, als auch solche Aspekte, die dem eigentümlichen Charakter der Vernunft, Denken zu sein, gerecht werden. Hegel nennt diese Aspekte ‚Begriffsbestimmungen‘. Die Aspekte des Begriffs der Vernunft, die dem Seinscharakter Rechnung tragen, entwickelt Hegel in dem Teil der ‚Wissenschaft der Logik‘, den er ‚objektive Logik‘ nennt, die Aspekte, die dem Denkcharakter gerecht werden sollen, trägt er in dem Teil vor, den er ‚subjektive Logik‘ nennt. Die objektive Logik unterteilt er noch einmal in die Logik des Seins und die Logik des Wesens. In der objektiven Logik versucht Hegel zu zeigen, wie sich aus sehr einfachen, so genannten ‚unmittelbaren‘ Bestimmungen wie ‚Sein‘, ‚Nichts‘ und ‚Werden‘ andere Qualitäts- und Quantitätskategorien sowie relationale und modale Bestimmungen, wie ‚Ursache-Wirkung‘, Substanz-Akzidenz‘ und ‚Wirklichkeit‘, ‚Notwendigkeit‘ und dergleichen generieren lassen. Die hier wie auch in der subjektiven Logik zugrunde gelegte Strategie bei der Erzeugung von Kategorien oder Begriffsbestimmungen geht von den beiden Voraussetzungen aus, dass es (1) zu jeder Kategorie eine ihr entgegengesetzte gibt, die sich bei näherer Analyse als ihre eigentliche Bedeutung erweist, und dass es (2) zu jeweils zwei in dieser Weise entgegengesetzten Kategorien eine dritte gibt, deren Bedeutung durch das festgelegt ist, was als Kompatibilitätsrest der entgegengesetzten Kategorien angesehen werden kann. Hegel hält diese beiden Voraussetzungen deshalb für gerechtfertigt, weil nur sie es sind, die zu einem in seinen Augen vollständigen und nicht kontingenten Kategoriensystem führen. Hegel selbst hat allerdings sehr wenig dazu getan, den genauen Sinn dieser beiden Voraussetzungen deutlich zu machen, obwohl er sie virtuos handhabt. Dies hat dazu geführt, dass unmittelbar nach seinem Tod eine mittlerweile längst unübersichtlich gewordene, aber keineswegs zu einem Abschluss gekommene Diskussion eingesetzt hat, die die Interpretation dieser beiden Voraussetzungen zum Gegenstand hat. Viele Urteile über Wert oder Unwert der Hegelschen Philosophie hängen mit dieser Diskussion zusammen, die als Diskussion über Sinn, Bedeutung und Wert der so genannten ‚dialektischen Methode‘ in die Annalen der Hegel-Forschung eingegangen ist. Vor allem die von Hegel oft gepriesene wahrheitsgenerierende Rolle des Widerspruchs hat sich im Zusammenhang der Diskussion um die in der ‚Wissenschaft der Logik‘ exponierte so genannte ‚dialektische Methode‘, die Hegel selbst eher als ‚spekulative Methode‘ bezeichnet, als ein schwer zugängliches Lehrstück erwiesen. Diese Unzugänglichkeit mag zum Teil an Hegels extrem kurzen und provokanten Formulierungen dieser methodischen Maxime gelegen haben. Erinnert sei nicht nur an die lapidare Formulierung, die er im Rahmen seines Habilitationsverfahrens als These zu verteidigen gewählt hat und die lautet ‚contradictio est regula veri, non contradictio falsi‘, erinnert sei auch an seine provokative Version des Satzes des Widerspruchs, demzufolge gelten soll ‚alle Dinge sind an sich selbst widersprechend‘. Die Schwierigkeiten, die mit dem Verständnis der Hegelschen Konzeption des Widerspruchs verbunden sind, haben aber sicher auch etwas mit seinem eigen626
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
tümlich unkonventionellen Widerspruchsbegriff zu tun. In Hegels Begriff des Widerspruchs gehen hauptsächlich zwei Überzeugungen ein, die ihn vom klassischen Widerspruchsbegriff der traditionellen Logik unterscheiden: (1) Ein Widerspruch kann zwischen zwei Aussagen nicht allein aufgrund des Umstands konstatiert werden, dass in ihnen einem Subjekt zwei entgegengesetzte Prädikate zugeschrieben werden, es muss darüber hinaus auf die Bedeutung des Subjekts dieser Aussagen geachtet werden. Sind dem Subjekt die entgegengesetzten Prädikate erst gar nicht sinnvoll zuschreibbar, liegt auch kein Widerspruch vor. ‚Lesbar‘ und ‚unlesbar‘ sind Prädikate, die zu Widersprüchen nur dann führen, wenn sie Texten, nicht aber wenn sie z.B. Bananen prädiziert werden. Dies heißt für Hegel u.a., dass die Widerspruchsbeziehung kontextabhängig ist. (2) Widersprüche denkt Hegel in Analogie zu positiven und negativen Bestimmungen, die sich gegenseitig neutralisieren, ohne dass sie das, dessen neutralisierende Bestimmungen sie sind, zu einem widersprüchlichen Begriff machen, der überhaupt keine Bedeutung hat, der also nichts bedeutet (das Kantische ‚nihil negativum‘). Die Weise, in der positive und negative Bestimmungen sich neutralisieren, sagt vielmehr etwas Informatives über das aus, dem die sich neutralisierenden Bestimmungen zukommen. So neutralisiert z.B. der Besitz von 100,- Euro eine Schuld von 100,- Euro, ohne dass der Begriff des Eigentums ein widersprüchlicher Begriff wird. Die Weise der Neutralisation macht vielmehr deutlich, dass der Begriff ‚Eigentum‘ etwas bezeichnet, das als quantifizierbare Größe gedacht werden muss. Für Hegel ist dies Folge „des logischen Satzes, ... dass das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts“. Ob diese beiden Überzeugungen genügen, Hegels These zu rechtfertigen, dass Widersprüchen eine ‚positive‘ Rolle in Erkenntnisprozessen zukommt, ist zu Recht strittig. Hegels subjektive Logik, der zweite Teil der ‚Wissenschaft der Logik‘, enthält nicht nur seine so genannte ‚spekulative‘ Deutung der Gegenstände der traditionellen Logik, d.i. seine eigene Begriffs-, Urteils- und Schlusslehre. Sie enthält vor allem seine Theorie dessen, was er Begriff nennt. Diese Theorie des Begriffs ist tief verwurzelt in Hegels Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik. Sie ist daher am besten vor dem Hintergrund der Hegelschen Metaphysikkritik verständlich zu machen. Diese Metaphysikkritik stellt Hegel besonders prägnant in der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ dar. Nach Hegel geht es in der Philosophie um die ‚wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit‘. Dies heißt für Hegel unter anderem, dass es in der Philosophie darum geht zu erkennen, ‚was die Objekte wahrhaft sind‘. Die Frage, was die Objekte wahrhaft sind, ist zwar nach Hegel in der Philosophie von den verschiedensten Seiten her angegangen worden, die bisherigen Weisen ihrer Beantwortung sind aber allesamt unbefriedigend, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Die traditionelle Metaphysik ist eine dieser Weisen des Umgangs mit der Frage nach dem, was die Objekte wahrhaft sind. Ihren Ansatz kennzeichnet Hegel als ‚das unbefangene Verfahren‘ welches glaubt, ‚dass durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewusstsein gebracht werde‘. Im Gegensatz zu den anderen philosophischen Weisen des Umgangs mit der gestellten Frage ist nach Hegel die Metaphysik im Prinzip durchaus in der Lage, einen Beitrag zur Erkenntnis dessen zu leisten, was die Objekte in Wahrheit sind. Dies deshalb, weil sie nämlich von der in Hegels Augen richtigen Überzeugung ausgeht, „dass die Denkbestimmungen als die Grund627
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bestimmungen der Dinge“ anzusehen sind. Zugleich aber gilt für Hegel, dass die traditionelle Metaphysik faktisch keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Erkenntnis der Wahrheit geleistet hat, weil sie ihre richtige Voraussetzung nur in systematisch irreführender Weise umzusetzen gekonnt hat. Der entscheidende Mangel der metaphysischen Betrachtungsart besteht nach Hegel darin, dass die Metaphysik sich der Form des Urteils unreflektiert bedient. Der unreflektierte Gebrauch zeigt sich in verschiedener Weise. Zunächst macht er sich in der durch nichts ausgewiesenen Annahme der traditionellen Metaphysik bemerkbar, dass Urteile einen eigentümlich direkten Aufschluss geben über die Verfassung der Wirklichkeit oder über das, was wirklich ist. Zu den Folgen dieser ungesicherten Annahme gehört nach Hegel zweierlei: (1) Dass sie grundlos geneigt gewesen ist, ein bestimmtes ontologisches Modell der Wirklichkeit deshalb zu favorisieren, weil ihr als Standardform des Urteils die Subjekt-Prädikat-Form gegolten hat. (2) Die zweite Folge, die in Hegels Augen ungleich problematischer ist, besteht in der unbegründeten Neigung der traditionellen Metaphysik, die unbefragt angenommene Entsprechung zwischen Urteilsform und Wirklichkeitsverfassung zur Grundlage der Überzeugung zu machen, dass man mit Urteilen das was Gegenstände in Wahrheit sind, zum Ausdruck bringen kann. Problematisch findet Hegel nicht die in dieser Überzeugung enthaltene Annahme, dass man sich urteilend zu Gegenständen verhalten kann, ein Problem sieht er vielmehr darin, dass man ohne Prüfung davon ausgehen kann, dass „die Form des Urteils Form der Wahrheit sein könne“. Eine solche Prüfung ist aber nach Hegel unabdingbar, weil das traditionelle Verständnis dessen, was Subjekte und Prädikate überhaupt sind, nicht die Behauptung rechtfertigt, dass ein Subjekt-Prädikat-Urteil etwas zur Bestimmung eines wirklichen Gegenstands beiträgt. Für Hegel kommt erschwerend hinzu, dass der unreflektierte Gebrauch der Form des Urteils die traditionelle Metaphysik dazu verleitet hat, sich einer sozusagen ‚natürlichen‘ Interpretation der Begriffe des Subjekts und des Prädikats zu bedienen. Diese Interpretation bringt es mit sich, dass Urteile der Subjekt-PrädikatForm keinerlei Anspruch auf ‚Wahrheit‘ erheben können. Es sind also hauptsächlich die Unklarheiten, die mit der Form des Urteils verbunden sind, die Hegel der traditionellen Metaphysik kritisch anlastet. Insbesondere verwirft er ihre Tendenz, das Urteil ‚natürlich‘ zu interpretieren und das heißt für ihn, einer subjektivistischen, auf dem Begriff Vorstellung aufbauenden Interpretation des Urteils Vorschub zu leisten. Eine solche subjektivistische Interpretation kann nicht einsichtig machen, wie man denn dem Urteil irgendeinen Anspruch auf Wahrheit oder Erkenntnis dessen, was etwas wahrhaft ist, sichern kann. Ist so die subjektivistische metaphysische Interpretation des Urteils schon im Ansatz problematisch, so wird sie nach Hegel geradezu gefährlich, wenn man ihre ontologischen Implikationen bedenkt. Diese Interpretation verführt nämlich zu der Annahme, dass die den Urteilssubjekten entsprechenden Gegenstände als Substanzen zu denken sind, denen die durch Prädikatbegriffe bezeichneten Eigenschaften zukommen. Die unreflektierte, von der Metaphysik ‚aufgenommene‘ subjektivistische Interpretation impliziert das, was man eine Substanzontologie nennen kann, oder legt sie wenigstens nahe. Eine Substanzontologie ist eine solche, derzufolge die grundlegenden Entitäten der Wirklichkeit als voneinander unabhängige Substanzen angenommen werden, die durch ihnen zukommende oder nicht zukommende akzidentelle Merkmale prädikativ bestimmt sind. Im Grunde ist es diese Verpflichtung auf eine Sub628
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–-1831)
stanzontologie, die Hegel der traditionellen Metaphysik in kritischer Absicht unterstellt. Aus dieser Kritik leitet Hegel die Forderung ab, dass man sich erst einmal darüber verständigen müsse, was denn das Objekt in Wahrheit ist, ehe man Leistung und Funktion des Urteils im Zusammenhang der Erkenntnis angemessen erfassen kann. Diese Verständigung über das, was ein Objekt in Wahrheit, also wirklich, ist, ist Aufgabe der Logik des Begriffs. Ausgangspunkt der Hegelschen Theorie des Begriffs ist die Annahme, die er der traditionellen Metaphysik als im Prinzip richtige Einsicht unterstellt hat. Dies ist die Einsicht gewesen, dass man nur durch das Denken erkennen kann, was etwas in Wahrheit oder wirklich ist. Da es das Denken nach Hegel nicht mit Anschauungen oder Vorstellungen sondern mit Begriffen zu tun hat, identifiziert Hegel das, was etwas wirklich oder in Wahrheit ist, mit seinem Begriff. Auf diese Weise gewinnt für Hegel die Rede vom Begriff eine ontologische Konnotation. Hegelsche Begriffe dürfen nicht mit den so genannten Allgemeinbegriffen der traditionellen Logik verwechselt werden, sondern sie sind schwer genau zu fassende Entitäten, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie (1) nicht-sinnlich oder eine bestimmte Art von Gedankengegenständen sind und dass sie (2) objektiv – verstanden als Gegenbegriff zu subjektiv – sind. Als diese objektiven Gedanken betrachtet, sind diese Begriffe in dem Sinne bestimmt, dass in ihnen unterschiedliche Verhältnisse von Begriffsbestimmungen anzutreffen sind, die als Denk- oder Gedankenbestimmungen auftreten. Diese Gedankenbestimmungen selbst kann man als eine Art von prädikativen Bestimmungen auffassen. Sie machen die Menge aller derjenigen Bestimmungen aus, aufgrund deren der Begriff eines Objekts als bestimmt angesehen werden kann. Nun hat nach Hegel nicht alles, was in irgendeinem Sinn ein Objekt ist, einen Begriff. Ein (Hegelscher) Begriff kommt nur solchen Objekten zu, die nach dem Muster eines Organismus betrachtet werden können. Hegel will also behaupten, dass man nur das als wirklich oder in Wahrheit seiend ansehen kann, zu dem es einen Begriff gibt, und dass nur jenes einen Begriff hat, was nach dem Muster eines Organismus gedeutet werden kann. Wenn nun die ‚wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit‘ –- Hegels erklärtes Ziel –- darin besteht, den Begriff von etwas zu erkennen, und wenn ein Begriff immer ein Begriff eines organismusartigen Objekts ist, dann stellt sich die Frage von selbst, wie ein solcher Begriff zu denken ist. Für Hegel ist klar, dass in diesen seinen Begriff von Begriff alles das eingehen muss, was zur Beschreibung eines Organismus notwendig ist. Dazu gehört einerseits das, was Hegel den subjektiven Begriff nennt. Diesen subjektiven Begriff veranschaulicht man sich am besten als die Menge aller der Merkmale, deren Realisation ein organismusartiges Objekt darstellt. Für Hegel sind dies bezüglich des Begriffs der Vernunft, deren Begriff die ‚Wissenschaft der Logik‘ erörtert, ausschließlich logische Daten, die sich in der Form von Begriffs-, Urteils- und Schlussbestimmungen darstellen lassen. Außerdem muss der Hegelsche Begriff das Moment der Objektivität enthalten. Objektivität bedeutet hier soviel wie Realität oder Objektsein und verweist auf den Umstand, dass es zum Begriff eines Organismus gehört, sich zu realisieren. Da es nun nach Hegel letztlich nur ein Objekt wirklich oder in Wahrheit gibt, nämlich die Vernunft, muss der Begriff dieses Objekts über ein ihm exklusiv zukommendes Merkmal verfügen. Dieses Merkmal muss es erlauben, die Behauptung zu rechtfertigen, dass es nur einen Begriff und insofern auch nur ein Objekt in Wahrheit gibt. Hegel nennt dieses Merkmal Subjektivität. 629
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Obwohl leicht zu sehen ist, dass der Terminus ‚Subjektivität‘ ein zentrales Element der logischen Theorie Hegels bezeichnet, ist es sehr schwer Sinn und Funktion dieses Terminus bei Hegel aufzuhellen. Relativ offensichtlich ist nur, dass Hegel das Merkmal der Subjektivität nicht nur seinem Begriff, sondern auch Sachverhalten wie Ich, Selbstbewusstsein oder auch Geist zuspricht. Man ist daher auf sicherem Boden, wenn man vermutet, dass die Subjektivität, die dem Begriff zukommen soll, genau das ist, was dem Ich, dem Selbstbewusstsein oder dem Geist als Merkmal zukommt, das sie von anderen Organismusarten unterscheidet. Der Boden wird schwankender dann, wenn es darum geht, was denn Subjektivität bedeutet. Dies nicht nur deshalb, weil Hegel verschiedene Arten von Subjektivität kennt, sondern auch weil die Subjektivität, die dem Begriff zukommt, an Bedingungen gebunden ist, die schwer genau auszumachen sind. Generell scheint zu gelten, dass Subjektivität dann vorliegt, wenn etwas sich selbst als identisch mit etwas anderem begreift. Folgt man der ‚Wissenschaft der Logik‘, so ist diese ‚Subjektivität‘ genannte Identitätsbeziehung allerdings nur zwischen Sachverhalten herstellbar, die selbst als bestimmte Verhältnisse oder Beziehungen der gleichen Elemente bzw. Momente gedacht werden können. Subjektivität in diesem Sinn soll also eine bestimmte Art von Selbstverhältnis oder Selbstbeziehung beschreiben. Im Grunde soll es nach Hegel nur einen Sachverhalt geben, dem Subjektivität in dem erläuterten Sinn als Merkmal zugesprochen werden kann. Dieser Sachverhalt ist die Hegelsche Idee. Von ihr heißt es: ‚Die Einheit der Idee ist Subjektivität‘. Diese Hegelsche Idee bildet nun den Endpunkt der ‚Wissenschaft der Logik‘, weil durch sie nach Hegel der Begriff der Vernunft vollständig expliziert ist. Diese Idee bezeichnet er auch als die absolute Methode, denn sie ist nicht nur das Ergebnis, nämlich der alle seine Momente durchschauende Begriff, sondern auch der auf systematische Weise generierte Zusammenhang dieser Momente. Die Ergebnisse der Logik des Begriffs sind es, die die Begründung für Hegels Auffassung darstellen, dass das vollständige System der Philosophie neben einer Logik auch eine so genannte ‚Realphilosophie’ enthalten muss, die in die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes eingeteilt ist. Hegel unternimmt diese Begründung im Rahmen der Darlegung dessen, was denn den voll entwickelten (Hegelschen) Begriff auszeichnet. Diese Darlegung wird nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Hegel, wie bereits oben ausgeführt, ein Anhänger eines organologischen Paradigmas in der Metaphysik ist, demzufolge das, was wirklich ist, als eine bestimmte Art von Organismus aufgefasst werden muss. Hegel beschreibt ja den für seine Metaphysik relevanten Typ von Organismus als ein Gebilde, das seinen Begriff derart realisiert oder objektiviert hat, dass es sich als Objektivation dieses seines Begriffes begreift. Auf der Grundlage dieser Auffassung entwickelt nun Hegel folgende Überlegung: Der (Hegelsche) Begriff ist etwas, das als Einheit von (in gewisser Weise inkompatiblen) Begriffsbestimmungen anzusehen ist. Zu diesen Bestimmungen gehört auch, wie Hegel meint zeigen zu können, die der Objektivität. Damit ist gemeint, dass es zum Wesen des Begriffs gehört, objektiv zu werden, sich als Objekt zu manifestieren. Nun ist nur das Objekt eine adäquate Realisation des Begriffs, dem das zukommt, was Hegel ‚Subjektivität‘ nennt. ‚Subjektivität‘ ist für Hegel der Name einer relationalen Eigenschaft, die dann vorliegt, wenn etwas sich als identisch mit etwas anderem weiß. Für Hegel folgt aus dieser Festlegung, dass Subjektivität nur dem Objekt zugeschrieben werden kann, das sich 630
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als identisch mit seinem Begriff weiß. Dieses Wissen herzustellen, ist insofern eine in der Natur des Begriffs gelegene Forderung. Da es in der ‚Wissenschaft der Logik‘ nur darum geht, den Begriff der Vernunft vorzustellen und da dieser Begriff die Forderung der Herstellung eines Wissens enthält, das nur gewonnen werden kann, wenn (1) der Begriff sich objektiviert, d.h. zum Objekt wird, und wenn (2) dieses Objekt sich als identisch mit seinem Begriff begreift, so ist bereits durch den Begriff der Vernunft gefordert, dass sie (1) in der Bestimmung ihrer Objektivität oder als Objekt erörtert wird und dass sie (2) unter dem Gesichtspunkt der gewussten Identität mit ihrem Begriff thematisiert wird. Ersteres ist Gegenstand einer Philosophie der Natur, letzteres einer Philosophie des Geistes. 7. Philosophie der Natur Hegels Philosophie der Natur ist der Versuch, im Rahmen der allgemeinen Vorgaben seines Systems zu erklären, wie es möglich ist, dass wir die Natur als einen unter Gesetzen stehenden Zusammenhang erkennen können. Hegel nimmt damit die besonders für Kant und Schelling wichtige Frage auf, welche epistemologischen und ontologischen Voraussetzungen in unsere Vorstellung eingehen, dass Natur erkennbar ist. Obwohl Hegel sich bereits seit seiner Frankfurter Zeit mit naturphilosophischen Problemen beschäftigt hat und obwohl er in seiner Jenaer Zeit mehrere Versionen einer Naturphilosophie ausgearbeitet hat, hat er einen Abriss von diesem Teil seines Systems nur ein einziges Mal und erst relativ spät, nämlich erst im Rahmen seiner ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘, veröffentlicht. Die Hegelsche Naturphilosophie ist hauptsächlich unter drei Gesichtspunkten von Interesse gewesen. Der erste betrifft die Weise, in der Hegel seine logischen Begriffsbestimmungen als Naturbestimmungen deutet. Der zweite bezieht sich auf die Frage, wie weit Hegels naturphilosophische Überlegungen auf die naturwissenschaftlichen Theorien Rücksicht nehmen, die in seiner Zeit vertreten worden sind. Der dritte schließlich ist der der Aktualität, d.h. er führt zu der Frage, was denn von Hegels naturphilosophischem Ansatz im Rahmen gegenwärtiger wissenschaftstheoretischer Diskussionen zu halten ist. Da die Naturphilosophie der Teil des Hegelschen Systems ist, dem traditionellerweise das größte Misstrauen entgegengebracht wird und der wohl auch deshalb die geringste interpretatorische Beachtung gefunden hat, gibt es für die Beurteilung der Naturphilosophie hauptsächlich unter dem zweiten und dritten Gesichtspunkt immer noch sehr wenige unkontroverse Resultate. Was den Aufbau der Naturphilosophie gemäß den Vorgaben der logischen Theorie des Begriffs betrifft, so geht Hegel in Übereinstimmung mit seiner organologischen Konzeption von Vernunft davon aus, dass man die Natur ‚an sich als ein lebendiges Ganzes‘ auffassen muss. Dieses lebendige Ganze stellt sich nach Hegel primär unter drei verschiedenen Bestimmungen dar, die in gewisser Weise zentrale Charakteristika des in der Logik entwickelten Begriffs der Vernunft reproduzieren. Unter der ersten dieser Bestimmungen ist die Natur als ein durch Raum, Zeit, Materie und Bewegung definiertes Ganzes zu betrachten. Diese Betrachtungsart macht sie zum Gegenstand dessen, was Hegel ‚Mechanik‘ nennt. Raum, Zeit, Materie und Bewegung, ihre Eigenschaften sowie die Naturgesetze, die ihren Zusammenhang beschreiben, werden in dieser Hegelschen Mechanik aus den formalen Strukturmomenten des (Hegelschen) Begriffs generiert. Die Verwendung eines solchen ‚konzeptuellen‘ Verfahrens zur Gewinnung und Sicherung naturwissenschaftlicher 631
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Resultate ist von Hegel selbst zu keiner Zeit als direktes Konkurrenzunternehmen zur empirischen Naturforschung verstanden worden. Er ist vielmehr immer der Meinung gewesen, dass er, z.B. mit seiner philosophischen Mechanik, nur die konzeptuellen Elemente explizit macht und ihnen ein rationales Fundament sichert, die implizit in jeder naturwissenschaftlichen mechanischen Theorie enthalten sind, die ihre Daten „aus der Erfahrung aufnimmt und dann die mathematische Behandlung darauf anwendet“. Nach Hegel führt seine philosophische Mechanik zu der Einsicht, dass man die Gesamtheit der materiellen Natur als ‚qualifizierte Materie‘, d.h. als Ensemble von Körpern mit physikalischen Eigenschaften zu denken hat. Dies macht die zweite Hauptbestimmung aus, unter der Natur aufzufassen ist. Hegel ordnet dieser Betrachtungsart eine Disziplin zu, die er ‚Physik‘ nennt. Er behandelt unter diesem Titel alles, was in irgendeiner Weise mit dem materiellen Status eines Körpers in Verbindung gebracht werden kann. Vom spezifischen Gewicht über Klang, Wärme, Gestalt, Elektrizität und Magnetismus bis zum chemischen Verhalten von Körpern wird alles als aus der Natur und den Bestimmungen des (Hegelschen) Begriffs folgend dargelegt. Hinzu kommen Thesen über das Wesen des Lichts und eine Lehre von den Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft. Es ist wohl besonders dieser Teil der Naturphilosophie gewesen, der z.B. Hans Scholz dazu veranlasst hat, zu folgendem vernichtenden Urteil zu kommen: „Die Hegelsche Naturphilosophie ist ein Experiment, das die Naturphilosophie, anstatt sie zu fördern, um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen und auf die Stufe herabgedrückt hat, auf der sie sich etwa bei Paracelsus befand“. Ob dieses Diktum Bestand hat, hängt allerdings stark vom jeweiligen Natur- und Wissenschaftsbegriff ab. Den dritten Teil der Naturphilosophie macht die so genannte ‚organische Physik‘ oder die ‚Organik‘ aus. Hier spielt das aus der Logik bekannte Merkmal der Subjektivität die Rolle der Bestimmung, unter der Natur zu betrachten ist. Da Subjektivität in diesem naturphilosophischen Kontext von Hegel als wesentliches Charakteristikum organischen Lebens interpretiert wird, hat es dieser Teil der Naturphilosophie mit der Natur als einer Hierarchie von Organismen oder mit ihr als einem ‚organischen System‘ zu tun. Hegel kennt drei Formen organischen Lebens: Die allgemeine, die durch den geologischen Organismus repräsentiert ist, die besondere, die sich in der Vegetation darstellt, und die einzelne, die ihren Ausdruck im animalischen Organismus findet. Diese Formen gelten Hegel als hierarchisch geordnet entsprechend dem wachsenden Komplexitätsgrad. In gewisser Weise thematisiert hier Hegel Bedingungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnisse: So wie vegetabilische Lebensformen geologische Strukturen und Prozesse voraussetzen, so setzen animalische Organismen eine voll entwickelte Pflanzenwelt voraus. Den Übergang von diesem letzten Teil der Naturphilosophie zur Geistesphilosophie konstruiert Hegel über eine Betrachtung des Todes des natürlichen Individuums. Hier ist die leitende Vorstellung die, dass durch den Tod zwar alle natürlichen Bestimmungen des Individuums aufgehoben werden, so dass von einem ‚Tod des Natürlichen‘ gesprochen werden kann, dass aber durch den Tod keineswegs das Prinzip des Lebens annihiliert wird, dasjenige also, was als Seele die wesentliche Einheit animalischer Organisation ausmacht. Da Hegel die Seele als eine Form von Geist deutet und da nach seiner Auffassung die Seele nicht durch den Tod vernichtet wird, kann er nun die nicht von Naturbestimmungen abhängige Realität des Geistes als das Resultat der Naturphi632
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losophie behaupten und diese Realität in ihren verschiedenen Formen im Rahmen einer Philosophie des Geistes untersuchen. Die Frage, in welchem Umfang Hegels naturphilosophische Überlegungen auf die naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit Rücksicht nehmen, die Frage also, ob Hegels Naturphilosophie den zu seiner Zeit erreichten naturwissenschaftlichen Wissensstand einigermaßen integriert, hat ebenso wie die Frage, ob Hegels naturphilosophischer Ansatz irgendwelche auch gegenwärtig noch relevanten Perspektiven bereitstellt, ziemlich kontroverse Antworten provoziert. Hat im 19. Jahrhundert Hegels Naturphilosophie vor allem in dem Urteil der großen Mehrzahl der Naturwissenschaftler als scandalon gegolten, das wesentlich zur Diskreditierung der gesamten Hegelschen Philosophie beiträgt, und hat diese Einschätzung auch dazu geführt, dass Hegels Naturphilosophie nie wieder richtig ernst genommen worden ist, so hat sich an dieser Situation spätestens seit 1970 einiges geändert. Ausgehend von und sich stützend auf neuere wissenschaftshistorische Untersuchungen zu Entwicklung und Stand der Naturwissenschaften im frühen 19. Jahrhundert findet langsam die Ansicht immer mehr Anhänger, dass Hegel wohl doch in einem sehr viel höheren Maß mit den naturwissenschaftlichen Ansätzen seiner Zeit und deren Problemen vertraut gewesen ist, als es das 19. und der größere Teil des 20. Jahrhunderts wahrhaben gewollt hat. Man wird daher gut daran tun, ein abschließendes Urteil in dieser Sache gegenwärtig noch zurückzustellen. Gleiches lässt sich nicht bezüglich der Frage nach der Aktualität sagen: Hier ist nicht zu übersehen, dass Hegels naturphilosophische Thesen für die zeitgenössische naturwissenschaftliche Theorie und Praxis schlichtweg bedeutungslos sind. 8. Philosophie des Geistes Hegels Philosophie des Geistes ist eingeteilt in eine Theorie des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes. Die Philosophie des subjektiven Geistes enthält Hegels philosophische Psychologie, die des objektiven Geistes seine Rechtsund Staatslehre sowie seine Konzeption der Weltgeschichte, und die Philosophie des absoluten Geistes stellt seine Theorie der Kunst, der Religion und der Philosophie dar. Hegel hat die Philosophie des subjektiven und vor allem die des absoluten Geistes nur sehr umrisshaft in den wenigen ihnen gewidmeten Paragraphen der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ dem größeren Publikum vorgestellt. Die Philosophie des objektiven Geistes hat er nicht nur in der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘, sondern ausführlich in einem schon zu seiner Zeit viel beachteten Werk mit dem Titel ‚Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ (1821) dargestellt. Auch was diesen Teil des Systems betrifft, gilt der in der Logik entwickelte Grundsatz, dass etwas – hier der ‚Geist‘ genannte Sachverhalt – einen Prozess der Realisierung durchlaufen muss, um seine Wahrheit und d.h. das, was er ist, erkennen zu können. Die Philosophie des subjektiven Geistes enthält eine Anthropologie, eine Phänomenologie des Geistes und eine Psychologie. Hegel behandelt und analysiert in diesen Teilen alle die Phänomene, die somatische, psychophysische und mentale Eigenschaften, Zustände, Prozesse und Aktivitäten des Individuums betreffen. Von den natürlichen Qualitäten des Individuums, ausgedrückt in Temperament, Charakter und Physiognomie, über Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung, Begierde bis zu Selbstbewusstsein, Anschauung, Vorstellung, Denken und Wollen spannt sich der 633
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Bogen dessen, was thematisiert wird. Hier findet sich seine Theorie des Spracherwerbs, des praktischen Gefühls, von Leistung und Funktion der Einbildungskraft, seine Verteidigung der lebenserhaltenden Macht der Gewohnheit, seine Auflösung des Leib-Seele-Problems, seine Auffassung von Ursprung und Behandlung von Geisteskrankheiten und vieles dergleichen mehr. Hegel kommt es bei diesen Analysen darauf an, die ‚gewöhnliche Betrachtungsweise‘ der empirischen Psychologie zu ersetzen durch eine ‚philosophische Ansicht‘ psychischer Phänomene. Das auszeichnende Merkmal dieser philosophischen Ansicht soll darin bestehen, dass sie es erlaubt, das Subjekt psychischer Prozesse als Produkt psychischer Aktivität zu deuten und nicht als ein wie eine Substanz zu denkendes Ding, das bestimmte Vermögen und Kräfte besitzt, die als seine Eigenschaften aufzufassen sind. Während die Philosophie des subjektiven Geistes eigentlich nur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist die Philosophie des objektiven Geistes, also Hegels Rechts- und Staatstheorie, nicht nur im 19., sondern gerade auch im 20. Jahrhundert stark beachtet worden. Dies nicht nur wegen ihrer großen Bedeutung für marxistische und andere anti-liberalistische Gesellschaftstheorien. Sie ist vor allem wegen ihrer politischen Implikationen immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen gewesen. Hegels gesamte politische Philosophie geht von hauptsächlich drei Überzeugungen aus, die er schon sehr früh gehegt hat und an denen er Zeit seines Lebens festgehalten hat. Die erste dieser Überzeugungen ist die, dass jede moderne Rechts- und Staatsphilosophie in der Lage sein muss, den für die europäische und insbesondere die deutsche Aufklärung zentralen Begriff der Freiheit zu integrieren. Die zweite Überzeugung geht dahin, dass gerade für die moderne politische Philosophie die schon in der aristotelischen ‚Politik‘ formulierte Einsicht von der Priorität des Ganzen gegenüber seinen Teilen festgehalten und aktualisiert werden muss. Die dritte Überzeugung schließlich ist die Hegels gesamte philosophische Bemühungen leitende, dass auch die politische Philosophie ihren Beitrag zur Bestätigung der These zu leisten hat, dass nur die Vernunft real ist. Hegel versucht, diesen drei Überzeugungen im Rahmen seiner Theorie des objektiven Geistes dadurch gerecht zu werden, dass er (1) einen extravaganten Freiheitsbegriff einführt, (2) das Ganze, welches Aristoteles mit dem von ihm ‚Sittlichkeit‘ genannten Sachverhalt identifiziert und (3) diesen ‚Sittlichkeit‘ genannten Sachverhalt zur ‚Wirklichkeit der Vernunft‘ erklärt. Die selbst verordnete Integrationsforderung der Freiheit erfüllt Hegel dadurch, dass er den Begriff des freien Willens zum Grundbegriff seiner Philosophie des objektiven Geistes macht. Hier nun kommt Hegels eigentümliche Freiheitskonzeption ins Spiel. Ein Wille ist nämlich nach Hegel nicht deshalb frei, weil er sich auf beliebige Inhalte als seine Zwecke beziehen kann, sondern der wahrhaft freie Wille ist der, der nur sich selbst bestimmt. Selbstbestimmung heißt für Hegel: sich wollend auf sich selbst beziehen und d.h. sich selber wollen. Freiheit wird also von Hegel als ein Fall von Selbstbeziehung gedacht und auf diese Weise seinem Erkenntnisbegriff angenähert, der ja ebenfalls auf der Vorstellung der Selbstbeziehung aufgebaut ist (vgl. oben ‚Phänomenologie des Geistes‘). Diese Annäherung ist von Hegel durchaus beabsichtigt, gibt sie ihm doch die Möglichkeit, das Programm der systematischen Entfaltung der verschiedenen Willensbestimmungen als verschiedener Weisen des Daseins des freien Willens zugleich als einen Erkenntnisprozess zu deuten.
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Vor diesem Hintergrund entwickelt Hegel zunächst seine Rechts- und Moralitätstheorie, die alle rechtlichen Verhältnisse einer Person einerseits und den Verpflichtungscharakter moralischer Handlungen andererseits aus dem Begriff des freien Willens herleitet. Mit der Rechtstheorie leistet Hegel seinen Beitrag zur Diskussion der philosophischen Grundlagen des Privatrechts und des Strafrechts. Die seine Überlegungen leitende Grundthese ist hier die, dass notwendige Bedingung des Rechts in allen seinen zivil- und strafrechtlichen Erscheinungsformen das Eigentum darstellt, dessen Erwerb und Gebrauch allererst Spielräume der Freiheit erschließt. In seiner Theorie der Moralität thematisiert Hegel das moralische Verhalten autonomer Subjekte unter den Aspekten der Gewinnung moralischer Standpunkte zum Zwecke der Beurteilung von Handlungen und der Umsetzung moralischer Ziele in Handlungen. Rechtliche Verhältnisse und moralische Normen sind aber nach Hegel in den gesellschaftlichen Institutionen gegründet. Hegel fasst diese Institutionen unter den Begriff der ‚Sittlichkeit‘. Sittlichkeit als Grund der Möglichkeit von Recht und Moralität ist in Hegels Sprache die Wahrheit des freien Willens, das, was der freie Wille wirklich ist. Da zu dem, was der freie Wille wirklich ist, auch gehört, dass er wirklich ist, ist die Sittlichkeit für Hegel auch die Wirklichkeit des freien Willens. Diese Wirklichkeit ist insofern das ‚vorausgesetzte Ganze‘, bezüglich dessen die Rede von Recht und Moralität erst einen Sinn ergibt. Diese These, der auf Recht und Moral fundierenden Funktion der wirklichen Sittlichkeit, soll der auf Aristoteles zurückgehenden Maxime vom Primat des Ganzen in der politischen Philosophie Rechnung tragen. Hegel lässt die Sittlichkeit in drei institutionellen Formen auftreten, nämlich als Familie, als bürgerliche Gesellschaft und als Staat. Die Theorie der Familie enthält seine Überlegungen zur sittlichen Funktion der Ehe, seine Rechtfertigung der Monogamie, seine Auffassungen über Familieneigentum und Erbrecht sowie Maximen zur Erziehung von Kindern. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft ist bekannt und wirksam geworden vor allem wegen der Hegelschen Diagnose der Aporien, in die eine Gesellschaft gerät, die allein auf den Wirtschaftsinteressen und den Subsistenzbedürfnissen der einzelnen Individuen aufgebaut ist. Dieser Diagnose liegen Hegels Analysen einer rein auf wirtschaftlichen Beziehungen beruhenden Gemeinschaft zugrunde. Sie verdanken viel den Abhandlungen zur politischen Ökonomie von A. Smith, J.P. Say und D. Ricardo, auf die sich Hegel öfters explizit bezieht. Nach Hegel ist die als Wirtschaftsgemeinschaft aufgefasste bürgerliche Gesellschaft definiert dadurch, dass in ihr Personen ihre Bedürfnisse durch Arbeit befriedigen. Die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse bringt es mit sich, dass ihre Befriedigung nur noch über gesellschaftliche Arbeitsteilung geleistet werden kann. Dies hat zur Folge, dass sich die Wirtschaftssubjekte in Stände und Korporationen zusammenschließen, deren Mitglieder jeweils spezifische Aufgaben der gesellschaftlich organisierten Bedürfnisbefriedigung wahrnehmen. Hegel kennt drei Stände: Den Bauernstand, von ihm der ‚substantielle Stand‘ genannt, den Stand des Gewerbes, zu dem er Handwerker, Fabrikanten und Händler zählt, sowie den von ihm so genannten ‚allgemeinen Stand‘, dessen Mitglieder richterliche und polizeiliche Funktionen wahrnehmen. Korporationen bilden sich hauptsächlich im Stand des Gewerbes aus. Obwohl nun dieser ganze Bereich der so organisierten bürgerlichen Gesellschaft keineswegs ein rechtsfreier Raum ist, sondern durch bürgerliche und Strafgesetze reguliert ist, kann er sich nach Hegel nicht dauerhaft stabilisieren. Es kann nämlich nicht verhindert 635
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werden, dass eine Polarisierung zwischen vielen Armen und wenigen Reichen eintritt und dass es zu Überbevölkerung kommt, so dass letztlich der gesamte gesellschaftliche Reichtum nicht ausreicht, um die Befriedigung selbst sehr elementarer Bedürfnisse aller zu gewährleisten. Die Folgen sind nach Hegel Kolonisation und Bildung des ‚Pöbels‘. Beides vernichtet tendenziell die bürgerliche Gesellschaft. Dieses Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich, folgt man Hegel, nur vermeiden, wenn die Personen ihre Aktivitäten nicht nach ihren besonderen Bedürfnissen und Interessen ausrichten, sondern den Staat als ihren ‚allgemeinen Zweck‘ anerkennen, auf dessen Erhaltung alle ihre Tätigkeiten ausgerichtet sind. Den Staat denkt sich Hegel als konstitutionelle Monarchie mit Gewaltenteilung. Die Verfassung eines Staates ist nun für Hegel keineswegs das Produkt irgendeiner verfassungsgebenden Institution oder das Werk irgendwelcher Individuen. Es ist nach Hegel „schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde“. Eine Verfassung ist vielmehr der sich im Laufe der Geschichte eines Volkes in dessen Sitten und Gebräuchen manifestierende Geist eines Volkes. Diese Auffassung erlaubt es Hegel zum einen zu behaupten, dass jedes Volk die Verfassung hat, „die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört“, und zum anderen darauf zu insistieren, dass es nur einen sehr kleinen Spielraum für Verfassungsänderungen gibt. Eine Monarchie muss der vernünftig organisierte Staat deshalb sein, weil seine ihn auszeichnende Individualität nur durch ein konkretes Individuum angemessen repräsentiert werden kann, dem die souveränen Akte des Staates als Person zugeschrieben werden können. Dass Hegel darüber hinaus für eine Erbmonarchie plädiert, hängt damit zusammen, dass er das Verfahren, eine Person über seine natürliche Herkunft als Monarchen zu bestimmen, für das am wenigsten von Dezisionen abhängende Verfahren ansieht. Hegels Theorie der Staatsgewalten kennt neben der fürstlichen Gewalt, die das Moment der letzten Entscheidung im Rahmen der Verfassung darstellt, die Regierungsgewalt und die gesetzgebende Gewalt. Aufgabe der Regierungsgewalt, der Hegel auch die richterliche Gewalt zurechnet, ist es, die allgemeinen Staatsinteressen zu verfolgen und die Durchsetzung des Rechts und der Gesetze zu betreiben. Die gesetzgebende Gewalt hat die ‚weitere Fortbestimmung‘ der Verfassung und der Gesetze zu ihrem Gegenstand. Sie wird ausgeübt von einer Ständeversammlung, die in zwei Kammern gegliedert ist. Der ersten Kammer gehört eine bestimmte Gruppe von Großgrundbesitzern durch Geburt an, die zweite Kammer besteht aus Abgeordneten der korporativen Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft, die von diesen Einrichtungen in die Ständeversammlung entsandt werden. Beide Kammern kommen also in Hegels Staatsmodell ohne direkte politische Mitwirkung der Bevölkerung zustande. Die Staatstheorie hat besonders zu Hegels Zeit viele Kontroversen ausgelöst wegen ihrer resoluten Verteidigung der Erbmonarchie und ihrer stark antidemokratischen Züge in allen Fragen der politischen Repräsentation der Staatsbürger. Es ist besonders dieser Teil der politischen Philosophie gewesen, auf den sich das bereits im 19. Jahrhundert auftretende Diktum von Hegel als preußischem Staatsphilosophen stützt. Den Bezug zu der seine politische Philosophie umfassenden Theorie des Geistes gewinnt Hegel über die inhaltliche Interpretation der Sittlichkeit als ‚Geist eines Volkes‘. Diese Interpretation gibt ihm die Gelegenheit, einerseits seine Auffassung von Geschichte auszubreiten und andererseits zu seiner Theorie des absoluten Geistes überzuleiten. Die Geschichtsphilosophie wird eingeführt durch die Vorstel636
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lung, dass die Sittlichkeit als Wirklichkeit des freien Willens verschiedene Gestalten in verschiedenen Völkern annimmt. Diese Gestalten unterscheiden sich voneinander durch den Grad, in dem in ihnen die verschiedenen Institutionen der Sittlichkeit tatsächlich zur Ausbildung gekommen sind. Hegel glaubt nun, dass diese Ausbildung im Laufe eines historischen Prozesses stattgefunden hat, den er ‚Weltgeschichte‘ nennt. Diesen Prozess der Weltgeschichte, der als ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‘ anzusehen ist, meint Hegel in vier qualitativ unterschiedene Epochen einteilen zu können, denen vier ‚welthistorische Reiche‘ entsprechen. Hegel lässt diesen welthistorischen Prozess beginnen mit dem ‚orientalischen Reich‘, dem das ‚griechische‘ und dann das ‚römische Reich‘ folgt. Der Prozess findet seinen Abschluss in dem ‚germanischen Reich‘. Dieses Reich wird von Hegel nicht mit Deutschland allein identifiziert. Es schließt alle mitteleuropäischen christlichen Nationen ein, selbst Großbritannien. Hegel zufolge ist den „germanischen Völkern die Aufgabe übertragen [...], das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung [...] der [...] objektiven Wahrheit und Freiheit [...] zu vollführen“. Diese Versöhnung interpretiert Hegel nun als Abschluss des Prozesses der Selbsterkenntnis der Vernunft. Das Resultat dieses Prozesses besteht in der Einsicht, dass die Vernunft ‚sich‘ als alle Realität ‚weiß‘. Hegel bindet auf diese Weise die Theorie des objektiven Geistes in seine Vernunftmetaphysik ein und kann nun die verschiedenen Weisen dieses Wissens der Vernunft um sich selbst als Theorie des absoluten Geistes thematisieren. Hegels Philosophie des absoluten Geistes enthält seine Philosophie der Kunst, seine Religionsphilosophie und seine Theorie der Philosophie. Obwohl alle diese Gegenstände ihren festen Platz in Hegels systematischen Bemühungen von Anfang an gehabt haben und obwohl seine Philosophie der Kunst wie auch die der Religion sehr einflussreich, die eine in Kunstgeschichte und ästhetischer Theorie, die andere in der Theologie geworden sind, sind diese Teilstücke der Hegelschen Philosophie in den von Hegel selbst publizierten Werken verhältnismäßig wenig ausgearbeitet. Neben einigen skizzenhaften Andeutungen in der Erstlingsschrift über die ‚Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems‘ (s. Jenaer Schriften) und den beiden abschließenden Kapiteln der ‚Phänomenologie des Geistes‘ hat Hegel ihnen nur wenige Paragraphen am Ende der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ gewidmet. Diesen Paragraphen ist zu entnehmen, dass es drei verschiedene Weisen gibt, in denen die Vernunft sich wissend zu sich selbst verhält. Diese verschiedenen Weisen manifestieren sich in Kunst, Religion und Philosophie. Sie unterscheiden sich durch die Art, in der die Vernunft in jeder dieser Weisen von sich selbst weiß. Während sich in der Kunst die Vernunft ‚anschauend‘ und d.h. für Hegel ‚unmittelbar wissend‘ auf sich selbst bezieht, realisiert sie dieses wissende Selbstverhältnis in der Religion unter der Form der ‚Vorstellung‘, die mit der aufgehobenen Unmittelbarkeit des Wissens in Verbindung gebracht wird. In der Philosophie schließlich wird der Selbstbezug der Vernunft im Modus des ‚Erkennens‘ hergestellt. Die Theorie epistemischer Modi, die dieser Funktionsanalyse von Kunst, Religion und Philosophie zugrunde liegt, ist zwar offensichtlich orientiert an den Ergebnissen der Hegelschen Theorie des subjektiven Geistes, sie hat aber dennoch ihre schwer zu lüftenden Geheimnisse. Vor diesem Hintergrund verschiedener Wissensweisen entfaltet Hegel zunächst seine Kunsttheorie in der Gestalt einer Theorie der Kunstformen und der Kunst637
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arten. Hegel kennt drei verschiedene Kunstformen, die er symbolische, klassische und romantische Kunstformen nennt. Diese Kunstformen unterscheiden sich durch die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten von Merkmalen des Geistigen, die den sinnlichen und das heißt anschaulichen Gestalten zukommen, die die Vernunft sich gibt. Diese Arten selber sind charakterisiert durch die Weisen, in denen ein vernünftiger Inhalt als Bedeutung einer sinnlichen Gestalt erscheint. Die symbolische Kunstform ist nun die, in der die Beziehung zwischen Bedeutung und sinnlicher Gestalt relativ kontingent ist, da sie nur über ein beliebig gewähltes Merkmal zustande kommt. Hegel verweist als Beispiel auf den Löwen, der Stärke symbolisiert. In der klassischen Kunstform drückt die sinnliche Gestalt das, was sie bedeuten soll, adäquat aus. Als Paradigma für diese adäquate Versinnlichung des Geistigen gilt Hegel die menschliche Gestalt, wie sie vor allem in Skulpturen, aber auch in Gemälden zur Darstellung kommt. Die romantische Kunstform schließlich hat die Darstellung der ‚selbstbewussten Innerlichkeit‘ des Geistes zum Gegenstand. In ihr wird die Gefühlswelt des Subjekts am sinnlichen Medium zum Ausdruck gebracht. Die verschiedenen Kunstarten interpretiert Hegel als Realisationen der Kunstformen in unterschiedlichen Materialien. Obwohl jede Kunstart in jeder Kunstform auftreten kann, gibt es nach Hegel für jede Kunstart eine ausgezeichnete Kunstform, die er ihren Grundtypus nennt. Die erste Kunstart, die Hegel betrachtet, ist die Architektur. Sie hat zur Aufgabe, die unorganische Natur kunstgemäß zu bearbeiten. Ihr Grundtypus ist die symbolische Kunstform. Die zweite Kunstart, die Skulptur, hat zu ihrem Grundtypus die klassische Kunstform. Sie soll die unorganische Natur zur Leiblichkeit des menschlichen Körpers gestalten. Die übrigen Kunstarten sind Malerei, Musik und Poesie, deren Grundtypus die romantische Kunstform darstellt. Mit der Malerei beginnt die Ablösung von der direkten Bearbeitung des Naturstoffes und insofern eine gewisse Intellektualisierung des Materiellen, was sie zur Darstellung von Empfindungen, Gefühlen und dergleichen befähigt. Die romantische Kunst par excellence ist die Musik. Ihr Material ist der Ton, der nur noch in einem übertragenen Sinne materiell repräsentiert und der deshalb besonders geeignet ist, auch die flüchtigste Gemütsregung ‚klingen und verklingen‘ zu lassen. Die Poesie schließlich, die letzte der romantischen Künste, hat es als Material nur noch mit Zeichen zu tun, die aber hier nicht als materielle Entitäten eine Rolle spielen, sondern als Träger von Bedeutungen fungieren. Diese Bedeutungen beziehen sich auf das Reich der Vorstellungen und anderer geistiger Inhalte, so dass in der Dichtkunst ein vernünftiger Inhalt in einer Weise gestaltet werden kann, die seiner Geistigkeit angemessen ist. Hegel hat der Versuchung nicht widerstehen können, diese seine Theorie der Kunstformen und Kunstarten als Deutungsmuster für die Geschichte der Entwicklung der Kunst heranzuziehen. Diese Historisierung der Kunstformen und Kunstarten durch Hegel hat stark dazu beigetragen, dass der Begriff der Epoche in der Kunstgeschichte von großer Bedeutung geworden ist. Im Rahmen der Religionsphilosophie vertritt Hegel die These, dass erst in der christlichen Religion die Bedingungen erfüllt sind, die für das vorstellende Wissen der Vernunft um sich selbst charakteristisch sind. Die Religionsphilosophie hat zu ihrem Gegenstand nicht bloß Gott, sondern die Religion und das heißt für Hegel die Weise, in der Gott dem religiösen Bewusstsein präsent ist. Hegel möchte durch diese Charakterisierung die Religionsphilosophie von der traditionellen theologia naturalis unterscheiden. Auf Grund der zwei Komponenten ihres Gegenstandes ver638
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sucht die Religionsphilosophie zunächst, den Begriff Gottes und die verschiedenen Arten religiösen Bewusstseins, als da sind Gefühl, Anschauung und Vorstellung, näher zu bestimmen. Dies geschieht im ersten Teil der Religionsphilosophie, der den ‚Begriff der Religion‘ thematisiert. Der zweite Teil der Religionsphilosophie betrachtet das, was Hegel die ‚bestimmte Religion‘ nennt. Hier geht es Hegel um so etwas wie eine Phänomenologie der Religionen, das heißt um die Darstellung ihrer verschiedenen Erscheinungsformen und Objektivationen. Diese Darstellung nimmt ihren Ausgang von der sog. Naturreligion, die Hegel zufolge in drei Formen aufteilt, nämlich als Religion der Zauberei, der Substantialität und der abstrakten Subjektivität. Ihr spezifisches Merkmal ist, dass Gott in ihr in unmittelbarer Einheit mit der Natur gedacht wird. Die Naturreligion findet ihren historischen Ausdruck in den orientalischen Religionen. Als zweite Stufe betrachtet Hegel die ‚Religionen der geistigen Individualität‘, deren Formen die Religion der Erhabenheit, der Schönheit und der Zweckmäßigkeit sind. Auf dieser Stufe wird Gott als primär geistiges Wesen aufgefasst, das nicht Natur ist, sondern das über die Natur herrscht und sie bestimmt. Diesen Religionen ordnet Hegel die jüdische, griechische und römische Religion zu. Die dritte Stufe schließlich stellt die ‚vollendete Religion‘ dar, deren Betrachtung der dritte Teil der Religionsphilosophie gewidmet ist. In ihr wird Gott als das vorgestellt, was er in Wahrheit ist, nämlich ‚unendlicher, absoluter Selbstzweck‘. Dem religiösen Bewusstsein erscheint der Gott der vollendeten Religion in trinitarischer Gestalt als Einheit von Vater, Sohn und Geist. Diese Vorstellung ist nach Hegel erst im Christentum angemessen realisiert worden. Hegels Religionsphilosophie hat einen großen Einfluss auf theologische Diskussionen und Positionen unterschiedlicher konfessioneller Provenienz gehabt. Es hat jedoch auch nicht an Kritikern gefehlt, denen die Hegelsche Religionsphilosophie, wie z.B. schon früh R. Haym formuliert hat, als Auflösung des Göttlichen in Vernunft und der Frömmigkeit in Wissen erschienen ist. Was schließlich die Philosophie betrifft, so soll der sie auszeichnende Wissensmodus, das Erkennen, dann vorliegen, wenn etwas als notwendig eingesehen wird. Da die Vernunft im Bereich des absoluten Geistes nur auf sich selbst bezogen ist, besteht die Leistung des erkennenden Bezugs der Vernunft auf sich selbst nach Hegel darin, dass sie den Gang ihrer Realisierung in Logik, Natur und Geist als einen notwendigen Prozess begreift. Die Darstellung dieses Prozesses in seiner Notwendigkeit ist die Philosophie. Auch dieser philosophische Prozess hat seine Erscheinung in der Zeit in Gestalt der Geschichte der Philosophie. Sie stellt sich Hegel dar als eine historische Abfolge von philosophischen Positionen, in denen jeweils eine der wesentlichen Bestimmungen der (Hegelschen) Vernunft in zeittypischer Einseitigkeit und Beschränktheit zum Prinzip denkender Weltauffassung gemacht worden ist. Als Bedingung dafür, dass überhaupt ein philosophisches Erfassen der Wirklichkeit in der Zeit auftreten konnte, macht Hegel das Vorliegen von politischer Freiheit aus. Erst in Gemeinschaften, in denen freie Verfassungen existieren, kann philosophisches Denken zur Entfaltung kommen. Da nach Hegel die Vorstellungen von Freiheit und von Verfassung zuerst als Produkte griechischen und d.h. abendländischen Denkens aufgetreten sind, ist er der Auffassung, dass der philosophische Diskurs eigentlich eine spezifisch abendländische Errungenschaft ist. Hegel lehnt es daher entschieden ab, der orientalischen Welt, als deren Hauptexponenten er China und Indien erwähnt, irgendwelche philosophisch relevanten intellektuellen 639
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Produktionen zuzugestehen. Alle Weisheitslehren des Orients können höchstens als Kodifizierungen religiöser Vorstellungen akzeptiert werden. Wenn für den abendländischen Menschen einige dieser Lehren dennoch einen philosophischen Gedanken auszudrücken scheinen, so deshalb, weil er die abstrakte Allgemeinheit orientalischer religiöser Vorstellungen mit der Allgemeinheit verwechselt, die den Gedanken der sich selbst denkenden Vernunft zukommt. Die Philosophie des Abendlandes will Hegel in zwei große Perioden unterschieden wissen, nämlich in die griechische und die germanische Philosophie. Die griechische Philosophie umfasst bis zu einem gewissen Grad auch die römische, und die germanische umfasst die Philosophie der anderen europäischen Völker, da diese Völker ‚in ihrer Gesamtheit germanische Bildung‘ haben. Die Differenz zwischen griechischer und germanischer Philosophie soll darin bestehen, dass die griechische Philosophie noch nicht in der Lage gewesen ist, den Begriff des Geistes in all seiner Tiefe zu erfassen. Dies ist erst durch das Christentum und seine Aufnahme in der germanischen Welt möglich geworden. Denn erst in diesem historischen Kontext hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Wesen des Geistes Subjektivität und d.h. Wissen um sich ist. Diese Einsicht zureichend expliziert und so die Versöhnung der Vernunft mit der Realität im Gedanken geleistet zu haben, rechnet Hegel seiner eigenen Philosophie als historischen Verdienst an. Deren Botschaft besteht letztlich nur aus einem Satz: die Vernunft ist und weiß sich als alle Realität. In der nach Hegels Meinung gelungenen Rechtfertigung dieses Satzes findet Hegels System seinen Abschluss. Schon im 19. Jahrhundert hat der diesem System zugrunde liegende Vernunftoptimismus zum Beispiel bei Nietzsche, Kierkegaard und bei den Vertretern des Neukantianismus Anstoß erregt. Ob am Beginn des 21. Jahrhunderts der ungebrochene Vernunftglaube Hegels überzeugen kann, ist eher zweifelhaft. Siehe auch: Deutscher Idealismus; Fichte, J.G.; Hegelianismus; Idealismus; Marxismus, westlicher; Schelling, F.W.J. Anmerkungen und weitere Lektüre: Hegel, G.W.F., Werke in 20 Bänden, neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1986 (Taschenbuchausgabe). (Diese Werkausgabe ist beliebt, weil sie leicht verfügbar und relativ preisgünstig ist. Durch das sehr aufwändige, als Zusatzband herausgegebene Register ist die Orientierung bei der Entwicklung von Kerngedanken und -begriffen in unterschiedlichen Werkperioden Hegels deutlich erleichtert. Für eine ernsthafte Beschäftigung mit Hegel eine unentbehrliche Textgrundlage.) Hösle, V: ‚Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität‘. Meiner, Hamburg 1998 (Eine recht populäre und ganzheitliche, dabei auch gutlesbare Einführung in das philosophische System Hegels) Schnädelbach, H. (Hrsg.): ‚Hegels Philosophie – Kommentare zu den Hauptwerken‘, 3 Bde., Frankfurt am Main 2000/2001 (Eine auf die jeweiligen Kernpunkte der Hauptwerke eingehende Besprechung des hegelschen Œvre mit zahlreichen Beiträgen namhafter Autoren.) ROLF-PETER HORSTMANN
Hegelianismus
Die Geschichte des Hegelianismus als eine intellektuelle Tradition ist die Geschichte der Rezeption und des Einflusses des Denkens von G.W.F. Hegel. Diese 640
Hegelianismus
Tradition ist berüchtigt für ihre Komplexität und Vielseitigkeit, weil einige der Hegelianer sich selbst so begriffen, als würden sie lediglich seine Ideen in dem Sinne verteidigen, was sie als die orthodoxe Lehre verstanden, und sie weiter entwickeln, während andere versuchten, sein System zu ‚reformieren‘ oder sich individuelle Aspekte anzueignen und andere zu verwerfen, oder eine bewusst neuartige Interpretation seines Werks anzubieten. Deshalb ist es sehr schwer, irgendeine geschlossene Lehre auszumachen, die allen Mitgliedern dieses Diskurses gemeinsam ist, und man findet eine weite Spanne divergierender philosophischer Auffassungen, von denen (trotz dieses Umstandes) jeder, der sie behauptet, noch von sich sagen kann, er sei Hegelianer. Hierfür gibt es sowohl ‚interne‘, als auch ‚externe‘ Gründe: auf der einen Seite bringt Hegel selbst viele unterschiedliche Strömungen zusammen (Idealismus und Objektivismus, Historizismus und Absolutismus, Rationalismus und Empirismus, Christentum und Humanismus, Klassizismus und Modernismus, eine liberale Auffassung von der Zivilgesellschaft gegenüber einer organistischen Sichtweise des Staates etc.); jedes Gleichgewicht zwischen ihnen ist hermeneutisch sehr instabil und setzt bestehende Interpretationen neuen Herausforderungen aus bzw. gibt alte Orthodoxien dem Verfall preis. Auf der anderen Seite hatten die kritischen Reaktionen auf Hegels Denken und die zahlreichen Versuche, es zu untergraben, zur Folge, dass die Hegelianer fortgesetzt einer Rekonstruktion seiner Ideen, ja sogar einer Wendung seiner Ideen gegen ihn selbst bedurften, während jede neue intellektuelle Entwicklung wie beispielsweise der Marxismus, der Pragmatismus, die Phänomenologie oder die Existenzialphilosophie die eine oder andere Neubewertung seiner Position mit sich brachten. Dieses Merkmal der hegelianischen Tradition wurde noch verstärkt durch den Umstand, dass Hegels Werk seine Wirkung zu unterschiedlichen Zeiten über einen langen Zeitraum und in vielen verschiedenen Ländern entfaltete, so dass auseinander strebende intellektuelle, soziale und historische Spannungen deren unterschiedliche Aneignung begünstigten. Auf der hermeneutischen Ebene haben diese Rezeptionen auf großartige Weise dazu beigetragen, das philosophische Verständnis von Hegel lebendig und offen zu halten, so dass unsere gegenwärtige Konzeption seines Denkens eigentlich nicht mehr ohne sie gedacht werden kann. Dies umso mehr, als Fragen der Hegel-Interpretation sich so häufig um die zentralen philosophischen, politischen und religiösen Fragen des 19. und 20. Jahrhunderts drehten, und dies eine bedeutende Wirkung auf die Entwicklung des modernen westlichen Denkens an sich selbst hatte. Als Ergebnis dieser verwickelten Evolution versteht man den Hegelianismus am besten historisch, indem man zeigt, wie die wechselnde Darstellung der hegelschen Ideen sich abspielte, geformt durch unterschiedliche kritische Anliegen, sozialpolitische Umstände und intellektuelle Bewegungen, die seine Rezeption in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten dominierten. Anfangs empfand man den Einfluss Hegels in Deutschland natürlich sehr stark als eine umfassende, integrative Philosophie, die allen Bereichen der Erfahrung gerecht zu werden schien und versprach, das christliche Erbe in einer modernen und progressiven Form innerhalb eines spekulativen Rahmens zu bewahren. Dieser Standpunkt wurde jedoch schon bald herausgefordert, und zwar sowohl von anderen philosophischen Standpunkten (wie z.B. von F.W.J. Schellings ‚positiver Philosophie‘ und F.A. Trendelenburgs neoaristotelischem Empirismus), als auch durch die gefeierte Generation jüngerer 641
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Denker (den so genannten ‚Jung-‘ oder ‚Linkshegelianern‘ wie z.B. Ludwig Feuerbach, David Strauß, Bruno Bauer, Arnold Ruge und der frühe Karl Marx), die darauf bestanden, dass zur Entdeckung, weshalb Hegel ein wirklich bedeutender Denker sei (seine dialektische Methode, seine Sichtweise der Entfremdung, seine ‚Aufhebung‘ des Christentums), diese Orthodoxie überwunden werden müsse. Gleichwohl wurde Hegels Einfluss in Deutschland in den 1860er und 1870er Jahren sowohl in diesen radikalen, als auch in den akademischen Zirkeln bemerkenswert geschwächt, während ab dieser Zeit Entwicklungen des Hegelianischen Denkens anderweitig Fuß zu fassen begannen. Hegels Werk war bereits von den 1820er Jahren an außerhalb von Deutschland bekannt, und Hegel-Schulen entstanden in Nordeuropa, Italien, Frankreich, Osteuropa, Amerika und, wenn auch etwas später, in England, jeweils in einer eigenen Form der Auslegung, aber alle ziemlich unkritisch in ihren Versuchen, seine Ideen zu assimilieren. Jedoch kam es in jedem dieser Länder auch rasch zu Herausforderungen der Hegelschen Position, teilweise deshalb, weil sich die deutsche Hegelkritik auch bald im Ausland verbreitete, und teilweise wegen ihrer wachsenden Wirkung auf andere philosophische Positionen (wie z.B. den Neukantianismus, den Materialismus und den Pragmatismus). Allerdings erwiesen sich die Hegelianer außerhalb Deutschland angesichts dieser Angriffe in dem Maße als standhaft, wie neue Lesarten und Ansätze auftauchten, um den jeweiligen Angriffen zu begegnen. Man fand Wege, Hegels Arbeit neu zu interpretieren, die zeigten, wie sie zur Aufnahme dieser anderen Positionen fähig war, sobald die älteren Darstellungen von Hegels Metaphysik, seiner politischen Philosophie und insbesondere seiner Religionsphilosophie als zu grob zurückgewiesen worden waren. Dieses Muster setzte sich bis in das 20. Jahrhundert fort, als viele der Bewegungen, die sich selbst als gegen Hegel gerichtet definierten (so wie z.B. die Neukantianer, der Marxismus, der Existenzialismus, der Pragmatismus, der Poststrukturalismus und sogar die Analytische Philosophie), plötzlich erstaunt feststellten, dass sie mit ihm einiges gemeinsam hatten, was dem Hegelianismus neue Stoßkraft und Tiefe in dem Umfange gab, wie er begann, sich innerhalb dieser zahlreichen Ansätze zu assimilieren, von denen er umgekehrt auch selbst beeinflusst wurde. Solche Annäherungsbemühungen begannen im frühen 20. Jahrhundert mit Wilhelm Diltheys Versuch, Hegel mit seinem eigenen Historizismus zu verknüpfen, und diese Verbindung wurde in Italien von Benedetto Croce und Giovanni Gentile, wenn auch ambivalenter, verstärkt. Die Neuorientierung setzt sich in Frankreich in den 1930er Jahren fort, als Jean Wahl die stärker existenzialistisch gefärbten Themen in Hegels Denken hervorhob, gefolgt in den 1940er Jahre von Alexander Kojèves einflussreicher marxistischer Lesart. Der Hegelianismus hatte auch Auswirkungen auf den westlichen Marxismus durch die Schriften des ungarischen Philosophen Georg Lukács, und dieser Einfluss setzt sich in der kritischen Neuinterpretation fort, die von den Mitgliedern der Frankfurter Schule aufgeboten wurde, speziell von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und anderen. In jüngerer Zeit haben die meisten größeren Schulen des philosophischen Denkens (vom französischen Poststrukturalismus bis zur angloamerikanischen Analytischen Philosophie) die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Hegel betont, und als Ergebnis davon findet das hegelsche Denken (sowohl im exegetischen, als auch im konstruktiven Sinne) fortgesetzt neue Richtungen. 642
Heidegger, Martin (1889–1976) gel,
Siehe auch: Absolute, das; Deutscher Idealismus; Frankfurter Schule; HeG.W.F.; Idealismus; Marxismus, westlicher ROBERT STERN; NICHOLAS WALKER
Heidegger, Martin (1889–1976) Einführung Martin Heidegger lehrte Philosophie an den Universitäten in Freiburg (1915– 1923), Marburg (1923–1928) und wieder in Freiburg (1928–1945). Schon früh in seiner Laufbahn geriet er in den Einfluss von Edmund Husserl, wandte sich aber wieder von ihm ab, um seiner eigenen phänomenologischen Philosophie nachzugehen. Sein berühmtestes Werk, ‚Sein und Zeit‘, wurde 1927 veröffentlicht. Heideggers energische Unterstützung Hitlers in den Jahren 1933 bis 1934 brachte ihm die Suspendierung seines Lehrstuhls in den Jahren 1945–1950 ein. Nach seiner Pensionierung veröffentlichte er zahlreiche Werke, einschließlich des ersten Bandes seiner Gesamtausgabe. Sein Denken hatte starken Einfluss auf eine Reihe philosophischer Strömungen, vom Existenzialismus über die Hermeneutik bis zur Dekonstruktion, aber auch auf die Literaturtheorie und die Theologie. Heidegger stellt seine Themen häufig in dramatisch aufgeladener Sprache dar, die schwierig zusammenzufassen ist. Er bringt vor, dass die Sterblichkeit unser grenzbestimmendes Moment sei, dass wir in eine sinnbeschränkte Welt geworfen seien, die durch unser Sein-zum-Tode geformt sei, und dass eine endliche Bedeutung alle Wirklichkeit sei, die wir bekommen können. Er behauptete, dass die meisten von uns darin versagt haben zu verstehen, dass die radikale Endlichkeit die Quelle aller Bedeutung ist. Das Ergebnis dieser Vergessenheit sei die weltweite Wüste des Nihilismus mit ihrem Versprechen, dass eine wirklich allmächtige und idealerweise allwissende Menschlichkeit die Welt nach ihrem eigenen Bild neu erschaffen könne. Nichtsdestotrotz stellte er die Hoffnung auf Wiederherstellung unserer endlichen menschlichen Natur in Aussicht, aber nur um den Preis der Annahme eines Nichts, das dunkler ist als jener Nihilismus, der derzeit den Globus mit sich reißt. Auf das kümmerlich geflüsterte Eingeständnis: ‚Ich weiß kaum noch, wer und wo ich bin‘, antwortet Heidegger: „Keiner von uns weiß das, sobald wir aufhören, uns selbst etwas vorzumachen.“ (‚Gelassenheit‘, 1959). Und dennoch beansprucht er, kein Pessimist zu sein. Er will lediglich (1) das phänomenologische Prinzip zeigen, dass ‚Sein = Bedeutsamkeit‘ besagt (die beiden Ausdrücke sind austauschbar), und (2) das ontologische Prinzip beweisen, dass all die Bedeutsamkeit, die wir vorfinden, auf der radikalen Endlichkeit des menschlichen Seins gründet. Heideggers Hauptwerk ‚Sein und Zeit‘ war eine solche phänomenologische Ontologie, eine Untersuchung des Menschen, um die Endlichkeit aller Formen von Bedeutung zu demonstrieren. Nur die Hälfte des Buches wurde 1927 veröffentlicht, aber Heidegger arbeitete den Rest des Projektes in einer weniger systematischen Form während der zwei folgenden Jahrzehnte aus. Heidegger unterscheidet zwischen Dingen (das ‚Je-etwas-Sein‘) und der Welt, d.h. dem Zusammenhang, innerhalb dessen sich die Dinge finden. Eine heideggersche Welt ist eine Arena menschlicher Sorgen und Interessen. Eine jede solche Welt (beispielsweise die des Zimmermannshandwerks, oder der Kinderaufzucht, oder der Poesie) ist das, was die Bedeutsamkeit der Dinge konstituiert, die sich in ihnen fin643
Heidegger, Martin (1889–1976)
den (z.B. Hämmer, Windeln oder Worte). Die Welt einer Menge von Entitäten ist das Sein dieser Entitäten, d.h. dass, was ihnen Bedeutung verleiht. Heidegger nennt diese Unterscheidung zwischen Welt und Entitäten die „ontologische Differenz“. Er bringt vor, dass nur Menschen diese Differenz verstehen, und deshalb können auch nur sie mit den Dingen etwas anfangen und haben aus diesem Grunde auch eine Sprache im vollen Sinne des Wortes. Indem er Aristoteles’ topos eidōn umschreibt, nennt Heidegger den Menschen „den Ort der Bedeutung“, das „Da des Seins: Dasein“. Heidegger behauptet, dass das Dasein an sich selbst zeitlich sei, und zwar nicht im üblichen chronologischen Sinne von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, sondern in einem einzigartigen, existenziellen Sinne. Dasein existiert, d.h. ‚steht heraus‘, ragt in seine eigenen Möglichkeiten, seine Zukunft hinaus. Menschsein ist deshalb immer im Zustande des Werdens, ist letztlich das Werden zum eigenen Tode. Wenn es auf das Dasein angewendet wird, zeigt das Wort ‚Zeitlichkeit‘ keine zeitliche Nachfolge an, sondern das endliche Werden des Daseins, beschränkt durch Sterblichkeit. Wenn das Sein des Daseins durch und durch endlich ist, dann ist alles menschliche Bewusstsein an diese Endlichkeit gebunden, einschließlich aller Formen des Verständnisses von Bedeutung oder Sein. Für das Dasein ist die Bedeutung immer nur endlich bekannt und tatsächlich endlich. Die Hauptthese von ‚Sein und Zeit‘ ist, dass alle Bedeutungswelten (d.h. alle Möglichkeiten, dass etwas bedeutungstragend ist) notwendig endlich sind, weil das Dasein als ihre Quelle fundamental endlich ist. Heidegger kommt zu dieser Schlussfolgerung durch eine phänomenologische Analyse, wie Dasein Bedeutungswelten durch endliches Leben „ent-birgt“, indem es seinen eigenen Tod vorwegnimmt. Die Entbergung der endlichen Sinnwelten, d.h. wie sie entstehen, welche Struktur sie haben, und was sie ermöglicht, ist der zentrale Gegenstand in Heideggers Denken. Aber selbst wenn es Sinnwelten „ent-birgt“, bleibt die Endlichkeit des Daseins sogar noch vor uns selbst relativ verborgen. Wir neigen dazu die Endlichkeit zu übersehen, die die Quelle der Entbergung der Welten ist, und uns stattdessen dem zuzuwenden, was innerhalb dieser Welten entborgen wird, nämlich bedeutungsvolle Entitäten. Dieses Übersehen ist es, was Heidegger als Seinsvergessenheit bezeichnet, was eine Abkürzung ist für das Vergessen der entbergenden Quelle aller Formen von Sein bzw. Bedeutung ist. Endlichkeit ist ihm zufolge kein Seiendes, sondern ein Nichts, und als solche bleibt sie verborgen. Angesichts ihrer immanenten Verborgenheit ist dieses Nichts, obwohl es die Quelle aller Bedeutung ist, tatsächlich davon abhängig, übersehen zu werden. Heidegger meint, dass das Vergessen der Endlichkeit nicht nur die alltägliche menschliche Existenz kennzeichnet (er nennt dies „Verfallenheit“), sondern auch die gesamte Geschichte der Metaphysik von Platon bis Nietzsche. Heidegger ruft nach dem Dasein, um sich energisch seine eigene, fundamentale Endlichkeit als Quelle der Entbergung aller Bedeutungsfülle wieder anzueignen. Indem man dies unternimmt, wird das Dasein authentisch es selbst, genauso wie der Wächter dessen, was Heidegger „das Haus des Seins“ nennt, d.h. den endlichen Bereich des Sinns.
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Heidegger, Martin (1889–1976)
1. Leben und Werk 2. Zeitlichkeit und Authentizität 3. In-der-Welt-Sein und Hermeneutik 4. Dasein und Entbergung 5. Verborgenheit, Ereignis und die Kehre 6. Seinsvergessenheit, Geschichte und Metaphysik 7. Das Kunstwerk 1. Leben und Werk Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in Messkirch im Südwesten von Deutschland geboren. Er war der Sohn relativ armer römisch-katholischer Eltern. Von 1899 bis 1911 hatte er vor, Priester zu werden, aber nach zwei Jahren der theologischen Studien an der Freiburger Universität beendete ein öfters auftretendes Herzleiden diese Hoffnungen. Im Jahre 1911 wechselte er zur Mathematik und den Naturwissenschaften, promovierte aber schließlich in der Philosophie (1913) mit einer Dissertation unter dem Titel ‚Die Lehre vom Urteil im Psychologismus‘ (1914). In der Hoffnung einer Berufung auf den Freiburger Lehrstuhl für katholische Philosophie schrieb er 1915 seine Habilitationsschrift zu einem Thema der mittelalterlichen Philosophie unter dem Titel ‚Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus‘ (veröffentlicht 1916). Dieser Posten wurde jedoch durch jemand anderes besetzt, und im Herbst 1915 begann Heidegger seine akademische Laufbahn als Dozent an der Freiburger Universität. Zu dieser Zeit war Heidegger als Thomist bekannt, doch seine Dissertation aus 1915 war stark vom Gründer der modernen Phänomenologie, Edmund Husserl, beeinflusst. Als Husserl im Frühling 1916 an der Freiburger Fakultät aufgenommen wurde, lernte Heidegger ihn persönlich, wenn auch nicht sehr nah, kennen. Ihre Beziehung sollte erst nach dem Ersten Weltkrieg blühen. Heidegger wurde 1918 eingezogen und diente als Wettermelder an der Ardennenfront in den letzten drei Monaten des Krieges. Als er nach Freiburg zurückkehrte, nahm seine Laufbahn eine entscheidende Wendung. Innerhalb weniger Wochen kündigte er seinen Bruch mit der katholischen Philosophie an (9. Januar 1919), wurde als Husserls Privatassistent bestellt (21. Januar 1919) und nahm Vorlesungen zu einem fundamental neuen philosophischen Ansatz auf (4. Februar 1919). Viele Einflüsse in seiner Philosophie gehen zurück auf Heideggers frühe Entwicklung, einschließlich seiner Studien zu Paulus, Augustinus, Meister Eckhart, Kierkegaard, Dilthey und Nietzsche. Den größten Einfluss übten jedoch Husserl und Aristoteles aus. Heidegger war in den 1920er Jahren Husserls Schützling, er wiederum war jedoch nie ein gläubiger Schüler. Er bevorzugte Husserls frühe Arbeiten, vor allem die ‚Logischen Untersuchungen‘ (1900–1901), unter Ausschluss der späteren Entwicklungen seines Meisters. Mehr noch, Heidegger mochte an den ‚Logischen Untersuchungen‘ gerade diejenigen Dinge, die allgemein mit der traditionellen scholastischen Philosophie im Einklang standen, die er zuvor gelehrt hatte. Zunächst betrachtete Husserls frühe Phänomenologie die menschliche Psyche nicht als eine substantielle Angelegenheit, sondern als einen Offenbarungsakt (‚Intentionalität‘), in dem nicht nur offenbart wird, was man jeweils vorfindet (nämlich die Entität), sondern auch die Art und Weise, auf die es offenbart wird (also das Sein der Entität). Zweitens meinte der frühe Husserl, dass die zentrale Frage der Philo645
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sophie nicht die moderne Subjektivität sei, sondern vielmehr „die Dinge selbst“ in ihrer jeweiligen Erscheinung, was auch immer sie sein mochten. Und er erarbeitete eine deskriptive Methode, um die Dinge sich selbst zeigen zu lassen, wie sie sind. Drittens behauptete die Phänomenologie, dass das Sein der Entitäten nicht durch etwas bekannt ist, was einer Tatsachenreflexion, und auch keiner transzendentalen Konstruktion folgt, sondern direkt und unmittelbar im Wege einer kategorialen Intuition. Kurz gesagt war für Heidegger die Phänomenologie eine deskriptive Methode zum Verständnis des Seins der Entitäten, wie es sich in intentionalen Akten offenbart (siehe Phänomenologische Bewegung). Nach Heideggers Auffassung stand all dies im Gegensatz zu Husserls späterer Bindung an das reine Bewusstsein als dem voraussetzungslosen ‚Ding an sich selbst‘, das durch verschiedene methodische ‚Reduktionen‘ freigelegt werden sollte. Heidegger hatte weder für die neukantianische Wende zum transzendentalen Bewusstsein Verwendung, die sich in Husserls ‚Ideen‘ (1913) ausdrückte, noch für seine weiter gehende Wende zu einer Form von Kartesianismus. Entgegen der späteren Husserlschen Theorie eines weltlosen transzendentalen Ego, das voraussetzungslos Bedeutung auf seine Gegenstände überträgt, schlug Heidegger die historische und zeitliche Situationsbindung des existenziellen Selbst vor, das in die Welt „geworfen“ und den Entitäten in ihrer alltäglichen Bedeutung verfallen ist und sich dabei auf den Tod hin projiziert. In den 1920er Jahren begann Heidegger mit der Auslegung der aristotelischen Abhandlungen als einer impliziten Phänomenologie des Alltags ohne die verdunkelnden Eingriffe der Subjektivität. Er machte Aristoteles’ Hauptanliegen als die alēthēia, d.h. als ‚Unverborgensein‘ oder auch ‚Wahrheit‘ auf drei Ebenen aus: Entitäten als immanent selbstenthüllend; die menschliche Psyche als sich zusammen mit diesen Entitäten Enthüllendes, und insbesondere die menschliche Enthüllung der Entitäten in diskursiver, synthetischer Tätigkeit (logos), wobei dies in wortlosen Handlungen oder in artikulierten Sätzen stattfinden kann. Über Aristoteles hinausgehend interpretiert Heidegger dieses diskursive Unverborgensein jetzt als eines, das auf einer Art von Bewegung gründet, die er „Zeitlichkeit“ nennt, und tritt dafür ein, dass diese Zeitlichkeit das eigentliche Wesen des Menschseins ist. Indem er dieses neue Verständnis des Menschen einsetzt, legte Heidegger neu aus, wie überhaupt irgendetwas den Menschen erscheint. Er behauptete, dass Menschen als immanent zeitliche Wesen nur ein zeitliches Verständnis aller Entitäten haben, die sie kennen. Die Menschen verstehen die Dinge aber dadurch, dass sie sie in ihrem Sein erkennen, und das heißt so, wie sie sich gegenwärtig ereignen. Daher werden alle Formen des Seins, so weit wie die Menschen gehen, als zeitliche erkannt, und sie sind tatsächlich auch zeitlich. Die Bedeutung von Sein ist Zeit. Heidegger entwickelte diese These stufenweise, indem er zunächst eine provisorische Formulierung in ‚Sein und Zeit‘ (1927) entwickelte. Öffentlich widmete er das Buch Husserl „in Respekt und Freundschaft“, privat nannte er Husserls Philosophie jedoch „Scheinphilosophie“. Währenddessen half ein ahnungsloser Husserl im Jahre 1923 Heidegger beim Wechsel von seiner Dozentenstelle in Freiburg zu einer Professur an der Universität Marburg; und als Husserl 1928 pensioniert wurde, arrangierte er für Heidegger die Nachfolge auf seinem eigenen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Freiburg. Kaum hatte sich Heidegger in seiner neuen Position eingelebt, fiel die Freundschaft zwischen Mentor und Schützling auseinander. Als sei ‚Sein und Zeit‘ nicht genug gewesen, bestätigten die drei Arbeiten, die 646
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Heidegger 1929 veröffentlichte (‚Vom Wesen des Grundes‘, ‚Kant und das Problem der Metaphysik‘ und ‚Was ist Metaphysik‘), wie weit die beiden Philosophen sich voneinander entfernt hatten. Heideggers Laufbahn trat in eine neue Phase, als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, und innerhalb eines Monats waren die Weimarer Verfassung und die wichtigsten Bürgerrechte aufgehoben. Am 23. März wurde Hitler zum Diktator Deutschlands mit der absoluten Macht zum Erlass von Gesetzen, und zwei Wochen später wurden bereits brutale antisemitische Maßnahmen verkündet. Als ein konservativer Nationalist und gestandener Antikommunist unterstützte Heidegger Hitlers Politik mit großer Begeisterung zumindest ein Jahr lang, und mit stiller Überzeugung noch ungefähr zehn weitere Jahre. Er wurde am 21. April 1933 zum Rektor der Freiburger Universität gewählt und trat der NSDAP am 1. März desselben Jahres bei, wie er selbst später behauptete, um die Universität vor einer Politisierung zu bewahren. In seiner Antrittsrede als Rektor mit dem Titel ‚Die Selbstbehauptung der deutschen Universität‘ am 27. Mai 1933 forderte er eine Reorganisation der Universität im Sinne einiger Aspekte der Nazi-Revolution. Als Rektor erwies er sich als williger Sprecher und Werkzeug der Nazi-Politik sowohl in äußeren, als auch in inneren Angelegenheiten. Heidegger trat von dem Rektorat am 23. April 1934 zurück, unterstützte Hitler aber weiterhin. Seine Bemerkungen in den Vorlesungen zeigen, dass er die deutschen Kriegziele, soweit er sie kannte, mindestens bis zur Niederlage von Stalingrad im Januar 1943 guthieß. Die Beziehung zwischen Heideggers Philosophie und seinen politischen Sympathien – oder das Fehler einer solchen Beziehung – war noch lange Gegenstand einer heißen Debatte. Heidegger veröffentlichte relativ wenig während der Nazizeit. Stattdessen verbrachte er diese Jahre mit einem Überdenken seiner Philosophie und der Herausarbeitung der zentralen Begriffe, die sie sowohl hinsichtlich des Schwerpunktes, als auch hinsichtlich der Form für den Rest seines Lebens haben sollten. Die Überarbeitung dieses Denkens wird in drei Texten am deutlichsten, die er wesentlich später veröffentlichte: (1) die Arbeitsnotizen von 1936–1938, die er in den ‚Beiträgen zur Philosophie. Vom Ereignis‘ sammelte, wurden posthum im Jahre 1989 veröffentlicht; (2) die beiden Bände seines ‚Nietzsche‘, die 1961 veröffentlicht wurden, und die Vorlesungen und Notizen von 1936 bis 1946 enthalten; und (3) ‚Briefe über den Humanismus‘, die im Herbst 1946 geschrieben und 1947 veröffentlicht wurden. Nach dem Krieg wurde Heidegger von der Lehre wegen seiner nationalsozialistischen Aktivitäten in den 1930er Jahren suspendiert. 1950 wurde ihm jedoch erlaubt, die Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, und von da an las er gelegentlich an der Freiburger Universität und anderswo. Zwischen 1950 und seinem Tod veröffentlichte er zahlreiche Werke, einschließlich des ersten Bandes seiner umfangreichen ‚Gesamtausgabe‘. Er starb in seinem Haus in Zähringen, Freiburg, am 26. Mai 1976 und wurde in seiner Heimatstadt Messkirch begraben. Seine literarische Hinterlassenschaft liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Heidegger, der Katholik, heiratete Elfride Petri (1893–1992), eine Lutheranerin, am 21. März 1917. Sie hatten zwei Söhne, die beide in der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges dienten und an der Ostfront in Kriegsgefangenschaft gerieten. Im Februar 1925 begann Heidegger eine ein Jahr dauernde Affäre mit seiner da647
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maligen Studentin Hanna Arendt. Im Februar 1950 nahmen sie ihre starke, aber oft stürmische Freundschaft wieder auf, die bis Arendts Tod anhielt. 2. Zeitlichkeit und Authentizität Heidegger war überzeugt, dass die abendländische Philosophie das Wesen des Seins im Allgemeinen und das Wesen des Menschen insbesondere missverstanden hatte. Sein Lebenswerk war dem Versuch gewidmet, auf beiden Feldern die Dinge richtig zu stellen. Nach seiner Auffassung sind die damit zusammen hängenden Fragen unentwirrbar miteinander verknüpft. Mensch zu sein heißt das Sein, so wie es sich zeigt, zu enthüllen und zu verstehen. Entsprechend ist das Sein eines Dinges die bedeutungsvolle Anwesenheit dieses Dinges innerhalb des Feldes menschlicher Erfahrung. Ein angemessenes oder unangemessenes Verständnis des Menschen hat ein ebensolches Verständnis des Seins von allem Anderen zur Folge. In diesem Zusammenhang bedeutet ‚Mensch‘ das, was Heidegger mit seinem technischen Ausdruck ‚Dasein‘ bezeichnet: nicht Bewusstsein oder Subjektivität oder Rationalität, sondern diese bestimmte Art von Entität (die wir selbst immer sind), deren Sein darin besteht, die Entbergung des Seins sowohl an sich selbst, als auch an anderen Dingen zu suchen. Das Sein dieser Entität nennt er ‚Existenz‘ (siehe § 4). Heidegger behauptet, dass die Struktur des Menschen drei gleichartige Momente umfasst: Werden, Gewesenheit und Anwesenheit. (Diese kann man verstehen als ‚Zu-sich-Selbst-Kommen‘, ‚Sein-als-Gewesensein‘ und ‚Gegenwärtig-Machen‘). Als Einheit bilden diese drei Momente das Wesen des Menschen, das Heidegger ‚Zeitlichkeit‘ nennt: die Eröffnung einer Arena bedeutungsvoller Anwesenheit durch Antizipation des je eigenen Todes. Zeitlichkeit meint Gegenwärtig-Sein durch Werden dessen, was man bereits ist. Werden. Mensch zu sein heißt, dass man keine statische Entität einfach „dort“ unter anderen Dingen ist. Stattdessen ist das Menschsein immer ein Prozess des Selbstwerdens, des Lebens in die Möglichkeiten und in die eigene Zukunft hinein. Für Heidegger ist ein solches Werden nicht wählbar, sondern notwendig. Er drückt diesen Anspruch in verschiedenen, gleichwertigen Formeln aus: (1) Das Wesen des Menschen ist Existenz, verstanden als ‚Ek-sistenz’, als unvermeidliches Herausragen in die Sorge über das eigene Sein und in die Notwendigkeit, sich selbst zu werden; (2) das Wesen des Menschen ist „faktisch“, d.h. immer schon in die sorgenvolle Offenheit zu sich selbst geworfen und daher in die Unvermeidlichkeit des Selbstwerdens; und (3) das Wesen des Menschen ist es, „möglich zu sein“, d.h. nicht nur zu etwas fähig oder imstande, sondern über alle Bedürfnisse hinaus, selbst zu werden. Die äußerste Möglichkeit, in die hinein jemand leben kann, ist die Möglichkeit des Endes aller Möglichkeit, d.h. der eigene Tod. Menschen sind wesentlich endlich und notwendig sterblich, und deshalb ist das Werden eines Menschen eine Vorwegnahme seines Todes. Folglich bedeutet es, sich als Werdendes zu begreifen, und damit auch, sich selbst – zumindest implizit – als sterblich zu verstehen. Heidegger bezeichnet dieses sterbliche Werden als ‚Sein-zum-Tode‘. Gewesenheit. Menschsein besteht im Werden. Dieses Werden heißt werden, was man bereits ist. Das Wort ‚schon‘ bedeutet hier ‚wesentlich‘, ‚notwendig‘ oder ‚unvermeidlich‘. ‚Gewesenheit‘ bezeichnet das unvermeidlich menschliche Wesen, und 648
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insbesondere die eigene Sterblichkeit. Im Werden des Endlichen und der Sterblichkeit, die der Mensch bereits ist, kommt er die ihm je eigene Anwesenheit zu. Anwesenheit. Sterbliches Werden ist (a) die Art und Weise, wie Menschsein sich selbst gegenüber bedeutungsvoll gegenwärtig ist, und bringt (b) andere Dinge in bedeutungsvoller Anwesenheit zu sich selbst. Diese beiden Aspekte lassen sich zusammenbringen: die Dinge sind dem Menschen insofern gegenwärtig, als der Mensch sich selbst als sterbliches Werden gegenwärtig ist. In beiden Fällen ist die Anwesenheit mit Abwesenheit verbunden. Wie der Mensch sich selbst gegenwärtig ist. Weil das sterbliche Werden bedeutet, dass man zum eigenen Tode hin wird, erscheint der Mensch als etwas Verschwindendes; er ist sich selbst als etwas abwesend Werdendes. Um dieses Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit zu begreifen, nennen wir das Wesen des Menschen ‚Vor-Abwesenheit‘, dass heißt eine unvollständige Anwesenheit, die in die Abwesenheit verblasst. Vor-Abwesenheit ist ein Hinweis auf die Endlichkeit. Einer jeden Entität, die als verschwindend erscheint, oder der eine Gegenwärtigkeit in Form der Vorwegnahme eines zukünftigen Zustandes eigen ist, kommt ihr Sein nicht als volle Selbstgegenwärtigkeit zu, sondern als endliche Vor-Abwesenheit. Die Bewegung zum Tode, die den Menschen definiert, ist das, was Heidegger ‚Zeitlichkeit‘ nennt. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass ‚Zeitlichkeit‘ sich nicht auf eine chronologische Abfolge bezieht, sondern vielmehr meint, dass jemandem ein Sein als die Bewegung des endlichen sterblichen Werdens zukommt. Wie andere Dinge dem Menschen gegenwärtig sind. Andere Dinge sind dem Menschen insofern bedeutungsvoll gegenwärtig, als der Mensch zeitlich ist, d.h. immer seine eigene Abwesenheit vorwegnimmt. Daher ist die bedeutungsvolle Anwesenheit von Dingen ebenfalls zeitlich oder vor-abwesend, d.h. immer partiell, unvollständig und etwas, das eine Abwesenheit an sich selbst impliziert. Der Mensch ist nicht nur zeitlich, sondern die Anwesenheit der Dinge in Bezug auf den Menschen ist ebenfalls an sich selbst zeitlich. Durch sein ganzes Werk hindurch tritt Heidegger für eine immanente Verknüpfung von Zeitlichkeit oder Vor-Abwesenheit ein, die den Menschen und die Zeitlichkeit oder Vor-Abwesenheit definiert, und die eine bedeutsame Anwesenheit von Dingen kennzeichnet. Aber die bedeutsame Anwesenheit von Dingen ist das, was Heidegger mit ‚Sein‘ meint. Daher ist Heideggers zentrale These diese: soweit die menschliche Erfahrung reicht, sind alle Weisen des Seins zeitlich. Die bedeutsame Anwesenheit von Dingen immer unperfekt, unvollständig, vor-abwesend. Die Bedeutung des Seins ist Zeit. Heidegger behauptet, dass dieser entscheidende Sachverhalt, d.h. das endliche menschliche Sein als ein Bewusstsein der Endlichkeit aller Seinsweisen, sowohl in der alltäglichen Erfahrung, als auch in der Philosophie an sich übersehen und vergessen wurde. Deshalb diskutiert sein Werk, wie man diesen vergessenen Sachverhalt auf diesen beiden Ebenen wiedergewinnen kann. Was den Alltag betrifft, so beschreibt Heidegger, wie man sich diesen zentralen, aber vergessenen Umstand wieder in Erinnerung rufen und ihn sich erneut zu Eigen machen kann. Den Akt der Wiederaneignung des eigenen Wesens, d.h. der Erreichung eines persönlichen und konkreten Begreifens seiner selbst als etwas Endlichem, nennt er ‚Entschlossenheit‘. Diese persönliche Umformung bringt es mit sich, dass sich über
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die immanente Endlichkeit des eigenen Seins klar wird und sich dann für deren Annahme und für das Sein dieser Endlichkeit entscheiden kann. Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Menschsein ist immer schon der Prozess des sterblichen Werdens. Normalweise sind wir jedoch von den Dingen um uns so eingenommen (Heidegger nennt dies ‚Verfallenheit‘), dass man das Werden vergisst, dass ein solches Zusammentreffen möglicht macht. Es bedarf einer speziellen Art von Erfahrung, und zwar mehr einer Stimmung als einer gesonderten Erkenntnis, um das Bewusstsein der Endlichkeit in sich aufzuwecken. Heidegger meint, dass ein solches Erwachen in besonderen ‚grundlegenden Stimmungen‘ (Furcht, Langeweile, Neugier etc.) zustande kommt, in denen man keine Dinge wahrnimmt, sondern das, was Kein-Ding oder Nicht-Sein ist. Jede dieser grundlegenden Stimmungen offenbart auf seine je spezielle Weise die abwesende Dimension der eigenen VorAbwesenheit. Heidegger verwendet oft gewichtige Metaphern zur Beschreibung dieser Erfahrung. Beispielsweise beschreibt er die Furcht als einen ‚Ruf des Gewissens‘, wobei ‚Gewissens‘ keine moralische Fähigkeit meint, sondern eine bis jetzt schlafende und nun erwachende Bewusstheit der eigenen, endlichen Natur. Dieser Ruf des Bewusstseins offenbart, dass man schuldig ist, aber nicht wegen irgendeines moralischen Vergehens, sondern wegen eines ontologischen Fehlers, nämlich infolge der Tatsache, dass man immanent unvollständig ist und auf dem Weg zur Abwesenheit. Der Ruf des Gewissens ist der Ruf, diese sog. ‚Schuld‘ zu verstehen und zu akzeptieren. Sich für die eigene Endlichkeit entscheiden. Man kann wählen, ob man diesen Ruf des Bewusstseins entweder beachten oder ignorieren will. Ihn zu beachten und zu akzeptieren heißt, sich selbst als einen sterblichen Prozess der Vor-Abwesenheit anzuerkennen und entsprechend zu leben. In diesem Falle gewinnt man sein Wesen wieder, erreicht damit ‚Authentizität‘, indem man sein eigenes, authentisches Selbst wird. Den Ruf zu ignorieren oder von sich zu weisen heißt nicht, damit die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit abzuschütteln, sondern nur, dass man ein entsprechend uneigentliches (unauthentisches oder ‚verfallenes‘) Leben lebt. Nur das eigentliche oder authentische Verständnis von einem selbst als etwas Endlichem lässt das konkrete, erfahrene Verständnis zu, dass alle Formen des Seins, alle Weisen, auf die sich die Dinge bedeutsam zeigen können, selbst endlich sind. Zusammenfassung. Das Wesen des Menschen ist Zeitlichkeit, d.h. sterbliches Werden oder Vor-Abwesenheit. Das sterbliche Werden zu übersehen heißt, eine unauthentische Zeitlichkeit zu leben und ein verfallenes Selbst zu sein. Wer jedoch das eigene sterbliche Werden in einem Akt der Entschlossenheit anerkennt und sich hierfür entscheidet, lebt in authentischer Zeitlichkeit und Selbstheit. In diesem Falle erreicht man Anwesenheit (sowohl die eigene Anwesenheit, als auch diejenige anderer Dinge) durch wahres Werden, was man bereits ist. Diese Wiedergewinnung des eigenen, endlichen Seins kann zum Verständnis führen, dass die Bedingung aller Weisen des Seins die Endlichkeit ist. Dies ist die eigentliche Bedeutung des Seins in der Zeit. 3. In-der-Welt-Sein und Hermeneutik In ‚Sein und Zeit‘ verdeutlicht Heidegger nicht nur die Gründe, warum sich die Dinge dem Menschen bedeutsam präsentieren, sondern auch die Weisen, auf welche dies geschieht. 650
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In-der-Welt-sein. Im Gegensatz zu Theorien vom Menschen als einem sich selbst enthaltenden theoretischen Ego versteht Heidegger den Menschen immer als außerhalb jeder angenommenen Immanenz, vereinnahmt vom sozialen Kontakt, von praktischen Aufgaben und seinen eigenen Interessen. Der Beweis für diese Vereinnahmung, so behauptet er, ist es, dass Menschen immer in einer Stimmung befangen sind, d.h. eingestimmt sind auf eine jeweils gegebene Menge von Sorgen. Das Gebiet solcher Sorgen und Interessen nennt Heidegger ‚die Welt‘, und das Engagement in solchen Bedürfnissen und die Befassung mit den Dingen, die sie vielleicht erfüllen, nennt er ‚In-der-Welt-Sein‘ (oder auch ‚Sorge‘). Heideggers Ausdruck ‚Welt‘ bedeutet nicht den Planeten Erde oder die gesamte Ausdehnung von Zeit und Raum, oder gar die Gesamtsumme aller existierenden Dinge. Vielmehr bedeutet ‚Welt‘ eine dynamische Menge von Beziehungen, die letztlich auf menschliche Möglichkeiten bezogen ist, die den Dingen Sinn oder Bedeutung verleihen, mit dem wir umgehen, wie dies z.B. in der Wendung ‚die Welt eines Künstlers‘ oder ‚die Welt des Zimmerers‘ zum Ausdruck kommt. Ein Mensch lebt in vielen solcher Welten, und sie überlappen sich häufig. Was aber ihr Wesen ausmacht, und was Heidegger die Weltheit aller solcher Welten nennt, ist die Bedeutung, die den Dingen durch ihre Bezogenheit auf menschliche Interessen und Möglichkeiten zuwächst. Obwohl In-Sein und Welt unterscheidbar sind, können sie doch niemals gesondert voneinander auftreten. Jede Menge von bedeutungsgebenden Beziehungen (d.h. eine Welt) entsteht erst wirklich und bleibt dies nur mit den ihr angemessenen Möglichkeiten (In-Sein). In-Sein hält die Welt offen und erhält sie. In ‚Sein und Zeit‘ studiert Heidegger die Welt, von der er meint, dass sie den Menschen am nächsten ist: die Welt des alltäglichen Handelns. Das definierende Moment einer solchen Welt der praktischen Zwecke, der hinter der menschlichen Fürsorge steht, ist beispielsweise das Bedürfnis, um seines eigenen Schutzes willen ein Haus zu bauen. Eine Gruppe von Dingen erhält dann ihre Bedeutung aus der direkten oder indirekten Beziehung dieser Dinge zu diesem Ziel. Zum Beispiel beziehen bestimmte Werkzeuge ihre Bedeutung aus ihrer Nützlichkeit zur Reinigung des Bodens, jene Bäume dort beziehen ihre Bedeutung infolge ihrer Eignung als Bauholz, diese Pflanzen dort aus ihrer Dienstbarkeit als Dachstroh. Eine dynamische Menge solcher Beziehungen (wie z.B. ‚nützlich für‘, ‚geeignet als‘, ‚notwendig für‘), die alle Dinge auf eine menschliche Aufgabe und letztlich auf eine menschliche Möglichkeit beziehen, bilden eine ‚Welt‘ und definieren die jeweilige Bedeutung, die bestimmte Dinge, beispielsweise Werkzeuge, Bäume und Schilf, haben können. Die Bedeutung der Dinge ändert sich entsprechend dem Wechselspiel der menschlichen Interessen, der Beziehungen, die sie eingehen, und der Verfügbarkeit des Materials. Fehlt einem beispielsweise ein Hammer, so mag die Bedeutung eines Steins dessen Nutzen zum Einschlagen eines Zeltherings sein. Der Stein erhält seine jeweilige Bedeutung als eine Utensilie aus der Welt des Campers, aus dem Bedürfnis nach Schutz, zusammen mit dem Bedarf nach etwas, mit dem man hämmern kann, und mit der Verfügbarkeit allein dieses Steins. (Wenn der Camper einen Hammer findet, kann der Stein durchaus seine vorangehende Bedeutung verlieren.) Hermeneutisches Verstehen. Heidegger sagt, dass die Welt der praktischen Erfahrung der ursprüngliche Ort des Verständnisses des Seins der Dinge ist. Verstehen impliziert Bewusstsein des Seins der Dinge. Verstehen bringt Bewusstsein über 651
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bestimmte Beziehungen mit sich, beispielsweise das Bewusstsein von diesem als jenem oder von diesem für jenes. Das ‚als‘ oder ‚für‘ artikuliert die Bedeutung des Dinges. In der Benutzung eines Arbeitsgerätes hat man das praktische Verständnis von der Beziehung dieses Geräts zu einer Aufgabe (X ist nützlich für Y). Dies wiederum bescheinigt ein praktisches Verständnis vom Sein des Geräts; man kennt den Stein als etwas, das nützlich ist zum Einschlagen eines Zeltherings. Mit anderen Worten haben Menschen, noch vor jedem prädikativen Wissen, dass sich in Sätzen vom Typ ‚S ist P‘ ausdrückt, immer schon ein vortheoretisches oder vorontologisches Verständnis des Seins der Dinge (Dinge als seiend für etwas). Weil das ‚als‘ ausdrückt, wie etwas verstanden wird, und weil das griechische Verb hermeneuein die Bedeutung von ‚etwas verständlich machen‘ hat, nennt Heidegger das ‚als‘, dass die Dinge im praktischen Verständnis intelligibel macht, das ‚hermeneutische Als‘. Dieses ‚hermeneutische Als‘ wird möglich, weil der Menschen ein ‚geworfener Entwurf‘ ist, weil er notwendig in Möglichkeiten gestoßen ist (die Geworfenheit) und dadurch die Welt offen hält (d.h. sich entwirft). Hermeneutisches Verstehen, d.h. prädikatives Verstehen des ‚hermeneutisches Als‘ durch das Sein eines geworfenen Entwurfs, ist die Art von Erkenntnis, die dem Sein-in-der-Welt am meisten ansteht. Dies ist die vorrangige Weise, auf der die Menschen das Sein der Dinge kennen. Im Gegensatz dazu steht das abgehobenere und objektive ‚apophantische‘ Wissen, das sich selbst in deklarativen Sätzen (‚S ist P‘) ausdrückt und ist deshalb eine abgeleitetes und verflachtes Verständnis des Seins. Zusammenfassung. Solange man lebt, ist man im sterblichen Sein befangen. Dieses Werden bringt Zwecke und Möglichkeiten mit sich. Leben auf Zwecke und Möglichkeiten hin ist die Art und Weise, wie die Dinge bedeutsam gegenwärtig für uns sind. Die Fähigkeit, Dinge durch ein Leben auf Möglichkeiten hin bedeutsam gegenwärtig zu haben, nennt Heidegger In-der-Welt-Sein. Das In-der-Welt-Sein ist als ein geworfener Entwurf strukturiert; es hält die Möglichkeit der Bedeutung offen (d.h. den Entwurf), indem es ein unvermeidliches Leben in die Möglichkeit hinein ist (d.h. Geworfenheit). Dies äußert sich in einem vor-prädikativen, hermeneutischen Verständnis des Seins der Dinge. Daher erzeugt und erhält sterbliches Werden durch sein In-der-Welt-Sein alle mögliche Bedeutung. Anders formuliert: die Zeitlichkeit bestimmt alle Weisen, auf die die Dinge eine bedeutsame Anwesenheit haben können. Zeit ist die Bedeutung aller Formen von Sein. 4. Dasein und Entbergung Heidegger nennt das menschliche Sein ‚Dasein‘, als etwas, dessen Sein darin besteht, Sein zu entbergen und zu verstehen, und zwar entweder das Sein von sich selbst, oder dasjenige von anderen Dingen. Insofern das Sein des Daseins die Offenlegung seines eigenen Seins ist, heißt es ‚Existenz‘ oder ‚Ek-sistenz‘; diese ist ein selbstreferentielles Zu-sich-selbst-Herausstehen. Das Sein des Daseins besteht in seiner Beziehung zusammen mit Verständnis und Fürsorge zu sich selbst. Dasein ist aber nicht einfach auf sich selbst bezogen. Existenz ereignet sich nur als In-der-Welt-Sein, d.h. die Offenheit des Menschen zu sich selbst bringt die Offenheit der Welt für andere Dinge mit sich. Einer von Heideggers Neologismen für Offenheit ist das ‚Da‘, den er auf zwei aufeinander bezogene Weisen verwendet. Ersten ist der Mensch sein eigenes ‚Da‘: als geworfener Entwurf erhält die Existenz nämlich ihre eigene Offenheit zu sich selbst. Und zweitens macht der Mensch, indem 652
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er dies tut, auch die Offenheit der Welt als das ‚Da‘ für andere Dinge möglich. Die Selbst-Entbergung des Menschen macht die Entbergung der anderen Dinge möglich. Heidegger nennt den Menschen in beiden dieser Fähigkeiten das ‚Da-Sein‘, also eben ‚Dasein‘, oder manchmal auch ‚Da-sein‘, wenn es sich auf die zweite Fähigkeit bezieht. Im Alltagsdeutsch bedeutet ‚Dasein‘ die Existenz von etwas im üblichen Sinne, dass nämlich etwas in Raum und Zeit sich irgendwo befindet, im Gegensatz zu ‚überhaupt nicht da sein‘. In Heideggers Sprachgebrauch meint Dasein jedoch dass Unverborgensein von etwas (entweder von einem selbst, oder von einem anderen Ding) in seinem Sein. Mit einem Wort, das heideggersche Dasein ist offenbarend oder ‚entbergend‘. Und weil das menschliche Sein fundamental endlicher Natur ist, so ist auch die Entbergung fundamental endlich. Das griechische Wort für Entbergung ist alēthēia, ein Ausdruck, der sich aus dem privativen Präfix a- (‚un-‚ im Sinne von ‚nicht-‘) und der Wurzel lēthē (Verstecktheit oder Verborgenheit) zusammensetzt. Heidegger findet die Endlichkeit der Un-verborgenheit in dem Wort alēthēia eingeschrieben. Etwas zu offenbaren heißt, es für den Moment aus (a-) einer vorangehenden Verborgenheit (lēthē) zu bergen und es für eine Weile in der Anwesenheit zu halten. Heidegger diskutiert drei Ebenen der Entbergung, die vom Original bis zur Ableitung reichen, wobei jede von ihnen Dasein einbezieht: (1) Entbergung als solche, (2) die Entbergung der Dinge in ihrem Sein, und (3) Entbergung in Satzaussagen. Heideggers Hauptinteresse liegt auf der ersten Ebene. Dort ist die Entbergung / alēthēia das ursprüngliche Auftreten, das sich in bedeutungsvoller Anwesenheit (Sein) äußert. Heidegger sagt, dass die erste und zweite Ebene zwar verschieden voneinander sind, aber auch untrennbar, und dass sie zusammen genommen die dritte Ebene möglich machen. Das Wort ‚Wahrheit‘ ist eigentlich nur auf die dritte Ebene anwendbar, wo die Wahrheit die Eigenschaft eines Satzes ist, der richtig komplexe Sachverhalte wiedergibt. Deshalb antwortet Heidegger auf die Frage ‚Was ist das Wesen der Wahrheit?‘, d.h. auf die Frage ‚Was macht die Wahrheit von Aussagen auf der dritten Ebene möglich?‘: „Im Näheren, die Offenbarung von Dingen in ihrem Sein (zweite Ebene); und letztlich die Entbergung als solche (erste Ebene)“. Die Antwort erschließt sich auf die folgende Weise. Erste Ebene. Entbergung als solche ist die Eröffnung des Bedeutungsfeldes selbst. Es ist die Entstehung und Erhaltung von Welt auf dem Grunde des Daseins, das abwesend wird. Insofern es die Geburt der Bedeutung und die Entstehung des Seins bezeichnet, ist die Entbergung an sich oder das Entbergen der Welt der Grund dafür, warum jedes bestimmte Sein überhaupt eine bedeutungsvolle Anwesenheit haben kann. Daraus folgen drei weitere Sätze. Erstens: die Entbergung der Welt geschieht ausschließlich im Sein des Daseins. Tatsächlich gibt es ohne das Dasein überhaupt keine Offenheit. Die Entstehung und Erhaltung der dynamischen Beziehungen, die diese Möglichkeit der Bedeutung überhaupt hervorbringen, geht nur so lange vor sich, wie Dasein als sterbliches Werden gegeben ist. Und umgekehrt ist überall dort, wo Dasein ist, auch Welt. Zweitens: Entbergung an sich geschieht niemals gesondert von der Entbergung von Seiendem als einem Dies- oder Das-Sein. Indem er von der Entbergung „als solcher“ spricht benennt Heidegger die erzeugende Quelle und allgemeine Struktur aller möglichen Bedeutung, die irgendeinem Seienden über653
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haupt erwachsen kann. Das Ergebnis der Entbergung als solcher ist die Tatsache, dass Dasein in Bezug auf Sterblichkeit (d.h. Bedeutung) der Grundzustand dessen ist, was Seiendem überhaupt passieren kann. Drittens: Entbergung an sich ist immer vorrangig vor der konkreten menschlichen Handlung und ermöglicht diese in irgendeiner bestimmten Welt. Solche konkreten Handlungen gehen das Risiko ein, nicht zur Offenbarung beizutragen (d.h. hinsichtlich der Bedeutung von etwas falsch zu liegen). Im Gegensatz dazu ist die Welt-Entbergung immer offenbarend insofern, als sie überhaupt die Eröffnung der schieren Möglichkeit von Bedeutung ist. Die alēthēia / Entbergung-als-solche, d.h. wie sie entsteht, welche Struktur sie hat, und was sie ermöglicht, ist das zentrale Thema oder das ‚Ding an sich‘ in Heideggers Denken. Er nennt sie manchmal die ‚Lichtung‘ des Seins. Er nennt sie auch das ‚Sein selbst‘ oder ‚Sein-als-solches‘ (d.h. die eigentliche Erzeugung des Seins). Häufig – und unangemessen – nennt er sie auch die ‚Wahrheit des Seins‘. Zweite Ebene. Die Entbergung-als-solche macht die vorprädikative Verfügbarkeit von Dingen in ihrer jeweiligen Seinsweise. Diese vor-prädikative Verfügbarkeit bildet die zweite Ebene, die grundlegende, alltägliche Entbergung von Dingen als bedeutungsvoll gegenwärtig. Diese Entbergung ist immer endlich, und das bringt zwei Dinge mit sich. Erstens ist das, was die Entbergung-als-solche möglich macht, nicht einfach das Sein irgendeines Seienden, sondern vielmehr das Sein dieses Seienden als etwas oder eben als nicht etwas. Beispielsweise ist dieser Stein etwas als ein Hammer, aber nicht als ein Wurfgeschoss. Ich kenne den Stein nur als die eine oder andere ihrer Möglichkeiten; das Seiende wird nicht vollständig und unmittelbar mit allen ihren Möglichkeiten gegenwärtig, sondern nur teilweise und diskursiv. Daher ist das Sein dieses Seienden immer endlich, immer ein Seiendes der Synthese-undDifferenzierung in eine, ein Als-und-als-nicht-Sein. Zweitens lässt die Entbergungals-solche ein Seiendes nicht in seinem ewigen Wesen gegenwärtig sein, sondern nur in seiner jeweiligen Bedeutung innerhalb einer gegebenen Situation. Darüber hinaus zeigt es, dass dieses spezifische Seiende nicht das einzige ist, was diese Bedeutung haben kann. Zum Beispiel verstehe ich in der gegenwärtigen Situation diesen Stein nicht als einen Briefbeschwerer oder als eine Waffe, sondern als einen Hammer. Ich verstehe ihn auch dahingehend, dass er nicht das beste Gerät für diesen Zweck ist; ein Hammer wäre besser. Obwohl es eine Frage der Synthese-und-Differenzierung ist, erfordert dieses vor-prädikative hermeneutische Verstehen des Seins keine thematische Artikulation, weder mental, noch verbal, und sie erfordert auch kein theoretisches Wissen. Sie erweist sich gewöhnlich selbst im reinen Tun von etwas. Gleichwohl kann sich eine solche hermeneutische Bewusstheit in einem entwickelteren, wenn auch noch vorprädikativen Moment zu einem undeutlichen Sinn von Dies-oder-das-Sein eines Seienden hinentwickeln (die ‚Washeit‘), oder zu einem So-oder-so-Sein (der ‚Wieheit‘), und zu einem Überhaupt-verfügbar-sein (der ‚Dasheit‘). Noch später kann diese Undeutlichkeit ihren Sinn als jeweilige Bedeutungsfülle verlieren und sich auf der dritten Ebene zu expliziten metaphysischen Begriffen vom Wesen, der Modalität und der Existenz eines Seienden entwickeln. Die zweite Ebene der Entbergung kann auf die folgende Weise beschrieben werden: innerhalb irgendeiner gegebenen Welt ist das Sein eines Seienden immer schon unverborgen als etwas oder als etwas anderes. Dies entspricht der traditionellen Leh654
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re der Metaphysik von den transzendentalen Merkmalen von allem, was es gibt; unabhängig von seiner Art oder seinem spezifischen Gegebensein ist jedes Seiende immanent in seinem Sein unverborgen (omne ens est verum). Heidegger argumentiert, dass die Metaphysik, während sie auf dieser zweiten Ebene der Entbergung aufbaut und sich ihrer sogar bewusst ist, sie doch kein ausdrückliches Verständnis der Entbergung-als-solcher oder ihrer Quelle im In-derWelt-Sein hat. Darüber hinaus behauptet er, dass die Entbergung von Seiendem-inseinem-Sein (Ebene 2) dazu tendiert, die Entbergung-als-solche zu übersehen und zu verdunkeln. Er meint ferner, dass es eine immanente Verborgenheit der Entbergung-als-solcher gibt, die es praktisch unvermeidlich macht, dass man sie übersieht (siehe § 6). Dritte Ebene. In-der-Welt-Sein und die daraus resultierende vorprädikative Entbergung des Seienden als So-und-so-Seiendes ermöglichen es uns, die prädikative Entbergung des Seienden zu bewirken. Auf dieser dritten Ebene der Entbergung sind wir in der Lage uns gegenüber korrekt in synthetischen Urteilen und deklarativen Sätzen zu repräsentieren, wie sich die Dinge in der Welt verhalten. Eine korrekte synthetische Repräsentation eines komplexen Sachverhalts (ein richtiges Urteil) ist ‚wahr‘, d.h. es entbirgt das Seiende so, wie es sich selbst darstellt. Ein solcher prädikativer, apophantischer Satz (‚S ist P‘) ist nur deshalb in der Lage, wahr zu sein, weil die Entbergung der Welt ein Seiendes bereits als bedeutsam vorgestellt hat und es daher erlaubt hat, als dies oder jenes aufgefasst zu werden. Dieses je schon unverborgene Seiende ist die bindende Norm, an der sich die Behauptung messen muss. Auf der dritten Ebene ist es jedoch auch möglich, das Seiende in der Sprache und in Gedanken falsch zu repräsentieren, d.h. darin zu versagen es in der Weise zu entbergen, wie es sich der Welt zeigt. Auf der ersten Ebene des Daseins gibt es immer nur Entbergung. Aber im Zuge der prädikativen Entbergung auf der dritten Ebene (analog zur hermeneutischen Entbergung auf der zweiten Ebene) kann die Repräsentation von Seiendem in satzartigen Erklärungen durch das Dasein entweder entbergend sein oder auch nicht, entweder wahr oder falsch. Einer von Heideggers Gründen zur Ausarbeitung der Ebenen der Entbergung ist es zu demonstrieren, dass die Wissenschaft, die Metaphysik und ganz allgemein die Vernunft, die alle auf der dritten Ebene operieren, auf einem ursprünglicheren Auftreten von Entbergung gründen, dessen sie sich strukturell nicht bewusst sind. Dies ist es, was er mit dem Ausspruch „die Wissenschaft denkt nicht“ meint. Er will damit nicht etwa sagen, dass der Wissenschaftler dumm oder seine Arbeit engstirnig sei, noch verunglimpft er damit die Vernunft und ihre Erfüllung. Er meint damit, dass die Wissenschaft an sich selbst nicht auf das Sein-in-der-Welt konzentriert ist, selbst wenn das Sein-in-der-Welt letztlich für die bedeutungsvolle Anwesenheit von Dingen verantwortlich ist, an denen die Wissenschaft ihre Behauptungen messen muss. 5. Verborgenheit, Ereignis und die Kehre Verborgenheit. Heidegger behauptet, dass die Entbergung-als-solche, d.h. die Eröffnung der Bedeutung im Sein des Daseins, immanent verborgen ist und dies auch bleiben muss, wenn die Dinge richtig in ihr Sein entborgen werden sollen. Diese immanente Verbergung oder Verborgenheit-als-solche nennt Heidegger das ‚Geheimnis‘. Weil Heidegger die Entbergung-als-solche manchmal auch ‚Sein selbst‘ nennt, wurde hieraus die Wendung vom ‚Geheimnis des Seins‘. Die sich daraus 655
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ergebende Behauptung, dass das Geheimnis des Seins sich selbst verbirgt, während die Dinge sich offenbaren, hat zu einer Mystifizierung geführt, und zwar nicht nur unter Heideggerianern. Sein scheint hier zu einer höheren, aber verborgenen Entität zu werden, die seltsame Handlungen vollzieht, die nur noch der Eingeweihte verstehen kann. Diese Entstellung zu Heideggers Absichten ist nicht hilfreich. Wie können wir die immanente Verbergung der Entbergung-als-solcher verstehen? Ein Weg ist der, das Paradigma der ‚Bewegung‘ zu verstehen, das die Heideggersche Diskussion des Entbergens und Verbergens durchdringt. Im weiten philosophischen Sinne verstanden ist die Bewegung nicht als reiner Wechsel des Ortes etc. definiert, sondern als das Sein der Dinge selbst, die einem Prozess des Wandels ausgesetzt sind. Diese Art von Sein besteht in der Vorwegnahme von etwas Abwesendem mit dem Ergebnis, dass jenes, was abwesend-aber-vorweggenommen ist, das gegenwärtige Sein eines Seienden bestimmt. Vorwegnahme ist das Sein solcher Entitäten, und die Vorwegnahme ist vom abwesenden-aber-vorweggenommenen Ziel bestimmt. Beispielsweise ist das Sein der Eichel ihr Werden einer Eiche: und folglich bestimmt die zukünftige Eiche als das Ziel der ‚Bewegungslinie‘ der Eichel das gegenwärtige Sein der Eichel. Ähnlich kann man sagen, dass Margarete eine Hochschulabsolventin ist, insofern sie sich auf ihren Studienabschluss hin bewegt. Der noch-abwesende Abschluss als vorweggenommen bestimmt ihr Studentensein. Das Abwesende ist von Natur aus verborgen. Wenn es aber vorweg genommen oder beabsichtigt wird, wird das immanent Verborgene, während es noch abwesend bleibt, zu einem Quasi-Anwesenden. Es fungiert als die ‚finale Ursache‘ und raison d’être, die das Sein des vorweggenommenen Seienden bestimmt. Das heißt, das Vorweggenommen-Abwesende ‚gibt das Sein‘ des vorweggenommenen Seienden, sogar noch während es immanent verborgen ist, indem es das Seiende als das entbirgt, was es gegenwärtig ist. Dieses Muster einer Abwesenheit-gebenden-Anwesenheit gilt sowohl für die Entbergung des Daseins, als auch für die Entbergung des Seienden, auf die das Dasein stößt. Dies gilt in herausragendem Sinne auch für das Dasein. Das Sein des Daseins ist Bewegung, denn das Dasein existiert durch die Vorwegnahme seiner eigenen Abwesenheit. Der Tod des Daseins bleibt immanent verborgen, aber wenn er vorweggenommen wird, dann wird das immanent Verborgene quasi-gegenwärtig durch die Bestimmung des Seins des Daseins als einem sterblichen Werden. Das Abwesende gibt dem Dasein, wenn es vorweggenommen wird, seine endliche Anwesenheit. Dasselbe gilt für andere Entitäten. Die vorweggenommene Abwesenheit bestimmt das endliche Dasein des Seins. Das Sein des Daseins ist aber welt-entbergend; es hält den Bezirk der bedeutungsvollen Anwesenheit offen, in dem andere Dinge als Dies-oder-das-Sein entborgen werden. So bestimmt das immanent Verborgene, wenn es vorweggenommen wird, die Anwesenheit nicht nur des Daseins, sondern auch die anderen Dinge, auf die es trifft. Daher birgt die eigentliche Struktur der Entbergung, d.h. der Umstand, dass das Abwesende-aber-Vorweggenommene die endliche Anwesenheit bestimmt oder ‚gibt‘, in sich, dass ihre letzte Quelle immanent verborgen bleibt, selbst wenn und während sie das Sein von Dingen entbirgt. Diese immanente Verborgenheit im Herzen des Unverborgenen ist das, was Heidegger das ‚Geheimnis‘ nennt. Heidegger meinte, dass das ‚Geheimnis‘ die letzte Frage der Philosophie ist, und er glaubte He-
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der in seinem Fragment Nr. 123 sagt: ‚Die alēthēia (Unverstelltheit, Wahrheit) als solche liebt es sich zu verbergen.‘ Ereignis. Das Paradigma der Bewegung erklärt auch, warum Heidegger die Entbergung-als-solche ‚Ereignis‘ nennt. Heidegger verwendet dieses Wort nicht umgangssprachlich, sondern als die Bezeichnung einer Bewegung. Indem er mit dem darin enthaltenen Adjektiv ‚eigen‘ spielt, erzeugt er das Wort ‚Ereignung‘ als Bezeichnung einer speziellen Form von Bewegung als Prozess des Seins, wo etwas in das Eigene hineingezogen wird. Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass die Eiche als finale Ursache die Eichel in das ‚hineinzieht‘, was sie eigentlich ist, indem sie die Eichel in die Richtung dessen zieht, was sie sein soll. Dieses Gezogensein ist die Bewegung der Eichel, ihr eigentliches Sein. Ebenso wird das Dasein vom Tod ‚in Anspruch genommen‘ als seine finale Ursache, und wird damit durch den Tod ins eigene sterbliche Werden ‚vorangezogen‘. Dieses Gezogensein in die eigene Abwesenheit, und zwar auf eine Weise, dass die Welt dabei erzeugt und erhalten wird, ist das, was Heidegger ‚Aneignung‘ nennt. Und dies ist auch das, was er mit ‚Ereignis‘ meint. Das Wort ‚Ereignis‘ taucht in Heideggers Denken zusammen mit dem Bild des Daseins, das vom Abwesenden angeeignet wird, nur in den 1930er Jahren auf. Jedoch spiegelt diese relativ spätere Sprache, was Heidegger früher die Geworfenheit des Daseins genannt hatte, nämlich die Tatsache, dass das Dasein in die Möglichkeiten geworfen ist, dabei seine eigene Abwesenheit vorwegnimmt und auf diese Weise „immer schon“ in die Entbergung der Welt mit einbezogen ist. Sowohl die frühere Ausdrucksweise der geworfenen Vorwegnahme der Abwesenheit und die spätere Ausdrucksweise der Aneignung durch Abwesenheit haben dasselbe Phänomen im Blick: die ‚Gewesenheit‘ des Daseins, seine konstituierenden Sterblichkeit, die die Entbergung ermöglicht. Das Paradigma der Bewegung hilft ferner Heideggers Behauptung über das Verbergen-und-Offenbaren bzw. des Entziehens-und-Ankommens zu klären, das Selbst-Sein (d.h. der Entbergung-als-solcher). In einer recht typischen Formulierung schreibt Heidegger in ‚Nietzsche‘ (1961), dass das Selbst-Sein sich selbst zwar entzieht, aber mit diesem Entzug ist das Sein auch das Ziehen, das das Wesen des Menschen als den Platz der eigenen Ankunft des Seins behauptet. Diese Behauptung, die die Struktur des Ereignisses beschreibt, kann folgendermaßen interpretiert werden: - Die ‚Entziehung‘ der Entbergung-als-solcher: die immanente Verborgenheit einer welt-unverborgenen Abwesenheit. - Diese ‚Entziehung‘ unterhält eine Beziehung zum Dasein: Diese Beziehung können wir entweder ‚Aneignung‘ oder ‚geworfene Vorwegnahme‘ nennen. - Sie (die ‚Entziehung‘) behauptet Dasein: Sie tut dies durch deren Aneignung zum sterblichen Werden. - Dadurch kann das Selbst im Sein des Daseins ankommen: Dies insofern, als das Sein des Daseins die Offenheit ist, die die Welt ist. Die Ankunft geschieht in der Form der Bedeutungsbeziehungen, wobei die Dinge im Zustande des Dies-oderjenes-Seins sind.) Die Kehre. Man bemerkt eine gewisse Verlagerung innerhalb von Heideggers Werk, die um das Jahr 1930 beginnt, und zwar sowohl in seinem Stil, als auch in den Themen, die er behandelt. Hinsichtlich des Stils wurde von einigen Seiten behauptet, dass seine Sprache abstruser und poetischer, und sein Denken weniger phi-
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losophisch und stattdessen mystischer wird. Hinsichtlich der Gegenstände führt er neue Ausdrücke wie ‚Aneignung‘ und die ‚Geschichte des Seins‘ ein. Es ist allerdings problematisch zu unterscheiden, ob diese und andere Veränderungen zu dem gehören, was Heidegger selbst die ‚Kehre‘ nennt. Einige meinen, dass Heidegger zu Beginn der 1930er Jahre seinen Ansatz grundlegend änderte, vielleicht sogar sein zentrales Anliegen. Der frühe Heidegger, so lautet das Argument, hatte das Sein an sich (d.h. die Entbergung-als-solche) aus der Perspektive des Daseins verstanden, wobei der späte Heidegger das Dasein aus der Perspektive des Seins an sich versteht. Andererseits ist klar, dass schon der frühe Heidegger das Dasein nur aus der Perspektive des Seins an sich verstand. Heidegger klärt diese Dinge, in dem er zwischen (1) der Kehre und (2) dem ‚Wechsel im Denken‘ unterscheidet, den die Kehre fordert, und die beide zu unterscheiden sind von (3) den verschiedenen Veränderungen in der Form und dem Schwerpunkt, den seine Philosophie in den 1930er Jahren durchmachte. Wichtig daran ist, genauer gesagt, dass die Kehre keine Veränderung in Heideggers Denken, noch eine Wechsel in seinen zentralen Interessenspunkten ist. Die Kehre ist nur eine weitere Präzisierung des ‚Ereignisses‘. Hierzu gibt es drei Aspekte zu erläutern. Erstens ist die ‚Kehre‘ der Name dafür, wie das ‚Ereignis‘ wirkt. ‚Ereignis‘ ist die Aneignung des Daseins um der Entbergung der Welt willen. Für Heidegger steht diese Tatsache allen Theorien des Selbst als einem autonomen Subjekt entgegen, das voraussetzungslos (also ohne Welt-Entbergung) seine Gegenstände in eine Bedeutung setzt. Im Gegensatz hierzu meint ‚Ereignis‘, dass das Dasein immer schon zur welt-unverborgenen Abwesenheit angeeignet sein muss, bevor es überhaupt irgendetwas bedeuten kann. ‚Ereignis‘ meint also, dass die Aneignung des Daseins durch die welt-unverborgene Abwesenheit, oder die Geworfenheit in diese Abwesenheit, das vorrangige und definierende Moment im Entwurf des Daseins von dieser Entbergung ist. Dieser ‚Gegenschwung‘ zwischen Aneignung und Geworfenheit auf der einen Seite und Entwurf auf der anderen, mit dem Vorrang der Aneignung und Geworfenheit, begründet die wirkliche Struktur dieses ‚Ereignisses‘ und ist das, was Heidegger die ‚Kehre‘ nennt. Das Fazit dieses sog. ‚Gegenschwunges‘ ist, dass das Dasein immer schon zur welt-unverborgenen Abwesenheit hingezogen sein muss (in sie geworfen oder angeeignet), wenn die Entbergung überhaupt entworfen werden soll (d.h. offen gehalten werden soll). Mit einem Wort, die ‚Kehre‘ ist ‚Ereignis‘. Zweitens bezieht sich der sog. ‚Wandel im Denken‘ auf die persönliche Umwendung, die die Kehre verlangt. Sich der Kehre bewusst zu werden und sie anzunehmen als das, was das eigene Sein bestimmt, ist das, was Heidegger schon früher ‚Entschlossenheit‘ genannt hatte, und was wir jetzt als ‚eine Umformung im Menschsein‘ beschreiben. Die Umformung in ein authentisches Selbst besteht darin, dass man es zulässt, dass das eigene Sein durch die ‚Kehre‘ geformt wird. Drittens sind die Veränderungen in Heideggers Arbeit in den 1930er-Jahren, und speziell die Entwicklung und Vertiefung seiner Einsichten über die Geworfenheit und die Aneignung, auch Veränderungen und Entwicklungen innerhalb eines einzigen, fortschreitenden Entwurfs. In ihrer ganzen Bedeutung sind diese Veränderungen weder die Kehre selbst, noch der Wandel im persönlichen Selbstverständnis, den die Kehre voraussetzt.
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6. Seinsvergessenheit, Geschichte und Metaphysik Heidegger sieht eine starke Verbindung zwischen dem Vergessen der Entbergung-als-solcher, der Geschichte der Schickungen des Seins, und der Metaphysik. Vergessen der Entbergung-als-solcher. Weil die Entbergung-als-solche immanent verborgen ist (dies meint der Ausdruck ‚Geheimnis‘), wird sie üblicherweise übersehen. Wenn das Geheimnis übersehen wird, ist der Menschen „verfallen“, d.h. er ist sich der Dinge als So-und-so-Seiendes durchaus bewusst, aber er vergisst darüber, was es ist, das den Dingen ihr Sein gibt. Verfallenheit ist Vergessenheit des Geheimnisses. Ein weiterer Ausdruck für Verfallenheit ist ‚Irre‘, was das Bild des Daseins in sich trägt, das unter den Dingen-in-ihrem-Sein umherwandert, ohne zu wissen, was ihre Anwesenheit ermöglicht. Da Entbergung-als-solche manchmal auch ‚Sein an sich‘ genannt wird, wird die Verfallenheit auch ‚Seinsvergessenheit‘ genannt. Die Entbergung-als-solche braucht jedoch nicht vergessen zu werden. Es ist möglich, in der Entschlossenheit seine Sterblichkeit wieder aufzunehmen und sich konkret der Entbergung-als-solcher in ihrem fundamentalen Zustand der Verborgenheit bewusst zu werden. Ein solches Bewusstsein macht die immanente Verborgenheit der Entbergung-als-solcher nicht ungeschehen und zieht sie nicht in die volle Anwesenheit. Stattdessen akzeptiert man die Verbergung des Seins an sich (dies bezeichnet er als ‚Sein-lassen‘) durch entschlossenes Annehmen der Aneignung seiner selbst durch die Abwesenheit. Die Geschichte der Geschicke des Seins. Heideggers Diskussion der ‚Geschichte des Seins‘ gerät manchmal in die Nähe des Anthropomorphen, und er verwendet oft Etymologien, die schwer in anderen Sprachen auszudrücken sind. Gleichwohl ist seine Absicht in all dem ganz klar: er will die welthistorischen Dimensionen der Verfallenheit verdeutlichen. Wie wir bereits sahen, ‚gibt‘ die Entbergung-als-solche das Sein der Dinge, während das ‚Geben‘ selbst verborgen bleibt; und dies geschieht nur insofern, als das Dasein durch die Abwesenheit angeeignet wird. Wenn man die Abwesenheit vergisst, die sich das Dasein aneignet und damit das verborgene Geben vergisst, dass das Sein der Dinge hervorbringt, so stellt sich Verfallenheit und Irre ein. Verfallenes Dasein richtet sich dann auf das Gegebene (d.h. die Dinge-in-ihrem-Sein) und übersieht das verborgene Geben (d.h. die Entbergung-als-solche). Dennoch fährt das verborgene Geben weiter fort zu geben, nun aber in einer doppelt verborgenen Weise: es ist nun sowohl immanent verborgen und vergessen. Wenn die Verborgenheit vergessen ist, heißt die Entbergung ‚Geschick‘ des Seins. Dieser Ausdruck konnotiert eine Auskehrung, die etwas zurückhält. Eine bestimmte Form des Seins der Dinge ist aufgehoben, während die Entbergung selbst weiterhin verborgen und vergessen bleibt. Die Worte ‚Geschick‘ und ‚Geschichte‘ haben eine gemeinsame Wurzel im Verb ‚schicken‘. Indem er mit diesen Etymologien spielt, erarbeitet Heidegger eine ‚Geschichte‘ des Seins, die auf den ‚Schickungen‘ oder den ‚Geschicken‘ des Seins beruht. Aus Heideggers Sicht definiert jede Schickung des Seins eine bestimmte Epoche in der ‚Geschichte des Seins‘. Weil die Gesamtheit dieser Geschicke und Epochen mit der Verfallenheit korreliert, bemüht sich Heidegger um eine Überwindung der Geschichte des Seins und um die Rückkehr zum Bewusstsein des verborgenen Gebens. 659
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Heidegger glaubte, die bestimmenden Merkmale einer jeden Epoche in der Geschichte des Seins könnten flüchtig erblickt werden in dem Namen, den ein bedeutenderer Philosoph der jeweiligen Epoche dem Sein der Dinge jenes Zeitalters gab. Eine nicht erschöpfende Liste solcher Epochen definierender Begriffe des Seins umfassen: eidos bei Platon, energeia bei Aristoteles, actus bei Thomas von Aquin, ‚Verkörperung‘ bei Descartes, ‚Objektivität‘ bei Kant, ‚absoluter Geist‘ bei Hegel und ‚Wille zur Macht‘ bei Nietzsche. Was eine jede dieser Epochen kennzeichnet ist (1) ein Verständnis des Seins als irgendeine Form der Anwesenheit von Dingen, und (2) ein Vergessen der Abwesenheit, das eine solche Anwesenheit verleiht. Gleichwohl wird das Vergessen der Abwesenheit niemals gänzlich aufgehoben, und deshalb bleiben Spuren davon in den verschiedenen Geschicken erhalten. Deshalb forscht Heidegger in den Texten der klassischen Philosophie nach der unausgesprochene Abwesenheit und gewinnt das ‚Ungesagte‘ zurück, das sich hinter dem verbirgt, was der Text wirklich aussagt (das ‚Gesagte‘). Metaphysik. Die verschiedenen Wege, auf denen die Anwesenheit oder das Sein ihre Schickungen erfuhren, während die Abwesenheit übersehen wurde, werden in ihrer Gesamtheit ‚Metaphysik‘ genannt. Heidegger stellt diese Metaphysik als philosophischen Standpunkt in Frage, die mit Platon begann und mit Nietzsche in ihre Schlussphase kam. Die griechischen Philosophen, die Sokrates und Platon vorangingen, waren aus Heideggers Sicht vormetaphysisch insofern, als sie zumindest ein undeutliches Bewusstsein der Entbergung-als-solcher hatten und es auch benannten (Heraklit nannte es beispielsweise logos, alēthēia und physis). Keiner dieser Denker thematisierte jedoch die Entbergung-als-solche oder verstand die korrelativen Begriffe der Ek-sistenz und des Daseins. Heidegger nennt dieses undeutliche Bewusstsein der Entbergungals-solcher bei den griechischen Denkern den ‚ersten Anfang‘, und er hoffte, dass ein ‚neuer Anfang‘ dem Ende der Metaphysik folgen würde. Heidegger betrachtete sein eigenes Werk als eine Vorbereitung auf diesen neuen Anfang. Die Metaphysik besteht jedoch beharrlich fort. Die Geschichte der Schickungen des Seins hat sich in der gegenwärtigen Epoche der Technologie vollendet. So, wie Heidegger das Wort verwendet, bezieht sich ‚Technologie‘ nicht auf Maschinen oder Software, noch auf Methoden oder Materialien der angewandten Wissenschaften. Stattdessen bezeichnet der Ausdruck ein Geschick in der Geschichte der Metaphysik, und zwar tatsächlich das letzte. Er bezeichnet die Weise, in der Dinge-in-ihremSein heute entborgen werden. Heidegger besteht darauf, dass die Dinge in der Epoche der Technologie als ein Vorrat von Stoffen betrachtet werden, der im Prinzip vollständig durch die menschliche Vernunft erkannt und damit vollständig für die menschliche Verwendung verfügbar ist. Mit dieser Vorstellung erreicht die Metaphysik ihre extremste Vergessenheit der Entbergung-als-solcher. In unserer Zeit, sagt Heidegger, ist die Anwesenheit der Dinge zu allem geworden, während die Abwesenheit, die diese Anwesenheit hervorbringt, nichts geworden ist. Er nennt diesen Nichts-Zustand der Abwesenheit ‚Nihilismus‘. Die Überwindung der Metaphysik. Nichtsdestotrotz sieht Heidegger einen Lichtschimmer in der dunklen Epoche des Nihilismus. In diesem finalen Geschick der Metaphysik hört das verborgene Geben nicht auf zu wirken, selbst wenn es vollständig vergessen ist. Es setzt die Schickung von Anwesenheit fort, paradoxerweise 660
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sogar die nihilistische Anwesenheit, die die Abwesenheit verdunkelt, die sie gibt. Weil das verborgene Geben weiterhin gibt, selbst wenn es vergessen ist, können wir heute immer noch erfahren (und zwar in einer der Furcht nicht unähnlichen Stimmung) und es wiedergewinnen. Diese Wiedergewinnung der welt-entborgenen Abwesenheit erfordert Entschlossenheit, oder wie Heidegger es nunmehr nennt, den ‚Eintritt ins Ereignis‘. Heute ins ‚Ereignis‘ einzutreten ist eine andere Art der Erfahrung des nihil, des ‚Nichts‘, als jene, die den Nihilismus definierte. Die Abwesenheit, die Anwesenheit verleiht, ist selbst eine Art von ‚nichts‘ (Kein-Ding). Diese Abwesenheit ist keine Entität, noch kann sie auf das Sein irgendeines bestimmten Seienden reduziert werden, oder auf die Weise anwesend sein, wie ein Seiendes dies ist. Das ist auch der Grund, warum sie leicht übersehen wird. Ihre ‚Nichtsheit‘ ist eine immanente Verborgenheit. In das sog. ‚Ereignis‘ einzutreten heißt, sich des entbergenden nihil bewusst zu werden und zu akzeptieren, dass es einen aus dem Nihilismus errettet. Daraufhin, sagt Heidegger, hört die Metaphysik als die Geschichte der Geschicke des Seins auf, und es findet ein neuer Anfang statt, zumindest für diejenigen, die die Authentizität im Wege der Entschlossenheit erreichen. Aber die Metaphysik wird sich für diejenigen fortsetzen, die unauthentisch bleiben, weil die Schickung mit der Verfallenheit korreliert. Zusammenfassung. Das Vergessen der Entbergung-als-solcher ist Metaphysik. Metaphysik kennt Seiendes-in-seinem-Sein, ignoriert aber das wirkliche Gegebensein dieses Seins. Die Zusammenfassung der Epochen der Metaphysik ist die Geschichte der Geschicke des Seins. Die Geschichte dieser Geschicke hat ihren Höhepunkt in der Epoche der Technologie und des Nihilismus. Die welt-entbergende Abwesenheit kann aber immer noch wiedergewonnen werden; und wenn sie wiedergewonnen wird, so leitet sie (zumindest für die authentischen Individuen) einen neuen Beginn der Ek-sistenz und des Daseins ein. 7. Das Kunstwerk Einer von Heideggers herausforderndsten Aufsätzen ist ‚Der Ursprungs des Kunstwerks‘, ursprünglich im Jahre 1935 entworfen und in einer erweiterten Fassung erst 1950 veröffentlicht. Hier unterscheidet er zwischen dem Kunstwerk als einem bestimmten Seienden (beispielsweise ein Gedicht oder ein Gemälde) und der Kunst an sich, wobei er letztere nicht als zusammenfassend für alle Kunstwerke versteht, sondern vielmehr als das Wesen und den Ursprung von ihnen. Heidegger fragt, was die Kunst an sich ist, und er antwortet, dass die Kunst eine einzigartige Art der Entbergung ist. Dasein ist für das Sein eines Seienden auf viele Weise entbergend; einige von ihnen sind gewöhnlich, und andere außergewöhnlich. Ein für beide Weisen gemeinsames Ergebnis der Entbergung ist, dass das entborgene Seiende als das gesehen wird, was es ist; sie erscheint in ihrer Form. Beispielsweise schließen z.B. die gewöhnlichen, alltäglichen Formen der Entbergung des Seins von Seiendem ein, wie sich jemand als Kenner der Flöte erweist, oder wie er Tonerde zu einer Vase formt, oder wie sich erweist, dass der Angeklagte unschuldig ist. Alle diese gewöhnlichen Fälle der Praxis, der Produktion und der Theorie entbergen tatsächlich ein Seiendes als das Sein von diesem oder jenem, aber der Schwerpunkt liegt darauf zu zeigen, wie das Sein des Seienden entborgen wird. Auf der anderen Seite bringen außer661
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gewöhnliche Handlungen der Entbergung nicht nur das entborgene Seiende in die Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch das Ereignis der Entbergung selbst. Außergewöhnliche Entbergungshandlungen lassen uns die eigentliche Tatsache sehen, dass und auf welche Weise ein Seiendes in seinem Sein bedeutungsvoll gegenwärtig wird. In diesen Fällen erscheint nicht nur dieses Sein in seiner Form (wie das in jeder Instanz von Entbergung geschieht), sondern darüber hinaus und noch wichtiger wird die wirkliche Entbergung des Seins dieser Entität in ihr ‚eingerichtet‘ und als solche gesehen. Heidegger listet fünf Beispiele der außerordentlichen Entbergung auf: die Bildung eines Staates, die Nähe Gottes, die Hingabe eines Lebens für ein anderes, das Fragen des Denkers als Offenbarung, dass das Sein fraglich sein kann, und das Sichins-Werk-Setzen der Entbergung in einem Kunstwerk. Jeder dieser Fälle entbirgt auf seine ganz eigene Weise nicht nur eine Sache, sondern zeigt die Entbergung des Seins diesem Seienden. Heidegger bemüht sich diesen besonderen Weg zu verstehen, auf dem die Kunst die Entbergung dadurch entbirgt, dass sie Entbergung als Kunstwerk ‚ins Werk setzt‘. In seinem Aufsatz bezieht sich Heidegger hauptsächlich auf zwei Kunstwerke, nämlich van Gogh’s Ölgemälde ‚Alte Schuhe‘, gemalt 1886–1887 in Paris, das jetzt im Amsterdamer Stedelijk Museum hängt, und auf den dorischen Tempel von Hera II aus dem 5. Jahrhundert v.Chr., dem so genannten Tempel des Poseidon in Paestum (Lucania), Sizilien. Denken wir nun an den Tempel in Paestum und versuchen die beiden Fragen zu beantworten: was wird in einem Kunstwerk entborgen, und wie wird es entborgen? (1) Was wird in einem Kunstwerk entborgen? Heidegger gibt hierauf drei Antworten. Erstens lässt uns ein Kunstwerk die Entbergung in der Form einer ‚Welt‘ und ‚Erde‘ sehen. Ein Kunstwerk entbirgt nicht nur ein Seiendes oder ein Ensemble von Seiendem, sondern das ganze Reich der Bedeutung, wodurch ein Ensemble von Seiendem seine endliche Bedeutung erhält. Der Tempel von Paestum beherbergt (und entbirgt also) nicht nur die Göttin Hera, sondern, und das ist wichtiger, sie lässt uns die soziale und geschichtliche Welt sehen, so wie sie in der natürlichen Umgebung von Lucania eingewurzelt war, die Heras Anwesenheit den griechischen Siedlern garantierte. Ein Kunstwerk, so meint Heidegger, offenbart das eigentliche Ereignis der Entbergung, und dieses Ereignis nennt er das Ereignen der Welt und der Erde, wobei ‚Erde‘ sich nicht nur auf die Natur und natürliches Seiendes bezieht, sondern im weiteren Sinne auf alles Seiende innerhalb einer bestimmten Welt. Zweitens lässt uns ein Kunstwerk die fundamentale Spannung sehen, die eine spezifische Bedeutungswelt entbirgt. Heidegger versteht In-der-Welt-Sein als einen ‚Streit‘ (polemos) zwischen einer gegebenen Welt und ihrer Erde, zwischen dem selbst-erweiternden Drängen einer Reihe menschlicher Möglichkeiten und der Verwurzelung dieser Möglichkeiten in einer bestimmten natürlichen Umgebung. Hier ist ‚Streit‘ ein anderer Name für das Ereignis der Entbergung, wobei eine bestimmte Welt geöffnet und erhalten wird. Ein bestimmtes Kunstwerk entbirgt einen bestimmten Streit, der eine ganz bestimmte Welt entbirgt, beispielsweise die Welt der griechischen Siedler in Paestum. Drittens zeigt uns ein Kunstwerk die Entbergung-als-solche. Die Bewegung der Eröffnung einer bestimmten Welt ist nur eine Instanz der allgemeinen Bewegung der alēthēia: das Ringen um das ‚Überhaupt-Sein‘ von der absoluten Abwesenheit in das Dasein, das es sich aneignet. Daher zeigt uns ein Kunstwerk nicht nur einen 662
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einzelnen welt-entbergenden Streit (d.h. die Art und Weise, wie uns z.B. der Tempel der Hera die Spannung zwischen Erde und Welt in Paestum zeigt), sondern lässt uns auch den ‚Urstreit‘ der Entbergung-als-solcher sehen, wodurch die Bedeutung der doppelten Abschließung durch immanente Verborgenheit und Verfallenheit entrissen wird. Kurz gesagt, ein Kunstwerk offenbart die Entbergung in drei Formen: als Welt und Erde, als den Streit, der eine bestimmte Welt eröffnet und ihr Seiendes bedeutungsvoll werden lässt, und als der ursprüngliche Streit, der alle einzelnen Entbergungen strukturiert. (2) Wie entbirgt ein Kunstwerk die Entbergung? Die spezifische Art und Weise, auf die ein Kunstwerk die Entbergung entbirgt, geschieht durch das spezifische Sichins-Werk-Setzen des gegebenen Kunstwerks. Hier meint ‚sich-ins-Werk-setzen‘ das Stabil-werden-Lassen, und ‚die Entbergung ins Werk setzen‘ heißt in physischer Form als Kunstwerk zu verkörpern. Dies hat drei Folgen: Was das Ins-Werk-Setzen nicht ist. Heidegger behauptet nicht, dass das Kunstwerk die Welt ‚aufstellt‘ und dabei die Erde zum ersten Male ‚herstellt‘. Das heißt, das Ins-Werk-Setzen der Unverborgenheit der Erde und der Welt im Kunstwerk ist nicht die einzige, und nicht einmal die erste Art und Weise, dass Erde und Welt entborgen werden. Das Heiligtum der Hera war nicht das erste, das die Welt von Paestum eröffnete und die Felder und Schafherden als das entbarg, was sie sind. Händler und Bauern hatten dies schon vorher getan, d.h. der entbergende Streit der Welt und der Erde hatte ihnen bereits mindestens ein Jahrhundert, bevor der Tempel gebaut wurde, Form und Bedeutung verliehen. Was das Ins-Werk-Setzen ist und tut. Kunst entbirgt auf eine neue und sehr bezeichnende Art und Weise die Entbergung der Erde und der Welt, die bereits wirksam ist. Heidegger sagt, dass der Tempel als ein Entbergender (a) die Offenheit dieser Welt und ihre Verwurzelung in der Natur erfasst und erhält, und zeigt dabei (b) innerhalb dieser Welt, dass die Natur in den Formen des Seienden hergestellt wird, während sie in sich selbst verwurzelt bleibt. Heidegger nennt diese beiden Funktionen, die nur in der Kunst stattfinden, die ‚Aufstellung‘ einer Welt und die ‚Herstellung‘ der Erde. Das Kunstwerk lässt uns direkt in der Erfahrung und in seinem ganzen Ruhm das schon wirksame Wechselspiel der Verwurzelung der menschlichen Geschichte in der Natur, und das Aufscheinen der Natur in der menschlichen Geschichte sehen. In Heideggers Worten bringt Kunst den entbergenden Streit der Welt und der Erde „zum Stehen“ (im Sinne einer Gewinnung von Stabilität), indem er sie in einem bestimmten Kunstwerk ins Werk setzt, so dass in diesem und durch dieses Medium die Unverborgenheit in leuchtender Schönheit hervorscheint. Die zwei Weisen, auf die die Kunst die Entbergung entbirgt, sowie deren Einheit. Kunst ist selbst eine bestimmte und bestimmende Art und Weise, auf die das Dasein sich entbirgt; sie entbirgt die Entbergung durch das Ins-Werk-Setzen der Entbergung in der physischen Form eines Kunstwerks. Diese Einrichtung hat zwei Momente: die Schöpfung und die Bewahrung des Kunstwerks. Die Schöpfung ist die Daseins-Tätigkeit der verkörpernden Entbergung des Künstlers, d.h. der Welt-Offenheit, die bereits wirksam ist, auf ein materielles Medium (Stein, Farbe, Sprache etc.) hin. Diese Verkörperung der Entbergung wird auf eine solche Art und Weise durchgeführt, dass das materielle Medium nichts ande663
Heidegger, Martin (1889–1976)
rem als der Entbergung untergeordnet ist (beispielsweise ist es keiner ‚Nützlichkeit‘ untergeordnet). Stattdessen wird das Medium für jeden, der es erfährt, zur unmittelbaren Entbergung der Entbergung. Die Bewahrung ist die damit einhergehende Daseins-Tätigkeit der Erhaltung der Macht der Entbergung im Kunstwerk durch die Entschlossenheit, die Entbergung fortgehen zu lassen, so dass man sie weiterhin wahrnehmen kann. Schöpfung und Bewahrung sind die zwei Weisen, auf die das Dasein die Entbergung entwirft (d.h. offen hält und erhält), die in dem Kunstwerk ins Werk gesetzt ist. Die Einheit der Schöpfung und ihre Bewahrung ist selbst eine Kunst, die Heidegger ‚Dichtung‘ nennt, womit er nicht die Dichtkunst meint, die er vielmehr poiesis nennt, sondern das schaffende-und-bewahrende Ins-Werk-setzen der Entbergung in einem entbergenden Medium. Entbergung ist das zentrale Thema aller Heideggerschen Philosophie, und deren Tatsächlichkeit leuchtet durch seine Reflexion hell auf den Ursprung des Kunstwerks. Kunst, sowohl als Schöpfung, als auch als Bewahrung, ist eine bestimmte und ausgeprägte Daseins-Tätigkeit, nämlich die Entbergung der Entbergung in einem entbergenden Medium. Im Kunstwerk, wie in Heideggers eigenem Werk, ist alles alēthēia. Siehe auch: Hermeneutik; Phänomenologische Bewegung Anmerkungen und weitere Lektüre: Heidegger, Martin (1962): ‚Sein und Zeit‘, 16. Auflage, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1986. (Heideggers berühmtestes Werk, das die Struktur des menschlichen Seins als den endlichen ‚Ort‘ behandelt, in dem alle Bedeutung oder alles Sein erscheint. Die unveröffentlichte zweite Hälfte des Werks sollte zeigen, wie die Endlichkeit des menschlichen Seins für die Endlichkeit aller Formen von Bedeutung/ Sein verantwortlich ist.) Heidegger, Martin (1950): ‚Wegmarken‘, Frankfurt am Main 1967. Gesamtausgabe Band 9. (Eine Sammlung von vierzehn der wichtigsten und eingängigsten Aufsätze von 1919 bis 1961. Eine der besten Einführungen in Heideggers Werk.) Richardson, William J. (2003): ‚Heidegger: Through Phenomenology to Thought‘, Vorwort von Martin Heidegger. New York: Fordham University Press. (Diese erweiterte Ausgabe des ursprünglichen Textes von 1963 ist die klassische Darstellung von Heideggers gesamtem Werk durch einen herausragenden Heidegger-Gelehrten. Das Vorwort zu dem Buch ist eine von Heideggers wichtigsten Selbstinterpretationen.) THOMAS SHEEHAN
Helmont, Franciscus Mercurius van (1614–1698)
Obwohl van Helmont im 17. Jahrhundert lebte, gehört er mehr in die Spätrenaissance als in neuzeitliche Intellektualkultur. Er war eine überragende Figur, die auf ihrem Höhepunkt internationale Anerkennung als Alchemist und Arzt genoss. Seine metaphysischen Interessen traten jedoch immer in den Vordergrund, und er wurde insbesondere mit kabbalistischen Lehren in Verbindung gebracht. Als ein Freund von Locke und Henry More hatte er auch engen Kontakt mit Anne Conway und Leibniz, mit dem er zahlreiche intellektuelle Affinitäten teilte. Vor allem diese Verbindungen brachten es mit sich, dass seine Philosophie, insbesondere seine Theodizee und Monadologie, von fortdauerndem Interesse ist.
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Helmont, Franciscus Mercurius van (1614–1698)
Siehe auch: Alchemie; Conway, A.; Hölle; Kabbalah; Leibniz, G.W.; Paracelsus
STUART BROWN
Heraklit (ca. 540–480 v.Chr.)
Kein griechischer Philosoph vor Sokrates war kreativer und einflussreicher als Heraklit von Ephesus. Um den Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts kritisierte er in einer Prosa, die für ihre Unklarheit bekannt ist, die gängigen Meinungen darüber, wie die Dinge beschaffen seien, und griff die Autorität der Dichter und anderer als weise angesehene Menschen an. Sein erhaltenes Werk besteht aus mehr als 100 epigrammatischen Sprüchen, die in sich geschlossen sind und vergleichbar mit den typischen Sprichwörtern der ‚Weisheits‘-Literatur. Ungeachtet ihrer sporadischen Darstellung und Überlieferung umfassen Heraklits Sprüche eine Philosophie, die einen klaren Schwerpunkt auf eine bestimmte Menge untereinander verflochtener Ideen legt. Aus der Interpretationsperspektive der späteren griechischen philosophischen Tradition steht Heraklit hauptsächlich für die radikale These, dass ‚alles fließt‘, ähnlich dem Wasser eines Flusses. Obwohl es wahrscheinlich ist, dass er diese These für wahr hielt, ist doch der universale Fluss eine zu simple Wendung, um dies für seine ganze Philosophie zu halten. Sein Schwerpunkt pendelte beständig zwischen zwei Perspektiven: dem objektiven und ewig andauernden Prozess der Natur auf der einen Seite, und den gewöhnlichen menschlichen Überzeugungen und Werten auf der anderen. Er forderte die Menschen heraus, sich theoretisch und praktisch darüber klar zu werden, in was für einer Welt sie leben: „Diese Welt, dieselbe von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend.“ [58 fr. 30] Seine große Wahrheit ist, dass „alle Dinge eines sind“, aber diese Einheit schließt die Unterschiede, Gegensätze und Wandlungen keineswegs aus, sondern hängt vielmehr von ihnen ab, weil das Universum sich fortgesetzt in einem Zustand des dynamischen Gleichgewichts befindet. Tag und Nacht, hinauf und hinunter, lebend und sterbend, erhitzend und sich abkühlend, solche Paarungen offenkundiger Gegensätze passen alle zu der ewigen rationalen Formel (dem logos), dass die Einheit aus Gegensätzen besteht; nimm den Tag weg, und die Nacht verschwindet ebenso, so wie der Fluss seine Identität verliert, wenn er zu fließen aufhört. Heraklit fordert von seiner Zuhörerschaft, dass sie sich um ein Denken bemühen, dass über ihre nur persönlichen Angelegenheiten hinaus geht, und dass sie die Welt aus dieser etwas abgehobeneren Perspektive sehen. Durch das Erzählen von Beispielen verdeutlicht er die Relativität der Werturteile. Dies bringt es mit sich, dass die Menschen, solange sie nicht sich selbst erfahren und über sich nachdenken, zu einer traumartigen Existenz verdammt sind und keinen Kontakt zu der Formel haben, die das Wesen der Dinge leitet und erklärt. Diese Formel ist symbolisch und wörtlich mit dem ‚ewig lebendigen Feuer‘ verbunden, dessen unablässige ‚Umformungen‘ nicht nur die grundlegende Wirkungsweise des Universums sind, sondern auch wesentlich den Kreislauf des Lebens und des Todes darstellen. Feuer bildet und symbolisiert sowohl den Prozess der Natur im Allgemeinen, aber auch das Licht der Intelligenz. Als die Quelle des Lebens und Denkens versetzt eine ‚feurige‘ Seele die
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Herder, Johann Gottfried (1744–1803)
Menschen in die Lage, in sich selbst hineinzuschauen, um die Formel der Natur zu entdecken und ihr entsprechend zu leben. Der Einfluss von Heraklits Ideen auf andere Philosophen war ausgedehnt. Seine anerkannte Lehre mit der Fluss-Metapher im Zentrum, wie sie von seinem Anhänger Kratylos verbreitet wurde, half Platon bei der Gestaltung seiner Kosmologie zur Schaffung ihrer bei ihm wiederum unwandelbaren metaphysischen Grundlage. Die Stoiker schauten auf Heraklit als die Inspirationsquelle ihrer eigenen Konzeption des göttlichen Feuers zurück und identifizierten diese mit dem logos, den er als das explanatorische Prinzip der Welt schlechthin ausmachte. Noch später berief sich der Neupyhrronist Aenesidemus auf Heraklit als einen der Vorläufer des Skeptizismus. Siehe auch: Vorsokratische Philosophie A. A. LONG
Herder, Johann Gottfried (1744–1803)
Herder war die zentrale Figur der deutschen intellektuellen Renaissance des späten 18. Jahrhunderts. Seine Leistungen umfassen praktisch jeden Bereich der Philosophie, und sein Einfluss insbesondere auf die Romantik und den deutschen Idealismus war immens. In seiner sozialen und politischen Philosophie spielte er eine prominente Rolle in der Entwicklung des Historizismus und des Nationalismus. In der Metaphysik entwickelte er die Lehre des vitalistischen Pantheismus, die später für Goethe, Schelling und Hegel wichtig wurde. In der Philosophie des Geistes formulierte er eine organische Theorie der Beziehung von Geist und Körper, die entscheidend für Schelling und Hegel war. Und in der Ästhetik war er einer der ersten, die den Wert der ethnischen Dichtung verteidigten und mahnte die Notwendigkeit des internen und historischen Verständnisses von Texten an. Herders hauptsächliches Ziel war die Ausdehnung der Bemühungen um ein naturalistische Erklärung der Kultur, so dass die den Menschen kennzeichnenden Tätigkeiten und Merkmale wie die Kunst, die Religion, das Gesetz und die Sprache in das wissenschaftliche Weltbild mit aufgenommen werden können. Er bemühte sich aber auch um eine Vermeidung reduktionistischer Erklärungsformen, die solche Tätigkeiten nur als bewegte Stoffe oder als Reiz-Antwort-Mechanismen sahen. Er bestand darauf, dass die Erklärung in der kulturellen Sphäre sowohl ganzheitlich und auf sich selbst bezogen zu sein habe, als auch mechanisch und extern orientiert. Eine Handlung müsste in ihrem historischen Zusammenhang und entsprechend der Absicht des Handelnden verstanden werden, und nicht einfach als eine weitere Instanz einer kausalen Regularität zwischen irgendwelchen Ereignissen. Herders Programm war folglich die Entwicklung einer naturalistischen, und dennoch nicht reduktionistischen Erklärung der kulturellen Sphäre. Er versuchte dieses Programm in vielen Bereichen zu realisieren, speziell in der Sprache, der Geschichte, der Religion und der Theorie des Geistes. Siehe auch: Geschichte, Philosophie der; Nation und Nationalismus; Vico, G. FREDERICK BEISER
Hermeneutik
Hermeneutik, die ‚Kunst der Interpretation‘, war ursprünglich die Theorie und Methode der Bibelinterpretation und anderer schwieriger Texte. Wilhelm Dilthey erweiterte sie zu einer Interpretation aller menschlichen Handlungen und Produkte, einschließlich der Geschichte und der Interpretation eines menschlichen Lebens. 666
Hermeneutik
Heidegger gab in ‚Sein und Zeit‘ (1927) eine ‚Interpretation‘ des menschlichen Seins als desjenigen Seins, dass sich selbst versteht und interpretiert. Unter diesem Einfluss wurde die Hermeneutik ein zentrales Thema der kontinentaleuropäischen Philosophie und gedieh vor allem durch das Werk von Hans-Georg Gadamer zu einer eigenen philosophischen Schule. Die Hermeneutik provozierte zahlreiche Kontroversen. Legen wir bei der Interpretation von etwas die Gedanken und Intentionen des Autors frei, indem wir uns vorstellen, an seiner Stelle zu stehen? Oder beziehen wir uns auf ein größeres Ganzes, das die Bedeutung stiftet? Letztere Sichtweise löst allerdings den hermeneutischen Zirkelschluss aus: wir können nicht ein Ganzes (z.B. einen Text) verstehen, solange wir nicht Teile von ihm verstanden haben, oder die Teile von ihm, solange wir nicht das Ganze verstanden haben. Heidegger entdeckte noch einen weiteren Zirkel: bedeutet es nicht, indem wir unvermeidlich Vorannahmen in das hereinbringen, was wir interpretieren, dass jede Interpretation willkürlich ist, oder zumindest niemals abgeschlossen? Siehe auch: Gadamer, H.G.; Heidegger, M.; Vedānta MICHAEL INWOOD
Hermetismus
Der Hermetismus, der anfänglich ein religiöses Gemisch aus griechischer Philosophie mit ägyptischen und anderen Elementen des Nahen Osten war, erhielt seinen Namen von Hermes Trismegistus, was zu Deutsch heißt: ‚der drittgrößte Hermes‘, alias der ägyptische Gott Thoth. Zahlreiche Texte über die philosophische Theologie, und verschiedene okkulte Wissenschaften, die dieser urzeitlichen Figur zugeschrieben oder mit ihr verbunden wurden, wurden von Ägyptern im 1. bis 3. nachchristlichen Jahrhundert auf griechisch geschrieben und dokumentieren auf umfangreiche Weise die späte heidnische Frömmigkeit. Diese Texte wurden in der Renaissance wieder eingeführt und inspirierten auf bemerkenswerte Weise die Philosophen, Wissenschaftler und Magier des 15. und 16. Jahrhunderts. Siehe auch: Alchemie; Bruno, G.; Ficino, M.; Gnostik; Paracelsus; Pico della Mirandola, G.; Renaissancephilosophie JOHN PROCOPÉ
Herzen, Alexander Iwanowitsch (1812–1870)
Alexander I. Herzen, von Nietzsche hochgelobt als ‚der Mann aller ausgeprägten Talente‘ und von Lenin als Gründer der Russischen Revolutionsbewegung bewundert, entzieht sich einer präzisen Einordnung. Als Moralprediger steht er auf der Höhe von Tolstoi und Dostojewski (der ihn als Dichter pries). Als Philosoph war er der Hauptinterpret und populärer Verbreiter von Hegels Denken in Russland in der ersten Hälfte der 1840er Jahre, während seine Rebellion gegen metaphysische Systeme in seinem späteren Werk dazu führte, dass er als Vorläufer des Existenzialismus gesehen wurde. Über die russische Presse, die er als Emigrant ins Leben rief, half er bei der Formung einer öffentlichen Meinung in seinem Lande und spielte eine bedeutendere Rolle in den Debatten über Russlands politische Zukunft am Vorabend der Emanzipation der Leibeigenen. Gleichzeitig schuf er die Grundlagen der russischen Volksbewegung durch seine Schriften über den russischen Sozialismus. Er ist im Westen am bekanntesten für seine Memoiren Byloe i dumy (‚Meine Vergangenheit und meine Gedanken‘, 1861, 1866), die zu den großen Werken der russischen Literatur gehören, und für S togo berega (‚Vom anderen Ufer aus‘, 1850), 667
Herzen, Alexander Iwanowitsch (1812–1870)
dem brillantesten und originellsten seiner Werke, in denen er seine Ablehnung aller teleologischen Geschichtskonzeptionen ausdrückt. AILEEN KELLY
Hilberts Programm und Formalismus
In der ersten, geometrischen Phase des sog. ‚Hilbertschen Formalismus‘ vertrat der deutsche Mathematikers David Hilbert (1862–1943) die Auffassung, dass ein axiomatisches System keine Wahrheiten bezüglich bestimmter Gegenstände ausdrückt, sondern vielmehr ein Netzwerk logischer Relationen, dass anderen Gegenständen gemein sein kann. Der Formalismus der hilbertschen arithmetischen Periode erweiterte diese Sichtweise, indem er sogar noch die logischen Terme aller inhaltlichen Bedeutung entleerte. Sie werden dort lediglich als ideale Elemente behandelt, deren Zweck es ist, eine einfache und offenkundige Logik für die arithmetische Beweisführung sicherzustellen, speziell eine Logik, die die klassischen Muster des logischen Schlusses bewahrt. Hilbert glaubte allerdings, dass die Verwendung idealer Elemente nicht zu Inkonsistenzen führen könnte. Er unternahm deshalb den Beweis der Konsistenz einer idealen Arithmetik anhand ihres inhaltlichen oder finitistischen Gegenstücks und führte dies mit rein finitistischen Mitteln (d.h. unter Einsatz von Methoden, die immer durch endliche Schrittfolgen gekennzeichnet sind) durch. Hierin war ‚Hilberts Programm‘ bei Hilbert selbst und auch bei seinen Nachfolgern erfolglos. Die von Kurt Gödel 1931 veröffentlichte Arbeit zeigte, dass ein solches Versagen womöglich unvermeidlich ist. In seinem zweiten Unvollständigkeitstheorem zeigte Gödel, dass für jedes konsistente formale axiomatische System T, das stark genug für eine Formalisierung ist, die ihrerseits traditionell als eine finitistische Beweisführung betrachtet wurde, es möglich ist einen Satz zu definieren, der die Konsistenz von T ausdrückt und dennoch in T nicht beweisbar ist. Daraus wurde allgemein geschlossen, dass nicht einmal die Konsistenz der idealen Arithmetik der natürlichen Zahlen finitistisch beweisbar ist, und dass Hilberts Programm deshalb scheitern musste. Trotz der problematischen Elemente in der Beweisführung hat die Arbeit an Hilberts Programm auch nach Gödels Einwänden diese zwar allgemein akzeptiert, sich jedoch bemüht, ihre Wirkungen zu minimieren, indem verschiedene Modifikationen des Programms vorgeschlagen wurden. Diese wiesen in der Regel eine von drei der folgenden Formen auf: Versuche zur Ausweitung des hilbertschen Finitismus auf strengeren konstruktivistischen Grundlagen, die in der Lage waren, mehr zu beweisen, als man durch strikt finitistische Mittel beweisen kann; Versuche, die zeigen sollten, dass für eine signifikante Familie idealer Systeme Wege gegeben sind, ihr Konsistenzproblem auf jene Theorien zu ‚reduzieren‘, die elementarere (wenn auch nicht vollkommen finitistische) Rechtfertigungen enthielten; und schließlich Versuche seitens der so genannten ‚Schule der umgekehrten Mathematik‘, die zeigen sollte, dass die herkömmlicherweise als ideal identifizierten Theorien nicht so stark sein müssen, wie sie es sind, wenn sie ihren mathematischen Zwecken dienen sollen. Sie können daher auf schwächere Theorien reduziert werden, deren Konsistenzprobleme einer konstruktivistischen (und wirklich finitistischen) Behandlung zugänglicher sind. Siehe auch: Arithmetik, Philosophische Fragen der; Intuitionismus; Mathematik, Grundlagen der MICHAEL DETLEFSEN 668
Hildegard von Bingen (1098–1179)
Hildegard von Bingen (1098–1179)
Hildegard von Bingen sah sich selbst als eine Prophetin, die von Gott gesandt worden war, um ein Zeitalter zu erwecken, das die Kirche vor enorme Problemen stellte, und in dem die Menschen die Heilige Schrift nicht mehr verstanden. Sie versuchte das erstgenannte Problem zu lindern, indem sie Briefe an weltliche und religiöse Führer schrieb und gegen diejenigen predigte, die sie daran für schuldig sah. Zu diesem Zweck unternahm sie Predigtreisen durch ganz Deutschland, predigte in Kathedralen, Klöstern und auf Synoden. Ihre Schriften, vor allem Interpretationen ihrer eigenen Visionen, sprechen das zweite der oben genannten Problem an, indem sie neues Licht auf die christliche Offenbarung zu werfen versucht und diese mit sehr originellen und lebendigen Bildern und Personifizierungen abstrakter Begriffe illustrierte. Obwohl ihre Werke zum größten Teil nicht eigentlich philosophischer Natur sind, bewies Hildegard doch auch philosophische Einsicht in die Dinge. Siehe auch: Seele, Wesen und Unsterblichkeit der CLAUDIA EISEN MURPHY
Himmel
In der christlichen Theologie ist der Himmel sowohl der Wohnort Gottes und der Engel, als auch der Platz, wo alle diejenigen, die letztlich gerettet werden, nach dem Tode und ihrem Gerichtetsein hingelangen, um ihre ewige Belohnung zu empfangen. Die Lehre von der Wiederauferstehung des Körpers erfordert, dass der Himmel ein Ort sein muss, denn dort müssen sich die verherrlichten Körper der Erlösten aufhalten; theologisch ist der Himmel jedoch wichtiger im Sinne eines Zustands, als eines Ortes. Dieser Zustand wird traditionell als etwas beschrieben, das die unmittelbarste Nähe zu Gott mit sich bringt, ohne dabei die individuelle menschliche Persönlichkeit auszulöschen; dies ist ein Zustand der vollkommenen Glückseligkeit, der über alles Mögliche auf der Erde hinaus geht. In der hochmittelalterlichen Theologie wurde das himmlische Glück als etwas so Großes verstanden, dass es sogar über die Fähigkeit des Menschen hinausgeht, ohne göttliche Hilfe genossen zu werden. Es gibt allerdings verschiedene Auffassungen über das Wesen der himmlischen Gesellschaft. Einige Theologen (Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura) meinten, dass vollkommenes Glück von der Liebe zu Gott allein abgeleitet sein muss, während andere (z.B. Giles von Rom) die Freude betont, die sich aus der Gesellschaft der Erwählten ergibt. In jüngerer Zeit hat sich das Interesse am Himmel gelegt, und die christliche Theologie tendierte dazu, seine Bedeutung herunterzuspielen. Siehe auch: Fegefeuer; Glaube; Hölle; Vorhölle; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
LINDA ZAGZEBSKI
Hinduistische Philosophie
Die hinduistische Philosophie ist die älteste noch lebendige philosophische Tradition Indiens. Wir können in ihr heute zahlreiche historische Phasen unterscheiden. Die früheste datiert um das Jahr 700 v.Chr. und die protophilosophische Periode, als die Karma- und Befreiungstheorien aufkamen und die protowissenschaftlichen ontologischen Listen der Upanișaden zusammengestellt wurden. Darauf folgte die klassische Periode, die das gesamte erste nachchristliche Jahrtausend überspannte, und in dem es einen konstanten philosophischen Austausch zwischen unterschiedlichen hinduistischen, buddhistischen und jainistischen Schulen gab. Während die669
Hinduistische Philosophie
ser Phase gerieten einige Schulen wie z.B. Sān.khya, Yoga- und Vaiśeșika, in Vergessenheit, und andere, wie z.B. der Kashmir Saivismus, tauchten auf. Schließlich blieben nach dem Ende der klassischen Phase nur zwei oder drei Schulen aktiv. Die politischen und wirtschaftlichen Unruhen, die durch wiederholte muslimische Invasionen verursacht wurden, behinderten die intellektuelle Entwicklung. Die Schulen, die dies überlebten, waren die Logische Schule (Nyāya), insbesondere die Neue Logik (Navya-Nyāya), die Grammatiker und vor allem die Vedānta-Schulen. Die zentralen Interessen der Hindu-Philosophen lagen bei der Metaphysik, bei erkenntnistheoretischen Fragen, bei der Philosophie der Sprache und bei der Moralphilosophie. Die unterschiedlichen Schulen kann man über ihre unterschiedlichen Ansätze gegenüber der Wirklichkeit unterscheiden. Alle jedoch betrachteten die Vedas (die heiligen Schriften) als verbindlich, und alle glaubten, dass es ein permanent individuelles Selbst (ātman) gibt. Sie teilten mit ihren Widersachern (den Buddhisten und den Jainisten) die Überzeugung einer Notwendigkeit der Befreiung. Und sie verwendeten ähnliche erkenntnistheoretische Mittel und Methoden der Beweisführung. Im Gegensatz zu ihren Widersachern, die Atheisten waren, waren die HinduPhilosophen entweder Theisten oder ebenfalls Atheisten. Gegen Ende der klassischen Phase kann man allerdings eine zunehmende Tendenz zu theistischen Ideen wahrnehmen, was dazu führte, dass die strikt atheistischen Lehren, die sich durch eine größere philosophische Strenge und Schlüssigkeit auszeichneten, nicht mehr angewandt wurden. Die Hindu-Metaphysik sah ātman als Teil einer größeren Realität (Brahman). Weil diese Weltsichten sich unterschieden, mussten sie jeweils bewiesen und ordentlich begründet werden. Deshalb entwickelten sich logische und erkenntnistheoretische Hilfsmittel, die nach den Bedürfnissen und Überzeugungen der einzelnen Philosophen ausgestaltet wurden. Die meisten von ihnen stimmten hinsichtlich zweier oder dreier Erkenntnisquellen überein: Wahrnehmung und Schluss, mit der mündlichen Zeugenaussage als der möglichen dritten. Bei diesem Streben nach philosophischer Strenge gab es ein Bedürfnis nach sprachlicher Genauigkeit, und so fanden bei den Grammatikern und bei jenen Philosophen wichtige philosophische Entwicklungen statt, die die Vedas (die Mīmām. sakas) erklärten. Einen Höhepunkt dieser sprachlichen Bemühungen kann man in dem Sprachphilosophen Bharthŗari sehen. Eine seiner größten Leistungen war die volle Ausführung der Theorie, dass ein Satz als ein Ganzes in einem einzigen, plötzlichen Akt des Begreifens verstanden wird. Es ist üblich, von den mehr als zwölf Hindu-Schulen, die existierten, nur sechs zu benennen, wodurch jeweils mehrere unter einer Schule subsumiert werden. Dies ist insbesondere bei der Vedānta der Fall. Die sechs lassen sich in drei Paaren aufzählen: Sān.khya – Yoga, Vedānta – Mīmām. sa und Nyāya – Vaiśeșika. Dabei bleiben die Grammatiker und der Kashmir-Saivismus unberücksichtigt. In ihrer Suche nach einer Befreiung von der Wiedergeburt arbeiteten alle Hindu-Schulen innerhalb desselben Bezugssystems. Ihr letztes Ziel war die Befreiung der Seele. Wie sehr sie neben ihren philosophischen Bemühungen tatsächlich in der Suche nach einer solchen Befreiung engagiert waren, lässt sich manchmal nicht klar sagen; sie bezweifelten aber niemals ihre tatsächliche Möglichkeit.
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Hinweisende Konditionale
Siehe auch: Buddhistische Philosophie, Indische; Jainistische Philosophie; Mīmāṃsā; Nyāya – Vaiśeşika; Sān˙khya; Vedānta EDELTRAUD HARZER CLEAR
Hinweisende Konditionale
Beispiele für hinweisende Konditionale sind ‚Wenn es regnete, dann würde das Spiel gestrichen‘ und ‚Wenn Alex spielt, dann wird Karl gewinnen‘. Der Gegensatz besteht hier zu den konjunktivischen oder kontrafaktischen Konditionalen wie z.B. ‚Wenn es geregnet hätte, dann wäre das Spiel abgebrochen worden‘, und kategorischen Konditionalen wie ‚Es wird regnen‘. Trotz der Leichtigkeit, mit der wir die hinweisenden Konditionale verwenden und verstehen, hat sich ihre richtige Darstellung doch als sehr schwierig herausgestellt. Eine Auffassung lautet, dass der Satz ‚Wenn es regnete, dann würde das Spiel gestrichen‘ äquivalent ist mit ‚Entweder regnet es nicht, oder das Spiel wird gestrichen‘. Eine andere besagt, der Satz würde behaupten, dass das Ergebnis des ‚Hinzufügens‘ der Vermutung des Regnens zur tatsächlichen Situation eine solche Situation sei, wo das Spiel gestrichen wird. Einige meinen, die Aussage, dass das Spiel gestrichen würde, wenn es regnete, bedeute eine Bindung an die Schlussfolgerung, dass man im Falle des Streichens des Spiels wissen müsse, dass es regnet. Die letztere Auffassung wird häufig kombiniert mit der weiteren Auffassung, dass hinweisende Konditionale im strengen Sinne nicht wahr oder falsch sind; sie sind vielmehr mehr oder weniger behauptbar oder schlicht akzeptabel oder nicht. Siehe auch: Relevanzlogik und Schlussfolgerung FRANK JACKSON
Historizismus
Der Historizismus, der von Benedetto Croce als „die Bestätigung, dass das Leben und die Wirklichkeit nur Geschichte sind“ definiert wird, umfasst verschiedene Traditionen des historiographischen Denkens, das sich im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland entwickelte. Der Historizismus ist ein Bestehen auf der Geschichtlichkeit allen Wissens und aller Erkenntnis, und auf der fundamentalen Trennung der menschlichen Geschichte von der Naturgeschichte. Er versteht sich als Kritik der normativen, vorgeblich unhistorischen Erkenntnislehre der Aufklärung und ihres Denkens, und ausdrücklich jener von Kant. Die bedeutendsten Theoretiker und Historiker, die üblicherweise mit dem Historizismus assoziiert werden, sind Leopold von Ranke, Wilhelm Dilthey, J.G. Droysen, Friedrich Meinecke, B. Croce und R.G. Collingwood. Die hauptsächlichen Vorläufer dieser Entwicklung des Historizismus findet man in zwei Schlüsselwerken. J.G. Herders ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ (1784) argumentieren gegen die Konstruktion einer Geschichte als einem linearen Progress; er behauptet stattdessen, dass die menschliche Geschichte sich aus grundlegend unvergleichbaren nationalen Kulturen oder Gesamtheiten zusammensetzt. G.W.F. Hegels ‚Philosophie der Geschichte‘ (1826) besteht auf der historischen Verortung eines jeden individuellen Bewusstseins als einem jeweils besonderen Moment innerhalb des gesamten Fortschritts aller Geschichte auf ein finales Ziel hin. Die wechselnde Verschmelzung dieser Ideen bewirkt die Grundlegung sowohl für die Stärken, als auch für die Probleme des Historizismus. Er realisiert sich bei Herder in dem Versuch, der objektiven Geschichte in ihrer Diskontinuität und Einzigartigkeit gerecht zu werden, und bei Hegel durch dessen Versuch einer 671
Hobbes, Thomas (1588–1679)
Bestimmung allgemeiner Muster des historischen Wandels. Tatsächlich kann man den Historizismus vielleicht am besten als eine hegelsche Philosophie der Geschichte ohne die allumfassende Vorstellung des Fortschritts bezeichnen. Weniger als einheitliche intellektuelle Bewegung ist der Historizismus eher für seine schwere Fassbarkeit bekannt. Seine facettenreiche Eigenart kann aus der Vielzahl kritischer Positionen erschlossen werden, die gegen ihn eingenommen wurden. Einflussreiche Kritiken des Historizismus wurden von Friedrich Nietzsche, Friedrich Rickert, Ernst Troeltsch, Walter Benjamin, Karl Löwith und Karl Popper verfasst. Das kritische Engagement gegenüber dem Historizismus hat sich auf seinen angeblichen Relativismus konzentriert, ferner auf seinen angeblichen Partikularismus, seinen angeblichen Objektivismus und seinen angeblichen Subjektivismus. Positivere Auseinandersetzungen mit dem Historizismus haben auf bedeutsame Weise das Denken von Martin Heidegger, Edmund Husserl und Hans-Georg Gadamer beeinflusst. Siehe auch: Geschichte, Philosophie der CHRISTOPHER THORNHILL
Hobbes, Thomas (1588–1679) Einführung Unter den Personen des 17. Jahrhunderts, die sich darüber klar waren, dass sie an einem neuen Bild der Wissenschaft arbeiteten, ragt der Engländer Hobbes als Erneuerer der Ethik, der Politik und der Psychologie heraus. Er war auch auf einer Reihe anderer Gebiete tätig, vor allem der Geometrie, der Ballistik und der Optik, und bewies auch bemerkenswerten Scharfsinn als ein Theoretiker des Lichts. Seine Zeitgenossen, vor allem auf dem europäischen Festland, betrachteten ihn als eine größere intellektuelle Gestalt. Und dennoch verdiente er seinen Lebensunterhalt nicht als Wissenschaftler oder Schriftsteller zu politischen Themen. 1608 trat er in die Dienste von Henry Cavendish, dem Ersten Graf von Devonshire, und unterhielt über mehr als siebzig Jahre Kontakte zu dieser Familie. Er arbeitete als Hauslehrer, Übersetzer, Reisebegleiter, Geschäftsagent und politischer Berater. Die royalistische Gesinnung seiner Arbeitgeber und ihrer Kreise bewirkten in der Phase vor und während des Englischen Bürgerkrieges auf Seiten von Hobbes Loyalität zur Krone. Hobbes’ erste politische Abhandlung, ‚The Elements of Law‘ (1640) waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sondern sollten eher eine Art ausgedehnter Instruktion für die Royalisten im Parlament zur Rechtfertigung von Handlungen des Königs sein. Sogar der ‚Leviathan‘ (1651), der oft so gelesen wird, als ginge es darin um die nie veraltenden Fragen der politischen Philosophie, verbirgt seinen Ursprung in den Auseinandersetzungen der Vorbürgerkriegsphase in England. Über weite Strecken seines Lebens brachten die Aristokraten, bei denen er beschäftigt war, ihn mit dem intellektuellen Leben des kontinentalen Europa in Kontakt. Dabei erlebte er nicht nur die Ideen, die er dort kennen lernte, sondern auch ihre Proponenten als kongenial. Vielleicht bereits um 1630 traf er Marin Mersenne, der seinerzeit im Zentrum eines Pariser Netzwerks von Wissenschaftlern, Mathematikern und Theologen stand, unter denen sich auch Descartes befand. Dieser Gruppe schloss sich Hobbes 1640 an, als die politischen Ereignisse in England zu einer Bedrohung seiner Sicherheit wurden und ihn zur Flucht nach Frankreich zwangen. 672
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Dort blieb er für zehn Jahre und machte sich einen Namen, unter anderem als jemand, der in der Lage sei, geometrische Beweise in den Bereichen der Ethik und der Politik einzuführen. Sein Werk ‚De cive‘, eine Abhandlung, die vieles mit den ‚Elements of Law‘ gemeinsam hat, wurde im Jahre 1642 in Paris sehr wohlwollend aufgenommen. Zu der Zeit, als ‚De cive‘ erschien, hatte sich Hobbes bereits ausreichend über die Naturphilosophie und die Mathematik kundig gemacht, um ernsthaft als ein Wissender auf diesem Gebiet betrachtet werden zu können. Er hatte auch schon über den Plan nachgedacht, in großer Aufmachung eine Ausstellung der ‚Elemente‘ der Philosophie vorzubereiten, angefangen von der Ersten Philosophie, der Geometrie und der Mechanik bis zur Ethik und Politik. ‚De cive‘ sollte schließlich das dritte Buch seiner Trilogie namens ‚Elementa Philosophiae‘ (dt.:‚Die Elemente der Philosophie‘, bestehend aus: ‚De corpore‘ [1655], ‚De homine‘ [1658] und ‚De cive‘ [1642]) sein. Diese drei Bücher präsentieren Hobbes’ Standpunkt in der Metaphysik, der Physik und der Psychologie vor dem Hintergrund des von ihm favorisierten naturwissenschaftlichen Schemas. Die Metaphysik oder Erste Philosophie ist für Hobbes vor allem ein definitorisches Unternehmen. Dort werden die Ausdrücke ausgewählt, deren Bedeutungen verstanden werden müssen, wenn die Prinzipien der anderen Wissenschaften gelehrt oder demonstriert werden sollen. Führend unter diesen Ausdrücken, die Hobbes als zentral betrachtet, sind die Worte ‚Körper‘ und ‚Bewegung‘. Hobbes zufolge kann das ganze Feld der Naturwissenschaften danach eingeteilt werden, wie jede Einzelwissenschaft von ihnen mit der Bewegung umgeht: Die Geometrie ist die erste dieser seiner Wissenschaften in der „[systematischen] Reihenfolge der Demonstrationen“, d.h. sie ist diejenige, deren Wahrheiten die allgemeinsten sind, und von der die Wahrheiten aller anderen Naturwissenschaften irgendwie abhängen. Die Mechanik ist die nächste in dieser von ihm bevorzugten Ordnung der Wissenschaften. Sie geht dem nach, „was ein Körper bewirkt, der auf einen anderen einwirkt“. Die Physik ist die Wissenschaft der Wahrnehmung und der Wirkungen von Teilen von Körpern auf die Wahrnehmung. Die Moralphilosophie oder „die Wissenschaft von den Bewegungen des Geistes“ kommt an nächster Stelle, und wird durch die Physik instruiert. Sie untersucht solche Leidenschaften wie den Zorn, die Hoffnung und die Angst, und damit instruiert sie wiederum die sog. ‚Staatsphilosophie‘. Diese beginnt mit der menschlich-emotionalen Konstitution und arbeitet davon ausgehend jene Übereinstimmung zwischen dem Willen einzelner Menschen aus, die zur Bildung eines Gemeinwesens führt, und welches Verhalten notwendig ist, um dieses Gemeinwohl zu erhalten. Das Verhalten, das seitens der Öffentlichkeit erwartet wird, um das Gemeinwesen zu erhalten, ist die absolute Unterwerfung unter die Macht des Souveräns. In der Praxis bedeutet dies den Gehorsam gegenüber allem, was der Souverän zum Gesetz erklärt hat, und zwar selbst dann noch, wenn diese Gesetze sehr viel vom Untertan verlangen. Gesetzesgehorsam ist so lange erforderlich, wie die Untertanen umgekehrt und vernünftigerweise entsprechende Maßnahmen ihres Souveräns zur Sicherung ihres Lebens und Wohlergehens erwarten können. Mit kleineren Abweichungen ist dieser Punkt das Thema aller drei politischen Abhandlungen von Hobbes, den ‚Elements of Law‘, ‚De cive‘ und des ‚Leviathan‘. Die Regierung entsteht
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durch eine Übertragung von Rechten Vieler auf den Einen oder auf einige Wenige, denen eine unbeschränkte Macht verliehen wird. Die Gesetze dieser souveränen Macht können zudringlich und einschränkend erscheinen, aber was ist die Alternative zum Gehorsam? Hobbes’ Antwort auf diese Frage ist berühmt: ein einsames Leben, arm, hässlich, stumpfsinnig und kurz. Diese Konzeption des Lebens ohne Regierung basiert nicht auf der Annahme, dass Menschen eigensüchtig und aggressiv sind, sondern vielmehr darauf, dass dann, wenn jeder selbst zu wissen meint, was das Beste für ihn ist, es keinerlei Versicherung gibt, dass die eigene Sicherheit und der eigene Besitz unter die Gewalt eines anderen geraten, und zwar unter jene der kleinen selbstsüchtigen, aufgeblasenen Minderheit, oder sogar unter jene der Mitglieder der bescheidenen Mehrheit, die meinen, sie müssten vorbeugende Maßnahmen gegen die selbstsüchtige oder aufgeblasene Minderheit ergreifen. Es ist genau diese allgemeine Unsicherheit, in der die Menschen alles tun können, was ihnen beliebt, um ihr Wohlergehen zu verfolgen und ihre Sicherheit zu besorgen, die Hobbes ‚Krieg‘ nennt. 1. Leben 2. Wissenschaft und menschlicher Fortschritt 3. Die Elemente der Philosophie: Logik und Metaphysik 4. Geometrie, Optik und Physik 5. Ethik 6. Politik: der Naturzustand 7. Politik: das Gemeinwesen 8. Probleme mit Hobbes’ politischer Theorie 9. Der wissenschaftliche Status der Hobbesschen Ethik und politischen Theorie 1. Leben Hobbes wurde in Westport, einem Pfarrbezirk der Stadt Malmesbury in Wiltshire, England, geboren. Seine Mutter kam aus einer Familie von Freisassen. Sein Vater war ein nur schwach gebildeter Vikar, der seine Gemeinde offenbar in Schande verlassen hatte und auch seine Familie im Stich ließ, als es in Hobbes’ früher Kindheit zwischen dem Vater und einem weiteren Geistlichen zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam. In der Folge unterstützte Hobbes’ Onkel die Familie, und er war es auch, der Hobbes’ Universitätsbesuch finanzierte. Hobbes war glücklich, dass er am Ort eine gute schulische Ausbildung erhielt und zeigte bereits ein frühes Talent für die alten Sprachen. Im Jahre 1602 oder 1603 begann Hobbes mit der Studienvorbereitung auf seinen Abschluss als Magister an der Magdalen Hall in Oxford. Aus seinen Kritiken an den Universitäten in seinen veröffentlichten Schriften wird manchmal geschlossen, dass er diese Zeit im College nicht besonders mochte, oder dass er zumindest die scholastische Lehrmethode jener Zeit in Oxford nicht mochte. (Die Scholastik als die Verschmelzung des christlichen mit dem antiken griechischen Denken, speziell jenes des Aristoteles, beherrschte die Lehrpläne der Schulen und Universitäten Europas im 16. und frühen 17. Jahrhundert, siehe Mittelalterliche Philosophie). Sicherlich mochte er im Rückblick nicht die universitären Lehrpläne, wie aus Kap. 46 des ‚Leviathan‘ (1651) klar wird.
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Hobbes schloss sein Studium im Jahre 1608 ab und trat in die Dienste von William Cavendish, dem Ersten Grafen von Devonshire, als Begleiter und Hauslehrer seines Sohns. Obwohl Hobbes ungefähr genauso alt war wie der junge Cavendish, übergab man ihm die Aufsicht sowohl über dessen Geldbörse, als auch über seine Ausbildung. Er war der Vertreter des Grafen in den Versammlungen der Virginia Company1, in der die Familie Devonshire beträchtlich finanziell engagiert war. Er begleitete den Sohn des Grafen auch 1610 auf einer großen Reise durch das europäische Festland, was Hobbes die Möglichkeit zur Verbesserung seiner Französischund Italienischkenntnisse gab. Nach einigen Darstellungen wurde er dabei auch mit den Kritiken an der Scholastik, die damals unter den europäischen Intellektuellen im Umlauf waren, bekannt. Es ist nicht klar, wie lange diese große Reise dauerte, aber Hobbes kehrte um 1615 nach England zurück. Irgendwo auf seinen Reisen scheint er Fulgenzio Micanzio, den Freund und persönlichen Assistenten des venezianischen Schriftstellers und Politikers, kennen gelernt zu haben. Er muss auch Marc Antonio de Dominis getroffen haben, der an der Übersetzung von Bacons Schriften ins Italienische beteiligt war, und der auch Verbindungen zu Sarpi unterhielt (siehe Bacon, F.). Hobbes’ eigener Kontakt mit Bacon könnte aus der Anregung gesucht worden sein, die die Nachfragen seiner neu gewonnenen venezianischen Freunde bezüglich der Einzelheiten der Baconschen Philosophie in ihm hervorgerufen hatten. Der junge Cavendish begann eine Korrespondenz mit Micanzio nach seiner Rückkehr nach England im Jahre 1615. Hobbes übersetzte diese Briefe und wurde dadurch mit Sarpis Theorie der Überlegenheit zeitlich begrenzter Herrschaft gegenüber jener der geistlichen Autoritäten bekannt. Diese Theorie richtete sich gegen das päpstliche Interdikt von 1606, worin Roms Recht zur Aufhebung von Entscheidungen der lokalen Monarchen behauptet wurde, und das in England sehr kritisiert wurde. Es gab ersichtlich starke Reaktionen auf die antipäpstliche Haltung in Hobbes eigenen Schriften. Während seiner ersten zwanzig Jahre im Dienste der Devonshires scheint Hobbes seine Freizeit durch eine Versenkung in antike Dichtung und Geschichte verbracht zu haben. Seine Dienstgeber besaßen eine gute Bibliothek, und Hobbes machte von ihr Gebrauch. Die erste Frucht dieser neuerlichen Befassung mit der Antike war die Übersetzung von Thukydides’ ‚Geschichte des Peloponnesischen Krieges‘, die 1628 veröffentlicht wurde. Hobbes glaubte, dass Thukydides lehrreich für diejenigen sei, die die Demokratie überbewerteten und nicht die Kraft der Monarchie sahen, und vielleicht war es sogar die Petition of Right des Jahres 1628, die zur Veröffentlichung der Übersetzung führte. In dieser Petition wurde Karl I. aufgefordert, keine Steuern ohne die Zustimmung des Parlaments zu erheben, niemanden rechtsgrundlos einzusperren, keine Soldaten in privaten Wohnhäusern einzuquartieren und keine Bürger unter Kriegsrecht hinrichten zu lassen. Diese Art von Herausforderung der monarchischen Privilegien steht im Widerspruch zu allen politischen Schriften von Hobbes, und dieser Widerspruch lässt sich bereits in der Übersetzung des Thukydides erahnen. 1628 wählte Hobbes die Geschichte als das geeignete Medium für eine politische Mitteilung. Später, in Schriften wie seinem ‚Leviathan‘, hielt er die NaturDie Virginia Company of London, auch kurz Virginia oder London Company genannt, war eine englische Aktiengesellschaft, die mit königlicher Urkunde von Jakob I. am 10. April 1606 gegründet wurde, um koloniale Siedlungen in Nordamerika zu gründen. [WS]
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wissenschaft oder die Philosophie für das bessere Vehikel solcher Anliegen. Beim Schreiben von Geschichte ist es nach den Konventionen dieses Genres möglich, seine Lebensweisheit zu vermitteln. Beim Schreiben wissenschaftlicher Texte, so überzeugte er sich, ist die Mitteilung von Lebensweisheit gesichert, wenn die Leserschaft darauf vorbereitet ist und ihr entsprechende Aufmerksamkeit zollt, und sie kann dann auch einer Demonstration folgen. Er kämpfte während seines gesamten intellektuellen Lebens mit dem Problem, die politische Rhetorik mit der politischen Wissenschaft zu verbinden, und einige seiner besten Schriften sind experimentelle Lösungen dieses Problems. Die Übersetzung des Thukydides ist wichtig als das erste von zahlreichen solcher Experimente. Das Jahr 1628 erwies sich als ein Wendepunkt in Hobbes’ Laufbahn. Abgesehen von der Veröffentlichung der Übersetzung des Thukydides musste er auch mit dem Tod des Zweiten Grafen im Alter von 43 Jahren fertig werden, was seine Entlassung bei den Devonshires zur Folge hatte. Hobbes übernahm nun einen neuen Posten im Hause von Sir Gervase Clifton unweit von Hardwick Hall, dem Hause des Devonshires. Und wieder wurde er als Begleiter auf einer großen Reise engagiert, die dieses Mal von 1629 bis 1631 dauerte. Während dieser Reise schaute sich Hobbes zum ersten Male die ‚Elemente‘ von Euklid an und geriet in Begeisterung für die Geometrie. Es gibt zahlreiche Hinweise in Hobbes Schriften darauf, dass er Euklids Buch als eines der hervorragendsten Beispiele wissenschaftlicher Darstellung betrachtete. Vielleicht war er auf dieser zweiten Reise auch bei einer Diskussion unter wohlgebildeten Herren über das Wesen der Sinneswahrnehmung dabei, in der es sich ergab, dass kein Teilnehmer sagen konnte, was Sinneswahrnehmung eigentlich ist. Beide Episoden sind insofern bedeutsam, als sie den Beginn von Hobbes’ Wandel vom Literaten zum Wissenschaftler markierten. Vielleicht war aber auch diese Reise nicht die einzige Anregung zu dem besagten Wandel. Nach seiner Rückkehr ging Hobbes zurück in die Dienste der Devonshires und wurde Hauslehrer des jungen Dritten Grafen. Ungefähr zur selben Zeit kam er mit einem Zweig der Familie seiner Herrn in Kontakt, die in Welbeck nahe Hardwick Hall lebten. Die Welbeck Cavendishes waren an Naturwissenschaft interessiert. Vom Grafen von Newcastle ist bekannt, dass er Hobbes Anfang der 1630er Jahre auf einen Botengang nach London schickte, um ein Buch von Galileo Galilei zu suchen. Der jüngere Bruder des Grafen, Charles, zeigte sogar noch ein größeres Interesse an der Naturwissenschaft: er engagierte sich als eine Art von Schirmherr und Verbreiter von naturwissenschaftlichen Schriften. Hobbes war einer derjenigen, der sich diese Schriften anschaute und darüber seine Meinung abgab. Charles Cavendish hatte auch Verbindungen zu kontinentaleuropäischen Wissenschaftlern, einschließlich Marin Mersenne, einem Pariser Mönch, der im Mittelpunkt eines Kreises von Naturwissenschaftlern und Philosophen stand, zu denen auch Descartes gehörte. Hobbes’ naturwissenschaftliche Entwicklung setzte sich fort, als er mit dem Dritten Grafen zwischen 1634 und 1636 auf eine weitere große Reise ging. Während dieses Unternehmens hat er vermutlich Galileo Galilei in Italien getroffen, so wie Mersenne und einige Mitglieder seines Kreises im Paris des Jahres 1636. Letzteren hatte Hobbes wahrscheinlich fünf Jahre zuvor auf seiner zweiten Reise kennen gelernt. Es heißt, dass sich Hobbes auf seiner dritten großen Reise sehr für das Wesen und die Wirkungen der Bewegung interessierte, und dass er zum ersten Male zu begreifen begann, wie viele Naturphänomene davon abhängen. 676
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Nach seiner Rückkehr nach England beschäftigte sich Hobbes weiterhin mit einigen wissenschaftlichen Arbeiten, die in Mersennes Kreis produziert worden waren. Descartes’ ‚Discours de la méthode‘ war 1637 erschienen. Hobbes wurde ein Exemplar übersandt, und er scheint den ersten der Essays über die Optik sorgfältig studiert zu haben und nahm sich vielleicht die Zeit, selbst etwas über denselben Gegenstand zu schreiben. Er wollte aber nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet Schritt halten. Durch seine Verbindungen zum Klerus, zu Rechtsanwälten und Aristokraten in Great Tew in der Nähe von Oxford war er in der Lage, den ständigen Debatten, die Karl I. umgaben, zu folgen. 1634 begann der König Geld für eine Flotte einzutreiben, indem er eine Verschiffungssteuer in jedem der englischen counties erhob. Diese Steuererhöhung stieß auf Widerstand, insbesondere in den counties, die nicht direkt an der Küste gelegen waren. Neben dem Streit um das Verschiffungsgeld musste Karl I. im Jahre 1637 mit den Folgen des Versuchs fertig werden, das schottisch-presbyterianische Gebetbuch mit seinem anglikanischen Gegenstück in Einklang zu bringen. Dies provozierte einen nationalen Pakt in Schottland, der einen pauschalen Widerstand gegen kirchliche Neuerungen aus England beinhaltete. 1639 und 1640 stellten die Schotten Armeen auf, um ihrem Widerstand Nachdruck zu verleihen, und Karl I. war gezwungen, erneut ein Parlament einzuberufen, obwohl er gewohnt war, ohne Rücksicht auf ein solches zu regieren, und das ihm folglich extrem feindselig gegenüber stand. Als das Parlament Maßnahmen gegen Stafford ergriff, einen Minister des Königs, der dem Grafen von Newcastle nahe stand, arbeitete Hobbes an Argumenten zur Unterstützung der royalistischen Position in den Parlamentsdebatten. Diese Argumente brachte er in Gestalt einer Abhandlung mit dem Titel ‚The Elements of Law‘ (1640) vor, die nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, die aber tatsächlich einen großen Teil der politischen Theorie Hobbes’ enthält. Aus Angst vor Verfolgung, weil er den Royalisten argumentativ geholfen hatte, flüchtete er nach Paris und schloss sich dem Philosophen- und Wissenschaftlerkreis um Mersenne an. Einige Jahre nach 1640 schrieb Hobbes, dass er kürzlich über einen Plan nachgedacht habe, in drei Teilen die Elemente der Philosophie oder der Wissenschaft im Allgemeinen zu erörtern. Seine Darstellung würde mit der Natur des Körpers und der Elemente beginnen, also dem, was wir heute die Physik nennen. Dann wollte er zur Diskussion der Natur des Menschen fortschreiten, speziell zur Wahrnehmung und Motivation, und im dritten Teil wollte er eine Diskussion der moralischen und bürgerlichen Pflichten durchführen. Vielleicht hatte er diesen Plan schon aufgestellt und gar Teile davon bereits in die Tat umgesetzt, als er in Paris ankam. Gewiss ist jedoch, dass der erste fertig gestellte Teil der geplanten Darstellung der letzte jener aus seinem Entwurf war, nämlich der Teil über die Moral und die Politik. Hobbes nannte ihn ‚De cive‘ und publizierte ihn in einer sehr kleinen Auflage im Jahre 1642 auf Lateinisch. Hobbes scheint gute Beziehungen zu den meisten der Mitglieder von Mersennes Kreis unterhalten zu haben. Uneins war er jedoch mit Descartes, dessen ‚Meditationes‘ er in einer Reihe von ‚Einwänden‘ kritisierte, und zwar in der anonym erschienenen ‚Dritten Menge‘ (siehe Descartes, R. §§4, 6). Von 1641 an bis zu Mersennes Tod im Jahre 1648 widmete sich Hobbes der Zusammenstellung von dem Rest seiner dreiteiligen Darstellung der Elemente der Wissenschaften. Er stellte einiges des Materials für den ersten Band zusammen, z.B. über den Körper, was 1655 dann unter dem Titel ‚De corpore‘ veröffentlicht wurde, und griff Themen auf, die 677
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später zum mittleren Teil der Darstellung gehörten. 1643 schrieb er einen kritischen Kommentar über ‚De mundo‘, eine Abhandlung von Thomas White (einem weiteren Engländer dieser Zeit in Paris), der mit der Scholastik sympathisierte. 1646 stellte Hobbes einige Argumente darüber zusammen, inwiefern die Freiheit mit kausaler Notwendigkeit in der Natur vereinbar sei, wobei er einmal mehr bei dieser Gelegenheit gegen den scholastischen Standpunkt eintrat. 1647 wurde er ernsthaft krank und starb beinahe. Noch in seinem Krankenbett wies er einen Versuch von Mersenne ab, der ihn zum römischen Katholizismus bekehren wollte. 1648 starb Mersenne, und die philosophische und wissenschaftliche Geschäftigkeit um ihn herum verlor ihren Schwerpunkt. Hobbes hatte nun einen Platz unter den Exilroyalisten, stand sich aber nicht gut mit den Kirchenmitgliedern um Karl II. in Paris und erhielt seinen Unterhalt ziemlich unregelmäßig. Im Herbst 1649 bildete sich bei ihm wohl die Absicht, wieder nach Hause zurückzukehren. Der ‚Leviathan‘, in dem Hobbes versuchte, aus seinen nunmehr gut ausgearbeiteten politischen Prinzipien die richtige Beziehung der Kirche zum Staat abzuleiten, wurde gegen Ende der 1640er Jahre geschrieben, als die englische Kirchenbewegung sich auf einer Linie zu bewegen begann, der er zustimmte. Dies war auch die Zeit, als der Einfluss der Bischöfe am englischen königlichen Exilhof in Paris in den Augen von Hobbes zu groß wurde. Wie dem auch sei; der Umstand, dass die in seinem Buch ausgeführte Theorie Cromwells Politik gegenüber der Führung der Kirche rechtfertigte, heißt noch nicht, dass dies eine parteiliche Arbeit zugunsten von Cromwell war, die darauf bedacht war, Hobbes’ Rückkehr nach England zu erleichtern. Wäre dem so gewesen, so hätte Hobbes keine spezielle Ausgabe für den künftigen Karl II. hergestellt. Es sieht vielmehr so aus, als ob die Lehre des ‚Leviathan‘ die Konzentration aller Autorität bei jeglicher de-facto-souveränen Macht gut heißt, sei sie nun republikanisch oder royalistisch. Für die Pariser Royalisten, die zum größten Teil strenge Anglikaner waren und damit für die politische Macht der Bischöfe eintraten, war das neue Buch jedenfalls in höchstem Maße anstößig. Gegen Ende des Jahres 1651 kehrte Hobbes nach London zurück, und alle drei Darlegungen seiner politischen Philosophie waren auf die eine oder andere Weise auch auf Englisch erhältlich. Diese politischen Arbeiten erlangten weite Bekanntheit, schon bevor die Veröffentlichung der Elemente der Wissenschaften abgeschlossen war. Obwohl er geplant hatte, mit ‚De cive‘ eine Folge von drei Abhandlungen über diese Elemente abzuschließen, hing diese doch nicht von den anderen Abhandlungen ab, um verstanden zu werden, und sie hatte schon für sich selbst einen Leserkreis. Als die beiden anderen Arbeiten des Konvoluts in den 1650er Jahren erschienen, erreichten sie nicht die Qualität von ‚De cive‘. Die Abhandlung, an der Hobbes am längsten gearbeitet hatte, war die erste der drei Arbeiten des Gesamtvorhabens, ‚De corpore‘, publiziert im Jahre 1655. Darin versucht Hobbes zu zeigen, wie die reifen Wissenschaften der Geometrie, der Mechanik und der Physik sich mit den Wirkungen unterschiedlicher Arten der Bewegung auf die Materie beschäftigen. Politisch motivierte Kritiken wiesen schon bald auf die Schwäche der mathematischen Abschnitte des Buches hin, und Hobbes Versuch zur Rechtfertigung seiner Arbeit kostete ihn Jahre fruchtloser Polemik. ‚De homine‘, der zweite Band seiner ‚Elemente‘ und zweifellos der am wenigsten integrierte von allen dreien, wurde 1658 publiziert. Er wurde nie in weiten Kreisen gelesen, und eine Übertragung ins moderne Englisch ist gerade erst kürzlich herausgekommen. 678
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1660 wurde in England die Monarchie wieder ausgerufen, und unter den Mantelspitzen von Karl II. kehrte auch die politische Macht all derer wieder, die Hobbes als Verräter der royalistischen Sache betrachtet hatten. Karl II. stand ihm jedoch nicht feindselig gegenüber, und auch andere einflussreiche Leute waren ihm wohl gesonnen. Dessen ungeachtet kam es im Jahre 1666 und 1667 beinahe zur Verabschiedung eines Gesetzes durch das Parlament, durch das die christliche Häresie und der Atheismus geächtet worden wären, und der ‚Leviathan‘ wurde besonders daraufhin untersucht, ob er nicht eine Quelle häretischer und atheistischer Auffassungen sei. Die Gefahr der Inhaftierung und des erzwungenen Exils ließ bis zum Ende des Jahrzehnts nicht nach. Die Bedrohung Hobbes’ zeigt sich in Anmerkungen, die er an einer lateinischen Ausgabe seiner Arbeiten machte, die 1668 in Holland veröffentlicht wurde. Er argumentierte, dass die Bestrafung der Häresie nach englischem Recht illegal sei, und dass sein Materialismus mit dem christlichen Glauben vereinbar sei. Zwei bedeutende Arbeiten aus den 1660er Jahren waren Ausführungen seiner politischen Philosophie. Da gab es die Geschichte des englischen Bürgerkrieges ‚Behemoth‘ (1668) und den ‚Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England‘. Zu der Zeit, als diese Arbeiten geschrieben wurden, war es Hobbes nicht erlaubt zu veröffentlichen, und obwohl er sich in den 1670er Jahren mit einigen Übersetzungen der Antike und einigen kleineren eigenen Schriften beschäftigte, war er doch praktisch am Ende seines produktiven Lebens angekommen. In seinem neunzigsten Lebensjahr kehrte Hobbes zur Physik zurück. Sein ‚Decameron Physiologicum‘ (1678) wiederholt einiges der Methodenlehre und der grundsätzlichen Ergebnisse des physikalischen Abschnitts von ‚De corpore‘. Für die ihm noch verbleibenden drei Jahre teilte Hobbes seine Zeit zwischen den beiden Devonshire Häusern in Chatsworth und Hardwick Hall auf. Im Dezember 1679 starb er an einer Harnblasenkrankheit. Seine sterblichen Reste sind bei einer kleinen Pfarrkirche in der Nähe von Hardwick Hall begraben. 2. Wissenschaft und menschlicher Fortschritt Hobbes’ Schriften sind die eines Anwaltes und Ausübenden der neuen Wissenschaften, d.h. ein System des Wissens der Gründe, das, wie er glaubte, für das menschliche Leben von größtem Nutzen sein könnte. Doch bildete er seine Vorstellungen zu einer Zeit, als die menschlichen intellektuellen Kräfte, einschließlich der Fähigkeit zur Entwicklung der Wissenschaft, gemeinhin als recht beschränkt angesehen wurden. Einigen der vorherrschenden Theorien des späten 16. Jahrhunderts und des frühen 17. Jahrhunderts zufolge war die gesamte menschliche Rasse in einen ziemlich allgemeinen und nicht aufzuhaltenden Prozess des natürlichen Verfalls verwickelt, so dass aus dieser Perspektive alle hervorragenden Leistungen des Menschen in ein längst vergangenes, goldenes Zeitalter gehörten. Diese Betrachtungsweise der Dinge war zwar im Einklang – wenn auch nicht davon inspiriert – mit der biblischen Erzählung des Sündenfalls von Adam und Eva, worauf bekanntlich der Verlust des Paradieses folgte. Nach einer Interpretation dieser Geschichte kostete Adam seine Ausweisung aus dem Paradies nicht nur ein leichtes Leben in Harmonie mit Gott und dem Rest der Natur, sondern auch das Geschenk einer natürlichen Einsicht in das Wesen aller Dinge, die er zu benennen wusste. Es mochte nun möglich sein, dass man dieses Wissen nie mehr zurück erlangen konnte. Im Frankreich des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts stärkten kurz zuvor populär gewordene 679
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griechische skeptische Argumente gegen den Dogmatismus die Auffassung, dass die menschlichen intellektuellen Möglichkeiten begrenzt seien. Diese Argumente richteten sich nicht direkt gegen das traditionelle Lernen an den Schulen, sondern gegen die Vorstellung, dass irgendeine menschliche Lernbemühung, also selbst das nicht traditionsorientierte und sogar das anti-traditionelle Lernen, am Ende ein System echten Wissens hervorzubringen vermag. Hobbes Philosophie steht zu einem Großteil dieses trüben Räsonierens im Widerspruch. Sie widerspricht auch dem philosophischen Skeptizismus, ferner der Theorie vom Verfall der Natur in Anwendung auf den menschlichen Intellekt, und in geringerem Umfange auch den pessimistischen Interpretationen der intellektuellen Kosten des Sündenfalls. Obwohl Hobbes enge Freunde und intellektuellen Einfluss unter den französischen Denkern hatte, die skeptische Argumente ernst nahmen, gibt es wenig bis gar keine triftigen Beweise innerhalb seiner eigenen Schriften, dass er diese Argumente eingehend studiert hat oder sich ihre Schlussfolgerungen zu Herzen nahm. Er scheint niemals Zweifel an der Schlüssigkeit oder dem wissenschaftlichen Status der euklidischen Geometrie gehabt zu haben, und er war ein früher Enthusiast der angewandten Mathematik von Kopernikus, Kepler und Galilei. Er war auch stolz auf das Urteil einiger früher Leser von ‚De cive‘, dass dieses Buch zu einer demonstrativen Wissenschaft der Ethik führen würde. Hobbes nannte sich selbst ‚Erfinder der Staatswissenschaften‘ (engl: civil science) und meinte, dass seine Politikforschung einen Platz neben Galileos Mechanik verdient hätte. Die gerade erst gegründeten Natur- und Moralwissenschaften betrachtete er nicht nur als große intellektuelle Errungenschaften, sondern auch als etwas ausgesprochen Modernes. Ganz entgegen der Theorie vom Verfall der Natur, angewendet auf den menschlichen Intellekt, wären die Natur- und Staatswissenschaften nicht in der Antike stehen geblieben, sondern hätten überhaupt erst mit der Arbeit der mathematischen Astronomen und seiner eigenen Arbeit in ‚De cive‘ begonnen. Dennoch meinte Hobbes auch, dass die Menschen schlecht von der Natur vorbereitet seien, um Wissenschaft dieser Art zu betreiben, und dass sie sehr hart arbeiten müssten, um hierzu in der Lage zu sein. Er stimmte daher nicht der cartesischen Vorstellung zu, dass Gott uns gütigerweise mit den Fähigkeiten zum Treiben von Wissenschaft ausgestattet habe, die latent in unserem Geiste schlummern, und er stimmte auch nicht der aristotelischen Idee zu, dass das Wissen vom Wesen der Dinge das zwanglose und unvermeidliche Nebenprodukt des wiederholten Hinschauens und Sehens sei. In einem sehr bedeutsamen Umfange sind unsere Fähigkeiten zur Naturwissenschaft nach Hobbes von uns selbst erzeugt, statt uns gegeben. Diese Haltung macht sowohl dem Skeptizismus, als auch der Theorie, dass das Leben für den sündigen Menschen immer schwierig sein wird, einige Zugeständnisse. Obwohl nach Hobbes die Skeptiker sich in ihrer Behauptung irren, dass wir zur Wissenschaft nicht in der Lage seien, liegen sie doch richtig, wenn sie darauf bestehen, dass wir angeborenermaßen über keine wissenschaftlichen Fähigkeiten verfügen. Sie hätten auch Recht mit ihrem Zweifel an der Fähigkeit des Menschen zu einer gehobenen Art von Wissen, nämlich jenem Wissen, dass notwendig Wirkungen nach sich zieht. Für Hobbes erreicht das wissenschaftliche Wissen, dessen wir fähig sind, selten eine Stufe, auf der dieses Wissen Wirkungen zeitigen muss, und es lässt sich auch nicht für alle Arten von Wirkungen verwenden. Obwohl also Hobbes davon überzeugt war, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeitgenossen und von ihm selbst wichtig waren, und dass 680
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die damit aus der Taufe gehobenen Natur- und Politikwissenschaften sich auch weiter entwickeln würden, ging er doch nicht wie Descartes davon aus, dass wir die Wissenschaften eines Tages abschließen werden. Während er schließlich behauptete, dass die Wissenschaften sogar noch in ihrem unentwickelten Zustand beachtliche Vorteile gebracht hätten, erwartete Hobbes gleichwohl nicht, dass eine noch entwickeltere Wissenschaft eine Antwort auf alle unsere Probleme geben könne. Wie Bacon glaubte er, dass die Wissenschaft den Sündenfall nicht vollkommen ungeschehen machen könne, sondern dass sie nur zur Linderung einiges dessen beitragen könne, was schlecht an der menschlichen Existenz sei. Was man auch immer tue, das Leben würde mit ‚Unbequemlichkeiten‘ fortgesetzt, aber mit der Entwicklung der Wissenschaften würde das Leben weniger davon belastet. Die Wissenschaft ist folglich für Hobbes kein Mittel der Wiedergewinnung des Paradieses. Bestenfalls ist sie unser einziger Weg zur Begrenzung der Kosten für den verlorenen Garten Eden. Im Paradies genoss Adam das Geschenk der Unsterblichkeit unter Bedingungen wirklicher Überfülle. Alles, was er eigentlich wollte, lag bereits da. Adam, der für das Essen des Apfels vom Baum der Erkenntnis bestraft wurde, verlor seine Unsterblichkeit. Er lebte, wie Hobbes es im ‚Leviathan‘ formuliert, unter einem Todesurteil (1651, III: 438). Adam verlor auch die Überfülle des Garten Edens. Nachdem er an einen Ort außerhalb des Paradieses verbannt war, musste er das erste Mal in seinem Leben für seinen Lebensunterhalt arbeiten, und das auch noch in einer relativ unwirtlichen Umgebung. Wären sie in Eden geblieben, so hätten sich Adam und Eva nicht ständig, vielleicht auch gar nicht fortgepflanzt (1651, III: 440). Als sie das Paradies verließen, gerieten sie in den Zwang sich zu vermehren, was ihr Leben noch weiter erschwerte. Adams Abkömmlinge, also der Rest der Menschheit, erbten von ihm nicht nur die Sterblichkeit, sondern auch das Leben außerhalb des Paradieses. Dank Adams Sünde lebten die Menschen im Allgemeinen in einer Welt, die uns großes Geschick und harte Arbeit zum Überleben abverlangt. Und Dank der menschlichen Fleischeslust müssten die Nachkommen Adams ein Leben in der Gesellschaft von vielen anderen ihrer eigenen Art leben, und oft in Konkurrenz mit ihnen. Diese Tatsachen des Lebens machten es nicht einfach, seine Sache gut zu machen. Um in einer manchmal brutalen physischen Umgebung zu gedeihen, müssten die Menschen wissen, welche der von ihnen beobachteten Wirkungen günstig seien, und welche ihnen Schaden zufügen, und sie müssten lernen, die günstigen Wirkungen zu wiederholen und die schädlichen zu verhindern oder zumindest zu vermeiden. Um in einer schwer bevölkerten Umwelt zu gedeihen, müssten die Menschen wissen, wie sie miteinander kooperieren können. Und obendrein müsse der Mensch mit allen diesen Problemen gleichzeitig fertig werden. Wie die Dinge nun einmal stehen, seien diese Probleme allerdings für Geschöpfe wie uns zu groß. Da wir von Adam abstammen, erbten die Menschen die kognitiven Anlagen und die Willensanlagen von jemandem, der zum Leben im Paradies gedacht war, und nicht in der unwirtlichen Welt außerhalb desselben. Wenn die Dinge nach Gottes Plan gelaufen wären, so hätte Adam es nicht nötig gehabt, kausales Wissen über die Natur zu erwerben. Er hätte seine Bedürfnisse durch Nachdenken über die Vielfalt und die Ordnung in der Natur befriedigen können. Adam hätte die Natur nicht dazu bringen müssen, dass sie seine Bedürfnisse stillt. Er hätte nicht mit der Überbevölkerung und Forderungen nach Kooperation fertig werden müssen. Da er für ein Leben ohne Probleme gemacht war, fehlten Adam die Mittel, und das 681
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heißt: die Wissenschaft, um Probleme zu lösen. Hobbes betont im ‚Leviathan‘, dass es keinen Hinweis in der Bibel darauf gebe, dass Adam über das Vokabular zum Betreiben von Wissenschaft verfügte (‚Elements of Law‘, 1651 III: 19), und ohne das geeignete Vokabular, um Wissenschaft zu treiben, stünden wir nicht besser da als Wilde oder gar wilde Tiere (1640 Teil I, Kap. 5: iv; 1658 Kap. 10: ii, iii). Weder versöhnten sich die Menschen mit einem Leben in gegenseitiger Gnade und jener der Elemente – Hobbes glaubte, dass dies die Richtung sei, die die amerikanischen Eingeborenen eingeschlagen hätten – noch gehen sie den langen und schwierigen Weg hin zu einem besseren Leben durch die Wissenschaften. Weder das bessere Leben, noch die Mittel dafür liegen außerhalb der Reichweite des Menschen, aber beides erfordere eine Art von menschlicher Reform. Um einen Zugang zu den Stufen und Variationen der Bewegung zu erlangen, die man zum Verständnis der Natur brauche, müssten sich die Menschen allgemeinere und universellere Begriffe als jene der Alltagserfahrung aneignen, und sie müssten unter Verwendung dieser Begriffe Grundsätze zu ihrer Anwendung bei Aufgaben der Messung und Herstellung von Dingen entwickeln. Um das Problem einer friedlichen Zusammenarbeit zu lösen, müssten sie in der Lage sein, die Konsequenzen daraus anzuerkennen, wenn jeder versucht das zu bekommen, was er gerade möchte. Dies bedeutet mehr als nur zu wissen, welchen Moralvorschriften man folgen soll. Es bedeutet, dass man imstande ist zu sehen, welches allgemeine Gute die Moralvorschriften befördert – was in der Hobbesschen ‚Staatswissenschaft‘ weiter ausgeführt wird – und das eigene kritische Denken auf die Verfolgung dieses Guten richtet, anstatt etwas Näherliegenderes und Lohnenderes zu tun. Obwohl die Menschen ohne die Wissenschaft nicht gut leben könnten, fiele ihnen die Wissenschaft doch nicht selbstverständlich zu. Die Wissenschaft hänge von der Fähigkeit ab, geeignete Namen zu vergeben, Namen in Aussagen zusammenzufassen, und Aussagen wiederum in Syllogismen zusammenzufassen. Aber nicht einmal diese vorwissenschaftlichen, sprachlichen Fähigkeiten seien für die Menschen selbstverständlich. Die Menschen kämen auf die Welt und seien zu kaum mehr in der Lage als zu einer sensorischen Repräsentation (zur Formung eines Wahrnehmungsbildes), und zum Lernen aus Erfahrung. Erfahrung und Wissenschaft liegen aber weit auseinander. In ihrem Rohzustand sei die Erfahrung entweder ein unorganisierter Strom von Repräsentationen, oder aber eine kohärente Folge. Wenn sie eine kohärente Folge sei, dann sei sie dem ‚Leviathan‘ zufolge durch einen Entwurf oder Plan ‚geregelt‘, oder durch die Neugier an den beobachteten körperlichen Wirkungen (1651 III: 13). Sei sie auf eine dieser beiden Arten geregelt, sei der daraus resultierende Erfahrungsstrom dennoch nur so geregelt, wie es die vergangene Erfahrung erlaube. Wenn der Geist seine vergangenen Assoziationen der beobachteten Phänomene durchgehe, so konzentriere er sich auf die Mittel zur Erreichung eines Ziels oder Zwecks, das ihm vor Augen liege, oder er werde sich Eigenschaften denken, die er gewohnt sei mit anderen Eigenschaften zusammenzubringen, auf die er nun neugierig sei. Gebe es aber einmal Worte für die Dinge, von denen der Geist Begriffe habe – und Worte könnten verwendet werden, um die Elemente der Erfahrung zu bedeuten – so seien die Möglichkeiten zur Nebeneinanderstellung der Worte, zu ihrer Analyse und der Schlussfolgerung aus ihnen beachtlich und eröffneten uns Wege zur Ordnung der Elemente, die von der vorangehenden Erfahrung nicht geahnt wurde. 682
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Neue Wege der Regelung von Gedanken würden möglich, weil es einerseits für einen besprochenen Körper nicht notwendig sei, dass er gegenwärtig anwesend oder erinnert wird, um eine Gedankenfolge zu ihm zu erzeugen. Die Gedankenfolge könne stattdessen unter Ausnutzung logischer Beziehungen oder analytischer Wahrheiten hervorgebracht werden, um von einer Rede oder einem Gedanken zum nächsten zu kommen. Vernünftiges Schlussfolgern könne daher neue Möglichkeiten der Kombination von Dingen eröffnen, die ansonsten gesondert in der Erfahrung bestehen; sie könne auch Wege eröffnen, wie man Dinge entfernen oder sondern kann, die in der Erfahrung vermischt seien. Und die Möglichkeiten seien nicht auf die Kräfte der Vernunft einer einzelnen Person beschränkt. Die Sprache ermögliche die Forschung und das vernünftige Schließen in übergreifender Zusammenarbeit und erlaube damit das Ausprobieren von Erklärungen durch andere auf ihre Klarheit und Kohärenz. Die Schlüsse oder Erklärungen einer Person könnten über die Zeit aufbewahrt werden und somit zum Modell für viele andere Menschen werden. Eine Methode könne sogar aus den Befunden des erfolgreichsten oder schlüssigsten Gedankenganges herausgelöst werden, so dass sich schlüssiges Denken und Erklären – mit einem Wort: Wissenschaft – vertiefe und verbreite. Hobbes glaubte, dass die Wissenschaft als Ganzes in zwei grundsätzliche Abteilungen eingeteilt werden könne, von denen sich die eine mit den natürlichen Körpern und die andere mit dem körperschaftlichen (und damit auch staatlichen) Verhalten befasse. Jeder dieser beiden Teile der Wissenschaft gelange durch Denken zu den Ursachen der Eigenschaften seines Gegenstandes und demonstriere Wirkungen mit dem Ziel, den jeweiligen Gegenstand zum Nutzen und Wohle des Menschen einzusetzen. Aber diese beiden Arten von Körpern unterscheiden sich stark voneinander, und folglich stellten sie unterschiedliche wissenschaftliche Probleme. Die natürlichen Körper würden nicht von uns hergestellt, und folglich müssten auch die Ursachen ihrer Eigenschaften durch Nachdenken über die Erscheinungen, die sie zeigen, erarbeitet werden. Da der Hersteller der natürlichen Körper, Gott, allmächtig und in der Lage sei, Wirkungen auf mehr Arten zu produzieren, als wir sie uns in unseren Erklärungen erträumen, könnten mögliche Ursachen nur den Erscheinungen zugeschrieben werden, die sie zeigen. Das Verhalten der staatlichen Gemeinwesen werde allerdings von uns hervorgebracht, es sei also ein menschliches Artefakt, weshalb wir uns zumindest grundsätzlich der Ursachen ihrer Eigenschaften gewiss sein könnten. Die philosophische Herausforderung, die sich mit ihnen stelle, ergebe sich aber nicht vorrangig aus dem Wissen ihrer Ursachen; sie bestehe vielmehr in dem Wissen darum, wie man sie gestalten sollte, damit sie fortbestehen. Dies bedeute jedoch, dass man Regeln entwerfen müsse, durch die jene, die am Gemeinwesen beteiligt seien, d.h. die Regierungsmitglieder auf der einen Seite und die der Regierung Unterworfenen auf der anderen, sich selbst führen könnten und damit der zivile Frieden hergestellt sei. Es sei zweifelhaft, ob die Aufstellung dieser Regeln wirklich eine Wissenschaft von der Beschaffenheit eines Körpers wie bei den Naturwissenschaften sei, meint Hobbes, und wahrscheinlich müssten die Unterschiede zwischen der Natur- und den Staatswissenschaften ernster genommen werden als eine angenommene Analogie. Hobbes behauptet, dass die Staatswissenschaft nicht nur mehr Gewissheit biete, sondern auch umfassender gebraucht werde und darüber hinaus auch zugänglicher sei als die Naturwissenschaften. Auf der anderen Seite sei die Naturwissenschaft die grundlegendere der beiden Abteilungen der Wissenschaft: ihre 683
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explanatorischen Begriffe seien allgemeiner als diejenigen der Staatswissenschaft und würden gebraucht, wenn ein wissenschaftliches Verständnis der Leidenschaften und Handlungen von Akteuren des zivilen Lebens aus den „ersten und wenigen“ Elementen der Wissenschaft als Gesamtem gewonnen werden solle. 3. Die Elemente der Philosophie: Logik und Metaphysik Die relativen Positionen dieser beiden Bezirke der Wissenschaften, d.h. der naturbezogenen und der staatsbezogenen, spiegeln sich in der Organisation von Hobbes’ Trilogie der Elemente der Philosophie. Der erste Band, ‚De corpore‘, führt die Erste Philosophie, die Geometrie, die Mechanik und die Physik aus. Ihm folgt ‚De homine‘, der zur Hälfte der Optik, und zur Hälfte der Psychologie gewidmet ist. Dieser Band legt wiederum die Fundamente für die Darstellung der Elemente der Ethik und der Politik in ‚De cive‘. Die Darstellung der ‚Elemente‘ der Wissenschaft beginnt in ‚De corpore‘ mit einigen Kapitel über die Art und Weise, wie die Philosophie von den Namen, den Aussagen und den Methoden des Argumentierens abhänge. Für Hobbes ist die Logik nur ein Verfahren der richtigen Anordnung und der Kombination bedeutsamer Aussagen in Beweisketten. Aussagen seien wiederum nicht mehr als kohärente Verkettungen von Namen mit Bedeutungen unterschiedlichen Umfanges. Ein Name bedeute eine Vorstellung, und zwar irgendeine im Redezusammenhang seiner Verwendung gegenüber einem Zuhörer. Die Vorstellung sei aber nicht das, für was der Name stehe oder auf was er sich beziehe. Der Name stehe oder beziehe sich nämlich auf einen Gegenstand. Um etwas auszusagen, müssten Namen kohärent zusammengefügt werden, und kohärente Verkettungen seien solche, die dieselben Kategorien von Namen verketten, beispielsweise Namen von Körpern mit ebensolchen, und Namen von Namen ebenfalls mit Namen von Namen. Der ‚Umfang‘ der Bedeutungen eines Namens habe Auswirkungen auf die Wahrheit von Aussagen. Die Bedeutung eines Eigennamens erstrecke sich von einem Einzelding, nämlich von dem Namen einer Universalie wie z.B. ‚Mann‘, ‚Pferd‘, ‚Baum‘, bis zu jedem Mitglied einer Mehrheit von Einzeldingen. In den Aussagen der Naturwissenschaften seien Namen die universalen Namen von Körpern. Die Wahrheit der Aussagen der Naturwissenschaften sei eine Frage des Einschlusses des Umfanges eines universalen Subjektausdrucks innerhalb des Umfanges eines universalen Prädikatausdrucks. Demonstrationen seien Ketten von Syllogismen, und Syllogismen seien Verkettungen von Aussagentrios, die geeignete Subjekte und Prädikate gemeinsam haben. In diesem Sinne sei die Logik folglich eine Technik zur Ausarbeitung der Konsequenzen von Beziehungen zwischen den Bedeutungen universaler Namen oder ihrer Umfänge. Es gebe auch zur Logik gehörige Methoden einer Analyse der Bedeutung von Namen, und um zu den allgemeinsten dieser Bedeutungen zu gelangen, die bei den alltäglichen universalen Namen beginnen. Die logischen Analysen dieser Art würden zur Ermittlung derjenigen Ausdrücke benötigt, die für die verschiedenen Zweige der Wissenschaft grundlegend seien. Darüber hinaus spielten sie eine Rolle, wenn es darum ginge, wissenschaftliche Fragen so umzuformen, dass sie einer Lösung zugänglich seien. Die Metaphysik oder die Erste Philosophie lege, idealerweise im Wege von Definitionen, die notwendigen Begriffe zur Durchführung fruchtbarer Untersuchungen betreffend die natürlichen Körper und zur Mitteilung ihrer Ergeb-
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nisse fest. Die relevanten Begriffe umfassten jene der Körper, der Bewegung, der Zeit, des Ortes, und von Ursache und Wirkung. Hobbes entwickelte keine ausgearbeitete Logik, und keine seiner Arbeiten befasst sich mit der Metaphysik allein. ‚De corpore‘ enthält die engste Annäherung an eine volle Erste Philosophie, und nicht einmal hier ist die Grenze zwischen ‚erster‘ Wissenschaft und Geometrie wirklich klar. Es gibt zwar ein Kapitel über den ‚Syllogismus‘, dies ist aber nicht umfassend, und seine Beziehung zur traditionellen Syllogistik wird nirgendwo durchgeführt. Was die Kapitel über die Erste Philosophie betrifft, sind diese bedeutsamer hinsichtlich dessen, was sie bestreiten, als was sie befürworten. Sie bestreiten den Sinn eines Studiums des ‚Seins‘ als Abstraktum; sie leugnen auch, dass die Gattungen oder die Arten Dinge sind; sie bestreiten, dass der Ausdruck ‚Substanz‘ etwas wesentlich anderes als ‚Körper‘ bedeuten kann; und sie bestreiten, dass andere Prädikabilien mehr sind als Abwandlungen der sensorischen Erscheinung, die von Körpern verursacht werden. Kurz gesagt, sie bestreiten einen großen Teil der anerkannten aristotelischen Lehre, einschließlich der Lehre von der Bestimmung des Gegenstandes der Metaphysik selbst, d.h. der Lehre, dass die Metaphysik das Sein als Sein untersucht. Wie sich noch zeigen wird, können die Kapitel über die Erste Philosophie auch dahingehend verstanden werden, dass sie die Uneinigkeit zwischen Hobbes und einigen der ‚Modernen‘, also unter anderen Descartes und Gassendi¸ dokumentieren. Hobbes Erste Philosophie beginnt mit einem Gedankenexperiment. Er stellt sich vor, dass die äußere Welt aufgehoben sei, und dass alles, was von ihr übrig ist, ein einziger Denker und die Spuren seiner Erinnerung dessen seien, was er zuvor gespürt und wahrgenommen habe. Hobbes behauptet, dass das Verschwinden der externen Welt nicht die Bedingungen des Nachdenkens oder der vernünftigen Argumentation beseitigen würden, ja nicht einmal jene über die physische Welt. Die Aufhebung der Welt würde die Bedingungen eines solchen Denkens und einer solchen Argumentation nicht einmal verändern, denn das Medium des Denkens und des Argumentierens seien niemals die Dinge selbst, sondern nur die Erscheinungen oder Trugbilder. Hobbes meint, dass die Aufhebung der externen Welt nur den Geist und seine Bilder in der Existenz belassen würde. Es gebe keine dritte Welt der Dinge, die außerhalb des Geistes und gleichermaßen außerhalb der physischen Welt existiere. Deshalb bestreitet Hobbes, dass es ohne den Geist abstrakte Wesenheit gebe wie jene, die Descartes in seiner 5. Meditation entdeckt zu haben behauptet. Und im Gegensatz zu Gassendi in seiner Syntagma glaubt er nicht, dass Raum und Zeit vom Geist wirklich unabhängig seien. Er leitet die Idee des Raumes aus der vorgestellten Bewegung ab, aus der Folge von Ereignissen ohne Existenz. Und die Vorstellung eines existierenden Dinges leitet er aus der Imagination eines leeren Raumes ab, der plötzlich besetzt wird. Die Existenz ist bei ihm daher auf die Existenz im Raum beschränkt, die wiederum identisch ist mit körperlicher Existenz. Diese Ressourcen erlauben nur eine beschränkte Konzeption der Ursache und auch der Kraft, und damit sicherlich nicht die aristotelische Konzeption. Es gibt bei ihm keine Formen oder Zwecke in der Natur, aber die Herstellung einer Konzeption einer Wirkursache ist ihm möglich, und dies ist der einzige Sinn des Ausdrucks ‚Ursache‘, den Hobbes für die Erste Philosophie gelten lässt. Die meisten der Begriffe, von denen Hobbes meint, dass sie für die Naturwissenschaften benötigt werden, sind damit bezeichnet. Im zweiten Teil von ‚De cor685
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pore‘ sieht er sich nach der Definition von Zeit und Raum in der Lage, den Begriff des Körpers und seine allgemeinsten Akzidenzien zu definieren. Daraufhin befasst er sich mit der Größe bzw. der wirklichen räumlichen Ausdehnung, sowie mit den räumlichen Beziehungen der Kontinuität und der Kontiguität (des NebeneinanderLiegens). Vor diesem Hintergrund definiert er die Bewegung, und als eine Form von Bewegung die Vorstellungen der Länge, Tiefe und Breite. Nachdem die drei räumlichen Dimensionen expliziert sind, definiert er die quantitative Identität bzw. den Unterschied von Bewegungen und Körpern, um daraufhin die Bedingungen qualitativer Unterschiede zwischen Körpern in der Zeit zu diskutieren. Daraufhin schreitet er zur Betrachtung der Ursachen qualitativer Veränderungen und schließt dies mit einer Demonstration der These ab, dass alle Veränderung Bewegung sei, und dass die Kraft (potentia) insofern nichts anderes als Bewegung sei, als sie die Ursache von Bewegung sei. Die Erste Philosophie von Hobbes ist von Definitionen beherrscht, und zumindest äußerlich ist deren Zweck die Festlegung von Vorstellungen, die ihm zufolge für das Betreiben der eigentlichen Wissenschaft notwendig sind. Hobbes meinte, dass die Abgrenzung eines bestimmten Lerngebietes strittig sei, und er führte diese Kontroverse auf ein Versagen beim Definieren der beteiligten Ausdrücke und eines geordneten Fortschreitens von Definitionen auf Schlussfolgerungen zurück. Die Aufgabe der Ersten Philosophie sei es, Sicherungsvorkehrungen gegen Kontroversen zu treffen. Dies gelinge nicht, wenn sie mit substanziellen Wahrheiten beginne und dazu die Zustimmung verlange. Stattdessen beschreibt Hobbes die Erste Philosophie als notwendig vorläufig bzw. vorbereitend auf die Demonstrationen der substanziellen Wahrheiten, wobei der Demonstrierende und der Lernende sich auf einer anderen Ebene begegnen und ihren Ausdrücken dieselben Bedeutungen zuordnen. Dann sei ihre Übereinstimmung terminologischer Art und nicht doktrinär. Hobbes sagt selbst in den Six Lessons: „Er sagt dir, in welchem Sinne du die Bezeichnungen jener Dinge zu verstehen hast, die er im Verlauf seiner Rede verwendet; er lehrt dich seine Sprache, damit er dich hernach seine Künste lehren kann. Aber das Lehren der Sprache ist keine Mathematik, noch Logik, noch Physik.“ Es dürfte bereits klar geworden sein, dass das „Lehren der Sprache“ nur unvollständig beschreibt, was Hobbes tatsächlich in der Darlegung seiner Ersten Philosophie tut, und dass diese Beschreibung auch vollständig den nachbessernden Charakter einiger seiner Definitionen im Vergleich mit den aristotelischen unterdrückt, und damit auch den umstrittenen Charakter der Vorkehrungen, die er traf, um dem Streit zuvorzukommen. Aber bis zu einem gewissen Punkt ist Hobbes Erste Philosophie wirklich voraussetzungslos. Sie setzt keine exotischen Kräfte oder Substanzen, einschließlich Gott, voraus und postuliert auch keine exotischen menschlichen Fähigkeiten zum Erwerb der naturwissenschaftlichen Schlüsselbegriffe. Bemerkenswert ist nicht nur, dass Hobbes die Anzahl der relevanten Begriffe klein hält, so dass er in ihrem Gebrauch sparsam ist, und dies auch in seinen Annahmen über die Typen realer Dinge, die es für die Anwendbarkeit dieser Begriffe geben muss. Hobbes’ Erste Philosophie ist auch naturalistisch. Es wird keinerlei übernatürliche Existenz zum Erwerb der naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorausgesetzt; tatsächlich wird nichts weiter als bewegte Materie behauptet. Was nach der Aufhebung der Welt in Hobbes Gedankenexperiment übrig bleibt, ist nicht das cartesische immaterielle Selbst, sondern der materielle Körper, oder vielleicht das Gehirn, und die in sei686
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nem Innern aus vergangenen Eindrücken der äußeren Welt auf die Sinnesorgane bewahrten Bewegungen. Die Leugnung des Immaterialismus in Hobbes’ Erster Philosophie wird bereits in seinen Einwänden gegen die Meditationes von Descartes vorweggenommen. Ein Einwand von Hobbes gegen die 2. Meditation gibt den Ton an (s. Descartes, § 5). Er akzeptiert, dass aus der Tatsache meines Denkens folgt, dass ich existiere, fragt sich aber, ob Descartes daraus korrekterweise als Konsequenz schließen könne, dass das Ich ein Geist oder eine Intelligenz oder ein denkendes Ding sei. Denn alles, was das Cogito Hobbes zufolge beweist, ist, dass das Ich körperlich-materiell sein kann. Und das Cogito lasse nicht nur die Möglichkeit offen, dass das Ich körperlich-real sei, sondern das spätere Wachs-Argument, so fährt er fort, beweise sogar tatsächlich, dass das Ich körperlich-materiell sei: „Wir können uns das Springen nicht ohne einen Springer vorstellen, oder das Wissen ohne einen Wissenden, oder das Denken ohne einen Denkenden. Daraus scheint zu folgen, dass ein denkendes Ding etwas körperlich-materielles ist. Denn es sieht so aus, dass der Gegenstand eines jeglichen Vorganges nur als etwas Körperlich-Materielles oder als Materie verstanden werden kann, wie der Autor selbst später [in] seinem Beispiel vom Wachs zeigt: das Wachs wird trotz seiner Veränderungen in der Farbe, der Härte, der Form und anderen Vorgängen immer noch als derselbe Gegenstand verstanden, d.h. derselbe Stoff [dieselbe Materie] ist Gegenstand all dieser Veränderungen.“ (Hobbes, ‚The Third Set of Objections to Descartes‘ Meditations, 1641). Descartes’ Erwiderung gibt zu, dass Vorgänge Gegenstände brauchen, dass es ein Ding sei, das hart ist und seine Form ändert etc., und dass es auch ein Ding sei, was denkt. Er besteht aber darauf, dass ‚Ding‘ in diesem Gebrauch des Wortes neutral sei hinsichtlich seiner Qualifikation als körperlich-materiell oder geistig. Er besteht ferner darauf, dass er hinsichtlich der Natur des Dinges, das dort in der 2. Meditation denkt, nicht festgelegt sei. Dies ist eine Behauptung, die bereits in der 2. Meditation durch seine agnostische Antwort auf die Frage vorweggenommen wird, ob er eine Struktur aus Gliedmaßen oder aus dünnem Dampf sei. Wenn Hobbes dies übersieht, dann vielleicht deshalb, weil er die Regeln der Methode des Zweifelns missversteht. Während er die Methode des Zweifelns einführt, nimmt Descartes eher an, als dass er beweist, dass es keinen Körper des denkenden Dinges bzw. für die ihm innewohnenden Gedanken gibt. Dies ist allerdings keine zirkuläre Fragestellung, denn der Glaube an die Existenz von Körpern wird nochmals in der 6. Meditation thematisiert, und damit auch die Frage, ob der Gegenstand wesentlich materiell oder immateriell sei. Hobbes nähert sich Descartes’ Immaterialismus von einer weiteren, noch aufschlussreicheren Seite, wenn er zu zeigen versucht, dass es nicht notwendig sei, den Unterschied zwischen Einbildungskraft und Begriffsbildung durch den Geist zu verdeutlichen. In seinem vierzehnten Einwand setzt Hobbes die Einbildungskraft in Descartes Sinne mit dem Besitz einer Vorstellung von einem Ding gleich, und die Begriffsbildung in Descartes’ Sinne mit dem vernünftigen Schlussfolgern, dass etwas existiert. Descartes sei bereits einverstanden, dass die Einbildungskraft ein teilweise körperlich-materieller Prozess ist, der sich aus den Einwirkungen auf die Sinnesorgane ergibt, aber sein Text suggeriere, dass die Begriffsbildung durch den 687
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Geist eine vollkommen andere Operation sei. Hobbes bringt stattdessen etwas vor, was eine Erklärung der Verknüpfung von Begriffsbildung und Einbildungskraft erlaubt, ohne dass man hierzu immaterielle Dinge postulieren müsste. Er schlägt vor, dass die Vernunft der Prozess ist, durch den die unterschiedlichen Dinge, denen Bezeichnungen angeheftet werden, nach den von den Menschen vereinbarten Regeln miteinander zu Sätzen verkettet werden. „Das vernünftige Denken hängt von Namen ab. Namen hängen von der Einbildungskraft ab, und die Einbildungskraft hängt (jedenfalls nach meiner Auffassung) lediglich von den Bewegungen unserer körperlichen Gliedmaßen ab. Und so ist der Geist nicht mehr als Bewegung, die in verschiedenen Teilen des organischen Körpers auftritt.“ (‚Objections‘, 1641) Die Vereinbarkeit dieses Vorschlages mit mechanistischen Erklärungen ist gerade für Hobbes ein Anreiz; Descartes äußert dagegen einige kraftvolle Zweifel an der Hobbesschen Idee, dass alleine die Namen ins Denken gelangen. Im Gegensatz zu Hobbes geht Descartes davon aus, dass das Denken darin besteht, die Bedeutung von Namen zu verknüpfen, und nicht nur die Namen selbst, und dass ferner die Bedeutungen einiger Namen nicht vorgestellt werden können. Wie im Falle seines Einwands gegen den Gegenstand des Denkens, der die Beschränkungen der Methode des Zweifelns zu übersehen scheint, scheint nun auch Hobbes Einwand gegen Descartes in Sachen Einbildungskraft und Begriffsbildung an der Sache vorbei zu gehen. Descartes versucht nicht die Funktionsweise der Fähigkeiten zu erklären, aus denen sich die Wissenschaft ergibt, nur um dann herauszufinden, dass er sie auf der Grundlage immaterieller Prinzipien erklären muss. Er will vielmehr zeigen, dass Wissenschaft möglich sei, und dass wirkliches Wissen der physischen Welt möglich sei, weil nicht alle unserer Fähigkeiten als unzuverlässig eingestuft werden könnten. Die Begriffsbildung durch den Geist sei dafür ein typisches Beispiel. Sie könne nicht als unzuverlässig eingestuft werden, weil sie autonom und unabhängig von der unzuverlässigen Sinneswahrnehmung sei. Hobbes sieht nicht, dass es die Objektivität der Begriffsbildung ist und nicht der Prozess der Begriffsbildung, worum es Descartes geht. Und beim Zweifel an der Objektivität der Begriffsbildung selbst bemüht sich Hobbes nicht um deren Rekonstruktion als vernünftiges Denken, dass Sicherheit auf dem Wege zu wahren Schlussfolgerungen bieten könnte. Er will sie lediglich auf eine Weise rekonstruieren, die die Begriffe nicht über jene Anzahl hinaus multipliziert, die seitens der mechanistischen Erklärung benötigt werden. Das Wesentliche daran ist, dass ein Beweis der Objektivität der Begriffsbildung, die durch die Wissenschaft erreicht wurde, in dieser Form legitimerweise von der Metaphysik gefordert werden darf, und Hobbes’ Metaphysik bemüht sich wenig, wenn überhaupt, dieser Forderung gerecht zu werden. Die metaphysische Sparsamkeit des Materialismus wird niemanden beeindrucken, der hinsichtlich der Existenz der externen Welt skeptisch ist; dies ist die unbestreitbare Macht des Cogito-Arguments. Eine Schwierigkeit des Hobbesschen naturalistischen Ansatzes ist es, dass er sich nie der Aufgabe unterzieht, das wissenschaftliche Unternehmen an sich selbst zu legitimieren, und vielleicht ist er hierzu auch gar nicht in der Lage.
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4. Geometrie, Optik und Physik Die Erste Philosophie geht der eigentlichen Naturwissenschaft voraus, und die erste der Naturwissenschaften ist – nach Hobbes – die Geometrie. Sie ist für ihn deshalb eine Naturwissenschaft, weil sie die Wirkung von bewegten Körpern studiert. Sie untersucht beispielsweise die Eigenschaften gerader Linien, und gerade Linien sind die Wirkungen der Bewegung eines kleinen materiellen Dinges, nämlich eines Punktes. Er verwirft die Vorstellung, dass sich der geometrische Punkt als Abstraktion von anderen kleinen, materiellen Markierungen oder anderen Dingen unterscheidet. Als Körper sei der geometrische Punkt vielmehr teilbar und nicht, wie Euklid meint, „das, was keinen Teil hat“. Ein Punkt könne die Quantität genauso wenig entbehren wie eine Linie die Breite, und müsse aus der Bewegung heraus konstruiert werden. Die Körper, deren Bewegungen die Geometrie untersucht, müssten keine große Quantität besitzen, und die Quantität muss auch nicht relevant für das sein, was an ihnen demonstriert wird. Gleichwohl sind sie für Hobbes alle gleichermaßen Körper. Obwohl die Geometrie eine Wissenschaft der Körper ist, ist sie doch in gewisser Weise eine a priori gewisse Wissenschaft, wie es die Physik nicht ist, weil die Wirkungen der Ersteren von uns selbst herbeigeführt werden und wir im Voraus wissen, durch welche Mittel diese herbeigeführt werden. In dieser Hinsicht, glaubte Hobbes, sei die Geometrie wie die Politik. Und in noch einem Sinne sei die Geometrie eine sehr grundlegende Wissenschaft, zwar nicht in dem Sinne, dass die von ihr untersuchten Gegenstände höher stünden oder wirklicher seien als jene der Natur, aber doch in dem Sinne, das sie Körper und Bewegungen auf einem sehr hohen Niveau der Allgemeinheit untersuche, wobei vieles an den Körpern aus der Darstellung herausfalle. Hobbes meinte, dass die Geometrie auch noch in einem anderen Sinne grundlegend sei, da ihre Demonstrations- und Analysemethoden Anregung für die Methoden für die übrigen demonstrativen Wissenschaften seien. Hobbes war ein mathematischer Autodidakt, und seine Freunde und sein Biograph, John Aubrey, sagten, dass er Euklid bis in sein mittleres Alter nicht kannte. Dennoch wurde er von sehr fähigen Geometrikern in Mersennes Kreis ernst genommen, und ihm wird sogar die Anregung zu einem Beweis von Roberval betreffend die Gleichheit der Kreisbögen einer Parabel und der Archimedischen Spirale zugeschrieben. Bekannter ist er allerdings als ein mathematischer Versager, dessen Versuche zur Darlegung der Geometrie in ‚De corpore‘ von dem englischen Mathematiker John Wallis lächerlich gemacht wurden. Wallis’ Angriff war eigentlich durch den Wunsch motiviert, die antiklerikalen Passagen im ‚Leviathan‘ und Hobbes’ Angriffe auf die Universitäten in Misskredit zu bringen. Im Briefwechsel mit Huygens äußerte sich Wallis, dass Hobbes „seinen Mut aus der Mathematik bezogen“ zu haben scheine, und so sei es wohl notwendig, dass ein Mathematiker ihm zeige, wie wenig er davon verstehe. Wallis’ Angriff hatte Erfolg; er konzentrierte sich auf Hobbes’ zum Scheitern verurteiltes Unternehmen, aus einem Kreis ein Quadrat zu produzieren, und die Wirksamkeit dieses Angriffs steigerte sich noch dadurch, dass sich Hobbes beharrlich weigerte, Irrtümer einzugestehen. Obwohl die geometrischen Teile von ‚De corpore‘ eigentlich einige neue Ergebnis darlegen sollten, beanspruchte Hobbes für sich selbst kein großes Format als Geometriker. In der Optik allerdings betrachtete er sich selbst als eine größere Figur. Dies war sicherlich ein Gebiet, dem er sich bereits bei seiner frühen Wandlung von einem Gelehrten zu einem Naturwissenschaftler zuwandte. Schon 1636 kamen op689
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tische Fragen in seiner Korrespondenz mit dem Grafen von Newcastle zur Sprache, und seine Behandlung der Wahrnehmungsqualitäten war mechanisch: „Ich hingegen verwende die Sätze, denen zufolge das Licht oder die Farben vorbeigingen oder sich auflösten, in der Bedeutung, dass die Bewegung das einzige Medium ist, und das Licht und die Farbe sind nichts als die Wirkungen dieser Bewegung im Gehirn.“ Genauer gesagt denkt er sich diese Wirkungen als diejenigen der Bewegung des Mediums, die zu dem animalischen Geist innerhalb des Gehirns übertragen werden. Wie früh genau Hobbes bei dieser Konzeption der Wirkungsweise des Lichtes ankam, ist nicht ganz klar. Eine kurze Abhandlung des Jahres 1630, die ursprünglich Hobbes zugeschrieben wurde, haben einige Gelehrte nunmehr jemand anderem im Cavendish Kreis zugeschrieben. Sie enthält Lehren, die von den Schriften abweichen, die mit größerer Gewissheit von Hobbes verfasst wurden, und die wahrscheinlich in die 1640er Jahre zu datieren sind, z.B. der ‚Tractatus Opticus I und II‘. Es enthält auch eine Aufstellung von ‚Prinzipien‘, die diese späteren optischen Schriften lediglich als Hypothesen darstellen. Ob die Schriften der 1640er Jahre nur einen Meinungswechsel dokumentieren, oder ob sie Hobbes’ erste ausgedehnte Veröffentlichung in der Optik waren, in jedem Falle zeigen sie, dass er eine mediumbasierte Theorie der Ausbreitung des Lichts vertrat, die auf der Idee von sich kontinuierlich ausbreitenden und zusammenziehenden Lichtquellen beruhte. Diese bewegen nach seiner Auffassung dicht aneinander liegende Teile eines ätherartigen Mediums gleichmäßiger Dichte von Ort zu Ort und setzen damit eine Ketten-Reaktion bis zum Auge in Gang. Ein Widerstand im Auge, der durch eine entgegengesetzt ausgleichende Bewegung seitens des Gehirns ausgelöst wird, produziert das Trugbild eines leuchtenden Gegenstandes, und der heißt in Hobbes Terminologie Licht. Licht breitet sich spontan aus, da sich sowohl ein leuchtender Gegenstand, als auch das Medium gleichzeitig ausbreiten. Diese Darstellung kommt ohne das Postulat einer Emission durch leuchtende Gegenstände als Arten oder Replikate ihrer selbst aus, die nachfolgend die Sinne erreichen und ihre Wahrnehmung erlauben. Stattdessen beleuchten leuchtende Gegenstände durch Strahlung; sie senden sozusagen Strahlen aus, oder genauer gesagt, bewegen das Medium entlang den Pfaden, die ‚Strahlen’ genannt werden. Auf ihrer Reise von den leuchtenden Gegenständen zum Auge werden die Strahlen als etwas dargestellt, das Parallelogramme beschreibt. Hobbes verwandte die Eigenschaften anderer geometrischer Figuren, die durch Lichtstrahlen beschrieben werden, wenn sie Materialien unterschiedlicher Dichte durchdringen, um die Lichtbrechung zu beschreiben. Farbe betrachtete er als Licht, das durch die interne Bewegung von rauen oder grobkörnigen Körpern auf ihrem Wege zum Auge gestört wird. Den Unterschied zwischen den Farben des Lichtspektrums von blau zu rot erklärt er als das Produkt der Brechung zuzüglich der Beschränkung oder Verstärkung der Lateralbewegung von Lichtstrahlen, die mit dieser Brechung einhergehen. An keinem Punkt in dem Prozess, der mit der Bewegung der leuchtenden Gegenstände beginnt und mit der Produktion des Trugbildes endet, geht Hobbes von dem mechanischen Modell der Ursachen der Sinneswahrnehmung ab. Seine reife Theorie der Optik ist durch und durch eine Darstellung der Materie in Bewegung. Aber zwischen dem ‚Tractatus Opticus I‘ und dem ‚Tractatus Opticus II‘ scheint er seine Vorstellungen über die Organe der Sinneswahrnehmung revidiert zu haben. Trugbilder kommen jetzt vom Herzen und sind nicht mehr das Ergebnis eines Zu690
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sammenstoßes eingehender Bewegungen mit Bewegungen des Gehirns. Um 1646, als Hobbes ‚A Minute or First Draught of the Optiques‘ (dt: ‚ Eine Niederschrift oder Erster Entwurf über die Optik‘) schrieb, welche die am häufigsten publizierte aller seiner optischen Abhandlungen war, standen die Hauptlinien seiner Lehre bereits fest. Zusätzlich zu dem Material über das Licht und seine Ausbreitung, die Lichtbrechung und seine Reflexion, sind hier auch Darstellungen über verschiedene Arten des Wahrnehmungsirrtums enthalten. Die Physik, die er als Theorie der Ursachen der Sinneserscheinungen und der Natur der Gegenstände der Sinne versteht, ist teilweise ein Ausläufer der Optik. Sie wird am Ende von ‚De corpore‘ ausgeführt. Unter einem sog. ‚Gegenstand der Sinne‘ versteht Hobbes einen externen Körper, der in der Erfahrung als Träger bestimmter Qualitäten registriert wird, und der den Prozess in Gang setzt, der in einem ‚Akt der Wahrnehmung‘ kulminiert. Der Gegenstand der Sinne ist keine Vorstellung oder ein Sinnesdatum, und auch kein mentales Bild, obwohl solche Dinge das Medium sein können, in dem der Gegenstand der Sinne registriert wird. Der größte der Gegenstände der Sinne ist die Welt selbst, wie sie von irgendeinem Punkte in ihr selbst registriert wird. Aber nur einige wenige intelligible Fragen kann man über die Welt stellen, und diese Fragen können auch nicht abschließend beantwortet werden. Man kann fragen, ob sie eine endliche oder unendliche Größe hat, ob sie voll ist oder leeren Raum enthält, und wie lang sie bereits besteht. Nur die zweite dieser Fragen steht einer wissenschaftlichen Antwort offen, und selbst dann nur einer wahrscheinlichen Lösung, während die anderen von den hierzu rechtmäßig ernannten Kirchenleuten diskutiert werden müssen. Hobbes meint, dass es wahrscheinlich kein Vakuum gibt, dass also die Welt ‚voll‘ ist, dass jedoch einige der Körper, aus denen sie besteht, unsichtbar sind. Dies ist der Äther und „die kleinen Atome, die durch den ganzen Raum zwischen der Erde und den Sternen verstreut sind“. Er schließt sich der kopernikanischen und galileischen Hypothese im 26. Kapitel von ‚De corpore‘ zur Erklärung der Ordnung, der Bewegung und der relativen Position der Planeten an. Er schließt auch auf Erklärungen unter anderem von dem Jahreszeitenwechsel, der Tag-Nacht-Folge und „der monatlich gleichartigen Bewegung des Mondes“. Hobbes schreitet fort mit einer Betrachtung der Körper zwischen der Erde und den Sternen. Der erste dieser Körper ist der vollkommen flüssige Äther, von dem er vorschlägt, ihn als die erste Materie zu betrachten. Er geht davon aus, dass seine Teile nur von denjenigen Körpern Bewegung beziehen, die in ihm fließen, und dass sie von ihrer eigenen Bewegung keine abgeben. Die Körper im Äther stellt er sich so vor, dass sie in gewissem Maße zusammenhängen oder eine Härte aufweisen, und dass sie sich voneinander in der Form und Konsistenz unterscheiden. Jede spezifischere Hypothese über sie behauptete Hobbes nur, wenn es um die Erklärung spezifischer Phänomene geht. Er ist jedoch zu der gewagten Behauptung bereit, dass viele dieser Körper „unaussprechlich klein“ oder winzig seien, denn Gottes unendliche Macht umfasse auch die Macht, die Materie unendlich zu verkleinern. Vermutungen über dazwischen liegende Körper helfen bei der Bildung seiner Theorien der Trugbilder, die den verschiedenen Sinnen eigen seien, und zwar nicht nur mittels des Lichts, sondern auch durch Hitze, Klang und Geruch.
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5. Ethik Nach der Physik, schreibt Hobbes im 6. Kapitel von ‚De corpore‘, „müssten wir uns der Moralphilosophie zuwenden. Dort werden wir die Bewegungen des Geistes betrachten, nämlich die Begierde, die Abneigung, die Liebe, die Nächstenliebe, die Hoffnung, die Angst, den Zorn, das Nacheifern, den Neid und so fort, dahingehend, welche Ursachen sie haben, und von was sie Ursache sind.“ Die Verwendung des Ausdrucks ‚Moralphilosophie‘ für die Lehre von den Bewegungen des Geistes ist unglücklich; anderswo sagt Hobbes, dass die Regeln seiner Naturrechtslehre auf eine Moralphilosophie hinauslaufen. ‚Ethik‘ ist eine weitere Bezeichnung, die er manchmal verwendet, und diese wäre zu bevorzugen. Der Grund dafür, dass die Ethik nach der Physik platziert ist, liegt darin, dass die Bewegungen des Geistes „ihre Ursachen in den Sinnen und der Einbildungskraft haben, die Gegenstände der physikalischen Betrachtung sind.“ Hobbes meint hier, dass, wenn ein Körper etwas in einer sensorischen Repräsentation registriere, d.h. wenn z.B. eine Person etwas sehe, so übermittele das wahrgenommene Ding eine Bewegung bis in die innersten Teile des Wahrnehmungsorgans. Eine der Wirkungen der Bewegung sei es, eine äußere Reaktion zu besorgen, die die visuelle Erfahrung hervorbringt. Es könne aber noch eine weitere Nachwirkung geben. Hobbes sagt im 8. Kapitel der ‚Elements of Law‘, die „Bewegung und Anregung des Gehirns, die wir Begriffsbildung [conception] nennen“, könne „bis zum Herzen fortgesetzt werden und heißt dann Leidenschaft“. Das Herz steuere die „vitale Bewegung“ im Körper, womit der Blutkreislauf gemeint ist. Im Allgemeinen gelte, dass das spürende Geschöpf, wenn die Bewegung, die von einem Akt der Sinne abgeleitet ist, eine vitale Bewegung anstoße, eine Lust am Sehen, Riechen oder Schmecken des jeweiligen Gegenstandes erfahre und geneigt sei, seinen Körper so zu bewegen, dass diese Lust verlängert oder intensiviert wird. Wenn der Gegenstand der Lust entfernt sei, dann wende sich das Geschöpf typischerweise in seine Richtung hin. Eine entsprechend umgekehrte Darstellung erfolgt für die Unlust. Diese sei eine Nachwirkung des Wahrnehmungsaktes, der sich als Hinderung der vitalen Bewegung äußert. Ein Geschöpf, das eine Hinderung der vitalen Bewegung erfahre, werde versuchen, dem entgegenzuarbeiten, typischerweise dadurch, dass es sich vom Gegenstand der Wahrnehmung abwende. Die Abneigung bestehe aus kleinen, inneren Bewegungen, die die Ausweichhandlung einleiten, so wie der Ausdruck ‚Begierde‘ den inneren Anfang eines Annäherungsverhalten bezeichne. Die Verfolgung von Lust und das Vermeiden von Schmerz sind die grundlegenden Antriebe, die Hobbes’ Psychologie anerkennt, und sie bestimmen sein Bewertungssystem der verschiedenen Einzelwesen. Der Einzelne finde gut, was er zu verfolgen gelernt habe, und betrachte als schlecht, was er zu vermeiden gelernt habe. Durch die Entwicklung eines Bewertungssystems entdecke ein Geschöpf nicht die objektive Unterscheidung in der Natur zwischen den guten und den schlechten Dingen. Nichts sei gut oder schlecht unabhängig von seinen Wirkungen auf die Geschöpfe, und die Wirkungen können sich von Geschöpf zu Geschöpf unterscheiden. Bestenfalls seien die Dinge gut oder schlecht für Einzelwesen, nicht aber ‚einfach und absolut‘ gut oder schlecht. Auf dieselbe Art und Weise bestreitet Hobbes, dass es in der Sphäre des Guten und Schlechten ein Ding gibt, das das höchste Gute ist, und dessen Erreichung Glück bedeutet. Stattdessen gebe es viele verschiedene gute Dinge für viele verschiedene Einzelwesen. Im Leben glücklich zu werden hänge 692
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nicht davon ab, dass man eine ganz bestimmte, bevorzugte Sache verfolge, sondern im ständigen Erfolg auf der Suche nach vielen solchen. Hobbes’ Darstellung der Einschränkungen bei der Verfolgung des menschlichen Glücks ist das Verbindungsstück zwischen seiner Theorie der Bewegungen des Geistes und seiner eigentlichen Moral- und politischen Philosophie. Um das Glück zu erlangen müssten die Menschen wissen, welches Gute sie suchen sollen und wie sie es verfolgen können. Wenn es aber keine Wissenschaft vom Guten und Bösen gebe, so werde die Lust ihr Hauptkriterium des Guten sein, und die Unlust das Hauptkriterium des Schlechten. Beide, sowohl der Schmerz, als auch die Lust, seien aber unzuverlässige Führer auf der Suche nach dem Guten und dem Schlechten. Eine Person mag eine Sache bei einer Gelegenheit angenehm finden und sie ‚gut‘ nennen, und später ihre Meinung darüber ändern. Zwei Personen können unterschiedlich auf dieselbe Sache reagieren, so dass sie bei der einen Lust, beim anderen jedoch Schmerz hervorruft, und diese Sache würde daraufhin gleichzeitig ‚gut‘ und ‚nicht gut‘ genannt. Die Lust beeinflusse das Urteil zugunsten des jeweils näheren und intensiveren Guten, so dass man sie selbst um den Preis späterer Unlust suche, und so fort. Ein Teil der Korrektur dieser Verzerrungen bestehe darin, über das Gute an verschiedenen Dingen nicht in Anbetracht dessen zu urteilen, wie sie sich anfühlen, wenn sie genossen oder gemieden werden, sondern im Hinblick auf die Konsequenzen ihres Genusses oder ihrer Vermeidung. Wenn die Kosten der Konsequenzen die gegenwärtigen Vorteile überwiegen, dann könne sich ein angenommenes Gutes nur als ein scheinbares erweisen. Wenn also jemand abgelöst von der Suche nach oder der Vermeidung einer Sache diese für gut oder schlecht befinden könne, dann mag dies wirklich so sein. Wenn dagegen niemand sonst die Attraktion oder das Abstoßende daran sehen könne, mag dies nur eine Illusion sein. Hobbes meint, nur die Wissenschaft könne das Wissen über die Konsequenzen von Handlungen bereitstellen, die notwendig seien, um die Bewertungen zu regulieren, die sich aus Lust und Schmerz ergeben, und er meint, die Wissenschaft komme nicht von selbst auf die Menschen zu. An den Werturteilen von Schiedsrichtern festzuhalten sei auch nicht einfach, denn die Menschen hingen an ihren Bewertungen und verlören nicht gern ihr Gesicht, indem sie sich dem Urteil anderer Menschen unterwerfen. 6. Politik: der Naturzustand Trotz der Inkonsistenz individueller Werturteile über längere Zeiträume und zwischen den Werturteilen verschiedener Leute sogar zum selben Zeitpunkt meint Hobbes, dass es einige Übel gebe, die so groß seien, und die so stark der Suche nach Glück von jedermann widersprechen, dass praktisch niemand wissentlich einen Handlungsverlauf verfolgen würde, der zu einem solchen Bösen führt. Der Krieg sei ein solches Übel, und Hobbes meinte, er könne zeigen, dass, wenn jedermann sich sein eigenes Urteil darüber bilde, was er im Namen des Glücks suche, dies unvermeidlich zum Krieg aller gegen alle führe. Sein Argument für diese Schlussfolgerung ist gleichzeitig ein Argument für die Menschen, sich auch durch ein anderes Urteil als nur ihrem eigenen leiten zu lassen hinsichtlich dessen, was das Beste für sie sei, und zwar durch das Urteil einer bestehenden bürgerlich-sozialen Macht oder Kraft, wenn sie in einem bestehenden Gemeinwesen leben, bzw. dem Urteil einer noch zu ernennenden zivilen Macht, wenn sie außerhalb eines solchen Gemeinwesen leben sollten. 693
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Das Argument der Unvermeidlichkeit des Krieges beginnt mit einer Annahme darüber, was für die Erreichung eines jeden Zieles nützlich sei. Nützlich dafür sei Macht, und zwar unabhängig davon, welches Gut verfolgt würde, und ob dieses Gut wirklich sei oder nur ein Schein, und Macht meint hier die Mittel zur Erreichung künftiger Ziele. Der Ausdruck ‚Macht‘ umfasst bei Hobbes die physischen Fähigkeiten eines individuellen Akteurs genauso wie Freunde, Wohlstand und soziale Anerkennung. Macht sei nicht nur in jeder Form nützlich, sondern es kann nach Hobbes niemals zuviel Macht zur Verfügung eines Agenten in Ansehung der Natur der Dinge geben. Der Grund dafür sei nicht etwa, dass jeder Akteur natürlicherweise einen unstillbaren Hunger nach Macht habe, sondern dass jeder Akteur im Wettbewerb mit anderen Akteuren um andere Güter stehe, und jeder Vorteil, den ein Wettbewerber vorübergehend einem anderen gegenüber erlange, könne grundsätzlich überwunden werden. Der von Natur aus Starke könne durch eine größere Anzahl schwächerer Menschen übertroffen werden, die ihre Kräfte bündeln; der Mensch, der keine Feinde habe, könne durch eine wirksame Rufmordkampagne zum Gegenstand des Hasses werden; der Wohlhabende könne ausgeraubt oder um seine Reichtümer betrogen werden, und so fort. Es sei nicht nur nützlich, immer mehr Macht anzuhäufen, sondern man könne auch den Menschen keinen Vorwurf machen, wenn sie dies tun, wenn alles, was ihre lebendigen Tätigkeiten strukturiere, die Verfolgung der Glückseligkeit sei. Die Glückseligkeit ist nach Hobbes der fortgesetzte Erfolg in den Unternehmungen einer Person, was dies auch sei. Wenn das, was jemand unternehme, die Niederwerfung seiner Mitbewerber sei, wird ihm alles, was ihm hilft dies zu erreichen, ein zulässiges Mittel sein. Oder wenn, was vielleicht wahrscheinlicher sei, es jemand auf einen anderen in irgendeiner Form abgesehen habe, so könne die Niederwerfung der eigenen Mitbewerber häufig dieses Ziel befördern. Sogar der bescheidene Mensch, der nur einen kleinen Anteil am guten Leben für sich verlange, könne Gründe dafür haben, sich auf schmutzige Mittel zu besinnen, wenn er alles zu verlieren meint, sofern er mit seinen Rivalen fair umgeht. Und er könne nicht sicher sein, dass er nicht den Totalverlust riskiere, wenn er fair handelt. Allgemein gesagt erfordere das Ziel der Glückseligkeit, dass man sich um seinen relativen Vorteil bemühe und daran festhalte. Andere um ihre Möglichkeiten zu bringen sei ein Mittel, um seinen Vorteil zu sichern; die direkte Beseitigung von Wettbewerbern sei ein noch sichereres. Weil diese Tatsachen von jedermann entdeckt werden können, sei jeder, der die Glückseligkeit suche, ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko und gebe sogar Anlass zur Sorge um das Überleben. Der Überlebenskampf sei zwar weit von der Glückseligkeit entfernt, aber die Suche nach der Glückseligkeit könne sich, wenn sie durch nichts gebremst würde, schnell in einen Überlebenskampf verwandeln. Oder um es in den Worten von Hobbes zu sagen: Im Naturzustand sind Menschen, die die Glückseligkeit suchen, miteinander im Kriegszustand. Dieser Gedankengang hängt nicht von der Vorstellung ab, dass jeder Mensch von Natur aus selbstsüchtig ist. Es ist wahr, dass Hobbes in ‚De cive‘ ein ungeschminktes Bild des gewöhnlichen menschlichen Verhaltens malt, wobei er die Neigung der Menschen betont, auf ihr eigenes Wohl zu schauen, den Leuten direkt etwas anderes zu sagen als hinter ihrem Rücken, ferner die Tendenz, über seine eigenen Meinungen sehr gut zu denken, diejenigen der anderen jedoch armselig zu finden, und sich wegen Nichtigkeiten zu streiten. Dies alles sei ganz normales menschliches 694
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Verhalten, es sei gleichwohl nicht das Verhalten von absolut jedem Menschen. Es reiche jedoch, dass es so verbreitet ist, meint Hobbes, um die aristotelische Vorstellung zu verwerfen, dass die Menschen von Natur aus zur Gesellschaft befähigt seien. Er behauptet jedoch nicht, dass die Menschen allesamt gleich seien, oder dass ihr Verhalten einheitlich asozial sei. Hobbes erkennt eine Vielzahl von Temperamenten bei den Menschen an, und der von ihm so genannte Naturzustand umfasst die prahlerischen genauso wie die bescheidenen. Der Prahlhans wird sich darum bemühen, anderen etwas wegzunehmen, denn mehr zu haben als die anderen, ist bereits an sich selbst ein Ziel. Die Bescheidenen werden ebenfalls angreifen, weil sie zwar nur wenig wollen, aber Angst haben, dass ihnen der Gierige selbst dies noch nimmt. Auch andere werden miteinander im Streit liegen, weil sie etwas wollen, das man nicht teilen kann. Was auch immer die Ursache sein mag, die allgemeine Wirkung davon wird Unsicherheit sein, und mit der Unsicherheit stellen sich viele unangenehme Dinge ein, nicht nur Angstgefühle, sondern auch der Verlust von Gesellschaft, der Verlust des Erwerbs, von Technologie, von Kunst, ja von allem, das Menschen in die Lage versetzt, über ein Leben des nackten Überlebens und der Wildnis hinauszukommen. Leben im Kriegzustand ist, in Hobbes’ berühmter Wendung, „einsam, arm, hässlich, brutal und kurz“. Gibt es denn nicht so etwas wie eine Tugend, um die Menschen davon abzuhalten, ruhelos nach ihrer Glückseligkeit zu streben? Hobbes meint, dass Verhaltensvorschriften, die moralische Tugenden einschließen – er nennt sie die ‚Gesetze der Natur‘ – sogar im Naturzustand zu finden seien. Die Menschen seien aber moralisch nicht verpflichtet, sich nach ihnen zu richten, wenn sie damit ihr eigenes Leben riskieren. Das grundlegendste Gesetz der Natur sei die Vorsorge für das eigene Überleben, und es gebe ein unveräußerliches „Recht der Natur“ dahingehend, dass jeder selbst darüber befinden könne, wie er sein Überleben und sein Wohlergehen zu sichern habe. Dieses Recht mag im Interesse der Selbsterhaltung aufgestellt werden, aber niemals auf Kosten der Selbsterhaltung. Wenn also einer Anlass habe zu denken, dass man einen Vorteil davon habe, wenn man sich an Vereinbarungen halte, oder wenn man dankbar sei, dass man nicht der Richter in seinen eigenen Streitfällen sein könne, dass man vergeben sollte, und so fort für den Rest aller Tugenden, so sei man doch nicht verpflichtet, sich entsprechend zu verhalten. Jemand sei nicht verpflichtet, sich auf eine Weise zu verhalten, die seine eigene Verwundbarkeit gegenüber den Rücksichtslosen offen lege. Es reiche, dass sich jemand tugendhaft verhalte, solange dies nicht zu gefährlich sei. 7. Politik: das Gemeinwesen Die Hobbessche Antwort auf die Probleme des Lebens im Naturzustand ist eine Übereinkunft der Mehrheit, die darin lebt, die ihnen natürlicherweise zustehenden Rechte auf eine Person zu delegieren, oder auch eine Mehrheit von Personen, die ermächtigt sind, die Vielen gegen körperliche Angriffe und gegen die ernsthaften Verluste im Naturzustand zu schützen. Diese Person oder Personenmehrheit wäre durch eine kollektive Unterwerfung des Willens der Vielen unter den Willen des Einen oder der Wenigen ermächtigt. Die Vielen wären einverstanden, in ihrem Verhalten durch die Gesetze des Souveräns gesteuert zu werden, wenn man verstehe, dass dies ein wirksamerer Weg zur Sicherung ihrer Belange sei als das individuelle Handeln im Naturzustand. Die Vielen leihen ihren Willen dem Souverän als demjenigen, der 695
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das Gesetz potenziell gegen Gesetzesbrecher durchsetzt, und sie stellen sich ihm als eine Verteidigungsarmee gegen fremde Invasion zur Verfügung. Sie leihen ihren Willen, indem sie nur das tun, was durch die Gesetze des Souveräns erlaubt ist, und enthalten sich all dessen, was das Gesetz verbietet. Das drückt wiederum das Urteil des Souveräns hinsichtlich dessen aus, was jemand besitzen solle, was gelehrt werden solle, wie der Handel stattfinden soll, wie Kriege geführt werden sollten, wer bestraft werden sollte und mit welcher Methode, und wer belohnt werden sollte, sowie das Maß der Belohnung. Das Urteil des Souveräns hat nach Hobbes Vorrang, weil es – und dies ist einzigartig im Gemeinwesen – immer noch mit einem Naturrecht einhergeht. Jeder, der dem Souverän unterworfen ist, delegiert hierdurch sein Naturrecht an den Souverän, erhält dafür aber keinerlei Pfand oder Recht seitens des Souveräns. Es sei zwar wahr, dass sich das Gemeinwesen auflöse, d.h. dass die Verpflichtung, das gewährte Recht nicht zurückzufordern, erlösche, wenn der Souverän nicht in der Lage sei, die Vielen gegen lebensbedrohliche Eingriffe zu sichern. Aber abgesehen von der Umkehr in den Naturzustand habe der Staat in Gestalt des Souveräns den Anspruch auf die Gefolgschaft der Vielen. Die Vielen schulden einander, sich gegenseitig zu folgen, weil sie sich untereinander einig seien, die Gesetze im Gegenzug für ihre Sicherheit zu befolgen, wenn auch jeder andere den Gesetzen folgt. Sie schulden dies also auch dem Souverän, zumindest für den Zeitraum, in dem er erfolgreich den Frieden herbeiführt und sichert, weil sie sich freiwillig und öffentlich dem Souverän unterworfen und ihm damit bedeutet haben, dass sie tun werden, was er befiehlt, weil es ihrer eigenen Sicherheit dient. Hobbes Vorstellung, dass das Gesetz des Souveräns auf gerechte Weise jeden Bereich des öffentlichen Lebens zu füllen vermag, hatte eine klare Anwendung auf die Fragen, die während des englischen Bürgerkrieges debattiert wurden. Diejenigen, die beklagten, es sei falsch von Karl I., sich Eigentum anderer anzueignen, Truppen nach eigenem Gutdünken auszuheben, Steuern ohne die Zustimmung des Parlaments zu erheben etc., wurde damit eine Theorie an die Hand gegeben, um diese Handlungen zu legitimieren. Nach dieser Theorie zeigen Einschränkungen der königlichen Macht an, dass der Naturzustand mit seinem Risiko eines offenen Krieges immer noch vorherrsche. Entweder werde die Macht der Regierung aufgeteilt (in welchem Falle der Streit z.B. zwischen dem König und dem Parlament einen weiteren Streit zwischen Einzelnen auf vorpolitischer Ebene hervorrufen würde), oder aber die Macht der Regierung werde nicht aufgeteilt, aber durch die Rechte der Untergebenen eingeschränkt (in welchem Falle das Naturrecht nicht wirklich übertragen wurde und die Menschen folglich immer noch daran gebunden seien, ihrem eigenen Urteil über das, was das Beste für sie sei, zu folgen, statt es dem überlassen, dessen Führung sie zugestimmt hatten, was dasselbe Risiko eines Gemetzels mit sich bringe). Hobbes’ Theorie erlaubt dem Souverän, das öffentliche Leben sehr streng zu regulieren. Seine Nachricht an den Souverän – und es besteht kein Zweifel, dass insbesondere der ‚Leviathan‘ auch dafür gedacht war, vom Staatsoberhaupt gelesen zu werden – war jedoch, dass es nicht weise wäre, das öffentliche Leben sehr streng zu regeln. Dies beginnt damit, dass es Grenzen dessen gibt, was ein Gesetz vermag: der Glaube kann nicht verordnet werden, also ist eine gewisse Toleranz der Gedankenfreiheit unvermeidlich. Man könne von den Menschen eben nicht erwarten, dass sie 696
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ihr Leben riskieren, nur um einem Gesetz zu gehorchen, denn dann wären sie innerhalb des Staates genauso schlecht gestellt wie außerhalb von ihm. So seien also auch Gesetze, die die Menschen in einem derartigen Umfange verarmen lassen, dass sie Hungers sterben, zum Überleben stehlen müssen, falsch erdacht. Ähnliches gelte für den Militärdienst, wenn es wahrscheinlich sei, dass man dort sein Leben verliert, so dass er dem Hobbesschen Sozialvertrag zufolge vernünftigerweise als unakzeptabel anzusehen ist. Sogar eine gesetzliche Ordnung, die die meisten Menschen vor Diebstählen und Überfällen schützt, die aber selbst das gesamte Einkommen über ein elendes Minimum hinaus konfisziert, kann demzufolge als Versagen des Souveräns angesehen werden, dem gerecht zu werden, was viele als Bedingung ihres Eintritts in den Staat angesehen hatten. Die Vielen erwarten Sicherheit, und Sicherheit bedeutet, wie Hobbes im 30. Kapitel des ‚Leviathan‘ sagt, mehr als „reine Erhaltung“; sie meint vielmehr ein kleines bisschen Wohlergehen über das reine Überleben hinaus. Die Argumente der Klugheit gegenüber einer Überregulierung durch den Souverän sind auch Argumente gegen widerrechtliche Praktiken des Souveräns. Hobbes unterscheidet zwischen Rechtswidrigkeit und Ungerechtigkeit. Der Souverän tut seinen Untergebenen kein Unrecht, wenn er sich entscheidet, das gesamte Land in einem bestimmten Bezirk oder alle Häuser in einem Dorf als die seinigen zu beanspruchen. Indem man einen Souverän schaffe, geben seine Untergebenen ihm auch die Macht zu dekretieren, was wem gehört. Gleichwohl könne der Souverän rechtswidrig in dem Sinne handeln, dass er seinen eigenen Begierden und Interessen erlaube, sich über diejenigen aller anderen hinwegzusetzen und sich dadurch aus selbstsüchtigen Gründen zum Eigentümer von mehr Land als alle übrigen Menschen macht. Es gebe auch ein Naturrecht gegen die Rechtswidrigkeit, und folglich auch ein Gesetz, das bestimme, dass der Souverän zumindest versuchen müsse, gerecht zu handeln. Aber die Bemühungen sind eine Sache, das wirkliche Verhalten eine andere. Das Naturrecht sei für das Verhalten des Souveräns nicht bindend, denn er halte dieses Recht in den Händen und habe die Autorität zu sagen, was am besten zu tun sei. Wenn es nach seiner Meinung das Beste sei sich rechtswidrig zu verhalten, dann kann kein anderer freier Akteur, solange er noch einer von seinen Untergebenen ist, ihm für sein Verhalten einen Vorwurf machen. Aber der Umstand, dass seine rechtswidrigen Handlungen ihm in diesem Sinne nicht vorgeworfen werden können, bedeute noch lange nicht, dass sie weise seien. Wenn die Aneignung von fremdem Land die Leute rebellisch mache, und sei es zu Unrecht, dann koste ein solches Verhalten womöglich mehr, als es Vorteile bringe. Dies sei dann die Umkehrung der souveränen Macht, die ja von dem Willen der anderen, ihm zu gehorchen, abhänge. Hinsichtlich der Religionsausübung sei die Beziehung zwischen Kirche und Staat eine der zentralen Fragen des ‚Leviathan‘. Hobbes besteht hier darauf, dass der Souverän zu entscheiden habe, ob die Menschen sich zu Zwecken der Verehrung von jemandem zusammentun dürfen, d.h. ob eine gegebene Kirche rechtmäßig im Gemeinwesen existieren dürfe. Und hier zeigt sich, dass Hobbes der Zulassung einer Mehrheit von Kirchen nicht günstig gesonnen ist: „Weil aber ein Gemeinwesen auch nur eine Person ist, so sollte es sich auch Gott gegenüber in nur einer [einheitlichen] Anbetung ergehen. Dies tut es, wenn es verordnet, dass [diese Anbetung] durch private Menschen öffentlich zur Schau gestellt wird. Und dies ist öffentliche Anbetung. Diese sollte jedoch einheitlich erfolgen. Denn wenn solche Handlungen von unterschiedlichen Menschen auf unter697
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schiedliche Weise vorgenommen werden, dann kann man nicht mehr sagen, dass dies eine öffentliche Anbetung sei. Und deshalb kann man dort, wo viele Arten von Anbetung zugelassen werden, die von verschiedenen Religionen privater Menschen herrühren, nicht mehr von öffentlicher Anbetung sprechen, und nicht einmal mehr davon, dass das Gemeinwesen überhaupt irgendeine Religion hat.“ (Hobbes [1651] III: 354) Er fährt damit fort, dass „es eine ungezählte Menge von Handlungen und Gesten gibt, die indifferenter Natur sind, so dass das Gemeinwesen einige von ihnen als solche anordnen soll, dass sie dem öffentlichen und universellen Gebrauch dienen, und zwar als Zeichen der Ehre und Teile der Anbetung Gottes, und dass sie als solche von den Untergebenen verwendet werden sollen.“ Aus diesen Passagen lässt sich kaum, und nicht einmal stillschweigend, eine Zustimmung für eine pluralistische Form des nationalen religiösen Lebens herauslesen. Im Gegenteil, hier wird streng vorausgesetzt, dass bis zu dem Moment, wo alle Mitglieder des Gemeinwesens ihre Anbetung auf dieselbe Weise vollziehen, es nicht nur zweifelhaft sei, welcher Religion dieses Gemeinwesen anhänge, sondern sogar, ob es überhaupt irgendeiner Religion anhänge. Es ist als denke Hobbes, dass in einem allgemeinen Gemurmel unterschiedlicher religiöser Riten kein klares Zeichen der Ehrenbezeugung seitens des Gemeinwesens gegenüber Gott zu erkennen sei. Um ein klares Zeichen zu geben müsse dasselbe von allen Mitgliedern des Gemeinwesens übermittelt werden. Dies sei die „Rechtfertigung der klaren Mitteilung“ für die Einheitlichkeit, die dafür sorge, dass alle bis auf die bezeichnete Religion Götzendienst seien; damit wird aber genauso eine weitgehend restriktive Form der öffentlichen religiösen Anbetung unterstützt. Wie das 12. Kapitel des ‚Leviathan‘ zeigt, war sich Hobbes bewusst, dass Menschen, die zusammenleben, aber unterschiedlichen Formen der religiösen Anbetung nachgehen, einander gegenseitig ihre Zeremonien ins Lächerliche ziehen oder gering schätzen und damit Konflikte auslösen können. Dies sei ein weiterer Grund dafür, dass die säkulare Autorität die öffentliche religiöse Anbetung regulieren sollte. Dies sei auch ein Grund für die Anbetenden, die religiösen Zeremonien überhaupt ganz aus der Öffentlichkeit zu entfernen und ihre Unterschiede damit im Privaten zu belassen. Hobbes hat keine Probleme mit dieser Art von Privatisierung der religiösen Betätigung, solange sie gründlich durchgeführt wird: sie aus der Öffentlichkeit wegzuschaffen, heißt dies vollständig zu tun. Um der Regulierung vorzubeugen, müsste die Anbetung allerdings nicht nur privatisiert werden (d.h. öffentlich nur von einer privaten Person durchgeführt werden), sondern von einer Privatperson auch geheim praktiziert werden. Wie Hobbes im 13. Kapitel des ‚Leviathan‘ sagt, ist die private Anbetung, „wenn geheim, dann frei. Aber im Hinblick auf die Menge ist sie nie ganz ohne Schranken, entweder durch das Gesetz, oder durch die Meinungen der Menschen, was gegen die Natur der Freiheit ist.“ Nicht nur Handlungen, die von religiösen Riten verlangt werden, können geheim durchgeführt werden, wenn sie den Frieden zu stören drohen. Die Handlungsfreiheit in Angelegenheiten, die nichts mit der Religion zu tun haben, kann auch reguliert werden, wie das 31. Kapitel des ‚Leviathan‘ klar macht. Wohl ist es egal, ob Gebete auf Lateinisch oder in der Landessprache aufgesagt werden, und es ist auch egal, ob diese Dienste durch verheiratete oder zölibatäre Männer geleistet werden. Bekanntlich sind dies aber Dinge, die die Menschen mit Misstrauen beobachten oder 698
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auf ihnen beharren, und über die es zu Auseinandersetzungen kommen kann. Aus diesem Grunde, wenn nicht noch aus weiteren, gibt es Gründe für den Souverän zu bestimmen, welche Sprache verwendet werden soll, und wer dem Dienst vorstehen soll. Was vor einer Menge geschieht und unter religiöser Kontrolle steht, ist eine Sache; was außer Sicht ist und unkontrollierbar, eine andere: „Innerer Glaube ist von Natur aus unsichtbar, und folglich von aller menschlichen Rechtsprechung ausgenommen“, sagt Hobbes im 42. Kapitel des ‚Leviathan‘. Die menschliche Rechtsprechung sei nicht etwa nur säkulare Rechtsprechung, sondern auch jene einer Körperschaft, die durch die Kirche mit der Untersuchung der Gläubigen beauftragt ist. Im Allgemeinen sei der Glaube nicht dem Willen unterworfen, sagt er in ‚De Politicio Corpore‘, einem Raubdruck des zweiten Teils der ‚Elements of Law‘ (1839 IV: 339). Und obwohl die Erlösung davon abhänge, dass man gewisse Dinge glaube und andere nicht, sei es doch schwer sich sicher zu sein, welche Dinge über ein unstrittiges Minimum hinaus geglaubt werden sollen. Wegen aller dieser Gründe ist Hobbes gegen die Vorschreibung eines religiösen Glaubens, und auch gegen die Bevorzugung irgendeines Glaubensbekenntnisses. Im Zusammenhang mit einer solchen Vorschreibung des Glaubens statt einer religiösen Praxis gerät seine Sichtweise in die Nähe der Independents, die im England des 17. Jahrhunderts eine relativ lockere und tolerante Organisation des religiösen Lebens favorisierten, und insbesondere ein solches Leben außerhalb der einheitlichen Englischen Staatskirche (Church of England). Denn wenn er sich im 47. Kapitel des ‚Leviathan‘ auf die Seite der Independents in der sog. Primitive Church stellt, so ist es Sache eines jeden Einzelnen zu entscheiden, welcher Predigt er folgt, nicht dagegen, dass viele unterschiedliche Religionen öffentlich praktiziert werden (1651 III: 695). Und angesichts einer Vielzahl religiöser Überzeugungen zeigt Hobbes weniger Toleranz, als vielmehr eine Leugnung der Wichtigkeit für die zivile Ordnung, was unterhalb der Schwelle sichtbarer Handlungen vor sich geht. 8. Probleme mit Hobbes’ politischer Theorie Zwecks Legitimierung der Macht des Souveräns lädt Hobbes seine Leser ein, sich den Souverän und die Staaten als eine Schöpfung freier, eigeninteressierter Menschen vorzustellen. Die Bedingung der Unterwerfung unter einen Souverän, selbst wenn sie ursprünglich nicht durch einen Vertrag zustande komme, könne dennoch frei von jedem Einzelnen befürwortet werden, denn es gebe ein gutes Argument des Eigeninteresses an dieser Bedingung. Dieses Argument sagt, dass die Alternative zur Unterwerfung das gefährliche Chaos sei, das unendlich viel schlimmer sei als die zudringliche, aber beschützende zivile Macht. Dieses Argument richtet sich gegen Menschen, die bereits Untergebene sind; ist es aber auch wirksam, wenn man es gegenüber Menschen vorbringt, die im Naturzustand sind? Die Frage lässt sich noch zuspitzen, wenn man betont, dass der Prozess des Eintauschens des Naturzustandes gegen das Gemeinwesen mit sich bringt, dass jeder daran Beteiligte jetzt etwas geben muss, damit er später etwas bekommt. Jedermann wird einverstanden sein, seine natürlichen Rechte weiterzugeben, wenn alle anderen um des Friedens dasselbe tun. Aber selbst wenn man zugibt, dass der Friedenszustand für den Einzelnen besser ist als der Kriegszustand, ist es dann nicht immer noch besser, wenn alle anderen sich ihrer natürlichen Rechte entäußern, man seine eigenen aber zurückhält? Ist es nicht 699
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besser darauf zu dringen, dass alle ihre Rechte abtreten und dann sich einfach des Vorteils daraus zu bedienen, ohne es selbst zu tun? Wenn die Antwort hierauf ‚Ja‘ lautet: Wie kann dann aus der Sicht des Eigeninteresses das beste Ergebnis jenes sein, wo jedermann seine natürlichen Rechte aufgibt? Diese Frage wird in einer berühmten Passage im 15. Kapitel des ‚Leviathan‘ aufgegriffen, wo Hobbes dem Narren antwortet, der behauptet, dass es so etwas wie Gerechtigkeit nicht gebe. Kommentatoren haben diese Frage mit dem sog. ‚Gefangenendilemma‘ verglichen, wo beispielsweise das Ergebnis, dass das Beste für jeden von zwei Gefangenen wäre, darin besteht, dass der jeweils andere gesteht und damit allein die Strafe für ein Verbrechen auf sich nimmt, wo es sich aber für jeden als vernünftig erweist, selbst zu gestehen und damit eine Strafe zu empfangen, die weniger streng als die Höchststrafe ist. Die Frage ist, wie dieses ‚geringere‘ Ergebnis das bessere sein kann. Im Falle der opportunistischen Nichterfüllung von Vereinbarungen, der von Hobbes diskutiert wird, ist die Antwort, dass im Einhalten der Vereinbarung mehr Sicherheit liegt als im Nichterfüllen der Vereinbarung. Jemand, der sich des Vorteils dessen bedient, dass ein anderer sich seiner natürlichen Rechte begibt, kann dies nur einmal tun und damit rechnen, dass er davon kommt. Und der vorübergehende Vorteil, den man dadurch gewinnt, mag andererseits nicht aufwiegen, was man dadurch verliert, dass man all jenen gegenübersteht, deren Vertrauen bedroht oder betrogen wurde. Ein weiteres Problem der Hobbesschen Theorie ergibt sich aus der angenommenen moralischen Dringlichkeit, mit der jedermann sich seiner natürlichen Rechte begeben soll. Hobbes meint, dass die größte Gefahr für die Stabilität des Staates im Bestehen von zuviel Ermessenspielraum für das private Urteil bestehe. Je mehr eine Person berechtigt sei, selbst in Sachen Wohlergehen nachzudenken, umso schlimmer werde es für alle. Diese Implikation wird in Hobbes’ Theorie von einem angeblich wissenschaftlichen Verständnis der Vielzahl der Leidenschaften unterstützt, und davon, dass diese Leidenschaften das Urteilsvermögen im Menschen überwältigen. Indem sie ihre Urteilsfähigkeit auf jemanden übertragen, der nicht von den individuellen Leidenschaften der zu regierenden Menschen betroffen ist, bekämen die Menschen tatsächlich Zugang zu einem wirksameren (weil leidenschaftsloseren) Mittel zur Eigensicherung, als durch ihr eigenes Urteil. Aber durch dieselbe Denkfigur verzichten sie allerdings auf jeglichen intellektuellen Beitrag zum öffentlichen Leben. Sie funktionieren in dem Staat gar nicht mehr als Bürger im vollen Sinne des Wortes, sondern nur noch als Unterworfene: das politische Leben der Vielen besteht nur noch aus Unterwerfung unter das Gesetz. Die Menschen befördern das öffentliche Gute mehr durch ihre Passivität, als durch Anwendung ihrer Urteilskräfte. Dies mag in Zeiten überzeugend gewesen sein, als das biblische Exempel von Adam und Eva noch weitgehend so verstanden wurde, dass es die Gefahren des privaten Urteils über Gut und Böse illustriert. Für das gegenwärtige Empfinden grenzt eine solche Auffassung an Paranoia. Tatsächlich ist Hobbes Anliegen eigentlich nicht, dass man dem Urteil von Menschen über ihr Wohlergehen nie trauen kann, sondern vielmehr, dass ihr vorwissenschaftliches Urteil nicht vertrauenswürdig ist. Vorwissenschaftlich sind die Menschen von ihren Gefühlen der Lust und der Unlust getrieben, wenn sie etwas ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ nennen. Nur wenige haben entweder die Mittel oder sind in den Umständen, um sich besser zu verhalten. Es gibt aber eine bessere Konzeption, die man sich merken sollte: Hobbes weist darauf hin, dass dieses Modell 700
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darin besteht, dass man zeigt, wie die wirklichen guten im Gegensatz zu den nur angenehmen Dingen den Frieden oder die Selbsterhaltung befördern, während die wirklich schlechten Dinge – im Gegensatz zu den nur unangenehmen – in den Krieg und damit in die Selbstzerstörung führen. Hobbes’ moralische und politische Philosophie beeindruckt manchen, weil sie die Gründe rekonstruiert, dies es geben könnte, damit wir tun, was die Moral uns als Gründe für das Eigeninteresse lehrt. Einige dieser Gründe werden manchmal als zwingendere Antwort auf die Frage ‚Warum sollen wir uns moralisch verhalten?‘ empfunden als solche, die die moralische Motivation mit der Anerkennung transzendenter Formen oder dem rational Unwiderlegbaren verbinden, oder gar mit der Kategorie dessen, was bei Nichtwissen von beeinflussenden Überlegungen akzeptabel ist. Philosophen, die sich in unserer Zeit selbst Hobbesianer nennen, berufen sich manchmal auf diese Kraft der Einflussnahme moralischer Motivation auf nichtutopische und nicht-metaphyische Typen des Argumentierens als dem Hauptbeitrag von Hobbes zur Moralphilosophie. Für diese Philosophen, insbesondere für David Gauthier, nahm Hobbes eine Art von Skeptizismus gegenüber den Ansprüchen der Moralphilosophie vorweg und fand dadurch rational unausweichliche und unabweisbare Gründe dafür, genau das zu tun, was die Moral uns zu tun aufgibt. Die Moralphilosophie kann uns nach dieser Interpretation höchstens zeigen, dass viele der Dinge, die die Moralphilosophie von uns verlangt, tatsächlich in unserem eigenen Interesse sind, wenn wir uns um uns selbst kümmern, oder zumindest mehr um uns selbst als um andere (siehe Moralische Motivation). 9. Der wissenschaftliche Status der Hobbesschen Ethik und politischen Theorie Die Hauptgedanken der Hobbesschen politischen Philosophie schließen auch die Vorstellung ein, dass das Gemeinwesen eine Lösung für die immerwährende Kriegsdrohung in der leidenschaftlichen Verfassung des Menschen sei, und dass das Gemeinwohl durch die Weitergabe des natürlichen Rechts an einen Souverän mit unbeschränkter Macht entstehe. Dies fasst eine Theorie zusammen, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet wurde, und die Hobbes immer als etwas betrachtete, was zur wissenschaftlichen Behandlung der Moral und der Politik führen würde. Was aber macht diese Theorie zu einer wissenschaftlichen? Eine Reihe von Antworten wird durch Hobbes’ Schriften unterstützt. Der wissenschaftliche Status der Politik lässt sich, so heißt es manchmal, auf seine Ableitung von der Hobbesschen Naturwissenschaft zurückführen. Hobbes Verwendung einer Methode in der Staatsphilosophie, die auf natürliche Personen und Körperschaften gleichermaßen anwendbar ist, wird teilweise als entscheidend für den wissenschaftlichen Status dieser Wissenschaft angesehen. Diese Antworten passen zu einigen Texten, zu anderen aber wieder nicht. Obwohl Hobbes meinte, dass es einen Weg gäbe, wie man die Prinzipien der Moral und der Politik ganz von Anfang an aus der Funktionsweise der Sinne und der Vorstellungskraft ableiten könne (die er als Physik abhandelte), bestritt er aber erstens konsistent, dass die Staatswissenschaft über die Physik erforscht werden müsse. Im 6. Kapitel von ‚De corpore‘ sagt er, dass Menschen, die von der Physik gar nichts verstünden, die aber über einen introspektiven Zugang zur ihren eigenen leidenschaftlichen Zuständen verfügen, in sich selbst einen Beweis für die Wahrheit der Theorie des menschlichen Wesens in der Staatswissenschaft sehen können. Ähnliches sagt er in der Einführung zum ‚Leviathan‘. Von derselben 701
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Art ist auch die Erklärung dafür, dass er in der Lage war, ‚De cive‘ zu veröffentlichen, den dritten Band seine Trilogie, ohne zuvor die Prinzipien derjenigen Teile der Philosophie dargelegt zu haben, die der Politik vorausgehen. Hobbes sagte, dass dies möglich sei, weil die Staatsphilosophie von eigenen Prinzipien abhänge. Alle diese Bemerkungen werden von einem Glauben an die Autonomie der Staatswissenschaft zusammengehalten, der auch durch seine Aussage nicht ernsthaft infrage gestellt wird, die beiden grundlegenden Teile der Staatsphilosophie würden sich in der Anwendung einer bestimmten Methode ähneln, die gleichermaßen auf die Untersuchung von Körperschaften oder Staatskörpern auf der einen Seite, und von natürlichen Körpern (d.h. auf Einzelgegenstände, einschließlich einzelner Personen) auf der anderen Seite, anwendbar sind. Wenn Hobbes sagt, dass jeder Teil seiner Philosophie mit Körpern zu tun habe, so will er damit klar machen, dass die beiden Arten von Körpern sich „sehr voneinander unterscheiden. Und es gibt keinen Beweis bei ihm, dass der Ausdruck ‚Körper“ (engl.: body), wenn er in dem zusammengesetzten Ausdruck ‚Körperschaft‘ bzw. ‚Staatskörper‘ (engl.: body politics) verwendet wird, so etwas wie „Raum einnehmendes Ding ohne Geist“ bedeuten soll. Mit anderen Worten, es gibt keinen Beleg dafür, dass die Körperschaft bzw. der Staatskörper bei ihm in irgendeinem Sinne mehr als nur metaphorisch auf den Körper im allgemeinen Sinne Bezug nehmen. Schließlich ist auch nicht klar, dass Hobbes meinte, der wissenschaftliche Status seiner politischen Lehre würde durch eine Analogie zwischen Körperschaften bzw. Staatskörpern und natürlichen Körpern glaubwürdiger. Er dachte nicht etwa, dass die natürlichen Körper wissenschaftlich gut verstanden würden, und dass die Körperschaften bzw. der Staatskörper prinzipiell genauso gut verstanden würden, wenn man die Methoden der Physik auf sie anwendete. Im Gegenteil, Hobbes meinte immer, dass die Eigenschaften der menschlichen Artefakte wie z.B. Körperschaften wesentlich besser zu verstehen seien als die Eigenschaften der natürlichen Körper, die von Gottes unerforschlichem Willen gelenkt seien. Es wäre jedoch ein Fehler zu denken, dass die Staatswissenschaft für Hobbes vor allem eine Übung in der Erforschung der Eigenschaften von Körpern ist. Sie ist zwar eine Übung bei der Bildung unserer Urteile darüber, was wir tun sollten, jedoch aufbauend auf einer Basis, die wesentlich solider als Lust und Schmerz ist. Das Gute und das Schlechte wurden von ihm daraufhin untersucht, inwieweit sie der Selbsterhaltung oder dem Frieden dienen bzw. diese stören, und nicht etwa, wie man sich fühlt, wenn man dies oder jenes bekommt. Der Kern von Hobbes’ Staatswissenschaft ist der Versuch, die Moralvorschriften neu zu begründen, und zwar als Instrumente des Friedens, und dabei zu zeigen, wie die Bestandteile des Krieges in jedem Vorhaben zur Erreichung des Glücks enthalten sind. Der wissenschaftliche Status der Lehre vom Gesetz der Natur – wobei hier die Gründe für den Anspruch liegen, dass sie Moralphilosophie heißt – liegt in ihrer Entsprechung mit den Mustern eines deduktiven Systems, das auf zwei fundamentalen Naturgesetzen beruhte, und der Rest abgeleitet wird. Ähnlich verfährt er mit der Deduktion der Rechte des Souveräns vom Friedensziel. Der wissenschaftliche Status des Arguments der Unvermeidlichkeit des Krieges besteht darin, dass es von Prinzipien über die Leidenschaften abstammt. Aber diese Prinzipien sind keineswegs Eigenschaften im Sinne der Physik oder der Physiker. Sie sind der Person, Hobbes zufolge, vielmehr im Wege eines introspektiven Selbstwissens zugänglich. 702
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Der deduktive Charakter der wissenschaftlichen Demonstration, so behauptet Hobbes oft, vertrage sich nicht mit ihrer Ganzheitlichkeit und ihrer Überzeugungskraft. Aber als er den ‚Leviathan‘ schrieb, dachte Hobbes, dass er es abschließend geschafft habe, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. In der dritten und letzten Fassung seiner politischen Philosophie verband er schließlich die Überredungskunst und das wissenschaftliche Verstehen auf eine ihn befriedigende Weise. Die Kritik und Schlussfolgerung aus dem ‚Leviathan‘ kommt ungefähr zu diesem Schluss. Die Kommentatoren versuchten, Hobbes’ Versuche zwischen 1640 und 1651 der Herstellung einer Balance zwischen der Vernunft und der Rhetorik in seiner Politikwissenschaft nachzuzeichnen, und dabei bleibt eine Frage ungelöst, ob er dies auf die eine Weise vor dem Erscheinen des ‚Leviathan‘ schaffte, oder ob er es auf eine andere Weise im ‚Leviathan‘ selbst zustande brachte. Einer kürzlich erschienenen Interpretation zufolge, die auf Quentin Skinner zurückgeht, konstruierte Hobbes seine Staatswissenschaft mit speziellem Bewusstsein für zwei humanistische Annahmen, dass es nämlich immer zwei Seiten für jede Frage gebe, und dass Argumente betreffend deren Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit niemals mehr als wahrscheinlich seien. In Verbindung mit dem Glauben an die jeweils zwei Seiten einer jeden Frage war sich Hobbes auch der Gefahren der sog. paradiastole bewusst, einer rhetorischen Figur, durch die Handlungen einer offenkundig bösartigen Person umgedeutet werden als Beispiele einer benachbarten Tugend, und Handlungen eines edlen Charakters eher ungeschminkt. Zunächst geht Hobbes in den ‚Elements of Law‘ und ‚De cive‘ gegen den Humanismus vor, indem er vorbringt, dass ‚Wissenschaft‘ im bevorzugten Sinne des Wortes bestimmte Schlussfolgerungen jenseits aller Diskussion stellt. Fragen innerhalb des wissenschaftlichen Horizontes würden dadurch keine zwei Seiten haben. Fragen betreffend die Gerechtigkeit liegen jedoch innerhalb des wissenschaftlichen Horizontes. Sowohl nach den ‚Elements of Law‘, als auch nach ‚De cive‘ könnten sie durch syllogistisches Schlussfolgern ausgehend von der Definition der Gerechtigkeit gelöst werden, wobei diese aus den Verpflichtungen folge, die jemand eingegangen sei, und speziell aus der Verpflichtung, dass jemand sich den Gesetzen des Souveräns oder seinen Befehlen fügen wolle. Fragen darüber, ob Handlungen der Ausdruck noch bestimmter weiterer Tugenden seien, könnten auch abschließend entschieden werden, indem man ermittele, ob diese Handlungen zum Frieden oder zur Erhaltung der zivilen Ordnung beitragen. Denn alle Tugenden seien Mittel zur Herstellung oder Erhaltung des Friedens, d.h. der Erhaltung der Vereinbarung oder Verpflichtung, auf der das Gemeinwesen vor allem aufbaue. Mit der Wissenschaft der Tugenden – einer Wissenschaft, die Verhaltensvorschriften entsprechend den Tugenden ableitet, die dem alles überragenden Erfordernis der Friedenssuche entsprechen – verfügte Hobbes über eine Grundlage um zu zeigen, welche Verwendungen der Paradiastole zu falschen moralischen Bewertungen führen. So viel zur frühen Antwort auf die Paradiastole. Die spätere Antwort hebt sich durch neue Hintergrundannahmen über die menschliche Fähigkeit zur Vernunft ab. Das 5. Kapitel des ‚Leviathan‘ betont, dass Menschen nicht mit der Fähigkeit zum vernünftigen Denken in der Weise geboren würden, dass hieraus Wissenschaft entstehe. Noch sei es wahrscheinlich, diese Fähigkeit leicht zu erwerben oder sie bei anderen zu erkennen. Der durchschnittliche menschliche Zuhörer könne nicht als jemand gelten, der für eine Art von Argumentation zugänglich sei, wie sie in den 703
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‚Elements of Law‘ und ‚De cive‘ empfohlen wird. Diese strenge nicht nur die Aufmerksamkeit an, sondern wenn man ihr folge, erzwinge sie nicht notwendig die entsprechende Überzeugung. Die Menschen müssten gewillt sein, der Nachricht zu folgen, und dazu seien sie nicht bereit, sofern es gegen ihre Interessen gehe oder auch nur dagegen zu gehen scheine. Eloquenz oder Rhetorik sei notwendig um die Aufmerksamkeit einzufangen, sie zu halten und den Widerstand am Interesse für die Schlussfolgerung zu überwinden. – Hobbes scheint nicht nur einige seiner früheren Kritiken an der Rhetorik fallen gelassen zu haben, als er den ‚Leviathan‘ schrieb, sondern scheint sogar wirklich die Techniken von Cicero und Quintillian in seinen Werken nach 1650 angewandt zu haben. Hobbes änderte wahrscheinlich in der Tat seine Meinung über die Verwendung rhetorischer Techniken, aber sein Eingehen auf die Paradiastole ist für seine Staatswissenschaft nicht so wichtig, wie dies die Kommentatoren, die hier betrachtet wurden, meinen, und man erkennt bei Hobbes eher eine Trennung zwischen der Aufgabenstellung einer Moralwissenschaft und dem Vorbringen schlüssig erscheinender moralischer und politischer Argumente für Nicht-Philosophen. Wendet man sich zunächst der Paradiastole zu, so beachte man die Passage des 15. Kapitels des ‚Leviathan‘, die nach der von uns herangezogenen Kommentarliteratur zentral für das Verständnis des Kerns von Hobbes’ Moralwissenschaft ist: „Das Gute und das Böse sind Namen, die unsere Begierden und Abneigungen bezeichnen, und die in unterschiedlichen Stimmungen, Gewohnheiten und Lehren der Menschen unterschiedlich ausfallen. Und verschiedene Menschen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Sinnesurteil darüber, was angenehm und was unangenehm für den Geschmack, den Geruch, das Gehör, den Tastsinn und das Sehen ist, sondern auch darin, ob diese vernünftigerweise mit den Handlungen des täglichen Lebens vereinbar oder unvereinbar sind. Ja, ein und derselbe Mensch unterscheidet sich zu verschiedenen Zeiten sogar von sich selbst. Das eine Mal preist er und nennt etwas gut, was er zu anderer Zeit tadelt und böse nennt.“ Entscheidend ist hier die Idee, dass bewertende Ausdrücke im Munde eines jeden Menschen Begierde oder Abneigung bedeuten, d.h. psychologische Neigungen zur Verfolgung oder Vermeidung von Dingen, und dass diese Begierden und Abneigungen von Person zu Person variieren können. Daraus folgt: Bewertende Ausdrücke können in ihrer Bedeutung variieren, abhängig von demjenigen, der sie ausspricht, und in welchen Umständen diese Person lebt bzw. welche Geschichte sie hat. Obwohl ein gegebenes Muster von Begierden und Abneigungen bei einer Person nicht notwendig einmalig sein muss – die Menschen können in ihren Begierden und Abneigungen übereinstimmen, wenn ihre Verfassungen und Erfahrungen einander ähneln – und die Dinge, die natürlicherweise diese Muster der Begierden und Abneigungen determinieren, nicht immer konstant sind, muss es deshalb, wenn die Bewertungen von den Begierden und Abneigungen diktiert werden, auch keine feste Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen geben, und auch keine feste Unterscheidung zwischen dem Urteil der Menschen, was sie tun und was sie lassen sollten. Damit ist es also, Hobbes zufolge, schieres Glück, wenn die Menschen über das Gute und das Böse nicht uneins sind, oder dass ihre Meinungen darüber nicht dermaßen stark auseinander gehen, dass es zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt. Mit anderen Worten, es lauert ständig der Krieg in den Umständen, wie sich die individuellen Begierden und Abneigungen bilden. 704
Hölle
Obwohl nun die erneute Beschreibung der bösen Handlungen als tugendhafte und die tugendhaften Handlungen als böse zweifelsohne eine Quelle stetiger Unbeständigkeit und möglicher Streitigkeiten ist, was zum Krieg führen kann, ist dies doch nur ein Fakt unter anderen. Deshalb fragt sich, ob irgendeine sprachliche Vorkehrung, abgesehen von so spezifischen wie den paradiastolischen Umdeutungen, hier eine zentrale Bedeutung haben kann. Warum sorgt sich Hobbes in seiner Moralwissenschaft um die sprachlichen, psychologischen oder physischen Ursachen der Unbeständigkeit in den Werturteilen nicht wie um alle anderen Umstände? Und warum ist nicht die Mehrdeutigkeit von Ausdrücken das politisch gefährliche Phänomen par excellence, anstelle der paradiastolischen Umdeutung? Diese Einschätzung passt sicherlich zu Hobbes’ eigener Identifikation des Hauptmangels der Moralphilosophie nach 1650 vor der Entwicklung seiner eigenen, dass sie nämlich den Menschen vorschrieb, das Richtige zu tun, ohne eine „gewisse Regel und ein entsprechendes Maß des Richtigen“ aufzustellen (‚De corpore‘, 1. Kapitel, vii). Sie passt sicherlich zu seinen wiederholten Hinweisen auf die Verwendung des privaten Urteils einer jeden Person als dem Maß für das Rrichtige und das Falsche. Siehe auch: Gerechtigkeit; Materialismus; Menschliche Natur; Moralische Motivation; Staat, der; Vertragstheorie Anmerkungen und weitere Lektüre: Hobbes, T. (1651): ‚Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates.‘ Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004 (Hobbes’ Meisterwerk). Malcolm, N. (2002): ‚Aspects of Hobbes‘, Oxford: Clarendon Press. (Maßgebliche Texte zu Hobbes’ Denken, sowie ausgewählte zeitgenössische Kommentare und Texte zum allgemeinen intellektuellen Kontext.) Sorell, T. (1986): ‚Hobbes‘. London: Routledge. (Eine Studie von Hobbes’ Metaphysik und Politik vor dem Hintergrund seiner Wissenschaftsphilosophie.) TOM SORELL
Hölle
Die antike Idee, dass der Tote zu einem dunklen, unterirdischen Ort geht, entwickelte sich schrittweise zu der Vorstellung der göttlich verfügten, postmortal gesonderten Schicksale für die Gottlosen und die Gerechten. Erstere datiert bereits aus Zeiträumen vor den Psalmen, während die letztere Version in apokalyptischen Werken auftaucht, und zwar sowohl den kanonischen, als auch deutero- oder nichtkanonischen Werken, und sie wird von zahlreichen Passagen des Neuen Testaments vorausgesetzt. Durch die patristische und mittelalterliche Epoche brachte es die Lehre Schritt für Schritt zu einer kirchlichen Definition, die ewige Qualen (sowohl geistiger, als auch physischer Natur) an einem dafür bestimmten Ort für diejenigen bestimmte, die im Zustande der Todsünde sterben. Die meisten Reformer gestanden dieser Lehre biblische Autorität zu. Philosophisch wirft die Vorstellung des postmortalen Weiterlebens viele Fragen in der Philosophie des Geistes über die persönliche Identität auf. Die jüngste Diskussion hat sich allerdings auf das Problem des Bösen konzentriert, das zu dieser Lehre den Anlass gab. Siehe auch: Bösen, Problem des; Fegefeuer; Himmel; Prädestination; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der; Vorhölle MARILYN MCCORD ADAMS
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Hohfeld, Wesley Newcomb (1879–1918)
Hohfeld, Wesley Newcomb (1879–1918)
Von W. N. Hohfeld, einem US-amerikanischen Professor der Rechtswissenschaft und Verfechter der analytischen Rechtswissenschaft, stammt eine der einflussreichsten Analysen des Begriffs des Rechts in der Rechts- und Moralwissenschaft. Er meinte, alle komplexen rechtlichen Beziehungen in einige wenige, einfache und elementare Beziehungen auflösen zu können, die irrtümlicherweise oft als ‚Rechte‘ bezeichnet werden. Siehe auch: Rechtsphilosophie; Rechte NEIL MACCORMICK
Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Methodische Individualisten wie z.B. Mill, Weber, Schumpeter, Popper, Hayek und Elster meinen, dass alle sozialen Tatsachen vollständig und erschöpfend als die Handlungen, Überzeugungen und Wünsche von Individuen erklärbar seien. Auf der anderen Seite neigen methodische Holisten wie z.B. Durkheim und Marx in ihren Erklärungen zu einer Umgehung individueller Handlungen. Im Rahmen dieser Debatte gibt es bessere Argumente für die Auffassung, dass Erklärungen sozialer Phänomene ohne die Überzeugungen und Wünsche von einzelnen Akteuren mangelhaft sind. Wenn dies richtig ist, haben die Individualisten einen markanten Vorteil gegenüber ihren Gegnern. Tatsächlich besteht zwischen Philosophen und Sozialwissenschaftlern Einigkeit darüber, dass der Holismus unplausibel oder falsch ist, und dass der Individualismus, wenn er sorgfältig formuliert wird, trivial wahr ist. Die Holisten stellen diesen Konsens in Frage, indem sie zunächst einwenden, dass verzerrte Formulierungen des Holismus, bei denen individuelle Handlungen ignoriert werden, außer Acht gelassen werden müssen. Dann bitten sie uns, das Wesen der menschlichen Handlung nochmals zu überprüfen. Handeln sei von reinem Verhalten durch seinen intentionalen Charakter zu unterscheiden. Soweit sind sich Individualisten und Holisten einig. Aber gegen die Behauptung der Individualisten, dass Intentionen nur als psychologische Zustände in den Köpfen einzelner Menschen existieren, argumentieren die Holisten, dass sie genauso gut in irreduzible soziale Praktiken eingebettet seien, und dass die Identifikation einer jeglichen Intention ohne eine Prüfung des sozialen Kontextes, innerhalb dessen die Akteure denken und handeln, unmöglich sei. Die Holisten bestreiten nicht die Notwendigkeit der Enträtselung individueller Motive, wenden aber ein, dass diese Motive nicht individuiert werden können ohne die Berufung auf weiter gefasste Überzeugungen und Praktiken einer Gemeinschaft. Beispielsweise könne die Zustimmung von unterdrückten Arbeitern nicht nur die Form einer totalen Unterwerfung annehmen, sondern auch einer subtilen Verhandlung, die für sie aber immer zu suboptimalen Vorteilen führt. Eine Unsensibilität für den sozialen Kontext könne uns solchen Dingen gegenüber blind sein lassen. Ferner sei es keine Frage der individuellen Überzeugungen und Vorlieben, wenn jemand diese Strategie ergreife. Ob Entscheidungen mittels subtiler Verhandlungsstrategien statt mittels ausdrücklicher Verpflichtung, Gewaltanwendung oder unter Einsatz hoher moralischer Prinzipien zustande kommen, sei eine Frage der sozialen Praxis, die nicht auf die bewusste Handlung von Individuen reduziert werden könne. Wenn diese holistische Position wahr ist, dann folgen daraus zwei Dinge. Erstens, dass ein Verweis auf eine soziale Entität unvermeidlich ist, selbst wenn soziale
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Holismus, Mentaler bzw. semantischer
Tatsachen als individuelle Handlungen erklärt werden, und zwar wegen des notwendigen Vorhandenseins sozialer Bestandteile in allen individuellen Intentionen und Handlungen. Zweitens ist ein Verweis auf individuelle Handlungen nicht einmal notwendig, wenn soziale Tatsachen als soziale Praktiken erklärt oder verstanden werden. Daher ist die individualistische Sichtweise, dass die Erklärung in den Sozialwissenschaften sich vollkommen und erschöpfend auf individuelle Entitäten stützen muss, heiß umkämpft und keineswegs so unstrittig oder trivial, wie dies den Anschein haben mag. Siehe auch: Intention; Methodischer Individualismus RAJEEV BHARGAVA
Holismus, Mentaler bzw. semantischer
Der mentale (oder semantische) Holismus ist die Lehre, dass die Identität eines Überzeugungsinhalts (oder die Bedeutung eines Satzes, der ihn ausdrückt) durch seinen Platz im Netz der Überzeugungen oder Sätze bestimmt ist, die eine ganze Theorie oder eine Theoriegruppe umfassen. Er kann zwei anderen Auffassungen gegenüber gestellt werden: dem Atomismus und dem Molekularismus. Der Molekularismus charakterisiert die Bedeutung und den Inhalt von Überzeugungen als eine Zusammensetzung relativ kleiner Teile des Netzes auf eine Weise, dass viele verschiedene Theorien diese Teile gemeinsam nutzen können. Beispielsweise könnte die Bedeutung des Wortes ‚Jagd‘ durch einen Molekularisten als ‚zu fangen versuchen‘ beschrieben werden. Der Atomismus charakterisiert die Bedeutung und den Inhalt nach Maßgabe von gar nichts aus diesem Netz. Er sagt vielmehr, dass Sätze und Überzeugungen unabhängig von ihren Beziehungen zu anderen Sätzen oder Überzeugungen eine Bedeutung oder einen Inhalt haben. Eine größere Unterstützung für den Holismus ergab sich aus den Reflexionen über das Wesen der Bestätigung und des Lernens. Wie W.v.O. Quine beobachtete, werden Behauptungen über die Welt nicht individuell bestätigt, sondern nur in Verbindung mit einer Theorie, von denen sie ein Teil sind. Und typischerweise kann man wissenschaftliche Behauptungen nicht ohne ein gutes Stück Kenntnis jener Theorie verstehen, denen sie entspringen. Beispielsweise lernt man mit den Newtonschen Begriffen der ‚Kraft‘, ‚Masse‘, ‚kinetische Energie‘ und ‚Impuls‘ keinerlei Definition dieser Ausdrücke auf der Basis weiterer Ausdrücke, die von vornherein verstanden werden, denn solche Definitionen gibt es nicht. Stattdessen werden alle diese theoretischen Ausdrücke gemeinsam in Verbindung mit Prozeduren zur Lösung von Problemen gelernt. Das größte Problem des Holismus ist es, dass durch ihn eine praktische Unmöglichkeit der Verallgemeinerung in der Psychologie droht. Wenn der Inhalt irgendeines Zustandes von allen anderen abhängt, dann wäre es extrem unwahrscheinlich, dass irgendwelche Überzeugungsträger jemals einen Zustand desselben Inhalts teilen. Und darüber hinaus würde der Holismus in Konflikt mit unserer alltäglichen Auffassung des Denkens geraten. Die Sätze, die jemand akzeptiert, beeinflussen ihn darin, was er daraus schließt. Wenn ich einen Satz erst akzeptiere und später zurückweise, ändere ich damit auch die Rolle dieses Satzes in den Schlussverfahren, die auf ihn Bezug nehmen, so dass die Bedeutung dessen, was ich akzeptiere, nicht mehr dieselbe sein würde wie die Bedeutung dessen, was ich später zurückweise. Dann aber ist es nach dieser Auffassung schwierig zu verstehen, wie jemand überhaupt rational – oder sogar irrational – seine Meinung ändern könne. Aus demselben Grunde sind 707
Holocaust, Der
auch die Übereinstimmung und die Übersetzung schwierig. Holisten antworteten darauf (1) durch den Vorschlag, dass wir Bedeutung nicht im Rahmen von ‚Selbigkeit/Unterschiedlichkeit‘ auffassen sollten, sondern als Ähnlichkeitsgrade der Bedeutung, und (2) durch den Vorschlag von ‚Zwei-Faktoren‘-Theorien, oder (3) einfach indem sie die Konsequenz akzeptierten, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen sich ändernden Bedeutungen und ebensolchen Überzeugungen gibt. NED BLOCK
Holocaust, Der
Das spezifische, tragische Ereignis des Holocaust, d.h. der Massenmord an Juden durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg, wirft tief greifende theologische und philosophische Fragen auf, insbesondere auch Probleme über die Existenz Gottes und die Bedeutung der jüdischen Existenz. Unter den Denkern, die sich mit dieser Herausforderung auseinandergesetzt haben, die durch die Zerstörung des europäischen Judentums entstanden ist, sind drei Personen, die man im engen Sinne als Philosophen bezeichnen könnte, nämlich Richard L. Rubenstein, Emil Fackenheim und Arthur A. Cohen. Rubenstein hat ein Argument formuliert, dass sich an die theologischen Schwierigkeiten wendet, die durch die Tatsache des Bösen in Auschwitz und Treblinka innerhalb einer Welt aufgeworfen wurden, die vorgeblich durch einen gütigen Gott geschaffen und geordnet wurde. Für ihn widerlegt ein solches Übel endgültig den traditionellen theologischen Anspruch, dass ein Gott im Besitz des Guten und der Macht existiert, was die Schlussfolgerung mit sich bringt, dass „es den [traditionellen] Gott nicht gibt“. Bei der Ausarbeitung seiner begrifflichen Position verwendet er jedoch eine unbefriedigende empirische Verifikationstheorie betreffend die religiösen Aussagen und eine zu enge Vorstellung vom Beweis, und zwar sowohl in historischer, als auch in ethischer Hinsicht, so dass damit letztlich seine entsprechenden Gegenbehauptungen und die Aussage vom sog. ‚Tod Gottes‘ untergraben werden Fackenheim versucht nicht, irgendeine religiöse Erklärung des Holocaust zu verteidigen, sondern bemüht sich um eine Antwort darauf, die die Wirklichkeit Gottes und seine fortbestehende Gegenwart in der menschlichen, speziell auch jüdischen Geschichte, aufrechterhält. Hierzu verwendet er Martin Bubers Verständnis der dialogischen Offenbarung und behauptet, dass die Offenbarung eine immer gegenwärtige Möglichkeit sei. Darauf aufbauend formuliert er seine eigene moraltheologische Forderung, die darauf hinausläuft, dass das jüdische Überleben nach dem Holocaust das 614. Gebot sei (im klassischen Judentum gibt es 613 Gebote). Fackenheims Verteidigung dieser Position ist aus philosophischer Sicht allerdings problematisch. Cohen entwarf ein ‚prozesstheologisches‘ Argument zur Erklärung des Holocaust. Danach erfordert der Holocaust ein Überdenken unseres Verständnisses von Gottes Wesen und Handeln. Dieses Ereignis zwingt uns zu der Schlussfolgerung, dass Gott nicht die traditionellen ‚omni‘-Prädikate besitzt. Gott mischt sich in menschliche Angelegenheiten nicht auf die Weise ein, die durch die überlieferte westliche Theologie gelehrt wird. Allerdings wirft Cohens Arbeit auf der Basis einer prozesstheologischen Position im Verhältnis zum Holocaust ebenso viele philosophische Probleme auf, wie sie löst. Siehe auch: Antisemitismus; Bösen, Probleme des STEVEN T. KATZ
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Hooker, Richard (1554–1600)
Hooker, Richard (1554–1600)
Hookers Werk ‚Of the Laws of Ecclesiastical Polity‘ (1593–1662) ist das erste größere Werk in englischer Prosa auf dem Gebiet der Philosophie, der Theologie und der politischen Theorie. Nach einem Umriss eines ganzen Weltbildes aus einer einzigen Rechtsidee versuchte Hooker die religiösen und politischen Institutionen seiner Zeit zu rechtfertigen und vermutlich auch zu verändern. Hookers Arbeit bereitete das spätere, im engeren Sinne politische Denken vor (Locke zitiert „den klugen Hooker“ an entscheidenden Punkten seines ‚Second Treatise of Civil Government‘), aber die ‚Laws‘ sind hauptsächlich deshalb bedeutsam, weil sie das Ideal einer Gesellschaft artikulieren, die in ihrer und durch ihre Religion zusammenhängt, d.h. einen Staatskörper, der erfolgreich eine Kirche ist, d.h. nicht nur eine solche besitzt. In Hookers England bedeutete dies, dass die königliche Autorität in der Religion zwar sehr ausgedehnt war, aber doch aus der Gesellschaft abgeleitet und durch das Gesetz beschränkt. In die moderne Welt mit ihrer Trennung des Staates von der Religion einerseits und der Philosophie vom Erbaulichen andererseits lässt er sich heute nur noch schwer einfügen. Die jüngeren Kritiken des aufgeklärten Säkularismus und der rein technischen Philosophie helfen aber bei einer neuen Rezeption seines Werks. Siehe auch: Autorität; Bodin, J.; Locke, J.; Naturgesetze; Naturrecht; Politischen Philosophie, Geschichte der; Rechtsphilosophie; Renaissancephilosophie; Souveränität A.S. MCGRADE
Hsün Tsu/Hsün Tzu Siehe: Xunzi
Humanismus in der Renaissance
F.J. Niethammer, ein deutscher Erzieher des frühen 19. Jahrhunderts, prägte den Ausdruck ‚Humanismus‘, womit er eine Ausbildung auf der Grundlage der griechischen und lateinischen Klassiker meinte. Die Renaissance (womit hier, d.h. für unsere Zwecke, die europäische Epoche zwischen 1350 und ca. 1650 gemeint ist) kannte diesen Ausdruck nicht. Die Renaissance verwendete stattdessen die lateinische Wendung ‚studia humanitatis‘ (wörtlich: ‚Studium der Menschheit‘), was man am besten als ‚Wissenschaft vom Menschen‘ übersetzen kann. Die Renaissance entlieh diese Wendung von der klassischen Antike. Cicero verwendete sie einige Male, aber erst der spätere Grammatiker Aulus Gellius setzte das lateinische Wort humanitas mit dem griechischen paideia gleich, d.h. mit der klassischen griechischen Erziehung des freien Lernens, insbesondere der Literatur und der Rhetorik, von denen man meinte, sie entwickelten die intellektuellen, moralischen und ästhetischen Fähigkeiten eines Kindes (griechisch pais heißt zu dt.: ‚Kind‘, daher paideia). Die Humanisten der Renaissance verstanden unter studia humanitatis eine Gruppe von fünf Gegenständen: die Grammatik, die Rhetorik, die Poesie, die Geschichte und die Moralphilosophie. Alle basierten auf den griechischen und lateinischen Klassikern. Ein Humanist war folglich ein Experte in den studia humanitatis. Die vorherrschende Disziplin war die Rhetorik. Redegewandtheit war die höchste professionelle Fähigkeit der Renaissance-Humanisten, und rhetorische Interessen durchdrangen die Herangehensweise des Humanisten an andere Bereiche der studia humanitatis. Die Renaissance-Humanisten waren die Erben der mittelalterlichen rhetorischen Tradition und die wiederbelebende Kraft der klassischen 709
Humanismus in der Renaissance
rhetorischen Tradition. Der Renaissance-Humanismus war in den Worten von P.O. Kristeller „eine charakteristische Phase dessen, was man die rhetorische Tradition der abendländischen Kultur nennen könnte“. (‚The Humanist Movement‘, 1955). Der Renaissance-Humanismus war weder eine Philosophie, noch eine Ideologie. Er nahm keine fixierte Haltung gegenüber der Religion, dem Staat oder der Gesellschaft ein. Vielmehr war er eine kulturelle Bewegung, die sich auf die Rhetorik, die Literatur und die Geschichte konzentrierte. Ihre führenden Köpfe besetzten vor allem Stellen als Lehrer der Grammatik und der Literatur. Außerhalb der Akademien dienten sie als Sekretäre, Botschafter oder Bürokraten. Einige von ihnen waren auch Juristen. Die Renaissance-Humanisten behaupteten neuerlich die Bedeutung der Wissenschaften vom Menschen gegenüber der überwältigenden Dominanz der Philosophie und der Wissenschaft in der mittelalterlichen höheren Schulbildung. In dem Umfange, wie der Humanismus in weitere kulturelle Kreise eindrang, wurde er mit den Interessen und Professionen anderer Disziplinen kombiniert, so dass man auch humanistische Philosophen, Ärzte, Theologen, Rechtsgelehrte, Mathematiker etc. findet. Ideologisch unterschieden sich die Humanisten stark. Einige waren fromm, andere nicht. Einige interessierten sich für die Philosophie, die meisten allerdings nicht. Einige wechselten zum Protestantismus, andere blieben katholisch. Einige verachteten die Muttersprache, während andere Wichtiges für sie leisteten. Der Humanismus beeinflusste während der Renaissance praktisch jeden Aspekt der höheren Kultur des Westens. Je nach dem Humanisten, um den es geht, kann man zu Recht von dem christlichen Humanismus, Laienhumanismus, bürgerlichen Humanismus, aristotelischen Humanismus und anderen Kombinationen sprechen. Der Humanismus hatte eine tiefe Wirkung auf die Philosophie. Indem sie außerhalb des philosophischen Establishments schrieben, bemühten sich die Humanisten um eine stärkere literarische Präsentation, die auch mehr auf die rhetorischen Fragen einging. Keineswegs weniger wichtig war, dass sie eine große Menge griechisch-klassischer Texte ins Lateinische übersetzten, die bis dahin unbekannt oder vom Mittelalter ignoriert worden waren. Der Platonismus, der Stoizismus, der Epikureismus und der Skeptizismus erlebten damit eine Wiederauferstehung. Die Humanisten stellten auch den mittelalterlichen Aristotelismus in Frage, indem sie neue lateinische Übersetzungen von Aristoteles vorlegten, die in einiger Hinsicht zu neuen Interpretationen führten. Sie bereicherten auch auf bedeutende Weise den aristotelischen Textkorpus durch die Übersetzung der ‚Poetik‘ und der spätantiken griechischen Aristoteles-Kommentatoren. Der Renaissance-Humanismus entstand aus den sehr eigenen sozialen und kulturellen Umständen im Italien des 13. Jahrhunderts. Er reifte im 15. Jahrhundert in Italien und breitete sich im übrigen Europa im 16. Jahrhundert aus. Schrittweise verlor er seine Vitalität schließlich im 17. und 18. Jahrhundert, als der Schwerpunkt auf der lateinischen Redegewandtheit in einer Welt aus der Mode kam, die sich in zunehmendem Maße der jeweiligen Heimatsprachen bediente und den neuen Wissenschaften widmete. Im 19. Jahrhundert jedoch starb er nicht etwa, sondern durchlief eine Metamorphose. Der Renaissance-Humanismus warf seine rhetorischen Impulse ab und wurde zu einem modernen, gelehrten Klassizismus. Heutzutage werden mit dem Wort Humanismus neue Konnotationen verbunden, aber das Erbe des Renaissance-Humanismus liegt immer noch tief in unserer Kultur. Solange wir fortfahren, 710
Humboldt, Wilhelm von (1767–1835)
Literatur und Geschichte zu bewerten, mitsamt aller funktionalen Fähigkeiten und kulturellen Perspektiven, die an diesen Disziplinen hängen, wird jede durch Übung ausgebildete Person ein Humanist im Sinne der Renaissance sein. Siehe auch: Erasmus, D.; Ficino, M.; Melanchthon, P.; More, T.; Pico della Mirandola, G.; Platonismus in der Renaissance; Renaissance-Philosophie JOHN MONFASANI
Humboldt, Wilhelm von (1767–1835)
Zusammen mit Schiller und Goethe war Humboldt einer der Hauptvertreter der Weimarer Klassik, einer Bewegung, die danach strebte, die deutsche Kultur nach Maßgabe der griechischen Klassik neu zu beleben. Humboldts philosophische Bedeutung liegt hauptsächlich auf zwei Gebieten, nämlich der Politikwissenschaft und der Sprachphilosophie. In der Politikwissenschaft war er einer der Begründer des modernen Liberalismus, und in der Sprachphilosophie war er einer der ersten, die die Bedeutung der Sprache für das Denken, und der Kultur für die Sprache betonten. Siehe auch: Liberalismus FREDERICK BEISER
Hume, David (1711–1776) Einführung David Hume, einer der prominentesten Philosophen des 18. Jahrhunderts, war ein Empirist, ein Naturalist und ein Skeptiker. Sein Ziel war es, wie er es in seinem frühen Meisterwerk, ‚A Treatise of Human Nature‘ (dt.: ‚Traktat über die menschliche Natur‘, geschrieben und veröffentlicht, als er noch keine dreißig Jahre alt war) beschreibt, eine sog. ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zu entwickeln, also das, was man heute die kognitive und die Willenspsychologie nennen würde. Diese sollte die philosophische Grundlegung für die Wissenschaften liefern, und zwar sowohl für jene betreffend das menschliche Leben (wie z.B. die Logik, die Moral, die Kritik und die Politik), als auch jene, die von den Menschen lediglich erforscht werden (wie die Mathematik, die Naturphilosophie und die Naturreligion). Obwohl die Veröffentlichung der Abhandlung in den Jahren 1739–1740 selbst zunächst relativ wenig beachtet wurde, zogen Humes philosophische Anschauungen doch eine größere Aufmerksamkeit im Zuge der Veröffentlichung von ‚An Enquiry concerning Human Understanding‘ (dt.: ‚Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes‘, 1748), ‚An Enquiry concerning the Principles of Morals‘ (dt.: ‚Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral‘, 1751), verschiedener Aufsätze und seiner posthum veröffentlichten ‚Dialogues Concerning Natural Religion‘ (dt.: ‚Dialoge über natürliche Religionen‘, 1779) auf sich. Er wurde auch als Historiker, Diplomat und Essayist zu politischen und wirtschaftlichen Themen beachtet. Ein Aspekt des Humeschen Empirismus war methodischer Natur und bestand in der Befürwortung und Übung einer sog. ‚experimentellen Methode‘. Diese verlangte, dass Behauptungen in seiner Wissenschaft vom Menschen aus der Erfahrung abgeleitet sein und von ihr gestützt werden müssten, statt nur aus der rationalen Schlussfolgerung und unabhängig von der Erfahrung gewonnen zu werden. Hierin sah er sich selbst in der Tradition von Locke und als jemand, der den Exzessen früherer Philosophen wie z.B. Descartes widerspricht. Wo aber Naturphilosophen (d.h. Naturwissenschaftler) wie z.B. Newton einfach Experimente entwerfen konn711
Hume, David (1711–1776)
ten, um Fragen zum Verhalten von Körpern unter bestimmten Umständen zu beantworten, könne der Vorsatz bei den Versuchen, den Geist in einer bestimmten Situation einzusetzen, bereits die natürlichen Tätigkeiten des Geistes verändern, meinte er. Deshalb müssten wir unsere Experimente in dieser Wissenschaft durch sorgsame Beobachtung des menschlichen Lebens ‚zusammensuchen‘ (im Sinne von ‚auswählen‘), und sie so nehmen, wie sie uns im alltäglichen Verlauf der Welt erscheinen, sei es durch menschliches Verhalten in Gesellschaft, in Geschäften, oder in ihren Vergnügungen (‚Traktat‘, Einführung). Ein weiterer Aspekt seines Empirismus war begrifflich und bestand in seiner Lehre – die er selbst durch die Verwendung der experimentellen Methode verteidigte –, dass alle Vorstellungen (ideas), und folglich alle Begriffe von den Eindrücken (impressions) ‚kopiert‘ (d.h. abgebildet) werden müssten, d.h. als Abbilder unserer sensorischen oder internen Erfahrungen gebildet werden müssten. Damit folgte er ebenfalls Locke und verwarf folglich die cartesischen sog. ‚angeborenen Ideen‘. Humes Beobachtung der experimentellen Methode erwies sich in ihrer Durchführung auch als Stütze seines methodischen Empirismus. Denn er behauptete herausgefunden zu haben, dass alle Überzeugungen betreffend „die Tatsachen und die wirkliche Existenz“ – was zu unterscheiden sei von den reinen „Beziehungen der Vorstellungen“ wie z.B. in der Mathematik – von einer Beziehung zwischen Ursache und Wirkung abhängen, und dass Beziehungen der Ursache und Wirkung wiederum nur mittels einer beobachteten konstanten Verbindung von Ereignissen des einen Typs mit Ereignissen eines weiteren Typs entdeckt werden könnten. Aber obwohl wir (einschließlich der Philosophen) leichthin davon ausgingen, dass wir einen notwendigen Zusammenhang wahrnehmen, der eine Wirkung dergestalt an seine Ursache binde, dass es widersprüchlich für das Erstere wäre, nicht dem anderen zu folgen, gebe es in Wirklichkeit keinen solchen Widerspruch. Denn eine Ursache und ihre Wirkungen seien immer zwei unterschiedliche Ereignisse, von denen jedes so vorgestellt werden könne, dass es ohne das andere stattfinde. Die Zuschreibung eines notwendigen Zusammenhanges zwischen Ursachen und Wirkungen ergebe sich aus der Projektion des Geistes auf sie infolge seines eigenen Gefühls einer mentalen Determination, den Schluss von dem Ereignis des einen Typs auf ein Ereignis des anderen zu vollziehen, nachdem man ihn fortgesetzt als gemeinsames Auftreten erfahren habe. Solche Schlüsse seien nicht an sich selbst durch irgendeinen Denkprozess über die Einheitlichkeit der Natur begründet, denn das Bestreiten der Einheitlichkeit der Natur sei nicht widersprüchlich, und jeder Versuch zur Verteidigung der Einheitlichkeit der Natur durch eine Berufung auf vergangene Erfahrung gehe immer nur davon aus, was die Vernunft einem aufdränge. Stattdessen lägen ihnen die mentalen Mechanismen der Gewohnheit (engl.: ‚mental mechanism of custom or habit‘) zugrunde. – Während er das Denken bestätigt und sich selbst daran beteiligt, findet Hume andererseits, dass viele Vorgänge des Geistes, einschließlich jener, die mit dem Willen und der Moral zu tun haben, weniger auf der Vernunft beruhen, als vielmehr auf anderen Merkmalen der geistigen Tätigkeiten als den ursprünglich angenommenen. Humes Naturalismus ergab sich aus seiner Entschlossenheit, den menschlichen Geist als einen Teil der Natur zu behandeln, der einer wissenschaftlichen Untersuchung genauso zugänglich und den gewöhnlichen Kausalgesetzen genauso wie die übrige Natur unterworfen ist, ohne sich dabei auf spezielle natürliche Eigenschaften oder übernatürliche Entitäten zu berufen. Tatsächlich betonte er den Umfang, in dem 712
Hume, David (1711–1776)
die menschlichen geistigen Tätigkeiten denen der Tiere ähneln. Er war ein Determinist sowohl hinsichtlich der physischen, als auch der mentalen Ereignisse, wobei er meinte, dass eine gegebene Menge von Umständen immer dasselbe Ergebnis in Übereinstimmung mit den einheitlichen Naturgesetzen ergeben würde. Anders jedoch als Spinoza vertrat er diese Lehre nur, weil er dachte, sie würde durch die Erfahrung gestützt, ähnlich einer wahrscheinlichen Extrapolation aus den Erfolgen einer wissenschaftlichen Untersuchung. Sein Naturalismus wird besonders deutlich in der Behandlung der Moral, die er als etwas erklärt, das vom menschlichen ‚Sittlichkeitsgefühl‘ abgeleitet sei, d.h. einer Fähigkeit zum Spüren einer bestimmten Art von Zustimmung und Ablehnung, wenn man Beschaffenheitsmerkmale abwägt, die vor allem durch natürliches Mitgefühl mit jenen hervorgerufen werde, die von den fraglichen Merkmalen betroffen sind. Tugend und Laster erhalten ihre zentrale Rolle im menschlichen Leben vor allem durch ihre Eignung zum Auslösen von Liebe und Hochmut, Hass und Demut. Hume bestritt niemals ausdrücklich die Existenz einer Gottheit, und er gab zu, dass die Hypothese einer intelligenten Ursache des Universums eine ganz natürliche Überzeugungskraft hat. Gleichwohl kritisierte er kraftvoll Argumente für die Existenz Gottes, für religiöse Wunder, für ein Leben nach dem Tode einschließlich Belohnung und Strafe, und für die moralische Güte eines Gottes oder seine moralische Sorge. Er betrachtete die Religion als weitgehend abträglich sowohl für die Forschung, als auch für die Moral. Hume verwendete nicht die Ausdrücke ‚Empirist‘ oder ‚Naturalist‘. Er bezeichnete sich allerdings selbst als Skeptiker. Sein Skeptizismus war im Verlaufe seiner Forschungen die Folge seiner Entdeckung der vielen ‚Schwächen‘ des menschlichkognitiven Wesens, einschließlich seiner Unfähigkeit zur vernünftigen Verteidigung vieler seiner eigenen, grundlegenden Handlungen. Während er der Meinung war, dass ein intensives Nachdenken über diese Schwächen einen Zustand extremen, wenn auch vorübergehenden Zweifels und der Verunsicherung hervorrufen können, war der Skeptizismus, den er bestätigte und zu praktizieren suchte, graduell dadurch gemildert wurde, dass er in gewisser Hinsicht indifferent war und ihm jeglicher Dogmatismus in allen daraus abgeleiteten Urteilen abging. Zusätzlich zu diesem gemilderten Skeptizismus empfahl er allerdings auch eine vollkommene Urteilsenthaltung in Sachen, die vollständig jenseits unserer Erfahrung liegen, wie z.B. kosmologischen Spekulationen über den ‚Ursprung der Welten‘. 1. Leben und Schriften 2. Die Inhalte und Vermögen des Geistes 3. Kausales Denken 4. Kausale Notwendigkeit 5. Freier Wille 6. Gott 7. Die äußere Welt 8. Personale Identität 9. Skeptizismus 10. Motivation 11. Die Grundlagen der Moral 12. Politische Pflichten 13. Humes Vermächtnis 713
Hume, David (1711–1776)
1. Leben und Schriften David Hume wurde am 26. April 1711 in Edinburgh geboren, genau vier Jahre nach der formalen Vereinigung von England und Schottland, aus der Großbritannien hervorging. Mit der politischen Union einher ging das Eindringen von Isaac Newtons Naturwissenschaft und John Lockes Philosophie in die schottischen Universitäten (siehe Newton, I.; Locke, J.). Sowohl Newton, als auch Locke wurden weithin als Vorreiter eines empirischen Ansatzes zur Erkenntnis angesehen, in dem die Beobachtung und das Experiment die Theoriebildung antrieben, beschränkten und bestimmten. Dieser Ansatz stand in deutlichem Widerspruch zur Bereitschaft vieler kontinentaleuropäischer Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts wie z.B. René Descartes, Nicholas Malebranche, Benedict de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz, hoch angesetzte theoretische Bindungen zu erlauben, um unser Verständnis der Welt zu strukturieren und die Interpretation unserer Wahrnehmungsbeobachtungen vornehmen zu können. Von besonderem Interesse der Philosophen des 18. Jahrhunderts waren Fragen über die Inhalte und das Vermögen des Geistes, das kausale Denken, die kausale Notwendigkeit, den freien Willen, Gott, die externe Welt, die persönliche Identität, den Skeptizismus, die Motivation, die Grundlegung der Moral und die politischen Pflichten. Hume sollte wichtige Beiträge zu jedem dieser Punkte liefern. Hume war das jüngste von drei Kindern. Seine Mutter Katherine war die Tochter von Sir David Falconer, seines Zeichens Präsident des College of Justice (dt. etwa: ‚Richterkollegium‘); sein Vater, Joseph Home, war Rechtsgelehrter und gehörte zu den Grafen von Home. (Hume änderte die Schreibweise seines Nachnamens als junger Mann um ihm seine richtige Aussprache zu erleichtern.) Die Familie unterhielt ein bescheidenes Anwesen namens Ninewells, das in Berwickshire nahe der englischen Grenze lag. Joseph Home starb 1713, und der junge David wurde von seiner Mutter großgezogen, einer standfesten Calvinistin, die sich ihren Kindern widmete und nicht wieder heiratete. Es wird berichtet, dass sie einmal erklärte: „Unser David ist ein feines Geschöpf von guter Natur, aber geistig wake-minded (was auf Deutsch ‚schwach-‘ oder ‚wachgeistig‘ bedeuten kann)“. Das heute etwas unklare letztere Adjektiv, das vielleicht nicht authentisch ist, wurde verschiedentlich so interpretiert, als bedeute es ‚dumm‘, ‚willensschwach‘ und ‚intellektuell aufmerksam‘. Hume bewunderte seine Mutter sehr, aber er wies alle religiösen Verpflichtungen bereits von frühem Alter an zurück. Zwischen 1723 und 1725 studierte Hume am Edinburgh Town College, die heute die Universität von Edinburgh ist, zusammen mit seinem älteren Bruder John. Unter seinen Studienfächern war Griechisch, Logik, Metaphysik und die Newtonsche ‚Naturphilosophie‘. Von 1725 bis 1734 wohnte er in Ninewells und bereitete sich auf eine juristische Karriere vor, obwohl er später zugab (in seiner Schrift ‚My Own Life‘), dass er mehr Philosophie als Rechtsliteratur gelesen habe. Der Versuch einer geschäftlichen Karriere im Jahre 1734 unter der Aufsicht eines Händlers in Bristol endete nach nur wenigen Monaten mit Enttäuschung, und der 23-jährige Hume zog ins ländliche Frankreich um, lebte dort billig und widmete sich der Philosophie. Nach einem Jahr in Reims ließ sich Hume in La Flèche bei einem Jesuitenkolleg nieder, an dem bereits Descartes studiert hatte. Er hatte dort vollen Zugang zur Kollegsbibliothek und widmete sich jetzt dem Schreiben. 1737 wechselte er nach London, um die Veröffentlichung des Ergebnisses zu besorgen, das heute als sein 714
Hume, David (1711–1776)
wichtigstes philosophisches Werk angesehen wird. Die Arbeit war ein ‚Traktat über die menschliche Natur‘ (engl.: ‚A Treatise of Human Natur‘, im Folgenden ‚Traktat‘ genannt) und heißt im Untertitel ‚An Attempt to introduce the experimental method of Reasoning into Moral Subjects‘ (dt.: ‚Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen‘). Unter ‚moral subjects‘ verstand Hume nicht nur die Ethik, sondern die Natur des Menschen und menschliche Angelegenheiten im Allgemeinen. Das Ziel des Buches, wie er es in der Einführung beschreibt, sollte die Bereitstellung einer sog. ‚Wissenschaft vom Menschen‘ sein, d.h. das, was wir heute die kognitive Psychologie und Willenspsychologie nennen würden. Weil vieles vom menschlichen Wissen den Menschen betrifft, und alles Wissen von ihm erworben wird, indem er seine kognitiven Fähigkeiten einsetzt, meinte Hume, dass eine solche Wissenschaft „eine fast durchgehend neue Grundlegung“ für alle Wissenschaften leisten würde. Wie schon der Einführung der nicht-menschlichen Natur durch Thales die Einführung des Studiums des Menschen von Sokrates folgte, so schreibt er, folgte auch der Anwendung der experimentellen Methode von Francis Bacon beim Studium der nicht-menschlichen Natur die Anwendung der experimentellen Methode im Studium der Natur des Menschen durch Locke und einigen „späten englischen Philosophen“ (siehe Thales; Sokrates; Bacon, F.). Die nicht erwähnte Implikation hiervon war, dass genauso, wie Newton die Vorangehenden vervollkommnet hatte, es Hume unternehmen würde, die Nachfolgenden zu vervollkommnen. Das 1. Buch (‚Über den Verstand‘) und das 2. Buch (‚Über die Affekte‘) des Traktats wurden zusammen 1739 anonym veröffentlicht. Das 3. Buch (‚Über Moral‘) erschien ebenfalls anonym im darauf folgenden Jahr. Trotz seiner Bemühungen um eine weite Leserschaft für das Buch – er verfasste sogar eine anonyme Kritik unter dem Titel ‚An Abstract of a Treatise of Human Nature‘, worin er einige der leitenden Gedanken erklärte und insbesondere die Aufmerksamkeit auf die zentrale Darstellung des Kausalschlusses im 1. Buch richtete – war die Aufnahme des Buches sehr enttäuschend für ihn. Obwohl es einige (meist negative) Kritiken erhielt, schrieb er später, dass der ‚Traktat‘ „totgeboren aus der Druckpresse fiel und den Eiferern nicht einmal ein Murmeln zu entlocken vermochte“ (‚My Own Life‘). Und tatsächlich wurden die ersten 1.000 Exemplare zu Humes Lebzeiten nicht verkauft. Nachdem er nach Ninewells zurückgekehrt war, um mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammen zu leben, wandte er sich dem Schreiben von Aufsätzen zu, und seine ‚Essays, Moral and Political‘ (Zwei Bände, 1741–1742) wurden in gewisser Hinsicht besser aufgenommen. 1745 wurde er für eine Professur an der Universität von Edinburgh vorgeschlagen. Obwohl er sich freundlich mit vielen der liberaler gesonnenen Kirchenleute von Edinburgh stand, wurde ihm der Lehrstuhl jedoch verweigert, weil man einen antireligiösen Tenor in seinem Traktat gespürt hatte. Im Verlauf seiner Kandidatur schrieb er ein Flugblatt, veröffentlichte ‚A Letter from a Gentleman to his Friend in Edinburgh‘, worin er theistisch begründete Einwürfe gegen sein Buch zurückwies, einschließlich des Vorwurfs der Leugnung der kausalen Maxime, dass jedes Ereignis eine Ursache haben müsse. Nach der Enttäuschung in Edinburgh nahm Hume eine Position als Hauslehrer und Betreuer des sich in psychischen Problemen befindlichen jungen Marquis von Annandale an und übte dieses Amt ein Jahr lang aus. Darauf folgten zahlreiche Jahre des Reisens als Gehilfe und Sekretär von General St. Clair (einem entfernten 715
Hume, David (1711–1776)
Verwandten), zunächst auf einer militärischen Expedition, wo ihm seine juristische Lektüre es erlaubte, in der Militärjustizverwaltung als eine Art Staatsanwalt zu dienen. Diese Expedition sollte ursprünglich gegen das französische Kanada gehen, richtete sich aber schließlich gegen die Meeresküste von Frankreich (1746). Dann ging er auf eine Reihe diplomatischer Missionen nach Wien und Turin (1747–1748). 1748 veröffentlichte er die ‚Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes‘ (im Folgenden ‚UmV‘ genannt), was er später als eine ‚Neufassung‘ des Materials aus dem 1. Buch seines ‚Traktats‘ beschrieb. Dies sollte eine Antwort auf sein Urteil sein, dass die schwache Aufnahme des ‚Traktats‘ mehr „mit der Art und Weise, als mit dem Stoff“ des alten Werks zu tun hatte (‚My Own Life‘). Er fügte jedoch eine ‚Anzeige‘ im Jahre 1775 zu seinen gesammelten Aufsätzen und Traktaten über zahlreiche Gegenstände hinzu, die sich auch auf die ‚UmV‘ bezog, nicht jedoch auf den ‚Traktat‘, und in der er darum bittet, dass seine Philosophie nicht auf der Grundlage seines ‚Jugendwerks‘ beurteilt werden möge. Diese Bitte war eine Reaktion auf die Verwendung wesentlicher Zitate aus dem ‚Traktat‘ seitens „dieses frömmelnden, dummen Typen Beattie“ (‚The Letters of David Hume, 1932, Brief 509) in dessen sehr kritischem und verständnislosem Werk aus dem Jahre 1770 mit dem Titel ‚An Essay on the Nature and Immutability of Truth‘ (siehe Beattie, J.). Während der ‚Traktat‘ auf eine verwickelte ‚Wissenschaft vom Menschen‘ abzielt, geht es der ‚UmV‘ um eine gestraffte ‚geistige Geographie‘, die viele Elemente und Umwege des 1. Buches der früheren Arbeit übergeht, um sich auf die Erklärung des Kausalschlusses und seine Anwendung auf einer ausgewählten Reihe weiterer Punkte zu konzentrieren. Der oft dramatische und manchmal kämpferische Ton des ‚Traktats‘ weicht einem bürgerlicheren und konzilianteren Ton in den ‚UmV‘. Beispielsweise wird die Verteidigung der ‚Lehre von der Notwendigkeit‘ gegen die ‚Lehre von der Freiheit‘ betreffend den Willen im ‚Traktakt‘ zu einem „versöhnlichen Vorhaben“ zwischen zwei Lehren im Wege schlichter terminologischer Änderungen, wenn auch ohne eine Änderung der wesentlichen Positionen. Aber während sich die ‚UmV‘ rhetorisch entgegenkommender als der ‚Traktat‘ zeigte, war sie gleichzeitig auch direkt subversiver, insofern die drei Anwendungen seiner Theorie des Kausalschlusses, auf die sich Hume zu konzentrieren entschloss und die die Freiheit und die Notwendigkeit des Willens, Belohnungen und Strafen im Leben nach dem Tode und die Wunder betrafen, alle offenkundig antireligiöse Folgerungen nach sich zogen, und er beschrieb das Ziel der Arbeit in der Einleitung genau als jenes einer sich vom Zugriff des Aberglaubens befreienden Philosophie. Tatsächlich wurde der Abschnitt der ‚UmV‘, der den Wundern gewidmet ist, schon bald zum beachtetsten Werk aller seiner Schriften (siehe Wunder). Im Jahre 1748 erschien ferner ‚Three Essays, Moral and Political‘ (dt.: ‚Drei Aufsätze über Moral und Politik‘), und gegen Ende des Jahres kehrte er aus dem Dienst von General St. Clair nach Ninewells zurück. 1751 veröffentlichte Hume ‚An Enquiry Concerning the Principles of Morals‘ (dt.: ‚Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral‘, nachfolgend ‚EPM‘ genannt), das eine Neufassung vom 3. Buch des ‚Traktats‘ war und sich um die Frage drehte, was die Tugend oder das persönliche Verdienst ausmache. Diese Arbeit beschrieb er später als „von allen meinen Arbeiten die unvergleichbar beste“. Ängstlich hinsichtlich einer Rückkehr ins städtische Leben begab er sich nach Edinburgh und gründete einen Haushalt mit seiner Schwester Katharine. Im folgenden 716
Hume, David (1711–1776)
Jahr veröffentlichte er die Schrift ‚Political Discourses‘, die Aufsätze zu Themen enthielten, die man heute der Wirtschaftslehre zuordnen würde, und wurde erneut auf eine Professur für Philosophie vorgeschlagen, diesmal an der Universität von Glasgow, wo sein Freund Adam Smith den Lehrstuhl für Logik freimachte, um den für Moralphilosophie zu übernehmen. Hume sah sich verpflichtet, dieses Angebot anstelle einer Position als Bibliothekar an der Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Edinburgh anzunehmen (die sich zu dem entwickelte, was heute die Schottische Nationalbibliothek ist). Der offenkundige Vorteil der Stelle lag in dem guten Zugang, den er dadurch zu den Bibliotheksbeständen selbst bekam, die er nutzte, um zu schreiben, was sich letztlich als eine sehr beliebte, sechsbändige ‚History of England‘ (dt.: ‚Geschichte Englands‘, veröffentlicht zwischen 1754 und 1762) entpuppte. Während er als Bibliothekar diente, veröffentlichte er 1753 auch ‚Essays and Treatises on Several Subjects‘ (dt.: ‚Aufsätze und Traktate zu verschiedenen Gegenständen‘), eine zweibändige Sammlung seiner bereits zuvor veröffentlichten Arbeiten, die in zahlreichen Auflagen erschienen, und im Jahre 1757 vier gelehrten Arbeiten, bestehend aus ‚The Natural History of Religion‘ (dt.: ‚Die Naturgeschichte der Religion‘), ‚Of the Passions‘ (dt.: ‚Von den Leidenschaften‘), ‚Of Tragedy‘ (dt.: ‚Über die Tagödie‘) und ‚Of the Standard of Taste‘ (dt.: ‚Über den Maßstab des [guten] Geschmacks‘). Letzterer, der dem ästhetischen Urteil gewidmet ist, sollte zwei andere Aufsätze ersetzen, nämlich ‚Of Suicide‘ (dt.: ‚Über den Selbstmord‘) und ‚Of Immortality‘ (dt.: ‚Über die Unsterblichkeit‘), die beide schließlich erst nach seinem Tode publiziert wurden, weil Hume vorsichtigerweise im letzten Moment entschieden hatte, sie zu unterdrücken. Zunächst hatte er ihrer Aufnahme in die Sammlung zugestimmt, um wiederum eine Arbeit über die metaphysischen Prinzipien der Geometrie zu ersetzen, die verloren gingen, und hinsichtlich derer ihn bereits ein Freund überzeugt hatte, sie aus diesem Band zurückzuziehen. Nachdem er ausreichende Forschungsarbeiten für das Geschichtswerk geleistet hatte, gab er die Bibliothekarsstelle im Jahre 1757 wieder auf. Während der letzten Jahre seine Zeit dort hatte er seinen Lohn dem blinden schottischen Dichter Thomas Blacklock in der Folge eines Streits geschenkt, in dem die Bibliothekskuratoren aufgrund von Unschicklichkeiten die Anschaffung dreier französischer Bücher zurückgewiesen hatten, die Hume bestellt hatte. Im Jahre 1763 wurde Hume eingeladen, als Sekretär in die Dienste des britischen Botschafters in Paris, Lord Hertford, zu treten. Nach einigem Zögern nahm er das Angebot an. Französische Intellektuelle bewunderten ihn für seinen philosophischen Skeptizismus und seine Religionskritik, seine literarisch-stilistische Geschicklichkeit und seine soziale Umgangsart. Er wurde seitens der französischen Salongesellschaft schon bald als ‚le bon David‘ umschwärmt. Unter seinen Freunden waren die philosophes Diderot, d’Alembert und Baron d’Holbach. Als Lord Hertford einen neuen Posten in Irland übernahm, überließ er Hume die Aufsicht über die Botschaft bis zur Ankunft des neuen Botschafters. Als er nach Edinburgh im Jahre 1766 zurückkehrte, überredeten gute Freunde ihn, den umstrittenen Philosophen Jean-Jacques Rousseau (der nicht länger in der Schweiz bleiben durfte) mit nach Britannien zu nehmen. Hume arrangierte im Namen Rousseaus die Anmietung eines Landhauses in England. Rousseau wurde gleichwohl in kurzer Zeit unglücklich und auch misstrauisch gegenüber Hume und griff dessen Motive seines Handelns an, indem er ihm öffentlich vorwarf (offenbar aufgrund eines satirischen Stückes von 717
Hume, David (1711–1776)
Humes Freund Horace Walpole), dass Hume versuchen würde, seine Anerkennung zu ruinieren. Hume antwortete trotz seiner Abneigung gegen literarische Streitigkeiten darauf, indem er eine Verteidigungsrede seines Verhaltens in diesem Fall schrieb und in Umlauf brachte. Von 1767 bis 1769 hatte Hume einen Regierungsposten als Unterstaatssekretär für das Northern Department inne, eine Position, die von ihm ironischerweise verlangte, dass er die regierungsseitige Einverständniserklärung für kirchliche Ernennungen in Schottland gab. Er kehrte zu seinen vielen Freunden in Edinburgh im Jahre 1769 zurück. 1775 merkte er, dass er an Darmkrebs litt und starb bereits im folgenden Jahr. In seinen letzten Wochen schrieb er noch die kurze Autobiographie ‚My Own Life‘, die er selbst ‚Grabrede für mich selbst‘ nannte. Diejenigen, die ihn umgaben, überraschte er mit seiner fröhlichen und humorvollen Art im Angesicht seines bevorstehenden Ablebens. Er hinterließ das vervollständigte Manuskript seines ‚Dialogues Concerning Natural Religion‘ (dt.: ‚Dialoge betreffend die Naturreligionen‘), an denen er viele Jahre gearbeitet hatte, und die erst nach seinem Tode veröffentlicht werden sollten, wobei er Adam Smith bat, sich um die Veröffentlichung zu kümmern. Nachdem Smith es abgelehnt hatte, die umstrittene Arbeit zu veröffentlichen, wurde dies stattdessen von Humes Neffen übernommen. Smith schrieb jedoch eine bewegende Erinnerung an Hume, die er mit den Worten beendete: „Im Ganzen gesehen habe ich ihn sowohl zu Lebzeiten, als auch nach seinem Tode, immer als jemanden gesehen, der sich meiner Vorstellung von einem vollkommen weisen und tugendhaften Mann so weit angenähert hat, wie es die Natur der menschlichen Schwäche vielleicht überhaupt zulässt.“ 2. Die Inhalte und Vermögen des Geistes Hume nennt alle Inhalte des Geistes perceptions (‚Wahrnehmungen‘) und unterscheidet diese von den impressions (‚Eindrücken‘) und ideas (‚Vorstellungen‘). Vorstellungen unterscheiden sich als Klasse von den Eindrücken nicht durch ihren spezifischen Inhalt oder ihre Eigenschaft, sondern vielmehr durch ihre geringere Kraft und Lebendigkeit. In der Wahrnehmung oder im Gefühl habe der Geist Eindrücke, während er im Denken Vorstellungen habe. (Hume verwendet daher den Ausdruck ‚Vorstellung‘ im engeren Sinne als Descartes und Locke, die ihn wiederum auf eine Weise verwenden, die ungefähr der Humeschen Verwendung von ‚Wahrnehmung‘ entsprechen.) Wahrnehmungen, d.h. sowohl Eindrücke, als auch Vorstellungen, können auch noch als einfach und komplex unterschieden werden. Erstere haben keine Wahrnehmungen als Teile, während die Letzteren aus einfacheren Wahrnehmungen zusammengesetzt sind. Diese Unterscheidungen erlauben die Formulierung eines der fundamentalsten Humeschen Prinzipien: Alle Vorstellungen sind entweder Abbilder (engl.: copies) ähnlicher Eindrücke, oder sie sind Zusammensetzungen einfacherer Vorstellungen, die ihrerseits Abbilder ähnlicher Eindrücke sind. Als Beweis für dieses Prinzip, das manchmal auch das Abbildungsprinzip genannt wird, verweist er darauf, dass der Geist einfache Vorstellungen habe, die seinen einfachen Eindrücken entsprechen, ferner auf den zeitlichen Vorrang der Eindrücke vor den ihnen korrespondierenden Vorstellungen, und auf die Abwesenheit der Vorstellungen bestimmter Art im Geiste von Menschen, die nie die korrespondierenden Eindrücke hatten (‚Traktat‘ 1.1.1; UmV 1). Dieses Prinzip spielt eine Rolle in vielen der wichtigsten Humeschen Argumente zu ganz verschiedenen Themen, und es ist für ihn 718
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auch methodisch bestimmend: dort, wo der Charakter einer Vorstellung unklar oder ungewiss sei, sollte man sie auf die kraftvolleren und lebendigeren Eindrücke zurückführen, von denen sie abgeleitet wurden, um sich Klarheit über die Vorstellung zu verschaffen. Auf ähnliche Weise argumentiert Hume, wenn jemand den Verdacht habe, dass ein Ausdruck verwendet werde, der gar keine Bedeutung hat, d.h. der für gar keine Vorstellung steht. Sei man nicht imstande, einen entsprechenden Eindruck für diese Vorstellung zu finden, so könne dies den Verdacht bestätigen. Innerhalb der Klasse der Eindrücke trifft Hume eine weitere Unterscheidung zwischen den Eindrücken von Wahrnehmungen und den Eindrücken durch Reflexion. Erstere, die auch die Eindrücke der Farbe, des Geschmacks, des Geruchs, des Hörens, der Hitze und der Berührung einschließen, hätten unmittelbare Ursachen, die außerhalb des Geistes liegen. Letztere, die die Leidenschaften, die moralischen Empfindungen, ästhetische Empfindungen und andere geistesinterne Gefühle umfassen, entstünden als das Ergebnis anderer Wahrnehmungen, typischerweise Vorstellungen, z.B. könnten Hass oder Angst aus dem Gedanken an Schmerz oder eine Verletzung, die ein anderer erzeugt, entstehen. Innerhalb der Klasse der Vorstellungen unterscheidet er zwischen denen, die konkret-einzeln (engl.: particular) sind, und den abstrakten. Denn obwohl er gegen Locke und mit George Berkeley behauptet, dass alle Vorstellungen vollständig an sich selbst bestimmt seien, besteht er doch darauf, dass eine Vorstellung eine allgemeine Bedeutung durch ihre Verbindung mit einem Wort oder Ausdruck erlangen könne, das bzw. der den Geist dazu bringt, ähnliche Vorstellungen ‚wieder zu beleben‘ oder ‚zu überprüfen‘, wie dies auch bei den erkenntnisrelevanten Vorgängen notwendig sei (‚Traktat‘ 1.1.7). Eine solche Vorstellung würde dann zu einer ‚abstrakten‘ Vorstellung, also das, was wir einen Begriff nennen würden. Abstrakte Vorstellungen können nach Hume solche von Substanzen, Eigenschaften oder Modi der Dinge sein, aber auch solche von Beziehungen zwischen den Dingen. Beziehungen sind Weisen, wie Dinge verglichen werden können. Während er sieben allgemeine Arten ‚philosophischer Beziehungen‘ unterscheidet, können Beziehungen von dreien dieser Art auch als ‚natürliche Beziehungen‘ auftreten, womit Hume meint, dass das Bestehen einer Beziehungen zwischen Dingen als ein natürliches Prinzip geistiger Verbindung dienen könne, was dazu führe, dass die Vorstellungen von den bezogenen Dingen im Geiste aufeinander folgen oder zu komplexeren Vorstellungen kombiniert werden (wie z.B. solche der Substanzen). Diese sog. ‚natürlichen Beziehungen‘ sind nach ihm jene der Ähnlichkeit, der Nachbarschaft in Raum und Zeit und der Ursache und Wirkung. Während sich Locke auf die sog. ‚Verbindung von Vorstellungen‘ hauptsächlich zur Erklärung von Irrtum und Geisteskrankheit berufen hatte, erweitert Hume wirkungsvoll ihre explanatorische Rolle auf die normalen Erkenntnisfunktionen, wodurch sie zu einem geistigen Analogon der grundlegenden Newtonschen Anziehungskraft werden, aber einer, die mit der Wahrnehmung und nicht mit Körpern arbeitet. Im Verlauf der Analyse der Vorgänge des menschlichen Geistes diskutiert Hume eine Reihe kognitiver Vermögen (synonym: Fähigkeiten). Zusätzlich zu Wahrnehmung und Reflexion, die zwei Vermögen zum Empfang von Eindrücken seien, unterscheidet Hume zwei Fähigkeiten zur Bildung von Vorstellungen. Die Erinnerung ist nach ihm die Fähigkeit zur Bildung von Vorstellungen, die nicht nur die inhaltliche Beschaffenheit, sondern auch deren Anordnung und einen großen Teil der 719
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ursprünglichen Kraft und Lebendigkeit der Eindrücke zurückbehält, von denen sie das Abbild sind. Die Einbildung dagegen (engl.: imagination) enthält nicht diesen großen Anteil der Kraft und Lebendigkeit des originalen Eindrucks, und sie ist daran gebunden, deren Anordnung zu bewahren. Stattdessen vermag die Einbildung die Vorstellungen frei zu trennen und wieder zu kombinieren. Weil sie zu dem Vermögen zur Bildung von Vorstellungen gehört, ist die Einbildung bei Hume ein grundlegend darstellendes (engl.: representational) Vermögen. Solche weiteren kognitiven Vermögen wie das Urteilsvermögen und die Vernunft sind nach Humes Auffassung gleichwohl Funktionen der Einbildungskraft, weil sie letztlich konkret-einzelne Weisen der Bildung von Vorstellungen hervorbringen. Dies ist wiederum so, weil die Überzeugung selbst, aus der das Urteil besteht und die das typische Ergebnis des Nachdenkens ist, selbst einen geringeren Grad an Kraft und Lebendigkeit besitzt, und zwar noch unterhalb der Eindrücke und der Erinnerung. Bemerkenswerterweise gibt es in Humes Darstellung des Erkenntnisvermögens keine weitere darstellende Fähigkeit des Intellekts der Art, wie sie von solchen Philosophen wie Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz vorgeschlagen wurden, d.h. ein darstellendes Vermögen, dessen Abbilder nicht von den Wahrnehmungen oder interner Erfahrung abgeleitet werden, und die als Grundlage für eine höhere Art der Erkenntnis dienen könnten, als sie die reine Erfahrung liefern kann. Humes Entscheidung für das Abbildungsprinzip ist auch die Zurückweisung einer solchen Fähigkeit, denn sie verpflichtet ihn, alle menschliche Erkenntnis ausschließlich als Abbilder zu beschreiben, die ihrerseits Bilder von wahrgenommenen und inneren Eindrücken sind. Während Hume den Ausdruck ‚Einbildung‘ (engl.: imagination) in einem weiteren Sinne verwendet zur Bezeichnung „der Fähigkeit, durch die wir unsere schwächeren (d.h. nicht erinnerungsbasierten) Vorstellungen bilden“, unterscheidet er ihn auch sorgfältig von einer Bedeutung im engeren Sinne des Ausdrucks, nach der dies ‚dasselbe Vermögen [ist], unter Ausschluss aller unserer demonstrativen und wahrscheinlichen Gedanken‘. Demonstratives Denken, wie er dies nennt, hänge nur von dem spezifischen Inhalt der Vorstellungen ab. Entsprechend habe alles, was demonstrierbar sei, ein Gegenteil, das widersprüchlich und buchstäblich unbegreiflich sei, und das Ergebnis des demonstrativen Beweises sei Erkenntnis oder Wissen (engl.: knowledge) im strengen und technischen Sinne von Locke abgeleitet. Alles andere Denken und Schlussfolgern, das nicht in diesem technischen Sinne in Erkenntnis mündet, sondern in Wahrscheinlichkeit, sei Wahrscheinlichkeitsdenken, dessen Erforschung eine zentrale Aufgabe in Humes philosophischer Aufgabenstellung ist. In Anbetracht dieses engeren Sinnes der sog. ‚Einbildung‘ als etwas, dass die vorgenannten Formen des Denkens ausschließt, kann Hume nun fragen (und tut dies auch oft), ob ein bestimmtes Merkmal oder ein konkret-bestimmter Inhalt aus der Sinneswahrnehmung, aus dem Denken oder aus der Einbildung stammt. Eine der allgemeinsten Thesen des ‚Traktats‘ ist jene, dass der Charakter des menschlichen Denkens und Handelns in sehr bemerkenswertem Umfange von Eigenarten der Einbildung in diesem engeren Sinne bestimmt sei. Im Gegensatz zum Verstand stehen die Leidenschaften (engl.: passions), die große Teile des menschlichen Willens determinieren. Was Hume die direkten Leidenschaften nennt, einschließlich der Freude, der Trauer, des Wunsches, der Abneigung, der Hoffnung und der Angst, ist bei ihm eine unmittelbare Folge von „Gutem 720
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oder Üblem, von Lust oder Schmerz“. Die indirekten Leidenschaften entstehen ebenfalls als Folge von Lust und Schmerz, aber durch das Zusammentreffen weiterer Qualitäten. Unter den wichtigsten indirekten Leidenschaften nennt er den Stolz, die Bescheidenheit, die Liebe und den Hass. Jede dieser vier indirekten Leidenschaften hat einen charakteristischen und natürlichen Gegenstand, und zwar entweder sich selbst (wie im Falle des Stolzes und der Bescheidenheit) oder eine andere Person (wie im Falle der Liebe und des Hasses). Dieser Gegenstand ist jener, auf den die Leidenschaft die Gedanken derjenigen Person richtet, die sie durchlebt. Diese indirekten Leidenschaften steigen im Verlauf eines Umformungsprozesses auf, den Hume „die doppelte Beziehung von Eindruck und Vorstellung“ nennt, wobei ein Lust- oder Schmerzerlebnis in die ihm ähnliche Leidenschaft umgeformt wird, wenn die Ursache der Lust oder des Schmerzes in enger Verbindung mit dem Gegenstand der Leidenschaft steht. Gewillkürte Handlungen sind für Hume das Ergebnis des Willens, der selbst nur ein weiterer Eindruck oder eine Reflexion ist, und der typischerweise ein Wunsch oder eine Abneigung folgt, denen wiederum weitere Leidenschaften folgen können. Die moralischen Empfindungen der Zustimmung und Ablehnung entstehen ihm zufolge aus dem Nachdenken (d.h. der Reflexion) über Charakterzüge, also fortgesetzte Motive, Dispositionen und Tendenzen, und bilden eine Quelle moralischer Unterscheidungen, genauso wie die Empfindungen der Schönheit und der Unförmigkeit die Quelle ästhetischer Unterscheidungen sind. Tatsächlich beschreibt Hume die Tugend als eine Art von ‚moralischer Schönheit‘. 3. Kausales Denken Die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts erarbeiteten viele verschiedene Sichtweisen der Natur und des Umfanges kausaler Kräfte. Descartes meinte beispielsweise, dass Ursachen mindestens denselben Vollkommenheitsgrad wie ihre Wirkungen enthalten müssten, und dass die Naturgesetze von Gottes Unveränderlichkeit abgeleitet werden können, während Malebranche dem Vorschlag aus Descartes Lehre folgte, dass Gottes Erhaltung des Universums gleichbedeutend sei mit einer fortgesetzten Neuerschaffung und den Implikationen der Aussage, dass Ursachen notwendig mit ihren Wirkungen verknüpft sein müssten um sagen zu können, dass nur Gott wirkliche Kausalmacht besitzt. Spinoza meinte, dass die Naturgesetze nicht anders beschaffen sein können und vom Intellekt unterschieden werden können, während Leibniz die Möglichkeit einer kausalen Wechselwirkung zwischen Substanzen bestritt. Locke hielt einige, aber nicht alle Arten der substanziellen Wechselwirkung für uneinsehbar, während Berkeley sagte, dass die einzige Kausalkraft jene sei, die im Willen des Menschen zur Hervorbringung von Vorstellungen begründet liege, seien diese göttlicher oder endlicher Natur. Von den zwei Arten des Denkens, die er unterscheidet, ist es das Wahrscheinlichkeitsdenken, so meint Hume, das im menschlichen Leben vorherrsche. Er findet allerdings, dass relativ wenig darüber geforscht wurde. Und weil es so wenig untersucht wurde, herrsche auch so viel philosophische Verwirrung im Hinblick auf die Natur und den Umfang der Wirksamkeit von Ursachen. Alles Wahrscheinlichkeitsdenken, so argumentiert er, hänge von den Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung ab: wann immer wir auf die Existenz von irgendeiner Tatsache schließen, die über den Inhalt einer gegenwärtigen Wahrnehmung oder von Erinnerungen hinausgehe, so geschehe dies immer auf der Grundlage einer implizit oder explizit an721
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genommenen Kausalbeziehung zwischen dem, was durch eine gegenwärtige Wahrnehmung oder der Erinnerung repräsentiert werde, und den Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen (‚Traktat‘ 1.3.2; UmV 4). Doch obwohl alles Wahrscheinlichkeitsdenken demzufolge auch Kausaldenken sei, scheine die Kausalbeziehung zwischen verschiedenen Dingen oder Ereignissen doch an sich schwer verständlich zu sein; Ursachen gingen ihren Wirkungen in der Zeit voraus und seien ihnen räumlich benachbart (zumindest dann, wenn sie überhaupt räumlich verortet sind). Darüber hinaus nehmen wir aber auch an, dass Ursachen und Wirkungen zueinander in einer irgendwie gearteten sog. ‚notwendigen Verbindung‘ stehen. Um voll zu verstehen, was eine Kausalbeziehung sei, müssten wir zunächst, so meint Hume, das Wesen der Wahrscheinlichkeitsschlüsse verstehen, die diese „entdecken“. Im Gegensatz zu jenen, die meinen, dass kausale Beziehungen im Prinzip allein durch reines Denken ausfindig gemacht werden können, d.h. mittels des Intellekts, argumentiert Hume, dass die Zuschreibung kausaler Beziehungen immer wesentlich von der Erfahrung abhänge, insbesondere von der Erfahrung, dass einem Ereignis der einen Art regelmäßig ein Ereignis einer zweiten Art folgt, was er ihre ‚beständige Verknüpfung‘ (engl.: constant conjunction) nennt. Von jedem Ereignis könne man denken, das es einem anderen Ereignis folgt (d.h. die Einbildung kann eine Vorstellung davon bilden), und vor aller Erfahrung gebe es keine Grundlage zur Annahme von irgendetwas, auf das tatsächlich irgendein gegebenes Ereignis folgen werde. – Obwohl es durchaus so aussehen könne, dass irgendwelche kausalen Beziehungen, wie z.B. die Weitergabe der Bewegung nach einem Stoß, die im Kern der mechanistischen Naturwissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts stehen, so natürlich sind, dass wir sie vor jeder Erfahrung von ihnen antizipieren könnten, ist dies doch nur deshalb so, weil frühere und stetige Erfahrung sie uns so gewohnt erscheinen lassen. Ein Wahrscheinlichkeitsschluss ereignet sich dann, wenn in der Folge der Erfahrung eines beständigen Zusammenvorkommens des einen Typs (wie z.B. dem Entzünden eines Streichholzes) mit dem eines anderen Typs (Flamme) ein Eindruck oder eine Erinnerung eines bestimmten Ereignisses dieses einen Typs den Geist dazu führt, eine Überzeugung von der Existenz eines Ereignisses des anderen Typs zu bilden. Humes Untersuchung des Weges, auf dem sich dieser geistige Übergang abspielt, ist der Ort seiner berühmten Diskussion dessen (ursprünglich dargestellt im ‚Traktat‘ 1.3.6, aber mit geringen Abwandlungen in ‚An Abstract of a Treatise of Human Nature‘ und der ersten ‚Untersuchung‘), was wir heute Induktion nennen, d.h. die Projektion dessen, was von beobachteten Fällen für wahr gehalten wird, auf bislang unbeobachtete Fälle als ebenso wahr. Als sog. ‚Wissenschaftler vom Menschen‘ fragt Hume, wie dieser Übergang tatsächlich vor sich geht. Er kommt zunächst zu einem negativen Schluss, dass nämlich der Übergang gar nicht vom Denken hergestellt oder „bestimmt“ werde, wie er sich im ‚Traktat‘ ausdrückt. Sein Beweis für diese negative Schlussfolgerung lautet folgendermaßen: Der fragliche Übergang überspannt eine Lücke zwischen dem, was der Geist erfahren hat, nämlich eine in der Vergangenheit beständige Verbindung zwischen zwei Arten von Ereignissen plus dem gegenwärtigen Eindruck von oder der Erinnerung an ein Ereignis an eines der beiden Arten, und dem, was der Geist schließt, nämlich das Auftreten eines weiteren Ereignisses des anderen Typs in Übereinstimmung mit der zuvor beobachteten Regularität. Diesen Übergang bezeichnet er verschiedentlich als „eine Annahme machen“, dass „der Ver722
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lauf der Natur immer einheitlich derselbe ist“, „annehmen, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird“ und „der Vergangenheit vertrauen“. Wenn das Denken diesen Übergang verursachen würde, argumentiert Hume, so würde es dies mittels eines Schlusses auf eine Überzeugung tun, dass die Natur einheitlich sei, denn es sei nur eine Schlussfolgerung dieser Art, die den Spalt überbrücken und somit diesen Schluss hervorbringen könne. Welcher Art könnte aber dieses Denken sein? Es könne nicht demonstrativ sein, denn die Leugnung der Einheitlichkeit der Natur ist in jedem Falle vollkommen widerspruchsfrei denkbar. Noch könne dieses Denken wahrscheinlichkeitsbezogen sein, denn wenn Humes vorangehende Darstellung von dieser Art des Denkens richtig sei, so könne alles Wahrscheinlichkeitsdenken nur dann fortschreiten, wenn es die Annahme von der Einheitlichkeit der Natur bereits getroffen habe. Dies ist aber gerade die Annahme, in welcher der Ursprung erklärt werden soll. Ein Wahrscheinlichkeitsschluss könne daher nicht die ursprüngliche Ursache dieser Annahme sein, denn das Bestehen dieser Annahme sei eine Vorbedingung aller Wahrscheinlichkeitsschlüsse, und, wie Hume im ‚Traktat‘ sagt, „dasselbe Prinzip kann nicht sowohl die Ursache und die Wirkung von sich selbst sein“. Da alles Schlussfolgern entweder demonstrativ oder wahrscheinlich sei, aber weder die demonstrative, noch die wahrscheinliche Schlussfolgerung den Kernübergang bewirken könne, so sei der Wahrscheinlichkeitsschluss „nicht durch das vernünftige Denken bestimmt“. Bei der Interpretation dieser Schlussfolgerung ist es wichtig zu sehen, dass Hume nicht die Frage stellt, ob die Wahrscheinlichkeitsschlüsse eine Spezies des Denkens darstellen – was sie nach seiner eigenen Klassifikation selbstverständlich tun. Vielmehr fragt er, ob dieser Kernübergang in einem solchen Schluss an sich selbst durch einen Bestandteil des Denkens vermittelt ist, in mancher Hinsicht ähnlich der Art und Weise, wie Locke einige demonstrative Schlüsse durch einen anderen Bestandteil des demonstrativen Schließens vermittelt sieht, nämlich jene betreffend die Beziehungen zwischen ihren Teilen, oder ob der Übergang stattdessen von irgendeinem anderen Prozess bewirkt wird. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass Humes negative Schlussfolgerung den kausalen Ursprung betrifft, und nicht die erkenntnistheoretische Sicherheit oder Rechtfertigung von Wahrscheinlichkeitsschlüssen. Humes Argument hat allerdings eine wichtige Konsequenz für Rechtfertigungsfragen. Denn wenn die Annahmen über die Einheitlichkeit der Natur ursprünglich überhaupt nicht aus dem Denken heraus entstehen, dann kann man sie nicht auf diese Weise rechtfertigen, wie man es normalerweise bei Denkvorgängen tut. Entsprechend gilt: wenn die Behauptung, dass die Induktion weiterhin verlässlich sein werde, eine Behauptung von der Art ist, der man nur durch ein Denken zustimmen kann, das davon ausgeht, dass die Induktion weiterhin verlässlich sein werde, dann wird jedes Argument der Behauptung einer Fortsetzung der Induktion um ihrer Glaubwürdigkeit willen zirkulär sein, indem sie bereits annimmt, was sie erst beweisen will. Deshalb wird das viel diskutierte philosophische Problem, wie die Induktion überhaupt gerechtfertigt werden kann, zu Recht auf Humes Diskussion des Wahrscheinlichkeitsschlusses zurückgeführt. Obwohl der Geist die Vorannahmen über die Einheitlichkeit der Natur allein durch seinen Schluss auf eine Überzeugung auf diese Einheitlichkeit nicht vorwegnimmt, macht er diese Annahmen doch tatsächlich auf einem anderen Wege. Hume argumentiert nämlich, dass dies im Wege eines Mechanismus der Gewohn723
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heit geschehe, unter der er die allgemeine Tendenz des Geistes zur ‚Erneuerung‘ eines vergangenen Vorganges oder einer vergangenen Handlung ohne irgendeine ‚neue Schlussfolgerung oder Reflexion‘ versteht. Im Falle eines Wahrscheinlichkeitsschlusses werde die geistige Erfahrung von vergangenen, beständigen Verbindungen zwischen zwei Typen von Ereignissen erneuert, wenn der Geist durch den Eindruck oder die Erinnerung eines Beispiels dieses Typs unmittelbar fortfährt, und zwar ohne weitere Gedanken und ohne jede Reflexion, eine Vorstellungsbrücke von diesem einen Auftreten zu einem anderen zu schlagen. Die Kraft und Lebendigkeit des gegenwärtigen Eindrucks oder der gegenwärtigen Erinnerung liefere ein Maß für die Kraft und Lebendigkeit auch für die davon ausgelöste Vorstellung, und diese Kraft und Lebendigkeit mache die Überzeugung aus, dass der Geist auf der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung aufbaue und erkläre damit auch seine Fähigkeit, den Willen zu affizieren. Dieser gewohnheitsmäßige Prozess, der ein Merkmal der Einbildung im engeren Humeschen Sinne ist, bringe also eine Überzeugung betreffend die Schlussfolgerung eines Wahrscheinlichkeitsschlusses hervor, und zwar ohne jegliche vermittelnde Überzeugung oder Reflexion über die Einheitlichkeit der Natur. Humes Beschreibung dieses Prozesses stellt seine positive Antwort auf die ursprüngliche Frage nach dem Wesen dieses Übergangs dar, die seine negative Antwort darauf ergänzt. Hume folgt Lockes Ausdrucksweise in der Beschreibung jeder Art oder jeder Stufe von Vergewisserung als Wahrscheinlichkeit, die kein Wissen ist, und die vollständig auf wahrgenommenen Beziehungen von Vorstellungen beruht, aber er erkennt an, dass die Vergewisserung, die von Erfahrungsschlüssen abgeleitet ist, fest und ohne Zögern sein kann. Entsprechend fährt er fort, innerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit im weiten Lockeschen Sinne zwischen dem Beweis einerseits zu unterscheiden, der ein hohes Maß an Überzeugung oder Vergewisserung darstellt, die auf einer vollständigen und ausnahmslosen Erfahrung von der beständigen Verbindung zweier Arten von Ereignissen beruht, und der bloßen Wahrscheinlichkeit im zweiten und engeren Sinne. Es gibt drei philosophisch anerkannte Arten der Wahrscheinlichkeit (‚Traktat‘ 1.3.11 und 12) in diesem engeren Sinne: die Wahrscheinlichkeit der Ursachen, bei der zwei Arten von Ereignissen beide gemeinsam als zusammenhängend erfahren wurden, dies aber nicht ausnahmslos oder nur in einer kleinen Anzahl von Fällen. Ferner gibt es die Wahrscheinlichkeit der Zufälle, in der es eine einheitliche Erfahrung gibt, dass eine Gruppe von Alternativen bestimmt eintreten wird (wie z.B. die Wahrscheinlichkeit, dass eine der Seiten eines Würfels nach dem Wurf nach oben zeigen wird). Aber nichts bestimmt den Geist, eine dieser Alternativen bei einer bestimmten Gelegenheit mit größerer Sicherheit zu erwarten als die anderen Alternativen, so dass jeder Alternative nur eine beschränkte billigende Erwartung zuteil wird. Und schließlich gibt es die Analogie, bei der eine Überzeugung die Ereignisse dergestalt betrifft, das etwas ähnlich dem ist, wenn auch nicht ganz genau, was man in einer beständigen Verbindung von Ereignissen erfahren hat. Zusätzlich zu diesen mittels Nachdenken bestätigten Arten der Wahrscheinlichkeit unterscheidet Hume auch noch einige weitere Arten der unphilosophischen Wahrscheinlichkeit (‚Traktat‘ 1.3.13), d.h. Weisen, in denen Merkmale der Einbildung das Maß einer Überzeugung oder Gewissheit des Geistes betreffen, das wir nach entsprechendem Nachdenken nicht teilen würden. Zusätzlich benennt eine Reihe von „Regeln, durch die wir über Ursachen und Wirkungen urteilen“ (‚Traktat‘ 724
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1.3.15), d.h. Regeln, die aus der Reflexion über die eigenen Vorgänge des Geistes beim Wahrscheinlichkeitsdenken und über den Erfolg und die Fehler vergangener Wahrscheinlichkeitsschlüsse folgen. Er leistet damit eine gründliche und provokante Darstellung des nicht-demonstrativen Denkens als einem Denken, das immer kausal und von einer induktiven Projektion der vergangenen Erfahrung ausgeht. 4. Kausale Notwendigkeit Auf der Grundlage seiner Darstellung des Kausalschlusses bietet Hume eine Erklärung der sog. ‚notwendigen Verbindung‘ von Kausalbeziehungen an und liefert zwei Definitionen des Ausdrucks ‚Ursache‘ (‚Traktat‘ 1.3.14; UmV 7). Aus dem Abbildungsprinzip folgt, dass wir, wenn wir die Vorstellung einer notwendigen Verbindung haben, diese Vorstellung als Abbild von irgendeinem Eindruck oder einer Mehrzahl von Eindrücken genommen haben müssen. Wenn der Geist zunächst ein Ereignis eines Typs bemerkt, auf das ein Ereignis eines anderen Typs folgt, nimmt er allerdings niemals irgendeine notwendige Verbindung zwischen ihnen wahr; erst nach wiederholter Erfahrung geschieht es, dass der Geist sich dafür entscheidet, hier eine notwendige Verbindung zu sehen. Jedoch kann die einfache Wiederholung der Erfahrung von der Verbindung der beiden Arten von Ereignissen dem Geist keinerlei neuen Eindruck von den Gegenständen selbst verschaffen, der über das hinausgeht, was er bei der ersten Beobachtung sah. Der Eindruck der notwendigen Verbindung, von dem die Vorstellung der notwendigen Verbindung ein Abbild ist, muss daher ein innerer Eindruck sein, der sich aus der Art und Weise ergibt, auf die der Geist selbst sich als Ergebnis der Erfahrung einer beständigen Verbindung ändert. Dieser Eindruck wird dann häufig projektiv falsch innerhalb oder zwischen Ursache und Wirkung selbst angesiedelt, und zwar ungefähr auf dieselbe Weise, wie der nicht-räumliche Geschmack, Geruch und Klang irrtümlicherweise in Körpern verortet werden, denen sie zugeordnet werden. Kausalen Beziehungen ist eine Art von Notwendigkeit eigen, d.h. eine Undenkbarkeit des Gegenteils, die in der psychologischen Schwierigkeit liegt, zwei Typen von Ereignissen in der Einbildung trennen zu müssen, nachdem sie doch beständig in der Wahrnehmung zusammen gesehen wurden, und in der Unmöglichkeit zu glauben, dass sie wirklich getrennt sind. Wegen der projektiven Illusion, durch die der Eindruck einer notwendigen Verbindung fälschlicherweise in den Gegenständen angesiedelt wird, verschmelzen wir jedoch häufig diese kausale Notwendigkeit mit der demonstrativen Notwendigkeit, die sich aus den inneren Beziehungen zwischen den Vorstellungen ergibt, erklärt uns Hume. Das Ergebnis, so wird behauptet, sei eine philosophische Verwechslung, bei der wir annehmen, dass wir eine notwendige Verbindung wahrnehmen, die auf eine Demonstration hinauslaufe, die ihrerseits den Ursachen und Wirkungen selbst eigen sei, und die dann enttäuscht werde, wenn wir realisieren, dass wir zumindest in einigen Fällen am Ende überhaupt keine Verbindung wahrnehmen. Diese Unzufriedenheit führt zu ungleichartigen Theorien darüber, wie die Kausalkräfte arbeiten, und über Einschränkungen des Bereichs dessen, was ‚echte‘ Kausalbeziehungen seien. Das Mittel gegen eine solche Verwirrung sei es zu realisieren, dass wir niemals Wahrscheinlichkeitsschlüsse als das Ergebnis der Wahrnehmung einer notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung vornehmen, sondern vielmehr, dass wir den internen Eindruck einer notwendigen Verbindung genau deshalb wahrnehmen, weil wir geneigt sind, diesen Schluss daraus zu ziehen. Jegliche zwei Arten von 725
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Ereignissen sind geeignet, in einer Kausalbeziehung zueinander zu stehen, oder wie Hume sagt, „die Dinge a priori betrachtet, kann jedes Ding alles zur Folge haben“ (‚Traktat‘ 1.4.5.30). Nur die Erfahrung kann zeigen, welche Dinge wirklich in einer Kausalbeziehung zueinander stehen. Folgt man dieser Darstellung der kausalen Schlussfolgerung und der kausalen Notwendigkeit, definiert Hume den Ausdruck ‚Ursache‘ im ‚Traktat‘ sowohl als „einen Gegenstand, der einem anderen vorausgeht und unmittelbar an ihn angrenzt, und wo alle Gegenstände, die dem ersteren ähneln, in einer ähnlichen Beziehung des Vorangehens und der Nachbarschaft zu den Gegenständen angeordnet werden, die den letzteren ähneln“, und als „einen Gegenstand, der einem anderen vorausgeht und unmittelbar an diesen angrenzt, und dergestalt so mit ihm vereinigt ist, dass die Vorstellung des einen den Geist zur Vorstellung des anderen bestimmt, und der Eindruck des einen den Geist zur Bildung einer lebendigeren Vorstellung des anderen bringt.“ (‚Traktat‘ 1.3.14.31; siehe auch UmV 7.33). Es kann durchaus sein, dass diese beiden Gegenstände nicht geeignet sind, dieselben Gegenstände als Ursachen ausfindig zu machen. Denn Gegenstände können tatsächlich beständig miteinander verbunden sein, ohne dass man dies beobachten kann, und Gegenstände können von Beobachtern unrepräsentativer Beispiele als beständig miteinander verbunden wahrgenommen werden, die in Wirklichkeit gar nicht miteinander verbunden sind. Tatsächlich sind jedoch beide Definitionen mehrdeutig, und zwar auf parallele Weise. Die erste Definition kann entweder in einem subjekt-relativen Sinne verstanden werden, d.h. dass sie etwas betrifft, was in der Beobachtung einer einzelnen Person miteinander verbunden war. Die zweite Definition könnte man ähnlich entweder in einem subjekt-relativen Sinne verstehen, d.h. dass sie etwas betrifft, was im Geist einer einzelnen Person die Grundlage für eine Verbindung und die entsprechende Schlussfolgerung ist, oder aber in einem absoluten Sinne, d.h. dass sie etwas betrifft, was die Grundlage für eine Verbindung und die entsprechende Schlussfolgerung in einem idealisierten menschlichen Geist ist, der ein repräsentatives Beispiel der fraglichen Verbindung beobachtet hat, und der daraufhin auf philosophisch zulässige Weise schlussfolgert. Die beiden Definitionen stimmen damit in ihrer subjektrelativen Interpretation überein, d.h. jener Interpretation, die Hume braucht, wenn er diskutiert, wie die kausalen Beziehungen im individuellen menschlichen Geist ein Verbindungsprinzip entstehen lassen, das Gegenstand dessen ist, was ein menschlicher Geist als kausal aufeinander bezogen auffasst. Die beiden Definitionen stimmen wiederum in ihren absoluten Interpretationen überein, d.h. in jene Interpretation, die er braucht, wenn er diskutiert, welche Paare von Ereignissen wirklich miteinander verbunden sind. Beide Definitionen sollen die Klasse der Vorstellungen von Ereignispaaren bestimmen, die entweder in einem einzelnen oder in einem idealen menschlichen Geist unter der abstrakten Vorstellung der Beziehung von Ursache und Wirkung versammelt sind. Wenn Ursache-Wirkungs-Paare etwas anderes gemeinsam haben, was jenseits dessen liegt, was von diesen beiden Definitionen erfasst wird, dann ist dies etwas, was nach Hume vom menschlichen Geist nicht gedacht werden kann. Die Interpreten sind unterschiedlicher Meinung bezüglich Humes Einstellung zu der Aussicht auf ein solch unbegreifliches ‚Etwas-Weiteres‘. Manche meinen, dass er sie zurückweist, andere wiederum meinen, er ließe sie zu. In jedem Falle ist diese Konzeption der beständigen Verbindung als etwas, was für
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die Verursachung notwendig und hinreichend ist, eine der einflussreichsten Vorstellungen in der Geschichte der Metaphysik. 5. Freier Wille Die Frage, ob der menschliche Wille frei oder vorherbestimmt ist, ist eine der drückendsten Fragen, die durch die wissenschaftliche Revolution aufgeworfen wurden, denn sie steht im Zentrum der Moral und der Auffassung des Platzes, den der Mensch in der Natur einnimmt. Hume wendet seine Darstellung des Kausalschlusses und der kausalen Notwendigkeit zu ihrer Lösung an (‚Traktat‘ 2.3.1–2; UmV 8). Er meint, dass seine zwei Definitionen der Ursache die einzigen beiden möglichen Erfordernisse für die kausale Notwendigkeit menschlicher Handlung bestimmen: (1) die beständige Verbindung mit bestimmten Typen von Antezedensbedingungen, und (2) die Eignung zur Verbindung mit darauf folgender Schlussfolgerung. Da bestimmte menschliche Handlungen beständig mit bestimmten Arten von Antezendenz-Motiven, Charakterzügen und den jeweiligen Umständen verbunden sind, und weil diese beständigen Verbindungen klarerweise eine Grundlage für die Schlussfolgerung und die Verbindung von Ereignissen auf der Seite des Beobachters sein können und dies auch oft sind, folge daraus, so meint Hume, dass die menschlichen Handlungen mit kausaler Notwendigkeit erfolgen. Hume selbst ist ein Determinist, der auf der Grundlage der Induktion von vergangenen Erfolgen der Naturwissenschaften beim Auffinden bestimmender Ursachen für den Eintritt von Ereignissen sagt, dass jedes Ereignis das Ergebnis vorangehender Bedingungen in Übereinstimmung mit ausnahmslos gültigen Naturgesetzen ist. Was er allerdings die ‚Lehre von der Notwendigkeit‘ nennt, erfordert keinen Determinismus, sondern nur die allgemeine Voraussagbarkeit menschlicher Handlungen. Denn seine vorrangigen Gegner sind keine Indeterministen, sondern eher Verteidiger der Unterscheidung (so wie Samuel Clark) zwischen physischen Ursachen, die ihre Wirkungen einerseits notwendig bedingen, und andererseits ‚moralischen Ursachen‘ (wie z.B. die menschlichen Motivationen), die angeblich ihre Wirkungen nicht notwendig herbeiführen. Da wir nicht den Eindruck einer notwendigen Verbindung von Ereignissen haben, wenn wir überlegen und handeln, so argumentiert Hume, nehmen wir an, dass unsere eigenen Handlungen nicht notwendig aus ihren Ursachen folgen. Aber diese Schlussfolgerung wird enttäuscht durch die beständige Verbindung dieser Handlungen mit bestimmten Motiven, Charakterzügen und Umständen, und auch durch den Umstand, dass externe Beobachter den Eindruck einer notwendigen Verbindung dieser Elemente haben, wenn sie unsere Handlungen voraussagen oder daraufhin schlussfolgern. Weil wir irrtümlich annehmen, dass es zwei Arten von Verursachung gibt, nämlich die notwendigen und die nicht notwendigen, nehmen wir auch an, dass es eine Art von Freiheit oder Freiraum gibt, die eine beständige Verbindung und somit das Zusammengeschehen und die kausale Schlussfolgerung erlauben, ohne kausal notwendig zu sein. Tatsächlich ist dies jedoch unmöglich; und die einzige Art von sog. ‚Freiraum‘ die im Gegensatz zur Notwendigkeit steht, ist die Freiheit der Indifferenz oder der Zufall, d.h. die Abwesenheit von Kausalität und folglich auch von Vorhersehbarkeit. Als Determinist leugnet Hume natürlich, dass es wirklich irgendeine Freiheit der Indifferenz gibt, obwohl er dies als eine Schlussfolgerung aus der Erfahrung betrachtet. Aber er bestreitet auch, dass irgend jemand es wünschen könne, 727
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dass sein Verhalten zufällig sei, denn dann würde das Verhalten dieser Person in keiner kausalen Beziehung zu den eigenen Motiven, Charakterzügen und Umständen stehen. Die Art von Freiheit, die wir haben und auch suchen, behauptet er, sei die Freiheit der Spontaneität, die einfach aus der Abwesenheit von Beschränkungen bestehe, d.h. die Kraft, derzufolge das Handeln oder Nichthandeln einer Person durch ihren Willen bestimmt sei. Tatsächlich sind sowohl die kausale Notwendigkeit, als auch die Freiheit der Spontaneität für die moralische Verantwortung erforderlich, denn jemand kann nicht für etwas beschuldigt werden, das nicht durch seinen Charakter verursacht wurde, und auch nicht für Dinge, die seinem Willen zuwider laufen. Die Tatsache, dass der menschliche Wille kausal durch Motive, Charakterzüge und Umstände determiniert ist, die umgekehrt selbst kausal durch andere Faktoren determiniert sind, die letztlich nicht dem Willen unterworfen sind, stört sich nach Humes Ansicht keineswegs mit jener Art von Freiheit, die für die moralische Verantwortung erforderlich ist. Humes Behandlung dieses Punktes ‚Freiheit und Notwendigkeit‘ ist eine der bekanntesten Verteidigungen des Kompatibilismus, d.h. der Auffassung, dass die Art von Freiheit, die für die moralische Verantwortlichkeit erforderlich ist, vereinbar ist mit der kausalen Determination menschlicher Überlegung und Handlung, und sein Beitrag hierzu ist ein wichtiges Element in seinem Versuch, das Studium der Natur des Menschen in die natürliche Welt zu integrieren. In seiner ‚Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes‘ erwägt Hume auch zwei ‚Einwände‘ gegen die Religion, die vom Erdulden der kausalen Notwendigkeit und der moralischen Verantwortung gemäß der Lehre, dass Gott die letzte Ursache des gesamten Universums ist, abgeleitet sind. Der erste Einwand lautet, dass diese Lehre den Menschen von jeder Verantwortung für seine Verbrechen freispricht, weil Gott kausal notwendig gut sein muss; der zweite (und alternative) Einwand ist, dass die Lehre von uns ansonsten fordert, dass wir die moralische Vollkommenheit Gottes bestreiten und „anerkennen, dass er der letzte Schöpfer der Schuld und moralischen Verworfenheit in allen Geschöpfen ist“ (UmV 8.33). Gegen den ersten Einwand argumentiert Hume, dass wir durchaus Menschen für Charakterzüge verantwortlich machen können, die Gefühle der moralischen Ablehnung hervorrufen, und zwar unabhängig von ihren entfernteren kausalen Ursachen. Der zweite Einwand, so meint er jedoch, liegt jenseits der Macht menschlicher Philosophie, um ihn aufzulösen, wodurch er im Endeffekt den Einwand gegen eine theistische Kosmologie und Theodizee stehen lässt. 6. Gott Zusätzlich zu seiner Behandlung des freien Willens und der göttlichen Verantwortung zieht Hume in seiner ersten ‚Untersuchung‘ ferner wichtige Konsequenzen aus seiner Theorie der kausalen Schlüsse und der kausalen Notwendigkeit hinsichtlich der Frage der Bezeugung von Wundern (UmV 10) als eine Art von Zeugnis – von dem bereits Locke gesprochen hatte –, das einen strengen Beweis zur Unterstützung der Behauptung der göttlichen Offenbarung liefern könnte. Hume zieht zunächst aus seiner Darstellung des Wahrscheinlichkeitsschlusses die Schlussfolgerung, dass die Erfahrung der einzige Führer in allen Tatsachenangelegenheiten sein müsse, und dass die weisen Menschen ihre Überzeugungen in das richtige Verhältnis zum experimentellen Beweis setzen werden. Wenn es also einen Beweis im Sinne einer weit verbreiteten und ausnahmslosen Erfahrung gibt, so wird sich der weise 728
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Menschen vollständig auf sie verlassen; wenn es aber nur Wahrscheinlichkeit gibt, die im engeren Sinne vom Beweis zu unterscheiden ist, dann können sie nur zögerlich vertrauen. Wo also ein Beweis in Konflikt mit der reinen Wahrscheinlichkeit kommt, sollte der Beweis immer Vorrang haben. Hume wendet diese allgemeinen Prinzipien nun auf die spezifische Frage des Zeugnisses an: Das Zeugnis kann keinerlei Glaubwürdigkeit an sich unabhängig von seiner Beziehung zur Erfahrung in Anspruch nehmen. Vielmehr hat das Zeugnis über ein bestimmtes Ereignis nur in dem Umfange eigentliches Gewicht, wie jemand Vertrauen in die Verlässlichkeit (das heißt: Zustimmung zur Wahrheit) dieser Art von Zeugnis aufbringt. Schließlich wendet Hume dieses Prinzip über das Zeugnis wiederum auf den Spezialfall des Zeugnisses für das Auftreten eines Wunders an, das er als eine Verletzung der Naturgesetze versteht. Da eine Verallgemeinerung als ein Naturgesetz anzusehen ist, heißt dies, dass man die Wunder wie einen Beweis (in Humes technischem Sinne) behandelt. Daraus folgt, dass die Annahme eines Wunders aus demselben Grunde die Annahme des Beweises für sein Auftreten ist. Im Endeffekt kann das Zeugnis über ein Wunder nicht das Auftreten des Wunders fest behaupten, wenn es dafür nur eine Wahrscheinlichkeit, aber keine vollen Beweise darüber gibt, dass dieses Zeugnis verlässlich ist. Stattdessen könnte das Zeugnis das Auftreten eines Wunders nur dann bestätigen, wenn die Falschheit dieses Zeugnisses selbst ein noch größeres Wunder wäre – und selbst in diesem Falle, merkt Hume an, würde hier Beweis gegen Beweis stehen, was uns auffordert, nach einer noch weiteren Grundlage für die Glaubwürdigkeit eines der beiden Beweise zu suchen (wie sie z.B. in der Analogie mit noch einem anderen Beweis gefunden werden kann). Dies würde jedoch bestenfalls in eine sehr zögerliche Annahme des einen angeblich stärkeren Beweises, wie er auch beschaffen sei, führen. Letztlich bringt Hume vor, dass man immer die am wenigsten wunderbare Erklärung für eine Erscheinung als das Zeugnis eines Wunders annehmen sollte. Nach seinem Eintreten für diesen sehr hohen Glaubwürdigkeitsstandard gegenüber Zeugnissen von Wundern, schreitet Hume fort mit der Betrachtung der Qualität von tatsächlich existierenden Zeugnissen für Wunder, den psychologischen Mechanismen, die die Bekanntgabe und Annahme falscher Zeugnisse religiöser Wunder anregen, die hohe Zahl von Wunderzeugnissen, die von „primitiven und barbarischen“ Menschen stammen, und der umgekehrte Effekt von Zeugnissen auf Wunder, wenn sie konkurrierende Religionen unterstützen. Er schließt aus dieser Erkundung erstens, dass kein wirkliches Zeugnis für Wunder jemals die geforderten Standards eingehalten hat, und sie es noch nicht einmal zu einem Wahrscheinlichkeitsschluss gebracht haben, und zweitens, dass kein Zeugnis jemals einem Wunder Glaubwürdigkeit zu verschaffen vermag, wenn es dazu dient, die Ansprüche und Behauptungen einer bestimmten Religion zu festigen. Eine weitere Anwendung von Humes Darstellung der Kausalität und des kausalen Denkens in der ersten ‚Untersuchung‘ betrifft die „Vorsehung und einen künftigen Zustand“ (UmV 11) und wird in der Form eines Dialoges zwischen Hume und einem sog. ‚Freund‘ durchgeführt. Weil eine beobachtete beständige Verbindung die einzige Grundlage für einen Schluss auf das Unbeobachtete liefere, argumentiert der Freund, können wir nicht mehr Gewicht in eine unbeobachtete Ursache legen, als wir dies für einen beobachteten Effekt bestätigen können. Und deshalb gerieten diejenigen in ein Dilemma, die behaupten, dass eine vernünftige Aussicht auf Beloh729
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nung und Bestrafung im Leben nach dem Tode ein wesentliches Motiv für das moralische Verhalten sei. Denn wenn das gegenwärtige Leben nicht so verlaufe, dass tatsächlich die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, dann gebe es auch nur eine ungenügende empirische Basis für den Schluss, dass Gott sich wirklich mehr bemühen wird, um im Leben nach dem Tode endlich die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen. Wenn aber auf der anderen Seite das gegenwärtige Leben so ausgelegt sei, dass die Guten durchgehend belohnt und die Bösen durchgehend bestraft werden, dann sei der Schluss auf ähnliche Belohnungen und Bestrafungen im Leben nach dem Tode vielleicht vernünftiger, aber die Schlussfolgerung werde gar nicht notwendig sein, um ein moralisches Verhalten herbeizuführen, denn dann würde ja das gegenwärtige Leben von sich aus schon genügend Anreize dafür bereit halten. (Man könnte hier natürlich einwenden, dass die Offenbarung eine andere und unabhängige Quelle des Wissens über die Natur des Lebens nach dem Tode bereithält. Hume hat aber indirekt auch Behauptungen einer vertrauenswürdigen göttlichen Offenbarung angegriffen, indem er die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Wunder zur Unterstützung des Urteils über Behauptung von Offenbarungen einsetzt.) Humes abschließende Bemerkung in diesem Dialog wirft die Frage auf, ob in Anbetracht der Einzigartigkeit des Ursprungs des Universums und unserem Mangel an diesbezüglicher Erfahrung überhaupt ein Schluss auf seine Ursachen möglich sei. Die ‚Dialoge in Betreff der Naturreligionen‘ greifen diesen Gedanken im Detail auf, indem sie eine Anwendung von Humes Theorie des kausalen Schließens zur Prüfung dessen anbieten, was häufig das ‚Entwurfsargument‘ (engl.: argument from design) oder der teleologische Beweis für die Existenz Gottes genannt wird. Die Figur der Demea, die für philosophische Theologen wie z.B. Samuel Clarke steht, schlägt vor, dass die Existenz Gottes aus dem Bedürfnis nach einem notwendig existierenden Wesen abgeleitet werden könne, das als Ursache aller kontingent existierenden Dinge dient. Die Figuren Cleanthes (ein Theist, der die Auffassung akzeptiert, dass alle kausalen Behauptungen nur mittels Erfahrung bestätigt werden können) und Philo (ein Skeptiker, der auch die Auffassung akzeptiert, dass kausale Behauptungen nur durch Erfahrung bestätigt werden können) weisen jedoch die Vorstellung einer notwendigen Existenz zurück, denn von allem könne man sich denken, dass es existiert oder auch nicht. Sie sind sich darin einig, dass ein gutes Argument für die Existenz Gottes auf einem empirischen Beweis aufbauen müsse, dass das Universum das Produkt eines intelligenten Entwurfs sei. Ihr Streit betrifft die Kraft solcher Argumente. Da wir keinerlei Erfahrung von der Schöpfung des Universums haben, so wendet Philo ein, seien wir in einer schwachen Position, um seine Ursachen zu bewerten, und eine Erklärung der Geordnetheit des Universums durch Berufung auf die Tätigkeit eines planmäßigen göttlichen Geistes scheint hier ein unnötiger Schritt, denn die Ordnung des göttlichen Geistes würde selbst noch eine Erklärung erfordern. Wenn wir jedoch spekulieren müssen, dann gibt es viele mögliche Hypothesen, und zumindest einige von ihnen scheinen Vorteile gegenüber jener vom intelligenten Entwurf zu haben. Vielleicht entstand das Universum beispielsweise durch einen Prozess ähnlich jenem der Tierentstehung: die Erfahrung liefere uns viele Beispiele von diesem Prozess, wie er Intelligenz hervorbringt, aber keine Beispiele von einer Intelligenz, die Anlass für den Prozess der Tierentstehung sei. Wenn wir außerdem annehmen, dass die Evidenz die Hypothese begünstigt, dass die Ursache des Universums einem menschlichen Planer ähnelt, dann können wir 730
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uns nicht damit zufrieden geben, nur nach der Intelligenz zu fragen, sondern wir wären verpflichtet, die Ursache des Universums gänzlich anthropomorph zu behandeln, d.h. als eine verkörperte, geschlechtlich differenzierte, beschränkte und plurale Gestalt, genauso wie wir sie auch als Erfinder und Gestalter komplexer menschlicher Produkte antreffen. Doch trotz dieser Einwände fühlt sich Philo von der unmittelbar überzeugenden Kraft von Cleanthes Ausführungen zum Entwurfsargument verwirrt, d.h. er fühlt sich so trotz deren ‚irregulären‘ Charakters im Vergleich mit Urteilen, die den Standards eines echten Kausalschlusses entsprechen. Philo fühlt sich selbst auf psychologisch festerem Grund, wenn er weiterhin behauptet, dass die Existenz, Natur und Verteilung von Übeln in der Welt es unwahrscheinlich mache, dass eine intelligente Ursache des Universums, wenn es denn überhaupt eine solche gebe, selbst moralisch gut sei oder sich um die Förderung des menschlichen Wohlergehens bemühe. Gleichwohl schlägt Philo gegen Ende des ‚Dialogs‘ einen bemerkenswert versöhnlichen Ton an und gibt zu, dass „die Ursache oder die Ursachen des Universums wahrscheinlich eine entfernte Analogie zur menschlichen Intelligenz“ aufweisen. Dies muss man allerdings nicht als eine umfassende Konzession an Cleanthes auffassen, da er ihm bereits früher zugestanden hatte, dass auch noch „das Verrotten einer Steckrübe“ eine entfernte Ähnlichkeit zur menschlichen Intelligenz aufweise. Während er streng die für die menschliche Gesellschaft verderblichen Konsequenzen einer religiösen Splittergruppenbildung und des Aberglaubens kritisiert, schlägt Philo vor, dass der Streit zwischen den Theisten und den Skeptikern nur ein verbaler sei, der in bemerkenswertem Umfange auf Unterschieden des Temperaments beruht: wo die Theisten die zugegebene Analogie zwischen dem Universum und bekannten Produkten intelligenter Planung betonen, betonen die Skeptiker die zugegebenen Disanalogien. Während die Kommentatoren fortfahren mit ihrem Disput über den Umfang, in dem Philo oder Cleanthes als Stimmen von Hume selbst verstanden werden können, ist man sich allgemein darüber einig, dass die ‚Dialoge‘ eine fruchtbare Kritik des Entwurfsarguments liefern. 7. Die äußere Welt Die neue mechanistische Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts verschärfte die Frage, was man von der äußeren Welt durch Sinneswahrnehmung wissen, und wie man dieses Wissen erwerben könne. Eines von Humes Zielen im ‚Traktat‘ ist es zu untersuchen, „welche Ursachen uns zum Glauben an die Existenz eines Körpers führen“ (‚Traktat‘ 1.4.2), obwohl er zu Beginn der Untersuchung bemerkt, dass es wohl sinnlos sei zu fragen, ob es Körper gäbe oder nicht. Dies sei vielmehr ein Punkt, den wir in allem unserem Denken als gegeben hinnehmen müssten. Er analysiert den Glauben an Körper, d.h. an physische Gegenstände, als den Glauben an Gegenstände, die eine „fortgesetzt bestimmte“ Existenz haben, d.h. an Gegenstände, die auch dann noch weiter fortbestehen, wenn sie nicht vom Geist wahrgenommen werden, und die eine Existenz haben, die sich von der des Geistes gerade deshalb unterscheidet, weil sie außerhalb von ihm und in kausaler Wechselwirkung mit ihm hinsichtlich ihrer Existenz und Tätigkeiten bestehen. Die „vulgäre“ Zuschreibung einer fortgesetzten und bestimmten Existenz – die auch von den Philosophen für die meiste Zeit ihres Lebens praktiziert wird – zu etwas, das man unmittelbar wahrnimmt, erzeugt tatsächlich Eindrücke. Die Meinung, dass diese Eindrücke eine fort731
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gesetzte und bestimmte Existenz haben, kann aber an sich selbst kein unmittelbares Produkt der Sinneswahrnehmung sein, wendet Hume ein, denn die Sinne können selbst die Fortsetzung nicht wahrnehmen, wenn sie ihrer nicht gewahr sind, und die bestimmte Existenz selbst dann nicht einmal, wenn sie sie unmittelbar wahrnehmen, noch kann die einfache Meinung der ordentliche Gegenstand eines Schlusses sein, denn das Nachdenken zeigt vielmehr, dass das, was wir unmittelbar wahrnehmen, nicht fortgesetzte und bestimmte Existenzen sind, sondern unabhängige und flüchtige Eindrücke im Geist. Die fragliche Meinung muss deshalb von Merkmalen der Einbildung (im engeren Sinne) abhängen. Wie kommt es also zu dem Glauben an Körper? Nach Humes Erklärung zeigen einige unserer Eindrücke (beispielsweise jene der Farbe, des Klanges, des Geschmacks, des Geruchs und der Berührung) sowohl Konstanz, als auch Zusammenhang. Konstanz meint bei ihm ihre Tendenz zur Wiederkehr bzw. zu ihrem Verbleib trotz Wahrnehmungsunterbrechungen; Zusammenhang meint hier ihre Tendenz zu einem Auftreten in bestimmter Ordnung, wobei sie Elemente dieser Ordnung selbst noch nach Unterbrechung zeigen. Der Zusammenhang der Eindrücke spielt bei der Tendenz zur Zuschreibung fortgesetzter und bestimmter Existenz zu diesen Eindrücken eine Rolle, denn im Wege der Annahme einer solchen Existenz kann der Geist ihnen eine größere kausale Regularität zuschreiben, als es sonst möglich wäre. Und wenn der Geist sich einmal daran gewöhnt hat, nach kausalen Regularitäten Ausschau zu halten, so treibt er diese Neigung auch noch über das hinaus, was er ursprünglich in der Erfahrung vorfindet. Die primäre Ursache der Zuschreibung einer fortgesetzten und bestimmten Existenz zu dem, was in Wirklichkeit Eindrücke sind, sei jedoch ihre Konstanz, meint Hume. Man verwechsele leicht einen „vollkommen identischen“ Gegenstand, d.h. einen invariant und ununterbrochen wahrgenommenen Gegenstand, mit einer Folge von einander ähnlichen, aber unterbrochenen Eindrücken von Gegenständen, weil das, was der Geist dabei spüre, einander ähnele. Entsprechend schreibe der Geist einigen seiner unterbrochenen Eindrücke eine vollkommene Identität zu. Wenn sich der Geist manchmal der Unterbrechungen gewahr werde, versuche er den Widerspruch zu heilen, indem er annehme, dass die Eindrücke an sich selbst ununterbrochen auch in den nicht wahrgenommenen Momenten weiter existieren, und zwar unabhängig vom Geist. Die Kraft und Lebendigkeit der Eindrücke sorge für die erforderliche Lebendigkeit dieser Annahme, so dass sie zu einer Überzeugung werde. Die vulgäre Meinung, dass die Dinge selbst, die wir unmittelbar wahrnehmen, eine fortgesetzte und bestimmte Existenz unabhängig vom Geist besitzen, ist nach Humes Auffassung nicht widersprüchlich oder unbegreiflich; sie kann gleichwohl aber mittels einiger weniger und einfacher Experimente als falsch bewiesen werden. Übt man zum Beispiel leichten Druck auf einen seiner Augäpfel aus, so verdoppeln sich die visuellen Eindrücke und zeigen damit, dass sie bezüglich ihrer Existenz und bezüglich dessen, was sie tun, nicht kausal unabhängig vom Geist sind. Hieraus kann man schließen, dass sie nicht weiter existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Gleichwohl sei die Meinung, so meint Hume, dass sie fortgesetzte und bestimmte Existenzen seien, psychologisch so unwiderstehlich, dass die Philosophen, weit davon entfernt, diese Meinung aufzugeben, lieber eine neue Theorie erfinden, um ihre Erfahrung damit zu versöhnen. Dies sei die philosophische ‚Theorie der doppelten Existenz‘, nach der die Wahrnehmungseindrücke durch eine zweite Reihe 732
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von Gegenständen verursacht würden, nämlich von Körpern, die ihnen qualitativ ähneln. Diese Theorie, so argumentiert Hume, wende sich nicht vorrangig an die Einbildung, denn die Einbildung erzeuge normalerweise stattdessen die vulgäre Sichtweise, dass unsere Eindrücke selbst fortgesetzt und bestimmt seien. Noch empfehle sich diese Theorie unmittelbar der Vernunft, denn das kausale Denken könne schließen, dass ein Gegenstand einer bestimmten Art nur dann existiere, wenn er als beständig im Zusammenhang mit einem Gegenstand anderer Art beobachtet werde, was auf jene philosophische Theorie verweise, derzufolge wir direkt nur die Eindrücke wahrnehmen und keine Körper, die die Eindrücke begleiten. Wenn er die kausalen Ursprünge des Körperglaubens gründlich überdenke, so berichtet Hume, verliere er den Glauben daran bzw. seine frühere Überzeugung, dass wir ihn als gegeben nehmen müssten. Jedoch sei dieser Zustand des Zweifels nur vorübergehend, denn der Glaube an die Körper (in welcher Form auch immer) kehre unmittelbar zurück, sobald man sich von der Frage nach ihm abwende. Ein weiteres Problem betreffend den Inhalt des Glaubens an Körper ergibt sich aus dem, was Hume die ‚moderne Philosophie‘ nennt (‚Traktat‘ 1.4.4)2. Es ist eine zentrale Behauptung der neuzeitlichen Philosophie, dass solche Qualitäten wie die Ausdehnung, die Festigkeit und die Bewegung wirklich an Körpern existieren, dagegen Qualitäten, die unsere Eindrücke der Farbe, des Klanges, des Geschmacks, des Geruchs und der Berührungen (wie auch heiß und kalt) nicht wirklich in den Körpern selbst bestehen. Dies ist beispielsweise auch Lockes Ansatz, wenn er von sog. ‚primären‘ und ‚sekundären‘ Qualitäten spricht. Humes Urteil hierzu ist, dass es unter den zahlreichen Argumenten der neuzeitlichen Philosophen zur Begründung dieser Behauptung eine gebe, die er ‚hinreichend‘ findet. Man habe festgestellt, dass die Wahrnehmung der Farbe, des Klanges, des Geschmacks, des Geruchs, der Hitze und der Kälte mit der Perspektive und unterschiedlichen Zuständen der Körper variiere; daraus folge wiederum, dass Köper nicht alle Qualitäten der Farbe, des Klanges, des Geschmacks, des Geruchs, der Hitze oder der Kälte haben können, die man an ihnen wahrnimmt. Und daraus folge, so argumentiert er, dass wir nach dem Prinzip, demzufolge ähnliche Ursachen auch ähnliche Wirkungen haben (und das eines seiner ‚Regeln‘ ist, „durch die die Ursachen und Wirkungen beurteilt werden können“), schließen können, dass keine dieser Qualitäten in den Körpern selbst existiere. Gleichzeitig können die Qualitäten der Ausdehnung, der Festigkeit und der Bewegung von Körpern nicht gedacht werden ohne die Vorstellung von Farben oder Der Ausdruck ‚moderne Philosophie‘ bzw. ganz allgemein die Epochenbezeichnung ‚Moderne‘ wird im angloamerikanischen Kulturraum häufig für jenen Zeitraum verwendet, den man auf Deutsch als ‚Neuzeit‘ bezeichnet. Die Neuzeit ist nach deutschem Sprachgebrauch bekanntlich jene Epoche, die auf das Mittelalter folgt und bis heute andauert. Im deutschen Sprachgebrauch ist die ‚Moderne‘ dagegen ein Sammelausdruck zur Bezeichnung einer vorwiegend künstlerischen Entwicklungsperiode, die grob die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit allen seinen in dieser Zeit entwickelten Stilen umfasst (und die in der Malerei häufig auch ‚klassische Moderne‘ genannt wird). Für diesen Ausdruck gibt es im Englischen keine Entsprechung; vielmehr ist bei aller Philosophie, die nicht älter als ca. einhundert Jahre ist, von more recent oder gar contemporary philosophy die Rede. Der weite englische Sprachgebrauch des Wortes ‚modern‘ geht wesentlich auf die englischen Empiristen zurück. Um Verwirrungen zu vermeiden, wird hier der Ausdruck ‚modern‘ als ‚neuzeitlich‘ übersetzt, sofern die inhaltliche Entsprechung im Einzelfall gegeben ist und es sich um kein Zitat handelt (wie im vorliegenden Falle). [WS]]
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taktilen Qualitäten, um die Ausdehnung des Körpers zu ausfüllen, in denen diese offenbar auftreten. Daraus folge nun wiederum, dass die Körper überhaupt nicht in der Weise bestimmt gedacht werden können, wie dies aus einer strikten Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Philosophie folgen würde. Da dieses angeblich hinreichende Argument ein kausales ist, stellt Hume das Ergebnis als einen Konflikt zwischen dem kausalen Denken und unseren Sinnen dar, wobei er mit letzterem Ausdruck genauer diejenigen Tätigkeiten der Einbildungskraft im Hinblick auf die Sinneseindrücke meint, die den Anlass zum Glauben an die Körper geben. 8. Personale Identität Die zweite Auflage von Lockes ‚An Essay Concerning Human Understanding‘ (1694) enthält eine Darstellung der Natur der personalen Identität, derzufolge diese nicht in Form einer substanziellen Identität, sondern als „Gleichheit des Bewusstseins“ gegeben sei, die aus der Erinnerung abgeleitet sei. Diese Darstellung löste eine bemerkenswerte Diskussion und Kontoverse aus, und Hume greift im ‚Traktat‘ die Frage der personalen Identität auf, die „zu einer so großen Frage in der Philosophie, speziell der letzten Jahre, in England“ geworden sei (‚Traktat‘ 1.4.6). Er verwirft den Vorschlag, dass wir uns beständig eines Selbst gewahr seien, das über die Zeit hinweg einfach und vollkommen identisch (d.h. invariant und ununterbrochen) sei. Wir hätten keine Vorstellung von einem solchen Selbst, meint Hume, indem er sich auf das Abbildungsprinzip beruft, und zwar deshalb, weil wir keinen Eindruck (impression) davon haben. Noch können wir uns denken, in welcher Beziehung unsere eigenen Wahrnehmungen zu einem substanziellen Selbst oder Geist so stehen können, dass sie ihm innewohnen oder anhaften, denn der angenommene Substanzbegriff, dem Qualitäten oder Wahrnehmungen anhaften, sei eine reine Fiktion, die als Rechtfertigung einer assoziationsbasierten Neigung erfunden worden sei, demjenigen, was in Wirklichkeit eine Mehrheit aufeinander bezogener und wechselnder Wahrnehmungsqualitäten ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt Einfachheit, und über die Zeit hinweg vollkommene Identität zu verleihen. Stattdessen, so meint Hume, seien wir uns nur der Folge von Wahrnehmungen selbst bewusst. An einer berühmten Stelle sagt er: „Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als ‚mich‘ bezeichne, so unmittelbar als irgend möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedes Mal über die eine oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust. Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption“ (‚Traktat‘ 1.4.6.3). Entsprechend ist die „wahre Vorstellung vom menschlichen Geist“ diejenige eines Bündels unterschiedlicher Wahrnehmungen, die miteinander dergestalt kausal verbunden sind, dass sie „sich gegenseitig hervorbringen, zerstören, beeinflussen und verändern.“ Weil die Erinnerung den spezifischen Inhalt früherer Wahrnehmungen reproduziere, gebe es auch eine beachtliche Ähnlichkeit zwischen diesen Wahrnehmungen. Sie stellen schließlich eine „unvollkommene“ oder „fiktive“ Identität her, so erklärt Hume, weil ihre zahlreichen und eng assoziierten Kausal- und Ähnlichkeitsbeziehungen bewirken, dass sie bei der Überschau im Geiste fälschlicherweise für eine vollkommene Identität gehalten werden. Er zieht hieraus den Schluss, der negative Konsequenzen für die Unsterblichkeit und die Gerechtigkeit bei der Verteilung von Belohnungen und Strafen im Leben nach dem Tode nach sich zieht, 734
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und zwar dass „all die netten und subtilen Fragen betreffend die personale Identität niemals entschieden werden können“, weil solche Fragen rein grammatischer Natur seien, und die Beziehungen berühren, die empfänglich für unmerkliche Verringerungen seien (‚Traktat‘ 1.4.6.21). Im Anhang zum ‚Traktat‘ (der ursprünglich im zweiten Band mit Buch 3 veröffentlicht wurde) drückt Hume jedoch seine Unzufriedenheit mit dieser vorangehenden Darstellung der Beziehungen aus, die nach seiener Auffassung die personale Identität hervorbringen. Weil seine Diagnose des Problems recht allgemein bleibt, wurden zahlreiche Interpretationen der genauen Grundlage seiner Unzufriedenheit entworfen. Eine mögliche Quelle dieser Unzufriedenheit ist, dass seine eigene Darstellung der Kausalität, wie sie in seinen Definitionen von ‚Ursache‘ zum Ausdruck kommt, es mit sich bringt, dass gleichzeitige und räumlich nicht verortete, aber qualitativ identische Wahrnehmungen sich nicht in ihren kausalen Beziehungen unterscheiden können, so dass zwei solcher Wahrnehmungen gar nicht in zwei unterschiedlichen Geistern existieren können, sofern seine Darstellung der „wahren Vorstellung des menschlichen Geistes“ richtig sein sollte. In jedem Falle nennt er diese Schwierigkeit einen Grund für weiteren Skeptizismus, d.h. für die Aufrechterhaltung „einer Zurückhaltung und Bescheidenheit in allen meinen Entscheidungen“. 9. Skeptizismus Als die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts einen Niedergang der Autorität des Aristoteles mit sich brachten, erneuerte sich gleichzeitig das Interesse am antiken Skeptizismus (einschließlich des Pyrrhonismus und des Skeptizismus der späten Akademie), und Descartes’ methodischer Skeptizismus in seinen ‚Meditationen‘ half dabei, den Skeptizismus zu einer zentralen Frage der Philosophie zu machen. Humes Strategie im ‚Traktat‘ war es, eine vollständige Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens unter Einsatz dieses Vermögens durchzuführen, bevor er sich der Frage zuwandte, ob die Natur der dabei gemachten Entdeckungen das Vertrauen in diese Vermögen selbst untergräbt. Daher durchmustert Hume in der Zusammenfassung des Ersten Buchs des ‚Traktats‘ (‚Traktat‘ 1.4.7) eine Reihe von Überlegungen im Sinne des Skeptizismus (zu dem das zusätzliche Problem über die personale Identität aus dem Anhang zum ‚Traktat‘ einen ex-post-facto-Zusatz darstellt). In der Zusammenfassung der ersten ‚Untersuchung‘ beleuchtet und bewertet er erneut skeptische Einwände, obwohl die Liste sich nur teilweise mit jener des ‚Traktats‘ überschneidet. Unter den allgemeinen skeptischen Überlegungen betreffend die menschliche Erkenntnis (jenseits subjektiver Irrtumsneigungen), die in der Zusammenfassung des ‚Traktats‘ besprochen werden, ist die erste von der Überzeugung von einer „anscheinend trivialen“ Qualität der Einbildung abhängig, wonach die Vorstellungen ihre Kraft und Lebendigkeit von den Eindrücken im Wege von Wahrscheinlichkeitsschlüssen, von der Erinnerung und den Sinnen erhalten. (Erst hier, beiläufig, lang nach seiner berühmten Darstellung der wahrscheinlichen oder induktiven Schlüsse, bezieht er sich auf die Verbindung zwischen diesen und dem Skeptizismus aus dem ‚Traktat‘.) Die zweite Überlegung rührt aus dem ‚Widerspruch‘ zwischen dem kausalen Denken und dem Glauben an die Körper mit ihren spezifischen Qualitäten, die er im Zusammenhang mit ‚der modernen Philosophie‘ entdeckte. Die dritte betrifft die Illusion, derzufolge der Geist annimmt, dass er wirklich notwendige 735
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Verbindungen zwischen Ursachen und Wirkungen, wie sie an sich selbst gegeben seien, entdeckt, selbst wenn diese Verbindungen tatsächlich unbegreiflich sind. Die abschließende skeptische Überlegung hängt von einem Argument ab, dass Hume schon früher in einem Abschnitt mit dem Titel ‚Vom Skeptizismus in Betreff der Vernunft‘ (‚Traktat‘ 1.4.1) diskutiert hatte. Da die Vernunft eine Art von Ursache ist, so beobachtet er, deren Wirkung gewöhnlich, aber nicht unfehlbar die Wahrheit ist, so kann jedes Urteil, mit welcher Sicherheit es auch immer gefällt wird, auf der Grundlage vergangener Erfahrung nach der Wahrscheinlichkeit bewertet werden, dass das eigene Vermögen gut arbeitet, d.h. dass es bei der Bildung des Urteils vermutlich keinen zu hohen Grad an Gewissheit ansetzte. Doch selbst wenn jemand mit einem hohen Grad an Gewissheit schlussfolgert, dass sein eigenes Vermögen bei der Bildung des ursprünglichen Urteils gut arbeitet, wird er doch immer noch finden, dass zumindest mit einer gewissen geringen Wahrscheinlichkeit seine ursprüngliche Gewissheit zu hoch war. Und dieses Gewahrwerden sollte zu einer gewissen Verringerung der ursprünglichen Gewissheit führen. Außerdem, so meint er, wird er aufgrund eines dritten Urteils in Betreff der Tätigkeit des eigenen Vermögens im zweiten Urteil auf ähnliche Weise finden, dass die Gewissheit bezüglich des zweiten Urteils selbst zumindest mit einer gewissen geringen Wahrscheinlichkeit zu hoch ausfiel, nämlich jenes bezüglich des Urteils, dass das eigene Urteil über den Gewissheitsgrad des allerersten Urteils nicht zu hoch war. Wenn man sich dessen gewahr wird, so Hume, sollte daraus eine weitere Verringerung der Gewissheit über das zweite Urteil folgen, was wiederum auch zu einer Verringerung der Gewissheit des allerersten Urteils führt. Da dieser Prozess unendlich oft wiederholt werden kann und der Umfang der verfügbaren Gewissheit in jedem Urteil endlich ist, so sollte das Ergebnis dieses Prozesses im Einklang mit den natürlichen Abläufen bei der ‚Methode der wahrscheinlichen Ursache‘ der Ausschluss jeglicher Überzeugung sein. Tatsächlich ereignet sich jedoch kein solcher Ausschluss der Überzeugung, selbst wenn man die Methode der wahrscheinlichen Ursache so penibel wie möglich anwendet. Hume erklärt dieses Phänomen durch Berufung auf eine weitere ‚anscheinend triviale Qualität‘ der Einbildung: der unnatürliche Aufstieg zu höheren Reflexionsgraden beansprucht den Geist und verhindert, dass das sukzessive reflexive Schlussfolgern seine üblichen Wirkungen entfaltet. Wenn er zunächst die Frage überdenkt, dass die Vernunft die Überzeugung umstürzt, so vermisst er die Frage, ob er selbst hier nicht ein umfassender Skeptiker ist, denn ein solcher Skeptizismus kann nicht beständig aufrecht erhalten werden, und ob er nicht stattdessen das Argument als Bestätigung seiner Theorie auffassen sollte, dass die Überzeugung in der Lebendigkeit besteht, denn dies erkläre am besten, wie die triviale Qualität der Einbildung die Aufhebung der Überzeugung verhindert. Trotzdem ist die Schlussfolgerung, dass das kausale Denken bis zu dem Punkt, wo dies durch anscheinend triviale Merkmale der Einbildung verhindert wird, natürlicherweise alle Überzeugungen beseitigt, fraglos beunruhigend. Und Hume wendet sich ihr bei der Zusammenfassung seines Vortrages der skeptischen Überlegungen gegen Ende des Ersten Buches wieder zu, um das zu formulieren, was er ein „gefährliches Dilemma“ nennt. Dieses Dilemma ist das folgende: Wenn wir die triviale Qualität der Einbildung ablehnen, die die Vernunft vor ihrem eigenen, selbstreflexiven Umsturz rettet, dann müssen wir zulassen, dass alle Überzeugungen zurückgewiesen werden. Wenn wir aber die triviale Qualität der Einbildung akzeptieren, 736
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indem wir es zu einem Prinzip machen, alle „raffinierten und ausgearbeiteten Argumente“ abzulehnen, so lehnen wir einen Großteil der gesamten Wissenschaft ab (weil sie auch von ausgearbeiteten Argumenten abhängt). Wir müssen aus Gründen der Parität alle anderen Merkmale der Einbildung ebenso akzeptieren, selbst jene, die klar zu einer Illusion führen; und wir widersprechen uns dabei selbst, denn das Argument, das die Notwendigkeit einer Zurückweisung von verfeinerten und ausgearbeiteten Argumenten unterstützt, ist selbst ein verfeinertes und ausgearbeitetes. Das unmittelbare Ergebnis dieses Dilemmas, berichtet Hume, ist ein Zustand intensiven und allgemeinen Zweifels. Dieser intensive und allgemeine Zweifel führt zu einer „philosophischen Melancholie und zum Delirium“, die nicht argumentativ beseitigt werden können, aber natürlicherweise nicht haltbar sind. Ihnen folgt ebenfalls natürlich, so berichtet Hume, eine Stimmung der „Trägheit und schlechten Laune“, in der seine unwiderstehliche Rückkehr zum Glauben und zum Schließen in Betreff der Dinge des Alltags mit einer Neigung zur Vermeidung des Philosophierens zusammentut. Er sieht sich deshalb im Einklang mit dem folgenden Prinzip handeln (das jetzt manchmal das ‚Anrechtprinzip‘ genannt wird): „Wo die Vernunft lebendig ist und sich mit einer gewissen Freudigkeit mischt, sollte man ihr zustimmen. So sie dies nicht ist, hat sie kein Anrecht, auf uns einzuwirken“. Aber auch dieser Zustand der Trägheit und der schlechten Laune erweist sich als instabil. Denn Hume bemerkt in sich, dass ganz von selbst eine neuerliche Neugier betreffend philosophischer Themen und ein Ehrgeiz aufsteigt, zur Unterweisung der Menschheit beizutragen und sich einen Namen durch seine Entdeckungen zu machen. Seine Rückkehr zur Philosophie wird durch die Reflexion bestätigt, dass die Philosophie ein sichererer Führer durch die Spekulation ist als die Religion. Daher meint er, dass das Anrechtsprinzip, obwohl es aus Trägheit und schlechter Laune herrührt, in Wirklichkeit die philosophische Untersuchung fördert. Tatsächlich hilft es das sog.‚gefährliche Dilemma‘ zu vermeiden und liefert ein Glaubensprinzip, dass er normativ bestätigen kann. Denn es erlaubt ihm, das ‚unlebendige‘ Räsonieren über die unendlichmal wiederholte Wahrscheinlichkeit der Ursachen außer Acht zu lassen, das schrittweise den Glauben ausmerzen würde, während er dennoch die „verfeinerten und ausgearbeiteten Argumente“ bei den ihn interessierenden Themen akzeptieren müsste (weil sich hier die Argumente „mit einer Neigung mischen“). Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit bezüglich der Unsicherheiten der Natur menschlicher Erkenntnis, die er entdeckt hat, rufen einen Geist des moderaten Skeptizismus hervor, eine Zurückhaltung im Urteil. Er betrachtet diese Unsicherheiten selbst aber mit Zurückhaltung und pflichtet der Zustimmung zu seinen Fähigkeiten bei (in der von der Reflexion korrigierten Form), um dann mit der Untersuchung seiner Wissenschaft vom Menschen hin zu den Leidenschaften und der Moral fortzufahren. In der Zusammenfassung der ersten ‚Untersuchung‘ unterscheidet Hume zwischen vorangehendem und nachfolgendem Skeptizismus. Der vorangehende Skeptizismus, den er mit dem methodischen Skeptizismus von Descartes identifiziert, ist jener, der vor der Untersuchung unserer Vermögen auftritt. Er empfiehlt, die Untersuchung mit einem allgemeinen Zweifel zu beginnen, selbst wenn es die Verwendung der eigenen Vermögen betrifft, bis diese Vermögen durch den Schluss von einem Prinzip für richtig befunden worden sind, das nicht möglicherweise falsch sein kann. Hume verwirft diese Art von Skeptizismus, weil kein selbstevidentes 737
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Prinzip gewisser ist als alle anderen, und dass folglich kein Schluss von einem solchen Prinzip etabliert werden könne, außer gerade durch jene Vermögen, die in Zweifel gezogen wurden. (Er unterstützt allerdings einen etwas bescheideneren vorangehenden Skeptizismus, der einfach aus einer vorangehenden Vorsicht und Unparteilichkeit besteht.) Ein konsequenter Skeptizismus ist dagegen ein solcher, der sich aus den Ergebnissen einer Untersuchung unserer Vermögen ergibt, und Humes eigener Skeptizismus ist von dieser Art. Die Ergebnisse, die er zitiert, betreffen die Sinne, das abstrakte (d.h. demonstrative) Schlussfolgern und die moralische Evidenz (d.h. das Wahrscheinlichkeitsdenken). Die Berücksichtigung von Wahrnehmungsirrtümern und Illusionen, so bemerkt er, sei ein „banaler“ Aspekt des Skeptizismus und zeige nur, dass die ersten Erscheinungen der Sinne häufig korrekturbedürftig sind. Die tiefsinnige skeptische Betrachtung sei eine Folge des Glaubens an die Körper, der zuvor im ‚Traktat‘ behandelt wurde, dass nämlich die ursprüngliche Fassung dieses Glaubens, der in der Identifikation von Eindrücken als fortgesetzte und bestimmte Existenzen besteht, als falsch erwiesen werden könne, während die Theorie, die behauptet, dass Körper die Ursachen der Wahrnehmungseindrücke sind, nicht von einem Kausaldenken unterstützt werden könne, dass auf einer beobachteten beständigen Verbindung von Ereignistypen beruht. Ein weiteres tiefgründiges Thema, das ebenfalls im ‚Traktat‘ vorgestellt wird, ist der Widerspruch zwischen dem Kausaldenken und dem Glauben an die Körper, der sich aus der sog. ‚modernen Philosophie‘ ergibt. Die Bedeutung des abstrakten Schlussfolgerns liegt in den mathematischen Demonstrationen der unendlichen Teilbarkeit von Ausdehnungen, die Hume als paradox ansieht. (Er bezieht sich in einer Fußnote auf die Theorie der Ausdehnung, die er im ‚Traktat‘ vorgeschlagen hatte, und derzufolge endliche Ausdehnungen aus endlichen Anzahlen von unausgedehnten Minima zusammengesetzt sind, was das Paradox auflösen soll.) Ein populärer Einwand gegen das moralische oder Wahrscheinlichkeitsdenken ergebe sich aus der weiten Meinungsvielfalt über das Menschsein. Ein etwas philosophischerer Einwand ergebe sich jedoch aus der Anerkennung, dass wir keinen Beweis hätten, um uns zu überzeugen, dass das, was wir in unserer Erfahrung in beständiger Verbindung vorgefunden haben, auch weiterhin auf diese Weise verbunden fortbestehen wird. Dies ist nur ein natürlicher Instinkt, der uns zu solchen Annahmen verleitet. Die Untersuchung übergeht die Diskussion der reflexiven Aufhebung des Glaubens im Denken, und folglich auch das sog. ‚gefährliche Dilemma‘, das damit einhergeht. Und er erwähnt hier auch nicht das Anrechtsprinzip auf der Stufe der „Trägheit und schlechten Laune“, das es hervorrief, und auch nicht die Rolle der Neugier und des Ehrgeizes bei der Motivation zur Rückkehr zur Philosophie. Es gibt jedoch eine Unterscheidung zwischen dem ‚pyrrhonischen‘ oder ‚exzessiven‘ Skeptizismus auf der einen Seite und dem ‚akademischen‘ oder ‚gemilderten‘ Skeptizismus auf der anderen. Ein intensives Nachdenken über die skeptischen Erwägungen erzeuge ganz von selbst eine Atmosphäre des pyrrhonischen Skeptizismus, der in der Milderung eines dogmatischen Selbstvertrauens hilfreich sei. Wo der pyrrhonische Zweifel sich jedoch als beständig erweise, zerstöre er das menschliche Leben, weil er das Handeln verhindere. Glücklicherweise sind jedoch die Quellen des Glaubens in der Natur des Menschen zu mächtig, um dies eintreten zu lassen, und das natürliche Ergebnis einer Reflexion über skeptische Erwägungen sei ein dauerhafterer, akademischer Skeptizismus, der sich als eine gewissen Zurückhaltung, Bescheidenheit und Abwesenheit 738
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von Dogmatismus in allen Urteilen äußere, zuzüglich einer Bestimmung, von allen ‚hochgesteckten und fernen Untersuchungen‘ jenseits unserer Fähigkeiten Abstand zu nehmen, wie z.B. von den kosmologischen Spekulationen über den Ursprung der Welt, die keine Verbindung zum Alltag haben. Hume empfiehlt und bestätigt in der ‚Untersuchung‘ diesen gemäßigten Skeptizismus, den er als sozial nützlich einstuft, verbunden mit einem stürmischen Ruf nach einer Beseitigung der scholastischen Metaphysik und Theologie, die nicht auf mathematischen oder experimentellem Denken basieren würden: „Übergebt sie also den Flammen, denn sie kann nichts anderes in sich tragen als Sophisterei und Illusion“. Um Humes Skeptizismus zu skizzieren ist es nützlich, zahlreiche unterschiedliche Dimensionen zu unterscheiden, in denen der Skeptizismus variieren kann. Eine dieser Dimensionen ist ihr Bereich, d.h. jene Weite, in der die Aussagen Geltung beanspruchen. Eine weitere ist ihr Charakter, d.h. ob er aus wirklichem Zweifel besteht, aus einer normativen Verfügung zum Zweifel, in einer theoretischen Behauptung, dass eine Aussage von der Vernunft nicht gedeckt ist, oder in der Behauptung, dass eine Aussage keine erkenntnistheoretische Anerkennung verdient. Eine dritte Dimension ist ihr Grad, d.h. ob der Zweifel unmäßig oder gemäßigt ist. Eine vierte ist seine Grundlage, d.h. ob er der Untersuchung vorangeht oder aus ihr folgt. Eine fünfte ist seine Beständigkeit, d.h. ob er an sich selbst gleich bleibt oder sich ändert. In allen diesen Maßstäben erweist sich der gesamte Humesche Skeptizismus als einer, der sich aus der Untersuchung ergibt. Er verpflichtet sich und empfiehlt einen gemäßigten Zweifel hinsichtlich aller Fragestellungen, sowie einen ungemäßigten Zweifel in Betreff der „hochgesteckten und fernen“ Untersuchungen. Der wirkliche Zweifel, dem er sich hinsichtlich anderer Fragestellungen verschreibt, variiert etwas: er zeigt sich potenziell ungemäßigt in seltenen Momenten, wenn es um die intensive Erwägungen skeptischer Themen geht, und dann wieder vollständig abwesend in Momenten spezieller Überzeugungen. Er lehnt ohne jede Zurückhaltung die Behauptung ab, dass die Einheitlichkeit der Natur und der Glaube an die Körper mit der Unterstützung durch das Denken entstehen. Er fühlt sich andererseits nicht der Sichtweise verpflichtet, dass nur die Aussagen, die vom Denken hervorgebracht oder unterstützt werden, erkenntnistheoretische Anerkennung verdienen. Auf der anderen Seite erlaubt ihm sein gemäßigter Skeptizismus über die erkenntnistheoretische Anerkennung von Überzeugungen, wie seine Unterstützung des Anrechtsprinzips und seine Bevorzugung des ‚weisen‘ Glaubens über die unphilosophische Wahrscheinlichkeit andeuten, die Auffassung, dass viele Überzeugungen bis zu einem gewissen Grade erkenntnistheoretische Anerkennung verdienen. 10. Motivation Philosophen von Platon bis Spinoza haben vernunftmotiviertes Handeln gegenüber jenem aus Leidenschaft begrüßt. Hume wendet jedoch ein, dass genauso wenig, wie die Vernunft den entscheidenden Übergang zum Wahrscheinlichkeitsschluss oder den Glauben an eine externe Welt von Körpern begründen kann, sie auch allein nicht den Willen zum Handeln bestimmen kann. Sein vorrangiges Argument hierzu (‚Traktat‘ 2.3.3) lautet wie folgt. Alles Schlussfolgern ist entweder demonstrativ oder wahrscheinlich. Weil das demonstrative Schlussfolgern nur Beziehungen von Vorstellungen offenbart, und zwar vorrangig mathematische Beziehungen, dagegen nicht die wirkliche Existenz oder Nichtexistenz von Dingen, kann es keine direkte 739
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Handlungen anregen, sondern betrifft die Handlung nur insofern, als es die mathematische Formulierung und Anwendung kausaler Verallgemeinerungen erleichtert. Wahrscheinlichkeitsschlüsse, die die kausalen Beziehungen an sich selbst durch die Erfahrung entdecken, können direkt dem Handeln dienen, indem sie die Mittel zu einem erwünschten Ziel aufzeigen, aber auch sie können den Willen nicht allein anregen. Denn so lange die Gegenstände nicht die Leidenschaften betreffen (einschließlich die Wünsche und Abneigungen), bleiben sie ihren kausalen Beziehungen gegenüber indifferent. Da sich die Vernunft außerdem eine Tätigkeit des Willens nur durch Bereitstellung einer entgegengesetzten Anregung widersetzen kann, kann sich die Vernunft den Leidenschaften niemals in Richtung des Willens widersetzen. Daher, so erklärt Hume, „ist die Vernunft der Sklave der Leidenschaften, und sie sollte es auch sein, und sie kann niemals ein anderes Amt beanspruchen als ihnen zu dienen und zu gehorchen“. In weiterer Unterstützung dieser Schlussfolgerung argumentiert Hume, dass die Leidenschaften „ursprüngliche Existenzen“ seien, denen es jedoch an jeglicher darstellender (repräsentativer) Qualität mangele, und die deshalb nicht gegen die Wahrheitsbehauptungen der Vernunft ins Feld geführt werden können. Wenn eine Leidenschaft einen Gegenstand betreffe, dessen Existenz behauptet wird, der aber in Wirklichkeit gar nicht existiert, oder wo ein Handeln infolge falscher Überzeugungen eine spezifische Form annimmt, wodurch sich etwas fälschlicherweise als kausales Mittel zu einem erwünschten Ziel darstelle, da könne die Leidenschaft selbst als unvernünftig bezeichnet werden. Dies stimmt jedoch nur in einem uneigentlichen Sinne, denn es ist in Wirklichkeit das begleitende Urteil, das unvernünftig ist. Der Eindruck, dass die Vernunft und die Leidenschaft miteinander um die Bestimmung des Willens streiten, ergibt sich hauptsächlich aus der Existenz der sog. ‚ruhigen Leidenschaften‘, zu denen z.B. die allgemeine Begierde nach Lust und die Abneigung gegen das Übel als solchem gehören, und die sich in ihrer Ausübung durchaus ähnlich der ruhigen Ausübung der Vernunft anfühlen. Hume wird manchmal so dargestellt, als sei er ein Anhänger einer eingeschränkten Konzeption der praktischen Vernunft, derzufolge die Leidenschaften die Ziele der Menschen bestimmen, und dass die einzige Form des praktischen Denkens in der Erzeugung von neuen Wünschen oder Handlungen bestehe, die von gegebenen Zielen sowie Überzeugungen über die Mittel zur Erreichung solcher Ziele ausgehen. Nach dieser Auffassung handelt jemand nur dann irrational, wenn er darin versagt, die Mittel zu den entsprechenden Zwecken zu ergreifen. Tatsächlich lehnt Hume jedoch sogar diese eingeschränkte Konzeption einer praktischen Vernunft ab. Für ihn ist die Wirkung der Vernunft ein Glaube oder eine Überzeugung, nicht dagegen ein Wunsch oder eine Handlung. Und obwohl die Vernunft im Zusammenspiel mit anderen Aspekten der Natur eines Menschen zur Erzeugung neuer Wünsche und Handlungen beitragen kann, ist dieser Erzeugungsprozess doch selbst kein vernünftiges Denken. Während Hume das Versagen beim Ergreifen der erkannten Zweckmittel also als dumm und kritikwürdig ansieht, ist es nur in einem uneigentlichen Sinne irrational. 11. Die Grundlagen der Moral Viele von Humes Vorgängern, sowie auch sein Nachfolger Kant und viele andere meinten, dass moralische Unterscheidungen durch die Vernunft getroffen 740
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werden. Nach Clarke ist beispielsweise die Moral eine Frage der „passenden Beziehungen“, die auf vernünftige Weise wie die geometrischen Beziehungen unterschieden und demonstriert werden können. Hume bestreitet, dass die moralischen Unterscheidungen allein aus der Vernunft abgeleitet werden können. Hierfür bietet er im ‚Traktat‘ drei Begründungen an (‚Traktat‘ 3.1.1). Das erste Argument betrifft den nicht darstellenden Charakter der Gegenstände moralischer Bewertung. Die Vernunft sei ein Mittel zur Entdeckung des Richtigen und des Falschen, was sich als Beziehung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellungen entweder mit anderen Vorstellungen oder mit „realer Existenz und Tatsachen“ zeige. Weil die Leidenschaften, Willensäußerungen und Handlungen aber nicht darstellend seien, seien sie auch nicht Gegenstand einer solchen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, und können folglich weder der Vernunft zuwider laufen, noch mit ihr konform gehen. Das zweite Argument betrifft die motivierende Kraft der moralischen Unterscheidung. Da Moralvorschriften einen unmittelbaren Einfluss auf Handlungen und Affekte haben, während die Vernunft allein, wie gezeigt, keinen solchen Einfluss besitze, so folge hieraus, meint Hume, dass die Moralvorschriften nicht allein aus der Vernunft abgeleitet werden können. Das dritte Argument bezieht Hume aus der bereits bekannten Strategie einer Durchmusterung der Arten vernünftigen Schließens ein. Moralische Unterscheidungen können nicht aus dem demonstrativen Schließen abgeleitet werden, so behauptet er, weil alles demonstrative Schließen von vier philosophischen Beziehungen der Vorstellungen miteinander abhänge, nämlich jener der Ähnlichkeit, des Gegensatzes, des Grades einer Qualität, oder des Verhältnisses in Menge bzw. Anzahl. Wenn es eine weitere Beziehung gebe, die als Grundlage für eine moralische Unterscheidung allein durch Demonstration dienen könne, so müsste diese erst einmal entdeckt werden. Und außerdem müsste sowohl gezeigt werden, wie sie auf Beziehungen zwischen dem Geist und äußeren Gegenständen beschränkt werden könne (wie dies bei der Moral der Fall ist), als auch wie sie ein Wesen motivieren könne, dass zum demonstrativen Schließen fähig sei (denn die Moral sei auf spezifische Weise motivierend). Ferner können moralische Unterscheidungen auch nicht von Wahrscheinlichkeitsschlüssen abgeleitet werden, denn die Tugend- oder Lasterhaftigkeit eines Handelns ergibt sich nicht nur aus den Schlüssen von Tatsachen, sondern sie offenbart sich nur dann, wenn man sich seinen eigenen Empfindungen zuwendet. Humes Erforschung der kausalen Grundlage des entscheidenden Übergangs in den Wahrscheinlichkeitsschlüssen ergibt zunächst eine negative Antwort: „nicht die Vernunft“, und dann eine positive: „aber die Gewohnheit“. Die positive Antwort ist in diesem Falle „ein moralisches Gespür“. Das moralische Gespür besteht in der Fähigkeit zum spezifischen Empfinden moralischer Zustimmung und Ablehnung in Anbetracht des allgemeinen Charakters einer Person, d.h. in dem Umfange, wie dieses Gespür die gesamte Person unabhängig von den jeweils eigenen Interessen des Betrachters betrifft. In einigen Fällen mag ein Charakterzug eine unmittelbare Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen, aber typischerweise bewirke er dies durch Sympathie mit jenen, die davon betroffen sind, entweder als ihr Besitzer oder andere, oder auch beide. Die Sympathie sei wie der Wahrscheinlichkeitsschluss ein Mechanismus, durch den die Wahrnehmungen mit Leben erfüllt werden. In der Sympathie schließe man allerdings von den Umständen oder dem Verhalten auf die Gefühle oder Empfin741
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dungen eines anderen, und diese lebendige Vorstellung, die die Überzeugung mit sich bringe, dass eine weitere Person ein bestimmtes Gefühl oder eine ebensolche Empfindung habe, werde durch den aktuellen Eindruck der Person noch weiter mit Leben erfüllt, und zwar als Ergebnis der assoziativen Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Vorstellung von der anderen Person und der Vorstellung des Eindrucks von sich selbst. Das Ergebnis hiervon sei, dass die Überzeugung selbst zu einem Eindruck aufsteige, so dass man schließlich mitfühlend den erschlossenen geistigen Zustand einer anderen Person empfinde. Daher komme es, dass ein Beobachter einer Person gegenüber, die einen bestimmten Charakterzug aufweist, der ihr oder anderen, auf die sie einwirkt, Lust bereitet, mitfühlend ebenfalls diese Lust empfinde, was dann wiederum beim Beobachter die weitere angenehme Empfindung einer moralischen Zustimmung hervorrufe. Wenn eine Person ein Charaktermerkmal habe, das dieser oder anderen von ihr betroffenen Personen Leid bereitet, so fühlt der Beobachter ebenfalls dieses Leid, was daraufhin die weitere, unangenehme Empfindung einer moralischen Ablehnung nach sich ziehe. In dem Maße, wie diese Empfindungen Anlass zu abstrakten Vorstellungen sind, würden Charaktermerkmale, die moralische Zustimmung hervorrufen, ‚Tugenden‘ genannt, und jene, die moralische Ablehnung hervorrufen, ‚Laster‘. Umgekehrt werden Handlungen als tugendhaft oder lasterhaft beurteilt, je nachdem ob sie Bekundungen tugendhafter oder lasterhafter Charakterzüge seien. Entsprechend bietet Hume zwei Definitionen von ‚Tugend‘ oder ‚persönlichem Verdienst‘ parallel zu seinen zwei Definitionen von ‚Ursache‘ an: die Tugend sei „jede Qualität des Geistes, die für eine Person selbst oder andere nützlich oder annehmbar ist“ (UmV 9.12), oder „welche geistige Qualität auch immer einem Betrachter die angenehme Empfindung der Zustimmung verschafft“ (UmV Anhang 1.11). Wirkliche moralische Empfindungen können mit der Stärke der Sympathie variieren, was teilweise und in vieler Hinsicht von dem Abstand der Person abhängt, die sie zu der anderen, bewerteten Person einnimmt, und zu denen, die von dieser Person betroffen sind. Zur Versöhnung der Unterschiede der Empfindung zwischen einzelnen Personen und innerhalb ein und desselben Individuums zu verschiedenen Zeiten korrigieren wir ganz von selbst die Eigenheiten der Perspektive, genauso wie wir auch unser Urteil wahrgenommener und ästhetischer Qualitäten korrigieren. Im Falle der moralischen Qualitäten tun wir dies, indem wir in der Vorstellung einen allgemeinen Standpunkt als die eigentlich richtige Perspektive einnehmen, von der aus das moralische Urteil erfolge. Mit der Behauptung, dass moralische Unterscheidungen von einem Sittlichkeitsgefühl und nicht von der Vernunft allein abgeleitet würden, bestreitet Hume nicht, dass die Vernunft eine wesentliche Rolle beim Treffen moralischer Unterscheidungen spielt. Das vernünftige Denken sei erforderlich zur Bestimmung der Charakterzüge von anderen Menschen, und es sei auch notwendig zur Bestimmung der wahrscheinlichen Wirkungen solcher Charakterzüge auf einen selbst und auf andere. Das vernünftige Denken mag ferner erforderlich sein zur Bestimmung, wie die eigene Empfindung von einem „allgemeinen Standpunkt aus gesehen“ aussähe, auch wenn man diesen nicht wirklich einnimmt. Obwohl er in der Ethik oft als ein expressiver Nicht-Kognitivist eingestuft wird, d.h. als jemand, der meint, dass moralische Urteile Empfindungen ausdrücken und der Wahrheit oder Falschheit nicht im strengen Sinne zugänglich seien, lässt seine Darstellung der Korrektur moralischer 742
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Empfindungen durch Einnahme eines allgemeinen Standpunktes bei der Konstruktion abstrakter Vorstellungen von Tugend und Laster auch Raum für eine erkenntnistheoretische Interpretation, wenn man das Sittlichkeitsgefühl in eine engere Analogie zu den anderen Sinnesorganen setzt. Für Hume wie für die antiken Tugendethiker ist der persönliche Charakter der vorrangige Gegenstand der Bewertung, und weniger die Handlungen, und der erste Maßstab moralischer Bewertung ist ihm die Tugendhaftigkeit und die Lasterhaftigkeit, und nicht ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ bzw. ‚gut‘ oder ‚schlecht‘. Weil er meint, dass moralische Unterscheidungen von Empfindungen und nicht nur von der Vernunft abhingen, verwirft Hume das Ideal einer Sittlichkeit, die von jedem rationalen Wesen akzeptiert würde; tatsächlich betont er, dass es keinen Anlass zu der Vermutung gebe, dass eine intelligente Gottheit dasselbe Sittlichkeitsgefühl wie ein Mensch haben würde. Sittlichkeit ist für Hume spezifisch motivierend für diejenigen, die ein Sittlichkeitsgefühl haben, weil die moralischen Empfindungen selbst Lust und Leid hervorrufen, und auf diese Weise geben sie auch Anlass zu Stolz oder Liebe (als Formen weiterer Lust) und Demut oder Hass (als Formen weiteren Leids). Er akzeptiert die Moral vollständig, denn das Sittlichkeitsgefühl spende Zustimmung sowohl zu der Tatsache, dass man ein Sittlichkeitsgefühl hat, als auch seinen eigenen Tätigkeiten. Zur selben Zeit behandelt Hume jedoch die Moral als ein Naturphänomen, dass durch die Wissenschaft vom Menschen verstanden werden kann. Tatsächlich meint er, dass man durch ein Verständnis der Grundlagen der Moral in der Natur des Menschen besser ausgestattet sei, um nachdenkend seine eigenen moralischen Bewertungen zu verbessern (z.B. indem man anerkennt, dass die sog. ‚mönchischen Tugenden‘ wie das Zölibat, das Fasten, die Selbstkasteiung und die Selbstverleugnung keine wirklichen Tugenden seien), und um die Moral überzeugender auch anderen Menschen empfehlen zu können. 12. Politische Pflichten In seinem ‚Zweiten Traktat über die Bürgerliche Regierung‘ begründet Locke die politische Pflicht, seiner Regierung zu gehorchen und sie zu unterstützen, und zwar auf der Grundlage eines Sozialkontraktes. Dies ist ein gegenseitiges Versprechen, durch den Einzelpersonen einige ihrer natürlichen Rechte in einer bürgerlichen Gesellschaft bündeln, um dadurch besser ihr Eigentum zu schützen. Die Pflicht zur Erfüllung von Versprechen und zum Respekt vor dem Eigentum sind wiederum zusammen mit den grundlegenden Regeln zum Erwerb von Eigentum die Merkmale des Naturrechts. Während Hume Lockes Ziel eines gerechtfertigten Widerstands gegen eine tyrannische Regierung, die ihre Bürger und ihr Eigentum nicht schützt, verständnisvoll sieht, offeriert er eine eigene Darstellung der politischen Pflicht zum Gehorsam und zur Unterstützung der Regierung (die er ‚Loyalität‘ nennt), der Pflicht zum Respekt vor dem Eigentum (die er ‚Gerechtigkeit‘ nennt), der Pflicht zur Erfüllung von Versprechen (die er ‚Redlichkeit‘ nennt), sowie der Beziehungen dieser zueinander, die sich stark von der Darstellung Lockes unterscheidet. Hume unterscheidet künstliche Tugenden, die von Geschicklichkeit und Vereinbarung abhängen, von den natürlichen Tugenden (wie der Nächstenliebe, dem Frohsinn, der Klugheit und dem Fleiß), für die dies nicht gilt (‚Traktat‘ 3.2). Eine Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Einzelpersonen verlange kein ausdrückliches Versprechen; vielmehr erfordere es eine angenommene Grundlage des ge743
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meinsamen Interesses in einem koordinierten Handeln, sowie eine ausdrückliche und gegenseitig verstandene Bestimmung, im Einklang mit diesem koordinierten Handlungsverlauf unter der Bedingung zu handeln, sofern der andere dies auch tut. Rechte auf Eigentum und die Regeln zu seinem Erwerb seien einem vorkonventionellen Naturrecht nicht eingeschrieben, ergeben sich aber aus der Vereinbarung zum Schutz der Stabilität des aktuellen Besitzes (d.h. der Kontrolle von Gütern). Diese Vereinbarung sei ursprünglich durch das Eigeninteresse aller daran Beteiligten motiviert. Die Anerkennung der Nützlichkeit jenes Charakterzuges des Regelgehorsams betreffend das Eigentum für die allgemeine Öffentlichkeit, sowie die Sympathie all jenen gegenüber, die davon profitieren, bewirke dessen Anerkennung als Tugend (‚Traktat‘ 3.2.2). Etwas zu versprechen ergebe sich ebenfalls aus einer Vereinbarung aus Eigeninteresse, und zwar aus jenem Interesse, das an der Koordination des nicht gleichzeitigen Austausches von Vorteilen durch Einrichtung einer Wortformel bestehe, durch die man verpflichtet werde, künftige Vorteile bei Strafe eines nachfolgenden Ausschlusses aus dieser wertvollen Vereinbarung im Falle der Nichterfüllung zu gewähren. Der Charakterzug des Erfüllens von Versprechen, wie schon der des Gehorsams gegenüber den Eigentumsregeln, werde vermittels der Sympathie mit der großen Gruppe derjenigen, die davon profitieren, als Tugend anerkannt (‚Traktat‘ 3.2.5) Das Bedürfnis nach Vereinbarungen bzw. Konventionen über das Eigentum und das Halten von Versprechen zwecks Stabilisierung des Besitzes und des gegenseitigen Austauschs von Vorteilen werde später sogar zu ihrer Einführung innerhalb einzelner Familien und sehr kleiner Gesellschaften führen, meint Hume. Unter solchen Umständen würden Regelverletzer überwiegend leicht entdeckt und wirksam sanktioniert. Regierungen bilden sich anfangs häufig durch die Ehrerbietung gegenüber einem Häuptling, der der Führer in Kriegszeiten ist, und dann in größeren Gesellschaften als Konvention zur Erhaltung der Regeln betreffend das Eigentum und das Erfüllen von Versprechen, indem sie die Regeln direkt im Interesse einiger Einzelpersonen aufstellen, um sie auf unparteiische Weise zu stärken. Die Konvention der Ehrerbietung gegenüber einem Häuptling, damit er regiert, mag tatsächlich oft zu einem Versprechen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft führen. Die Pflicht der Bürger zur Loyalität gründe sich jedoch, so meint Hume, nicht auf irgendeinem ursprünglichen Versprechen des Gründers der Regierung, noch (wie Locke meint) auf einem „stillschweigenden“ Versprechen oder einer solchen Zustimmung auf Seiten der jeweiligen Bürger, sondern vielmehr auf der allgemeinen Nützlichkeit der Loyalität, die eine mitgefühlte Lust hervorrufen und in der Folge davon die moralische Zustimmung (‚Traktat‘ 3.2.7–8). Gerechtigkeit, Treue und Loyalität seien allesamt künstliche Tugenden, von denen jede in ihrer Existenz von einer ganz bestimmten Konvention abhänge, und die Tugendhaftigkeit oder moralische Verpflichtung jeder von ihnen habe eine ähnliche, aber jeweils spezifische Grundlage des sozialen Nutzens. Die Pflicht zur Loyalität stehe gesondert und müsse nicht von anderen Pflichten abgleitet werden, die selbst auf einer ähnlichen Grundlage beruhen. Wenn aber die Regierung so tyrannisch werde, dass sie ihren Bürgern keine Sicherheit und anderen Nutzen mehr biete, dann erlaubt Hume, dass die moralische Pflicht zum Gehorsam und zur Unterstützung der Regierung natürlicherweise endet. Obwohl er ein lebendiges Gespür, besonders sichtbar in seiner ‚Geschichte Englands‘, für die Gefahren der Anarchie und des Vorzugs sogar ziemlich mangel744
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hafter Regierender für die Gesellschaft hat, ist er auch ein entschiedener Verteidiger der Wichtigkeit des freien Gedankens und seiner Äußerung für eine Gesellschaft. 13. Humes Vermächtnis Jede philosophische Generation seit Hume sah sich verpflichtet, ihre Beziehung zu seiner Philosophie zu verstehen. Die schottischen Common-sense-Philosophen (siehe Alltagsphilosophie) wie z.B. Thomas Reid lasen ihn als eine Demonstration, dass Lockes sog. ‚Vorstellungsweise‘, denen zufolge wir uns Bewusstsein nur über den Inhalt unseres eigenen Geistes verschaffen können, unvermeidlich in den Skeptizismus führt und deshalb abgelehnt werden muss. Kant wurde durch seine Verlautbarung berühmt, dass er durch die Humesche Herausforderung in der Behandlung des Begriffs der Kausalität aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt worden sei, und verstand seinen transzendentalen Idealismus als den einzigen Weg, um den Humeschen Skeptizismus zu vermeiden. Die Utilitaristen ließen sich von seiner Betonung der wesentlichen Beziehung der Moral zum Nützlichen und Zustimmungsfähigen inspirieren. Die britischen Idealisten, wie beispielsweise T.H. Green und F.H. Bradley, verstanden Hume als ein herausragendes Beispiel für die Gefahren einer atomistischen, wahrnehmungsbasierten Darstellung der Fähigkeiten des Geistes. Die logischen Positivisten des frühen 20. Jahrhunderts sahen in Humes Bemühung um eine Zurückverfolgung des Inhalts von Begriffen auf ihre Erfahrungsgrundlage einen Vorläufer ihrer eigenen Methodik, die sie als ordnungsgemäß von der Humeschen Verschmelzung von Philosophie und Psychologie gereinigt betrachteten. Für im weiten Sinne empiristische und naturalistische Philosophen der Gegenwart ist Humes Philosophie ein mächtiges Beispiel für die Bemühung um die Integration des wissenschaftlichen Verständnisses und der menschlichen Erkenntnis- und Willensverfassung in ein wissenschaftliches Verständnis der Natur selbst, ferner eine Darstellung der Normativität der Vernunft und der Moral innerhalb der Struktur dieses Verstehens, und zur Umwendung dieses Verständnisses in ein Verständnis der Philosophie selbst. Nachdem Hume nunmehr weithin als der größte englischsprachige Philosoph angesehen wird, hat sich vielleicht kein Philosoph der frühen Neuzeit als so einflussreich und wichtig für die gegenwärtige Philosophie erwiesen wie er. Der beste Beweis hierfür ist die Anzahl der hiervon betroffenen Themen: vom Begriff zur Kausalität, von der Induktion zu den Gefühlen, vom Skeptizismus zum freien Willen, von der Theologie zur praktischen Vernunft, von der Moral zur Politik ist der jeweils humesche Ansatz eine der lebendigsten Optionen. Siehe auch: Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der; Kausalität; Moralische Motivation; Personale Identität; Sittlichkeit, Theorien der Anmerkungen und weitere Lektüre Bailie, J. (2000): ‚Hume on Morality‘. London: Routledge. (Eine gute und bündige Einführung in Humes Theorie der Moral und der Leidenschaften.) Noonan, H.W. (1999): ‚Hume on Knowledge‘. London: Routledge. (Eine nützliche und ebenfalls bündige Einführung in Humes Erkenntnistheorie.) Stroud, B. (1977): ‚Hume‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Dies ist immer noch der wirklich beste und philosophisch scharfsinnigste Kommentar zu Humes Philosophie.) DON GARRETT
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Humor
Humor
Was meint man damit, wenn man sagt, dass etwas oder jemand humorvoll oder lustig sei? Es ist klar, dass sich der Humor anhand der typischen Reaktionen auf ihn erhellt, also die Erheiterung oder Fröhlichkeit. Es ist auch plausibel, den Humor auf diese Weise zu definieren; damit etwas humorvoll ist, muss es geeignet sein, bei entsprechenden Menschen Fröhlichkeit hervorzurufen, wenn sie seiner gewahr werden oder ihn erkennen, und hierzu sollte es keiner weiteren Gründe bedürfen. Dies lädt aber zu der Frage ein, was eigentlich Fröhlichkeit ist? Die drei führenden Vorstellungen in philosophischen Theorien über den Humor sind jene der Nichtübereinstimmung (Inkongruenz), der Überlegenheit und der Befreiung oder Erlösung. Obwohl die Wahrnehmung der Inkongruenz oft daran beteiligt ist, dass man etwas lustig findet, und die Auflösung einer wahrgenommenen Inkongruenz eine wichtige Rolle im guten Witz spielt, sind doch beide nicht, weder an sich selbst, noch in Kombination mit anderem, ausreichend, um den Begriff der Fröhlichkeit zu erfassen. Fröhlichkeit ist nicht identisch mit der angenehmen Wahrnehmung einer Inkongruenz, der Lust an einem Überlegenheitsgefühl, der Befreiung von einer Spannung oder der Erlösung von aufgestauter geistiger Energie, oder einer Kombination dieser Elemente. Eine bessere Darstellung der Fröhlichkeit wäre es, dass sie eine bestimmte Art von angenehmer Reaktion ist, die dazu neigt, in Gelächter überzugehen, wenn diese Reaktion ausreichend intensiv ist. Damit wäre dann etwas lustig, wenn es an sich selbst die entsprechenden Menschen angenehm dadurch berührt, dass es erfasst wird, wobei die Lust daran von einer Art ist, die, wenn auch nicht notwendig, zu Gelächter führt. Siehe auch: Bergson, H.-L.; Gefühle als Antwort auf Kunst; Komödie; Tragödie
JERROLD LEVINSON
Hus, Jan (ca. 1369–1415)
Von seiner Ernennung zum Rektor der Bethlehem-Kapelle in Prag im Jahre 1402 bis zu seiner Exekution auf dem Konzil von Konstanz 1415 brachte Jan Hus die Ziele einer Kirchenreformbewegung mit tschechischen nationalem Unterton voran. Hus’ ministeriale und akademische Posten lieferten eine breite Grundlage für seine Führungsrolle. Er predigte hartnäckig gegen klerikale Missbräuche. An der Universität von Prag lehrte er philosophische und kirchliche Stoffe, die, wie ihm seine Gegner vorwarfen, von dem radikalen Oxforder Reformer John Wyclif stammten. Während Wyclifs philosophischer Realismus (z.B. die Unzerstörbarkeit des Seins) ihn zur Übernahme zahlreicher Positionen führte, die als häretisch verdammt waren, entsprang Hus’ Polemik gegen die Fiskalisierung und Bürokratisierung des Papsttums mehr seinen Idealen der evangelischen Minderheit und der apostolischen Armut. Siehe auch: Luther, M.; Prädestination; Wyclif, J. CURTIS V. BOSTICK
Husserl, Edmund (1859–1938) Einführung Mit seiner Neuschöpfung der Phänomenologie war Edmund Husserl einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er spielte eine entscheidende 746
Husserl, Edmund (1859‑1938)
Rolle in großen Teilen der zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Philosophie, und er nahm viele Fragen und Sichtweisen der Gegenwartsphilosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften vorweg. Allerdings ist sein Werk nicht leserfreundlich, und es wird mehr über ihn geredet, als er gelesen wird. Die noch folgenden Zitate aus seinem Werk stammen alle aus den ‚Husserlina‘, den gesammelten Werken Husserls, unter Angabe des jeweiligen Bandes, gefolgt von der Seitenangabe. Husserl wurde in Moravia geboren, promovierte in Mathematik, während er mit Weierstraß arbeitete, und wandte sich unter dem Einfluss von Franz Brentano dann der Philosophie zu. Er war insbesondere durch Brentanos Standpunkt betreffend die Intentionalität eingenommen und entwickelte sie weiter zu dem, was schließlich seine Phänomenologie werden sollte. Sein erstes phänomenologisches Werk waren die ‚Logischen Untersuchungen‘ (1900–1901). Dem folgten die ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie‘ (1913, im Folgenden ‚Ideen‘ genannt). Mit diesem Werk leistete er als Erster eine vollständige und systematische Darstellung der Phänomenologie. Husserls spätere Arbeiten, besonders die ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‘ (1928), die ‚Formale und transzendentale Logik‘ (1929), die ‚Kartesianischen Meditationen‘ (1931) und die ‚Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‘ (teilweise im Jahre 1936 veröffentlicht) halten sich weitgehend innerhalb des Rahmens der ‚Ideen‘. Sie greifen Themen auf, die Husserl nur kurz abgehandelt hatte, oder die nicht einmal in den ‚Ideen‘ erwähnt worden waren, wie z.B. der Status des Subjekts, die Intersubjektivität, die Zeit und die Lebenswelt. Brentano hatte die Intentionalität als eine besondere Art der Gerichtetheit auf einen Gegenstand beschrieben. Dies führt zu Schwierigkeiten in Fällen von Halluzinationen und ernsten Fehlwahrnehmungen, wo es gar keinen Gegenstand gibt. Ferner blieb die Frage offen, was die Gerichtetheit des Bewusstseins ausmacht. Husserl unternimmt deshalb eine detaillierte Analyse dieser Merkmale des Bewusstseins, die es zu einem Bewusstsein von einem Gegenstand machen. Die Sammlung aller dieser Merkmale nennt Husserl das ‚Noema‘ des Bewusstseinsaktes. Das Noema vereinheitlicht das Bewusstsein, das wir zu einer bestimmten Zeit haben, in einem sog. Akt3, der offenkundig auf einen Gegenstand gerichtet ist. Das Noema ist folglich nicht der Gegenstand, auf den sich der Akt richtet, sondern es ist die Struktur, die unser Bewusstsein zu etwas macht, als sei es dieser Gegenstand. Die Noemata sind Freges ‚Dritte-Welt‘-Gegenständen ähnlich, d.h. sie sind die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Nach Husserl „ist das Noema nichts als eine Verallgemeinerung der Vorstellung von Bedeutung auf dem Gebiet aller Akte“ (‚Ideen‘, 1913). Genauso wie uns die Unterscheidung zwischen der Bedeutung eines Ausdrucks und seiner Referenz auch die bedeutungsvolle Verwendung von Ausdrücken ermöglicht, die gar keine Referenz haben, so kann uns nach Husserl die Unterscheidung zwischen dem Noema eines Akts und seinem Gegenstand helfen, Brentanos Problem des Akts ohne Gegenstand zu überwinden. Husserl bezeichnet als ‚Akt‘ ein intentionales Erlebnis, das sich auf einen Gegenstand gerichtet, im Gegensatz zum Sinneseindruck, der bloß das Erlebnismaterial (griech. hylē) für das Gegenstandserlebnis ist. Mit der Verwendung des Begriffs ‚Akt‘ bekundet Husserl, dass die Gegenstandserfahrung eine Tätigkeit ist. [WS]
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In einem Wahrnehmungsakt ist das Noema, das wir erhalten, durch das eingeschränkt, was sich auf unserer Wahrnehmungsoberfläche abspielt, aber diese Beschränkung verengt nicht unsere Möglichkeiten auf lediglich eine einzige. Deshalb kann man in einer gegebenen Situation einen Mann wahrnehmen, aber später bemerken, dass dies nur eine Schaufensterpuppe war, was eine entsprechende Bewegung des Noemas zur Folge hat. Eine solche Verschiebung des Noemas ist immer möglich, was der Tatsache entspricht, dass die Wahrnehmung immer fehlbar ist. Diese Grenzbedingungen, die die Noemata einschränken, die wir erhalten können, nennt Husserl ‚Hyle‘ (nach dem gleichlautenden griechischen Ausdruck für ‚Stoff‘). Die Hyle sind keine Gegenstände, die von uns erfahren werden, sondern Erfahrungen einer Art, die wir typischerweise haben, wenn unsere Sinnesorgane affiziert werden, aber wir können sie auch in anderen Fällen haben, beispielsweise unter dem Einfluss von Fieber oder Drogen. In unserem natürlichen Erleben sind wir von physischen Gegenständen und Ereignissen und ihren allgemeinen Eigentümlichkeiten absorbiert, wie z.B. ihrer Farbe und Form. Diese allgemeinen Merkmale, die von vielen Gegenständen geteilt werden können, nennt Husserl ihr Wesen oder ‚Eidos‘. Wesenheiten werden in den eidetischen Wissenschaften studiert, von denen die Mathematik die am höchsten entwickelte ist. Wir erfahren sie, indem wir unsere Aufmerksamkeit vom konkreten Individuum abwenden und uns auf das konzentrieren, was sie gemeinsam haben. Diesen Wechsel der Aufmerksamkeit nennt Husserl ‚die eidetische Reduktion‘, denn sie führt uns zum Eidos. Wir können aber auch noch radikaler die natürliche Grundeinstellung ganz beiseite lassen, indem wir die Gegenstände, mit denen wir zu tun hatten, ‚einklammern‘ und stattdessen unser eigenes Bewusstsein und seine Strukturen reflektieren. Diese Reflexion nennt Husserl die ‚transzendentale Reduktion‘ oder ‚Epoché‘. Husserl verwendet die Bezeichnung ‚phänomenologische Reduktion‘ für eine Kombination der eidetischen und der transzendentalen Reduktion. Diese führt uns zu dem Phänomen, das in der Phänomenologie studiert wird, nämlich vor allem den von ihm sog. ‚Noemata‘. Die Noemata sind inhaltsreiche Gegenstände mit einem unerschöpflichen Muster ihrer Bestandteile. Das Noema eines Aktes enthält Bestandteile entsprechend all der wahrgenommenen und nicht wahrgenommenen Merkmale, die wir dem Gegenstand zuschreiben, und darüber hinaus Bestandteile entsprechend den Merkmalen, über die wir selten nachdenken und ihnen deshalb auch nicht bewusst sind, d.h. Merkmale, die typisch für unsere Kultur sind. Alle diese letztgenannten Merkmale nennt Husserl den ‚Horizont‘ des Aktes. Das Noema ist von unserem Zusammenleben beeinflusst, wo wir uns gegenseitig aneinander anpassen und dadurch die Welt als eine gemeinsame Welt wahrnehmen, in der wir alle leben, sie aber von verschiedenen Standpunkten aus wahrnehmen. Diese Anpassung durch Einfühlung wurde von Husserl ausgiebig untersucht. Husserl betont, dass unsere Perspektiven und Vorwegnahmen nicht vorherrschend tatsächlicher Natur sind. In den ‚Ideen‘ heißt es bereits, dass diese Welt für uns nicht lediglich eine Welt bloßer Dinge ist, sondern auch mit derselben Unmittelbarkeit eine Welt der Werte, der Güter, also eine praktische Welt. Und auch die Antizipationen sind nicht einfach Ansichten z.B. über tatsächliche Eigenschaften, Werte und funktionale Merkmale, sondern beziehen auch unsere körperlichen Gewohnheiten und Fähigkeiten mit ein. 748
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Die Welt, in der wir uns selbst als lebend finden, mit ihrem offenen Gegenstandshorizont, mit Werten und anderen Merkmalen, nennt Husserl die ‚Lebenswelt‘. Diese ist das zentrale Thema seiner letzten größeren Arbeit, der ‚Krisis der Europäischen Wissenschaften‘, von der ein Teil im Jahre 1936 veröffentlicht wurde. Die Lebenswelt spielt eine wichtige Rolle in seiner Sichtweise der Rechtfertigung, die Ideen von Goodman und Rawls vorwegnimmt. 1. Leben 2. Intentionalität 3. Noema 4. Hyle; sinnliches Füllen; Evidenz 5. Intuition 6. Die Reduktionen; Phänomenologie 7. Die Vergangenheit 8. Werte, praktische Funktionen 9. Horizont 10. Intersubjektivität 11. Existenz 12. Die Lebenswelt 13. Letztbegründung 14. Einfluss 1. Leben Edmund Gustav Albrecht Husserl wurde am 8. April 1859 als Sohn jüdischer Eltern in Prossnitz (heute Prostejov in Tschechien) in Mähren geboren, das damals zur Österreich-ungarischen Monarchie gehörte. Er wurde folglich im selben Jahr wir Dewey und Bergson geboren. Husserls frühe Interessen richteten sich auf die Mathematik und die Wissenschaft. 1876 begann er an der Universität von Leipzig mit dem Studium der Mathematik und der Astronomie. Nach drei Semestern wechselte er an die Berliner Universität, um bei Weierstraß, Kronecker und Kummer zu studieren, einem Trio, das Berlin in dieser Periode zu einem Zentrum der mathematischen Welt machte. Nach drei Jahren in Berlin ging er nach Wien, wo er im Januar 1883 promovierte. Daraufhin kehrte er nach Berlin zurück und wurde Assistent von Weierstraß. Sein Mentor wurde jedoch krank, und bereits nach einem Semester ging Husserl für ein Jahr zum Militär. Seinen Dienst leistete er vor allem in Wien. Ein wachsendes Interesse an religiösen Fragen brachte ihn 1884 zu der Entscheidung, bei Franz Brentano in Wien Philosophie zu studieren, der ihn inspirierte, sich ganz der Philosophie zu widmen, und der auch inhaltlich einen entscheidenden Einfluss auf seine spätere Phänomenologie ausübte. Husserl studierte bei Brentano bis 1886, als letzterer ihn nach Halle schickte, wo Carl Stumpf, einer von Brentanos früheren Studenten, Philosophie und Psychologie lehrte. Husserl habilitierte 1898 in Halle und blieb dort als Privatdozent bis 1901, wo er schließlich Außerordentlicher Professor in Göttingen wurde und 1906 eine Ordentliche Professur übernahm. 1916 ging er schließlich nach Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1928 blieb. Er starb am 27. April 1938.
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Husserls erste philosophische Arbeit war seine Habilitationsschrift mit dem Titel ‚Über den Begriff der Zahl‘, die 1887 zwar gedruckt, aber nicht veröffentlicht wurde. Stattdessen fand sie in Gestalt der einleitenden drei Kapitel Eingang in seine ‚Philosophie der Arithmetik‘, deren erster Band 1891 publiziert wurde. Ein zweiter Band wurde zwar angekündigt, folgte aber nie. Vielmehr machte Husserl in dieser Zeit eine grundlegende philosophische Neuorientierung durch. Er gab sein Hauptprojekt in der ‚Philosophie der Arithmetik‘ auf, das die Mathematik auf die Psychologie zurückführen sollte. Nun entwickelte er seine nachhaltige philosophische Leistung, nämlich eine Phänomenologie, die er zuerst in den ‚Logischen Untersuchungen‘ vorstellte. In den Jahren 1905–1907 führte er die Figur der transzendentalen Reduktion ein und gab der Phänomenologie eine Wende hin zum transzendentalen Idealismus. Diese neue Fassung der Phänomenologie führte er in den ‚Ideen‘ von 1913 aus, und dieses Werk ist die systematischste Darstellung seiner Phänomenologie. Husserls beachtlichsten späteren Arbeiten sind die ‚Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‘ (1928), die ‚Formale und transzendentale Logik‘ (1929), die Husserl als seine reifste Arbeit bezeichnete, und die ‚Kartesianischen Meditationen‘ (1931). Der erste Teile seiner ‚Krisis der europäischen Wissenschaften‘ wurde 1936 veröffentlicht, aber der Hauptteil dieser Arbeit und weitere ca. 40.000 Seiten Manuskripte blieben bis nach seinem Tode liegen. Diese Manuskripte, zusammen mit Husserls Familie und seiner Bibliothek, wurden aus Deutschland durch den Belgier Franciscan Van Breda gerettet, der das HusserlArchiv in Louvain einrichtete, wo das Material für Forscher nun zugänglich ist. Kopien der Manuskripte werden ferner in anderen Husserl-Archiven an mehreren Orten der Welt aufbewahrt. Schrittweise werden die wichtigsten Teile der Husserlschen Papiere und wissenschaftliche Ausgaben seiner publizierten Werke in der Reihe ‚Husserliana‘ veröffentlicht. Darüber hinaus wurde ‚Erfahrung und Urteil‘ von Husserls Assistenten Ludwig Landgrebe noch unter Rücksprache mit Husserl zur Veröffentlichung vorbereitet und erschien nach Husserls Tod im Jahre 1938. Ein Großteil der von Husserl veröffentlichten Werke sind inzwischen auch sehr gut ins Englische übersetzt worden. 2. Intentionalität Das zentrale Thema der Husserlschen Phänomenologie ist die Intentionalität. Alle Phänomenologie kann man als eine Entfaltung der Idee der Intentionalität betrachten (siehe Intentionalität). Husserls Interesse an der Intentionalität wurde durch seinen Lehrer Franz Brentano geweckt. Es bestehen aber viele Unterschiede zwischen Husserls Behandlung dieses Begriffs und jenem gleichlautenden von Brentano. Der vorliegende Abschnitt beschäftigt sich mit diesen Unterschieden und schreitet dann fort zu weiteren Merkmalen des Husserlschen Gedankens der Intentionalität, die über den Brentanoschen Begriffshorizont hinausgehen. Husserl übernimmt die folgenden grundlegende Vorstellung von Brentano: „Wir verstehen unter Intentionalität die Eigenart der Erfahrungen als Bewusstsein von etwas“. (‚Ideen‘, 1913; Husserls Betonung). Husserls Formulierung kommt damit Brentanos häufig zitierter Passage aus seiner ‚Psychologie vom empirischen Standpunkt‘ (1. Band 1924, S. 124):
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„Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (und wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.“ Aber bereits an diesem Anfangspunkt zeigt sich ein Unterschied zwischen Brentano und Husserl. Während Brentano geradeheraus sagt, dass es in jedem Akt ein Objekt gibt, auf den er sich richtet, konzentriert sich Husserl auf das verbindende ‚von‘ zwischen Akt und Objekt. Für diese Unterscheidung gibt es zwei Gründe. Erstens will Husserl die Schwierigkeiten umgehen, die sich aus Akten ergeben, denen das Objekt fehlt. Zweitens will er ein Licht darauf werfen, was es für einen Akt bedeutet, ‚von‘ etwas etwas zu handeln. Wir beginnen mit der Diskussion dieser beiden Unterschiede. Akte, denen das Objekt fehlt. Brentanos These mag in den von ihm selbst präsentierten Beispielen unproblematisch erscheinen: genauso wie wir jemanden lieben und es jemanden oder etwas gibt, was wir lieben, so gibt es auch etwas, das wir wahrnehmen, wenn wir etwas wahrnehmen und etwas, an das wir denken, wenn wir denken etc. Was aber ist das Objekt unseres Bewusstseins, wenn wir halluzinieren oder wenn wir an einen Zentaur denken? Brentano bestand darauf, dass selbst in solchen Fälle unsere geistige Aktivität, d.h. unser Wahrnehmen oder Denken, auf irgendein Objekt gerichtet ist. Die Gerichtetheit hat nicht nichts mit der Realität des Gegenstandes zu tun, meinte er. Der Gegenstand ist eben ‚intentional‘ in unserer geistigen Aktivität enthalten. Und so definierte Brentano geistige Phänomene als „Phänomene, die ein Objekt intentional enthalten“. Nicht alle von Brentanos Studenten fanden dies erhellend oder befriedigend, und das Problem bewegte sie und Brentano weiterhin. Brentano kämpfte damit für den Rest seines Lebens und schlug unter anderem eine Übersetzungstheorie vor, die er auf Leibniz zurückführte: wenn wir den Akt einer Halluzination von oder des Denkens an einen Zentaur beschreiben, beziehen wir uns nur anscheinend auf einen Gegenstand. Diese anscheinende Referenz auf ein Objekt könne nun dergestalt ‚wegübersetzt‘ werden, dass in der vollständigen, unabgekürzten Beschreibung des Aktes keine Referenz auf irgendein problematisches Objekt mehr auftaucht. In diesem Vorschlag von Brentano steckten jedoch zwei Schwächen. Erstens erklärt Brentano, anders als Russell, nicht im Einzelnen, wie diese Übersetzung durchgeführt werden soll (siehe Russell, B.). Zweitens fragt sich, warum wir eine solche Übersetzung im Falle von Halluzinationen usw. nicht immer durchführen, d.h. auch in den Fällen normaler oder gegenstandsbezogener Wahrnehmung. Was hätte dies für Konsequenzen für die Lehre von der Intentionalität als Gerichtetheit auf ein Objekt? Einer von Brentanos Studenten, Alexius Meinong, schlug einen einfachen Ausweg vor. In seiner ‚Gegenstandstheorie‘ behauptete Meinong, dass es zwei Arten von Gegenständen gäbe: jene, die existieren, und jene anderen, die nicht existieren. Halluzinationen seien wie die normalen Wahrnehmungen auf Gegenstände gerichtet, aber diese Gegenstände existierten nicht. Brentano war über diesen Vorschlag nicht glücklich. Er wandte wie bereits Kant ein, dass es keinen Sinn habe, von einer Existenz als einer Eigenschaft zu sprechen, die manchen Objekten zukomme und anderen nicht.
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Husserls Lösung lag, wie bereits bemerkt, in der Betonung des verbindenden ‚von‘. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von einem Gegenstand. Oder besser gesagt, Bewusstsein ist immer als ob von einem Gegenstand. Es kommt nicht darauf an, ob es einen Gegenstand gibt oder nicht, sondern was die Merkmale eines Bewusstseins sind, das es so einrichtet, ‚als sei es von‘ einem Gegenstand. Diese drei Worte ‚als ob von‘ sind der Schlüssel zu Husserls Begriff der Intentionalität. Eine Darstellung der Gerichtetheit des Bewusstseins lediglich durch die Aussage, dass das Bewusstsein auf etwas gerichtet sei, lässt im Dunkeln, was diese Gerichtetheit eigentlich ist. Dies führt uns zum zweiten Grund, warum Husserl von Brentano abwich. Husserl wollte genau diesen Punkt erhellen: worin besteht die Gerichtetheit des Bewusstseins? Er machte diese Frage zum Gegenstand einer neuen Disziplin, nämlich der Disziplin der Phänomenologie. Was ist Gerichtetheit? Um zu begreifen, was die Gerichtetheit des Bewusstseins eigentlich ausmacht, d.h. um besser das Wörtchen ‚von‘ zu verstehen, dass Husserl in seiner Definition der Intentionalität betonte, die wir am Anfang dieses Abschnitts zitierten, müssen wir festhalten, dass die Intentionalität für Husserl nicht nur ein Bewusstsein meint, das sich selbst auf Gegenstände richtet, die schon vorhanden sind. Mit ‚Intentionalität‘ meint Husserl, dass das Bewusstsein es in gewisser Weise ‚hervorruft‘, dass es dort überhaupt Gegenstände gibt. Das Bewusstsein ‚bildet‘ oder ‚konstituiert‘ Gegenstände, sagt Husserl, indem er sich eines Wortes des deutschen Idealismus bedient, dies aber auf eine andere Weise verwendet. Oben wurde der Ausdruck ‚hervorbringen‘ in Anführungszeichen gesetzt um anzuzeigen, dass Husserl nicht meint, wir würden die Welt und ihre Gegenstände verursachen oder erschaffen. ‚Intentionalität‘ meint lediglich, dass die verschiedenen Bestandteile unseres Bewusstseins untereinander dergestalt verknüpft sind, dass wir davon das Bewusstsein als von einem Gegenstand haben. In Husserls Worten heißt dies: „Im weiteren Sinne aber ‚konstituiert‘ sich ein Gegenstand selbst – ‚ob er wirklich ist oder nicht‘ – in gewissen Bewusstseinszusammenhängen, die in sich eine einsehbare Einheit tragen, sofern sie wesensmäßig das Bewusstsein eines identischen X mit sich führen.“ (Bd. III, 1: 313) Husserls Verwendung, hier und an vielen anderen Stellen, der reflexiven Form der Wendung ‚ein Gegenstand konstituiert sich selbst‘ gibt seine Auffassung wieder, dass er den Gegenstand nicht als etwas betrachtete, was durch das Bewusstsein produziert wurde. Husserl betrachtete die Phänomenologie als die erste streng wissenschaftliche Fassung des transzendentalen Idealismus. Er meinte aber auch, dass die Phänomenologie die traditionelle Unterscheidung zwischen Idealismus und Realismus transzendiere. Im Jahre 1934 schrieb er in einem Brief an Abbé Baudin: „Kein gewöhnlicher ‚Realist‘ ist jemals so realistisch und konkret gewesen wie ich, der phänomenologische ‚Idealist‘ (nebenbei ein Wort, dass ich nicht mehr verwende).“ Im Vorwort zu der ersten englischen Ausgabe der ‚Ideen‘ im Jahre 1931 stellt Husserl fest: „Der phänomenologische Idealismus leugnet nicht die wirkliche Existenz der realen Welt (und zunächst der Natur), als ob er meinte, dass sie ein Schein wäre. […] Seine einzige Aufgabe und Leistung ist es, den Sinn dieser Welt, genau den Sinn, in welchem sich jeder als wirklich seiend nimmt und mit wirklichem Recht gilt, aufzuklären. Dass die Welt existiert […] ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist 752
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es, dieses Leben und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen und ihren Rechtsgrund aufzuklären.“ Um etwas klarer zu verstehen, um was es Husserl geht, betrachte man das Ente/Hase-Bild von Jastrow und Wittgenstein. Um Husserl dabei näher zu kommen, sollten wir dieses Beispiel abändern und nicht von einem Bild, sondern von einer Silhouette des wirklichen Tieres gegen den Himmel ausgehen. Wenn wir eine solche Silhouette gegen den Himmel sehen, so können wir eine Ente oder einen Hasen sehen. Es ist dasselbe, was in beiden Fällen unser Auge erreicht, und deshalb muss der Unterschied zwischen ihnen von uns selbst kommen. Wir strukturieren, was wir sehen, und wir können dies auf verschiedene Weisen tun. Die Impulse, die uns von Außen erreichen, sind ungenügend zur eindeutigen Bestimmung, welchen Gegenstand wir erfahren; hier kommt noch etwas Weiteres hinzu. 3. Noema Die Struktur, die die Gerichtetheit des Bewusstseins ausmacht, nennt Husserl das ‚Noema‘. Genauer gesagt hat das Noema zwei Hauptbestandteile. Erstens gibt es dort die Gegenstandsbedeutung, die die verschiedenen Bestandteile unserer Erfahrung in Erfahrungen der verschiedenen Merkmale eines Gegenstand integriert, und zweitens gibt es dort die ‚thetische‘ Komponente, die Akte unterschiedlicher Art differenziert, beispielsweise den Akt der Wahrnehmung eines Gegenstandes vom Akt der Erinnerung daran oder des Denkens daran. Die thetische Komponente ist deshalb entscheidend für den Realitätscharakter, den wir dem Gegenstand zuschreiben. Unser Bewusstsein strukturiert, was wir erfahren (siehe Kant, I.). Wie diese Strukturierung vor sich geht, hängt von unserer Vorerfahrung ab, von der gesamten Situation unserer gegenwärtigen Erfahrung, und von einer Reihe weiterer Faktoren. Wären wir unter lauter Enten aufgewachsen, aber hätten nie von Hasen gehört, so wären wir stärker geneigt, eine Ente zu sehen, wenn man uns mit einer Ente/HaseSilhouette konfrontierte. Die Vorstellung von einem Hasen wäre uns einfach noch nicht begegnet. Die entsprechende Strukturierung findet dergestalt statt, dass viele unterschiedliche Merkmale des Gegenstandes als untereinander verknüpft erfahren werden, d.h. als Merkmale ein und desselben Gegenstandes. Wenn wir zum Beispiel einen Hasen sehen, dann sehen wir nicht nur eine Sammlung farbiger Punkte oder verschiedene Braun-Schattierungen, die sich über unser Gesichtsfeld verteilen (sogar das Sehen von braunen Farbpunkten erfordert eine Intentionalität, denn ein Farbfleck ist ebenfalls eine Art von Gegenstand, allerdings ein anderer als ein Hase). Wir sehen einen Hasen mit einer bestimmten Form und einer bestimmten Farbigkeit, mit der Fähigkeit zu essen, zu springen etc. Er hat eine Seite, die uns zugewandt ist und eine andere, die uns abgewandt ist. Wir sehen nicht die andere Seite von unserem Standpunkt aus, aber wir sehen etwas, das eine andere Seite hat. Dass dieses Sehen intentional oder gegenstandsgerichtet ist heißt nun, dass es ein Sehen wie von einem Gegenstand ist. Die nähere Seite des Gegenstandes vor uns wird als eine Seite eines Gegenstandes betrachtet, und das von uns gesehene Ding hat weitere Seiten und Merkmale, die in dem Sinne mitintendiert werden, dass wir den Gegenstand als etwas betrachten, das mehr hat als nur diese eine Seite. Die Gegenstandsbedeutung des Noema ist das Auffassungssystem von Bestimmungen,
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die dieser Mannigfaltigkeit von Merkmalen die Einheit verleiht und sie zu Aspekten von einem und demselben Gegenstand machen. Es ist an diesem Punkt wichtig festzustellen, dass die zahlreichen Seiten, Erscheinungen oder Perspektiven des Gegenstandes zusammen mit dem Gegenstand konstituiert werden. Es gibt keine Seiten und Perspektiven, die sich dort herumtreiben, bevor wir sie wahrnehmen, und die dann zu Gegenständen synthetisiert werden, sobald die Intentionalität einsetzt. Es gibt überhaupt keine Gegenstände irgendeiner Art, weder physischer Gegenstände, noch deren Seiten, Erscheinungen oder Perspektiven ohne Intentionalität. Und die Intentionalität arbeitet nicht schrittweise. Wir beginnen nicht mit der Bildung von sechs Seiten und synthetisieren diese dann zu einem Würfel; wir konstituieren den Würfel und seine sechs Seiten in einem einzigen Schritt. Wir müssen außerdem beachten, dass wir, wenn wir eine Person erfahren, wir keinen physischen Gegenstand erfahren, d.h. keinen Körper, von dem aus wir schließen, dass dort eine Person ist. Wir erfahren eine voll entfaltete Person, wir treffen jemanden an, der die Welt strukturiert, sie aus seiner eigenen Perspektive erfährt. Unser Noema ist ein Noema einer Person; daran ist keine Schlussfolgerung beteiligt. Personen zu sehen ist nicht rätselhafter als das Sehen physischer Gegenstände, und in beiden Fällen bedarf es hierzu keiner Schlussfolgerung. Wenn wir einen physischen Gegenstand sehen, so sehen wir keine Sinnesdaten oder Ähnliches, aus denen wir schließen, dass dort ein physischer Gegenstand ist, sondern unser Noema ist das Noema eines physischen Gegenstandes. Ähnliches geschieht, wenn wir einen Vorgang sehen. Wir sehen dann eine voll entfaltete Handlung, nicht eine körperliche Bewegung, aus der wir schließen, dass dort etwas vor sich geht. Das Wort ‚Gegenstand‘ muss man deshalb in einem sehr weiten Sinne auffassen. Es umfasst nicht nur physische Gegenstände, sondern auch, wie wir bereits sahen, Tiere und Personen, Ereignisse, Handlungen und Prozesse, ferner Seiten, Aspekte und Erscheinungsformen solcher Entitäten. Wesenheiten. Husserl unterscheidet zwischen physischen Gegenständen und Prozessen, die zeitlich und normalerweise auch räumlich gegeben sind, und dem ‚Wesen‘ oder ‚Eidos‘, was die Merkmale bezeichnet, die einen Gegenstand auszeichnen können, und die er mit anderen Gegenständen gemeinsam haben kann, wie beispielsweise die Dreieckigkeit eines Dreiecks oder die Grünheit eines Blattes. Für Husserl ist das Wesen eines Gegenstandes daher nicht irgendetwas Einzigartiges dieses Gegenstandes, wie es das für viele andere Philosophen ist. Die Mathematik ist für ihn die entwickeltste Erforschung der Wesenheiten. Noema und Bedeutung. Die Merkmale des Noema, die wir erwähnten, und insbesondere seine Rolle bei der Analyse von Akten ohne Gegenstände, wie auch die Darstellungsweise der Gegenstandsgerichtetheit von Akten legen es nahe, das Noema mit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu vergleichen. Dieser Vergleich und die daraus folgende Lesart von Husserl wurden angefochten. Textanalysen und systematische Überlegungen stützen diese Herangehensweise jedoch, und sie wird inzwischen als die Standardinterpretation von Husserl betrachtet. Was hierzu beiträgt, ist auch Husserls eigene Stellungnahme dazu in den ‚Ideen‘, dass „das Noema nichts anderes als die Verallgemeinerung des Begriffs der Bedeutung auf das Gebiet aller Akte ist“.
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Noesis. Das Noema ist eine abstrakte Struktur, die im Prinzip von Akt zu Akt dieselbe sein kann, allerdings nur in dem unwahrscheinlichen Falle, dass wir anlässlich zweier verschiedener Gelegenheiten dieselbe Art von Erfahrung von demselben Gegenstand aus derselben Perspektive mit genau denselben Voraussetzungen haben. Ein Akt hat ein Noema kraft des Umstandes, dass es eine Art von Erfahrung umfasst, die Husserl ‚Noesis‘ nennt. Das Noema ist die Bedeutung, die in einem Akt gegeben sei, sagt Husserl, während die Noesis der bedeutungsgebende Aspekt des Aktes sei. Folglich gibt es eine enge Parallele zwischen Noema und Noesis. Die Beziehung zwischen Noema und Noesis weist einige Ähnlichkeiten zur type/token-Beziehung von Ch.S. Peirce auf (siehe Type/Token-Unterscheidung). Die Noesis ist ein zeitlich vorübergehender Prozess, in dem das Noema ‚ruht‘. 4. Hyle; sinnliches Füllen; Evidenz In Wahrnehmungsakten ist das Noema, das wir haben können, auf das beschränkt, was auf unserer Wahrnehmungsoberfläche vor sicht geht, aber die Beschränkung verringert nicht unsere Möglichkeiten genau auf eine einzige. Daher kann ich in einer gegebenen Situation einen Mann wahrnehmen, merke aber später, dass der Mann eine Puppe war, was die entsprechende Änderung des Noema zur Folge hat. Eine solche Verschiebung des Noema ist immer möglich, entsprechend dem Umstand, dass die Wahrnehmung immer fehlbar ist. Diese Grenzbedingungen, die die uns zugänglichen Noemata einschränken, nennt Husserl ‚Hyle‘. Die Hyle besteht nicht aus Gegenständen, die von uns wahrgenommen werden, sondern sind Erfahrungen einer Art, die wir typischerweise haben, wenn unsere Sinnesorgane betroffen sind. Wir können sie aber auch in anderen Fällen haben, z.B. unter dem Einfluss von Fieber oder Drogen. Im Falle eines Wahrnehmungsaktes kann sein Noema auch als eine sehr komplexe Menge von Erwartungen oder Antizipationen charakterisiert werden, die die Arten der Erfahrung betreffen, die wir haben, wenn wir uns um einen Gegenstand herum bewegen und ihn unter Einsatz unserer Sinne wahrnehmen. Wir antizipieren unterschiedliche weitere Erfahrungen, je nachdem, ob wir eine Ente oder einen Hasen sehen. Im ersten Fall antizipieren wir beispielsweise, dass wir Federn fühlen werden, wenn wir diesen Gegenstand berühren, während wir im letzteren Falle ein Fell erwarten. Wenn wir die Erfahrungen machen, die wir antizipieren, dann wird der entsprechende Bestandteil des Noemas ‚gefüllt‘. In allen Wahrnehmungen gibt es das eine oder andere ‚Füllen‘: die Bestandteile des Noemas, die dem entsprechen, was gerade ins Auge fällt, werden gefüllt, und ähnlich geschieht es mit den anderen Sinnen. Solche Antizipationen und Füllvorgänge sind das, was die Wahrnehmung von anderen Modi des Bewusstseins unterscheidet, wie z.B. die Vorstellung oder die Erinnerung. Wenn wir Dinge lediglich vorstellen, kann unser Noema irgendetwas sein. In der Wahrnehmung sind jedoch unsere sinnlichen Erfahrungen angesprochen. Dies schließt eine Reihe von Noemata aus, die ich haben könnte, wenn ich nur mit Vorstellungen beschäftigt wäre. In Ihrer gegenwärtigen Situation als Leser können Sie wahrscheinlich nicht das Noema haben, das der Wahrnehmung eines Elefanten entspricht. Dies reduziert die Anzahl der Wahrnehmungsnoemata, die Sie haben können, allerdings nicht auf lediglich eine, z.B. auf jene, ein Buch vor sich zu haben. Es ist ein zentraler Punkt in Husserls Phänomenologie, dass man eine Vielzahl unterschiedlicher Wahrnehmungsnoemata haben kann, die mit den gegenwärtigen 755
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Ereignissen auf meiner Wahrnehmungsoberfläche vereinbar sind. Im Ente/Hase-Fall ist dies offensichtlich, denn wir können willentlich zwischen dem Noema der Ente und jenem des Hasen hin- und herspringen. In den meisten Fällen sind wir uns dieser Möglichkeit allerdings nicht bewusst. Nur wenn etwas Widriges passiert, wenn ich beispielsweise eine ‚widerspenstige‘ Erfahrung mache, die nicht in die Antizipationen meines Noemas passen, beginne ich damit, von jenem Gegenstand abweichende Gegenstände zu sehen, den ich vorher zu sehen meinte. Mein Noema „explodiert“, um Husserls Ausdruck zu verwenden, und ich habe plötzlich ein Noema, das von dem vorangehenden ziemlich abweicht, d.h. mit neuen Antizipationen. Husserl meint, dies sei immer möglich. Die Wahrnehmung bringt immer Antizipationen mit sich, die über das hinausgehen, was gegenwärtig auf die Augen trifft, und es besteht immer das Risiko, dass wir irre gehen, unabhängig davon, wie vertrauensvoll und gewiss wir uns fühlen. Wenn irgendwelche Bestandteile des Noemas gefüllt sind, dann besitzen wir eine sog. ‚Evidenz‘. Die Evidenz stellt sich in Graden ein, abhängig davon, wie viel vom Noema bereits gefüllt ist. Husserl diskutiert zwei Arten perfekter Evidenz: die „angemessene“ Evidenz, wo jeder Bestandteil im Noema gefüllt ist und keine ungefüllten Antizipationen übrig sind, und die „apodiktische“ Evidenz, wo die Negation dessen, was der Fall zu sein scheint, selbstwidersprüchlich ist. Nach einigem Schwanken kam Husserl zu dem Schluss, dass wir niemals irgendeine dieser Arten perfekter Evidenz erhalten können; wir sind immer fehlbar. 5. Intuition Husserl verwendet den Ausdruck ‚Anschauung‘ für jeden Akt, wo ein Gegenstand als gegeben erfahren wird, dass er also als wirklich daseiend erfahren wird. Frühere Philosophen haben das Wort ‚Anschauung‘ auf vielfältige Weise verwendet, meistens zur Bezeichnung irgendeiner Art direkter, nicht logisch geschlossener Einsicht. Wahrnehmung wurde üblicherweise als eine Art von Anschauung eingestuft. Eine Schlüsselfrage sowohl der mittelalterlichen Philosophie, als auch des Rationalismus und des Empirismus war es, ob es andere Arten solcher Einsicht gibt. Kant definierte die Anschauung als eine Darstellung, die unmittelbar mit ihrem Gegenstand in Beziehung steht und singulär ist (‚Kritik der reinen Vernunft‘, 1781/1787: A320; B376–377), Bernard Bolzano entwickelte diese Idee mit großer Präzision weiter. Für Husserl ist eine Anschauung ein Akt, wo wir darin beschränkt sind, wie wir seine Gegenstände konstituieren, so wie es typischerweise in der Wahrnehmung der Fall ist, die eine der beiden Varianten der Anschauung ist. Die andere Variante nennt er ‚Wesensschau‘. Der Gegenstand ist hier ein allgemeines Merkmal, ein Wesen. Für Husserl wie für Kant ist die Anschauung eine Schlüsselform der Evidenz in der Mathematik. Dies ist nun das, was Husserl mit dem rätselhaft klingenden Ausdruck ‚Wesensschau‘ meint. Man könnte immer noch behaupten, dass es so etwas nicht gibt, aber die Vorstellung ist schwer zurückzuweisen, wenn man einmal zugestimmt hat, dass der Gegenstand eines Aktes unterbestimmt ist durch das, was unsere Sinne erreicht, und man damit die korrelierte Vorstellung der Intentionalität akzeptiert. 6. Die Reduktionen; Phänomenologie Husserl unterscheidet zwischen zahlreichen so genannten ‚Reduktionen‘. Erstens gibt es die ‚eidetische‘ Reduktion, die wir jedes Mal vornehmen, wenn wir von der Konzentration auf einen individuellen physischen Gegenstand zur Betrachtung 756
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einer seiner Wesenheiten übergehen (einem Eidos dieses Gegenstandes). Diese Art der Reduktion wird in der Mathematik seit ihren Anfängen durchgeführt, und Husserl betrachtete auch andere Wissenschaften neben der Mathematik als eidetisch. Die zweite Reduktion ist eine, die für die Phänomenologie bezeichnend ist, und zwar jene einer spezifischen Reflexion. Statt der Konzentration auf die normalen Gegenstände unserer Akte – seien sie physische Gegenstände, Vorgänge, Personen oder allgemeine Merkmale, die viele Gegenstände gemeinsam haben können – reflektieren wir auf die Strukturen unseres eigenen Bewusstseins und untersuchen die Noemata, die Noeses oder die Hyle. Die Noemata, die Noeses und die Hyle haben zwei wichtige Merkmale: wir sind uns ihrer normalerweise nicht bewusst, und sie sind ferner eine conditio sine qua non für die Erscheinung einer Welt. Entitäten mit diesen beiden Merkmalen nennt Husserl ‚transzendental‘. Diese Reduktion, die uns zu ihnen führt und wo die gewöhnlichen Gegenstände in Klammern gesetzt werden, heißt folglich die ‚transzendentale‘ Reduktion. Husserl nennt sie auch ‚Epoché‘ und verwendet damit ein Wort, dass die antiken Skeptiker für die Unterlassung der Einnahme eines Standpunktes verwandten. Wir untersuchen die Merkmale von dem Akt, die es ausmachen, dass wir einen Gegenstand zu haben scheinen, und fragen nicht, ob wirklich einer vorliegt oder nicht. Husserl hatte die Idee der transzendentalen Reduktion im Jahre 1905. Sie markiert den Übergang von der frühen Phänomenologie der ‚Logischen Untersuchungen‘ zu der ‚idealistischen‘ Phänomenologie der ‚Ideen‘ und späterer Werke. Die ‚phänomenologische‘ Reduktion ist schließlich die Kombination der eidetischen und der transzendentalen Reduktion. Das heißt, sie ist eine Reduktion, die uns von den Akten weg führt, die vermittels von Akten, die auf Wesensmerkmale und damit auf physische Gegenstände gerichtet sind, hinführt zu Akten, die auf die Noema, Noesis und Hyle von Akten gerichtet sind, und dort auf ihre Wesenheiten. Husserl geht diese beiden Schritte manchmal in die entgegengesetzte Richtung und beginnt mit einer transzendentalen Reduktion, um sich dann auf die wesentlichen Züge des Noemas, der Noesis und der Hyle zu konzentrieren. Das Endprodukt ist hier nicht dasselbe, aber die phänomenologische Reduktion kann vermutlich auch so aussehen. Phänomenologie ist die Untersuchung der transzendentalen Elemente in unserer Erfahrung, die durch die phänomenologische Reduktion freigelegt werden, nämlich das Noema, die Noesis und die Hyle. In der Phänomenologie werden alle drei dieser Elemente untersucht, mit einer Betonung auf der noematisch-noetischen Struktur. Husserl führte in ‚Über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‘ detaillierte Analysen deren zeitlicher Aspekte und Beschaffenheit durch, ferner in ‚Formale und Transzendentale Logik‘ und ‚Erfahrung und Urteil‘ Analysen der Strukturen, die grundlegend für die Logik und Mathematik sind, und in den ‚Kartesischen Meditationen‘ sowie im Umfange mehrerer tausend Manuskriptseiten, von denen die wichtigsten von Iso Kern in den ‚Husserliana‘ (Bd. 13–15) zusammengetragen wurden, solche der Intersubjektivität und der Prozesse, durch die wir unsere alltägliche Welt konstituieren. Für Husserl ist die Phänomenologie die Untersuchung der subjektiven Perspektive. In der Wissenschaft streben wir nach Objektivität und suchen die Beobachtungen und Experimente so zu arrangieren, dass die Unterschiede von Beobachter zu Beobachter minimiert werden. Die Phänomenologie konzentriert sich auf das Subjektive, auf die Weise, auf die jeder Mensch die Welt unterschiedlich auf der Grund757
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lage unterschiedlicher Erfahrungen und des jeweiligen kulturellen Hintergrundes, aber auch auf der Basis der Anpassung an andere Subjekte mittels Interaktion und Kommunikation strukturiert und ‚konstituiert‘. 7. Die Vergangenheit Wir konstituieren nicht nur unterschiedliche Eigenschaften von Dingen, sondern auch die Beziehung des jeweiligen Gegenstandes zu anderen Gegenständen. Wenn ich beispielsweise einen Baum sehe, so denke ich diesen Baum als etwas, das sich vor mir befindet, vielleicht neben anderen Bäumen angeordnet ist, von anderen Menschen außer mir gesehen wird etc. Ferner denke ich ihn als etwas, dass eine Geschichte hat. Er war dort bereits, bevor ich ihn sah, wird auch weiterhin dort sein, nachdem ich gegangen bin, und vielleicht wird er demnächst gefällt und irgendwo anders hin transportiert. Er wird allerdings, wie alle materiellen Dinge, nicht einfach aus der Welt verschwinden. Mein Bewusstsein des Baumes ist in dieser Form als ein Bewusstsein der Welt in Raum und Zeit, in dem der Baum angesiedelt ist. Mein Bewusstsein konstituiert den Baum, aber zur selben Zeit konstituiert es die Welt, in der der Baum und ich selbst leben. Wenn mir meine weitere Erfahrung die Überzeugung nimmt, dass ein Baum vor mir steht, weil ich beispielsweise keine Rückseite eines Baumes vorfinde, oder weil sich andere meiner Erwartungen als falsch erweisen, so wirkt sich dies nicht nur auf meine Konzeption dessen aus, was dort gegeben ist, sondern auch auf meine Konzeption dessen, was dort gewesen ist und dort sein wird. In diesem Falle werden also nicht nur die Gegenwart sondern auch die Vergangenheit und die Zukunft rekonstituiert. Als Illustration, wie Änderung meiner gegenwärtigen Wahrnehmung zur einer Rekonstitution nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit führen, verwendet Husserl das Beispiel eines Balls, den der Betrachter anfangs für rot und ganz rund hält. Nachdem er ihn umgedreht hat, entdeckt er, dass er auf der anderen Seite grün ist und eine Delle hat. In ‚Erfahrung und Urteil‘ sagt Husserl „D.h. der Wahrnehmungssinn ändert sich nicht bloß in der momentanen, neuen Wahrnehmungsstrecke; die noematische Wandlung strahlt in Form einer rückwirkenden Durchstreichung zurück in die retentionale Sphäre zurück und wandelt ihre aus den früheren Wahrnehmungsphasen stammende Sinnesleistung. Die frühere Apperzeption, die auf ein konsequent fortlaufendes ‚rot und gleichmäßig rund‘ eingestellt war, wird implizite ‚umgedeutet‘ in das ‚Grüne mit einer Beule auf der einen Seite‘.“ (‚Erfahrung und Urteil‘, 1938, S. 96) Husserl meinte, dass Zeit und Raum ebenfalls konstituiert werden. In seinem Buch ‚Über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins‘ und in zahlreichen Manuskripten, die in Band 10 der ‚Husserliana‘ veröffentlicht sind, analysiert er auf sehr interessante Weise, wie die Zeit objektiv konstituiert wird. 8. Werte, praktische Funktionen Bislang haben wir uns auf die tatsächlichen Eigenschaften der Dinge konzentriert. Diese Dinge haben allerdings auch Werteigenschaften, und diese Eigenschaften werden auf eine entsprechende Weise konstituiert. Die Welt, in der wir leben, wird so erfahren, dass gewisse Dinge und Vorgänge darin einen positiven Wert haben, und andere einen negativen. Unsere Normen und Werte sind wie unsere
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Überzeugungen dem Wandel ausgesetzt. Veränderungen in unserer Sicht der tatsächlichen Dinge werden oft von Änderungen in ihrer Bewertung begleitet. Husserl betont, dass unsere Perspektiven und Antizipationen nicht vorherrschend faktischer Natur seien. Wir leben nicht in ein rein theoretisches Leben. Nach Husserl begegnen wir der Welt um uns herum vor allem in einer Haltung des natürlichen Lebensvollzuges, als „lebendig tätige Subjekte innerhalb eines Kreises anderer tätiger Subjekte“. Husserl sagt dies in einem Manuskript aus 1917, äußerte aber auch schon früher und noch später ähnliche Ideen. Daher heißt es in den ‚Ideen‘: „Dabei ist diese Welt für mich nicht da als eine bloße Sachenwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt.“ In späteren Manuskripten, speziell von 1917 an, konzentrierte sich Husserl mehr und mehr auf die Rolle des Praktischen und des Körpers in unserer Konstitution der Welt. So, wie er niemals meinte, dass wir zunächst Sinnesdaten empfangen, und auch keine Perspektiven oder Erscheinungen, die dann zu physischen Gegenständen zusammengesetzt werden, oder dass wir zunächst Körper und körperliche Bewegungen wahrnehmen und von diesen aus schließen, dass es sich um Personen und deren Handlungen handelt, so wäre es ein grobes Missverständnis, Husserl die Auffassung zuzuschreiben, dass wir erst Gegenstände wahrnehmen, die lediglich physische Eigenschaften haben, und ihnen dann einen Wert oder eine praktische Funktion zuschreiben. Die Dinge werden von uns direkt als solche erfahren, die diese Merkmale haben: funktionale und wertende genauso wie tatsächliche, die alle für uns in unserem natürlichen Lebensvollzug bedeutsam sind. In unserer Diskussion der Hyle charakterisierten wir das Noema eines Wahrnehmungsaktes als einen sehr komplexen Aufbau von Erwartungen oder Antizipationen betreffend die Art der Erfahrungen, die wir haben werden, wenn wir uns um den Gegenstand herumbewegen und ihn wahrnehmen. Wir sollten festhalten, dass diese Erfahrungen nicht nur von unseren Sinnesorganen abhängen, sondern auch von den Bewegungen unseres Körpers, von unserer körperlichen Geschicklichkeit und unserer Vertrautheit mit verschiedenen Arten praktischer Tätigkeiten. In zahlreichen Passagen spricht Husserl über praktische Antizipationen und die Rolle der Kinästhetik in der Wahrnehmung und der körperlichen Aktivität. 9. Horizont Wenn wir einen Gegenstand erfahren so ist unser Bewusstsein auf diesen Gegenstand fokussiert, und der Rest der Welt mit ihren vielen Gegenständen rückt in den Hintergrund als etwas, was wir an- oder hinnehmen, dem wir aber aktuell keine Aufmerksamkeit zollen. Dasselbe gilt für die meisten der unerschöpflich vielen Merkmale des Gegenstandes selbst. Alle diese weiteren Merkmale des Gegenstandes, zusammen mit der Welt, in die er gesetzt ist, machen das aus, was Husserl den ‚Horizont‘ einer Erfahrung nennt. Die zahlreichen Merkmale des Gegenstandes, die mitintendiert oder mitbedeutet werden, aber nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen, nennt Husserl den ‚inneren Horizont‘, während er das Reich der übrigen Gegenstände und der Welt, zu der sie alle gehören, den ‚äußeren Horizont‘ nennt. Der Horizont ist von besonderer Bedeutung für Husserls Begriff der Rechtfertigung, den wir später diskutieren werden. Speziell bedeutsam ist die verborgene Natur des Horizontes. Wie wir bereits feststellten, ist der Horizont das, was selbst keine Aufmerksamkeit erfährt. Als Beispiel nehme man unsere Erwartung, dass wir 759
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einen Fußboden vorfinden werden, wenn wir einen Raum betreten. Normalerweise denken wir nicht einmal daran, dass dort ein Boden sein wird. Und typischerweise können wir uns nicht einmal erinnern, wann wir das erste Mal den entsprechenden ‚Glauben‘ oder eine solche ‚Antizipation‘ erwarben. Nach Husserl kann es auch niemals ein solches Ereignis gegeben haben, wenn wir gerade urteilten, dass dort in irgendeinem Raum ein Fußboden sei. Und dennoch antizipierten wir schließlich einen Fußboden, und zwar nicht in dem Sinne, dass wir ihn bewusst erwarteten, sondern in dem Sinne, dass wir, wenn wir einen Raum betreten und dort keiner sein sollte, wir sehr überrascht wären. In diesem Beispiel wären wir leicht in der Lage zu beschreiben, was dort fehlte. In anderen Fällen sind unsere dagegen Antizipationen so unmerklich, dass wir vielleicht gerade spüren, dass irgendetwas seltsam ist, wir aber nicht in der Lage sind zu sagen, was dies genau ist. Wörter wie ‚Überzeugung‘ oder ‚Annahme‘ oder ‚Glauben‘ und ‚antizipieren‘ sind in solchen Fällen sicherlich nicht angebracht, denn sie konnotieren, dass etwas darüber bewusst sei und man Gedanken dazu habe. Sowohl das Englische, als auch das Deutsche scheinen über keine Worte für das zu verfügen, um das es hier geht. Husserl verwendet jedenfalls die Worte ‚antizipieren‘, ‚hinausmeinen‘ und ‚vorzeichnen‘. 10. Intersubjektivität Während seines ganzen Lebens betonte Husserl, dass die Welt, die wir intendieren und dadurch konstituieren, nicht unsere eigene, private Welt ist, sondern eine intersubjektive, gemeinsame, die uns allen zugänglich ist. So schriebt er in den ‚Ideen‘: „Ich finde beständig vorhanden als mein Gegenüber die eine räumlich-zeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre, wie alle anderen in ihr vorfindlichen und auf sie in gleicher Weise bezogenen Menschen.“ (Bd. III, 1: S. 61) Husserls Untersuchungen zur Intersubjektivität konzentrieren sich insbesondere auf die Prozesse, durch wir die anderen als ebenfalls erfahrende Subjekte erfahren, und dass wir unsere Antizipationen jenen anpassen, von denen wir annehmen, dass die anderen sie ebenfalls haben. Dank dieses Umstandes ist unsere Art und Weise der Weltkonstitution nicht solipsistisch, sondern wir konstituieren die Welt als eine gemeinsame, die wir aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen. Eine Vorstellung von Objektivität geht daraus hervor, und wir betrachten unser Verhalten vielleicht als abweichend, z.B. als farbenblind oder als geistig abgelenkt, und wir erfahren uns auch als mit einer Wirklichkeit konfrontiert, an die sich unsere Mutmaßungen und Antizipationen anpassen müssen. In Arbeiten, die noch immer weitgehend unveröffentlicht sind, begann Husserl mit der Entwicklung einer Ethik, die auf einer Untersuchung des Objektivationsprozesses beruht, wobei objektive ethische Prinzipien und Normen aus unseren subjektiven Vorlieben und Abneigungen entstehen. Husserl betont die gemeinsame, intersubjektive Natur der Welt, insbesondere in § 29 der ‚Ideen‘, den er ‚Die anderen Ich-Subjekte und die intersubjektive natürliche Umwelt‘ betitelte: „Alles das, was von mir selbst gilt, gilt auch, wie ich weiß, für alle anderen Menschen, die ich in meiner Umwelt vorhanden finde. […] Dies aber so, dass ich ihre und meine Umwelt objektiv als ein und dieselbe Welt auffasse, die nur für uns
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alle in verschiedener Weise zum Bewusstsein kommt. […] Bei all dem verständigen wir uns mit den Nebenmenschen und setzen gemeinsam eine objektive räumlichzeitliche Wirklichkeit als unser aller daseienden Umwelt, der wir selbst doch angehören.“ (Bd. III, 1: S. 60) In den späteren Arbeiten findet man ähnliche Vorstellungen, insbesondere in den vielen Texten, die von Iso Kern in drei Bänden der Husserliana gesammelt sind, und die der Intersubjektivität gewidmet sind, aber auch in vielen anderen Arbeiten, beispielsweise in der ‚Krisis‘, wo es heißt: „So ist überhaupt die Welt nicht nur seiend für die vereinzelten Menschen, sondern für die Menschengemeinschaft, und zwar schon durch die Vergemeinschaftung des schlicht Wahrnehmungsmäßigen.“ (Bd. VI, S. 166) Husserl diskutiert bis ins Detail die Empathie und viele andere Arten der intersubjektiven Anpassung, die uns dazu befähigt, eine gemeinsame, intersubjektive Welt zu intendieren (siehe die drei Bände über die Intersubjektivität in den ‚Husserliana‘). 11. Existenz Die im vorstehenden 10. Abschnitt zitierten Passagen zeigen ein weiteres Merkmal des Husserlschen Gedankens der Intentionalität, das trotz seiner Wichtigkeit selten diskutiert wird. Die Intentionalität bringt nicht nur die Gerichtetheit auf einen Gegenstand mit sich, sondern auch eine ‚Setzung‘ des Gegenstandes, die den beiden Bestandteilen des Noemas, wie oben im 3. Abschnitt diskutiert, entspricht. Der Gegenstand wird als wirklich und gegenwärtig erfahren, als erinnert, oder auch nur vorgestellt etc. In den gerade zitierten Passagen sagt Husserl, dass ihm fortgesetzte Dinge zu Handen kommen und ihn mit einer raumzeitlichen Wirklichkeit konfrontieren, und dass wir uns mit unseren Mitmenschen verstehen und gemeinsam eine objektive räumlich-zeitliche Wirklichkeit setzen. Dies betont er auch, wenn er die Lebenswelt in der ‚Krisis‘ betont: „Die Lebenswelt ist für uns, die in ihr wach Lebenden, immer schon da, im Voraus für uns seiend, ‚Boden‘ für alle, ob theoretische, oder außertheoretische Praxis. Die Welt ist für uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekte nicht gelegentlich einmal, sondern immer und notwendig als Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis, als Horizont vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewissheit-leben.“ (Bd. VI: S. 145) Husserl diskutiert diesen thetischen Charakter der Intentionalität, und entsprechend auch jenen des Noemas, in vielen seiner Bücher und Manuskripte. Er bemühte sich insbesondere um das, was der Welt ihren Wirklichkeitscharakter verleiht. Wie William James, den er bereits gelesen hatte, als er den Übergang zur Phänomenologie in der Mitte der 1890er Jahre vollzog, betonte er die Bedeutung des Körpers und dem, was ihm zustößt, für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. In James’ Worten: „Die wahrnehmbare Lebendigkeit oder Schärfe ist wohl die vitale Tatsache der Wirklichkeit.“ (‚The Principles of Psychology‘, 1890: 2, 301). Husserl würde wohl auch James’ Beobachtung bestätigen, dass „fons et origo aller Wirklichkeit, sei es vom absoluten oder vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, daher subjektiv, und damit der unsrige ist.“ (‚Principles‘: 2, 296–297).
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Die letzte Passage von James erhält bei Husserl eine doppelte Bedeutung, durch die sich der Kern seiner Wirklichkeitssicht ausdrückt: das Subjektive (wir selbst) ist die fons et origo aller Wirklichkeit in zweierlei Sinn, nämlich einem transzendentalen und einem empirischen: wir konstituieren die Welt als wirklich durch unsere Intentionalität, und der Wirklichkeitscharakter, den wir ihr verleihen, ist nicht lediglich von unserem Sein als transzendentalen Subjekten abgeleitet, sondern auch von uns als empirischen Subjekten mit einem Körper, der in eine physische Welt getaucht ist. 12. Die Lebenswelt Husserls Vorstellung, die die weiteste Verbreitung erfuhr, ist jene der Lebenswelt. Insbesondere ist das Wort ‚Lebenswelt‘ selbst ganz allgemein in Umlauf gekommen. Es wurde von Simmel und anderen bereits vor Husserl verwendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem bevorzugten Wort vieler Sozialwissenschaftler, die es auf viele verschiedene Weisen benutzten. Viele von ihnen bezogen sich auf Husserl, offenbar ohne seine Philosophie studiert zu haben, und folglich ohne Kenntnisse der vielen wichtigen Merkmale, die die Lebenswelt in seinem Denken hat. Der herausragende Ort, wo Husserl das Wort ‚Lebenswelt‘ in seinen gedruckten Werken verwendet, ist das letzte seiner Werke, die ‚Krisis‘, von der die ersten beiden Teile im Jahre 1936 veröffentlicht wurden. Der Rest dieses unvollendeten Werks, d.h. ein wichtiger dritter Teil mit der Hauptdiskussion der Lebenswelt, wurde erst 1954 publiziert, war aber schon vorher einigen von Husserls Studenten bekannt, einschließlich Merleau-Ponty, der Husserls Archiv in Louvain besuchte, um diesen Werkteil im April 1939 zu studieren. Die Auffassungen der Interpreten Husserls über die Husserlsche Lebenswelt gehen weit auseinander. Man dachte oft, dass sie einen größeren Bruch in seiner Entwicklung anzeigen würde, nämlich jenen vom ‚frühen Husserl‘ der ‚Ideen‘ zum ‚späten Husserl‘ der ‚Krisis‘. Aber handelt es sich dabei um einen solchen Bruch? Und zweitens: was genau soll die Lebenswelt sein, und welche Rolle spielt sie in der Phänomenologie? Auf die erstere Frage ist die Antwort ein abschließendes ‚Nein‘. Die Lebenswelt ist vollständig mit Husserls früherer Philosophie vereinbar, und es gibt sogar von Anfang an einen ganz bestimmten Platz für sie in seiner Phänomenologie. Husserl streift die Lebenswelt wiederholt in seinen früheren Werken und er vertieft und verändert seine Auffassung von ihr genauso, wie er es mit allen anderen Elementen seiner Phänomenologie auch tat. Statt die Idee der Lebenswelt als einen Bruch am Ende von Husserls früher Philosophie aufzufassen, sollten wir sie als eng mit den anderen Hauptthemen der Phänomenologie verbunden betrachten. Um den Begriff der Lebenswelt in allen ihren Nuancen richtig zu verstehen ist es wichtig, die Verbindung zwischen diesem Begriff und der übrigen Husserlschen Philosophie anzuerkennen. Die Lebenswelt ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen der natürlichen Einstellung und der transzendentalen oder phänomenologischen Einstellung, die Husserl im Jahre 1905 einführte. Das erste Erscheinen der zugrunde liegenden Vorstellung, für die er später den Ausdruck ‚Lebenswelt‘ einführte, ereignete sich kurz nach seinen Vorlesungen ‚Grundlegende Probleme in der Phänomenologie‘ von 1910–1911, d.h. schon vor den ‚Ideen‘. Husserl beginnt diese Vorlesungen mit einer
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ausgedehnten Diskussion der „natürlichen Einstellung und dem natürlichen Weltbegriff“. Dort sagt er zusammengefasst: „Es würde sich auch zeigen lassen, dass philosophische Interessen höchster Dignität eine vollständige und allseitige Beschreibung des so genannten natürlichen Weltbegriffs, desjenigen der natürlichen Einstellung, fordern; andererseits auch, dass eine exakte und tiefgehende Beschreibung dieser Art keineswegs eine leicht zu erledigende Sache ist, vielmehr außerordentlich schwierige Reflexionen erforderte.“ (Bd. XIII, S. 124 f.) Husserl stützt sich hier auf die Wendung des von ihm betonten ‚natürlichen Weltbegriffs‘ von Richard Avenarius, den er später in der Vorlesung diskutiert. In einem Manuskript aus dem Jahre 1915 beschreibt Husserl diese Welt auf die folgende Weise (indem er Avenarius folgt): „Alle Meinungen, rechtmäßige oder unrechtmäßige, populäre, abergläubische, wissenschaftliche, beziehen sich auf die schon vorgegebene Welt […] Alle Theorie bezieht sich auf diese unmittelbare Gegebenheit, und sie kann einen berechtigten Sinn nur haben, wenn sie Gedanken bildet, die den allgemeinen Sinn der unmittelbaren Gegebenheit nicht verletzen. Keine Theoretisierung kann diesen Sinn verletzen.“ (Bd. XIII, S. 196) In den folgenden Jahren kehrt Husserl wiederholt zu diesem und verwandten Themen zurück, indem er unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, die manchmal auf andere Philosophen anspielen, die ähnliche Vorstellungen vorgebracht hatten, wie z.B. Nietzsche. Recht oft verwendet er Avenarius’ Wendung ‚natürliche Welt‘. In einem Manuskript von 1917, das wohl das erste zu sein scheint, wo er das Wort ‚Lebenswelt‘ verwendet, führt er dieses neue Wort als Äquivalent zu dem vorangehenden ein: ‚Die Lebenswelt ist die natürliche Welt – in der Einstellung zum natürlichen Lebensvollzug sind wir lebendig tätige Subjekte‘ (die Manuskripte datieren von 1917, wurden aber während der ersten Hälfte der 1920er Jahre kopiert, und es ist auch möglich, dass das Wort ‚Lebenswelt‘ erst dann auftauchte). Schritt für Schritt während der 1920er Jahre, und besonders in den 1930er Jahren wird die Lebenswelt ein zentrales Thema in Husserls Schriften, bis ihre Diskussion in der ‚Krisis‘ von 1936 ihren Höhepunkt findet. Ein Ziel dieser Arbeit war es, über den Begriff der Lebenswelt einen neuen und besseren Zugang zur Phänomenologie zu eröffnen. Die Lebenswelt ist für Husserl unsere natürliche Welt, d.h. die Welt, in der wir leben und von der wir durch unsere täglichen Aktivitäten absorbiert sind. Ein Hauptziel der Phänomenologie ist es, uns zum Reflektieren dieser Welt anzuregen und uns sehen zu machen, wie sie durch uns konstituiert ist. Durch die phänomenologische Reduktion will uns die Phänomenologie aus unserer natürlichen Einstellung zur Welt herausnehmen, von der wir rundherum eingenommen sind, und zwar in die phänomenologische, transzendentale Einstellung, wo wir die Noemata unserer Wahrnehmungshandlungen in den Blick nehmen können, d.h. unser Strukturieren der Wirklichkeit. Vorgegebenheit. In der gerade zitierten Passage aus dem Manuskript von 1915 sagt Husserl, dass die Welt vorgegeben ist. Dieser Punkt wird auch in den ‚Ideen‘ diskutiert, so Husserl festhält:
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„In dieser Weise finde ich mich im wachen Bewusstsein allzeit, und ohne es je ändern zu können, in Beziehung auf die eine und selbe, obschon dem inhaltlichen Bestande nach wechselnde Welt. Sie ist immer für mich ‚vorhanden‘, und ich selbst bin ihr Mitglied.“ (Bd. III, 1: S. 58) Einige Seiten später erscheint die Passage, die bereits zuvor in dem Abschnitt über die Intersubjektivität zitiert wurde: „Ich finde beständig vorhanden als mein Gegenüber die eine räumlich-zeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre, wie alle anderen in ihr vorfindlichen und auf sie in gleicher Weise bezogenen Menschen.“ (Bd. III, 1: S. 61) Auch die Passage aus § 37 der ‚Krisis‘, die bereits in dem Abschnitt über die Existenz zitiert wurde, drückt diese selbe Idee aus: „Die Lebenswelt ist für uns, die in ihr wach Lebenden, immer schon da, im Voraus für uns seiend, ‚Boden‘ für alle, ob theoretische, oder außertheoretische Praxis. Die Welt ist für uns [...] als Horizont vorgegeben.“ (Bd. VI: S. 145) Wissenschaft und Lebenswelt. Ein umstrittener Punkt in Husserls Lehre ist die Beziehung zwischen der Lebenswelt und den Wissenschaften. Viele Interpreten von Husserl sehen einen Widerspruch zwischen der Lebenswelt und den Wissenschaften. Eine solche Verschmähung der Wissenschaften ist jedoch unvereinbar mit Husserls Herkunft aus der Mathematik und den Wissenschaften, und mit seinem fortgesetzten Interesse daran. Sie passt auch kaum zu seinen Texten, die uns ein anderes und verwickelteres Bild liefern. Nach Husserl sind die Lebenswelt und die Wissenschaften auf drei verschiedene Weisen eng miteinander verwoben: (1) Die Wissenschaften sind Teil der Lebenswelt. Dies zeigt sich am ausdrücklichsten und klarsten in ‚Erfahrung und Urteil‘, wo Husserl sagt: „Der Sinn dieser Vorgegebenheit ist dadurch bestimmt, dass zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, dass wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.“ (‚Erfahrung und Urteil‘, 1938, S. 39). Ähnliche Aussagen finden sich auch anderweitig in Husserls Werk, beispielsweise in der ‚Krisis‘: „Die wissenschaftliche Welt [als Gegenstand der] systematischen Theorie […] gehört wie alle Zweckwelten zur Lebenswelt.“ (2) Wissenschaftliche Aussagen erhalten ihre Bedeutung durch ihre Einbettung in die Lebenswelt. Dies wurde von Husserl bereits im Manuskript von 1915 betont, das oben im 12. Abschnitt zitiert wurde: „Alle Meinungen, rechtmäßige oder unrechtmäßige, populäre, abergläubische, wissenschaftliche, beziehen sich auf die schon vorgegebene Welt […] Alle Theorie bezieht sich auf diese unmittelbare Gegebenheit, und sie kann einen berechtigten Sinn nur haben, wenn sie Gedanken bildet, die den allgemeinen Sinn der unmittelbaren Gegebenheit nicht verletzen. Keine Theoretisierung kann diesen Sinn verletzen.“ (Bd. XIII, S. 196; Hervorhebung nicht im Original) (3) Die Wissenschaften begründen sich durch die Lebenswelt. Es gibt ein Wechselspiel zwischen diesem Punkt und dem obigen Punkt (1). Die Wissenschaften sind 764
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begründet, weil sie zur Lebenswelt gehören, und gleichzeitig gehören sie zur Lebenswelt, weil sie als eine Beschreibung der Welt konzipiert sind und Wahrheit beanspruchen: „Mag die besondere Leistung unserer objektiven Wissenschaft der Neuzeit auch unverstanden sein, daran ist nicht zu rütteln, dass sie eine aus besonderen Aktivitäten entsprungene Geltung für die Lebenswelt und selbst ihrer Konkretion zugehörig ist.“ (Bd. VI, S. 136) Und ähnlich: „Und weiter sehen wir, dass alle diese theoretischen Ergebnisse den Charakter von Geltungen für die Lebenswelt haben, als solche sich ihrem eigenen Bestande sich immerfort zuschlagend und vorweg schon als Horizont möglicher Leistungen der werdenden Wissenschaft ihr zugehörig. ‚Konkrete Lebenswelt‘ ist also zugleich für die ‚wissenschaftlich wahre‘ Welt der gründende Boden und zugleich in ihrer eigenen universalen Konkretion sie befassend [...].“ (Bd. VI: S. 134) 13. Letztbegründung Dies bringt uns zum abschließenden Thema dieser Darstellung der Husserlschen Phänomenologie, nämlich der Rolle der Lebenswelt bei der Letztbegründung. Die traditionelle Interpretation von Husserl schreibt ihr eine ‚Letztbegründungsposition‘ zu. Man sagt, er behaupte, dass wir absolute Gewissheit hinsichtlich einer Reihe von Gegenständen erreichen können, speziell in der Philosophie. Es gibt jedoch deutliche Hinweise, dass Husserl eine Einstellung zur Begründung hatte, die jener von Goodman und Rawls ähnelt. Eine Meinung wäre demzufolge dadurch gerechtfertigt, dass sie in ein ‚reflektierendes Gleichgewicht‘ mit den doxa unserer Lebenswelt gebracht wird. Dies gilt selbst noch für die Mathematik: „Der mathematische Beweis hat die Quelle seiner Bedeutung und Legitimität in der Evidenz der Lebenswelt.“ (‚Krisis‘) Ein größeres Rätsel, das viele in dieser Vorstellung von Begründung sehen, lautet: ‚Wie kann eine Berufung auf subjektive Meinungen irgendeine Art von Begründung von irgendetwas leisten? Sie mag dabei helfen, Unstimmigkeiten zu lösen; aber wie kann sie zur Begründung von etwas dienen?‘ Husserl antwortet hierauf, indem er herausstreicht, dass es keinen anderen Weg der Begründung von irgendetwas gibt, und dass dieser Weg auch befriedigend ist: „Das wirklich Erste ist die ‚bloß subjektiv-relative‘ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich für uns hat das ‚bloß‘ als alte Erbschaft die verächtliche Färbung von doxa. Im vorwissenschaftlichen Leben selbst hat sie davon natürlich nichts; da ist sie ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnis und genau so gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern. Die Verächtlichkeit, mit welcher alles ‚bloß Subjektiv-Relative‘ von dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird, ändert an seiner eigenen Seinsweise nichts, wie es daran nichts ändert, dass es ihm doch selbst gut genug sein muss, so immer er darauf rekurriert und unvermeidlich rekurrieren muss.“ (Bd. VI: S. 127 f.) Dies ist zunächst nur eine Behauptung. Jedoch führt Husserl seinen Standpunkt in anderen Teilen seiner Arbeit weiter aus. Seine zentrale Beobachtung, die ein ver765
Husserl, Edmund (1859‑1938)
wickelter Beitrag zu unserer zeitgenössischen Diskussion der Letztbegründung ist, ist die, dass die ‚Überzeugungen‘, ‚Erwartungen‘ oder ‚Hinnahmen‘ dessen, auf die wir uns letztlich stützen, unhinterfragt sind, und in den meisten Fällen auch nie hinterfragt wurden. Jede Gültigkeits- und Wahrheitsbehauptung beruht auf diesem ‚Eisberg‘ der unhinterfragt vorweg urteilenden Annahmen, die bereits diskutiert wurden. Man könnte meinen, dass dies die Dinge noch verschlimmere. Wir fallen nicht nur auf etwas zurück, was ungewiss ist, sondern noch dazu auf etwas, über das wir noch nicht einmal nachgedacht haben, weshalb wir es niemals einer bewussten Überprüfung unterwarfen. Husserl hält allerdings dagegen, das dies gerade die unhinterfragte Natur der Lebenswelt sei, die sie zum Boden der Letztbegründung mache. ‚Annahme‘ und ‚Überzeugung‘ seien keine Einstellungen, zu denen wir uns im Wege irgendeines Urteilsaktes entscheiden. Was wir hinnehmen, und damit das Phänomen der Hinnahme selbst, sei integrales Merkmal unserer Lebenswelt, und es gebe keine Möglichkeit, voraussetzungslos zu beginnen, und „es ist unmöglich, hier auszuweichen, durch einen von Kant oder Hegel, Aristoteles oder Thomas [von Aquin] sich nährenden Betrieb mit Aporien und Argumentationen.“ (Bd. VI: S. 134). Allein die Lebenswelt kann das letzte Berufungsgericht sein: „Dadurch allein ist jenes letzte Weltverständnis zu schaffen, hinter das, als letztes, es sinnvoll nichts mehr zu erfragen und zu verstehen gibt.“ (Bd. XVII: S. 249) (siehe Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der). 14. Einfluss Husserls Phänomenologie hatte größeren Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhundert, vor allem im kontinentalen Europa, aber seit den 1970er Jahren auch in den USA, England und vielen anderen Ländern. Husserls unmittelbarer Nachfolger in Freiburg, Martin Heidegger, konzipierte sein Werk ‚Sein und Zeit‘ (1927) als eine phänomenologische Untersuchung und widmete sie Husserl. Auch Jean-Paul Sartre erhielt starke Impulse von Husserl, speziell von Husserls Idee, dass unsere materielle Umgebung nicht allein unsere Noemata determiniert. Sartre entwickelte diese Vorstellung zu einer Philosophie der Freiheit, insbesondere in seinem Werk ‚Das Sein und das Nichts‘ (1943), das den Untertitel ‚Ein phänomenologischer Essay über die Ontologie‘ trägt. Auch Emmanuel Levinas, Paul Ricoeur und zahlreiche andere französische Philosophen sowie der deutsche Philosoph Hermann Schmitz in seiner ‚Neuen Phänomenologie‘ sind stark von Husserl beeinflusst. Eine neue Generation deutscher Philosophen kombiniert nun Husserls Lehre mit Arbeiten zu systematischen Fragen in der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes. Husserls Konzeption der Lebenswelt ist auch für die so genannte ‚Neue Hermeneutik‘ (Heidegger und Gadamer; siehe Hermeneutik) und für die Methodik der Geistes- und Sozialwissenschaften wichtig (A. Schütz oder Thomas Luckmann in seinem Buch ‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ [1966]), vor allem deshalb, weil diese Konzeption einen Rahmen zur Diskussion der subjektiven Perspektive und der vielen Merkmale unserer Art und Weise, die Welt zu strukturieren, liefert, derer wir uns nicht bewusst sind, und die oft die Kultur reflektiert, in der wir aufgewachsen sind. Fragen im Zusammenhang mit der Intersubjektivität und Husserls Erforschung der vielen gegenseitigen Anpassungsarten, und wie wir dazu kommen, die Welt als eine gemeinsame Welt zu betrachten, wurden von zahlreichen 766
Hutcheson, Francis (1694–1746)
seiner Studenten verfolgt, insbesondere Edith Stein in ihrer Dissertation ‚Über das Problem der Empathie‘ (1917). Seine Ideen zur Rolle des Körpers, zur Kinästhetik und zur praktischen Tätigkeit kehren in verschiedenen Fassungen in Heideggers Existenzialismus und in Merleau-Pontys Phänomenologie wieder. Besonders Merleau-Ponty ist sehr großzügig in seiner zustimmenden Bezugnahme auf Husserl. Die vielen Studenten und Nachfolger Husserls erforschten eine Reihe anderer Themen bei Husserl und wendeten seine Ideen auf viele andere Gebiete an. So verwendete Roman Ingarden sie in der Ästhetik und Aron Gurwitsch und viele andere bei der Untersuchung der Wahrnehmung. Husserls Sichtweisen führten zu einer neuen Entwicklung in der der Psychologie und der Psychotherapie. Sie beeinflussten Philosophen der Mathematik (einschließlich Gödel), und sie zeigen Wirkung in der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften. Siehe auch: Phänomenologische Bewegung Anmerkungen und weitere Lektüre: Bernet, Rudolf; Kern, Iso; Marbach, Eduard (1993): ‚An Introduction to Husserlian Phänomenology‘ (Studies in Phenomenology and Existential Philsophy). Evanston, Illinois: Northwestern University Press. (Eine sehr gute Einführung in die Phänomenologie durch drei herausragende Husserl-Gelehrte.) Smith, Barry; Woodruff Smith, David (Hrg.) (1995): ‚The Cambridge Companion to Husserl‘.. Cambridge: Cambridge University Press. (Aufsätze zahlreicher prominenter Husserl-Gelehrter zu verschiedenen Themen des Husserlschen Denkens, einschließlich einer nützlichen Bibliographie.) Sokolowski, R. (2000): ‚Introduction to Phenomenology‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine klare, lebendige und zuverlässige Einführung in die Phänomenologie durch einen der gegenwärtigen Hauptdarsteller auf diesem Gebiet.) DAGFINN FØLLESDAL
Hutcheson, Francis (1694–1746)
Francis Hutcheson ist vor allem für seine Beiträge zur Moraltheorie bekannt. Er arbeitete aber auch auf dem Gebiet der Ästhetik. Obwohl seine Philosophie viel dem empiristischen Ansatz von John Locke betreffend die Vorstellungen und der Erkenntnis verdankt, war Hutcheson ein scharfer Kritiker der Lockeschen Darstellung zweier wichtiger normativer Vorstellungen, nämlicher jener der Schönheit und jener der Tugend. Er verwarf Lockes Anspruch, dass diese Vorstellungen reine Konstrukte des Geistes seien, die nichts Objektives weder abbilden noch darauf Bezug nehmen. Er beklagte auch, dass Lockes Darstellung der menschlichen Lust und des Schmerzes zu eng gefasst wären. Es gebe noch andere Formen der Lust und des Schmerzes als nur diejenigen, die in Verbindung mit den gewöhnlichen Empfindungen entstehen. Es gibt tatsächlich mehr als fünf Sinne. Zwei zusätzlich Sinne, der Schönheits- und der Moralsinn, geben Anlass zu unterschiedlichen Lust- und Schmerzempfindungen, die uns in die Lage versetzen, ästhetische und moralische Unterscheidungen und Werturteile zu treffen. Hutchesons Theorie des sittlichen Empfindens betont zwei grundlegende Merkmale des menschlichen Wesens. Zunächst und im Unterschied zu Thomas Hobbes und anderen ‚Egoisten‘ vertritt Hutcheson die Meinung, dass das Wesen des Menschen eine Neigung zur Nächstenliebe mit einschließt. Dieses Merkmal versetzt uns 767
Hypatia (ca. 370–415)
manchmal in die Lage, wirklich tugendhaft zu sein. Es ermöglicht uns, aus wohltätigen Motiven zu handeln, wobei Hutcheson die Tugend mit genau diesen Motiven identifiziert. Zweitens sagt man von den Menschen, dass sie ein Wahrnehmungsvermögen haben, d.h. ein sittliches Empfinden, dass es uns ermöglicht, moralische Unterschiede zu bemerken. Wenn wir mit moralischen Fällen wohltätig motivierten Verhaltens (d.h. mit Tugend) konfrontiert sind, antworten wir darauf normalerweise mit einem Gefühl der Zustimmung, einem Spezialfall der Lust. Werden wir dagegen mit einem bösartig motivierten Verhalten (d.h. einem Übel) konfrontiert, so reagieren wir normalerweise mit einem Gefühl der Missbilligung, einer besonderen Art von Leiden. Kurz gesagt dienen uns bestimmte unterscheidende Merkmal normaler Beobachter zur Unterscheidung zwischen Tugend und Laster. Hutcheson bemühte sich jedoch, Tugend und Laster nicht mit diesen Gefühlen zu identifizieren. Gefühle sind Wahrnehmungen (Elemente im Geist des Betrachters), die als Zeichen der Tugend und des Lasters wirken (Qualitäten von Akteuren). Die Tugend ist Nächstenliebe, und das Laster Bösartigkeit (oder manchmal auch Indifferenz). Unsere moralischen Gefühle dienen uns als Zeichen dieser Merkmale. Hutchesons rationalistische Kritiker warfen ihm vor, er würde die Moral auf jene Merkmale relativieren, die die Menschen gerade im Augenblick aufweisen. Angenommen, sagten sie, unser Wesen wäre anders beschaffen. Angenommen wir würden Zustimmung empfinden, wo wir im Moment Missbilligung spüren. Jenes Ereignis, dass wir jetzt ‚Laster‘ nennen, würde dann ‚Tugend‘ heißen, und was wir ‚Tugend‘ nennen, würde ‚Laster‘ heißen. Diese Moraltheorie muss folglich falsch sein, weil Tugend und Laster unveränderlich sind. Darauf reagierte Hutcheson, dass unsere Neigungen und Vermögen, weil unser Schöpfer sich nicht verändere und an sich selbst gut sei, als andauernde und sogar notwendige zu verstehen seien. Infolgedessen, und obwohl es in gewissem Sinne vom Wesen des Menschen abhinge, sei die Moral unveränderlich, weil sie andauernd durch das Wesen der Gottheit determiniert sei. Hutchesons Ansichten wurden während der mittleren Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts weithin diskutiert. Er kannte und beriet David Hume, und als Professor der Moralphilosophie in Glasgow unterrichtete er auch Adam Smith. Immanuel Kant und Jeremy Bentham, neben anderen Philosophen, gingen auch auf sein Werk ein, während im kolonialen Amerika in seiner politischen Theorie die Gründe entdeckt wurden, die man verwendete, um gegen Britannien zu rebellieren. Siehe auch: Aufklärung, Schottische; Egoismus und Altruismus; Hume, D.; Schönheit; Sittlichkeit, Theorien der; Sklaverei; Tugenden und Laster DAVID FATE NORTON
Hypatia (ca. 370–415)
Die griechische Philosophin Hypatia war eine Neoplatonistin. Sie war berühmt für ihre öffentlichen Reden über Philosophie und Astronomie, sowie ihre sehr direkte Einstellung zur Sexualität. Obwohl sie sich um höhere Erkenntnis bemühte, war sie doch auch ein zoon politicon und hatte ein feines Gespür für die praktischen Dinge. Sie wurde vom christlichen Mob getötet und ist seitdem eine Märtyrerin der Philosophie. LUCAS SIORVANES
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Hyppolite, Jean Siehe: Hegelismus
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I I
Siehe: Konfuzius
Ibn Maimon, Musa
Siehe: Maimonides, Moses
Ibn Rushd, Abu’l Walid Muhammad (1126–1198)
Ibn Rushd (Averroes) wird von vielen Seiten als der wichtigste islamische Philosoph betrachtet. Als ein Kind des spanisch-islamischen 12. Jahrhunderts entwarf er eine Grundlage zur Integration der aristotelischen Philosophie mit dem islamischen Denken. Ein alle seine Schriften durchziehender Gedanke ist, dass es keine Unvereinbarkeit zwischen der Religion und der Philosophie gibt, wenn man beide richtig versteht. Seine Beiträge zur Philosophie hatten unterschiedliche Formen und reichten von detaillierten Kommentaren aristotelischer Texte, seiner Verteidigung der Philosophie gegen die Angriffe jener, die sie als unislamisch verdammten, bis hin zu seiner Konstruktion einer Form von Aristotelismus, der so weit als möglich zu dieser Zeit von neuplatonischen Einflüssen befreit war. Sein Denken ist unverfälscht schöpferisch und hoch brisant; er produziert machtvolle Argumente, die noch seine philosophischen Nachfolger in der jüdischen und christlichen Welt beschäftigen sollten. Offenbar meinte er, dass es zwei Formen von Wahrheit gibt, nämlich eine religiöse und eine philosophische, und dass es nichts ausmacht, dass beide in unterschiedliche Richtungen weisen. Er scheint außerdem Zweifel an der personalen Unsterblichkeit oder auch an Gottes Fähigkeit der Vorhersehung, dass bestimmte Ereignisse stattfinden werden, gehabt zu haben. Vieles in seinen Arbeiten weist auch darauf hin, dass er hinsichtlich des Erkenntnisgewinns die Religion der Philosophie als unterlegen ansah, und dass das Verständnis der Religion, so wie es gewöhnliche Gläubige zeigen, sehr verarmt ist und sich von demjenigen unterscheidet, das dem Philosophen zugänglich ist. In seiner Diskussion der politischen Philosophie setzt er sich für eine Führungsrolle der Philosophen ein und setzt in der Regel die Eignung der Theologen zu politischen Ämtern herab. Ibn Rushds Philosophie gründet auf einer komplexen und ursprünglichen Sprachphilosophie, durch die er seine Kritik an den eingeführten Argumentationsformen der islamischen Philosophie zu seiner Zeit ausdrückt. Siehe auch: Al-Ghazali; Ibn Sina OLIVER LEAMAN
Ibn Sina, Abu ‘Ali Al-Husayn (Avicenna) (980–1037)
Ibn Sina (Avicenna) ist einer der herausragendsten Philosophen in der mittelalterlichen hellenistischen islamlischen Tradition, zu der auch Al-Farabi und Ibn Rushd gehören. Seine philosophische Theorie ist eine umfassende, detaillierte und rationalistische Darstellung der Natur Gottes und des Seins, in der er einen systematischen Platz für die körperliche Welt, den Geist, die Erkenntnis und eine Vielzahl logischer bzw. sprachlicher Denkformen einschließlich der Dialektik, der Rhetorik und der Dichtung findet. Im Zentrum von Ibn Sinas Philosophie steht der Begriff der Wirklichkeit und des Denkens bzw. der Vernunft. Die Vernunft ermöglicht in seinem Schema einen 770
Ideale
Fortschritt durch verschiedene Stufen des Verständnisses, das schließlich zu Gott führen kann, der die letzte Wahrheit ist. Er betonte die Wichtigkeit des Erkenntnisgewinns und entwickelte eine Erkenntnistheorie, die auf vier Vermögen beruht: der Sinneswahrnehmung, dem Gedächtnis, der Vorstellung und der Bewertung. Die Vorstellung spielt die Hauptrolle in der intellektuellen Einsicht, weil sie Bilder konstruieren und vergleichen kann, die den Zugang zu den Universalien eröffnen. Und auch hier ist der letzte Erkenntnisgegenstand Gott als der reine Intellekt. In der Metaphysik trifft Ibn Sina eine Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz; die Essenz ist nur das Wesen der Dinge und sollte unabhängig von ihren geistigen und physischen Realisierungen gedacht werden. Diese Unterscheidung ist auf alles bis auf Gott anwendbar, den Ibn Sina als die erste Ursache ausmacht, weshalb Gott auch gleichzeitig Essenz und Existenz ist. Ferner meinte Ibn Sina, dass die Seele unkörperlich sei und deshalb nicht zerstört werden könne. Die Seele ist aus dieser Sicht ein Akteur, der in dieser Welt Wahlfreiheit zwischen dem Guten und dem Schlechten besitzt, was wiederum zu Belohnung oder Strafe führt. Immer wieder wurde auf Ibn Sinas angeblichen Mystizismus hingewiesen. Dies scheint aber auf einer irrtümlichen Lesart eines Teils seiner Werke durch abendländische Philosophen zu beruhen. Als einer der wichtigsten philosophischen Gelehrten seiner Zeit übte Ibn Sina einen starken Einfluss sowohl in der islamischen Philosophie, als auch im mittelalterlichen Europa aus. Sein Werk war eines der Hauptangriffsziele von Al-Ghazali in seiner Kritik an den hellenistischen Einflüssen auf den Islam. In ihrer lateinischen Übersetzung beeinflusste sein Werk viele christliche Philosophen, unter denen der beachtetste Thomas von Aquin war. SALIM KEMAL
Ideale
Ideale sind Modelle der Vorzüglichkeit. Sie können moralischer oder nichtmoralischer Art, und entweder ‚substanziell‘ oder ‚abwägend‘ sein. Substanzielle Ideale bringen Modelle der Vorzüglichkeit hervor, an denen Dinge einer relevanten Klasse gemessen werden können, wie z.B. einer gerechten Gesellschaft oder einer guten Person. Abwägende Ideale bringen Modelle herausragender Bedachtsamkeit hervor, die zu richtigen oder gesicherten ethischen Schlussfolgerungen führen. Ideale weisen in der Ethik in zwei entgegengesetzte Richtungen. Im Kern dienen Ideale der Rechtfertigung ethischer Urteile und zur Führung der Menschen in ihrem Leben. Manchmal können Ideale aber auch in Konflikt mit moralischen Anforderungen geraten und führen damit an die Grenze der Moralität. Es scheint unvermeidlich zu sein, dass man sich bei der Entwicklung ethischer Theorien auf Ideale stützt; dennoch wirft dies schwierige Fragen auf. Wie kann die Wahl eines bestimmten Ideals gerechtfertigt werden? Wie können Konflikte zwischen Idealen und anderen Werten, besonders den moralischen Forderungen, gelöst werden? Siehe auch: Solidarität; Tugendethik CONNIE S. ROSATI
Idealisierungen
Wissenschaftliche Analysen einzelner Phänomene sind ausnahmslos vereinfacht oder idealisiert. Das Universum enthält nicht nur zwei Körper, wie Newton in seinen Ableitungen von den Keplerschen Gesetzen annahm, oder gar nur einen 771
Idealismus
Körper, wie Schwarzschild in seiner relativistischen Neufassung meinte. Wirkliche wirtschaftliche Akteure handeln nicht ausschließlich zwecks Maximierung des erwarteten Nutzens, die Oberflächen von gewöhnlichen Plattenkondensatoren sind keine unendlich ausgedehnten Ebenen, und der Sinus eines Winkels ist seinem Maß nach nicht gleich dem Winkel selbst. Es gibt viele Gründe für solche Fehlbeschreibungen. Zunächst und vor allem steht dahinter das Bedürfnis nach mathematischer Lenkbarkeit. Die Wissenschaft läuft ins Nichts, solange nicht Zahlen oder numerische Beschränkungen hervorgebracht werden, die als Grundlage für Voraussagen und Erklärungen taugen. Idealisierungen können auch wegen der Unverfügbarkeit bestimmter Daten erforderlich sein, oder wegen der Abwesenheit ansonsten notwendiger Hilfstheorien. Das philosophische Problem besteht hier darin, dieser üblichen, aber komplexen wissenschaftlichen Praxis einen normativen Sinn abzugewinnen. Wie können beispielsweise Theorien gestestet werden, wenn man davon ausgeht, dass sie mit der Welt nur vermittels einer idealisierten Beschreibung verbunden sind? In welchem Sinne kann es wissenschaftliche Erklärungen geben, wenn das, was erklärt werden soll, fehlbeschrieben werden muss, damit die Theorie zum Tragen kommt? Die Tatsache, dass Idealisierungen oft verbessert werden können, was einen entsprechend heilsamen Effekt auf die Genauigkeit der Voraussage oder den Nutzen der Erklärung hat, kann man so verstehen, dass die Idealisierungen als Teil einer Art von Konvergenzprozess sind. Siehe auch: Experiment; Modelle; Theorie, wissenschaftliche RONALD LAYMON
Idealismus Einführung Der Idealismus wird heute in der Philosophie üblicherweise als die Auffassung verstanden, dass der Geist die grundlegendste Wirklichkeit ist, und dass die physische Welt nur als eine Erscheinung für oder als Ausdruck des Geistes existiert, oder in ihrem innersten Wesen eventuell auch als etwas Geistiges. Allerdings wird eine Philosophie, die die physische Welt als vom Geist abhängig erklärt, normalerweise ebenfalls idealistische genannt, selbst wenn sie irgendeine weitere, verborgene und noch grundlegendere Wirklichkeit hinter den geistigen und physischen Erscheinungsformen behauptet (wie beispielsweise Kants ‚Ding an sich‘). Ferner gibt es eine gewissen Tendenz, den Ausdruck ‚Idealismus‘ auf Systeme zu beschränkten, für die der Geist als das Grundlegende ein gewissermaßen erhabenes oder auch vornehmes Wesen hat, so dass die ‚spirituellen Werte‘ die letzten gestaltgebenden Faktoren der Wirklichkeit sind. (Eine ältere und weitergehende Verwendung lässt als idealistisch eine jegliche Sichtweise zu, für die die physische Welt etwas irgendwie Unwirkliches ist, verglichen mit der grundlegenderen, wenn auch nicht notwendig mentalen Wirklichkeit, und die als Quelle aller Werte betrachtet wird, wie z.B. die platonischen Formen oder Ideen.) Die Gründungsväter des Idealismus im abendländischen Denken sind Berkeley (theistischer Idealismus), Kant (transzendentaler Idealismus) und Hegel (absoluter Idealismus). Obwohl der genaue Sinn, in dem Hegel ein Idealist war, problematisch ist, war doch sein Einfluss auf den nachfolgenden absoluten oder monistischen Idealismus enorm. In den USA und in Großbritannien waren der Idealismus, und 772
Idealismus
insbesondere seine absolute Variante, die herrschende Philosophie des späten 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts, die ihren kraftvollsten Ausdruck durch F.H. Bradley erhielt. Er flaute unter dem Einfluss von G.E. Moore und Betrand Russell und später den Logischen Postitivisten jedoch ab, ohne aber gänzlich abzusterben. Und es sind nicht wenige Philosophen, die meinen, dass er eine Zukunft habe. 1. Die allgemeinen Gründe für den Idealismus 2. Berkeleys ontologischer Idealismus 3. Kants transzendentaler Idealismus 4. Der deutsche Absolute Idealismus 5. Der Anglo-amerikanische Idealismus 6. Der Panpsychismus 7. Der personale Idealismus 1. Die allgemeinen Gründe für den Idealismus In der hier verwendeten Form des Ausdrucks ist ein Philosoph ausschließlich dann ein Idealist, wenn er glaubt, dass die physische Welt entweder (1) nur als ein Gegenstand des Geistes existiert, oder (2) nur als Inhalt des Geistes, oder (3) nur als etwas selber und auf seine eigene, wahre Art Geistiges. Diese Disjunktion fassen wir zu der idealistischen These zusammen, dass die physische Welt eine Ableitung des Geistes ist. Spezielle Idealisten können noch weiter gehen und sagen, dass überhaupt alles eine Ableitung des Geistes ist, bis auf den Geist selbst. Dies würde jedoch beispielsweise nicht von Kant bestätigt werden, der an Dinge-an-sich glaubte, die weder geistiger Art noch vom Geist abgeleitet seien; und vielleicht auch nicht von Schopenhauer, für den Kants Dinge-an-sich zu einem unbewussten kosmischen Willen werden. Außerdem gibt es keine einheitliche Sicht des Status der so genannten abstrakten Gegenstände oder Universalien, auf die ein Idealist offenbar nicht verzichten kann (siehe Abstrakte Gegenstände). Die Idee der Geistabhängigkeit des Physischen wurde auf weit auseinander liegenden Wegen verteidigt und entwickelt. Beispielsweise kann der Idealist ein Monist oder ein Pluralist betreffend den Geist oder die Geister sein, von dem bzw. denen das Physische abzuleiten ist. Sehr bedeutsam ist auch der Gegensatz zwischen Idealismen, die stärker ontologisch ausgerichtet sind, und solchen, die einen mehr erkenntnistheoretischen Ansatz darstellen. Die beiden herausragenden Beispiele jeder Variante sind einerseits George Berkeley und Immanuel Kant, den Gründern des abendländischen Idealismus und Quellen der meisten nachfolgenden Argumente zugunsten des Idealismus. Der ontologische Idealismus behauptet, dass eine bestimmte Sichtweise der Wirklichkeit, in der das Physische vom Geist abhängt, absolut wahr sei, und betrachtet solche Elemente des common sense oder der Wissenschaften, die mit dieser Überzeugung in Konflikt geraten, entweder als falsch oder nur als offenkundig unvereinbar. Der erkenntnistheoretische Idealismus bemüht sich stattdessen zu zeigen, dass die annehmbarsten Sichtweisen der physischen Welt – was zweifellos auch die Behauptung umfasst, dass die physische Welt nicht geistabhängig ist – tatsächlich nur für jeden einzelnen von uns wahr seien, aber diese Art von Wahrheit die einzige sei, die man sinnvollerweise aufsuchen könne. (Ein qualifizierterer erkenntnistheoretischer Idealismus könnte auch zulassen, dass absolute formulierte Wahrheiten
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Idealismus
eventuell Inkonsistenzen aufweisen; diese mögen zwar wichtig sein, gehören aber kaum zum System dessen, was wir Wissen oder Erkenntnis nennen.) Daher ist für einen Idealismus der zweiten Art die zentrale Wahrheitsbehauptung nicht die Geistabhängigkeit des Physischen, sondern Letzteres ist vielmehr die Behauptung über eine eigene Art von Wahrheit, die wiederum als wahr behauptet wird. 2. Berkeleys ontologischer Idealismus Nach Berkeley gibt es nur zwei Typen von Existenz: das Spirituelle oder die Geister und die Vorstellungen. Physische Gegenstände im gewöhnlichen Sinne unserer Vorstellung sind Zusammenstellungen von Sinnesvorstellungen oder Sinneseindrücken (engl.: sense impressions). Daher ist ein Apfel schlicht eine Sammlung solcher Sinneserscheinungen, derer wir uns unmittelbar bewusst werden, wenn wir sagen, dass wir sie wahrnehmen (einschließlich der Empfindung, wenn wir sie essen). Und die Dinge oder jene Aspekte der Dinge, die nicht von irgendeinem endlichen Geist wahrgenommen werden, sind entweder in einem sekundären Sinne dergestalt vorhanden, dass sie in unserem Geist erscheinen, wenn wir dazu geeignete Dinge unternehmen (wenn wir uns z.B. geeignete Eindrücke der Bewegung in eine bestimmte Richtung verschaffen) um sie zu sehen, zu riechen oder was auch immer; oder sie werden durch einen unendlichen Geist wahrgenommen. Die zweite Alternative bringt sofort Gott ins Spiel, wobei diese nur dann Sinn macht, wenn man sagt, dass die Dinge Ideen sind, die Gott in uns als Ergebnis entsprechender eigener Aktivitäten hervorbringt. Jeder dieser beiden Wege, also die idealistische Wahrheit, dass physische Gegenstände Ansammlungen von Vorstellungen sind, zusammen mit der offenkundigen Tatsache, dass alles sich so verhält, als würde sich dessen Existenz auch dann noch fortsetzen, wenn es von endlichen Geistern nicht beobachtet wird, erscheint Berkeley als ein unbestreitbarer Beweis für die Existenz Gottes. Zwei der Hauptgründe, weshalb Berkeley meinte, dass die physische Welt aus Vorstellungen bestehen müsse, waren: (1) Nur wenn man physische Gegenstände als Ansammlungen von Vorstellungen denke, die in der Erfahrung zusammenhängen, hätten wir eine empirische Evidenz ihrer Existenz. (2) Es sei allgemein anerkannt, dass die sog. sekundären Qualitäten physischer Gegenstände nur als Vorstellungen in unserem Geist existieren (siehe Primär-Sekundär-Unterscheidung). Dies könne durch die Art und Weise, wie die Sekundärqualitäten mit dem Zustand des jeweiligen Beobachters variieren, und dadurch, dass sie untrennbar mit den Empfindungen von Lust und Leid verbunden sind, bewiesen werden. Die Überlegungen aber, die zeigen, dass Sekundärqualitäten geistabhängig sind, würden gleichermaßen zeigen, dass die Primärqualitäten dies ebenfalls seien. (Vorgelegte Formen variieren mit den Beobachtungsbedingungen genauso wie z.B. die Farbe.) Ferner könne niemand die Primärqualitäten so denken, als existierten sie in Abwesenheit von Sekundärqualitäten, so dass sie nur zusammen mit den zugegebenermaßen geistabhängigen Sekundärqualitäten existieren können. Üblicherweise heißt es, Berkeleys vorstehender Gedankengang sei nur schlüssig, wenn man vorweg Lehrmeinungen akzeptiere, die er unkritisch von Locke übernommen hatte (wie er ihn verstanden hatte), dass nämlich alles, was wir jemals wahrnehmen, Vorstellungen seien, und dass die Sekundärqualitäten geistabhängig
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seien. Es müsse daher betont werden, dass Argumente der im Kern Berkeley’schen Art auch so formuliert werden können, dass sie nicht von Lockes Erbe abhängen. Der Kern dieser Argumente ist folgender: physische Gegenstände, wie sie sich unseren Sinnen präsentieren, tun dies mittels Qualitäten, die wir nicht anders denken als solche, die nur für einen wahrnehmenden Geist existieren. Tatsächlich können wir uns nicht einmal physische Gegenstände denken, die gar keine solche Qualitäten aufweisen. Diese Qualitäten, mit denen sich die Dinge den Sinnen zeigen, schließen auch das ein, was wir ihre ‚perspektivischen Qualitäten‘ nennen können (d.h. der Gegenstand ist uns mit Merkmalen gegeben, die die Position anzeigen, von der aus er gesehen bzw. von uns gespürt wird), oder auch ihre ‚hedonischen‘ oder ‚ästhetischen‘ Qualitäten, und ferner eine Art Organisation des Wahrnehmungsfeldes in Vorder- und Hintergrund, sowie in gewisse, darin enthaltene Gestalten. Wie sehr man sich auch bemühen mag, sich ein Ding an sich selbst unabhängig von jedem Beobachter vorzustellen, wird man es sich doch immer mit Merkmalen vorstellen, die die ungefähre Lage des Beobachters davon mit enthalten, wie er es empfindet, und wie er sein Wahrnehmungsfeld organisiert. Kurz gesagt, man kann sich einen Gegenstand nur mit Merkmalen vorstellen, die er in seiner Darstellung gegenüber einem Beobachter hat. Ein solcher Gedanke überzeugt nun jene, die an eine Berkeley’sche Fassung des Geistes glauben, dass man keinerlei Konzeption einer existierenden physischen Welt aufstellen kann, die deren Gegenstände nicht als solche eines Beobachters darstellt. Dies lädt allerdings zu zwei Einwänden ein. Erstens könnte man verlangen, dass es notwendig sei, zwischen der Repräsentation (wie z.B. einem Bild in einem Geist) und dem, wofür die Repräsentation steht, zu unterscheiden. Nur bestimmte Merkmale des Bildes dienen einer Abbildungsfunktion. Die Tatsache, dass das Abbild einige Merkmale aufweist, die ein wirklicher Sinneseindruck davon nur enthalten kann, wenn die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden, heißt nicht unbedingt, dass diese Merkmale als etwas betrachtet werden müssen, was zu dem gehört, was abgebildet wird. Hierauf könnte der Idealist wiederum antworten, dass er nicht leugne, dass man, wenn man bestimmte Merkmale des Abbildes bestreite, auch nur die anderen Merkmale als solche betrachten könne, die eine Rolle bei der Abbildung des Gegenstandes spielen, und dass unter diesen nicht notwendig jene sein müssen, die offensichtlich die Gegenwart eines wahrnehmenden Subjektes erfordern. Was der Idealist dagegen bestreitet, ist die Möglichkeit, dass man irgendeine Form von Repräsentation bilden könne, die sozusagen positiv den Gegenstand als existierend ohne die subjekt-implizierenden Merkmale wiedergibt, und solange man dies nicht könne, habe man auch keine wirkliche Vorstellung davon, was ein nicht wahrgenommener Gegenstand sei. Der zweite Einwand ist, dass man sich etwas ausdenken kann, was man sich nicht vorstellen kann. Natürlich kann man sich einen physischen Gegenstand ohne seine subjekt-implizierenden Merkmale denken, selbst wenn man ihn sich nicht vorstellen kann. Hierauf kann der Idealist erwidern, dass wir nicht wirklich verstehen, was wir denken, wenn wir etwas nur in Worten denken (und zweifellos ist es gerade dies, was der Widersprechende meint, wenn er sagt, er denke sich etwas). Will man sich den Charakter einer Situation wirklich vorstellen, von deren Existenz man überzeugt ist, so erfordert dies, im weiten Sinne gesprochen, dass man sie sich vor
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Augen führen muss, und dies kann man nur, wenn man sie sich so vorstellt, wie sie sich einem bestimmten Beobachter darstellen würde. Eine solche Gedankenfolge, auch wenn sie nicht bis ins Detail jene von Berkeley ist, atmet doch Berkeleys Geist und ist durch ihn inspiriert, und sie ist damit das Hauptstück eines ontologischen Idealismus, der behauptet, dass die unbeobachtete physische Wirklichkeit eine Unmöglichkeit ist. Welche positive Weltsicht kann auf einer solchen Überlegung aufbauen? Für Berkeley ergab sich daraus, dass es einen Gott geben muss, der für diese Vorstellungen verantwortlich ist, die wir (wenn wir uns auf eine bestimmte Art und Weise verhalten) nicht anders als erfahren können, und der das ganze Vorstellungssystem für jeden menschlichen Geist im Einklang mit dem universalen System der Gesetze verfügbar hält, die ihrerseits diese verfügbaren Erscheinungen bei jedem Einzelnen determinieren. Es gab jedoch Philosophen, die einen Phänomenalismus vorbrachten, der auch ohne die Existenz Gottes auskommt. Ihnen zufolge kann man sinnvoll von physischen Gegenständen als existierend sprechen, die nicht wahrgenommen werden. Diese Gegenstände existieren jedoch nur in einem sekundären Sinn im Vergleich mit jenen, die wirklich wahrgenommen werden, und ihre Existenz in diesem sekundären Sinne ist nichts als die Tatsache, dass sie der Wahrnehmung zur Verfügung stehen. Das heißt, dass sie definitiv Tatsachen für jeden von uns sind (nach denen wir normalerweise unsere Lage im Raum bestimmen), die festlegen, welche Wahrnehmungen als Antwort darauf, war wir tun oder erleiden, für uns zugänglich oder gar zwingend sind (d.h. welche Bewegungsempfindungen wir selbst erzeugen oder uns gegeben sind). Es besteht keine Notwendigkeit zu der Annahme, dass es hierfür irgendeine Erklärung gibt; dies muss als rohe Tatsache akzeptiert werden. Dieser Phänomenalismus wird nicht oft als Idealismus bezeichnet, weil seine reduktive Darstellung des Physischen ihn nicht nur vom Theismus, sondern auch von jeder anderen Konzeption der Welt scheidet, die durch die Vernunft oder andere höhere Formen des Geistes geformt sind. Es ist ein Rätsel der Ideengeschichte, dass einige derjenigen, die am meisten von Berkeleys Ansichten über die physische Wirklichkeit beeinflusst waren, zu den atheistischsten und im populären Sinne ‚materialistischsten‘ Denkern gehörten, z.B. T.H. Huxley, A.J. Ayer und mit Einschränkungen auch J.S. Mill). 3. Kants transzendentaler Idealismus Eine einfache Fassung der Philosophie Kants könnte ihn als einen Phänomenalisten zeichnen, der seinen Phänomenalismus dadurch ergänzte, dass er zugab, es müsse eine Erklärung dafür geben, warum die uns zugängliche Sinneserfahrung das ist, was sie tatsächlich ist, der aber diese Erklärung für uns als unzugänglich ansah, außer in der Form der These, dass sie aus unbewussten Vorgängen stammen, die wir (und zwar als jene, die wir wirklich sind, und nicht als jene, die wir uns selbst scheinen) hinsichtlich der Dinge-an-sich durchführen, und über deren wirklichen Charakter wir nichts wissen können, außer dass sie nicht das sein können, was man ‚physisch‘ nennt. Kants Argumente für den transzendentalen Idealismus unterscheiden sich jedoch weitgehend von jenen, die von Berkeley abgeleitet oder inspiriert sind (siehe Kant, I., § 5). Für Kant gibt es zwei auffallende Tatsachen betreffend unser Wissen über die Welt, die nur sein transzendentaler Idealismus erklären kann (‚transzendental‘ be776
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deutet bei ihm: ‚etwas hat mit unseren kognitiven Vermögen zu tun‘). Erstens haben wir eine Menge ‚apriorisch synthetischen‘ Wissens über diese Tatsachen (siehe A priori; Analytizität). Daher können wir wissen, dass die Arithmetik und die euklidischen Axiome für die physische Welt als Ganzes gelten, dass jeder physischer oder geistiger Prozess sich im Einklang mit universalen Kausalgesetzen abspielt, und dass Veränderungen eines beharrlichen materialen Substrats bedürfen, das quantitativ dasselbe bleibt. Zweitens kann weder apriorisches noch empirisches Wissen die großen Fragen der menschlichen Bestimmung beantworten, beispielsweise ob Gott existiert, und ob wir unsterblich sind. Die einzig mögliche Erklärung unseres apriorisch synthetischen Wissens über die physische und tatsächlich auch über die geistige Welt ist, dass es wirklich das Wissen über unsere eigene kognitive Natur ist. Raum und Zeit sind die Formen unserer apperzeptiven Intuition, und die Kategorien der Kausalität, der Substanz, der Akzidentien etc. sind die Kategorien, durch die wir die einheitliche Welt unserer wirklichen und möglichen Erfahrung aus den unbewussten Reizen konstruieren, die das verborgene Selbst von den Dingen-an-sich (oder ‚Noumena‘) erhält, und über deren weitere Beschaffenheit wir nichts weiter wissen können. Und weil wir nichts über die Dinge-an-sich wissen, können wir auch nicht die Antworten auf die Fragen über Gott und die Unsterblichkeit wissen, denn diese berühren die absolute Wahrheit und nicht nur die Wahrheit-für-uns, was doch alles ist, das unserem Wissen zur Verfügung steht. Auf der anderen Seiten können wir gerade deshalb, weil wir keine Antworten auf diese Fragen wissen können, daran glauben, dass sie zu unserem moralischen Wesen passen, und können folglich zeigen, dass wir trotz des kausalen Determinismus, der in der phänomenalen Welt herrscht, auf einer bestimmten ‚noumenalen‘ Ebene dafür verantwortlich sind, dass wir uns ihm bzw. dem kategorischen Imperativ aller Moral fügen. Einige Details der kantischen Theorie sind infolge des Umstandes aus der Mode gekommen, dass sich die Naturwissenschaft nicht mehr seinen angeblich synthetisch-apriorischen Wahrheiten verpflichtet fühlt, wie beispielsweise den euklidischen Axiomen und der Universalität der Verursachung. Dennoch besitzt die Vorstellung, dass die Welt, so wie wir sie kennen, ihre allgemeine Beschaffenheit in einem nicht berechenbaren Umfange unserer spezifischen Wahrnehmungs- und Denkweise verdankt, große Kraft. Bei Berkeley gab es noch nicht den Gedanken, dass das, was wir wissen, durch unser eigenes Wissen davon erzeugt ist. Die Vorstellungen, die die physische Welt konstituieren, sind bei ihm schlicht diejenigen, die Gott dazu erwählt hat, sie sich selbst und uns zu geben, und die er auf bestimmte Weise organisiert. Unser Wissen davon ist infolge direkter Bekanntschaft vollkommen exakt, und die Existenz und Beschaffenheit von anderen Vorstellungen als den wirklichen oder möglichen wird durch Induktion erschlossen. Bei Kant erzeugt das Wissen an sich selbst in weitem Umfange seine Gegenstände durch unbewusste Vorgänge an unbewussten Reizen, die uns von den Dingen-an-sich erreichen, und deren reales Wesen im Dunkeln verbleibt. Die Unterscheidung mag subtil erscheinen, denn sowohl der Berkeleysche, als auch der Kantische Idealismus betrachtet schlussendlich die Tatsachen über die physische Welt als Tatsachen über Wahrnehmungen, die wir durch bestimmt gerichtete Bewegungsempfindungen erhalten. Das Berkeleysche Erbe besteht jedoch weitgehend in einem Beharren auf der Art und Weise, wie die physische Welt nicht ohne sinnliche Qualitäten gedacht werden kann, die ihrerseits nur als Inhalte unserer Er777
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fahrung auftreten können, während das kantische Erbe vor allem in dem Beharren auf der Art und Weise besteht, wie unser Verstehen der physischen Welt diese durch Konzeptionen interpretiert, die sie überhaupt erst in die Erfahrung bringt, statt von ihr zu abstrahieren. Tatsächlich steht Kants Position jedoch derjenigen von Berkeley näher, als er selbst dies zugeben würde. Nach Kant ist sein Idealismus transzendental, wogegen Berkeleys Idealismus empirisch ist. Dies führt dazu, dass Berkeleys Idealismus behauptet, er vermittle die absolute Wahrheit über die physische Welt, im Unterschied und als Korrektiv zum Realismus, der sie als unabhängig vom Geist existierend ansieht, während Kant einen solchen Realismus akzeptierte, dagegen aber behauptete, dass er nur wahr für uns ist, und dass wir, was die absolute Wahrheit der Dinge, die dahinter liegen, nichts über den blanken Fakt hinaus wissen, dass es eine solche absolute Wahrheit geben muss (mit moralischer und theistischer Bedeutsamkeit, an die wir glauben können). 4. Der deutsche Absolute Idealismus Die großen Gestalten des deutschen Absoluten Idealismus waren J.G. Fichte, G.W.F. Hegel und F.W.J. von Schelling (siehe Absolute, das). (Die Art und Weise ihres beachtlichen politischen Einflusses kann hier nicht behandelt werden.) Tatsächlich stimmte jeder von ihnen Kant dahingehend zu, dass der gewöhnliche common sense und ‚wissenschaftliche‘ Wahrheiten (im üblichen Sinne des Wortes, d.h. nicht in ihrem Sinne, weil der Ausdruck ‚wissenschaftlich‘ dort auf ihre eigenen philosophischen Schlussfolgerungen verweist) über die physische Welt nur eine Wahrheit für jeden von uns ist. Sie gingen aber über Kant hinaus, indem sie behaupteten, dass die Philosophie diese Auffassung in den Kontext einer absoluten und rational demonstrierbaren Wahrheit über eine wesensmäßig geistige Welt stellen kann. Im Endeffekt öffnete Kants Anliegen, die Tür gegen alle Versuche zu verschließen, bei denen es um die Erkenntnis der letzten Wahrheit der Dinge geht, sie zu einigen der widerstandsfähigsten Behauptungen, die je hinsichtlich der Erforschung der Rätsel des Universums aufgestellt wurden. Für Kant existiert die physische Welt nur für uns, und unser Wissen von ihr ist nur Wahrheit für uns. Wir können jedoch erkennen, dass es in ihr zwei verborgene Determinanten geben muss, d.h. Formen des Erkennens, die in unseren eigenen, verborgenen Tiefen stattfinden, sowie die unbewussten, nicht-physikalischen Reize, die von den rätselhaften Dingen-an-sich ausgehen, aus denen durch sie die uns vertraute physische Welt erzeugt wird. Fichte hielt das Postulat von solchen Dingen-an-sich keineswegs für erforderlich. Wenn die erkennbare physische Welt etwas sei, dessen Form wir unbewusst konstruieren, warum sollte dann der materiale Stoff nicht ebenfalls etwas sein, das wir unbewusst determinieren? Damit vermeiden wir die nebulöse Hypothese der Dinge-an-sich und begnügen uns mit unserer unzweifelhaften Existenz und ihren verborgenen Tiefen, deren Gegenwart wir dunkel spüren. Natürlich gibt es eine externe Welt bzw. ein Nicht-Ich, aber diese existieren nur als etwas, das das Ich setzt, und die Gründe hierfür können im Allgemeinen entziffert werden. Denn das Ich will ein Leben mit moralischem Wert leben, und dies kann es nur, wenn es Widerstände zu überwinden hat. Daher besteht die externe Welt, die das Ich setzt, genau aus jenen Hindernissen, deren Überwindung auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand von höchstem moralischem Wert ist. 778
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Wie kann es aber sein, dass jedes Ich ein anderes Nicht-Ich mit anderen Ichs teilt, was doch offensichtlich der Fall ist? Fichte hat hierauf zwei aufeinander bezogene Antworten. Eine lautet, dass die moralische Entwicklung etwas ist, was sich nur in einer Gemeinschaft ereignen könne, so dass die verschiedenen Ichs ein gemeinsames Nicht-Ich setzen müssen, wodurch sie sich eine gemeinsame Umwelt schaffen, innerhalb der sie ihre moralische Bestimmung erarbeiten können. Zweitens wurde sich Fichte im Zuge seiner gedanklichen Entwicklung darüber klarer, dass das Ich, welches seine moralische Bestimmung in jedem von uns erarbeitet, tatsächlich ein einziger Weltgeist ist, der sich als offenkundige Mehrheit von Leben auslebt. Fichte entwickelte diese Darstellung im Wege einer dialektischen Methode, die zum Kennzeichen des deutschen Idealismus schlechthin wurde (und die von Kant inspiriert war, für den sie allerdings eher eine Quelle der Illusion als ein Weg zur Wahrheit war): offensichtlich einander entgegengesetzte Wahrheiten werden schrittweise miteinander zur höheren Synthese versöhnt, bis eine absolute Wahrheit erreicht ist. Dies war reiner absoluter Idealismus, in dem die Wirklichkeit sowohl hinter der Natur, als auch hinter dem endlichen Geist ein einziger, absoluter Geist oder ein Selbst im Prozess der Selbstentdeckung oder -entwicklung ist. Fichtes Fassung des absoluten Idealismus wird manchmal allerdings auch ‚subjektiver Idealismus‘ genannt, weil er die natürliche Welt nur für die subjektive Erfahrung endlicher Individuen als existierend betrachtete, d.h. die ihrerseits Ausdruck eines einziges Welt-Selbst sind. Schelling war ursprünglich ein Anhänger Fichtes, aber seine ständig wechselnden Fassungen des Idealismus neigten mehr zum ‚Objektiven‘, oder waren zumindest positiver mit der Natur um ihrer selbst Willen befasst. Das Absolute oder universale Selbst träumt bei ihm die physische Welt nicht nur als die Bühne moralischer Anstrengungen, sondern drückt sich in einer parallelen Dialektik aus, und zwar sowohl ‚wirklich‘ in der Natur, aus der der Geist hervorgeht, als auch ‚ideell‘ im Geiste, für den die Natur existiert. Die beiden vereinen sich schließlich im philosophischen Verständnis der Welt und noch konkreter in der Kunst. Der absolute Idealismus und die dialektische Methode und Ontologie erreichten ihre historisch wichtigste Form in der Philosophie von Hegel. Für Hegel besteht die Welt aus einer Reihe von Ausdrucksbedingungen, von denen jede einzelne ihren jeweiligen (manchmal nur vorübergehenden) Vorgänger übersteigt, indem sie in sich selbst aufnimmt, was an ihm ausreichend oder zufriedenstellend war, und zwar auf eine Weise, die auf einer höheren Synthese das miteinander versöhnt, was sich zuvor widersprach. Diese Reihen beginnen mit reinen Begriffen, die zu wirklichen natürlichen und schließlich menschlich-historischen Prozessen führen, und enden in einer Gemeinschaft im freien Dienste dessen, wodurch jedes Individuum sich selbst erfüllt finden kann, sowie in dem Bewusstsein – im Geiste von Philosophen – ihrer allumfassenden, totalen Natur. Daher existiert alles als Weg und Nahrung zu einem reichhaltigen, gemeinschaftlichen und geistvollem Leben. Inwiefern dies allerdings bedeutet, dass nichts existiert außer als Bestandteil innerhalb des oder als Gegenstand des Bewusstseins, ist strittig. Daher ist auch unklar, in welchem Umfange Hegel ein Idealist in unserem Sinne war (im Gegensatz zu dem weiteren Sinne des Ausdrucks, der weiter oben in Klammern gesetzt wurde). Hegel und Schelling sahen sich ursprünglich als Partner bei der Entwicklung einer neuen Philosophie, aber Hegel ließ bald seinen anfänglich besser bekannten 779
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Kollegen sowohl in der Bekanntheit, als auch im Einfluss hinter sich. Schelling erhielt wiederum eine weitere Chance nach Hegels Tod, indem er eine so genannte ‚positive Philosophie‘ entwickelte, in der er den hochgesteckten apriorischen Ansatz betreffend das Wesen der Existenz zurückwies, den beide Denker zuvor gewählt hatten. Der Absolute Idealismus müsse sich vielmehr teilweise auf empirische Merkmale der Welt berufen, statt sie nur ab und zu als Illustration der Behauptung zu zitieren, dass das, was die Vernunft unabhängig beweisen kann, auch so sein muss. Seine Philosophie, die mehr in der christlichen Tradition steht, versucht Gott und den Menschen eine Freiheit zurückzugeben, die ihr durch den Hegelismus faktisch genommen worden war. Ihre in gewisser Weise bizarre Ontologie erschien vielen so, als läge der deutsche Idealismus damit in seiner Todesagonie. Auf unterschiedlichen Wegen kamen Fichte, Schelling und Hegel zu der Auffassung, dass die Welt nur zu verstehen sei, wenn man sich klar mache, dass sie die konkrete Aktualisierung von Begriffen sei, deren eigentliche Heimat der Geist ist. Dies bindet sie an Kant, allerdings versuchten sie über ihn durch die Erklärung hinauszugehen, warum die relevanten Kategorien genau die sind, die von Kant benannt wurden, und warum es eine reale Einheit der Erfahrung gibt, die unterschiedlichen Geistern gemeinsam ist. Diese Erklärung besagt, dass die Welt letztlich die Konstruktion eines universalen Geistes oder der Vernunft ist. Jeder der drei sah sich so, dass er sich genauso auf Spinoza wie auf Kant bezog, jedoch das äußerste oder letzte Selbst oder ein solches Subjekt an die Stelle der spinozistischen Substanz setzte. Deutlich abseits von diesen absoluten Idealisten steht der einsame, aber enorm einflussreiche Arthur Schopenhauer. Wahrscheinlich stand er sowohl metaphysisch, als auch in der geistigen Gestimmtheit Kant am nächsten und akzeptierte im Großen und Ganzen seinen transzendentalen Idealismus. Er behauptete, die wahre Natur des Reichs der Dinge-an-sich entdeckt zu haben und betrachtete diese Natur als Aspekte eines einzigen, universalen Willens, der sich selbst als Gegenstand gegenüber dem Subjekt äußert (was sein eigenes Selbst ist, das in einen Zustand erbärmlicher Selbstbehauptung gefallen ist), aus dem er nur im Wege einer Kulmination dieser Leugnung des Lebenswillens entkommen kann, die nach Schopenhauers Ansicht charakteristisch für die Heiligkeit ist. 5. Der angloamerikanische Idealismus Als die deutschen Philosophen sich im späteren 19. Jahrhundert vom Idealismus abwandten, wurde er auf der Grundlage einer im Kern absoluten Art zur herrschenden Philosophieform in Großbritannien und den USA (wo er allerdings auf ernsthaftere Konkurrenten stieß). Dies verdankte sich teilweise der Suche nach einer Form des religiösen Glaubens, der weniger anfällig gegenüber den Positionen von Lyell und Darwin als das traditionelle Christentum sein sollte, und zum anderen einem ethischen Standpunkt, der in seiner Konzeption deutlich edler hinsichtlich der Möglichkeiten des menschlichen Lebens war als der Benthamsche Utilitarismus. Einige dieser Philosophen wie z.B. John und Edward Caird und William Wallace waren im Grunde ausgesprochene Hegelianer, die den Hegelismus zur Rettung des Christentums einsetzten. Wichtigere, weil ursprünglichere Philosophen mit idealistischer Überzeugung in dieser Epoche waren T.H. Green und F.H. Bradley in Großbritannien (neben 780
Idealismus
dem ähnlich denkenden, wenn auch mehr hegelisch orientierten Bernard Bosanquet), und Josiah Royce in den USA. Wir können nur im Vorübergehen den sehr distinguierten Idealismus von J.F. Ferrier in Schottland streifen, der sich sowohl auf Berkeley, als auch auf den deutschen Idealismus bezieht. Diese Denker waren in unterschiedlichem Umfange von Kant und Hegel und den übrigen deutschen Idealisten beeinflusst, und im Falle von Bradley ist vielleicht auch ein Teil der Berkeleyschen Tradition, und wenn nur unbewusst, gegenwärtig. Green war vor allem sehr bemüht um den Nachweis, dass die Entwicklung des menschlichen Lebens aus tierischen Ursprüngen nicht allein im Wege der natürlichen Selektion erklärbar sei, bzw. auf überhaupt keine naturalistische Art und Weise. Stattdessen müsse man dies als die schrittweise Entfaltung des Lebens eines universellen Geistes anerkennen, der in Form eines letztlich tugendhaften Lebens nach seiner Erfüllung strebt. Denn der Empirismus und der Naturalismus könnten nicht die Verknüpftheit der Welt erklären, noch die Fähigkeit des menschlichen Geistes zur Synthetisierung von Ereignissen aus unterschiedlichen Zeiten in eine einheitliche Geschichte. Dies sei nur möglich, wenn die Welt der Ausdruck eines einzigen, universalen Geistes ist, von dem jeder einzelne von uns eine Aktualisierung ist, in der er sich seiner selbst bewusst wird. Das allgemeine Ergebnis dieses Ansatzes ist recht hegelisch, es bleibt jedoch wenig Raum für die hegelsche Dialektik. Bradleys Metaphysik leitet sich aus zwei Kernüberlegungen ab: erstens sei nichts im eigentlichen Sinne denkbar außer der Erfahrung in ihren verschiedenen Arten und Inhalten; zweitens könne das, was wir als gesonderte Dinge in Beziehung zueinander beschreiben, angemessen nur als Abstraktion von einer höheren Einheit beschrieben werden. Letztlich müssten alle Dinge deshalb Abstraktionen einer einzelnen kosmischen Erfahrung sein. Zusammen mit seiner Leugnung der Wirklichkeit der Zeit und seiner Behauptung, dass die Wirklichkeit tatsächlich ein einziges, kosmisches Nunc Stans ist, dessen Bestandteile nur den Anschein haben, als würden sie mit der Zeit vorbeieilen, schlägt Bradley einen Ton an, der vielleicht eher platonisch als hegelisch einzuordnen ist. – Royces absoluter Idealismus hat viel mit dem von Bradley gemeinsam, doch dort, wo Gott für Bradley nur eine eher höhere ‚Erscheinung‘ neben den gewöhnlichen Dingen des täglichen Lebens war, ist Gott für Royce der Absolute Gott, wodurch es auf eine Weise personalisiert wird, wie es bei Bradleys Absolutem nicht der Fall war. 6. Der Panpsychismus Einer der Haupteinwände gegen den Idealismus ist jener der ‚kosmischen Unfrömmigkeit‘ (Santayana). Er neigt dazu, das gewaltige Reich der Natur schlicht zur Repräsentation innerhalb eines Geistes zu machen, der sich beobachtet oder an sich denkt. Dies wird jedoch kaum der Eigensinnigkeit der Natur gerecht (jedenfalls gewiss nicht einer, die von uns selbst hervorgebracht wird, was wohl Fichte meinte), noch ihrer Wunderbarkeit. Dieser Einwand führte einige von denen, die grundsätzlich von der idealistischen Behauptung überzeugt waren, dass die Wirklichkeit außerhalb der Erfahrung nicht möglich sei, zu einer panpsychistischen Position, derzufolge die Natur aus Einheiten bestehe, die ihre eigene Existenz und Beziehungen zu anderen Dingen genauso wahrhaft spüren wie wir, wenn auch vielleicht weniger artikuliert (siehe Panpsychismus). Dies war die Sichtweise von Royce, und Bradley meinte, dass sie wahr sein könnte. Sie war ferner ein Kernstück der Philosophie, 781
Idealismus
wenn auch etwas exzentrisch formuliert, des deutschen Idealisten Gustav Fechner, und sie wird auch bei Schelling angedeutet, und früher bereits von Leibniz, der in dieser Hinsicht als Idealist zu bezeichnen wäre. Ein Panpsychismus dieser Art wurde im 20. Jahrhundert am detailliertesten von A.N. Whitehead und Charles Hartshorne entwickelt. Er wird manchmal als eine Synthese des Realismus und des Idealismus betrachtet. Realistisch ist er, weil er den letzten Einheiten der Natur (was auch immer das sein mag) einen eigenen Realitätsstatus zugesteht, und zwar als das, was sie für sich selbst sind; idealistisch ist er, weil er die unerfahrene Wirklichkeit leugnet. Wenn dieses innere empfindende Leben der übrigen Natur so gedacht wird, dass es mit dem subjektiven Leben von Menschen und Tieren eine Einheit in Gestalt eines absoluten Bewusstseins bildet (was nach Bradley und Royce der Fall sei), dann erhalten wir eine Form des absoluten oder objektiven Idealismus, der den anthropozentrischen Charakter vermeidet, den er bei Denkern wie z.B. Fichte hat. 7. Der personale Idealismus Viele Denker der englischsprachigen Welt mit idealistischer Überzeugung würden sich gegen die Verkleinerung der individuellen Personen durch den absoluten Idealismus wehren, vor allem Bradley, und in geringerem Umfange auch Royce. Dies führte zum Ende des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung einiger Ausprägungen des sog. ‚personalen Idealismus‘, für den die Wirklichkeit eine Gemeinschaft unabhängiger, wirklicher Geister ist (mit oder ohne Gott als primus inter pares), und die physische Welt ihr gemeinsamer Gegenstand oder ihre gemeinsame Konstruktion. Bei dieser Variante gibt es keine herausragende Figur, auch wenn acht Oxforder Philosophen ein Manifest unter diesem Titel im Jahre 1902 veröffentlichten. Eine Ausnahme stellt vielleicht J.M.E. McTaggart dar, der eine sehr individualistische Version des pluralistischen Idealismus befürwortete. Ein anderer Hauptvertreter des personalen Idealismus war der US-amerikanische Philosoph G.H. Howison (siehe Personalismus). Der angloamerikanische Idealismus schien in Großbritannien eine Zeit lang und nach verbreiteter Meinung durch das Werk von G.E. Moore und Bertrand Russell, ferner auch in den USA durch solche Pragmatisten wie James und Dewey (obwohl es in dem Denken dieser beiden Amerikaner sicherlich auch idealistische Momente gab) widerlegt. Aber auch ein gegenteiliges Urteil ist inzwischen nicht mehr unüblich. Edmund Husserls Phänomenologie ist in einigen Bereichen weiterhin einflussreich, und es gibt Philosophen, die seiner schließlich geäußerten Auffassung zustimmen, dass die Husserlsche Philosophie eine Form des transzendentalen Idealismus darstellt (siehe Husserl, E.). Auch der Antirealismus, der mit Michael Dummett assoziiert wird, gilt dem Geiste nach als idealistisch (siehe Realismus und Antirealismus), während andere aus der nach wie vor bestehenden Schule Wittgensteins das Denken Wittgensteins als eine Form des sozialen Idealismus ansehen. Dem traditionellen Idealismus kommt jedoch der konzeptuelle Idealismus des wichtigen USamerikanischen Philosophen Nicholas Rescher wesentlich näher, der den Idealismus und den Pragmatismus verschmilzt, sowie idealistische Positionen – wenn auch, wie man zugeben muss, nicht sehr einflussreich – in Großbritannien, die von John Foster und dem Autor dieses Beitrages vertreten werden. Anmerkungen und weitere Lektüre: 782
Identität
Kant, I. (1781): ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Es sind neben der klassischen sog. ‚Akademie-Ausgabe‘ der Preußischen Akademie der Wissenschaften zahlreiche Ausgaben verfügbar. (Dies ist die klassische Darlegung des kantischen transzendentalen Idealismus, einem der größten und einflussreichsten Werke in der Geschichte der Philosophie.) Sturt, H. (Hrg.) (1902): ‚Personal Idealism; Philosophical Essays by Eight Members of the University of Oxford‘, London: Macmillan. (Das Manifest des personalen Idealismus gegen die Überwältigung des Individuums durch den absoluten Idealismus. Siehe insbesondere die Beiträge von F.C.S. Schiller und Hastings Rashdall). T.L.S. SPRIGGE
Idealismus, deutscher
Siehe: Deutscher Idealismus
Ideenlehre, Platonische
Siehe: Formen, platonische; Platon
Identität Einführung Alles steht zu sich selbst in einer Beziehung der Identität, und zu nichts anderem. Dinge sind identisch, wenn sie ein Ding sind, nicht zwei. Wir können die Behauptung zurückweisen, dass sie identisch sind, wenn wir eine Eigenschaft an einem von ihnen finden, die nicht gleichzeitig eine Eigenschaft des anderen ist. Der Begriff der Identität ist fundamental für die Logik. Ohne ihn wäre das Zählen unmöglich, denn wir könnten grundsätzlich nicht unterscheiden, ob wir ein Ding zweimal zählen oder zwei Dinge als eines. Wenn wir uns den Begriff angeeignet haben, kann es immer noch schwer sein, diese Unterscheidung in der Praxis durchzuführen. Fehlurteile hinsichtlich der Identität sind möglich, weil sich ein Ding in vielen Gestalten zeigen kann. Identitätsurteile implizieren oft Annahmen über das Wesen der Dinge. Die Identität des gegenwärtig ausgewachsenen Baumes mit dem vergangenen jungen Spross impliziert ein Beharren über den Wandel hinweg. Die Nichtidentität des wirklichen Kindes eines Ehepaares mit dem hypothetischen Kind eines anderen Ehepaares wird durch die Behauptung impliziert, dass Abstammung eine wesentliche Eigenschaft ist. Ein Wissen über die Richtung von etwas impliziert das Wissen darüber, dass parallele Linien identische Richtungen haben. Viele Streitfragen über die Identität betreffen das Wesen des fraglichen Gegenstandes. Andere fordern die orthodoxe Konzeption, die von der Identität entworfen wurde, selbst heraus. 1. Darstellung einer populären Sichtweise 2. Alternativen 1. Darstellung einer populären Sichtweise Identität ist die Beziehung, die jedes Ding notwendig zu sich selbst hat, und zu nichts anderem. Deshalb steht Konstantinopel in einer Identitätsbeziehung zu Istanbul, denn Konstantinopel ist Istanbul, es handelt sich dabei um genau dieselbe Stadt. Diese Beziehung wird oft ‚numerische Identität‘ genannt, um sie von der ‚qualitativen‘ Identität zu unterscheiden, d.h. der Beziehung exakter Ähnlichkeit. Obwohl ‚identische‘ Zwillinge qualitativ identisch sein mögen, sind sie doch nicht 783
Identität
numerisch identisch, denn es gibt zwei von ihnen, nicht einen. Die Formel ‚x = y‘ sagt, dass x und y (numerisch) identisch sind. Die Idee der Identität wird durch zwei grundlegende logische Prinzipien geleitet, nämlich durch jenes der Reflexivität und durch das Leibnizsche Gesetz (siehe Leibniz, G.W., § 11). Wenn man sagt, die Identitätsbeziehung sei reflexiv, so heißt dies, dass für jedes Ding x gilt: x = x. Das Leibnizsche Gesetz sagt, dass, wenn x = y ist, alles das, was für x gilt, auch für y gilt. Dieses Prinzip wird in Argumenten verwendet wie z.B. ‚Adenauer regierte in Bonn; daher war Adenauer nicht der König von England‘. Leibniz war nicht der erste, der dieses Gesetz formulierte; es war schon in der Antike bekannt. Es wird manchmal auch das ‚Gesetz der Ununterscheidbarkeit des Identischen‘ genannt, das man nicht verwechseln darf mit seiner Umkehrung, dem ‚Gesetz der Identität des Ununterscheidbaren‘, das (unplausiblerweise) behauptet, dass qualitative Identität auch numerische Identität impliziere (siehe Identität des Ununterscheidbaren). Die Reflexivität und Leibniz’ Gesetz beschreiben die Identität auf einzigartige Weise: es ist zwei nicht-äquivalenten Beziehungen beweisbar unmöglich, beiden Prinzipien zu genügen. Diese beiden Prinzipien bringen es auch mit sich, dass die Identität symmetrisch (wenn x = y, dann y = x) und transitiv (wenn x = y und y = z, dann x = z) ist. Wenn a = b ist, dann sagt Leibniz’ Gesetz, dass alles, was von a wahr ist, auch von b wahr ist. Dies erlaubt jedoch die Ersetzung von ‚a‘ durch ‚b‘ nur in Zusammenhängen, wo diese Ausdrücke lediglich bestimmen, über welchen Gegenstand man redet. Beispielsweise ist es ungültig, von ‚Iocaste = die Mutter von Ödipus‘ und ‚Ödipus weiß, dass er Iocaste heiratete‘ auf ‚Ödipus wusste, dass er die Mutter von Ödipus heiratete‘ zu schließen, denn hier bezeichnet ‚die Mutter von Ödipus‘ nicht nur eine Person, sondern ist vielmehr die Beschreibung jener Person, von der gesagt wird, dass Ödipus wusste, dass er sie heiratete (siehe Propositionale Einstellungen). Wenn man auf ein Foto eines ausgewachsenen Baumes und auf das eines Sprösslings schaut, so kann man Leibniz’ Gesetz zur Zurückweisung der Hypothese ‚der ausgewachsene Baum = der Sprössling‘ nicht deshalb nicht verwenden, weil der Satz ‚Der ausgewachsene Baum ist groß‘ wahr ist, und der Satz ‚Der Sprössling ist klein‘ falsch. Die Nominalphrasen ‚der ausgewachsene Baum‘ und ‚der Sprössling‘ bezeichnen vielmehr nicht nur Bäume; sie enthalten auch Hinweise auf die Zeiten, hinsichtlich derer ihre Größe ausgesagt wird. Ein richtiges Verständnis von Leibniz’ Gesetz wird folglich benötigt, wenn die Identität über den Wandel hinweg nicht widersprüchlich erscheinen soll. Eine echte Konsequenz von Leibniz’ Gesetz ist die Notwendigkeit der Identität: Dinge, die tatsächlich identisch sind, konnten nicht verschieden sein. Angenommen x = y. Da x nicht verschieden von sich selbst sein kann, kann x auch nicht verschieden von y sein. Daher können x und y nicht kontingent (unnotwendig) identisch sein; sie müssen unter allen Umständen identisch sein. Ein etwas komplexeres Argument schließt, dass sie nicht kontingent verschieden sein können. Sie sind entweder notwendig identisch oder notwendig verschieden. Folglich sind sie entweder immer identisch oder immer verschieden. Wenn beispielsweise mein Kopfschmerz identisch mit einem Ereignis in meinem Gehirn ist, dann muss mein Kopfschmerz dieses Ereignis sein; keines kann ohne das andere existieren. Natürlich ist ein Satz wie ‚Rom = Hauptstadt von Italien‘ kontingent wahr, dies aber nur, weil die Beschreibung ‚Hauptstadt von Italien‘ nicht notwendig die Stadt beschreiben muss, die sie 784
Identität
in diesem Moment beschreibt. Das Beispiel ist mit der Notwendigkeit der Identität jedoch konsistent, denn es impliziert nicht, dass eine Stadt jede von beiden gewesen sein könnte. Ein Argument wie jenes betreffend die Notwendigkeit der Identität kann verwendet werden, um die Idee zurückzuweisen, dass Fragen der Identität nicht unbedingt eine richtige Antwort haben müssen. Beispielsweise wird es manchmal für unbestimmt gehalten, ob eine bestimmte Masse von Felsen und Eis der Mount Everest sei (siehe Vagheit). Es ist jedoch bestimmt, ob der Mount Everest der Mount Everest ist. Wenn Leibniz’ Gesetz und die gewöhnliche Logik in diesem Zusammenhang anwendbar sind, dann folgt daraus, dass der Mount Everest verschieden ist von jener Masse Felsen und Eis, und die Identitätsfrage erhält eine richtige Antwort, nämlich eine negative. Daher widerspricht sich die Hypothese der Unbestimmtheit selbst (wenn man dieses Beispiel allgemeiner formuliert). Identitätsaussagen in natürlichen Sprachen enthalten oft ein Nomen bei der Antwort auf die Frage ‚Von was ist dies oder jenes dasselbe?‘, beispielsweise in dem Satz ‚Istanbul ist dieselbe Stadt wie Konstantinopel‘. Da die Identität eindeutig durch ihre Logik charakterisiert ist, spielt das Nomen in diesem Satz nicht die Rolle eines Auflösers der Zweideutigkeit von ‚dieselbe‘. ‚a ist dasselbe F wie b‘ ist äquivalent mit ‚a ist ein F und a = b‘ (woraus nach Leibniz’ Gesetz folgt: ‚b ist ein F‘). Identität ist nicht Art für Art definiert. Stattdessen verwenden wir den vorgegebenen Begriff der Identität zur Definition von Arten. Beispielsweise erklären wir den Unterschied zwischen Flüssen und Ansammlungen von Wassermolekülen, indem wir sagen, dass derselbe Fluss zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ansammlungen von Wassermolekülen enthält. Das ‚Identitätskriterium‘ einer Art ist eine notwendige und hinreichende Identitätsbedingung für alle Mitglieder dieser Art. Freges Identitätskriterium für die Richtungen ist, das die Richtungen von Linien dann und nur dann identisch sind, wenn die Linien einander parallel sind. Das Identitätskriterium für Zahlen ist, dass die Zahl von F Dingen auch die Zahl von G Dingen ist, und dies ist dann und nur dann der Fall, wenn es eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen den F Dingen und den G Dingen gibt. In solchen Fällen können die Mitglieder einer Art in unterschiedlicher Gestalt dargestellt werden: Richtungen als Richtungen verschiedener Linien, Zahlen als die Zahlen verschiedener Mehrheiten. Das Identitätskriterium setzt die jeweilige Bedingung für zwei Gestalten, damit sie als die Gestalten eines Mitglieds der Art gelten. Wenn man diese Bedingungen nicht begreifen würde, würde man gar nicht wissen, was Richtungen oder was Zahlen sind. Ein Identitätskriterium für eine raumzeitliche Art soll für ein Mitglied der Art die Bedingung an einem Ort und zu einer Zeit angeben, damit dies als identisch mit einem Mitglied an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit gilt: beispielsweise kann daraus eine durchgehende Flugbahn zwischen diesen Raum-Zeit-Punkten folgen. Es kann auch eine Darstellung der Gegenstandsidentität unter hypothetischen Umständen erforderlich sein. Zum Beispiel könnte jemand behaupten, dass das Mitglied einer Art nicht an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen möglichen Welten entstanden sein kann. Raumzeitliche Gegenstände können einander exakt ähneln, ohne identisch zu sein, denn sie können an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten entstanden sein. Im Ge-
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gensatz dazu können rein abstrakte Gegenstände nicht exakt einander ähneln, ohne identisch zu sein. 2. Alternativen Jeder Aspekt des vorangehenden Standpunktes wurde in Frage gestellt. Obwohl er sehr verbreitet ist, werden die Philosophen, die ihn rundherum akzeptieren, in der Minderheit sein. Es wurde bereits bestritten, dass die Identität eine Beziehung ist, und zwar sowohl aus metaphysischen Gründen (weil keine zwei Dinge aufeinander bezogen werden), als auch aus grammatischen Gründen (wenn man das ‚ist‘ in ‚Konstantinopel ist Istanbul‘ dem ‚ist‘ der prädikativen Aussage in ‚Konstantinopel ist sehr belebt‘ angleicht). Allerdings greift die Logik des ‚=‘ eine einzigartige Klasse geordneter Paare von Gegenständen heraus, auf die sie zutrifft, was wiederum genügt, um die Identität als eine Beziehung in einem minimalen Sinne gelten zu lassen. Der Gegensatz zwischen der Identität und der Ununterscheidbarkeit wurde ebenfalls in Frage gestellt, und zwar deshalb, weil Ununterscheidbares jeweils unter dieselbe Beschreibung fällt; und weil a unter die Beschreibung ‚identisch mit a‘ fällt, fällt auch alles von a Ununterscheidbare darunter. Die offensichtliche Antwort hierauf ist, dass Ununterscheidbarkeiten lediglich unter dieselben spezifischen Beschreibungen fallen, es jedoch schwer zu erklären ist, was diese ‚Spezifität‘ überhaupt ist. Viele Anwendungen des Leibnizschen Gesetzes sind problematisch. Manche bestreiten seine Anwendbarkeit auf Zusammenhänge, wo es um nichtwirkliche Möglichkeiten oder sogar nicht-gegenwärtige Zeiten geht und schließen damit die Ableitung der Notwendigkeit oder der Permanenz der Identität aus. Dabei geht es beispielsweise darum zuzulassen, dass ein Topf kontingent identisch ist mit dem Ton, aus dem er gemacht wurde, oder dass der Ton vorübergehend mit dem Topf identisch ist. Eine Frage dabei ist, ob die ins Auge gefassten Beschränkungen des Leibnizschen Gesetzes ad hoc sind. Dies wäre nicht der Fall, wenn die so genannte Identität zwischen Gegenständen in unterschiedlichen möglichen Welten oder zu verschiedenen Zeiten nicht für bare Münze genommen werden kann, sondern irgendwie auf Beziehungen qualitativer Ähnlichkeit zwischen einander entgegengesetzten Gegenständen zurückgeführt würde, wobei beide Gegenstände zu einem Zeitpunkt auf jeweils eine einzige mögliche Welt beschränkt sind. Solche Auffassungen werden gestützt durch die Berufung auf die Schwierigkeit einer Spezifizierung dessen, was an einem Gegenstand wesentlich ist, beispielsweise bis zu welchem Umfange ein bestimmtes Schiff ursprünglich aus ganz anderen Schiffsplanken bestanden haben kann, oder wie viel sich an diesem Schiff ändern kann, ohne dass dadurch seine Existenz aufgelöst wird. Die vorgeschlagenen Reduktionen sind jedoch sowohl komplex, als auch schwer mit den Alltagsannahmen über das Wesen alltäglicher Gegenstände zu versöhnen. Die Identität wurde auch als manchmal unbestimmt angesehen. Obwohl üblicherweise zugegeben wird, dass die Dinge, wenn sie identisch sind, es auch bestimmt ist, ob sie identisch sind, folgt daraus in einigen Nichtstandard-Logiken jedoch nicht, dass, wenn es unbestimmt ist, ob sie identisch sind, sie auch nicht identisch sind. Solche Logiken postulieren einen Zwischenstatus, den Aussagen zwischen wahr und falsch einnehmen können. Eine Herausforderung für diese Sicht-
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Identität
weise ist es jedoch zu erklären, was es bei einer Aussage bedeuten soll, wenn sie nicht wahr ist, ohne dadurch falsch zu sein. Eine weitere Nichtstandard-Auffassung ist die Lehre, dass die Identität immer relativ zu einer Antwort auf die Frage ‚dasselbe was?‘ steht. Wenn zum Beispiel a und b jeweils gedruckte Kopien des Märchens ‚Rotkäppchen‘ sind, dann bestreitet diese Auffassung die Gültigkeit des Schlusses von ‚a stammt aus derselben Auflage wie b‘ und ‚a ist eine gedruckte Kopie‘ auf ‚a ist dieselbe Kopie wie b‘. Die Beziehung der Herkunft aus derselben Auflage fällt nicht uneingeschränkt unter Leibniz’ Gesetz, aber diese Auffassung müsste zeigen, dass keine andere Beziehung (beispielsweise jene, dieselbe gedruckte Kopie zu sein) uneingeschränkt unter Leibniz’ Gesetz fallen könnte, denn eine solche Beziehung wäre ein Fall nicht-relativer Identität. Viele Auseinandersetzungen über die Identitätskriterien für bestimmte Arten von Entitäten (siehe Personale Identität) betreffen die Natur dieser Entitäten, nicht die Identität an sich. Aber der Begriff des Identitätskriteriums ist an sich schon problematisch. Kann beispielsweise jemand ein adäquates Identitätskriterium für Ereignisse dadurch angeben, dass er sagt, Ereignisse seien identisch, wenn und nur wenn sie dieselben Ursachen und Wirkungen haben? Das Problem ist hier, dass die Ursachen und Wirkungen von Ereignissen weitere Ereignisse einschließen. Das Kriterium ist in gewisser Weise zirkulär; es ist jedoch schwer, die Anforderungen an seine Nicht-Zirkularität klar anzugeben. Und selbst wenn dies möglich wäre ist noch unklar, warum jede Art von Gegenstand ein nicht-zirkuläres Identitätskriterium haben muss. Vielleicht gibt es nichts Grundlegenderes als die Identität, auf die die Identität zurückgeführt werden kann. Die Standard-Identitätslogik verlangt jedenfalls keine solche Reduktion. Vielleicht wird die Identität einmal als eine logische Konstante betrachtet, die nicht problematischer ist als beispielsweise die Konjunktion. Wenn dies so ist, werden zwar viele der oben erwähnten Fragen schwierig bleiben, aber ihre Schwierigkeit wird die Natur unterschiedlicher Arten von Dingen betreffen, und nicht die Identitätsbeziehung. Siehe auch: Fortbestehende Dinge Anmerkungen und weitere Lektüre: Kripke, S.A. (1980): ‚Naming and Necessity‘, Oxford: Blackwell Publishing (dt.: ‚Name und Notwendigkeit‘, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005). (Eine Grundlagenarbeit über die Verbindung von Identität und Notwendigkeit.) Noonan, H.W. (Hrg.) (1993): ‚Identity‘. Aldershot: Dartmouth. (Eine Sammlung vieler relevanter Aufsätze.) TIMOTHY WILLIAMSON
Identität des Ununterscheidbaren
Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren sagt, dass Gegenstände, die sich in allen Hinsichten gleichen, identisch sind. Es wird manchmal das Leibnizsche Identitätsgesetz genannt. Diese Bezeichnung ist allerdings genauso üblich für das umgekehrte Prinzip, der Ununterscheidbarkeit des Identischen, demzufolge Gegenstände, die identisch sind, sich in jeder Hinsicht gleichen. Beide Prinzipien werden manchmal zusammen als das genommen, was den Begriff der Identität ausmacht. Anders aber als der Satz von der Ununterscheidbarkeit des Identischen, der weithin als logische Wahrheit akzeptiert ist, wurde die Identität des Ununterscheidbaren 787
Ideologie
häufig in Zweifel gezogen und zurückgewiesen. Dieses Prinzip ist einer präziseren Formulierung auf vielfältige Weise zugänglich, von denen einige allerdings zweifelhafter sind als andere. Siehe auch: Identität PETER SIMONS
Identität von Personen Siehe: Personale Identität
Identität, postmoderne Theorien der
Siehe: Andersheit und Identität, postmoderne Theorien der
Identitätstheorie des Geistes
Siehe: Geistes, Identitätstheorie des
Ideologie
Eine Ideologie ist eine Gruppe von Vorstellungen, Überzeugungen und Einstellungen, die bewusst oder unbewusst eingenommen werden, und die das Verständnis oder die Fehlauffassungen der sozialen und politischen Welt wiedergeben oder formen. Sie dienen der Empfehlung, Rechtfertigung oder Absicherung kollektiver Handlungen mit dem Ziel einer Bewahrung oder Änderung politischer Praxis und Institutionen. Der Begriff der Ideologie ist praktisch unversöhnlich aufgespalten zwischen zwei Hauptbedeutungen. Die erste die herabsetzende, die eine bestimmte, historisch verzerrte (politische) Denkweise bezeichnet, die bestimmte Herrschaftsbeziehungen erzwingt, hinsichtlich derer das Wort ‚Ideologie‘ die Funktion eines kritischen demaskierenden Begriffs hat. Die zweite ist eine nicht herabsetzende Behauptung über die unterschiedlichen Familien kultureller Symbole und Vorstellungen, die Menschen im Wahrnehmen, Verstehen und Bewerten sozialer unter politischer Wirklichkeit im Allgemeinen anwenden, häufig innerhalb eines bestimmten Rahmens. Diese Symbolfamilien wirken auf bedeutsame Weise ordnend und integrierend auf die jeweilige kollektive Denkweise. Eine weitere größere Unterteilung besteht innerhalb der letzteren Kategorie. Einige Analytiker behaupten, dass die Untersuchung der Ideologie insofern nichtwertend sein kann, als sie wissenschaftliche Tatsachen darüber ermittelt, wie politische Überzeugungen die soziale Welt reflektieren und Menschen zu bestimmten Handlungen darin antreiben. Andere wiederum meinen, dass die Ideologie spezifische politische und wertgeladene Bedeutungen in die Konzeptualisierung der sozialen Welt einführen, die unvermeidlich unbestimmt sind, und dass sie deshalb mehr ein Mittel zur Konstruktion als zur Reflexion dieser Welt ist. Dies gilt allerdings auch für die Interpretationen, die von Ideologie-Analytikern, vorgelegt werden. MICHAEL FREEDEN
Illokutionärer Sprechakt Siehe: Sprechakte
Illokutionäre Kraft
Siehe: Pragmatik; Sprechakte
Imagination
Siehe: Vorstellung
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Implikation, logische
Implikatur
Der Ausdruck ‚Implikatur‘ wird in der Philosophie, der Logik und Linguistik (speziell der Pragmatik) zur Bezeichnung des Bedeutungsaktes oder des Implizierens von etwas durch das Sagen von etwas Anderem verwendet. Ein Mädchen, das auf die Frage ‚Kommst Du mit ins Kino?‘ sagt: ‚Ich muss lernen‘, impliziert (‚implizieren‘ als technisches Verb für die Erzeugung eines Implikats), dass sie nicht mitkommen kann. Implikate können von dem Gesprächskontext abhängen, wie in diesem Beispiel, oder von Konventionen, wenn beispielsweise ein Sprecher sagt: ‚Er war schlau, aber dennoch arm‘, womit er impliziert – und zwar infolge der konventionellen Verwendung der Worte ‚aber‘ bzw. ‚dennoch‘ –, dass Armut bei Vorliegen von Intelligenz unerwartet ist. Die Implikatur wurde durch das Werk von H.P. Grice bedeutsam. Grice schlug vor, dass gesprächsbezogene Implikate von einem allgemeinen Prinzip rationaler Kooperation abhängen, das besagt, dass Menschen normalerweise versuchen, den Zweck des Gespräches dadurch voranzubringen, dass sie das vermitteln, was wahr, informativ, relevant und offenkundig ist. Der Umfang und das Wesen dieser Abhängigkeit, sowie die präzisen Maximen, die daran beteiligt sind, sind allerdings strittig. Andere Fragen richten sich darauf, ob gewisse Implikationen eher Implikate sind oder eher Vorannahmen, oder gar Teile der (buchstäblichen) Bedeutungen der verwendeten Worte. Siehe auch: Pragmatismus; Semantik; Sprechakte WAYNE A. DAVIS
Implikation, logische Einführung Der Ausdruck ‚Implikation‘ bzw. ‚implizieren‘ geht auf das aus dem Lateinischen übernommene Lehnwort implicare = ‚verwickeln‘ zurück. In der gehobenen Umgangssprache bezeichnen diese Ausdrücke eine Folgebeziehung zwischen zwei Sachverhalten, d.h. einen zwar gemeinten, aber nicht notwendig und ausdrücklich auch gesagten Bedeutungszusammenhang im Sinne von ‚Dieser Sachverhalt bringt jenen weiteren Sachverhalt mit sich‘. In der Logik bezeichnet der Ausdruck die Verknüpfung von Aussagen bzw. Aussagevariablen a und b zu einer Aussage der Form ‚wenn a, dann b‘. ‚Verknüpfung‘ bedeutet hiermit mehr als nur die statische Reihung von Ausdrücken zu einer Ganzheit, wie sie beispielsweise in der Aggregatbeschreibung ‚a ∧ b‘ (sprich: ‚a und b‘) gegeben ist. Die Verknüpfung setzt einzelne Aussagen in eine Beziehung, durch die letztlich, d.h. wenn man fragt, was mit der Gültigkeit einer Implikationsbehauptung eigentlich gemeint ist, entweder abhängige Existenz behauptet oder eine (kausale) Prozessfolge beschrieben wird. Damit weist die logische Implikation untilgbare Bedeutungsspuren der außerlogischen, d.h. physisch-realen Welt auf (wie z.B. auch der Existenzquantor), was sie von den ‚reinen‘ logischen Ausdrücken und Operatoren unterscheidet. Die nachfolgende Darstellung wird jedoch hierauf, also auf die metaphysischen Schwierigkeiten des Implikationsbegriffes, nicht weiter eingehen, sondern sich auf eine rein logische Strukturdarstellung beschränken. Auch innerhalb der Logik werden eine Reihe sehr unterschiedlicher Aussageverknüpfungen als Implikation bezeichnet, so dass der Begriff mehrdeutig ist. Einerseits gibt es verschiedene objektsprachliche Implikationen, also Aussagever789
Implikation, logische
knüpfungen, die der künstlichen (formalen) Sprache der Logik selbst angehören. Die wichtigste von ihnen ist die materiale Implikation. Ferner gibt es die intuitionistische Implikation (sog. ‚Subjunktion‘) und die strikte Implikation. Darüber hinaus gibt es die Implikation auch als Operator in einigen Programmiersprachen; dessen Bedeutung entspricht jedoch praktisch immer der materialen Implikation. Von allen diesen Implikationsbegriffen nochmals zu unterscheiden ist schließlich der Begriff der Ableitung als sog. ‚metasprachliche Implikation‘, die nicht selbst Teil der formalen Sprache ist, sondern vielmehr ein Mittel, um über diese Sprache etwas aussagen zu können. Die metasprachliche Implikation wird deshalb auch als Ableitbarkeitsbegriff bezeichnet. 1. Die materiale Implikation (Konditional) 2. Die intuitionistische Implikation 3. Die strikte Implikation 4. Der Implikationsoperator in der Informatik 5. Die Implikation als Begriff der Ableitbarkeit 1. Die materiale Implikation (Konditional) Durch die materiale Implikation, auch Konditional genannt, entsteht aus der Verbindung zweier Aussagen a und b eine neuen Aussage. Diese besagt, dass a eine hinreichende Bedingung für b ist; dass also b schon dann wahr ist, wenn a wahr ist. Man sagt oft kurz: ‚Wenn a, dann b.‘ Dieser Sprachgebrauch kann unter Umständen Verwirrung stiften, weil die Formulierung ‚wenn … dann‘ im Deutschen logisch nicht eindeutig ist und mehrheitlich nicht für materiale, d.h. formale, sondern für inhaltliche Zusammenhänge (z.B. Kausalität) verwendet wird. Manchmal versucht man, durch Formulierungen wie ‚Schon wenn a, dann b‘ oder ‚a ist eine hinreichende Bedingung für b‘ Missverständnisse zu vermeiden, die aus den vielen Bedeutungen des deutschen ‚wenn...dann‘ resultieren können. Bei der material gemeinten Implikation ‚(Schon) wenn a, dann b‘ wird a als Vordersatz oder Antezedens, b als Nachsatz, Konsequens oder Sukzedens bezeichnet. Die Implikation zu ‚Es duftet hier‘ und ‚Die Rose hier blüht‘ wäre damit die Aussage: ‚Wenn die Rose hier blüht, duftet es.‘ Alternative Formulierungen, die den materialen Charakter besser betonen, wären ‚Sobald die Rose blüht, duftet es hier.‘, oder ‚Das Erblühen der Rose hier ist ein hinreichende Bedingung dafür, dass es hier duftet.‘ In der formalen logischen Notation wird die materiale Implikation durch einen einfachen Pfeil, d.h. ‚→‘ oder auch durch das Zeichen ‚⊃‘ symbolisiert. Der Ausdruck ‚a → b‘ wäre umgangssprachlich folglich zu formulieren als: ‚Wenn a, dann b‘ oder a impliziert b‘. Die materiale Implikation ist genau dann falsch, wenn der Vordersatz wahr ist und der Nachsatz falsch. In jedem anderen Fall ist die Implikation wahr. Das Konditional ‚Wenn die Rose hier blüht, duftet es hier‘ ist also nur dann falsch, wenn die Rose hier zwar blüht, sie aber dennoch nicht duftet. Die Konvention, dass eine materiale Implikation nur dann falsch ist, wenn der Vordersatz wahr und der Nachsatz falsch ist, führt dazu, dass die folgenden Aussagen wahr sind:
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Implikation, logische
• Wenn Berlin in Italien liegt, ist die Erde ein Planet (falscher Vordersatz, wahrer Nachsatz). • Wenn Berlin in Italien liegt, ist der Mond ein Würfel (falscher Vordersatz, falscher Nachsatz). • Wenn Berlin in Deutschland liegt, ist Schnee weiß (wahrer Vordersatz, wahrer Nachsatz). Diese Fälle werden vielfach als unplausibel und stark kontraintuitiv empfunden. Man bezeichnet sie daher auch als Paradoxien der materialen Implikation. Die Paradoxien der materialen Implikation entstehen dadurch, dass sie sich lediglich auf den extensionalen Charakter der materialen Implikation beziehen. Sie behaupten eben keinen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Vordersatz und Nachsatz; vielmehr begründet sich ihr Wahrheitswert ausschließlich extensional nach Maßgabe der Wahrheitswerte ihrer Teilsätze. Dies ließe sich so formulieren: ‚Überall dort, wo der Vordersatz wahr ist, ist auch der Nachsatz wahr.‘ Als paradox wird hier freilich der Mangel genau jenes Zusammenhanges empfunden, den man zumindest im alltäglichen Denken gerade als das Wesentliche einer Folgebeziehung empfindet. In neueren Entwicklungen der Logik, z.B. der sog. Relevanzlogik, sind deshalb bereits Modelle entwickelt worden, die diese Paradoxien auflösen sollen, z.B. unter Einbeziehung der Situationen, auf die sich Antezedens und Konsequenz beziehen (siehe Relevanzlogik und Folgebeziehung). Zwischen der materialen Implikation und dem umgangssprachlichen ‚wenn ... dann‘ muss daher sehr genau unterschieden werden. Das umgangssprachliche ‚wenn ... dann‘ ist vieldeutig und wird im Alltag in der Regel nicht im Sinne der materialen Implikation verwendet, sondern um einen inhaltlichen (oft z.B. kausalen, manchmal auch zeitlichen) Zusammenhang zwischen Antezedens und Sukzedens auszudrücken. Solche Zusammenhänge lassen sich mit der materialen Implikation jedoch nicht ausdrücken. Auf Grund ihres extensionalen Charakters eignet sich die materiale Implikation in der Prädikatenlogik gut dazu, Aussagen der Art ‚Alle Äpfel sind Früchte‘ wie folgt zu formalisieren: ∀x(P(x) → S(x)) (lies: ‚Für alle x gilt: Wenn x ein Apfel ist, dann ist x eine Frucht.‘) Die materiale Implikation a → b ist aussagenlogisch äquivalent mit den folgenden Aussagen: • ~a ∨ b. (lies: ‚nicht a oder b‘). Über diese Äquivalenz kann die materiale Implikation anhand von Disjunktion und Negation definiert werden. • ~a ∨ ~b. (lies: ‚es gilt nicht: a und nicht b‘). Die materiale Implikation kann also ebenfalls anhand von Konjunktion und Negation definiert werden. • ~b → ~a (lies: ‚wenn nicht b, dann nicht a‘). Man kann also die Implikation umkehren, wenn man dabei gleichzeitig Vordersatz und Nachsatz negiert. Dieses logische Gesetz wird auch als ‚Kontraposition‘ bezeichnet. Bezüglich der Eigenschaften der materialen Implikation gilt ferner: sie ist nicht assoziativ, kommutativ, symmetrisch, antisymmetrisch oder asymmetrisch. Sie ist aber transitiv, d.h. es gilt: aus ‚a → b‘ und ‚b → c‘ folgt ‚a → c‘. Außerdem ist sie reflexiv, es gilt also allgemein: a → a.
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Implikation, logische
2. Die intuitionistische Implikation Die intuitionistische Implikation versucht den Paradoxien der materialen Implikation auf andere Weise aus dem Wege zu gehen: sie lässt sich nicht anhand der Wahrheitswerte von Vordersatz und Nachsatz definieren; damit ist sie auch nicht extensional oder wahrheitsfunktional. Zu diesem Zweck wurden intensionale Semantiken entwickelt. Die bekannteste und erste formalisierte intensionale Semantik ist jene von S. A. Kripke, die er anfangs für die Modallogik entwickelte, und die nach ihm als Kripke-Semantik bezeichnet wird. (siehe Modallogik) Die oben angeführten Äquivalenzbeziehungen sind intuitionistisch nur teilweis umgekehrbar. Deshalb ist beispielsweise zu beachten: • Aus ‚a → b‘ folgt ‚~(a ∧ ~b)‘, aber nicht umgekehrt. • Aus ‚a → b‘ folgt ‚~b → ~a‘, aber nicht umgekehrt. • Aus ‚~a ∨ b‘ folgt weder ‚a → b‘ noch gilt das Umgekehrte. Im Gegensatz zur materialen Implikation (oder auch ‚klassische‘ Implikation, weil nach klassischer Logik gebildet) kann also die intuitionistische Implikation nicht über Negation und Konjunktion oder Disjunktion definiert werden. 3. Die strikte Implikation Kombiniert man den modallogischen Notwendigkeits-Operator mit der materialen Implikation, so ergibt sich eine strikte Implikationsbeziehung. Die strikte Implikation ist, wie auch die intuitionistische Implikation, nicht-wahrheitsfunktional: ‚ (a → b) ‘ oder ‚ (a ⊃ b)‘ (lies: ‚Wenn a, dann gilt notwendig b‘, wobei das Zeichen für die Notwendigkeit des nachfolgenden logischen Ausdrucks steht). Die strikte Implikation ist ein weiterer Versuch, die Paradoxien der materialen Implikation (siehe oben) zu überwinden und dadurch die umgangssprachliche Wenn-Dann-Beziehung logisch zu erfassen. Die strikte Implikation ist nämlich nicht bereits dann wahr, wenn der Vordersatz falsch oder das Sukzedens wahr ist. Es ergeben sich verschiedene strikte Implikationen, je nachdem welcher Modalkalkül zugrunde gelegt wird (siehe auch Modallogik). Die strikte Implikation ist, ebenso wie die materiale und die intuitionistische, transitiv und reflexiv. 4. Der Implikationsoperator in der Informatik Es gibt Programmiersprachen, die einen Operator für die Implikation kennen, der an die materiale Implikation angelehnt ist. Dieser verknüpft zwei Informationsgrundeinheiten (sog. ‚Bits‘) wie folgt: Bit 1 Bit 2 Ergebnis 0 0 1 0 1 1 1 0 0 1 1 1 Hier steht ‚0‘ für ‚falsch‘ und ‚1‘ für ‚wahr‘. Somit ähnelt die vorstehende Tabelle einer logischen Wahrheitstafel für die materiale Implikation, d.h. das Ergebnis der Bit-Verknüpfung ist ausschließlich dann falsch, wenn der Vordersatz wahr und der Nachsatz falsch ist.
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Implikation, logische
5. Die Implikation als Begriff der Ableitbarkeit Die metasprachliche Implikation oder der Begriff der Ableitbarkeit ist ein Zeichen, welches man dazu verwendet anzuzeigen, dass man in einer bestimmten Logik (etwa klassischer Logik, intuitionistischer Logik etc.) eine Aussage b aus einer Aussage a ableiten kann. Das Zeichen besagt also, dass es einen Beweis für b gibt, der von a Gebrauch macht. Man sagt dann, dass b aus a ‚folgt‘ (oder dass a b ‚impliziert‘). Dabei wird a auch als Prämisse und b als Konklusion bezeichnet. Ferner nennt man a hinreichende Bedingung für b und b notwendige Bedingung für a. Zur Symbolisierung verwendet man entweder ein Zeichen ähnlich einem liegenden ‚T‘ oder den Doppelpfeil. Notation: a |– b oder a ⇒ b, lies: ‚Aus a folgt b‘. Da es unterschiedliche Logiken gibt, gibt es streng genommen auch unterschiedliche metasprachliche Implikationsbeziehungen. Dies deutet man gelegentlich durch ein Subskript am ‚|–‘ an. So könnte also |–K für den klassischen Ableitbarkeitsbegriff stehen und |–I für den intuitionistischen Ableitbarkeitsbegriff usw. In den meisten Logiken stehen objekt- und metasprachliche Implikation in enger Beziehung zueinander. Dies führte zur Aufstellung des so genannten Deduktionstheorems: Kann man die Aussage ‚Wenn a, dann b‘ beweisen, so folgt b aus a und umgekehrt. Für ‚c ist beweisbar‘ schreibt man auch |– c. Das Deduktionstheorem wird somit wie folgt notiert: ‚|– a → b‘ gilt genau dann, wenn ‚a |– b‘. Dieses Theorem ist sowohl in der klassischen, der intuitionistischen, und auch in der strikten Implikation gültig. Sein Beweis ist allerdings nicht-trivialer Natur. Siehe auch: Bestätigungstheorie; Logik, unscharfe (fuzzy); Logik, intensionale; Logik, intuitionistische und antirealismus; Logik, mehrwertige; Logik, parakonsistente
GEORG SULTAN
Indeterminismus
Siehe: Determinismus und Indeterminismus
Indexikalität
Siehe: Demonstrative und Indexikale
Indische und tibetische Philosophie Einführung Die Menschen Südasiens haben sich bereits mindestens über einen so langen Zeitraum wie die Chinesen und die Europäer mit philosophischen Fragen auseinandergesetzt und ihre Gedanken niedergeschrieben. Als die hellenistischen Philosophen Alexander den Großen auf seinen Feldzügen nach Indien begleiteten und dabei bis in das Indus-Tal am westlichen Rand des heutigen Indien gelangten, waren sie begeistert und überrascht, Inder zu treffen, die wie sie dachten und ein reflektierendes Leben führten, das sie selbst empfahlen. Fast alle philosophischen Beträge in Indien kamen von Menschen, die Kommentare zu bereits bestehenden Texten schrieben oder erzählten. Ein Philosoph zu sein hieß, einen Text zu interpretieren und damit Teil einer mehr oder weniger gut definierten textlichen Tradition zu sein. Wenn man von indischen Philosophen spricht, ist es daher üblich, sie entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu einer philosophischen 793
Indische und tibetische Philosophie
Schule zu identifizieren. Einer Schule anzugehören war eine Frage der Interpretation der grundlegenden Texte, die diese Schule definierten. Auf der allgemeinsten Stufe waren die Inder der klassischen Periode entweder Hindus, Buddhisten oder Jainisten (siehe Buddhistische Philosophie, Indische; Hinduistische Philosophie; Jainistische Philosophie). Zusätzlich zu diesen drei Schulen, die alle in gewissem Sinne religiös waren, gab es eine säkularere Schule der klassischen Periode, deren Anhänger materialistisch und hedonistisch gesonnen waren (siehe Materialismus, indische Schule des). Das Ende der klassischen Periode der indischen Philosophie wird üblicherweise mit der Ankunft der Moslems aus der Türkei und aus Persien am Ende des ersten Jahrtausends identifiziert. Die Beiträge der indischen Moslems erweiterten daraufhin, d.h. während der Zeit des europäischen Mittelalters, den Reichtum der indischen Philosophie (siehe Islamische Philosophie). Die Schrift wurde in Tibet nicht lange nach der Ankunft des Buddhismus aus Indien im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eingeführt. Die früheste tibetische Literatur bestand zum größten Teil aus buddhistischen Texten, die aus indischen Sprachen und aus dem Chinesischen übersetzt wurden. Schließlich wurden auch die Ideen, die dem Bon als der eingeborenen Religion Tibets zugeschrieben werden, aufgeschrieben. Tibetische Philosophen folgten der Gewohnheit der Inder, die ihre Hauptbeiträge in Form geschriebener Kommentare zu früheren Texten beisteuerten. Buddhistische Schlüsselphilosophen aus Tibet sind Sa Skya Pandita (1182–1251), Tsong kha pa blo bzang grags pa (1357–1419), Rgyal tshab dar ma rin chen (1364– 1432), Mkhas grub dge legs dpal bzang po (1385–1438) und Mi bskyod rdo rje (1507–1554).
1. Hinduistische Philosophie 2. Buddhistische und jainistische Philosophie 3. Aussprache von Wörtern des Sanskrit 1. Hinduistische Philosophie Den philosophischen Schulen, die mit dem assoziiert werden, was wir heute Hinduismus nennen, war allen ein Respekt vor der Autorität der Veda (‚Wissen‘) gemeinsam, deren Schriften als die offenbarte Gesamtheit des Wissens galt, und ferner als kosmologische Information, sowie als Kodex sozialer Pflichten. Die Textschulen, die diese Disziplinen in Ableitung von der Veda systematisierten, waren die Mīmām . sā, die Nyāya, die Vaiśes.ika, die Sān.khya und verschiedene weitere Vedānta Schulen (siehe Mīmām. sā; Nyāya-Vaiśes. ika; Sānkhya; Vedānta). In der Bemühung aller dieser Schulen um eine korrekte Interpretation der Veda ist es klar, dass die sprachlichen Fragen in der indischen Philosophie von überragendem Interesse waren (siehe Bedeutung, Indische Theorien der). Dies brachte detaillierte Untersuchungen mit sich, wie Diskussionsgegenstände definiert werden sollen, und wie die entsprechenden Texte zu interpretieren sind. Mit den Fragen der Sprache waren Fragen über die Erkenntnis im Allgemeinen eng verbunden, sowie zu ihren Quellen (siehe Erkenntnistheorie, Indische Schulen der). Die beiden wichtigsten Erkenntnisquellen, die von den indischen Philosophen diskutiert wurden, waren die Wahrnehmung und die Schlussfolgerung, wobei die Theorie des Schließens in Indien bei der Entwicklung der Logik wichtig war (siehe Sinneswahrnehmung, Indische Sichtweisen der). Ein weiterer Gegenstand, über den
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Indische und tibetische Philosophie
indische Denker viel zu sagen hatten, war das Problem, wie die Abwesenheit von etwas gewusst werden kann. Wegen der Bedeutung der Schriften und der religiösen Lehrer diskutierten die Erkenntnistheoretiker in Indien die Frage der Autorität von Texten und die Frage der Verlässlichkeit von Information, die durch die menschliche Sprache weitergegeben wird (siehe Zeugnis in der indischen Philosophie). In der indischen Philosophie sind diese Fragen zusammen mit der Erkenntnistheorie häufig eng mit Fragen der menschlichen Psychologie verknüpft. Die meisten Schulen der indischen Philosophie bieten nicht nur eine Erkenntnistheorie, sondern auch eine Ontologie an. Viele behaupteten einen personalen Schöpfergott oder eine unpersönliche Gottheit. Die Frage, wie einzelne Dinge vermittels schöpferischen Handelns oder durch unpersönliche Naturgesetze ins Dasein kommen, war Gegenstand bemerkenswerter Debatten (siehe Kausalität, indische Theorien der). Indische Denker debattierten auch das genaue Wesen der Materie, den ontologischen Status der Universalien, und wie Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden. Zusätzlich zur Erkenntnistheorie und Metaphysik war das dritte, fasst immer von den indischen systematischen Philosophen kommentierte Gebiet jenes der Fragen betreffend die Natur des Menschen. Dies schloss auch Gedanken über die Vielzahl ethischer Fragen und die Belohnungen bei Führung eines ethischen Lebens ein (siehe Pflicht und Tugend, Indische Konzeptionen der). Während die meisten Denker sich mit der Individualethik beschäftigten, widmeten sich einige auch der Frage des kollektiven Verhaltens und der Politik. Die hinduistische Tradition brachte eine Reihe wichtiger einzelner Philosophen hervor. Unter den frühesten herausragenden indischen Philosophen sind der politische Theoretiker Kaut. ilya (4. Jahrhundert v.Chr.) und der Grammatiker und Sprachphilosoph Patañjali (2. Jahrhundert v.Chr.). Der legendäre Gründer der Nyāya-Schule, Aks. apāda Gautama, wird traditionell als der Autor einer Gruppe von Aphorismen betrachtet, von denen moderne Gelehrte meinen, dass sie im 2. oder 3. Jahrhundert zusammengestellt wurden. Diese Aphorismen weisen die grundlegenden ontologischen Kategorien und erkenntnistheoretischen Prinzipien aus, denen sich nicht nur die Nyāya-Schule anschloss, sondern auch viele andere. Der Sprachphilosoph Bhartr. hari (5. Jahrhundert) entwickelte eine komplizierte Idee, nach der der grundlegende Stoff, aus dem das gesamte Universum gemacht ist, eine Intelligenz in der Form einer Bereitschaft zum Gebrauch von Sprache ist. Vātsyāyana (5. Jahrhundert) und Uddyotakara (6. Jahrhundert) waren beide Kommentatoren des Gautama. Der Vedānta-Systematiker S.an.kara (8. Jahrhundert) schrieb, dass die Verwirklichung der zugrunde liegenden Einheit aller Dinge in der Form des Brahman einen Menschen befreien kann. Der Ästhetiker Abhinavagupta (10.–11. Jahrhundert) machte die Erziehung der Gefühle durch eine Kultivierung der ästhetischen Sensibilität zur Grundlage der Befreiung von den Wirren des Lebens. Udayana (11. Jahrhundert) aus der Nyāya-Schule entwickelte wichtige Argumente für die Existenz Gottes. Rāmānuja (11. Jahrhundert) und Madhva (13. Jahrhundert), . beide Vedāntins, entwickelten Systeme, die zu ernsthaften Konkurrenten des Śan kara-Monismus wurden. Die Arbeit des Logikers Gageśa (14. Jahrhundert), der die klassischen Systeme der Logik und der Erkenntnistheorie überarbeitete, wurde zum Gründungswerk für eine wichtige neue Denkschule, die Navya-Nyāya (‚Neue Nyāya‘). Mādhava (14. Jahrhundert) 795
Indische und tibetische Philosophie
und Vallabhācārya (15. –16. Jahrhundert) setzten diese Fortschritte in der logischen Theorie durch Anschluss an das Werk von Gageśa fort. Ebenfalls wichtig im 16. Jahrhundert waren zahlreiche Denker, die den religiösen Denker Caitanya kommentierten. Und schließlich gab es auch viele Denker und Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, einer Zeitspanne, in der indische Intellektuelle darum kämpften, die traditionelle indische Denkweise mit der europäischen und speziell den britischen Einflüssen zu versöhnen. 2. Buddhistische und jainistische Philosophie Wie schon die hindustische Philosophie, so neigten auch die buddhistische und die jainistische Philosophie in Indien dazu, die Philosophie durch Kommentare zu bestehenden Texten weiter zu treiben. Der Jainismus wurde von Mahāvīra gegründet und ist für seine Methode bekannt, jede Frage von jedem möglichen Standpunkt aus zu betrachten. Die hauptsächlich buddhistische Überlieferung, die bedeutende philosophische Diskussionen enthielt, versuchte die Lehren zu systematisieren, die in verschiedenen Textsammlung enthalten waren, und von denen man glaubte, es handele sich um die Worte Buddhas. Eine wichtige Frage für buddhistische Denker war es, so wie für die meisten indischen Philosophen, die Gründe für Unzufriedenheit zu untersuchen und eine Methode zur Beseitigung des Unglücks vorzuschlagen, wobei das Ende des Leidens ein Zustand sein sollte, der als nirvān. a bezeichnet wurde. Eine für die Mādhyamika-Schule besonders interessante Lehre war, dass alles bedingt ist und daher keine Unabhängigkeit aufweist. Einige Buddhisten entwickelten die Sichtweise, dass die bedingte Welt so vorübergehend ist, dass sie verschwindet und in jedem Moment wieder erschaffen wird (siehe Augenblicks, buddhistische Lehre des). Auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie wiesen einige Buddhisten das hinduistische Vertrauen in die Autorität der Veda zurück. Die buddhistische Tradition schenkte Indien eine Reihe wichtiger Philosophen, beginnend mit dem Gründer der Religion, dem Buddha (5. Jahrhundert v.Chr.). Der erste wichtige buddhistische Philosoph, der in Sanskrit schrieb, und der traditionell als der Gründer der Mādhyamika-Schule betrachtet wird, war Nāgārjuna (2. – Jahrhundert). Ein Hauptkommentator sowohl der A bhidharmika-Schulen, als auch der Yogācāra-Schule war Vasubandhu (5. Jahrhundert). Zwei der wichtigsten buddhistischen Erkenntnistheoretiker und Logiker waren Dignāga (5. Jahrhundert) und Dharmakīrti (7. Jahrhundert). Der Buddhismus verschwand in Nordindien einige Jahrhunderte später. Im 20. Jahrhundert gab es Bemühungen, ihn dort wieder zu beleben, speziell in der Gemeinschaft der zuvor als die ‚Unberührbaren‘ Benannten. Ein bemerkenswerter Führer dieser Gemeinschaft war Bhimrao Ramji Ambedkar.
3. Aussprache von Wörtern des Sanskrit
Das Sanskrit ist eine indo-europäische Sprache, die eng mit dem Griechischen und dem Lateinischen verwandt ist. In Indien wird es in verschiedenen phonetischen Schriften geschrieben, und im Westen ist es üblich, es in der lateinischen Schrift zu schreiben. Viele Buchstaben, die zum Schreiben des Sanskrit verwendet werden, spricht man ähnlich wie im Deutschen, und einige Buchstaben davon mehr wie im Englischen aus. Diese allgemeine Ähnlichkeit betrifft die Buchstaben k, g, j, t, d, n, p, b, m, y, r, l, s, und h. Der Klang des ersten Konsonanten, der wie im englischen church (im deutschen wie ‚tsch‘) klingt, wird durch das einfache ‚c‘ im Sanskrit ausgedrückt. Zu diesen Konsonanten gesellt sich eine Klasse der so genannten re796
Indische und tibetische Philosophie
troflexen Konsonanten, bei denen die Zunge zurückgebogen ist, so dass die untere Seite der Zunge den oberen Kiefer berührt. Diese Konsonanten werden durch Buchstaben mit Punkten unter dem Zeichen dargestellt: t. , d. , n. und s. . Wie im Englischen werden einige Konsonanten stark aspiriert, so dass sie mit einem leichten Luftstoß ausgesprochen werden. Diese Konsonanten werden nicht durch einzelne Buchstaben der indischen Schrift, sondern durch Kombinationen von zwei Buchstaben des lateinischen Alphabets ausgedrückt. Daher wird ‚kh‘ wie das deutsche ‚k‘ in ‚König‘ ausgesprochen, ‚th‘ wie das deutsche ‚t‘ und nicht wie das englische ‚th‘ in thing, ‚dh‘ als weiches ‚d‘ wie im Englischen sad (‚traurig‘), und ‚ph‘ wie das deutsche ‚p‘, und nicht etwa wie das griechische phi in ‚Philosophie‘. Der Buchstabe . ‚ś‘ wird wie im Deutschen das ‚sch‘ in ‚Schule‘ ausgesprochen. Der Buchstabe ‚n ‘ wird als ‚ng‘ wie bei deutlicher Aussprache des Wortes ‚Finger‘ ausgesprochen, oder auch als ‚nk‘ wie in ‚Fink‘, während ‚ñ‘ wie das spanische ‚ñ‘ in España ausgesprochen wird. Vokale klingen ähnlich wie im Spanischen oder im Italienischen. Die Vokale mit einem Makron (ā, ī und ū) klingen doppelt so lange wie ihre unmarkierten Äquivalente. Der Vokal ‚r. ‘ wird mit der Zungenspitze an den Kiefer erhoben ziemlich genau wie das englische Schluss-‚er‘ z.B. in ‚Carter‘ ausgesprochen. Die Diphtonge ‚ai‘ und ‚au‘ spricht man wie im Deutschen ‚ei‘ bzw. ‚au‘. Akzente liegen meistens auf der drittletzten Silbe; daher klingt der Name ‚Śān. kara‘ wie ‚SCHAN-ka-ra‘, und nicht etwa ‚schan-KA-ra‘. Wenn die vorletzte Silbe lang ist, dann ist sie akzentuiert: ‚Dignāga‘ wird ‚dig-NAA-ga‘ ausgesprochen. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, Chinesische
Anmerkungen und weitere Lektüre: Mohanty, J.N. (1992): ‚Reason and Tradition in Indian Thought. An Essay on the Nature of Indian Philosophical Thinking‘, Oxford: Clarendon Press. (Eine
umsichtige Untersuchung der Hauptfragen der indischen Philosophie.) Powers, J. (1995): ‚Introduction to Tibetan Buddhisms‘. Ithaca, NY: Snow Lion Publications. (Ein nützlicher Überblick der Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus und der Bon-Tradition.) Raju, P.T. (1985): ‚Structural Depths of Indian Thought‘. Albany, NY: State University of New York Press. (Ein guter Überblick über unterschiedliche Schulen der indischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart.) RICHARD P. HAYES
Indirekte Rede
Die indirekte Rede ist eine Weise der Sprachberichts, wobei ein Sprecher den Inhalt der Äußerung eines anderen weitergibt, ohne die tatsächlichen Worte als Zitat kenntlich zu machen. Wenn also Peter sagt, ‚Paris ist schön‘, so kann ein deutscher Sprecher richtigerweise sagen: (1) Peter sagt, dass Paris schön sei. Im Deutschen (und vielen anderen europäischen Sprachen) haben Sätze in der indirekten Rede oft die Form ‚A sagte, dass x‘, wobei sich A auf eine Person bezieht, und x wird oft der ‚Inhaltssatz‘ des Berichts genannt. Im Deutschen verlangt die indirekte Rede ferner den Konjunktiv; dies gilt jedoch nicht für das Englische. Sätze in indirekter Rede wurden der Klasse der Zuschreibungen von Überzeugungen (und anderen psychischen Zuständen) zugeschlagen, wobei offenkundig 797
Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der
war, dass hier ein Konflikt mit dem ‚Prinzip der gegenseitigen Ersetzbarkeit bezugsgleicher Terme‘ besteht, das besagt, dass der Wahrheitswert eines Satzes sich nicht ändert, wenn ein Term in einem Satz durch einen anderen ersetzt wird, der sich auf dasselbe bezieht. Wenn (1) wahr ist und ‚Paris‘ und ‚Stadt des Lichts‘ sich auf dieselbe Sache beziehen, dann kann der Satz immer noch falsch sein: (2) Peter sagt, dass die ‚Stadt des Lichts‘ schön ist. GABRIEL SEGAL
Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Siehe: Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften
Induktion, erkenntnistheoretische Fragen der
Gegeben sei die folgende Behauptung: (1) Es werden regelmäßig Smaragde geschürft und schon seit Jahrhunderten betrachtet. Es gibt zwar noch Smaragde, die noch niemand gesehen hat, aber jeder bislang gesehene Smaragd war grün. Es ist einfach einzusehen, warum wir (1) als evident oder sogar wahr betrachten, denn: (2) Jeder Smaragd, der in den vergangenen 100 Jahren betrachtet wurde, war grün. Behauptung (1) impliziert logisch Satz (2): Es gibt keine Möglichkeit, auf die (1) wahr sein kann, ohne dass auch (2) wahr ist. Weniger leicht zu sehen ist, warum wir meinen sollten, dass (1), sofern wahr, eine Evidenz für folgenden Satz darstellt: (3) Alle bislang unbeobachteten Smaragde sind ebenfalls grün. Behauptung (1) impliziert nicht Satz (3): Die Behauptung, dass Satz (3) falsch ist, ist ebenfalls konsistent mit Behauptung (1). Es könnte nämlich sein, dass die Reihe der Funde grüner Smaragde einfach abreißt. Gleichwohl betrachten wir (1) als evident dafür, sofern wahr, dass auch Satz (3) wahr ist. Gibt es einen Grund, der diese Annahme rechtfertigt? Die Beantwortung dieser Frage wäre der erste Schritt auf dem Wege zur Lösung des so genannten ‚Problems der Induktion‘, allerdings auch nur ein erster Schritt. Es gibt zumindest oberflächlich weit gestreute Argumente, die alle auf die ins Auge springenden Merkmale des Schlusses aus Behauptung (1) zu Satz (3) eingehen: deren Prämisse impliziert logisch nicht ihre Schlussfolgerung, obwohl wir meinen, dass die Prämissen, wenn sie wahr sind, zumindest einige Evidenz dafür zeigen, dass die Schlussfolgerung wahr ist. Eine voll entwickelte Lösung des Induktionsproblems müsste uns für jedes dieser Argumente sagen, was unsere Auffassung rechtfertigt, diese Prämissen dergestalt als evident zu betrachten, dass die Schlussfolgerung wahr ist. Die Frage, wie dieser Schritt auszusehen hat, steht im Zentrum intensiver philosophischer Forschung, und die in diesem Beitrag angedeuteten Ansätze gehören dabei zu den wichtigsten. Siehe auch: Bestätigungstheorie; Induktiver Schluss MARK KAPLAN
Induktive Übereinstimmung
Siehe: Bestätigungstheorie; Whewell, William
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Induktiver Schluss
Induktiver Schluss Einführung Entsprechend einer langen Tradition ist ein induktiver Schluss eine Schlussfolgerung von einer Prämisse der Form ‚alle beobachteten A sind B‘ auf eine Schlussfolgerung der Form ‚alle A sind B‘. Solche Schlüsse sind deduktiv ungültig, d.h. selbst wenn die Prämisse wahr sein sollte, ist es möglich, dass die Schlussfolgerung falsch ist, denn unbeobachtete A’s können von den beobachteten abweichen. Gleichwohl besteht die Auffassung, dass die Prämisse es vernünftig erscheinen lassen kann, an die Schlussfolgerung zu glauben, selbst wenn nicht sichergestellt ist, dass diese Schlussfolgerung wahr ist. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass es noch viele weitere Schlussmuster gibt, die ebenfalls vernünftige Gründe für einen Glauben an die Schlussfolgerung liefern können, selbst wenn ihre Prämissen die Wahrheit ihrer Schlussfolgerungen nicht garantieren. In der gängigen Anwendung ist es üblich, solche Schlüsse ‚induktiv‘ zu nennen. Man dachte weithin, dass alles Wissen von Tatsachen, die wir nicht beobachtet haben, auf induktiven Schlüssen, ausgehend vom Beobachteten, beruhen. Insbesondere baut alles Wissen der Zukunft aus dieser Perspektive auf Induktionen auf. 1. Paradigmen der Induktion 2. Die Induktion in der Praxis 3. Beweiskraft 4. Schlussfolgerung 1. Paradigmen der Induktion Der Schluss von ‚alle beobachteten A sind B‘ auf ‚alle A sind B‘, der einst als Muster aller induktiven Schlüsse gesehen wurde, heißt (universale) Induktive Verallgemeinerung oder Enumerative Induktion. Ein Standardbeispiel ist der Schluss von allen beobachteten Raben, die alle schwarz waren, darauf, dass überhaupt sämtliche Raben schwarz sind. Die Fehlbarkeit eines solchen Schlusses wird durch die Tatsache illustriert, dass, obwohl alle Schwäne, die von Europäern während des 18. Jahrhunderts gesehen wurden, weiß waren, es schwarze Schwäne in Australien gibt. Einige Autoren, wie z.B. J.S. Mill, argumentierten, dass Induktive Verallgemeinerungen die einzige legitime Art der Induktion sind. Mill war sich jedoch durchaus darüber bewusst, dass andere dachten, es gäbe andere Wege des Schlusses vom Beobachteten aufs Unbeobachtete. Eine Methode, die in der Wissenschaftsphilosophie eine wichtige Rolle spielte, ist die Methode der Hypothese. Bei dieser Methode sind die Prämissen die folgenden: (i) Die Hypothese H impliziert eine Aussage E, die beobachtbare Phänomene beschreibt, und (ii) E ist als wahr beobachtet worden. Die Schlussfolgerung davon ist, dass H wahr ist. In den neuzeitlichen Diskussionen dieser Methode wird sie oft die hypothetisch-deduktive Methode genannt, weil E von der Hypothese H abgeleitet werden soll. Die Methode der Hypothese ist nicht deduktiv gültig, weil falsche Hypothesen auch wahre Konsequenzen haben können. Ihre Verteidiger haben eingewandt, dass ihre Prämissen so beschaffen sein können, dass es trotzdem vernünftig ist, die Schlussfolgerung zu glauben. Descartes lieferte ein Beispiel zur Absicherung dieser Position: wenn wir der Meinung sind, das eine codierte Nachricht sinnvoll wird, 799
Induktiver Schluss
wenn wir jeden Buchstaben durch den jeweils folgenden Buchstaben ersetzen (B für A, C für B etc.), dann werden wir praktisch sicher sein, dass die sich daraus ergebende Mitteilung die wahre Nachricht ist, insbesondere wenn diese Nachricht aus vielen Worten besteht. Die Methode der Hypothese rechtfertigt Schlüsse, die durch Induktive Verallgemeinerungen nie erreicht werden können. Beispielsweise mag man durch die Methode der Hypothese von der Tatsache, dass beobachtbare Phänomene sich so verhalten, als bestünden sie aus Atomen, darauf schließen, dass die Materie aus Atomen besteht. Diese Schlussfolgerung könnte im Wege der Induktiven Verallgemeinerung nur erreicht werden, wenn jemand Fälle von Materie beobachtet hätte, die aus Atomen zusammengesetzt ist, was zu der Zeit, als die meisten Wissenschaftler die Atomtheorie der Materie akzeptierten, noch gar nicht möglich war. Andere gemeinhin als Typen des induktiven Schlusses anerkannte Schlüsse sind: (1) die statistische induktive Verallgemeinerung, in der die Prämisse, dass x Prozent von beobachteten A’s auch B’s gewesen sind, so dass die Schlussfolgerung lautet, x Prozent aller A’s seien B’s; (2) der prädikative Schluss, in dem die Prämissen lauten, dass x Prozent der beobachteten A’s auch B’s gewesen sind, und a ein A ist, und wo die Schlussfolgerung lautet, dass a ein B ist; (3) der direkte Schluss, in dem die Prämissen lauten, dass x Prozent aller A’s auch B’s sind, und dass a ein A ist, und wo die Schlussfolgerung lautet, dass a ein B ist, und (4) der Analogieschluss, in dem die Prämissen lauten, dass bestimmte Einzelgegenstände die Eigenschaften F1, …, Fn haben und a die Eigenschaften F1, …, Fn-1, und wo die Schlussfolgerung lautet, dass a auch die Eigenschaft Fn hat. 2. Die Induktion in der Praxis Es wird allgemein als zulässig angesehen, dass die Beweiskraft eines Induktiven Schlusses umso größer ist, je mehr Beobachtungen dazu gemacht wurden, und je unterschiedlicher diese Beobachtungen waren. Mill betonte auch, dass die Verlässlichkeit einer Induktiven Verallgemeinerung sich stark erhöht, wenn man herausfindet, dass andere, ähnliche Verallgemeinerungen ebenfalls gelten. Umgekehrt meinte er, dass unser Wissen von der Verschiedenheit der Gefiederfarbe von Vögeln die induktive Verallgemeinerung auf die Schlussfolgerung untergräbt, dass alle Raben schwarz sind. Aber die Relevanz solcher Überlegungen bedeutet, dass induktive Schlüsse durch die oben aufgezählten, paradigmatischen Formen nicht angemessen wiedergegeben werden, weil die relevante Information in den Prämissen enthalten sein müsste, was dort aber nicht der Fall ist. Aber selbst wenn wir zu den paradigmatischen Schlussformen die gerade erwähnten Informationen hinzufügen würden, so würden sie die induktiven Schlüsse doch immer noch nicht angemessen darstellen, die wir tagtäglich und in der Wissenschaft vollziehen. Man bedenke beispielsweise die induktive Verallgemeinerung auf den Schluss, dass alle Raben schwarz sind. Die Prämisse war, dass alle beobachteten Raben schwarz gewesen sind. Aber durch wen wurden sie beobachtet? Wenn wir sagen, dass sie durch irgendwen beobachtet wurden, dann können wir nicht sicher sein, dass die Prämisse überhaupt richtig ist, und dies sollte unser Vertrauen in die Schlussfolgerung erschüttern, obwohl das Argument hierüber nichts sagt. Wenn wir dagegen sagen, die Raben wurden durch mich selbst beobachtet, dann erwähnt die Prämisse immer noch nicht die wichtige Information, was ich durch das Zeugnis an800
Induktiver Schluss
derer Personen weiß. Außerdem kann ich, wenn die Prämisse sich nur auf meine Beobachtungen stützt, nicht sicher sein, dass diese wahr ist; ich könnte nämlich einen weißen Raben beobachtet haben und irrtümlich geschlossen haben, dass dies kein Rabe war, weil er nicht schwarz war. Daher sollte mein Vertrauen in die Schlussfolgerung davon abhängen, wie genau ich sowohl das geprüft habe, was ich für Raben halte, und welche Dinge ich für nicht-schwarze Gegenstände halte, obwohl nichts davon in den Prämissen zu sehen ist. Ein weiteres Beispiel: angenommen, wir haben einen Gegenstand drei Mal gewogen und erhielten die Gewichtsangaben 4,9 Gramm, 5,0 Gramm und 5,1 Gramm. Aus diesen Ergebnissen könnten wir schließen, dass das wahre Gewicht des Gegenstandes zwischen 4,7 und 5,3 Gramm liegt. Wenn dies in eine der StandardSchlussformen passen soll, so wäre dies ein Fall der Hypothesen-Methode. Aus der Hypothese, dass das wahre Gewicht zwischen 4,7 und 5,3 Gramm liegt, folgt aber nicht, dass die Wiegevorgänge die Ergebnisse zeitigen, die sie tatsächlich brachten. In modernen Darstellungen der hypothetisch-deduktiven Methode sagt man normalerweise, dass die Prämissen nicht nur die Hypothese selbst enthalten, sondern auch die Ausgangsbedingungen, wie z.B., dass der Gegenstand drei Mal gewogen wurde, sowie Hilfshypothesen wie z.B. diejenige, dass der Waagebalken sehr genau ist. Aber selbst mit diesen zusätzlichen Prämissen folgt die Evidenz nicht deduktiv. Da die Tests von Hypothesen in der Wissenschaft typischerweise mit Messungen einhergehen, genügt das vorangehende Beispiel um zu zeigen, dass die Wissenschaft keine große Verwendung für eine Methode hat, die wirklich ‚hypothetisch-deduktiv‘ ist. Wenn aber die induktive Evidenz nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus der Hypothese folgt, dann ist es wichtig, wie hoch diese Wahrscheinlichkeit ist, auch wenn die Methode der Hypothese, so wie sie normalerweise angewandt wird, diese Information innerhalb der Prämisse normalerweise nicht enthält. Wie wir weiter unten sehen werden, ist es ebenfalls wichtig, wie wahrscheinlich die Schlussfolgerung bei konkurrierenden Hypothesen ist, was ein weiterer relevanter Umstand ist, der nicht in den Prämissen der Methode der Hypothese in ihrer Standardform enthalten ist. Schließlich liefert uns unsere Hintergrundinformation fast immer eine ergänzende relevante Information. Beispielsweise haben wir normalerweise eine ungefähre Vorstellung davon, was ein Gegenstand wiegen sollte, und Messungen, die zu stark davon abweichen, werden vermutlich so aufgefasst, dass die Wiegevorrichtung schadhaft ist. Wenn der Gegenstand, der mit 4,9 Gramm, 5,0 Gramm und 5,1 Gramm gewogen wurden, ein voll beladener LKW war, dann werden wir schließen, dass die Wiegevorrichtung einen ernsthaften Fehler haben muss. Die Methode der Hypothesenbildung liefert keine Anleitung dafür, solche relevanten Informationen zu berücksichtigen. 3. Beweiskraft Die Prämissen eines induktiven Arguments können eine mehr oder weniger starke Absicherung der Schlussfolgerung gewähren. Wir wären gerne in der Lage, die Faktoren zu identifizieren, die die Kraft dieser Absicherung bestimmen. Einige Gemeinplätze hierzu haben wir bereits oben erwähnt; diese sind jedoch noch in vieler Hinsicht mangelhaft. Insbesondere sind sie trotz ihrer Vagheit nicht im Allgemeinen wahr. Beispielsweise wird es infolge einer Erhöhung der Fälle von A’s, die als B’s beobachtet wurden, nicht in jedem Falle wahrscheinlicher, dass alle 801
Induktiver Schluss
A’s auch B’s sind. Eine Person, die im Alter von 149 Jahren stirbt, ist jemand, der jünger als 150 Jahre stirbt. Daraus folgt aber keineswegs, dass durch diesen Fall für alle Menschen die Wahrscheinlichkeit, in einem Alter von weniger als 150 Jahren zu sterben, sinkt. In jedem Falle sind solche Gemeinplätze auf die paradigmatischen Formen des induktiven Schlusses beschränkt, die wir bereits als unangemessen zur Abbildung wirklicher induktiver Schlüsse erkannt haben. Aus diesen Gründen haben sich viele zeitgenössische Theoretiker nach strengeren und gleichzeitig flexibleren Rahmen für die Diskussion des Umfanges umgeschaut, in dem induktive Prämissen ihre Schlussfolgerungen absichern können. Wahrscheinlichkeitstheoretiker werden häufig als diejenigen angesehen, die hierfür den Rahmen liefern können. Angenommen, H ist eine Hypothese und E ein Beleg dafür. Ferner sei angenommen, dass P(H) die Wahrscheinlichkeit ist, derzufolge H in Anbetracht der weiteren Information, die wir außer E besitzen, wahr ist. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, die wir H zuordnen sollten, nachdem wir von E Kenntnis erhalten haben, gleich der Wahrscheinlichkeit von H unter der Bedingung von E, was wir als P(H | E) schreiben. Ein Theorem der Wahrscheinlichkeit, ‚Bayes’ Theorem‘ genannt (siehe Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der, § 5), sagt das Folgende (wobei ~H bedeutet: ‚H ist falsch‘): P(H | E) = P(E | H) / (P(E | H) * P(H) + P(E | ~H) * P(~H)) * P(H) Wir sagen, dass H von E bestätigt wird, wenn P(H | E) > P(H). Angenommen P(H) > 0, dann wird H von E genau in dem Falle bestätigt, wo die Division auf der rechten Seite der obigen Gleichung größer als 1 ist. Angenommen P(H) < 1, dann gilt diese Bedingung genau für den Fall P(E | H) > P(E | ~H). Für den Nachweis der Bestätigung einer Hypothese ist es also nicht notwendig, dass der Nachweis aus der Hypothese folgt, und nicht einmal, dass der Nachweis in Anbetracht der Hypothese sehr wahrscheinlich ist. Ein recht unwahrscheinlicher Nachweis unter der Annahme, dass die Hypothese wahr ist, wird die Hypothese bestätigen, wenn der Nachweis noch weniger wahrscheinlich ist für den Fall, dass die Hypothese falsch ist. Eine weitere Folge der obigen Gleichung ist es, dass selbst für den Fall, dass der Nachweis von E die Hypothese H stark bestätigt, daraus noch nicht folgt, dass die Hypothese eine hohe Wahrheitswahrscheinlichkeit aufweist, denn ihre Wahrscheinlichkeit mag in Anbetracht weiterer Informationen recht gering sein. Das heißt: P(H | E) / P(H) kann groß ausfallen, und P(H | E) trotzdem klein, weil P(H) klein ist. Wenn beispielsweise H die Hypothese ist, dass ein beladener Lastwagen nur 5 g wiegt, dann ist P(H) unendlich klein. Die Philosophen beziehen sich oft auf die Methode der Hypothese als ‚Schluss auf die beste Erklärung‘ (siehe Schluss auf die beste Erklärung). Diese Ausdrucksweise hat den Verdienst, die Tatsache festzuhalten, dass der Schluss gerade nicht nur von der Beziehung zwischen Hypothese und Nachweis abhängt, sondern auch davon, in welcher Beziehung andere Hypothesen zu diesem Nachweis stehen. Es wäre allerdings falsch vorzugeben, dass Erklärungen hier eine grundlegende Rolle spielen; wichtig ist bei der Verbindung zwischen dem Nachweis und der Hypothese vielmehr die Wahrscheinlichkeit für den Nachweis in Anbetracht der Hypothese, und diese Wahrscheinlichkeit hängt nicht von dem Grad ab, in dem die Hypothese den Nachweis erklärt (siehe Erklärung; Schluss auf die beste Erklärung). Ferner legt diese Ausdrucksweise irrtümlicherweise nahe, dass die Beweiskraft eines 802
Induktiver Schluss
Schlusses durch die Beziehung zwischen mehreren Hypothesen und dem Nachweis abhängt, wo sie doch in Wirklichkeit auch von der vorangehenden Wahrscheinlichkeit der Hypothesen abhängt. 4. Schlussfolgerung Der induktive Schluss wird traditionell als eine Schlussfolgerung im üblichen Sinne verstanden: auf der Basis der Prämissen, die kategorisch akzeptiert werden, kommt man zur kategorischen Akzeptanz einer weiteren Aussage, nämlich der Schlussfolgerung. Für Autoren wie z.B. Bacon, Whewell und Mill war diese Konzeption unproblematisch. Sie dachten, dass der induktive Schluss in substanziellen Angelegenheiten der Wissenschaften und des täglichen Lebens praktische Gewissheit verschaffen könnte, und dass dort, wo eine solche Gewissheit nicht zu beschaffen war, wir unsere Zustimmung auch nicht geben sollten. Allerdings haben verschiedene Ursachen, insbesondere das Scheitern solcher gut abgesicherter Theorien wie der Newtonschen Mechanik, die zeitgenössischen Autoren davon überzeugt, dass substanzielle induktive Schlussfolgerungen immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind, wovon auch die am besten abgesicherten wissenschaftlichen Theorien nicht ausgenommen sind. Dies führt uns in ein Dilemma: entweder akzeptieren wir nur solche Schlussfolgerungen, die gewiss sind, in welchem Fall es so aussieht, als würden wir nur sehr wenig akzeptieren können und praktisch gar kein induktiver Schluss mehr zulässig wäre, oder aber wir akzeptieren Schlussfolgerungen, die eventuell falsch sind. Einige Autoren, die über die Wahrscheinlichkeit und die Induktion geschrieben haben, vor allem Carnap und Jeffrey, begrüßten die erste Variante dieses Dilemmas. Sie meinten, dass die Induktion nicht als ein Prozess konzipiert sein sollte, durch den wir von einer akzeptierten Aussage zur nächsten schreiten, sondern vielmehr als ein Prozess, durch den wir verschiedenen Hypothesen Wahrscheinlichkeiten im Lichte unserer Beweise zuordnen. Nach diesem Standpunkt sollten wir praktisch niemals induktive Schlussfolgerungen in der Form ziehen, wie sie traditionell konzipiert wurden. Diese Zurückweisung des induktiven Schlusses setzt voraus, dass die Akzeptanz einer Hypothese gleichbedeutend mit der Annahme ist, sie sei mit Gewissheit wahr. Einige Autoren wandten dagegen ein, dass wir die Legitimiät eines induktiven Schlusses bewahren können, wenn wir von der Annahme Abstand nehmen, dass jemand, der eine Hypothese akzeptiert, sie auch als gewiss wahr behandeln muss. Ein verbreiteter Vorschlag lautet, dass die Akzeptanz einer Hypothese lediglich eine Sache des hohen Vertrauens in sie ist, z.B. indem man ihr eine Wahrscheinlichkeit zuschreibt, die einen gewissen Schwellenwert übersteigt. Ein Einwand gegen diesen Standpunkt ist, dass die Menge der Aussagen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen, nicht konsistent ist. Beispielsweise ist in einer erwartungsfreien, großen Lotterie die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein einzelnes Los nicht gewinnen wird, sehr hoch, obwohl wir wissen, dass irgendein Los gewinnen wird. Wenn wir also jede Aussage mit einer hohen Wahrscheinlichkeit akzeptierten, so würden wir eine inkonsistente Aussagenmenge zugrunde legen. Dies nennt man das ‚LotterieParadox‘ (siehe Paradoxa, erkenntnistheoretische). Ein weiterer Einwand gegen die Gleichsetzung von Akzeptanz mit hoher Wahrscheinlichkeit lautet, dass der Infor-
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Infinitistische Logik
mationsgehalt ein Grund für die Akzeptanz einer Hypothese ist, nicht aber dafür, der Hypothese eine hohe Wahrscheinlichkeit zuzubilligen. Zahlreiche Autoren schlugen vor, dass wir die Akzeptanz als eine riskante Entscheidung betrachten und die Entscheidungs- und Spieltheorie anwenden sollten, um sagen zu können, wann die Akzeptanz rational begründbar ist (siehe Entscheidungs- und Spieltheorie). Der Gedanke dahinter ist, dass die Akzeptanz einen gewissen kognitiven Nutzen hat, der größer ist, wenn die akzeptierte Aussage wahr ist, als wenn sie falsch ist. Die Akzeptanz einer Hypothese ist rational, zumindest in dem Umfange, wie dies die Erkenntnisziele betrifft, wenn sie den erwarteten Erkenntnisnutzen maximiert. Der Erkenntnisnutzen bei der Akzeptanz einer wahren Hypothese ist um so höher, je informativer die Hypothese ist, und deshalb ist in dieser Auffassung Platz sowohl für die Wahrscheinlichkeit, als auch für den Informationsgehalt bei der Bestimmung der Rationalität eines induktiven Schlusses. Einige Fassungen dieses Ansatzes meinen, dass die Akzeptanz auch Gewissheit impliziert, während andere nicht davon ausgehen. Siehe auch: Chinesische Philosophie; Bestätigungstheorie; Konfuzianische Theorie, Chinesische; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Reichenbach, H.; Statistik Anmerkungen und weitere Lektüre: Fraassen, B.C. van (1989): ‚Laws and Symmetry‘. Oxford: Clarendon Press. (Die Kapitel 6 und 7 dieses Buches diskutieren den Schluss auf die beste Erklärung.) Skyrms, B. (1986): ‚Choice and Chance‘. Belmont, Kalifornien: Wadsworth, 4. Aufl. (Eine elementare zeitgenössische Einführung in die Induktion, die Wahrscheinlichkeit und die Entscheidungstheorie.) PATRICK MAHER
Infinitistische Logik
Eine infinitistische Logik entsteht aus einer gewöhnlichen Logik erster Ordnung, wenn man zulässt, dass eine oder mehrere ihrer finitistischen (d.h. auf einer endlichen Anzahl von Operationen beruhenden) Eigenschaften unendlich werden, z.B. durch Zulassung unendlich langer Formeln oder unendlich lang oder unendlich verzweigter Beweisfiguren. Der Bedarf, die Logik erster Ordnung in dieser Weise zu erweitern, wurde in den 1950er Jahren dringend, als man erkannte, dass viele der grundlegenden Begriffe der Mathematik in der Logik erster Ordnung nicht auf eine Weise ausgedrückt werden können, die eine logische Analyse ermöglich. Weil infinitistische Logiken oft nicht unter denselben Beschränkungen leiden, sind sie zu einem wesentlichen Hilfsmittel der mathematischen Logik geworden. BERND BULDT
Informationstheorie
Die Informationstheorie wurde 1948 durch Claude Shannon als eine statistische Analyse von Faktoren begründet, die die Übertragung von Nachrichten durch Kommunikationskanäle betreffen. Unter den grundlegenden Begriffen, die innerhalb dieser Theorie definiert werden, ist auch jener der Information (der Betrag an Ungewissheit, der durch das Eintreten eines Ereignisses beseitigt wird), der Entropie (der durchschnittliche Betrag an Information, die durch Ereignisse an der Quelle eines Kanals repräsentiert wird), und des Irrtums (das ‚Rauschen‘, das eine verlässliche Übertragung von Nachrichten durch einen Kanal verhindert). Die Informationsthe804
Ingarden, Roman Witold (1893–1970)
orie hat sich als wesentlich bei der Entwicklung von Raumsonden, Hochgeschwindigkeitsrechnern und modernen Kommunikationssystemen erwiesen. Die Information, die von Shannon untersucht wurde, unterscheidet sich scharf von der Information im Sinne von Wissen oder dem Inhalt von Aussagen. Sie unterscheidet sich ferner auch von den meisten Verwendungen dieses Wortes in der populären Presse (‚Informationsgewinnung‘, ‚Informationsprozesse‘, ‚InformationsHighway‘ etc.). Während Shannons Arbeit starken Einfluss auf die akademische Psychologie und Philosophie hatte, war ihre Rezeption in diesen Disziplinen doch eher oberflächlicher Natur. Für die zeitgenössische Philosophie ist es dagegen ein größeres Problem, die statistische Konzeption der Informationstheorie in Beziehung zur Information im semantischen Sinne von Wissen und Aussageninhalt zu setzen. KENNETH M. SAYRE
Ingarden, Roman Witold (1893–1970)
Ingarden war einer der führenden Vertreter der Phänomenologie, und gleichzeitig einer der herausragendsten polnischen Philosophen seiner Zeit. Er steht für einen objektivistischen Ansatz innerhalb der Phänomenologie, weil er betonte, dass die Phänomenologie eine Vielzahl von Methoden anwendet, entsprechend der Vielzahl von existierenden Gegenständen, und damit ein ursprüngliches kognitives Verständnis dieser Gegenstände anstrebt. Das Ziel der Phänomenologie sei es, das Wesen eines Gegenstandes mittels einer Analyse der Inhalte geeigneter Vorstellungen davon zu erfassen, und die Ergebnisse dieser Analyse in eine klare Sprache zu übertragen. Ingarden wandte seine Methoden auf viele Gebiete der Philosophie an. Er entwickelte eine pluralistische Theorie des Seins und eine Erkenntnistheorie, dies es ermöglicht, sich in dieser Disziplin auf undogmatische Weise zu bewegen und den Wert menschlicher Erkenntnis zu verteidigen. In der Werttheorie entwickelte er einen inspirierenden Ansatz zur Analyse traditionell problematischer Themenkreise. Sehr bekannt wurden seine Arbeiten zur Ästhetik, in denen er die Struktur vieler Arten von Kunstwerken analysierte, aber auch das Wesen der ästhetischen Erfahrung, die Kognition von Kunstwerken und den objektiven Charakter ästhetischer Werte. Allgemein gab er der Phänomenologie einen klaren und präzisen Umriss. In der Zwischenkriegsperiode war Ingarden in Polen der Hauptwidersacher der herrschenden Lwów-Warschau-Schule (Polnische Analytische Schule), die eher minimalistisch orientiert war. Die Schwerpunkte seiner eigenen Forschungsvorhaben zeigten sich hauptsächlich als das Ergebnis seiner kontinuierlichen Debatten mit Husserl, speziell jene, die den Husserlschen transzendentalen Idealismus zum Gegenstand hatten. Ingardens bekanntestes Werk, ‚Das literarische Kunstwerk‘ (1931), hat seine Ursprünge in dieser Auseinandersetzung. Siehe auch: Phänomenologische Bewegung ANTONI B. STĘPIEŃ (aus dem Polnischen von PIOTR GUTOWSKI)
Inhalt, Nichtbegrifflicher
Wer sagt, ein mentaler Zustand habe einen intentionalen Gehalt (Inhalt), der sagt, dass dieser Zustand Merkmale der Welt repräsentiert. Der intentionale Gehalt einer Überzeugung kann in Form von Begriffen charakterisiert werden: der Inhalt der Überzeugung, dass ein Fisch schwimmt, ist gekennzeichnet durch die Begriffe ‚Fisch‘ und ‚schwimmen‘. Die Überzeugungsinhalte werden aus diesem Grunde oft als ‚begrifflich‘ beschrieben. Eine Möglichkeit zur Erklärung dieser Vorstellung be805
Inkommensurabilität
steht darin zu sagen, von etwas überzeugt zu sein bedeute, dass jemand Begriffe hat von dem, was den Inhalt seiner Überzeugung kennzeichnet. Einige Philosophen meinen jedoch, dass gewisse mentale Zustände nichtbegrifflichen Inhalts seien; diese Zustände repräsentieren die Welt, ohne das ihr Träger Begriffe davon habe, was ihren Inhalt kennzeichnet. Die Hauptbeispiele für diese behaupteten Zustände sind die bewusste Wahrnehmungserfahrung und die nicht bewussten Zustände der kognitiven Informationsverarbeitungssysteme (wie beispielsweise das visuelle System). TIM CRANE
Inhalt: ‚weiter‘ und ‚enger‘
Ein zentrales Problem der Philosophie ist es, auf konsistente Weise hinsichtlich ihrer kausalen Wirksamkeit zu erklären, wie mentale Zustände Sachverhalte der Welt repräsentieren können. Beispielsweise können der Wunsch nach Wasser und der Gedanke, dass sich dort im Wasserhahn etwas von diesem Stoff befindet, jemanden dazu bringen, den Hahn aufzudrehen. Die Inhalte dieser mentalen Zustände gehören zu Dingen in der Welt (hier: das Wasser und der Hahn), und doch scheint es, dass der kausale Zusammenhang allein von ihren inneren Merkmalen abhängen, und nicht von ihren externen Beziehungen. Das heißt, eine Person könnte sich genau in diesen Zuständen befinden, und diese Zustände könnten dieselben psychologischen Rollen spielen, selbst wenn es kein Wasser und auch keinen Hahn gäbe, auf den man sich beziehen könnte. Dennoch haben gewisse Argumente, die auf einigen einfallsreichen Gedankenexperimenten beruhen, viele Philosophen davon überzeugt, dass Gedankeninhalte doch von externen Faktoren abhängen, und zwar sowohl von physischen, als auch von sozialen. Eine verlockende Lösung dieses Dilemmas war es anzunehmen, dass es zwei Arten von Inhalten gibt, nämlich den ‚weiten‘ und den ‚engen‘. Weite Inhalte umfassen die Verweisungsbeziehungen, die mentale Zustände zu Dingen und ihren Eigenschaften unterhalten. Enge Inhalte umfassen die bestimmenden psychologischen Faktoren. Unter Philosophen wurde diskutiert, ob beide Begriffe vom Inhalt eines mentalen Zustands wirklich brauchbar sind, und wenn dies der Fall ist, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Siehe auch: Holismus: Mentaler und semantischer; Methodologischer Individualismus; Semantik KENT BACH
Inkommensurabilität
Wenn eine wissenschaftliche Theorie oder Tradition durch eine andere in Form einer wissenschaftlichen Revolution ersetzt wird, so ändern sich die Bedeutungen der beteiligten Begriffe häufig auf grundlegende Weise. Beispielsweise hängt, neben anderen Unterschieden, die Masse eines Gegenstandes in der Newtonschen Mechanik nicht von ihrer Geschwindigkeit ab, während sich die Masse in der relativistischen Mechanik, sobald sich deren Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit näher, vergrößert. Frühere Wissenschaftsphilosophen meinten, dass die Einsteinsche Mechanik sich unterhalb hoher Geschwindigkeiten auf die Newtonsche Mechanik reduziert. Thomas Kuhn und Paul Feyerabend eröffneten dagegen eine konkurrierende Sicht der Dinge. Kuhn wandte ein, dass unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen durch ihr Festhalten an jeweils unterschiedlichen Mengen von Paradigmen gekennzeichnet sind, d.h. durch grundlegende Perspektiven, die unsere substanziellen Überzeugungen über die Welt formen oder bestimmen, darüber hinaus 806
Intensionale Entitäten
aber auch Methoden, Probleme, Standards der Lösung oder Erklärung von Problemen, bis hin zu dem, was überhaupt als Beobachtung oder Tatsache zählt. Wissenschaftliche Revolutionen (d.h. Paradigmenwechsel) verändern all dies grundlegend und führen zu so abweichenden Perspektiven, dass die Bedeutung von Worten, die gleich aussehen und klingen, in der postrevolutionären Tradition ausdrücklich eine andere ist als davor. Daher sind nach Kuhn und Feyerabend die Begriffe der Masse, die in der Newtonschen und der Einsteinschafen Tradition gebildet wurden, zueinander inkommensurabel, d.h. zu verschieden, um überhaupt miteinander verglichen werden zu können. Die These, dass Ausdrücke in unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen und Gemeinschaften fundamental unterschiedlich sind, und die Änderungen, die sich aus dieser These ergeben, wurden bekannt als die ‚Inkommensurabilitätsthese’. DUDLEY SHAPERE
Intensionale Entitäten
Intensionale Entitäten sind solche Dinge wie Begriffe, Aussagen und Eigenschaften. Das ‚intensionale‘ an diesen Dingen ist, dass sie das Prinzip der Extensionalität verletzen, d.h. das Prinzip, demzufolge Äquivalenz die Identität impliziert. Beispielsweise ist der Begriff des ‚wohlgeformten Menschen‘ als eines solchen, das über eine Niere verfügt, und der Begriff des ‚wohlgeformten Menschen‘, das über ein Herz verfügt, insofern äquivalent, als sie auf dieselben Dinge anwendbar sind. Gleichwohl handelt es sich dabei um verschiedene Begriffe. Entsprechend sind Aussagen, nach denen Geschöpfe mit Nieren über Nieren verfügen mit Aussagen, nach denen Geschöpfe mit Herzen über Herzen verfügen, äquivalent, weil beide wahr sind. Gleichwohl sind beide nicht identisch. Intensionale Entitäten stehen im Gegensatz zu extensionalen Entitäten wie z.B. Mengen, die das Prinzip der Extensionalität erfüllen. Beispielsweise sind die Menge der Menschen mit Gehirnen und die Menge der Menschen mit Herzen insofern äquivalent, als sie dieselben Elemente haben und folglich identisch sind. Infolge dieses Standardkriteriums ist jeder der folgenden philosophisch wichtigen Identitätstypen intensional: Qualitäten, Attribute, Eigenschaften, Beziehungen, Bedingungen, Zustände, Begriffe, Vorstellungen und Denkbilder, Aussagen und Gedanken. Alle (oder zumindest die meisten) dieser intensionalen Entitäten wurden irgendwann als Arten von Universalien klassifiziert. Entsprechend gelten die traditionellen Standardauffassungen über den ontologischen Status der Universalien auch für die intensionalen Entitäten. Die Nominalisten meinen, dass sie nicht wirklich existieren. Die Konzeptualisten akzeptieren ihre Existenz, halten sie dafür für geistabhängig. Die Realisten meinen wiederum, dass sie geistunabhängig seien. Ante-rem-Realisten gehen davon aus, dass sie unabhängig davon bestehen, ob sie von irgendetwas als wahr ausgesagt werden können, und die In-Re-Realisten fordern, dass sie von irgendetwas wahr aussagbar sein müssen, um zu bestehen. Siehe auch: Intensionale Logik; Nominalismus; Logik zweiter Ordnung, Philosophische Fragen der GEORGE BEALER
Intensionale Logik
Intensionale Logiken sind Systeme, die die Intension eines Ausdrucks (kurz gesagt: sein Sinn oder seine Bedeutung) von seiner Extension (dem außersprach807
Intensionalität
lichen Bezug auf das, was bezeichnet wird) unterscheiden. Der Zweck, weshalb die Intension in die Logik gebracht wird, besteht darin, das logische Verhalten von so genannten intensionalen Ausdrücken zu erklären. Intensionale Ausdrücke erzeugen Kontexte, die eine Gruppe von Standardprinzipien der Logik verletzen, von denen das berühmteste das Gesetz der Ersetzung des Identischen ist, also das Gesetz, demzufolge aus ‚a = b‘ und der Wahrheit von P(a) folgt, dass P(b). Beispielsweise ist der Ausdruck ‚offensichtlich‘ intensional, weil die folgende Anwendung des Substitutionsgesetzes ungültig ist (zumindest in einer Lesart): Jemand behauptet, Scott = der Autor des Romans Waverly; offensichtlich ist Scott = Scott; also ist offensichtlich, dass Scott = der Autor von Waverly. (Dies ist ein Beispiel, das von B. Russell gebracht wurde. Es macht klar, dass eine Behauptung nicht dadurch verifiziert werden kann, dass man den ersten Term einer Relation mit sich selbst gleich setzt und daraus die Wahrheit der gesamten Relation ableitet.) Durch eine Bedeutungsanalyse versucht die intensionale Logik das logische Verhalten von Ausdrücken wie z.B. ‚offensichtlich‘ zu erklären. Aufbauend auf der Annahme, dass es die Intensionen sind, und nicht die Extensionen, die den Ausschlag in intensionalen Kontexten geben, kann man das Versagen der Substitution und ähnliche Anomalien verstehen. Alonzo Church war ein Pionier der intensionalen Logik, die er auf seiner Theorie der Typen aufbaute. Die ausgedehnte Anwendung der intensionalen Logik auf die Linguistik und die Philosophie begann jedoch mit der Arbeit von Richard Montague, der eine Reihe von Systemen konstruierte, um die Ausdruckskraft der natürlichen Sprachen zu erfassen. Ein wichtiges Merkmal von Montagues Arbeit war die Anwendung der Mögliche-Welten-Semantik auf die Analyse der intensionalen Logik. Die schwierigsten Probleme der intensionalen Logik betreffen die Behandlung von Verben der propositionalen Einstellung (engl.: propositional attitude) wie z.B. ‚glauben‘, ‚wünschen‘ und ‚wissen‘. Solche Ausdrücke stellen Schwierigkeiten für die Behandlung innerhalb der Mögliche-Welten-Semantik dar und haben zur Entwicklung alternativer Ansätze geführt. Siehe auch: Intensionalität; Intensionale Entitäten JAMES W. GARSON
Intensionalität
Die Wahrheit oder Falschheit vieler Sätze hängt nur davon ab, über welche Dinge man redet. In intensionalen Kontexten hängen die Wahrheitswerte aber auch davon ab, wie man über diese Dinge redet, und nicht nur davon, was sie für Dinge sind. Philosophen und Logiker haben unterschiedliche Analysen der intensionalen Kontexte und des Verhaltens von Ausdrücken, die darin erscheinen, vorgestellt. Die Extension eines Ausdrucks ist das Ding oder die Dinge, die durch diesen Ausdruck bezeichnet werden. Beispielsweise ist die Extension von ‚Der Große Bär‘ genau diese Sternenkonstellation. Die Intension eines Ausdrucks kann man sich als die Art und Weise denken, wie die Extension gebildet wird. ‚Der Morgenstern‘ und ‚der Abendstern‘ haben dieselbe Extension, nämlich einen bestimmten Planeten, den sie allerdings auf verschiedene Weise aufgreifen. Folglich haben beide Ausdrücke unterschiedliche Intensionen. Es wurde viel darüber debattiert, wie wir den Gedanken der Intension wirklich zu verstehen haben (siehe Intensionale Entitäten). In vielen Klassen von Sätzen bleibt der Wahrheitswert nach einer Ersetzung des einen Ausdrucks durch einen anderen mit derselben Extension unverändert, unabhängig davon, ob die beiden Ausdrücke dieselbe Intension haben. Dies nennt 808
Intensionalität
man die ‚Austauschbarkeit salva veritate‘ (unter Bewahrung des Wahrheitswertes). Beispielsweise ist es wahr, dass für den Fall, dass der Morgenstern der erdnächste Planet in Richtung Sonne ist, es ebenfalls wahr ist, dass der Morgenstern ebenfalls der erdnächste Planet in Richtung Sonne ist. In einer Reihe wichtiger Fälle sind jedoch Ausdrücke mit derselben Extension, aber unterschiedlichen Intensionen nicht miteinander salva veritate austauschbar. Man bedenke beispielsweise: (1) Thomas glaubt, dass der Morgenstern der erdnächste Planet in Richtung Sonne ist. (2) Thomas glaubt, dass der Abendstern der erdnächste Planet in Richtung Sonne ist. Es ist durchaus möglich, dass Thomas irrtümlicherweise glaubt, der Ausdruck ‚Morgenstern‘ beziehe sich auf einen ganz anderen Planeten als der Ausdruck ‚Abendstern‘, beispielsweise auf den Jupiter. In diesem Falle wäre unter Zugrundelegung seiner Bezugnahme (1) wahr und (2) falsch. Koextensive Ausdrücke können innerhalb des Geltungsbereichs des Verbs ‚glauben‘ nicht salva veritate untereinander ausgetauscht werden. Solche Kontexte heißen intensional. Andere Verben, die wie ‚glauben‘ auf propositionale Einstellungen verweisen, z.B. ‚hoffen‘, ‚wünschen‘, ‚fürchten‘ etc., erzeugen ebenfalls intensionale Kontexte. Propositionale Einstellungen sind intentionale Zustände (man beachte das zweite, unterscheidende ‚t‘!). Dies brachte einige Autoren darauf, über die möglichen Verbindungen zwischen der Intensionalität und der Intentionalität nachzudenken (siehe Intentionalität). Beide Begriffe muss man allerdings sorgfältig unterscheiden, nicht zuletzt deshalb, weil intensionale Kontexte auch durch nicht-psychologische Ausdrücke erzeugt werden, zu denen vor allem die modalen Terme wie ‚notwendigerweise‘ und ‚möglicherweise‘ gehören. Die Intensionalität modaler Kontexte bringt spezielle Schwierigkeiten mit sich, wenn diese auch mit Quantifizierungen verbunden ist. Diese Probleme führten wiederum zu Kontroversen über die Interpretation nicht nur der modalen Terme, sondern auch der Quantoren (siehe Quantoren, substituierende und gegenständliche). Das Versagen der Austauschbarkeit salva veritate wirft Fragen hinsichtlich des Verhaltens von Ausdrücken in intensionalen Kontexten auf. Frege behauptete, dass der Ausdruck ‚Morgenstern‘ in intensionalen Kontexten sich in (1) nicht auf die Venus im üblichen Sinne bezieht, sondern in Form seiner eigenen Intension (oder, in Freges Terminologie, als der Sinn dieses Ausdrucks) (siehe Eigennamen; indirekte Rede; Sinn und Bedeutung). Quine beschreibt die intensionalen Kontexte als referentiell undurchsichtig, womit er meint, dass die in ihnen auftauchenden Ausdrücke sich auf überhaupt nichts beziehen. Davidsons parataktische Analyse von Aussagen über eine propositionale Einstellung und in indirekter Rede, die ebenfalls intensionale Kontexte erzeugen, versucht unsere Intuition zu erhalten, dass Ausdrücke in intensionalen Kontexten auf dieselbe Art und Weise wie auch in anderen Kontexten operieren (siehe Indirekte Rede). Viele Philosophen meinen, dass die Logik mit der Intension nichts zu tun habe. Die Intensionalität vieler natürlicher Sprachkontexte ist aber schwer zu bestreiten, und die Entwicklung intensionaler Logiken legt es nahe, dass ein toleranterer Umgang damit sich durchaus auszahlen könnte (siehe Intensionale Logik). Siehe auch: Begriffe; Mögliche-Welten-Semantik; Referenz 809
Intention
Anmerkungen und weitere Lektüre: Searle, J.R. (1983): ‚Intentionality‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Das 1. Kapitel enthält eine nützliche Diskussion der Beziehung von Intensionalität und Intentionalität.) SIMON CHRISTMAS
Intention
Angenommen, der akademische Assistent Peter möchte seine Kenntnisse der Prädikatenlogik auffrischen und verhält sich dieser Absicht entsprechend, denn er will ein gutes Seminar geben und ist überzeugt, dass eine solche Vorbereitung ihm dabei helfen wird. Durch ein solches Beispiel erklären wir, warum Peter eine Auffrischung seiner Logikkenntnisse intendiert, und warum er (absichtsvoll) dies auch tut, indem wir uns auf die Überzeugung und den Wunsch beziehen, die seine Gründe sowohl für die Absicht, als auch für die entsprechenden intentionalen Handlungen belegen. Wie aber hilft uns Peters Handlungsabsicht, die zwischen seinen Gründen und seinen Handlungen angesiedelt ist, beim Verständnis dessen, was er tut? Die zentralen Fragen der Intentionalitätstheorie umfassen die folgenden: Sind Intentionen bestimmte geistige Einstellungen (engl.: mental attitudes), wie beispielsweise Überzeugungen und Wünsche? In welcher Beziehung steht die Intention zu einem Tun zu dem Urteil, dass dieses Tun das Beste unter mehreren Alternativen ist? Welche unterscheidenden Rollen, wenn überhaupt, spielen die Intentionen bei unserer Anregung zum Handeln? Und sind vorhergesehene, aber unerwünschte Konsequenzen einer intentionalen Handlung ebenfalls beabsichtigt? Siehe auch: Handlung; Kommunikation und Intention; Propositionale Einstellungen; Vernunft, praktische; Wunsch; Überzeugung ROBERT DUNN
Intention, künstlerische
Siehe: Künstlers, Absicht des
Intentionalität
Als Intentionalität bezeichnet man die Fähigkeit des Geistes, sich selbst auf Dinge zu richten. Geistige Zustände wie Gedanken, Überzeugungen, Glauben, Wünsche, Hoffnungen etc. weisen Intentionalität in dem Sinne auf, dass sie immer auf etwas gerichtet sind: wenn man hofft, glaubt oder wünscht, dann muss man etwas hoffen, glauben oder wünschen. Hoffnung, Glaube, Wunsch und andere geistige Zustände, die sich auf etwas richten, sind als intentionale Zustände bekannt. Die Intentionalität in diesem Sinne ist nur am Rande mit der ursprünglichen Vorstellung von einer Absicht oder dem Beabsichtigen von etwas verbunden. Die Absicht, etwas zu tun, ist ein intentionaler Zustand, weil man keine Absicht hegen kann, ohne etwas zu beabsichtigen. Die Absichten sind aber eine von vielen Gruppen oder Arten intentionaler Zustände. Die Terminologie der Intentionalität leitet sich von der scholastischen Philosophie des Mittelalters ab und wurde 1874 von Brentano zu neuem Leben erweckt. Brentano charakterisierte die Intentionalität als die Gerichtetheit des Geistes auf einen Gegenstand und betonte, dass dieser Gegenstand nicht notwendig existieren muss. Ferner behauptete er, dass es genau die Intentionalität der geistigen Phänomene sei, die sie von den physischen Phänomenen unterscheiden. Diese Ideen von 810
Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie
Brentano lieferten den Hintergrund für die Diskussionen des 20. Jahrhunderts über die Intentionalität, und zwar sowohl in den phänomenologischen, als auch in den analytischen Schulen. Innerhalb dieser Diskussionen können wir zwei allgemeine Projekte ausmachen. Das erste besteht in der Kennzeichnung der wesentlichen Merkmale der Intentionalität. Ist die Intentionalität beispielsweise eine Beziehung? Wenn dies der Fall ist, welche sind ihre Relata, wenn der Gegenstand eines intentionalen Zustandes nicht existieren muss, um an ihn denken zu können? Das zweite Projekt handelt von der Erklärung, wie sich die Intentionalität in der natürlichen Welt ereignen kann. Wie können lediglich biologische Geschöpfe Intentionalität zeigen? Das Ziel dieses zweiten Projekts ist es, die Intentionalität in nicht-intentionalen Worten zu erklären. Siehe auch: Einbildungskraft; Gefühle, Wesen der; Intention, Wahrnehmung Überzeugung und Glaube; Wunsch; TIM CRANE
Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie
Die Unterscheidung von Internalismus und Externalismus wird üblicherweise zur erkenntnistheoretischen Rechtfertigung von Überzeugungen getroffen. Die geläufigste Form des Internalismus (der sog. ‚Zugangsinternalismus‘) meint, dass nur das, was einem Menschen ohne Schwierigkeiten bewusst sein kann (z.B. durch Nachdenken), einen Einfluss auf die Rechtfertigung haben kann. Wir können uns den Externalismus einfach als die Leugnung dieser Einschränkung vorstellen. Die intuitiv starke Anziehungskraft des Internalismus resultiert daraus, dass wir imstande sein sollten, unsere Überzeugung von etwas dadurch zu rechtfertigen, dass wir darüber gründlich nachgedacht haben, ohne darüber hinaus noch weitere Nachforschungen anstellen zu müssen. Daraus ergibt sich die Vorstellung, dass wir erfolgreich auf skeptische Zweifel betreffend die Möglichkeit von Erkenntnis oder gerechtfertigte Überzeugungen nur dann antworten können, wenn wir den erkenntnistheoretischen Status unserer Überzeugungen bestimmen können, ohne bereits vorauszusetzen, welche skeptischen Zweifel dagegen angemeldet werden können, beispielsweise jene betreffend die externe Welt. Die Haupteinwände gegen den Internalismus sind die folgenden: (1) Er geht von einem unrealistischen Vertrauen in die Geltung von reinem Nachdenken aus, was häufig nicht den gesamten Vorrat unserer Überzeugungen und anderer möglicher Gründe für eine Überzeugung bzw. den Umfang dessen widerspiegelt, was die Nachdrücklichkeit einer solchen Überzeugung ausmacht. (2) Wenn wir uns selbst auf das beschränken, was wir nach entsprechender Reflexion bestätigen können, so garantiert uns dies noch lange nicht, dass die auf diesem Wege gewonnenen Überzeugungen wahrscheinlich auch wahr sind. Denn der wahrheitsstärkende Charakter einer Rechtfertigung stellt ihren hauptsächlichen Wert dar. Der Externalismus hebt die Zugangsbeschränkungen auf, verkörpert aber in seiner allgemeinsten Form überhaupt keinen positiven Standpunkt. Der geläufigste Weg zur genaueren Bestimmung des Externalismus ist eine Verlässlichkeitsthese, d.h. ein Standpunkt, dass eine Überzeugung ausschließlich dann gerechtfertigt sei, wenn diese Überzeugung durch einen verlässlichen Prozess hervorgebracht und aufrecht erhalten werde, der auf lange Sicht überwiegend wahre Überzeugungen sichere. Dies ist eine Form des Externalismus, weil die Frage, ob ein bestimmter, überzeugungsbildender Prozess verlässlich ist, nicht etwas ist, was man einfach 811
Internationale Beziehungen, Philosophie der
durch Nachdenken ermitteln kann. Die Haupteinwände gegen den Externalismus beziehen sich auf die internalistischen Intuitionen. (1) Selbst wenn die Welt von einem bösen Dämon regiert würde, der durchschaut, dass unsere Überzeugungen allgemein falsch sind, obwohl wir für diese sogar Begründungen haben, so wären unsere Überzeugungen immer noch gerechtfertigt, auch wenn sie unverlässlich sind. (2) Wenn ein verlässlicher Hellseher sich auf dieser Grundlage Überzeugungen bildet, ohne irgendeinen Anlass dafür zu haben, diese für etwas zu halten, das auf verlässliche Weise zustande gekommen ist, so wären diese Überzeugungen nicht gerechtfertigt, selbst wenn sie die Verlässlichkeitsprüfung bestehen. Siehe auch: Begründung, erkenntnistheoretische; Erkenntnis, Begriff der WILLIAM P. ALSTON
Internationale Beziehungen, Philosophie der
Die Philosophie der internationalen Beziehungen, oder genauer gesagt ihre politische Philosophie, befasst sich mit den Problemen der Moral in der Diplomatie und des Krieges, der Gerechtigkeit internationaler Praktiken und jener Institutionen, die sich um das wirtschaftliche Wohlergehen und die globale Umweltpolitik bemühen, der Menschenrechte und der Beziehungen zwischen regionaler Loyalität wie z.B. dem Patriotismus und moralischer Verpflichtungen. Es besteht keine durchgehende Überzeugung, dass es überhaupt einen solchen Forschungsgegenstand gibt, oder dass er einen bedeutsamen ethischen Inhalt haben kann. Dem politischen Realismus zufolge, der ein weit verbreiteter Standpunkt unter angloamerikanischen Studenten der internationalen Beziehungen ist, haben moralische Überlegungen keinen Platz bei der Entscheidungsfindung über internationale Angelegenheiten und das entsprechende Verhalten dabei. Die extremsten Varianten des Realismus leugnen sogar, dass ein moralisches Urteil in internationalen Angelegenheiten überhaupt eine Bedeutung oder Kraft haben. Gemäßigtere Versionen erkennen die Bedeutsamkeit solcher Urteile an, meinen aber, dass entweder die politischen Führer nicht dafür verantwortlich seien, sich nach der Moralität ihrer internationalen Handlungen zu richten (weil ihre überragende Verantwortung darin besteht, die Interessen derer voranzubringen, die sie vertreten), oder dass die direkte Verfolgung moralischer Ziele in internationalen Angelegenheiten wahrscheinlich zu einer Selbstvereitelung führe. Selbst wenn man die skeptischeren Arten des politischen Realismus außer Acht lässt, können die einflussreichsten Richtungen einer substanziellen internationalen Moralität auf einer kontinuierlichen Skala eingetragen werden. Zu bestimmen wäre hier der Grad der Privilegien, die gegebenenfalls die Bürger eines Staates auf Kosten der Freiheit und des Wohlergehens von anderweitigen Personen erhalten. ‚Die Moral der Staaten‘ am einen Ende dieser Skala geht davon aus, dass Staaten ein Recht auf Autonomie besitzen analog zu jenen Rechten, die Einzelpersonen innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft besitzen, wodurch sie gegen äußere Störungen ihrer inneren Angelegenheiten geschützt und ihr Eigentum an und die Kontrolle über die natürlichen und menschlichen Ressourcen innerhalb ihrer Staatsgrenzen gesichert sind. Am anderen Ende der Skala finden sich die kosmopolitischen Standpunkte, die bestreiten, dass Staaten irgendein spezielles Privileg besitzen. Diese Standpunkte gehen davon aus, dass nur Einzelmenschen, und keine Staaten, die Träger jeglicher Moral sind, und dass Werturteile betreffend das internationale Verhalten ebenso ernsthaft das Wohlergehen aller einzelnen Personen berücksichtigen sollten, die von einer Entscheidung 812
Intuitionismus
betroffen sind, egal ob sie Mitbürger oder Ausländer sind. Kosmopolitische Standpunkte können anerkennen, dass Staaten und ähnliche Entitäten moralisch bedeutsame Merkmale aufweisen; die Analyse der Bedeutung dieser Merkmale muss sie aber im Zusammenhang mit dem individuellen Wohlergehen sehen. Vermittelnde Standpunkt sind ebenfalls möglich; beispielsweise ist die Konzeption eines privilegierten Staatstypus denkbar, der mit der Konzeption des internationalen Bereichs als einem normativ schwach definierten Raum kombiniert wird, d.h. wo dieser internationale Raum von Prinzipien gesteuert wird, die fordern, dass sich die Staaten an die Minimalbedingungen friedlicher Koexistenz halten. Der theoretische Unterschied zwischen der Moralität von Staaten und einer vollständig kosmopolitischen Moralität spiegelt sich in den praktischen Differenzen über die Rechtfertigung von Eingriffen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, in die Grundlage und den Inhalt von Menschenrechten, und hinsichtlich des Umfanges unserer Verpflichtungen, wenn es denn solche gibt, als Einzelmenschen und als Staatsbürger zum Ausgleich der internationalen Ungleichheiten im Wohlergehen der Menschen. Siehe auch: Globalisierung; Staat, der CHARLES R. BEITZ
Interpretation und Übersetzung
Siehe: Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation
Intuitionismus
Letztlich geht der Name des mathematischen Intuitionismus und seine erkenntnistheoretische Herkunft auf eine Überzeugung von Kant zurück: er meinte, dass die Intuition grundlegende mathematische Prinzipien a priori als wahr offenbare. Die mathematische Herkunft des Intuitionismus ist die eines radikalen Konstruktivismus, insofern er Beweise von Existenzaussagen fordert, um überprüfbare Instanzen solcher Aussagen zu erhalten, radikal aber auch insofern, als er rundum eine Rekonstruktion der Mathematik sucht. Obwohl der Intuitionismus im 20. Jahrhundert teilweise von Kronecker und Poincaré inspiriert war, wurde er doch von den ‚Neointuitionisten‘ um den holländischen Mathematiker L.E.J. Brouwer dominiert. Brouwers Überarbeitung der Analysis, die paradigmatisch für den Intuitionismus ist, durchbrach die Grenzen des traditionellen Konstruktivismus, weil sie reelle Zahlen auf der Basis von frei gewählten Zahlenfolgen guthieß. Brouwers Theorem, dass jede reelle Funktion über ein geschlossenes, begrenztes Intervall einförmig kontinuierlich ist, bringt den Intuitionismus in offenen Konflikt mit den Ergebnissen der konventionellen Mathematik. Trotz Brouwers Abneigung gegen die Logik entwickelten sich formale intuitionistische Systeme in der intuitionistischen Mathematik parallel zu jenen der Metamathematik. A. Heyting war der erste, der für den Intuitionismus sowohl eine eigene Logik, als auch eine eigene Arithmetik formalisierte, und der die Logik über Typen von abstrakten Beweisen interpretierte. Tarski, Beth und Kripke konstruierten jeweils unterschiedliche Modellklassen für die intuitionistische Logik. Gödel zeigte in seiner Dialectica-Interpretation, wie man eine formale intuitionistische Arithmetik als ein Kalkül höherwertiger Funktionen ansehen kann. S.C. Kleene legte eine ‚Realisierbarkeitsinterpretation‘ für dieselbe Theorie vor, indem er Zeichen für rekursive Funktionen verwendete. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts machten 813
Intuitionismus, ethischer
Anwendungen der höherwertigen intuitionistischen Logik und der Typentheorie auf die Kategorientheorie und die Informatik diese Systeme zu Gegenständen intensiver Untersuchungen. Zur selben Zeit versuchten Philosophen und Logiker unter dem Einfluss von M. Dummett, den Intuitionismus für die Sache der allgemein antirealistischen Semantik der natürlichen Sprachen einzuspannen. DAVID CHARLES MCCARTY
Intuitionismus, ethischer
Etwas intuitiv zu erfahren heißt, es direkt zu erfassen, ohne Rückgriff auf Denkprozesse wie z.B. die Deduktion oder die Induktion. Der ethische Intuitionismus meint, dass wir über die Fähigkeit zur Intuition verfügen, und dass einige Tatsachen oder Eigenschaften, die wir intuitiv wahrnehmen, irreduzibel ethischer Natur sind. Traditionell trägt der Intuitionismus auch die wichtige These vor, dass Überzeugungen, die aus einer Intuition heraus entstanden sind, über eine direkte Rechtfertigung verfügen und deshalb nicht mehr durch Berufung auf andere Überzeugungen oder Tatsachen gerechtfertigt werden müssen. Während also der ethische Intuitionismus sich mit der Auffassung ethischer Tatsachen oder Eigenschaften beschäftigt, ist der traditionelle Intuitionismus grundsätzlich ein bestimmter Standpunkt zu der Frage, wie Überzeugungen, einschließlich der moralischen, gerechtfertigt werden können. Varianten des Intuitionismus unterscheiden sich in der Frage, was man intuitiv erfährt (z.B. auch das Gute und Gerechte?), ob das intuitiv Erfahrene allgemein oder abstrakt oder konkret und einzeln bestimmt ist, ferner hinsichtlich des Grades der Rechtfertigung, die die Intuition leistet, und des Wesens der intuitiven Fähigkeiten. Die Ablehnung der Intuition ist häufig das Ergebnis einer Ablehnung einer der Standpunkte, die sich dahinter verbergen. Man beachte, dass der Ausdruck ‚Intuition‘ sich genauso auf den intuitiv erfahrenen oder vorgestellten Gegenstand, als auch auf den Intuitionsprozess selbst beziehen kann. Darüber hinaus und etwas verwirrend wird der Intuitionismus manchmal mit dem Pluralismus identifiziert, d.h. der Auffassung, dass es eine Mehrheit grundlegender ethischer Eigenschaften oder Prinzipien gibt. Diese Identifikation hat ihre Ursache vermutlich darin, dass die Pluralisten oft eine erkenntnistheoretische Fassung des Intuitionismus vertreten. Siehe auch: Erkenntnistheorie und Ethik; Moralisches Urteil ROBERT L. FRAZIER
Intuitionistische Logik und Antirealismus
Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (GaD) sagt, dass jeder Satz der Form A ∨ ¬A (‚A oder nicht A‘) logisch wahr ist. Dieses Gesetz ist in der klassischen Logik anerkannt, nicht jedoch in der intuitionistischen Logik. Der Grund für diese Uneinigkeit über die logische Geltung des Gesetzes ist eine noch tiefere Differenz über die Wahrheit und die Bedeutung. In der klassischen Logik wird die Bedeutung der logischen Konnektive durch die Bedeutung von Wahrheitstafeln erklärt, und diese Erklärungen rechtfertigen GaD. Allerdings setzt die Erklärung mittels Wahrheitstafeln die Akzeptanz des Prinzips der Zweiwertigkeit voraus, d.h. des Prinzips, dass jeder Satz entweder wahr oder falsch ist. Der Intuitionist akzeptiert die Zweiwertigkeit nicht, oder zumindest nicht in der Mathematik. Der Grund hierfür ist die Auffassung, dass sich mathematische Sätze durch Beweise als wahr oder falsch erweisen, die von Mathematikern konstruiert werden. Nach dieser Auffassung kann 814
Intuitionistische Logik und Antirealismus
man von einer Zweiwertigkeit nur ausgehen, wenn garantiert ist, dass für jeden mathematischen Satz es entweder einen Beweis seiner Wahrheit oder einen Beweis seiner Falschheit gibt. Eine solche Garantie gibt es aber nicht. Daher ist die Zweiwertigkeit aus intuitionistischer Sicht nicht annehmbar, und daraus folgend auch das GaD nicht. Ein mathematischer Realist denkt, dass für den Fall der Wahrheit eines mathematischen Satzes dies deshalb so ist, weil irgendein bestimmter Sachverhalt gilt, egal ob wir ihn kennen oder nicht, und wenn dieser Sachverhalt nicht der Fall ist, dann ist dieser Satz ebenfalls falsch. Der Realist denkt darüber hinaus, dass die mathematische Wirklichkeit vollständig bestimmt ist insofern, als jeder mathematische Sachverhalt entweder abschließend der Fall ist oder nicht. Daraus folgt, dass der Realist davon ausgeht, dass das Prinzip der Zweiwertigkeit für mathematische Sätze gilt. Der Intuitionist ist normalerweise ein mathematischer Antirealist, d.h. er lehnt die Idee einer vollständig bestimmten, geistunabhängigen mathematischen Wirklichkeit ab. Der intuitionistische Standpunkt betreffend die Wahrheitsbedingungen der mathematischen Sätze ist nicht offenkundig unvereinbar mit dem Realismus betreffend die mathematischen Zustände. Michael Dummett zufolge impliziert eine solche Sichtweise der Wahrheitsbedingungen den Antirealismus. Nach Dummett ist ein Konflikt betreffend den Realismus im Grunde ein Konflikt betreffend die Bedingungen, die die Wahrheit eines Satzes ausmachen, und deshalb einer über die Semantik, denn es gibt keine weiteren Fragen z.B. über die Existenz einer mathematischen Wirklichkeit als jene betreffend die Wahrheitsbedingungen mathematischer Sätze. In diesem Sinne hat Dummett vorgeschlagen, die Akzeptanz der Zweiwertigkeit als die Einnahme einer realistischen Position zu verstehen. Wenn dies richtig ist, dann sind sowohl die Wahl zwischen der klassischen und der intuitionistischen Logik, als auch Fragen des Realismus im Grunde genommen semantische Fragen, denn ob das Prinzip der Zweiwertigkeit gilt, hängt von der Wahl einer entsprechenden Semantik ab. Die Frage der richtigen Semantik gehört wiederum in die Bedeutungstheorie. Für die Bedeutungstheorie hat Dummett allgemeine Prinzipien aufgestellt, aus denen er ableitet, dass Bedeutung im Allgemeinen nicht aus zweiwertigen Wahrheitsbedingungen bestehen kann. Diese Prinzipien betreffen die Notwendigkeit und Möglichkeit das Offenbarwerden von Bedeutungswissen einer Person im Verhältnis zu anderen Sprechern, sowie das Wesen solcher Offenbarungen. Wenn Dummetts diesbezüglicher Vortrag schlüssig ist, dann kann die Zweiwertigkeit nicht direkt aus der Semantik heraus, und vielleicht sogar überhaupt nicht gerechtfertigt werden. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Realismus und Antirealismus PETER PAGIN
Irigaray, Luce (1930–)
Luce Irigaray ist promovierte Linguistin und Philosophin und hat die Psychoanalyse über viele Jahre praktiziert. Sie ist Autorin von mehr als zwanzig Büchern und hat sich eine Reputation als eine der herausragenden Theoretikerinnen der Geschlechterdifferenz erworben, wobei dies ein Ausdruck ist, den sie dem Ausdruck ‚Feminismus‘ vorziehen würde. Letzterem haftet die Geschichte des Feminismus als ein Kampf für die Gleichheit der Geschlechter an, während Irigaray sich selbst mehr als eine Feministin des Unterschiedes betrachtet, die die Notwendigkeit der 815
Islamische Philosophie
Differenzierung von Frauen und Männern stärker als die Notwendigkeit der Durchsetzung der Gleichheit der Geschlechter betont. ‚Speculum de l’autre femme‘ (dt.: ‚Das Spekulum der anderen Frau‘, 1974), jenes Buch, das ihr internationale Anerkennung einbrachte, verschmilzt die Philosophie mit der Psychoanalyse und führt eine lyrische ‚Mimesis‘ oder ein Mimikry durch, das philosophische Ansprüche auf Universalität parodiert und unterläuft. Während sie einen universalistischen, objektiven und einheitlichen Standpunkt einnimmt, zeigt sie, dass die philosophische Tradition in Wirklichkeit nur einen Teilbereich der Welt wahrnimmt, und zwar jenen, der durchdrungen ist von den Schriften derjenigen, die für ihre schriftliche Niederlegung verantwortlich sind, nämlich die Männer. Ohne die materielle, mütterliche und pflegende Hilfe der Frauen als Mütter und Hausfrauen würden die Männer nicht die Freiheit zur Reflexion, den Frieden zum Denken oder die Zeit zum Schreiben jener Philosophie haben, die unsere Kultur geformt hat. Als solche sind Frauen unterdrückt und nicht anerkannt; Feminität ist der ungedachte Urgrund der Philosophie, das andere der Philosophie. TINA CHANTER
Islamische Philosophie Einführung Die islamische Philosophie kann auf eine Reihe ganz unterschiedlicher Weisen definiert werden. Die Perspektive, die hier eingenommen wird, repräsentiert den Philosophiestil, der innerhalb des Rahmens der islamischen Kultur hervorgebracht wird. Diese Beschreibung behauptet nicht, dass sie sich notwendig mit religiösen Fragen beschäftigen muss, und noch nicht einmal, dass sie ausschließlich von Muslimen hervorgebracht wird. 1. Die Frühzeit der islamischen Philosophie 2. Islamische Philosophie in Spanien und Nordafrika 3. Mystische Philosophie 4. Islamische Philosophie und die islamischen Wissenschaften 5. Islamische Philosophie seit der Neuzeit 1. Die Frühzeit der islamischen Philosophie Die islamische Philosophie ist auf das Innigste mit der griechischen Philosophie verbunden, obwohl dies eine Beziehung ist, die auch übertrieben werden kann. Theoretische Fragen innerhalb des Islam wurden schon seit seiner Entstehung aufgeworfen. Dies waren Fragen, die in gewissem Umfange durch Bezugnahme auf islamische Texte wie den Koran beantwortet werden konnten, oder auch durch die Lebenspraktiken der islamischen Gemeinschaft und die traditionellen Redewendungen und Sprüche des Propheten und seiner Begleiter. Auf dieser ursprünglichen Grundlage brachte der Islam einen weiten Bereich dessen hervor, was als die islamischen Wissenschaften bekannt wurde. Diese bestanden vor allem auf den religiösen Gesetzen, der arabischen Sprache und aus Formen der Theologie, die unterschiedliche Auffassungen des Islam darstellten. Die frühen Eroberungen der Moslems brachten sie in engen Kontakt mit den zivilisatorischen Zentren, die stark vom Christentum und Judentum beeinflusst waren, und auch mit der griechischen Kultur. Viele islamische Führer wollten die grie816
Islamische Philosophie
chischen Erkenntnisformen verstehen und anwenden, einige von ihnen praktisch, andere wieder auf theoretische Weise. So begann ein großes Übersetzungsvorhaben mit dem Ziel einer Assimilierung der griechischen Kultur, das auch offiziell unterstützt wurde. Dies hatte wiederum eine starke Wirkung auf alle Bereiche der islamischen Philosophie. Der Neuplatonismus wurde schließlich zur vorherrschenden Denkschule, dicht gefolgt von der Lehre der griechischen (peripatetischen) Philosophie, die anfänglich in die islamische Welt kommuniziert wurde. Diese Lehre betonte die Übereinstimmung von Platon und Aristoteles in einer Reihe von Fragen und umfasste auch die Arbeiten einiger neuplatonischer Autoren. Eine führende Gruppe neuplatonischer Denker waren die Ikhwan al-Safa’ (‚Brüder der Reinheit‘), die eine eklektische Philosophie entwickelten zum Zwecke der spirituellen Befreiung durch philosophische Vervollkommnung. Es gab allerdings auch eine Entwicklung des Aristotelismus, und der Platonismus erschloss sich ihnen durch die Persönlichkeit des Sokrates und das im Vergleich zu Aristoteles offenkundig spirituellerem Wesen des Platon. Es gab sogar Denker, die offenbar durch den griechischen Skeptizismus beeinflusst waren, den sie ihrerseits gegen die Religion wandten. Ibn ar-Rawandi und Muhammad ibn Zakariyya’ al-Razi präsentierten eine solche, sehr gründliche Kritik vieler übernatürlicher Vorstellungen des Islam. Al-Kindi wird oft als der erste Philosoph der Araber genannt. Er folgte im Großen und Ganzen einem neuplatonischen Ansatz. Einer der frühesten Philosophen in Bagdad war allerdings ein Christ, und zwar Yahya Ibn ‘Adi, und sein Schüler Al-Farabi brachte viele der Themen hervor, die als Arbeitsgrundlage der nächsten vierhundert Jahre dienten. Al-Farabi argumentierte, dass die Texte des Aristoteles wichtige Fragen für das Verständnis des Universums aufwerfen, insbesondere hinsichtlich seines Ursprungs. Aristoteles hatte gemeint, dass die Welt ewig sei, was im Widerspruch mit den Schlussfolgerungen des Korans zu stehen schien, demzufolge Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hatte. Al-Farabi setzte als sein Schöpfungsprinzip den Emanationsprozess ein, d.h. die Vorstellung, dass die Wirklichkeit kontinuierlich aus der Quelle der Vollkommenheit fließt, so dass die Welt nicht zu irgendeiner bestimmten Zeit erschaffen wurde. Er arbeitete auch sehr umfangreich über die griechische Logik und sagte, dass hinter der natürlichen Sprache logische Strukturen lägen, so dass ein Verständnis dieser Strukturen eine tiefere und bedeutsamere Leistung ist, als nur das Verständnis der natürlichen Sprache selbst. Dies schien wiederum die Bedeutung der Sprache zu bedrohen, und speziell jene Sprache, nämlich das Arabische, in der Gott den Koran dem Propheten Mohammed eingegeben hatte. Eine große Schule von Denkern war stark von al-Farabi beeinflusst, einschließlich al-’Amiri, al-Sijistani und al-Tawhidi, und dies spielte sicherlich eine große Rolle bei der Entwicklung seiner Ideen und Methoden zu den Schlüsseldenkfiguren der folgenden Jahrhunderte der islamischen Philosophie. Ibn Sina ging darüber hinaus und entwickelte eine noch wesentlich schöpferischere Form des Denkens. Er brachte eine Sichtweise hervor, in der das Universum aus vollständig notwendigen Ereignissen besteht, mit Ausnahme von Gott. Dies führte zu einer machtvollen Reaktion seitens Al-Ghazali, der in seiner Kritik der peripatetischen Philosophie argumentierte, dass sie sowohl mit der Religion unvereinbar sei, als auch nach ihren eigenen Maßstäben ungültig. Er schaffte es, auf einige der größeren Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Neuplatonismus aufmerksam zu machen, die bereits in die islamische Philosophie eingedrungen war, und 817
Islamische Philosophie
er behauptete, dass die griechische Logik, während die peripatetische Philosophie abgelehnt werden sollte, es wert sei, weiter als begriffliches Werkzeug erhalten zu bleiben. Diese Ansicht erlangte großen Einfluss in großen Teilen der islamischen Welt, und damit geriet die Philosophie bis ins 19. Jahrhundert ins Abseits. 2. Islamische Philosophie in Spanien und Nordafrika Eine besonders reichhaltige Mischung philosophischer Ideen blühte in al-Andalus (dem heutigen Andalusien, also dem seinerzeit islamischen Teil der iberischen Halbinsel), sowie in Nordafrika. Ibn Masarra verteidigte eine Form des Mystizismus, und seine Form des Denkens war wichtig sowohl für Ibn Tufayl, als auch für Ibn Bajja, für den der Gegensatz zwischen dem Individuum in einer Gesellschaft und dem Individuum, dass sich vor allem zu Gott in Beziehung setzt, zum zentralen Thema wurde. Hier lautete das Argument häufig, dass ein höheres Niveau des Verständnisses der Wirklichkeit durch jene erreicht werden kann, die darauf vorbereitet sind, ihr religiöses Bewusstsein außerhalb des Rahmens der traditionellen Religion zu entwickeln. Diese Sichtweise wurde von Ibn Rushd unterstützt und wurde zu einem Teil seiner sehr ausgefeilten Darstellung der Verbindungen zwischen der Religion und der Vernunft. Er unternahm eine eifrige Verteidigung der Philosophie gegen die Angriffe von al-Ghazali, auch mit dem Ziel der Darstellung ihrer stärker aristotelisch ausgerichteten Darstellung, als dies von Ibn Sina unternommen worden war. Er meinte, dass es eine Vielzahl von Wegen zu Gott gebe, die alle gleichermaßen gültig seien, und dass der Weg, den ein Philosoph einschlagen könne, jener sei, der auf der unabhängigen Verwendung der Vernunft beruhe, während das normale Mitglied der Gesellschaft mit den Redewendungen und Pflichten der Religion zufrieden sein müsse. Ibn Sab’in wiederum argumentierte, dass die aristotelische Philosophie und Logik nutzlos wären, wenn es um das Verständnis der Wirklichkeit ginge, weil die dort vertretenen Vorstellungen darin versagen, die grundlegende Einheit widerzuspiegeln, die der Wirklichkeit innewohnt, und zwar jene Einheit, die von der Einheit Gottes abstammt. Deshalb bedürfte man einer vollständig neuen Form des Denkens, die der Aufgabe einer Darstellung der Einheit der Welt angemessen ist. Ein Denker, der wiederum mehr für seine historischen und soziologischen Arbeiten bekannt geworden ist, ist Ibn Khaldun, der gleichwohl auch ein bedeutender philosophischer Autor war. Er erarbeitete eine herausragende Zusammenfassung der vorangegangenen philosophischen Bewegungen innerhalb der islamischen Welt, wenn auch von einem konservativen (Ash’arite) Standpunkt aus betrachtet. 3. Mystische Philosophie Innerhalb der islamischen Welt repräsentiert das mystische Denken eine anhaltende Tradition des philosophischen Arbeitens. Einige Philosophen kombinierten sogar den Mystizismus mit dem peripatetischen Denken, während andere den Mystizismus im Widerspruch hierzu sahen. Al-Ghazali hatte zwar großen Einfluss bei der Aufwertung des mystischen Denkens in der Form des Sufi, aber tatsächlich waren es andere Denker wie z.B. al-Suhrawardi und Ibn al-’Arabi, die wirklich systematische Mystik betrieben. Sie stellten dar, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, wie Philosophie im Einklang mit mystischen Ansätzen im Verhältnis zur Wirklichkeit betrieben werden kann. Damit orientierten sie sich bewusst in einer der peripatetischen Philosophie abgewandte Richtung. Ibn al-’Arabi konzentrierte sich darauf, die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit und deren Verbindungen zueinander zu 818
Islamische Philosophie
analysieren, während al-Suhrawardi der Hauptstammvater der illuminationistischen Philosophie ist. Diese versucht die aristotelische Logik und Metaphysik durch eine Alternative zu ersetzen, die auf den Beziehungen zwischen dem Licht als dem Hauptprinzip der Schöpfung und des Wissens und dem, was dadurch erleuchtet wird, aufbaut, nämlich dem Rest der Wirklichkeit. Diese Tradition hatte viele Nachfolger, einschließlich al-Tusi, Mulla Sadra, Mir Damad und al-Sabzawari; sie war und ist bis auf den heutigen Tag in der persischen Welt populär. Shah Wali Allah erweiterte seine Denkschule bis auf den indischen Subkontinent. 4. Islamische Philosophie und die islamischen Wissenschaften Die islamische Philosophie stand schon immer in einem recht schwierigen Verhältnis zu den islamischen Wissenschaften, d.h. zu jenen Techniken oder Methoden zur Beantwortung theoretischer Fragen, die in engem Zusammenhang mit der Religion des Islam stehen und das Recht, die Theologie, die Sprache und das Studium der religiösen Texte umfassen. Viele Theologen, wie z.B. Ibn Hazm, al-Juwayni und Fakhr al-Din al-Razi, entwickelten Darstellungen der islamischen Theologie, die für jeweils bestimmte Theorien der Interpretation religiöser Texte eintraten. Sie tendierten zu einem beschränkten Interpretationsansatz, indem sie die Verwendung von Analogien, aber auch die Vorstellung von der Philosophie als einem objektiven Untersuchungssystem, dass überhaupt auf alles anwendbar ist, ablehnten. Die meisten Theologen waren Ash’arites (‚Brüder der Reinheit‘), d.h. sie widersprachen der Vorstellung, dass ethische und religiöse Vorstellungen objektiv wahr sein können. Solche Vorstellungen würden dadurch wahr, so argumentierten sie, dass Gott von ihnen sage, sie seien wahr; es gebe keine weiteren Gründe für ihre Annahme als diesen. Dies hatte insbesondere starken Einfluss auf die Ethik, wo es eine andauernde Debatte zwischen den Objektivisten und den Subjektivisten gab, wobei Letztere einwandten, dass eine Handlung ausschließlich dann rechtens sei, wenn Gott dies von ihr sage. Viele Denker schrieben darüber, wie man die sozialen Tugenden, die es mit sich bringen, dass man Teil einer Gemeinschaft ist und den Regeln der Religion gehorcht, mit den intellektuellen Tugenden versöhnen kann, die sich eher in einem vereinzelten Lebensstil finden. Ibn Miskawayh und Al-Tusi entwickelten komplexe Darstellungen der offenkundigen Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen von Tugenden. Die politische Philosophie des Islam schaute sich bei den griechischen Denkern nach Wegen zum Verständnis des Wesens des Staates um, verbanden aber auch allgemeine platonische Ideen vom Staat mit den Vorstellungen des Koran, was nicht besonders schwer ist, wenn man die den beiden Darstellungen zugrunde liegende hierarchische Struktur betrachtet. Sogar Denker, die sich von der illuminationistischen Philosophie wie jener von al-Dawani angezogen fühlten, schrieben zur politischen Philosophie und brachten vor, dass die Struktur eines Staates die materiellen und geistigen Zustände der Bürger widerspiegeln sollte. Im Wege einer strikten Differenzierung der Rollen im Staate, und vermittels der Führung durch jene, die in religiösem und philosophischem Wissen geschult sind, könnte jeder einen annehmbaren Platz in der Gesellschaft finden, und ferner Raum für ein gewisses Maß an geistiger Vervollkommnung. Spezielle Probleme entstanden in Diskussionen betreffend das Wesen der Seele. Nach Aristoteles’ Auffassung, die im Allgemeinen von den islamischen Philosophen 819
Islamische Philosophie
übernommen wurde, ist die Seele ein integraler Bestandteil der Person im Sinne eines Aspekts ihrer Form, und sobald die Person stirbt, verschwindet auch seine Seele. Dies widerspricht nun allerdings dem Bild von einem Leben nach dem Tode, das im Islam sehr wichtig ist. Sogar der platonische Standpunkt betreffend die Seele scheint auf seiner Geistartigkeit zu bestehen, im Vergleich zu den sehr physischen Darstellungen des islamischen Lebens nach dem Tode. Viele Philosophen versuchten mit dieser Differenz fertig zu werden, indem sie argumentierten, dass die religiöse Sprache in Diskussionen über die Seele nur allegorisch sei und uns einen Eindruck über die jenseitige Gemeinschaft verschaffen wolle, und dass es einen umfassenderen Kontext gebe, innerhalb dessen sich deren Leben abspiele, der weiter als dieses Leben selbst reiche. So konnte man argumentieren, weil sie Theorien entwickelten, die ein ausgeklügeltes System unterschiedlicher Bedeutungstypen präsentierten, unter die eine Aussage fallen kann, um unterschiedliche Hörerschaften anzusprechen und verschiedene Funktionen dabei zu erfüllen: Nur der Philosoph habe wirklich die Fähigkeit, die ganze Bandbreite dieser Bedeutungen zu überschauen, und jene, die in den islamischen Wissenschaften arbeiten, wüssten nicht, wie sie mit solchen Fragen umgehen sollen, weil sie von außerhalb ihres eigenen Wissensgebietes auf sie zukämen. Während jene, die im Umgang mit dem Gesetz geübt seien, sich zwischen verschiedenen gesetzlichen Vorschriften zu entscheiden, benötige man darüber hinaus ein Verständnis der Rechtsphilosophie des Islam, wenn man einen Zugang zu dem gewinnen möchte, was man die Tiefenstruktur des Gesetzes selbst nennen könnte. Und ähnlich könne man, obwohl der Koran seine Anhänger ermutige, die Tatsachen der Welt zu ergründen, nur durch die Wissenschaftsphilosophie die theoretischen Prinzipien verstehen, die hinter der physischen Wirklichkeit verborgen sind. Viele der religiösen gegenüber den philosophischen Problemen entstanden auch auf dem Gebiet der Ästhetik. Die Regeln der Dichtkunst, die traditionell im arabischen Raum gepflegt wurden, gerieten in Gegensatz zu jenen der aristotelischen ‚Poetik‘. Einer der interessanten Aspekte der islamischen Ästhetik ist, dass sie die Dichtkunst als eine logische Form auf der Skala der logischen Formen behandelten, wenn auch als eine mit sehr geringem Beweiswert, die hinter unser aller Sprache und unserem Handeln liegt. Dies wird sowohl in erkenntnistheoretischen, als auch logischen Studien erklärt. Die Logik stieg in der islamischen Philosophie zu enormer Bedeutung auf, und die Vorstellung, dass die Logik eine grundlegende Menge von Methoden bereitstellt, durch die wir einen Zugang zu dem erhalten, was hinter dem liegt, was wir zu tun und zu fühlen meinen, war sehr aufregend und provokant. Viele Theologen, die die Philosophie angriffen, waren entschiedene Verfechter der Auffassung, dass die Logik ein Werkzeug der Disputation sei, und Ibn Taymiyya geht in seiner schweren Kritik über das übliche Maß hinaus, mit der er die aristotelische Logik angreift. Er wandte ein, dass diese Logik auch die aristotelische Metaphysik mit sich bringt und deshalb von jedermann aufgegeben werden sollte, der sich vor einer ‚philosophischen Infektion‘ schützen will. Der allgemeine Respekt vor der Logik ließ jedoch eine Reihe logischer Ansätze zu, die unterschiedlichen Menschen zur Verfügung stehen, und von denen jeder für eine andere gesellschaftliche Ebene geeignet ist. Für die Theologen und die Rechtsgelehrten ist beispielsweise die Dialektik angebracht, denn diese arbeitet logisch auf der Grundlage allgemein akzeptierter Aussagen auf Schlussfolgerungen hin, die als gültig anerkannt sind, dies jedoch nur innerhalb der Grenzen, die von den Prämissen 820
Islamische Philosophie
gesetzt werden. Dies heißt, dass beispielsweise innerhalb des Kontextes der Theologie, und sofern wir die Wahrheit des Koran akzeptieren, gewisse Schlussfolgerungen aus den Prinzipien der Theologie folgen; wenn wir aber nicht die Wahrheit des Koran akzeptieren, dann ist die Annehmbarkeit dieser Schlussfolgerungen zweifelhaft. Die Philosophen würden sich von allen anderen Menschen darin unterscheiden, als sie die einzigen sind, die vollkommen gewisse und universale Prämissen verwenden, und deshalb kommt ihren Schlussfolgerungen vollständige Universalität und Gültigkeit zu. Einen ähnlichen Gegensatz finden wir ihm Umgang mit der Erkenntnislehre. Der Nichtphilosoph kann etwas von dem wissen, was um ihn herum der Fall ist, und ferner kann er auch das geistige Wesen der Wirklichkeit verstehen, dies aber nur in dem beschränkten Sinne von Bildern und Allegorien. Im Gegensatz dazu können die Philosophen durch die Anwendung von Logik, sowie durch ihre Fähigkeit zur Vervollkommnung ihres Verständnisses und ihrer Kenntnis der Prinzipien, die dem Ganzen der Wirklichkeit zugrunde liegen, wesentlich höhere Erkenntnisebenen erreichen. 5. Islamische Philosophie seit der Neuzeit Nach dem Tode von Ibn Rushd geriet die islamische Philosophie im peripatetischen Stil in der arabischen Welt außer Mode, obwohl die Weitergabe islamischer Philosophie nach Westeuropa gerade zu dieser Zeit begann und einen erheblichen Einfluss auf die Richtung nahm, in die sich das mittelalterliche Europa und jenes der Renaissance bewegten. In der Persisch sprechenden Welt folgte die islamische Philosophie weiterhin einem weitgehend illuminationistischen Lehrplan, und dies bis heute. Aber in der arabischen Welt erlebte sie bis ins 19. Jahrhundert einen gewissen Niedergang, zumindest in ihrer peripatetischen Form. Mystische Philosophen blühten dagegen weiter auf, obwohl keiner ihrer Denker das schöpferische Niveau von Ibn al-’Arabi oder Ibn Sab’in erreicht. Al-Afghani und Mohamed ‘Abduh suchten nach rationalen Prinzipien, auf denen sie Formen des Denkens zu etablieren hofften, die sowohl deutlich islamisch geprägt, als auch für das Leben in modernen, wissenschaftlich geprägten Gesellschaften geeignet sein sollten. Die Debatte darüber innerhalb der islamischen Philosophie ist bis heute noch nicht beendet. Iqbal lieferte eine recht eklektische Mischung aus islamischer und europäischer Philosophie, und einige Denker reagierten auf das Phänomen der Moderne mit der Entwicklung des islamischen Fundamentalismus. Dies belebte von neuem die früheren Widersprüche im Verhältnis zur Philosophie, weil man hier dafür eintritt, wieder zu den ursprünglichen Prinzipien des Islam zurückzukehren und die Moderne als eine imperialistische westliche Störung ablehnt. Die Wirkung der westlichen Lehre auf die islamische Philosophie war nicht immer hilfreich, und der Orientalismus hat manchmal auch zu einer Überbetonung der Abhängigkeit der islamischen Philosophie vom griechischen Denken geführt, und in der Folge davon zu einer Ablehnung einer Auffassung von der islamischen Philosophie als einer ‚wirklichen‘ Philosophie. Das heißt, dass man sich in der exegetischen Literatur zuviel um die historischen Bedingungen bemüht hat, unter denen diese Philosophie hervorgebracht wurde, statt mehr mit dem Status der dort entwickelten Ideen selbst. Während noch viel darüber diskutiert wird, auf welchem Wege man islamische Philosophie betreiben sollte, wie es im übrigen in allen philosophischen Kulturen der Fall ist, gibt es doch keinen Zweifel daran, dass von ihr Großes geleistet wurde, was von fortdauernder Bedeutung ist. 821
Islamische Philosophie
Siehe auch: Antike Philosophie; Jüdische Philosophie; Mittelalterliche PhiloRenaissance-Philosophie Anmerkungen und weitere Lektüre: Corbin, H. (1989): ‚Histoire de la philosophie islamique‘. Paris: Gallimard. (Eine maßgebliche Darstellung der meisten Schulen der islamischen Philosophie, mit besonderer Betonung der illuminationistischen und mystischen Richtungen.) Leaman, Oliver (2002): ‚An Introduction to Classical Islamic Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Darstellung der führenden Argumentationsfiguren in der islamischen Philosophie.) Nasr, S. und Leaman, O. (Hrg.) (1996): ‚History of Islamic Philosophy‘. London: Routledge. (Eine reichhaltige Darstellung der unterschiedlichen islamischen Denkschulen, Denker und Begriffe.) OLIVER LEAMAN sophie;
Islamische Philosophie in Spanien
Siehe: Ibn Rushd, Abu’l Walid Mohamed
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J Jainistische Philosophie
Die jainistische Philosophie entwickelte sich gleichzeitig mit der buddhistischen und der hinduistischen Philosophie. Die Epoche vom 2. Jahrhundert v.Chr. bis ungefähr zum 10. Jahrhundert n.Chr. zeigt eine enorme Wechselwirkung zwischen diesen Denkschulen, bis hin zu einem Ideenaustausch, die sich vor allem in der reichhaltigen Kommentarliteratur über die grundlegenden philosophischen Arbeiten der jeweiligen Systeme zeigt. Die jainistische Philosophie teilt mit dem Buddhismus und dem Hinduismus innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen metaphysischen Voraussetzungen das Ziel eines Strebens nach absoluter Befreiung (moks. a oder nirvan.a) von den Umständen, die die menschliche Existenz binden. Für die philosophischen Systeme des indischen Denkens ist das Nichtwissen betreffend das eigene Wesen oder jenes der Welt und damit der eigenen Rolle in der Welt einer der Hauptgründe für diese Bindung, und der Jainismus offeriert eigene Einsichten in das Wissen, durch das man von dieser Unwissenheit erlöst wird. Doch auch der Jainismus entkommt nicht der Auseinandersetzung mit dem Problem der Unterscheidung zwischen dem Religiösen und/oder Mystischen und dem Philosophischen. Die indische Tradition kennt nämlich keine genauen Entsprechungen für diese Kategorien, wie sie üblicherweise im westlichen Denken verwendet werden. Die Bedeutung, die dem Wissen zugeschrieben wird, spiegelt sich in der Aufmerksamkeit wieder, der der Erkenntnistheorie und der Logik durch die jainistischen Philosophen zuteil wird. Die erste diesbezüglich systematische Darstellung verfasste ein Philosoph des 4. oder 5. Jahrhunderts namens Umāsvāti, der zwei Arten von Wissen unterschied: das Teilwissen, das sich aus spezifischen Standpunkten ergibt, und das umfassende Wissen, das sich wiederum in fünf Arten gliedert: die sensorische, schriftliche, hellsichtige, telepathische und allwissende Erkenntnis. Von diesen fünf werden die ersten beiden für indirektes Wissen gehalten (und das aus Schlussfolgerungen oder etwas Analogem besteht), und die übrigen stellen direktes Wissen dar. Der Jainismus ist einzigartig unter den indischen Philosophien, insofern er das sensorische Wissen als indirekt charakterisiert. Das Ziel einer solchen Behandlung der Wissensformen ist die Darstellung dessen, das die Jainisten als den Inhalt des Wissens im Zustand der Allwissenheit betrachten, wie es von Mahāvīra gelehrt wurde. Die Allwissenheit ist eine spezifische Bedingung aller Seelen; allerdings ist diese wesentliche Qualität der Seele infolge des Einflusses des Karmas seit der anfanglosen Zeit blockiert. Das jainistische Interesse an der Logik wuchs, wie auch in den anderen Schulen, mit der Berücksichtigung der Schlussfolgerung als einer Form von Erkenntnis. Die Methoden und die Terminologie der Nyāya-Schule stützten sich stark darauf. Dies wird in Siddhasena Divākaras Werk ‚Nyāyāvatāra‘ (‚Die Herkunft der Logik‘, ca. 5. Jahrhundert) deutlich, einer der ersten Darstellungen der jainistischen Logik. Die Jainisten setzten die Logik zur Kritik anderer Schulen und zur Verteidigung ihrer eigenen Lehre ein. Die Vertrautheit mit den anderen Traditionen, die dies voraussetzt, ist ein bemerkenswerter Aspekt des klassischen Jainismus. Ihr Interesse an anderen Schulen, gepaart mit ihrem Eifer bei der Sammlung und Bewahrung von 823
James, William (1842–1910)
Manuskripten, machen den jainistischen Textkorpus zu einem wichtigen Hilfsmittel des Studiums des klassischen indischen Denkens. Nach der jainistischen Ontologie ist die Wirklichkeit in zwei grundlegende Prinzipien der Empfindung und des Nichtempfindens geteilt, von denen keines auf das andere reduzierbar ist. Ersteres manifestiert sich in Seelen, von denen es unendlich viele gibt, und Letzteres in den fünf grundlegenden Substanzen, als da sind: der Stoff, das dharma und das adharma (gesetzte Faktoren zur Erklärung von Bewegung und Ruhe), der Raum und die Zeit. Der Stoff oder die Materie bestehen aus Atomen; wenn der Stoff mit der Seele zusammengeht, transformiert sich beides ins Karma und beschränkt hierdurch die Funktionen des Bewusstseins. Dieser schädliche Prozess kann nur durch asketische Praktiken umgekehrt werden, die schlussendlich zur Befreiung führen. Asketische Praktiken sind die Grundlage der jainistischen Ethik, und ihr Bezugsrahmen wird durch die ‚fünf großen Schwüre‘ gebildet, nach denen die Asketen zu leben schwören. Diese sind: Gewaltlosigkeit gegenüber allen Formen des Lebens, Enthaltung von jeder Lüge, nicht zu nehmen, was nicht gegeben wurde, das Zölibat und der Verzicht auf Eigentum. Die Gewaltlosigkeit wird stark betont, denn Gewalt produziert die größte Menge an Karma. Deshalb gilt es jederzeit, größte Vorsicht walten zu lassen, weil auch Verletzungen an jeglicher Form von Leben vermieden werden sollten, also auch an Pflanzen, am Wasser, am Feuer etc. Die Minimierung der physischen Tätigkeiten zur Vermeidung von Schädigungen ist daher ein wichtiges Ideal der jainistischen Askese. Inspiration für ein Leben in ständigem ethischem Wohlverhalten erfährt der Asket durch die gedankliche Versenkung in das Leben der vierundzwanzig Jinas, von denen Mahāvīra der letzte war. Obwohl diese Jinas menschlicher Natur waren, werden diese ‚Eroberer der Leidenschaften‘ infolge ihrer Lebensführung in der Welt und wegen ihrer Kenntnis des Wesens der letzten Wirklichkeit als göttliche Wesen verehrt. JAYANDRA SONI
James, William (1842–1910)
Der US-amerikanische Philosoph William James trieb Philosophie aus dem Wunsch heraus, eine philosophische Grundlage für moralisches Handeln zu schaffen. Moralische Bemühungen setzen voraus, dass man über einen freien Willen verfügt, dass die Welt nicht bereits die beste aller Welt ist, und zur maximalen Steigerung der Bemühung nach James auch den Glauben, dass es einen Gott gibt, der ebenfalls auf der Seite des Guten ist. In seiner berühmten, allerdings oft missverstandenen Arbeit ‚Der Wille zum Glauben‘ verteidigt James das Recht des Menschen auf Glauben noch vor einem sichtlichem Beweis für einen Sachverhalt, sofern der eigene Glaube starke Folgen für das eigene Verhalten und den eigenen Erfolg hat, und wenn ferner eine Entscheidung nicht hinausgezögert werden kann. Einer dieser Glaubensinhalte ist der Glaube an objektive Werte. Im Allgemeinen ist ein Glaube objektiv, wenn er einem Überzeugungsstandard genügt, der vom eigenen Denken des Glaubenden unabhängig ist. In der Ethik entstehen objektive Werte aus den subjektiven Bewertungen einer jeden Person, was auch immer deren psychologische Quelle sein mag, und diese werden zu den Werten einer Gemeinschaft von Menschen, wenn diese Menschen sich umeinander kümmern. Aber auch in einer solchen Gemeinschaft wird es noch widerstreitende Wertbehauptungen geben, und die Verpflichtungen, die sich aus diesen Be824
James, William (1842–1910)
hauptungen oder Ansprüchen ergeben, müssen in eine Rangfolge gebracht werden, so dass die Konflikte gelöst werden können. James’ Lösung besagt, je umfassender ein moralischer Anspruch ist – also ein solcher Anspruch, der bei seiner Geltung mit geringeren Zugeständnissen seitens anderer moralischer Ansprüche befriedigt werden kann –, umso höher ist er einzustufen. Diese Position darf nicht mit dem Utilitarismus verwechselt werden: James ist kein Hedonist, und es ist nicht klar, was er mit einem maximal umfassenden moralischen Anspruch meint. Die Sorge um andere macht nur Sinn, wenn es andere gibt, die mit uns zusammen eine gemeinsame Welt bewohnen. Der Pragmatismus, den er zusammen mit C.S. Peirce begründete, sowie der radikale Empirismus liefern James die Antwort an jene, die der Existenz einer gemeinsamen Welt skeptisch gegenüber stehen. Der Pragmatismus ist sowohl eine Bedeutungstheorie, als auch eine Theorie der Wahrheit. Als Bedeutungstheorie zielt er auf Klarheit; unsere Gedanken eines Gegenstandes sind klar, wenn wir wissen, welche Wirkungen er hat und auf welche Reaktionen wir uns in Anbetracht dessen vorbereiten müssen. Als Wahrheitstheorie klärt der Pragmatismus, was der Ausdruck ‚Übereinstimmung‘ in dem üblichen Sinne meint, wenn eine Überzeugung wahr sein soll, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nur in den einfachsten Fällen können wir eine Überzeugung direkt überprüfen; beispielsweise können wir prüfen, ob die Suppe zu salzig ist, indem wir sie schmecken. Eine Überzeugung wird indirekt verifiziert, wenn man nach ihr handelt und diese Handlung nicht zu unerwarteten Ergebnissen führt. Im Gegensatz zu einem verbreiteten Missverständnis heißt dies nicht, dass James die Wahrheit als das definiert, was nützlich ist. Vielmehr weist er darauf hin, dass es umgekehrt nützlich ist zu glauben, was wahr ist. James lehnte den Dualismus des common sense und vieler Philosophen ab, aber er ist weder ein Materialist, noch ein Idealist, sondern man sollte das, was er als ‚reine Erfahrung‘ bezeichnete (beispielsweise Sie als Leser dieser Seite) eher als ein Ereignis in der geistigen Geschichte einer Person oder als ein Ereignis in der physischen Geschichte der Buchseite verstehen. Es gibt aber keine ‚Substanz‘, die ‚reine Erfahrung‘ heißt. Es gibt nur viele verschiedene reine Erfahrungen. Sie und ich können dieselbe Buchseite erfahren, weil ein Ereignis in Ihrer geistigen Geschichte und ein ebensolches in meiner eigenen können beide als Ereignis derselben physischen Geschichte der Buchseite aufgefasst werden. James wäre vielleicht sogar versucht gewesen zu sagen, dass eine reine Erfahrung so verstanden werden kann, als gehöre sie zu mehr als einer einzigen geistigen Geschichte. Nach James vermittelt der Pragmatismus im so genannten Konflikt zwischen der Wissenschaft und der Religion. James nahm die religiöse Erfahrung sehr ernst, und zwar sowohl aus der Perspektive eines Psychologen, als auch als Beweis für die Wirklichkeit des Göttlichen. Siehe auch: Idealismus; Panpsychismus; Pragmatismus; Religion und Moral Anmerkungen und weitere Lektüre: Kierkegaard, S.A. (1843): ‚Entweder-Oder‘ (2. Bd.). (Dieses Werk präsentiert zwei grundsätzlich gegensätzliche Lebensperspektiven, nämlich eine ästhetische und eine ethische. Literarisch wird dies durch eine Folge von ‚Briefen‘ dargestellt, die zwei imaginäre Personen miteinander austauschen.) RUTH ANNA PUTNAM
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Japanische Philosophie
Japanische Philosophie Einführung Das herausragendste Merkmal der japanischen Philosophie zeigt sich darin, wie sie sich fremden Philosophien angenähert und diese ihrer eigenen, ursprünglichen Weltsicht angepasst hat. Als eine isolierte Inselnation widerstand Japan allen fremden Invasionen bis 1945. Hierzu war es, obwohl es andere Ideen freiwillig immer wieder im Verlauf seiner Geschichte übernahm, ohne Zwang durch fremde Militärmacht oder koloniale Überwältigung imstande. Die japanische Philosophie trägt deshalb den Stempel einer Vielzahl fremder Traditionen, dies aber dennoch immer in einem spezifisch japanischen Kontext. Um die Dynamik des japanischen Denkens zu verstehen, ist es deshalb erforderlich, sowohl den Einfluss verschiedener ausländischer Philosophien im Verlauf der japanischen Geschichte zu durchmustern, als auch die zugrunde liegende oder fortbestehende kulturelle Orientierung zu verstehen, die den Rahmen dafür bilden, welche Ideen schließlich übernommen wurden und auf welche Weise dies geschah. Die größten philosophischen Traditionen, die Japan von außen beeinflusst haben, waren der Konfuzianismus, der Buddhismus, der Neokonfuzianismus und die westliche Philosophie. Auch der Taoismus hatte eine Wirkung, aber mehr in den Bereichen der Alchemie, des Wahrsagens und der Volksmedizin, als in der Philosophie. Obwohl diese Traditionen sich in vieler Hinsicht überlappen, hatte doch jede auch ihren eigenen Einfluss. In ihrer literarischen Form begann die japanische Philosophie vor ungefähr vierzehnhundert Jahren. Das konfuzianische Denken drang nach Japan um das 5. Jahrhundert n.Chr. ein. Durch die Jahrhunderte wurde das Gepräge des Konfuzianismus am deutlichsten auf den Gebieten der Sozialstruktur, der Regierungsorganisation und der Ethik. Philosophisch gesprochen hat das soziale Selbst in Japan seine Wurzeln hauptsächlich in den konfuzianischen Idealen, gemischt seit dem 16. Jahrhundert mit gewissen eigenen Vorstellungen von Loyalität und Ehre, die sich bei den japanischen samurai als der Kriegerklasse gebildet hatten. Die philosophische Wirkung des Buddhismus, der ungefähr zur selben Zeit eingeführt wurde wie der Konfuzianismus, wirkte sich vornehmlich in den Gebieten der Psychologie, der Metaphysik und der Ästhetik aus. Mit seiner Betonung der disziplinierten Versenkung und introspektiven Analyse half der Buddhismus bei der Bestimmung der verschiedenen japanischen Bedeutungen des inneren im Gegensatz zum sozialen Selbst. In der Metaphysik war die buddhistische Esoterik ganz vorherrschend. Durch die esoterische buddhistische Philosophie gaben die Japaner ihren einheimischen Glaubensüberzeugungen eine rationale Struktur, die geistig eher immanent als transzendent ist, wo ferner Geist und Körper (wie Menschheit und Natur) ein zusammenhängendes Kontinuum sind und nichts Getrenntes, und wo die Dinge genauso wie die menschlichen Gedanken oder die menschliche Rede eine expressive Kraft haben. Dieses metaphysische Prinzip des Ausdrucks wurde mit der introspektiven Psychologie und einer Betonung der Disziplin kombiniert und bildete so die Grundlage der verschiedenen ästhetischen Theorien, die sich in der japanischen Geschichte gut entwickelten. Der Neokonfuzianismus wurde zur prominentesten Philosophie im Japan des 16. Jahrhunderts. Wie der klassische Konfuzianismus trug er viel zum japanischen 826
Japanische Philosophie
Verständnis der Tugend und dem Wesen des sozialen Selbst bei. Anders jedoch als der klassische Konfuzianismus in Japan hatte der Neokonfuzianismus auch metaphysischen und erkenntnistheoretischen Einfluss. Seine Betonung auf der Erforschung des Prinzips oder des Zusammenspiels der Dinge regte das japanische Studium der natürlichen Welt an. Dies wiederum verstärkte eine Tendenz, die mit der sehr beschränkten Einführung der westlichen praktischen Wissenschaften und der Medizin im 16. Jahrhundert einherging. Die westliche Philosophie hatte erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit der westlichen Wissenschaft und Technologie wirklich große Auswirkungen in Japan. Der Modernisierungsprozess zwang die japanischen Philosophen zu einem Überdenken grundlegender Fragen der Erkenntnistheorie, der Sozialphilosophie und der philosophischen Anthropologie. So wie Japan in der Vergangenheit asiatische Denktraditionen aufgenommen hatte – durch Absorption, Modifikation und Aufnahme bestimmter Aspekte in seine eigene Kultur – so assimilierte es auch bewusst das westliche Denken seit dem frühen 20. Jahrhundert. Dieser Prozess setzt sich noch bis auf den heutigen Tag fort. Was an all diesen Phänomenen ist spezifisch japanisch? Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als hätte Japan auf eklektische Weise aus einer Vielzahl von Quellen Einflüsse ohne irgendeine inhärente innere Orientierung bezogen. Eine sorgfältigere Analyse fördert jedoch zu Tage, dass japanische Denker sehr selten irgendeine auswärtige Philosophie annahmen, ohne sie gleichzeitig anzupassen. Beispielsweise akzeptierte die japanische philosophische Tradition niemals so richtig die Betonung des Anstands oder das Mandat des Himmels, der so typisch für den chinesischen Konfuzianismus ist. Sie lehnte auch die buddhistische Idee ab, dass die Unbeständigkeit eine Wirklichkeit ist, mit der man sich abfinden muss, um stattdessen diese Unbeständigkeit als etwas Ästhetisches zu schätzen. Sie kritisierte den Neukonfuzianismus und die westlichen philosophischen Tendenzen zum Rationalismus und zum Positivismus, selbst wenn sie viele Vorstellungen aus diesen Schulen übernahm. Kurz gesagt, es fand immer ein komplexer Auswahlprozess im Zuge der offensichtlichen Absorption auswärtiger Ideen statt. Sowohl in der Geschichte, als auch in der Gegenwart haben japanische Philosophen und Kulturkritiker immer wieder versucht, diesen Auswahlprozess mit dem Shintō zu identifizieren, aber das Shintō wurde selbst grundlegend von auswärtigen Einflüssen geprägt. Dieser Auswahlprozess hat das Shintō genauso geprägt, wie das Shintō umgekehrt den Auswahlprozess geprägt hat. In jedem Falle können wir einige Grundorientierungen ausmachen, die durch die Geschichte des japanischen Denkens hindurch überdauert haben oder immer wieder auftauchten. Zunächst gab es bei der Bestimmung des Geistigen eine Tendenz zur Betonung der Immanenz gegenüber der Transzendenz. Zweitens hat ein kontextbezogener Pragmatismus sich im Allgemeinen gegenüber den Versuchen zur Einführung universaler Prinzipien durchgesetzt, die auf alle Situationen passen sollten. Drittens wurde die Vernunft oft mit den Affekten als der Grundlage der Erkenntnis oder der Einsicht kombiniert. Viertens wird theoretisches Wissen selten von der Praxis isoliert, durch die man die Theorie lernt. Fünftens lag auf der Autorität von Texten nie eine so starke Betonung wie in anderen Kulturen, auch wenn die schriftliche Autorität oft wichtig war. Daher haben die Japaner keinen einzigen zentralen Text wie z.B. die Bibel, die Analekten, den Koran oder die Bhagavadgītā als Gründungstext ihrer eigenen Kultur auserko827
Japanische Philosophie
ren. Obwohl es Ausnahmen von dieser allgemeinen Orientierung gab, helfen sie doch bei der Bestimmung des kulturellen Hintergrundes, vor dem das Drama der japanischen Philosophie durch die Geschichte hindurch gespielt wurde. 1. Archaische Spiritualität 2. Die Bedeutung des Konfuzianismus und des Buddhismus 3. Metaphysische Visionen des antiken japanischen esoterischen Buddhismus 4. Mittelalterliche philosophische Anthropologie: Der Buddhismus des ‚Reinen Landes‘ 5. Mittelalterliche philosophische Anthropologie: Zen-Buddhismus 6. Neokonfuzianismus, der Samurai-Kodex und die Tokugawa-Gesellschaft 7. Landesstudien: religiös-ästhetische Grundlegung des Shintō-Staates 8. Moderne japanische Philosophie und ihre Kritik der westlichen Philosophie 9. Nachkriegsentwicklungen 1. Archaische Spiritualität Die frühesten Darstellungen Japans durch chinesische Besucher, archäologische Funde der prähistorischen Kultur und die frühesten erhaltenen Gebete und Lieder weisen alle darauf hin, dass Japan ursprünglich eine animistische Kultur mit schamanistischen Qualitäten aufwies. Die Welt wurde hier als etwas verstanden, was voll von kami ist, einer heiligen Gegenwart in Form von Ehrfurcht gebietenden natürlichen Gegenständen, personalen Gottheiten, Gespenstern und stammesbewussten Wächtergeistern. Die alten Rituale waren offenbar dazu gemacht, das kami anzupreisen, so dass die Menschen in Harmonie mit ihm auskamen und von seinen Kräften profitieren konnten. Die frühen Gedichte, die in den von Fürstenhöfen geförderten Sammlungen wie dem Man’yōshū überliefert sind, weisen auf den Glauben an eine interne Beziehung zwischen der Menschheit und der Natur hin. Das heißt, die japanische Antike verstand die Menschheit und die Natur als gegenseitigen Teil voneinander, und nicht als etwas, was unabhängig voneinander existiert wie Subjekt und Objekt. Die antiken Mythen beschreiben die Erschaffung von Japan als zufällige Handlungen der Gottheiten. Aus diesem Grunde ist die Welt durchdrungen mit kami oder der geheiligten Gegenwart. Nach diesen Mythen waren natürliche Gegenstände wie Steine und Flüsse ursprünglich mit Redevermögen ausgestattet. Diese Macht wurde ihnen jedoch wegen ihres lauten Gezänks und ihrer mürrischen Natur genommen. Obwohl die natürlichen Gegenstände ihre Stimme verloren, haben sie damit doch nicht notwendigerweise ihre Ausdruckskraft verloren. Menschen können, wenn sie richtig auf die natürliche Welt eingestimmt sind, dieser Ausdruckskraft durch Gedanken, Worte und Artefakte erneut eine Stimme verleihen. Im antiken Japan war der Ausdruck für diese expressive Möglichkeit das kotodama, der ‚Geist‘ (dama) des ‚Wortes‘ (koto) und/oder des ‚Dinges‘ (ebenfalls koto). Kurz gesagt verstand die antike japanische Weltsicht die Götter, die natürliche Welt und die Menschheit als ein ontologisches Kontinuum. Es ist nicht richtig zu sagen, dass Steine und Bäume bei ihnen den Wohnort der Geister darstellten, denn dies würde heißen, dass die Welt sich in das Spirituelle und das Materielle verzweigt, anstand ein Kontinuum zu bilden. Der Ausdruck kami wurde stattdessen auf jeden Gegenstand angewandt, wo eine heilige Gegenwart speziell deutlich wurde
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oder sich konzentrierte: die Sonnengottheit Amaterasu, der Berg Fuji, ein besonderer Baum oder Wasserfall, der Feldherr oder der nach Rache dürstende Geist eines gefallenen Kriegers. Selbst das Schwert dieses Kriegers konnte noch als kami behandelt werden. Hierin zeigt sich eine andauernde Vorstellung in der japanischen Kultur, die Betonung der spirituellen Immanenz statt der Transzendenz: das Heilige durchdringt die alltägliche Welt. 2. Die Bedeutung des Konfuzianismus und des Buddhismus Das chinesische Schriftsystem wurde in Japan ungefähr zu Beginn des 5. Jahrhundert n.Chr. eingeführt, aber erst im 8. Jahrhundert wurde eine brauchbare Anpassung entwickelt, um das Japanische in geschriebener Form darstellen zu können. Daher ist das frühe japanische Denken auf Chinesisch ausgedrückt, und tatsächlich schrieben weiterhin viele philosophische Intellektuelle noch bis in das 19. Jahrhundert hinein auf Chinesisch (oder vielmehr in einer japanisierten Form des Chinesischen). Als das chinesische Schriftsystem anfänglich eingeführt wurde, hatten die verschiedenen Stämme bereits eine zentrale Regierung unter der Führung der späterhin kaiserlichen Familie gebildet. Die Regierung traf sich in Yamato, einer großen Ebene, die sich an das anschließt, was heute Kioto, Nara und Osaka ist. Mit der Einführung des chinesischen Schrifttums gewann die japanische Elite den Zugang zu mehr als einem Jahrtausend konfuzianischer und buddhistischer Philosophie. Diese Ideen wurden sofort umgesetzt, um den Staat zu organisieren. Der Konfuzianismus gab Japan ein hierarchisches Modell für ihre soziale und politische Ordnung. Er konzentrierte sich auf die persönliche Begegnung und erklärte die Verantwortlichkeiten und Pflichten, die für die fünf dyadischen Beziehungen relevant waren: Herr – Diener, Eltern – Kind, Ehemann – Ehefrau, älteres Geschwister – jüngeres Geschwister und Freund – Freund. Wenn die dyadischen Beziehungen hierarchisch angeordnet sind, so hat die Person in der übergeordneten Position für die Person in der untergeordneten Position zu sorgen, und diese wiederum hat der oberen gegenüber loyal zu sein. Die kaiserliche Familie nutzte dieses System zur Einrichtung einer vertikalen Bürokratie. Obwohl der Konfuzianismus dem entstehenden Staate damit eine Sozialstruktur lieferte, zeigte das antike Japan doch geringes Interesse an der Entwicklung der konfuzianischen Philosophie per se. Der Buddhismus war andererseits ursprünglich für die Japaner infolge seiner ästhetischen und wundertätigen Eigenschaften sehr attraktiv. Buddhistische Handwerker, häufig Immigranten aus Korea, brachten neue Techniken großer Architektur, der Malerei, der Skulptur und der Musik mit. Unter Einsatz dieser eleganten Hilfsmittel in ihren Ritualen zum Heilen, für den Wohlstand und den Schutz des Staates konkurrierte der Buddhismus manchmal mit den einheimischen religiösen Praktiken, die sich noch an das kami wandten. Aus der philosophischen Perspektive hatte der Buddhismus seine größte Auswirkung durch seine Psychologie. Mittels seiner meditativen Techniken und fortgeschrittenen Analysen der menschlichen Zwickmühle erhöhte der Buddhismus das japanische Bewusstsein für die Arbeit der Seele und des Geistes. Der Buddhismus lehrt, dass der Egoismus die Hauptursache für die menschlichen Qualen und Unzufriedenheit ist. Das Ego sucht Beständigkeit und Kontrolle in einer Welt des ständigen Flusses. Durch eine Kontrolle der Wünsche und ein Ausmerzen des Egoismus 829
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kann man Frieden und innere Harmonie erreichen. Diese buddhistischen Lehren brachten eine Dimension des inneren Bewusstseins und der psychologischen Analyse in eine Kultur, die sich bislang nur innerhalb der Begriffsgrenzen des Tabus, der Reinigung und der animistischen Besänftigung bewegt hatte (siehe Buddhistische Philosophie, Japanische). Zur selben Zeit begann sich die einheimische Religion selbst aus der Beziehung zu ihrem Rivalen, dem Buddhismus, heraus zu definieren. Sie gab sich den Namen kami no michi oder shintō, zu Deutsch: ‚Der Weg des kami‘ oder ‚Der Weg der Götter‘. Der Staat half im 8. Jahrhundert bei der Systematisierung einer Reihe von Mythen, in denen die Beziehungen zwischen den schützenden kami der verschiedenen mächtigen Stämme erklärt wurden, und vermutlich auch die politischen Beziehungen zwischen den Stämmen selbst. Am wichtigsten hierbei war, dass sich über seine familiäre Beziehung mit dem Ober-kami, der Sonnengottheit Amaterasu, der Throninhaber selbst als die blutsverwandtschaftliche Bindung zwischen dem himmlischen kami und dem japanischen Volk einsetzte (siehe shintō). Ein größeres Ziel der Philosophie im 7. und 8. Jahrhundert war es daher, die verfügbaren einheimischen und auswärtigen Ideen in ein systematisches Weltbild im Dienste der politischen Stabilität zu integrieren. In diesem Lichte ist der siebzehnte Artikel der Verfassung des Jahres 604 eines der ersten philosophischen Dokumente des alten Japan. Diese Verfassung wird Prinz Shōtoku (574–622) zugeschrieben und ist eigentlich mehr eine Reihe von Leitlinien für Bürokraten, als ein Gesetzeswerk zur Definition einer politischen Struktur. Allerdings finden sich darin die frühen Auswirkungen des chinesischen Denkens und seine Anpassung an den japanischen Kontext dieser Zeit. Der erste Artikel der Verfassung beginnt mit einem Zitat von Konfuzius über die Bedeutung der Erhaltung der Harmonie. Wie schon bemerkt wurde, erreicht man im traditionellen Konfuzianismus Harmonie vor allem durch Handlungen, die den Beziehungen eines Menschen in seiner Gesellschaft entsprechen. Statt diese konfuzianischen Prinzipien zu diskutieren, geht ein großer Teil der Verfassung jedoch auf die menschlichen Schwächen und auf die Notwendigkeit ein, eine teilnahmsvolle Einstellung zu entwickeln. Die Verfassung warnt vor Heuchelei, Vorzugsbehandlung, Neid und egozentrischen Motiven. Auf der positiven Seite tritt sie für den Konsens und geistige Offenheit ein. Kurz gesagt stützt sich das Dokument, während es auf eine harmonische konfuzianische Sozialordnung abzielt, auch auf die buddhistische Psychologie, um die Hindernisse auf dem Weg zur Harmonie zu erklären, und dringt auf ein introspektives Verständnis der persönlichen Motivationen. Obwohl die Verfassung selbst keine detaillierten philosophischen Argumente nennt, zeigt sie doch einen frühen Versuch, sich kohärent auf verschiedene philosophische Traditionen zu stützen. Im Ergebnis tritt sie für eine konfuzianische Sozialordnung und eine ebensolche Regierung ein, die von buddhistischen Praktiken und den Einsichten der buddhistischen Psychologie unterstützt wird. Diese Führungsphilosophie blieb in Japan für mehr als tausend Jahre vorherrschend. In der Nara-Periode (710–794) sicherten sich gelehrte japanische Mönche die Unterstützung des Hofes zur Sammlung und zum Studium von weiteren Texten der buddhistischen Philosophie. Sie organisierten sich selbst lose entsprechend den größeren überlieferten Schulen der Herkunftsländer und bildeten so die Sechs Schulen des Nara-Buddhismus: Ritsu, Kusha, Jōjitsu, Hossō, Sanron und Kegon (siehe Bud830
Japanische Philosophie dhistische Philosophie, Japanische). Die erste konzentrierte sich vor allem auf das Studium der Vinaya, d.h. den Vorschriften und Regelungen des Klosterlebens. Kusha und Jōjitsu waren Schulen des abhidharmischen Buddhismus, der die detaillierte Analyse von Dharmas betonte, den grundlegenden Bestandteilen der Wirklichkeit oder des Bewusstsein (‚Dharma‘ und ‚Adharma‘ bezeichnen Faktoren zur Erklärung von Bewegung und Ruhe). Hossō war hauptsächlich in der indischen Yogācāra Tradition zu Hause, und Sanron in der Mādhyamika. Kegon repräsentierte eine Tradition, die in China als Huayan bekannt war. Obwohl die Sechs Schulen des Nara eine wichtige Rolle sowohl in der Erziehung, als auch in der höfischen Politik spielte, gibt es doch nur wenig Hinweise darauf, dass sie philosophisch kreative Zentren waren. Ihre historische Rolle bestand hauptsächlich darin, die buddhistische Analyse und Lehre in die japanische Kultur einzuführen. Sie lieferten das intellektuelle Rohmaterial für die späteren philosophischen Entwicklungen der Heian-Epoche. 3. Metaphysische Visionen des antiken japanischen esoterischen Buddhismus Obwohl der Buddhismus bereits in der Nara-Epoche bedeutsam war, erlebte er doch erst in der Heian-Epoche (794–1185) jenen Prozess einer tief greifenden philosophischen Entwicklung und Japanisierung. Zwei buddhistische Denker waren hier besonders einflussreich: Kūkai (774–835; sein posthumer Titel war Kōbō Daishi) und Saichō (767–822; sein posthumer Titel war Dengyō Daishi). Unter diesen beiden war Kūkais philosophischer Beitrag der umfassendere. Er ging im Jahre 804 zum Studium des esoterischen Buddhismus nach China und gründete nach seiner Rückkehr zwei Jahre später den japanischen Shingon Buddhismus. Der analytische und systematische Charakter von Kūkais Schriften qualifiziert ihn als den ersten wirklichen Philosophen der japanischen Geschichte. Für Kūkai ist die Wirklichkeit im Grunde eine Person. Der gesamte Kosmos ist nicht mehr als die Gedanken, Worte und Taten des Buddha, genannt ‚Dainichi‘ (wörtlich: ‚die große Sonne‘). Dainichi ist nicht der Schöpfer des Universums; Dainichi ist das Universum. In einem fortwährenden Zustand der erleuchteten Meditation führt Dainichi die drei großen Übungen des esoterischen Buddhismus durch: das Singen der heiligen Silben (der sog. ‚Mantras‘), die Visualisierung geometrischer Symbolfelder (der sog. ‚Mandalas‘), und die Durchführung heiliger Gesten oder Handbewegungen (der sog. ‚Mudras‘). Diese drei Aktivitäten bestimmten die Natur des Universums. Die Mantras sind mikrokosmische Resonanzen oder Schwingungszustände der Stoff-Energie, aus der die grundlegenden Elemente bestehen. Die Mandalas bestimmen die wesentliche Struktur der Welt, und die Mudras bilden die Muster des Wandels. Mit der Durchführung dieser Rituale des Mantra, Mandala und Mudra erreicht eine Person unmittelbare Einsicht in das Wesen des Kosmos. Durch Introspektion in die Natur ihrer eigenen Gedanken, Worten und Taten heißt es, der Shingon-Buddhist erreiche Einsicht in die Gedanken, Worte und Taten des Buddha bzw. des Dainichi. Mit dem Verständnis seiner eigenen Person verstehe man auch die Person, die das Ganze der Wirklichkeit ist. Innerhalb des Rahmens dieses metaphysischen Systems entwickelte Kūkai eine umfassende Philosophie, die zahlreiche große philosophische Themen behandelte. Beispielsweise kritisierte er die Vorstellung, dass Einsicht oder Erleuchtung rein geistig oder nur intellektuell erfolgen könne. Weil das Universum selbst aus Denken, Worten und Taten bestehe (oder aus Struktur, Resonanz und schematischem Wan-
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del), könne es nur durch die einheitliche Praxis der ganzen Person begriffen werden: Geist, Sprache und Körper. Die Wirklichkeit zu kennen heiße vollständig an ihr teilzuhaben, in allen dergestalt definierten (drei) Dimensionen. Ein weiterer Schwerpunkt des philosophischen Interesses von Kūkai war das Wesen des Ausdrucks. Weil der Kosmos eine Person ist, ist die Wirklichkeit der expressive Stil dieser Person. Jede Entität ist daher ein Symbol oder ein Abdruck der mentalen, körperlichen und sprachlichen Tätigkeit des Dainichi. Weil wir Menschen aber das Element des willensfähigen Bewusstseins enthalten, können wir auch die wahre Quelle aller Tätigkeit ignorieren und uns selbst als unabhängige Entitäten auffassen. Wir können die Dinge durch die Auferlegung unserer eigenen Abdrücke interpretieren, womit wir ihre (und unsere) fundamentalere Natur verdecken. Diese Täuschung ist die Quelle aller menschlichen Pein und Unwissenheit. Das Entkommen aus diesem Trugbild erfolgt mit der Anerkennung und der Teilhabe an der selbstexpressiven Natur der Wirklichkeit. Kūkais zeitgenössischer größerer Konkurrent, Saichō, gründete den japanischen Tendai-Buddhismus. Obwohl Saichōs primäres Ziel auf seiner Reise nach China war, die Lehren der Tiantai-buddhistischen Tradition wieder zurück nach Japan zu bringen (siehe Buddhistische Philosophie, Chinesische), hatte er doch auch Gelegenheit, einen Lehrer der Esoterik zu treffen. Als er daraufhin nach Japan zurückkehrte, nahm seine Tendai-Schule esoterische buddhistische Elemente genauso wie die exoterischen Lehren des Tiantai in sich auf. Durch den Austausch von Shingon- und Tendai-Schülern in Japan fanden einige der esoterischen Lehren von Kūkai ebenfalls ihren Weg in die Tendai-Schule. Das Ergebnis hiervon war, dass am Ende des 9. Jahrhunderts die zwei dominanten Formen des japanischen Buddhismus beide zumindest teilweise esoterischer Natur waren. Wir können den Einfluss der esoterischen buddhistischen Theorie der Wirklichkeit sowohl vom Standpunkt einer Kulturgeschichte, als auch aus der Sicht der Philosophiegeschichte betrachten. Kulturell ist es wichtig, dass der esoterische Buddhismus weder in der Lehre, noch politisch der Anwesenheit der einheimischen Religion, dem Shintō, widersprach. Der esoterische Buddhismus stärkte vielmehr viele Aspekte des einheimischen religiösen Weltbildes, als dass er es herausforderte: beispielsweise die Allanwesenheit des Heiligen, die Expressivität der Natur und die Nichtdualität der Materie und des Geistes. Darüber hinaus stellten sowohl Kūkai, als auch Saichō den zahlreichen Buddhas der Esoterik die verschiedenen kami der traditionellen japanischen Religion an die Seite. Durch diesen Prozess wurde die japanische Archaik tatsächlich durch ein philosophisch sehr ausgeklügeltes System des buddhistischen Denkens gestützt, das aus dessen Heimat importiert und an die japanischen Verhältnisse angepasst worden war. Der Buddhismus und Shintō konnten daher nebeneinander ausgeübt werden, ohne in gegenseitigen Widerspruch zu geraten. Diese Entwicklung stellt den metaphysischen Hintergrund dar, vor dem sich später das japanische Denken entwickeln sollte. Man kann sagen, dass der esoterische Buddhismus für die japanische Philosophie das war, was Platon und Aristoteles für die westliche Philosophie waren. Er steckte den Rahmen in Gestalt einer Reihe von Vorannahmen ab und schuf damit eine Problemsituation, die profunden Einfluss auf das nachfolgende Denken hatte. Zwei Annahmen waren darunter besonders einflussreich. 832
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Erstens hat die Esoterik eine sehr bestimmte Sichtweise der Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen. Das Ganze manifestiert sich rekursiv bzw. reflektiert sich im Teil. Es ist nicht so, dass die Teile das Ganze konstituieren, noch dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Stattdessen erkennen wir, weil das Teil dies nur kraft des Ganzen ist, und wenn wir das Teil wirklich verstehen, dass das Ganze in ihm eingeschrieben ist. In Shingons Fall verstehen wir beispielsweise, das ein jegliches individuelles Ding ein Ausdruck des Kosmos in Gestalt des Dainichi ist. Wenn wir wirklich das Teil (also den individuellen Gegenstand) verstehen, dass wir dann auch das Ganze (Dainichi) finden. Mit dieser Orientierung als einer kulturellen Grundannahme sollten spätere japanische Philosophen nur selten eine entweder atomistische Analyse oder den Individualismus gutheißen (siehe Atomismus, Antiker; Methodischer Individualismus). Die atomistische Analyse wurde in Japan über die Nara-Schulen von Jōjitsu und Kusha eingeführt. Kūkai ordnete sie als philosophische ‚Geisteshaltungen‘ ausdrücklich weit unterhalb des Kegon und des Tendai ein, teilweise weil nur die letzteren diese Theorie des Ganzen-als-Teil unterstützten. Der Individualismus mit der ihm innewohnenden Theorie des Sozialkontrakts kam über den Westen erst im späten 19. Jahrhundert nach Japan. Da er das soziale Ganze als durch seine Bestandteile zusammengesetzt ansah, geriet er in Gegensatz zu den esoterischen Grundannahmen. Daher überrascht es nicht, dass der Individualismus in Japan niemals als eine Grundlage für die soziale, ethische oder politische Theorie Fuß fassen konnte. Zweitens argumentierte die esoterische Metaphysik, dass die Wirklichkeit selbstexpressiv sei. Menschen seien selbstverständlich Teil dieser Wirklichkeit. Wenn Menschen aufrichtig oder wahr sprächen, bezögen sie sich deshalb nicht auf die Wirklichkeit, sondern seien vielmehr Teil des Selbstausdrucks dieser Wirklichkeit. Diese Position untergrub alle philosophisch-idealistischen Tendenzen (d.h. Auffassungen der Wirklichkeit als einer Produktion des Geistes), aber auch des Realismus (d.h. einer Auffassung der Wirklichkeit als etwas, das schon vor unserem Ausdruck existiert und eines Wahrheitsbegriffs, demzufolge Expression dann wahr ist, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt), oder auch des radikalen Nominalismus (d.h. einer Auffassung, dass sich Ausdrücke primär auf andere Ausdrücke beziehen, die nicht notwendig mit einer nichtsprachlichen Wirklichkeit in Bezug stehen müssen) (siehe Idealismus; Realismus und Antirealismus; Nominalismus). In den Nara-Schulen gab es Varianten des Idealismus (Hossō), des Realismus (Kusha und Jōjitsu) und den Nominalismus (Sanron). Und auch hier ordnete Kūkai sie alle unterhalb des Kegon und des Tendai ein, und natürlich auch unterhalb dessen, von dem er meinte, dass sie die einzige umfassende Geisteshaltung sei, nämlich der Esoterik. Diese Voraussetzung betreffend das selbstexpressive Wesen der Wirklichkeit liegt auch den meisten japanischen ästhetischen Theorien zugrunde. Die HeianEpoche war die erste, in der eine ganz ins Einzelne gehende Menge ästhetischer Beschreibungsausdrücke entwickelt wurde, z.B. miyabi (‚kultivierte, verfeinerte Eleganz‘) und mono no aware (‚die Schmerzlichkeit der Dinge‘, d.h. jene ästhetische Tönung des Traurigen, die mit der Wertschätzung des Verschwindenden einhergeht). In späteren Epochen wurden noch weitere ästhetische Ausdrücke wie z.B. yūgen (das verborgene Sublime oder die Tiefe), sabi (die ‚Einsamkeit‘ einer Eleganz, der das Altern erlaubt ist) und wabi (die Ländlichkeit) traten ins Blickfeld. Diese Aus833
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drücke haben reiche Konnotationen, die noch nicht richtig ins Englische oder Deutsche übersetzt wurden. Im Allgemeinen bedeuten sie allerdings gleichermaßen eine Qualität des Gegenstandes und die Reaktion oder Antwort des Künstlers oder sein ästhetisches Empfinden darauf. Das Ästhetische muss man dabei als die selbstexpressive Resonanz zwischen dem Gegenstand und dem Künstler verstehen. Die Welt drückt sich selbst durch den Künstler als ein Kunstwerk aus. 4. Mittelalterliche philosophische Anthropologie: Der Buddhismus des ‚Reinen Landes‘ Während der Heian-Epoche (dem sog. ‚Goldenen Zeitalter‘: 794–1185) war die hoch literarische und elegante Kultur des Hofes von Kioto auf seinem Höhepunkt. Die ästhetisch ansprechenden Rituale des esoterischen Buddhismus stießen auf eine aufgeschlossene Zuhörerschaft unter den Aristokraten und dem Klerus. Nur sie verfügten über die Muße und Freizeit, über die Erziehung und die Ressourcen, um ihr Leben dessen Studium und Ausübung widmen zu können. Die allgemeine Bevölkerung wurde weiter ihrer Volksreligion überlassen, die ein Amalgam von Bräuchen war, deren Wurzeln im Buddhismus, dem Shintō und dem alchemistischen Taoismus lagen. Im frühen 12. Jahrhundert war der Hof politisch so entkräftet, dass die provinzielle Aristokratie um die Macht zu konkurrieren begann, und die neuerlich empor gekommenen samurai kämpften um die Kontrolle des Landes. Krankheiten, Hungersnöte und Erdbeben kamen dazu und waren außergewöhnlich zerstörerisch. Kurz gesagt, jeder aufmerksame Beobachter dieser Zeit musste den Niedergang der sozialen Ordnung, die Rohheit der Natur und die Verdorbenheit des menschlichen Geistes bemerken. Es gab wenig Zeit für metaphysische Spekulationen, und sie spendeten auch keinen Trost. Die Philosophen wendeten sich mit ihren Analysen dieser Welt und ihren Einbildungen zu und fragten sich, welcher Fehler des Menschen ein solches Leiden verursacht haben mochte. Im Jahre 1185 siegte das MinamotoGeschlecht, und 1192 wurde Yoritomo der shōgun (Kaiser), er schlug sein Regierungszentrum in Kamakura auf. Damit begann die Kamakura-Epoche (1185–1333) und mit ihr eine philosophische und religiöse Neuorientierung. Die Philosophen der Kamakura-Epoche, wie z.B. Hōnen (1133–1212), Shinran (1173–1262), Yōsai bzw. Eisai (1141–1215), Dōgen (1200–1253) und Nichiren (1222–1282) reagierten auf diesen Niedergang und das Leiden ihrer Zeit. Jeder entwickelte seine eigene Deutung der menschlichen Zwangslage und den daraus folgenden Lösungsvorschlag. Sie alle waren ursprünglich als Tendai-Mönche ausgebildet worden. Doch diese Reformer verließen schließlich das religiöse Establishment und gründeten neue buddhistische Abspaltungen, die den breiten Bevölkerungsschichten genauso dienten wie de Eliteschichten der japanischen Gesellschaft. Unter den Kamakura-Schulen des Buddhismus waren das ‚Reine Land‘ und Zen (dt.: ‚Sein‘) die einflussreichsten Theorien über das menschliche Sein. Shinran war der Gründer des Shin-Buddhismus bzw. der ‚Schulen des wahren reinen Landes‘; Dōgen gründete den Sōtō-Zen. Beide leisteten eine umfassende philosophische Grundlegung ihrer eigenen Tradition (siehe Buddhistische Philosophie, Japanische). Diese beiden Schulen unterscheiden sich scharf voneinander in ihrem philosophischen Menschenbild. Als Buddhisten stehen sowohl die Shinran-, als auch die Dōgen-Schule hinter der buddhistischen Analyse der Quellen des Nichtwissens, 834
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nämlich dem Egoismus. Der Egoismus definiert das Selbst als einen unabhängigen Akteur, der Handlungen vornimmt und Erfahrungen macht. Die buddhistische Sichtweise geht dagegen davon aus, dass das Ich nicht mehr als ein Name für aufeinander bezogene Handlungen und Ereignisse ist, und darüber hinaus nichts, was dem zugrunde liegt. Dies impliziert, dass die Grenzen des Selbst eher unscharf als genau abgegrenzt sind. Beispielsweise können wir aus einiger Entfernung den allgemeinen Verlauf eines Flusses recht gut ausmachen; wenn wir uns aber dicht genug heran bewegen, können wir nicht mehr genau ausmachen, wo eigentlich der Fluss endet und sein Ufer beginnt. Wenn der Fluss über ein Bewusstsein verfügte und sich aus seiner Sicht um eine Bestimmung des Ausdrucks ‚meine Grenze‘ bemühen würde, im Gegensatz zur Bedeutung von ‚seiner Grenze‘ aus objektiver Perspektive, dann würde ein solchermaßen seiner selbst bewusster Fluss genau den Prozess aus dem Blick verlieren, durch den er ins Sein tritt und der ihm dazu verhilft, sich selbst definieren zu können. Auf analoge Weise meinen die Buddhisten im Allgemeinen, dass der Egoismus, indem er sich ständig um eine Definition, Abgrenzung und den Schutz des Selbst bemüht, den weiteren Zusammenhang des Selbst ignoriert. Der Egoismus übersieht die Abhängigkeit des Selbst von dem, was er als Teil seiner Außenwelt und damit als getrennt von sich ansieht. Als ein Schüler von Hōnen, dem Gründer der japanischen ‚Schule des Reinen Landes‘, übernahm Shinran auch die spezifischen Vorstellungen dieser Tradition, einschließlich der Theorie, dass die Menschheit in eine degenerierte Epoche ihrer Geschichte eingetreten war. Sidn wir unseren eigenen Mitteln überlassen, so sind wir zu einem Leben und immer wieder neuen Leben in Angst, Unzufriedenheit und Verzweiflung verurteilt. Die Buddhisten des Reinen Landes glauben allerdings, dass ein himmlischer Buddha namens Amida unsere Situation wahrgenommen hat und sich unserer erbarmt. Er habe geschworen, dass wir uns, wenn wir uns vollkommen seinem Mitgefühl anvertrauen und ihn unter seinem Namen anrufen, sicher sein können, in seinem Reinen Land wiedergeboren zu werden, wo die Bedingungen einer buddhistischen Lebensführung förderlich seien. In seinem Reinen Land können wir die notwendige geistige Disziplin erwerben und dann in diese Welt zurückkehren, um die Erleuchtung zu erlangen. Wenn wir dies tun, können wir eine geistige Hilfe für die anderen Menschen in dieser Welt sein. Dies war die grundlegende Fassung des Buddhismus des Reinen Landes, den Shinran akzeptierte. Innerhalb des traditionellen Rahmens entwickelte er jedoch seine eigene und distinkte philosophische Analyse des menschlichen Daseins. Shinran glaubte, dass er einen Widerspruch darin entdeckt hatte, wie die meisten Buddhisten ihre Bräuche verstanden. Diese unternahmen Übungen in zahlreichen Disziplinen (der Meditation, dem Lesen von Texten, dem Singen von Mantras etc.) als Mittel zur Ausmerzung des Egoismus und zur Erreichung von Einsicht in die Wirklichkeit. Dies impliziert, dass man den Egoismus durch seine eigene Kraft überwinden kann, durch die ‚Kraft des Selbst‘. Die Menschen meinten, sie würden durch ihre religiösen Übungen ‚Verdienste erwerben‘. Shinran wandte hiergegen ein, dass die Menschen, wenn sie die Übungen zum Erwerb von Verdiensten vornähmen, diese Handlungen dem Egoismus nur Nahrung geben würden, anstatt ihn mit der Wurzel auszureißen. Die gesamte Disziplin würde als ein Mittel verstanden, durch den ich mich zu meinem eigenen Wohl verbessern kann. Shinran betrachtete diese Betonung der Selbstermächtigung als die psychologische Grundlage der Dege835
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neration des gesamten Zeitalters, in dem er zu leben meinte. Weil die Menschen diese Beziehung zwischen dem Selbst und der buddhistischen Praxis missverstünden, seien die Lehren des Buddhismus tatsächlich undurchschaubar geworden, womit auch die Aussicht auf Einblicke in die Wirklichkeit schwand. Obwohl Shinran nicht ausdrücklich die ontologische Wirklichkeit des ‚Reinen Landes‘ oder die Darstellung von Amidas Schwur leugnete, konzentrierte sich seine Philosophie doch mehr auf die psychologischen und logischen Implikationen der Position des ‚Reinen Landes‘. Zentralen Stellenwert hatte für ihn, dass die Menschen ihre egoistischen Motive aufgeben müssten, indem sie eine Haltung des ‚anvertrauenden Herzens und Geistes‘ (shinjin) annehmen. Indem man das Ego vollständig aufgebe, können die Menschen zur Macht von Amidas Schwur zur Hilfe Vertrauen fassen. Damit wenden sie sich von der ‚Macht des Selbst‘ zur ‚Macht des Anderen‘. Angesichts der Geburt im ‚Reinen Land‘, jenem Reich, das frei ist vom Egoismus, verschwinde die Vorstellung von einem gesonderten oder unabhängigen Selbst. Allerdings, so überlegte Shinran, kann es, wenn es an diesem Punkte kein Selbst mehr gebe, logisch auch kein Anderes mehr geben. Es gibt dann nur noch ‚Naturgegebenheit‘, und Amida selbst verschwinde schließlich auch. Shinjin bleibe als das Anvertrautsein bestehen, dass sich selbst zu dieser Natürlichkeit hin öffne. In diesem egolosen Zustand kann man geistig anderen Personen helfen. Man könne sagen, dass man vom Reinen Land wiederkehre, um in dieser Welt wiedergeboren zu werden. Und indem man anderen in dieser Welt helfe, könne das Ego erneut als das Ich gebildet werden, dass seiner selbst bewusst den Anderen hilft. Sobald man jedoch zu denken beginne, dass man gute Taten kraft seiner eigenen Kräfte verrichte, müsse der gesamte Prozess wiederholt werden. Man müsse wieder das Trugbild des Ego erleben, müsse sich wieder an Amidas Macht übergeben, und Amida müsse erneut verschwinden, damit man wieder aus dem Reinen Land in diese Welt zurückkehren kann. Kurz gesagt, Shinran war damit einverstanden, dass man, um die Unwissenheit zu überwinden, zunächst den Egoismus überwinden müsse. Dies könne nur gelingen, so glaubte er, wenn man vollständig auf die Vorstellung verzichte, dass man sich selbst helfen könne. Nur über die Verzweiflung an der Wirksamkeit der eigenen Kraft und durch ein Anvertrauen seiner selbst an Amidas Kraft könne man natürlicherweise das werden, was man wirklich sei. In diesem egolosen Zustand könne man die Wirklichkeit so verstehen, wie sie sei, und sich frei handelnd als ein mitfühlendes Wesen in der Welt bewegen. Der Zen-Buddhismus beschäftigte sich mit derselben Frage, schlug aber einen genau entgegengesetzten Ansatz vor. 5. Mittelalterliche philosophische Anthropologie: Zen-Buddhismus Wie die Buddhisten des Reinen Landes glaubte auch der Zenmeister Dōgen, dass die übliche Interpretation der buddhistischen Bräuche als Mittel zur Erleuchtung einen grundlegenden Fehler aufwiese. Statt aber einzuwenden, dass man diese Bräuche aufgeben müsse, meinte er, dass diese Bräuche oder die Selbstdisziplin ein Ziel an sich selbst seien. Er lehnte die populäre Theorie ab, dass er in einem Zeitalter der Degeneration leben würde, in dem die Erleuchtung nicht mehr möglich sei. Stattdessen bestand Dōgen darauf, dass jedermann bereits erleuchtet ist, dass sich aber diese Erleuchtung noch nicht in seinen Handlungen manifestieren oder 836
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ausdrücken würde. Das Ziel sei daher, das zur Wirklichkeit zu machen, was wir bereits seien. Dōgen, der in der Zen- oder Chan-buddhistischen Tradition in China ausgebildet worden war, spürte die Beschränkungen der Sprache und misstraute gewissen Arten des Denkens. Wie auch andere Buddhisten verstand er als Kern des Problems den Egoismus. Durch Hypostasierung (Vergegenständlichung) des Egos verfalle man in den Wunsch, dass die Wirklichkeit auf eine bestimmte Art und Weise gegeben sei. Man suche Dauerhaftigkeit sowohl im Selbst, als auch in der eigenen Weltsicht. Daher komme es leicht zu einer Projektion von Interpretationen der Erfahrungen auf andere Dinge, und zwar zu solchen Interpretationen, die die Erfahrung in einer Weise formen, dass sie unseren Voraussetzungen, Erwartungen und Wünschen entspricht. Dōgen glaubte, dass die Unmittelbarkeit der Erfahrung möglich sei. In der ZenMeditation beruhige man seinen Geist und lasse die Phänomene einfach erscheinen. Dōgen nannte dies den Zustand des ‚Ohne-Denkens‘ im Gegensatz entweder zum ‚Denken‘ oder zum ‚Nicht-Denken‘. Das Denken umfasst nach Dōgen jede Form der nachhaltigen Konzeptualisierung, d.h. der ‚Verbegrifflichung‘, wie z.B. die Fantasie, das Nachdenken, das Glauben, das Bestreiten, das Wünschen, das Hoffen und anderes dieser Art. ‚Nicht-Denken‘ ist die Bemühung, den Geist leer zu wischen und von aller Bewusstheit zu entleeren. Im ‚Ohne-Denken‘ gibt es jedoch das Bewusstsein des rohen Phänomens, aber keine Handlung einer Bedeutungszuweisung. Es gibt hier kein Bewusstsein eines Selbst mehr, dass eine Erfahrung hat. Ferner ist das Bewusstsein, weil überhaupt keine Bedeutung mehr auf das Ereignis projiziert wird, frei von der Verzerrung der gewöhnlichen, vom Ego getriebenen Formen der Erfahrung. Dōgen nannte dies schlicht „die Vergegenwärtigung der Dinge, wie sie sind“. Dōgen behauptete, diese Form der Meditation sei kein Mittel zur Erleuchtung. Stattdessen und genau deshalb, weil es ohne Ego ist, ist es die Erleuchtung selbst. Daher sei dieses Meditations-Erleuchtungsereignis immer erreichbar. Es sei sozusagen die Wurzel aller Erfahrung, des Denkens und des Nicht-Denkens. In dieser Hinsicht seien wir bereits alle erleuchtet, haben uns diese Tatsache aber nicht vergegenwärtigt. Und selbstverständlich müssen wir, um in diesen Zustand zu kommen, in den Zustand des ‚Ohne-Denkens‘ zurückkehren. Das ‚Ohne-Denken‘ ist daher eine noch nicht begrifflich erfasste, d.h. nicht konzeptualisierte Unmittelbarkeit. Da in ihm keine Begriffe gegeben seien, sei es an sich selbst bedeutungslos. Für Menschen sei es jedoch unmöglich ein Leben ohne Bedeutungen zu leben. Die Erleuchtung müsse folglich in der Meditation nicht nur auf sich selbst zurückgeführt werden, sondern sie müsse auch im täglichen Leben zum Ausdruck kommen. Wie kann das geschehen? Dōgen behauptet, dass Bedeutung immer kontextbezogen sei. Er stellt fest, dass der Ozean eine jeweils andere Bedeutung für einen in ihm schwimmenden Fisch, eine Person in einem Boot auf dem See und eine Gottheit habe, die aus dem Himmel auf ihn herabschaue. Für den Fisch sei der Ozean ein transparenter Palast; für den Menschen sei er ein großer Kreis, der sich nach allen Richtungen bis zum Horizont erstrecke; und für die Gottheit sei er eine Seite edelsteinartiger Lichter, die im Sonnenschein glitzern. Wenn die Gottheit den Ozean als Kreis interpretieren müsste, oder wenn der Mensch im Boot ihn als Palast verstehen müsste, dann würden sie nicht ausdrücken, was tatsächlich vor ihnen gegeben ist. Ihre Interpretation wäre 837
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falsch. Daher ist der Schlüssel zur Wahrheit der Bedeutung ihre Angemessenheit im Verhältnis zum Kontext. Nach Dōgen ist das meditative ‚Ohne-Denken‘ der Prüfstein zur Bestimmung, ob der Kontext angemessen gewählt ist. Der Kontext verändert sich ununterbrochen und lässt im Zuge unseres Fortlebens neue Bedeutungen entstehen. Was zu einem Zeitpunkt eine Baumkrone ist, kann zu einem anderen ‚Feuerholz‘ und zu einem dritten ‚Schutzzone‘ bedeuten. Dōgen bezieht sich auf diesen Zeitpunkt als ‚Anlass‘ oder ‚Gelegenheit‘ des Zeit-Seins. Für Dōgen ist das Problem des Egoismus sein Widerstand gegen ein Annehmen des Ereignisflusses. Der Egoismus versuche eine Reihe vorangehender Bedeutungen in einer Weltsicht zu fixieren, sie zu jeweils ‚meiner‘ Wirklichkeit zu machen. Deshalb projiziere man Kontexte, die gar nicht mehr gegeben sind, auf die aktuellen Phänomene. Durch die Meditation könne man diesen geschlossenen Kreis der sich selbst bestätigenden Projektionen jedoch durchbrechen. Man könne in die Gegenwart der Dinge, wie sie vor aller Bedeutung gegeben sind, zurückkehren, d.h. bevor sie in irgendeinen bestimmten Kontext eingebunden werden. Wenn dann jemand in die expressive Welt des alltäglichen Handelns zurückkehre, sei es leichter, die Eignung des jeweiligen Kontextualisierungsprozesses zu überprüfen, aus dem die Bedeutung hervorgeht (siehe Bedeutung und Verifikation). Die philosophischen Anthropologien der Lehre des Reinen Landes und des Zen sprechen das gemeinsame Problem des Egoismus an, aber ihre Lösungen des Problems sind grundlegend verschieden. Im Buddhismus des Reinen Landes führt die Anerkennung der Unwirksamkeit des Egoismus zu einer Psychodynamik von der Verzweiflung über das Anvertrauen zur Natürlichkeit. In der Philosophie des Reinen Landes wird das Ego abgelehnt und stattdessen ein Modell der wechselseitigen Abhängigkeit favorisiert. Diese ergibt sich in einem Prozess der Selbstauslöschung und der Aufgabe. Im Gegensatz dazu überwindet der Zen-Buddhismus die negativen Wirkungen des Egoismus nicht durch Selbstauslöschung, sondern durch Selbstanalyse. Man studiert die Dynamik des Bewusstseins und gründet sich selbst neu in reiner, aber bedeutungsloser Gegenwart. Die Lehre des Reinen Landes und des Zen sind sich darin einig, dass die Selbstdisziplin kein Mittel zum Erlangen der Erleuchtung sei. Im Zen bringt dies andererseits die Akzeptanz der Selbstdisziplin als Selbstzweck mit sich. Diese beiden philosophischen Anthropologien zeigen beispielhaft, wie sich die Kamakura-Philosophen allgemein auf das Wesen der Lebenspraxis als Teil einer Analyse der menschlichen Existenz konzentrierten. In der Heian-Epoche scheint die dringendste philosophische Frage jene betreffend die Natur des Kosmos gewesen zu sein. In der Kamakura-Epoche verlagerte sie sich auf das Wesen des Selbst. Shinran und Dōgen brachten besonders eindrucksvolle Analysen der menschlichen Motivation und der Struktur des Bewusstseins hervor, und ihre Modelle des Selbst sind bis in die Gegenwart der japanischen Kultur einflussreich. Es ist allerdings bedeutsam, dass ihr Fokus vor allem auf das innere Selbst gerichtet war, und weniger auf das soziale Selbst. Die soziale Dimension wurde erst in der nächsten größeren Entwicklungsperiode der japanischen Philosophie zu einem wichtigen Thema. 6. Neokonfuzianismus, der Samurai-Kodex und die Tokugawa-Gesellschaft Im Anschluss an die Kamakura-Epoche gab es zunächst mehrere Epochen des Krieges und der internen Konflikte. Ein länger währender, landesweiter Friede kam 838
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erst mit der Etablierung des Regimes der Tokugawa-Familie als shoguns (Kaiser). Fast über die gesamte Tokugawa-Epoche hinweg, d.h. (von 1600–1868) schloss sich Japan selbst von jeglichem Austausch mit der Außenwelt ab. Beispielsweise wurde das Christentum, das im 16. Jahrhundert durch Missionare nach Japan gebracht worden war, formal verboten. Die Tokugawa-shoguns richteten ein hoch bürokratisches Regierungssystem ein, das ihnen eine nie zuvor dagewesene Kontrolle über die japanische Gesellschaft verschaffte, angefangen bei ihrem Erziehungssystem über ihre Geschäftstätigkeiten bis hin zu den religiösen Institutionen. In diesem Zusammenhang wandte sich ein Großteil der philosophischen Bemühungen den Interessen des Staates und der Bestimmung der sozialen Verantwortung des Einzelnen zu. Während des 15. und 16. Jahrhunderts hatte Japan ein starkes Eindringen fremden Gedankenguts erlebt. Besonders die zenbuddhistischen Mönche, die das chinesische Festland besucht hatten, brachten nach Japan Texte der neokonfuzianischen Tradition zurück, die in China von Zhu Xi und Wang Yangming begründet worden war. Da die japanische buddhistische Philosophie nur wenig über soziale Verantwortung in säkularen Zusammenhängen zu sagen hatte, zog die ethische Dimension dieser Texte eine wachsende Aufmerksamkeit auf sich. Der Neokonfuzianismus ging weiter als der traditionelle Konfuzianismus, indem er eine metaphysische Ebene zur Erklärung der natürlichen Welt und der Möglichkeit ihrer Erkenntnis hinzufügte. Schon seit alters her hatte der Konfuzianismus eine größere Rolle in der sozialen, bürokratischen und ethischen Struktur der japanischen Kultur gespielt. Im Versuch, die Regierung nach Jahrhunderten des Krieges zu stabilisieren und zu organisieren, waren die Tokugawa-shoguns natürlich fasziniert von dieser neuen und umfassenderen Form der Sozialphilosophie im Verhältnis zu jener, die bis dahin in Japan gegolten hatte. Da sie wegen der Popularität des Buddhismus ferner auf der Hut waren, hießen sie wahrscheinlich die neokonfuzianische Herausforderung der Fast-Hegemonie willkommen, die der Buddhismus in der japanischen Philosophie erreicht hatte. Wie auch immer, verliehen die Tokugawa-shoguns dem Neokonfuzianismus vom frühen 17. Jahrhundert an einen besonderen Status und Schutz, insbesondere der Shushigaku-Schule, d.h. der japanischen Schule des Zhu Xi. Mit dem wachsenden Frieden und Wohlstand der Tokugawa-Epoche gab es auch einen neuen Bedarf an philosophischer Ausbildung, speziell in den großen städtischen Zentren von Kioto, Osaka und Edo (jetzt Tokio). Die aufstrebende Klasse der Kaufleute verlangte nach dem sozialen Glanz der Oberklassenerziehung und -ausbildung. Darüber hinaus wollten infolge der langen Friedenszeit auch viele arbeitslose samurai (Krieger) eine klassische Ausbildung haben, um sich für Stellen in der Regierungsbürokratie bewerben zu können. Das Ergebnis war ein Anwachsen der unabhängigen Schulen und eine Vermehrung der Lehrer mit unterschiedlichen philosophischen Ansätzen. Allgemein finden wir, dass die Tokugawa-Epoche in zwei Gebieten eine größere philosophische Entwicklung erlebt: in der naturalistischen Metaphysik und in der Sozialphilosophie bzw. der Ethik. Die Shushigaku-Schule entwickelte eine Theorie der Wirklichkeit oder der Metaphysik, die der im japanischen Denken so fest eingewurzelten buddhistischen Theorie fremd war. Insbesondere verstand sie den Ausdruck ‚Wirklichkeit‘ als die Dynamik zwischen ‚Konfiguration‘ oder ‚Prinzip‘ (ri; im Chinesischen li) einerseits und der ‚materiellen Energie‘ oder ‚vitalen Kraft‘ (ki; im Chinesischen qi) andererseits. Laut dem Shushigaku verleiht das ri dem Uni839
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versum seine Struktur, und weil das ri auch der Geist ist, ist es auch die Grundlegung der Erkenntnis. Durch die ‚Erforschung des Wesens der Dinge‘ erfahren wir das ri, und zwar sowohl in uns selbst, als auch in den Dingen, die wir untersuchen. Ki wird andererseits als der Grundstoff angesehen, der durch das ri geordnet wird. Obwohl der Begriff des ri in Japan schon durch den Tendai- und den KegonBuddhismus bekannt war, gaben die Neokonfuzianer dem Ausdruck eine bestimmte Bedeutung. Sie integrierten ihn in das weitere Unternehmen eines Verständnisses der natürlichen Welt. Während der Tokugawa-Epoche gab es ein praktisches Interesse an einem besseren Verständnis der Natur; im 16. Jahrhundert hatten Händler und Missionare aus Europa etwas westliche Wissenschaft nach Japan gebracht. Mit der Abschließung Japans war dieser Kontakt streng eingeschränkt, doch gelegentlich fanden holländische Abhandlungen zur praktischen Wissenschaft oder Medizin dennoch ihren Weg nach Japan. Die meisten japanischen Philosophen fanden die Betonung des ri im Shushigaku jedoch übertrieben abstrakt. Vielen erschien es, dass das ri ein unnötiges transzendentes Reich hinter der physischen Realität behauptete, das nicht erkannt werden konnte, außer mittels eines halb kontemplativen, halb empirischen Studiums. Als Antwort darauf entwickelten die japanischen Denker einen stärker phänomenalistischen Ansatz. Kaibara Ekken (1630–1714) behauptete beispielsweise den Vorrang des ki. Für ihn war das ki der grundlegende Bestandteil der Wirklichkeit und sollte auch direkt studiert werden. Ri war für ihn dagegen nicht mehr als der Name für die Muster, die man als Abstraktionen des Verhaltens von ki ableiten kann. Aus der Perspektive sowohl der Medizin, als auch der Kriegskünste wurde ki zur wichtigeren Kategorie in Japan. Andere naturalistische Philosophen wie z.B. Miura Baien (1723–1789) entwickelten komplizierte eigene Systeme zur Kategorisierung von Naturphänomenen. Solche einheimischen Bemühungen um die Beobachtung und Klassifizierung der natürlichen Welt wären in einer wissenschaftlich voll entwickelten Welt wie der westlichen vielleicht nicht entstanden, aber die Orientierung zeigte zumindest ein wachsendes japanisches Interesse an der Beobachtung und dem Verständnis der natürlichen Welt. Diese phänomenalistische Tendenz sollte Japan im 19. Jahrhundert sehr nützen, als die westliche Wissenschaft und Technologie erneut eingeführt wurden. Auf dem Gebiet der sozialen bzw. der Moralphilosophie war eine wichtige Entwicklung das Auftauchen der ‚Schule des alten Lernens‘. Unter der Führung von Yamaga Sōkō (1622–1685), Itō Jinsai (1627–1705) und Ogyū Sorai (1666–1728) lehnten diese Philosophen die metaphysischen Spekulationen der Neokonfuzianer ab und versuchten zu den frühen klassischen Formen der konfuzianischen Tradition zurückzukehren, speziell zu den Analekten (siehe Chinesische Philosophie; Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Konfuzius). Sie entwickelten ausgeklügelte philosophische und exegetische Fähigkeiten als Werkzeuge auf dem Weg zur Entdeckung der ursprünglichen Bedeutungen solcher Texte. Ihr Ziel war die Klärung der traditionellen konfuzianischen Sozialphilosophie, so dass sie sich als Grundlage der japanischen Gesellschaft verwenden ließ. In dieser Absicht legte die ‚Schule des Alten Lernens‘ ihre Betonung auf die Natur der Tugend und die Entwicklung des Charakters. Ogyū Sorai hatte eine besonders breite Wirkung auf die Gesellschaft mit seinen Theorien über die Erziehung und die moralische Übung. 840
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Einige Philosophen wie Yamaga Sōkō der ‚Schule des alten Lernens‘ mischte konfuzianische Werte mit Kriegerwerten der Loyalität und der Ehre. Yamaga versuchte eine Kriegermentalität im Dienste des Staates zu entwickeln, die auch für Friedenszeiten brauchbar sein sollte. Darüber hinaus traten viele samurai infolge ihrer Beschäftigungslosigkeit in verschiedene buddhistische Kloster ein, speziell in solche des Zen, wo sie eine vertraute Betonung der Disziplin und der Reglementierung vorfanden. Das kombinierte Ergebnis hiervon war ein idealisierter Kriegerkodex (bushidō) als Lebensform, und dies auch für Nicht-samurai und sogar in Friedenszeiten. 7. Landesstudien: religiös-ästhetische Grundlegung des Shintō-Staates Die Rückkehr der ‚Schule des alten Lernens‘ zu den ursprünglichen Klassikern des chinesischen Konfuzianismus spiegelte sich auch in einer Bewegung der Rückkehr zu den frühen japanischen Texten in der Schule der ‚Einheimischen Studien‘ oder der ‚Nationalen Studien‘ (kokugaku). Als ursprünglich literarische und philologische Gruppe, analysierten Gelehrte wie Keichū (1640–1701), Kada no Azumamaro (1669–1736) und Kamo no Mabuchi (1697–1769) die Sprache und die Weltsicht des Nara und der Heian-Dichtung und -Prosa. Die Schule weitete sich jedoch über diese literarischen Ziele hinaus aus und wandte sich Fragen der Religion und der nationalen Identität zu. In dieser Entwicklung spielte die Philosophie von Motoori Norinaga (1730–1801) eine Schlüsselrolle. Die größere Bewegung in den ‚Einheimischen Studien‘ begann mit Motooris Entscheidung als einem Philologen, die veralteten Schriftsysteme des Kojiki wieder zu entschlüsseln (‚Die Aufzeichnung der alten Angelegenheiten‘). Als ein Text des 8. Jahrhunderts war der Kojiki angenommenermaßen die geschriebene Fassung einer zuvor mündlich überlieferten Tradition. In einer Mischung an Mythos und Geschichte diskutiert er die Ursprünge der Welt, die Bildung Japans und die Folge der japanischen Kaiser seit Anbeginn der Zeit bis in die damalige Gegenwart. Hierzu gab es ein Zwillingswerk auf Chinesisch, das zur selben Zeit geschrieben wurde, das Nihon shoki (‚Die Chronik Japans‘). Weil die Rechtschreibung des Kojiki als Schriftsystem kurz nach der Nara-Epoche ausstarb, wurde der Nihon shoki zum häufiger verwendeten Text, der angeblich dieselben Informationen enthielt. Der Kojiki war in der Tat selbst für gebildete Japaner in Motooris Zeit praktisch unlesbar geworden. Durch eine Entzifferung des Textes hoffte Motoori daher, wieder Licht in die ursprüngliche japanische Weltsicht zu bringen. Als ein frommer Gefolgsmann des Shintō hatte Motooris Aufgabe auch eine grundlegend religiöse Dimension. Er glaubte, dass das Kojiki eine geschriebene Darstellung dessen war, das mündlich Wort für Wort seit den Schöpfungstagen überliefert worden war. Das Kojiki enthielt genau die Worte der Gottheit, die die Welt erschaffen hatte. Ferner glaubte Motoori, dass der geschriebene Text, weil er in einer Schrift geschrieben war, die bald außer Gebrauch kam, noch unverfälscht durch spätere Interpreten sei, was ihn über die ‚verschmutzten‘ Kosmogonien anderer Kulturen erheben würde. Dieser feste Glaube stützte Motooris lebenslange Hingabe an diese enorm schwierige Aufgabe einer Entzifferung des Textes. Auf der Grundlage seiner Lektüre der japanischen Klassiker entwickelte Motoori auch eine Philosophie der Dichtkunst oder des religiösen Ausdrucks, nämlich seine sog. ‚Theorie des Herzens‘ (kokoro). Als technischer Ausdruck bezeichnet ko841
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koro den Sitz des Denkens und Fühlens, die Basis der Empfindung. Das Herz ist allerdings nicht auf Menschen beschränkt; Dinge und Worte können danach auch ein Herz haben. Wenn Dichter ein ‚wirkliches Herz‘ haben, dann sind sie vom Herzen der Dinge und der Worte berührt. Der poetische oder religiöse Ausdrucksakt ist daher ein Akt des Herzens und somit etwas, was von den Dingen, der Person und den Worten geteilt wird. Da das eigentliche Herz auch ein Ziel der Shintō-Läuterung ist, sah Motoori in seiner Theorie auch die Grundlage einer religiösen Sprache. Die beeinflusste wiederum sein Verständnis der Bedeutung des Kojiki. Wenn das Kojiki die ursprünglichen Worte der Gottheit zum Zeitpunkt der Schöpfung wiedergibt, so ist das Lesen oder das Studium des Textes geradezu eine rituelle Neuvornahme der Schöpfung. Dies hatte für Motoori zur Folge, dass die alte japanische Sprache des Textes nicht nur die Sprache der Gottheiten ist, sondern auch denkbar intimste Näherung an das Herz der Dinge. Entlang diesem Gedankengang machte Motoori das Kojiki zu einer heiligen Schrift des Shintō. Auf der Grundlage seines Verständnisses des Textes gründete Motoori eine Philosophie des Shintō, die angeblich frei von buddhistischen Einflüssen sein sollte. Praktisch zum ersten Male konnte das Shintō ein formales Lehrgebäude aus sich selbst heraus entwickeln (siehe Shintō). Dieser Gedankengang förderte aber auch leicht eine nationalistische Ideologie. Wenn die alte japanische Sprache die Sprache aller Sprachen war, wenn ferner diese Sprache der reinste Widerhall des Herzens der Dinge war, und wenn zudem der japanische Kaiser die besondere Verbindung zwischen der Gottheit und der Menschheit war, dann käme Japan offenkundig ein besonderer Platz in der Welt zu. Diese Stimmung nationaler Überlegenheit wurde besonders stark in der nächsten Gelehrtengeneration der ‚Einheimischen Studien‘ wie z.B. Hirata Atsutane (1776– 1843) und half der Bewegung beim Umsturz des Tokugawa-Kaiserhauses und bei der Restaurierung des Kaisers als dem wahren Führer Japans. In dieser Bemühung fand die Bewegung einen intellektuellen Gefährten in der Mito-Schule, eine Shintōkonfuzianische Synthese, die für die zentrale Stellung des Kaisers als ‚Körper des Staates‘ eintrat. Die Wiederherstellung des Kaisertums wurde im Jahre 1868 abgeschlossen und war der Beginn des modernen Japan. Zusammengefasst erzeugte die Einführung des Neokonfuzianismus aus China und die Einrichtung eines stabilen Staates unter der Herrschaft der Tokugawa eine neue und fruchtbare Umgebung für die japanische Philosophie. Letztlich wurde der Neokonfuzianismus selbst nicht zu einer herrschenden Philosophie in Japan, aber seine Präsenz fordert die vorherrschenden buddhistischen Philosophien heraus. In diesem neuen Zusammenhang wandte sich die japanische Philosophie mehr der sozialen Ethik, dem Studium der natürlichen Welt und der kulturellen Identität zu. In dieser Epoche entwickelte sich die Idee eines zum Bürokraten gewandelten Kriegers, der jetzt so grimmige Loyalität gegenüber seiner Organisation wie zuvor gegenüber seinem Feldherrn beweist. Da mit dieser Entwicklung auch ein gesteigertes Interesse am Studium und der Einordnung der physischen Naturprozesse einherging, gab es auch eine ästhetische Neubestimmung der Empfindung und des poetischen Ausdrucks. Zum ersten Male wurde das Shintō zu einer größeren intellektuellen Kraft im japanischen Denken, was begleitet wurde von einem Gefühl der Einzigartigkeit und der Superiorität der japanischen Kultur über andere Kulturen. Alle diese
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Umstände bildeten den intellektuellen Hintergrund für das Entstehen der modernen Epoche nach 1868 und der zu dieser Zeit entstandenen Philosophien. 8. Moderne japanische Philosophie und ihre Kritik der westlichen Philosophie Die Tokugawa-Politik der Abschließung endete mit dem Erscheinen der USKanonenboote im Jahre 1854 und ihrer Forderung, Japan müsse sich dem internationalen Handel öffnen. Zum Schutz seiner Souveränität gegen Übergriffe durch die Westmächte meinte Japan, es müsse eine selbstständige und moderne Industrie- und Militärmacht werden. Die Regierung sandte ihre besten jungen Intellektuellen nach Europa und in die USA, um das zu studieren, was für die Modernisierung gebraucht wurde, wie z.B. Medizin, Ingenieurskunst, Landwirtschaft, Postsysteme und Ausbildung. Die Anstrengungen bezogen sich auch auf das Studium des westlichen Denkens als einem Mittel zum Verständnis der westlichen Gesellschaft und der Vorstellungen hinter ihrer Wissenschaft und Technologie. Obwohl es einiges nachhaltiges Interesse am amerikanischen Pragmatismus gab (siehe Pragmatismus), wandten sich die meisten japanischen Philosophen doch nach Deutschland, um dort Inspirationen zu suchen (siehe Deutscher Idealismus). Durch das ganz 19. Jahrhundert hindurch hofften die meisten japanischen Führer, dass der Staat einer japanischen Gesellschaft die westliche Wissenschaft und Technologie verordnen könne, die doch den asiatischen kulturellen Werten treu blieb. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte Japan bereits erfolgreich die Technologie und Militärmacht entwickelt, die notwendig war, um sowohl Russland und China kriegerisch schlagen zu können. Das Ideal einer abgehobenen Objektivität in den westlichen Wissenschaften bedrohte die Tradition eines ausgeprägten Lernverhaltens durch Nachahmung eines Meisters. Die buddhistischen und konfuzianischen Theorien der Wirklichkeit gerieten in Gefahr, vom westlichen Szientismus überwältigt zu werden. Die neuen egalitären Erziehungsideale, die bei der Entwicklung einer technologischen Gesellschaft so hilfreich waren, bildeten auch einen Teil jener demokratischen Weltanschauung, die das Individuum als Grundeinheit der Gesellschaft betonte, und bedrohte damit die traditionellen konfuzianischen Tugenden und die daraus folgende soziale Hierarchie. Wie man mit den Unterschieden zwischen den traditionellen asiatischen und den modernen westlichen Werten umzugehen habe, wurde zu einer größeren Frage unter den japanischen Philosophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die einflussreichste Entwicklung in der modernen japanischen Philosophie war das Auftauchen der Kioto-Denkschule. Im frühen 20. Jahrhundert war die Philosophie zu einer akademischen Disziplin an den japanischen Universitäten geworden. Ein einflussreicher Philosophenkreis scharte sich um Nishida Kitarō (1870–1945), einem Professor an der Universität von Kioto. Diese Gruppe ging dazu über, Probleme betreffend die Bedeutung des Selbst, das Wesen der Erkenntnis, die Rolle der Geistigkeit und den Platz sowohl der ethischen, als auch der ästhetischen Werte anzusprechen. Nishida war in der Vorkriegszeit der Philosoph mit dem herausragendsten Einfluss. Sein philosophisches Ziel war es, den Empirismus und das wissenschaftliche Denken innerhalb eines größeren Systems einzuordnen, in dem auch Werturteile nicht nur untergeordneten Platz haben sollten. Zen no kenkyū (‚Eine Untersuchung Gottes‘), sein erstes größeres Werk, widmete sich dem Begriff der ‚reinen Erfahrung‘, d.h. einer Vorstellung, die er von William James übernommen und vielleicht 843
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aus seiner eigenen zenbuddhistischen Praxis heraus entwickelt hatte. Das Thema des Buches ist, dass es einen Hang oder Druck zur Einheitlichkeit in aller Erfahrung gibt. Die Gedanken entstehen aus dem Bruch der Einheit der Unmittelbarkeit und dienen als ein Mittel zur Errichtung einer umfassenderen Einheit. In Nishidas eigenen Worten ist die reine Erfahrung ‚das alpha und das omega des Denkens‘. Nishida selbst meinte im Nachhinein, diese frühe Bemühung sei zu psychologistisch und mystisch, und er entwickelte daraufhin in den 1920er und 1930er Jahren ein davon abweichendes philosophisches System, das die sog. ‚Logik des Ortes‘ (bzw. des topos) betonte. Nach Nishida ist jedes Urteil durch die Logik seines Kontextes beschränkt, der sich umgekehrt aus einem weiter gefassten Erfahrungsbereich ableitet, den dieses Urteil nicht mehr aus sich selbst heraus erklären kann. Ein empirisches Urteil schließt beispielsweise das Subjekt der Erfahrung aus (siehe Empirismus). Die interne Logik solcher Urteile schließt die Einbeziehung des Selbst aus. Aber selbstverständlich kann es keine empirischen Fakten ohne ein Subjekt der Erfahrung geben. Folglich liegt der logische Ort, an dem die empirischen Urteile gefasst werden, innerhalb eines weiter gefassten Erfahrungszusammenhanges, der die Funktion des Selbst voraussetzt. Wenn man diesen weiteren Kontext dann zum Geltungsbereich von Urteilen macht, führt dies zum Idealismus. Umgekehrt kann man nach Nishida von dem Ort der Erfahrung, der die idealistischen Urteile möglich macht, logisch nicht als einem solchen sprechen, der unter den Geltungsbereich des Idealismus fällt. Nishida nennt diesen Erfahrungsort den ‚Ort des absoluten Nichts‘ als die Grundlage der ‚Handlungsintuition‘. Diese Region kann man in keinerlei logischer Form beschreiben; gleichwohl ist sie die Grundlage allen logischen Ausdrucks. Sie ist auch der Urgrund des geistigen, ethischen und ästhetischen Wertes. Auf diese Weise argumentiert Nishida, dass das Reich des empirischen Urteils erfahrungsseitig notwendig in einem Reich wurzelt, das sich nicht selbst von seinem eigenen Standpunkt aus analysieren kann. Nishidas System versuchte, der westlichen Wissenschaft ihren logischen Platz zuzuweisen, während er zu zeigen hoffte, dass die Herkunft ihrer Erfahrung das sei, was die traditionellen asiatischen Werte schon immer bestätigt hätten. Die Religion, zumindest in ihren asiatischen Formen, stünde der Wissenschaft nicht antagonistisch gegenüber, noch geriete sie durch die Wissenschaft in Gefahr. Im Gegenteil, Nishida wandte ein, dass die geistige Erfahrung das sei, was die Wissenschaft logisch überhaupt erst ermögliche. Nishida trat für eine Synthese der östlichen und westlichen Werte mittels einer Analyse der Logik der Erkenntnis ein. Andere Philosophen, die auf die eine oder andere Weise mit der Kioto-Schule verbunden waren, wie z.B. Tanabe Hajime (1885–1962) und Nishitani Keiji (1900–1990), traten ihm bei diesem logischen oder erkenntnistheoretischen Unternehmen an die Seite. Wieder andere Philosophen der Kioto-Schule gingen dieselben Fragen aus einer anderen Richtung an, indem sie die Werte analysierten. Hisamatsu Shin’ichi (1889–1980) untersuchte beispielsweise die religiös-ästhetische Weltanschauung des Zenbuddhismus und stellt ihn als die Grundlage eines Lebensstils dar. Miki Kiyoshi (1897–1945) entwickelte auf der anderen Seite seine sog. ‚Logik der Kreativität‘, die sowohl von buddhistischen, als auch von der marxistischen Praxistheorie inspiriert war. Unter den modernen japanischen Ethikern war der einflussreichste Watsuji Tetsurō (1889–1960), ein Professor an der Universität von Tokio und formal kein Mitglied der Kioto-Schule. Watsuji erklärte, dass die westliche Ethik das Indivi844
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duum als ihren primus locus begreife. Die westliche Ethik konstituiere sich aus individuellen Bedürfnissen, und im Brennpunkt der Moral stehe der individuelle Akteur. Im Gegensatz dazu, so sagt Watsuji, verstehe die konfuzianische Ethik die soziale Sphäre als ihren primus locus, der wiederum aus seinen primären sozialen Beziehungen bestehe. Watsuji wandte hiergegen ein, dass beide Traditionen insofern fehlerhaft seien, als sie nur jeweils eine Dimension des Ganzen sehen würden. Als Alternative entwickelte er eine philosophische Anthropologie mit einer Betonung auf dem ‚Zwischensein‘, einer dialektischen Spannung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv. Das Kollektiv setzt Normen, innerhalb derer wir in einer gegebenen Gesellschaft handeln können, wobei das Individuum als Ort der Freiheit dient. Wenn das Kollektiv unqualifiziert ist, unterdrückt es die individuelle Freiheit mit der Folge, dass das Individuum die objektive Geltung der Normen bestreitet. Watsuji schloss daraus, dass wahres ethisches Verhalten als eine ‚doppelte Negation‘ nur möglich sei, wenn es die beiden Pole des Selbst zurückweise, ohne sich in einem von ihnen niederzulassen. In diesem ‚Zwischensein‘ fänden wir die dialektische Spannung zwischen dem Sozialen und dem Individuum, die grundlegende Definition unseres Menschseins. So folge das Wesen der Ethik aus der Definition des Menschen, und die Ethik sei die grundlegende Art und Weise der Realisierung unseres Menschseins. Watsuji entwickelte diese Ideen zuerst in seinem Buch ‚Ningen no gaku to shite no rinrigaku‘ (‚Ethik als Studium des Menschen‘, 1934), und dann noch vollständiger in seinem magnum opus, einem dreibändigen Werk mit dem einfachen Namen ‚Rinrigaku‘ (‚Ethik‘, 1937–1949). 9. Nachkriegsentwicklungen Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg brachte viele japanische Philosophen dazu, ihre Positionen zu überdenken. Tanabe und Watsuji bereuten beispielsweise einige der nationalistischen Implikationen ihrer früheren Schriften. In seinem Buch ‚Zangedō to shite no tetsugaku‘ (‚Philosophie als Metanoia‘, 1946) (aus dem Altgr.: metanoia, dt.: ‚allumfassendes Verzeihen‘) entwickelte Tanabe eine verwickelte, dialektische und selbstkritische Methode zur Kontrolle des Auftauchens philosophischer Ideologien. In dem Entwurf dieser Methode wurde er von der philosophischen Analyse im Denken von Shinran inspiriert, die von einem seiner Studenten, Takeuchi Yoshinori, vorgenommen wurde. Die Verbindung mit der religiösen Philosophie wurde zu einem wiederkehrenden Thema in der weiteren Entwicklung der Kioto-Schule, wie sie sich in den Werken von Nishitani, Takeuchi und Ueda Shizuteru zeigt. In einem Geist, der an die buddhistischen Denker des Kamakura erinnert, haben sich viele der Nachkriegsphilosophen nach innen gewandt, um das Wesen der menschlichen Existenz erneut zu prüfen. Sie sahen sich jetzt imstande zu einer Formulierung dieser Existenz in Beziehung sowohl auf die Problemstellung aus der Perspektive des Existenzialismus, als auch aus jener des Buddhismus. Zur selben Zeit spezialisierten sich einige japanische Philosophen weiter im akademischen Studium der westlichen Philosophie. An vielen japanischen Universitäten gibt es inzwischen Institute für Philosophie, wo die Arbeit weitgehend ununterscheidbar von derjenigen ist, die auch in einer philosophischen Fakultät in Europa oder Nordamerika geleistet wird. Allgemein betrachtet dominiert aber weiterhin die kontinentaleuropäische Philosophie im Gegensatz zur britischen analytischen Tradition. 845
Jaspers, Karl (1883–1969)
Neuerdings, besonders seit den 1960er Jahren, gibt es Einzelpersonen und Gruppen von Philosophen, die neue und herausfordernde Richtungen einschlagen, indem sie ihre Vorstellungen aus einem großen Quellenangebot einschließlich der westlichen Wissenschaften, der Psychoanalyse und der Phänomenologie, aber auch aus dem traditionellen asiatischen Denken und der asiatischen Medizin beziehen. Dieses Phänomen ist ein weiteres Beispiel eines wiederkehrenden Musters in der Geschichte der japanischen Philosophie: die Angleichung und Aufnahme fremder Ideen vor dem Hintergrund einer fortbestehenden Tradition. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, chinesische; Buddhistische Philosophie, Japanische; Konfuzianische Philosophie, Chinesische Anmerkungen und weitere Lektüre: Nakamura Hajime (1969): ‚A History of the Development of Japanese Thought‘ . Tokio: Kokusai Bunka Shinkokai (Japanische Kulturgesellschaft), 2 Bde., 2. Aufl. (Dies ist kein ganz einheitliches Buch, aber eine Gruppe von sieben exzellenten Aufsätzen zu unterschiedlichen Epochen der japanischen Philosophie. Das Buch ist zwar nicht mehr lieferbar, aber in vielen Bibliotheken vorhanden. Es ist nach wie vor die am tiefsten gehende Diskussion der japanischen Philosophie auf Englisch.) Tsunoda, R., de Bary, W.T. und Keene, D. (Hrg.)(1964): ‚Sources of Japanese Tradition‘. New York: Columbia University Press, 2 Bde. (Eine umfangreiche Sammlung kurzer Exzerpte aus übersetzten philosophischen Texten Japans, einschließlich einer kurzen, aber nützlichen Einführung zu jedem Autor.) THOMAS P. KASULIS
Jaspers, Karl (1883–1969)
Karl Jaspers wird allgemein als Existenzialist angesehen, wobei die von ihm sog. ‚Existenzialphilosophie‘ jedoch strikt von dem Existenzialismus jener Gruppe von Philosophen zu unterscheiden ist, zu dem unter anderem Jean-Paul Sartre gehörte. Die wichtigsten Quellen seines philosophischen Denkens waren die Schriften von Kierkegaard, Spinoza, Nietzsche und vor allem von Kant. An Letzterem kritisierte er allerdings, dass dieser die Dimension des Zwischenmenschlichen, insbesondere der Liebe, nicht erfasst habe. Diese Betonung des Zwischenmenschlichen ist wiederum eine Folge einer stark christlichen Rückbindung von Jaspers Lebensauffassung. Seine Philosophie ist andererseits stark lebensphilosophisch geprägt: In einer sinnlosen Wirklichkeit, in der die Naturwissenschaften keine Hilfe bei der Selbstvergewisserung bieten, brauche der Mensch nach seiner Auffassung eine illusionslose Sicht seiner Existenz als Grundlage seiner Handlungsentscheidungen. Jaspers entwickelte darüber hinaus auch interessante Konzeptionen auf anderen Gebieten der Philosophie, z.B. in der Religionsphilosophie die Begriffe der Transzendenz, der Chiffre und des philosophischen Glaubens; in der Geschichtsphilosophie die These von den Axialperioden der Geschichte; in der politischen Philosophie die Idee einer neuen, vernünftigen Politik. Sein Existenzialismus handelt vornehmlich von der persönlichen, moralischen Einstellung und den privaten Aspekten der individuellen Selbstverwirklichung in Grenzsituationen und in der innigen oder vertraulichen interpersonalen Kommunikation. Seine politische Philosophie konzentriert sich auf streitige politische Angelegenheiten und einige dringende Probleme seiner eigenen Zeit (beispielsweise der Möglichkeit einer Ausrottung allen Lebens
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Johannes von St. Thomas (1589–1644)
auf der Erde durch Atombomben, oder die Möglichkeit der Errichtung eines weltumspannenden totalitären Regimes.) Siehe auch: Existenzialismus; Lebensphilosophie KURT SALAMUN
Jen
Siehe: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Konfuzius
Jing-Jang
Siehe: Yin-Yang
Johannes der Grammatiker Siehe: Philoponus
Johannes von Alexandrien Siehe: Philoponus
Johannes von Fidanza Siehe: Bonaventura
Johannes von St. Thomas (1589–1644)
Der portugiesische Dominikanermönch des 17. Jahrhunderts Johannes von St. Thomas oder Johannes Poinsot war eine bedeutende Person in der spätscholastischen Philosophie und Theologie. Er wurde in Coimbra und Louvain ausgebildet und lehrte die beiden genannten Disziplinen in Spanien, d.h. in Madrid, Plasencia und Alcalá. In seinem Streben, ein gläubiger Schüler von Thomas von Aquin zu sein, veröffentlichte er den dreibändigen ‚Cursus philosophicus thomisticus‘, und bevor er starb, begann er noch die Publikation des ‚Cursus theologicus‘. Seine philosophischen Schriften handelten ausdrücklich von der Logik und der Naturphilosophie. Er behandelte sowohl in seinen philosophischen, als auch in seinen theologischen Arbeiten allerdings auch zahlreiche metaphysische, erkenntnistheoretische und ethische Fragen. Seine Logik gliedert sich in zwei Teile, einen formalen und einen materialen. Von besonderem Interesse ist seine semiotische Lehre, die dem zweiten Teil zugeordnet ist. In seiner Naturphilosophie erklärt er Aristoteles mit einem thomistischen Duktus. Indem er Thomas von Aquin in der Theologie folgt, entwickelt Johannes die Lehren seines Meisters zuweilen in langen Gedankenfolgen. Sowohl zu seiner eigenen Zeit, als auch danach, genoss er innerhalb der Scholastik eine beachtliche Autorität, speziell unter den Thomisten. Unter denen, die er im Thomismus des 20. Jahrhundert beeinflusst hat, befinden sich Joseph Gredt, Reginald GarrigouLagrange, Santiago Ramirez, Jacques Maritain und Yves Simon. Siehe auch: Renaissance-Philosophie; Thomas von Aquin JOHN P. DOYLE
Johnson, Samuel (1696–1772)
Johnson war der erste wichtige Philosoph im kolonialen Amerika und Autor des ersten philosophischen Lehrbuchs, das hier veröffentlicht wurde. Er leitete seine Standpunkte im Wesentlichen von anderen Autoren ab, wobei er in einem System Elemente verschiedener Quellen kombinierte. Er folgte den Empiristen in ihrer Auffassung, dass die Erkenntnis mit der Wahrnehmung beginnt, stand aber gleichzeitig zu der augustinischen Auffassung, dass die Erkenntnis notwendiger Wahrheiten nur durch die Erleuchtung des Geistes durch das göttliche Licht gelingen kann. Mit Berkeley bestritt er die Existenz der Materie und sah die Körper stattdessen als An847
Journalismus, Ethik des
sammlung von Vorstellungen an. Er behauptete, dass diese Vorstellungen ‚blasse Kopien‘ von Gottes archetypischen Ideen seien, die er sich auf ziemlich ähnliche Weise vorstellte wie Malebranche und John Norris. Seine ethischen Auffassungen, die von William Wollaston beeinflusst waren, bezeichnen das Glück als das höchste Gut, wobei er jedoch betonte, dass die Menschen nach dem Glück im Einklang mit der Natur als rationale, unsterbliche und soziale Wesen streben sollten. Siehe auch: Idealismus CHARLES J. MCCRACKEN
Journalismus, Ethik des
Es wird manchmal geäußert, dass ethische Prinzipien, und sogar die grundlegenden wie z.B. das Vermeiden von schädigendem Verhalten und die Wohltätigkeit, im Journalismus vollkommen fehl am Platze seien, und dass er stattdessen nur durch die Marktkräfte geformt werden sollte. Diesem Vorschlag sollte man jedoch widerstehen. Ein Grund, warum der Journalismus ethisch verstanden werden sollte, ist, dass man von ihm in einer Demokratie erwartet, dass er den öffentlichen Interessen dient. Dies hat zur Folge, dass er die Verantwortung übernehmen sollte, jene Informationen und Meinungen in Umlauf zu bringen, ohne die eine Demokratie nicht funktionieren kann. Aus diesem Grunde genießt das Grundrecht der Pressefreiheit eine so hohe und notwendige Anerkennung. Ein Journalist, der sich hierzu nicht bekennt, verspielt umgekehrt sein Recht, die Pressefreiheit für sich einzufordern. Wenn der Journalismus dem öffentlichen Interesse dienen soll, dann ist die Verpflichtung zum Bericht der Wahrheit grundlegend. Journalisten sollten auch fair und genau in ihren Berichten vorgehen, sollten Gegenmeinungen veröffentlichen und ein Recht auf Antwort oder Gegendarstellung anbieten. Sie sollten die Diskriminierung vermeiden, ebenso Belästigungen, den Verrat von Vertrauen und den Einbruch in die Privatsphäre. Aber ethischer Journalismus ist mehr als nur eine Liste von Anforderungen und Verboten. Im investigativen Journalismus kann beispielsweise Täuschung oder das Eindringen in die Privatsphäre in gewissem Umfange gerechtfertigt sein, um Korruption und ähnliches aufzudecken. Ethischer Journalismus setzt daher das reflexive Verständnis der zugrunde liegenden Prinzipien betreffend den Schaden und Nutzen für das öffentliche Interesse voraus, sowie die Fähigkeit, dieses Verständnis auf konkrete Fälle anzuwenden. Siehe auch: Angewandte Ethik ANDREW BELSEY
Jüdisch-arabische Philosophie in Spanien Siehe: Maimonides, Moses
Judaistische Philosophie Siehe: Jüdische Philosophie
Jüdische Philosophie Einführung Die jüdische Philosophie ist eine philosophische Untersuchung auf der Grundlage von Texten, Traditionen und Erfahrungen des jüdischen Volkes. Ihre Fragestellungen reichen von den am weitesten reichenden kosmologischen Spekulationen zu den intimsten Szenen der moralischen Wahlentscheidung und den dringlichsten 848
Jüdische Philosophie
Bühnen der politischen Debatten. Was sie als spezifische jüdische Philosophie auszeichnet, ist das Vertrauen ihrer praktizierenden Fachleute, dass die literarische Kette jüdischer Tradition Einsichten und Werte vermittelt, die von andauernder philosophischer Bedeutung sind. Ein Kennzeichen dieser fortdauernden Bedeutung ihrer Ideen und Werte ist ihre Darstellung in einer Vielzahl von Sprachen, vom mythischen und archetypischen Diskurs des Schöpfungsberichtes zu den ethischen und legislativen Vorschriften des Pentateuchs, von den Warnungen der Propheten, dem juristischen und allegorischen Midrasch und der Dialektik der Rabbis bis zu den systematischen Demonstrationen, Vorstellungsausflügen, existenziellen Erklärungen und Aperçus von Philosophen in der mittelalterlichen oder neuzeitlichen Epoche. 1. Das Wesen der jüdischen Philosophie 2. Stärken und Schwächen 3. Bewegungen und wichtige Personen 4. Bewegungen und wichtige Personen (Forts.) 1. Das Wesen der jüdischen Philosophie Studenten der jüdischen Philosophie, speziell solche, denen es darum geht, irgendeinen Bauteil, und sei es nur ein kleiner, zum großen Gebäude der jüdischen Philosophie beizusteuern, müssen viele Sprachen lernen, um die Stimmen hören und lesen zu können, die sich von den ihrigen sehr unterscheiden werden. So wie die Autoren des Schöpfungsberichtes oder des Pentateuch die alten Schöpfungsmythen neu erfinden und in eine neue Form bringen mussten, aber auch die antiken babylonischen Gesetze, um die spezifisch universellen ethischen Forderungen und ästhetischen Standards ihres Gottes ausdrücken zu können, und genauso wie die Deuteronomisten den ethischen Kern in der ursprünglichen mosaischen Gesetzgebung wieder entdecken mussten, indem sie Gottes Befehle nunmehr als dringende Ermahnungen durch die sehr menschliche Stimme von Moses erfuhren, so werden in jeder Generation neue Interpreten benötigt, um das erneut zu entdecken, was an der Tradition wesentlich und lebendig ist. Solche Interpreten mussten schon immer die Wirbel des historischen Wandels ausloten, und zwar nicht nur hinsichtlich der Sprache, sondern auch hinsichtlich des Inhalts, wobei sie die lebendige Tradition neu ausrichten und strukturieren mussten, indem sie diese philosophisch mit ihren eigenen Sichtweisen der Vernunft formten. Solche Denker haben immer mit einem Blick auf die Kontinuität der Tradition gearbeitet, d.h. im Vertrauen auf ihre Zukunft aus einer Vergangenheit heraus, aber auch aus einer Vitalität und Lebendigkeit dessen heraus, was sie in dieser Tradition als zeitlos ausmachten; deshalb waren sie in der Lage, sich neue Bedeutungen anzueignen, und neue Sphären der Anwendung in der Gegenwart. Das Vertrauen der Ausübenden der jüdischen Philosophie in die begriffliche Vitalität und kontinuierlich erneuerte moralische und geistige Relevanz der Tradition ist typischerweise der Reflex auf eine existenzielle Bindung an diese Tradition und an die Menschen, die sie tragen. Dieses Vertrauen und seine wiederholte Rechtfertigung durch den Reichtum der Tradition selbst ist auch die Quelle der Erneuerung und Ermutigung für die Bindung, die ihr ihre Energie verleiht, selbst und insbesondere in Zeiten der geschichtlichen Krisen und des äußeren Drucks, die sich nur selten auf rein intellektuelle Herausforderungen beschränkt haben. Symptomatisch für diese
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Bindung sind die Prominenz und die Wiederkehr der Philosophie des Judaismus unter den Fragen der jüdischen Philosophie. Beide sollte man nicht verwechseln. Die Philosophie des Judaismus ist die Untersuchung des Wesens und der Bedeutung der jüdischen Existenz. Deren Fragen richten sich auf den Sinn, den man der Vorstellung eines Bundes zwischen dem universellen Gott und dem Volk Israel geben kann, die Bedeutung der Mission dieses Volkes, ihr Auserwähltsein, ihre bestimmten Gesetze, Bräuche und Rituale, und die Beziehungen dieser Normen zu den im weiteren Sinne anerkannten Normen der Menschheit, deren frühe und beharrliche Botschafter die Propheten Israels waren. Die Philosophie des Judaismus will den Zionismus, den Holocaust, die jüdische Diaspora und die historischen Wechselfälle verstehen, die die jüdische Erfahrung durch die Jahrtausende formten, vom Zeitalter der biblischen Patriarchen an bis zur Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem, bis zum Exil des jüdischen Volkes und der Rückkehr nach einhundert Generationen in das Land, das ihnen versprochen worden war, und nach dem sie sich sehnten, ein Land, das einige niemals verlassen hatten, das aber die weitaus meisten Jahrhunderte nur durch das Vergrößerungsglas der heiligen Geschichte, der Apokalypse und der Philosophie gesehen hatten. Die Philosophie des Judaismus will die antike jüdische Liturgie verstehen, die exegetische Praxis und die hermeneutischen Standards der jüdischen Exegeten. Wie Freud will sie den jüdischen Humor verstehen. Wie Pico della Mirandola will sie die Kabbala und den jüdischen Mystizismus, und wie Buber will sie den Hasidismus verstehen. Die Interessen der Philosophie des Judaismus berühren jeden Aspekt der jüdischen Erfahrung, so wie die Interessen der Philosophie insgesamt auch jeden Aspekt der allgemeinen Erfahrung betreffen. Aber die Fragen der jüdischen Philosophie beschränken sich nicht auf die jüdische Erfahrung, genauso wenig wie jene der allgemeinen Philosophie sich auf die Erfahrung beschränken. Es handelt sich dabei tatsächlich um dieselben Interessen, die auch die allgemeine Philosophie aufweist, die nur durch ihre ständige Rückkehr zu den Quellen ihrer Tradition zu typisch jüdischen Interessen werden, und die philosophisch infolge ihres Beharrens auf einer kritischen Rezeption bleiben, d.h. einer verantwortlichen, dabei aber kreativen Aneignung von Vorstellungen und Werten, die der genauen Prüfung durch die Vernunft standhalten und in ihrem Lichte wachsen und Früchte tragen. 2. Stärken und Schwächen Es gibt zwei Schwächen in der jüdischen Philosophie, so wie sie heute praktiziert wird. Eine ist die Tendenz zum Historizismus, d.h. der irrtümlichen Gleichsetzung von Norm und Fakt, was zu einer Abdankung des philosophischen Engagements zugunsten einer abgehobenen, gefühlskalten Haltung oder zu einer ebenfalls unheilvollen Aufgabe des Urteils gegenüber dem Fluss der Ereignisse führt. Der Historizismus ist ein natürliches Nebenprodukt des Respekts vor der Tradition, aber auch der Fortschrittserwartung. Er wird unter dem Druck des Positivismus zu etwas Schwächendem, sei es in der Form des Positivismus der logischen Empiristen, die die Philosophie über eine große Strecke des 20. Jahrhunderts dominierten, oder in der Form des Positivismus jener mehr einheimischen Art, die nach der schieren Gegebenheit irgendeines Systems aus Gesetzen und Riten strebt, oder auch in der Form jenes Positivismus, der sich erlaubt, durch den Druck der Geschichte selbst überwältigt zu werden. Es ist selbst heute noch, wo man meinen könnte, der logische Positi850
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vismus sei lange tot, keineswegs ungewöhnlich, Gelehrte des jüdischen Denkens zu finden, die philosophische Untersuchungen durch historische Beschreibungen ersetzen, und dies häufig in Denkprozessen, die hinsichtlich der zentralen Fragen unter einer petitio principii leiden. Und unter jenen Gelehrten mit traditionellerer Prägung ist auch die Vorstellung nicht unüblich, dass eine gewissenhafte Beschreibung der Inhalte authentischer jüdischer Dokumente bereits jüdische Philosophie darstellt, so als ob Gewissenhaftigkeit gegenüber der Tradition eine Art Ersatz für die kritische Auseinandersetzung mit den daraus entstehenden Fragen und Problemen sei, und als ob die Frage, was Gewissenhaftigkeit gegenüber der Tradition überhaupt ausmacht, und zwar begrifflich, historisch, moralisch und geistig, nicht selbst eine der wichtigsten unter diesen Streitfragen und Problemen sei. Die zweite Schwäche ist eine Blickverengung, d.h. jene Tendenz zur Ersetzung des weiter gefassten Diskurses der jüdischen Philosophie durch die Philosophie des Judaismus, als ob die Ressourcen der Tradition nichts oder nichts mehr zur Ethik, zur natürlichen Theologie, oder zur Metaphysik und Logik hierzu beizutragen hätten. Die Arbeit der tätigen großen jüdischen Philosophen hat solche engen Erwartungen wiederholt Lügen gestraft. In jeder Epoche ihrer Existenz hat die jüdische Philosophie eine aktive Rolle im philosophischen Gespräch der Menschheit gespielt, das ein universelles Gespräch in dem Umfange und genau deshalb ist, weil diejenigen, die daran teilnehmen, jede Sprache sprechen, und weil sie in dieses Gespräch Erfahrungen einbringen, die sowohl universell als auch einzigartig sind. Wenn aber hier von zwei Schwächen die Rede ist, so soll zumindest auch eine Stärke genannt werden: die jüdische Philosophie, obwohl sie durch die ganze Geschichte hindurch eng mit den philosophischen Traditionen des Westens verbunden ist, hat dennoch auch gesonderte Traditionen. Der offene Zugang ihrer meisten Anhänger zu den hebräischen und aramäischen jüdischen Quellen hat eine Perspektive beigesteuert, die sehr distinkt ist, und die als Korrektiv von Umwegen wirken kann, die man in anderen Zweigen des Baumes philosophischer Gelehrsamkeit findet. Der frühe Zugang der mittelalterlichen jüdischen Philosophen zu arabischen philosophischen und wissenschaftlichen Schriften, wie auch zu den griechischen Werken, die auf Arabisch erhalten waren, bereicherten und erweiterten ihr philosophisches Repertoire. Das scholastische Lernen der spätmittelalterlichen jüdischen Philosophen und ihre Zusammenarbeit mit den scholastischen Denkern machte sie mit einem Male zu Teilnehmern und Beobachtern der lebendigen philosophischen Debatten ihrer Zeit. Das Eintauchen und die aktive Teilnahme von jüdischen Philosophen der Renaissance und der Aufklärung in den Bewegungen, die die Neuzeit hervorbrachten, gaben ihnen einen ähnlichen philosophischen Aussichtspunkt. Alle Philosophen müssen sich bis zu einem gewissen Grade ihrer Gesellschaft entfremden: Sokrates und Nietzsche, und in dieser Hinsicht sogar Platon, Aristoteles und Descartes waren in gewissem Umfange intellektuelle Außenseiter ihrer eigenen Zeit – zwar nicht so fremd, dass sie keine Worte oder Gedanken mit ihren Zeitgenossen teilten, aber auch nicht so gut integriert, dass sie zu reinen Apologeten oder selbstgefälligen und blind gehorsamen Nachbetern des Gegebenen wurden. Die jüdische Philosophie hatte über weite Strecken einen sehr bestimmten, wenn auch derzeit zu wenig verwendeten Beitrag zum kosmopolitischen philosophischen Diskurs geleistet, und tut dies auch weiterhin. Sie teilt die Problematik der westlichen Philosophie, bietet typischerweise aber eine andere Perspektive an, die akzeptierte 851
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Wahrheiten in Frage stellt und daher das kritische Potenzial des philosophischen Arbeitens bei jenen stärkt, die sie studieren. 3. Bewegungen und wichtige Personen Die jüdische Philosophie war im Verlauf der Geschichte die Quelle einer Reihe unterschiedlicher Untersuchungsformen, die auf den philosophisch relevanten Vorstellungen der hebräischen Bibel, dem rabbinischen Gesetz (Halakhah), der rabbinischen Theologie und der rabbinischen Homiletik (Predigtlehre), Exegese und Hermeneutik (Midrasch) aufbauten (siehe Halakhah). Die antirabbinistische, bibelzentrierte Bewegung, die unter dem Namen Karaismus bekannt ist, und die mystische Tradition der Kabbalah sind Beispiele anderer Typen von Bewegungen, die im Laufe der Zeit entstanden (siehe Kabbalah), während der jüdische Voluntarismus und der jüdische Averroismus Gebiete der Rivalität zwischen intellektualistischen und weniger deterministischen, d.h. stärker empiristischen Sichtweisen der Theologie waren, die unter den jüdischen Denkern ausgetragen wurden. Modernere Bewegungen umfassen auch die jüdische pietistische Bewegung, die von Israel Baal Shem Tov gegründet wurde und unter dem Namen Hasidismus bekannt ist, die jüdische Aufklärungsbewegung namens Haskalah, und der Zionismus, jener Bewegung, die zur Errichtung des modernen Staates Israel führte (siehe Chassidismus). Der erste Exponent der jüdischen Philosophie war Philo von Alexandrien, der einen größeren Beitrag zur Synthese des Stoizismus, dem mittleren Platonismus und zu monotheistischen Vorstellungen leistete, die dabei halfen, die Tradition der Schriftphilosophie im Westen zu formen. Andere frühe Figuren waren Daud alMuqammas und Isaak Israeli, zwei der ersten mittelalterlichen jüdischen Theologen. Al-Fayyumi Saadiah Gaon (882–942) war als erster systematischer jüdischer Philosoph auch ein bedeutender Bibelübersetzer und Exeget, ferner ein Grammatiker, Lexikograph und eine Autorität im jüdischen Religionsgesetz und Ritus. Der Rationalismus, Pluralismus und die intellektuelle Aufrichtigkeit, die in seinem Werk sichtbar werden, machten ihn zu einem Vorbild der jüdischen Philosophie für alle jene, die nach ihm folgten. Solomon ibn Gabirol (ca. 1020 – ca. 1057), der lange als hebräischer Poet angesehen wurde, entdeckte man erst im 19. Jahrhundert auch als den Autor des berühmten neuplatonischen Werkes, das auf Lateinisch unter dem Titel ‚Fons Vitae‘ erhalten ist. Moses ibn Ezra (ca. 1055 – nach 1135) ist bekannt für seine poetischen und philosophischen Beiträge. Abraham ibn Ezra (ca. 1089–1164) ist auf ähnliche Weise für seine hermeneutischen Ideen und Methoden bekannt; seine direkte Herangehensweise an die hebräische Bibel hatte kritischen Einfluss auf das Denken der jüdischen Philosophen vom Mittelalter an bis Spinoza und noch darüber hinaus. Eine weniger bekannte Figur ist Abu ‘l-Barakat al-Baghdadi (ca. 1200–1250), ein brillanter jüdischer Denker, der später in seinem Leben zum Islam konvertierte. Er entwickelte sehr eigenständige Sichtweisen über die Natur der Zeit, das menschliche Bewusstsein, den Raum, die Materie und die Bewegung. Sein Werk widerlegt die Vorstellung, dass das Mittelalter einfach nur ein Zeitalter des Glaubens und der statischen Bindung an eine Glaubensgemeinde war. Ein Universalgebildeter wieder ganz anderen Geistes war Abraham bar Hayya im 11. Jahrhundert, der über Astronomie, Mathematik, Geographie, Optik und Musik, sowie philosophische Texte schrieb, und der an wissenschaftlichen Überset852
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zungen zusammen mit dem christlichen Gelehrten Plato von Tivoli mitarbeitete, der auch das ptolemäische System in die lateinische Welt brachte. Bar Hayyas ‚Meditation einer traurigen Seele‘ drückt die Verlorenheit des menschlichen Lebens im Exil aus der Welt des Göttlichen aus, eine Verlorenheit, die mit der Hoffnung künftiger Herrlichkeit getränkt ist. Joseph ibn Tzaddik (gest. 1149) entwickelte ähnliche neuplatonische Ideen zum Thema des Menschen als einem Mikrokosmos. Bahya ibn Pakuda (frühes 12. Jahrhundert) schrieb als ein pietistischer Philosoph. Er platzierte das philosophische Verständnis und das kritische Denken im Herzen der spirituellen Hingabe, nach der die aufrichtigste Form der Frömmigkeit verlangt. Judah Halevi (vor 1075–1141), der vielleicht der größte hebräische Dichter nach der Entstehung der Psalmen war, schrieb einen argumentativ zwingenden philosophischen Dialog, der unter dem Titel ‚Kuzari‘ bekannt ist, formal aber mit ‚Eine Verteidigung und Argumente im Namen einer erniedrigten Religion‘ betitelt ist. Geschrieben im Königreich Khazar, dessen König geschichtlich verbürgt zum Judaismus konvertierte, präsentiert das Werk eine schneidende Kritik des Intellektualismus der vorherrschenden philosophischen Schule und der Vergeistigung und der Universalisierung des asketischen Pietismus, der zu ihm das Gegenstück bildet. Indem er eine starke Wiederherstellung des jüdischen Lebens und Volksgeistes im Lande Israel forderte, ist sein Werk nicht nur eine verblüffende Vorwegnahme zionistischer Ideen, sondern ein bemerkenswerter Ausdruck des Bedürfnisses nach einer Reintegration der geistigen, intellektuellen, moralischen physischen Dimension des jüdischen Lebens. Abraham ibn Daud (ca. 1110–1180), der sowohl Historiker, als auch Philosoph war, setzte seine Geschichtsschreibung als Argument für die Fortdauer der Vorsehung betreffend die jüdische intellektuelle religiöse Tradition ein. Seine philosophische Arbeit legte die formalen Fundamente, die die philosophischen Leistungen von Moses Maimonides (1138–1204) ermöglichten, dem größten derjenigen Philosophen, die der jüdischen Tradition verpflichtet waren. Neben seinen medizinischen Schriften und seinem umfassenden juristischen Textkorpus, die auch den maßgeblichen, vierzehnbändigen Kodex des jüdischen Gesetzes umfassen, den Mishneh Torah, war Maimonides auch der Autor des berühmten ‚Führer der Verwirrten‘. Diese Anleitung, die auf Arabisch geschrieben und für Fragende gedacht war, die durch die offenkundigen Diskrepanzen zwischen dem traditionellen Judaismus und der aristotelisch-neuplatonischen Philosophie verwirrt waren, ist er geradezu ein Paradigma in der Theologie der Transzendenz, indem er Fragen anspricht, die von offenem Anthropomorphismus der biblischen Texte bis zu den Zwecken der mosaischen Gesetzgebung reichen, von dem Streit über die Schöpfung bis zur Ewigkeit der Welt, vom Problem des Bösen bis zu dem Sinn, den die Vorstellung der Offenbarung, der Vorsehung, des göttlichen Wissens und der menschlichen Vervollkommnung haben kann. Wie schon Halevis ‚Kuzari‘ und Bahyas ‚Pflichten des Herzens‘ wird der ‚Führer der Verwirrten‘ bis auf den heutigen Tag von Juden und Nichtjuden wegen seiner philosophischen Einsichten studiert. Abraham ben Moses Maimonides (1186–1237), der Sohn des großen Philosophen und Juristen, begann sein Gelehrtenleben als eine Verteidigung der Arbeiten seines Vaters gegen viele Kritiker, die Maimonides’ Rationalismus fürchteten. In seinen reiferen Arbeiten wurde er zur Hauptfigur einer mystischen, pietistischen und asketischen Bewegung, die stark vom Sufismus beeinflusst war. Moses Nahmanides 853
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(1194–1270), ein Exeget, Theologe und Gründungsfigur der kabbalistischen Theosophie, vertrat den Judaismus in den berüchtigten Disputationen von Barcelona des Jahres 1263, und er spielte eine führende Rolle im sog. ‚Maimonidischen Streit‘. Er kämpfte für eine Harmonisierung seiner konservativen und reaktionären Tendenzen mit seinem Respekt für die Vernunft und für den unverstellten Sinn der biblischen Texte. Ibn Kammuna (gest. 1284) war auf anderen Gebieten ein Pionier. Neben seiner Arbeit an der Ishraqi bzw. der illuminationistischen Tradition der Theosophie, die in Kommentaren zu dem islamischen Philosophen Ibn Sina (Avicenna) dargestellt war, schrieb er, für ihn bezeichnend, eine zurückhaltende Studie zur Religionsvergleichung, wobei er den Judaismus favorisierte, aber auch fair und unpolemisch die christliche und islamische Alternative präsentierte. Shem Tov ibn Falaquera (ca. 1225 – ca. 1295) war ein teilnahmsvoller Vertreter des maimonidischen Rationalismus und ein scharfer Verfechter der wechselseitigen Abhängigkeit von Glaube und Vernunft. Seine ausgewählten Texte auf Hebräisch aus den verlorenen arabischen Originalen von Ibn Gabirols magnum opus ermöglichte es modernen Gelehrten, Ibn Gabirol als den Autor Avicebrol des erhaltenen lateinischen Textes ‚Fons Vitae‘ zu identifizieren. Hillel ben Samuel aus Verona (ca. 1220–1295), ein Arzt, Übersetzer, Talmudist und Philosoph, war ein Maimonist, der zahlreiche scholastische Ideen in den hebräischen philosophischen Diskurs einführte. Immanuel von Rom (ca. 1261 – vor 1336) war ein fruchtbarer Autor der philosophischen Poesie und Exegese, der oft die Vernunft und die intellektuelle Liebe pries. Judah ben Moses von Rom (ca. 1292 – nach 1330), der auch als Judah Romano bekannt ist, war ein aktiver Vermittler zwischen der jüdisch-arabischen und der scholastischen Tradition der philosophischen Theologie. Levi ben Gershom, auch bekannt als Gersonides (1288–1344), war ein wichtiger Astronom und Mathematiker, sowie ein biblischer Exeget und Philosoph. Sein Werk ‚Kriege des Herrn‘ kämpfte mit Problemen der Schöpfung, der Vorsehung, des göttlichen Wissens, der menschlichen Freiheit und Unsterblichkeit. Mit dem Ziel, den Glauben seiner Ahnen zu verteidigen folgte Gersonides mutig, wohin ihn seine Argumente führten, und dies bedeutete häufig in eine radikale und schöpferische Abkehr von traditionellen Sichtweisen. Hasdai Crescas (1340–1410), ein scharfer Verteidiger des Judaismus gegen christlichen Konversionsdruck, gehört zu den schöpferischsten Figuren der jüdischen Philosophie. Er stellte viele der angeblich gegebenen aristotelischen Thesen in Frage, einschließlich der Vorstellung, dass der Kosmos endlichen Umfangs sein müsse. Crescas’ Schüler Joseph Albo (ca. 1360–1444) versuchte die jüdische Theologie im Rahmen eines axiomatischen Systems zu organisieren, teilweise um das jüdische Denken gegen feindliche Kritiker zu festigen. Profiat Duran (gest. ca. 1414), der auch als Efodi bekannt ist, nutzte sein umfangreiches Verständnis der christlichen Kultur zu einer Kritik des Christentums aus jüdischer Perspektive. Er war tief beeinflusst von Moses Maimonides und Abraham ibn Ezra, sowie durch neuplatonisches und astrologisches Gedankengut; aus dieser Perspektive versuchte er die intellektuellen mit den praktischen Aspekten der Tora ins Gleichgewicht zu bringen. Simeon ben Tzemach Duran (1361–1444) wiederum
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trug einen originellen Ansatz zu dem Projekt einer jüdischen Dogmatik bei, sowie eine implizit kritische Prüfung dieses Projektes. Die Familie Shem Tov umfasste im 15. Jahrhundert in Spanien vier aktive Denker. Ihre Arbeiten folgten auf die Verfolgung von 1391 und die sich daran anschließende Massenauswanderung der spanischen Juden, und versuchte die Beziehungen der Philosophie zum Judaismus neu zu überdenken. Shem Tov, der pater familias, kritisierte Maimonides und unterstützte die Kabbalah, aber sein Sohn Joseph, ein Hofarzt und Rechnungsprüfer der königlichen Bücher in Kastilien, sowie Isaac, ein beliebter Lehrer der aristotelischen Philosophie, und Josephs Sohn, der ebenfalls Shem Tov hieß, schrieben zahlreiche peripatetische Kommentare. Diese Nachkommen schlugen einen moderateren Kurs ein, der es den jüdischen Intellektuellen ermöglichte, die Philosophie und die verwandten Künste und Wissenschaften zu kultivieren und gleichzeitig letztlich den Vorrang ihres offenbarten Glaubens zu bekräftigen. Isaac ben Moses Arama (ca. 1420–1494) stand wie Nahmanides dem maimonidischen und aristotelischen Rationalismus kritisch gegenüber, verwarf jedoch nicht die Vernunft, sondern sah in ihr ein zentrales exegetisches Hilfsmittel und einen Weg zum Verständnis von Wundern und der Vorsehung. Isaac Abravanel (1437–1508), ein Führer der Juden, der durch Ferdinand und Isabella im Jahre 1492 aus Spanien ins Exil getrieben wurde, kritisierte wie Arama den Maimonidischen Rationalismus im Interesse eines traditionellen Judaismus seiner eigenen Sichtweise, aber gleichzeitig unterstützte er eine theistische Vision der Geschichte und auch verblüffend moderne Sichtweisen der Politik und des Staates. Sein Sohn, Judah ben Isaac Abravanel, der auch als Leone Ebreo (ca. 1460 – ca. 1521) bekannt ist, schrieb die ‚Dialoghi d’amore‘. Das Werk, das in der Sprache der höfischen Liebe gefasst war, erkundet die Vorstellung, dass die Liebe eine belebende Kraft des Kosmos ist. Das Werk gilt als eine brillante dialektische Untersuchung der Unterschiede und gegenseitigen Ergänzungen der platonischen und aristotelischen Herangehensweisen an die Philosophie herausragend. Judah Messer Leon (ca. 1425 – ca. 1495) war ein Philosoph, Arzt, Jurist, kommunaler Führer, Dichter und Redner. Vom Kaiser Friedrich III. wurde er mit dem Doktorat in der Medizin und der Philosophie belohnt, weshalb er selbst jenen den Doktortitel verleihen konnte, die bei ihm yeshivah studierten. Er sah die Logik als den Schlüssel zur Harmonisierung der Religion und der Philosophie an und zog die scholastische Logik gegenüber den Werken der arabischen Logik vor. Seine Enzyklopädie wurde zu einer populären Textsammlung, und seine systematische Herausarbeitung der hebräischen Rhetorik in den biblischen Texten in seinem Hauptwerk ‚Nofet Zudim‘ (der auf Deutsch unter dem Titel ‚R. Jehuda Messer Leon’s Rhetorik, nach Aristoteles, Cicero und Quintilian, mit besonderer Berücksichtigung der Heiligen Schrift‘, ed. A. Jellinek, Wien 1863, und auf Englisch unter dem Titel ‚The book of the honeycomb’s flow‘ vorliegt), einem der ersten gedruckten hebräischen Bücher überhaupt, war ein Meisterwerk der interkulturellen humanistischen Gelehrsamkeit. Messer Leon versagte jedoch darin, die Verbreitung der Kabbalah zu bremsen, deren untergründige platonische Metaphysik er verabscheute, und deren Aneignung durch christliche Platonisten ihn mit tiefem Misstrauen erfüllte. Tatsächlich wandte sich sein eigener Sohn der Kabbalah zu und versuchte ihre Lehren mit dem Aristotelismus zu vereinbaren, den sein Vater favorisiert hatte. 855
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Yohanan ben Isaac Alemanno (1433/4 – nach 1503/4) brachte in seinem Denken averroistische, kabbalistische, neuplatonische und renaissance-humanistische Themen zusammen. Er unterwies Pico della Mirandola im Hebräischen und in der Kabbalah und brachte dabei das hervor, was schließlich zu einem christlich-synkretistischen Kabbalismus wurde. Elijah Delmedigo (ca. 1460–1493) war ein Aristoteliker und Averroist. Er übersetzte für Pico della Mirandola Werke ins Lateinische und entwickelte eine subtile Kritik der kabbalistischen Vorstellungen, die sich in dieser Zeit einer Rivalität und häufig sogar einer Ersetzung durch das ausgesetzt sahen, was man als ein disziplinierteres philosophisches Denken betrachtete. Abraham Cohen de Herrera (ca. 1562 – ca. 1635) war ein philosophisch orientierter Kabbalist spanischen Ursprungs. Seine spanischen Schriften wurden nach ihrer Übersetzung ins Lateinische bezichtigt, Spinozas Standpunkt inspiriert zu haben. 4. Bewegungen und wichtige Personen (Forts.) Moses Mendelssohn (1729–1786), eine führende Figur der europäischen Aufklärung, brachte aufklärerisches Gedankengut in die hebräische Literatur, kämpfte für die jüdischen Bürgerrechte und leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der politischen Theorie, insbesondere hinsichtlich der Religionsfreiheit in seinem Buch ‚Jerusalem‘. Solomon Maimon (1753/4–1800) nahm seinen Namen zu Ehren von Moses Maimonides an. Als ausgebildeter Rabbi setzte er sein säkulares und wissenschaftliches Studium fort und wurde ein wichtiger und origineller Kritiker der Philosophie von Kant. Nachman Krochmal (1785–1840), ein Führer der jüdischen Aufklärung in Galizien fand Vorläufer zu Kant, Hegel und Schelling in der antiken jüdischen Literatur. Sein Werk zeigt, wie ein Denker, dessen Voraussetzungen von denen der idealistischen Philosophen abwichen, deren Sichtweise dennoch in eine gänzlich andere Richtung weitertreiben kann, als sie dies taten. Hermann Cohen (1842–1918), ein bedeutender Kantianer und einer der ersten nicht-getauften Juden, der eine wichtige akademische Position in Deutschland innehatte, wandte seine eigene und sehr charakteristische Auffassung eines kritischen Idealismus auf das Verständnis des Judaismus als einem spirituellen und ethischen System an. Franz Rosenzweig (1886–1929), ein wichtiger, hegelianisch orientierter Denker, ging darüber hinaus und schrieb eine jüdische existenzielle Philosophie, die viele der prominenten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts tief beeinflusste. Martin Buber (1878–1965), ein zionistischer Vertreter des Ausgleichs mit den palästinensischen Arabern und ein Bewunderer und Student der hasidischen Überlieferungen, drückte der kontinentaleuropäischen Tradition der jüdischen Philosophie seinen eigenen Stempel auf, indem er eine weithin einflussreiche dialogische Philosophie ausarbeitete und das Ich-Du als eine Weise der Beziehung ausbaute, die eine echte Begegnung zulässt. Eine Reihe von Philosophen des Judaismus im 20. Jahrhundert haben ganz unterschiedliche Fäden der jüdischen Erfahrung aufgegriffen, wodurch sie sowohl die Anziehungskraft der Tradition illustrierten, als auch die Fragmentierung, die über die Jahrhunderte der Verfolgung eingetreten war, und die im Holocaust kulminierte, woraufhin eine Art zentrifugaler Bewegung des jüdischen Lebens in den liberalen Nach-Holocaust-Gesellschaften einsetzte. Ahad Ha’Am, der Künstlername von Asher Ginzberg (1856–1927), war ein Essayist, der behauptete, dass die Schöpfung eines ‚spirituellen Zentrums‘ der jüdischen Kultur in Palästina die Grundlage schaf856
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fen würde, die notwendig sei, um das Judentum der Diaspora vor der Assimilation zu bewahren. Nach seiner Auffassung bedurfte es dazu keines Staates. David Baumgardt (1890–1963) war ein Philosoph, der den ethischen Naturalismus mit den Idealen zu versöhnen suchte, die er in den jüdischen Quellen gefunden hatte, aber im Unterschied zu Hermann Cohen erforschte Baumgardt nicht genauer diese Quellen. Mordecai Kaplan (1881–1981) versuchte einen sozialen Sendungsauftrag und eine Gemeinschaftsidentität der Juden zu formulieren, ohne sich dabei auf die vielen Kernüberzeugungen und Bräuche zu stützen, die die Identität in der Vergangenheit geformt hatten. Abraham Joshua Heschel (1907–1972) suchte die Rettung der spirituellen Dimensionen der jüdischen Erfahrungen zu retten, die ihren Ausdruck sowohl in rituellen, als auch in ethischen und sozialen Handlungen gefunden hatten. Joseph Soloveitchik (1903–1993) gab den orthodoxen Idealen eine kanonische Form, indem er sich auf die intellektuelle und rituelle Strenge seiner archetypischen Figuren bezog, nämlich die Männer der Halakhah und die ‚Einsamen Menschen des Glaubens‘. Yeshayahu Leibowitz (1903–1994), ein einflussreicher israelischer Denker, kämpfte für die Loslösung der authentischen und verbindlichen religiösen Folgsamkeit von den Gequältheiten einer regierungsartigen Bürokratie. Die Juden, so argumentierte er, seien angewiesen, als Gemeinschaft folgsam zu sein. Diesen Imperativ kann man nicht einfach beiseite schieben. Noch kann der auf diese Weise Folgsame den Staat Israel ignorieren. Aber der Staat kann keinen Auftrag zur Befolgung der Religion erteilen, und der religiöse Glaube kann nichts von seiner Aura dem Staat übergeben. Denn es sei wesentlich, Gott nicht in den Dienst der Politik zu stellen. Emil Fackenheim (1916–) bemühte sich um eine authentische Antwort auf den Holocaust, die er auf eine absichtlich einbeziehende Weise formuliert, nämlich als das ‚614. Gebot‘, Hitler nicht nachträglich den Sieg zu überlassen, sondern einen Weg zu finden, der sich zwar von Mensch zu Mensch unterscheiden kann, der aber die jüdischen Ideen, Bräuche und Bindungen lebendig hält. Siehe auch: Antisemitismus; Holocaust, der; Islamische Philosophie; Mittelalterliche Philosophie; Religionsphilosophie; Renaissance-Philosophie Anmerkungen und weitere Lektüre: Goodman, L. (1991): ‚On Justice: An Essay in Jewish Philosophy‘. New Haven, CT: Yale University Press. (Eine Theorie der Gerechtigkeit auf der Grundlage der biblischen Idee der Verdienste.) Goodman, L. (1996): ‚God of Abraham‘. Oxford: Oxford University Press. (Über die Verbindung zwischen der Natürlichen Theologie und den Werten, die von der jüdischen Tradition vertreten waren.) Goodman, L. (1998): ‚Judaism, Human Rights and Human Values‘ . Oxford: Oxford University Press. (Eine detaillierte Behandlung der allgemeinen Theorie der Verdienste des Autors, ihre Beziehung zu den Menschenrechten und der menschlichen Freiheit, der Abtreibung und der Legitimität von Nationen.) L.E. GOODMAN
Jung, Carl Gustav (1875–1961)
Jung war eine der leitenden Figuren bei der Entwicklung der Tiefenpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zunächst ein früher Anhänger von Sigmund Freud, brach er mit dem Gründer der Psychoanalyse im Jahre 1913 und baute seine eigene Schule der analytischen Psychologie auf. 857
Jung, Carl Gustav (1875–1961)
Jungs theoretische Entwicklung in seinem Werk beruht auf der Prüfung von Wortassoziationen und der Theorie der gefühlsgeladenen sog. ‚Komplexe‘. Ein ‚Komplex‘ ist in der Jungschen Terminologie eine Konstellation von Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die sich um einen bestimmten, bedeutsamen Zusammenhang gesammelt haben und mit diesem als dem Kern des Komplexes assoziiert sind. Komplexe, die in das Unbewusste verdrängt sind, können im Bewusstsein als ‚Affekt‘ auftauchen. Im Zuge seiner weiteren Erforschung der Arbeit des Unbewussten behauptete er die Existenz instinktiver Muster des Erkennens und Verhaltens, die er als ‚Archetypen‘ bezeichnete. Archetypische Muster sind nach Jung in der gesamten menschlichen Spezies verbreitet und bilden ein ererbtes ‚kollektives Unbewusstes‘. Jungs psychologischer Ansatz war eklektisch. Er akzeptierte die psychologische Bedeutung eines jeden Phänomens, selbst wenn es zu den geltenden Überzeugungen anderer Disziplinen in Widerspruch stand. Diese Einstellung führte ihn zu einer tief greifenden Untersuchung der psychologischen Bedeutung ‚okkulter‘ (verborgener) Phänomene und der Alchemie, die Jung als Ausdruck des Unbewussten verstand, der die moderne Psychologie vorwegnahm. In seinem späteren Leben wandte sich Jung immer mehr der Betrachtung des zeitgenössischen kulturellen Ausdrucks psychischer Kräfte zu und schrieb intensiv über das, was er als die Vertiefung der geistigen Krise der westlichen Zivilisation ansah. Siehe auch: Indische und Tibetische Philosophie; Psychoanalyse, Methodische Fragen der; Psychoanalyse, Post-Freudianische; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes GEORGE B. HOGENSON
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K Kabbalah
Die Kabbalah ist die Gesamtheit der jüdischen mystischen Schriften, die am Ende des 12. Jahrhunderts in der Provence eine Bedeutung erlangten und daraufhin mit unterschiedlich starker Begeisterung als ein Versuch aufgenommen wurden, die esoterische Seite des Judaismus zu erklären. Es gibt zwei Hauptformen der Kabbalah; die eine konzentriert sich auf den Erkenntnisgewinn betreffend Gott durch das Studium seines Namens, und eine theosophische Tradition nähert sich Gott durch seine Wirkung auf die Schöpfung. Nach beiden Auffassungen ist Gott mit der Welt durch zehn Sefirot verbunden, d.h. durch hypostasierte (verdinglichte) Zahlen, die zwischen dem Unendlichen und dieser Welt vermitteln und daher (neben anderen Funktionen) erklären helfen, wie ein Wesen, das vollkommen unaussprechlich ist, eine solche Vielfalt hervorbringen kann, wie dies in der Natur beobachtet wird. Gottes Wille, sich in Beziehung zur Welt zu setzen, gibt seinen Geschöpfen die Möglichkeit des persönlichen Wissens von ihm, auch wenn dies nur durch schwierige und anstrengende geistige Übungen zu erlangen ist. Die Vielfalt der Arbeiten, die die Kabbalisten hervorbrachten, sind eine Mischung philosophischer und mystischer Ideen, die die innere Bedeutung des Glaubens zu erforschen versuchen. Sie stellen eine schöpferische und einflussreiche Strömung dar, die sich sowohl auf die jüdische Philosophie stützt, als auch zu ihr beiträgt. Siehe auch: Ficino, M; Chassidismus; Hermetismus; Platonismus in der Renaissance
OLIVER LEAMAN
Kant, Immanuel (1724–1804) Einführung Immanuel Kant war der paradigmatische Philosoph der europäischen Aufklärung. Er beseitigte die letzten Spuren der mittelalterlichen Weltanschauung in der neuzeitlichen Philosophie, fasste die Schlüsselideen des vorangehenden Rationalismus und Empirismus in ein mächtiges Modell des subjektiven Ursprungs der grundlegenden Prinzipien sowohl der Wissenschaft, als auch der Moral zusammen und schuf damit die Grundlagen für einen Großteil der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem aber war Kant der Philosoph der menschlichen Autonomie, d.h. der Auffassung, dass die Menschen durch den Gebrauch ihrer eigenen Vernunft im weitesten Sinne die grundlegenden Erkenntnis- und Handlungsprinzipien erkennen und nach ihnen leben können, ohne dazu äußerer Hilfe zu bedürfen, d.h. vor allem ohne göttliche Unterstützung oder göttlichen Eingriff. Kant legte die Fundamente seiner Erkenntnistheorie in seiner monumentalen ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (1781). Er beschrieb das grundlegende Prinzip der Moral in der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ (1785) und in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ (1788), in deren Schlussabschnitt er die berühmten Sätze schrieb: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäf859
Kant, Immanuel (1724‑1804)
tigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“ (vgl. Kant’s Gesammelte Schriften (KGS), Bd. 5, S. 300) Kant versuchte zu zeigen, dass sowohl die Naturgesetze, als auch die Gesetze der Moral in der menschlichen Vernunft selbst begründet liegen. Durch diese beiden Arten von Gesetzen habe er aber, so wird oft gesagt, zwei inkommensurable Bereiche definiert, nämlich die Natur und die Freiheit, bzw. das Reich dessen, was ist, und das Reich dessen, was sein sollte, wobei das erstere eingeschränkt werden müsste, um angemessenen Raum für das letztere zu lassen. Kant verwendete viel Mühe und Text auf die Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit. Er sagt aber auch in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ (1790), dass es genauso wichtig sei, ‚eine Brücke von dem einen Gebiet zum anderen zu schlagen‘. Letztlich meinte Kant, dass sowohl das Naturgesetz, also auch die Gesetze des freien menschlichen Verhaltens miteinander vereinbar sein müssen, da sie beide Produkte des menschlichen Denkens seien, das wir den Sinnesdaten durch Ausübung unserer eigenen Kräfte auferlegen. Dies erklärt er deutlich in seinem letzten Buch, dem ‚Streit der Fakultäten‘ (1798): „Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, dass Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns; – sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandteilen darstellen, wie er ist und sein soll, d.h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältnis. Hier wies nun die alte Philosophie dem Menschen einen ganz unrichtigen Standpunkt in der Welt an, indem sie ihn in dieser zu einer Maschine machte, die als solche gänzlich von der Welt oder von den Außendingen und Umständen abhängig sein musste; sie machte also den Menschen zu einem beinahe bloß passiven Teil der Welt. – Jetzt erschien die Kritik der Vernunft und bestimmte dem Menschen in der Welt eine durchaus aktive Existenz. Der Mensch selbst ist ursprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen und Begriffe und soll einziger Urheber aller seiner Handlungen sein.“ (KGS Bd. 7, Anhang) So leitet Kant also die grundlegenden Prinzipien des menschlichen Denkens und Handelns aus dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen, seinem Verständnis und der Vernunft als Quellen unserer Autonomie ab. Er glich die Beiträge dieser Prinzipien mit den nicht zu beseitigenden Zugängen aus der externen Wahrnehmung und den internen Neigungen außerhalb unserer Kontrolle ab; und er strebte danach, sowohl diese Prinzipien voneinander abzugrenzen, als auch sie gleichzeitig in ein einheitliches System zu integrieren; dem die menschliche Autonomie sowohl zugrunde liegt, als auch dessen letzter Wert und sein letztes Ziel ist. Dies war die Aufgabenstellung der drei großen ‚Kritiken‘. In der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ erscheinen die wesentlichen Formen des Raumes, der Zeit und des begrifflichen Denkens in der Natur des menschlichen Empfindungsvermögens und Verständnisses und bilden die Grundlage der unverzichtbaren Prinzipien der menschlichen Erfahrung. Er argumentierte daraufhin, dass die Vernunft, und zwar in dem engen Sinne, wie sie sich im logischen Schluss zeigt, eine Schlüsselrolle in der Systematisierung der 860
Kant, Immanuel (1724‑1804)
menschlichen Erfahrung spielt, dass es aber ein Fehler sei zu glauben, dass die Vernunft eine metaphysische Einsicht in die Existenz und Natur der menschlichen Seele, in die unabhängige Welt oder in Gott verschaffe. In der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ sagt er jedoch, dass die Vernunft als die Quelle des Ideals der Systematizität auch die Quelle der grundlegenden Gesetze der Moral und des Bewusstseins unserer Freiheit ist, die wiederum die Quelle aller Werte ist, und dass wir die Wahrheit der grundlegenden Dogmen des Christentums, sowie unsere eigene Unsterblichkeit und die Existenz von Gott, als praktische Voraussetzungen unserer moralischen Haltung postulieren können, nicht aber als theoretische Wahrheiten der Metaphysik. In der ‚Kritik der Urteilskraft‘ behauptet Kant, dass die Einheit des Geschmacks und der systematischen Organisation sowohl der einzelnen Organismen, als auch der Natur als Ganzer ebenfalls nicht als metaphysische Dogmen postuliert werden können, sondern nur als regulative Ideale unserer ästhetischen und wissenschaftlichen Beschäftigungen. Er schreitet dann fort mit der Behauptung, dass wir vermittels dieser Ideale die Reiche der Natur und der Freiheit miteinander verbinden können, weil die ästhetische Erfahrung uns ein greifbares Bild unserer moralischen Freiheit vermittelt, und eine wissenschaftliche Konzeption der Welt als einem System aufeinander bezogener Wesen sei nur als Bild von der Welt im Sinne einer Sphäre unserer eigenen moralischen Bemühungen sinnvoll. In vielen seiner späten Schriften, von der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ (1793) bis zu seinen letzten Manuskripten, dem ‚Opus postumum‘, verfeinerte und radikalisierte Kant seine Auffassung, dass unsere religiösen Konzeptionen nur als Analogien für das Wesen der menschlichen Vernunft selbst verstanden werden können. Die Aufklärung begann mit dem Versuch, sogar noch Gott auf den Boden der menschlichen Vernunft zu bringen. Dies geschah mit dem anbrechenden 18. Jahrhundert, als sowohl Shaftesbury in Großbritannien, als auch Wolff in Deutschland den Voluntarismus zurückwiesen, d.h. die Theorie, dass Gott ewige Wahrheiten und moralische Gesetze durch sein fiat erzeugt. Stattdessen behaupteten sie, dass wir bereits selbst wissen müssen, was richtig und falsch ist, noch bevor wir die angeblich göttlichen Befehle als göttlich anerkennen. Kant vervollständigte deren Argumente und schloss, dass der Mensch die Elemente des Wissens von der Welt selbst erzeugt, und zwar a priori, von denen aus er zur selben Zeit als ein Bewohner dieser Welt eine Weltsicht in der Vorstellung konstruiert. (‚Opus postumum‘, KGS Bd. 21, S. 31). 1. Leben und Werke 2. Kants Werk bis 1770 3. Die ‚Inauguraldissertation‘ von 1770 und das Problem der Metaphysik 4. Das Projekt der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ 5. Raum, Zeit und transzendentaler Idealismus 6. Reine Begriffe des Verstehens 7. Die Prinzipien des Urteils und die Grundlegung der Wissenschaft 8. Die Illusion der theoretischen Vernunft 9. Der Wert der Autonomie und die Grundlegung der Ethik 10. Rechtspflichten und Tugendpflichten 11. Freiheit des Willens und das höchste Gut 12. Geschmack und Autonomie 861
Kant, Immanuel (1724‑1804)
13. Gestaltung und Autonomie 14. Das letzte Lebensjahrzehnt auf Kants öffentlichem und privatem Lebensweg 1. Leben und Werke Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg, der Hauptstadt des damaligen Ostpreußen, geboren. Er war das Kind armer, aber frommer Anhänger des Pietismus, einer lutherischen Erneuerungsbewegung, die die Liebe und gute Taten, die Einfachheit der Anbetung und einen individuellen Zugang zu Gott betonte. Kants vielversprechende Talente wurden von dem Pfarrer Franz Albert Schultz erkannt, und so erhielt er eine kostenlose Ausbildung am pietistischen Gymnasium. Mit sechzehn Jahren ging Kant an die Universität von Königsberg, wo er Mathematik, Physik, Philosophie, Theologie und klassische lateinische Literatur studierte. Sein führender Lehrer war Martin Knutzen (1713–1751), der ihn sowohl in die Wolffsche Philosophie, als auch in die Newtonsche Physik einführte, und der einige von Kants eigenen, späteren Auffassungen inspirierte, indem er für den physischen Einfluss und gegen die prästabilierte Harmonie von Leibniz und Wolff eintrat. Kant verließ die Universität im Jahre 1746, gerade als die größeren Werke des gegen Wolff eingestellten pietistischen Philosophen Christian August Crusius erschienen. Kants Erziehung ließ ihn günstig zu Crusius stehen, und so verließ er die Universität gänzlich überzeugt von den aufklärerischen Zielen der Wolffschen Philosophie, aber auch schon vertraut mit der technischen Kritik an ihr, speziell auch mit Crusius’ Kritik an Wolffs Versuch einer Ableitung substanzieller Schlussfolgerungen aus einem einzigen und lediglich formalen Ersten Prinzip, wie z.B. dem logischen Prinzip der Widerspruchsfreiheit (siehe Wolff, C.). Mit dem Verlassen der Universität schloss Kant auch seine erste Arbeit mit dem Titel ‚Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte‘ (1746, veröffentlicht 1749) ab, ein erfolgloser Versuch der Vermittlung zwischen der kartesischen und der leibnizschen Theorie der physischen Kräfte. Kant arbeitete sodann als Hauslehrer und diente während der nächsten acht Jahre in Haushalten in der Nähe von Königsberg. Als er im Jahre 1755 an die Universität zurückkehrt, hatte er allerdings bereits mehrere Werke zur Veröffentlichung vorbereitet. Deren erstes war die ‚Universale Naturgeschichte und Theorie des Himmels‘, ein schon wesentlich erfolgreicheres wissenschaftliches Werk als das erste, in dem er für die Nebelhypothese eintrat, die besagt, dass der Ursprung des Sonnensystems in einer nebelartigen Masse auf rein mechanische Weise vor sich ging. Das Werk war zu Kants Lebzeiten jedoch kaum bekannt, so dass der französische Astronom Pierre Laplace (1749–1827) seine eigene Fassung der Nebelhypothese unabhängig davon entwickelte (veröffentlicht 1796), und diese Theorie wurde erst später als die Kant-Laplace-Hypothese bekannt. 1755 veröffentlichte Kant auch zwei lateinische Werke. Mit der ersten Arbeit über das Feuer (‚De igne‘) promovierte er, und seine erste philosophische Abhandlung ‚Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnisse‘ (‚Nova dilucidatio‘) trägt ihm den Titel als Privatdozent und damit das Recht ein, den Studenten direkt Vorlesungen anbieten und sich von diesen bezahlen lassen zu können. Im folgenden Jahr veröffentliche Kant ein Werk unter dem lateinischen Titel ‚Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturalis, cuius specimen I continet monadologiam physicam‘, auf deutsch auch kurz ‚Physische Monadologie‘ genannt, die ihn zur Übernahme eines bezahlten Lehrstuhls berechtigte, was allerdings erst 862
Kant, Immanuel (1724‑1804)
1770 eintrat. In diesen Jahren veröffentlichte Kant auch vier Aufsätze über Erdbeben und den Wind. Kant begann mit den Vorlesungen im Herbst 1755, und um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, las er mehr als zwanzig Stunden pro Woche. Seine Themen umfassten die Logik, die Metaphysik, die Ethik und Physik, und später fügte er noch Vorlesungen über die physikalische Geographie, die Anthropologie (die ersten Vorlesungen Deutschlands unter diesem Titel), die Pädagogik, das Naturrecht und sogar die Theorie der militärischen Befestigungsbauten hinzu. Außer einem kleinen Aufsatz über den Optimismus (1759) veröffentlichte er bis 1762 nichts. Dann jedoch folgte eine regelrechte Flut weiterer Texte. Er veröffentlichte nun (allesamt auf Deutsch): ‚Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren‘ (1762); ‚Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes‘ und ‚Versuch, den Begriff der negativen Größen in der Weltweisheit einzuführen‘ (1763); ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘ und ‚Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral‘ (1764), wobei letzterer den zweiten Platz in einem Wettbewerb gewann, bei dem Moses Mendelssohn den ersten Platz belegte; ‚Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik‘ (1766) und ‚Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum‘ (1768). Diese Veröffentlichungen brachten Kant eine weitreichende Anerkennung in Deutschland ein. In dieser Phase war Kant tief von den Werken Jean-Jacques Rousseaus beeindruckt, speziell durch seinen ‚Sozialkontrakt‘ und seinen Lobgesang auf die Freiheit im ‚Emile‘ (beide 1762). Zu dieser Zeit war Kant auch schon mit der Philosophie von David Hume vertraut, dessen beide ‚Untersuchungen‘ und andere Aufsätze schon seit 1755 übersetzt waren, aber noch nicht ‚A Treatise of Human Nature‘. Nachdem er sich erfolglos um zahlreiche Lehrstühle in Königsberg bemühte und zur selben Zeit Angebote von außerhalb abgelehnt hatte, wurde Kant im Jahre 1770 in Königsberg schließlich zum Professor für Logik und Metaphysik ernannt. Dieses Ereignis gab Anlass zu seiner Inauguraldissertation, seiner letzten lateinischen Arbeit, mit dem Titel ‚Über die Form und die Prinzipien der sinnlichen und intelligiblen Welt‘ (lat.: ‚De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis‘). Im Zuge der Korrespondenz über dieses Werk mit Johann Heinrich Lambert, Johann Georg Sulzer und Mendelssohn fiel Kant jedoch in ein weiteres, fast ein Jahrzehnt lang dauerndes Schweigen, das nur von einigen wenigen und unbedeutenden Fortschrittsberichten an seinen neuen Studenten Marcus Herz und einige kleinere Aufsätze unterbrochen wurde. Tatsächlich bereitete sich Kant aber in der dieser schweigsamen Periode auf das enorme Vorhaben der folgenden Werke vor. Beginnend im Jahre 1781 mit der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ veröffentlichte Kant einen stetigen Strom von Büchern. Dazu gehörten: ‚Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können‘ (1783), ein Versuch der Popularisierung der ersten ‚Kritik‘; zwei Aufsätze namens ‚Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘ und Beantwortung der Frage: ‚Was ist Aufklärung?‘ im Jahre 1784; die ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ und weitere vier Aufsätze folgten 1785; ‚Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘, ‚Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte‘ und ‚Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ und zwei weitere Arbeiten im Jahre 1786; eine wesentlich überarbeitete, zweite Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft 863
Kant, Immanuel (1724‑1804)
(1787); die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und ein Aufsatz ‚Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie‘ (1788); die ‚Kritik der Urteilskraft‘ sowie eine bedeutende Streitschrift ‚Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll‘ (1790); der politische Essay ‚Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‘ und der umstrittene Text ‚Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ (1793); ‚Zum ewigen Frieden‘ (1795); ‚Die Metaphysik der Sitten‘ (1798) mit der ‚Rechtslehre‘ und der ‚Tugendlehre‘ (1797), sowie den Aufsatz ‚Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen‘ (1797); und seine letzten größeren Werke aus dem Jahre 1798, ein Handbuch mit dem Titel ‚Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‘ (1798) und seine Verteidigung der intellektuellen Freiheit der philosophischen Fakultät gegen die religiöse und gesetzliche Zensur in der restriktiven preußischen Atmosphäre nach Friedrich dem Großen in ‚Der Streit der Fakultäten‘. Mit Kants Zustimmung wurden einige seiner übrigen Vorlesungen ebenfalls veröffentlicht, einschließlich der ‚Logik‘ (1800) und ‚Physikalische Geographie‘ und der ‚Pädagogik‘ (1804). Kant zog sich 1797 von der Lehre im Alter von dreiundsiebzig Jahren zurück und widmete seine verbleibende Zeit einem Werk, das er ‚Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik‘ betitelte, das allerdings noch längst nicht fertig war, als Kant die Arbeit daran im Jahre 1803 einstellte. Auszüge aus seinen Entwürfen wurden zuerst 1882–1884 veröffentlicht, und sie wurden zum ersten Male vollständig als ‚Opus postumum‘ in den Jahren 1936–1938 herausgegeben. Nach einer lebenslangen Hypochondrie ohne jede ernsthafte Krankheit verlor Kant nach und nach sein Sehvermögen und seine Kräfte und starb am 12. Februar 1804. 2. Kants Werk bis 1770 In seiner ersten Arbeit, den ‚Lebendigen Kräften‘, versuchte Kant einen Disput über die Messung von Kräften zwischen Descartes und Leibniz dadurch zu schlichten, dass er eine Unterscheidung zwischen ‚lebendig‘ als den inneren Kräften und ‚tot‘ als den aufgedrückten Kräften einführte, um damit zu beweisen, dass Leibniz’ Maß richtig für die Ersteren, und Descartes’ Maß richtig für die Letzteren seien. Diese Unterscheidung konnte in einer uniformen Mechanik nicht aufrechterhalten werden, und der junge Kant wusste weiterhin nichts von der mathematisch korrekten Lösung, die von d’Alembert im Jahre 1743 veröffentlicht worden war. Gleichwohl zeigte diese Arbeit bereits Kants lebenslange Bemühung um die Beziehung zwischen den Naturgesetzen und ihrer metaphysischen Begründung. Dies schloss auch die Beobachtung ein, dass die Dreidimensionalität des physischen Raumes ein Produkt tatsächlich existierender Kräfte ist, und nicht nur eine logisch möglich Geometrie (KGS Bd. 10/1, S. 24). Kants Arbeit aus dem Jahre 1755 verrät bereits mehr über seine Originalität und seine anhaltenden Themen. Die ‚Allgemeine Naturgeschichte‘, die den gegenwärtigen Zustand der Planeten aus postulierten Anfangsbedingungen durch wiederholte Anwendung der Gesetze der Newtonschen Mechanik ableitet, verdeutlich nicht nur Kants Überzeugung von diesen Gesetzen, für die er späterhin eine philosophische Grundlegung suchen sollte, sondern auch seine positive Einstellung gegenüber gründlichen naturwissenschaftlichen Erklärungen, in denen Gott zwar die anfängliche Quelle der Naturgesetze sein kann, niemals aber in die Abfolge physikalischer 864
Kant, Immanuel (1724‑1804)
Wirkungsbeziehungen eingreift. Die ‚Neue Erhellung‘ war zwar noch kein methodischer Bruch mit dem Rationalismus von Leibniz, Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), dessen Lehrbücher zur Metaphysik, Ethik und Ästhetik Kant über Jahrzehnte benutzte, widerspricht ihnen aber bereits in vielen wesentlichen Fragen. Kant beginnt mit der Ablehnung der Wolffschen These, dass das Prinzip der Widerspruchslosigkeit ein einziges bereits ausreichendes Wahrheitskriterium sei und behauptet stattdessen, dass es gesonderte Erste Prinzipien der positiven und negativen Wahrheiten geben müsse. Im Gefolge von Crusius blieb Kant immer misstrauisch gegenüber Programmen, die alle Wahrheit auf ein einziges Prinzip zurückführten. Kant kritisierte sodann vorangehende Beweise des Satzes vom zureichenden Grunde, obwohl sein eigener Beweis ebenfalls fehlerhaft war. Wichtiger noch argumentierte er, dass aus dem Satze vom ausreichenden Grunde nicht die Theorie der prästabilierten Harmonie folge, die von den Leibnizianern geschlossen wurde; die Notwendigkeit eines hinreichenden Grundes für einen jeglichen Wandel der Substanz beweise vielmehr die Notwendigkeit, und nicht die Unmöglichkeit einer realen Wechselwirkung zwischen einer Mehrheit von Substanzen. Mittels Übersetzung in eine erkenntnistheoretische Formulierung erlangte dieses Argument zum ersten Male in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zentrale Bedeutung. Das eingangs genannte Werk ist auch wegen des ersten Einwandes von Kant auf Descartes’ ontologisches Argument für die Existenz Gottes lesenswert (siehe Gott, Argumente für die Existenz von), und wegen der hier erstmaligen Behandlung des Problems des freien Willens. Kant verteidigt hier den Determinismus von Leibniz gegen den Indeterminismus von Crusius (siehe Determinismus und Indeterminismus), obwohl er ihn später als eine ‚Freiheit auf dem Bratspieß‘ (5: 97) kritisierte. Kants spätere Theorie des freien Willens versucht, Crusius und Leibniz miteinander zu versöhnen. In der ‚Physischen Monadologie‘ (1756) versucht Kant, die unendliche Teilbarkeit des Raumes in der Geometrie mit dem Bedürfnis nach einer einfachen, unteilbaren Substanz in der Metaphysik auszusöhnen, ein Thema, dass später zum Gegenstand der Zweiten Antinomie in der ersten ‚Kritik‘ wird (siehe § 8). Kant beruft sich aber noch nicht auf eine metaphysische Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, sondern bringt stattdessen vor, dass die Körper im Raum, weil sie ursprünglich nicht aus Partikeln, sondern aus anziehenden und abstoßenden Kräften zusammengesetzt seien (KGS Bd. 1, S. 484), physikalisch selbst dann unteilbar sein können, wenn der Raum selbst noch mathematisch teilbar ist. Kants Arbeiten in den 1760er Jahren führt bereits einige der methodischen, als auch einige der substanziellen Annahmen seiner reifen Philosophie ein. ‚Der einzig mögliche Beweisgrund‘ detailliert Kants Angriff gegen den ontologischen Beweis, der insofern ein paradigmatisch rationalistisches Argument war, weil seine Voraussetzung lautet, dass eine Existenzbehauptung allein aus der Analyse eines Begriffs abgeleitet werden kann. Kant wendet hiergegen ein, dass die Existenz kein Prädikat oder eine Bestimmung eines Gegenstandes ist (KGS Bd. 2, S. 72), sondern vielmehr die absolute Setzung eines Gegenstandes (KGS Bd. 2, S. 73). Das bedeutet, dass die Existenz des Satzsubjekts durch die Aufstellung einer jeglichen Aussage vorausgesetzt wird, nicht aber aus den Begriffen erschlossen wird, die darin verwendet werden. Kant meint ferner, dass der andere rationalistische Beweis für den Theismus, nämlich der Beweis von der Kontingenz der Welt auf eine notwendige Ursache davon, sowie das bei den Empiristen beliebteste Argument vom Entwurf der Schöp865
Kant, Immanuel (1724‑1804)
fung bei dem Beweis der Existenz eines notwendigen Wesens mit all den Attributen Gottes versage. Kant ist aber immer noch der Auffassung, dass die Existenz Gottes als eine Bedingung der Möglichkeit einer jeglichen Wirklichkeit bewiesen werden könne. Schließlich entwickelt Kant noch seinen Beweis, dass die wissenschaftliche Erklärung ein göttliches Eingreifen der Abfolge der Ereignisse nicht zulasse, und dass Gott höchstens als der ursprüngliche Grund für die Naturgesetze angesehen werden könne. ‚Negative Größen‘ kündigt einen grundlegenden methodischen Bruch mit dem Rationalismus an. Inspiriert durch Crusius und Hume behauptet Kant nun, dass der reale Gegensatz (wie wenn zwei Geschwindigkeiten in die entgegengesetzte Richtung verlaufen oder eine Lust und ein Schmerz einander aufheben) vollkommen verschieden ist von dem logischen Widerspruch (wie zwischen einer Aussage und ihrer Negation); er wendet dies dann auf die Kausalität an und sagt, dass der wirkliche Grund eines Zustandes keineswegs auf logische Weise seine Existenz impliziere, sondern beide auf andere Weise miteinander verbunden seien. Dies schließe jeden Beweis des Satzes vom zureichenden Grunde allein aus logischen Überlegungen aus (KGS Bd. 2, S. 202). Die ‚Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral‘ ist eine Fortsetzung des kantischen Angriffs auf den Rationalismus. Die Frage dieses Aufsatzes lautete, ob die Metaphysik dieselben Methoden anwenden könne wie die Mathematik, was Kant durchweg ablehnt: die Mathematik, so argumentiert er, kann ihre Theoreme durch Konstruktionen beweisen, die sie ihren eigenen Definitionen unterstellt, während die Metaphysik nur die Analyse einsetzen kann, um die Definitionen ihrer Gegenstände auf der Basis gegebener Begriffe herauszusuchen; sie kann die Gegenstände jedoch nicht selbst konstruieren (KGS Bd. 2, S. 276). Die Behauptung, dass die Methode der Philosophie die Analyse sei, mag rationalistisch klingen. Kant beharrt jedoch darauf, dass die Philosophie sowohl in der Metaphysik, als auch in der Ethik gleichermaßen materieller wie auch formaler Erster Prinzipien bedürfe, wobei er erneut jede ausschließlich logische Ableitung philosophischer Thesen ausschließt. Kant verfügt noch über keine klare Vorstellung von den materiellen Ersten Prinzipien; er sympathisiert mit Crusius’ Darstellung der nicht demonstrierbaren Erkenntnis und dem Vorschlag der Theoretiker des Moralsinns Shaftesbury und Hutcheson, dass die Ersten Prinzipien der Ethik aus dem Gefühl entspringen, aber durch dieses nicht befriedigt werden. Ohne dies bereits so zu nennen führt Kant hier die Unterscheidung zwischen dem hypothetischen und dem kategorischen Imperativ ein (KGS Bd. 2, S. 298). Noch im Jahre 1764 kündigt das Buch ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘ bereits Kants Abrücken von der Theorie des Moralsinns an und führt die grundlegendsten Merkmale der kantischen Ethik ein. Die Tugend kann nicht allein von wohlwollender Neigung abhängen, sondern nur von allgemeinen Prinzipien, die sich umgekehrt als ein Gefühl ausdrücken, das in jeder menschlichen Brust lebt und sich viel weiter erstreckt, als nur auf die speziellen Bereiche des Mitgefühls und der Gefälligkeit, sondern auch ‚auf das Gefühl der Schönheit und Würde des menschlichen Wesens‘ (KGS Bd. 2, S. 217). In den Bemerkungen seiner eigenen Ausgabe dieses Buches ging Kant sogar noch weiter und stellt erstmals klar seine von da an anhaltende Überzeugung fest, dass „die Freiheit im eigentlichen Sinne
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(d.h. die moralische, nicht die metaphysische) das oberste Prinzip aller Tugend, wie auch allen Glücks“ sei (KGS Bd. 20, S. 31). In ‚Träume eines Geistersehers‘ zieht Kant die traditionelle Metaphysik ins Lächerliche, indem er sie mit den Fantasien des schwedischen Theosophen Emmanuel Swedenborg vergleicht. Kant behauptet stattdessen, dass metaphysische Begriffe nicht verwendet werden können, ohne empirisch verifiziert worden zu sein, und dass die Metaphysik deshalb bestenfalls „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ sein könne (KGS Bd. 2, S. 368). Diese Arbeit enthält auch weitere Gedanken über die Moral und schlägt vor, dass die beiden Kräfte des Egoismus und des Altruismus die Struktur der Moral definieren (KGS Bd. 2, S. 334). Kant behauptet aber noch nicht, dass Postulate der praktischen Vernunft gültige Alternativen zu den Täuschungen der Metaphysik sein können. Schließlich behauptet er in dem kurzen Aufsatz ‚Richtungen im Raum‘, dass inkongruente Gegensätze wie z.B. rechte und linke Handschuhe eines Paares, die identisch beschaffen sind, aber nicht denselben Raum einnehmen, beweisen, dass die Qualitäten von Gegenständen nicht allein durch Begriffe bestimmt sind, sondern auch durch ihre Beziehung zum absoluten Raum. Kant wirft hier noch keine metaphysischen Fragen über das Wesen des absoluten Raumes, und auch keine erkenntnistheoretischen Fragen darüber auf, wie wir dies erkennen können; aber dieser Aufsatz kann als eine Einführung in die Unterscheidung zwischen den Intuitionen und Begriffen angesehen werden, die zu einem Eckpfeiler des nachfolgenden kantischen Denkens wurde (siehe § 5). 3. Die ‚Inauguraldissertation‘ von 1770 und das Problem der Metaphysik Kants Inauguraldissertation von 1770 verband viele der philosophischen Erträge seiner Arbeit im vorangehenden Jahrzehnt und führte eine grundlegend neue Theorie über die Metaphysik und die Erkenntnis von Raum und Zeit ein, die zu einem durchgehenden Merkmal seines nachfolgenden Denkens werden sollte, aber auch entscheidende Fragen über die Quelle dieser fundamentalsten Begriffe offen ließ. Obwohl Kant hoffte, rasch zu seinen Projekten der Wissenschaftsphilosophie sowie der Moral- und politischen Theorie zu kommen, brauchte er doch noch das gesamte folgende Jahrzehnt, um die vorangehenden Fragen zu beantworten. Indem er dort anknüpfte, wo er in den ‚Richtungen des Raums‘ stehen geblieben war, begann Kant die Dissertation mit der Unterscheidung zwischen den Intuitionen (singuläre und unmittelbare Repräsentationen von Gegenständen) und Begriffen (allgemeine und abstrakte Repräsentationen von solchen Intuitionen) als bestimmte, aber gleichermaßen wichtige Elemente des „zweifachen Ursprungs des Begriffs [einer Welt] aus der Natur des Geistes“. Der Intellekt (Kant unterscheidet hier noch nicht zwischen Verstand und Vernunft) liefert abstrakte Begriffe, unter die er Fälle subsumiert. Das sog. ‚sinnliche Vermögen der Erkenntnis‘ liefert die ‚deutliche Anschauung‘, die wiederum Begriffe ‚im Konkreten‘ repräsentiert, und innerhalb derer unterschiedliche Teile koordiniert werden können (KGS Bd. 2, S. 387). Sodann behauptet Kant, dass „was auch immer Sinnliches an der Erkenntnis ist, hängt vom besonderen Charakter des Subjekts ab“, d.h. dem Erkennenden, so dass die Wahrnehmung vermittels der Anschauungen die Dinge darstellt, „wie sie erscheinen“ (d.h. als Phänomene), während der Intellekt durch die Begriffe die Dinge so repräsentiert, „wie sie sind“ (also als sog. ‚Noumena‘) (KGS Bd. 2, S. 392). Kant 867
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schreitet fort mit seinen ‚Prinzipien der Form der wahrnehmbaren Welt‘: Zeit und Raum sind die Formen der Anschauung aller Gegenstände (wobei die Zeit die Form der Darstellung aller Gegenstände, also der inneren und der äußeren ist, während der Raum die Form der Darstellung aller äußeren Gegenstände ist), die aus allen einzelnen Wahrnehmungen zwar nicht hervorgehen, aber doch von diesen vorausgesetzt werden. Sie sind singulärer und nicht allgemeiner Natur. Das heißt, einzelne Zeit- oder Raumbereiche oder -punkte sind Teile eines einzigen Ganzen, statt Fälle einer allgemeinen Art; und sie müssen jeder einzeln „die subjektive Bedingung sein, die notwendig ist kraft der Natur des menschlichen Geistes, zur Koordination aller Dinge im Einklang mit einem gegebenen Gesetz“ oder auch die reine Anschauung statt irgendetwas Objektives oder Reales (KGS Bd. 2, S. 398–400, 402–404). Nur so können wir unser Wissen sowohl über diese allgemeinen Behauptungen über Raum und Zeit erklären, als auch einzelne Behauptungen über deren Struktur, wie z.B. die Theoreme der Geometrie (KGS Bd. 2, S. 404). In anderen Worten, wir können die Gewissheit der Erkenntnis über Raum und Zeit nur durch die Annahme erlangen, dass es eine Erkenntnis über die Struktur unseres eigenen Geistes ist und wie uns die Dinge erscheinen, nicht aber darüber, wie die Dinge an sich selbst sind. Dieser notwendig subjektive Ursprung der Gewissheit und ihrer Bedeutung, die Kant später ‚transzendentalen Idealismus‘ nannte, ist das Fundament für die aktive Rolle des menschlichen Geistes in seinem Erkennen der Welt. Kant sagt uns nur wenig über die Quelle dieser intellektuellen Konzepte, ist aber weiterhin überzeugt, dass sie uns Einsicht darin vermitteln, wie die Dinge unabhängig von der Struktur unseres eigenen Geistes sind. Sein Hauptargument, noch ganz im Leibnizschen Geist, lautet: Statt einer Wahrnehmung der Dinge als wirklich gesonderte Substanzen, die dennoch gemeinsam in einer einzigen Welt interagieren, müssen wir sie uns als kontingent Seiendes vorstellen, die alle von einem einzigen notwendigen Seienden abhängen (KGS Bd. 2, S. 407–408). Kant schreitet dann fort zu behaupten, dass es zu metaphysischen Irrtümern führt, wenn die Prinzipien der wahrnehmbaren und der intellektuellen Erkenntnis verwechselt werden, und noch mehr, wenn „die Prinzipien, die der Wahrnehmungserkenntnis zugrunde liegen, ihre Grenzen überschreiten und das affizieren, was zum Intellekt gehört“ (KGS Bd. 2, S. 411). Damit sagt er zunächst das Gegenteil dessen, was er später behaupten wird, wenn er sagt, dass die metaphysische Täuschung aus dem Gedanken resultiert, dass die menschliche Vernunft über diese Grenzen der Sinneswahrnehmung hinausgehen kann (siehe § 8). Abschließend führt Kant als reine ‚Bequemlichkeitsprinzipien‘ jene der universalen Verursachung und der Substanzerhaltung ein, sowie einen allgemeineren Kanon der Rationalität, demzufolge „Prinzipien nicht über das absolut notwendige Maß hinaus vermehrt werden sollten“ (KGS Bd. 30, 2, S. 418). Eine bessere Darstellung dieser Prinzipien wird einen großen Teil von Kants späterer Arbeit in Anspruch nehmen (siehe § 7). Frühe Leser von Kants Dissertation widersprachen der rein subjektiven Bedeutung von Raum und speziell der Zeit, aber Kant sollte diese Theorie nicht mehr aufgeben. Was ihn stattdessen beunruhigte, war seine unangemessene Behandlung solcher metaphysischen Begriffe wie z.B. ‚Möglichkeit‘, ‚Existenz‘, ‚Notwendigkeit‘, ‚Substanz‘, ‚Ursache‘ etc. (KGS Bd. 2, S. 395). In einem berühmten Brief vom 21. Februar 1772 an Marcus Herz (KGS Bd. 10, S. 129–135) behauptete Kant, dass „das ganze Geheimnis der Metaphysik“ darin liege, wie Begriffe, die weder 868
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buchstäblich ihre Gegenstände selbst hervorbringen (wie es z.B. beim Begriff von Gott der Fall ist), noch lediglich durch diese hervorgebracht werden (wie dies bei den empirischen Begriffen der Fall ist), dennoch notwendig auf Letztere anwendbar sein müssen. Kant wusste aber noch nicht, wie man diese Frage beantworten könnte. Sein erster Fortschritt hierin findet sich in Fragmenten von 1774–1775 (Reflexionen 4674–4684, KGS Bd. 17, S. 643–673). Dabei geht es um zwei Schlüsselvorstellungen. Erstens formuliert Kant schließlich das Problem der Metaphysik als jenes der sog. ‚synthetischen‘ anstelle der ‚analytischen‘ Aussagen: Wie können wir die Wahrheit von Aussagen erkennen, in denen die Prädikate deutlich über alles hinausgehen, was in ihren Subjektbegriffen enthalten ist, wo aber jene Aussage noch nicht dieselbe Universalität und Notwendigkeit wie solche Aussagen entfaltet, die reine Tautologien sind, und deren Prädikate nicht in ihren Subjektbegriffen enthalten sind (KGS Bd. 17, S. 643–644, 653–655)? Zweitens stellt Kant hier das erste Mal fest, dass die Antwort auf diese Frage in der Erkenntnis liegt, dass gewisse grundlegende Begriffe, und nicht nur die Anschauungen von Raum und Zeit, „Bedingungen der konkreten Vorstellung [von Gegenständen] im Subjekt“ sind (KGS Bd. 17, S. 644) oder der Einheit der „Erfahrung im Allgemeinen“ (KGS Bd. 17, S. 658). Kants Idee ist es, dass wir zur Grundlegung einer bestimmten Ordnung entweder der subjektiven oder der objektiven Zustände in der zeitlichen Folge die Begriffe der Substanz, der Verursachung und der Wechselwirkung verwenden müssen, und dass diese daher Kategorien sein müssen, die im Verstand das bewirken, was die reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit in der Wahrnehmung bewirken. 4. Das Projekt der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ Trotz dieses Fortschrittes im Jahre 1775 mussten noch sechs weitere Jahre vergehen, bevor schließlich die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ 1781 erschien. In einer unmissverständlichen Bezugnahme auf Lockes ‚Versuch über den menschlichen Verstand‘ (siehe Locke, J.) beginnt Kant das Werk mit dem Versprechen, die Vernunft einer Kritik zu unterziehen, um eine ‚Entscheidung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik im Allgemeinen und die Bestimmung ihrer Quellen, ihres Geltungsbereichs und ihrer Grenzen‘ herbeizuführen (A xii). Die Schlüsselfrage würde somit lauten: ‘Was können der Verstand und die Vernunft jenseits aller Erfahrung wissen, und wie können sie dies wissen?’ (A XVII) Eine Antwort auf diese Frage mache nach Kant die Entdeckung der grundlegenden Prinzipien notwendig, die der menschliche Verstand zur menschlichen Erfahrung beisteuert, und würde damit die metaphysischen Täuschungen aufzeigen, die entstehen, wenn die menschliche Vernunft versucht, diese Prinzipien über die Grenzen der menschlichen Erfahrung hinaus auszudehnen. Aber Kants Projekt war noch ehrgeiziger, wie er uns in der überarbeiteten Auflage der ‚Kritik‘ sechs Jahre später klar machen wollte. Dort nämlich, zusätzlich zur detaillierteren Ausführung seiner Strategie einer Erklärung der Gewissheit des Ersten Prinzips menschlicher Erkenntnis als einem, das davon ausgeht, dass „alle unsere Erkenntnis […] sich nach den Gegenständen richten“ müsse, und nicht umgekehrt (B xvi), beschreibt Kant sein ganzes Projekt in einem weiteren Zusammenhang: „Ich musste also das Wissen aufgeben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (B xxx). Kant meinte damit nicht zu dem skeptischen Fideismus, d.h. einer auf blindem Vertrauen aufgebauten Philosophie, früherer Denker wie z.B. Pierre Bayle 869
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zurückzukehren, die den religiösen Glauben einfach an die Stelle des theoretischen Unwissens setzten. Stattdessen behauptet Kant zunächst, dass der menschliche Geist die notwendigen Prinzipien der Wahrnehmung und des Verstandes bereitstelle, bzw. jene der Perzeption und der Vorstellung, und daraufhin, dass die menschliche Vernunft, wenn sie versuche, die grundlegenden Begriffe und Prinzipien des Denkens über die Grenzen der Wahrnehmung hinaus für Zwecke der theoretischen Erkenntnis anzuwenden, hierdurch nur in Täuschungen verfalle. Aber schlussendlich gäbe es eine andere Verwendung der Vernunft, einen praktischen Nutzen, indem sie universelle Gesetze und Ideale des menschlichen Verhaltens konstruiere und die Erfüllung der notwendigen Bedingungen postuliere, um ein solches Verhalten rational zu machen, einschließlich der Freiheit des Willens, der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Diese Verwendung der Vernunft stellt nicht die Grenzen der theoretischen Vernunft in Frage, sondern ist aus sich selbst heraus legitim und notwendig. In der Einführung definiert Kant seine erste Aufgabe als jene der Erklärung der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori. Diese Vorstellung gründet sich auf zwei Unterscheidungen. Erstens gibt es eine logische Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen: in analytischen Aussagen ist der Prädikatbegriff implizit oder explizit im Subjektbegriff enthalten (beispielsweise in den Aussagen ‚Ein Junggeselle ist unverheiratet‘ oder ‚Ein unverheirateter Mann ist ein Mann‘), so dass die Aussage keine neue Information enthält und allein durch den Satz von der Identität wahr ist. In synthetischen Aussagen ist der Inhalt des Prädikats deutlich nicht im Subjektbegriff enthalten (beispielsweise in der Aussage ‚Junggesellen sind unglücklich‘) (A6–7/B10–11), so dass die Aussage neue Informationen vermittelt und nicht aus Identitätsgründen allein wahr sein kann. Zweitens gibt es eine erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Aussagen, die a posteriori gegeben sind, d.h. die nur auf der Grundlage vorangehender Erfahrung und Beobachtung als wahr erkannt werden können, und solchen, die a priori wahr sind bzw. unabhängig von der Erfahrung als war erkannt werden können (A1–2/ B1–3). Kant meint, dass alles, was als universell und notwendig wahr bekannt ist, a priori bekannt sein müsse, weil er mit Hume davon ausgeht, dass die Erfahrung uns nur sagt, was tatsächlich beobachtet wurde, nicht aber, wie alle Dinge sein müssen (A1–2/B3–4). Kombiniert man diese beiden Unterscheidungen, so ergeben sich vier mögliche Urteilsformen: das analytisch apriorische Urteil, in dem wir eine Aussage als wahr erkennen infolge der Analyse seines Subjektbegriffs und ohne Beobachtung; dann das synthetische aposteriorische Urteil, bei dem wir faktische Aussagen verstehen, die über die Subjektbegriffe hinausgehen und mittels Erfahrung wahr sind; Gleichermaßen klar ist eine dritte Möglichkeit ausgeschlossen: es gibt keine analytisch-aposteriorischen Urteile, denn wir bedürfen nicht der Erfahrung, um das zu erkennen, was wir allein aus der Analyse erkennen können. Strittig ist nun, ob es synthetische Urteile a priori gibt, d.h. Aussagen, die universell und notwendig wahr sind und deshalb über die Erfahrung hinausgehen müssen, die aber nicht allein durch die Analyse von Begriffen als wahr oder falsch erkannt werden können. Sowohl die Rationalisten, als auch die Empiristen haben diese Möglichkeit bestritten, aber für Kant konnte nur dieser Urteilstyp die Grundlage überhaupt einer Wissenschaft der Metaphysik sein. Kants Begriff des synthetischen Urteils a priori wirft verschiedene Problem auf. Kritiker haben lange beklagt, dass Kant kein eindeutiges Kriterium zur Entschei870
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dung vorlegt, wann ein Prädikat in einem Subjekt enthalten ist, und Philosophen des 20. Jahrhunderts wie z.B. W.v.O. Quine argumentierten, dass es gar keine analytischen Wahrheiten gebe, weil nicht einmal die Definitionen in Anbetracht empirischer Fakten vollkommen immun gegen eine Änderung seien. Lewis White Beck zeigte jedoch, dass Kants Unternehmen hiervon nicht betroffen ist, denn Kant selbst argumentierte in einer Auseinandersetzung mit dem Wolffianer Johann August Eberhard, dass die Analyse immer die Synthese voraussetzt, und dass die Annahme irgendeiner Definition selbst immer begründet werden muss, und zwar entweder durch eine Konstruktion, oder durch Beobachtung; so bleibt also Kants Frage, selbst wenn man zugibt, dass alle Urteile letztlich synthetisch sind, dahingehend bestehen, ob irgendeines von ihnen a priori synthetisch ist. Eine weitere Frage ist, welche a priori synthetischen Urteile Kant eigentlich zu rechtfertigen beabsichtigte. In den Prolegomena und der Einführung in die zweite Auflage der ‚Kritik‘ sagt Kant, es sei offenkundig, dass synthetische Urteile a priori gegeben seien, und zwar im Bereich der sog. ‚reinen Mathematik‘ und der ‚reinen Physik‘, und dass dieses Unternehmen darin bestünde zu zeigen, dass eine Erklärung dieser Aussagen auch eine Erklärung anderer solcher Aussagen der Metaphysik sei. An anderer Stelle deutet Kant jedoch an, dass die Metaphysik beweisen müsse, dass es irgendein synthetisches Urteil a priori gäbe, sogar in der Mathematik und der Physik. Während vieles vom Inhalt der ‚Kritik‘ suggeriert, dass Kants eigene Sichtweise die letztere gewesen sein müsse, ist dies doch bei näherem Hinschauen keineswegs so eindeutig. 5. Raum, Zeit und transzendentaler Idealismus Der erste Teil der ‚Kritik‘, die ‚Transzendentale Ästhetik‘, verfolgt zwei Ziele: sie soll zeigen, dass wir über synthetisches Wissen a priori der räumlichen und zeitlichen Formen der äußeren und inneren Erfahrung verfügen, die auf unserer eigenen, reinen Anschauung von Raum und Zeit beruht; und sie soll beweisen, dass der transzendentale Idealismus, d.h. die Theorie, dass die Räumlichkeit und Zeitlichkeit nur Formen sind, in denen uns die Gegenstände erscheinen, nicht Eigenschaften der Gegenstände an sich selbst, und dass diese die notwendige Bedingung für das apriorische Erkennen von Raum und Zeit sind (siehe Raum; Zeit). Dieser Teil verfeinert über weite Strecken die Argumente der Inauguraldissertation von 1770. Zunächst behauptet Kant jeweils am Anfang des ersten und zweiten Abschnitts, die in der zweiten Auflage als ‚Metaphysische Erörterung‘ des Raumes bzw. der Zeit betitelt sind, dass Raum und Zeit beide Formen der Anschauung und reine Anschauungen seien. Sie seien reine Formen der Anschauung, weil sie aller individuellen Erfahrung äußerer Gegenstände und innerer Zustände vorangehen und sie strukturieren müssen. Kant versucht dies zu beweisen, indem er ausführt, dass unsere Konzeptionen von Raum und Zeit nicht aus der Erfahrung von Gegenständen abgeleitet werden können, weil eine jede solche Erfahrung die Individuation von Gegenständen in Raum und/oder Zeit bereits voraussetze, und dass wir, obwohl wir uns Raum und Zeit als frei von Gegenständen vorstellen können, wir doch keinen Gegenstand ohne die Vorstellung von ihm in Raum und Zeit begreifen können (A23–24/B38–39; A30–31/B46). Sie sind reine Anschauungen, weil sie einzelne Gegenstände anstatt Klassen von ihnen darstellen. Kant versucht dies zu beweisen, indem er sagt, dass einzelne Räume und Zeiten immer dadurch vorgestellt werden, 871
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dass man Grenzen innerhalb eines einzigen, unbegrenzten Raumes oder eine solche Zeit einführt, und diese nicht aus Teilen zusammengesetzt vorgestellt werden kann, und dass Raum und Zeit keine unbestimmte Anzahl von Fällen gewähren wie beispielsweise allgemeine Begriffe, wohl aber eine unendliche Anzahl möglicher Teile (A24/B39–40; A31–32/B47–48). In der folgenden ‚Transzendentalen Erörterung‘ des Raumes führt Kant an, dass wir über apriorische Anschauungen des Raumes verfügen müssen, weil die Geometrie eine Wissenschaft sei, die die Eigenschaften des Raumes synthetisch und daher a priori bestimme (B40). Das heißt, die Aussagen der Geometrie beschreiben die Gegenstände im Raum, gehen damit über die reinen Begriffe der jeweiligen beteiligten Gegenstände hinaus. Und weil die geometrischen Theoreme nicht ohne wirkliche Konstruktion ihrer Figuren bewiesen werden können, würden die Aussagen der Geometrie a priori erkannt. (Kant bietet noch ein analoges, aber weniger plausibles Argument betreffend die Zeit an, wo die Aussage, die er anführt, analytisch zu sein scheint [B 48]). Unser apriorisches Wissen über Raum und Zeit im Allgemeinen und unser apriorisch synthetisches Erkennen geometrischer Aussagen im Besonderen könne man nur mit der Annahme erklären, dass Raum und Zeit subjektiven Ursprungs und deshalb unabhängig von der Erfahrung einzelner Gegenstände erkennbar seien. Schließlich behauptet Kant, dass diese Ergebnisse den transzendentalen Idealismus beweisen, bzw. dass Raum und Zeit Eigenschaften der Dinge so abbilden, wie sie uns erscheinen, aber keine Eigenschaften oder Beziehungen der Dinge, wie sie an sich selbst seien, ganz zu schweigen von Entitäten wie dem Newtonschen absoluten Raum. Seinen Standpunkt von 1768 hat er nunmehr revidiert und sagt, dass der Raum wohl erkenntnistheoretisch, nicht aber ontologisch absolut sei (A26/ B42; A32–33/B49–50; A39–49; B56–57). Kants Argument lautet hier, dass die sog. ‚Bestimmungen‘ von Gegenständen unabhängig von uns zeitlich nicht vor den Gegenständen vorgestellt werden können, zu denen sie gehören und deshalb nicht a priori angeschaut werden können, während Raum und Zeit und ihre Eigenschaften durchaus einer apriorischen Anschauung zugänglich seien. Da sie folglich keine Eigenschaften der Dinge an sich sein können, gäbe es keine Alternative außer jener, dass Raum und Zeit lediglich die Formen seien, in denen uns die Gegenstände erscheinen. Vieles an Kants Theorie wurde durch die nachfolgende Philosophie der Mathematik in Frage gestellt. Kants Anspruch, dass die geometrischen Theoreme deshalb synthetisch seien, weil sie nur durch Konstruktion bewiesen werden können, stellte sich infolge einer vollständigeren Axiomatisierung der Mathematik als jener, die Kant bekannt war, als zweifelhaft heraus, und seine Behauptung, dass solche Aussagen die Gegenstände im physischen Raum beschreiben und dennoch a priori erkannt würden, wurde auf Grund der Unterscheidung zwischen den reinen formalen Systemen und ihrer physischen Realisierung hinterfragt. Die philosophische Debatte konzentrierte sich allerdings auf Kants Schlussfolgerung des transzendentalen Idealismus aus seiner Philosophie der Mathematik. Eine Frage hierbei ist die eigentliche Bedeutung von Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen der Dinge und den Dingen an sich. Gerold Prauss und Henry Allison schreiben Kant eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gegenstandsbegriffen zu, von denen der erste eine Referenz auf die notwendigen Bedingungen 872
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zur ‚Perzeption‘ (Wahrnehmung) dieser Gegenstände enthält, und der zweite diese weglässt, wodurch diese Begriffsart ohne ontologische Konsequenzen bleibt. Ein weiterer Standpunkt besagt, dass Kant nicht nur behaupten wollte, die Begriffe der Dinge an sich wiesen keine Referenz zu räumlichen und zeitlichen Eigenschaften auf, sondern wirklich bestreitet, dass die Dinge an sich zeitlich und räumlich sind, und dass er deshalb meine, dass räumliche und zeitliche Eigenschaften nur solche unserer eigenen Vorstellung dieser Dinge seien. Kants eigene Ausführungen können zur Unterstützung beider Interpretationen angeführt werden. Die Verfechter der zweiten Auffassung, der sich auch der Autor dieses Beitrages anschließt, wandten jedoch ein, dass diese sowohl aus Kants Beweis, als auch aus seiner Verwendung dieser Unterscheidung folge, letztere vor allem in seiner Theorie des freien Willens (siehe § 8). Die Debatte über Kants Beweis für den transzendentalen Idealismus, die bereits im 19. Jahrhundert begann, dreht sich um die Frage, ob Kant eine ‚vernachlässigte Alternative‘ übergangen hat, als er annahm, Raum und Zeit müssten entweder Eigenschaften von Dingen an sich oder von Vorstellungen sein, dies nicht aber von beidem sein könnten, d.h. um die Frage, ob wir ein Wissen a priori von Raum und Zeit haben können, weil wir a priori eine subjektive Vorstellung von ihnen haben, während sie gleichzeitig objektive Eigenschaften der Dinge seien. Einige meinten hierzu, dass es eine solche vernachlässigte Alternative nicht gäbe, denn obwohl die Begriffe der Erscheinungen und Dinge an sich notwendig unterschiedlich seien, postuliere Kant doch nur eine Menge von Gegenständen. Der Autor dieses Beitrages hat zu dieser Frage ferner eingewandt, dass die ‚vernachlässigte Alternative‘ eine echte Möglichkeit sei, die Kant mit dem Argument seiner Prämisse ausschließen wollte, derzufolge Aussagen über Raum und Zeit notwendig wahr seien: wenn solche Aussagen sowohl wegen unserer Vorstellungen, als auch wegen ihrer ontologisch unterschiedlichen Gegenstände wahr wären, dann wären sie aus dem ersten Grunde notwendig, aus dem zweiten Grunde jedoch nur kontingent wahr, und deshalb nicht notwendig in ihrem gesamten Geltungsbereich wahr (A47–48/B65–66). In diesem Falle hängt Kants transzendentaler Idealismus allerdings von einer zweifelhaften Behauptung über die notwendige Wahrheit ab. 6. Reine Begriffe des Verstehens Die ‚Transzendentale Analytik‘ der ‚Kritik‘ ist bahnbrechend, insofern sie behauptet, dass die grundlegendsten Kategorien des Denkens und die Formen der Wahrnehmung selbst menschliche Produkte seien, die notwendig Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind. Wie bereits die ‚Transzendentale Ästhetik‘ ist auch ihr erstes Buch, die ‚Analytik der Begriffe‘, in eine ‚metaphysische‘ und eine ‚transzendentale Deduktion‘ unterteilt (§§ 13 und 14). In der metaphysischen Deduktion versucht Kant ein Prinzip zur Identifikation der grundlegendsten Begriffe des Denkens zu formulieren, d.h. der Verstandesbegriffe, um dann zu zeigen, dass unsere Erkenntnis von einem Gegenstand immer auf diese Kategorien zurückgreift. Der Schlüssel zu seinem Beweis ist die Behauptung, dass die Erkenntnis immer in einem Urteil ausgedrückt wird (A68–69/B93–94); er bringt sodann vor, dass es gewisse charakteristische Formen oder ‚logische Funktionen‘ des Urteils gibt, und dass, damit unsere Urteile sich überhaupt auf Gegenstände beziehen können, jene logischen Funktionen auch die grundlegenden Be873
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griffe zum Erfassen von Gegenständen zur Verfügung stellen müssen. Folglich stellt Kant zunächst eine Tabelle der logischen Funktionen des Urteils zur Verfügung, die auf der Prämisse aufbaut, dass jedes Urteil eine Quantität, Qualität, Beziehung und Modalität aussagt. Anschließend stellt er eine Kategorientabelle unter denselben vier Überschriften auf, die zeigt, wie Gegenstände solcher Urteile gedacht werden müssen. Daher können Urteile allgemein, besonders oder einzeln sein, und ihre Gegenstände müssen Einheiten, Mehrheiten oder Gesamtheiten sein. Urteile können bejahend, verneinend oder unendlich sein, und ihre Gegenstände manifestieren entweder Wirklichkeit oder Negation oder Limitation (Beschränkung) auf. Urteile können ein Prädikat einem Subjekt zuordnen (kategorisches Urteil), oder aber sie ordnen ein Prädikat-Subjekt-Urteil einem weiteren in der Form von Antezedens und Konsequenz (Voraussetzung und Schlussfolgerung: das hypothetische Urteil) zu, oder aber in der Form von Alternativen (disjunktives Urteil), und die Gegenstände können ihre Beziehungen entsprechend als solche der Inhärenz und der Subsistenz, oder der Kausalität und der Abhängigkeit, oder der Gemeinschaft und Wechselwirkung manifestieren. Abschließend können Urteile problematisch, assertorisch oder apodiktisch sein und ihre entsprechenden Gegenstände entweder möglich oder unmöglich, existent oder nicht-existent, oder notwendig bzw. kontingent sein (A70/ B95; A80/B106). Kants Schema ist intuitiv, wenn man darüber nachdenkt, durchaus plausibel, und er macht davon durch sein ganzes Werk hindurch Gebrauch. Aber so unterschiedliche Philosophen wie Hegel und Quine haben dessen Kohärenz und Notwendigkeit in Frage gestellt. Beunruhigend für Kants eigenes Projekt ist jedoch, dass er nicht zeigt, warum wir alle diese logischen Urteilsfunktionen verwenden müssen, und folglich auch, warum wir alle Kategorien verwenden müssen. Insbesondere zeigt er nicht, warum wir nicht nur kategorische, sondern auch hypothetische und disjunktive Urteile fällen müssen. Ohne eine solche Prämisse kommen Kants Argumente der Kausalität gegen Hume, und der Wechselwirkung gegen Leibniz nicht voran. Es ist unklar, ob Kant diesen Defekt seiner Argumentation in der metaphysischen Deduktion erkannte. Er sprach jedoch genau dieses Problem im nachfolgenden Kapitel der ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ an, wo er die Notwendigkeit der Verwendung jeder dieser Kategorien zu demonstrieren versucht. Dieses Kapitel wird im folgenden Abschnitt diskutiert. Kants Ziel und seine Strategie in der transzendentalen Deduktion bleibt umstritten, trotz seiner vollständigen Überarbeitung dieses Stücks in der zweiten Auflage der ‚Kritik‘. Einige betrachten die transzendentale Deduktion als ein ‚zurückschauendes Argument‘, das auf den Empirismus abzielt und eigentlich nur zeigen sollte, dass wir, wenn wir ein Urteil über Gegenstände fällen, diese apriorischen Begriffe verwenden müssen. Wenn Kant aber nur dies in der metaphysischen Deduktion feststellen wollte, dann wird die transzendentale Deduktion redundant. Etwas naheliegender scheint es zu sein, die letztere als ein Mittel zu betrachten, das den Geltungsbereich unserer Verwendung der Kategorien festschreiben sollte, indem sie zeigt, dass wir überhaupt keine Erfahrung machen können, die gegen eine Konzeptualisierung nach diesem Schema immun ist, und dass die Kategorien deshalb eine allgemein-objektive Gültigkeit besitzen. Weil diese Kategorien der logischen Struktur unseres eigenen Denkens entspringen, so meint Kant, müssen wir uns selbst als die autonomen Gesetzgeber aller Natur begreifen (A127–128/B164). 874
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Zwischen den beiden Fassungen der transzendentalen Deduktion gibt es viele Unterschiede, jedoch stützen sich beide auf die grundlegende Idee, dass wir keine Art von Selbstbewusstsein oder ‚transzendentale Apperzeption‘ haben können, wenn wir nicht auch Bewusstsein von Gegenständen haben, was umgekehrt die Anwendung der Kategorien erfordert. Weil Kant meint, dass wir überhaupt keine Erfahrung haben können, ohne uns dessen bewusst zu sein, so kann er auch behaupten, dass wir keine Erfahrung haben können, auf die nicht die Kategorien Anwendung finden. Der Erfolg dieser Strategie ist unklar. Die Deduktion der ersten Auflage beginnt mit einer fraglichen Analyse der notwendigen Bedingungen für die Erkenntnis eines Gegenstandes, was von der konditionalen Notwendigkeit, dass wir Regeln verwenden müssen, wenn wir Gegenstände erkennen wollen, zu einer absoluten Notwendigkeit, dass wir die Erkenntnis von Gegenständen haben müssen, hinübergleitet, um daraufhin die transzendentale Apperzeption als den ‚transzendentalen Grund‘ der letzteren Notwendigkeit einzuführen (A106). In der zweiten Auflage beginnt Kant direkt mit der Behauptung, dass das Selbstbewusstsein unserer Erfahrung immer möglich ist, was sich ohne große Schwierigkeiten ergibt. Dann kommt er jedoch zu der Schlussfolgerung der Notwendigkeit einer Erkenntnis von Gegenständen auf der Grundlage der Kategorien, indem die transzendentale Apperzeption mit der Vorstellung von einer ‚objektiven Apperzeption‘ gleichgesetzt wird, die wiederum mit dem Urteil über Gegenstände äquivalent ist (B139–140). Dies macht die Verbindung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem kategorischen Urteil über Gegenstände per definitionem wahr und untergräbt Kants Behauptung, einen synthetischen statt einen analytischen Beweis für die objektive Geltung der Kategorien zu liefern. Trotz dieser Probleme ist die Idee, dass das Selbstbewusstsein von der Erkenntnis von Gegenständen abhängt, und damit von der Verwendung der Kategorien zum Begreifen von Gegenständen, attraktiv geblieben, und einige der interessantesten Arbeiten der jüngeren Zeit über Kant sind Rekonstruktionen der transzendentalen Deduktion, wie z.B. jene von Peter Strawson, Jonathan Bennett und Dieter Henrich. Andere kamen zu dem Schluss, dass Kant erst dann eine überzeugende Verbindung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem kategorialen Denken der Gegenstände herstellt, wenn er zeigt, dass das Aufstellen von Urteilen über Gegenstände unter Verwendung der Kategorien eine notwendige Bedingung für das Aufstellen von Urteilen über die zeitliche Ordnung unserer Erfahrung ist. Dies wiederum ist Kants Vorhaben im nächsten Teil der ‚Kritik‘. 7. Die Prinzipien des Urteils und die Grundlegung der Wissenschaft Von den Prinzipien schreitet Kant in vielen Einzelschritten zur Grundlegung der Naturwissenschaft. Zunächst legt er dar, dass die Kategorien, die bis dahin nur einen rein logischen Inhalt haben, in Übereinstimmung mit der Erfahrung gebracht werden müssen bzw. dergestalt umgeformt werden müssen, dass wir sie wirklich erfahren können. Da die Zeit als die Form sowohl des äußeren, als auch des inneren Sinnes, das allgemeinste Merkmal unserer sinnlichen Erfahrung ist, behauptet Kant nun, dass die Kategorien und die Erfahrung gleichartig gemacht werden müssen, indem sie mit gewissen und bestimmten zeitlichen Beziehungen oder ‚Schemata‘ zusammengebracht werden (A138–139/B177–178). Beispielsweise bringt er die reine Kategorie des Grundes und der Folge, die bis dahin nur abstrakt als die Beziehungen gegenständlicher Zuständen verstanden wurde, damit sie sich als Gegenständen 875
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hypothetischer (‚wenn-dann‘) Urteile eignen, mit dem Schema der regelgeleiteten zeitlichen Folge zusammen, und zwar auf einer gewisser Weise engere Art, als uns dies wirklich erfahrbar ist. In seiner Fokussierung auf die Allgemeinheit der Zeit scheint Kant der Räumlichkeit in seinem ‚Schematismus‘ zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken; es wäre beispielsweise selbstverständlicher zu sagen, dass das Schema der Kausalität eine regelgeleitete zeitliche Folge gegenständlicher Zustände im Rahmen bestimmter räumlicher Nähe ist. Sodann tritt Kant in seinem ‚System aller Grundsätze des reinen Verstandes‘ für die Notwendigkeit bestimmter fundamentaler Prinzipien aller Naturgesetze ein. Indem er der Aufteilung der Kategorien folgt, ist dessen dritter Abschnitt in vier Kapitel eingeteilt. Im ersten mit dem Titel ‚Axiome der Anschauung‘ sagt Kant, dass ‚alle Anschauungen extensive Größen‘ seien (B202), und dass deshalb alle Gegenstände der Erfahrung als Ganzheiten dargestellt werden, die aus gleichartigen Teilen bestehen, und folglich mathematisch als Summen solcher Einheiten repräsentiert werden können. Im zweiten Kapitel, den ‚Antizipationen der Wahrnehmung‘, beweist Kant, dass in allen Erscheinungen das Reale, das ein Gegenstand der Empfindung ist, eine intensive Größe, d.h. einen Grad habe (B207). Hier erörtert er, dass Empfindungen ein numerisches Maß zugeordnet werden kann, welches keine Summe gesonderte Teile repräsentiert, sondern vielmehr eine Position auf einer Skala der Intensität. Weil unsere Empfindungen einen wechselnden Intensitätsgrad aufweisen, schließt er, dass wir uns auch die Qualität der Gegenstände als eine Wirklichkeit mit graduellen Unterschieden denken müssen. Das erste dieser beiden ‚mathematischen‘ Prinzipien (A162/B201) fügt dem bereits in der transzendentalen Ästhetik gefundenen Ergebnis allerdings nichts hinzu, und das zweite hängt von empirischen Voraussetzungen ab. Im nächsten Kapitel, den ‚Analogien der Erfahrung‘, geht es um die erste von zwei Arten von ‚dynamischen‘ Prinzipien. Dort bietet Kant einige der zwingendsten und wichtigsten Argumente der gesamten ‚Kritik‘ auf. In der Ersten Analogie behauptet Kant, dass wir bestimmen können, wenn sich eine Veränderung im Gegenstand unserer Wahrnehmung ergeben hat, und nicht etwa nur in unserer Wahrnehmung von ihm, und zwar einfach dadurch, dass wir unsere Wahrnehmung als aufeinander folgende Zustände fortdauernder Substanzen auffassen (siehe Substanz). Da wir nie die Hervorbringung oder das Vergehen von Substanzen selbst wahrnehmen können, sondern nur die Veränderungen in ihren Zuständen, folgert Kant, dass die Gesamtsumme der Substanzen in der natur permanent sei (B224). In der Zweiten Analogie tritt Kant für eine weitere Bedingung zum Aufstellen von Urteilen über die Veränderung von Gegenständen ein: weil es sogar dann, wenn wir eine Folge von Wahrnehmungen erleben, nichts in deren unmittelbarem Wahrnehmungsinhalt gibt, das uns das Stattfinden eines objektiven Wechsels mitteilt, ganz zu schweigen von der genauen Folge von Änderungen, die dort stattgefunden haben. Vielmehr können wir nur eine subjektive Folge der Apprehension (d.h. der Auffassung) von der objektiven Folge der Erscheinungen ableiten (A193/B238), indem wir urteilen, dass eine bestimmte Folge objektiver Sachverhalte und a fortiori die Folge unserer Wahrnehmungen dieser Zustände im Einklang mit einer Regel vonstatten ging, derzufolge Zustände des zweiten Typs nur Zuständen des ersten Typs folgen können. Dies ist genau das, was wir mit einem Kausalgesetz meinen. Abschließend argumentiert die Dritte Analogie, dass wir, weil wir die Zustände von Gegenständen sukzessive wahr876
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nehmen, nicht unmittelbar Zustände von zwei oder mehr Gegenständen gleichzeitig wahrnehmen und deshalb nur urteilen können, dass zwei simultane solcher Zustände nur in unterschiedlichen Raumbereichen existieren können, und dies auch nur, wenn sie von Gesetzen der Wechselwirkung geleitet werden, die besagen, dass keiner der Zustände ohne den jeweils anderen existieren kann (A213/B260). Kants diesbezügliche Darstellungen wurden mit Argumenten der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik angegriffen. Weil Kant selbst aber erkenntnistheoretisch argumentiert, dass unsere Fähigkeit zum Fällen zeitlicher Urteile bezüglich der Folge oder Gleichzeitigkeit von Sachverhalten von unseren Urteilen über die Substanz, die Kausalität und die Wechselwirkung abhängt, ist nicht klar, ob hiergegen überhaupt Einwände von naturwissenschaftlicher Seite erhoben werden können. Wenn uns die Relativitätstheorie sagt, dass die Folge oder Gleichzeitigkeit von Sachverhalten von der Wahl eines internen Bezugsrahmens abhängt, dann ist Kants Theorie nicht widerlegt, sondern sagt lediglich voraus, dass unsere eigenen Urteile über die zeitliche Folge in diesem Falle ebenfalls variieren müssen. Wenn uns die Quantenmechanik sagt, dass Kausalgesetze nur wahrscheinlichkeitstheoretischer Natur sind, dann ist Kants Theorie ebenfalls nicht widerlegt, weil sie lediglich voraussagt, dass unsere Urteile in diesem Falle als zeitliche Urteile nicht vollständig determiniert sein können. Im letzten Teil des ‚Systems der Grundsätze‘ ordnet Kant unter dem Titel ‚Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt‘ den modalen Begriffen der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit empirische Kriterien zu. Das Hauptinteresse dieses Teiles liegt auf der ‚Widerlegung des Idealismus‘, die Kant in der zweiten Auflage einfügt. Hier bringt Kant vor, dass zeitliche Urteile über die eigenen Zustände eine Bezugnahme auf Gegenstände erfordert, die auf eine Weise Bestand haben, die für mentale Repräsentationen nicht gegeben ist, und dass daher das Bewusstsein seiner selbst auch das Bewusstsein von Gegenständen, die dem Selbst äußerlich sind, impliziert (B275–276; auch B XXXIX–XLI). Es gab eine Kontroverse nicht nur über die genauen Beweisschritte, sondern auch darüber, ob damit bewiesen werden soll, dass wir Wissen von der Existenz der Dinge haben, die ontologisch von unseren eigenen Repräsentationen dieser Dinge verschieden sind, was Kants transzendentalen Idealismus untergraben würde. Allerdings war die Formulierung von 1787 tatsächlich die erste von vielen Entwürfen, die Kant hierzu schrieb (Reflexionen 6311–6316, 18, S. 606–623), und dies lässt vermuten, dass er nicht zu beweisen meinte, dass wir von der Existenz von Gegenständen wüssten, die ontologisch verschieden sind von uns und unseren Zuständen, obwohl wir ihnen nichts zuschreiben können, weil sie an sich selbst genau jene Räumlichkeit sind, kraft derer wir diese ontologische Verschiedenheit abbilden. Am Ende hat Kant in dem Werk ‚Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ (1786), das zwischen den beiden Auflagen der ‚Kritik‘ veröffentlicht wurde, seine Erforschung des apriorischen Charakters der Naturgesetze noch einen Schritt weiter getrieben, indem er nicht nur den empirischen Begriff der Veränderung selbst, sondern auch noch den weiteren empirischen Begriff der Materie als dem, was im Raum bewegt werden kann, einführte (KGS Bd. 4, S. 480). Mit nur dieser einen empirischen Ergänzung, so meinte er, könne er die Gesetze der sog. ‚Phoronomie‘ (d.i. die Lehre von der Bewegung der Materie im Raum) ableiten, und zwar als vektoriell zusammengesetzte Bewegung im Raum; ferner auch jene 877
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der Dynamik, d.h. der anziehenden und abstoßenden Kräfte, mit denen der Raum tatsächlich gefüllt sei; weiters jene der Mechanik, d.h. dem Zusammenwirken der sich bewegenden Kräfte; und schließlich der Phänomenologie, die nach Kant – abgeleitet von J.H. Lambert und sehr verschieden von deren späterer Auffassung z.B. bei Hegel oder Husserl – die Gesetze zur Unterscheidung der anscheinenden von den wirklichen Bewegungen zum Gegenstand hat. Diese Arbeit ist kein Aufsatz der empirischen Physik, sondern eher eine Erforschung des begrifflichen Rahmens, in den die empirischen Ergebnisse der Physik eingepasst werden müssen. 8. Die Illusion der theoretischen Vernunft In der ‚Transzendentalen Dialektik‘ trägt Kant vor, dass die Lehren der traditionellen Metaphysik Täuschungen seien, die aus dem Versuch einer Verwendung der Kategorien des Verstandes zur Gewinnung von Informationen über Gegenstände resultieren, die unseren Formen der Anschauung unzugänglich sind. Eine solche Täuschung ist unvermeidlich wegen der Tendenz der menschlichen Vernunft zur Suche nach dem Unbedingten, d.h. zur Entwicklung von Vorstellungsketten bis hin zu ihrem angeblichen Abschluss, selbst wenn dieser jenseits der Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung liegen. Beispielsweise kann uns der Verstand sagen, dass das Ganze aus Teilen besteht, und die Wahrnehmung erlaubt uns vielleicht, bei jeder gegebenen Ganzheit einen kleineren Teil zu finden. Aber nur die Vernunft bringt uns zu der Annahme, dass eine Zerlegung in Teile ihr Ende finden muss, wenn man bei etwas absolut Einfachem ankommt, also etwas, was wir niemals mit den Sinnen wahrnehmen können. In ihrem praktischen Gebrauch mag die Vernunft Vorstellungen von etwas Unbedingtem produzieren, wie z.B. Vorstellungen von der allgemeinen Annehmbarkeit von Handlungsmaximen, die uns nichts Irreführendes über die Welt mitteilen, weil sie uns auch gar nichts über die Welt mitteilen, außer wie sie sein sollte. In ihrem theoretischen Gebrauch scheint uns die Vernunft jedoch etwas über die Welt mitzuteilen, was nicht durch unsere Sinne bestätigt werden kann, oder was sogar unvereinbar mit den Formen unserer Anschauung ist. Diese Diagnose eines metaphysischen Irrtums gibt der kantischen Vorgehensweise in den ‚Antinomien der reinen Vernunft‘ einen realen Sinn, wo er eine Reihe von Konflikten zwischen der Form und den Grenzen des Wahrnehmbaren vorstellt, die einerseits durch den Verstand strukturiert, und andererseits den Ansprüchen der unbedingten Vernunft ausgesetzt sind. In frühen Entwürfen der ‚Dialektik‘ (Fragmente: Reflexionen 4756–4760, 1775–1777, KGS Bd. 17, S. 698–713) nahm Kants Diagnose diese Form an. In der ‚Kritik‘ griff Kant jedoch einige metaphysische Überzeugungen über das Selbst und über Gott für eine gesonderte Behandlung in den ‚Paralogismen der reinen Vernunft‘ und den ‚Idealen der reinen Vernunft‘ heraus. Diese Abschnitte stellen eine mächtige Kritik der traditionellen metaphysischen Lehren dar, setzen aber eine komplexere Erklärung der metaphysischen Täuschung voraus als nur jene Idee, dass die Vernunft nach dem Unbedingten sucht. In den ‚Paralogismen‘ untersucht Kant die Lehren der ‚rationalen Psychologie‘ und stellt fest, dass die Seele eine Substanz sei, die einfach sei und daher unzerstörbar, dass sie ferner über die gesamte Erfahrung einer jeglichen Person hinweg numerisch identisch sei, und dass sie notwendig unterschieden sei von jeglichem äußeren Gegenstand (auf diese Weise reformuliert er den vierten Paralogismus in der zweiten Auflage [B409] als ein Gewebe unbegründeter Behauptungen, die die 878
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logischen Eigenschaften der Vorstellung von ‚Ich‘ oder den Begriff des Selbst als die Eigenschaften missverstehen, was es auch immer in uns sei, was dort denkt (A355/ B409). Kants Kritik der traditionellen Metaphysik der Seele ist überzeugend. Sie hängt allerdings nicht von dem Postulat des Unbedingten durch die Vernunft ab. Stattdessen zeigte die kantische Demonstration, derzufolge diese Lehren aus der Verwechslung von Eigenschaften einer Repräsentation mit dem entstehen, was repräsentiert wird, dass sie keine unvermeidlichen Täuschungen sind, wenn man ihre Glaubwürdigkeit ein für allemal zerstört. Die vier metaphysischen Dispute, die Kant in den ‚Antinomien der reinen Vernunft‘ präsentiert, werden oft als direkte Konflikte zwischen der Vernunft und der Wahrnehmung verstanden. Kant charakterisiert sie jedoch als Streitigkeiten, die von der reinen Vernunft selbst unternommen werden, was eine komplexere Lektüre erfordert. Tatsächlich zeigen beide Seiten in jedem Disput – was Kant die ‚These‘ und die ‚Antithese‘ nennt – unterschiedliche Formen der Forderung der Vernunft nach irgendetwas Unbedingtem. Dabei ist das, was mit den Beschränkungen der Wahrnehmung in Konflikt gerät, die Voraussetzung, wegen der diese Forderungen überhaupt Anlass zum Streit geben. Auch hier setzt Kant wieder den Unterschied zwischen ‚mathematisch‘ und ‚dynamisch‘ zur Aufteilung der Dispute in zwei Gruppen ein und löst sie auf zwei verschiedene Arten. In der Ersten Antinomie ergibt sich der Widerstreit aus der These, dass die Welt einen Anfang in der Zeit und eine Begrenzung im Raum aufweist, sowie der Antithese, dass er unendlich in seiner zeitlichen Dauer und räumlichen Ausdehnung ist (A426–427/B454–455). In der Zweiten Antinomie behandelt der Widerstreit die These, dass die Substanzen in der Welt letztlich aus einfachen Teilen zusammengesetzt sind, und die Antithese, dass alles unendlich teilbar ist (A434–435/B462–463). In jedem dieser Fälle reflektieren die These und die Antithese die Suche der Vernunft nach dem Unbedingten, aber in zwei unterschiedlichen Formen: in der These postuliert die Vernunft einen letzten Abschluss einer Reihe, und in der Antithese eine unbedingte Ausdehnung der Serien. In den ‚mathematischen Antinomien‘ argumentiert Kant jedoch, dass keine der beiden Seiten wahr sei, weil die Vernunft ihre Forderung nach etwas Unbedingtem auf den Raum und die Zeit anzuwenden versuche, die immer unbestimmt in der Ausdehnung seien, weil sie zwar endlich, aber doch immer weiter ausdehnbare Produkte unserer eigenen kognitiven Tätigkeit seien (A504–505/B532–533). In den beiden ‚dynamischen Antinomien‘ ist Kants Lösung anders gelagert. In der Dritten Antinomie lautet die These, dass die sog. ‚Kausalität im Einklang mit den Naturgesetzen‘ nicht die einzige Art von Kausalität sei, sondern dass es auch noch eine ‚Kausalität der Freiheit‘ geben müsse, die der gesamten Reihe der natürlichen Ursachen und Wirkungen zugrunde liege, während die Antithese lautet, dass alles in der Natur im Einklang allein mit den deterministischen Naturgesetzen stattfindet (A444–445/B462–463). In der Vierten Antinomie lautet die These, dass es ein notwendiges Wesen als die Ursache der gesamten Abfolge kontingenter Wesen geben muss, entweder als ihr erstes Mitglied oder als dieser Reihe zugrunde liegend, während die Antithese lautet, dass es kein solches Wesen innerhalb oder außerhalb der Welt gibt (A452–453/B480–481). Und wieder ergeben sich die Thesen aus dem Wunsch der Vernunft nach Abschließung, und die Antithesen ergeben sich aus dem Wunsch der Vernunft nach einer unendlichen Ausdehnung. Hier beziehen sich nun 879
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aber die Thesen nicht notwendig allein auf raumzeitliche Entitäten, so dass die Behauptung, es müsse eine nichtnatürliche Kausalität der Freiheit und ein notwendiges Wesen geben, auf die Dinge an sich selbst anwendbar sind, während die Behauptungen, dass es nur kontingente Existenzen gibt, die durch die Naturgesetze miteinander verbunden seien, auf die Erscheinungen anwendbar sind. In diesem Falle können sowohl die These, als auch die Antithese wahr sein (A531/B559). Dies ist ein Schlüsselergebnis für Kant, denn es bedeutet, dass die theoretische Vernunft, obwohl sie weder beweisen kann, dass die Freiheit, noch dass Gott existiert, beide Behauptungen auch nicht verwerfen kann, so dass Raum für die Existenz von Freiheit und Gott entsteht, um hieraus Glaubwürdigkeit an anderer Stelle zu schöpfen. Der letzte große Teil der ‚Dialektik‘ ist Kants Kritik der rationalen Theologie gewidmet. Hier wiederholt Kant sowohl seine frühere Kritik an dem ontologischen Beweis, als auch seine Behauptung, dass der Beweis für die Existenz Gottes aus der Kontingenz und wegen des Entwurfs der Welt – der sog. ‚kosmologische‘ und ‚physiko-theologische‘ Beweis – von der Vorstellung einer ersten Ursache oder eines Architekten zur Vorstellung eines vollkommenen Wesens nur unter Annahme des ontologischen Beweises fortschreiten könne und deshalb auch mit diesem stehe und falle. Er stellt diesem Beweis nun aber eine Kritik der Beweise von Gott als dem Grund aller Möglichkeiten voran, den er früher einmal akzeptiert hatte: die Vorstellung nämlich, dass es ein ens realissimum gibt, ein individuelles Sein, das in sich selbst den Grund der ‚Gesamtsumme aller Möglichkeiten‘ enthält (A573/B602); dies ist eine weitere der zwar natürlichen, aber täuschenden Ideen der Vernunft. Kant beschließt die erste ‚Kritik‘ jedoch nicht mit einer durchweg negativen Einschätzung der reinen Vernunft. Im Anhang an die ‚Transzendentale Dialektik‘ wendet er ein, dass die Vernunft, obwohl sie bei ihrem theoretischen Gebrauch keine metaphysische Einsicht erreichen kann, uns doch mit unverzichtbaren ‚regulativen‘ Prinzipien für die Durchführung empirischer Forschung versorge, und zwar sowohl mit der Maxime der Einfachheit der Naturgesetze, als auch mit jener der maximalen Vielfalt natürlicher Formen. Im ‚Kanon der reinen Vernunft‘ sagt er, dass uns die praktische Vernunft mit einem Ideal des höchsten Guts versorge, nämlich der Einheit von Tugend und Glück, und schlussendlich der Einheit von Freiheit und Natur, die für eine moralische Lebensführung unverzichtbar sei, wenn auch nicht als deren direkter Gegenstand, so doch als notwendige Bedingung ihrer Rationalität. Dies begründet umgekehrt das praktische Postulat, wenn nicht sogar den theoretischen Beweis der Existenz Gottes. Kant erweitert beide dieser Ideen in den nachfolgenden Werken (siehe § 11 und § 13). 9. Der Wert der Autonomie und die Grundlegung der Ethik In seiner theoretischen Philosophie behauptet Kant, dass wir uns der Prinzipien gewiss sein können, die aus der Kombination der Formen unserer Wahrnehmung und des Verstandes resultieren, weil dies Produkte unserer eigenen intellektuellen Autonomie seien. Er wendet aber auch ein, dass jeder Versuch, die menschliche Vernunft als eine autonome Quelle für metaphysische Einsicht zu betrachten, die über die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung hinaus gültig sein sollen, in die Täuschung führen. In seiner praktischen Philosophie argumentiert Kant allerdings, dass die menschliche Vernunft durchaus eine autonome Quelle der Prinzipien der Lebensführung sei, die immun gegen Schmeicheleien sinnlicher Wahrnehmung sei, 880
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und zwar sowohl in ihrer Bestimmung des Wertes, als auch ihrer Entscheidung zu handeln, und dass die menschliche Autonomie tatsächlich der höchste Wert und die Grenzbedingung aller anderen Werte sei. Traditionell wird Kant als ein ethischer Formalist gesehen, nach dem alle Urteile über den Wert von Zwecken der obligatorischen Allgemeinheit eines moralischen Gesetzes untergeordnet werden müssen, dass direkt vom Begriff der Rationalität selbst abgeleitet sein muss. Diese Interpretation fand Unterstützung durch Kants eigene Beschreibung seiner ‚paradoxen‘ Methode in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, wo er behauptet, dass die Moralgesetze vor einer jeglichen Bestimmung des Guten oder Bösen abgeleitet werden müssten, und nicht umgekehrt (KGS Bd. 5, S. 62–63). Diese Passage wird aber nicht dem übergeordneten Argument von Kants praktischer Philosophie gerecht, das besagt, dass die Rationalität genau deshalb selbst so wertvoll ist, weil sie das Mittel zur Freiheit oder Autonomie ist. Kant drückte dies in seinen Vorlesungsnotizen über die Ethik aus, wenn er sagte, dass der inhärente Wert der Welt, das summum bonum, die Freiheit im Einklang mit dem Willen ist, der nicht zur Handlung gezwungen ist (KGS Bd. 27, S. 1482), und noch klarer in den Vorlesungen über das Naturrecht vom Herbst 1784, also genau jener Zeit, wo er die ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ schrieb, wo es heißt, wenn nur rationale Wesen Zwecke in sich selbst sein können, dann sei dies nicht deshalb so, weil sie vernunftbegabt seien, sondern weil sie Freiheit besäßen. Die Vernunft sei hierzu nur ein Mittel. (27, S. 1321). Dasselbe stellt Kant in der ‚Grundlegung‘ fest, wenn er sagt, dass die unvergleichliche Würde des Menschen sich aus der Tatsache ableitet, dass sie ‚frei im Hinblick auf alle Naturgesetze [seien] und nur solchen Gesetzen gehorchen‘ würden, die sie selbst gemacht haben (KGS Bd. 4, S. 435). Die Strategie der ‚Grundlegung‘ ist keineswegs offenkundig, und die wirkliche Ausprägung des kantischen Standpunktes taucht erst mit der Zeit auf. Im ersten Abschnitt versucht Kant das grundlegende Prinzip der Moral aus einer Analyse der gewöhnlichen rationalen Erkenntnis der Moral abzuleiten. Die Schlüsselargumente seiner Analyse sind: die Tugend liegt im guten Willen eines Akteurs, und nicht in irgendeiner natürlichen Neigung oder irgendeinem bestimmten Zweck, den es zu erreichen gilt. Der gute Wille manifestiert sich in der Durchführung einer Handlung um der Pflichterfüllung Willen, und nicht irgendeines anderen Zweckes wegen. Und die Pflicht fordert die Durchführung einer Handlung nicht um ihrer Folge Willen, sondern um des Einklanges mit dem Gesetz selbst. Daraus folgt die Maxime oder das subjektive Prinzip der tugendhaften Handlung, die nur so beschaffen sein kann: „Ich sollte immer nur so handeln, dass ich auch wollen kann, dass die Maxime meines Handelns auch ein allgemeines Gesetz wird.“ (KGS Bd. 4, S. 402). Im zweiten Abschnitt versucht Kant offenkundig aus noch stärker philosophischen Überlegungen heraus zum selben Ergebnis zu kommen, indem er einerseits argumentiert, dass ein moralisches oder praktisches Gesetz nur ein kategorischer und kein hypothetischer Imperativ sein könne, d.h. einer, der einen unbedingten Befehl gibt und nicht von irgendeiner vorangehenden Annahme eines wählbaren Zweckes abhängt, und andererseits, dass das Glück ein zu unbestimmter Zweck sei, um einen solchen Imperativ zu begründen. Kant schließt deshalb, dass ein kategorischer Imperativ nur die Notwendigkeit einer Übereinstimmung unserer Maxime mit diesem Gesetz enthalten könne, d.h. dass es nichts weiter gebe, dem diese Maxime zu entsprechen habe,
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außer der Allgemeinheit des Gesetzes an sich (KGS Bd. 4, S. 421). Diese Fassung des kategorischen Imperativs ist bekannt als die Formel des Allgemeinen Gesetzes. Kant liefert noch weitere Formulierungen des kategorischen Imperativs, insbesondere die Formel von der Menschheit als einem Ziel an sich selbst – „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner eigenen Person als in der Person eines jeden andern jedergleich zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (KGS Bd. 4, S. 429), der zumindest die Möglichkeit einer rationalen Zustimmung zu unserer Handlung seitens irgendeines Akteurs voraussetzt, der davon betroffen ist. Und er nennt die Formel von dem Reich der Zwecke, d.h. dem Erfordernis, dass jeder vorgenommene Handlungsverlauf vereinbar sein muss mit einer Gesamtheit aller Zwecke in systematischem Zusammenhang (d.h. ein Ganzes sowohl der rationalen Wesen als Zwecke an sich, als auch der persönlichen Zwecke, die jedes von ihnen sich vorgenommen haben mag (KGS Bd. 4, S. 433). Die übliche Interpretation hiervon ist, dass diese beiden Formulierungen wohl aus der Formel des Allgemeinen Gesetzes folgen sollen. Eine Reihe von Umständen legen jedoch nahe, dass Kant nicht davon ausging, dass die Ableitung dieser Formel, weder aus dem common sense, noch aus der ‚populären Moralphilosophie‘, an sich selbst genügen würde, sondern nur infolge der Einführung des Gedankens, dass die Menschheit ein Zweck an sich selbst ist, und zwar wegen ihres Potenzials zur Freiheit, wird der reale Grund für einen möglichen kategorischen Imperativ freigelegt (KGS Bd. 4, S. 428). Wenn dies so ist, dann lautet Kants Theorie: Die letzte Quelle der Werte ist die menschliche Freiheit als ein Zweck an sich, der sich in zwischenmenschlichen Kontexten als die Möglichkeit einer frei erteilten Zustimmung zur Handlung von anderen äußert. Die Übereinstimmung mit dem Erfordernis des allgemeinen Gesetzes ist der Weg zur Sicherung, dass dieser Wert bewahrt und gefördert wird, und das ideale Ergebnis der Beachtung eines solchen Gesetzes wäre ein Reich von Zwecken als einem System der Freiheit, in dem alle Akteure ihren frei gewählten Zwecken folgen, und zwar in dem Umfange, wie dies mit der gleichen Freiheit aller anderen Akteure vereinbar ist. 10. Rechtspflichten und Tugendpflichten In der ‚Grundlegung‘ folgt aus Kants Moralprinzip eine vierfach geteilte Einteilung der Pflichten, der eine Gruppierung in zwei Abteilungen vorausgeht, nämlich jener der Pflichten sich selbst gegenüber, und jener der Pflichten anderen gegenüber, sowie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Vollkommene Pflichten sind Verbote bestimmter Arten von Handlungen, und ihre Verletzung ist moralisch tadelnswert. Unvollständige Pflichten sind Vorschriften oder Gebote allgemeiner Zwecke, und ihre Erfüllung mittels Durchführung spezifisch geeigneter Handlungen ist lobenswert. Die vier Klassen von Pflichten sind also: vollkommene Pflichten sich selbst gegenüber, wie z.B. das Verbot der Selbsttötung; vollkommene Pflichten anderen gegenüber, wie z.B. das Verbot betrügerischer Versprechen; unvollständige Pflichten sich selbst gegenüber, wie z.B. das Gebot, seine Talente zu entwickeln; und unvollständige Pflichten gegenüber anderen, wie z.B. das Gebot der Wohltätigkeit (KGS Bd. 4, S. 422–423, 429–430). Es ist eindeutig, was eine vollkommene Pflicht einem zu tun verbietet; es erfordert dagegen ein bestimmendes Urteil, wann und wie die von unvollkommenen Pflichten vorgeschriebenen allgemeinen Zwecke durch konkrete Handlungen realisiert werden sollen.
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In der späteren ‚Metaphysik der Moral‘ arbeitet Kant eine detaillierte Sammlung von Pflichten heraus, die allgemein auf diesem Schema aufbauen, jedoch mit einem Unterschied: Rechtspflichten sind solche der oben genannten Pflichten, die auf geeignete Weise durch öffentliche, rechtliche Zwangsmittel Mittel durchgesetzt werden können, und die verbleibenden sind Tugendpflichten, welche sich für eine moralische Bewertung, nicht aber für ihre zwangsweise Durchsetzung eignen (KGS Bd. 6, S. 213, 219). Da die Freiheit Kants Hauptwert ist, ist der Zwang nur zulässig, wenn dies zur Bewahrung der Freiheit sowohl notwendig ist, als auch die Möglichkeit besteht, dass sie dies dann tatsächlich bewirkt. Dies bedeutet, dass nur eine kleine Untermenge unserer Pflichten, nämlich einige, aber nicht alle unserer vollkommenen Pflichten gegenüber anderen, Rechtspflichten und damit geeignete Gegenstände der öffentlichen Gesetzgebung sind; die Mehrheit unserer moralischen Pflichten sind Tugendpflichten, die einer zwangsweisen rechtlichen Durchsetzung nicht zugänglich sind. Kants Behandlung der Tugendpflichten ist weniger kompliziert als jene der Rechtspflichten, weshalb wir sie zuerst behandeln. Kant beschreibt sie nicht ausdrücklich als Pflichten zur Bewahrung und Förderung der eigenen und fremden Freiheit, wie er dies in der ‚Grundlegung‘ tut, sondern charakterisiert sie stattdessen als Pflichten zur Förderung der Selbstvervollkommnung und des Glücks der anderen: während man seine eigene Freiheit direkt vervollkommnen kann, lässt sich die Freiheit der anderen nicht direkt vervollkommnen, sondern nur ihre Verletzung vermeiden. Bei näherer Betrachtung erfordern jedoch Kants Tugendpflichten genau, dass man sowohl die inneren, als auch die äußeren Bedingungen zur Ausübung der eigenen Freiheit vervollkommnet, und zumindest die Vervollkommnung der äußeren Bedingungen zur Ausübung der Freiheit der anderen. Folglich umfassen die einem selbst gegenüber bestehenden ethischen Pflichten das Verbot der Verletzung der physischen und geistigen Grundlagen für das eigene freie Handeln, wie dies z.B. im Suizid oder bereits beim Alkoholgenuss geschieht, und auch das Gebot der Bemühung um eine Verbesserung sowohl der physischen, als auch der geistigen Bedingungen zur Ausübung der eigenen Freiheit, wie z.B. durch die Kultivierung der eigenen Talente und der geistigen und moralischen Fähigkeiten. Die ethischen Pflichten gegenüber anderen umfassen wiederum sowohl das Verbot der Verletzung der Würde von anderen als freien Akteuren, beispielsweise durch Beleidigung oder Lächerlichmachen (‚Respektspflichten‘), und das Gebot der Bemühung um die Verbesserung der Bedingungen für die Ausübung der Freiheit auf Seiten der anderen, wie in der Wohltätigkeit und der Sympathie (‚Liebespflichten‘). Kants Grundlegung seiner politischen Philosophie der Rechtspflichten ist komplizierter. Von dem grundlegenden Wert der Freiheit leitet Kant das allgemeine Rechtsprinzip ab, dass eine Handlung nur dann richtig ist, wenn nach ihrer Maxime die Wahlfreiheit des Einzelnen mit der Freiheit aller im Einklang mit dem allgemeinen Gesetz bestehen kann (KGS Bd. 6, S. 230). Kant fährt fort, dass Gewalt dann gerechtfertigt ist, wenn sie eine Behinderung der Freiheit zu beseitigen vermag, denn einer Verhinderung der Behinderung der Freiheit ist selbst ein Mittel zur Freiheit (KGS Bd. 6, S. 231). Das ist allerdings etwas zu einfach, weil der Zwang die Verletzung der Freiheit nur verschlimmern kann. Kant muss deshalb hinzufügen, dass die zwangsweise Durchsetzung des Gesetzes an sich selbst keine Behinderung der Freiheit ist, weil die Bedrohung durch eine rechtliche Sanktion dem möglichen 883
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Kriminellen nicht seine Freiheit dergestalt nimmt, wie sein Verbrechen dem Opfer die Freiheit nehmen würde: der Kriminelle übt seine Wahl unter dem Risiko einer Bestrafung aus, beraubt aber sein Opfer einer entsprechenden Wahlfreiheit. Von hier aus kommt Kant zu der Behauptung, dass das einzige und eigentliche Ziel der zwangsweisen Rechtsdurchsetzung die Prävention von Verletzungen an der Person und dem Eigentum von anderen ist. Dies ist das ‚Privatrecht‘, während das ‚Öffentliche Recht‘ die richtige Form des Staates betrifft, dessen Funktion die Durchsetzung des Privatrechts ist. Kant versteht die Vorbeugung gegen die Verletzung von Personen als eine offenkundig notwendige Pflicht, die keiner weiteren Diskussion bedarf. Das Eigentumsrecht erfährt jedoch eine ausführliche Diskussion. Kant erkennt drei Klassen des Eigentums an: das Eigentum an Sachen, das Eigentum an Verträgen und vertragsartiges Eigentum an anderen Personen wie z.B. eheliche Rechte. Seine Diskussion des Eigentumsrechts ist die wichtigste für seine politische Theorie. Das Wesentliche der kantischen Darstellung ist, dass es irrational wäre, uns selbst des Rechts zu berauben, physische Gegenstände, vor allem Land, unter unsere langfristige Verfügung zu stellen, weil wir rationale Akteure sind, die diese Dinge verwenden können müssen, um unsere frei gewählten Zwecke realisieren zu können, während die Dinge selbst keine freien Akteure sind und daher keine Rechte haben. Weil aber die Erde ursprünglich ungeteilt ist, sind bestimmte Eigentumsrechte nicht angeboren, sondern müssen erst erworben werden. Weil allerdings der Anspruch auf irgendein bestimmtes Ding die Freiheit anderer beschränken würde, die ebenfalls zur Nutzung dieses Dinges imstande wären, so können Eigentumsrechte nicht einseitig anerkannt werden, zumindest dann nicht, wenn das moralische Beharren auf dem allgemeinen Bestehen dieser Rechte respektiert werden soll. Das Eigentumsrecht kann vielmehr nur in multilateraler Zustimmung aller anderen beansprucht werden, die eine solche Zustimmung vernünftigerweise nur geben können, wenn ihnen ebenfalls entsprechende Rechte gewährt werden, derer sie zur erfolgreichen Ausübung ihres eigenen Handelns bedürfen (KGS Bd. 6, S. 255–256). Für Kant ist das Eigentumsrecht daher kein Naturrecht voneinander isolierter Individuen, sondern eine soziale Schöpfung, die von der gegenseitigen Akzeptanz von Ansprüchen abhängt. Der Staat existiert letztlich vor allem deshalb, um Eigentumsrechte sowohl zu bestimmen, als auch zu sichern, und jeder, der Eigentumsrechte beansprucht, hat folglich das Recht und die Pflicht, zusammen mit anderen einen Staat zu bilden (KGS Bd. 6, S. 256–257, 306–308). Weil das Eigentum nur im gegenseitigen Einverständnis existiert und der Staat zur Sicherung dieses Einverständnisses existiert, kommt dem Staat notwendig die Macht zu, nur solche Verteilungen von Eigentumsrechten zu erlauben, die ausreichend gerecht verteilt sind, um eine allgemeine Zustimmung dazu zu erlangen. Sowohl die Eigentumsansprüche, als auch z.B. die Äußerung philosophischer und religiöser Meinungen sind Ausdruck der menschlichen Autonomie. Während aber der Eigentumsanspruch einer Person direkt die Freiheit des anderen beeinträchtigen kann und daher Gegenstand öffentlicher Regulierung ist, ist dies bei seinen Überzeugungen nicht der Fall, weshalb hier nicht die Zustimmung eines anderen erforderlich ist. Der Staat hat deshalb kein Recht, in diese Dinge einzugreifen. Dieser grundlegende Unterschied zwischen der angemessenen Sorge des Staates um das Eigentum und seiner nicht angemessenen Sorge um die persönlichen Überzeugungen definiert Kants Liberalismus. Innerhalb der ‚Metaphysik der Sitten‘ ist er 884
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nur implizit realisiert, wird aber zu einem ausdrücklichen Bestandteil der rein politischen Schriften. 11. Freiheit des Willens und das höchste Gut Nach der Erörterung einiger praktischer Konsequenzen der kantischen Konzeption der Autonomie wenden wir uns nunmehr ihren metaphysischen Folgen zu. Im dritten Abschnitt der ‚Grundlegung‘ versucht Kant zu beweisen, dass der kategorische Imperativ, der im zweiten Abschnitt aus der Analyse des Begriffs des allgemein freien, rationalen Wesens abgeleitet wurde, tatsächlich uns verpflichtet, indem er beweist, dass es wir sind, die tatsächlich freie und rationale Wesen sind. In seiner Terminologie will er zeigen, dass es sich nicht nur um eine analytische, sondern um eine synthetische Aussage a priori handelt, wenn man sagt, dass unser Willen durch diesen Imperativ beschränkt ist. Sowohl die Interpretation, als auch die Bewertung der Argumente, mittels derer er dies bewerkstelligen will, bleiben umstritten. Die erste Behauptung, die Kant aufstellt, lautet: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.h. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als sein Wille auch in sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde“; und jedes Wesen mit einem Willen müsse in der Tat unter der Idee der Freiheit handeln (1900, S. 4, S. 448) (siehe Wille, der). Dies heißt wohl, dass Akteure, die sich selbst als etwas auffassen, dass seine eigenen Handlungen wählt, und zwar unabhängig davon, ob sie sich als determiniert betrachten, die vorangehenden Determinanten ihrer Handlungen nicht bedenken und diese womöglich nicht einmal bedenken können, sondern nur das, was ihnen am vernünftigsten zu tun erscheint. Deshalb müssen sich ihre Handlungen nach vernünftigen und folglich auch moralischen Gesetzen richten. Dies scheint richtig zu sein für Akteure, die ihre eigenen künftigen Handlungen überdenken, lässt aber im Ungewissen, wie wir die Freiheit der Handlung von anderen und sogar unsere eigenen vergangenen Handlungen bewerten sollen. Kant schreitet jedoch fort mit einem theoretischen und daher allgemeinen Beweis der Existenz der menschlichen Freiheit. Er argumentiert, dass die theoretische Philosophie bewiesen habe, dass wir unterscheiden müssen zwischen uns selbst als Phänomenen und als Noumena, bzw. als Mitglieder der wahrnehmbaren und der intelligiblen Welt. Aus der ersten Perspektive müssen wir unsere Handlungen als etwas betrachten, dass durch die natürliche Kausalität gelenkt wird, während wir im zweiten Falle, weil wir hier nicht davon ausgehen können, dass unsere Handlungen überhaupt von irgendeinem Gesetz geleitet werden, wir sie als etwas betrachten müssen, dass von einer anderen Art von Kausalität gelenkt wird, nämlich einer solchen, die im Einklang mit den Gesetzen der Vernunft steht (KGS Bd. 4, S. 451–453). Während also unsere Handlungen durch die natürlichen Ursachen determiniert zu sein scheinen, können sie in Wirklichkeit nicht nur, sondern müssen im Einklang mit den Gesetzen der Vernunft vonstatten gehen, und das heißt im Einklang mit dem kategorischen Imperativ. Mit diesem Problem gibt es zwei Probleme. Erstens missachtet es den transzendentalen Idealismus, indem es von einem positiven Wissen der Dinge an sich ausgeht. Zweitens schließt es, wie Henry Sidgwick ein Jahrhundert später einwandte, 885
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die moralische Verantwortung für die Missetat aus: wenn die wirklichen Gesetze unseres Handelns notwendig rational und folglich moralisch korrekt sind, dann kann eine jede Missetat nur zeigen, dass ihr Akteur nicht vernünftig war und deshalb überhaupt nicht verantwortlich. Es ist nicht bekannt, ob sich Kant solcher Einwände bewusst war; jedenfalls nahm er Änderungen an dem Beweis der Freiheit in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ vor. Hier spricht er nicht mehr von einem theoretischen Beweis unserer Freiheit, wodurch wir unter dem moralischen Gesetz verpflichtet seien, sondern umgekehrt von unserem Bewusstsein dieser Verpflichtung, der ‚Tatsache der Vernunft‘, und schließt von dieser auf unsere Freiheit als die notwendige Bedingung unserer Fähigkeit und Verantwortung, sie zu erfüllen (KGS Bd. 5, S. 29–31). Dieses Argument geht zunächst davon aus, dass der transzendentale Idealismus zumindest theoretisch die Möglichkeit der Freiheit des Willens offen lässt, und hängt dann von dem berühmten Prinzip ab, das besagt: ‚Sollen impliziert Können‘ (‚Theorie und Praxis‘, KGS Bd. 8, S. 287). Der transzendentale Idealismus erscheint vielen Menschen problematisch; und obwohl das ‚Sollen-impliziert-Können‘-Prinzip ein intuitives Prinzip der Fairness zu sein scheint, bringt er dafür doch keine weiteren Argumente vor. Da dieses Argument gleichwohl nur davon ausgeht, dass das Sollen ein Können impliziert, impliziert es gerade nicht, dass jeder Akteur, der unter dem moralischen Gesetz verpflichtet ist, auch notwendig nach ihm handeln will, womit Sidgwicks Problem über die grundsätzliche Möglichkeit des Missetäters umgangen wird. Kant hängt von diesem Ergebnis in seiner nächsten größeren Abhandlung über die Freiheit, der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, ab, obwohl er hier zu stark in die andere Richtung zu gehen scheint, indem er annimmt, dass die Missetat nicht nur möglich, sondern sogar notwendig sei. Kant beginnt diese Diskussion mit einer eleganten Darstellung der Missetat, indem er vorbringt, dass der Mensch, weil niemand sich der Forderung des moralischen Verhaltens einfach unbewusst sei – dies impliziert der Ausdruck ‚Tatsache der Vernunft‘ – auch niemals aus reiner Unwissenheit des Moralgesetzes unmoralisch handele, sondern vielmehr infolge der Entscheidung, sich von dieser Verpflichtung freizumachen. Diese Position ist mit dem Freiheitsbeweis in der zweiten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ vereinbar, wenn auch nicht mit dem der ‚Grundlegung‘. Kant geht jedoch noch weiter und argumentiert, dass die Wahl einer bösen anstelle einer tugendhaften fundamentalen Maxime, bzw. das ‚radikale Böse‘, nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidlich ist, wenn man ihr nicht durch eine moralische Bekehrung entkommt. Diese Lehre lässt sich kaum aus Kants vorangehendem Argument ableiten und scheint stattdessen auf einer seltsamen Mischung aus empirischer Evidenz und einer fortbestehenden Auffassung der christlichen Lehre von der Ursünde aufzubauen. Die Wirklichkeit der Freiheit ist nur das erste von Kants drei ‚Postulaten der reinen praktischen Vernunft‘. Die anderen beiden sind die Existenz von Gott und die Unsterblichkeit der Seele. Kant argumentiert hier erneut, wie bereits die erste ‚Kritik‘ zeigte, dass keines dieser Postulate durch die theoretische Metaphysik bewiesen werden könne, sie aber dennoch als notwendige Bedingungen von etwas Wesentlichem für die Moral postuliert werden könnten. In diesem Falle seien sie jedoch nicht Bedingungen unserer Verpflichtungen nach dem kategorischen Imperativ, sondern zur Verwirklichung des ‚höchsten Gutes‘. Dies ist ein nun weiterer 886
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komplizierter und strittiger Begriff. Kant definiert ihn typischerweise als das Glück im Verhältnis zur Tugend, d.h. „als die Würdigkeit glücklich zu sein“ (KGS Bd. 5, S. 110), schlägt aber unterschiedliche Gründe für die Notwendigkeit dieser Verbindung vor. In der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ behandelt Kant das Glück und die Tugenden als zwei gesonderte Zwecke des Menschen, die wir allerdings immer zu kombinieren suchen (KGS Bd. 5, S. 110). An anderen Stellen, beginnend mit dem ‚Kanon der Reinen Vernunft‘ in der ersten ‚Kritik‘, meint er wegen der tatsächlichen Wirkung der Tugend als einer Koordination unseres gegenseitigen Verfolgens von Zwecken, und weil das Glück sich aus der Verwirklichung von Zwecken ergibt, dass das höchste Glück unter idealen Umständen unvermeidlich aus der höchsten Tugend folge (A809/B837). Natürlich seien die Umstände nicht immer ideal für die Moral: so weit wir sehen, erreiche niemand in seiner normalen Lebenszeit die vollkommene Tugend, und diejenige Tugend, die tatsächlich erreicht wird, werde kaum immer mit Glückseligkeit belohnt. Um dies zu widerlegen meint Kant, dass wir die Unsterblichkeit postulieren können, wo wir unsere Tugend vervollkommnen, und ferner die Existenz von Gott, der eine Natur anordnen kann, in der die Zwecke der Tugend erreicht werden. Diese Theorie erschien vielen als Kants erfolgloser Versuch, seinen persönlichen Glauben über seine eigene vernichtende Kritik an der Metaphysik hinweg zu retten. Bevor eine solche Behauptung überhaupt diskutiert werden kann, müssten wir erst einmal wissen, was Kant mit einem Postulat der praktischen Vernunft eigentlich meint. Kant gibt zahlreiche Hinweise dazu, die entsprechend verfolgt werden müssen. In der ersten ‚Kritik‘ diskutiert er die praktischen Postulate in einem Abschnitt, wo er die Bereitwilligkeit zur Wette als ein Maß des Glaubens betrachtet und damit andeutet, dass das, was er sich tatsächlich dabei vorstellt, Pascals Wette ist (siehe Pascal, B.): da es hier keinen negativen theoretischen Beweis dieser Postulate und damit auch nichts zu verlieren gibt, selbst wenn sie falsch sind, ihr Wert für das Glück aber groß ist, so ist es vernünftig, sich so zu verhalten, als wären sie wahr. In einem späteren Aufsatz, einem Entwurf für den ‚Wirklichen Fortschritt der Metaphysik seit der Zeit von Leibniz und Wolff‘ aus den frühen 1790er Jahren (posthum veröffentlicht), macht Kant einen noch verblüffenderen Vorschlag. Dort sagt er, dass in der Annahme der praktischen Postulate dem Menschen gestattet werde, einer Idee Einfluss auf sein Handeln zu geben, die er im Einklang mit den moralischen Prinzipien selbst verfertigt habe, so wie er sie von einem gegebenen Gegenstand abgeleitet habe (KGS Bd. 20, S. 305). Der Vorschlag lautet hier, dass die praktischen Postulate nichts weniger als ein weiterer Ausdruck der menschlichen Autonomie seien: sie seien überhaupt keine theoretischen Überzeugungen, ganz zu schweigen von religiösen Dogmen, sondern Ideen, die wir für uns selbst allein zur Verstärkung unserer eigenen Bemühungen um die Tugend konstruieren. Diese Idee, dass Gott in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine von uns selbst erzeugte Idee, um diese dann im Rahmen unserer moralischen Praxis anzuwenden, ist ein Gedanke, den Kant wiederholt in seinen letzten Jahren ausdrückte (siehe § 14). 12. Geschmack und Autonomie Unter der Rubrik ‚Reflexives Urteil‘, definiert als jener Gebrauch des Urteils, in dem wir uns um das Auffinden unbekannter Universalien für bekannte Einzeldinge bemühen, statt gegebene Universalien auf Einzeldinge anzuwenden (KGS 887
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Bd. 5, S. 179–180), handelt die ‚Kritik der Urteilskraft‘ von drei offensichtlich sehr unterschiedlichen Dingen: allgemein von der Systematizität wissenschaftlicher Begriffe, von der natürlichen und künstlerischen Schönheit, und von der Teleologie oder Zweckmäßigkeit in einzelnen Organismen und in der Natur als Ganzem (siehe Teleologie). Was aber diese Gegenstände noch mehr zusammen bindet als die Idee des reflexiven Urteils, ist wiederum die Idee der Autonomie. In der ersten ‚Kritik‘ hatte Kant mit nur wenigen Ausnahmen vorgeschlagen, dass die Suche nach Systematizität in wissenschaftlichen Begriffen und Gesetzen, d.h. die Unterordnung höchst vielfältiger spezifischer Begriffe und Gesetze unter höchst vereinheitlichte und allgemeine solche, ein Ideal der Vernunft sei, das für das empirische Wissen nicht notwendig, aber innerlich doch zumindest wünschenswert sei. In der dritten ‚Kritik‘ ordnet er diese Suche dem reflexiven Urteil zu und behauptet, dass wir ein ebenso transzendentales wie undemonstrierbares Prinzip akzeptieren müssten, demzufolge die Natur unseren Erkenntnisbedürfnissen angepasst ist (KGS Bd. 5, S. 185; Bd. 20, S. 209–210). Durch diese Neuzuordnung deutet Kant an, dass die Systematizität am Ende eine notwendige Bedingung für die Akzeptanz empirischer Gesetze ist, und damit eine notwendige Bedingung der Erfahrung selbst. Kant legt dadurch nahe, dass unser empirisches Wissen weder nur passiv empfangen wird, noch schlicht garantiert ist, sondern von unserer aktiven Vorstellung einer Einheit der Natur abhängt. Daraufhin wendet sich Kant den Geschmacksurteilen zu, die sowohl ein weiterer Ausdruck der menschlichen Autonomie und ein weiterer Beweis dafür seien, dass die Anpassung der Natur an unsere eigenen Erkenntnisinteressen zwar kontingent sei, jedoch vernünftigerweise angenommen werden könne. Geschmacksurteile beginnen mit dem einfachsten wie z.B. ‚Diese Blume ist schön‘, und schreiten fort zu komplexeren wie z.B. ‚Dieses Gedicht ist schön‘ und ‚Diese Landschaft ist sublim‘. Sie sind mit der Autonomie auf zwei Arten verbunden: während sie nach allgemeiner Zustimmung heischen, müssen sie immer auf einem individuellen Gefühl und Urteil aufbauen; und während sie frei von allen Einschränkungen durch theoretische oder moralische Begriffe zustande gekommen sein müssen, sind sie doch letztlich Symbole der moralischen Freiheit selbst. Kant beginnt mit der Analyse der grundlegenden Idee des ‚ästhetischen Urteils‘. Als ästhetisch müssen Geschmacksurteile auf der Basis ganz und gar subjektiver menschlicher Empfindungen zustande gekommen sein und diese betreffen, und zwar von Lustgefühlen, die aber als Urteil immer noch nach interpersonaler Anerkennung streben (KGS Bd. 5, S. 203, 212–216). Um ihre Verbindung zu den Gefühlen zu bewahren, können Geschmacksurteile niemals nur beinhalten, wie andere darauf antworten, sondern müssen auf der eigenen freien Empfindung als Reaktion auf den Gegenstand selbst beruhen. Auf diese Weise drücken sie die individuelle Autonomie aus (KGS Bd. 5, S. 216, 282–285). Um aber allgemeine Zustimmung beanspruchen zu können, müssen sie auf Erkenntnisfähigkeiten beruhen, die von allen geteilt werden, und gleichzeitig auf einer Bedingung für die Ausübung solcher Fähigkeiten, nämlich der Lust, da sie ansonsten nicht durch Regeln beschränkt sind (KGS Bd. 5, S. 187). Ein solcher Zustand ist einer des ‚freien Spiels‘ zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand, wo die Einbildungskraft das Bedürfnis des Verstandes nach Einheit befriedigt, indem es ihm eine Form vorstellt, die einheitlich und zusammenhängend, und doch ohne jeden Begriff zu sein scheint, und selbst wenn ein Begriff 888
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des menschlichen Nutzens oder der künstlerischen Absicht unvermeidlich ist, dass diese Form doch eine Einheit zu haben scheint, die über einen jeglichen solchen Begriff hinausgeht. Das künstlerische Genie liegt genau in dieser Transzendenz der Begriffe (KGS Bd. 5, S. 317–318). Kant argumentiert mit zweifelhaftem Erfolg, dass dieses ‚freie Spiel‘ unter denselben Umständen in allen Menschen stattfinden muss (KGS Bd. 5, S. 238–239, 290), und dass diese Geschmacksurteile folglich die ‚Quantität‘ der Allgemeinheit und die ‚Modalität‘ der Notwendigkeit haben können, während sie die ‚Qualität‘ der Unabhängigkeit vom direkten moralischen Interesse und die ‚Beziehung‘ zu rein subjektiven Erkenntnisinteressen statt zu objektivpraktischen bewahren. Wie kann das ästhetische Urteil, wenn man es so versteht, sowohl die Autonomie in einem moralischen Sinne ausdrücken, als auch einen weiteren Beweis für die kontingente Anpassung der Natur an unsere eigenen Bedürfnisse erbringen? Kant beantwortet die letztere Frage mit seiner Idee des ‚intellektuellen Interesses‘: die Tatsache selbst, dass die Schönheit existiert, so meint er, obwohl sie nicht von irgendeinem wissenschaftlichen Gesetz abgeleitet werden kann, sei doch von uns als Beweis dafür zu verstehen, dass die Natur nicht nur rezeptiv unseren Erkenntnisinteressen gegenüberstehe, sondern sogar unserem Bedürfnis nach der Möglichkeit eines Erfolges in unseren moralischen Unternehmungen (KGS Bd. 5, S. 300). Kants Antwort auf die erste Frage, wie der Geschmack die Autonomie in ihrem moralischen Sinne ausdrückt, ist komplexer, aber auch zwingender als die vorangehende. Wie andere Autoren des 18. Jahrhunderts, wie z.B. Edmund Burke, unterscheidet Kant grundsätzlich zwischen dem Schönen und dem Sublimen (siehe Sublime, das). Die Schönheit gefällt uns durch das freie Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes, d.h. durch ein ‚interesseloses Wohlgefallen’ am Schönen. In unserer Antwort auf das Sublime jedoch, die für Kant keine paradigmatische Reaktion auf Kunst ist, wohl aber auf die Weite und Kraft der Natur, erfreuen wir uns keiner direkten Harmonie zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand, die wegen ihrer Unfähigkeit zum Erfassen solcher naturgegebener Riesenhaftigkeiten (wie z.B. der Anblick von Bergmassiven, Aufnahmen ferner Galaxien oder das Erlebnis von Naturkatastrophen) eher frustriert werden. Wir erleben stattdessen aber eine Empfindungsreaktion, die die Macht der Vernunft in uns offenbart und uns damit intellektuell wieder jene Überlegenheit über die Natur verschafft, die wir in der physischen Relation zu diesen Ereignissen nie besitzen werden (KGS Bd. 5, S. 257). Und dies symbolisiere, obwohl hieran auch die theoretische Vernunft beteiligt sei, die Macht der praktischen Vernunft und damit die Grundlegung unserer Autonomie auf zwei Weisen: unsere Kraft zum Begreifen eines wahrhaft allgemeinen Gesetzes wie eben dem moralischen Gesetz, und unsere Kraft, den Drohungen der rohen Natur zu widerstehen, und damit auch den Schmeicheleien unserer Neigungen (KGS Bd. 5, S. 261–262). Auf diese Weise symbolisiert das Sublime die strengere Seite der Autonomie. Aber die Erfahrung des Schönen ist auch ein Symbol der Moral, und zwar genau deshalb, weil die Freiheit der Einbildungskraft, die ihr Wesen ausmacht, die einzige Erfahrung ist, in der eine jegliche Form der Freiheit, einschließlich der Freiheit des Willens, für uns fühlbar werden kann (KGS Bd. 5, S. 353–354). Kant beschließt somit seine Kritik der Urteilskraft mit dem bemerkenswerten Vorschlag, dass es unsere Freude am Schönen sei, durch die unsere Berufung als autonome Akteure nicht 889
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nur zu einer Tatsache der Vernunft werde, sondern auch und genauso eine Sache der Erfahrung sei. 13. Gestaltung und Autonomie Kants Kritik des teleologischen Urteils in der zweiten Hälfte der ‚Kritik der Urteilskraft‘ erweist sich sogar als noch komplizierter als seine ästhetische Theorie. Diese Arbeit wurzelt sowohl in der Biologie des 18. Jahrhunderts, in dem die bis ins 20. Jahrhundert andauernde Debatte begann, ob Organismen als rein mechanische Prinzipien verstanden werden können, als auch in der Naturtheologie, d.h. der großen Debatte über die Argumente des Schöpfungsentwurfs, die in Humes ‚Dialoge betreffend die Naturreligion‘ kulminierte. Und wieder ist es Kants Motiv hier zu zeigen, das sogar unser Verständnis der Natur uns letztendlich zu einer Anerkennung unserer eigenen Autonomie bringt. Dieser Werkteil ist seinerseits in drei Hauptteile aufgeteilt: einer Prüfung der Notwendigkeitsbedingungen für unser Verständnis der individuellen Organismen; einer Prüfung der Bedingungen, unter denen wir die Natur insgesamt als ein einziges System betrachten können; und schließlich eine Neuformulierung von Kants Moraltheologie. Zunächst führt Kant aus, dass ein Organismus ein System im Sinne einer Ganzheit aus Teilen sei, das sowohl ‚regressive‘, als auch ‚progressive‘ Kausalität zeigt: das Ganze ist das Produkt der Teile, aber die Teile hängen umgekehrt von dem Ganzen für ihr eigenes Funktionieren und ihre Existenz ab (KGS Bd. 5, S. 372, 376). Aber unsere Konzeption der mechanischen Wirkursache bezieht sich nur auf die progressive, d.h. voranschreitende Verursachung, bei der der Zustand irgendeines Systems von dem vorangehenden Zustand seiner Teile abhängt (siehe Kausalität). Der einzige Weg, auf dem wir die regressive, d.h. rückwärts gewandte Verursachung des Ganzen im Verhältnis zu seinen Teilen verstehen können, ist durch die Analogie zum intelligenten Entwurf, bei dem eine vorangehende Konzeption des Gegenstandes als einer Ganzheit die Herstellung der Teile determiniert, was wiederum den Charakter des sich daraus ergebenden Ganzen determiniert. Kant besteht jedoch darauf, dass wir über absolut keine Rechtfertigung verfügen, einen ‚konstituierenden Begriff‘ des natürlichen Organismus als ein Produkt eines wirklichen Entwurfs anzunehmen; wir seien nur zu einer Analogie zwischen den natürlichen Organismen und Entwurfsprodukten in Form eines ‚regulativen Begriffs für das reflexive Urteil zur Erforschung von Gegenständen in entfernter Analogie zu unserer eigenen Kausalität im Einklang mit Zwecken‘ berechtigt (KGS Bd. 5, S. 375). Mit anderen Worten: das Betrachten von Organismen als Produkten eines intelligenten Entwurfs (engl.: intelligent design) ist eine rein heuristische Strategie. Kant argumentiert daraufhin allerdings, dass, wenn es selbstverständlich sei Organismen zu erforschen, als wären sie Produkte eines intelligenten Entwurfs, dann werde es uns genauso selbstverständlich erscheinen, die Natur insgesamt als das offenkundige Produkt eines intelligenten Entwurfs zu betrachten (KGS Bd. 5, S. 380– 381); und nur durch das Betrachten der Natur als einem Produkt des intelligenten Entwurfs – natürlich nur regulativ – können wir unsere Begierde danach stillen, jede Einzelheit der Natur, die infolge unserer eigenen allgemeinen Begriffe immer kontingent bleiben werden, in etwas zu transformieren, das uns notwendig erscheint (KGS Bd. 5, S. 405–407). Von einem rein naturalistischen Standpunkt aus betrachtet muss der Endzweck der Natur als einem System immer unbestimmt bleiben: Gras 890
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mag es geben, um Kühe zu füttern, oder Kühe mag es geben, um das Gras zu düngen (KGS Bd. 4, S. 426). Die Natur kann nur dann als ein determiniertes System betrachtet werden, wenn man sie gleichzeitig als etwas sieht, das insgesamt einem letzten Zweck dient, der selbst ein Zweck an sich selbst ist, also ein Selbstzweck oder einer mit einem absoluten Wert. Dies kann nur die Menschheit sein (KGS Bd. 4, S. 427), jedoch nicht die Menschheit lediglich als Teil der Natur, die nach Glück strebt, was weder ein determinierter Zweck ist, noch einer, der speziell von der Natur begünstigt wird (KGS Bd. 4, S. 430), sondern nur die Menschheit als Subjekt der Moral, die zur Kultivierung ihrer Freiheit imstande ist (KGS Bd. 5, S. 435–436). Daraus erklärt sich die Dringlichkeit, die Natur als ein systematisches Ganzes zu sehen, was eine unvermeidliche Begleiterscheinung unserer Erforschung der Komplexitäten des organischen Lebens ist, die nur von einem moralischen Standpunkt aus befriedigt werden kann, in dem die menschliche Autonomie der letzte und höchste Wert ist. Auch hier erinnert uns Kant sorgsam daran, dass diese Lehre regulativer Natur ist, sie uns also nur mit einem Prinzip für unsere eigene kognitive und praktische Tätigkeit versorgt, aber nicht konstitutiv ist, und nur beabsichtigt, uns eine metaphysische Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit unabhängig von uns zu verschaffen. Es ist deshalb besonders bemerkenswert, dass der letzte Teil der Kritik des teleologischen Urteils eine Neufassung von Kants Moraltheologie ist, also der Beweis für den Glauben an die Existenz Gottes als ein Postulat der praktischen Vernunft. Diese Neufassung innerhalb einer allgemeinen Theorie des reflexiven Urteils, also jenem höchsten Prinzip, das uns in unserem eigenen Handeln leiten soll, bestätigt den Standpunkt, dass die Theorie praktischer Postulate nicht als Unterstützung irgendeiner Form von Dogma gemeint ist, sondern nur im Dienste eines weiteren Ausdrucks unserer eigenen Autonomie steht. 14. Das letzte Lebensjahrzehnt auf Kants öffentlichem und privatem Lebensweg Die deutschen Intellektuellen waren nach der französischen Revolution von 1789 mit politischen Fragen beschäftigt, und Kant war darin keine Ausnahme. Schlüsselelemente seiner politischen Philosophie wurden in Aufsätzen wie z.B. ‚Theorie und Praxis‘ (1793) und ‚Fortgesetzter Friede‘ (1795) schon vor ihrer formalen Darstellung der Metaphysik der Moral von 1797 vorgestellt. Wie oben in § 10 gezeigt, ist das Fundament des kantischen Liberalismus die Idee, dass Zwang nur zur Verhinderung von Beeinträchtigungen der Freiheit zu rechtfertigen ist, und damit zum Schutz unserer persönlichen Freiheit und zur Regulierung des Eigentums, d.h. zur Regulierung eines jeden Anspruchs, der eine potenzielle Beschränkung der Freiheit der anderen darstellt, sofern sich die Beteiligten nicht vernünftig auf diesen Anspruch als Teil eines ganzen Systems von Eigentumsrechten einigen können. Individuelle Überzeugungen und Konzeptionen des Guten, seien sie religiöser oder philosophischer Natur, geraten nicht direkt mit der Freiheit anderer in Konflikt und sind daher kein angemessener Gegenstand der politischen Regulierung. Kants Entwicklung dieses grundlegenden Prinzips zu einer politischen Philosophie ist allerdings komplex und umstritten. Auf der anderen Seite schließt Kant ausgehend von dieser Prämisse auf eine klare Zurückweisung jeglicher paternalistischer Regierung, selbst wenn es sich dabei um einen wohlwollenden Paternalismus handelt. Eine Regierung existiert zum Schutz der Freiheit, die die einzelnen Menschen selbst zu bestimmen haben, und die 891
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ihre eigenen Zwecke in dem Umfange verfolgen, wie sie mit der Freiheit der anderen vereinbar ist. Folglich ist eine „paternalistische Regierung, wo die Subjekte als Untergebene nicht entscheiden können, was für sie wahrhaft zuträglich oder abträglich ist, sondern dazu verpflichtet sind, passiv auf das Urteil des Staatsoberhauptes zu warten, wie sie glücklich sein sollen … der größte denkbare Despotismus“ (KGS Bd. 8, S. 290–291). Darüber hinaus meint Kant, dass sich die Souveränität einer jeden Regierung allein aus der Möglichkeit ableite, dass die Regierten ihr rational zustimmen, und deshalb sei dies die notwendige Legitimitätsprüfung aller Gesetze, „dass sie aus dem vereinten Willen des gesamten Volkes heraus entstanden sein können“ (KGS Bd. 8, S. 297). Diese Einschränkungen werden am besten in der Republik erfüllt, ohne eine Erbmonarchie oder eine Aristokratie, die sich Eigentumsprivilegien gegen das öffentlich geltende Recht aneigne. Abschließend wendet Kant in ‚Fortgesetzter Friede‘ ein, dass nur in einer Weltföderation der Republiken, wo keine Eigentumsherrscher mehr die gewaltsame Ausweitung ihrer Besitztümer mit der Vermehrung ihres persönlichen Eigentums identifizieren können, ein Ende der Kriege je erwartet werden könne. Auf der anderen Seite begleitete Kant diese liberalen Lehren mit einer Leugnung eines jeglichen Rechts zur gewaltsamen Revolution, was für viele offenbar überraschend war. Kants Gedanken hierzu sind jedoch komplex. Seiner Position insgesamt liegt seine Auffassung zugrunde, dass in einer gegebenen Situation, in der unterschiedliche Personen praktisch zwangsläufig miteinander in Kontakt kommen, wir nicht nur das moralische Recht, sondern sogar moralisch verpflichtet sind, einen Staat zu gründen oder aufrecht zu erhalten. Darauf könnte man leicht einwenden, dass eine Tyrannei nur dem Namen nach ein Staat ist, und dass unsere moralische Pflicht gegenüber einer Tyrannei genau die ist, sie mit allen Kräften durch einen legitimen Staat zu ersetzen. Kant nennt jedoch zahlreiche Gründe, warum dies nicht so ist. Eine Behauptung lautet, dass gewaltsame Revolutionen keine Zeit geben für eine wirkliche Reform von Grund auf (KGS Bd. 8, S. 36), und ein weiteres Argument lautet, dass die Leute um eines größeren Glücks willen revoltieren, was ein illegitimer Grund für den Umsturz eines Staates ist (KGS Bd. 8, S. 298). Dies sind jedoch empirische Behauptungen, die nicht beweisen, dass die Menschen nicht revoltieren dürfen, um illegitime Einschränkungen ihrer Freiheit zu beseitigen. Ein weiteres Argument, das Kant anführt, besagt, dass eine Verfassung, die ein gesetzliches Recht zur Rebellion gegen die höchste Autorität gewährt, auf diese Weise überhaupt keine höchste Autorität installiert und daher selbstwidersprüchlich ist (KGS Bd. 6, S. 319). Dies erschien vielen als ein Sophismus; es könnte aber auch sein, dass Kant auf diese Weise versuchte, die preußische Zensur zu umgehen, indem er ein gesetzliches Recht zur Rebellion bestreitet, ohne jemals ausdrücklich das moralische Recht zur Rebellion zu bestreiten. Kant hatte mit der Zensur bereits vor dem Tode Friedrich des Großen im Jahre 1786 zu kämpfen. In ‚Was ist Aufklärung?‘ (1785) führte er aus, dass die Menschen, solange sie ein öffentliches Amt bekleiden, Befehlen zu gehorchen haben (was er verwirrenderweise den ‚privaten Gebrauch der Vernunft‘ nennt), muss doch kein Amtsträger, weder ein Professor, und nicht einmal ein militärischer Offizier, sein Recht aufgeben, seine Auffassungen gegenüber ‚der gesamten lesenden Republik‘ zu äußern (was er den ‚öffentlichen Gebrauch der Vernunft‘ nennt) (KGS Bd. 8, S. 37). Aber Kants Angriff auf die Notwendigkeit einer Amtskirche in ‚Religion inner892
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halb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ (1793) entrüsteten den konservativen Friedrich Wilhelm II und seinen Minister Wöllner, obwohl die Arbeit legal mit der Freigabe durch eine nicht-preußische Universität (Jena) gedruckt worden war, und Kant wurde mit Bestrafung bedroht, sollte er weiterhin über die Religion schreiben. Mit einem Loyalitätsschwur versprach Kant, sich hiervon zu enthalten, aber nach dem Tode dieses Königs im Jahre 1797 betrachtete er sich frei von diesem Versprechen, und im nächsten Jahr veröffentlichte er bereits die denkbar geistreichste Verteidigung der intellektuellen Freiheit unter dem Titel ‚Der Streit der Fakultäten‘. Hier bringt Kant vor, dass die theologische Fakultät, während sie verpflichtet sein mag, bestimmte vom Staat genehmigte Dogmen zu vertreten, es freilich nichts Geringeres als die offizielle Funktion der philosophischen Fakultät sei, alle Standpunkte einer rationalen Prüfung zu unterziehen; und in jedem Falle sollte es einer Regierung, die wirklich um das Wohl ihrer Bürger bemüht ist, nicht darum zu tun sein, deren Moral auf Angst oder Dogmen zu begründen, sondern allein auf der freien Übung ihrer eigenen Vernunft. – Die neue Regierung hatte keine Lust auf weitere Repressionen gegenüber dem schon betagten Philosophen. Dadurch war Kant in der Lage, diese Verteidigung der intellektuellen Freiheit ohne weitere Vorkommnisse zu publizieren. Im Privaten waren Kants letzte Jahre dem Vorhaben gewidmet, den Spalt zwischen der metaphysischen Begründung der Naturwissenschaft und der wirklichen Physik zu schließen, mit der er bereits um 1796 begonnen hatte. Er veröffentliche dieses Werk nie, sondern hinterließ nur die Notizen, die später als das ‚Opus postumum‘ veröffentlicht wurden. Hier versucht Kant zu zeigen, dass wir durch den Einsatz eines kategorialen Rahmens und den Begriff der Kraft nicht nur die allgemeinsten Gesetze der Mechanik ableiten können, wie er dies bereits 1786 vertreten hatte, sondern auch eine noch viel detailliertere Kategorisierung der Form der Materie und ihrer Kräfte. Kant meinte ferner, dass ein nicht wahrnehmbarer, sich selbst bewegender Äther bzw. eine ‚Wärme‘ eine Bedingung für die Möglichkeit der Erfahrung ist. In den letzten Phasen seines Werkes kehrte Kant allerdings zu den breitesten Themen seiner Philosophie zurück und versuchte eine abschließende Erklärung des transzendentalen Idealismus zu entwickeln. Hier trägt er nun vor, dass der höchste Standpunkt der transzendentalen Philosophie jener ist, der „Gott und die Welt synthetisch unter einem Prinzip vereint“ (KGS Bd. 21, S. 23), wobei dieses Prinzip nichts anderes als die menschliche Autonomie selbst sei. Gott und die Welt seien keine Substanzen außerhalb unseres Denkens, sondern vielmehr das Denken, durch das wir diese Objekte überhaupt herstellen. (KGS Bd. 21, S. 21): die Welt ist unsere Erfahrung, organisiert durch Kategorien und Gesetze, die wir selbst hervorbringen, und Gott ist die Abbildung unserer eigenen Fähigkeit, uns mittels der Vernunft ein moralisches Gesetz zu geben. Das moralische Gesetz taucht aus der Freiheit auf, sagt Kant, die sich das Subjekt selbst zuschreibt, und zwar als ob eine andere und höhere Person es für sie zur Regel erhoben hätte. Das Subjekt fühlt sich durch seine eigene Vernunft zu etwas Notwendigem gemacht. (KGS Bd. 22, S. 129). Dies ist eine angemessene Schlussfolgerung aus Kants Philosophie der Autonomie. Siehe auch: A priori; Analytizität; Autonomie, ethische; Empirismus; Freier Wille; Kantische Ethik; Neo-Kantianismus; Praktische Vernunft und Ethik; Rationalismus; Transzendentale Beweise Anmerkungen und weitere Lektüre:
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Kant, Immanuel (1724‑1804)
Kant, I. (1902–): ‚Kant’s Gesammelte Schriften‘, auch ‚Akademie Ausgabe‘ genannt, begonnen von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (bisher 29 Bände). (Die ist die Standard-Referenz für alle Bezüge auf Kants Werk. Zu vielen seiner Texte, insbesondere den drei Kritiken, existieren aber auch zahlreiche und sehr gute Einzelausgaben unterschiedlicher Ausstattung, die in der Regel zum Studium Kants ausreichen.) Guyer, P. (Hrg.) (1992): ‚The Cambridge Companion to Kant‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Dieser Band enthält Aufsätze der führenden angloamerikanischen Interpreten zu allen Aspekten der kantischen Philosophie, sowie eine ausführliche Bibliographie. Eine vollständig überarbeitete Neuauflage ist gegenwärtig in Vorbereitung.) Guyer , P. und Wood, Allen W. (Hrg.) (1992–): ‚The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Dies ist die englische Standard-Ausgabe. Das Werk ist bereits beinahe vollständig. Die vorhandenen Bände der Cambridge Edition enthalten neue englische Übersetzungen aller von Kant publizierten Werke, sowie umfangreiche Übersetzungen seiner Vorlesungen, seiner Korrespondenz und seiner posthum veröffentlichten Notizen und Fragmente. Dieses Werk enthält ferner einen umfangreichen Apparat an Lehrtexten zu Kant. Für jeden, der auf Englisch über Kant schreiben will, ist dies die Standardreferenz.) Kuehn, M. (2001): ‚Kant: A Biography‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Die jüngste auf Englisch erschienene Kant-Biographie. Dieses ins Detail gehende und dennoch sehr gut lesbare Buch interpretiert Kant im Kontext seiner Zeit und seines Ortes.) PAUL GUYER
Kantische Ethik Einführung Die kantische Ethik hat ihren Ursprung in den ethischen Schriften von Immanuel Kant (1724–1804), die nach wie vor der einflussreichste Versuch einer Behauptung allgemeiner ethischer Prinzipien sind, der die Würde und Gleichheit der Menschen ohne die Voraussetzung theologischer Behauptungen oder einer metaphysischen Konzeption des Guten respektiert. Kants systematische, kritische Philosophie gruppiert sich um eine Darstellung des vernünftigen Handelns, die er als Rechtfertigung von Pflicht- und Tugendprinzipien einsetzt, eine liberale und republikanische Konzeption der Gerechtigkeit mit kosmopolitischem Geltungsbereich, und eine Darstellung der Beziehung zwischen Moral und Hoffnung. Zahlreiche zeitgenössische Autoren entwerfen auch heute noch ethische Standpunkte, die sie selbst und ihre Kritiker als kantisch bezeichnen. Allerdings haben sich einige dieser Arbeiten von Kants Philosophie über fundamentale Fragen wie z.B. die menschliche Freiheit und das Nachdenken über das Handeln deutlich entfernt. Sie stimmen mit Kants Ethik in der Behauptung überein, dass wir über keine substanzielle Darstellung des Guten verfügen (so dass teleologische oder konsequenzialistische Ethiken unmöglich sind), aber auch in der Einnahme eines starken Standpunktes hinsichtlich der Gleichheit moralischer Akteure, und in der Bedeutung allgemeiner Pflichtprinzipien, die genau erklären, was es bedeutet, sie zu beachten, 894
Kantische Ethik
sowie in der Betonung eines Bildes von Gerechtigkeit und Rechten mit kosmopolitischem Geltungsanspruch. Sowohl Kants Ethik, als auch die zeitgenössischen kantischen Ethiken sind umfangreich kritisiert worden für ihre Bemühungen um Regeln und Pflichten, und wegen ihres Mangels an Sorge um Tugenden, Lebensglück oder persönliche Beziehungen. Diese Kritik mag jedoch eher auf die jüngeren kantischen Ethiken passen, als auf Kants eigene Ethik. 1. Kants Ethik 2. Zeitgenössische kantische Ethiken 3. Kritiken der kantischen Ethiken 4. Zurück zu Kant? 1. Kants Ethik Kants Hauptschriften zur Ethik und Politik findet man in der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ (1785), der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ (1788), ‚Die Metaphysik der Sitten‘ (1797) und zahlreichen Abschnitten anderer Werke oder einzelner Aufsätze. Über alle diese Schriften hinweg besteht er darauf, dass wir ethische Schlussfolgerungen nicht aus metaphysischen oder theologischen Erkenntnissen des Guten ableiten können (über die wir im Übrigen gar nicht verfügen), und auch nicht aus der Behauptung, dass das menschliche Glück das einzige Gute sei (was wir gar nicht feststellen können). Es fehlt uns die Grundlage für eine teleologische oder konsequenzialistische Darstellung des ethischen Denkens, was deshalb auch nicht einfach eine Frage des Zweck-Mittel-Denkens im Hinblick auf irgendein fixiertes und erkennbares Gutes sein kann (siehe Konsequenzialismus; Teleologische Ethik). Wenn aber das Nachdenken über das Handeln, d.h. das praktische Denken, nicht im Rahmen von Mitteln zu bestimmten Zwecken möglich ist, wie dann? Kants alternative Darstellung schlägt lediglich vor, dass Handlungsgründe immer die Gründe aller sein sollten. Er besteht darauf, dass wir Gründe dafür haben können, nur solche Handlungsprinzipien zu empfehlen, die von allen Betroffenen angenommen werden könnten, wie auch immer ihre persönlichen Wünsche, sozialen Identitäten, Rollen oder Beziehungen beschaffen sein mögen. Entsprechend muss die praktische Vernunft alle Prinzipien zurückweisen, die keine Prinzipien für alle Betroffenen sein können. Diese bezeichnet Kant als nicht-verallgemeinerbare Prinzipien (siehe Universalismus in der Ethik). Kant gibt dieser recht beschränkten modalen Konzeption der praktischen Vernunft einige große Namen. Er nennt sie ‚das überragende Prinzip der Moral‘ und den ‚kategorischen Imperativ‘. Er formuliert diese grundlegenden Prinzipien der Ethik auf verschiedene Weisen. Die in der philosophischen Literatur am häufigsten diskutierte Formulierung lautet: ‚Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.‘ Diese Formulierung, die stets die größte kulturelle Resonanz hatte und diese bis heute noch hat, verlangt allerdings, dass wir auch noch eine weitere mit gleichem Respekt behandeln. Sie lautet: ‚Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.‘ (‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, 1785). Die Äquivalenz dieser beiden Formulierungen des kategorischen Imperativs ist keineswegs offen-
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sichtlich. Ein Weg zu begreifen, warum Kant meinte, beide wären äquivalent, ist die Feststellung, dass wir, wenn wir andere Menschen als Menschen und nicht als Dinge behandeln, ihre Handlungsfähigkeit nicht zerstören oder herabsetzen, und dies ermöglicht es ihnen tatsächlich nach demselben Prinzip zu handeln, wie wir dies tun. Folglich müssen wir nach allgemeinen Prinzipien handeln. Nach Kants Auffassung ist eines der schlimmsten Merkmale der konsequenzialistischen Ethik, dass sie nicht einfach erlaubt, sondern geradezu verlangt, dass Menschen als reine Mittel eingesetzt werden, wenn dies einem guten Ergebnis dient. Kant behauptet, dass der kategorische Imperativ zur Rechtfertigung der den menschlichen Pflichten zugrunde liegenden Pflichten verwendet werden kann. Beispielsweise können wir im Wege einer reductio ad absurdum zeigen, dass falsche Versprechungen nicht verallgemeinerbar sind. Angenommen jeder würde sich das Prinzip des falschen Versprechens zu Eigen machen: Weil es dann viele falsche Versprechungen gäbe, sänke das Vertrauen drastisch und viele Menschen würden merken, dass ihre falschen Versprechungen nicht mehr akzeptiert werden, was der Verallgemeinerungshypothese des falschen Versprechens widerspricht. Eine Maxime des falschen Versprechens ist nicht verallgemeinerbar, und folglich verlangt der kategorische Imperativ von uns, sie abzulehnen. Mit parallelen Argumente lässt sich zeigen, dass Prinzipien wie z.B. jenes vom Zwang oder der Gewaltanwendung ebenfalls nicht verallgemeinerbar sind, und dass es deshalb eine Pflicht ist, diese Prinzipien abzulehnen. Kant nennt Pflichten wie diese vollkommen (im Sinne von ‚vollständig‘). Dies sind Pflichten, die von jedem gegenüber allen anderen beachtet werden können. Er liefert auch Argumente zur Errichtung der Prinzipien gewisser unvollkommener (d.h. unvollständiger) Pflichten, wie z.B. jenen, anderen in Not zu helfen oder seine eigenen Talente zu fördern. Ein Grund, weshalb die unvollkommene Pflichten unvermeidlich unvollständig sind, liegt darin, dass sie nicht gegenüber allen anderen beachtet werden können; niemand kann allen anderen Menschen helfen oder alle möglichen Talente entwickeln. Kant nennt diese unvollkommenen Pflichten ‚Tugendpflichten‘ (siehe Tugenden und Laster, §§ 2–3). Die Ableitung von Pflichtprinzipien aus seiner Konzeption der praktischen Vernunft ist das Herz der kantischen Ethik und liefert den Kontext für seine Diskussion vieler anderer Themen. Diese beinhalten den Unterschied zwischen der Verinnerlichung von Prinzipien und einem einfachen und äußerlichen Sich-danach-Richten (‚Handeln aus Pflicht‘ versus ‚Handeln im Einklang mit der Pflicht‘), den Ort des Glücks in einem guten Leben, die Notwendigkeit des Urteils in der Bewegung vom Prinzip zur Handlung (siehe Moralisches Urteil, § 2), die Rechtfertigung staatlicher Macht, und die Rechtfertigung einer kosmopolitischen Darstellung der Gerechtigkeit. Kant entwickelte auch die Verbindungen zwischen seiner spezifischen Konzeption der praktischen Vernunft und der Freiheit, und seine ebenfalls sehr spezifische Auffassung der Religion, die er als eine Angelegenheit nicht der Erkenntnis, sondern der begründeten Hoffnung auf eine Zukunft betrachtet, in der die Moral vollständig verwirklicht werden kann. In einigen Werken artikuliert Kant die begründete Hoffnung in religiösen Termini; in anderen drückt er sie wiederum in politischen und historischen Wendungen als eine Hoffnung auf eine bessere und diesseits-weltliche menschliche Zukunft aus.
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Kantische Ethik
2. Zeitgenössische kantische Ethiken Viele zeitgenössische Werke zur Ethik werden als kantisch bezeichnet, hauptsächlich deshalb, weil das richtige Handeln dort nicht als eine Ableitung von guten Ergebnissen verstanden wird, sondern das Recht dem Guten gegenüber als vorrangig angesehen wird (siehe Recht und das Gute). In zeitgenössischen kantischen Arbeiten sind Verpflichtungen und Rechte die grundlegenden ethischen Begriffe. Solche Arbeiten werden oft als deontologische Ethiken bezeichnet (der Ausdruck leitet sich aus dem griechischen Wort für ‚sollen‘ ab) (siehe Deontologische Ethiken). Deontologische ethische Theorien beschäftigen sich mit ethisch erforderlichen Handlungen, also mit Prinzipien, Regeln oder Normen, mit Verpflichtungen, Verboten und Erlaubnissen, und mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, aber nicht mit Tugenden, einer guten Lebensführung, moralischen Idealen und persönlichen Beziehungen. Deontologische Ethiken haben sehr unterschiedliche Formen. Viele Fassungen begrüßen die eine oder andere Interpretation der kantischen Forderung zum Respekt gegenüber anderen Menschen und meinen, dass moralische Prinzipien allgemein gelten sollten; einige wenige erwähnen Kants minimalistische Strategie zur Rechtfertigung gewisser allgemein bindender Prinzipien, nach denen wir leben müssen, wenn wir nicht-verallgemeinerbare Prinzipien ablehnen. Tatsächlich stützen sich viele deontologische ethische Theorien auf Konzeptionen der Freiheit, der Vernunft und der Handlung, die der kantischen nicht ähnlich sind, und nähern sich stattdessen gerade denen, die typischerweise von den Konsequenzialisten angewandt werden. Ein prominenter Bereich deontologischer Positionen sucht nach Rechtfertigungen für Gerechtigkeitsprinzipien, indem man dort zeigt, dass alle Menschen ihnen zustimmen würden, die davon unter bestimmten hypothetischen Umständen betroffen wären. Sie beziehen sich dabei auf den Gedanken, dass Vereinbarungen und Verträge gute Handlungsgründe sind, und schlagen vor, dass alle ethischen Ansprüche durch den Nachweis gerechtfertigt werden müssten, dass sie auf wirklichen oder zumindest hypothetischen Übereinkünften oder Verträgen basieren. Diese Arten von deontologischen Theorien werden oft kontraktualistisch genannt. Sie sind zeitgenössische Fassungen der Theorie des Sozialkontrakts (siehe Kontraktualismus). Einige Kontraktualisten nehmen eher einen Hobbesschen als einen kantischen Standpunkt ein. Sie argumentieren, dass Gerechtigkeitsprinzipien etwas sind, dem zweckrational handelnde Personen, geleitet durch ihre individuellen Präferenzen, zustimmen würden (siehe Hobbes, T., §§ 6–7). Andere Kontraktualisten nehmen eine mehr kantische Position ein. Sie sagen, dass Gerechtigkeitsprinzipien etwas sind, denen Menschen zustimmen, die nicht lediglich zweckrational denken, die aber gewisse rationale Verfahren anzuwenden wissen. Der bekannteste Verfechter des kantischen Kontraktualismus ist John Rawls, dessen Buch ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘ (engl.: ‚A Theory of Justice‘, 1971) Gerechtigkeitsprinzipien als jene ausmacht, denen rationale und eigeninteressierte Menschen unter solchen Umständen zustimmen würden, wo sichergestellt ist, dass ihre Wahl sowohl vernünftig als auch rational ist. Er argumentiert, dass Gerechtigkeitsprinzipien entstehen würden, wenn sie von allen Betroffenen in einer hypothetischen Situation gewählt würden, die so beschaffen ist, dass Unparteilichkeit und folglich ihre Zustimmung gesichert ist. Rawls nennt diese hypothetische Situation ‚die ursprüngliche Position‘ und stellt sie als etwas dar, wo die Menschen ihre eigene 897
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soziale Position und deren Attribute nicht kennen, und damit auch nicht ihren eigenen Vorteil; folglich können sie nicht anders als unparteiisch sein. Rawls behauptet, dass rationale Menschen in dieser hypothetischen Situation Gerechtigkeitsprinzipien wählen würden, die gleiche Rechte für alle und das höchste erreichbare Niveau an Wohlergehen für die Benachteiligsten vorschreiben. Weil alles, was die Individuen voneinander unterscheidet und deshalb als Grundlage für Uneinigkeit, Vorteilssuche oder einem Bedürfnis nach Übereinkunft dienen könnte, sorgfältig aus der ‚ursprünglichen Position‘ ausgeklammert ist, ist es nicht ohne weiteres erkennbar, warum darin gewählte Prinzipien als Gegenstände eines Einvernehmens (im Sinne einer aktiven Absprache) aufgefasst werden sollten, oder warum man die Parteien eines solchen Urzustandes als Menschen betrachten sollte, die miteinander Vereinbarungen abschließen. Und es ist nicht klar, warum die Tatsache, dass gewisse Prinzipien unter diesen Umständen vereinbart würden, diese Prinzipien gegenüber anderen rechtfertigt, die aus anderen Umständen resultieren. Warum sollten uns Prinzipien, denen man unter gewissen Bedingungen zustimmen würde, die aber nicht vorliegen, unter Bedingungen binden, die in der Tat gegeben sind? In ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘ argumentiert Rawls, dass Prinzipien, denen man unter diesen Bedingungen zustimmen würde, auch in anderen Situationen bindend wären, weil sie untereinander zusammenhängen bzw. ein ‚reflexives Gleichgewicht‘ mit ‚den von uns gefällten Urteilen‘ bilden (siehe Moralische Begründung, § 2). Prinzipien sind nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil der hypothetisch Unwissende sie mit seinem zweckrationalen Denken wählen würde, sondern weil wir sie vernünftigerweise als etwas beurteilen würden, was mit unseren sehr sorgfältig abgewogenen moralischen Ansichten übereinstimmt. In seinem späteren Buch ‚Political Liberalism‘ (1993) stellt Rawls diese Prinzipien nicht mehr als das Ergebnis einer hypothetischen Übereinkunft in der ursprünglichen Position dar, sondern als die hypothetische Übereinkunft von Personen, die nicht nur rational, sondern vernünftig sind, und zwar in dem Sinne, dass sie gewillt sind, Prinzipien zu gehorchen, vorausgesetzt es ist sichergestellt, dass andere dies auch tun. Prinzipien und Institutionen sind gerecht, wenn sie im Mittelpunkt einer vernünftigen Übereinkunft aller Betroffenen stehen. Jürgen Habermas hat ebenfalls Fassungen der kantischen Ethik vorgetragen, die das Einvernehmen zwischen den Akteuren betonen. In früheren Arbeiten argumentiert er, dass die Gerechtigkeitsprüfung oder -legitimation darin besteht, dass ein Vorschlag in einer hypothetisch ‚idealen Sprechsituation‘ angenommen wird, in der die Kommunikation unverzerrt ist. In jüngeren Arbeiten (z.B. ‚Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates‘, Frankfurt a.M., 1992) sagt er, dass die Legitimation von Normen durch den Prozess des öffentlichen Diskurses hergestellt wird, zu dem jeder beitragen kann, und dem jeder zustimmen kann. 3. Kritiken der kantischen Ethiken Sowohl die ursprüngliche kantische Ethik, als auch die zeitgenössischen kantischen Ethiken wurden von vielen Seiten kritisiert. Das Lager der Kritiker umfasst dabei klar auch diejenigen, die sich für die eine oder andere Form der teleologischen oder konsequenzialistischen Theorien einsetzen, die also meinen, es sei möglich, 898
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eine Darstellung des Guten zu geben, von der aus eine überzeugende Darstellung des Richtigen und speziell der Gerechtigkeiten abgeleitet werden kann. In diesen Gruppen finden sich aber auch zahlreiche Autoren, die das konsequenzialistische Denken ablehnen, einschließlich der kommunitaristischen Denker, der Tugendethiker und der wittgensteinschen und der feministischen Denker(innen) (siehe Gemeinschaft und Kommunitarismus; Tugendethik). Die verbreitetste und allgemeinste Kritik ist jene, dass die kantische Ethik, weil sie sich auf Prinzipien oder Regeln stützt, dazu verurteilt sei, entweder leer und formalistisch oder rigide und einheitlich in ihren Vorschriften zu sein (beide Vorwürfe können nicht gleichzeitig wahr sein). Der Vorwurf des leeren Formalismus stützt sich auf die richtige Beobachtung, dass Prinzipien die Handlungen mitbestimmen. Dies wird üblicherweise mit der ebenfalls richtigen Beobachtung entkräftet, dass ziemlich unbestimmte Prinzipien (wie z.B. ‚Bleibe innerhalb deiner Zielvorgabe‘ oder ‚Alle Religionen müssen toleriert werden‘) dennoch bedeutende Handlungsbeschränkungen setzen können und deshalb nicht leer sind. Der Vorwurf einer rigide einheitlichen Vorschreibung basiert auf dem Gedanken, dass Regeln etwas vorschreiben, also reglementieren müssen. Dies wird üblicherweise dadurch entkräftet, dass man daran erinnert, dass Regeln nicht notwendig reglementierend sein müssen, weil sie unbestimmt sein können: allgemeine Prinzipien müssen nicht einheitlich vorschreibend sein. Eine ethische Theorie, die sich auf Prinzipien bezieht, kann mehr als leer und weniger als rigide sein. Andere Kritiker, z.B. MacIntyre, wenden ein, dass die kantische Ethik, weil sie sich auf Verpflichtungen und Rechte und zu einem guten Teil auch auf Gerechtigkeit konzentriert, andere ethische Kategorien entweder vernachlässigen muss oder sie praktisch vernachlässigt, insbesondere die Tugenden, den guten Charakter oder die gute Lebensführung, und dass „Natur- und Menschenrechte […] Fiktionen sind“ (MacIntyre: ‚After Virtue‘, 1981: 67), sowie dass Verpflichtungen unvermeidlich auf eine Weise zu Konflikten führen, die alle deontologischen Ethiken inkohärent werden lassen. Einige Kritiker betonten besonders, dass in der kantischen Ethik das Erfordernis eines unparteiischen Respekts gegenüber allen Menschen vollkommen den Ort des Glücks, der Emotionen, der persönlichen Integrität und vor allem der persönlichen Beziehungen in einem gelungenen Leben ignoriere (siehe Moral und Gefühle). Sie behaupteten, dass wir zwischen einer Gerechtigkeitsethik und einer der Sorge füreinander wählen müssten, zwischen einer Ethik der Regeln und einer der Beziehungen, einer Ethik der Pflicht und einer der Tugend, und dass die jeweils letztere eines jeden Paares die zu Bevorzugende sei. 4. Zurück zu Kant? Einige dieser Kritiken zielen sehr präzise auf bedeutsame Merkmale verschiedener Formen der zeitgenössischen Schriften zur kantischen Ethik; viele von ihnen taugen aber weniger zu einer Kritik der Ethik von Kant selbst. Viele jüngere Autoren schlugen vor, dass Kants Ethik die überzeugendste Form des Musters ‚kantischer Ethik‘ sei, und dass ihre sehr distinkten Merkmale eher als ihre Stärken als ihre Schwächen anzusehen seien. Viele dieser Autoren akzeptieren einen Großteil der Kritik an der deontologischen Ethik, meinen aber, dass nicht alle diese Kritiken auch auf die von Kant selbst zutreffen, zu der sie detaillierte Interpretationen liefern. Ein Teil ihrer Bemühung verwenden sie auf Kants Konzeptionen der Handlung, der Ver899
Kategorien
nunft und der Freiheit, und einen weiteren Teil auf seine Ethik. Sie arbeiten heraus, dass Kants Darstellung der praktischen Vernunft und ihre Verteidigung weder voraussetzt, dass alles Nachdenken über das Handeln eine zweckrationale Verfolgung bevorzugter Ziele ist, noch dass sich die ethische Rechtfertigung in hypothetischen Übereinkünften oder Verträgen äußert, die durch vernünftige Verfahren erreicht werden. Sie betonen, dass Kants Konzeption der praktischen Vernunft auf der Verallgemeinerbarkeit, und weniger auf der Unparteilichkeit oder der Gegenseitigkeit basiert, und dass er eher Verpflichtungen als Rechte als grundlegend für die Ethik erachtet. Sie bestehen darauf, dass der unparteiische Respekt gegenüber Menschen und ein kosmopolitischer Gerechtigkeitsansatz moralisch keine zu vernachlässigenden Dinge seien, und kritisieren die Kommunitaristen, die Tugendethiker und einige feministische Denkerinnen dafür, dass sie die Gerechtigkeit nicht ernst nehmen. Sie weisen auch darauf hin, dass Kants Darstellungen Rechenschaft über die Ethik, die Rolle des Glücks in einem guten Leben und das Urteil ablegen, und argumentieren, dass diese Position nicht auf schädliche Weise individualistisch seien, und dass er die Bedeutung der Institutionen und der sozialen und persönlichen Beziehungen im menschlichen Leben durchaus anerkannte (siehe Korsgaard 1996). Siehe auch: Autonomie, Ethische; Kant, I., §§ 9–11; Praktische Vernunft und Ethik Anmerkungen und weitere Lektüre: Korsgaard, C.M. (1996): ‚Creating the Kingdom of Ends‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Aufsätze zum Kategorischen Imperativ und seinen Implikationen.) Williams, B. (1985): ‚Ethics and the Limits of Philosophy‘, Cambridge, MA: Harvard University Press und London: Fontana. (Verschiedene sehr gründliche Kritiken der kantischen Ethik.) ONORA O’NEILL
Kalvinismus
Siehe: Calvin, Johannes
Kategorien
Kategorien sind schwer zu beschreiben und noch schwerer zu definieren. Dies liegt zum Teil an ihrer komplizierten Geschichte, und ferner daran, dass die Kategorientheorie sich mit verwickelten Fragen betreffend die Beziehung zwischen sprachlichen oder begrifflichen Kategorien auf der einen Seite, und der objektiven Wirklichkeit auf der anderen Seite auseinandersetzen muss. In der Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. eröffnete Aristoteles die Diskussion der Kategorien als ein zentrales Unternehmen der Philosophie. In den Kategorien entwirft er ein ontologisches Schema, das alles Seiende abschließend in zehn Typen klassifiziert. In der Topik führt er die Kategorien dagegen als verschiedene Arten der Prädikation ein, d.h. als solche Dinge, die, wie beispielsweise ‚das Gute‘ oder ‚die Länge des Fußballplatzes‘ oder ‚rot‘,von Subjekten ‚ausgesagt‘ werden können. Er bemüht sich nirgendwo weder um eine Rechtfertigung dessen, was er in die Liste der Kategorien aufgenommen hat, noch um einen Nachweis ihrer Vollständigkeit, und verlässt sich durchgängig auf die nicht weiter begründete Überzeugung, dass die Sprache treu die grundlegendsten Strukturen der Wirklichkeit abbildet. Im 20. Jahrhundert wurde von Ryle ein Testverfahren für die Aufnahme von Begriffen in die Liste der Kategorien vor900
Katharsis
geschlagen, und zwar jenes der Absurdität: Begriffe oder Ausdrücke unterscheiden sich in ihrer logischen Typizität, wenn ihre Kombinationen Sätze hervorbringen, die offenkundiger Unsinn sind. Kant leitete im 18. Jahrhundert seine Kategorien von der Berücksichtigung von Urteilsaspekten ab und hoffte, auf diese Weise sicherstellen zu können, dass sein Schema ausschließlich auf apriorischen Begriffen besteht, die eine objektive Welt konstituieren würden. Der Sinologe Graham wandte ein, dass die Kategorien, wie sie im Westen gebräuchlich seien, ein Spiegel der indo-europäischen Sprachstruktur seien, und dass ein experimentelles chinesisches Schema ganz von selbst andere Eigenschaften aufweisen würde. Dieser Relativismus ist jedoch weithin strittig. Siehe auch: Universalien ROBERT WARDY
Katharsis
Dies ist einer der zentralen Begriffe in Aristoteles’ ‚Poetik‘. Die Katharsis (Gr., zu dt.: ‚Reinigung‘) bestimmt das Ziel des tragischen Dichters, nämlich die Darstellung der menschlichen Laster, um auf diese Weise beim Zuschauer ein Gefühl des Mitleids und der Angst hervorzurufen, so dass diese Gefühle schließlich zur Läuterung des Zuschauers führen. Siehe auch: Aristoteles, § 29; Gefühle als Reaktion auf Kunst; Mimēsis; Poesie; Tragödie GLENN W. MOST
Katze, Schrödingers
Siehe: Quantenmessung, Probleme der
Kausalität
Zwei einander gegenüberstehende Standpunkte werfen komplementäre Probleme der Kausalität auf. Der erste geht auf Hume zurück: man schaue sich ein Kind an, wie es einen Ball stößt. Man sieht den Fuß, wie dieser den Ball berührt und den Ball, der sich wegbewegt. Aber sieht man den Fuß, wie er verursacht, dass der Ball sich bewegt? Sieht man dies aber nicht, wie weiß man dann, dass dies geschehen ist? Wenn tatsächlich alle unsere Erfahrung so beschaffen ist, und alle unsere Vorstellungen aus der Erfahrung kommen, wie kommen wir dann überhaupt sofort auf die Vorstellung von der Verursachung? Der zweite Standpunkt geht auf Kant zurück. Wir können überhaupt keine Vorstellungen haben, mit der wir die Natur erfahren können, d.h. wir können weder das Kind als Kind, noch die Bewegung als Bewegung erfahren, solange wir die Erfahrung nicht in einer kausalen Ordnung organisieren, in der eine Sache notwendig auf eine andere einwirkt. Das Problem des kantischen Standpunktes ist es zu erklären, wie wir noch vor der Naturerfahrung auf verschiedene Weisen in der Lage sein sollen, eine solche komplexe Organisation unserer Erfahrung zu leisten. Für die Kantianer ist die Objektivität der Kausalität eine Voraussetzung unserer Erfahrung von Ereignissen, die sich außerhalb unserer selbst abspielen. Der Humesche Standpunkt muss etwas in unserer Erfahrung auffinden, dass genügend Anlass für kausale Behauptungen gibt. Reguläre Assoziationen zwischen möglichen Ursachen und Wirkungen werden hier als Lösung vorgeschlagen. Die Aufmerksamkeit für reguläre Assoziationen verbindet die Humesche Tradition mit den modernen
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Kausalität
statistischen Techniken, die in den Sozialwissenschaften zur Bestimmung kausaler Gesetze Verwendung finden. Die moderne Diskussion konzentriert sich auf drei Ebenen des kausalen Diskurses. Die erste ist jene betreffend die singuläre Verursachung, d.h. über einzelne Verursachungen, die sich zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten ereignen, beispielsweise: ‚Die Katze schleckte die Milch auf.‘ Die zweite ist jene betreffend die kausalen Gesetze, d.h. Gesetze darüber, welche Merkmale verlässlich etwas auslösen oder den Eintritt eines anderen Merkmals verhindern, wie in dem Ereignis ‚Steigende Inflation verhindert Arbeitslosigkeit.‘ Die dritte ist jene betreffend die kausalen Kräfte. Von diesen wird angenommen, dass sie bestimmen, welche Arten von singulären Verursachungen ein bestimmtes Merkmal hervorrufen können, oder welche Arten kausaler Gesetze wahr genannt werden können, beispielsweise in dem Ereignis: ‚Aspirin-Tabletten haben die Kraft, Kopfschmerzen zu lindern.‘ Die zeitgenössische anglophone Arbeit über die Kausalität hat sich auf zwei Fragen konzentriert. Erstens: ‚Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen Ebenen?‘ Die zweite Frage stammt vom reduktiven Empirismus verschiedener Provenienz, die versucht, die Kausalität von der Welt fernzuhalten, oder zumindest von jeglichem Aspekt der Welt, den wir für intelligibel halten können: ‚Welche Beziehung besteht zwischen der Kausalität (auf jeder ihrer Ebenen) und jenen Merkmalen der Welt, die weniger problematisch erscheinen?‘ Diese letzte Frage wird von unterschiedlichen Autoren gestellt, um unterschiedliche Sachen damit einzubeziehen. Wahrnehmbaren oder messbaren Eigenschaften wie ‚Rotheit‘ oder ‚Stromstärke‘ wurden kausale Beziehungen mit einer Legitimität zugeschrieben, die kausalen Beziehungen wie ‚auflecken‘ oder ‚herüberstoßen‘ nicht zur Verfügung stehen; manchmal seien die Ersteren die grundlegenden Eigenschaften, die von der Physik studiert werden. So genannte ‚sich ereignende‘ (ocurrent) Eigenschaften haben gegenüber den ‚dispositionalen‘ Eigenschaften und Kräften ebenfalls eine privilegierte Stellung, wie z.B. die Wasserlöslichkeit. Auf der mittleren Ebene, wo es um die Naturgesetze geht, wurden die Gesetze über reguläre Verbindungen zwischen zulässigen Merkmalen – egal, ob diese Verbindungen deterministisch oder probabilistisch sind – über jene Gesetze gestellt, bei denen es darum geht, welche Arten von Wirkungen bestimmte Merkmale hervorbringen. Siehe auch: Kausalität, Indische Theorien der NANCY CARTWRIGHT
Kausalität, Rechtliche
Kausales Argumentieren ist im juristischen Bereich weit verbreitet, speziell in Gebieten wie dem Vertragsrecht, dem Recht der unerlaubten Handlungen und dem Strafrecht, wo es um die rechtliche Verantwortung für nachteilige Konsequenzen von vorsätzlichem und nicht vorsätzlichem menschlichen Handeln geht. Es gibt jedoch weit auseinander gehende Theorien über die Natur und die Rolle der Kausalität im Recht. An dem einen Ende des theoretischen Spektrums behaupten die kausalen Minimalisten, dass die Kausalität eine kleine oder überhaupt keine Rolle bei der Zuschreibung gesetzlicher Verantwortung spiele. Am entgegengesetzten Ende behaupten die kausalen Maximalisten, dass die Kausalität die erste oder überhaupt einzige Determinante rechtlicher Verantwortung ist. Diese auseinander gehenden Standpunkte haben ihre Wurzeln in unterschiedlichen Begriffen von (1) der Natur oder Bedeutung der Kausalität, (2) der Beziehung zwischen der Kausalität und der 902
Kausalität, Rechtliche
Zuschreibung rechtlicher Verantwortung, und (3) die grundlegenden Zwecke der relevanten Rechtsgebiete. Ein großer Teil der Uneinigkeit und der Verwirrung beruht auf dem mehrdeutigen Gebrauch kausaler Redewendungen im Recht, der der mehrdeutigen Verwendung von kausalen Redewendungen im gewöhnlichen, nicht-juristischen Sprachgebrauch folgt. Auf beiden Gebieten wird der kausale Sprachgebrauch manchmal im ersten Sinne zur Bezeichnung eines Inhalts und den Vorgangsweisen der empirischen Naturgesetze verwendet, und ein anderes Mal in einem eingeschränkteren, normativen Sinne, dass in Beziehung auf einen bestimmten Zweck eine der beteiligten Bedingungen als wichtiger im Vergleich zu anderen Bedingungen identifiziert wurde. Der im Recht relevante Zweck ist die Zuschreibung rechtlicher Verantwortung für irgendeine Ereignisfolge (sog. ‚Zurechenbarkeit’). Deshalb ist der kausale Sprachgebrauch im rechtlichen Diskurs mehrdeutig, um sich nicht nur mit den empirischen Aspekten eines Kausalbeitrages, sondern auch mit seinen normativen Aspekten der rechtlichen Verantwortung auseinanderzusetzen. Das Versagen bei der Verwendung von Sprache zur klaren Identifikation und Unterscheidung dieser beiden Aspekte hatte bemerkenswerte Uneinigkeit und Verwirrung über jeden dieser Punkte und das Wesen der Beziehung zwischen ihnen hervorgebracht. Weitere Uneinigkeit und Verwirrung stiftete die Schwierigkeit, nützliche und verständliche Kriterien für die Lösung jedes dieser Punkte zu entwickeln. Das verbreitetste Kriterium für den empirischen Bereich kausaler Zuschreibung ist die Prüfung der Notwendigkeitsbedingung (conditio sine qua non). Diese Prüfung war beachtlicher Kritik ausgesetzt, dass sie zuviel bzw. zu wenig einbezöge oder gar beides zugleich, und dass sie eine Einladung sei oder gar voraussetze, auf normative Verhaltensregeln zurückzugreifen, um das zu lösen, was doch eigentlich eine rein empirische Angelegenheit sei. Die Mängel dieser Notwendigkeitsbedingungsprüfung, gekoppelt mit den Schwierigkeiten, die sich beim Versuch der Formulierung einer nützlichen Alternativprüfung ergaben, der in keinen Begründungszirkel gerät, haben weithin zu der Schlussfolgerung geführt, dass es keinen rein empirischen Begriff der Kausalität gibt, und dass es nicht mehr als eine minimale Rolle für die Kausalität bei der Zuschreibung gesetzlicher Verantwortung geben kann. Die kausal-minimalistische Position ist insbesondere für die juristisch orientierten Volkswirtschaftler und die kritischen Rechtsschulen attraktiv, da sie die traditionelle Auffassung vom Gesetz als einem Instrument einer eingreifenden Justiz untergräbt, und stattdessen jedermann aufgefordert ist, die Verursachung von Schäden an Personen und Eigentum von anderen durch Handlungen zu vermeiden, die nicht die geforderte Rücksichtnahme gegenüber der Würde und Autonomie des anderen erkennen lassen. Die traditionelle Konzeption mit ihrer Konzentration auf die individuelle Autonomie, auf Rechte und Kausalitäten verträgt sich nicht mit den Theorien einer Maximierung sozialer Wohlfahrt der juristisch orientierten Volkswirtschaftler und dem antiliberalen, dekonstruktivistischen Programm der kritischen Rechtsschulen. Die Mitglieder einer jeden kausal-minimalistischen Gruppe verlangen deshalb, dass der Begriff der Kausalität nach einer der folgenden Alternativen behandelt werden sollte: (a) er sollte komplett verworfen und durch einen direkten Rückgriff auf die sozialpolitischen Ziele ersetzt werden, von denen angenommen wird, dass sie den mindestnotwendigen Umfang rechtlicher Verantwortung bestimmen oder bestimmen sollen; (b) er sollte neu definiert werden zwecks Reduktion auf diese sozi903
Kausalität, Indische Theorien der
alpolitischen Ziele; oder (c) er sollte als nützliche Rhetorik beibehalten werden, die manipulativ zur Erreichung oder Tarnung der Verfolgung solcher sozialpolitischen Ziele eingesetzt werden kann. Siehe auch: Kausalität; Verantwortung RICHARD W. WRIGHT
Kausalität, Indische Theorien der
Die Kausalität war als eines der zentralen Probleme in der indischen Philosophie anerkannt. Das Interesse des klassischen indischen Philosophen an diesem Problem erwuchs grundlegend aus zwei Quellen: erstens den kosmogonischen Spekulationen der Vedas und der Upanischaden mit ihrer Suche nach irgendeiner einfachen, einheitlichen Ursache als Ursprung dieses komplexen Universums; und zweitens die vedischen Bemühungen um rituelle Handlungen (karman) und die kausalen Mechanismen, durch die solche Handlungen ihre ungesehenen, aber angenommenermaßen kosmischen Wirkungen hervorbringen. Nachdem das Ziel der Befreiung (moks. a) als der höchste Wert akzeptiert war, verwoben sich diese beiden Denkrichtungen ineinander und brachten ein intensives Interesse am Begriff der Kausalität hervor. Die systematischen Philosophen der klassischen und mittelalterlichen Perioden kritisierten und verteidigten wiederum konkurrierende Theorien der Verursachung. Diese Theorien waren teilweise durch den Wunsch motiviert, die Wirksamkeit einer Handlung und folglich die Möglichkeit zur Erreichung der Befreiung zu garantieren, dies teilweise durch einen Wunsch nach Verständnis des Wesens der Welt, und folglich nach einem Verständnis, wie wir unseren Weg zum Erreichen der Befreiung finden können. Die indischen Philosophen diskutierten ausgedehnt eine Reihe von Fragen bezüglich der Verursachung, einschließlich der Natur der Kausalbeziehung, der Definitionen von Ursache und Wirkung, und der Klassifizierungen von Arten der Ursachen. Typischerweise betonten sie die Wichtigkeit der materialen Ursache, statt wie in der westlichen Philosophie der Wirkursache. In Indien leugneten nur die Cārvākas diese Möglichkeit. Die orthodoxen Hindu-Philosophen und die heterodoxen Buddhisten und Jainas akzeptierten alle sowohl die Möglichkeit der Befreiung, als auch die Wirklichkeit der Verursachung, obwohl sie scharf (und polemisch) zwischen den Details unterschieden. Die indischen Theorien der Verursachung sind traditionell eingeteilt nach ihrem Bezug auf die Frage, ob die Wirkung eine Weise der Ursache ist. Nach dieser Taxonomie gibt es zwei grundlegende Theorien der Verursachung. Die eine ist die Identitätstheorie (satkāryavāda), die besagt, dass die Wirkung identisch mit der Ursache ist, d.h. eine Äußerung dessen, was in der Ursache potenziell vorhanden ist. Dies ist auch die Sichtweise des Sān. khya-Yoga, obwohl die spezielle Auffassung dieser Schule manchmal auch die Transformationstheorie (parin. āmavāda) genannt wird. Advaita Vedānta vertritt wiederum eine Erscheinungstheorie (vivartavāda), die oft als eine Variante der Identitätstheorie betrachtet wird. Nach der Erscheinungstheorie sind Wirkungen reine Erscheinungen der zugrunde liegenden Wirklichkeit Brahman. Da nur Brahman wirklich existiert, wird diese Theorie manchmal auch satkāran. avāda genannt (d.h. die Theorie, dass die Ursache wirklich ist, aber die Wirkung nicht). Die andere grundlegende Theorie der Verursachung ist die Nichtidentitätstheorie (asatkāryavāda), die leugnet, dass die Wirkung in ihrer Ursache bereits zuvor existiert; stattdessen behauptet sie, dass die Wirkung eine vollkommen neue Entität 904
Kelsen, Hans (1881–1973)
ist. Sowohl die Anhänger von Nyāya-Vaiśes. ika, als auch die Buddhisten werden normalerweise zu den Nichtidentitätstheoretikern gerechnet, aber sie unterscheiden sich in vielen wichtigen Details. Eines davon ist die Frage, ob die Ursache weiter existiert, nachdem die Wirkung erschienen ist: Nyāya-Vaiśes. ika behauptet, dass dies der Fall sei, während die Buddhisten zum größten Teil behaupten, dies sei nicht der Fall. Abschließend sei bemerkt, dass einige Philosophen sich um eine mittlere Position bemühen und behaupten, dass eine Wirkung sowohl identisch, als auch nichtidentisch mit ihrer Ursache sei. Dies ist die Position der Jainas und einiger theistischer Schulen der Vedānta. Siehe auch: Kausalität ROY W. PERRETT
Kausalität, mentale
Siehe: Mentale Verursachung
Kelsen, Hans (1881–1973)
Hans Kelsen war einer der führenden (positivistischen) Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Er lehrte in Wien, Köln, Genf und Paris und lebte am Ende seines Lebens in Amerika, wo er in Chicago, Harvard und Berkeley lehrte. Er schrieb über viele Topoi, z.B. über Rechtsphilosophie, Verfassungs- und internationales Recht und politische Philosophie. Kelsen ist sehr bekannt für seine ‚Reine Rechtslehre‘ (1934). Hier entwickelte er die Grundlage einer Theorie, die er auch noch nach vielen Änderungen bis zu seinem Tode unterstützte. Siehe auch: Hart, H.L.A.; Rechtsphilosophie; Rechtspositivismus ZENON BAŃKOWSKI
Kepler, Johannes (1571–1630)
Keplers mathematische Analyse von Brahes Beobachtungen der Bewegungen des Mars versetzten ihn in die Lage, ein deskriptives ‚Gesetz‘ der Planetenbewegungen zu formulieren, wodurch er der heliozentrischen Astronomie eine empirische Grundlage gab, die wesentlich präziser war als zuvor. Er bestand darauf, dass die Astronomie die Ursache der Bewegungen zu entdecken habe, die von seinen Gesetzen beschrieben wurden, und dass sie auf diese Weise zu einer ‚Physik des Himmels‘ würde. In der Verfolgung dieses Ziels formulierte er die Vorstellung von distanzabhängigen Kräften zwischen der Sonne und den Planeten und meinte, dass die Schwere als eine Anziehung zwischen schweren Körpern und ihren heimischen Planeten erklärt werden könne, analog der magnetischen Wirkung. Hierdurch ebnete er den Weg für die Newtonsche Gravitationstheorie. Siehe auch: Erklärung; Galilei, Galileo; Kausalität; Kopernikus, N.; Kosmologie; Newton, I.; Renaissancephilosophie; Wissenschaftliche Methode ERNAN MCMULLIN
Kierkegaard, Søren Aabye (1813–1855) Einführung Obwohl Kierkegaards Name heute hauptsächlich mit seinen Schriften über philosophische Themen verbunden wird, deckten seine zahlreichen Schriften doch einen weiten Bereich ab, der von Beiträgen zur Literaturkritik und Diskursen über 905
Kierkegaard, Søren Aabye (1813–1855)
bestimmte religiöse Themen bis zu Abstechern in den polemischen Journalismus reicht. Er wurde 1813 in Kopenhagen geboren und führte dort eine äußerlich ereignislose Existenz bis zu seinem Tode im Jahre 1855. Dennoch dreht sich vieles von dem, was er schrieb, um Krisen und Wendepunkte in seinem persönlichen Leben; sogar seine theoretischen Werke haben oft einen autobiographischen Hintergrund. Kierkegaard meinte, dass die Philosophie seiner Zeit, die weitgehend unter dem Einfluss des Hegelschen Idealismus stand, zu einer Fehlkonstruktion der Beziehung von Denken und Wirklichkeit neige, indem sie fälschlicherweise das Zweite dem Ersteren anpasse. In dieser Vorgehensweise spiegele sich ein Zeitalter, in dem die Gewohnheiten der abstrakten Reflexion und der passiven Antwort die Menschen blind werden ließe gegenüber ihren wahren Sorgen als selbstbestimmte Akteure, die für ihren Charakter und ihre Bestimmung letztlich selbst verantwortlich seien. Er versuchte sich diesen Neigungen entgegenzustellen, indem er unterschiedliche Lebensansätze erforschte, jeweils unter dem Aspekt, der die Augen des Lesers sowohl für ihre eigene Situation, als auch für die Wahlmöglichkeit eines radikalen Wandels öffnen sollte. Er setzte dabei voraus, dass Entscheidungen im letztgenannten Bereich jenseits des Geltungsbereichs allgemeiner Regeln lägen, wodurch diese beiden Aspekte des Lebens im Kern ein Problembereich für das Individuum allein seien. Dennoch ist seine Darstellung der religiösen Existenzform eine der transzendierenden Beschränkungen, die in alternativen Lebensformen erfahren werden. Kierkegaard, selbst ein leidenschaftlicher Gläubiger, war gleichzeitig bis in den Kern seines Denkens darum bemüht, den christlichen Standpunkt auf eine Weise zu artikulieren, der ihn vor der neuerlichen Wiederkehr von Missverständnissen schützen sollte. Indem er alle Versuche einer objektiven Rechtfertigung oder eines Beweises religiöser Behauptungen zurückwies, unterstützte er eine Konzeption des Glaubens, die rationale Überlegungen scheute und stattdessen aus subjektiven Selbstbindungen bestand, und die vor einem Hintergrund intellektueller Ungewissheit oder von Paradoxa aufrechterhalten werden sollten. Seine Sichtweise positionierte sich im Rahmen einer psychologischen Perspektive, die die Freiheit als eine unentrinnbare Bedingung des Handelns und der Erfahrung betonte. Die komplexen Folgen, die dies nach seiner Auffassung für die Interpretation der alles durchdringenden menschlichen Emotionen und Einstellungen habe, wurden in Werken von ihm diskutiert, die sich erst später als äußerst einflussreich erwiesen, insbesondere bei der Entstehung des Existenzialismus im 20. Jahrhundert. Hier wie auch in anderen Bereichen seiner Schriften hatte Kierkegaard eine bedeutende, wenn auch verspätete Wirkung auf den Verlauf des nachfolgenden Denkens. 1. Leben 2. Die Grenzen der Objektivität 3. Ästhetizismus und Ethik 4. Das religiöse Bewusstsein 5. Glaube und Subjektivität 6. Psychologische Themen und Einfluss 1. Leben Kierkegaard war der jüngste Sohn eines erfolgreichen weitgehend durch eigene Kraft empor gekommenen dänischen Geschäftsmannes. Der Vater war ein tief
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religiöser, aber anspruchsvoller und schuldbeladener Charakter, der seine Gefühle der Melancholie und Angst den anderen Mitgliedern der Familie mitteilte. Dies hinterließ sicherlich einen dauernden Eindruck in Kierkegaards eigenem Charakter und seiner Entwicklung und veranlasste ihn, seine eigene Erziehung später als ‚geisteskrank‘ zu bezeichnen. Vermutlich weitgehend infolge seines Wunsches, dem Vater zu gefallen, dem gegenüber er zu einem Ausdruck einer ambivalenten Mischung aus Liebe und Angst neigte, immatrikulierte er sich mit siebzehn Jahren an der Universität von Kopenhagen mit dem Ziel eines Abschlusses in Theologie. Nichtsdestotrotz fühlte er sich, nachdem er die ersten Vorprüfungen absolviert hatte, in steigendem Maße von anderen Sphären des intellektuellen Interesses angezogen, insbesondere von jenen, die mit der Entwicklung der modernen Philosophie und Literatur zu tun hatten. Zur selben Zeit entwickelte er einen eleganten und feinsinnigen Lebensstil, wobei er Beschäftigungen nachging, die in scharfem Gegensatz zu den nüchternen Vorschriften standen, die ihm zu Hause eingetrichtert worden waren. Aber in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die er während seiner ausgedehnten Studentenzeit begann und sein ganzes weiteres Leben führte, zeigt sich bei ihm bereits eine wachsende Unzufriedenheit mit dem launischen Lebensstil, dem er nachhing, und der Tod seines Vaters im Jahre 1838 scheint ihn schließlich dahin gebracht zu haben, seine akademischen Studien mit der Aussicht auf eine berufliche Karriere wieder aufzunehmen. So machte er im Juli 1840 seinen Abschluss, und zwei Monate später zeigte er seine Verlobung und bevorstehende Hochzeit mit Regine Olsen an, der Tochter eines hohen Beamten. Hierzu sollte es allerdings nicht kommen. Die Geschichte von Kierkegaards fehlgeschlagener Verlobung ist aus seinen Tagebüchern bekannt, denen er einen detaillierten Bericht darüber anvertraute, wie er diese Beziehung nach einem schwierigen Jahr schließlich abbrach, in dem er wachsendes Bedauern über sein Angebot empfand. Obwohl seine wirklichen Motive für den schlussendlichen Bruch nicht ganz klar sind, gibt es doch keinen Zweifel, dass dieser für sein späteres Denken und seine späteren Schriften von großer Bedeutung war, da sich zahlreiche Anspielungen darauf, oft nur leicht getarnt, in vielen seiner Werke finden. In jedem Falle stellte dieses Ereignis sicherlich einen Wendepunkt dar. Fortan zog er sich in ein Junggesellendasein zurück. Darüber hinaus gab er, obwohl er nunmehr fest dem Christentum verpflichtet war, vollständig jeden weiteren Gedanken an eine kirchliche Karriere auf und widmete sich stattdessen einem Leben als Schriftsteller auf der Grundlage des sehr großzügigen Einkommens, das er aus der Vermögensmasse seines Vaters geerbt hatte. Die erste Zeit seiner Tätigkeit als Schriftsteller war tatsächlich bemerkenswert produktiv. Er brauchte weniger als ein Jahr für seine Dissertation ‚Om Begrebet Ironi‘ (dt.: ‚Der Begriff der Ironie‘), die er 1841 mit Erfolg in der philosophischen Fakultät einreichte. Hierauf folgte eine Reihe von Büchern, die er alle unter einem Pseudonym veröffentlichte, und die sich hauptsächlich mit philosophischen oder psychologischen Aspekten des ethischen und religiösen Glaubens auseinandersetzten. Das erste, ‚Enten-Eller‘ (dt.: ‚Entweder-Oder‘), kam in zwei umfangreichen Bänden im Jahre 1843 heraus; dem folgte etwas später im selben Jahr ‚Frygt og Baeven‘ (dt.: ‚Furcht und Zittern‘) und ‚Gjentagelsen‘ (dt.: ‚Wiederholung‘); 1844 erschienen ‚Philosophiske Smuler‘ (dt.: ‚Philosophische Brocken‘) und ‚Begrebet Angest‘ (dt.: ‚Der Begriff Angst‘), und diesen folgten im Jahre 1845 wiederum ‚Stadier paa Livets Vej‘ (dt.: ‚Stadien auf dem Lebensweg‘) und im Jahre 1846 ‚Afsluttende uvidenskabelig Efterskrift‘ (dt.: 907
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‚Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken‘). Zwei weitere unter Pseudonym veröffentlichte Werke zu miteinander verbundenen Themen, ‚Sygdommen til Døden‘ (dt.: ‚Die Krankheit zum Tode‘) und ‚Indøvelse i Christendom‘ (dt.: ‚Einübung im Christentum‘) wurden 1849 und 1850 veröffentlicht. Obwohl es die oben aufgelisteten Schriften sind, die hauptsächlich die Aufmerksamkeit der nachfolgenden Philosophen und Kommentatoren auf sich gezogen haben, erschöpft sich darin doch keineswegs Kierkegaards literarische Produktion während der 1840er Jahre. Abgesehen von einigen Kritiken, die unter seinem eigenen Namen erschienen, schrieb er eine Reihe direkt religiöser Aufsätze, in denen es ihm um eine Darstellung des Wesens der christlichen Lehre ging; daher waren solche Werke wie sein ‚Opbyggelige Taler i forskjellig Aand‘ (dt.: ‚Erbauliche Betrachtungen verschiedenartiger Geister‘) von 1847 ausdrücklich dazu gedacht, das wahre Wesen der christlichen Botschaft sowie die Forderungen, die sie an den Einzelnen stellt, zu kommunizieren und zu illustrieren. In ihrer kompromisslosen Betonung des Ernstes dieser Voraussetzungen und der Art ihrer Stigmatisierung der Selbstgefälligkeit und moralischen Doppelbödigkeit, die er den zeitgenössischen Vertretern des Glaubens vorwirft, dem sie zu dienen beteuern, kann man von den beiden letztgenannten Büchern sagen, dass sie bereits den Standpunkt ahnen lassen, von dem aus Kierkegaard auf dem Höhepunkt seiner Karriere die etablierte dänische Kirche recht rüde angriff. Anlass hierfür war der Tod des dänischen Primas, Bischof Mynster, im Jahre 1854. Kierkegaard war mit sich steigernder Überzeugung zu der Auffassung gelangt, dass Mynster ganz persönlich viele der Mängel der Kirche insgesamt personifizierte, und folglich wurde er zornig, als er hörte, dass der tote Prälat öffentlich als ein ‚Zeuge der Wahrheit‘ geehrt wurde. Als Folge hiervon setzte er sich in den folgenden Monaten daran, die heimliche Weltzugewandtheit und Heuchelei zu denunzieren, von der der etablierte Klerus durchtränkt war. Dies geschah zunächst in Artikeln für die öffentliche Presse, und daran anschließend in einer zeitungsartigen Flugschrift, die er auf eigene Kosten produzierte. Die Wut seiner Angriffe, die sich nach einer Phase relativ geringer literarischer Produktion löste, rief Überraschung und Konsterniertheit hervor. Die Kontroverse, die dadurch aufgewühlt wurde, wurde allerdings durch Kierkegaards plötzlichen Zusammenbruch im Oktober 1855 und seinen einige Wochen später eintretenden Tod abrupt unterbrochen. 2. Die Grenzen der Objektivität In einem frühen Beitrag für seine Journale, den er noch als Student geschrieben hatte, machte Kierkegaard seiner Enttäuschung Luft, die er in Anbetracht eines Lebens spürte, das einer leidenschaftslosen Suche nach Erkenntnis und Verstehen gewidmet war. ‚Was würde es mir Gutes bringen‘, fragte er sich, ‚wenn die Wahrheit vor mir stünde, kalt und nackt, und sich nicht darum kümmert, ob ich sie erkenne oder nicht?‘ Diese Frage impliziert eine Anschauung, die in seinem folgenden reiferen Werk noch häufig zum Ausdruck kommen sollte und insbesondere in seinen Kritiken der abgehobenen Spekulationen, die er vor allem den von ihm so genannten ‚Systematikern und objektiven Philosophen‘ zuschrieb, hervortreten. Sicherlich und trotz mancher gegenteiliger Annahme hatte er keinen Wunsch, als jemand verstanden zu werden, der die Art und Weise des unpersönlichen oder interesselosen Denkens in Studien verunglimpfen wollte, die sich auf die akademische Forschung oder 908
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die wissenschaftliche Untersuchung der Natur bezogen; solche Ansätze erschienen ihm durchaus in Ordnung, wenn sie innerhalb der Grenzen vorgenommen würden, die durch die jeweiligen Untersuchungsgegenstände gesetzt sind. Anders verhielt sich für ihn jedoch die Sache, wenn philosophische Versuche unternommen wurden, diese Grenzen auf eine Art und Weise zu erweitern, durch die eine Transzendierung aller persönlichen Standpunkte und Interessen behauptet wurde, wobei diese Konzeption einer philosophischen Aufgabe zu einer Art von metaphysischen Konstruktion führen würde, die alle Aspekte des menschlichen Denkens und menschlicher Erfahrung aus einer distanzierten Perspektive so genannter. ‚objektiver Kontemplation‘ zu erfassen versucht. Kierkegaard betrachtete Hegel als den herausragendsten zeitgenössischen Vertreter genau dieses Anspruchs und betrachtete das System, das dieser hervorgebracht hatte, als von Grund auf schief. Kierkegaards allgemeine Reaktion auf das, was er in der Hegelschen Theorie als unannehmbar empfand, ist in der Tat auch zentral für das Verständnis seiner eigenen philosophischen Position. Nach seiner Interpretation beruht Hegels Philosophie letztlich auf einem zentralen Irrtum, und zwar der unzulässigen Identifikation von Wesen und Existenz, d.h. von Denken und Wirklichkeit. Der deutsche Philosoph hatte die Welt als eine sich entwickelnde Folge logischer Kategorien dargestellt, deren gesamte Struktur von dem unpersönlichen Standpunkt der reinen Vernunft aus vollkommen einsehbar werden sollte (siehe Hegel, G.W.F., §§ 4–8). Kierkegaard lehnte jeden Wunsch nach Diskussion des bemerkenswerten Einfallsreichtums der Hegelschen Metaphysik ab und betrachtete sie einfach als ‚Gedankenexperiment‘. Er bestand allerdings darauf, dass das Denken nicht dasselbe wie die Wirklichkeit sei, und auch darauf, dass nichts Reales gültig aus dem Denken abgeleitet werden könne; insbesondere war es nach seiner Auffassung vollkommen falsch vorzuschlagen, dass Veränderungen und Entwicklungen in der Sphäre der wirklichen Existenz dem dialektischen Übergang zwischen zeitlosen Begriffen angeglichen werden könne; es sei vielmehr eine Sache, ein konsistentes logisches oder formales System zu konstruieren, und ein gänzlich anderes, die Hervorbringung eines existenziellen (wirklichen) zu unternehmen. Mit der Erhebung solcher Einwände bemühte er sich ferner darum, deren Relevanz in Bezug auf Hegels Behandlung der spezifisch menschlichen Existenz zu betonen. Das Hegelsche Weltbild ginge, so meinte er, von der Möglichkeit der Annahme eines gottartigen Standpunktes aus, von dem aus alles als ein Beitrag zu einer in sich verschränkten und aller Teile sich gegenseitig bestimmenden Totalität angesehen werde. Als Ergebnis hiervon neige diese Auffassung dazu, die menschliche Natur auf eine philosophische Abstraktion, das Individuum auf den Repräsentanten einer Spezies und die Bedeutung des Lebens und der Handlungen einer bestimmten Person auf ihre Rolle der Beförderung eines allumfassenden historischen Prozesses zu reduzieren, der sie überschatte und transzendiere. Zur selben Zeit machte Kierkegaard geltend, dass der Begriff eines unpersönlichen ‚Erkenntnissubjekts‘ des Typs, wie von Denkern der Hegelschen Schule postuliert wird, symptomatisch sei für die entsprechende Neigung zu vergessen, dass der spekulative Philosoph selbst ein ‚existierendes menschliches Wesen‘ sei, dessen Status und Situation ihm notwendige Grenzen seines Ausblicks und seiner erkenntnistheoretischen Glaubwürdigkeit auferlegt. Indem er sich tatsächlich fern von einem Standpunkt aus dem Nichts befinde, von dem er angeblich in die Welt hineinblicke, gehöre ein solcher Philosoph unentrinnbar zu dieser Welt, und zwar gerade infolge 909
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seiner Fähigkeiten als ein endliches empirisches Individuum, das „schläft, isst, seine Nase putzt“, und „sich seiner Zukunft stellen muss“. Obwohl Kierkegaards Einstellung gegenüber Hegel am ausführlichsten in seinen polemischen Bezügen zum Ausdruck kommt, die die Seiten seiner ‚Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift‘ als verstreute Anspielungen auf die Fehler und Schwächen „des Systems“ beleben, erscheint sie auch in vielen anderen seiner Schriften. Die Anzahl und Vielgestaltigkeit der Kontexte, in denen sie auftauchen, deuten darauf hin, dass er die aktuelle Mode des Hegelianismus als etwas betrachtete, das mehr als nur rein akademische Bedeutung hatte, dies auch wegen der Popularität, die sie genoss, indem sie einen zeitgenössischen Ethos reflektierte und gleichzeitig beförderte, in dem die von ihm so genannten ‚Illusionen der Objektivität‘ einen durchdringenden und korrumpierenden Einfluss ausübten. So fasste er das Zeitalter als eines auf, wo die Menschen den klaren Sinn ihrer Identität als Individuen, die für ihren Charakter, ihre Anschauungen und Lebensweisen selbst verantwortlich seien, verloren hätten. Stattdessen seien sie gewohnt, Zuflucht zur Anonymität zu nehmen, die ihnen durch die Mitgliedschaft in kollektiven Bewegungen oder Trends angeboten würde, und sich selbst als etwas zu erleben, dass unvermeidlich durch die sozialen Rollen beschrieben sei, die sie dergestalt innehätten, dass sie dadurch von jeder persönlichen Zurechnung für ihre Verlautbarungen oder Handlungen freigesprochen seien. Nach Kierkegaards Auffassung hätten sie weitgehend vergessen, „was es für dich und mich und ihn heißt, und zwar bei jedem für sich selbst, ein Mensch zu sein“, und stattdessen einer ‚quantitativen Dialektik‘ erliegen, in der eine verwirrte Sorge um groß dimensionierte historische Ereignisse und eine passive Unterwerfung unter den nivellierten Einfluss ‚der Menge‘ vorherrsche, vor den vitalen Bestandteilen des menschlichen Lebens und der Erfahrung, d.h. vor dem „inneren Geist, dem Ethischen, der Freiheit“. In Anbetracht solcher Tendenzen betrachtete Kierkegaard es als einen herausragenden Aspekt seiner Aufgabe als Schriftsteller, jene Denkgewohnheiten herauszufordern, die die spontanen Gefühle überdecken und ein aktives Engagement blockieren. Er meinte, dies habe einen besonders zerstörerischen Effekt in der religiösen Sphäre. Der verbreitete Glaube, dass die grundlegenden Überzeugungen des Christentums rational interpretiert und objektiv innerhalb eines Rahmen des Hegelschen Systems begründet werden könnten, war nach seiner Auffassung symptomatisch für eine allgemeinere Bereitschaft, sowohl die Religion, als auch die Moral auf ähnliche Weise in einem weichlich-kontemplativen Geiste abzuhandeln, der sie von den Kontexten einer inneren Überzeugung und dem praktischen Engagement entfremden würde, zu dem sie doch ursprünglich gehören würden. Vor diesem Hintergrund meinte er, es sei notwendig, die Menschen vor allem ‚wach zu machen‘, sie auf den Boden der Grenzen ihrer gegenwärtigen Bedingtheit zurückzubringen und in ihnen die Möglichkeit einer subjektiven Selbstbestimmung und Veränderung wachzurufen. 3. Ästhetizismus und Ethik Kierkegaard war der Auffassung, dass er in seinen frühen Schriften darauf abgezielt hatte, das Selbstverstehen seiner Leser wachzurütteln und zu stärken, indem er abstrakte Anweisungen mied und stattdessen ausdrücklich therapeutische Methoden anwandte, die er als ‚indirekte Kommunikation‘ bezeichnete. Damit meinte er das 910
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Umreißen bestimmter Lebensformen auf eine Weise, die die Menschen in die Lage versetzt, konkret und von innen heraus die beteiligten unterschiedlichen Anschauungstypen und Motivationen zu begreifen. Eine solche Verfahrensweise sei typisch ‚literarisch‘ oder ‚poetisch‘. Hier werden alternative Positionen vorstellungshalber wie in einem Roman oder einem Theaterstück präsentiert. Die Bücher, wo er diese Methode anwandte, wurden unterschiedlichen Personen in der Gestalt von pseudonymen Autoren oder Herausgebern zugeschrieben. Hierdurch wollte er eine Art von ex-cathedra-Didaktik vermeiden, die mit den typischen philosophischen Texten seiner Zeit assoziierte. Stattdessen favorisierte er einen undogmatischen Ansatz, in dem miteinander widerstreitende Sichtweisen und Einstellungen die Erlaubnis erhielten, ‚für sich selbst zu sprechen‘. Damit sollte es den Lesern überlassen bleiben zu entscheiden, wo sie selbst stünden, und sich eine eigene Meinung über die daraus zu ziehenden Schlüsse zu bilden. ‚Entweder-Oder‘ war das erste von Kierkegaards Werken, das unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. Er spielte darauf später dergestalt an, dass dieses Buch ein klares Beispiel seiner Anwendung der oben genannten Methode sei. Es behauptet, zwei radikal unähnliche Weisen der Existenz aufzuzeigen, von denen eine als ‚ästhetisch‘ und die andere als ‚ethisch‘ gekennzeichnet wird. Beide werden durch das Medium angeblich herausgegebener Schriften oder Briefe veranschaulicht, wobei das erste Briefkonvolut einem Menschen zugeschrieben wird, der mit ‚A‘ bezeichnet wird, und das zweite einem älteren Mann, von dem es heißt, er sei von Beruf Richter. Der Ästhetizismus, wie er durch A’s lose aufeinander Bezug nehmende Papiere dargestellt wird, nimmt eine sichtlich lebendige Vielfalt an Formen und Masken an; unter anderem heißt es, er finde seinen Ausdruck in den Rollen von legendären Figuren wie Don Juan und Faust, und er wird auch durch eine Darstellung einer schrittweisen Verführung in Tagebuchform illustriert. Im Unterschied dazu wird die Position des Ethikers in zwei relativ prosaischen Briefen umrissen, die der Richter an A richtet, und die eine detaillierte kritische Analyse der Motive des jüngeren Mannes und seiner psychologischen Perspektiven umfassen. Was verstand Kierkegaard unter den Kategorien, die er hier unterschied? Aus dem Text erhebt sich das ästhetische Leben als eines, in dem das Individuum im Wesentlichen damit beschäftigt ist, die Mittel zu seiner eigenen Befriedigung zu erforschen, und wo es in dem von ihm gewählten Verlaufe eine konsequente Abwesenheit jeglicher übergeordneter Kontinuität gibt. Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, dass das so gezeichnete Bild komplex und facettenreich ist. Während es allgemein einen Mann bei der Ausübung seiner vorübergehenden Freuden statt bei der Verfolgung eines langfristigen Ziels zeigt, gibt es auch Passagen, wo sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Abhängigkeit des Ästheten von unvorhersehbaren Wechselfällen der Stimmung oder der Umstände richtet, und wieder andere, wo die Betonung auf seinem Bedürfnis zur Wachsamkeit gegen die Bedrohungen liegt, die Langeweile und Melancholie an ihn herantragen. Keineswegs unerwartet sind es genau diese problematischen Möglichkeiten, die A’s Lebensstil innewohnen, die der Richter für seine Kritik an der umfassenden Begutachtung der ästhetischen Position heraussucht. Wo der Ästhet sich typischerweise erlaubt, zwischen den aus seiner Sicht unveränderlichen Bestandteilen seiner natürlichen Disposition hin und her zu schwanken, ist das ethisch orientierte Individuum geneigt, auf sich selbst in einem rundum ganz anderen Lichte zu blicken. Sowohl seine Motivation, als auch 911
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sein Verhalten entsprechen einem Selbstbild „dem ähnlich er sich selbst zu formen hat“, d.h. seine besondere Bereitschaft und Neigung, als ein Mensch gesehen zu werden, der seinem Willen unterworfen ist, und der in der Lage ist, sich auf die Verwirklichung von anspruchsvollen Projekten auszurichten, die widerspiegeln, was er wahrhaft zu werden hofft. Es ist genau diese Bindung an solche Projekte, die das ethische Leben mit einer Kohärenz und Selbstgenügsamkeit ausstatten, die seinem ästhetischen Widerpart offensichtlich fehlt. Kierkegaards Behandlung des Gegensatzes einer ästhetischen bzw. ethischen Lebenseinstellung in ‚Entweder-Oder‘ wird häufig als ein Echo auf die kantische Unterscheidung zwischen Neigung und Pflicht verstanden (siehe Kantische Ethik). Aber obwohl es zwischen beiden deutliche Affinitäten geben mag, gibt es doch auch bedeutsame Unterschiede. So sind Kants vorherrschend schematische Darstellungen der Motivation durch Empfindung leer im Hinblick sowohl auf eine psychologische Durchdringung, als auch auf jene literarische Verfeinerung, die Kierkegaards weitreichende Beschreibungen der ästhetischen Position aufweisen. Und vergleichbare Unterschiede zeigen sich im Falle des Ethikers. Kierkegaards Richter folgt, so könnte man sagen, dem deutschen Philosophen in der Heraushebung der Rolle des Willens, in der Art, wie er die Unabhängigkeit von kontingenten Umständen unterstreicht, und seine Fähigkeit zum ordnenden Umfang mit der Sphäre der natürlichen Neigungen auf eine Weise, die den vorrangigsten Interessen des Ethikers sehr entgegenkommt. Während Kierkegaard jedoch Kants Überzeugung von der Autonomie und mit ihm Respekt vor ihr bekundet, unterscheidet er sich darin, dass er keine moralischen Voraussetzungen in Gestalt der rein formalen Vorschriften der praktischen Vernunft postuliert. Das Selbst, das zu wählen und zu entwickeln einem jeden Individuum obliegt, ist kein abstraktes, sondern ein konkretes Selbst. Es steht in ‚umgekehrten Beziehungen‘ zu seiner wirklichen sozialen und kulturellen Umgebung, z.B. zu Dingen wie seiner Hochzeit, seinem Brotberuf und der Übernahme ziviler und institutioneller Verantwortung, die ein integraler Bestandteil der persönlichen Erfüllung im Sinne ihrer Voraussetzung sind. Ferner wird hier impliziert, dass eine solche aktive Beteiligung in sozialen Angelegenheiten, die eine unbeschränkte und innere Zustimmung zu Verhaltensstandards, die von einem sozialen Leben vorausgesetzt werden, mit sich bringen, den Gegensatz verstärken, der bereits durch den unreflektierten oder eigensinnigen sog. ‚Erfahrungsglauben‘ hervorgerufen wurde, der sich in bestimmten Äußerungen der ästhetischen Anschauung zeigt. Deshalb besteht der Richter auf dem begrifflichen Ausschluss vom Ethischen hinsichtlich allem, was immer den Geschmack des Beliebigen oder lediglich Willkürlichen hat. Zur selben Zeit weist er jedoch darauf hin, dass man sich dies nicht als irgendeine fundamentale Beschreibung der subjektiven Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums vorstellen dürfe. Denn obwohl die moralischen Voraussetzungen notwendigerweise als verbindlich behandelt werden müssen, seien sie doch nicht als Ableitung von einer Quelle zu verstehen, die „der Persönlichkeit äußerlich oder fremd ist“, sondern die vielmehr als etwas ‚Herausbrechendes‘ oder ‚Herausspringendes‘ aus dem Wesen einer solchen Persönlichkeit erfahren werden. Doch selbst wenn dies so ist, ließe sich darüber streiten, ob die internen Spannungen zwischen dem individualistischen und dem sozial konformistischen Strang, der sich in der Darstellung der ethischen Sphäre durch den Richter unterscheiden lässt, immer befriedigend gelöst werden können. Kierkegaard diskutierte einen Kon912
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text, in dem man sie auf kritische Weise entstehen sieht. Er geht dann dazu über, ein Leben in Erwägung zu ziehen, das eine Alternative zu den bislang erörterten Möglichkeiten darstellt. Diese Stufe der Existenz, die die beiden anderen transzendiert, wäre dann die religiöse. 4. Das religiöse Bewusstsein Im Zentrum von Kierkegaards Darstellung der Religion steht seine Behandlung des Begriffs des Glaubens, der ein Licht auf ein sehr bezeichnendes Merkmal seines philosophischen Standpunktes wirft. Es gibt zwei Hauptbereiche, in denen sich diese manifestieren, und in denen genau diese zentralen Unzulänglichkeiten der menschlichen Vernunft, und zwar sowohl in praktischer, als auch in theoretischer Hinsicht, betont werden. Der erste dieser Bereiche betrifft die Beschränkungen der Perspektive einer akzeptierten Moral, die auf bestimmten Ebenen oder Verbindungspunkten der Erfahrung dergestalt spürbar werden, dass sie als eine sog. ‚teleologische Aufhebung des Ethischen‘ aufgefasst werden. Die Folgen einer solchen prima facie rätselhaften Ausdrucksweise werden in ‚Furcht und Zittern‘ erforscht, einer verwickelt konzipierten Studie, in der Kierkegaards pseudonymer Autor ‚Johannes de silentio‘ als sein zentrales Thema die biblische Geschichte von Abraham und Isaac abhandelt. Johannes schildert Abraham als jemanden, der offenkundig dazu aufgerufen ist, ethische Überlegungen aus Rücksicht auf ein höheres telos (Ziel) außer Acht zu lassen, das seinen Horizont übersteigt. Eine solche Situation steht im Gegensatz zu der Zwangslage dessen, was er den ‚tragischen Helden‘ nennt, wobei diese Person jemand ist, die zu einer Wahl zwischen miteinander im Widerstreit stehenden moralischen Anforderungen gezwungen ist, die aber, wenn sie diese vornimmt, innerhalb der Grenzen ihres moralischen Geltungsbereiches bleibt. Obwohl also die Entscheidung darüber qualvoll sein kann, macht doch der Umstand, dass solche Entscheidungen trotzdem als etwas betrachtet werden können, das allgemein anerkannten Normen entspricht, die jeweilige Wahl zu etwas von dritter Seite Akzeptiertem, was auch deren Respekt erhält. Dies ist allerdings nicht so im Falle von Abraham, der als ein einsamer ‚Glaubensritter‘ einem göttlichen Befehl gehorcht, der vermutlich ihm ganz allein übermittelt wurde und einen Inhalt hat, nämlich das Töten seines eigenen Sohnes, der unvermeidlich dem eigenen Denken als empörend und unverständlich erscheinen muss. Es wird kein Versuch unternommen, den paradoxen Charakter solcher Aspekte zu mildern. Im Gegenteil, Kierkegaards Pseudonym unterstreicht, regelrecht dramatisierend, die verstörende Natur der Forderungen, die der religiöse Glaube dem Leben und der Lebensführung eines Menschen auferlegen kann. Gleichzeitig nimmt Kierkegaard die praktizierenden Kirchenmitarbeiter für ihre Lippenbekenntnisse in die Pflicht, die sie über ein Phänomen abgeben, dessen Furcht einflößende Bedeutung sie nicht richtig einschätzen, und er kritisiert auch die zeitgenössischen Religionstheoretiker wegen ihrer Konstruktion einer spezifisch transzendenten Kategorie, die sie einer sozial und im Wesentlichen säkularen Konzeption der Ethik entnommen haben. Dies führt jedoch nicht unmittelbar zu dem Vorschlag, dass die moralischen Standards und Prinzipien von einem religiösen Standpunkt aus gesehen abgeschafft oder verworfen werden sollten. Es bedeutet andererseits, dass sie aus dieser Perspektive radikal anders erscheinen, nämlich mit einem relativen statt einem absoluten Status behaftet, und wo es die persönliche 913
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Beziehung eines Menschen zu Gott ist, der überragende Bedeutung zukommt, und die Vorrang vor allen anderen Überlegungen beansprucht. Die Behauptung, dass der Glaube im religiösen Sinne dem angehört, was die Grenzen der menschlichen Rationalität und seines Verstandes übersteigt, kehrt in den beiden folgenden Schriften wieder, auf die sich Kierkegaard als seine ‚philosophischen Arbeiten‘ bezieht, nämlich die ‚Philosophischen Brocken‘ und ‚Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken‘. Hier wird die Behauptung jedoch innerhalb eines weiteren Rahmens und in Verbindung mit theoretischen Fragen betreffend die richtige Interpretation religiöser Behauptungen diskutiert. Obwohl diese Werke auch unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden, wenn auch diesmal unter einem anderen, erschienen beide Bücher unter Kierkegaards Impressum als ihrem ‚Herausgeber‘, und in jedem Falle können sie so aufgefasst werden, dass sie Standpunkte darlegen, die im Grunde seine eigenen sind. So gesehen geht aus jedem von ihnen hervor, dass der Autor die Durchführbarkeit des Versuchs, religiöse Auffassungen objektiv zu begründen, vollständig ablehnt. Die Überzeugung, dass die Existenz und das Wesen Gottes abschließend aus Quellen ermittelt werden können, die von der reinen Vernunft allein erschlossen werden, mag sich aus seiner Sicht einer langen philosophischen Karriere erfreut haben. Gleichwohl sei diese nachweislich unakzeptabel, wobei Kierkegaard sich weitgehend, wenn auch in summarischer Form und ohne ausdrückliche Zuschreibung, auf einige Einwände bezieht, die Kant gegen traditionelle Argumente von Theologen und Metaphysikern vorgebracht hatte. Auch für den Vorschlag, dass religiöse Behauptungen mit einem spezifisch historischen Charakter, wie beispielsweise jene, die sich auf die christlichen Lehren beziehen, einer Begründung auf direkt empirischem Wege zugänglich seien, war er gänzlich unempfänglich. Es sei unmöglich, sie als Repräsentanten gewöhnlicher historischer Tatsachen jener Art zu betrachten, auf die man meint, sich üblicherweise mit induktiven Standardschlüssen und -beweisen beziehen zu können. Er gab zu, dass Lessing und Hamann Denker waren, die auf unterschiedlichem Wege schon die von Letzterem aufgeworfenen problematischen Fragen hervorgehoben hatten. Vielleicht war es aber gerade Hamanns Argument in seiner ersten ‚Untersuchung‘, dass nur ein „Wunder in seiner eigenen Person“, das alle Prinzipien seines Verstandes umwirft, ein vernünftiges Wesen dazu bringen könnte, die christliche Religion willkommen zu heißen, das am auffälligsten Kierkegaards Ansatz in diesem Punkte ahnen ließ. Hume hatte seine Worte in dieser Hinsicht jedenfalls zweifellos in strikt ironischem Sinne gemeint. Selbst wenn dem so sei, so impliziert Kierkegaard, stünde es den Gläubigen offen, auf skeptische Nebenbemerkungen der oben zitierten Art zu achten oder nicht. Denn indem man die Fruchtlosigkeit von Versuchen herausstelle, die innerhalb ihres Horizonts Gegenstände zu begreifen versuchen, die außerhalb des Geltungsbereichs der Vernunft lägen, so könnte man sagen, dass solche Argumente gesunde Mahnungen dafür abgeben, was wirklich auf dem Spiele stehe. Das religiöse Bewusstsein gehöre nicht in die Sphären des unpersönlichen Urteils und der leidenschaftslosen Zustimmung, sondern im Gegenteil in jene der individuellen Wahl und des inneren Engagements. 5. Glaube und Subjektivität Kierkegaard war sicherlich nicht allein mit seinem Vorschlag, dass Autoren, die eine Begründung religiöser Überzeugung auf kognitiven Fundamenten suchten, über 914
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deren wahre Natur in größere Verwirrung gerieten als einige skeptische Kritiker solcher Überzeugungen, und dass diese deshalb eine größere Gefahr für sie darstellten. Tatsächlich hatte Kant dies wohl im Sinn, als er sagte, dass die Leugnung der Erkenntnis den Weg für den Glauben frei mache, was im Gegensatz zu dem Versuch stehe, religiösen Überzeugungen eine theoretische Grundlage zu geben, die sich doch nur als illusorisch erweisen könne (siehe Kant, I., § 4). Dennoch kam die Frage auf, welche positive Darstellung man einem solchen Glauben geben sollte, und hier rückt Kierkegaards Position von vielen anderen Denkern ab, obwohl sie seine negative Einstellung gegenüber der Durchführbarkeit eines objektiven Beweises teilten. Wie er umfänglich klar macht, war die Religion, die ihn im Kern betraf, das Christentum. Keineswegs spielte er die intellektuellen Schwierigkeiten herunter, die mit dieser Offensichtlichkeit einhergingen, vermied aber doch die speziellen Probleme, die damit einhergingen, zu betonen. Sowohl die offiziellen Vertreter des Christentums, als auch seine akademischen Apologeten hegten vielleicht die Hoffnung, diesen für einen Gläubigen rational annehmbar zu machen, aber indem sie dies hofften, machten sie sich selbst zu Opfern einer grundlegenden Fehlauffassung. Von einem objektiven Standpunkt aus gesehen ist weder Erkenntnis, und noch nicht einmal ein Verstehen hier möglich. Der richtige Weg des christlichen Gläubigen liegt vielmehr in Richtung nicht etwa der Objektivität, sondern ihres Gegenteils. Nur auf der Grundlage ihres ‚Subjektiv-Werdens‘ könne das Christentum begriffen und bedeutsam durch den Einzelnen angeeignet werden. Der Glaube, darauf bestand Kierkegaard, liege in der Subjektivität. Als solcher sei er dem Wesen nach eine Sache einer je einzelnen Lösung und innerlichen Hingabe, und keine zuschauerartige oder kontemplative Abgehobenheit, also mehr eine Sache der Leidenschaft als der Reflexion. Das sollte allerdings nicht heißen, dass man sich die Sache hierdurch leicht machen könne. Im Gegenteil, der Glaube in dem fraglichen Sinne könne nur unter großem Einsatz und mit großen Schwierigkeiten im Laufe des Lebens einer Person erreicht oder verwirklicht werden (siehe Glaube). Um zu verstehen, was hinter dieser Behauptung steht, muss man sich klarmachen, dass Kierkegaard im Großen und Ganzen zwischen zwei Ebenen oder Entwicklungsstufen unterschied, auf denen sich der religiöse Glaube manifestiere. In seiner Darstellung der ersten dieser Stufen, in der er die Kriterien bestimmt, denen ein jeder Standpunkt genügen muss, wenn er als religiöser Standpunkt gelten soll, gibt er sich große Mühe, das Element ‚objektive Ungewissheit‘ zu betonen, das Behauptungen über das Transzendente umgibt, wobei er diese Ungewissheit aus der Abwesenheit rationaler Unterstützung ableitet, auf die er bereits zuvor anspielt. Aus dieser Perspektive bringt der Glaube im Kern ein persönliches Wagnis oder Risiko mit sich, wodurch er davor bewahrt wird, sich aus den Tiefen der Angelegenheit einfach herauszuhalten. An einer Überzeugung in Anbetracht eines Mangels an objektiver Begründung oder Rechtfertigung festzuhalten ist aber nicht dasselbe, wie zu etwas seine Zustimmung zu geben, das einem als etwas erscheint, was an sich selbst der Vernunft widerspricht, also ein ‚Angriff‘ auf den Verstand selbst ist. Ferner könne man gerade im Lichte solcher Voraussetzungen sagen, dass das Glaubensniveau, dass im Christentum angestrebt werde, die „höchste Leidenschaft in der Sphäre menschlicher Subjektivität“ darstelle, die somit andere Formen religiösen Glaubens kraft der einzigartigen Art von Forderungen übersteige, die dieser Glaube einem einzelnen Geist und seiner Anschauung auferlege. 915
Kierkegaard, Søren Aabye (1813–1855)
Nach Kierkegaard liegt das Paradox der Inkarnation in der Vorstellung, dass das Ewige oder Zeitlose in die Sphäre des Endlichen und zeitlich Existierenden eingetreten ist. Dies läuft auf eine Vereinigung von Widersprüchen in einer Art und Weise heraus, die einen „Bruch mit allem Denken“ bedeuten. Ein solches Merkmal schließe es aus, dass man die Inkarnation so behandele, als könne man es durch gewöhnliche historische Untersuchungen erreichen, womit er die gelehrte biblische Forschung und Kritik als rundherum irrelevant für das, um was es hier geht, beiseite schob. Ganz abgesehen von dem spezifisch ‚approximativen‘ Status, den er der Geschichte als einem Zweig der Erkenntnis zuschrieb, widersetzt sich der Inhalt einer bestimmten zu betrachtenden ‚Hypothese‘ der Logik auf eine Weise, die den Prinzipien zuwiderläuft, allen anerkannten Erkenntnisdisziplinen zugrunde liegen. Ferner meinte er, dass der Charakter solcher Hypothesen eine weitere, entscheidende Konsequenz habe, nämlich dass es keine Grundlage für die allgemeine Annahme gäbe, dass das zeitgenössische Zeugnis über das, was in den Evangelien aufgezeichnet worden sei, bedeutsamer für die Bestätigung der Wirklichkeit der Inkarnation sei als jenes der nachfolgenden Generationen, die nur das Zeugnis der anderen hätten, um sich darauf zu verlassen. Die Annahme, dass im vorliegenden Falle der Beweis der direkten Beobachtung über dem anderweitigen Zeugnis stehe, irre darin, dass sie nicht sehe, dass keines von beiden jemals mehr sein könne als nur eine Gelegenheit für den Glauben jener Art, um den es hier gehe. Bei beiden ist ein willentlicher Glaubenssprung notwendig, und zwar einer, der einen qualitativen Übergang vom Reich des rationalen Denkens in jenes des intellektuell Unzugänglichen oder gar des ‚Absurden‘ mit sich bringe. Kierkegaards Betonung der Diskrepanz zwischen Glauben und Vernunft, für deren Überwindung es womöglich göttlicher Hilfe bedarf, reflektierte er in der kontroversen Darstellung, die er von der religiösen Wahrheit gab. Diese wurde entsprechend subjektiv interpretiert. So stellt er in einer bekannten Passage der ‚Nachschrift‘ zwei verschiedene Konzeptionen der Wahrheit gegenüber, wobei die eine sie als eine Sache der Entsprechung des Glaubens zu dem, was dort geglaubt wird, behandelt, und die andere als die spezifische Art oder Geisteshaltung, auf die sich dieser Glaube äußert. Und es ist die zweite dieser Konzeptionen, auf die er sich deutlich bezieht, wenn er erklärt, dass die ‚Subjektivität die Wahrheit‘, die Echtheit des Gefühls und die Tiefe der inneren Überzeugung, aus einer religiösen Perspektive gesehen, das entscheidende Kriterium sei. Zugegebenerweise wurde er hier manchmal für seine Tendenz kritisiert, von der Beschreibung der religiösen Wahrheit im vorstehend aufgezeigten Sinne zu der objektiven Alternative zu wechseln, was die fragwürdige Folge hat, dass die schiere Intensität des subjektiven Dafürhaltens bereits zur Beglaubigung der unabhängigen Wirklichkeit dessen, was geglaubt wird, ausreichen soll. Aber wie dem auch sei, es lässt sich vertreten, dass in diesem Zusammenhang, wie dies häufig der Fall ist, sein vorrangiges Interesse begrifflicher und phänomenologischer Art war, und nicht erkenntnistheoretischer oder rechtfertigender. Kierkegaards Hauptziel war es, das Christentum seiner eigenen Sphäre zuzuordnen, es von dem zu befreien, was er als traditionelle Fehlauffassung betrachtete, aber auch von den verfälschenden metaphysischen Theorien, denen es in seiner Zeit angeglichen werden sollte. Wenn dies bedeutete, sich mit dem zu konfrontieren, was er selbst „eine Kreuzigung des Verstandes“ nannte, so läge die einzige geeignete Antwort von dem fraglichen Standpunkt aus gesehen in einem leidenschaftlichen 916
Kierkegaard, Søren Aabye (1813–1855)
Bekenntnis zu dem notwendig paradoxen und mysteriösen Inhalt der christlichen Religion, zusammen mit einer ergänzenden Lösung zur praktischen Nachahmung des paradigmatischen Lebens ihres Gründers. 6. Psychologische Themen und Einfluss Kierkegaards Beschäftigung mit der Kategorie des Subjektiven, die wie ein roter Faden durch seine theoretischen Schriften läuft, war integral mit seiner Konzeption des Menschen als einem Individuum und selbstbestimmten Teilnehmer im ‚existenziellen Prozess‘ verbunden. Die Auffassung, dass die Freiheit und die Möglichkeit der Veränderung ein grundlegendes Merkmal des menschlichen Lebens und seiner Erfüllung darstellen, wird in seinen so genannten ‚psychologischen Schriften‘ umrissen, dem ‚Begriff der Angst‘ und ‚Die Krankheit zum Tode‘. In beiden Büchern wird die Struktur der menschlichen Persönlichkeit als Entwicklung und Willensbekundung geschildert. Der einzelne Mensch existiert in der Art und Weise des Werdens, nicht des Seins, und was er wird, ist etwas, für was er letztlich selbst verantwortlich ist. In dieser Verbindung können bestimmte tiefgreifende Einstellungen und Gefühle als etwas gesehen werden, dem besondere Bedeutung zukommt, wobei Kierkegaard einer Form von Angst einen besonderen Platz einräumt, die sich von Gefühlen wie Furcht dadurch unterscheidet, dass ihr ein bestimmter Gegenstand fehlt, und dass sie sich stattdessen auf etwas richtet, „das nichts ist“. Ein solcher Geisteszustand kann sich auf vielerlei Arten äußern; er machte jedoch klar, dass dieses grundlegende Anliegen sich auf das Bewusstsein der Freiheit bezieht. So nennt er eine bestimmte Art von Schwindelgefühl oder wirbelnde Ambivalenz zwischen Anziehung und Abgestoßensein, die uns ergreifen kann, wenn man unter bestimmten Umständen realisiert, dass es nichts Objektives gab, das uns zwang, uns für einen Handlungsverlauf statt für einen anderen zu entscheiden. In der letzten Analyse liegt das, was wir tun, allein bei uns, und von der Freiheit heißt es, dass sie „hinunter in ihre eigenen Möglichkeiten schaut“ wie in einen gähnenden Abgrund oder eine Leere. Kierkegaard glaubte, dass das psychologische Phänomen, das auf diese Weise ausgemacht wird, folgenschwere Wirkungen hat, nicht zuletzt infolge seiner Folgen für die religiösen Alternativen der Sünde und der Errettung. Auf der einen Seite steht die Geschichte von Adam und Eva für die mythische Illustration dafür, wie das erwachende Bewusstsein der Freiheit eine Angst hervorrufen kann, deren Auftreten in diesem Falle der Vorläufer der Sünde war. Andererseits kann ein solches Gefühl jedoch auch auftauchen, wenn die Möglichkeit eines qualitativen Sprunges besteht, und zwar nicht in der Sünde und Entfremdung von Gott sondern in die entgegengesetzte Richtung, nämlich hin zum Gauben und dem Versprechen, das das Christentum abgibt. Aber hier wiederholt Kierkegaard, dass ein Vorgefühl der damit verbundenen Schwierigkeiten und Opfer letzteres zu einem Weg machen, gegen den sich zu widersetzen es starke Versuchungen gibt. Er führt aus, dass die Menschen nur zu anfällig dafür seien, vor sich selbst diese Potentiale als freie Menschen zu verbergen, wobei eine solche selbst verursachte Dunkelheit als bequemer Projektionsschirm für das Nichthandeln und die Nichtveränderung diene. Der Selbstbetrug dieser Art bilde tatsächlich einen Bestandteil von vielen Arten der geistigen Verzweiflung, die Kierkegaard zwecks Analyse heraussucht, sowie als Beleg seiner Diagnose einiger verbreiteterer Typen von Unwohlsein, die er in dem sozialen und kulturellen Klima seiner Zeit entdeckte. 917
Kirchheimer, Otto
In seinem Beharren auf der Letztgültigkeit der menschlichen Freiheit und seiner dementsprechenden Aufmerksamkeit für die Vorkehrungen und Strategien, mittels derer die Menschen sich vor der Anerkennung ihrer verstörendsten Konsequenzen schützen wollen, nahm Kierkegaard Themen vorweg, die, wenn auch viel später und oft in einem explizit säkularen Zusammenhang, von einer Reihe führender Autoren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wurden (siehe Existenzialismus). Die Subjektivität und der Vorrang des Individuums, die sog. ‚Last‘ der Freiheit, der Gegensatz zwischen authentischen und nicht authentischen Weisen der Existenz, alle diese und damit assoziierte Themen wurden uns durch die Werke von existenzialistischen Philosophen wie Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger vertraut, sowie durch ihr Aufscheinen im weiteren Bereich der fiktionalen Literatur. Und dies waren nicht die einzigen Gebiete, in denen seine Ideen schließlich eine Wirkung hatten. In der Sphäre der Ethik trug seine Betonung der radikalen Wahl indirekt zum Anwachsen der nicht-kognitivistischen Werttheorien bei, während seine Konzeption des Glaubens in der Religion einen tiefen Einfluss auf die Entwicklung der modernen protestantischen Theologie hatte, die freilich auch nachvollziehbare Vorbehalte gegenüber einigen seiner extremeren Behauptungen über ihren paradoxen Charakter äußerte. Siehe auch: Hegelianismus; Religion und Wissenschaft Anmerkungen und weitere Lektüre: Kierkegaard, S.A. (1843): ‚Enten-Eller‘ (dt.: ‚Entweder-Oder‘), in zahlreichen deutschen Übersetzungen vorliegend. (Dieses Buch stellt gegensätzliche Weltanschauungen einander gegenüber, und zwar eine ästhetische und eine ethische, in der literarischen Form eines Briefwechsels, die zwei imaginären Charakteren zugeschrieben werden.) Thompson, J. (1974): ‚Kierkegaard‘. London: Gollancz. (Eine eindringliche kritische Biographie.) PATRICK GARDINER
Kirchheimer, Otto
Siehe: Frankfurter Schule
Klassifizierung Siehe: Taxonomie
Klonen
‚Klonen‘ ist die populäre Bezeichnung für das Cell Nuclear Replacement (CNR) (dt.: ‚Zellkernersetzung‘) oder den Cell Nuclear Transfer (CNT) (dt.: ‚Zellkernübertragung‘). Am CNR ist eine Empfängerzelle beteiligt, normalerweise ein Ei (Ovozyte), und eine Spenderzelle. Der Kern des Spenders wird in die Ovozyte eingeführt. Bei einer geeigneten Stimulation der Ovozyte wird diese zur Entwicklung angeregt. In einigen Fällen kann der erzeugte Embryo in einen geeigneten Uterus implantiert werden und bis zur Geburt reifen. Das erste Säugetier, das im Wege von CNR geboren wurde, war das Schaf Dolly (1996–2003). Man meinte, dass das CNR verschiedene Anwendungen finden kann, die von der Reproduktion bis zu der Behandlung von einigen der ernstesten und lebensbedrohendsten Krankheiten reicht, unter denen die Menschheit zu leiden hat (wie z.B. Krebs, Alzheimer, Parkinson, Rückenmarksschäden). Es müssen allerdings noch viele technische Probleme erforscht und gelöst werden, bevor das CNR entweder 918
Klonen
für die Therapie, oder für die Reproduktion einsetzbar wird. Obwohl die Forschung über das CNR noch in seiner Frühphase ist, ruft es (als ‚Klonen‘) eine Aufmerksamkeit bei den Menschen wie wenige andere Fortschritte in der biomedizinischen Forschung hervor. Die öffentliche Debatte über das Klonen ist unglückseligerweise mehr durch die Phantasie als durch die Wissenschaft beeinflusst. Die schreckensartigen oder absurden Szenarien, die in Romanen und Filmen dargestellt werden, werden häufig und irrtümlich als mögliche oder gar wahrscheinliche Ergebnisse des Klonens angenommen. Die internationale Gemeinschaft erließ unmittelbar nach der Geburt von Dolly Beschränkungen, die es schwer machen könnten, die eingesetzten Techniken zu verfeinern. Gegen das ‚reproduktive Klonen‘ wird praktisch überall auf ein Verbot gedrängt. ‚Reproduktives Klonen‘ wird als eine Beleidigung der menschlichen Würde angesehen, sowie als eine Bedrohung für das Wohlergehen der künftigen Kinder oder gar der Zukunft der gesamten Menschheit. Viele dieser Einwände basieren entweder auf einem Missverständnis des CNR oder auf inkonsistenten philosophischen Argumenten. Gegen das therapeutische Klonen werden ebenfalls Einwände erhoben. Die stärksten sind, dass das CNR die Erzeugung und Zerstörung von Embryos mit sich bringt, und dies wird weithin als unethisch angesehen. Vertreter dieser Position geben zu, dass, obwohl das CNR menschliches Leben retten kann, die Technik es gleichwohl erfordere, dass ein unschuldiges Leben genommen wird und somit das Äquivalent der Tötung einer Person zur Rettung einer anderen ist. Die Debatte über den moralischen Status des Embryos in der Bioethik, der Philosophie und der Theologie ist noch nicht abgeschlossen. Wenn jedoch die Argumente gegen das Töten von Embryos zu moralisch wichtigen, lebensrettenden Zwecken im CNR akzeptiert würden, dann müssten die gegenwärtigen legalen und sozialen Zusammenhänge der meisten europäischen Länder überarbeitet werden, und die Abtreibung, sowie die In-vitro-Fertilisation (IVF) müssten zu Straftaten erklärt werden. Abtreibung und IVF (die die Schaffung von Extra-Embryos mit sich bringt, die im Laufe des Verfahrens vielleicht zerstört werden) sind tatsächlich akzeptierte Praktiken in den meisten europäischen Ländern. Jene, die meinen, dass die Abtreibung, sogar in ihrer therapeutischen Form, und auch IVF akzeptabel sind, geben zu, dass es ethisch korrekt sein kann, ein Embryo zu zerstören, um entweder ein Leben zu retten oder um die Unfruchtbarkeit zu behandeln. Wird dies akzeptiert, so ist es unklar, warum es inakzeptabel sein sollte, dass Embryos verwendet werden, um sehr ernsthafte und tödliche Krankheiten (z.B. Krebs oder Parkinson) zu behandeln. Siehe auch: Angewandte Ethik; Bioethik; Genetik und Ethik; Leben und Tod; Medizinische Ethik; Fortpflanzung und Ethik Anmerkungen und weitere Lektüre: Brink, D. (1989): ‚Moral Realism and the Foundations of Ethics‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Eine einflussreiche Darstellung des amerikanischen Moralischen Realismus als Monographie.) Dancy, J. (1993): ‚Moral Reasons‘, Oxford: Blackwell. (Die einzige umfassende Darstellung des britischen Moralischen Realismus.) Sayre-McCord, G. (Hrg.) (1988): ‚Essays on Moral Realism‘, Ithaca: Cornell University Press. (Eine Sammlung einflussreicher Aufsätze von führenden Moralischen Realisten und Nicht-Kognitivisten.) JOHN HARRIS, SIMONA GIORDANO 919
Kognitivismus
Kōbō Daishi Siehe: Kūkai
Kognitivismus
Als ‚kognitive Leistungen‘ bezeichnet man die spezifischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes, im Unterschied zu den physiologischen Fähigkeiten des Gehirns. Unter die kognitiven Leistungen fällt nicht nur das Denken im engen Sinne, sondern auch die Wahrnehmung als intentionaler Akt, also als Wahrnehmen von etwas, sowie die spezifischen Leistungen, die aus dem Denken folgen, z.B. das Schlussfolgern, das Sprechen, die Fähigkeit zum bewusst normenorientierten Verhalten etc. Daraus entwickelte sich in Abgrenzung zum Behaviorismus der Kognitivismus als ein Ansatz der theoretischen Psychologie. Er ist insofern nicht-reduktiv, als die Kognitivisten die mentale Tätigkeit eines Menschen nicht auf neurophysiologische Vorgänge zurückzuführen versuchen. Die kognitivistische Psychologie geht davon aus, dass die psychische Einbettung des menschlichen Individuums in seine jeweilige Umwelt ein Prozess ist, an dessen Anfang ein Sinnesreiz steht, und an dessen Ende eine psychische Zustandsänderung oder Verhaltensreaktion liegt. Die dabei stattfindenden Vorgänge werden als Informationsverarbeitungsprozesse angesehen, die sich wiederum als Vorgänge der Auffassung, des Lernens, der Planung, der Einsicht und Bewertung, sowie der Handlungsentscheidung mit anschließendem Ausführungsimpuls typisieren lassen. Der Mensch ist demzufolge ein selbstgesteuertes Wesen, das durch kognitive Denkund Verstehensprozesse lernt und die über die Sinnesorgane wahgenommenen Reize selbstständig und aktiv verarbeitet. In der Philosophie ist der Kognitivismus im Anschluss an die psychologisch fundierte Theorieform vor allem in der Ethik von Belang. Die ethischen Kognitivisten werden manchmal auch als ‚ethische Realisten‘ oder ‚ethische Objektivisten‘ bezeichnet. Der engl. Ausdruck cognitivism (der deutsche Ausdruck ‚Kognitivismus‘ wird relativ selten verwendet) bezeichnet die philosophische Auffassung, dass ethische Sätze Aussagen (engl.: propositions) sind, und dass diese Sätze deshalb wahr oder falsch sein können. Allgemeiner gesagt bezeichnet die kognitivistische Position in einem Diskurs die Haltung, dass die Sätze, die in diesem Diskurs vorgetragen werden, kognitiver Natur sind, d.h. dass sie objektiv bedeutungsvoll und deshalb wahr oder falsch sind. Ein ethischer Naturalist und andere ethische Kognitivisten sind beispielsweise der Auffassung, dass es falsch oder richtig sein kann, dass jene Person dort ein guter Mensch ist. Es kann auch wahr oder falsch sein, dass Stehlen und Lügen immer falsch sind. Wenn jemand jedoch meint, dass eine Aussage wie: ‚Dieser Mensch dort ist eine gute Person‘ weder wahr noch falsch sein kann, dann ist derjenige, der dies meint, kein Kognitivist. Damit steht der ethische Kognitivismus vor allem im Gegensatz zu allen ethischen Theorien, die ethische Einstellungen lediglich auf subjektive Gefühle oder Empfindungen zurückführen. Einer der ersten expliziten ethischen Kognitivisten war Platon. Die Behauptung der Objektivität ethischer Aussagen wirft allerdings erhebliche und bis heute nicht abschließend gelöste Fragen auf, die zu unterschiedlichen Spielarten des ethischen Kognitivismus führten. Insbesondere ist hier die Quelle der behaupteten Objektivität ethischer Sätze von Belang; diese kann nämlich in der natürlichen Ordnung der
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Kommunikation und Intention
Dinge ausgemacht werden, oder in einer übernatürlichen und damit meist göttlichen Ordnung. In der Psychologie ist der Kognitivismus ebenfalls ein Ansatz zum Verständnis des Geistes, der davon ausgeht, dass die mentalen Funktionen als psychologisch interne und regelgebundene Manipulationen von Symbolen zu verstehen seien. Hierdurch grenzt sich der Kognitivismus in der Psychologie vor allem vom Behaviorismus ab. Siehe auch: Moralische Akteure, Moralisches Wissen, Moralischer Realismus, Moralischer Relativismus, Moralischen Empfindens, Theorien des GEORG SULTAN
Kohärenztheorie der Erkenntnis und der Rechtfertigung Siehe: Erkenntnis und Rechtfertigung, Kohärenztheorie der
Kohärenztheorie der Wahrheit
Siehe: Wahrheit, Kohärenztheorie der
Kollontai, Alexandra Siehe: Feminismus (§ 4)
Kommunikation und Intention
Der klassische Versuch, die Kommunikation aus der Sicht der Intentionen einer Person zu verstehen, die etwas äußert, wurde von Paul Grice im Jahre 1957 formuliert. Grice beschäftigte sich mit Handlungen, in denen ein Sprecher etwas durch Handlungen ausdrückt, und bei denen das, was gemeint ist, gleichermaßen falsch oder wahr sein kann. Er schaute auf das Wesen solcher Fälle bei Handlungen, die unternommen wurden, um eine Veränderung bei dem jeweiligen Empfänger zu bewirken. Grice sah, dass der Erfolg einer solchen Kommunikation davon abhängig ist, dass sie vom Publikum als Absicht des Sprechers erkannt wird. Seitdem hat es viele weitere Versuche gegeben, die Ergebnisse von Grice zu verfeinern und sie gegen verschiedene Probleme abzuschirmen. Es gab auch Befürchtungen, dass Grice’s Ansatz von einem falschen Vorrang der Psychologie vor der Semantik ausgeht, so dass er komplexe psychologische Zustände so betrachtet, als seien sie unabhängig davon, ob der Akteur ihnen im Augenblick ihres Ausdrucks eine linguistische Bedeutung zuspricht oder nicht. Siehe auch: Bedeutung und Regelbefolgung SIMON BLACKBURN
Kommunikative Rationalität
Der Begriff der ‚kommunikativen Rationalität‘ wird vor allem mit der Arbeit des Philosophen und Sozialtheoretikers Jürgen Habermas in Zusammenhang gebracht. Nach Habermas bringt sprachliche Kommunikation notwendig ‚Gültigkeitsansprüche‘ mit sich (die man nach ihrem Anspruch auf Wahrheit, Richtigkeit und Aufrichtigkeit unterscheiden kann). Deren Status kann, wenn er angefochten wird, letztlich nur durch Diskussion geklärt werden. Habermas behauptet ferner, das die Sprecher einer Sprache ein implizites Wissen um die Bedingungen besitzen, unter denen solche Diskussionen ein objektiv richtiges Ergebnis hervorbringen, und diese verstand er als die Merkmale einer egalitären ‚idealen Sprechsituation‘. Kommunikative Rationalität bezieht sich auf die Fähigkeit, sich an Argumentationen unter Bedingungen zu beteiligen, die sich dieser idealen Situation annähern – dies ist in
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Kommunismus
Habermas’ Terminologie der ‚Diskurs‘ – und zwar mit dem Ziel, einen Konsens zu erreichen. Habermas stützt sich auf den Begriff der kommunikativen Rationalität, um zu zeigen, dass demokratische Formen der sozialen Organisation mehr ausdrücken als einfach nur die Bevorzugung einer bestimmten kulturellen und politischen Tradition. Nach dieser Auffassung können wir einen Sprechakt nicht einmal verstehen, ohne eine Einstellung in Bezug auf den Gültigkeitsanspruch zu haben, den er stellt, und diese Einstellung antizipiert wiederum die unbeschränkte Diskussion, die den Status dieses Anspruchs klären soll. Soziale und politische Vereinbarungen, die solche Diskussionen verbieten, können deshalb von einem Standpunkt aus kritisiert werden, der von keiner spezifischen Wertebindung abhängt, denn für Habermas ist das Erreichen von Verständigung ein Ziel, das der menschlichen Sprache an sich innewohnt. Ein ähnliches philosophisches Programm wurde auch von Karl-Otto Apel entwickelt, der ein größeres Gewicht auf die ‚transzendentalen‘ Merkmale der jeweiligen Argumentation legt. Siehe auch: Apel, K.-O. ; Habermas, J. PETER DEWS
Kommunismus
Dem Kommunismus liegt die Überzeugung oder der Wunsch zugrunde, dass eine Gesellschaft ohne Privateigentum eingerichtet sein sollte, d.h. dass alles Produktiveigentum gemeinschaftlich, entweder von der öffentlichen Hand oder gemeinsam gehalten werden sollte. Ein kommunistisches System ist eines, das auf einer Gütergemeinschaft beruht. Er wird im Allgemeinen als eine positive Alternative zum wirtschaftlichen Wettbewerb dargestellt, von dem es heißt, es sei ein System, das die Menschen entzweit. Der Kommunismus soll stattdessen die Menschen zusammenführen und dazu beitragen, dass sie eine friedliche Gemeinschaft bilden. In den meisten Fällen setzen sich die Vertreter des Kommunismus dafür ein, dass der Wettbewerb durch Kooperation ersetzt werden soll, und zwar entweder um ihrer selbst willen oder zur Förderung eines Zieles wie z.B. der Gleichheit, oder um eine bestimmte Personengruppe freizustellen, damit sie einem höheren Ideal dienen kann, beispielsweise einem Gottesstaat. Das Wort ‚Kommunismus‘ scheint zuerst in dem oben genannten Sinne in Frankreich in den 1840er Jahren verwendet worden zu sein und bezog sich auf die Ideen von Denkern wie z.B. Françoise Émile Babeuf (1760–1797) und Étienne Cabet (1788–1856), die sich beide für die Kollektivierung allen Produktiveigentums einsetzten. Das Konzept ist jedoch sehr alt. Frühe Fassungen einer Gütergemeinschaft existieren in Mythen, die die ältesten Stufen menschlicher Kultur beschreiben; sie waren ein wichtigeres Thema im antiken Athen, ein Schlüsselelement der Klosterbewegung, und wurden die Grundlage einer umfassenden Kritik des industriellen Kapitalismus. Das Wort ‚Kommunismus‘ wurde später mit den Lehren von Karl Marx (§ 12) und seinen Nachfolgern assoziiert und bezeichnete im Anschluss an bestimmte gesellschaftliche Beispiele schließlich ein autoritäres politisches System in Kombination mit einem zentralisierten Wirtschaftssystem, das vom Staat geführt wird. Diese Form des Kommunismus wurzelt in der früheren Idee, denn das letzte Ziel des Kommunismus, wie Marx ihn sah, ist eine Gesellschaft, in der Güter an die Menschen auf der Basis ihrer Bedürfnisse verteilt werden. Die ältere Verwendung des 922
Kommunismus
Wortes besteht allerdings weiter, auf dessen Grundlage sowohl der Kapitalismus, als auch der marxistische Kommunismus kritisiert werden. Die Idee des Kommunismus als kollektiv besessenes Eigentum erscheint in der westlichen Tradition das erste Mal im klassischen Griechenland. Platons Politeia (‚Der Staat‘) enthält eine bemerkenswerte, frühe Verteidigung (siehe Platon § 14) dieser Idee. Bereits vor dieser Worterfindung sind bedeutendere kommunistische Theorien in einigen Teilen der christlichen Bibel, in der mittelalterlichen Klosterbewegung und in Thomas Morus ‚Utopia‘ von 1516 zu finden. In allen diesen Fällen ist die Grundlage für das kollektive Eigentum, dass Mitglieder der Gesellschaft von der Notwendigkeit befreit werden, ihre Zeit zum Lebensunterhalt oder zur Sorge um ihr privates Eigentum zu verwenden, so dass sie sich wichtigeren Dingen widmen können wie z.B. der Sorge um Erkenntnis, Gott oder persönliche Erfüllung. Die Annahme dahinter ist, dass die Bedürfnisse zum Unterhalt seiner selbst oder der eigenen Familie dem im Wege steht, was als wichtiger erachtet wird. Beispielsweise setzt sich Platon in der ‚Politeia‘ für die Abschaffung der Familie ein, weil er fürchtet, dass die Familienbande den Einzelnen sowohl von höheren Dingen abhalten, als auch die Menschen zur Bevorzugung einer Gruppe (nämlich ihrer Familienmitglieder) vor anderen (nämlich denjenigen, die nicht zu ihrer Familie gehören) verführen. Im klösterlichen Kommunismus, der ebenfalls die Familie abschafft, besitzt die Gemeinschaft sämtliches Eigentum, und jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft besitzt gar nichts, nicht einmal seine Kleider. Alles wird für jede Nonne und jeden Mönch von der Gemeinschaft bereitgestellt. Sie sind daher von der Bürde des Eigentums befreit, um sich Gott widmen zu können. In Thomas Morus’ ‚Utopia‘ sind alle Häuser und ihre Möblierung so gleich wie möglich gestaltet, und weil die Orte nicht identisch sein können, bewegen sich die Menschen von Haus zu Haus in einer regulären Rotation. Später legten säkularisierte Fassungen des Kommunismus auf die gerechte (nicht mehr unbedingt gleiche) Verteilung oder zumindest den gerechten Zugang zu den Ressourcen Wert, aber das zugrunde liegende Prinzip ist recht ähnlich. Statt der Befreiung einiger oder sogar aller Menschen einer Gesellschaft, damit sie sich einer höheren Sache widmen können, wird der säkulare Kommunismus dazu entworfen, allen Menschen zu erlauben, ihrer persönlichen Erfüllung nachgehen zu können. Dies veranschaulicht vielleicht am besten ein Spruch von Karl Marx, der zuerst auf der Titelseite von Cabets ‚Voyage en Icarie‘ (1840) veröffentlicht wurde: „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Mit anderen Worten, jede Person steuert zur Gesellschaft nach besten Kräften auf den Gebieten etwas bei, auf denen er etwas zu leisten vermag, und im Gegenzug versorgt ihn die Gesellschaft entsprechend seiner grundlegenden Bedürfnisse. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass alle Menschen es verdienen, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden, einfach weil sie Menschen sind. Unterschiedliche Fähigkeiten und Talente lassen eine Person nicht mehr verdienen als eine andere. Ein spezieller Fall ist die Annahme seitens der meisten kommunistischen Theoretiker, dass es keinen Unterschied in der Behandlung zwischen jenen geben sollte, die ihren Beitrag zur Gesellschaft in Form körperlicher Arbeit leisten, und jenen, die dies durch geistige Arbeit tun. Beispielsweise veröffentlichte Edward Bellamy 1888 das Buch ‚Looking Backward‘, einen utopischen Roman, der umgehend zum Verkaufsschlager wurde und eine weltweite Bewegung hervorrief. In diesem Buch setzt sich Bellamy für ein absolut gleiches 923
Kommunismus
Einkommen für alle Mitglieder der Gesellschaft ein, das dann von jedem Einzelnen verwendet werden kann, um die von ihm gespürten Bedürfnisse zu befriedigen. Einen Ansatz, den viele dahingehend ausgerichtete Gemeinschaften verfolgen, ist es, der Gruppe die kollektiven oder sozialen Entscheidungen (entweder durch Konsens oder durch Mehrheitsentscheid) über wirtschaftliche Angelegenheiten zu überlassen, die die Gemeinschaft betreffen, aber ansonsten jedes Mitglied der Gemeinschaft mit einem gesonderten Einkommen auszustatten, das es nach seinen Wünschen verwenden kann. Marx übernahm wesentliche Aspekte dieses Ansatzes für die Stufe sozialer Entwicklung, die er ‚vollen‘ oder ‚reinen‘ Kommunismus oder einfach ‚Kommunismus‘ nannte. Die nicht entfremdeten Menschen dieses zukünftigen Kommunismus würden eine Welt erschaffen, in der man das Einkommen auf der Basis von Bedürfnissen verteile (siehe Marx, K. § 4). Da jeder ein produktiver Werktätiger sein will, würde es keine Klassen mehr geben; und weil es keinen Bedarf an politischer Macht mehr zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft gibt, wird der Staat stufenweise verschwinden und durch dezentrale, unpolitische Verwaltungsstellen ersetzt werden. Da jedermann arbeiten will, wird die Produktivität hoch sein, und folglich wird es genug für alle geben. In Anbetracht der veränderten sozialen Situation werden die Menschen anders zu denken beginnen, und die sozialen Unterscheidungen zwischen den Beschäftigungsarten und zwischen Stadt und Land werden verschwinden. Diese Form des Kommunismus ist also in ihren wesentlichen Merkmalen identisch mit der frühesten kommunistischen Tradition. Zumindest ein größerer marxistischer Denker des 20. Jahrhunderts, Ernst Bloch (1885–1977) hat in seinem Werk ‚Das Prinzip Hoffnung‘ (1959) gefordert, dass genau dieses utopische Ziel als der Kern der marxistischen Theorie betrachtet werden sollte (siehe Utopismus). Während der Marxismus und seine Fassung des Kommunismus vorwiegend eine andere Richtung einschlug, verschwand die grundlegendere und historisch ältere Theorie keineswegs. Nichtmarxistische Formen des kollektiven Eigentums bestanden und wurden als Teil der Gemeinschaftsbewegung verteidigt, die am besten durch die israelischen Kibbuzim und die US-amerikanische Gemeinschaftsbewegung des frühen 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts, und ferner durch einige Formen des Anarchismus repräsentiert werden (siehe Anarchismus). Der Kommunismus als Gemeinschaftseigentum und als die Vision eines besseren Lebens für alle ist eine immer noch lebendige Tradition. Die Argumente gegen den Kommunismus haben unterschiedliche Formen. Das einfachste stützt sich auf Annahmen über die menschliche Natur, die radikal von denen der Befürworter des Kommunismus abweichen. Dabei wird davon ausgegangen – mit geringer wirklicher Evidenz – dass die Menschen ‚von Natur aus‘ konkurrent veranlagt seien, und der Kommunismus deshalb nicht funktionieren könne (siehe Natur des Menschen § 1). Eine entwickeltere Analyse wendet ein, dass der Kommunismus notwendigerweise wirtschaftlich ineffizient sei und deshalb nicht in der Lage sein werde, einen so hohen Lebensstandard zu schaffen wie ein nicht-kommunistisches System. Einige gehen so weit zu behaupten, dass der Kommunismus sich über längere Zeit unmöglich halten könne, weil seine Ineffizienz so groß sei, dass das Wirtschaftssystem früher oder später zusammenbrechen müsse. Selbstverständlich ist die wirtschaftliche Effizienz auf der Werteskala der meisten Unterstützer des traditionellen Kommunismus ziemlich weit unten angesiedelt. Befürworter des 924
Kommunitarismus
Kommunismus haben im Allgemeinen die Einstellung, dass die wirtschaftliche Effizienz ein Merkmal des Wettbewerbssystems ist, dem sie widersprechen, und dass dies einer kooperativen Gemeinschaft, die sie anstreben, im Wege steht. Heute glauben viele, dass die Zeiten des Kommunismus vorbei sind, vor allem deshalb, weil der marxistische Kommunismus in weiten Teilen der Welt diskreditiert ist. Der Kommunismus kann aber nicht auf seine marxistische Fassung reduziert werden und wurde dies auch nie. Im Grunde ist er die wirtschaftliche Basis für den Traum von der vollständigen menschlichen Erfüllung, sei es in Gestalt klösterlicher Ordnungen, gewillkürter Gemeinschaften oder ganzer Gesellschaften. Dieser Traum besteht fort, und mit ihm die Ideale des Kommunismus. Siehe auch: Gleichberechtigung; Sozialismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Cole, G.D.H. (1953–1956): ‚A History of Socialist Thought‘, London: Macmillan, 5 Abt. in 7 Bänden. (Eine allgemeine Geschichte der meisten Varianten des kollektiven Eigentums.) Dawson, D. (1992): ‚Cities of the Gods: Communist Utopias in Greek Thought‘, New York: Oxford University Press. (Zu frühen Entwicklungen des Kommunismus.) Wiles, P.J.D. (1962): ‚The Political Economy of Communism‘, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Enthält eine wertvolle Diskussion des sog. ‚vollen‘ oder ‚reinen‘ Kommunismus.) LYMAN TOWER SARGENT
Kommunitarismus
Siehe: Gemeinschaft und Kommunitarismus
Komödie
Im engsten Sinne des Ausdrucks ist die Komödie ein Drama, das uns zum Lachen bringt und ein glückliches Ende hat. Im weiteren Sinne ist es auch humorvolle, erzählende Literatur mit einem glücklichen Ende. Im weitesten Sinne umfasst die Komödie jedes literarische oder graphische Werk, jede Performance oder jedes sonstige Kunstwerk, das uns amüsieren soll. Die Komödie hatte ihren Ursprung ungefähr zur selben Zeit wie die Tragödie, und weil beide Haltungen gegenüber grundlegenden Fragen des Lebens repräsentieren, ist es nützlich, sie zusammen zu betrachten. Unglücklicherweise diskriminiert eine Reihe von Vorurteilen die Komödie zugunsten der Tragödie. Es gibt vier Standardvorwürfe gegen die Komödie: sie betone die animalischen Aspekte des menschlichen Lebens, ermutige zur Respektlosigkeit gegenüber den Führern und den Institutionen, basiere auf der Bösartigkeit und gefährde unsere Moral. Diese Vorwürfe sind leicht zu widerlegen, denn keiner von ihnen greift etwas heraus, was gleichzeitig der Komödie wesentlich und an sich selbst lasterhaft ist. Tatsächlich kann man, sobald man diese traditionellen Vorurteile beiseite lässt, viele der Unterschiede zwischen der Tragödie und der Komödie als Vorteile der Komödie betrachten. Während beispielsweise die Tragödie zur Idealisierung und zum Elitismus neigt, neigt die Komödie zum Pragmatismus und zum Egalitarismus. Während die Tragödie die Ehre hoch schätzt, und zwar sogar mehr als das Leben selbst, gibt die Komödie wenig auf die Ehre und betont stattdessen das Überleben. Tragische Helden bewahren ihre Würde, sterben allerdings dabei; komische Charaktere verlieren ihre Würde, aber leben weiter, um die Geschichte zu Ende zu erzählen. Ganz allgemein feiert die 925
Kompositionalität
Komödie die geistige Beweglichkeit und eine realistische Einschätzung der Grenzen des menschlichen Lebens. In der komischen Sicht des Lebens steckt, kurz gesagt, viel Weisheit. Siehe auch: Bergson, H.-L.; Humor; Tragödie JOHN MORREALL
Kompositionalität
Eine Sprache ist kompositional, wenn die Bedeutung eines jeden ihrer komplexen Ausdrücke (z.B. ‚schwarzer Hund‘)sowie seine Syntax vollkommen durch die Bedeutung seiner Teile bestimmt ist (‚schwarz‘, ‚Hund‘). Die Grundsätze der Kompositionalität sorgen für eine präzise Formulierung dieser Idee. Eine kompositionale Semantik für eine Sprache ist eine (finite) Theorie, die erklärt, wie semantisch wichtige Eigenschaften wie z.B. Wahrheitsbedingungen durch die Bedeutungen von Teilen und Syntax bestimmt werden. Angenommen, das Deutsche zeichnete sich durch eine kompositionale Semantik aus, so würde dies bei der Erklärung helfen, wie in ihren Fähigkeiten beschränkte Geschöpfe, wie wir es sind, es schaffen, die unendliche Zahl möglicher deutscher Sätze zu verstehen. Ob menschliche Sprachen tatsächlich kompositional sind, ist jedoch umstritten. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Semantik; Zusammenhang MARK RICHARD
Konditionale
Siehe: Kontrafaktische Konditionale
Konföderalismus
Siehe: Föderalismus und Konföderalismus
Konfuzianische Analekten Siehe: Konfuzius
Konfuzianische Philosophie, Chinesische
Die chinesische konfuzianische Philosophie ist überwiegend eine Menge ethischer Vorstellungen, die praktisch orientiert sind. Typischerweise betont sie die traditionellen Grenzen der ethischen Verantwortung und das Tao, bzw. das Ideal des guten menschlichen Lebens als einem Ganzen. Man kann sie in Anbetracht ihrer Konzeption als Tao und Te (die Tugend) als eine Tugendethik betrachten. Die Begriffe, die den Rahmen der konfuzianischen Ethik beschreiben, sind solche der grundlegenden Tugenden wie z.B. Ren (das Wohlwollen), Yi (die Gerechtigkeit), und Li (der Anstand, die Sitten). Es gibt auch Begriffe abhängiger Tugenden wie z.B. der Respekt vor Eltern und Vorfahren, Loyalität, Respekt und Integrität. Grundlegende Tugenden werden als fundamental betrachtet, als führend oder handlungsleitend, kardinal und vollkommen umfassend. Im klassischen konfuzianischen Sinne gehört Ren zum liebevollen Bemühen um das Wohlsein von Gefährten in der Gemeinschaft. Besonders Ren wird oft in einem erweiterten Sinne von Song- und Ming-Konfuzianern als austauschbar mit Tao für das Ideal des Universums als einer Moralgemeinschaft verwendet. Yi gehört zum Sinn der Gerechtigkeit, das speziell ausgeübt wird, wenn man mit wechselnden Umständen des Lebens fertig zu werden hat, also solche Situationen, die aus dem Bereich von Li herausfallen. Li konzentriert sich auf Regeln und richtiges Verhalten; diese haben die drei Funktionen ‚begrenzen‘, ‚unterstützen‘ und ‚erheben‘. Das heißt, das Li definiert die Grenzen des richtigen
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Konfuzianische Philosophie, Chinesische
Verhaltens, verschafft innerhalb dieser Grenzen den moralischen Akteuren Gelegenheiten zur Erfüllung ihrer Wünsche und stärkt die Entwicklung nobler Charaktere, die die kulturelle Verfeinerung und die gemeinschaftlichen Angelegenheiten deutlich verkörpern. Das Li ist der Vorrat der Einsichten der konfuzianischen Tradition als einer lebenden ethischen Tradition. Diese Tradition ist Gegenstand wechselnder Interpretation, die durch die Übung des Quan oder das Abwägen von Umständen geleitet werden, die ihrerseits durch den Sinn für Gerechtigkeit geformt sind (Yi). Jedoch wird die übliche konfuzianische Berufung auf historische Ereignisse und paradigmatische Einzelpersonen kritisiert, weil es ihr angeblich an Verständnis für den ethischen Nutzen einer solchen Berufung auf historische Gestalten bzw. Ereignisse mangelt. Der pädagogische Nutzen betont das Studium der Klassiker als dem Standardfall des Ren, Yi und Li. Lernen ist allerdings nicht nur der reine Erwerb von Wissen, sondern erfordert Verständnis und Einsicht. Auch das begleitende Studium paradigmatischer Einzelpersonen ist wichtig, nicht nur deswegen, weil sie Modelle zum Nacheifern abgeben, sondern auch, weil sie sozusagen exemplarische Personifikationen des Geistes von Ren, Yi und Li sind. Überdies fungieren sie als Mahnungen für das moralische Lernen und die Führung, die sich speziell auf das beruft, was als reales Interesse des Lernenden selbst erachtet wird. Der rhetorische Gebrauch der Berufung auf historische Gestalten bzw. Ereignisse ist im Grunde eine Berufung auf plausible Annahmen oder gemeinsame Überzeugungen und Vertrauenswürdigkeit. Diese Annahmen sind Gegenstand einer weiteren Herausforderung, aber sie können als Startpunkt eines Diskurses akzeptiert werden. Der aufklärende Gebrauch der Berufung auf Historisches gibt vor, die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart zu klären. Vielleicht am wichtigsten für den argumentativen Diskurs ist die bewertende Funktion der Berufung auf Historisches. Dieser Diskurs fokussiert sich auf unser Wissen und das Verständnis unserer gegenwärtig problematischen Situationen, indem er dessen Grundlage zur Geltendmachung ungeprüfter Ansprüche in der Vergangenheit ausmacht, und präsentiert sich somit als ein Führer für die Gegenwart. Daher ist sowohl die aufklärende, als auch die bewertende Berufung auf Historisches im Hinblick auf eine ‚evidente‘ Begründung ethischer Ansprüche kritisch und aufmerksam zu betrachten. Wegen seiner vorrangig ethischen Orientierung und seinem Einfluss auf das traditionelle chinesische Leben und sein Denken nimmt der Konfuzianismus einen herausragenden Platz in der Geschichte der chinesischen Philosophie ein. Das Herz des konfuzianischen Denkens bilden die Lehren des Konfuzius (551–479 v. Chr.), die in den Analekten (Lunyu) enthalten sind, zusammen mit den brillanten und von seinem Vorgänger abweichenden Beiträgen von Mencius (372?–289 v.Chr.) und Xunzi (ca. 298–238 v. Chr.), sowie wie das Daxue (‚Großes Lernen‘) und die Zhongyong (Lehre vom Mittel), die ursprünglich einige Kapitel im Buch Liji (Buch der Riten) waren. Bedeutende und originelle Entwicklungen, speziell im Verein mit einer quasi-metaphysischen Linie, findet man in den Arbeiten von Zhou Dunyi (1017–1073), Zhang Zai (1020–1077), Cheng Hao (1032–1085), Cheng Yi (1033–1107), Zhu Xi (1130–1200), Lu Xiangshan (1139–1193) und Wang Yangming (1472–1529). Li Gou (1009–1059), Wang Fuzhi (1619–1692) und Dai Zhen (1723–1777) haben ebenfalls erwähnenswerte Beiträge zur kritischen Entwicklung der konfuzianischen Philosophie geleistet. Im 20. Jahrhundert hat die Wiederbelebung und Umformung der konfuzianischen Philosophie neuen Schwung als Antwort 927
Konfuzius (551–479 v.Chr.)
auf die westlichen philosophischen Traditionen bekommen. Wichtige Forschritte wurden durch Feng Youlan, Tang Junyi, Thomé H. Fang und Mou Zongsan erzielt. Die meisten der kürzlich vorgelegten Arbeiten als kritische Rekonstruktionen sind durch ein etwas schüchternes Interesse an der analytischen Methodologie und der Hinwendung zum Existenzialismus, zur Phänomenologie und zur Hermeneutik gekennzeichnet. Es mangelt aber immer noch an einer umfassenden und systematischen konfuzianischen Theorie, die sowohl über die Geschichte als auch die Probleme der westlichen Philosophie informiert ist. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, Chinesische; Chinesische Philosophie; Konfuzius; Daoistische Philosophie, Familie, Ethik und die; tugendethik; Wang Yangming; Xunzi A.S. CUA
Konfuzius (551–479 v.Chr.)
Konfuzius ist vermutlich der einflussreichste Philosoph der menschlichen Geschichte – er ist es noch heute, denn wenn man die chinesische Philosophie an sich selbst betrachtet, so ist er immer noch sehr wirksam. Er ist als Chinas erster Lehrer, sowohl zeitlich, als auch hinsichtlich seiner Wirkungsmächtigkeit, anerkannt. Seine Ideen waren der fruchtbare Boden, auf dem die chinesische kulturelle Tradition wuchs und blühte. Tatsächlich ist diese, was wir mit ‚chinesischer Kultur‘ auch immer meinen, ungefähr zweieinhalbtausend Jahre nach seinem Tod unlöslich mit dem Beispiel und dem persönlichen Charakter verbunden, den Konfuzius der Nachwelt hinterließ. Sein Einfluss war auch nicht auf China beschränkt; alle sinitischen Kulturen, speziell Korea, Japan und Vietnam, haben Lebens- und Denkformen entwickelt, die von der Klugheit dieses Weisen abgeleitet sind. Bereits einige Jahrhunderte bevor Platon seine Akademie gründete, um Staatsmänner für das politische Leben Athens zu trainieren, hatte Konfuzius eine Schule mit dem ausdrücklichen Zweck eingerichtet, dort die nächste Generation für die politische Führung auszubilden. So wie sein Lehrplan ist auch Konfuzius als Person anerkannt, da er während seines ganzen Lebens das verfasste, was zur chinesischen Klassik wurde, d.h. eine Sammlung von Dichtungen, Musik, historischen Dokumenten und Annalen, die zeitgeschichtliche Ereignisse am Hofe des Lu wiedergaben, sowie einen ausführlichen Kommentar über das ‚Yijing‘ (Buch der Wandlungen). Diese klassischen Werke lieferten seinen Studenten ein gemeinsames kulturelles Vokabular und wurden zum Standard-Lehrstoff für die chinesischen Gelehrten der folgenden Jahrhunderte. Konfuzius begann mit seiner Tätigkeit als unabhängiger Philosoph, indem er von Staat zu Staat reiste und sich bemühte, deren politischen Führer zu überzeugen, dass ihre jeweiligen eigenen Lehren eine praktikable Methode für den sozialen und politischen Erfolg seien. In den Jahrzehnten, die auf seinen Tod folgen, machten sich Intellektuelle aller Couleur, d.h. Konfuzianer, Legalisten, Mohisten, Yin-Yang-Theoretiker, Militärs, ebenfalls auf den Weg, angezogen von Hofakademien, die sie gerne aufnahmen. Innerhalb dieser Lernzentren wurde die Machbarkeit ihrer verschiedenen Strategien zur Erreichung der politischen und sozialen Einheit heiß debattiert. D.C. LAU, ROGER T. AMES
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Konnektionismus
Konnektionismus
Der Konnektionismus ist ein Berechnungsansatz, der sich auf konnektionistische Netzwerke stützt. Ein konnektionistisches Netzwerk besteht aus informationsverarbeitenden Einheiten (oder ‚Knoten‘); typischerweise verarbeiten viele Einheiten Informationen gleichzeitig, was eine massive, parallel verteilte Verarbeitung auslöst. Die Verarbeitungseinheiten verarbeiten ihre jeweilige Information nur lokal; sie antworten nur auf ihre spezifischen Eingabesequenzen mittels Veränderung oder Zurückhaltung von deren Auslösewerten, und sie beeinflussen kausal die Auslösewerte ihrer Ausgabeeinheiten, indem sie eine Anzahl von Auslösern an ihre Verbindungen mit unterschiedlichen Gewichten und Stärken übertragen. Als Ergebnis einer solchen lokalen Prozessoreinheit können sich Netzwerke selbst auf regelartige Weise zur Berechnung von Funktionen verhalten. Das Studium des konnektionistischen Berechnens ist seit den frühen 1980er Jahren sehr schnell angewachsen und dehnt sich nunmehr auf alle Gebiete der kognitiven Wissenschaften aus. Für die Philosophie der Psychologie liegt das primäre Interesse an der konnektionistischen Berechnungsweise in ihrer potentiellen Rolle bei der Theorie der Berechnung von Kognitionen, d.h. der Theorie, derzufolge kognitive Prozesse berechenbar sind. Netzwerke werden beim Studium der Wahrnehmung, der Erinnerung, des Lernens und der Kategorisierung eingesetzt, und es wurde bereits behauptet, dass der Konnektionismus das Potenzial besitzt, um zur Alternative der klassischen Auffassung der Kognition als einem Prozess regelgesteuerter Symbolmanipulation aufzurücken. Weil die kognitiven Fähigkeiten sich im zentralen Nervensystem entfalten, ist vielleicht das attraktivste Merkmal des konnektionistischen Ansatzes der neuronenartige Aspekt seiner Netzwerkarchitektur. Die Mitglieder einer bestimmten Familie konnektionistischer Netzwerke, d.h. künstliche neuronale Netzwerke, haben sich als ein wertvolles Hilfsmittel für die Erforschung der Informationsverarbeitung innerhalb des Nervensystems erwiesen. In künstlichen neuronalen Netzwerken sind die Prozesseinheiten neuronenartig, die Verbindungen axonartig, und die Gewichte der Verbindungen funktionieren ähnlich wie die Synapsen. Ein anderes anziehendes Merkmal der konnektionistischen Netzwerke ist, dass sie mit ihren Prozessoreinheiten sensibel für unterschiedliche Stärken mehrfacher Eingaben (Inputs) sind, auf natürliche Weise ‚multiple soft constraint satisfaction‘Aufgaben erledigen, d.h. den Umfang bewerten, in dem eine Mehrheit nicht strikt verpflichtender, gewichteter Beschränkungen erfüllt werden. Aufgaben dieser Art ergeben sich bei der motorischen Kontrolle, bei basalen Sehprozessen, bei der Erinnerung und in der Kategorisierung und der Mustererkennung. Überdies können typische Netzwerke sich selbst reprogrammieren, indem sie die Gewichte ihrer Verbindungen zwischen ihren Prozesseinheiten anpassen und dadurch in eine Art von ‚Lernen‘ geraten. Und sie können dies sogar auf der Grundlage von ‚verrauschten‘ oder unvollständigen Daten leisten, die Menschen üblicherweise vorfinden. Die potentielle Rolle konnektionistischer Architekturen in der Berechnungstheorie der Kognition ist jedoch noch unklar. Eine Möglichkeit bestünde darin, dass die kognitive Architektur eine ‚gemischte‘ ist, d.h. aus klassischen und konnektionistischen Modulen besteht. Die am meisten diskutierte Auffassung ist jedoch, dass die kognitive Architektur durch und durch konnektionistisch ist. Die grundsätzliche Herausforderung für diese Auffassung ist, dass eine angemessene kognitive Theorie 929
Konsequenzialismus
hochkomplexe kognitive Phänomene erklären können muss, wie z.B. die Systematizität des Denkens (beispielsweise die Verknüpfung, dass jemand, der denken kann: ‚Der Hund jagt die Katze‘, auch denken kann: ‚Die Katze wird vom Hund gejagt.‘) und seine Produktivität (unsere Fähigkeit zum Denken einer potenziell unendlichen Anzahl verschiedener Gedanken), sowie seine Fähigkeit zur Schlusskohärenz (die Menschen können ‚p‘ aus ‚p und q‘ schließen). Es wurde eingewandt, dass eine konnektionistische Architektur solche Phänomene nur erklären kann, wenn sie eine klassische, sprachartige, symbolische Architektur implementiert. Ob dies der Fall ist, und ob es überhaupt solche Phänomene zu erklären gibt, sind Fragen gegenwärtiger und intensiver Debatten. Siehe auch: Modularität des Geistes BRIAN P. MCLAUGHLIN
Konsequenzialismus Einführung Der Konsequenzialismus bewertet die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen nach dem Wert ihrer Konsequenzen. Die populärste Fassung des Konsequenzialismus ist der Handlungskonsequenzialismus, der behauptet, dass von allen Handlungen, die einem Akteur zur Verfügung stehen, jene die richtige ist, die am meisten Gutes bewirkt. Der Handlungskonsequenzialismus steht in dreierlei Hinsicht im Widerspruch zum alltäglichen moralischen Denken. Erstens scheint er zu anspruchsvoll zu sein, denn das Erfordernis einer Weltverbesserung würde alle unsere Zeit und Kräfte in Anspruch nehmen; zweitens lässt sie keinen Raum für spezielle Pflichten, die wir selbst unseren Nächsten gegenüber übernehmen, d.h. unserer Familie, unseren Freunden und Mitbürgern gegenüber; und drittens mag er unter Umständen von uns verlangen, dass wir schreckliche Dinge tun, um ein gutes Ergebnis zu bewirken. Normalerweise versuchen die Konsequenzialisten, ihre Theorie dadurch in Übereinstimmung mit dem alltäglichen Denken zu bringen, dass sie ihre Theorie auf eine von zwei Arten ändern: Der indirekte Handlungskonsequenzialismus behauptet, dass wir nicht notwendigerweise darauf aus sein sollten das zu tun, was richtig ist. Wir kämen dem Ziel, die Welt besser zu machen, als sie ist, vielmehr durch ein Verhalten näher, dass mehr mit dem alltäglichen Moraldenken einhergeht. Der Regelkonsequenzialismus meint dagegen, dass eine Handlung richtig sei, wenn sie eine Reihe von Regeln erfülle, durch deren allgemeine Akzeptanz sie am stärksten das Gute fördere. Solche Regeln würden eine starke Ähnlichkeit zu jenen moralischen Regeln aufweisen, nach denen wir gerade handeln. 1. Handlungskonsequenzialismus 2. Kritik des Handlungskonsequenzialismus 3. Indirekter Handlungskonsequenzialismus 4. Regelkonsequenzialismus 1. Handlungskonsequenzialismus Obwohl der Ausdruck ‚Handlungskonsequenzialismus‘ erst relativ kürzlich geprägt wurde – er scheint in seiner gegenwärtigen Bedeutung das erste Mal von Anscombe gebraucht worden zu sein – bezieht er sich auf einen Theorietyp, der eine 930
Konsequenzialismus
lange Geschichte hat. Der Konsequenzialismus baut auf etwas auf, was man als reine Trivialität empfinden könnte, nämlich dass die Moralität sich um eine Verbesserung des Lebens aller in dieser Welt bemüht. Konsequenzialistische Überlegungen spielen sicherlich eine wichtige Rolle in öffentlichen Fragen. Strafrechtliche, wirtschaftliche oder ausbildungsbezogene Programme werden üblicherweise nach den guten oder schlechten Folgen ihrer Ergebnisse beurteilt. Alle Moraltheorien bieten eine Darstellung sowohl des Richtigen, als auch des Falschen an. Sie alle sagen uns sowohl, was eine Handlung zu einer falschen oder richtigen macht, und was für Arten von Dingen gut oder wertvoll sind. Konsequenzialistische Theorien bewerten typischerweise, ob eine Handlung richtig ist, nach dem Umfang des Guten, das sie hervorbringt (siehe § 4). Deontologische ethische Theorien meinen dagegen, dass das Richtige unabhängig vom Guten ist: bestimmte Arten von Handlungen sind falsch, und andere richtig, unabhängig von ihrer Gutheit oder Schlechtigkeit oder überhaupt ihren Konsequenzen (siehe Deontologische Ethik; Kantische Ethik; Gute und Richtige, Das). Handlungskonsequenzialismus als die einfachste Form der Theorie, behauptet, dass die richtige Handlung, also diejenige, die man unternehmen sollte, diejenige ist, die im Verhältnis von guten und schlechten Konsequenzen die größte Bilanz an Gutem vorzuweisen hat, d.h. diejenige, die das Gute maximiert. (Dort, wo zwei oder mehr Handlungen sich als gleich gut herausstellen, hat man das Recht, frei zwischen ihnen zu wählen.) Welche Handlung tatsächlich die richtige ist, hängt davon ab, was für eine Darstellung des Guten die jeweilige Theorie des Handlungskonsequenzialismus bietet. Eine Theorie des Guten ist eine Darstellung jener Dinge, die innerlich gut sind, gut an sich selbst, und nicht nur gut als ein Mittel für irgendetwas anderes, das gut ist (siehe Guten, Theorien des). Ein Besuch beim Zahnarzt ist nur extrinsisch gut, weil er zu gesünderen Zähnen und der Vermeidung von Zahnschmerzen führt, aber er ist nicht an sich selbst gut; er ist ein notwendiges Übel. Die mit Abstand populärste und einflussreichste Darstellung des Guten innerhalb des konsequenzialistischen Lagers ist jene, die von den Utilitaristen angeboten wird (siehe Utilitarismus). Nach dieser Auffassung, der normalerweise als Hedonismus oder im englischsprachigen Raum als welfarism bekannt ist, ist das Gute das Vergnügen, das Glück oder das Wohlergehen (siehe Hedonismus; Glück). Der Handlungs-Utilitarismus meint deshalb, dass die richtige Handlung jene ist, die das Glück maximiert. Viele Konsequenzialisten lehnen den Hedonismus ab. Ein diesbezüglicher Pionier war G.E. Moore, dessen Theorie, die üblicherweise, wenn auch etwas verwirrend, als idealer Utilitarismus bezeichnet wird, im Gegensatz zu der hedonistischen Vielfalt steht. Unter den Dingen, die als intrinsisch gut galten, waren das Wissen, die Tugend, die Schönheit, die Gerechtigkeit, und das Erblühen der Umwelt als Gesamtheit. Viele dieser alternativen Darstellungen des Guten sind pluralistisch, d.h. sie behaupten, dass es viele verschiedene Arten guter Dinge gibt, die nicht alle unter ein Dach gebracht werden können. Pluralistischer Handlungskonsequenzialismus sieht sich jedoch einer Schwierigkeit gegenüber. Um bestimmen zu können, welche der möglichen Handlungen die richtige ist, muss der Akteur in der Lage sein, die Ergebnisse jeder Handlung von der besten zur schlechtesten ordnen zu können. Wenn es aber viele verschiedene Werte gibt, die nicht auf ein gemeinsames Maß reduziert werden können, wie kann dann ein Wertetyp mit einem anderen verglichen werden, 931
Konsequenzialismus
um zu einer endgültigen Bewertungsreihenfolge zu kommen? Dies ist das Inkommensurabilitätsproblem der Werte. Der Ausdruck ‚Konsequenzialismus‘ kann irreführend sein, obwohl er durch häufige Nutzung in der philosophischen Fachsprache geadelt ist, weil er wie selbstverständlich so aufgefasst werden kann, als hätte eine Handlung an sich selbst keinen Wert, sondern würde sich ausschließlich aus ihren Konsequenzen ergeben. Der Utilitarismus ist dieser Auffassung in der Tat verpflichtet, denn nach utilitaristischer Auffassung geht es nicht um das Wesen der Handlung selbst, sondern um das Vergnügen, das sie bei demjenigen hervorruft, der von ihr betroffen ist. Dies ist aber kein wesentliches Merkmal des Konsequenzialismus als solchem. Manche Konsequenzialisten wollen dem Gedanken Raum lassen, dass gewisse Arten von Handlungen, wie z.B. das Belügen, Betrügen und Töten von Unschuldigen, intrinsisch schlecht sind, während andere Arten von Handlungen wie z.B. die Großzügigkeit oder die Loyalität, intrinsisch gut sind. Der Konsequenzialismus kann solche Werte berücksichtigen, indem er berechnet, welcher Handlungsverlauf die besten Ergebnisse zur Folge hat. Bei der Entscheidung, ob ein Handlungsverlauf einem anderen vorzuziehen ist, muss ein Konsequenzialist den potenziellen Gesamtwert infolge der Realisierung eines jeden der möglichen Handlungsverläufe kennen, und das schließt nicht nur den Wert der Konsequenzen, sondern auch den Wert, wenn es eines solchen denn gibt, der Handlung selbst ein. Der Konsequenzialismus wird als so etwas wie eine teleologische Theorie angesehen, weil er eine moralische Theorie so betrachtet, als setze sie ein Ziel, das es zu erreichen gilt (siehe Teleologische Ethik). Das Ziel, das der Konsequenzialismus setzt, ist die Hervorbringung einer Welt, die das größtmögliche Übergewicht des Guten über das Schlechte repräsentiert. Eine solche Einstufung riskiert jedoch einige Verwirrung, da eine Tugendethik wie beispielsweise die des Aristoteles normalerweise auch als teleologisch eingestuft wird. Aristoteles’ Theorie weicht vom Konsequenzialismus jedoch in mindestens zwei zentralen Punkten ab. Erstens ist das Gute, um das es den Akteuren geht, nach Aristoteles’ Auffassung (wie in der Nikomachischen Ethik beschrieben), nicht der beste Zustand der Welt, sondern das beste Leben der betroffenen Menschen; Akteure haben sich darum zu bemühen, definitiv menschlich gute Dinge in ihrem eigenen Leben zu verwirklichen. Zweitens definiert Aristoteles’ Theorie, anders als der Konsequenzialismus, nicht das Richtige als das Gute. Im Gegenteil, ein volles Verständnis des guten Lebens beruht auf der vorangehenden Konzeption des Richtigen, denn ein wichtiger Teil des guten Lebens besteht im richtigen Handeln (siehe Aristoteles §§21–26; Richtig und Gut; Tugendethik). Wir müssen ferner jene Art des Konsequenzialismus, um den es uns hier geht, vom ethischen Egoismus unterscheiden, der manchmal auch als eine konsequenzialistische Theorie eingestuft wird (siehe Egoismus und Altruismus). Der ethische Egoismus, der behauptet, dass die richtige Handlung jene ist, die die eigenen Interessen des Akteurs am besten befördert, ist dem Konsequenzialismus insofern strukturell ähnlich, als die richtige Handlung wiederum jene ist, die das Gute maximiert, d.h. in diesem Falle das Gute des Akteurs selbst. Was den Egoismus von jener Art des hier diskutierten Konsequenzialismus unterscheidet, ist, dass letzterer eine unparteiische Theorie ist, der jeder Peron dasselbe Gewicht zugesteht (siehe Unparteilichkeit).
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Konsequenzialismus
2. Kritik des Handlungskonsequenzialismus Wie sollen sich die Konsequenzialisten darüber einigen, was zu tun ist? Eine selbstverständliche Antwort wäre: so gut sie können zu ermitteln, was das maximale Gute bei jeder einzelnen Gelegenheit hervorbringen würde, wenn sie zum Handeln aufgerufen sind. Natürlich begrenzen der Mangel an Zeit und Wissen die Möglichkeiten der Konsequenzialisten, was sie im Wege einer Ermittlung erreichen können, doch müssen sie eben das Beste tun, was ihnen möglich ist. So interpretiert kann der Handlungskonsequenzialismus jedoch kritisiert werden, weil er unseren intuitiven moralischen Überzeugungen in einer Reihe von Dingen zuwider läuft. Erstens scheint er übertrieben anspruchsvoll zu sein; ich soll nur handeln, wenn ich das Gute maximiere. In Anbetracht all der schlechten Dinge in der Welt und dem Umstand, dass wenige von uns sich darum bemühen, sie zu verbessern, ist es klar, dass man, um dass zu erfüllen, was der Handlungskonsequenzialismus fordert, praktisch seine gesamte Energie und alle Ressourcen einsetzen müsste, um die Welt zu verbessern. Täte man dies, so hätte man keine Zeit und kein Geld mehr, um seine eigenen Interessen zu verfolgen, ja nicht einmal mehr um sich auszuruhen, sondern gerade einmal um sich kurz zu erfrischen, um daraufhin sofort seine moralischen Bemühungen für den morgigen Tag nochmals zu verdoppeln. Der hier erforderliche Grad an Selbstaufopferung würde noch die Heiligen der Welt als Weichlinge erscheinen lassen. Die gewöhnliche Moral ist sicherlich nicht so anspruchsvoll wie diese; sie erlaubt uns, unsere eigenen Ziele zu verfolgen, vorausgesetzt, wir vernachlässigen keine unserer grundlegenden Pflichten. Einige Denker schlugen zur Erhaltung dieses Aspektes vor, diese Theorie anzupassen, so dass eine Handlung richtig ist, wenn ihre Konsequenzen gut sind, oder zumindest gut genug, selbst wenn sie nicht die besten sind. Dieser Vorschlag hat keine breite Anerkennung gefunden, denn man ist gewöhnlich der Meinung, dass ein rationaler Akteur immer das größere Gute dem geringeren vorziehen würde. Zweitens scheint der Handlungskonsequenzialismus keinen Raum für die Pflichten zu lassen, die wir selbst gegenüber unserer Familie und unseren Freunden übernehmen (siehe Familie, Ethik und die; Freundschaft). Solche Pflichten werden oft als akteursrelativ eingeordnet: jeder von uns sollte seiner eigenen Familie und seinen ebensolchen Freunden helfen, so dass die Personen, denen gegenüber diese Pflichten bestehen, von Akteur zu Akteur wechseln. Der Handlungskonsequenzialismus ist jedoch eine akteursunabhängige Moraltheorie; das Ziel, um das es ihm geht, hängt nicht davon ab, wer der Akteur ist. Ich sollte meine Bemühungen auf diejenigen richten, für die ich das meiste Gute bewirken kann; ihre Beziehung zu mir ist irrelevant. Sogar wenn der Handlungskonsequenzialismus der Kultivierung bestimmter Beziehungen einen besonderen Wert zuerkennt, wie z.B. der Freundschaft, so wird daraus doch keineswegs eine Freundschaftspflicht in dem Sinne erwachsen, wie dies herkömmlicherweise verstanden wird. Wenn die Freundschaft ein großes Gut ist, dann ist es meine Pflicht als Konsequenzialist, die Freundschaft im Allgemeinen zu fördern, und zwar zwischen allen Personen. Dies erfordert keineswegs, dass ich meinen Freunden eine besondere Aufmerksamkeit schenke und sie dabei von den Freunden anderer Menschen und der Hilfe ihnen gegenüber unterscheide. Drittens scheint der Handlungskonsequenzialismus, wenn er zu anspruchsvoll in einer Hinsicht ist, in einer anderen wiederum zu freizügig zu sein. Denn er lässt einem Gedanken keinen Raum, der für das gewöhnliche moralische Denken zen933
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tral ist, dass es nämlich gewisse Beschränkungen unserer Handlungen gibt, gewisse Handlungsarten, wie z.B. das Betrügen, Foltern oder Töten, die wir besser nicht in Betracht ziehen sollten, selbst wenn ein Handeln auf eine dieser verbotenen Weisen das Gute maximal befördern würde. Der Zweck, wie es so oft heißt, heiligt nicht die Mittel. Beschränkungen scheinen also akteursrelativ zu sein. Es darf folglich auch niemand von uns sein eigenes unschuldiges Selbst töten oder quälen, selbst wenn in einem solchen Falle eine weitere Tötung oder Qual verhindert werden könnte. 3. Indirekter Handlungskonsequenzialismus Weil der Handlungskonsequenzialismus diese kontraintuitiven Ergebnisse zeitigt, meinen nur wenige Konsequenzialisten, dass der Akteur über sein Tun entscheiden sollte, indem er fragt, was die besten Ergebnisse hervorbringt. Es gibt zwei Theorien, die eine weniger direkte Verbindung herstellen zwischen dem übergeordneten Ziel, die Dinge so gut wie möglich zu richten, und der Frage, für welche Handlung man sich in jeder einzelnen Situation entscheiden sollte. Die erste von ihnen ist als eine des indirekten Handlungskonsequenzialismus bekannt. Sie bestätigt den Anspruch, dass die richtige Handlung jene ist, die die besten Konsequenzen hervorbringt, leugnet aber, dass die tugendhaften Akteure direkt von konsequenzialistischen Gedanken geleitet sein müssen, wenn sie sich für eine Handlung entscheiden. Der indirekte Handlungskonsequenzialismus baut auf dem Gedanken auf, dass wir das Ziel nicht unbedingt erreichen müssen, wenn wir es direkt ansteuern. Der Schütze muss den Wind, die Schwerkraft und die schwachen Sichtverhältnisse in Rechnung stellen; der Moralist muss womöglich unsere Gedanken gerade vom Ziel ablenken, wenn wir es erreichen sollen. Der Handlungskonsequenzialismus sagt uns nach dieser Auffassung, was das Ziel ist, aber nicht, wie wir es erreichen. Er ist selbst kein guter Führer für das Handeln, und zwar aus einer Reihe von Gründen: die Berechnungen sind trickreich und zeitaufwendig; wir könnten versucht sein, die Ergebnisse zu unseren Gunsten zu verzerren; richtig zu handeln mag erfordern, gegen Neigungen anzugehen, die sowohl tief verwurzelt, als auch üblicherweise nützlich sind. So wird es vielleicht wirklich besser sein, anstatt die Ziele zu erreichen, die uns der Konsequenzialismus setzt, dass wir gar nicht auf das Richtige abzielen, sondern ein paar recht einfachen moralischen Regeln der herkömmlichen Art folgen, oder in uns die Entwicklung von Dispositionen stärken, wie z.B. Freundlichkeit und Loyalität, die normalerweise unsere Handlungen auf vorteilhafte Art leiten. Indem wir uns solche Regeln setzen oder solche Dispositionen entwickeln, wissen wir, dass wir manchmal falsch handeln werden, obwohl wir vielleicht hätten richtig handeln können. Dennoch werden wir auf lange Sicht das konsequenzialistische Ziel womöglich eher erreichen, als es der Fall wäre, wenn wir versucht hätten, es direkt zu erreichen. Einige indirekte Handlungskonsequenzialisten gehen aber noch weiter. Da wir bessere Entscheidungen treffen, wenn wir konsequenzialistische Überlegungen vermeiden, so mag es gleich das Beste sein, wenn wir den Konsequenzialismus überhaupt ganz verwerfen. Gemäß dem Konsequenzialismus werden sich Akteure nämlich vielleicht noch schlechter verhalten, wenn man ihnen die Wahrheit über den Konsequenzialismus sagt, als wenn man sie dazu bringt, stattdessen an irgendeine andere moralische Theorie zu glauben. In diesen Fällen täten die Konsequenzialisten besser daran, ihre Wahrheit für sich zu behalten, die ihnen im Allgemeinen bekannt 934
Konsequenzialismus
ist. Die Opponenten sehen diese Auffassung als inkohärent an. Wenn die Entscheidung für den Konsequenzialismus es notwendig macht, ihn zu unterdrücken, in welchem Sinne kann man sich dann überhaupt für ihn entscheiden? Wie kann man von einer Gesellschaft sagen, sie sei von moralischen Regeln geleitet, wenn niemand in dieser Gesellschaft daran glaubt? 4. Regelkonsequenzialismus Die zweite Alternative zum direkten Handlungskonsequenzialismus ist der Regelkonsequenzialismus, der eine substanzhaltigere Rolle für die moralischen Regeln oder Prinzipien bereithält. Die Handlungen von Einzelnen werden in Bezug auf Regeln als richtig oder falsch beurteilt; die Regeln, nicht die individuellen Handlungen, werden nach den Ergebnissen beurteilt, die damit in Kauf genommen wurden. Die richtige Handlung ist im Großen und Ganzen jene, die einer Menge moralischer Regeln gehorchen, die, wenn sie allgemein akzeptiert werden, dazu tendieren bessere Ergebnisse hervorzubringen als jede andere Menge gangbarer Regeln, die wir ebenfalls akzeptieren würden. Der Regel-Konsequenzialismus unterscheidet sich vom indirekten Handlungskonsequenzialismus auf zwei Arten. Er bleibt dabei, dass jede Entscheidung von Gedanken darüber, welche Handlung die richtige ist, geleitet sein sollte, und leugnet, dass die richtige Handlung notwendigerweise jene mit den besten Ergebnissen ist. Mit der Entscheidung, welche Regeln anzuerkennen sind, sollten wir im Kopf behalten, dass die Regeln in Anbetracht eines gegebenen menschlichen Wesens klar, angemessen einfach und nicht zu schwierig zu erfüllen sein sollten. Wenn sie diese Erfordernisse erfüllen, ist es wahrscheinlich, dass solche Regeln zu sehr von unseren gegenwärtigen abweichen werden. Der Regel-Konsequenzialismus mag eine plausible Moraltheorie sein, aber sollte er überhaupt noch als eine Form des Konsequenzialismus gelten? Er gibt offensichtlich einen zentralen Anspruch des Konsequenzialismus auf, dass es nämlich unser Ziel sein sollte, das Gute zu maximieren. Die Regel, der ich dieser Auffassung folgen sollte, ist jene, die die besseren Konsequenzen als jede andere Regel nach sich zöge, wenn sie allgemein akzeptiert würde. Wenn sie allerdings in Wirklichkeit nicht allgemein anerkannt ist, dann komme ich durch meinen Gehorsam einer Maximierung des Guten womöglich nicht so nahe, wie wenn ich einer anderen Regel folgte. Vielleicht ist der Handlungskonsequenzialismus aus diesem Grunde unter den Verteidigern dieser Theorie nach wie vor der populärste Ansatz, trotz aller seiner Schwierigkeiten. Siehe auch: Deontologische Ethik; Utilitarismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Hooker, B. (2000): ‚Ideal Code, Real Word‘. Oxford: Clarendon Press. (Eine klare und energische Verteidigung des Regelkonsequenzialismus). Scheffler, S. (1988): ‚Consequentialism an Its Critics‘, Oxford: Oxford University Press. (Eine sehr nützliche Sammlung einflussreicher Aufsätze zum Konsequenzialismus.) Sidgwick, H. (1874): ‚The Methods of Ethics‘, London: Macmillan; 7. Aufl. 1907, besonders Bd. I, Kap. 9, Bd. II, Kap. 1, Bd. III, Kap. 11 u. 13 und Bd. IV, Kap. 25. (Die klassische Quelle vieler noch heute von den Konsequenzialisten und ihren Gegnern diskutierter Strategien.) DAVID MCNAUGHTON 935
Konservatismus
Konservatismus
Der Konservatismus ist eine Einstellung gegenüber menschlichen Angelegenheiten, die sowohl der apriorischen Vernunft, als auch der Revolution misstraut, und stattdessen sein Vertrauen der Erfahrung und der schrittweisen Verbesserung von ausprobierten und überprüften Vorkehrungen schenkt. Als eine bewusste Stellungnahme geht er zurück auf die Reaktion Burkes und de Maistres auf die Aufklärung und das revolutionäre Denken und die dem entsprechenden Gepflogenheiten im 18. Jahrhundert. Seine Wurzeln reichen jedoch noch viel weiter zurück. Von Platon leiten Konservative einen Sinn für die Komplexität und die Gefahr der menschlichen Natur ab, obwohl sie emphatisch seinen Glauben daran zurückweisen, dass eine philosophische Regierung wünschenswert sei. Von Aristoteles leiten Konservative ihren Sinn für das Bedürfnis nach praktischer Erfahrung sowohl bei der Beurteilung der Moral und politischer Angelegenheiten ab, aber auch ihr Verständnis der Rolle der Tradition gegenüber der Jugend beim Einschärfen von tugendhaften Gewohnheiten und der Weisheit. Gegenüber Platon bevorzugen Konservative die begeschränkte Regierungsmacht, wie sie von Hobbes vertreten wurde, weil sie von der Ignoranz und der Korrumpierbarkeit der Herrscher überzeugt sind, und auch wegen ihres Wunsches, das Selbstvertrauen der Menschen zu stärken. Sie lehnen allerdings eine jegliche Konzeption des Sozialkontrakts ab. Hierin folgen sie de Maistre, der der Auffassung war, dass Geschöpfe mit den notwendigen Institutionen und Reaktionen zur Eingehung eines Sozialkontrakts sich bereits als Gesellschaft formiert hätten und diesbezüglich folglich keinen Bedarf mehr hätten. Während de Maistre den Schrecken betonte, der aller politischer Macht zugrunde liegt, ist für den modernen angelsächsischen Konservatismus eher die Position von Burke charakteristisch. Für Burke ist eine gute Verfassung jene, die mit ‚gefälligen Illusionen‘ geschmückt ist, um die Macht freundlich und den Gehorsam großzügig erscheinen zu lassen. Sie ist auch so beschaffen, dass sie die Macht in der Gesellschaft auf autonome Institutionen verteilt, die vom Staat unabhängig sind. Aus diesen beiden Gründen konnten die Konservativen die Kommunisten in Osteuropa nicht unterstützen, obwohl diese für eine Weile eine Form sozialer Ordnung repräsentierten. Während der Konservatismus nicht antithetisch zum freien Markt steht, und während der Markt Tugenden verkörpert, die die Konservativen bejahen, bedarf der freie Markt nach ihrer Auffassung einer Ergänzung durch die Moral, die Institutionen und die notwendige Autorität, um ihn zu erhalten. Menschen sind von Natur aus politisch, und ebenso unvermeidlich leiten sie ihre Identität von der Gesellschaft ab, zu der sie gehören. Unser Empfinden, wer wir sind, ist geformt durch unsere familiären Beziehungen, aber auch durch das noch weitergehende Erkennen und die Verteilung von Rollen, die wir in der Öffentlichkeit jenseits der Familie realisieren. Nach Hegel, der seit Aristoteles am gründlichsten über das Wechselspiel des Privaten und des Öffentlichen im menschlichen Leben geschrieben hat, bedürfen sowohl die Familie, als auch die Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft der Stütze durch die Autorität des Staates. Auf der anderen Seite muss die Unterscheidung zwischen der Familie, der Zivilgesellschaft und dem Staat gegen die typisch moderne Tendenz aufrechterhalten werden, sie unterschiedslos kollektiv zu behandeln. In seinem Beharren sowohl auf der Autorität, als auch auf den Kontrollen und dem Kräftegleichgewicht, die in 936
Konstitutionalismus
einer guten Gesellschaft gebraucht werden, kann man von Hegel sagen, dass er der differenzierteste und systematischste aller konservativen Denker war. Der Konservatismus wurde häufig für seine Tendenz zur Selbstgefälligkeit und für sein Hinnehmen des status quo, selbst wenn dieser offenkundig inakzeptabel ist, kritisiert. In seiner Betonung der Unvollkommenheit der menschlichen Natur und der Risiken einer Massenrevolution könnte er jedoch realistischer sein als seine Widersacher. Konservative leben ferner in dem Bewusstsein, dass Gesellschaften, in denen konservative politische Strukturen vorherrschten, moralisch und materiell erfolgreicher waren als sozialistische oder liberale Gesellschaften. Diese Behauptung ist nach ihrer Auffassung wahr, und es ist ein fundamentaler Aspekt ihrer Position, dass der Streit zwischen ihnen und ihren Gegnern im Grunde ein empirischer sei. Siehe auch: Menschliche Natur ANTHONY O’HEAR
Konstanten, Logische
Siehe: Logische Konstanten
Konstative Sprechakte
Siehe: Sprechakte, Konstative
Konstitutionalismus
Der Konstitutionalismus umfasst eine Reihe von Ideen, Prinzipien und Regeln, die alle mit der Frage zu tun haben, wie man ein politisches System entwickeln kann, dass so weit wie möglich das Willkürrisiko ausschließt. Während nach einer der klassischen Quellen des Konstitutionalismus, dem Art. 16 der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, „jede Gesellschaft, in der keine Rechte garantiert, oder in der die Gewaltenteilung nicht definiert ist, keine Verfassung hat“, ist der Bereich konstitutioneller Prinzipien in Wirklichkeit weiter gefasst. Zusätzlich zu diesen zwei definierenden Prinzipien sind auch die Prinzipien der Volkssouveränität, der Herrschaft des Gesetzes, der Regeln über die Auswahl der Machthaber und über Verantwortlichkeit gegenüber den Regierten, sowie Prinzipien über die Aufstellung, die Abschaffung, die Revision, die Auslegung und die Durchsetzung einer Verfassung wesentlich. Trotz enger Verwandtschaft sind der Konstitutionalismus und die Demokratie nicht dasselbe. Während die Demokratie eine institutionelle Vorkehrung ist, die das Recht der Menschen verwirklicht, sich selbst zu regieren, geht es dem Konstitutionalismus um die Einrichtung institutioneller Machtbeschränkungen bei den Herrschenden, selbst wenn sie öffentlich gewählt und legitimiert wurden. Der Konstitutionalismus verkörpert die Unterwerfung unter vernünftige und selbstbeschränkende Prinzipien der Regierung eines Volkes. ULRICH K. PREUß
Konstruktivismus
Der Ausdruck ‚Konstruktivismus‘ oder ‚sozialer Konstruktivismus‘ wurde ursprünglich von Wissenschaftssoziologen aufgebracht. Er bezeichnet eine Auffassung über die Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Konstruktivisten meinen, dass wissenschaftliche Erkenntnis von Wissenschaftlern hergestellt wird und nicht durch die Welt determiniert ist. Dies macht die Konstruktivisten zu Antirealisten. Der hier besprochene Konstruktivismus sollte nicht mit jenem gleichnamigen der Mathematik oder Logik verwechselt werden, obwohl sie einige Ähnlichkeiten
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Konstruktivismus
aufweisen. Der Konstruktivismus sollte besser mit Berkeleys Idealismus verglichen werden. Der größte Teil konstruktivistischer Forschung geht Hand in Hand mit dem empirischen Studium historischer oder zeitgenössischer Vorgänge in der Wissenschaft, mit dem Ziel zu lernen, wie Wissenschaftler experimentieren und Theorien bilden. Die Konstruktivisten versuchen nicht, ihre Fallstudien mit Vorannahmen darüber zu beeinflussen, wie die wissenschaftliche Forschung geleitet wird. Daher setzt sich ihr Ansatz von solchen in der Wissenschaftsphilosophie ab, die davon ausgehen, dass Wissenschaftler von bestimmten Methoden geleitet werden. Aus ihren Fallstudien haben Konstruktivisten geschlossen, dass die wissenschaftliche Praxis von keiner abgeschlossenen Menge von Methoden geleitet ist. Daher ist der Konstruktivismus entweder relativistisch oder antirationalistisch. Es gibt zwei bekannte (und aufeinander bezogene) Kritiken am Konstruktivismus. Erstens wenden einige Philosophen ein, dass der Konstruktivismus, da die Konstruktivisten bekennende Relativisten sind, aus denselben Gründen wie der Relativismus versagt. Viele Philosophen bemerken aber auch, dass der Relativismus auf verschiedene Arten charakterisiert werden kann, und dass einige Fassungen des Relativismus zur Interpretation der Wissenschaft nützlich sein können. Daher ist der Relativismus des Konstruktivismus an sich noch kein Disqualifikationsmerkmal. Zweitens werden die Konstruktivisten der Auffassung beschuldigt, die Wissenschaft produziere im wörtlichen Sinne die Welt auf dieselbe Art und Weise, wie man Häuser oder Autos baut. Dies ist vermutlich kein guter Weg zum Verständnis des Konstruktivismus. Vielmehr ruht der Konstruktivismus nur auf der schwächeren These, dass wissenschaftliche Erkenntnis vor allem von Wissenschaftlern produziert wird, und diese daher nur in geringerem Umfange durch fixierte Strukturen der Welt bestimmt ist. Diese Auffassung interpretiert den Konstruktivismus als eine These über unseren Zugang zur Welt über die wissenschaftliche Repräsentation. Beispielsweise behauptet der Konstruktivismus, dass die Art und Weise, wie wir die Struktur der DNA darstellen, das Ergebnis vieler aufeinander bezogener wissenschaftlicher Praktiken ist und damit nicht durch irgendeine zugrunde liegende, letzte Struktur der Wirklichkeit diktiert ist. Die konstruktivistische Forschung entwickelte wichtige Werkzeuge für Erkenntnistheoretiker, die sich auf das Studium wissenschaftlicher Erkenntnis spezialisiert haben. STEPHEN M. DOWNES
Kontextualismus, erkenntnistheoretischer
Die Vorstellung, dass Normen sich mit den sozialen Umständen ändern, ist seit langem anerkannt. Aber erst im späten 20. Jahrhundert haben Philosophen eine präzise Fassung des erkenntnistheoretischen Kontextualismus entwickelt, d.h. eine Theorie, derzufolge sich die Standards der Erkenntnis und der Begründung mit dem Kontext wandeln. Die gewöhnliche Lebenspraxis scheint dies zu unterstützen, gegen die ‚invariante‘ Auffassung, dass die erkenntnistheoretischen Standards immer einheitlich seien. Man nehme beispielsweise an, dass ich in Anbetracht des Umstandes, meine Kinder eine Minute zuvor im Garten gesehen zu haben, behaupte: „Ich weiß, dass meine Kinder im Garten sind“. Mein Nachbar Harald sagt daraufhin: „Okay, aber ein in der Nähe ausgebrochener Häftling sucht hier gerade nach Geiseln.“ Ich werde dann vermutlich sagen: „So gesehen, schaue ich vielleicht doch noch mal nach 938
Kontinuum-Hypothese
ihnen.“ Die Erkenntnisstandards scheinen sich gewandelt zu haben, da jetzt erneute Nachforschungen notwendig sind. Der größte Vorteil des Kontextualismus ist seine Antwort auf den Skeptizismus. Skeptiker werfen radikale Möglichkeiten auf, wie beispielsweise jene, dass wir alle nur träumen. Der Kontextualist gibt zu, dass solche Zweifel im skeptischen Kontext legitim sind, hält aber dagegen, dass sie in alltäglichen Situationen illegitim sind. Andererseits kann sich der Kontextualismus als unangenehme Form des Relativismus erweisen und sähe sich dann dem Vorwurf ausgesetzt, die Standards, die wir in praktischen Gesprächszusammenhängen anwenden, mit jenen wahren Standards zu verwechseln, die bestimmen, ob jemand etwas erkannt hat. Siehe auch: Begründung, erkenntnistheoretische; Erkenntnis, Begriff der BRUCE W. BROWER
Kontinuum-Hypothese
Die ‚Kontinuum-Hypothese‘ (KH) behauptet, dass es zwischen der Menge der reellen Zahlen (dem ‚Kontinuum‘) und der Menge der natürlichen Zahlen hinsichtlich ihre Mächtigkeit (der sog. ‚Kardinalität‘) keine Zwischenkardinalität, d.h. eine Menge, deren Mächtigkeit zwischen den beiden oben genannten Mengen liegt, gibt. Da gezeigt werden kann, dass das Kontinuum dieselbe Kardinalität hat wie die Potenzmenge (d.h. die Menge aller Untermengen) der natürlichen Zahlen, ist KH ein Spezialfall der ‚verallgemeinerten Kontinuum-Hypothese‘ (VKH, engl.: generalized continuum hypothesis, GCH), die sagt, dass es für keine infinite Menge eine kardinale Zwischenmenge zwischen ihr selbst und ihrer Potenzmenge gibt. Cantor postulierte als erster die KH, weil er meinte, sie sei wahr. Aber trotz fortgesetzter Bemühungen gelang es ihm nicht, sie zu beweisen. König bewies, dass die Kardinalität des Kontinuums nicht die Summe abzählbar vieler kleinerer Kardinalzahlen sein kann, und in der Folge wurde gezeigt, dass dies die einzige Beschränkung ist, die die akzeptierten Axiome der Mengenlehre hinsichtlich ihrer Kardinalität zulassen. Gödel zeigte, dass die KH mit diesen Axiomen konsistent ist, und Cohen zeigt, dass dies auch bei ihrer Negation der Fall ist. Zusammen beweisen diese Ergebnisse die Unabhängigkeit der KH von den akzeptierten Axiomen. Cantor schlug die KG im Zusammenhang mit seiner Suche nach einer Antwort auf die Frage vor: ‚Was ist das identifizierende Wesen der Kontinuität?‘ Diese Unabhängigkeitsergebnisse zeigen, dass, was immer durch die Einführung der transfiniten Mengenlehre gewonnen wurde (einschließlich einer größeren Einsicht in die Bedeutung der KH), diese uns nicht die Grundlagen verschaffen, um diese Fragen abschließend beantworten zu können. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn die Axiome auf verschiedene plausible Arten ergänzt werden. MARY TILES
Kontrafaktische Konditionalsätze
‚Wenn Fledermäuse taub wären, würden sie tagsüber jagen.‘ Einen solchen Satz nennt man einen ‚kontrafaktischen‘ Konditionalsatz. Er besteht aus einer ‚Wenn … dann‘-Aussage, deren Bestandteile ‚entgegen den Tatsachen‘ lauten, in diesem Falle entgegen der Tatsache, dass Fledermäuse gut hören und am Tage schlafen. Von den Analysen, die für solche Behauptungen vorgeschlagen wurden, sind zwei besonders bekannt geworden. Nach der ersten behauptet ein kontrafaktischer Satz, dass es ein schlüssiges Argument vom Antezedens (‚Fledermäuse sind taub‘) zum Konsequens 939
Kontraktualismus
(‚Fledermäuse jagen am Tag‘) führt. Das Argument verwendet gewisse implizite Hintergrundbedingungen und Naturgesetze als zusätzliche Prämissen. Eine Variante dieser Analyse sagt, dass ein kontrafaktischer Satz selbst eine zusammengefasste Version eines solchen Arguments ist. Diese Variante wird wegen ihrer Referenz auf sprachliche Gegenstände wie z.B. Prämissen und Argumente die ‚metalinguistische‘ genannt. Die zweite Analyse bezieht sich stattdessen auf mögliche Welten. (Mögliche Welten kann man sich als jene vorstellen, die sich bei einem anderem Weltverlauf möglicherweise ergeben hätten.) Diese Analyse sagt, dass das Beispiel genau in dem Falle wahr ist, dass in der nächsten möglichen Welt, wo Fledermäuse taub sind, Fledermäuse auch am Tag jagen. Siehe auch: Mögliche Welten; Relevanzlogik und Folgebeziehung FRANK DÖRING
Kontraktualismus
Die Vorstellung, dass politische Beziehungen ihren Ursprung in einem Vertrag oder einer Vereinbarung haben, ist auf verschiedene Weisen ausgedrückt worden. In Platons ‚Staat‘ schlägt Glaukon vor, dass die Gerechtigkeit nichts als ein Pakt zwischen rationalen Egoisten ist. Thomas Hobbes entwickelte diese Idee weiter, um die Natur der politischen Macht zu analysieren. In Anbetracht der vorherrschend selbstzentrierten Natur der Menschheit braucht eine Gesellschaft eine Regierung. Die Rolle der Regierung ist die Stabilisierung der sozialen Zusammenarbeit. Durch die Ausübung von Zwangsgewalt gibt die Regierung jedem die Sicherheit, dass jede andere sich ebenfalls an die kooperativen Regeln halten wird und macht es daher zu einem rationalen Unternehmen für alle, miteinander zu kooperieren. Zur Erfüllung dieser stabilisierenden Rolle meinte Hobbes, dass es rational für jeden Einzelnen sei, der Autorisierung einer Person zuzustimmen, die absolute politische Macht auszuüben. Neo-Hobbesianer verzichten auf den Absolutismus und berufen sich stattdessen auf die Theorie der rationalen Auswahl, um zu behauten, dass die Regeln der Gerechtigkeit und vielleicht sogar der gesamten Moral nicht als ein rationaler Handel zwischen eigeninteressierten Einzelmenschen konstruiert werden kann. John Locke, der von anderen Prämissen als Hobbes ausging, berief sich auf eine soziale Masse um sich für eine konstitutionell gebundene Monarchie mit beschränkter Macht einzusetzen. Alle Menschen sind mit dem natürlichen Recht zu gleicher Freiheit geboren, und es ist ihre natürliche Pflicht vor Gott, sich selbst und den Rest der Menschheit zu schützen. Keine Regierung ist gerecht, solange sich nicht alle darin einig sind, gleichermaßen frei zu sein, wobei diese Vereinbarung den moralischen Einschränkungen des Naturrechts unterworfen ist. Der Absolutismus ist nach diesen Kriterien ungerecht. Rousseau entwickelte die egalitären Merkmale von Lockes Auffassung weiter, um sich für eine demokratische Verfassung einzusetzen. Der Sozialkontrakt verkörpert den Allgemeinen Willen der Gesellschaft (der sog. volontée générale), nicht die Summe der uneingeschränkten privaten Willen ihrer Mitglieder. Der Allgemeine Wille will das allgemeine Gute, das Gute der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder. Nur durch die Abstimmung unseres individuellen Willens mit dem Allgemeinen Willen können wir bürgerliche und moralische Freiheit erreichen. Im 20. Jahrhundert hat John Rawls die Naturrechtstheorien des Sozialkontrakts neu gefasst, um für eine liberale, egalitäre Konzeption der Gerechtigkeit einzutreten. Aus der Sicht der Gleichheit, wo man bei jeder Person von ihrem Wissen und ihrer 940
Konventionalismus
eigenen Geschichte abstrahiert, ist es rational für alle, sich auf Gerechtigkeitsprinzipien zu einigen, die gleiche grundlegende Freiheiten und Zugang zu den Ressourcen zur Wahrung der Unabhängigkeit einer jeder Person garantieren. T.M. Scanlon hat inzwischen einen rechtebasierten, kontraktualistischen Entwurf der Moral vorgelegt. Eine Handlung ist richtig, wenn sie mit den Prinzipien übereinstimmt, die vernünftigerweise nicht von Personen zurückgewiesen werden können, die den Wunsch hegen, ihre Handlungen gemäß eben jenen Prinzipien zu rechtfertigen, die niemand vernünftigerweise zurückweisen kann. Siehe auch: Internationalen Beziehungen, Philosophie der; Liberalismus SAMUEL FREEMAN
Konvention und Natur
Siehe: Natur und Konvention
Konvention und notwendige Wahrheit Siehe: Notwendige Wahrheit und Konvention
Konventionalismus
Woher weiß man, dass jede Zahl einen Nachfolger hat, dass gerade Linien einander nicht mehr als einmal schneiden können, dass Ursachen ihren Wirkungen vorangehen, und dass Elektronen entweder durch den Schlitz drängen oder nicht? In Fällen wie diesen ist es nicht schwer, eine beobachtbare Evidenz zu finden, und es wäre unplausibel, spezielle Weisen des intuitiven Zugangs zu den geschilderten Phänomenen zu behaupten. Dennoch werden solche Thesen im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder herangezogen, und man kann sie kaum als einen bedeutungslosen metaphysischen Exzess verwerfen. Als Erwiderung auf dieses Problem entwickelten die Positivisten und Empiristen (vor allem Poincaré, Hilbert, Carnap, Reichenbach und Ayer) eine Strategie, die als ‚Konventionalismus‘ bekannt wurde. Die Idee war, dass gewisse Behauptungen, einschließlich der fundamentalen Prinzipien der Logik, Arithmetik und der Geometrie, als Ergebnis vereinbarter Festlegungen behauptet werden, wodurch sie nur noch Definitionen von Grundbestandteilen dieser Vereinbarungen sind. Folglich müssen sie wahr sein; unsere Bindung an sie kann gar nicht anders als gerechtfertigt sein, und die Tatsachen, kraft derer sie wahr sind, sind schlicht die Tatsachen, dass wir gewisse einzelne Entscheidungen über die Verwendung dieser Worte getroffen haben. Diese Lehre war zwingend und war eine kraftvolle Waffe im positivistisch-empiristischen Arsenal, das sich durch die 1920er, 1930er und 1940er Jahre hindurch entwickelte. Sie fiel aber unter der Last ernsthafter Herausforderungen, vor allem von Quine, in Ungnade. Wie können ‚Vereinbarungen‘ als solche identifiziert werden? Wie können sie überhaupt Worte mit Bedeutung hervorbringen, bzw. wie können sie die erkenntnistheoretische Bedeutung erlangen, die für sie beansprucht wird? Wie können willkürliche, kontingente Entscheidungen über die Verwendung von Worten zur Existenz von notwendigen Tatsachen führen? Da keine befriedigenden Antworten auf die Einwände zur Verfügung standen, glauben nurmehr wenige Philosophen dieser Tage, dass der Konventionalismus mit den semantischen, erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fragen fertig wird, die er seinerzeit beantworten sollte. Gewisse Aspekte dieser Auffassung bleiben jedoch weiterhin interessant und vertretbar. Siehe auch: Logischer Positivismus; Notwendige Wahrheit und Konvention PAUL HORWICH 941
Kosmologie
Konversation
Siehe: Pragmatismus
Kopernikus, Nicolaus (1473–1543)
Kopernikus vertrat die Auffassung, dass die Erde ein Planet ist, der sich um die Sonne und dabei gleichzeitig um die eigene Achse dreht. Seine Arbeit markiert den Kulminationspunkt einer Tradition der mathematischen Astronomie, die sich noch bis vor Ptolemäus bis zu den Griechen und den Babyloniern zurückerstreckt. Obwohl er hierbei Methoden und Vorannahmen zur Anwendung brachte, die bereits seit Jahrhunderten bekannt waren, war seine Leistung dennoch revolutionär wegen der Folgen für die Beziehung der Menschheit zum Universum im Ganzen. Siehe auch: Bruno, G.; Erklärung; Galilei, Galileo; Kepler, J.; Kosmologie; Kuhn, T.S.; Renaissance Philosophie ERNAN MCMULLIN
Koreanische Philosophie
Siehe: Buddhistische Philosophie, Koreanische
Korrespondenztheorie der Wahrheit
Siehe: Wahrheit, Korrespondenztheorie der
Kosmologisches Argument
Siehe: Gott, Argumente für die Existenz von
Kosmologie
Der Ausdruck ‚Kosmologie‘ hat drei hauptsächliche Verwendungen. Im allgemeinsten Sinne bezeichnet eine Weltsicht, z.B. die Kosmologie der Maya-Kultur. Im frühen 18. Jahrhundert, kurz nachdem der Ausdruck zum ersten Male aufgetaucht war, verwendete ihn Christian Wolff zur Bezeichnung eines Unterschiedes zwischen der Physik, dem empirischen Studium der materiellen Welt und der Kosmologie als einem Zweig der Metaphysik, die sich mit der materiellen Natur in ihren allgemeinsten Aspekten beschäftigt. Diese Verwendung blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein populär, besonders unter den Kantianern und den neoscholastischen Philosophen. Neue Entwicklungen der Naturwissenschaften, die eine Konstruktion plausibler Modelle des Universums erlauben, haben diesen Ausdruck aber faktisch in Beschlag genommen, um eine Wissenschaft zu bezeichnen, die von den Ursprüngen und Strukturen des physikalischen Universums als Ganzem handelt. Die Entwicklung der Kosmologie kann in drei Phasen gegliedert werden, von denen jede mit einer einzigen, großen Persönlichkeit verbunden ist, nämlich Aristoteles, Newton und Einstein. Die alten Griechen waren die ersten, die eine begründete Darstellung des Kosmos zu geben versuchten. Aristoteles konstruierte eine komplex verknüpfte Menge von Sphären, die um den Mittelpunkt einer unbeweglichen Erde kreisten, um die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären. Newton formulierte eine Theorie der Schwerkraft, die eine absolute und unendliche Zeit und einen ebensolchen Raum erforderten. Obwohl die Naturgesetze im Prinzip bestimmt werden konnten, wusste man doch nichts über den Ursprung und die Gesamtstruktur des Kosmos zu sagen. Im Jahre 1915 schlug Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie vor, deren Feldgleichungen von zahlreichen Modelluniversen erfüllbar waren. Hubbles Entdeckung der galaktischen Rotverschiebung im Jahre 1929 führte Lemaître im Jahre 1931 zur Auswahl eines expandierenden Modells des Universums aus den 942
Kotarbiński, Tadeusz (1886–1981)
bestehenden Möglichkeiten, das, obwohl es in den 1950er Jahren durch die damit konkurrierende Steady-state-Theorie in Frage gestellt wurde, zur Standardauffassung wurde, nachdem die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, die von ihr vorausgesagt worden war, im Jahre 1964 beobachtet wurde. Die Urknall-Theorie wurde seitdem in einem wichtigen Punkte verändert, nämlich durch Hinzufügung einer inflationären Phase im ersten Bruchteil einer Sekunde der kosmischen Expansion. Als eine ‚kosmische Theorie‘ wirft sie weiterhin Fragen auf, die von besonderem Interesse auch für Philosophen sind. Siehe auch: Anaximander; Pythagoreismus; Raum ERNAN MCMULLIN
Kotarbiński, Tadeusz (1886–1981)
Kotarbiński war einer der Gründer und Hauptvertreter der polnischen philosophischen Schule, die unter dem Namen Lwów-Warschau-Schule bekannt ist und mit dem Wiener Kreis verwandt ist, wenn auch unabhängig von ihm war (und nicht so radikal). Die Lwów-Warschau-Schule war eine antimetaphysische, wissenschaftspositive, rationalistische Schule der Philosophie, die zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sehr aktiv und auch einflussreich war. Kotarbińskis philosophisches Programm war ein minimalistisches und praktisches: er betonte die Notwendigkeit einer Reinigung der Philosophie von Fragen und Begriffen, die keinen Tatsacheninhalt oder keine logische Kohärenz aufweisen. Nach seiner Auffassung sollte der Ausdruck ‚Philosophie‘, wenn überhaupt, nur zur Bezeichnung der Logik (verstanden als die Philosophie des erkennenden Denkens) und der Handlungsphilosophie (einschließlich der Moralphilosophie) verwendet werden. Sein umfangreiches, mehr als 500 Werke umfassendes Oeuvre ist der Logik und der Handlungsphilosophie in diesem breiten Sinne gewidmet. Eine seiner originellsten Hauptideen ist die Lehre vom Reismus oder Konkretismus, einer spezielle Fassung des Nominalismus. Kotarbiński wurden von mehreren Generationen seiner Schüler für sein ungewöhnliches pädagogischen Talent, seine persönliche Integrität und seine Zivilcourage bewundert. Siehe auch: Wiener Kreis B. STANOSZ
Krieges und des Friedens, Philosophie des
Die Dichotomie von Krieg und Frieden ist im menschlichen Denken ein wiederkehrende, und der Erfahrungsbereich, auf den sie sich bezieht, ist ausgedehnt. Bilder des Krieges und des Frieden durchdringen die Religion, die Literatur und die Künste. Kriege, Kämpfe, Verträge und Vereinbarungen erscheinen als Ergebnisse und Auslöser historischer Berichte. Wiederkehrende Muster kriegsartigen und friedlichen Verhaltens laden zu einer wissenschaftlichen Erklärungen nach Maßgabe der zugrunde liegenden biologischen, psychologischen oder wirtschaftlichen Prozesse ein. Krieg und Frieden sind häufig auch Gegenstände praktischer Überlegungen, von Zwangslagen oder Gelegenheiten, die nach einer individuellen oder kollektiven Handlung verlangen. Während Philosophen alle diese Betrachtungsmöglichkeiten des Krieges und des Friedens erforscht haben, verwandten sie die meiste Aufmerksamkeit auf die praktischen Aspekte des Gegenstandes und machten ihn zu einem Teil der moralischen und der politischen Philosophie. 943
Kripke, Saul Aaron (1940–)
Praktische Überlegungen zum Krieg und Frieden können hauptsächlich in zwei Richtungen gehen, von denen sich die eine auf den Krieg, und die andere auf den Frieden konzentriert. Jene, die daran zweifeln, dass der Krieg abgeschafft werden könne, machen sich natürlich darüber Gedanken, wie man ihn regulieren könne. Solange der Krieg möglich ist, wird es auch Prinzipien geben, um sein Wagnis einschätzen zu können. Ob solche Prinzipien das Kriegführen auf Ziele wie die Selbstverteidigung einschränken sollten oder den politischen und militärischen Führer dies zur Entscheidung überlassen sollte, ist eine fortgesetzt diskutierte Fragen. Noch besteht Einigkeit über die Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise der Kriegführung; einige meinen, dass die kriegführenden Parteien nur übermäßigen Schaden vermeiden sollten, während andere meinen, dass es moralisch falsch sei, Unschuldigen Schaden zuzufügen, z.B. nicht am Kampf Beteiligten. In Notsituationen könnten beiden Schranken aufgehoben werden, und die Moraltheoretiker debattieren darüber, ob eine solche Lockerung der Maßstäbe vertretbar ist. Diskussionen über die Prinzipien, die den Krieg leiten, werfen schwierige Fragen über die Handlung, die Intention und den Charakter der Moral an sich auf. Wenn wir denken, dass Kriege verhindert werden können, so wird es wichtig, sich auf die Bedingungen des permanenten Friedens zu konzentrieren. Einige von denen, die dies tun, kommen zu der Schlussfolgerung, dass ein solcher Frieden von dem Zusammengehen der Menschen unter einer Ethik der Gewaltfreiheit abhängt, während andere meinen, dass dies eine Stärkung des Rechtsstaates erfordere. Einer starken Fassung des letzteren Arguments zufolge erzeugt die Abwesenheit des Gesetzes einen Zustand, in dem es Personen und Gemeinschaften freigestellt ist, sich gegenüberseitig zu überfallen, d.h. ein Zustand, der in Hobbes klassischer Metapher der ‚Naturzustand’ ist, der auch gleichzeitig ein fortgesetzter Kriegszustand ist. Während Friedensabkommen einen bestimmten Krieg zu beenden vermögen, können nur politische Institutionen, die den Rechtsstaat innerhalb und zwischen Gemeinschaften aufrechterhalten, die notwendige Sicherheit gewähren und damit den Frieden garantieren. Siehe auch: Internationale Beziehungen, Philosophie der TERRY NARDIN
Kripke, Saul Aaron (1940–)
Saul Kripke ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Philosophen des späten 20. Jahrhunderts. Er ist ferner einer der führenden Logiker unserer Zeit und hat fruchtbare Arbeiten auf den Gebieten der modalen Logik, der intuitionistischen Logik und der Mengenlehre vorgelegt. Doch auch vieles aus seinem logischen Werk hat philosophische Bedeutung, was hier leider nicht diskutiert werden kann. Kripkes wichtigste Beiträge fallen in die Gebiete der Metaphysik, der Sprachphilosophie, der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Logik und der Mathematik. Er ist besonders bekannt für seine Auffassungen zu und Diskussionen der folgenden Themen: der Begriff der Notwendigkeit; Identität und ‚mögliche Welten‘; ‚Essentialismus‘, d.h. die Idee, dass die Dinge bedeutsame essentielle Eigenschaften haben; die Frage, was den Referenten eines normalen Eigennamens bestimmt sowie die damit zusammenhängende Frage, ob solche Namen eine Bedeutung haben; die Beziehung zwischen den Begriffen der Notwendigkeit, der Analytizität, und dem Apriorischen; der Begriff der Überzeugung und seine Probleme; der Begriff der Wahrheit und seine Probleme; und der Begriff des Skeptizis944
Kristeva, Julia (1941–)
mus in Bezug auf das Wittgensteinsche Argument des Regelfolgens, sowie Ludwig Wittgensteins ‚Privatsprachen-Argument‘. Siehe auch: Semantik MICHAEL JUBIEN
Kristeva, Julia (1941–)
Kristeva wurde in Bulgarien geboren und in den 1960er Jahren zu einem Mitglied der intellektuellen Avantgardisten der Pariser Szene. Ihr frühestes Werk zur Linguistik war noch vom poststalinistischen Kommunismus des damaligen Osteuropa geformt, d.h. einem politischen Klima, dass Einfluss auf ihren ganzen Textkorpus hatte, und zwar auch dann noch, als sie sich davon distanzierte, um sich einer zunehmend psychoanalytischen Perspektive zuzuwenden. Aus einer Unzufriedenheit mit den wissenschaftlichen Modellen der Sprache, die sie als reines Mittel der Kommunikation vorgeformter Gedanken sieht, und wo die Worte einfach als isolierte Symbole fungieren, die für gesonderte Begriffe stehen, versteht Kristeva die Sprache als einen Bedeutungsprozess. Aus dieser Sicht ist die Sprache kein statisches und geschlossenes Zeichensystem, sondern ein beweglicher, flüssiger Prozess, der körperliche und stimmliche Rhythmen bei der Erzeugung symbolischer Bedeutungen mit sich bringt. In ‚La Révolution du language poétique‘ (1974), (dt.: ‚Die Revolution der poetischen Sprache‘, Frankfurt am Main, Neuaufl. 2005). Kristeva verschmilzt linguistische Erkenntnisse mit psychoanalytischen Untersuchungen und legt dabei zwei unterschiedliche, wenn auch aufeinander bezogene Aspekte des Signifikationsprozesses frei, nämlich den semiotischen und den symbolischen. Der semiotische Aspekt der Sprache ist stimmlich, präverbal, rhythmisch, kinetisch und körperlich. Der symbolische Aspekt der Sprache ist sozial, kulturell und regelgeleitet. Indem sie sich auf das Wechselspiel zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen konzentriert, ist Kristeva zur Analyse literarischer und historischer Texte, von Kunstwerken und kulturellen Phänomenen auf eine Weise imstande, die eine komplexe Beziehung zwischen Materialität und Repräsentation zu thematisieren erlaubt. TINA CHANTER
Kriterium
Der Ausdruck ‚Kriterium‘ ist vom griechischen Ausdruck krinein: ‚scheiden‘, ‚urteilen‘ abgeleitet. Er bedeutet allgemein ‚Kennzeichen‘, Prüfungsmittel‘, ‚Maßstab‘. In der Erkenntnislehre steht er für die Gültigkeit eines Satzes, aber auch als Unterscheidungsmerkmal. Der Begriff des Kriteriums gilt als der zentrale Begriff in der Darstellung des späten Wittgenstein über die Funktionsweise der Sprache, im Gegensatz zur realistischen Semantik des ‚Tractatus‘. Gemäß dieser späteren Darstellung besitzt ein Begriff eine Bedeutung, insofern es Bedingungen gibt, die eine nichtinduktive Evidenz für ihre Anwendung auf den Einzelfall geben. Man meint, diese Bedingung, dass ein Begriff eine solche Bedeutung besitzt, versetzte Wittgenstein in die Lage, sowohl den Solipsismus, als auch den Skeptizismus über das Fremdgeistige zu widerlegen. Gegen diese Konzeption des Kriteriums wurden mächtige Einwände vorgebracht, die manche Philosophen dazu führten, nach alternativen Darstellungen für die Rolle der Kriterien in Wittgensteins Spätphilosophie zu suchen. Siehe auch: Fremdgeistige, das; Kontextualismus, erkenntnistheoretischer MARIE MCGINN 945
Kritische Theorie
Kritischer Realismus
Mit ‚Kritischer Realismus‘ bezeichnet man eine Denkschule der Philosophie und der Humanwissenschaften, die mit Roy Bhaskars Schriften ab Ende der 1960er Jahre begann. Sie behauptet, dass die Kausalgesetze die Tendenzen der Dinge aussagen, wie sie in ihren Strukturen begründet liegen, d.h. nicht als invariante Verbindungen, die nur aufgrund seltener äußerer Bedingungen so erscheinen. Deshalb sind positivistische Darstellungen der Wissenschaften falsch, aber gleichermaßen ihre Widerlegung zur Erklärung der menschlichen kausalen Welt. Der kritische Realismus meint, dass es mehr auf das ankommt, was ‚ist‘, als auf das, was bekannt ist, d.h. mehr auf die Kräfte als auf ihren Einsatz, mehr auf die Gesellschaft als auf die einzelnen Menschen, die sie bilden. Sie weist die weit verbreitete Auffassung zurück, dass die Erklärung immer neutral ist; erklären kann auch kritisieren heißen. Siehe auch: Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Experiment; Naturalismus in den Sozialwissenschaften ANDREW COLLIER
Kritische Theorie
Der Ausdruck ‚Kritische Theorie‘ bezeichnet einen Ansatz zum Studium der Gesellschaft, der zwischen 1930 und 1970 von der so genannten ‚Frankfurter Schule‘ entwickelt wurde. Diese umfasst eine Gruppe von Theoretikern, die mit dem ‚Institut für Sozialforschung‘ in Verbindung standen, das in Frankfurt am Main im Jahre 1923 gegründet wurde. Die drei wichtigsten Philosophen, die ihr angehörten, waren Max Horkheimer, Theodor Wiesengrund Adorno und Herbert Marcuse. Horkheimer, Adorno und Marcuse fürchteten, dass die modernen westlichen Gesellschaften sich in geschlossene, totalitäre Systeme verwandeln, in denen alle individuelle Autonomie eliminiert wird. In ihren frühesten Schriften aus den 1930er Jahren stellten sie diese Tendenz zum Totalitarismus als eines der Ergebnisse der kapitalistischen Produktionsform dar. In späteren Darstellungen betonten sie mehr die Rolle der Wissenschaften und der Technologie in den modernen Gesellschaften, und die damit einhergehende, rein ‚instrumentelle‘ Konzeption der Vernunft. Diese Konzeption der Vernunft leugnet, dass es so etwas wie ein inhärent rationales Ziel oder einen solchen Zweck bei den menschlichen Handlungen geben kann und behauptet, dass eine solche Vernunft sich ausschließlich mit der Wahl effektiver Instrumente oder Mittel zur Erreichung willkürlicher Zwecke beschäftigt. Die ‚Kritische Theorie‘ sollte zu einer Form des Widerstands gegen die gegenwärtige Gesellschaft werden; ihre grundlegende Methode sollte jene einer ‚internen‘ oder ‚immanenten‘ Kritik werden. Jede Gesellschaft, so meinte man, muss man so verstehen, dass sie einen stillschweigenden Anspruch auch auf eine substanzielle (und nicht nur instrumentelle) Rationalität erhebt. Dies ist dann jener Anspruch, der es ihren Mitgliedern erlaubt, ein gutes Leben zu führen. Mit diesem Anspruch verfügt die kritische Theorie über einen Kritikstandard, der der kritisierten Gesellschaft immanent ist. Die Kritische Theorie zeigt, auf welche Weise die gegenwärtige Gesellschaft darin versagt, nach ihren eigenen Ansprüchen zu leben. Die Konzeption des guten Lebens, auf die sich jede Gesellschaft stillschweigend beruft, wenn sie sich selbst legitimiert, wird normalerweise nicht vollständig in sprachlich expliziten Aussagen ausgedrückt, so dass jede Form Kritischer Theorie zunächst jene stillschweigende Konzeption des guten Lebens aus den Überzeugungen, kulturellen Artefakten
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Kuhn, Thomas Samuel (1922-1996)
und Erfahrungsformen gewinnen muss, die in der fraglichen Gesellschaft gegeben sind. Eine der speziellen Schwierigkeiten, denen die Kritische Theorie begegnet, ist das Verschwinden der traditionell-substanziellen Konzeption des guten Lebens, die als Ausgangspunkt einer internen Kritik dienen könnte, und deren Ersetzung durch die Auffassung, dass die moderne Gesellschaft keiner Legitimierung über die simple Bezugnahme auf ihr effektives Funktionieren hinaus bedarf, d.h. eben auf ihre ‚instrumentelle‘ Rationalität. Die Ideologie der ‚instrumentellen Vernunft‘ wird dadurch selbst ein zentrales Kritikziel der Kritischen Theorie. Siehe auch: Frankfurter Schule RAYMOND GEUSS
Kuhn, Thomas Samuel (1922–1996)
In den frühen 1960er Jahren ereignete sich ein substanzielles Chaos in der Wissenschaftsphilosophie, die damals vom logischen Empirismus beherrscht war. Am wichtigsten hierbei war die Konfrontation der vorherrschenden philosophischen Tradition mit der Wissenschaftsgeschichte. Während die Wissenschaftsphilosophie hauptsächlich normativ orientiert war, d.h. aufzeigen wollte, wie ‚ordentliche‘ Wissenschaft auszusehen habe, wiesen die historischen Untersuchungen darauf hin, dass die wissenschaftliche Praxis sowohl der Vergangenheit, als auch der Gegenwart diesen Vorschriften nicht zu folgen schien. Thomas S. Kuhn hatte theoretische Physik studiert, wandte sich aber bald der Geschichte und Philosophie der Wissenschaften zu. Im Jahre 1962 veröffentlichte er ‚The Structure of Scientific Revolution‘ (dt.: ‚Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen‘, Frankfurt am Main, 19. Aufl. 2006). Dieses Buch war die einzige sehr wichtige Veröffentlichung, die den Streit zwischen der Geschichts- und der Wissenschaftsphilosophie voranbrachte. Es ist heute ein Klassiker der Wissenschaftslehre. Die ‚Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen‘ war nicht nur in Diskussionen innerhalb der Philosophie wichtig, sondern auch auf vielen anderen Gebieten, besonders in den Sozialwissenschaften. Die zentralen Begriffe des Buches wie z.B. ‚wissenschaftliche Revolution‘, ‚Paradigmenwechsel‘ und ‚Inkommensurabilität‘ standen über Jahre im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion, und der Ausdruck ‚Paradigma‘ wurde gar zu einem Alltagswort (wenn auch nicht in dem von Kuhn beabsichtigten Sinne). Nach diesem Werk setzte Kuhn seine Entwicklung der Theorie fort. Abgesehen von kleineren Änderungen betrifft dies hauptsächlich die Explikation von verwickelteren philosophischen Aspekten dieser Theorie, speziell der Inkommensurabilität, die ein Hauptmerkmal seiner späteren Arbeiten ist. Siehe auch: Feyerabend, P.K.; Inkommensurabilität PAUL HOYNINGEN-HUENE
Kultur
Der Begriff ‚Kultur‘ umfasst jene Aspekte der menschlichen Tätigkeit, die eher sozial als genetisch weitergegeben werden. Jede soziale Gruppe ist durch ihre eigene Kultur gekennzeichnet, die das Denken und die Tätigkeiten ihrer Mitglieder auf unendliche viele wahrnehmbare und nicht wahrnehmbare Arten prägt. Der Ausdruck ‚Kultur‘ wurde als erklärender Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts als Reaktion gegen die Überzeugung der Aufklärung betreffend die Einheit der Menschheit und den universalen Fortschritt prominent. Nach J.G. Herder unterscheiden sich alle Kulturen und haben ihre eigenen Bedeutungs- und Wertsysteme, und können folg947
Kūkai (774–835)
lich nicht auf einer universalen Skala bewertet werden. Die Nachfolger von Herder, wie Nietzsche und Spengler, betonten die organische Natur der Kultur und priesen die kulturelle Einzigartigkeit gegen das, was Spengler ‚Zivilisation‘ nannte, d.h. eine Welt-Stadt, in der kulturelle Unterschiede erodiert sind. Es ist jedoch schwierig einzusehen, wie Herder und seine Nachfolger eine schlussendliche Selbstbesiegung des Kulturrelativismus vermeiden wollen; die Aufgabe jener, die die Bedeutung menschlicher Kultur verstehen, ist es, dieser einen Sinn zu verleihen, ohne Kulturen voneinander abzuschotten und das Wechselspiel zwischen ihnen zu verunmöglichen. Neben dem anthropologischen Sinn von Kultur gibt es noch den Sinn des Ausdrucks ‚Kultur‘ als das, wodurch sich die höchsten und künstlerischsten Bestrebungen artikulieren. Kultur wurde in diesem Sinne von Matthew Arnold und anderen als ein Ersatz für Religion, oder als eine Art säkularer Religion verstanden. Während die Kultur in diesem Sinne sicherlich über den Materialismus herziehen kann, ist es schon nicht mehr so klar, dass sie dies auch ohne Grundierung in der Religion wirksam tun kann. Und es ist ebenso wenig klar, dass eine Trennung in ‚hohe‘ und ‚niedrige‘ Kultur wünschenswert ist. Es sind tatsächlich nur die Künstler der Moderne des 20. Jahrhunderts, die eine solche Unterscheidung durch ihr Werk geltend machten, und zwar zum Schaden der ‚hohen‘ und der ‚niedrigen‘ Kultur unserer Zeit. ANTHONY O’HEAR
Kulturrelativismus
Siehe: Rationalität und Kulturrelativismus
Kūkai (774–835)
Kūkai, der auch unter seinem posthum verliehenen Ehrentitel Kōbō Daishi bekannt ist, war der Gründer des japanischen Shingon (‚Wahres Wort‘ oder ‚Mantra‘) Buddhismus und wird oft als der erste umfassende philosophische Denker der japanischen Geschichte betrachtet. Er baute auf der buddhistischen esoterischen Tradition auf, die zuerst in Indien und dann in China entwickelt worden war, wo Kūkai sie kennen lernte. Er meinte, die Wirklichkeit sei eine kosmische Person, nämlich der Buddha Dainichi. Dainichis kosmische Gedanken, Worten und Taten formen die mikrokosmischen gegenständlichen Konfigurationen, die Resonanzen und die Veränderungsmuster. Mittels Durchführung von Shingon-Ritualen kommt man angeblich in Einklang mit den mikrokosmischen Bestandteilen und lernt die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit kennen, die die Empfindungswelt bilden, in der wir auf gewöhnliche Weise leben. Siehe auch: Buddhistische Philosophie, japanische; Japanische Philosophie; Metaphysik THOMAS P. KASULIS
Kundakunda
Siehe: Jainistische Philosophie
Künftige Generationen, Verpflichtungen gegenüber
Siehe: Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber
Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz (KI, engl.: artificial intelligence, AI) versucht Computersysteme (verschiedener Bauart) dazu zu bringen, das zu tun, was der menschliche Geist kann: z.B. die Interpretation einer Photographie, die ein Gesicht abbildet, me-
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Künstliche Intelligenz
dizinische Diagnosen, die Verwendung und Übersetzung von Sprachen, eine bessere Ausführung der gestellten Aufgabe zu lernen. KI hat zwei Hauptziele. Eines ist technologischer Art: die Herstellung nützlicher Werkzeuge, die den Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten helfen können, oder die Tätigkeiten für sie ausführen können. Das andere ist psychologischer Natur: uns beim Verständnis des menschlichen (und tierischen) Geistes zu helfen, oder sogar der Intelligenz im Allgemeinen. Die computergestützte Psychologie verwendet KI-Konzepte und KI-Methoden zur Formulierung und dem Test ihrer Theorien. Mentale Strukturen und Prozesse werden in Computerterminologie beschrieben. Gewöhnlich werden diese Theorien geklärt und ihre Voraussagen getestet, indem man sie durch ein Computerprogramm laufen lässt. Ob Menschen eine äquivalente Aufgabe auf dieselbe Art und Weise ausführen würden, ist eine andere Frage, bei deren Beantwortung psychologische Experimente helfen können. Die KI hat gezeigt, dass der menschliche Geist komplexer ist, als die Psychologen zuvor annahmen, und dass introspektiv ‚einfache‘ Ergebnisse, von denen wir viele mit den Tieren gemeinsam haben, sogar schwerer künstlich nachzuahmen sind als die höheren Funktionen wie z.B. die Logik und die Mathematik. Es gibt tiefgreifende theoretische Diskussionen innerhalb der KI darüber, wie man die Intelligenz am besten modellieren kann. Die klassischen (symbolischen) KI-Programme bestehen aus formalen Anweisungen zur Manipulation formaler Symbole; diese werden sequentiell ausgeführt, eine nach der anderen. Konnektionistische Systeme, die auch ‚neuronale Netzwerke‘ genannt werden, führen viele einfache Prozesse parallel (simultan) aus; die meisten arbeiten auf eine Art und Weise, die nicht durch Listen von Anweisungen beschrieben wird, sondern durch Differentialgleichungen. Hybride Systeme kombinieren Aspekte der klassischen und der konnektionistischen KI. Jüngere Ansätze arbeiten an der Konstruktion anpassungsfähiger autonomer Akteure, deren Verhalten selbstbestimmt ist, statt von außen auferlegt, und die sich Umweltbedingungen anpassen. Die situated robotics (zu dt. etwa: ‚lagespezifische Roboterkunde‘) baut Roboter, die direkt auf Umwelthinweise reagieren, statt komplexen internen Plänen wie bei einem klassischen Roboter zu folgen. Die Programme, neuronalen Netzwerke und Roboter der evolutionären KI werden wiederum nicht auf der Basis von detaillierten menschlichen Entwürfen hergestellt, sondern durch automatische Evolution (Variation und Selektion). Die Disziplin ‚Künstliches Leben‘ (engl.: artificial life) studiert die Entstehung von Ordnung und adaptivem Verhalten im Allgemeinen und ist eng mit der KI verbunden. Philosophische Probleme, die zentral für die KI sind, ergeben sich aus dem Folgenden. Kann die klassische oder konnektionistische KI die Begriffsbildung und das Denken erklären? Kann Bedeutung durch KI erklärt werden? Welche Arten mentaler Repräsentation gibt es (wenn überhaupt)? Können Computer oder nichtsprachliche Tiere Überzeugungen und Wünsche haben? Könnte die KI das Bewusstsein erklären? Sollte die Intelligenz besser durch weniger intellektualistische Ansätze erklärbar sein, die auf dem Modell von Geschicklichkeiten und know-how basieren, und weniger auf expliziter Repräsentation? MARGARET A. BODEN
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Künstlerischer Ausdruck
Künstlerischer Ausdruck
Viele Arten psychologischer Zustände können in oder durch Kunstwerke ausgedrückt werden. Es ist aber der künstlerische Ausdruck des Gefühls, der die Hauptrolle in den kunstphilosophischen Diskussionen spielte. Das Gefühl wird in bildlichen, literarischen und anderen repräsentierenden Kunstwerken durch die dargestellten oder auf andere Weise repräsentierten Figuren ausgedrückt. Wir identifizieren uns oft mit den Gefühlen solcher Figuren auf ziemlich dieselbe Art, wie wir uns normalerweise mit den Gefühlen von anderen Menschen identifizieren, aber wir haben vielleicht auch spezielles Wissen von dem emotionalen Zustand einer Figur, beispielsweise über einen direkten Zugang zu ihren Gedanken. Ein zentraler Fall des Ausdrucks von Gefühl durch Kunstwerke ist der Ausdruck von Gefühl durch ein rein musikalisches Werk. Was ist die Quelle des Gefühls, das durch ein Musikstück ausgedrückt wird? Während die Kunst ihr Publikum einnimmt und oft eine emotionale Antwort bei ihm hervorruft, besteht ihre Expressivität doch nicht in dieser Macht. Wir nennen ein Kunstwerk nicht deshalb z.B. traurig, weil es dazu tendiert, in uns Trauer hervorzurufen; sondern wir reagieren auf diese Weise deshalb, weil die Trauer in ihm gegenwärtig ist. Und während die Künstler die Expressivität ihrer Werke gewöhnlich herbeiführen, manchmal auch, indem sie ihre eigenen Gefühle darin zur Geltung bringen, hängt doch der Erfolg ihrer Tätigkeit nicht von letzterem ab. Überdies hat die erreichte Expressivität eine Unmittelbarkeit und Transparenz wie die von echten Tränen, was offensichtlich im Widerspruch zu dieser hoch entwickelten, kontrollierten Form des Selbstausdrucks steht. Das liegt daran, dass die Kunst Gefühle mit einfacher Direktheit präsentiert, so dass sie ein Vehikel für den Selbstausdruck sein kann, jedoch nicht umgekehrt. Wenn Gefühle die Erfahrung von fühlenden Wesen sind, wem sind dann aber diejenigen zuzurechnen, die in der Kunst ausgedrückt werden, wenn nicht dem Publikum oder dem Künstler? Vielleicht sind sie die einer fiktiven Pseudo-Person. Wir könnten uns Pseudo-Personen vorstellen, die die Emotionen durchleben, die in der Kunst ausgedrückt werden, aber es ist nicht klar, dass wir dies tun müssen, um uns dieser Expressivität bewusst zu werden, denn es ist fraglich, ob Kunstwerke die Erscheinung von Gefühlen hervorrufen, so wie es Masken, Weidenbäume und ähnliches tun, oder ob sie nicht eher äußerliche Zeichen auftretender Gefühle sind. Expressivität ist wertvoll, weil sie uns die Gefühle im Allgemeinen zu verstehen hilft, während sie zur Bildung eines ästhetisch befriedigenden Ganzen beiträgt. Siehe auch: Collingwood, R.G.; Croce, B.; Emotivismus; Gefühl als Antwort auf Kunst; Gefühle, Philosophie der; Hanslick, E.; Kunst, Wert der; Künstlers, Absicht des STEPHEN DAVIES
Künstlers, Absicht des
W.K. Wimsatt und Monroe C. Beardsleys berühmter Aufsatz The Intentional Fallacy (1946, dt. etwa: ‚Der absichtliche Trugschluss‘) rief eine der zentralen Debatten in der Ästhetik und der Literaturtheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervor. Indem sie den Glauben, dass Kritiker die Absichten der Autoren berücksichtigen sollten, wenn sie ein literarisches Werk interpretieren oder bewerten, als Trugschluss bezeichneten, lehnten sie eine eingewurzelte und nahe liegende Annahme der traditionellen Kritik ab, denn normalerweise empfinden wir es als selbst-
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Kunst, abstrakte
verständlich, dass das Verstehen von Handlungen, einschließlich der Sprech- und Schreibhandlungen, ein Begreifen der Absicht des Akteurs voraussetzt. Sie drückten aber damit eine Idee aus, die großen Einfluss gewann. Diese war ein zentraler Anspruch der ‚neuen Kritik‘, wobei die Marginalisierung des Autors auch ein deutliches Merkmal der strukturalistischen und poststrukturalistischen Literaturtheorie ist. Der größte Teil der Debatte über die Absichten eines Künstlers – wobei der Ausdruck ‚Künstler‘ hier als eine allgemeine Bezeichnung für Schriftsteller, Komponisten, Maler etc. verwendet wird – hat sich auf deren Relevanz für die Interpretation von Kunstwerken konzentriert. Insbesondere fragte man sich, ob äußere Hinweise auf die Absichten des Künstlers, d.h. Hinweise, die sich nicht im Werk selbst zeigen, relevant zur Bestimmung der Bedeutung des Werks geben. Siehe auch: Barthes, R.; Derrida, J. ; Fremdgeistige, das; Kunst, Verständnis der ; Künstlerischer Ausdruck; Kunstkritik; Intention PAUL TAYLOR
Kunst, abstrakte
Die Verwendung des Ausdrucks ‚abstrakt‘ als einer Kategorie der visuellen Kunst geht auf das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurück, als Maler und Bildhauer sich von der Ähnlichkeit des Abbildes abwandten und solche Abstraktionsformen wie den Kubismus, den Orphismus, den Futurismus, den Rayonismus und den Suprematismus einführten. Zwei Unterkategorien können dabei unterschieden werden: erstens die Arten der figurativen, streng schematischen Darstellung, und zweitens vollständig nichtfigurative oder nichtgegenständliche Entwurfsformen (im weitesten Sinne des Ausdrucks). Beide stehen im Gegensatz zu den klassischen Repräsentationsformen (Realismus, Naturalismus, Illusionismus, Mimetismus), die als Verpflichtung zu einer relativ vollständigen Abbildung des Bildgegenstands verstanden wurden und breit genug angelegt waren, um den traditionellen Kanon der ‚hohen Kunst‘ bis zum Postimpressionismus abzudecken. Analytischer und synthetischer Kubismus sind Modellbeispiele der ersten Unterkategorie, während Mondrians Neoplastizismus und Pollocks klassische Tröpfelarbeiten Paradigmen der zweiten sind. Obwohl die Wirkung revolutionär war, waren die positiven Beweggründe für diesen Abstraktionsgrad der visuellen Künste freilich nicht gänzlich neu. Das Neue daran war die Erhebung von bis dahin untergeordneten Zielen an die Spitze, sowie die Verfolgung gewisser grundsätzlicher Ziele isoliert vom Gesamtanliegen bildlicher Darstellung. So feiert die abstrakte Kunst verschiedentlich strukturelle und farbliche Eigenschaften von Gegenständen, Szenen und Mustern, Bewegungseffekten, Licht und Atmosphäre, Aspekte des Wahrnehmungsprozesses (sowohl normaler Art, als auch expressiv aufgeladen) und Formen, die kosmische Konzepte, visionäre Zustände oder utopische Ambitionen ausdrücken. Mit einigen wenigen Ausnahmen (z.B. der Futuristen) waren die Gründer der abstrakten Kunst weit entfernt von einer klaren Sicht dessen, was ihrer Arbeit im Hinblick auf ihre Bedeutung bevorstand, und die Betrachter fanden die aufeinander folgenden Abstraktionswellen zunächst verwirrend und sogar beleidigend. Die abstrakte Kunst ist aber nunmehr ein gesicherter Teil des Kanons der ‚hohen Kunst‘, obwohl ihre Anziehungskraft allgemein weniger gut verstanden wird als die der klassischen Abbildungsweisen. Auch die Kritik der abstrakten Kunst ist inzwischen klarer geworden. Die hauptsächlichen philosophischen Themen hinsichtlich der abstrakten Kunst betreffen die Definition des Ausdrucks und die Abgrenzung von untergeordneten 951
Kunst und Moral
Typen, die Beziehung zwischen der Abstraktion und anderen Formen der Avantgardekunst, die ihr oberflächlich ähneln, ihr künstlerischer Wert, so weit er von den verschiedenen Formen erreicht wurde, und schließlich die theoretischen Grenzen der Bedeutung, die mittels Abstraktion erreichbar sind im Vergleich mit den entsprechenden Grenzen der figurativen Kunst. Siehe auch: Abbild; Gefühl als antwort auf Kunst; Adorno, T.W.; Formalismus in der Kunst JOHN H. BROWN
Kunst und Gefühl
Siehe: Gefühl als Antwort auf Kunst
Kunst und Moral
Eine komplexe Gruppe von Fragen ergibt sich bei der Prüfung der Beziehung zwischen der Kunst der Moral. Zunächst gibt es hier eine Reihe empirischer Überlegungen über die Wirkung, die Kunstwerke auf uns haben können; ein offensichtlich strittiger Fall ist jener der Pornographie. Viele würden einwenden, dass das künstlerische Verdienst einer Arbeit unabhängig von jeglicher Einstellung oder Handlung ist, zu deren Annahme oder Ausführung es uns bringt. Dieser Anspruch besteht jedoch nicht die genauere Prüfung, obwohl man zwischen dem künstlerischen Wert und dem Wert der Kunst als Ganzer unterscheiden muss. Es gibt zwar keine zwingenden Argumente, die zeigen könnten, dass wir die moralischen Qualitäten von Kunstwerken in Rechnung stellen müssten; in der Praxis ist es aber sehr schwierig, sie zu ignorieren, insbesondere wenn der Gegenstand des Kunstwerks hartnäckig moralischer Natur ist, oder wenn die Arbeit offensichtlich moralisch verdorben ist. Es gibt eine lange Tradition, die bis auf Platon zurückgeht, nach der man die Kunst misstrauisch wegen ihrer Macht über unsere Gefühle betrachtet, und weite Teile der westlichen ästhetischen Theoriebildung ist eine Antwort auf Platons Herausforderung gewesen. Die lang anhaltende Verteidigung rechtfertigte die Kunst als eine Kombination aus Vergnügen und Belehrung, obwohl die beiden sich nie so gut vertrugen, wie man hoffte. Im frühen 19. Jahrhundert wurde eine neue, komplexere Darstellung der Kunst durch Hegel entwickelt, und zwar in Gestalt einer historisierten Sichtweise, bei der Kunst eine der Weisen ist, durch die wir zum Selbstbewusstsein kommen; die Betonung verschob sich von der Wahrheit zu einer unabhängig existierenden Wirklichkeit, von da zur Wahrhaftigkeit, und von dort wiederum zu unserer eigenen Natur, wie wir sie erforschen, indem wir Kunst hervorbringen. Übersetzt in die soziale Sphäre wurde dies zu einer Lehre von der Bedeutung der Kunst als einem Akteur des politischen Bewusstseins, der auf subtile Weise vorgeht, um die Sichtweise der Wirklichkeit zu untergraben, die uns durch die Ideologien auferlegt wird, in deren Fängen wir uns befinden. Siehe auch: Aristoteles; Ästhetik und Ethik; Collingwood, R.G.; Croce, B.; Gefühl als Antwort auf Kunst; Dichtung; Hegel, G.W.F. § 8; Johnson, S.; Kant, I. § 12; Kunst, Verständnis der; Kunst, Wert der; Kunstwerke, Ontologie der; Moral und Gefühl; Murdoch, I.; Pornographie; Schiller, J.C.F.; Tolstoi, L.N. MICHAEL TANNER
Kunst und Wahrheit
Manche Dinge innerhalb der Welt einer literarischen Arbeit sind wahr. In der Welt, die von Madame Bovary beschworen wird, ist es wahr, dass Emma Roualt Charles Bovary heiratete. Hier geht es uns jedoch nicht um die Wahrheit innerhalb 952
Kunst, Definition der
der Fiktion, sondern vielmehr darum, was es an einem Kunstwerk ausmacht, etwas Wahres über die wirkliche Welt auszusagen. Darstellende Werke repräsentieren Zustände oder Gegenstände, die auf eine bestimmte Weise wiedergegeben werden. Der Begriff der Wahrheit passt hier recht gut, denn wir können fragen, ob die repräsentierten Sachverhalte wirklich in der Welt existieren, oder ob ein repräsentierter Gegenstand existiert und wirklich so beschaffen ist, wie seine Repräsentation dies vorgibt, oder ob die Repräsentation einer bestimmten Art von Gegenstand ein wirklich repräsentatives Beispiel dieser Art liefert. Wenn dies so ist, dann könnten wir die Arbeit wahr heißen, oder zumindest wahr in dieser Hinsicht. Ein Kunstwerk wird uns oft zu einer ähnlichen Antwort auf das veranlassen, was dort dargestellt ist, wie sie auch auf den wirklichen Gegenstand ausgefallen wäre; wir bekommen Angst und Mitleid mit Gegenständen, von denen wir wissen, dass sie reine Fiktion sind. Aber eine Arbeit könnte Charaktere auch schildern, die auf eine gewisse Weise auf imaginäre Situationen reagieren, die sie heraufbeschwört, und dies mit der Implikation, dass die Reaktion wahrscheinliche ein nach Maßgabe der menschlichen Gefühle oder praktischen Belange in der jeweiligen Situation ist, oder eine Antwort, die man von einem Charakter der gegebenen Art erwartet, so dass wir eine solche Arbeit vernünftigerweise wahr nennen können, wenn wir der Meinung sind, dass die geschilderte Situation nachvollziehbar ist. Hiergegen ließe sich einwenden, dass, wenn wir über ein Werk urteilen, es sei in bestimmter Hinsicht im Verhältnis zum Leben wahr, wir schon vorher gewusst haben müssen, dass das Leben so aussieht, um darüber überhaupt urteilen zu können. Interessanterweise scheinen Kunstwerke aber imstande zu sein, Situationen zu schildern, die wir noch gar nicht erfahren haben, und in denen das Geschilderte unsere Aussage zu rechtfertigen scheint, derzufolge das Werk uns eine wahrscheinliche oder nachvollziehbare Entwicklung der geschilderten Situation gezeigt (bzw. gelehrt) habe, oder uns gezeigt habe, wie es gewesen wäre, wenn wir diese Situation erlebt hätten. Man sagt auch und insbesondere von narrativen Fiktionen, dass sie uns infolge ihrer Macht zu zeigen, wie verschiedene imaginäre Situationen aussähen, sie uns darüber aufklären könnten, wie man leben sollte. So können wir darüber nachdenken, wie ein Kunstwerk ein Vehikel der Wahrheit über die wirkliche Welt sein kann. Dies wirft eine weitere Frage auf, die manchmal das Überzeugungsproblem genannt wird, ob nämlich der Wert eines Werks als Kunstwerk in Beziehung zu seiner Wahrheit steht. Wenn ein Werk impliziert oder nahe legt, dass etwas der Fall sei, sollte ich es dann als Kunst höher schätzen, wenn ich akzeptiere, was dort als Wahrheit behauptet wird? Oder sollte ich es anders herum als eine ästhetische Nichterfüllung betrachten, wenn ich dies nicht akzeptiere? Siehe auch: Erzählung; Fiktive Entitäten; Kunst und Moral; Kunst, Wert der; Murdoch, I. PAUL TAYLOR
Kunst, Definition der
Viele der frühesten Definitionen der Kunst wahren wahrscheinlich dazu gedacht, die einem Publikum, das mit dem Begriff bereits vertraut war, ins Auge springenden oder wichtigen Merkmale zu betonen, statt das Wesen zu analysieren, das allen Kunstwerken gemeinsam eigen sein soll, und nur ihnen. Tatsächlich wurde eingewandt, dass Kunst nicht mehr streng definiert werden könne, da kein unveränderliches Wesen in ihren Verkörperungen zu entdecken sei. Diese Sichtweise gerät 953
Kunst, Verständnis der
jedoch auf der einen Seite bei der Erklärung der Einheit des Begriffs in Schwierigkeiten. Beispielsweise reichen Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerken nicht aus, um Kunstwerke von anderen Dingen zu unterscheiden. Und auf der anderen Seite übersieht sie die attraktive Möglichkeit, die Kunst als eine Beziehung zwischen der Tätigkeit von Künstlern, den sich daraus ergebenden Produkten und dem Publikum, das sie aufnimmt, zu sehen. Zwei Definitionstypen sind seit den 1970er Jahren prominent geworden: die funktionale und die prozedurale. Erstere betrachtet etwas nur dann als Kunst, wenn es der Funktion dient, für die wir die Kunst haben, und die gewöhnlich als diejenige bezeichnet wird, ästhetische Erfahrung zu verschaffen. Die letztere betrachtet etwas nur dann als Kunst, wenn es als solches ‚getauft‘ wurde mittels Durchführung der entsprechenden Prozeduren durch einen Akteur. In der Fassung dieser Theorie, in der der Akteur seine Autorität aus dem Ort innerhalb einer informellen Institution bezieht, also der ‚Kunstwelt‘, ist der Prozeduralismus als die institutionelle Theorie bekannt. Diese definitorischen Strategien stehen im Gegensatz zur Praxis, wenn nicht bereits zur Theorie, weil die relevanten Prozeduren manchmal gesondert oder im Gegensatz zu den angenommenen Funktionen der Kunst angewandt werden. Offensichtlich sind sich diese Theorien dann darüber uneinig, ob das jeweilige Ergebnis als Kunst zu betrachten sei. Um dem geschichtlich wechselnden Charakter von Kunst gerecht zu werden, könnte eine Definition eine rekursive Form annehmen und behaupten, dass etwas Kunst ist, wenn es in einer geeigneten Beziehung zu früheren Kunstwerken steht: dann ist es der Ort eines konkreten Kunstwerks innerhalb der akzeptierten, kunstproduzierenden Traditionen, der aus ihm ein Kunstwerk macht. Die in den 1980er Jahren entwickelten Theorien hatten oft diese Form. Verschiedentlich sehen sie beispielsweise die zentrale Beziehung zwischen dem einzelnen Werkstück und dem Korpus der akzeptierten Werke als einen Anhaltspunkt dafür, welche Betrachtungsweise intendiert war, oder auch als Anhaltspunkt für einen verbreiteten Stil oder für seine Fälschung wegen einer bestimmten Form von Erzählung. Siehe auch: Ästhetische Begriffe; Collingwood, R.G.; Croce, B.; Definition; Künstlers, Absicht des; Tolstoi, L.N. STEPHEN DAVIES
Kunst, Formalismus in der
Siehe: Formalismus in der Kunst
Kunst, Verständnis der
Kunst bringt viele Formen ihres Verständnisses mit sich. So mag jemand, der mit einer allegorischen Darstellung wie ‚Die Hochzeit des Arnolfini‘ von Van Eyk konfrontiert ist, die Bedeutung der Gegenstände verstehen wollen, die dort abgebildet sind. Entsprechend mag jemand, der mit einem undurchsichtigen Gedicht wie z.B. Eliots ‚The Waste Land‘ konfrontiert wird, zu verstehen suchen, was es bedeutet. Manchmal beanspruchen wir auch gar nicht, ein Kunstwerk zu verstehen, z.B. ein Musikstück, wenn wir nicht in der Lage sind, uns daran zu erfreuen, weil wir nicht verstehen, wie es organisiert ist oder zusammenhängt. Manchmal geht die Herausforderung unseres Verständnisses aber auch tiefer, wenn wir z.B. fragen, warum einige Dinge, einschließlich solcher berüchtigter Produktionen der Avantgarde wie das ausgestellte Pissoir von Marcel Duchamp, überhaupt Kunst genannt werden. Ei954
Kunst, Wert der
nige haben auch behauptet, dass wir zum Verständnis eines Kunstwerkes seinen Kontext verstehen müssen. Manchmal ist der Kontext, auf den Bezug genommen wird, jener von privaten Problemen und Zielen des einzelnen Künstlers einer bestimmten Tradition, wie wenn man die Kirche von St. Martin-in-the-Fields als einen Beitrag ihrer Architekten an das ärgerliche Problem der Kombination eines Turms mit einer klassischen Fassade versteht. Manchmal ist der Kontext sozialer Art, wie wenn Marxisten argumentieren, dass Kunstwerke am besten als Reflexionen der mehr oder weniger unangemessenen wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaften zu verstehen sind, die sie hervorgebracht haben. Das Verständnis von Kunst wird zu einem philosophischen Problem, erstens weil man manchmal denkt, dass eine der zentralen Aufgaben ihrer Interpretation das Verständnis der Bedeutung eines Kunstwerks sei. Allerdings haben jüngere Autoren, vor allem Derrida, den Begriff der Bedeutung eines Kunstwerks als etwas, das endgültig zu entziffern sei, hinterfragt, und sie bieten eine alternative Interpretationsweise im Sinne eines niemals endenden Spiels mit den unendlich mannigfaltigen Bedeutungen des Textes an. Eine zweite kontroverse Frage war der Umfang, bis zu dem das Urteil über Kunstwerke von dem Verständnis der Umstände ihrer Herstellung geschieden werden kann, und zwar sowohl individuell, als auch kulturell. In diesem Sinne argumentierte Clive Bell, dass wir zur Wertschätzung eines Kunstwerkes nicht mehr benötigen als das Wissen um seine Farben, Formen und räumlichen Anordnungen. Andere, von Wittgenstein bis Marx, haben aus einer Vielzahl von Gründen eingewandt, dass ein Kunstwerk nicht richtig verstanden und geschätzt werden kann, wenn man nicht in gewissem Umfange seine Beziehung zu dem Kontext seiner Entstehung versteht; dies ist die Sichtweise, die mit dem berühmten Ausdruck von Beardsley und Wimsatt als ‚genetischer Trugschluss‘ (engl.: genetic fallacy) charakterisiert wurde. Siehe auch: Kunst und Moral; Kunst und Wahrheit; Kunst, Wert der; Kunstkritik; Künstlers, Absicht des COLIN LYAS
Kunst, Wert der
Kunst hat so viele Arten von Wert wie es Sichtweisen gibt, aus denen heraus sie bewertet werden kann. Darüber hinaus variiert der Gewinn aus der Kunst mit der Rolle des Teilnehmers, denn der Gewinn aus der Kunst ist jeweils ein anderer bei der Erschaffung, der Aus- oder Durchführung und dem reinen Genuss von Kunst. In der Kunstphilosophie ist jedoch ein Wert grundlegend, nämlich jener kennzeichnende Wert eines Kunstwerks als Kunstwerk, der auch sein ‚künstlerischer Wert‘ genannt werden kann. Dieser Wert ist dem Werk innerlich insofern, als er sich durch den inneren und nicht so sehr durch den zweckbezogenen Wert bestimmt, d.h. durch dessen gebildete Erfahrung, in der es verstanden wird. Der künstlerische Wert ist eine graduelle Sache, aber er ist keine messbare Quantität, und ob ein Werk besser ist als ein anderes, mag unbestimmt bleiben. Ein Urteil über den künstlerischen Wert einer Arbeit beansprucht zu Recht oder Unrecht Gültigkeit nicht allein für die Person, die das Urteil fällt, sondern für jedermann. Sowohl David Hume, als auch Immanuel Kant versuchten zu zeigen, wie solch ein Anspruch gut begründet werden kann, aber ihre Versuche werden üblicherweise als gescheitert betrachtet, und es existiert keine akzeptierte Lösung des von ihnen behandelten Problems. Viele Philosophen haben sich mit der Beziehung zwischen dem künstlerischen Wert und anderen Werten befasst. Der berühmteste Angriff auf die Kunst, gegründet auf die 955
Kunstkritik
angenommene Beziehung zu anderen Werten, wurde von Platon unternommen, der behauptete, dass fast sämtliche Kunst unerwünschte soziale Folgen hat und aus einer anständigen Gesellschaft ausgeschlossen werden sollte. Platon übersah jedoch viele Möglichkeiten, und die Frage nach dem nützlichen oder schädlichen Einfluss der Kunst ist wesentlich komplexer, als er erkannte. Siehe auch: Ästhetik und Ethik; Kunst und Moral; Kunst und Wahrheit; Kunst, Verstehen der; Kant, I. § 12 MALCOLM BUDD
Kunstkritik
Ein Kunstwerk zu kritisieren heißt ein Gesamturteil über seine Verdienste oder Schwächen abzugeben und dieses Urteil durch eine Bezugnahme auf die Merkmale, die es besitzt, zu stützen. Diese Tätigkeit ist bereits sehr alt; wir sehen beispielsweise Aristoteles, der die herausragende Qualität von Sophokles’ Oedipus Rex in Beziehung zur Exzellenz seiner Handlungskonstruktion setzt. Die Kritik wurde zu einem Thema der Philosophie, weil die Reflektion über die Arten von Gegenständen, über die Kritiker etwas sagten, verschiedene Arten von Verwirrung und Verblüffung, und in einigen Fällen sogar eine allgemeine Skepsis über die Möglichkeit der Kritik überhaupt hervorriefen. Zwei allgemeine und aufeinander bezogene Probleme haben die Philosophen in Anspruch genommen. Das erste ist die Frage, ob Kritik eine rationale Tätigkeit ist, d.h. ob Kritiker rationale Gründe für ihre Urteile angeben können, die mögliche Opponenten von der Richtigkeit dieser Urteile überzeugen könnten. Das zweite, zu dem Kant und Hume beachtliche Beiträge geliefert haben, ist das Problem der Objektivität kritischer Urteile, von dem in weiten Kreisen angenommen wird, dass die Einschätzungen der Kritiker vollkommen subjektiv oder einfach ‚Geschmacksache‘ seien. Von Argumenten, die deduktive oder induktive Gründe zur Demonstration der Möglichkeit von Beweisen kritischer Urteile anführen, ist man allgemein der Auffassung, dass sie gescheitert seien. Ein anderer Ansatz beschreibt den Kritiker neu und insgesamt nicht als jemanden, der Argumente zum Beweis seiner Urteile gegenüber einem Publikum verwendet, sondern als jemanden, der darauf abzielt, dem Publikum bei der Wahrnehmung von Merkmalen des Kunstwerks zu helfen und ihre Rolle in dem Kunstwerk zu verstehen. Siehe auch: Ästhetische Begriffe; Kunst, Verständnis der; Kunst, Wert der; Künstlers, Absicht des COLIN LYAS
Kunstwerke, Ontologie der
Wenn man versucht zu unterscheiden, welcher Art von Dingen Kunstwerke zuzurechnen sind, so ist der naheliegendste Ausgangspunkt die Hypothese, dass sie physische Gegenstände sind. Dies ist jedoch nur für einige Werke plausibel wie z.B. Bilder und Skulpturen. In solchen Fällen sagen wir, dass das Werk eine auf bestimmte Weise ausgezeichnete Leinwand oder ein derartiges Stück Stein ist. Selbst in diesen offenkundig vorteilhaften Fällen gibt es allerdings metaphysische Einwände gegen diesen Vorschlag, dass nämlich Kunstwerke und die mit ihnen identifizierten physischen Gegenstände nicht dieselben Eigenschaften besitzen und deshalb nicht identisch sein können. Und es gibt auch einen ästhetischen Einwand: dass die Plausibilität der These für das Bild und die Skulptur auf der falschen Sichtweise beruht, dass das authentische Objekt, das vom Künstler hergestellt wurde, ästhe956
Kunstwerke, Ontologie der
tisch relevante Merkmale besitzt, die möglicherweise von keiner Kopie exemplifiziert werden können. Erkennt man einmal an, dass Bilder und Skulpturen im Prinzip genauso reproduzierbar sind, wie Romane und Musik-Noten dies sind, so fällt der Grund für die Annahme der Authentizität der Leinwand oder des Steins als Kunstwerk in sich zusammen. Für literarische und musikalische Kunstwerke ist die Standardauffassung, dass sie Strukturen sind, und zwar Strukturen von Worttypen im literarischen und Klangtypen im musikalischen Falle. Diese strukturalistische Sichtweise steht im Gegensatz zum Kontextualismus, der behauptet, dass die Identitätsbedingungen für Kunstwerke historische Merkmale in Rechnung stellen müssen, die ihren Ursprung und die Herstellungsweise einbeziehen. Die Kontextualisten beanspruchen, dass Kunstwerke mit derselben Struktur dennoch unterschiedliche historische Merkmale haben können und deshalb als unterschiedliche Werke gelten können. Nelson Goodman hat vorgeschlagen, dass wir die Kunstwerke in autographische und allographische Arten unterteilen; für autographische Werke wie z.B. Bilder bestimmt sich die Echtheit teilweise durch die Produktionsgeschichte; für allographische Werke wie z.B. Romane bestimmt sie sich auf andere Weise. Unsere Prüfung der Hypothese, dass gewisse Kunstwerke physische Gegenstände sind, und unsere Diskussion der strukturalistischen / kontextualistischen Kontroverse gibt uns Gründe zu der Annahme, dass Goodmans Unterscheidung keine akzeptable Kategorisierung von Kunstwerken leistet. Eine rundum erfolgreiche Ontologie von Kunstwerken würde uns sagen, welche Gegenstände Kunstwerke sind, und welche Gegenstände nicht; scheitert dies, so erhielten wir hierdurch Identitätsbedingungen, die uns in die Lage versetzten zu sagen, unter welchen Umständen dieses Kunstwerk und jenes dasselbe sind. Da die Komplexität der hierbei zu diskutierenden Aspekte sich schnell verzweigt, wäre es bei Überschreitung eines gewissen Punktes angebracht, nur noch die Frage der Identitätsbedingungen weiter zu verfolgen. Der Einfachheit halber konzentrierte sich dieser Beitrag auf Kunstwerke der geschriebenen Literatur, der notierten Musik und der plastischen und bildenden Kunst. Siehe auch: Kunst, Verständnis von; Strukturalismus; Type / Token Unterscheidung
GREGORY CURRIE
957
L La Barre, Poulain de
Siehe: Feminismus (§§ 2, 3)
La Mettrie, Julien Offroy de (1709–1751)
La Mettrie ist vor allem als Autor eines materialistischen Manifestes des 18. Jahrhunderts mit dem Titel ‚L’Homme machine‘ (dt.: ‚Der Maschinenmensch‘, 1747) bekannt geworden. Sein Interesse an philosophischen Fragen erwuchs aus seiner Beschäftigung mit der Medizin. Er gründete eine Schule des medizinischen Materialismus innerhalb der französischen Aufklärung. Geboren wurde er in St. Malo in einer Familie wohlhabender Textilhändler und konnte daher einer medizinischen Laufbahn in Paris nachgehen. Er studierte auch zwei Jahre lang zusammen mit dem renommierten Hermann Boerhaave in Leiden. Nach einer kurzen Phase der medizinischen Praxis verwandte La Mettrie seine Kräfte auf die Übersetzung und Kommentierung von Boerhaaves medizinischen Werken. Zu dieser Zeit begann er auch mit der Veröffentlichung der Texte, die ihn zu einem Paria sowohl der Medizinischen Fakultät von Paris, als auch der orthodoxen Philosophie machten, und zwar durch seine medizinischen Satiren und seine erste Arbeit zur materialistischen Philosophie, der ‚L’Histoire naturelle de l’âme‘ (dt.: ‚Naturgeschichte der Seele‘, 1745). Wegen der Empörung, die dieses Werk hervorrief, wurde er im Jahre 1745 nach Holland vertrieben. Aber ‚L’Homme machine‘, also das Buch, in dem er seinen Materialismus gründlich und ausdrücklich auf den Menschen anwandte, war selbst den gewöhnlich toleranten Holländern zu radikal, und La Mettrie war gezwungen, um Asyl am Hofe Friedrich des Großen anzusuchen, wo er später starb. Seine Entschlossenheit zur Veröffentlichung von Ideen, die seine Zeitgenossen als zu gefährlich betrachteten, führte dazu, dass die philosophes, d.h. die französischen Aufklärer, ihn ablehnten. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische KATHLEEN WELLMAN
Labriola, Antonio (1843–1904)
Antonio Labriola war der Begründer des italienischen theoretischen Marxismus. Inhaltlich war er dem Marxismus der Zweiten Internationale verpflichtet, war dort aber stärker in Frage gestellt als andere Mitglieder der Bewegung. Er beeinflusste tief die Entwicklung des italienischen Denkens, indem er ständig den ebenfalls einflussreichen Idealismus von Benedetto Croce und Giovanni Gentile hinterfragte. Sein Versuch zur Aufrechterhaltung eines Ortes der menschlichen Kreativität innerhalb einer deterministischen marxistischen Sichtweise der Geschichte hatte Einfluss auf Antonio Gramsci und half dabei, dem italienischen Eurokommunismus seine spezifische Flexibilität zu geben. Seine Begriffe der ‚genetischen Methode‘, der ‚sozialen Morphologie‘, der ‚Philosophie der Praxis‘ und der ‚Sozialpädagogik‘ sind typisch für seinen Ansatz. Siehe auch: Marxismus, westlicher GEOFFREY HUNT
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Lakatos, Imre (1922–1974)
Lacan, Jacques (1901–1981)
Jacques Lacan war ein französischer Psychoanalytiker und Philosoph, dessen Beitrag zur Philosophie in seiner konsistenten und tiefgründigen Neuinterpretation der Schriften Freuds im Lichte von Heidegger und Hegel lag, sowie in seinen Beiträgen als strukturalistischer Linguist und Anthropologe. Wo Freud selbst die philosophische Spekulation verächtlich abgetan und für sich selbst den Status des Naturwissenschaftlers beansprucht hatte, demonstrierte Lacan die Psychoanalyse als eine rigoros philosophische Position. Insbesondere schlug er vor, dass das Freudsche Unbewusste am besten als die Wirkung der Sprache (die er ‚das Symbolische‘ nennt) auf das menschliche Verhalten zu verstehen sei. Siehe auch: Freud, S.; Psychoanalyse, postfreudianische; Strukturalismus; Strukturalismus in den Sozialwissenschaften THOMAS BROCKELMAN
Lakatos, Imre (1922–1974)
Imre Lakatos erbrachte wichtige Beiträge zur Philosophie der Mathematik und der Wissenschaft. Sein Buch ‚Beweise und Widerlegungen‘ (1963–1964) entwirft eine neue Sicht der mathematischen Entdeckung. Es zeigt, dass Gegenbeispiele (‚Widerlegungen‘) eine wichtige Rolle sowohl in der Mathematik, als auch in der Wissenschaft spielen und argumentiert, dass sowohl die Beweise, als auch die Theoreme stufenweise durch das Aufsuchen von Gegenbeispielen und durch die systematische ‚Beweisanalyse‘ verbessert werden. Seine ‚Methodenlehre des wissenschaftlichen Forschungsprogramms‘ (was er als ‚Synthese‘ der Darstellungen der Wissenschaft von Popper und Kuhn vorstellte) basiert auf der Idee, dass man die Wissenschaft nicht als eine Summe einzelner Theorien, sondern als größere Einheiten, genannt ‚Forschungsprogramm‘, begreifen sollte. Solche Programme drücken sich in konkreten Theorien aus, aber auf eine Weise, die wiederum von klar umrissenen heuristischen Prinzipien geleitet sind. Lakatos behauptete, das seine Theorie ein scharfes Kriterium für den Fortschritt und die Degeneration an die Hand gebe, die in Kuhns Darstellung fehlt, und dass er auf diese Weise die Rationalität der wissenschaftlichen Entwicklung erfasse. Lakatos formulierte auch eine Metamethodenlehre zur Bewertung konkurrierender wissenschaftlicher Methodenlehren im Sinne einer rationalen Rekonstruktion der Prozesse, die dort berichtet werden. Siehe auch: Experiment; Feyerabend, P.K.; Wissenschaftliche Methode; Theorien, wissenschaftliche JOHN WORRALL
Lange, Friedrich Albert (1828–1875)
Als deutscher Philosoph, Sozialwissenschaftler und politischer Aktivist wurde Lange durch sein Studium der Geschichte des Materialismus bekannt. Er war ein führender Vertreter des Neukantianismus, ein Kritiker der spekulativen Metaphysik und ein Verteidiger der Auffassung, dass die Philosophie die Forschungsergebnisse der exakten Wissenschaften übernehmen sollte. Als Sozialwissenschaftler beschrieb Lange das Entstehen des Sozialdarwinistischen ‚Existenzkampfes‘ seit der Industrialisierung infolge des schnellen industriellen Fortschritts und eines wachsenden Interessenkonflikts zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Als jemand, der über die wissenschaftlichen Trends seiner Zeit unterrichtet war, sah Lange einige der zentralen Ideen des Pragmatismus voraus und entschied sich 959
Lateinamerika, Philosophie in
im Hinblick auf die wissenschaftlichen Prinzipien und Begriffe für eine Form des Konventionalismus. Obwohl er mit dem Materialismus sympathisierte, sah Lange auch die Unvermeidlichkeit eines idealistischen Elements in der Interpretation der Naturphänomene und beharrte auf der Wichtigkeit eines Entwurfs von ethischen, sozialen und ästhetischen Idealen. GEORGE J. STACK
Langer, Susanne Katherina Knauth (1895–1985)
Susanne Langer war in der Logik, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes beheimatet. Aus diesen Wurzeln heraus versuchte sie die Bedeutung und die kognitive Bedeutsamkeit der Kunstwerke im Wege einer Theorie des Symbolismus zu erklären, die die Kunstwerke im Mittelpunkt eines Netzwerks von Beziehungen positionierte. Diese Theorie basierte fest auf der Semantischen Theorie. Kunstwerke seien nichtdiskursive, vorstellbare Symbole, die das ‚Gefühlsleben‘ eines Künstlers ausdrücken, durch die Beobachter mittels eines Prozesses unmittelbarer Auffassung (oder Intuition) Erkenntnisse gewinnen. Siehe auch: Anthropologie, Philosophie der; Künstlerischer Ausdruck; Musik, Ästhetik der PEG BRAND
Laster
siehe: Tugenden und Laster
Lateinamerika, Philosophie in Geographisch erstreckt sich Lateinamerika von der US-mexikanischen Grenze bis in diejenigen Regionen der Antarktis, auf die mehrere Länder Lateinamerikas Ansprüche angemeldet haben. Ferner gehört dazu die spanischsprachige Karibik. Die Philosophie in Lateinamerika beginnt bereits in präkolumbianischer Zeit (also vor dem Jahre 1492 im spanischen Amerika und vor 1500 in Brasilien). Die akademische Philosophie begann im 16. Jahrhundert, als die Katholische Kirche mit der Einrichtung von Schulen, Klöstern, Nonnenklöstern und Priesterseminaren in Lateinamerika begann. Das 17. Jahrhundert brachte nur geringe philosophische Aktivitäten hervor, weil der größte Teil der Mühe darauf verwandt wurde, das akademische Denken zur Erhaltung des aktuellen Zustandes einzusetzen, der auf eine im Grunde mittelalterliche Weltsicht herauslief. Intellektuell setzte das 18. Jahrhundert diesen ruhigen Traditionalismus bis in seine Mitte fort, als eine neue Jesuitengeneration mit dem aristotelischen Gedankengut zu brechen und es zu modernisieren versuchte. Politische Unruhen verhinderten in der akademischen Philosophie im anbrechenden 19. Jahrhundert eine Erweiterung dieser Basis. Im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert drang schließlich der Positivismus in die meisten lateinamerikanischen Ländern ein. Im frühen 20. Jahrhundert entwickelten neue intellektuelle Bewegungen eine Rückwirkung auf den Positivismus. 1. Lateinamerikanische Philosophie bis ins 19. Jahrhundert 2. Lateinamerikanische Philosophie im 20. Jahrhundert 1. Lateinamerikanische Philosophie bis ins 19. Jahrhundert Eingeborene lateinamerikanische Kulturen, insbesondere die Azteken, die Mayas, die Inkas und die Tupi-Guarani brachten bereits Hunderte von Jahren vor der 960
Lateinamerika, Philosophie in
neuzeitlichen Ankunft der Europäer eigene ausgearbeitete Gedankensysteme hervor. Viele kulturelle Artefakte gingen verloren oder wurden zerstört, so dass das Studium dieser Epoche hinsichtlich der Entzifferung der Feinheiten und Komplexitäten dieses ältesten Gedankenguts in Lateinamerika eine Herausforderung ist. Die eingeborenen Kosmologien gingen offenbar meistens auf Phänomene der natürlichen Welt zurück. Im 16. Jahrhundert begann die katholische Kirche in Lateinamerika mit dem Bau von Schulen, Klöstern und Priesterseminaren. Wenn die Begegnung mit der Neuen Welt eine Wirkung auf das europäische Denken hatte, so zeigte sich dies anfänglich nicht in der Philosophie, die im 16. und 17. Jahrhundert gelehrt und geschrieben wurde. Diese tendierte vielmehr zur Neufassung und Stärkung der mittelalterlichen Werte. Allerdings ergaben sich faszinierende Schriften zur Ethik und der Rechtsphilosophie aus dem Kontakt zwischen Spanien und Lateinamerika. Im Wesentlichen analysierten diese Schriften die Beziehungen zwischen kulturellen Unterschieden und den Menschenrechten. Der Dominikanerbruder Bartolomé de las Casas war diesbezüglich eine Schlüsselfigur, weil er die Rechte der eingeborenen Völker und der Afrikaner, die bereits im 16. Jahrhundert nach Südamerika verschleppt wurden, verteidigte. Abgesehen von einigen bemerkenswerten Ausnahmen war das 17. Jahrhundert, philosophisch betrachtet, in Lateinamerika eine arme Epoche, weil sich das akademische Denken vor allem auf eine Erhaltung des erreichten Zustandes richtete, was neuerlich eine im Grunde mittelalterliche Sicht der Dinge stärkte. Zu den hauptsächlichen philosophischen Aufgaben gehörten die Rechtfertigung und der Schutz des katholischen Glaubens gegen den Protestantismus und die Naturwissenschaften. Die herrschende Lehre war immer noch die Scholastik. Es zeigten sich jedoch auch Ausnahmen in der herrschenden Praxis, und zwar in Gestalt einiger bemerkenswerter historischer und philosophischer Figuren. Antonio Rubios logische Untersuchungen waren bemerkenswert fortschrittlich. Juana Inés de la Cruz besaß einen brillanten philosophischen Geist; sie wird gemeinhin als eine der ersten feministischen Denkerinnen in Amerika angesehen. Intellektuell setzte das 18. Jahrhundert diesen ruhigen Traditionalismus bis in die Mitte dieses Jahrhunderts fort. Dann jedoch versuchte eine neue Jesuitengeneration das aristotelische Gedankengut aufzubrechen und die Philosophie zu ‚modernisieren‘. Sie waren hauptsächlich durch die italienische und französische Postrenaissance-Philosophie beeinflusst. Der Jesuitenorden wurde jedoch im Jahre 1767 aus der spanischsprachigen Welt Amerikas vertrieben. Dies verzögerte die Einführung der protomodernen europäischen Philosophie in Lateinamerika. Daher sah das 18. Jahrhundert dort sehr viel revisionistische philosophische Untersuchungen, und dies speziell in Mexiko. Infolge politischer Unruhen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, als auch in Europa, konnte sich die akademische Philosophie nicht frei entfalten. Gelegentlich wurden ganze Universitäten geschlossen, was den akademischen philosophischen Fortschritt behinderte, denn an den Universitäten fand viel philosophische Aktivität statt. Ein produktiveres Forum für die Philosophie war daher oft die politische Arena, in der durchdachte Ideen in Aufsätzen durch Nicht-Akademiker zu Themen geschrieben wurden, die die konstitutionelle Regierung, den Fortschritt und die Selbstbestimmung betrafen. 961
Lateinamerika, Philosophie in
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein fand schließlich der Positivismus Eingang in den meisten lateinamerikanischen Ländern. Die Bewegung beanspruchte, eine objektive Methodik für alle Wissenschaften bereit zu stellen. Man glaubte weithin, dass wissenschaftliche Lehren am wirkungsvollsten zur Verwaltung und Steuerung der Gesellschaften beitragen würden, die wiederum durch Ausbildungs- und andere politische Reformen umgesetzt werden sollten. Auguste Comte und Herbert Spencer übten die herausragenden positivistischen Einflüsse in Lateinamerika aus. 2. Lateinamerikanische Philosophie im 20. Jahrhundert Im frühen 20. Jahrhundert blühten neue intellektuelle Bewegungen auf. Diese hatten eine starke und tiefgehende antipositivistische Wirkung. Ideen, die die Positivisten zuvor als ‚wissenschaftlich‘ vorgetragen hatten, wurden von den Antipositivisten als unwissenschaftlich zurückgewiesen. Die Philosophen wandten sich dem Idealismus, dem Vitalismus, dem Pragmatismus und zahlreichen politischen und sozialen Philosophien zu. Neothomistisches Gedankengut wurde weiterhin vielerorts studiert, vor allem in den katholischen Universitäten. Eine Hinwendung zum regionalen Denken in Lateinamerika war eine der Früchte des antipositivistischen Denkens und eine Folge der Ankunft spanischer Philosophen, die nach dem Niedergang der Republik in Spanien dorthin auswanderten. Die Schriften von José Ortega y Gasset waren sehr einflussreich bei der Umgestaltung der lateinamerikanischen philosophischen Reflexion. Die Philosophen beschäftigten sich mit der Frage der Authentizität, indem sie erforschten, ob Lateinamerika nur schlicht die europäischen Philosophien übernähmen, oder ob man selbst hier irgendeine authentische Philosophie anzubieten hätte. Viele kamen zu dem Schluss, dass man in Lateinamerika die europäische Philosophie eher auf die lateinamerikanische Wirklichkeit hin anzupassen, anstatt sie nur zu übernehmen hätte. Dieser Prozess einer kritischen Selbstprüfung oder ‚Selbsterkenntnis‘ war ein doppelter. Erstens versuchten Philosophen in einzelnen Ländern und Regionen Lateinamerikas das zu identifizieren, was einzigartig oder auszeichnend für ihr Denken oder Sein sei. Später wurden philosophische Beiträge, die von Lateinamerika als Ganzem ausgingen, mit jenen verglichen oder solchen gegenüber gestellt, die aus anderen Weltregionen stammten. Das Studium des lateinamerikanischen Denkens aus der vergleichenden Perspektive entfachte eine Debatte bemerkenswerter Dauer darüber, ob es ‚lateinamerikanische Philosophie‘ gibt, oder ob ‚Philosophie in Lateinamerika‘ nicht eine genauere Bezeichnung wäre. Von jedem lateinamerikanischen Land, einschließlich Puerto Rico, könnte man sagen, es besäße eine einzigartige philosophische Tradition. Gleichzeitig entstand eine große Menge an Texten und Kommentaren zu der Frage, welche Art von Philosophie, wenn überhaupt irgendeine, Universalität beanspruchen kann. Da die analytische Philosophie Perspektiven, Methoden und Vorhaben vorstellt, die eine universelle Bezugnahme und Anwendbarkeit für sich in Anspruch nehmen, wird sie in akademischen Kreisen häufig gerne aufgenommen und in den Institutionen Mexikos, Brasiliens und Argentiniens häufig am verwurzeltsten. Die analytische Philosophie dient in diesen Ländern, obwohl sie offenkundig keine direkten Antworten auf die regionalen sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Fragen liefert, eher dazu, dass ihre Anhänger in internationalen Kreisen Anschluss finden und 962
Lateinamerika, Philosophie in
dort akzeptiert werden, indem sie sich eines Stils bedienen, der vielerorts praktiziert und seitens der angloamerikanischen mainstream-Philosophie akzeptiert wird. Indem sie sich von der linguistischen ‚Strenge‘ der analytischen Philosophie angezogen fühlen, behaupten manche ihrer Anhänger, dass dies der einzige Weg wäre, um ‚wirkliche Philosophie‘ zu betreiben. Das späte 20. Jahrhundert entdeckte, dass es möglich ist, sowohl von ‚lateinamerikanischer Philosophie‘, als auch von ‚Philosophie in Lateinamerika‘ zu sprechen. Einige Gebiete der philosophischen Forschung, die stark von regionalen und kosmopolitischen Bezügen gefärbt sind, betreffen die kulturelle Identität, das feministische Denken, die Befreiungsphilosophie, die Randgruppenphilosophie und das marxistische Denken in Lateinamerika. Viele dieser Bereiche sind stark mit den lateinamerikanischen Wirklichkeiten im historischen Zusammenhang verwoben. Statt nur blind die kanonischen westlichen philosophischen Paradigmen zu übernehmen, bemühen sich die Autoren in diesen Traditionen um eine Erweiterung der Definition dessen, was den Menschen ausmacht, indem sie überzeugend lateinamerikanische Erfahrungen und Werte zum Ausdruck bringen und diese sowohl in die Schlüsseldiskurse der Philosophie, als auch in die drängenden Themen der modernen Welt einbringen (siehe Randgruppen). Die marxistische Philosophie ist in Lateinamerika bedeutsam gewesen und wird dies auch künftig bleiben, zum Teil wegen der fortgesetzten Probleme infolge wirtschaftlicher Unausgewogenheit. Fragen der Verteilungsgerechtigkeiten, der Menschenrechte und solche der Macht und der Wahrheit, sowie die Überzeugung, dass die marxistische Theorie die Wirklichkeit genauer beschreibt, tragen zum Fortleben dieses Denkens bei. Trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion und dem Ende des Maoismus in China wird die kubanische Revolution von 1959 noch immer von vielen Menschen idealisiert, weil sie angeblich weiterhin das US-amerikanische ‚Monster‘ im Norden bedroht; auf der anderen Seite wird der Begriff einer unterstützenden, egalitären und verantwortlichen Gemeinschaft weitergedacht. Der Peruaner José Carlos Mariátegui war ein sehr ursprünglicher lateinamerikanischer Marxist, dessen Denken internationalen Respekt und Interesse hervorgerufen hat. Einer der bekanntesten und interessantesten Beiträge des modernen lateinamerikanischen intellektuellen Lebens ist die Befreiungsphilosophie. Diese philosophische Bewegung entstand in Argentinien, obwohl viele ihrer Teilnehmer in anderen lateinamerikanischen Ländern leben. Die Befreiungsphilosophie sollte allerdings nicht mit der Befreiungstheologie verwechselt werden. Die Befreiungsphilosophie versucht auf philosophischem Wege die theoretischen Voraussetzungen sozialer und politischer Phänomene zu erklären, wie z.B. die Abhängigkeit, und stärkt ihrerseits die Befreiungstheologie. Diese Bewegungen sind Antworten auf bedeutende Ereignisse im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts, wie z.B. die Kubanische Revolution (1959), den argentinischen ‚Schmutzigen Krieg‘ (1976–1983) und die repressiven Regime, die in Guatemala im Jahre 1954, in Brasilien im Jahre 1964 und in Chile im Jahre 1973 begannen. Andere politische Themen dieser Autoren sind der Populismus, der Marxismus und der Peronismus. Die Befreiungsphilosophie unterscheidet sich von der Befreiungstheologie, von der lateinamerikanischen Philosophie und der marxistischen Philosophie insbesondere darin, dass sie nur einen beschränkteren Zugang bietet. Die Befreiungsphilosophen verwenden ein komplexes und spezialisiertes Vokabular, das eine Einführung auf Seiten des Lesers erfordert. Hinzu kommt, 963
Leben und Tod
dass die Befreiungsphilosophie keine einheitliche Bewegung ist: es ist richtiger, von mehreren Philosophien der Befreiung zu sprechen. Eine solche Fragmentierung kann man teilweise durch die politischen Orientierungen der Denker erklären, deren Anschauungen von der extremen Linken bis zu der extremen Rechten reichen. Ihre philosophischen Einflüsse unterscheiden sich stark und beziehen auch frankophone, deutsche und andere lateinamerikanische Denker mit ein. Die philosophische Tätigkeit in Lateinamerika zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt der Brennpunkte und der Methoden aus. Lateinamerikaner sind sich der philosophischen Entwicklungen in den übrigen Teilen der Welt scharf bewusst und unterhalten daher eine Vielzahl philosophischer Standpunkte: progressive und konservative, pragmatische und idealistische, materialistische und spiritualistische. Zahlreiche philosophische Interessen und Projekte bestehen in Lateinamerika infolge einer diversifizierten und aktiven philosophischen Berufsausübung, einer interessierten Öffentlichkeit, einer gewissen regierungsseitigen Unterstützung, einem kulturellen Bewusstsein anderer Kontinente sowohl unter den Gebildeten, als auch unter den weniger Gebildeten, und auch infolge eines weit verbreiteten Glaubens in die Ausbildung als dem Schlüssel zur gesellschaftlichen Entwicklung. AMY A. OLIVER
Leben und Tod Einführung Probleme betreffend das Leben und den Tod gehören zu den dramatischsten und widerspenstigsten der Philosophie, und sie spielen in allen grundlegenden Gebieten der philosophischen Forschung, speziell in der Ethik, eine Rolle. Am grundlegendsten ist die Frage, wie man den Wert des Lebens selbst darstellen soll. Dieses Problem hatte zwei hauptsächliche Dimensionen. Eine von ihnen ist die Kontroverse darüber, wie man genau den Tod darstellen soll; diese Frage drehte sich schon immer darum, ob der Tod, wie gemeinhin wahrgenommen, etwas Böses ist, und der vorzeitige Tod sogar eine Tragödie. Die andere formulierte sich ebenfalls schon immer als die beunruhigende Frage, wie man den positiven Wert des Lebens erklären kann, und damit nach der Lösung des Problems, dass wir, je wertvoller das Leben nach unserer Darstellung ausfällt, umso mehr scheint der Wert eines Lebens und damit der Natur des Bösen, das durch das Töten einer Person begangen wird, mit der Qualität jenes Lebens der betroffenen Person zu schwanken. Eine zweite Problemgruppe betrifft die Definition des Todes und der geeigneten Kriterien für den Tod. Der Tod als die extremste Konsequenz von Gewalt führt auch in psychologische Diskussionen über Aggressionen und in Fragen über politische Gewalt, Terrorismus, Krieg und die Todesstrafe in der politischen Philosophie. Drittens gab und gibt es Bemühungen um eine Reihe praktischer moralischer Fragen, einschließlich der Abtreibung und der Euthanasie. Schließlich tauchten Fragen betreffend die Beziehung des Wertes des Lebens von Menschen zu anderen Arten von Leben auf, z.B. jenem von Tieren, oder dem Leben und Überleben des Ökosystems selbst. 1. Der Wert des Lebens 2. Kriterien des Todes 3. Der fortbestehende vegetative Zustand 964
Leben und Tod
4. Die Ethik der Euthanasie1 5. Verhütung und Kindestötung 1. Der Wert des Lebens Es ist nicht nur das Böse des Todes, durch das man davon ausgeht, dass das Leben einen Wert hat und durch das wir zur Darstellung dieses Wertes kommen, sondern auch die alltägliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Leben. Selbst das Essen von Vegetariern bringt den vorzeitigen Tod von lebendigen Dingen mit sich, und Vegetarier akzeptieren deshalb auch gewöhnlich Prioritäten zwischen unterschiedlichen Tieren und verschiedenen Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Wenn ein Krankenhaus brennt, sollten wir dann versuchen, die Patienten vor der Krankenhauskatze zu retten, und sogar einige Patienten vor anderen? Sollten die Sterbenskranken, die sehr Alten oder jene in einem fortdauernd vegetativen Zustand vor oder nach jenen gerettet werden, die noch eine radikal andere Lebenserwartung und damit ein wesentlich größeres Maß an Lebensfülle haben? Sollten jene, die für ihre eigene armselige Gesundheit verantwortlich sind (z.B. schwere Raucher) den Klügeren gegenüber bevorzugt werden? Nur eine Darstellung des Wertes des Lebens wird uns sowohl erklären, warum Leben überhaupt gerettet werden soll, und ob bzw. in welchem Umfange es legitim ist, zwischen Leben zu wählen. Die wichtigsten jüngeren Versuche zur Aufstellung einer Theorie des Lebenswertes versuchten diese Merkmale der wertvollsten Geschöpfe (also der Menschen) ausfindig zu machen, um daraus ihren jeweils eigenen Wert zu erklären. Die meisten Theorien kombinieren die Autonomie, das Selbstbewusstsein und die Intelligenz als die relevanten Merkmale des Menschlichen (siehe Autonomie, ethische). Geschöpfe mit diesen Fähigkeiten werden oft als ‚Personen‘ bezeichnet (siehe Personen; Personale Identität). Radikal andere Darstellungen der Anwendung solcher Kriterien der Personalität wurden ebenfalls entwickelt. Philosophen mit, im weiten Sinne, konsequenzialistischer Orientierung haben behauptet, dass nur Geschöpfe, die wirklich die relevanten Merkmale besitzen, als Personen betrachtet werden können (siehe Konsequenzialismus). Eine größere Schwierigkeit solcher Darstellungen liegt in ihrer kontraintuitiven Schlussfolgerung, dass Geschöpfe, die die meisten Menschen als wertvoll betrachten (beispielsweise Föten und Frühgeborene) entweder nicht wertvoll sind in Ansehung der spezifischen Eigenschaften, die sie besitzen, sondern nur insofern, als sie durch Personen hoch bewertet werden, die dazu berufen
Der Begriff der Euthanasie wird in diesem Beitrag, der von einem britischen Autor stammt, ganz anders verwendet und verstanden als im deutschsprachigen Raum. Hier, d.h. im deutschsprachigen Raum, ist der Begriff der Euthanasie unmittelbar und praktisch untrennbar verbunden mit dem verbrecherischen Massenmord der Nationalsozialisten an Behinderten und anderen von ihnen willkürlich für minderwertig befundenen Menschen. Im angloamerikanischen Kulturraum ist diese Verbindung von ‚Euthanasie‘ und ‚Nazis‘ keineswegs zwingend; im Gegenteil: genau genommen sind die besagten Massentötungen der Nazis gar keine Fälle von Euthanasie, sondern nichts anderes als Mord. Die Nationalsozialisten bedienten sich des Wortes ‚Euthanasie‘ nur zur sprachlichen Tarnung ihrer Verbrechen, denn ‚Euthanasie’ heißt wörtlich ‚Glückstod‘. Der Autor verwendet den Ausdruck ‚Euthanasie‘ hier dagegen in seinem eigentlichen, nicht von rassistischer Propaganda verzerrten Sinne. [WS]
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Leben und Tod
sind (beispielsweise ihre Eltern), oder ihnen kommt nur in Gestalt ihres zukünftig erwarteten Nutzens ein Wert zu. Andere, die im Großen und Ganzen dieselben Kriterien der Personalität akzeptieren, wandten hiergegen ein, dass Geschöpfe, die die Struktur für solche Fähigkeiten aufweisen oder Mitglieder einer natürlichen Art sind, die typischerweise solche Fähigkeiten besitzt, wertvoll sind, selbst wenn das jeweilige Individuum sie aktuell nicht aufweist. Ein weiterer Ansatz gibt sich mit der Behauptung zufrieden, dass Menschen einfach wertvoller seien als andere Lebewesen, nur weil sie zur Spezies Mensch gehören. Diese ‚Theoretiker der natürlichen Art‘ können allerdings keinen Unterschied zwischen Menschen darstellen, die andere hinsichtlich der moralischen Bedeutung von z.B. Föten und anderen Mitgliedern derselben Art machen. Wenn das Leben einer Mutter und ihres Fötus in Gefahr ist und beide nicht gerettet werden können, so würden die meisten sagen, dass es richtig sei, die Mutter zu bevorzugen. Philosophen, die mit dieser Art von Problemen konfrontiert waren, brachten oft ad-hoc- oder common-sense-Abänderungen ihrer allgemeinen Theorien hervor, um die Schwierigkeiten der härteren Fälle zu überwinden. Beispielsweise lassen Natürliche-Arten-Theoretiker oft Grade der Mitgliedschaft in einer natürlichen Art zu, indem sie Ausdrücke wie ‚voll entwickelte Menschen‘ etc. verwenden, um die Unterschiede in ihrer Einstellung zu Föten und Erwachsenen zu erklären. Ronald Dworkin hat in einer originellen Schilderung des Wertes von Leben eingewandt, dass die Heiligkeit des Lebens an der Verschwendung der Investition in das Leben verstanden werden muss, die durch den Tod eintritt. Dworkin unterscheidet zwei Dimensionen einer solchen Investition, die durch den Tod verschwendet werden kann, nämlich die natürliche und die menschliche. Die natürliche Investition bringt es mit sich, dass die Natur selbst eine Investition durch die Zeit, die Schwierigkeiten und die natürlichen Ressourcen tätigt, wenn sie Leben hervorbringt, und dass diese Investition sich mit der Fortdauer des Lebens linear erhöht. Im Falle der menschlichen Investition gibt es sowohl jene des Menschen, um dessen Leben es geht (im Hinblick auf die Selbsterzeugung sowohl das bewusste, als auch das unbewusste Selbst), und dasjenige der anderen Menschen, die Zeit, Mühe und Ressourcen in die Schaffung und die Unterhaltung dieses Lebens investierten. Nach dieser Auffassung liegt das Übel der Verursachung eines vorzeitigen Todes darin, dass diese natürliche und menschliche Investition verschleudert wird. Eine konservative Sichtweise des Übels der Euthanasie2 und der Abtreibung priorisiert z.B. die natürliche Investition, während eine liberalere Sichtweise eine bestimmte Interpretation des menschlichen Beitrages zum Leben priorisiert. Diese und andere Darstellungen legen nahe, dass ein Leben, das wertvoll im Verhältnis zu seiner Fülle ist, auf Umstände Wert legt, die bei verschiedenen Leben unterschiedlich realisiert sind. Nach diesen Auffassungen werden Leben umso wertvoller, desto höher in sie investiert wird und desto reichhaltiger und abwechselnder sie sind. Hierdurch entsteht das große Problem, dass keine zwei Leben gleich wertvoll sein können, und dies hat weitere enorme Probleme durch eine Diskriminierung von Menschen unvermeidlich zur Folge.
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Zum Begriff der Euthanasie siehe die vorangehende Anm. 1 dieses Beitrages.
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2. Kriterien des Todes Seit Epikur gibt es ein beharrliches philosophisches Interesse an der Darstellung des Bösen des Todes. Wir haben bereits angenommen, dass dieses Problem gelöst werden kann, wenn man den Wert des Lebens diskutiert. Epikurs Problem ist in gewisser Weise paradox. Er wies im Wesentlichen auf dasselbe wie Wittgenstein hin: ‚Der Tod ist kein Ereignis des Lebens‘. Wenn dies richtig ist, dann gibt es niemanden, dem der Tod zustößt, für den der Tod ein Übel ist. Aber natürlich fürchten die meisten Menschen den Tod als großes Unglück. Epikurs Hinweis dreht sich um die Notwendigkeit eines Schmerzes oder Schadens, den man erfährt; andererseits sind wir alle vertraut mit den Dingen, die wir rational als Schaden oder Schmerz betrachten, unabhängig davon, ob wir ihn wirklich erleben. Ich habe ein rationales Interesse daran, nicht in einen andauernd vegetativen Zustand zu fallen, selbst wenn ich mir dieses Ereignisses nicht bewusst und daraufhin auch mir über nichts anderes mehr bewusst sein werde. Die interessanteren und wichtigeren Probleme betreffen die Natur des Übels, das der Tod repräsentiert, und die Bedeutung einer Definition des Todes, oder vielmehr der Identifikation angemessener Kriterien für das Eintreten des Todes. Wenn, wie die meisten Menschen glauben, der Tod ein Übel und der Eintritt des vorzeitigen Todes eine Tragödie ist, und wenn wir sagen können, wieso dies so ist, so werden wir auch unsere erste Frage beantworten können, warum das Leben überhaupt wertvoll ist. Hier ist es wichtig, die Frage: ‚Warum ist das Leben für dich wertvoll?‘ von der anderen Frage: ‚Weshalb ist das Leben eine Sache, die an sich wertvoll sein kann?‘ zu unterscheiden. Die erste Frage wird wahrscheinlich so viele Antworten haben, wie es Personen gibt, denen man sie stellt, während auf die zweite deutlich weniger Antworten möglich sind. Wenn wir uns den Kriterien für den Eintritt des Todes zuwenden, so können wir vielleicht sehen, warum dies so ist. Der Tod ist so alt wie das Leben, und die Menschen sind selten ratlos gewesen, ob und wann Trauer angebracht ist. Mit anderen Worten, der Tod ist kein Begriff, der irgendeiner Erhellung bedürfte. Traditionell wurde das andauernde Aussetzen der Atmung und / oder des Herzschlages als verlässlicher Indikator des Todeseintritts gedeutet. Auch wenn inzwischen einige Unsicherheit darüber entstanden sein könnte, ab wann der Atem- oder Herzstillstand als permanent anzusehen ist, so ist doch das Einsetzen des rigor mortis (Leichenstarre) und die beginnende Auflösung des Körpers ein sicheres Zeichen dafür, dass der Tod eingetreten sein muss. Probleme entstehen allerdings, seit die Technik es ermöglicht, den Herzschlag und die Atmung von Individuen auf fast unbeschränkte Zeiträume künstlich zu verlängern. Dies ist sogar dann noch möglich, wenn die betroffenen Individuen anderweitig so schwer verletzt sind, dass es praktisch sicher ist, dass sie niemals mehr das Bewusstsein erlangen werden, und dass sie folglich sterben werden, wenn ihnen die maschinelle Hilfe entzogen wird. Aber sind solche Individuen tot? Warum ist diese Frage so wichtig? Warum wird sie überhaupt gestellt? Individuen, die an lebenserhaltenden Apparaturen hängen erscheinen nicht als tot. Sie atmen, sie sind körperlich geschmeidig und von Blut durchströmt, nicht kalt und steif wie eine Leiche. Zur Rechtfertigung des Abschaltens der lebenserhaltenden Apparate mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass dieses Individuum sterben würde, müsste man zunächst klären, warum es angemessen sei, dieses Individuum 967
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sterben zu lassen, d.h. warum sein Leben keinen relevanten Wert in dem Sinne mehr hat, dass dieser Wert nicht mehr erhaltenswert ist. Zweitens ging die Technologie der künstlichen Lebenserhaltung nur kurz der Organtransplantation voran. Wenn das künstlich am Leben erhaltene Individuum als Organspender qualifiziert sein soll, so müssen seine Organe in gutem Zustand sein. Der Zustand der Organe wurde durch die Gewährung von lebenserhaltenden Maßnahmen optimiert. Und weiterer Druck besteht infolge eines großen Mangels an Spenderorganen. Die Betten der Intensivstationen sind sehr knapp, so dass Rechtfertigungsbedarf besteht, warum der eine Patient und nicht ein anderer das jeweilige Bett belegen soll. Der praktische Weg aus diesen Problemen wäre die Erfindung neuer Kriterien für das Eintreten des Todes gewesen. Diese Idee lautete dann, dass man den Menschen nicht die künstliche Lebenserhaltung wegnimmt und auf ihren Tod wartet, sondern sie für tot zu erklären, während ihre Lebensfunktionen noch gegeben sind. Dies könnte festgestellt werden, wenn der Gehirntod als die notwendige und hinreichende Bedingung für den Tod des Gesamtorganismus akzeptiert würde. Es wird inzwischen in vielen unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen allgemein angenommen, dass der Gehirntod das Kriterium für den Tod des Gesamtorganismus ist, selbst wenn der Rest dieses Organismus noch nach Eintritt des Gehirntodes ‚lebendig‘ gehalten werden kann (in Form von Atmung, Blutzirkulation etc.). Die größte Debatte gab es über die Frage, ob der vollständige Hirntod für die Todeserklärung notwendig eingetreten sein muss, oder nur der Eintritt des Todes des Stammhirns, also jenes Systems, durch das die gesamte bioelektrische Aktivität des Gehirns zum Körper läuft. Eine solche Einigung über den Hirntod wäre bedeutsam, denn sie enthielte die Anerkennung, dass es gerade die mentale Tätigkeit ist, sowie die Bedeutung dieser Tätigkeit für viele Dinge des Lebens, die den Wert dieses Lebens ausmachen, und das heißt: wenn die Fähigkeit zum Bewusstsein irreversibel nicht mehr gegeben ist, dann spielen diese Dinge tatsächlich keine Rolle mehr. Das Wichtige an der Todeserklärung einer Person wäre dann die Feststellung des Umstandes, dass alle den Wert des Lebens dieses Individuums betreffenden Faktoren nicht mehr gegeben sind, und dass nunmehr andere Kriterien der Wichtigkeit ins Auge gefasst werden könnten. Beispielsweise könnten Organe eines solchen Individuums als Spende zur Verfügung gestellt werden, das Bett der Intensivstation könnte für andere dringende Fälle freigegeben werden, Freunde und Verwandte wären von den oft sehr schweren Lasten der Sorge und des Unterhalts entlastet und könnten mit der Trauerarbeit beginnen. Die Akzeptanz des Hirntodes bezeichnet einen Wechsel im Verständnis dessen, was den Wert des Lebens ausmacht, und gleichzeitig wird damit die traditionelle Konzeption des Respekts vor der Heiligkeit des Lebens bestätigt, und darüber hinaus auch das Beharren, dass nur der Tod eines Menschen ihn unserer moralischen Zuständigkeit entreißt. Der Hirntod ist genau deshalb ein so attraktiver Begriff, weil er die Bewahrung des Todesbegriffs als den moralischen Entscheidungspunkt zulässt und uns gleichzeitig erlaubt, unterschiedlich über Menschen zu denken, die nur noch atmen. Jedoch sollte man die Künstlichkeit des Begriffs des Hirntodes als Kriterium für den Todeseintritt des gesamten Organismus im Kopf behalten. In einem wichtigen Sinne des Wortes ist der Gehirntod nämlich nur eine neue Konzeption dessen, was man für tot halten soll, und schlechtestenfalls ein unangenehmer Kom968
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promiss zwischen einer direkten Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wert des Lebens und einer Nutzbarmachung des massiv unreflektierten Konsens über die Bedeutung ‚des Todes‘. 3. Der fortbestehende vegetative Zustand Dass sich dies so verhält, kann man deutlich sehen, wenn man die Bedingungen eines permanent (irreversibel) vegetativen Zustandes und das entsprechende Grundsatzurteil des britischen Oberhauses im Falle von Tony Bland bedenkt. Bland erlitt einen Gehirnschaden, nachdem er in einer Zuschauermenge eines Fußballspiels im Jahre 1989 in dem Hillsborough Fußballstadium von Sheffield schweren Quetschungen ausgesetzt war. Dieser Gehirnschaden nahm ihm permanent und irreversibel sein Bewusstsein, was man heute auf Englisch ‚persistent vegetative state‘ oder PVS (dt.: ‚andauernder vegetativer Zustand‘) nennt. Der PVS ist nicht tödlich. Menschen wie Bland können über dreißig oder mehr Jahre am Leben bleiben. Sie sind nicht hirntot. In gewisser Hinsicht ähneln sie Neugeborenen mit einer Anenzephalie, d.h. einem teilweise fehlenden Gehirn oder mit einem zerstörten zerebralen Kortex. Blands Eltern, die akzeptiert hatten, dass ihr Sohn in jeglichem realen, d.h. biographischen Sinne aufgehört hatte zu existieren, obwohl sein Körper noch am Leben war, wurden davon abgehalten, den Trost der Trauer in Anspruch nehmen zu können. In ihrer Verzweiflung baten sie die englische Gerichtsbarkeit es für rechtens zu erklären, dass die betroffenen Ärzte ihrem Sohn die Nahrung oder andere lebenserhaltende Maßnahmen entziehen, so dass ihr Sohn sterben könne. Es nicht klar, warum es überhaupt notwendig war, diesen Fall vor die Gerichte zu bringen, denn es ist inzwischen ständige Rechtsprechung, dass keine Pflicht zur Lebenserhaltung eines Babies in entsprechendem Zustand durch Füttern besteht (das englische Urteil findet sich unter: Az. Re C [1989] 2 All ER 782 und ReJ [1990] 3 All ER 930). Schließlich nahm sich das Oberhaus der Sache an und urteilte einstimmig, dass ein solches Vorgehen rechtmäßig ist (Airedale NHS Trust v. Bland [1993] 1 All ER 821 H.L.). Das Problem war hier natürlich, dass, obwohl Tony Bland in jedem gehaltvollen Sinne des Wortes nicht mehr am Leben war, er gleichwohl nicht tot war und auch nicht sterben würde, bis die Gerichte den Ärzten erlauben würden, Schritte zu diesem Zweck zu unternehmen. Ein etwas späterer Fall wurde vom Berufungsgericht im Januar 1994 ausgeurteilt. Der Master of the Rolls (d.i. der Amtstitel des dritthöchsten britischen Richteramtes nach dem Lordkanzler und dem Lord Chief Justice), Sir Thomas Bingham, votierte in einem bizarren Urteil, gegen das die beiden anderen Lord Justices des Berufungsgerichts ihr Minderheitsvotum einlegten, dass es Ärzten erlaubt sei, das Leben eines Patienten zu beendigen, indem man ihm lebensverlängernde Behandlungen vorenthält, wenn der beratende Arzt und eine „Reihe anderer Ärzte“ sich darin einig seien, dass ein solches Vorgehen im besten Interesse des Patienten sei und „keine medizinische Meinung dem widerspricht“. (Frenchay Healthcare NHS Trust v. S., Berufungsgericht, Urteil vom 14.01.1994). Tony Blands Umstände ähnelten dem Hirntod insofern, als er irreversibel das Bewusstsein verloren hatte. Der Unterschied war jedoch, dass jene im PVS noch eine elektrische Aktivität im Gehirn und durch das Stammhirn aufwiesen. Läuft dieser Unterschied auf einen moralisch relevanten Unterschied zwischen jenen im PVS und den Hirntoten hinaus? Obwohl es dem Oberhaus widerstrebte, die Definition des Todes zu ändern oder auch nur die 969
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Frage zu behandeln, geht aus seiner Entscheidung doch klar hervor, dass es meinte, Blands Leben, eben weil er die Fähigkeit zum Bewusstsein komplett verloren hatte, nicht mehr jenen Wert aufweist, der erforderlich ist, um es zu erhalten. In den Worten von Lord Keith of Kinkel in der Urteilsbegründung des Falles ist es „jedoch vielleicht zulässig zu sagen, dass es bei einem Menschen ohne jegliche kognitive Fähigkeiten und keiner Aussicht darauf, diese in dieser Welt jemals wiederzugewinnen, völlig egal ist, ob er lebt oder stirbt.“ In Blands Fall gab es keine gegnerischen Ansprüche mit dem Ziel, ihn in seinem Zustand zu erhalten, so dass die Entscheidung, ein Vorgehen zu erlauben, durch das der Tod, wie von den Eltern verlangt, eintritt, sehr überlegt und bewusst zur Beendigung seines Lebens getroffen wurde. Eine heiß debattierte Frage ist es dagegen, ob eine solche Entscheidung eine Form von Euthanasie darstellt. Obwohl das Oberhaus dies für den vorliegenden Fall strikt verneinte, wurde seine Entscheidung im Falle Bland doch von vielen als der erste Fall in der Geschichte des Vereinigten Königreichs der Legalisierung (wenn auch in sehr eingeschränkter Form) der Euthanasie verstanden. Dass der Fall des Tony Bland im Vereinigten Königreich ein Präzedenzfall für die rechtlich sanktionierte Euthanasie sei, wurde durch die Worte von Lord Mustill in seiner Urteilsbegründung dieses Falls bestätigt: „Die Entscheidung […] hängt im Kern von der Unterscheidung ab, die durch das Strafrecht zwischen strafbaren Handlungen und strafbarer Unterlassung gezogen wird, und enthält deshalb unausweichlich eine Unterscheidung zwischen dem, was auf der einen Seite häufig ‚Gnadentod‘ genannt wird, d.h. wo in einem medizinischen Umfeld aktive Schritte zur Beendigung eines leidvollen Patientenlebens unternommen werden, und andererseits einer Situation wie der vorliegenden, wo das fragliche Verhalten das Ziel hat, aus ebenfalls menschlichen Gründen das Leben des Anthony Bland zu beenden, indem man ihm die grundlegende Bedürfnisbefriedigung zur Erhaltung seines Lebens vorenthält. Das akute Unbehagen, dass ich beim Einschlagen dieses Weges in einem rechtlichen und moralischen Irrgarten empfinde, ist, so meine ich, zu einem guten Teil der Empfindung geschuldet, dass die betreffende Terminologie den moralischen Status der beiden Handlungsverläufe zwar wohl unterscheiden mag, diese Handlungsverläufe hier jedoch in jeder relevanten Hinsicht ununterscheidbar sind.“ Die Schlüsselmerkmale des Urteils von Lord Mustill sind erstens die Anerkennung, dass der fragliche Handlungsverlauf, der vom Gericht bestätigt wurde, „das Ziel hat […] das Leben des Anthony Bland zu beendigen“ , und zweitens, dass der angenommene Unterschied zwischen Tun und Unterlassen, auf den sich die Tradition des common law zwecks moralischer und rechtlicher Unterscheidungen stützt, zwei Handlungsverläufe charakterisiert, die ethisch „hinsichtlich aller relevanten Zwecke ununterscheidbar“ seien. Diese Entscheidung machte Großbritannien zum zweiten Land in Europa, in dem gerichtlich die Notwendigkeit anerkannt wurde, das Leben zumindest solcher unschuldiger Menschen zu beendigen, die nicht nach ihrem Tod verlangt hatten. Die Niederlande legalisierten die Euthanasie unter gewissen Bedingungen, die von einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes im Jahre 1984 formuliert und später auch formal im Gesetzessystem dieses Landes verankert wurden.
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Es ist jedoch wichtig, hier die Vorbehaltsklausel ‚… die nicht ihren Tod verlangt hatten…‘ zu betonen, denn andere Gerichtsfälle, wo es um das Recht zum Sterben ging, gingen genau auf diesen Punkt ein. Das Grundsatzurteil der USA betreffend den PVS im Falle von Nancy Cruzan hing gänzlich davon ab, ob Cruzan irgendeinen Wunsch zu sterben geäußert hatte, bevor sie in den PVS verfiel, und tatsächlich wird auch dieser Fall häufig als einer beschrieben, der das Recht zu sterben feststellt (Cruzan v. Director, Missouri Department of Health [1990] 497 US 261). 4. Die Ethik der Euthanasie Argumente betreffend die Ethik der Euthanasie sind im Wesentlichen dasselbe wie solche betreffend die Ethik des Selbstmords, und wurden auch genau durch solche Fälle beleuchtet. Das Unrecht des Selbstmords wird seit dem Tod des Sokrates oft entweder als eine Verletzung irgendeiner Idee der Heiligkeit des Lebens, oder als die rechtlose Entziehung der Verfügung über einen Körper gegenüber einem Souverän oder Gott angesehen, über den nur sie verfügen durften. Die Euthanasie im Sinne einer Beihilfe zum Selbstmord, die nach wie vor für uns relevant ist, wie wir gesehen haben, hat damit auch wieder die Jahrhunderte alte Debatte über den Selbstmord neu entfacht (siehe Selbstmord, Ethik des). Jene, die die Legitimität der Euthanasie verteidigen, können die Ethik dieses Vorschlages auf drei verschiedene Weisen darlegen. Erstens sehen einige die Euthanasie (so wie den Selbstmord) als eine Dimension der menschlichen Freiheit und argumentieren deshalb, dass der Wert, der durch den Respekt gegenüber der menschlichen Autonomie repräsentiert wird, so lange unvollständig ist, bis er den Grenzfall des Selbstmords oder des assistierten Selbstmords mit einbezieht. Nach dieser Sichtweise bedarf es keiner weiteren Rechtfertigung. Die zweite Auffassung basiert auf dem Mitgefühl und tendiert zu einer Untergrabung dieses puristischen Herangehens an die Ethik der Euthanasie. Sie trägt vor, dass der Selbstmord und die Euthanasie legitime Wege zur Beendigung von Leiden sind, die auf andere Weise nicht angemessen kontrolliert oder beendet werden können. Dieser Ansatz kann die Autonomie untergraben, weil er hinfällig wird, wenn es einen gleich effektiven Weg der Kontrolle des Schmerzes und des Leidens gibt. Die dritte Art der Verteidigung der Euthanasie wird durch Ronald Dworkins Darstellung exemplifiziert (siehe dort, § 1). Er argumentiert, dass der Respekt gegenüber dem spezifischen Wert des Lebens, richtig verstanden, das Leben im Grunde als bedeutungsvoll und wertvoll gerade wegen jener Form ansieht, die ihm der jeweilige Mensch gibt, um den es geht, und dass diese formgebende Kraft auch die Kontrolle über das eigene Lebensende enthalten muss. Im Unterschied zur ersten Argumentation zugunsten der Euthanasie, die sich einfach auf die Autonomie beruft, stellt Dworkin die Autonomie in die Dienste eines spezifischen Wertes des Lebens und ordnet sie diesem unter. Nach dieser Auffassung sind nicht etwa alle autonomen Entscheidungen zur Beendigung des eigenen Lebens gerechtfertigt, sondern nur solche, die in die eigene Konzeption des Lebenssinns des Handelnden passen. Argumente gegen die Rechtmäßigkeit der Euthanasie nehmen wiederum zwei Formen an: entweder stellen sie sich auf die Seite eines Prinzips, oder sie versuchen die zwingende Schlüssigkeit von Argumenten zugunsten der Euthanasie zu widerlegen. Der zugrunde liegende Ansatz greift entweder auf die Idee zurück, dass das Leben eines Menschen nicht zu ihrer Verfügung steht, sondern zur Verfügung eines 971
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Souveräns oder einer Gottheit oder beiden (d.h. zur Verfügung des einen durch den anderen), oder aber er stellt sich auf die Seite der Heiligkeit des Lebens. Ein pragmatischerer Ansatz tendiert zu dem Vorschlag, dass die Freiheit zur Beendigung des eigenen Lebens kein Teil der Handlungsfreiheit im eigentlichen Sinne ist, oder dass es andere barmherzige und wirksame Wege der Schmerzkontrolle, und zwar sowohl der physischen, als auch der psychischen, gibt. Es ist schwierig, die Unterschiede betreffend die Euthanasie zu überwinden, weil es hier um Prinzipielles geht. Die vielleicht naheliegendste Versöhnungsstrategie wäre es Fälle zu suchen, in denen jene, die die Euthanasie ablehnen, die Legitimität einer Tötung zugeben würden, und sie dann zu fragen, ob die dafür in Anspruch genommene Rechtfertigung nicht auch in Fällen der Euthanasie gelten könnte. Beispielsweise sind nicht alle Widersacher der Euthanasie Pazifisten, und selbst die Pazifisten werden verstehen, dass es extreme Ausnahmen von der Regel gibt, dass Unschuldige nicht getötet werden dürfen. Eine Probe könnte darin bestehen, die Menschen zu fragen, wie sie den folgenden Fall empfinden. Ein Lastwagenfahrer ist infolge eines Unfalls im brennenden Führerhaus seines Fahrzeugs gefangen. Ein Polizist ist zugegen und sieht, dass der Fahrer nicht vor den Flammen gerettet werden kann und zum Tode durch die Flammen verurteilt ist. Der Polizist kann ihn bei lebendigem Leibe verbrennen lassen oder ihm durch einen Kopfschuss ein relativ schmerzfreies Ende bereiten. Der Fahrer schreit: „Bitte erschieß’ mich, lass’ mich nicht lebendig verbrennen!“ Diejenigen, die die Euthanasie unter allen Umständen ablehnen, müssen auf das Dilemma des Polizisten eine Antwort geben können, und die übrigen werden die alternative Antwort geben. Und es gibt noch einen weiteren, abschließenden Einwand gegen die Euthanasie. Er vermeidet das Dilemma des Polizisten, hat dafür seine eigenen Probleme. Einige Menschen lehnen die Euthanasie nicht prinzipiell ab und würden sie in außergewöhnlichen Fällen zulassen, wie z.B. dem vorstehend geschilderten. Sie betrachten dies jedoch als eine ‚gefährliche Rutschpartie‘, die, wenn man sie zuließe, zu inakzeptablen Tötungen führen könnte. Sie wenden sich deshalb gegen die Legalisierung der Euthanasie, werden aber mit isolierten und außergewöhnlichen Fällen fertig, und zwar eher durch Vergebung als durch Rechtfertigung. Die Fürsprecher einer solchen ‚rutschigen Variante‘ müssen die Frage beantworten, ob es vernünftig und rational sei, ein Verhalten zu kriminalisieren, dass sie sowohl als moralisch und als vertretbar zulassen, und ob man sich gegen inakzeptable Anwendungen dieses Arguments schützen kann. 5. Verhütung und Kindestötung Die Verhütung wirft Fragen des Lebens und des Todes auf, die den gerade diskutierten analog sind. Zunächst gibt es Methoden der Verhütung, die so wirken, dass sie praktisch eine frühe Abtreibung herbeiführen, indem sie beispielsweise die Einnistung des befruchteten Eis verhindern. Zweitens sehen diejenigen, die den möglichen Einwand infolge der Zuschreibung eines gewissen moralischen Status zum Fötus untersuchen, wenn sie konsistent argumentieren, die Verhütung als einen Weg, auf dem möglichen menschlichen Wesen ihr diesbezügliches Potential genommen wird. Es gibt natürlich noch eine weitere Dimension zur Ethik der Verhütung, die nicht so unmittelbar mit Fragen des Lebens und des Todes zusammenhängt. Dies ist 972
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jene, wo einer der Sexualpartner vor dem anderen die Natur, die Existenz und / oder die Verlässlichkeit von bei ihm angewandten Verhütungsmethoden verbirgt oder den anderen Partner glauben macht, er würde eine Verhütungsmethode anwenden, was in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist (siehe Wahrhaftigkeit). Seit dem Aufkommen von HIV / AIDS hat sich herausgestellt, dass eine populäre Methode der Verhütung auch eine bedeutende Schranke für die Krankheitsübertragung ist, und dies gesellt sich zu der moralischen Verantwortung des Gebrauchs einer bestimmten Verhütungsmethode noch dazu. Es wird oft die Frage gestellt, ob jemand, der gar keine Verhütungsmethode anwendet oder kein Kondom benutzt, damit seinen Willen zur Zeugung eines Kindes und der Übernahme der Verantwortung dafür bekundet, oder ob er damit zeigt, dass er das Risiko einer HIV-Infektion willentlich auf sich nimmt. Es wird manchmal nahe gelegt, speziell durch katholische Denker, dass die Verhütung den Zweck der Sexualität umkehrt, die durch die Gottheit vermutlich zur Fortpflanzung eingerichtet wurde. Dies ist allerdings ein seltsames Argument, denn wenn sexuelle Beziehungen falsch sind, außer wenn sie zur Fortpflanzung stattfinden, dann wäre die Sexualität zwischen unfruchtbaren Menschen oder während der Schwangerschaft falsch. Wenn es aber darum geht, Praktiken zu vermeiden, die die Aussicht auf neue menschliche Existenz schwächen, dann scheinen gerade der zölibatäre Priesterstand oder die Existenz von Nonnen ein Affront gegen Gottes Zwecke zu sein. Kindesmorde werfen spezielle moralische Probleme nur für diejenigen auf, die einen moralisch relevanten Unterschied zwischen einem Fötus und einem Neugeborenen sehen (Michael Tooley hat hierzu einen sehr kontroversen Standpunkt vorgetragen). Wenn die Abtreibung zulässig ist, dann wird die Kindestötung sicherlich aus denselben Gründen zulässig sein, solange das Neugeborene sich nicht auf irgendeine relevante Weise von den Föten unterscheidet, deren Abtreibung erlaubt wird. Es wurden bereits Versuche unternommen, um diese Unterschiede ausfindig zu machen, und zwar in drei hauptsächlichen Formen: Gibt es Unterschiede in den Fähigkeiten, die ein Fötus noch, aber schon ein Neugeborenes besitzt? Ist das Potential zur Personalität bei einem Neugeborenen größer als bei einem Fötus? Zählen die sozialen Beziehungen, die ein Mensch bildet, sobald er das erste Mal bewusst andere Menschen erlebt? Alle diese mutmaßlichen Unterschiede sind strittig, und wir müssen anmerken, dass der letzte, also die Sozialisation, alle ungeliebten, ungewollten und keinen Eltern zugeordneten Kinder vollkommen schutzlos stellt (siehe Fortpflanzung und Ethik). Siehe auch: Tod; Lebens, Sinn des; Medizinische Ethik; Selbstmord, Ethik des Anmerkungen und weitere Lektüre: Kleinig, J. (1991): ‚Valuing Life‘. Princeton, New Jersey: Princeton University Press. (Eine allgemeine Darstellung der philosophischen Fragen zu Leben und Tod.) Steinbock, B. (Hrg.) (1980): ‚Killing and Letting Die‘. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall. (Eine exzellente Sammlung angloamerikanischer Aufsätze zur Frage des Lebens und des Todes.) JOHN HARRIS
Leben, Sinn des
Beim dem Ausdruck ‚Sinn des Lebens‘ handelt es sich um ein etwas seltsames und doch zentrales Thema der Philosophie. Er wird häufig mit der Frage assoziiert, 973
Lebens, Ursprung des
ob Menschen Teil eines größeren oder gar göttlichen Zwecks oder Plan sind. So scheint die Frage: ‚Was ist der Sinn des Lebens?‘ zu einer religiösen Antwort einzuladen. Ein beachtlicher Teil der philosophischen Diskussion stellt die Notwendigkeit dieser Verbindung jedoch in Frage. Die Hinwendung zur Unvermeidlichkeit des Todes lässt andererseits den Sinn des Lebens oft problematisch erscheinen. Es ist aber nicht offenkundig, wieso es an der Unsterblichkeit liegen sollte, dass zwischen der Sinnhaftigkeit und der Sinnlosigkeit des Lebens ein Unterschied besteht. Das Thema der Absurdität des Lebens findet sich ebenfalls in vielen Diskussionen, vor allem bei jenen, die meinen, dass das Universum gegenüber Sinnfragen indifferent sei. Obwohl unsere Leben keinen Sinn haben, so argumentieren sie, müssen wir doch so leben, als hätten sie einen. Angesichts dieser Absurdität befürworten einige den Suizid, andere den Trotz, wieder andere die Ironie. Man kann sich aber auch von der Frage eines kosmischen Lebenssinns abwenden und ihn anderswo bzw. auf andere Weise suchen. Siehe auch: Existenzialismus; Guten, Theorie des; Nihilismus SUSAN WOLF
Lebens, Ursprung des
Das Erscheinen von Maden in Fleisch oder von Bandwürmern im Darm unterstützte in der Antike den Glauben in die spontane Erzeugung von Leben. Diese Idee wurde im 17. Jahrhundert zwar in Frage gestellt, aber bis zu Pasteurs Experimenten nicht gänzlich aufgegeben. Naturwissenschaftler sind sich inzwischen einig, dass das terrestrische Leben eine einzige Ursache hatte, bieten dafür aber unterschiedliche Erklärungen an. Einige glauben, dass das Leben mit dem Erscheinen des proteinbasierten Stoffwechsels begann, was durch den Beweis der spontanen, abiotischen Aminosäuren-Synthese und theoretischen Modelle von selbsterhaltenden und sich entwickelten Enzymsystemen unterstützt wird. Andere glauben, das Leben habe mit dem Erscheinen der nukleinsäurebasierten, molekularen Replikation begonnen, und folglich organisierten sie ihre Forschung rund um die Bemühungen zur Modellierung einer vorrangigen ‚RNA-Welt‘. Siehe auch: Evolution, Theorie der; Genetik; Einheit der Wissenschaft LENNY MOSS
Lebensphilosophie
Im seinem allgemeinsten Sinne bezeichnet der Ausdruck ‚Lebensphilosophie‘ eine Philosophie, die nach der Bedeutung, dem Wert und dem Zweck des Lebens fragt und sich damit von rein theoretischem Wissen abwendet, hin zur unverfälschten Fülle der lebendigen Erfahrung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert nahm der Begriff ‚Leben‘ eine zentrale Rolle in der deutschen Philosophie ein. Die Lebensphilosophie sieht sich typischerweise im Gegensatz zu rigiden Abstraktionen mit philosophischen Ideen, die auf dem Gefühl und der Intuition aufbauen, und sie versucht den Vorrang des Lebendigen als eine allumfassende Ganzheit zu beweisen. Die zentrale Behauptung, die ihren zahlreichen Darstellungen zugrunde liegt ist jene, dass das Leben nur ‚von innen heraus‘ verstanden werden könne. Siehe auch: Aufklärung, Kontinentaleuropäische JASON GAIGER
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Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716)
Legitimität
Siehe: Rechtmässigkeit
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) Einführung Leibniz war eine der zentralen Figuren der Philosophie des 17. Jahrhunderts und sogar eine der großen intellektuellen Figuren seines ganzen Zeitalters. Er wurde in Deutschland geboren und ausgebildet und reiste im Jahre 1672 nach Paris, wo er rasch zu einem Mitglied der dortigen lebendigen, intellektuell-wissenschaftlichen Szene wurde. Dort machte er sich auch mit den fortgeschrittensten Ideen, die seinerzeit im Umlauf waren, vertraut. Hier entwickelte er die Infinitesimalrechnung und schuf die Grundlagen für die philosophischen und wissenschaftlichen Vorhaben, die ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollten. Im Jahre 1676 kehrte er nach Deutschland zurück und trat in die Dienste des Hauses Hannover ein, wo er bis auf kurze Zeiten der Abwesenheit bis zu seinem Tode blieb. Dort hatte er neben seinen höfischen Pflichten die Zeit zur Beschäftigung mit einer großen Anzahl intellektueller Tätigkeiten, die ihm schließlich internationale Anerkennung einbrachten. Leibniz’ Philosophie, insbesondere seine Metaphysik, kann jenseitig und komplex erscheinen. Es gibt aber einige wenige Themen und grundlegende Bindungen, die sich durch sein gesamtes Denken ziehen. Dies wurzelt in einem philosophischen Optimismus, dem Glauben, dass die unsrige die beste aller möglichen Welten ist, die frei von einem rationalen Gott geschaffen wurde, der aus gutem Grunde immer das Beste wählt. Diese beste aller möglichen Welten, meint Leibniz, ist „diejenige, die gleichzeitig die größte Einfachheit in den Voraussetzungen und den größten Reichtum an Erscheinungen aufweist“ (‚Discours de Métaphysique‘, § 6). Aus diesem Grunde muss die Welt durch eine Anzahl allgemeiner Prinzipien geleitet sein, auf die sich Leibniz in seiner Philosophie beruft: es muss einen hinreichenden Grund für alles in der Welt geben; die Natur macht keine Sprünge; es muss genau dieselbe und vollständige Kraft in der Ursache liegen, wie sie in der vollständigen Wirkung zum Ausdruck kommt; und viele weitere. Während solche Prinzipien nicht deduktiv den Rest der Leibnizschen Philosophie bestimmen, spielen sie doch eine größere Rolle bei ihrer Ausformung. Sie bilden eine Art von Linse, durch die er die größeren philosophischen Fragen seines Zeitalters betrachtete. Eine dieser Fragen betrifft die letztendliche Struktur der Welt. Wie auch viele seiner Zeitgenossen vertrat Leibniz eine mechanistische Weltsicht, nach der alles in der physischen Welt in Funktion der Größe, Form und Bewegung jener kleinen Körper erklärbar ist, die die größeren Körper der Erfahrung bilden. Er lehnte aber die Idee ab, dass dies die letzte Begründung der Dinge sein könnte. Hinter der mechanischen Welt der unbelebten Körper in Bewegung sah Leibniz eine Welt der lebenden Dinge und Seelen, die aktiv, wirklich individuell und wirklich unterschieden voneinander sind, also die wahren Atome der Natur, die eigentliche Wirklichkeit. Diese Elemente nannte Leibniz schließlich ‚Monaden‘. Auf der untersten Ebene besteht Leibniz’ Welt aus einer unendlichen Anzahl geistartiger Entitäten, von denen jede ihre eigenen Wahrnehmungen hat, die sich von Moment zu Moment entsprechend ihrem inneren Programm und vermöge ihres Verlangens ändern, und zwar alle in Harmonie miteinander, so dass sie alle dieselbe Welt wiedergeben. Während 975
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716)
die Welt der Physik mechanistisch ist, zeigt sie sich lediglich phänomenal, was die verwirrte Erscheinungsweise einer tieferen Realität ist. Eine Folge hiervon ist Leibniz’ berühmte Lehre der ‚prästabilierten Harmonie‘. Im Gegensatz zu Descartes, für den der Geist und der Körper miteinander wechselwirken, und im Gegensatz zu den Okkasionalisten, für die Gott die wahre Ursache ist, der bei Gelegenheit einer Willensäußerung die Bewegung im Körper oder bei Gelegenheit der Reizung der entsprechenden Nerven im Körper eine Empfindung im Geiste hervorbringt, schuf nach Leibniz Gott selbst den Geist (eine einzige Monade) und den Körper (der selbst eine Sammlung von Monaden ist) in vollkommener Harmonie zueinander, so dass ihre mentalen und physischen Zustände immer auf geeignete Weise zusammenwirken. Eine zweite Gruppe metaphysischer Themen zentraler Bedeutung für Leibniz betreffen die ineinander verschränkten Fragen der Notwendigkeit, der Kontingenz und der Freiheit. Als Antwort auf Zeitgenossen wie Hobbes und Spinoza versuchte Leibniz einen Platz für die Kontingenz und die Freiheit in seiner Welt auszumachen. Er argumentierte, dass sogar dann, wenn Gott dahingehend eingeschränkt ist, dass er immer das Beste wählt, er dies doch freiwillig tut. Folglich ist die Welt, die er erschaffen hat, die beste aller möglichen Welten, und sie existiert kontingent, oder zumindest seien einige ihrer Eigenschaft kontingent, und zwar jene, deren Gegenteile selbst nicht unmöglich seien. So ist beispielsweise die Aussage ‚2 + 3 = 5‘, weil sie in jeder möglichen Welt wahr ist, notwendig, während die Aussage ‚Adam sündigte‘, deren Gegenteil nicht unmöglich ist, kontingent ist. Aber noch vor aller Kontingenz und göttlichen Freiheit wollte Leibniz auch der menschlichen Freiheit Raum verschaffen. Nach Leibniz wusste Gott, als er Adam als einen Teil der besten aller möglichen Welten erschuf, dass dieser Adam sündigen würde. Ein begrifflicher Teil von Adam ist, dass er sündigt, d.h. ein Teil seines inneren ‚Programms‘ sagt, dass er den Apfel essen wird, und folglich ist es auch ein Teil des internen ‚Programms‘ jener Monaden, aus denen sein Körper besteht, dass er wirklich den Apfel essen wird. Aber, so argumentiert Leibniz weiter, Gott habe in diesem Programm vorgesehen, dass Adam freiwillig sich dazu entschied zu sündigen. Gott versah die Welt mit den Gründen, die Adams Willen beugten, ohne dass dies notwendig war, wodurch er richtig voraussah, was Adam tun würde, und erbaute den Rest der Welt um diese Folge von Adams freien Handlungen herum. Obwohl diese beiden Fragen sehr wichtig sind, machen sie doch nur einen kleinen Teil des Leibnizschen Denkens aus, sogar noch innerhalb der Philosophie. In der Psychologie führte er die Unterscheidung zwischen den bewussten und den unbewussten Wahrnehmungen ein und versuchte die Art und Weise zu verstehen, auf die die unbewussten Wahrnehmungen (‚petites perceptions‘) teilweise die bewussten ‚Apperzeptionen‘ determinieren. In der Erkenntnistheorie ist seine sehr entwickelte Fassung der Angeborenheits-Hypothese wichtig, aber auch seine hohe Einschätzung der Rolle, die eine mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie beim Verständnis der Welt spielen kann. In der Logik brachte Leibniz Projekte einer neuen formalen Logik voran, die mächtiger war als die aristotelische, sowie solche betreffend eine universale Sprache. In der Ethik und dem politischen Denken betonte er die Naturrechtstradition. In der Naturphilosophie betonte er die Wichtigkeit des Begriffs der Kraft und brachte das breite kartesische Programm einer Physik voran, die auf dem Erhaltungssatz aufbaut. Außerhalb der Philosophie ist er wohl bekannt für seine Arbeit an der Infinitesimalrechnung. Obwohl er sie zusammen mit Newton entdeckte, 976
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716)
ist es doch seine Leistung, dass sie noch immer verwendet wird, und seine Fassung hatte wahrscheinlich zu seiner eigenen Zeit den größeren Einfluss. Er trug aber auch auf vielen anderen Gebieten Wichtiges bei, einschließlich der Geologie, der Naturgeschichte, der Linguistik und der europäischen Geschichte. Obwohl er keine wirkliche Schule mit Nachfolgern hinterließ, beeinflusste er doch nach seinem Tode noch stark die Philosophie, insbesondere im Deutschland des 18. Jahrhunderts. 1. Leben 2. Das Programm 3. Gott: Schöpfung und Theodizee 4. Metaphysik: Substanz, Monade und das Problem des Kontinuums 5. Metaphysik: Monade, Körper und körperliche Substanz 6. Metaphysik: Geist, Körper und Harmonie 7. Metaphysik: Notwendigkeit, Kontingenz und Freiheit 8. Erkenntnistheorie: Ideen und Empfindungen 9. Erkenntnistheorie: Wissen und Wahrscheinlichkeit 10. Logik und Sprache 11. Naturphilosophie 12. Ethik und politisches Denken 13. Die Leibnizsche Tradition 1. Leben Gottfried Wilhelm Leibniz wurde am 1. Juli 1646 in Leipzig geboren. Er erinnerte sich später, wie sein Vater, der bereits starb, als er erst sechs Jahre alt war, ihm eine Liebe zum Lernen anerzogen hatte. Leibniz begann in seinem siebten Lebensjahr mit der Schule, aber wichtiger als seine formale Ausbildung war in diesen Jahren seine Freude am Lesen. Er brachte sich selbst schon in frühen Jahren Latein bei, um Livy und Calvisius lesen zu können, und deshalb bekam er auch Zutritt zu der großen Bibliothek seines verstorbenen Vaters, in der er viel las. Mit fünfzehn Jahren ging Leibniz an die Universität, zunächst jene von Leipzig (1661–1666), dann auf die Universität von Altdorf (1666–1667), wo er sein Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie abschloss. Er erhielt eine konservative Ausbildung, eine Mischung aus traditionell-akademischer aristotelischer Lehre und einem Renaissance-Humanismus. Obwohl man ihn einlud, in den Lehrkörper von Altdorf einzutreten, trat er doch lieber in die Dienste des Kurfürsten von Mainz, wo er blieb, bis er im Frühling 1672 im diplomatischem Auftrag nach Paris gesandt wurde. Während er bedeutende Arbeiten auf verschiedenen Gebieten, einschließlich der Rechtswissenschaft, der Theologie, der Mathematik und der Physik, bereits vor seinem Weggang nach Paris geschrieben hatte, war diese Reise doch entscheidend für Leibniz’ intellektuelle Entwicklung. Im letzten Teil des 17. Jahrhunderts befand sich das gebildete Europa mitten in einer großartigen intellektuellen Revolution. Die ältere aristotelische Philosophie der Akademien wurde durch eine neue mechanistische Philosophie in Frage gestellt, die die Form, den Stoff und die Eigenschaften der aristotelischen Welt zurückwiesen und durch eine Welt ersetzten, in der alles durch die Größe, die Gestalt und die Bewegung erklärt wurde. In dieser neuen Welt lag eine besondere Betonung auf der Mathematik, die in zunehmendem Umfange
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und auf eine Weise auch auf physikalische Probleme angewandt wurde, die der aristotelischen Philosophie fremd war. Obwohl er an diesen modernen Ideen bereits in Deutschland Interesse fand (insbesondere übte Hobbes einen starken Einfluss auf sein frühes Denken aus), war Leibniz doch erst nach seiner Ankunft in Paris in der Lage, sich den Hauptströmungen des europäischen intellektuellen Lebens anzuschließen. Dort lernte er den wichtigen Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens kennen, der ihn in neue Ideen einführte, die Leibniz rasch aufnahm. In diesen Jahren schuf Leibniz die Grundlagen seiner Infinitesimalrechung, sowie seiner späteren Physik und seiner Philosophie. Während er zu dieser Zeit nichts veröffentlichte, sind doch viele unveröffentlichte Notizen erhalten geblieben, die für ein Verständnis der Entwicklung seines reifen Denkens wichtig sind. Leibniz kehrte im Dezember 1676 nach Deutschland zurück, durchquerte Holland und diskutierte dort mit dem zurückgezogenen Spinoza über philosophische Fragen. Daraufhin trat er in die Dienste des Hauses von Hannover. Er diente unter dem Herzog Johann Friedrich bis zu dessen Tod im Jahre 1679, dann unter Herzog Ernst August von 1680 bis 1698, und schließlich unter dem Kurfürsten Georg Ludwig, der den Thron von Großbritannien im Jahre 1714 als König Georg I. bestieg. Mit Ausnahme seiner Reisen blieb Leibniz für den Rest seines Lebens in Hannover. Hier übernahm er eine weit gestreute Reihe von Aufgaben. Er diente als Bergbauingenieur (wo er ohne Erfolg die Entwässerung der Silberminen im Harz beaufsichtigte), als Leitender Bibliothekar einer großen Büchersammlung, als Allgemeiner Hofrat und als Diplomat, und er war insbesondere daran interessiert, einen Weg zur Wiedervereinigung der Katholiken und der Protestanten zu finden. Leibniz wurde auch die Verantwortung für die Abfassung der Geschichte des Hauses Hannover übertragen. Während er viele bis dahin unbekannte historische Dokumente sammelte und veröffentlichte, dies neben anderen historischen Schriften, kam das Projekt doch kaum voran. Alles, was er diesbezüglich zu Ende gebracht zu haben scheint, war eine geologische Geschichte der Region Niedersachsens, die so genannte ‚Protogaea‘. Obwohl sich diese Arbeit als sehr wichtig für die Geschichte der Geologie erwies, als sie im Jahre 1749 schließlich veröffentlicht wurde, scheint sie den Dienstgebern Leibniz’ doch nicht besonders gefallen zu haben, die sich offenbar etwas gewünscht hatten, was sich doch mehr mit den jüngeren Zeiten beschäftigte. Für den Rest seines Lebens setzte Leibniz seine Untersuchungen philosophischer, wissenschaftlicher und mathematischer Fragen fort, die ihn von seinen frühesten Tagen an interessiert hatten. In den 1680er und 1690er-Jahren entstanden einige seiner wichtigsten Schriften. In diesen Jahren veröffentlichte er sein neues Infinitesimal-Kalkül und eine Vielzahl weiterer Arbeiten, in denen er seinen neuen Ansatz in der Physik, insbesondere in seiner neuen Wissenschaft der Dynamik, also der Wissenschaft der Kräfte und ihren Gesetzen umriß. Die ‚Brevis demonstratio‘ von 1686 erörtert zum ersten Male eine Widerlegung des Descartschen Erhaltungssatzes und enthält Hinweise auf die Grundlegung einer angemesseneren Physik. Einzelheiten hierzu werden in seiner unveröffentlichten ‚Dynamica‘ (1690) entwickelt, von der einiges Material in der Schrift ‚Specimen dynamicum‘ von 1695 erscheint, sowie in zahlreichen Antworten auf die versuchten Widerlegungen seiner Argumente von Seiten hartnäckiger Kartesianer. In der Philosophie publizierte Leibniz im Jahre 1684 seine ‚Meditationes de cognitione, veritate et ideis‘ (‚Meditationen über das 978
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Erkennen, die Wahrheit und die Ideen‘), und im Jahre 1686 schrieb er den ‚Discours de métaphysique‘ (‚Metaphysische Abhandlung‘), der erst im Jahre 1846 veröffentlicht wurde. Die Hauptargumente des letzteren Werkes werden ferner in einer Reihe von Briefen mit dem katholischen Theologen Antoine Arnauld diskutiert, die Leibniz später zur Veröffentlichung vorsah. Dieselben Themen finden sich, wenn auch in veränderter Form, in zwei wichtigen Publikationen der 1690er Jahre wieder, dem ‚Système nouveau de la nature et de la communication des substances‘ (‚Neues System der Natur und der Verbindung der Substanzen‘) (1695) und der Schrift ‚De ipsa natura‘ (‚Über die Natur selbst‘) (1698). Im ersten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts war Leibniz weiterhin sehr aktiv. Bedeutend war in diesen Jahren die ‚Nouveaux essais‘ (‚Neue Aufsätze‘) (1704), eine detaillierte Untersuchung von Lockes ‚Essay Concerning Human Understanding‘, die er nach Lockes Tod beiseite gelegt hatte, und die bis 1765 unveröffentlicht blieb. Er publizierte jedoch seine ‚Théodicée‘ (‚Theodizee‘) (1710), ein Handbuch philosophischer und theologischer Ideen, der die Weiterentwicklung von Themen mit sich brachte, die weit zurück in Leibniz’ Denken reichten. Seine letzten philosophischen Arbeiten waren kurze Zusammenfassungen, die nur als kurze Leitfäden für sein Werk gedacht waren, nämlich die ‚Monadologie‘ und die ‚Prinzipien der Natur und der Gnade‘, die beide wahrscheinlich aus 1714 datieren. Über alle diese Jahre hinweg unterhielt Leibniz eine ausgedehnte Korrespondenz, einschließlich eines Briefwechsels mit Huygens, Johann Bernoulli, Burchardus de Volder und Bartholomaeus Des Bosses, neben vielen anderen. Einer dieser Briefwechsel ist besonders bedeutend. Leibniz lag über viele Jahre hinweg im Streit mit seinem englischen Gegenpart, Sir Isaac Newton. Ihre Rivalität geht mindestens auf die 1690er Jahre zurück, und wahrscheinlich schon auf ihren ersten Kontakt in der Mitte der 1670er Jahre. Die Affäre war unschön, mit gegenseitigen Plagiatsvorwürfen betreffend die Infinitesimalrechnung und bitteren Zerwürfnissen über die Grundlagen der Physik. Diese Rivalität mündete schließlich in den Jahren 1715– 1716 in eine Korrespondenz zwischen Leibniz und Samuel Clarke, wobei letzterer für Newton selbst stand. Der Briefwechsel wurde von Clarke im Jahre 1717 veröffentlicht. Als Leibniz’ Dienstherr Georg Ludwig im Jahre 1714 nach London ging, um den Thron von Großbritannien zu besteigen, folgte ihm Leibniz nicht. Er war in Misskredit gefallen infolge seines langsamen Fortschritts an der Geschichte des Hauses Hannover sowie wegen seiner ganz allgemein etwas altmodischen Art. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass Georg befürchtete, der Streit mit Newton und dem britischen intellektuellen Establishment könnte zu Schwierigkeiten führen. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, Leibniz blieb in Hannover, wo er am 14. November 1716 starb. Obwohl er während seines Lebens gefeiert und wegen der Breite seiner Interessen und Tätigkeiten als ein Universalgenie angesehen worden war, wurde er bei seinem Tode nahezu ignoriert, mit einer nur kleinen Zeremonie in einem Grab beerdigt, das über viele Jahre hinweg ohne jede Kennzeichnung war. 2. Das Programm Leibniz schrieb niemals ein Buch oder einen Aufsatz, in dem eine kanonische Darstellung seines Denkens, enthalten war, sondern bevorzugte kurze Aufsätze oder die Briefform, in denen er seine Gedanken aus dem einen oder anderen Gesichts979
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winkel heraus darstellte, und dies oft als Antwort auf das Denken eines anderen (Descartes war seine bevorzugte Zielscheibe), oder auch als Antwort auf Fragen eines Korrespondenten. Tatsächlich scheint Leibniz’ komplexes Denken jener Art von zusammenfassender Behandlung zu widerstehen, die man in Werken wie den Descartesschen ‚Meditationen‘ oder Spinozas ‚Ethik‘ findet. Ferner kann man davon ausgehen, dass sich Leibniz’ Überzeugungen im Laufe seines langen Lebens auch änderten, und damit auch von einer Darstellung seiner Philosophie zur nächsten. Trotz dieser Komplexität gibt es einige Themen und Charakteristika, die sich durch Leibniz’ gesamtes Denken ziehen, zumindest in der reifen Periode, die nach seiner Rückkehr aus Paris in den späten 1670er Jahren beginnt. Diese ist auch jene Periode, auf die sich dieser Eintrag konzentriert. (Es gab zwar keinen radikalen Bruch zwischen den früheren und den späteren Jahren, allerdings doch eine deutliche Entwicklung.) Grundlegend für sein Denken war sein philosophischer Optimismus: diese unsere Welt ist die beste aller Welten, sie ist frei geschaffen von einem rationalen Gott, der aus gutem Grunde und ohne jegliche Willkür immer das Beste wählt. Nur infolge unseres begrenzten Verständnisses können wir nicht a priori all die allgemeinen oder besonderen Merkmale dieser Welt bestimmen. Diese Konzeption von Gott und seiner Schöpfung formte Leibniz’ Philosophie: seine Welt ist letztendlich sowohl rational, als auch in jeder Hinsicht vollkommen. Darüber hinaus hatte Leibniz’ philosophische Intelligenz eine große Reichweite, auch wenn bestimmte Probleme ihm besonders wichtig waren. In einer unbetitelten Notiz aus den späten 1680er Jahren schrieb er: ‚Es gibt zwei Labyrinthe des menschlichen Geistes; eines betrifft die Zusammensetzung des Kontinuums, und das andere die Natur der Freiheit, und beide entstehen aus derselben Quelle, nämlich der Unendlichkeit‘ (Leibniz 1989: 95). Das Labyrinth der Zusammensetzung des Kontinuums betrifft die letztendliche Struktur der Welt; das Labyrinth der Freiheit betrifft die Frage, wie die Freiheit und die Kontingenz in dieser Welt möglich sind. Die Lösung beider Fragen erfordert ein Verständnis der im wörtlichen Sinne unendlichen Komplexität, die man in der von Gott geschaffenen Welt vorfindet. Leibniz hatte eine Meinung zu praktisch allen philosophischen und naturwissenschaftlichen Themen seiner Zeit, aber diese beiden Fragen beschäftigten ihn ununterbrochen. 3. Gott: Schöpfung und Theodizee Wie viele seiner Zeitgenossen dachte Leibniz, dass die Existenz Gottes bewiesen werden könnte, und er war besonders fasziniert von dem so genannten ‚Ontologischen Beweis‘, den Anselm von Canterbury erfunden und Descartes überarbeitet hatte (siehe Gott, Beweise für die Existenz von, §§ 2–3), Dem ontologischen Beweis zufolge, wie er von Descartes vorgelegt und von Leibniz in den ‚Meditationen über das Erkennen, die Wahrheit und die Ideen‘ (1684) kommentiert worden war, „kann, was auch immer aus der Idee oder der Definition von irgendetwas folgt, von diesem Ding ausgesagt werden. Weil aber das vollkommenste Wesen alle Vollkommenheiten zusammen mit seiner Existenz in sich einschließt, so folgt die Existenz Gottes aus der Idee Gottes […] Daher kann von Gott die Existenz ausgesagt werden.“ Leibniz’ Beitrag zu dem Beweis ist die Beobachtung, dass es in seiner so beschriebenen Beschaffenheit nicht gültig ist: „Aus diesem Beweis können wir nur schließen, dass, wenn Gott möglich ist, daraus auch folgt, dass er existiert.“ Damit der Beweis taugt, müssen wir die Konsistenz der Definition von Gott festlegen. Die 980
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Konsistenz der Definition von Gott folgt direkt aus der Tatsache, dass Gott „ohne Grenzen, ohne Negation und folglich auch ohne Widerspruch ist.“ (‚Monadologie‘, § 45). Zusätzlich zu dieser Fassung des ontologischen Beweises verwendete Leibniz auch einen kosmologischen Beweis der Existenz Gottes, der von der Existenz kontingenter Dinge in der Welt ausgeht, also Dingen, deren Existenzgrund außerhalb ihrer selbst liegt, und von hier auf die Existenz eines notwendigen Wesens schließt (‚De rerum originatione radicali‘, dt.: ‚Vom letzten Ursprung der Dinge‘, 1697; ‚Monadologie‘, § 45). Schließlich argumentierte Leibniz aus der Existenz der ewigen Wahrheiten heraus: „Ohne [Gott] gäbe es nichts Wirkliches im Möglichen, so dass nicht nur gar nichts existieren würde, sondern auch nichts irgend möglich wäre.“ (‚Monadologie‘, § 43). Im den einführenden Abschnitten der ‚Metaphysischen Abhandlung‘ (1686: § 6) trägt Leibniz vor: „Faktisch hat Gott diejenige Welt gewählt, die gleichzeitig die größte Einfachheit in den Voraussetzungen und den größten Reichtum an Erscheinungen aufweist.“ Dies ist eine Formel, die oft in seinen Schriften wiederkehrt. Während dies seine Hauptdarstellung der Schöpfung ist, meint er in anderen Texten, insbesondere in dem Aufsatz ‚Über den letzten Ursprung der Dinge‘, dass es „ein gewisses Verlangen nach der Existenz oder (sozusagen) eine Spannung hin zur Existenz in den möglichen Dingen oder in der Möglichkeit oder dem Wesen selbst gibt; mit einem Wort, das Wesen in und an sich selbst strebt nach der Existenz.“ (‚De rerum originatione radicali‘, 1697). Leibniz fährt fort: „Von hier aus ist es offenkundig, dass unter den unendlichen Kombinationen der Möglichkeiten und der möglichen Reihen diejenige existiert, durch die das meiste Wesen oder die meiste Möglichkeit zur Existenz gebracht wird.“ Eine solche Darstellung der Schöpfung hat eine offensichtliche Folge, und zwar dass Gott für sie nicht notwendig ist, und das die Schöpfung aus einem quasi-mechanistischen, gegenseitigen Abwägen von Möglichkeiten hervorgeht. Leibniz betont aber, dass Gott der Grund alles Möglichen ist, und dass es Gott ist, der letztlich dass Mögliche verwirklicht, das den ‚Wettbewerb gewinnt‘. Die Darstellung der Schöpfung als jene der ‚strebsamen Möglichkeiten‘ scheint daher eine metaphorische Art und Weise von Leibniz’ ungewöhnlicher Auffassung von Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten zu sein. Leibniz Darstellung der Schöpfung löst eine Reihe bedeutender Folgerungen aus. Zunächst bringt sie gegen Descartes und Spinoza mit sich, dass es einen Standard der Güte und Vollkommenheit gibt, der unabhängig von Gott existiert; Gott erschafft die Welt, weil sie gut ist, und das heißt, es handelt sich dabei um eine Welt, die nicht einfach deshalb gut ist, weil sie die Schöpfung Gottes ist (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 2). Ferner meint Leibniz, im Gegensatz zu Malebranche, dass die Welt nicht besser geschaffen werden konnte, als sie tatsächlich wurde (ebda., §§ 3–4). Leibniz’ Schöpfungslehre kann man aber auch als einen direkten Angriff gegen eine Konzeption von Gott auffassen, wie sie von Spinoza vorgetragen wurde. Im Zentrum von Spinozas Projekt seiner ‚Ethik‘ steht ein Angriff gegen die Auffassung, dass Gott wie wir selbst ist, dass er die Dinge aus einem Grunde auswählt, und dass er an die Standards der Güte gebunden ist, die unabhängig von seinem Willen existieren. Diese anthropomorphe Auffassung von Gott, so meint Spinoza, sei eine Illusion, eine Projektion unserer eigenen Natur auf die Natur im Großen (siehe Spinoza, B. de, § 4). Gegen Spinoza präsentierte Leibniz seinen eigenen Gott, der überlegt wählt, um diese Welt aus einem bestimmten Grunde zu erschaffen, nämlich weil sie 981
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die beste aller möglichen Welten ist, also aus einem Grunde, der für uns einsehbar ist. Auf dieser Grundlage argumentiert Leibniz nicht nur gegen Spinoza, sondern auch gegen Descartes, zugunsten einer finalen Ursache in der Natur. Leibniz’ Darstellung der Schöpfung behandelt auch das Problem des Verständnisses der göttlichen Gerechtigkeit, und speziell der Frage, wie die Sünde, das Böse und das Leiden in einer von Gott geschaffenen Welt möglich seien – also das Problem der ‚Theodizee‘, um das Wort zu verwenden, das von Leibniz selbst hierfür geprägt wurde. Seine Antwort hieraus fällt komplex aus und füllt viele Seiten in der ‚Theodizee‘, im Übrigen dem einzigen philosophischen Buch, das er Zeit seines Lebens veröffentlichte. Kurz gesagt lautet sein Argument, dass das Böse eine notwendige und unvermeidliche Konsequenz dessen ist, dass Gott sich entschieden hat, die beste aller möglichen Welten zu erschaffen. Wie schlecht wir die Dinge in unserer Welt aber auch immer empfinden mögen – in jeder anderen Welt wären sie noch schrecklicher. Leibniz’ Darstellung der Schöpfung steht in engem Zusammenhang mit einer Reihe seiner Schlüsselprinzipien, von denen das Prinzip des hinreichenden Grundes das berühmteste ist. Er schreibt später in der ‚Monadologie‘ (§ 53): „Da es eine Unendlichkeit möglicher Universen in Gottes Ideen gibt, und weil nur eines von ihnen existieren kann, so muss es einen hinreichenden Grund für Gottes Wahl geben, einen Grund, der ihn die eine, und keine anderen wählen ließ.“ Das Prinzip des hinreichenden Grundes bringt es mit sich, dass das Universum im Prinzip rational und intelligibel ist: Gott muss immer aus einem Grund handeln, und als Folge davon muss es einen Grund für alles geben. Diese Darstellung der Schöpfung stand auch im Zusammenhang mit einer Reihe anderer Prinzipien in Leibniz’ Philosophie, die noch weiter unten besprochen werden. Man kann also sagen, dass die Schöpfungslehre der gesamten Leibnizschen Philosophie zugrunde liegt. Hätten wir Gottes Intellekt, so wären wir in der Lage, alle Merkmale dieser Welt daraus abzuleiten. In diesem Zustand befähigt uns unser Verständnis der göttlichen Schöpfung zur Fixierung bestimmter allgemeiner Wahrheiten über diese Welt und zur Begrenzung unserer Hypothesen darüber, wie die Dinge beschaffen sind. Leibniz’ Interesse an der philosophischen Theologie war allerdings nicht nur das Interesse eines Philosophen. Er glaubte, dass sein Verständnis der Wahrheiten über Gott und die Natur auf großartige Weise das Unternehmen einer Wiedervereinigung der katholischen und der protestantischen Kirchen unterstützen würde, und zwar unter dem Schirm einer wahren Philosophie. 4. Metaphysik: Substanz, Monade und das Problem des Kontinuums Leibniz ist berühmt für seine Behauptung, er habe das Problem der Zusammensetzung des Kontinuums gelöst. Insofern das Kontinuum (als Länge, Fläche oder Volumen) teilbar ist, scheint es aus Teilen zu bestehen. Aus was für Teilen soll es aber bestehen? Wenn die Teile ausgedehnt sind (wie Atome), dann sind sie wieder teilbar, und wir benötigen wiederum eine Darstellung ihrer Zusammensetzung. Wenn andererseits die Teile nicht ausgedehnt sind (wie Punkte), dann ist schwer einzusehen, wie hieraus eine ausgedehnte Größe entstehen soll. Leibniz’ Lösung hierzu lautete: man soll sich das mathematische Kontinuum gar nicht als ein aus Teilen zusammengesetztes Sein vorstellen; es habe zwar Teile, diese seien jedoch das Ergebnis der Teilung des Ganzen und diesem deshalb nachgeordnet. Andererseits behauptete Leib982
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niz, dass, während die wirklichen physischen Ausdehnungen Teile haben, es keine physischen Kontinua gebe. Physisch ausgedehnte Dinge sind im Grunde diskrete, d.h. voneinander gesonderte Vielheiten, deren Bestandteile Substanzen sind (‚Remarques sur les Objections de M. Foucher‘ (‚Bemerkungen zu den Einwänden von Herrn Foucher‘, 1696; Leibniz an de Volder am 19. Januar 1706). Dies wirft eines der zentralen Probleme in Leibniz’ Philosophie auf: was sind diese Substanzen, die die metaphysisch letzten Bestandteile der Welt ausmachen? Es gibt zwar viele Wege zur Einsicht in seine Anschauungen über die Substanz, doch Leibniz’ Kritik an Descartes’ Vorstellung der körperlichen Substanz ist ein besonders geeigneter Ausgangspunkt. Descartes meinte, dass das Wesen des Körpers die Ausdehnung sei. Dies bedeute, dass Körper geometrische Gegenstände seien, die konkret geworden seien, also Entitäten, die keine Eigenschaften haben als jene, die auf der Ausdehnung aufbauen. Die Farbe, der Geschmack, der Klang etc. seien an sich selbst keine Körper, sondern sind nur Empfindungen im Geiste, die durch unsere Wechselwirkung mit den ausgedehnten Substanzen hervorgerufen würden. Während Leibniz als ein Mechanist dieser letzteren Behauptung zustimmte, wies er die kartesische Konzeption des Körpers, auf der sie beruhte, zurück (siehe Descartes, R., §§ 8, 11). Leibniz bot eine Reihe von Beweisen gegen die kartesische Konzeption der körperlichen Substanz an: (1) Die Vorstellung der Ausdehnung setzt irgendeine Qualität voraus, die ausgedehnt ist, wie das Weiße in der Milch oder die Trägheit gegen neue Bewegung in jedem Körper. So sei aber nicht dasjenige beschaffen, dass an sich selbst das Wesen von allem ausmache (Leibniz an de Volder, 30. Juni 1704; ‚Notiz zur kartesischen Naturphilosophie‘, 1702). (2) Sofern ausgedehnte Dinge teilbar sind, bestehen ihre Aggregate aus Teilen. Aber die Wirklichkeit des Aggregats setzt einige echte Individuen voraus, aus denen das Aggregat zusammengesetzt ist. Solche Individuen sind in den kartesischen Körpern aber nicht auffindbar (Leibniz an Arnauld, 30. April 1687; ‚Monadologie‘, §§ 1–3). (3) Wenn die Welt voll ist und es keine Leere gibt, und wenn die Welt ferner mit kartesischen ausgedehnten Substanzen angefüllt ist, dann kann es keine Veränderung in der Welt geben. Denn jede angenommene Veränderung würde darin bestehen, dass eine Körperportion an die Stelle einer anderen treten müsste und damit mit ihr in jeder Hinsicht identisch wäre (‚Über die Natur selbst‘). (4) Wenn der Körper nichts als Ausdehnung wäre, dann wäre er vollkommen träge und müsste von Gott bewegt werden. Wenn dem aber so wäre, so wäre Gottes Schöpfung unvollkommen, weil es ihr an Geschöpfen fehlen würde, die irgendeinen von Gottes Befehlen durchführen können. Tatsächlich würde sich eine solche auf die Welt Spinozas reduzieren, in der endliche Dinge nur Modi von Gott selbst sind (‚Über die Natur selbst‘). Mit Hilfe solcher Beweise wollte Leibniz die kartesische mechanistische Analyse des Körpers noch eine Ebene tiefer legen und sogar noch die Ausdehnung in etwas Grundlegenderes auflösen, d.h. eine Welt der Substanzen, die wirklich individuell, wirklich aktiv sind, und denen Eigenschaften zukommen, die diese individuellen Substanzen voneinander unterscheiden. Unter den zahlreichen wichtigen Diskussionen zur Natur der Substanz in Leibniz’ Schriften sind zwei besonders bemerkenswert; die eine findet in der ‚Metaphysischen Abhandlung‘ zu Beginn seiner reifen Periode statt, und die andere ganz am Ende seines Lebens in der ‚Monadologie‘. (Es gibt noch eine dritte wichtige Kon-
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zeption der Substanz, die aus den Schriften zur Dynamik hervorgeht, und die weiter unten im Zusammenhang mit dieser Physik diskutiert wird.) Leibniz beginnt den 8. Abschnitt der ‚Metaphysischen Abhandlung‘ mit der Bemerkung, es stehe fest, „dass jede wahre Aussage eine Grundlage in der Natur der Dinge hat, und immer, wenn ein Satz nicht identisch ist, d.h. immer wenn das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekt enthalten ist, muss es doch virtuell darin enthalten sein.“ (Dieses Prinzip, das er vielleicht aus seinen logischen Studien einige Jahre zuvor abgeleitet hatte, steht in engem Zusammenhang mit dem Prinzip des Hinreichenden Grundes in Leibniz’ Vorstellung; das Enthaltensein des Prädikatsbegriffs im Subjektbegriff macht den ‚hinreichenden Grund‘ für die Wahrheit eines Satzes aus. Diese Verbindung mit seiner Logik hat einige Kommentatoren dazu veranlasst, Leibniz’ Metaphysik als etwas anzusehen, was grundlegend von seiner Logik inspiriert sei.) Und so, behauptet Leibniz, müssen der Subjektsausdruck immer den Prädikatsausdruck enthalten, so dass jemand, der vollkommen die Vorstellung von dem Subjekt verstehe, auch wüsste, dass das Prädikat zu ihm gehöre. Er schließt daraus, dass „die Natur einer individuellen Substanz oder eines selbständigen Seienden darin besteht, dass es einen Begriff hat, der so vollständig ist, dass er zureicht, um alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zukommt, in sich zu fassen, und um zu gestatten, dass sie alle aus ihm hergeleitet werden.“ Weil er meinte, dass es etwas in der Substanz selbst geben müsse, kraft dessen dieser selbständige Begriff für ihn gilt, schließt er ferner, dass eine Substanz zu jeder beliebigen Zeit Zeichen und Spuren von allem an sich haben muss, das wahr von ihm ist, d.h. alles in dieser Hinsicht Vergangene, Gegenwärtige und Zukünfte, auch wenn nur Gott dies alles sehen könne. (Es ist nicht klar, ob dies Leibniz an die Auffassung band, dass alle Eigenschaften eines gegebenen Einzeldings für dieses Einzelding wesentlich sind, was ihn zu einem ‚Superessentialisten‘ machen würde. Die Meinungen der Kommentatoren gehen hierüber auseinander.) In der ‚Monadologie‘ bietet Leibniz eine etwas andere Beschreibung der Substanz an. Unter Verwendung des Ausdrucks ‚Monade‘, den er in den späten 1690er Jahren annahm, um den Begriff einer individuellen Substanz zu beschreiben, erklärt er: „Die Monade […] ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten Dinge eingeht; einfach heißt so viel wie: ohne Teile. Einfache Substanzen muss es geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung oder ein Aggregat von Einfachem. Nun gibt es dort, wo es keine Teile gibt, weder Ausdehnung, noch Gestalt, noch mögliche Teilbarkeit. Und die Monaden sind so die wahren Atome der Natur, mit einem Wort, die Elemente der Dinge.“ (‚Monadologie‘, Nr. 1–3) So verstanden gründet sich die Leibnizsche Welt auf nicht-ausgedehnte, einfache Substanzen, deren grundlegende Eigenschaft ihre Nichtteilbarkeit ist, und folglich, so schloss Leibniz, auch ihre Nichtausdehnung. Aus dieser grundlegenden Beschreibung der individuellen oder einfachen Substanz (die Leibniz ab Mitte der 1690er Jahre ‚Monade‘ nannte) erschloss er eine Reihe wichtiger Eigenschaften. Die individuelle Substanz oder Monade ist eine echte Einheit, die nicht gespalten werden kann, was in der ‚Monadologie‘ ausdrücklich erklärt wird, jedoch nicht so deutlich in der früheren Darstellung der ‚Metaphysischen Abhandlung‘. Folglich kann diese Substanz nur mit der göttlichen Schöpfung zu existieren beginnen, und sie kann auch nur durch göttliche Annihilation wieder ihr 984
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Ende finden. Sie ist von Natur aus unerzeugbar und nicht zu beschädigen. Nach beiden Darstellungen sind die individuellen Substanzen oder Monaden die Quelle aller ihrer Tätigkeiten, und sie können nicht durch die direkte Einwirkung Anderer verändert werden. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Leibniz sagt, „Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie hinein, oder etwas aus ihnen heraustreten könnte.“ (‚Monadologie‘, Nr. 7) In der ‚Metaphysischen Abhandlung‘ leitet er hieraus die Tatsache ab, dass eine Substanz in sich selbst alle Gründe aller ihrer Eigenschaft enthält; es gibt keine Notwendigkeit – und auch keinen Platz – für irgendeine externe Kausalität. In der ‚Monadologie‘ wird dies direkt aus dem Umstand abgeleitet, dass die Monaden nicht ausgedehnt sind. Die offenkundige Einwirkung einer Substanz auf eine andere muss man als die Beziehungen zwischen den internen Zuständen der einen und den internen Zuständen der anderen sehen (was weiter unten noch diskutiert wird). Abschließend trägt Leibniz vor, wegen der bestehenden Beziehungen zwischen den Substanzen reflektiere jede individuelle Substanz oder Monade die gesamte Welt, von der sie ein Teil sei. Dies ist eine These, die in engem Zusammenhang mit der Hypothese der prästabilierten Harmonie steht (die ebenfalls weiter unten diskutiert wird). Obwohl also alle individuellen Substanzen dieselbe, eine Welt widerspiegeln, reflektieren sie sie doch von einem jeweils anderen Standpunkt aus, und fügen damit die Vollkommenheit der Vielfalt zu der göttlichen Schöpfung hinzu (‚Metaphysische Abhandlung‘, §§ 9, 15; ‚Monadologie‘, Nr. 4–7). Diese Konzeption der Harmonie lässt sich bei ihm bis in die Pariser Zeit zurückverfolgen, und vielleicht sogar bis in die frühesten seiner Schriften zur Physik. Nach Leibniz unterscheiden sich Substanzen voneinander durch ihre momentanen Wahrnehmungen und durch ihr Verlangen, der internen Quelle aller Aktivität einer Substanz, die sie von einem Wahrnehmungszustand zum nächsten führt. Insofern eine Substanz ein solches Verlangen hat, ist „jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz natürlicherweise eine Folge ihres vorhergehenden Zustandes, und zwar so, dass die Gegenwart wiederum mit der Zukunft schwanger geht.“ (‚Monadologie‘, Nr. 22) Da sie keinen externen Einflüssen unterliegt, wird jede Monade durch Gott sozusagen mit einer Art internem Programm geschaffen, das alle seine Zustände bestimmt, die sie noch einnehmen wird, sowie die Reihenfolge ihres Auftretens. Obwohl die kartesische Seele ein wichtiges Modell für die individuelle Substanz ist (so Leibniz an de Volder, ca. 1699), gibt es hier doch bedeutsame Unterschiede. Während die momentanen Zustände alle ‚Wahrnehmungen‘ genannt werden, sind doch nicht alle dieser Wahrnehmungen bewusst. (Bewusste Wahrnehmungen heißen in Leibniz’ Terminologie ‚Apperzeptionen‘, doch weil die Natur in der besten aller Welten keine Sprünge macht, muss es eine kontinuierliche Abstufung zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten geben.) Im scholastischen Denken ist das Verlangen die allgemeine Fähigkeit, die bei der Substanz zum Wandel führt, und von der der Wille (d.h. das ‚rationale Verlangen‘) ein Spezialfall in den rationalen Seelen ist. Aus diesen Gründen unterschied Leibniz sorgfältig zwischen rationalen Seelen wie den unsrigen, und den Monaden niedrigerer Bewusstseinsstufe und Rationalität; er nannte sie deshalb auch manchmal ‚pure Monaden‘ (‚Monadologie‘, Nr. 8–24).
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5. Metaphysik: Monade, Körper und körperliche Substanz Leibniz verwendete einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit auf die Ebene der individuellen Substanz oder Monade, das Atom der Natur und den Baustein dieser Welt, der in gewisser Weise der Welt der Körper zugrunde liegt. Aber zusätzlich zu den einfachen Substanzen anerkannte Leibniz auch oft die komplexen, körperlichen Substanzen, speziell in den 1680er und 1690er Jahren. Körperliche Substanzen hat man dabei analog zum menschlichen Wesen zu verstehen, also eine Seele (die selbst eine individuelle Substanz ist) vereinigt mit einem organischen Körper. Leibniz verwendet oft die aristotelische Sprache zur Beschreibung der körperlichen Substanz und nennt die Seele ihre Form, und den organischen Körper seinen Stoff (siehe Aristoteles, §§ 8, 11). Der organische Körper einer körperlichen Substanz besteht selbst aus körperlichen Substanzen, die jedoch alle in der Seele zu einem weiteren, kleineren organischen Körper vereinigt sind, und zwar in einer Folge von immer winzigeren Organismen bis in die unendliche Kleinheit, damit eine Manifestation der unendlichen Vielfalt in dieser besten aller möglichen Welten, die Gott erschuf. Leibniz unterschied körperliche Substanzen von körperlichen Aggregaten als Anhäufungen belebter körperlicher Substanzen, deren Einheit nur geistiger Art ist, d.h. vom Geist auferlegt, der eine Gruppe von Substanzen als Einheit wahrnimmt. Während diese körperlichen Substanzen letztlich aus nicht-ausgedehnten individuellen Substanzen bestehen, scheint Leibniz’ Standpunkt (wenigstens bis 1704) gewesen zu sein, dass diese körperlichen Substanzen als solche die echten Individuen sind, deren Wirklichkeit den Aggregaten zugrunde liegt, die die unbelebten Körper bilden. Wie weiter unten diskutiert, ist die Seele einer körperlichen Substanz zu ihrem Körper kraft der prästabilierten Harmonie vereinigt. Um das Jahr 1704 entschloss sich Leibniz jedoch als Reaktion auf die Kritik von Seiten René-Joseph de Tournemine zu der Auffassung, dass diese Verbindung keine echte Einheit hervorbringt, und der Begriff einer körperlichen Substanz wird dadurch für ihn zu einem Problem. Während er weiterhin behauptete, dass die physische Welt aus einer unendlichen Hierarchie von Organismen besteh, war er sich nach der besagten Veränderung nicht mehr so sicher, dass die Organismen wirklich echte Substanzen bilden. (Gleichwohl dachte Leibniz immer, dass jede Monade einen Körper habe und ohne diesen nicht existieren könne, selbst wenn die Monade zusammen mit ihrem Körper keine echte Substanz bildet. Noch nach ihrem Verschwinden habe die Monade einen Körper, allerdings einen solchen, der radikal kleiner sei als jener, den sie zu ‚Lebzeiten‘ hatte.) Das Problem der Konstruktion komplexer Substanzen aus Monaden führte Leibniz in seiner Korrespondenz mit Des Bosses zur Erforschung der Idee eines ‚vinculum substantiale‘, d.h. einer substanziellen Bindung. Obwohl nicht klar ist, ob er jemals wirklich hinter dieser Idee stand, scheint er das Problem der körperlichen Substanz in diesem Dialog doch ernster genommen zu haben. Wie auch immer die Frage der körperlichen Substanz von Leibniz behandelt wurde, so hatte der Körper doch immer eine Art von untergeordnetem Status für ihn. Auch wenn körperliche Substanzen echte Substanzen sein mögen, echte Individuen und darüber hinaus wirklich aktiv und daher auch wirklich existierend, so liegen sie doch in der nicht ausgedehnten, individuellen Substanz oder Monade begründet. Und unbelebte Körper sind unvermeidlich phänomenal, entweder weil ihre Erscheinung sich aus einer Vielzahl organischer körperlicher Substanzen ergibt, oder einfach weil ihre Erscheinung durch eine unendliche Vielfalt nicht ausgedehnter Substanzen prä986
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sentiert wird. So betrachtet kann man Leibniz’ Philosophie als eine Inspiration für die Unterscheidung zwischen den noumenalen und den phänomenalen Welten in Kants Philosophie sehen. Aber im Unterschied zu Kant, der beanspruchte, dass wir die noumenale Welt der Dinge an sich nicht erkennen können, ist sich Leibniz recht sicher, dass er genau weiß, wie die Dinge an sich beschaffen sind: sie sind Monaden (siehe Kant, I., § 3). 6. Metaphysik: Geist, Körper und Harmonie Ein grundlegendes Merkmal der Leibnizschen Metaphysik ist seine Lehre, dass alles Einzelne die gesamte Welt reflektiert, in der es existiert. Diese Harmonie zwischen den Dingen leitet er aus der göttlichen Schöpfung ab, die die Wahrnehmungen der individuellen Substanzen oder Monaden so zueinander einrichtet, dass hieraus eine vollkommnere Welt kraft dieser Vielfalt entsteht. Und so gibt es, trotz des Umstandes, dass individuelle Substanzen nicht direkt miteinander kommunizieren können und somit in keiner wirklichen metaphysischen Kausalbeziehung zueinander stehen, doch einen erweiterten Sinn, in dem das, was einer Substanz widerfährt, als die Ursache dessen betrachtet werden kann, was einer anderen Substanz widerfährt. Leibniz schreibt: „Es kann vorkommen, dass eine Veränderung, die den Ausdrucksgehalt der einen steigert, den der anderen mindert. Nun besteht die Kraft der Einzelsubstanz darin, dass sie die Herrlichkeit Gottes gut ausdrückt, und insofern als sie das tut, ist sie minder begrenzt.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 15; ‚Monadologie‘, Nr. 52). Gott erschafft, indem er eine gegebene Substanz zur Ausführung einer bestimmten Handlung in einem bestimmten Moment erschafft, alle anderen Substanzen dergestalt, dass sie diese Handlung zu diesem Zeitpunkt reflektieren. Dies ist es, was man physikalische Kausalität nennen könnte, und diese ist von der metaphysischen Kausalität zu unterscheiden, die Leibniz hinsichtlich der endlichen Dinge bestritt. Während jede Monade oder Substanz auf irgendeine Weise mit jeder anderen Monade in Beziehung steht, gibt es eine spezielle Beziehung zwischen dem Geist und dem Körper eines lebenden Gegenstandes wie z.B. einem Menschen: „Obwohl demnach jede erschaffene Monade das ganze Universum repräsentiert, repräsentiert sie mit besonderer Deutlichkeit den Körper, der ihr insbesondere zugehört und dessen Entelechie sie ausmacht. Und da dieser Körper vermöge der Verknüpfung der gesamten Materie im erfüllten Raum das ganze Universum ausdrückt, repräsentiert die Seele, indem sie diesen ihr insbesondere gehörenden Körper repräsentiert, auch das ganz Universum.“ (‚Monadologie‘, Nr. 62; vgl. dazu ‚Metaphysische Abhandlung‘, § 33). Auf diese Weise ist der Geist mit der Welt verbunden kraft einer besonderen Verbindung, die er mit dem Körper unterhält. Nach Leibniz’ Verständnis der Kausalität, können der Geist und der Körper die ‚physische‘ Ursache gegenseitiger Veränderungen sein. So also löst Leibniz zu seiner Zufriedenheit eines der zentralen Probleme der Metaphysik des 17. Jahrhunderts, nämlich die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper. Wegen der besonderen Harmonie zwischen Geist und Körper ist mein Körper in einem Zustand, den man sich z.B. so vorstellen kann, dass gerade dann, wenn der Körper von einer Nadel gestochen wird, der Geist ebenfalls so programmiert ist, dass er eine Empfindung von dem Schmerz hat. Und genau dann, wenn mein Geist in dem Willenszustand ist, meinen Arm zu heben, dann ist mein Körper in 987
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dem physischen Zustand, der darauf hinausläuft, dass sich mein Arm hebt. Dies geschieht allerdings nicht infolge irgendeiner direkten kausalen Verbindung zwischen ihnen (Leibniz an Arnauld am 28.11./08.12.1686 und am 30.04.1687). Aus diesem Grunde schreibt Leibniz: „Nach diesem System wirken die Körper, als wenn es – was in Wahrheit unmöglich ist – gar keine Seelen gäbe; die Seelen wirken, als ob es keine Körper gäbe; und alle beiden wirken, als ob sie einen Einfluss aufeinander ausübten.“ (‚Monadologie‘, Nr. 81) Dies ist es, was er ursprünglich die ‚Hypothese des gleichzeitigen Bestehens‘, später aber ‚prästabilierte Harmonie‘ nannte, als er den Gedanken das erste Mal im ‚Neuen System der Natur …‘ (1695) publizierte. Diesen Standpunkt fasst er in einer Analogie zusammen, auf die er oft Bezug nimmt. Geist und Körper können mit zwei Uhren verglichen werden, die vollkommenen Gleichgang aufweisen. Eine Hypothese zur Erklärung dieses Gleichganges ist die des natürlichen Einflusses, d.h. die Hypothese, dass es irgendeine physikalische Verbindung zwischen der einen und der anderen Uhr gibt. Dies korrespondiert mit Descartes’ Sichtweise der Geist-Körper-Interaktion, bei der es wirkliche gegenseitige kausale Einflussnahme gibt. Die zweite Hypothese lautet, dass jemand über die beiden Uhren wacht, und weil er dauernd an ihnen herumbastelt, erhält er sie in ständigem Gleichgang. Dies korrespondiert mit dem Okkasionalismus vieler Descartes-Nachfolger, bei dem die Geist-Körper-Kausalität durch Gott vermittelt wird, die Empfindungen im Geist bei Gelegenheit eines entsprechenden körperlichen Zustandes hervorruft, und Handlungen des Körpers bei Gelegenheit der entsprechenden Willenäußerungen des Geistes (siehe Okkasionalismus). Und schließlich gibt es noch die Hypothese, dass die Uhren so gut eingerichtet sind, dass sie immer in absoluter Übereinstimmung zueinander laufen. Dies entspricht der Hypothese der prästabilierten Harmonie, die Leibniz für die plausibelste hielt (Leibniz an Basnage de Beauval am 03./13.01.1696). Leibniz brachte eine Reihe von Beweisen direkt gegen den Okkasionalismus vor. Er argumentierte beispielsweise, dass es eine echte Aktivität in den Dingen selbst geben muss, denn eine Welt der echt aktiven Dinge ist eine vollkommnere als eine Welt von Dingen, die nur von Gott manipuliert werden. Tatsächlich, so behauptete Leibniz, wäre eine Welt der trägen Dinge genau die spinozistische, in der Gott die einzige Substanz ist, und alles andere nur Modi von ihr (‚Über die Natur selbst‘). Er wandte auch ein, dass der Okkasionalismus fortgesetzte Wunder behauptet, insofern Gott ständig aufgerufen wird die Dinge zu tun, die über die eigene Kraft und Natur dieser Dinge hinausgehen (Leibniz an Arnauld am 30. April 1687). Wie weiter unten ausgeführt, ist die Konzeption der physischen Welt, die der Leibnizschen Dynamik zugrunde liegt, selbst eine direkte Herausforderung des Okkasionalismus. Gleichwohl teilte Leibniz zumindest eine wichtige Lehre mit dem Okkasionalismus, wenn er sagt, dass die endlichen Substanzen keine wirkliche kausale Beziehung miteinander eingehen. Diese Lehre mag einem modernen Leser reichlich exzentrisch erscheinen; dies war jedoch für einen Leser des 17. Jahrhunderts deutlich weniger der Fall. Leibniz stellt die Hypothese der prästabilierten Harmonie oft als eine Lösung des Problems der Geist-Körper-Interaktion dar. Gleichzeitig erlaubt ihm dies jedoch, die mechanistische Konzeption der Welt mit einer Konzeption zu versöhnen, die auf den Finalursachen aufbaut. Er schrieb: „Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen und der Körper den seinigen; sie treffen sich kraft der zwischen allen Substanzen 988
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prästabilierten Harmonie, da sie nämlich alle Repräsentationen eines und desselben Universums sind. […] Die Seelen wirken nach den Gesetzen der Zweckursachen, durch Strebungen, Zwecke und Mittel. Die Körper wirken nach den Gesetzen der Ursachen bzw. der Bewegung. Die beiden Reiche aber, das der wirkenden Ursachen und das der Zweckursachen, harmonieren miteinander.“ (‚Monadologie‘, Nr. 78 u. 79) Konkreter gesagt kann das körperliche Verhalten (z.B. das Heben einer Hand) entweder als eine Willensäußerung Gottes verstanden werden, der eine Harmonie zwischen Geist und Körper gestiftet hat, oder einfach kraft der Bewegungsgesetze, die auf den jeweiligen physischen Körper angewandt werden. Durch die prästabilierte Harmonie werden diese beiden Erklärungen immer auf dasselbe hinauslaufen. Auf diese Weise schafft es Leibniz, den Dualismus von Descartes mit der strengeren mechanistischen Philosophie von Hobbes zu vereinen, der meinte, alles im Körper könnte auf mechanistische Weise erklärt werden, während Leibniz nun gleichzeitig meinen konnte, dass die Menschen (und andere lebende Organismen) auch Seelen haben, die die Ursache von einem großen Teil ihres Verhaltens sind. Zusätzlich zur Erklärung der Interaktion zwischen Geist und Körper meinte Leibniz, als er dies zum ersten Mal unternahm, dass die prästabilierte Harmonie ebenfalls die Einheit von Körper und Geist erkläre, die es mache, dass der Geist eine einzige Substanz sei und die Summe der individuellen Substanzen ihren Körper bilden (‚Metaphysische Abhandlungen‘, § 33). Auf diese Weise sollte die prästabilierte Harmonie eine zentrale Unterstützung für Leibniz’ Darstellung der körperlichen Substanz liefern. Unglücklicherweise allerdings erwies sie sich als untauglich für diese Aufgabe. Im Mai 1703 wies René-Joseph de Tournemine darauf hin, dass, welche Ähnlichkeit auch immer man zwischen zwei Uhren annimmt bzw. wie genau aufeinander abgestimmt man auch immer ihren Gang annehmen mag, man doch niemals sagen kann, dass die Uhren vereint seien, nur weil ihre Bewegungen einander mit vollkommener Symmetrie gleichen. Dies stellt zwar nicht die prästabilierte Harmonie als eine Darstellung der Geist-Körper-Interaktion in Frage. Das Argument ist aber so einfach wie katastrophal für die etwas andere Behauptung, dass die prästabilierte Harmonie der Grund für die Geist-Körper-Einheit sei. Infolgedessen stellte Leibniz den Ort der komplexen körperlichen Substanzen in seiner Philosophie in Frage, was weiter unten diskutiert wird (siehe Malebranche, N.; Okkasionalismus). 7. Metaphysik: Notwendigkeit, Kontingenz und Freiheit Im Zentrum von Leibniz’ Philosophie steht eine Vielzahl von Problemen betreffend die Notwendigkeit, die Kontingenz und die Freiheit. Dies sind Probleme, die auf vielerlei Weise und aus vielen verschiedenen Quellen auftauchen. Hinter vielen der diesbezüglichen Leibnizschen Sorgen stand Spinoza. Nach Spinoza ist alles in der Welt notwendig und nichts ist kontingent, so dass die Dinge nicht anders sein können, als sie sind. Tatsächlich ist alles, was wirklich möglich ist, auch wirklich, und wenn etwas nicht wirklich existiert, dann deshalb, weil es nicht existieren kann. Alles folgt aus der göttlichen Natur, d.h. nicht durch Wahl, sondern aufgrund blinder Notwendigkeit. Darüber hinaus behauptete Spinoza, alles in der Welt sei determiniert, und was wir als menschliche Freiheit auffassen, sei nur eine Illusion. Wir denken, dass wir frei seien, weil wir nichts von den außer uns bestehenden Gründen wissen, die bestimmen, was mit uns geschieht.
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Andere Probleme ergaben sich aus Leibniz’ eigenen Standpunkten. Einige entstanden aus der Verbindung des Leibnizschen Prinzips, das besagt: ‚Wenn eine Aussage nicht identisch ist, d.h., wenn das Prädikat nicht ausdrücklich in ihrem Subjekt enthalten ist, dann muss es virtuell in ihm enthalten sein (‚Metaphysische Abhandlungen‘, § 8). Wenn jedes Prädikat, das von einem Einzelding wahr ist, Teil von dessen Begriff ist, wie kann es dann nicht notwendig sein? Ein eng damit zusammenhängendes Problem folgt aus Leibniz’ Behauptung, dass jede individuelle Substanz alles enthält, das ihr zustoßen kann, und zwar in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Daraus scheint zu folgen, dass alles von Anfang determiniert ist, und es gibt keinerlei Platz mehr für die Freiheit eines Geschöpfes. Hier betrifft das Problem nicht die Notwendigkeit und die Kontingenz, sondern den Determinismus und die menschliche Freiheit. Selbst wenn es kontingent wäre, dass irgendeine Kreatur irgendeine ‚eingebaute‘ Geschichte hat, so wäre ein solches Geschöpf in jedem Falle in keiner Hinsicht mehr frei. Leibniz bietet eine Reihe von Vorgehensweisen betreffend dieser Probleme in seinen Schriften an. Seine Antwortstrategie auf die spinozistischen Angriffe gegen die Kontingenz liegt in der Behauptung, dass Gott freiwillig die beste aller Welten gewählt hat. Leibniz schrieb in den frühen 1680er Jahren in einem Aufsatz mit dem Titel ‚De libertate‘ (‚Von der Freiheit‘): „Gott bringt das Beste nicht notwendig hervor, sondern weil er es will.“ (1989: 20). Weil Gott allerdings vollkommen ist, schaut es so aus, dass sein Wesen notwendig seinen Willen bestimmt, das Beste zu tun. Dies führte Leibniz direkt zu einer weiteren Darstellung der Kontingenz. In demselben Dokument fährt er fort, dass „die Dinge möglich bleiben, selbst wenn Gott sie nicht auserwählt“. Das heißt, selbst wenn Gott notwendigerweise die beste aller möglichen Welten erschuf (und dieses Zugeständnis macht Leibniz nicht immer), so bleiben die unverwirklichten Möglichkeiten doch immer noch und an sich selbst möglich. Die Anerkennung solcher unverwirklichter Möglichkeiten war es auch, die ihn von dem Abgrund des Notwendigkeitsglaubens abbrachte, schrieb Leibniz in einem weiteren Aufsatz aus den späten 1680er Jahren (1989: 21). Anderswo charakterisierte er solche Möglichkeiten, die Gott als notwendig erschafft, aber nur ex hypothesi, d.h. unter der Annahme, dass Gott sich dazu entscheidet, sie auszuwählen. Diese Dinge wären in einem begrenzten Sinne notwendig, darüber hinaus aber immer noch notwendig, insofern ihr Gegenteil nicht selbstwidersprüchlich ist (‚Metaphysische Abhandlungen‘, § 13). Von Zeit zu Zeit verwendet Leibniz den verwandten Ausdruck der Kompossibilität. Zwei Individuen sind kompossibel, wenn sie zur selben Zeit verwirklicht werden können, und sie sind nicht kompossibel, wenn sie hierzu nicht imstande sind. Auf diese Weise kann man sagen, dass eine mögliche Welt eine jeweils größte Menge kompossibler Individuen ist. Die Begriffe der Kompossibilität und der Inkompossibilität sind jedoch keine logischen Ausdrücke, streng genommen: Zwei Individuen mögen nicht in dieselbe mögliche Welt passen, weil sie (in einem zu konkretisierenden Sinne) in logischem Widerspruch zueinander stehen, oder weil sie nicht miteinander harmonieren. Leibniz legt manchmal auch nahe, es sei kontingent, dass diese bestimmte Welt die beste aller möglichen Welten sei. Denn selbst wenn Gott notwendigerweise die beste aller möglichen Welten schuf, so ist es doch immer noch eine kontingente 990
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Tatsache, dass er diese Welt schuf. Dieses Argument geht auf die Schwierigkeiten ein, die sich aus Spinozas Sichtweise ergeben, dass Gott notwendigerweise diese Welt erstehen ließ (siehe Spinoza, B. de, § 4). Wie aber schon zuvor gesagt, hat Leibniz mit noch mehr Schwierigkeiten zu kämpfen. Wenn in irgendeiner wahren Aussage der Begriff des Prädikats im Begriff des Subjekts enthalten sein muss, wie kann die Wahrheit dann anders als notwendig gegeben sein? Einen Antworttyp trägt Leibniz in der ‚Metaphysischen Abhandlung‘ (§ 13) vor, wo er einfach behauptet, dass es zwei Arten des begrifflichen Enthaltenseins gibt. Während alle Prädikate im Begriff des jeweiligen Subjekts enthalten sind, sind es nur einige aus Notwendigkeit, und die übrigen kontingent. Aber in derselben Schrift, die wahrscheinlich aus den späten 1680er Jahren datiert, bemüht er sich auch um eine anders lautende Lösung. Er stellt zunächst fest, dass wir in einigen Fällen in einer endlichen Anzahl von Beweisschritten zeigen können, dass das Prädikat im Subjekt enthalten ist. In anderen Fällen sei dies jedoch nicht möglich. „In kontingenten Wahrheiten kann dies, selbst wenn das Prädikat im Subjekt enthalten ist, doch niemals gezeigt werden, noch kann eine Aussage jemals auf eine Gleichheit oder eine Identität reduziert werden, sondern die Lösung geht ins Unendliche.“ (1989: 96). Um eine kontingente Wahrheit zu demonstrieren, muss man zeigen, dass sich ein gegebenes Einzelding mit einer gegebenen Eigenschaft inmitten einer Unendlichkeit von Einzeldingen innerhalb einer möglichen Welt befindet, und dies kann nicht mit einer endlichen Anzahl von Schrittfolgen gezeigt werden. Hinter der Frage der Notwendigkeit steht das Thema der menschlichen Freiheit. Man nehme eine individuelle Substanz, die alles enthält, was ihm je geschehen ist, gerade geschieht und noch geschehen wird. Selbst wenn jemand feststellen kann, dass die Folge der ‚Ereignisse‘, die sie enthält, kontingent ist, so scheint sie infolge dieses Inhalts doch nicht frei zu sein, irgendetwas anderes zu tun als was sie gerade tut. Die Kontingenz ist also mit dem strikten Determinismus vereinbar, und dieser ist wieder unvereinbar mit der menschlichen Freiheit. Leibniz Lösung hierzu war, dass Gott, während er vielleicht Handlungen in ein gegebenes Einzelding ‚einbaut‘, er sie gleichwohl dort als freie Handlungen implantieren kann: „Gott nämlich sieht allzeit, dass es einen gewissen Judas geben wird, bei dem der Begriff oder die Idee, die Gott von ihm hat, seine künftige freie Handlung schon enthält.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 30). Gott stattet uns mit freiem Willen aus, d.h. mit der Fähigkeit zur Wahl eines Dinges statt eines anderen. Wenn er sich also zur Erschaffung eines gegebenen Individuums mit einer gegebenen Lebensgeschichte entscheidet, dann wird er darin die Bedingung einschließen, die dieses Individuum dazu führt, eine Sache gegenüber anderen zu bevorzugen. Aber die wirkliche Wahl liege bei uns und sei frei, argumentiert Leibniz. Auf diese Weise neigt Gott unsere Seelen, ohne sie jedoch zu nötigen (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 30). Während wir also auch etwas anderes wählen können, als wir tatsächlich wählen, kann Gott in seiner Allwissenheit voraussagen, was wir wirklich wählen werden, und die entsprechenden Konsequenzen folglich in unser künftiges Programm einbauen. Das göttliche Vorauswissen ändert nicht den Charakter der Ereignisse selbst: „Gott sieht die Dinge voraus, wie sie sind, und ändert nicht ihre Natur […] Deshalb treten sie sicher ein, sind aber doch nicht notwendig.“ (‚Dialogue effectif sur la liberté de l’homme et sur l’origine du mal‘, dt.: ‚Ein wirklicher Dialog über die menschliche Freiheit und über den Ursprung des Bösen‘, 1695; 1989: 112). 991
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Leibniz hatte also keine schlimmeren Probleme zu bewältigen als jeder andere auch, der an die göttliche Allwissenheit glaubt. Leibniz’ Lehre wirft allerdings ein schwieriges Problem betreffend die Identitätsbedingungen von Einzeldingen auf. Wenn alle Eigenschaften eines gegebenen Einzeldinges ihm von Anfang an ‚einprogrammiert‘ sind, dann definieren diese, selbst wenn einige von ihnen kontingent oder frei sind, das Einzelding doch als genau das bestimmte Einzelding, das es ist. Wären sie anders, dann hätte man es offenbar mit einem gänzlich anderen Einzelding zu tun. Ab und zu gab Leibniz zu, dass wir vielleicht darüber reden möchten, was geschehen wäre, wenn Judas (unser Judas, also der Judas in dieser möglichen Welt) Christus nicht verraten hätte (Korrespondenz Leibniz-Arnauld im Mai 1686; das hier genannte Beispiel lautet dort nicht auf Judas, wie in der ‚Metaphysischen Abhandlung‘, sondern auf Adam). Oft scheint Leibniz aber auch einem anderen Standpunkt zugeneigt zu sein: „Aber, wird vielleicht ein anderer sagen, woher kommt es, dass dieser Mensch mit Gewissheit diese Sünde tun wird? Die Antwort ist einfach: weil er sonst nicht dieser Mensch wäre.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 30). Auf diese Weise und unter der Bedingung, dass jede Substanz die gesamte Welt widerspiegelt, in der sie sich befindet, verpflichtet sich Leibniz oft der These, dass eine Person nur zu einer möglichen Welt gehören kann. 8. Erkenntnistheorie: Ideen und Empfindungen Trotz der Tatsache, dass Leibniz üblicherweise als ein kontinentaleuropäischer Rationalist eingeordnet wird, war sein Hauptinteresse doch gar nicht die Erkenntnistheorie. Er trug zu den Diskussionen seiner Zeit allerdings sowohl zu Fragen betreffend die Ideen, als auch die Erkenntnis bei. In den ‚Neuen Studien über den menschlichen Verstand‘ (II.1.1) definiert Leibniz die Idee folgendermaßen: „Eine Idee ist ein unmittelbarer innerer Gegenstand, der die Natur oder die Qualitäten von Dingen ausdrückt“. Er betont, dass wir denken könnten, wir hätten eine Idee, wenn wir in Wirklichkeit gar keine haben. So könne es beispielsweise keine Idee einer schnellsten Bewegung geben, weil dieser Ausdruck inkohärent sei. Er bemerkt jedoch: „Auf den ersten Blick scheinen wir die Idee einer schnellsten Bewegung zu haben, denn wir verstehen sicherlich, was wir sagen; aber dennoch haben wir keine Idee von unmöglichen Dingen.“ Durch unsere irrtümliche Auffassung des Ausdrucks ‚schnellste Bewegung‘ als eine echte Idee kann uns in diesem Falle in einen Widerspruch führen. Aber in anderen Fällen, beispielsweise in der Mathematik, wo wir häufig Symbole verwenden, ohne ihnen feste Ideen zuzuordnen, müssen wir infolge der Komplexität der Arbeit mit den Ideen selbst oft symbolisch arbeiten. In diesem Sinne kann jemand Gedanken oder sogar Beweise haben, wenn uns doch keine Ideen im eigentlichen Sinne vorliegen. Diese Beobachtung steht im Zusammenhang mit einer Unterscheidung, die Leibniz zwischen den Real- und den Nominaldefinitionen trifft. Eine Nominaldefinition ist eine Definition, bei der man daran zweifeln kann, ob der definierte Begriff tatsächlich möglich ist; eine Realdefinition ist eine solche, bei der die Möglichkeit des definierten Ausdrucks festgestellt wurde. Man kann deshalb sagen, dass man sich nur bei den Realdefinitionen sicher sein kann, dass sie mit einer echten Idee korrespondieren (‚Meditationen‘ [1684], 1989: 25–26; ‚Metaphysische Abhandlung‘, § 24).
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Leibniz war aus verschiedenen Gründen ein Verfechter der angeborenen Ideen. Vor allem argumentierte er, dass es gewisse Ideen gäbe, die dem Geist angeboren seien und ihm nicht durch die Sinne zukämen: „Die Ideen des Seins, des Möglichen und des Selben sind so gründlich angeboren, dass sie Teil unser aller Gedanken und Überlegungen sind, und ich betrachte sie als wesentlich für unseren Geist.“ (‚Neue Studien‘ I.3.3). Eine ähnliche Behauptung stellte er für andere Begriffe auf, wie z.B. die Unendlichkeit (‚Neue Studien‘, II.17.3). In diesem Zusammenhang verwendet er auch seine berühmte Marmor-Analogie aus dem Vorwort zu den ‚Neuen Studien‘. Ideen und Wahrheiten sind im Geist, so meint er, genauso wie die Form von Herkules schon in den Adern eines Marmorblocks seien und es machten, dass die Form wahrscheinlicher zum Vorschein komme, wenn der Bildhauer darauf zu hämmern beginnt, selbst wenn es außerordentlicher Mühe bedarf, um diese Form bloßzulegen: „So ist es, wie die Ideen und Wahrheiten uns eingeboren sind – wie Neigungen, Dispositionen, Tendenzen oder natürliche Potenzen.“ Leibniz’ Metaphysik zwang ihn jedoch zu einer noch strengeren Position, dass nämlich, streng genommen, jede Idee angeboren sei, denn nichts dringt von außen in den Geist hinein. Er schrieb: „Wir haben alle diese Formen, und sogar jederzeit, im eigenen Geiste, weil der Geist stets alle seine künftigen Gedanken ausdrückt und verworren schon an alles denkt, was er je deutlich denken wird.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 26) Aber obwohl alle Ideen strikt angeboren sind, konnte Leibniz doch zwischen Ideen der Empfindung unterscheiden, die in gewissem Sinne von außen auf uns eindringen, und den Ideen, die nicht von außen kommen und dies auch nicht können. Wie schon bei der Darlegung der physischen Kausalität im Zusammenhang mit der Sichtweise, nach der es keine wirkliche metaphysische Kausalität zwischen endlichen Dingen geben kann, kann Leibniz wiederum sagen: „Wir empfangen von außen zwar mit Hilfe der Sinne Erkenntnisse, weil allerdings gewisse äußere Dinge mehr als andere die Gründe enthalten oder ausdrücken, die unsere Seele zu bestimmten Gedanken bringen.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 27) Die Empfindungen werden von anderen Vorstellungen nicht nur (in Leibniz gewissermaßen ausgedehntem Sinne) durch ihren kausalen Ursprung unterschieden, sondern auch durch den Umstand, dass sie verwechselt werden, im Gegensatz zu den ganz bestimmten Begriffen, die man z.B. in der Mathematik verwendet. Ein Begriff ist bestimmt, wenn man „Zeichen und Kontrollen hat, die genügen, um ein Ding von allen anderen ähnlichen Dingen zu unterscheiden“. Auf diese Weise umfassen bestimmte Begriffe auch die Zahlen, die Größen, die Form etc. Ein Begriff wird verwechselt, „wenn ich nicht Zeichen für Zeichen genügend Unterscheidungen aufzählen kann, die ein Ding vom anderen sondern, selbst wenn der Gegenstand sogar über diese Zeichen und Voraussetzungen verfügt, in die man seinen Begriff auflösen kann.“ In diesem Sinne werden „Farben, Gerüche, Geschmäcker und andere einzelne Gegenstände der Sinne“ durcheinander gebracht (‚Meditationen‘ [1684], 1989: 24). Tatsächlich sind sie die verwirrte Wahrnehmung der geometrischen Eigenschaften von Körpern, die nach der mechanistischen Anschauung die Wahrnehmung der sensiblen Qualitäten begründen. „Wenn wir Farben oder Gerüche wahrnehmen, so haben wir gewiss keine andere Wahrnehmung als die von Formen und von Bewegungen, wenn auch so viele und so kleine, dass unser Geist sie nicht gesondert voneinander dahingehend in seinem gegenwärtigen Zustand betrachten kann, und daher nicht bemerkt, dass seine Wahrnehmung allein aus Wahrnehmungen 993
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winziger Formen und Bewegungen zusammengesetzt ist.“ (‚Meditationen‘ [1684], 1989: 27). An anderer Stelle verwendet Leibniz die Analogie einer Welle, um dieses Phänomen verständlich zu machen. Wenn wir das Brüllen des Ozeans hören, dann hören wir in Wirklichkeit nur eine riesige Zahl individueller Wellen, die sich an der Küste überschlagen. Weil wir aber nicht den Klang aller einzelnen Wellen unterscheiden können, so hören wir sie alle zusammen als ein indifferentes Brüllen. Dies ist genau die Form der verwirrten Wahrnehmung der korpuskularen Mikrostruktur der Körper in unserer Empfindung der Farbe, des Geschmacks usw. (‚Neue Studien‘, 1704: Vorwort). Auf diese Weise weist Leibniz die Behauptung zurück, dass die Verbindung zwischen einer bestimmten Empfindung und ihrer mechanischen Ursache das Ergebnis einer vollkommen willkürlichen göttlichen Entscheidung sei; infolge des Prinzips des hinreichenden Grundes kann es eine solche Willkür in der Welt nicht geben (‚Neue Studien‘, II.8.13 f., IV.6.7). So scheint es, dass die Unterscheidung zwischen den Empfindungen und den Ideen des Intellekts keine Sache der Art seien, sondern eine Sache des Grades an Unterscheidung bzw. Verwirrung. Ein wichtiger Teil dieser Darstellung der Empfindung ist Leibniz’ Lehre des petites perceptions (‚winzige Wahrnehmungen‘). Wie Descartes glaubte Leibniz, dass wir andauernd denken. Anders als Descartes leugnete er jedoch, dass wir uns immer dessen bewusst seien, was wir denken. Er meinte, dass es „in jedem Zeitpunkt in uns eine unendliche Menge von Wahrnehmungen gibt, die nicht vom Bewusstsein oder der Reflexion begleitet werden, d.h. von Veränderungen in der Seele selbst, wovon wir uns nicht bewusst sind, weil diese Eindrücke entweder zu winzig und zu zahlreich sind, oder aber sie sind sich zu gleich, so dass sie an sich selbst nicht genügend unterscheidbar sind.“ (‚Neue Studien‘, Vorwort). Obwohl wir nicht jede von ihnen einzeln apperzipieren (d.h. bewusst wahrnehmen), haben diese unbewussten Wahrnehmungen doch ihre Wirkungen auf uns. Sie sind das, was der Empfindung zugrunde liegt und sie erklärt, wie bereits zuvor dargestellt. Darüber hinaus haben sie auch ihre Wirkung auf die bewussten Wahlentscheidungen, die wir treffen (‚Neue Studien‘, II.20.6). Schließlich vertrat Leibniz auch einen klaren Standpunkt in der Debatte, die in der damaligen intellektuellen Welt über Malebranches Auffassung entbrannte, dass wir alle Dinge in Gott sehen, d.h., dass die Ideen nicht in endlichen Geistern existieren, sondern nur im Geiste Gottes, so sie vom endlichen Intellekt erschaut werden, ohne wirklich in ihm zu sein (siehe Malebranche, N.). Leibniz lehnte Malebranches Auffassung sehr klar ab: „Selbst wenn wir alles in Gott sehen würden, so wäre es dennoch notwendig, dass wir auch unsere eigenen Ideen haben, d.h. nicht nur sozusagen kleine Kopien der göttlichen, sondern Affektionen oder Änderungen unseres Geistes in Betreff zu diesem Ding, das wir in Gott erschaut haben.“ (‚Meditationen‘ [1684], 1989: 27; vergl.: ‚Metaphysische Abhandlung‘, § 29). 9. Erkenntnistheorie: Wissen und Wahrscheinlichkeit In einem berühmten Abschnitt der ‚Monadologie‘ Nr. 31–32) schreibt Leibniz: „Unser Nachdenken gründet sich auf zwei große Prinzipien: das des Widerspruchs, kraft dessen wir als falsch alles beurteilen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr alles, was dem Falschen entgegengesetzt oder was zu ihm kontradiktorisch ist. Und auf das Prinzip des zureichenden Grundes, kraft dessen wir die Erwägung anstellen, dass sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr 994
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erweisen kann, ohne dass es einen zureichenden Grund dafür gäbe, dass es eben so und nicht anders ist, wenn uns auch diese Gründe meistens nicht bekannt sein können.“ Diese beiden Prinzipien entsprechen zwei unterschiedlichen Arten von Wahrheiten, nämlich den Vernunftwahrheiten und den Tatsachenwahrheiten (Nr. 33). Eine Vernunftwahrheit kann mit Gewissheit durch eine Demonstration erkannt und gewusst werden, die aus einer endlichen Anzahl von Schritten besteht, die einfache Ideen, Definitionen, Axiome und Postulate enthalten; diese Wahrheiten sind notwendig und können a priori gewusst werden. Empfindungen können uns bestimmte Einzelfälle dieser Wahrheiten an die Hand geben, aber sie können niemals jene Art der Universalität herbeiführen, die man in den notwendigen Wahrheiten findet. Bereits im Vorwort zu den ‚Neuen Studien‘ schrieb Leibniz: „Notwendige Wahrheiten, wie wir sie in der reinen Mathematik und speziell in der Arithmetik und Geometrie finden, müssen Prinzipien haben, deren Beweis nicht von ihren Fällen abhängt, noch folglich von dem Zeugnis der Sinne, selbst wenn es ohne die Sinne niemals geschehen würde, dass wir an sie denken würden.“ Während Leibniz mit Descartes übereinstimmte, dass solche Wahrheiten angeboren sind, distanzierte er sich von Descartes’ Berufung auf die klaren und bestimmten Wahrnehmungen. Gegen jene, die sich auf das Descartessche Axiom: ‚Was immer ich klar und deutlich von einem Ding wahrnehme, ist wahr oder behauptbar von dem fraglichen Ding‘ berufen, wendet Leibniz ein, „dieses Axiom ist so lange nutzlos, bis wir nicht mit Kriterien an das Klare und Bestimmte herangehen, und zwar mit solchen, die wir explizit gemacht haben.“ (‚Meditationen‘, 1989: 26–27). Während Leibniz Descartes darin zustimmte, dass wir eine angeborene Fähigkeit zur Erkennung dieser angeborenen Wahrheiten haben, und zwar im praktischen Sinne, zog er es doch vor, den Geist durch formallogische Regeln einzuschränken, was Descartes nicht tat, weil er die formale Logik zurückwies (siehe unten § 10). Da in allen Aussagen der Begriff des Prädikats im Begriff des Subjekts enthalten ist, so ist im Prinzip alles Wissen a priori. Wenn wir nur ausreichendes Wissen vom Subjekt hätten, so könnten wir alles sehen, das wahr an ihm ist, weil es in seinem vollständigen Begriff enthalten ist. Dies ist aber nur Gott möglich. Menschen müssen sich, weil sie unfähig sind, eine Analyse durchzuführen, die die apriorische Wahrheit offenbart, auf die Sinne berufen, um die Tatsachenwahrheiten zu entdecken. Tatsächlich dachte Leibniz, wir seien „bei drei Vierteln unseres Handelns bloße Empiriker.“ (‚Monadologie‘, Nr. 28) Wegen der Bedeutung des empirischen Wissens verlangte Leibniz eine echte Wahrscheinlichkeitslogik. Die moderne Wahrscheinlichkeitstheorie nahm im Jahre 1650 mit der Korrespondenz zwischen Pascal und Fermat ihren Anfang, und dann mit der kleinen Abhandlung von Christiaan Huygens mit dem Titel ‚Tractus de ratiociniis in aleae ludo‘ (dt.: ‚Abhandlung über das Schlussfolgern in Glücksspielen‘, 1657). Die Theorie entwickelte sich im 17. Jahrhundert rasch, und neue praktische Anwendungen fanden sich ebenfalls schnell, weil das Glücksspiel damals viel und gerade auch in höheren Adelskreisen gepflegt wurde. Leibniz war aber nicht zufrieden damit, dass sie bereits auf die allgemeinsten Fragen überhaupt angewandt worden war, nämlich auf das Schlussfolgern betreffend die Tatsachen auf der Basis von Empfindungen, wenn der logische Beweis allein unmöglich ist. Und so rief er in den ‚Neuen Studien‘ (IV.2.14) nach einer neuen Wissenschaft: „Ich jedenfalls bin der Auffassung, dass das Studium des Wahrscheinlichkeitsgrades sehr wertvoll 995
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wäre, und es fehlt noch, und das ist ein ernsthafter Mangel unserer Abhandlungen über die Logik. Denn wenn auch jemand eine Frage nicht absolut sicher beantworten kann, so könnte man doch immer noch den Grad der Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage der Evidenz bestimmen, und so könnte man rational darüber urteilen, welche Ansicht die plausibelste ist […]. Ich vermute, dass die Einrichtung einer Kunst der Wahrscheinlichkeitsschätzung nützlicher wäre als ein guter Teil unserer demonstrativen Wissenschaften, und ich habe schon mehr als einmal darüber nachgedacht.“ Aber selbst wenn Leibniz darüber nachgedacht haben mag, so machte er doch niemals ernsthafte Anstalten zur Entwicklung einer Wahrscheinlichkeitslogik, nach der er hier rief. Dieser Ruf wurde allerdings von David Hume gehört, der seinen ‚Traktat über die menschliche Natur‘ teilweise als Antwort auf Leibniz’ Herausforderung ansah. 10. Logik und Sprache Von seiner Jugend an träumte Leibniz von der Konstruktion einer perfekten, logischen Sprache, „einem gewissen Alphabet des menschlichen Denkens, so dass mittels Kombination von Buchstaben dieses Alphabets und mittels der Analyse der Worte, die daraus erzeugt werden, alle Dinge sowohl entdeckt, als auch beurteilt werden können.“ Dieses Programm, das Leibniz als ‚Universalcharakteristik‘ bezeichnete, erhält seinen ersten Ausdruck in den sehr frühen Arbeiten ‚Dissertatio de arte combinatoria‘ (dt.: ‚Dissertation über die Kunst der Kombination‘, 1666). Erst später wird die Idee aber voll entwickelt, nämlich ab Mitte der 1670er und bis in die 1680er Jahre. Leibniz’ Programm bestand aus zwei Teilen. Zunächst muss man allen Begriffen charakteristische Zahlen zuordnen, woraus sichtbar wird, wie sie aus einfacheren Begriffen zusammengesetzt sind. Leibniz versuchte eine Reihe von Schemata hierfür aufzustellen. Eine Strategie hierbei war, den einfacheren Begriffen Primzahlen zuzuordnen, und den komplexen Begriffen daraufhin das Produkt der charakteristischen Zahlen einfachere Begriffe, aus denen sie bestanden. Der zweite Teil des Programms bestand dann darin, einfache mechanische Regeln zur Ermittlung der Wahrheit von Aussagen auf der Basis der charakteristischen Zahlen ihrer begrifflichen Bestandteile zu finden. Leibniz’ fundamentale Regel in dieser Universalcharakteristik war das bereits oben diskutierte Prinzip in Verbindung mit seiner Metaphysik: ein Prädikat ist von einem Subjekt dann und nur dann wahr, wenn sein Begriff im Subjektbegriff enthalten ist. Wenn die fraglichen Begriffe numerisch ausgedrückt werden können, dann, so meinte Leibniz, könne die Regel auch in einer mathematischen Form angegeben werden, und die Wahrheit der Aussage könnte im Wege einer einfachen arithmetischen Berechnung durchgeführt werden. Leibniz’ Vorhaben in diesen Schriften war es zu zeigen, wie diese grundlegende Intuition über die Wahrheit zu Aussagen ausgedehnt werden können, die in keiner simplen Subjekt-Prädikat-Form gegeben sind. Er versuchte auch das Programm hinsichtlich einer Formalisierung der Gültigkeit von Standardschlüssen der aristotelischen Logik zu erweitern. Selbst wenn er den einzelnen Begriffen keine endgültig charakteristischen Zahlen zuordnen konnte, versuchte Leibniz doch zu zeigen, dass bei bestimmten Kombinationen von Prämissen und Konklusionen, sofern die Prämissen (nach dieser Definition der Wahrheit) wahr sind, dies auch für die Konklusion gelten muss. 996
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Das Vorhaben war sehr ehrgeizig. Wäre es erfolgreich gewesen, so hätte es die Ermittlung der Wahrheit oder Falschheit einer jeglichen Aussage, sowohl der notwendigen, als auch der kontingenten, allein durch dieses Kalkül zu bestimmen erlaubt. Es dämmerte Leibniz jedoch bald, dass die Idee eines Auffindens aller für den numerischen Ausdruck der Inhalte von Begriffen notwendigen begrifflichen Abhängigkeiten ein extremes utopisches Anliegen war, insbesondere in Anbetracht der Lehre der unendlichen Analyse der kontingenten Wahrheiten, die Leibniz ab den späten 1680er Jahren vertrat. Doch auch nachdem er dies realisiert hatte, hing er doch noch an dem bescheideneren Programm einer Gültigkeitsprüfung von Schlussschemata. Aber selbst dieses bescheidenere Vorhaben erwies sich noch als etwas, welches abzuschließen über Leibniz’ Fähigkeiten hinausging, ab Anfang der 1690er Jahre schien er dem Gedanken aufzugeben, es noch funktionsfähig zu bekommen, auch wenn er von Zeit zu Zeit noch einige Male darauf zurückkam. Aber selbst wenn dieses bestimmte Vorhaben scheiterte, war doch die Idee des Formalismus ein Grundanliegen in Leibniz’ Denken. Ein Teil seiner Reaktion gegen die aristotelische Philosophie der akademischen Schulen seiner Zeit war der Angriff auf die formale Logik. Descartes, Locke und andere Denker des 17. Jahrhunderts argumentierten, dass wir alle eine angeborene Fähigkeit zur Anerkennung der Wahrheit haben, die oft ‚Intuition‘ genannt wird, und dass wir diese Fähigkeit kultivieren und unsere Zeit nicht mit dem Lernen formaler Regeln verschwenden sollten. Während Leibniz sicherlich einverstanden war, dass wir über die angeborene Fähigkeit zum Erfassen gewisser Regeln verfügen, dachte er doch ferner, dass der Formalismus sehr wichtig sei (Leibniz an Elisabeth von Böhmen, 1678). Ein großer Teil unseres Schlussfolgerns ist ‚blind‘ oder symbolisch, meinte Leibniz, und wird durch die Manipulation von Symbolen geleitet, ohne sich direkt auf die Ideen zu stützen, die hinter diesen Symbolen liegen. Aus diesem Grunde müssen wir klare und eindeutige Symbolsysteme haben, und ferner strikte Regeln für den Umgang mit ihnen (‚Meditationen‘). Dieser Standpunkt wird besonders deutlich in den Schriften zur Universalcharakteristik. Er liegt aber auch einem weiteren Vorhaben derselben Periode zugrunde, nämlich der Differential- und der Integralrechnung, die zu den größten Leistungen Leibniz’ gehören und ca. 1676 ausgearbeitet, jedoch erst im Jahre 1684 publiziert wurden. Obwohl andere vor ihm bereits viele der speziellen Probleme seines Kalküls lösen konnten, z.B. Probleme im Zusammenhang mit Tangenten, Flächen, Volumen etc., erfand Leibniz eine einfache Notation, die auch heute immer noch verwendet wird (‚d‘ repräsentiert den Differenzierungsvorgang, und das Integralzeichen ‚∫‘ repräsentiert die Operation der unendlichen Summation [die sog. ‚Integration‘]), und er arbeitete eine Reihe einfacher Regeln zur Anwendung dieser Operationen auf Gleichungen unterschiedlicher Art aus. Auf diese Weise war Leibniz praktisch ‚blind‘ in der Lage, einen einfachen Algorithmus zur Lösung schwieriger geometrischer Probleme zu formulieren, d.h. nur durch Manipulation gewisser Symbole im Einklang mit gewissen Regeln. Ein weiteres Thema, das in engem Zusammenhang mit Leibniz’ Logik steht, ist das der Beziehungen. In den ‚Primae veritates‘ (dt.: ‚Erste Wahrheiten‘, 1689; 1989: 32) schreibt Leibniz: „Es gibt keine rein extrinsischen Bezeichnungen [d.h. rein relationale Eigenschaften], also Bezeichnungen, die absolut keine Grundlage genau in dem bezeichneten Ding haben […] Folglich muss es, wann immer die Bezeichnung 997
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eines Dinges geändert wird, auch eine Änderung in dem Ding selbst geben.“ Auf diese Weise müssen alle Beziehungen in irgendeiner Weise in den nicht-relationalen Eigenschaften der Dinge begründet liegen. Es ist aber nicht klar, dass Leibniz meinte, Beziehungen seien auf die nicht-relationalen Prädikate der Dinge reduzierbar. In einem Beispiel, das er gibt, paraphrasiert er ‚Paris ist der Liebhaber von Helena‘ durch die folgende Aussage: ‚Paris liebt, und genau durch diese Tatsache [eo ipso] wird Helena geliebt.‘ Während dies sicherlich die Beziehung ‚A liebt B‘ zu zwei Aussagen in Beziehung setzt, die beide die Form einer einfachen Subjekt-PrädikatAussage haben (‚A liebt‘ und ‚B wird geliebt‘), sollte man doch festhalten, dass die fraglichen Prädikate (‚liebt‘ und ‚wird geliebt‘) offenbar implizit relational sind; ob dies ein zufälliges Merkmal des von Leibniz gewählten Beispiel ist, oder aber ein Hinweis auf Leibniz’ Sichtweise, ist strittig. Ferner ist es wichtig nicht zu ignorieren, was die beiden Aussagen zusammenbringt (‚… und hierdurch…‘), denn ohne dies kann man gar nicht sagen, dass die beiden nicht-relationalen Aussagen überhaupt diese Beziehung ‚A liebt B‘ ausdrücken. Andere Texte legen nahe, dass Einzeldinge, wenn man es richtig betrachtet, über nicht-relationale Eigenschaften verfügen, und dass die Beziehungen zwischen den Dingen etwas sind, was der Welt vom Geist auferlegt wird: „Mein Urteil über Beziehungen ist, dass die Vaterschaft bei David eine Sache, das Sohn-Sein bei Salomon eine andere Sache ist, dass aber die ihnen beiden gemeinsame Beziehung eine reine geistige Sache ist, deren Grundlage die Veränderungen der Individuen ist.“ (Leibniz an Des Bosses am 21. April 1714). Indem er aber sagt, dass die Beziehungen zwischen Individuen nur ‚rein mental‘ sind, verwirft sie Leibniz nicht notwendigerweise. Er schreibt: „Gott sieht nicht nur die individuellen Monaden und die Veränderungen an einer jeden von ihnen, sondern er sieht auch ihre Beziehungen, und in diesen besteht die Wirklichkeit der Beziehungen und der Wahrheit.“ (Brief an Des Bosses vom 5. Februar 1712). Neben den formalen Sprachen war Leibniz auch noch stark an dem Studium der natürlichen Sprachen interessiert. Wie viele seiner Zeitgenossen war er an Diskussionen über die Frage der ‚Sprache Adams‘ beteiligt, also der Sprache, die im Paradies gesprochen wurde, und von der alle modernen Sprachen angeblich abstammen sollten. Dies, neben anderen Motivationen, führte ihn zu der empirischen Studie unterschiedlicher Sprachen und der Etymologie der Worte. 11. Naturphilosophie Leibniz wird häufig wegen seiner philosophischen Schriften gelesen. In seiner Zeit war er aber, wenn überhaupt, bekannter für seine Arbeiten in der Mathematik und in der Naturphilosophie. Wie viele seiner Zeitgenossen war Leibniz ein Anhänger des mechanischen Weltbildes. Tatsächlich war er in gewissem Sinne ein wesentlich strengerer Mechanist als die Anhänger von Descartes. Gemäß seiner Lehre der prästabilierten Harmonie (siehe oben § 6) kann man immer eine rein mechanistische Erklärung aller physischen Phänomene geben, selbst noch der menschlichen. Dies ist anders im kartesischen System, wo die kausale Interaktion zwischen Geist und Körper, entweder direkt oder bei Gelegenheit, die Gesetze unterbrechen kann, die den Körper leiten. Leibniz’ Fassung des mechanistischen Programms hob sich jedoch auf bedeutsame Weise von den anderen Hauptströmungen dieses Programms seiner Zeit ab, insbesondere von den kartesischen Fassungen.
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Leibniz verwarf die kartesische Analyse des Körpers als einer ausgedehnten Substanz (siehe oben, § 4). Stattdessen brachte er vor, dass wir auf eine tiefere Ebene der Analyse hinabsteigen müssen, hinter die Ausdehnung der Körper, bis hinunter auf die Substanzen, die die letzten Bestandteile der Wirklichkeit sind. Unter der Ebene der unbelebten Ausdehnung gibt es winzige Organismen oder Seelen, die zu organischen Körpern zusammengefasst sind. Diese betrachtete Leibniz, zumindest in einem Abschnitt seines Denkens, als echte körperliche Substanzen. Auf einer tieferen Ebene gibt es die noch einfacheren, nicht ausgedehnten Substanzen oder Monaden, die die Wirklichkeit der körperlichen Substanzen begründen. Nach dieser Auffassung sind die ausgedehnten Körper der kartesischen Welt Phänomene, d.h. Aggregate von Substanzen, die infolge ihres undeutlichen Zusammengesehenwerdens vereinheitlicht werden. Leibniz verwarf auch Descartes’ zentrales Naturgesetz. Für Descartes bewahrt Gott dieselbe Quantität an Bewegung in der Welt, d.h. die Summe der Masse mal der Geschwindigkeit aller Körper (siehe Descartes, R., § 11). Dagegen wandte Leibniz ein, dass das, was erhalten wird, nicht Masse mal Geschwindigkeit sei, sondern Masse mal Quadrat der Geschwindigkeit, also mv². Diese Größe stand im Zusammenhang mit dem, was er vis viva oder lebendige Kraft nannte. Zur Verteidigung dieser Ansicht verwandte er eine Reihe aposteriorischer Argumente, welchen das Galileische Gesetz des freien Falls zugrunde lag (die gefallene Strecke ist proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit, die durch den freien Fall erreicht wurde), zusammen mit dem Prinzip der Gleichheit von Ursache und Wirkung, nach dem in der Ursache immer genauso viel (physikalischer) ‚Arbeitsvorrat‘ liegt wie in der vollen Wirkung. Leibniz zeigte, dass nach diesen Voraussetzungen der kartesische Erhaltungssatz mit sich bringt, dass die Fähigkeit zur Verrichtung von (physikalischer) Arbeit unter gewissen Umständen entweder hinzugewonnen, oder auch verloren gehen kann, während dies unter der Voraussetzung einer Erhaltung nach der Formel mv² nicht der Fall sei. Leibniz nutzte seine Strategie in der ‚Brevis demonstratio‘ (dt.: ‚Kurze Demonstration eines bemerkenswerten Irrtums von Descartes‘, 1686), wo er zum ersten Mal dieses Ergebnis publizierte. Zusätzlich bot er ein apriorisches Argument an, in dem er, ausgehend von gewissen abstrakten Begriffen, der Bewegung, des Vorganges und der Wirkung, und zusammen mit einem intuitiven Prinzip der Erhaltung der Wirkung zu demselben Ergebnis kam (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 17; ‚Specimen Dynamicum‘). Diese Infragestellung des kartesischen Erhaltungssatzes rief zahlreiche Antworten aus der kartesischen Anhängerschaft hervor, was unter dem Titel ‚Streit um die vis viva‘ bekannt geworden ist. Leibniz sah in der Ersetzung der Erhaltung der Bewegungsquantität durch die Erhaltung von mv² einen Weg, der uns in die Welt der Physik auf eine Weise einführt, die über die rein geometrischen Qualitäten der Größe, der Form und der Bewegung hinausgehen, die den ausgedehnten Substanzen der Kartesianer angehören. Dies ist es, was er manchmal ‚Kraft‘ nannte, und daraus eine neue Wissenschaft ableitete, die er ‚Dynamik‘ nannte. Während die Kraft Bewegung verursachen kann und sich manchmal als Bewegung manifestiert, unterschied Leibniz doch beide sorgfältig voneinander. Durch die Betonung der Unterscheidung zwischen Kraft und Bewegung wies Leibniz nicht nur die kartesische Tradition zurück, sondern auch seine eigene frühe Physik, wo er, darin Hobbes folgend, die Kraft mit Bewegung identifiziert hatte. 999
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Leibniz erkannte eine große Vielzahl unterschiedlicher Kräfte in der Natur an. Auf der untersten Ebene unterschied er zwischen primitiven und abgeleiteten, und zwischen aktiven und passiven Kräften. So gibt es also insgesamt vier grundlegende Arten von Kraft: primitive und abgeleitete aktive Kraft, und primitive und abgeleitete passive Kraft. Die aktive Kraft gibt es in zwei Arten, nämlich der lebenden Kraft (vis viva), die mit den Körpern zusammenhängt, die wirklich in Bewegung sind (z.B. ein Ball, der sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt), und der toten Kraft, die mit dem plötzlichen Stoß zusammenhängt, aus dem die aktuelle Bewegung hervorgeht, wie bei der Schwerkraft oder der Elastizität. Die passive Kraft ist andererseits jene, die aus der Reaktion auf die aktive Kraft eines anderen Körpers entsteht. Sie ist ebenfalls in zwei Varianten gegeben, nämlich der Undurchdringlichkeit (d.h. die Kraft, die verhindert, dass zwei Körper zur selben Zeit denselben Platz im Raum einnehmen) und der Widerstand (die Kraft, die sich jeweils neuer Bewegung entgegenstellt, also das, was man heute Trägheit nennt). Die Unterscheidung zwischen primitiver und abgeleiteter Kraft ist dagegen eine ganz andere. Die primitive Kraft, in ihrer aktiven und passiven Form, ist der metaphysische Grund für Aktivität oder Passivität in einem Körper, durch die er in der Lage ist, sich zu bewegen (d.h. Arbeit zu verrichten) oder zu widerstehen. Abgeleitete Kräfte waren für Leibniz bestimmte Zustände der Aktivität und der Passivität, die in einem Körper zu einer bestimmten Zeit gegeben sind. Auf diese Weise ist die primitive Kraft nicht eine messbare Quantität, sondern etwas im Körper, dass in der Wirklichkeit der abgeleiteten Kräfte begründet liegt, die ihrerseits die messbaren Quantitäten sind. Dieser Kraftbegriff stand in direktem Zusammenhang mit Leibniz’ Begriff der körperlichen Substanz: „Primitive aktive Kraft, die Aristoteles die erste Entelechie nennt, und die man gemeinhin die Form einer Substanz nennt, ist ein weiteres natürliches Prinzip, das zusammen mit dem Stoff oder der passiven Kraft eine vollständige körperliche Substanz ausmacht.“ (‚Notiz über die kartesische Naturphilosophie‘ [1702], 1989: 252). Zumindest in den 1680er und 1690er Jahren, als Leibniz die körperlichen Substanzen anerkannte, scheinen die primitiven Kräfte für ihn die Form und der Stoff der körperlichen Substanzen zu sein, die die Wirklichkeit der physischen Welt begründen. Die abgeleiteten Kräfte wären dann als die momentanen Zustände dieser körperlichen Substanzen zu interpretieren. Dieser Standpunkt ändert sich in gewisser Weise, nachdem Leibniz an der Wirklichkeit der körperlichen Substanzen zu zweifeln begann (siehe oben, § 5). Sodann schrieb er: „Ich verbanne die abgeleiteten Kräfte in die Phänomene, aber ich meine, es ist offenkundig, dass die primitiven Kräfte nichts anderes sein können als die internen Bestrebungen der einfachen Substanzen, und zwar Bestrebungen kraft derer sie von Wahrnehmung zu Wahrnehmung gehen, im Einklang mit einem gewissen Naturgesetz.“ (Leibniz an de Volder, 1704 oder 1705). Auf diese Weise kann die Dynamik als eine weitere Perspektive auf dieselben Entitäten betrachtet werden, die in Leibniz’ stärker metaphysisch geprägten Schriften diskutiert werden. Leibniz ging davon aus, dass diese Kräfte (oder besser: die Bewegung, die sie verursachen) rigorosen mathematischen Gesetzen gehorchen. Diese Gesetze schließen auch dasjenige der Erhaltung von lebendiger Kraft ein, mv², das praktisch äquivalent mit dem modernen Gesetz der Erhaltung der kinetischen Energie ist, und die Erhaltung der Masse mal Geschwindigkeit (eine vektorielle Quantität), mv, was identisch ist mit dem modernen Gesetz der Impulserhaltung. (Weil Leibniz’ Erhal1000
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tungsatz betreffend mv eine Gerichtetheit der Bewegung mit sich brachte, ist sie von der kartesischen Erhaltung der Bewegungsquantität zu unterscheiden, die Leibniz zurückwies.) Während er mit Descartes uneins über die genauen Inhalte der Gesetze war, kann man ihn als jemanden ansehen, der das kartesische Programm der Errichtung einer Physik vorangebracht hat, das auf mathematisch formulierbaren Erhaltungsgesetzen ruht. Aber obwohl Leibniz’ Gesetze mathematisch formulierbar sind, ruhen sie doch, wie die Kräfte, die sie steuern, auf gewissen metaphysischen Prinzipien, die der Welt durch die Weisheit Gottes auferlegt wurden: „Und obwohl sich alle besonderen Naturphänomene […] mathematisch oder mechanisch erklären lassen, zeigt es sich doch zusehends, dass nichtsdestoweniger die allgemeinen Prinzipien der körperlichen Natur und der Mechanik selbst metaphysisch, nicht geometrisch sind, und dass sie als Ursachen der Erscheinungen in gewissen Formen oder unteilbaren Naturen, statt in der körperlichen oder ausgedehnten Masse zu suchen sind.“ (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 18) Ein solches allgemeines metaphysisches Prinzip notierte er in Verbindung mit der Behauptung des Leibnizschen Erhaltungssatzes, nämlich das Prinzip der Gleichheit von Ursache und Wirkung. Darüber hinaus gab es aber noch andere. Leibniz verwandte regelmäßig das Prinzip der Kontinuität, nach welchem nichts in Sprüngen vor sich geht. Leibniz nutzte dieses Prinzip zur Widerlegung von Descartes’ Gesetz des Aufpralls, wo kleine Änderungen in den Ausgangsbedingungen (z.B. die vergleichbaren Größen der fraglichen Körper, oder ihre Bewegungen) zu radikal unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Dieses Prinzip setzte er aber auch zur Widerlegung des Atomismus ein. Wenn es vollständig harte Atome gäbe, die nicht aus noch kleineren, trennbaren Teilen bestehen, dann würde im Kollisionsfalle ihre Bewegung im Moment des Aufpralls sofort auf das angrenzende Atom übergehen. Deshalb, so schloss Leibniz, kann es keine solchen Atome in der Natur geben. Tatsächlich setzte er dieses Argument für den Schluss ein, dass jeder Körper, wie klein er auch sein möge, elastisch sei. Leibniz berief sich auch auf das Prinzip der Fülle um zu beweisen, dass es kein Vakuum bzw. keinen leeren Raum in der Welt geben kann, denn wenn Gott etwas schaffen kann, was mit den anderen von ihm geschaffenen Dingen vereinbar ist, so muss er dies auch tun. Schließlich, wie man weiter unten noch sehen wird, setzte Leibniz auch das Prinzip des hinreichenden Grundes in Verbindung mit seiner relativistischen Darstellung von Raum und Zeit ein. Genau dieser Umstand, dass die Welt ein Produkt der göttlichen Weisheit sei, erlaubte es Leibniz, sich auf die Finalursachen in seiner Physik zu berufen. Dies unterscheidet ihn sowohl von Descartes, also auch von Spinoza, die beide die Finalursachen ablehnten. Leibniz war sich mit beiden darin einig, dass alles in der Natur durch die Wirkursache (causa efficiens) allein erklärt werden könne, d.h. allein durch die Bewegungsgesetze. Oft aber, insbesondere in der Optik, sei es wesentlich einfacher, die jeweiligen Probleme durch eine Berufung auf Gottes Weisheit zu lösen und dabei den Weg zu entdecken, auf dem ein vollkommenstes Wesen sein Universum erschaffen hätte (‚Metaphysische Abhandlung‘, § 22; ‚Specimen dynamicum‘, 1695: Teil I). Die Berufung auf die Finalursache ergänzt jedoch nur das Verständnis der Natur im Wege der Wirkursachen, und ersetzt diese nicht. Es sei vielmehr eine weitere Manifestation der göttlichen Harmonie, dass die Erklärung durch die Wirkursachen und durch die Finalursachen immer übereinstimmen: „Im Allgemeinen müssen wir davon ausgehen, dass alles in der Welt auf zwei Weisen 1001
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erklärt werden kann: durch das Reich der Kräfte, d.h. durch die Wirkursachen, und durch das Reich der Weisheit, d.h. durch die Finalursachen […] Diese beiden Reiche durchdringen einander überall […] so dass die Größten im Reich der Kräfte gleichzeitig auch die Besten im Reich der Weisheit sind.“ (‚Specimen dynamicum‘ [1695: Teil I], 1989: 126–127) Wir haben bisher Leibniz’ Werk in Beziehung auf andere Anhänger der mechanistischen Philosophie diskutiert, insbesondere auf jene der kartesischen Schule. Es ist aber auch wichtig die Leibnizsche Beziehung zu einem anderen Zeitgenossen und oft bitteren Rivalen zu verstehen: Isaac Newton. Im Gegensatz zu Newton, der eine absolute Konzeption von Raum und Zeit vertrat, argumentierte Leibniz, dass der Raum „nur die Beziehung oder die Ordnung oder die Ordnungen der Koexistenz sind, sowohl für die wirklich existierenden Dinge, als auch für die möglichen Dinge, die man an ihren Platz stellen kann“ (‚Bemerkungen an Foucher‘ [1696], 1989: 146). Wenn Newton Recht hätte, argumentierte Leibniz, und es folglich einen absoluten Raum gäbe, dann könnte Gott eine Welt erschaffen, in der das, was aktuell Ost und West ist, beispielsweise auch exakt umgedreht sein. Wenn dies aber so wäre, dann könnte infolge des Prinzips des hinreichenden Grundes Gott gar keinen Grund mehr haben, eine solche Welt gegenüber der anderen zu bevorzugen. Da er dies jedoch tat, kann er mit einer solchen Wahlentscheidung gar nicht konfrontiert gewesen sein. Leibniz schloss daraus, dass die beiden angeblichen Newtonschen Welten in Wirklichkeit nur eine Welt seien, und zwar eine solche, in der der Raum genau durch die Beziehungen zwischen den Dingen konstituiert wird (Leibniz an Clarke, 3. Brief, § 5). Newtons absolute Darstellung des Raumes sollte ebenso eine absolute Darstellung der Bewegung begründen. Für Newton war Bewegung die Veränderung des Ortes eines Körpers im absoluten Raum. Leibniz wies auch dies zurück und behauptete, dass ‚Bewegung‘ ein vollständig relativer Begriff ist, und zwar eine Sache der Beziehung zwischen Körper über die Zeit, und nur dies (‚Specimen dynamicum‘, Teil I; Leibniz an Huygens am 12./22. Juni 1694). Leibniz wies auch Newtons Theorie der allgemeinen Schwerkraft zurück. Er las Newton so, als meinte dieser, dass die Schwerkraft eine wesentliche Eigenschaft der Materie an sich sei, und er war hierüber entsetzt. Für Leibniz musste alle Veränderung im Körper durch einen vermittelnden Kontakt oder eine Kollision geschehen. Die Idee eines Vorganges auf Entfernung, die der Newtonschen Theorie der universalen Schwerkraft zugrunde zu liegen schien, war für Leibniz ein intellektuelles Desaster, ein verschwörerisches Aufgeben der neuen mechanischen Philosophie und eine Rückkehr zu den schwersten Missbräuchen der Schulphilosophie. Leibniz, dessen frühe mechanistische Philosophie zu jener Zeit so radikal erschien, konnte sich nicht an die neue Newtonsche Philosophie anpassen, die sehr bald die intellektuelle Welt beherrschen sollte (siehe Clarke, S.; Newton, I.). Während die Betonung hier auf den Aspekten des Leibnizschen Schaffens in der Physik liegt, die für sein philosophisches Programm äußerst relevant sind, war er auch darüber hinaus sehr ausgedehnt an der natürlichen Welt interessiert. Er hinterließ Notizen zu Ingenieursproblemen, zur Chemie, zur Geologie und zu kuriosen Beobachtungen in der Naturgeschichte, einschließlich eines Berichts über einen sprechenden Hund und eine Ziege mit einer seltsamen Frisur.
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12. Ethik und politisches Denken Obwohl Leibniz’ ethische und politische Schriften heute nicht mehr viel gelesen werden, bilden sie doch einen wichtigen Teil seines Gesamtwerks, was nicht überrascht, wenn man Leibniz’ eigene Beteiligung an der Politik betrachtet. Leibniz’ ethisches und politisches Denken, das mitten in der naturrechtlichen Tradition liegt, beruhte auf den Begriffen der Gerechtigkeit, der Wohltätigkeit und der Tugend (siehe Naturrecht). Leibniz schrieb: „Die Nächstenliebe ist ein universelles Wohlwollen, und das Wohlwollen eine Gepflogenheit des Liebens oder des Wollens des Guten. Liebe bedeutet dann das Frohlocken über das Glück eines anderen, oder was dasselbe ist, die Verwandlung des Glücks eines anderen in sein eigenes.“ (‚Codex Iuris Gentium Diplomaticus‘ (dt.: ‚Der diplomatische Codex des Gesetzes der Nationen‘, 1693: Einführung). In einer Notiz über die Glückseligkeit (Leibniz, ca. 1694–1698) verbindet er Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend mit Barmherzigkeit: „Tugend ist die Gepflogenheit des Handelns nach der Weisheit […] Weisheit ist die Wissenschaft der Glückseligkeit; sie ist das, was man über alle anderen Dinge studieren muss […] Zu lieben heißt Lust an der Vollkommenheit eines anderen zu finden. Gerechtigkeit ist die Barmherzigkeit oder die Gepflogenheit des Liebens im Einklang mit der Weisheit. Wenn also jemand der Gerechtigkeit zugeneigt ist, so versucht er für das Gute von jedermann Sorge zu tragen, so weit er nur kann, vernünftig, aber im Verhältnis zu den Bedürfnissen und Verdiensten eines jeden.“ Für Leibniz ist die menschliche Gerechtigkeit dieselbe wie Gottes Gerechtigkeit, wenn auch natürlich weniger vollkommen. Leibniz schreibt in der ‚Monita quaedam ad S. Pufendorfii principia’ (dt.: ‚Beobachtungen über die Prinzipien von Pufendorf‘, 1706): „In der Rechtswissenschaft ist es am besten, die menschliche Gerechtigkeit wie von einer Quelle abzuleiten, und zwar von einer göttlichen, um es richtig zu sagen. Sicherlich bezieht sich die Idee des Gerechten nicht weniger als die des Wahren und des Guten auf Gott, und vor allem auf Gott, der das Maß aller Dinge ist.“ Ähnlich schrieb Leibniz in den ‚Méditation sur la notion commune de la justice‘ (dt.: ‚Meditation über den gemeinsamen Begriff der Gerechtigkeit‘, 1702–1703), dass „sobald [der Begriff der Gerechtigkeit] auf Gott oder auf der Nachahmung von Gott gegründet wird, wird er zur universalen Gerechtigkeit und enthält alle Tugenden.“ Insofern die Barmherzigkeit als universelle Liebe und Wohlwollen definiert ist, ist die Gerechtigkeit etwas gänzlich anderes als die Macht. Dies ist sogar für Gott wahr. „Gerechtigkeit wäre tatsächlich kein wesentliches Attribut Gottes, wenn Er selbst die Gerechtigkeit eingerichtet hätte und das Gesetz durch Seinen freien Willen.“ In diesem Sinne ist Gott durch die ewigen Gesetze der Gerechtigkeit gebunden, so wie er auch durch Wahrheiten der Vernunft gebunden ist: „Die Gerechtigkeit folgt aus gewissen Regeln der Gleichheit und der Proportion, [die] nicht weniger in der unwandelbaren Natur der Dinge und in den göttlichen Ideen begründet liegen, wie es auch die Prinzipien der Arithmetik und der Geometrie sind.“ (‚Beobachtungen zu Pufendorf‘, 1706). (Hier liegt vielleicht der Ursprung des Theodizee-Problems für Leibniz: wenn Gott durch dasselbe Ideal der Gerechtigkeit gebunden ist wie wir selbst, dann müssen wir zeigen wie die Werke des vollkommenen Schöpfers als passend zu diesem Ideal gesehen werden können.) Wir sind also auch durch die Gerechtigkeitsstandards gebunden, die unabhängig von unserem Willen existieren.
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Leibniz nahm drei Grade der Gerechtigkeit an. Der unterste, eine Art von Minimalgerechtigkeit, ist schlicht jener, anderen keinen Schaden zuzufügen. Der zweite Grad ist es, jedem zu geben, was ihm zusteht, d.h. was man ihm schuldet. Der höchste ist dagegen, sich mit echtem Wohlwollen gegenüber anderen zu verhalten, und dabei das zu tun, was deren Glück befördert. Dies ist es, was Leibniz die Pietät nennt (Leibniz an Coste am 4. Juli 1706; Anhang). Leibniz’ Konzeption der Gerechtigkeit als der Barmherzigkeit des Weisen versetzte die Tugend und Pflicht auch außerhalb des Geltungsbereiches des Gesellschaftsvertrages. Für Hobbes war der Begriff der Gerechtigkeit beispielsweise der Ausfluss eines Vertrages, den wir miteinander abschließen, wenn wir eine Gesellschaft bilden, und der Begriff der Gerechtigkeit ist außerhalb dieses Rahmens gar nicht anwendbar. In einem Kommentar Shaftesbury im Jahre 1712 schreibt Leibniz: „Unser illustrer Autor weist mit Grund diejenigen zurück, die glauben, dass es überhaupt keine Pflicht im Naturzustande und außerhalb der Regierung gebe. Denn wenn die Pflichten durch Verträge das Recht zum Regieren selbst erzeugen würden, so schreibt der Autor dieser Prinzipien, dann sei es klar, dass diese Pflichten dem Regieren vorausgehen, das sich daraus ableitet.“ (Leibniz 1988: 196) Tatsächlich, so merkt er an, gäbe es beispielsweise unter den eingeborenen Amerikanern Gesellschaften, in denen der Souverän, den Hobbes für notwendig hält, gänzlich abwesend ist: „ganze Völker können ohne Friedensrichter sein und doch keine Streitigkeiten haben, und […] als Ergebnis hiervon werden die Menschen weder zu weit von ihrer natürlichen Güte entfernt, noch durch ihre Bosheit gezwungen, sich selbst mit einer Regierung zu versehen und auf ihre Freiheit zu verzichten.“ Bei den hinreichend klugen Völkern ist die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit folglich in ausreichendem Maße vorhanden, um die Gesellschaft zusammen zu halten, ohne dass es eines Vertrages bedürfte. Leibniz war jedoch ein praktischer Politiker, und nicht nur ein Theoretiker. Ganz allgemein arbeitete er auf ein Europa hin, dass geeint war unter der Führung einer einheitlichen Kirche, also ein christliches Europa, indem es keine Konflikte zwischen unterschiedlichen christlichen Staaten gibt. Zum Teil ist es dies, was hinter seinem Plan zur Wiedervereinigung der Katholiken und der Protestanten stand. Schon im Jahre 1671 stand dies hinter seinem Versuch, die Franzosen von einem Angriff auf Ägypten zu überzeugen, einem nichtchristlichen Land, statt in die Niederlande einzumarschieren. In der Praxis war Leibniz jedoch ein Gegner des französischen Expansionismus unter Ludwig XIV., obwohl er gleichzeitig ein Bewunderer der französischen Kultur war und ein Befürworter einer Union der protestantischen Länder in Nordeuropa (seine Schrift ‚Mars Christianissimus‘ [1684] war eine brillante Satire auf die Außenpolitik Ludwig XIV.). Er war ferner ein aktiver Teilnehmer der erfolgreichen Kampagne zur Unterstützung des Anspruchs des Hauses Hannover auf den Thron von England. 13. Die Leibnizsche Tradition Wenn man Leibniz Einfluss einschätzen will, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass vieles von dem, was wir jetzt über Leibniz’ Schriften wissen, noch viele Jahre nach seinem Tode seinen Lesern unbekannt war. Die ganze Dimension des Leibnizschen Denkens eröffnete sich erst langsam mit dem Erscheinen neuer Texte. Tatsächlich gibt es immer noch keine vollständige Ausgabe seines Werks. 1004
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716)
Zum Zeitpunkt seines Todes und in dem Jahrzehnt danach war nur eine kleine Auswahl der Leibnizschen Texte verfügbar. Es gab zwar eine Reihe von Veröffentlichungen in der Mathematik und der Physik, einige juristische Schriften und weitere Dokumente, die in Verbindung mit seiner unvollendeten Geschichte des Hauses von Hannover gesammelt worden waren. Im Bereich der Philosophie lagen jedoch nur einige wenige Aufsätze vor. Während seines Lebens hatte Leibniz die ‚Meditationen über das Erkennen, die Wahrheit und die Ideen‘ (1684) publiziert, das ‚Neue System‘ (1695), ‚Über die Natur selbst‘ (1698) und die ‚Theodizee‘ (1710). Die Leibniz-Clarke-Korrespondenz wurde kurz nach seinem Tode veröffentlicht, und eine lateinische Fassung der ‚Monadologie‘ erschien im Jahre 1721. Auf der anderen Seite erschienen die ‚Neuen Aufsätze‘ erst im Jahre 1765, und Arbeiten, die wir jetzt als zentral einordnen wie z.B. die ‚Metaphysische Abhandlung‘ mussten überhaupt bis 1846 auf ihre Veröffentlichung warten. Viele seiner philosophischen Schriften und seine Korrespondenz erschienen zum ersten Mal in der monumentalen Edition von C.I. Gerhardt, die zwischen 1875 und 1890 herauskam. Aber viele Texte warten noch immer auf ihre Veröffentlichung. Trotz des relativen Mangels an verfügbaren Texten wurde Leibniz im 18. Jahrhundert viel gelesen und diskutiert. Einer seiner frühen Unterstützer war der deutsche Professor und Philosoph Christian Wolff, der noch zu Lebzeiten von Leibniz mit diesem korrespondiert hatte. Er stellte zahlreiche Bände zusammen, die die Leibnizsche Philosophie auf eine geordnete Weise wiedergaben. Wolffs systematische Philosophie ermöglichte die Einführung Leibniz’ in die akademische Philosophie, und dessen Ideen waren dort auch sehr einflussreich. Aber es gab auch Widersacher, speziell eine Gruppe pietistischer Theologen an der Universität Halle, aber auch andere, unter ihnen Maupertuis, Crusius, Condillac und, am bekanntesten, Voltaire, der Leibniz als den komischen Dr. Pangloss in seinem Buch ‚Candide‘ auftreten lässt. Kant genoss seine philosophische Ausbildung in einem Klima dieser Debatte zwischen den Leibnizianern und den Antileibnizianern der damaligen deutschen intellektuellen Welt. Seine Philosophie, und zwar sowohl die vorkritischen, als auch die kritischen Schriften, zeugen deutlich von seiner Kenntnis der Leibnizschen Schriften. Siehe auch: Atomismus, Antiker; Clarke, S.; Freiheit, Göttliche; Identität; Identität des Ununterscheidbaren; Malebranche, N.; Mendelssohn, M.; Naturrecht; Okkasionalismus; Substanz; Unendlichkeit; Voltaire, F.-M.; Wille, der Anmerkungen und weitere Lektüre: Aiton, E.J. (1985): ‚Leibniz: A Biography‘. Bristol: Hilger. (Die neueste Biographie von Leibniz auf Englisch.) Frankfurt, Harry (Hrg.) (1972): ‚Leibniz: A Collection of Critical Essays‘. New York: Doubleday Anchor. (Dieses Buch enthält viele klassische englischsprachige Aufsätze über Leibniz, einschließlich jener von Russell und Couturat.) Leibniz, G.W. (1989): ‚Leibniz-Edition‘. Leibniz-Edition Potsdam an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in acht thematisch gegliederten Reihen, die gemeinsam mit der Leibniz-Forschungsstelle in Münster/Westfalen, dem Leibniz-Archiv Hannover und der Berliner Leibniz-Editionsstelle herausgegeben werden. Die hier zu leistende große Arbeit einer Aufarbeitung von ca. 200.000 Seiten originaler Dokumente ist noch nicht abgeschlossen. Un1005
Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781)
ter der Internet-Adresse http://www.leibniz-edition.de sind jedoch bereits alle schon veröffentlichten Bände online und kostenfrei im Volltext einzusehen.) DANIEL GARBER
Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781)
Gotthold Ephraim Lessing nimmt einen zentralen Platz unter den Autoren der belles lettres (d.h. jenem Teil des Buchmarktes, der sich zwischen der wissenschaftlichen und der eher anspruchslosen Literatur bewegte, also ungefähr das, was man später ‚schöngeistige Literatur‘ nannte) des europäischen 18. Jahrhunderts ein. Er war zudem ein bedeutender religiöser und theologischer Denker, dessen Werk seine Zeitgenossen verblüffte und noch immer Debatten hervorruft. Er wurde wiederholt als Deist bezeichnet (d.h. als jemand, der aus Vernunftgründen an Gott glaubt und die Verabsolutierung der Bibel ablehnt), als getarnter Theist (d.h. als jemand mit der religiösen oder philosophischen Überzeugung vom Dasein eines höchsten, überweltlichen, persönlichen Gott-Wesens), als spinozistischer Pantheist (d.h. als jemand, der die Gottheit bzw. das Göttliche in allen Erscheinungen der Welt zu sehen meint; dies wird auch als ‚Allgottglaube‘ bezeichnet), als Panentheist (d.h. als jemand, der die religiöse Auffassung vertritt, dass die Welt bzw. das Universum ein unmittelbarer Teil Gottes ist. Gott ist dem Panentheismus zufolge der Welt immanent, d.h. innewohnend oder allgegenwärtig, und zwar in allen Lebewesen, Pflanzen und auch in der unbelebten Materie, und zugleich zu ihr transzendent, d.h. ‚über‘ bzw. ‚außer‘ ihr stehend, ebenso wie die Welt ihrerseits Gott immanent, d. h. von Gott umfasst ist), und als Atheist (d.h. als jemand, der die Existenz Gottes leugnet). Er war ferner ein bedeutender Dramatiker, dessen umfassendes Werk die ‚Minna von Barnhelm‘ umfasst, die als die erste moderne deutsche Komödie gilt, und ‚Nathan der Weise‘, in dem er Moses Mendelssohn als Nathan auftreten lässt. Letzteres Werk platziert Lessing in der Tradition der Toleranzbewegung des 18. Jahrhunderts und des Humanismus. Er war ein aktiver Förderer des zeitgenössischen deutschen Theaters und ein einflussreicher Theaterkritiker und Theoretiker. Er verfügte über breite Kenntnisse des klassischen Altertums, und er gilt als einer der frühen Entwickler, wenn nicht Begründer der Disziplin der philosophischen Ästhetik. Philosophisch gehört Lessing zur Tradition von G.W. Leibniz und Christian Wolff. Er war mit der auf Wolff nachfolgenden Ästhetik gut vertraut, die von Alexander Baumgarten und seinem Nachfolger Georg Friedrich Meier entwickelt worden war. Am wichtigsten aber ist vielleicht die Bekanntschaft von Lessing mit Moses Mendelssohn, zu dessen Werk sein eigenes viele Ähnlichkeiten aufweist, und der Lessings ästhetische Schriften las und kommentierte. Lessing kann aber mit keiner dieser philosophischen Quellen und Einflüsse identifiziert werden. Sein Werk enthält noch viele rationalistische Annahmen. Allerdings suchte Lessing auch bewusst mehr induktiv gestützte Herangehensweisen. Hinsichtlich seines Schönheitsbegriffs und der Anwendung so genannter ‚Regeln der Kunst‘ war er ein Anhänger der klassizistischen Standards seiner Zeit, indem er sie empirisch rechtfertigte und sich auf emotionale Wirkungen, statt auf die ideale Form oder die kartesische Klarheit berief. Lessings Ästhetik lässt sich nur aus seinem Werk erschließen, insbesondere aus seinem ‚Laokoon‘, der ‚Hamburgischen Dramaturgie‘, und in geringerem Umfange auch aus ‚Wie die Alten den Tod gebildet‘, sowie dem Brief vom 26. Mai 1769 an Friedrich Nikolai. Hierbei zeigt sich eine manchmal inkonsistente und fragmentarische Ästhetik, die man als ‚kritischen Rationalismus‘ beschreiben könnte. 1006
Letztbegründungsphilosophie
Siehe auch: Dichtung; Tragödie DABNEY TOWNSEND
Leukipp (5. Jhdt. v. Chr.)
Der frühe griechische Philosoph Leukipp war der Begründer des Atomismus. Dieser Lehre zufolge besteht die Welt aus leerem Raum und Materie. Sie sei denknotwendig, da sich die Materie ohne den leeren Raum niemals bewegen könnte. Durch ein Neuordnen der kleinsten Teilchen namens Atome (gr.: atomos = das Unteilbare) ergebe sich die Veränderung. Alles Stoffliche setze sich somit aus unendlich vielen atomaren Bauteilen zusammen, durch deren Umordnungen sich Werden und Vergehen erklärt. – Über Leukipps Leben ist praktisch nichts bekannt, und schon in der Antike wurde diskutiert, ob er überhaupt je gelebt habe. Aber seine Rolle als der Begründer des Atomismus wird fest bei Aristoteles und Theophrast bezeugt, obwohl die Beweise keinerlei Unterscheidung zwischen seinen Lehren und denen seines bekannteren Nachfolgers Demokrit erlauben. Er schrieb eine umfassende Darstellung des Universums mit dem Titel ‚Großes Weltsystem‘. Das einzige erhaltene Zitat von ihm behauptet den universalen Determinismus. C.C.W. TAYLOR
Letztbegründungsphilosophie
Einige Letztbegründungstheoretiker sind Rationalisten, die sich auf die Intuition und die Deduktion stützen. Andere wieder sind in einem weiten Sinne des Wortes Empiristen und akzeptieren die Beobachtung, die Induktion oder die Abduktion oder auch andere Wege zur Begründung von Überzeugungen durch andere Überzeugungen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie gewillt sind, eine positive Sicht dessen zu wagen, was ganz allgemein eine Überzeugung erkenntnistheoretisch dergestalt rechtfertigt, dass sie als Erkenntnis gelten kann; und sie alle schlagen in der folgenden allgemeinen Form etwa Folgendes vor: die Überzeugung b ist ausschließlich dann gerechtfertigt, wenn b als eine Letztbegründung gerechtfertigt ist, und zwar entweder mittels eines psychologischen Prozesses des direkten Begreifens p (wie z.B. die rationale Intuition, die Beobachtung, die Introspektion etc.), oder andernfalls durch einen logischen Schluss r (wie z.B. der Deduktion, der Induktion, der Abduktion etc.), der letztlich aus anderen Überzeugungen, die alle durch p erworben oder aufrecht erhalten werden, abgeleitet ist. Wenn jemand alle diese Formen der Letztbegründung zurückweist, dann stellt sich in der Tat die Frage, wie sich allgemein die Fälle, in denen eine Überzeugung erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist, von denen unterscheiden lassen, in denen dies nicht der Fall ist. Kann man dann noch irgendetwas Allgemeines und Erhellendes darüber sagen, was einer Überzeugung eine Rechtfertigung verleiht? Und was gibt einer Überzeugung dann noch den epistemisch erforderlichen Status, um sie für Wissen zu nehmen (unter der Voraussetzung, dass sie wahr ist)? Siehe auch: Empirismus; Rechtfertigung, erkenntnistheoretische; Rationalismus; Erkenntnis, Begriff der ERNEST SOSA
Levinas, Emmanuel (1906–1995)
In den 1930er Jahren half Levinas bei der Einführung der phänomenologischen Philosophie Husserls und Heideggers in Frankreich. Im Folgenden erreichte sein eigenes Werk klassischen Status infolge seines Versuchs einer Erforschung der Bedeu1007
Lewis, Clarence Irving (1883–1964)
tung der Ethik ausgehend von einem phänomenologischen Anfangspunkt. In ‚Totalité et infini‘ (1961) verortet Levinas die Grundlage der Ethik in der Beziehung von Mensch zu Mensch, wo der Andere mich in Frage stellt. Meine Pflichten gegenüber dem Anderen werden nicht von mir selbst eingegangen. Sie gehen nicht nur aller Schuld voraus, die ich eingegangen bin, sondern gehen auch über alles hinaus, was ich je zu befriedigen vermag. In späteren Werken, vor allem in ‚Autrement qu’être‘ (1974) erkundet Levinas noch weiter die Vorbedingungen dieser Darstellung, insbesondere durch die Untersuchung des Ich, von dem es bei ihm heißt, dass es durch die Begegnung mit dem Anderen in Frage gestellt wird. In Analysen, die die Phänomenologie bis an ihre Grenzen dehnen und noch darüber hinaus, findet Levinas die Andersheit innerhalb des Selbst. Siehe auch: Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der; Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen in der ROBERT BERNASCONI
Lewis, Clarence Irving (1883–1964)
Der amerikanische Philosoph C.I. Lewis meinte, dass es in aller Erkenntnis zwei Elemente gibt: jenes, das sich den Sinnen zeigt, und die Konstruktion oder Interpretation, die die kreative Aktivität des Geistes darstellt. Im Gegensatz zu Kant behauptete Lewis, dass nicht die Erkenntnisstruktur das Fixierte und Unveränderte an der Erkenntnis sei, die wir auf das präsentierte sensible Material anwenden, sondern dass sich das sensible Material selbst präsentiere. Die Kategorien, die ihnen der Geist auferlege, beschränken nicht die Erfahrung; sie bestimmen die Interpretation, mit der wir die Erfahrung überformen, und wenn zu viel unserer Erfahrung sich einer solchen Kategorisierung entwindet, so sollten neue Kategorien aufgestellt oder eingerichtet werden. Es sei pragmatisch notwendig, dass wir interpretative Strukturen schaffen, die uns dabei helfen, dass wir mit der sensorischen Erfahrung zurechtkommen. Diese wichtige und neuartige Lehre, die Lewis ‚apriorische Pragmatik‘ nannte, ergab sich aus der Entwicklung von Ideen, deren Wurzeln bis auf sein Logikstudium zurückgehen. Die Probleme einer Wahl zwischen alternativen Logiken führten ihn schließlich zur Behauptung der Notwendigkeit pragmatischer Kriterien. Die Art und Weise, wie wir begrifflich unsere Erfahrung strukturieren und kategorisieren, entspricht den pragmatischen Kriterien der Zwecke, Absichten und Interessen. Nur innerhalb eines Kontextes, der durch eine apriorische Kategorisierung definiert ist, ist man zu einem empirischen Urteil imstande. Diese empirischen Urteile schreiten von der Auffassung des sensiblen Materials zur Behauptung von Sachlichkeiten fort. Moralische Urteile erfordern sowohl Urteile über das Gute, als auch Entscheidungen über das Richtige. Werturteile werden mit qualitativen Erfüllungen verknüpft, die sich in der Erfahrung und in empirischen Behauptungen entäußern. Entscheidungen über das moralisch Richtige basieren auf Imperativen der Vernunft. Siehe auch: Intentionalität SANDRA B. ROSENTHAL
Lewis, David Kellogg (1941–2001)
David Lewis leistete außerordentlich wichtige und einflussreiche Beiträge zu vielen Themen der Metaphysik, der philosophischen Logik, der Wissenschaftsphilosophie, der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes, der Wahrscheinlichkeitsphilosophie, der Rationalen Entscheidungstheorie, der Ethik und der Sozialphi1008
Liberalismus
losophie. Sein Werk über die kontrafaktischen Aussagen und zur Philosophie der Modalität war dabei von herausragender Bedeutung. Siehe auch: Modallogik PETER VAN INWAGEN
Liber de causis
Das ‚Liber de causis‘ (dt.: ‚Buch der Ursachen‘) ist eine kurze Abhandlung über die neuplatonistische Metaphysik, durch einen unbekannten Autor wahrscheinlich im 9. Jahrhundert in Bagdad auf Arabisch erstellt. Über seine Übersetzung ins Lateinische im 12. Jahrhundert beeinflusste es die reife mittelalterliche Philosophie des Westens. Indem es sich stark auf den griechischen Neuplatonisten Proclus stützt, repräsentiert das ‚Liber de causis‘ auf zwei Weisen eine Entwicklung des späten Neuplatonismus. Einerseits modifiziert und vereinfacht der Autor die Ursachentheorie des Proclus, damit sie besser zur Dreiteilung der letzten Ursachen passt, die von Plotin, dem Begründer des Neuplatonismus, entwickelt worden war, Andererseits führt der Autor einige der metaphysischen Prinzipien von Qu’ranic oder dem biblischen Monotheismus ein. Das Ergebnis ist eine metaphysisch anregende Neuinterpretation des neuplatonischen Gedankenguts, das, weil es die platonische Philosophie offenbar dem mittelalterlichen Weltbild anpassen sollte, das ‚Liber de causis‘ zu einem selbstverständlichen Quelltext der mittelalterlichen Philosophen machte. Siehe auch: Albert der Grosse; Neuplatonismus; Plotin HANNES JARKA-SELLERS
Liberalismus Einführung Die liberale politische Philosophie erkundet die Grundlagen der Prinzipien, die nach allgemeiner Auffassung mit einer liberalen Politik assoziiert werden: Freiheit, Toleranz, Individualrechte, konstitutionelle Demokratie und Rechtsstaat. Der Liberale meint, dass die politische Organisationen durch den Beitrag gerechtfertigt sind, den sie im Interesse der Individuen leisten, und zwar Interessen, die man unabhängig von der Idee der Gesellschaft und der Politik verstehen kann. Sie lehnen sowohl die Auffassung ab, dass Kulturen, Gemeinschaften und Staaten Zwecke an sich selbst sind, als auch die Sichtweise, dass soziale und politische Organisationen es darauf absehen sollten, die menschliche Natur zu verändern oder zu vervollkommnen. Die Menschen haben selber Ziele, die sie verfolgen, und zwar entweder wirtschaftliche oder geistige, oder beide. Da diese Zwecke nicht selbstverständlich miteinander harmonieren, mag ein regelnder Rahmen notwendig sein, damit die Individuen wissen, was sie sich als eigene Ziele zurechnen können, und was sie auch den Zwecken anderer zugestehen müssen. Die Herausforderung für die politische Philosophie ist es, einen sozialen Rahmen zu entwerfen, der diese Sicherheit und Vorhersehbarkeit bietet, gleichzeitig aber einen sicheren und vernünftigen Kompromiss unter den auseinander laufenden Forderungen der Individuen darstellt. 1. Liberale Politik 2. Politische Philosophie 3. Individualismus 1009
Liberalismus
4. Die wirtschaftliche Seite der menschlichen Natur 5. Der Gesellschaftsvertrag 1. Liberale Politik In der Politik bezeichnet der Ausdruck ‚Liberalismus‘ eine Familie von Standpunkten, die sich um die konstitutionelle Demokratie, den Rechtsstaat, die politische und intellektuelle Freiheit, die religiöse Toleranz, die Moral und den Lebensstil, den Widerspruch gegen rassische und sexuelle Diskriminierung und den Respekt gegenüber den Rechten des Individuums gruppieren. Oft werden diese Positionen mit einem Misstrauen gegen die staatliche Autorität assoziiert und mit der Sichtweise, dass die Macht der Regierung mindestens beschränkt, wenn nicht minimiert werden sollte, sowie mit einem Vertrauen in die Fähigkeit der Individuen zur Selbstorganisation oder der Grundlage des Marktes, des freien Wechselspiels der Ideen und der losen und informellen Assoziation der bürgerlichen Gesellschaften. Liberale Unterstützung für die Demokratie ist daher manchmal von der Angst vor einer ‚Tyrannei der Mehrheit‘ begleitet und durch die Wahrnehmung des Umfanges und der Aufdringlichkeit, mit der ein populistisch organisierter Staat seine Macht ausübt. Diese Einstellungen sind allerdings nicht für alle Formen des Liberalismus typisch. In Großbritannien trat im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Gruppe von Denkern, die als die ‚Neuen Liberalen‘ bekannt wurden, gegen den laissez-faire und zugunsten der staatlichen Intervention in sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen des Lebens auf. Die Neuen Liberalen, zu denen auch T.H. Green und L.T. Hobhouse gehörten, sahen die individuelle Freiheit als etwas an, was unter günstigen sozialen Umständen erreicht werden kann. Die Armut, der Schmutz und die Ignoranz, in der die meisten Leute lebten, mache es aus ihrer eigenen Perspektive unmöglich, dass Freiheit und Individualität entstehen könne, und die Neuen Liberalen glaubten, dass diese Bedingungen nur durch kollektive Maßnahmen verbessert werden könnten, die durch einen starken und wohlfahrtsorientierten, d.h. interventionistischen Staat koordiniert werden. In den USA wird der Ausdruck ‚Liberalismus‘ seit dem frühen 20. Jahrhundert mit ‚progressiven‘ wirtschaftlichen Reformen, einer Bindung an eine bescheidene Umverteilung des Einkommens, wie er im Wohlfahrtsstaat stattfindet, ein Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und ein nachhaltiges Vertrauen in die gesetzlichen Regulierungen der wirtschaftlichen Angelegenheiten verbunden. Eine etwas stärker vom laissez-faire geprägte Version des Liberalismus wird in den USA ‚Konservatismus‘ genannt, und die Europäer sind oft verwirrt, den Ausdruck ‚liberal‘ dort als Titel für einen Standpunkt zu hören, den sie selbst als ‚links‘ oder gemäßigt sozialistisch bezeichnen würden. Dahinter steht allerdings nicht nur eine terminologische Verwirrung. Jene in den USA, die sich selbst als ‚Liberale‘ bezeichnen, vertreten auch die Auffassung, die am Anfang dieses Artikels umrissen wurden, und ihr Zerwürfnis mit den ‚konservativen‘ Widersachern ist teilweise eine lebendige und ungelöste Frage betreffend die Folgen der traditionell liberalen Voraussetzungen betreffend die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Setzt die individuelle Freiheit Privateigentum voraus? Ist Armut mit Freiheit vereinbar? Können die bürgerlichen und politischen Rechte gleich verteilt
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sein, wenn die wirtschaftliche Macht dies nicht ist? Der Liberalismus ist eine ‚Familie‘ von Standpunkten, und daraus folgen wichtige Familienstreitigkeiten. 2. Politische Philosophie In der Philosophie ist ‚Liberalismus‘ nicht nur der Name einer locker organisierten und zänkischen Familie grundlegender politischer Meinungen. Er bezieht sich auch auf ein Erbe abstrakter Gedanken über das menschliche Wesen, sein Handeln, seine Freiheit und seinen Wert, sowie seine Haltung gegenüber Funktionen und Ursprüngen politischer und rechtlicher Institutionen. Dieses Erbe hat seinen Anfang in der frühneuzeitlich-modernen, englischen, politischen Philosophie, besonders zu erwähnen in den Werken von Thomas Hobbes und John Locke (§ 10). Es ist aber auch die politische Philosophie der kontinentaleuropäischen Aufklärung, die in ihrer am stärksten philosophisch artikulierten Form durch die Schriften von Jean-Jacques Rousseau, Fraçois-Marie Arouet Voltaire, Henri-Benjamin Constant de Rebecque und etwas später durch Immanuel Kant repräsentiert wird. Im 19. Jahrhundert wird der philosophische Liberalismus zunächst in den utilitaristischen Theorien von Bentham und J.S. Mill, später dann im Idealismus von T.H. Green fortgeführt. Wegen der zeitlichen Nähe ist es unvermeidlich etwas schwieriger, kanonische Arbeiten des Liberalismus des 20. Jahrhunderts auszumachen. Es gab eine lange Zeit im 20. Jahrhundert, in der liberale Philosophen ihren Geschmack (oder ihr Empfindungsvermögen) für große Theorieentwürfe im Stile eines Hobbes oder Kant zu verlieren schienen. In dieser Zeit schienen sie gar auf den zerstückten, analytischen und unsystematischen Charakter ihrer Gedanken stolz zu sein. Im Kontext des Kalten Krieges wurde dies als gesundes Zeichen einer Ideologiefreiheit gedeutet. Diese Phase scheint vorbei zu sein, und vertrauensvollere Fassungen des philosophischen Liberalismus tauchten erneut im Werk von Autoren des späten 20. Jahrhunderts wie F.A. von Hayek, Robert Nozick, Ronald Dworkin, Joseph Raz und – am wichtigsten – von John Rawls (§ 4) auf. Manche werden sich vielleicht über ein oder zwei dieser Namen beschweren, dass sie überhaupt auf dieser Liste erscheinen. War Hobbes wirklich ein Liberaler? War es Rousseau? Wir sollten uns allerdings erinnern, dass ‚Liberalismus‘ niemals eine Bezeichnung war, über die irgendeine Gruppe eine kollektive Kontrolle ausübte. Als Ergebnis hiervon ist der Ausdruck dem Wohl und Wehe seiner lässigsten Verwender ausgesetzt, und tatsächlich wird der Versuch einer Definition von ‚Liberalismus‘ üblicherweise nicht durch seine praktischen Anhänger, sondern gerade durch seine Widersacher unternommen, was voraussehbar karikaturenhafte Ergebnisse zeitigt. Aber selbst wenn dies so ist, besteht die Aufgabenstellung doch nicht darin, Fehldarstellungen zu korrigieren. Die philosophischen Positionen, die wir noch am plausibelsten als liberal einstufen, stehen oft für bezeichnende Ausdrücke der Ambivalenz betreffend die Natur des Menschen und das politische Leben, statt für dogmatische Formeln eines liberalen Katechismus. Wir sahen dies bereits in den Werten und Prinzipien, die den Liberalismus im politischen Sinne ausmachen: die Liberalen sind sich uneins über das Eigentum, die wirtschaftliche Gleichheit und die Rolle des Staates. Auf einer im engeren Sinne philosophischen Ebene sind sich die
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Liberalen ferner uneins über das Wesen des Wertes, die Bedeutung der Freiheit und die Verbindung zwischen individuellen und sozialen Zwecken. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, einige dieser Positionen und Streitpunkte darzustellen. Den Liberalismus als Ganzes definieren zu wollen wäre jedoch ein frustrierendes Unternehmen. Es gibt viele Wege, diese philosophische Landkarte zu zeichnen, und es gibt keinen Ersatz für die Auseinandersetzung mit den ungleichartigen Einzelheiten von Theorien, die von einzelnen liberalen Philosophen verkündet wurden. 3. Individualismus Beginnen wir mit einigen grundlegenden ethischen Prämissen. Die am tiefsten reichende Bindung der liberalen politischen Philosophie ist jene an den Individualismus als einer grundlegenden Einstellung zum Wert. Der liberale Individualismus hält deren vier vorrätig. Zunächst glauben Liberale, dass die individuelle Person das ist, worum es bei einer sozialen und politischen Bewertung geht. Wir mögen am Schicksal einer Kultur, einer Sprache, einer Gemeinschaft oder einer Nation interessiert sein, aber für einen Liberalen sind solche Interessen immer zweitrangig oder abgeleitet. Der grundlegendste Wert hat damit zu tun, wie die Dinge für den gewöhnlichen Mann und die gewöhnliche Frau stehen, und jeweils einzeln: ihre Sorgen und Freuden, ihre Vorlieben und Hoffnungen, ihr Überleben, ihre Entwicklung und ihr Erblühen. Natürlich kümmern sich die Menschen umeinander; der Individualismus ist nicht dasselbe wie Egoismus. Aber der Individualismus schließt soziale und kollektive Einrichtungen aus dem Reich des letzten Guten aus. Schon weniger Einigkeit besteht über die Gründe für die Individualisierung von Werten. John Locke, der im 16. Jahrhundert schrieb, sah den Wert einer jeden Person darin, dass sie das Arbeitsergebnis und Eigentum von Gott sei, was hieß, dass wir gemacht seien, „zur längsten Freude von Ihm, und nicht irgendeines anderen“ (1690). Diese Beziehung zu Gott war im Falle eines jeden Individuums direkter, unvermittelter und unbedingter Natur. Damit war eine Grundlage für unsere Rechte im Hinblick auf den anderen geschaffen, die keiner Bestätigung durch irgendeine größere soziale Struktur bedurfte. Der moderne Liberalismus hat jedoch eine säkulare Tradition, und seine Geschichte seit Lockes Zeiten ist weitgehend eine Geschichte des Versuches zur Etablierung dieses Individualismus, ohne sich dabei auf die Idee eines Gottes zu berufen. Utilitaristische Denker verknüpften den Begriff der Werte analytisch mit dem des Wunsches oder der Bevorzugung, und sie schlossen aus der Tatsache, dass das Wünschen und Bevorzugen Eigenschaften von Individuen sind, dass die Grundlagen des Wertes ebenfalls individualistisch sein müssen (siehe Utilitarismus). Diejenigen, die der Tradition von Kant folgten, verknüpften andererseits den Begriff der Werte analytisch mit dem einsamen Individualismus des Willens, des Bewusstseins und dem Pflichtbewusstsein, und zogen daraus den Schluss, dass jede Person als moralischer Akteur auch berechtigt sei, als ein Zweck an sich selbst betrachtet zu werden, und nicht nur als Mittel zu weiteren sozialen Zwecken. Der kantischen Anschauung erging es in der modernen politischen Philosophie vielleicht relativ besser, obwohl das ihr zugrunde liegende Argument, demzufolge das moralische Denken auf der Ebene des individuellen Geistes und Willens stattfindet, weshalb der indi1012
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viduelle Geist und Wille auch der zugrunde liegende Gegenstand der moralischen Bemühung sein muss, erst noch in eine zwingende Form ungewandelt werden muss. Zweitens glauben die Liberalen, dass es etwas speziell Wichtiges in der Fähigkeit von Individuen gibt, was ihre Handlungen und ihr Leben leitet, und zwar jeder nach eigenem Gutdünken. Sie glauben an die Bedeutung der Freiheit, obwohl das, worauf dieser Glaube hinausläuft, einer der Streitpunkte ist, auf die schon zuvor hingewiesen wurde. Einige definieren die Freiheit in negativen Ausdrücken; ihre liberale Gesinnung läuft damit schlicht auf die Verdammung der Gewalt, des Zwanges und der Einmischung in das einzelmenschliche Leben hinaus. Die Freiheit, so sagen sie, erblüht, wenn diese Beschränkungen aufgehoben werden, und es gibt nichts außer dem Entfernen von Beschränkungen, was politisch getan werden muss, damit die Freiheit erblüht. Positive Konzeptionen der Freiheit gestehen dem Staat eine wesentlich größere Rolle zu. Sie sehen die Freiheit oder die Autonomie als etwas, das es zu erreichen lohnt, statt als etwas, dass es im Leben eines unbeschränkten Individuums umsonst gibt, also als etwas, das ausgebildete individuelle Fähigkeiten und günstige soziale Bedingungen voraussetzt (siehe Freiheit). Einige Konzeptionen der positiven Freiheit gehen noch ein Stück weit über diese Position hinaus und verlassen damit sogar den Bereich des Liberalen. Wenn die Freiheit mit der Durchführung einer sozialen Pflicht identifiziert oder Individuen nur kraft ihrer Teilhabe an irgendeinem sozialen Ganzen zugeschrieben wird, dann kann die daraus resultierende Theorie kaum mehr als liberal bezeichnet werden. Aber auch dann, wenn die Freiheit als die Leistung einiger weniger Glücklicher beschrieben wird, also als etwas, zu dem die gewöhnliche ‚Masse‘ der Menschheit nicht in der Lage ist, haben wir es nicht mehr mit einer liberalen Konzeption zu tun. Obwohl die liberale Freiheit manchmal auch als Entwicklungsbegriff verstanden wird, so ist er doch nie ein aristokratischer oder utopischer. Die freie Richtungsnahme eines menschlichen Lebens wird als etwas gesehen, wozu gewöhnliche Menschen unter angemessenen sozialen und politischen Umständen imstande sind. Als Colonel Rainsborough in den Putney Debates (einer Reihe von hitzigen Debatten im Jahre 1647 in England über die Aufstellung einer neuen Verfassung zwischen Fraktionen der New Model Army und den Levellers) ausrief: „Ich meine wirklich, dass die Ärmsten, die es in England gibt, hier ebenso ein Leben führen wie die Größten!“, so lieh er einem Egalitarismus die Stimme, der auf den Grundfesten der liberalen Tradition aufbaut. Der dritte Aspekt des liberalen Individualismus ist der Einsatz für die Gleichheit. Wir müssen allerdings vorsichtig sein, wie wir dies formulieren. Liberale Philosophen denken nicht notwendig egalitär im wirtschaftlichen Sinn. Sie fühlen sich aber in dem Sinne, wie dies eine Frage der grundlegenden Logik ihres Standpunktes sei, einem Prinzip der zugrunde liegenden Gleichheit des fundamentalen Wertes verpflichtet. Die Menschen haben ein Recht auf die gleiche Beachtung ihrer Interessen in dem Entwurf und dem Verhalten der Institutionen ihrer Gesellschaft, und sie haben das Recht, gleichermaßen in ihrem Wunsch zur Führung ihres jeweiligen Lebens nach ihren eigenen Vorstellungen respektiert zu werden (siehe Gleichheit). Die Feministen haben manchmal in Frage gestellt, ob diese liberale Verpflichtung zur Gleichheit sich auch über die Grenzen der Geschlechter hinweg erstreckt. In den Schriften von Locke, Rousseau und Kant ist es leicht, wegwerfende Gesten zu finden, die man heute als sexistisch oder frauenfeindlich bezeichnen würde. Kein 1013
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Autor im liberalen Kanon verpflichtete sich vor J.S. Mills Aufsatz ‚Die Unterdrückung der Frauen‘ (1868) ausdrücklich und ausführlich der Frauenemanzipation. Gleichwohl stellt das Vermächtnis der liberalen Nachlässigkeit in dieser Frage kein größeres theoretisches Problem für den Standpunkt dar, dass Männer und Frauen in ihren moralischen und politischen Fähigkeiten, sowie hinsichtlich des Einsatzes dieser Fähigkeiten als gleich anzusehen sind. Tatsächlich lautet die diesbezüglich schon herausforderndere feministische Kritik, dass die Liberalen die Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen übertreiben, und nicht etwa leugnen, d.h. dass sie darin versagen, die Schlüsselmomente des Unterschiedes im moralischen Denken und ethischen Auftreten entweder anzuerkennen oder aufzunehmen (siehe Feministische politische Philosophie). Ein viertes Element des liberalen Individualismus bringt das Beharren auf dem Recht der individuellen Vernunft ins Spiel. Damit wird nicht nur die Freiheit des Denkens, des Bewusstseins oder der Diskussion verlangt, sondern eine tiefer gehende Forderung betreffend die Rechtfertigung in der Politik formuliert, nämlich die Forderung, dass Regeln und Institutionen des sozialen Lebens vor dem Tribunal der jeweils individuellen Vernunft gerechtfertigt werden müssen. Wir sehen hier eine wichtige Verbindung zwischen dem liberalen Denken und dem philosophischen Vermächtnis der Aufklärung. Die Aufklärung war gekennzeichnet von einem aufblühenden Vertrauen in die menschliche Fähigkeit, der Welt einen Sinn zu verleihen, ihre Regelmäßigkeiten und grundlegenden Prinzipien zu erfassen und ihre Kräfte zum Wohle der Menschheit zu manipulieren. Dieser Antrieb zum Verständnis der Natur trifft sich im Denken der Aufklärung mit einem Optimismus, der ähnlich stark ist und sich auf die Möglichkeit zum Verständnis der Gesellschaft und des menschlichen Wesens bezieht. In einer Hinsicht ist dieser Optimismus die Grundlage der modernen Soziologie, Geschichtswissenschaft und Wirtschaft. Er ist aber auch die Quelle gewisser normativer Einstellungen gegenüber der sozialen und politischen Rechtfertigung, d.h. einer Ungeduld allgemein mit der Tradition, insbesondere mit dem Geheimnisvollen und Rätselhaften, mit der ehrfurchtsvollen Scheu und dem Aberglauben als der Grundlage der sozialen Ordnung, und eine Bestimmung dahingehend, dass die autoritative Antwort nunmehr vom Gerichtshof der Vernunft erteilt wird, die uns überzeugt und berechtigt ist, unseren Respekt zu verlangen. Die soziale Welt, selbst wenn sie mehr ist als die natürliche Welt, muss man sich nun als eine Welt für uns (d.h. für jeden von uns) vorstellen, d.h. als eine Welt, deren Vorgänge durch aktive Untersuchungen des individuellen Geistes verstanden werden müssen, und nicht mehr durch religiöse Dogmen, gedankenlose Tradition oder die Hysterie gemeinschaftlicher Erregung und Solidarität. 4. Die wirtschaftliche Seite der menschlichen Natur Der Liberale spricht den Menschen als Individuen einen ihnen innewohnenden Wert zu und legt besondere Bedeutung auf die Fähigkeit eines jeden Einzelnen, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu organisieren. Welches Gutdünken wird dies aber sein? Was für Wesen sind das, deren individuelle Freiheit wir so hoch bewerten? Und wie werden sie ihre Freiheit voraussichtlich einsetzen? Die Kritiker assoziieren den liberalen Individualismus gewöhnlich mit einer egoistischen und aneignenden Sichtweise des menschlichen Wesens. Sie sagen, die klassischen Liberalen räumten dem Wunsch nach Macht, Lust und materiellem 1014
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Besitz unter den menschlichen Motivationen zuviel Platz ein. Die Menschheit, so argumentieren sie, wird damit in der liberalen Theorie auf nicht mehr als eine konkurrierende Masse von Marktindividuen reduziert, d.h. gierige Konsumenten mit unbeschränktem Appetit, feindselig oder indifferent gegenüber dem Wohlergehen Anderer, die von ihren politischen und rechtlichen Institutionen nichts anderes wollen, als dass sie ihnen ihre Bedingungen für ihre Marktaktivitäten sichern. Dieses Bild ist verzerrt, und es ist nicht vollständig. Der liberale Individualismus erkennt an, dass die individuellen Interessen nicht notwendig oder selbstverständlich miteinander harmonieren. Jedes Individuum führt sein eigenes Leben, und deshalb gibt es keine Garantie, dass die Wünsche einer Person nicht mit denen einer anderen in Konflikt geraten werden. Manchmal, wie z.B. in Hobbes’ Theorie, wird dies als eine innere Feindseligkeit und konkurrierende Indifferenz dargestellt, als ‚Wille zur Verletzung‘, der schließlich in einen ‚Krieg aller gegen alle‘ mündet. Manchmal, wie in John Rawls Werk, wird der Liberalismus einfach als Postulat des gegenseitigen Desinteresses gesehen (statt als Feindseligkeit). Die meisten sehen diese Merkmale jedoch in den Worten Immanuel Kants als eine Sache der ‚unsozialisierbaren Sozialität der Menschen‘, d.h. dass es Dinge gibt, die wir miteinander teilen, Dinge, die uns zur Bildung von Gesellschaft treiben und die wir nur gemeinsam bewältigen, aber auch Aspekte unserer Natur, die uns zu unangenehmen, stacheligen, feindseligen und willkürlich isolierten Individuen machen. Obwohl die Liberalen nun durchaus glauben, dass es Formen gibt, unter denen Individuen mit auseinander strebenden oder sogar entgegengesetzten Interessen friedlich zusammen leben können, war es doch nie ein Teil ihrer politischen Philosophie, dass die Vernunft, die Aufklärung oder die Sozialisation dieser grundlegenden Verschiedenheit oder Konkurrenz ein Ende setzen würden. (In dem Umfange, wie Rousseau meint, dass der Gesellschaftsvertrag einen „bemerkenswerten Wandel bei den Menschen“ herbeiführen würde, sind seine Spekulationen etwas, was außerhalb der liberalen Tradition liegt.) Was die Natur der Dinge angeht, werden die Menschen unvermeidlich mit voneinander abweichenden und entgegengesetzten Sichtweisen darüber auftreten, was das Leben lebenswert macht, während die Dringlichkeiten unserer Lebenssituation, die Knappheit der materiellen Ressourcen und unsere gegenseitige Verletzlichkeit immer für das Rohmaterial sorgen, aus dem Angst, Konkurrenz und Konfliktstoff entspringt (siehe Natur des Menschen). Ein damit zusammenhängender Einwand lautet, dass der Liberale die Politik der Wirtschaft unterordne; er sehe die politischen Strukturen lediglich als Instrumente zur Sicherung des wirtschaftlichen Friedens und des Marktes, und er ignoriere den höheren Ruf des Staates, wie er beispielsweise in den Theorie von Aristoteles, Hegel oder Hannah Arendt skizziert wird. Dieses Bild ist durchaus präzise, jedoch ist nicht klar, warum dies ein Einwand gegen den Liberalismus sein sollte. Gewiss, die Liberalen betrachten die Teilnahme an der Politik nicht als einen Zweck an sich. Anders als die bürgerlichen Humanisten meinen sie nicht, dass die wichtigsten Tugenden und Tätigkeiten jene sind, die sich auf die Politik und die formale Ausübung von Macht über andere richtet (siehe Republikanismus). Hieraus folgt allerdings nicht, dass sie die politische Teilnahme als ein verengtes und nur an sich selbst interessiertes Vorhaben ansehen. In der politischen Wissenschaft wird der Ausdruck ‚Liberalismus‘ üblicherweise mit der Politik von Interessensgruppen assoziiert, aber die Liberalen sind ebenfalls genau darü1015
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ber geteilter Auffassung, ob die Wähler in einer Demokratie ihre Entscheidungen auf einer gemeinsamen Grundlage oder der Grundlage ihres eigenen Interesses treffen sollten (wobei sich dann das gemeinsame Gute irgendwie als das Ergebnis eines politischen Prozesses ergeben würde). Worauf es ankommt ist jedoch, dass selbst jene, die glauben, wir sollten im Sinne unserer Ansicht über das gemeinsame Gute wählen, immer noch meinen, dass die Politik am Ende ein Mittel zur Beförderung der individuellen Interessen (d.h. aller Individuen) ist, nicht dagegen ein Zweck an sich. Sie mögen an die Rousseausche Demokratie glauben, sie mögen sogar hoffen, dass die demokratische Teilhabe das Beste an den Menschen hervorzubringen vermag (obwohl viele daran zweifeln), aber ihre festeste Überzeugung ist, dass einzelne Menschen ihre jeweils eigenen Interessen und Zwecke verfolgen, die an sich selbst nichts mit Politik oder dem Staat zu tun haben, und dass die Funktion der Regierung darin besteht, diese individuelle Zweckverfolgung zu erleichtern, und nicht über sie zu urteilen oder sie durch politische soziale Zwecke zu ersetzen. Wenn man sagt, dass diese Zwecke individueller Natur sind, so bedeutet dies nicht notwendig, dass sie wirtschaftlichen oder materialistischen Inhalts sind. Es überrascht tatsächlich, wie wenige Liberale wirklich das Bild des Menschen, der vor allem durch seinen wirtschaftlichen Erwerbscharakter geprägt ist, vertreten haben. Hobbes vertrat gewiss diese Auffassung, und ebenso einige der politischen Ökonomen des 18. Jahrhunderts. Aber viele andere Teilnehmer der liberalen Tradition sehen materielle Motive nur als Mittel zu individuellen Zwecken, die durchaus ethischen, ja sogar geistigen Inhalts sein können. John Locke, der in manchen Zirkeln als der Apostel des Besitzindividualismus gehandelt wird, bestand darauf, dass unsere vorrangige Mission im Leben jene sei zu ermitteln, was unser Schöpfer von uns im Hinblick auf unser Verhalten und seine Verehrung möchte: „Die Beobachtung dieser Dinge ist die höchste Pflicht, die dem Menschengeschlecht obliegt, und […] unsere allergrößte Sorge, Tätigkeit und Sorgfalt sollte auf die Suche und Ausführung [dieser Dinge] verwendet werden, denn es gibt nichts auf der Welt, dass im Vergleich mit der Ewigkeit Beachtung verdient.“ (‚Über den menschlichen Verstand‘, 1689). Moderne Liberale tendieren ebenfalls zu einer Betonung des ethischen und kulturellen Charakters des individuellen Strebens. Wir haben alle unsere eigenen Vorstellungen vom Glück oder dem guten Leben, d.h. einen Standpunkt, was das Leben lebenswert macht, und es ist diese Vielheit der individuellen Ideale solcher Art, die die politischen Strukturen zueinander bringen müssen. Im Allgemeinen gibt es eine verwickelte Ambivalenz in der liberalen Tradition über die Frage, ob diese Bewegung vom ökonomischen zum ethischen Individualismus das soziale Probleme als mehr oder weniger widerspenstig erscheinen lässt. Andererseits scheint die Situation hierdurch besser auszusehen. Wirtschaftliche Konflikte sind ein Nullsummenspiel: was du hast, kann ich nicht haben. Oder noch schlechter: was du hast, bringt dich in eine bessere Position mir das wegzunehmen, was ich bereits habe. Ich habe deshalb einen hervorragenden Grund zum Selbstschutz, um dir so viel, als mir irgend möglich, die verfügbaren Ressourcen vorzuenthalten. Der ethische und geistige Individualismus scheint dagegen weniger an sich selbst konkurrenzorientiert zu sein: „Ein Mensch verletzt durch eine irrige Auffassung nicht das Recht eines anderen“, schrieb Locke, „noch sagt sein Verderben etwas über die Angelegenheiten eines anderen.“ (‚Über den menschlichen Verstand‘, 1689). Die geeignete soziale Haltung für religiöse oder ethische Indivi1016
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dualisten scheint eher jene der gegenseitigen Indifferenz der Rawlsschen Theorie zu sein, und nicht eine solche der Konkurrenz oder des Konfliktes von Hobbes. Tatsächlich entspricht dies natürlich nicht unserer Erfahrung. Religionskriege waren mindestens ebenso tödlich wie Kriege um Land oder Ressourcen. Wir können uns das gewerbliche Leben als langweilig oder oberflächlich vorstellen, aber dennoch liegt eine gewisse Erleichterung in dem Kommentar von Voltaire über die London Stock Exchange: „Hier handeln Juden, Mohammedaner und Christen miteinander, als wären sie allesamt desselben Glaubens, und sie wenden das Wort ungläubig nur auf Leute an, die bankrott gehen.“ Selbst Hobbes, dessen ‚Leviathan‘ der locus classicus für das Bild des wirtschaftlichen Krieges aller gegen alle ist, war der festen Überzeugung, dass das Problem des Kampfes um die Ressourcen gelöst werden könnte, denn die Menschen gewillt seien, einem starken Staat Konzessionen zu machen, wenn er dafür den Frieden sichert. Den sektiererischen religiösen Eifer sah er dagegen als eine Form der Geisteskrankheit an, und er zweifelte, ob die Parteigänger rivalisierender religiöser Ideale jemals miteinander auskommen könnten (siehe Toleranz). Die Kritik am Liberalismus wird zweifellos auf ihrem Vorwurf beharren, dass die liberale Tradition der materialistischen Seite der menschlichen Natur auf Kosten ihrer kulturellen und geistigen Erwartungen schmeichelt. Sie werden sagen, dass die Liberalen zu viel Aufmerksamkeit darauf verwenden, welche politischen und gesetzlichen Strukturen die Marktwirtschaft befördern, und zu wenige auf die Beiträge, die sie selbst zur Qualität einer ethischen Verhaltenswahl leisten können. Eine Reihe liberaler Autoren haben diese Kritik ernst genommen. Joseph Raz z.B. argumentierte, dass im Begriff der Autonomie selbst ein Streben nach Wert liege, so dass ein liberales Bekenntnis zur Freiheit nicht als unvereinbar mit einer sozialen Bindung an den ethischen Perfektionismus verstanden werden sollte. Es kommt jedoch der Moment, wo liberale Philosophen einfach ihren Mann zu stehen und die Kanalisierung der politischen Energien zwecks Lösung der realen Probleme infolge von Hungersnöten, Epidemien und Armut zu verteidigen haben, und zwar abseits aller moralischen, kulturellen und religiösen Debatten, die wenig mehr für den Fortschritt versprechen als Krieg, Sektierertum und ethische Korrektheitsrituale. Die Sorge betreffend die Wirtschaft basiert nicht auf einem Skeptizismus über die ethischen oder geistigen Dimensionen des menschlichen Lebens. Sie basiert vielmehr auf einem bescheidenen Sinn für das, was die Politik zu bewirken vermag; sie kann eine Welt nicht zum Besseren wenden, in der die Menschen uneins über Gott, die Werte und den Sinn des Lebens sind und nur in ihrem Wunsch zur Vermeidung von Hunger und Krankheit und zur Erreichung besserer materieller Lebensbedingungen weitgehend einig sind. 5. Der Gesellschaftsvertrag In dem Umfange, wie liberale Philosophen die Vielgestaltigkeit und die Konflikte zwischen individuellen Zwecken betonen, scheint uns dies in Richtung eines Anarchismus zu führen. Denn welche Gruppe wirklich existierender oder real stattfindender Institutionen könnte sich einem solchen Individualismus anfreunden, den wir hier skizziert haben? Tatsächlich haben liberale Theoretiker schon immer gemeint, dass so etwas wie unser moderner Staat mit seinen bekannten Institutionen des Rechts und der 1017
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repräsentativen Regierung legitimiert werden kann. Sie lehnen sowohl den anarchistischen Standpunkt ab, dass die Freiheit nur bei völliger Abwesenheit jeglicher staatlicher Autorität und aller Verpflichtungen gegeben sei, als auch die utopische Prämisse, dass eine gerechte Gesellschaft einen radikalen Wechsel der menschlichen Natur voraussetzt. Dies bringt sie in eine ziemlich uneindeutige Situation insofern, als hiervon real existierende ‚liberale‘ Gesellschaften, d.h. die konstitutionellen Demokratien von Nordamerika, Westeuropa, Australien, Asien und Japan, betroffen sind. Der Liberalismus war als politische Ideologie bemerkenswert erfolgreich, insofern seine leitenden Prinzipien der Freiheit, der Toleranz und der Gleichheit vor dem Gesetz als Teil des Selbstbildes oder der öffentlichen Beziehungen der mächtigsten und wohlhabendsten Gesellschaften der Welt akzeptiert werden. Seine Fürsprecher haben jedoch Schwierigkeiten mit der üblichen Schlussfolgerung, dass die soziale, wirtschaftliche und politische Wirklichkeit dieser Gesellschaften das ist, worauf liberale Prinzipien in der Praxis hinauslaufen (so wie sich die Marxisten bei der Selbstdarstellung der Sowjetunion und ihrer Satelliten als ‚real existierender Sozialismus‘ unwohl fühlten). Sie bestehen recht eigensinnig darauf, dass der Liberalismus eine Reihe kritischer Prinzipien sei, und keine Ideologie oder Vernünftelei, und dass er die Grundlage für eine Verurteilung von Dingen wie die sich ausbreitende Armut, eine geheimnistuerische und oligarchische Regierung, Rechtsmissbräuche und das fortgesetzte Erbe des Rassismus und des Sexismus in den modernen Demokratien biete. Doch selbst wenn dies so ist, ist die Existenz von selbsternannten ‚liberalen‘ Demokratien wichtig. Sie hilft bei der Erhaltung der Vorstellung, dass der Liberalismus eher ein reformorientiertes, denn ein revolutionäres Glaubensbekenntnis ist, und dass wir bereits wissen, zumindest in Umrissen, wie eine wirklich liberale Gesellschaft auszusehen hat. Diese Vorstellung von einem moderaten Reformismus ist nicht nur ein strategisch-ideologischer Vorteil. Der Liberalismus behauptet, die Männer und Frauen so zu respektieren, wie sie sind. Es bedarf nicht der Opferung immer neuer Generation von Menschen um einer endlos herausgeschobenen Utopie Willen. Stattdessen schlägt sie vor, dass politische Strukturen bereits jetzt auf eine Weise eingerichtet werden können, die einen sicheren und vernünftigen Kompromiss zwischen den auseinander laufenden individuellen Forderungen darstellen. In seiner klassischen Form, d.h. in den Schriften von Hobbes, Locke, Rousseau, und in geringerem Umfange auch von Kant, wurde der Schluss von den liberalen Prämissen auf die Legitimität von etwas, was ungefähr unserem modernen Staat entspricht, als Gesellschaftsvertrag vorgestellt (siehe Vertragstheorie). Der Schluss lautet ungefähr folgendermaßen: Man stelle sich Menschen vor, die außerhalb der Reichweite jeglicher politischer Autorität leben und das Recht zur Führung ihres eigenen Lebens und ihres gegenseitigen Umganges miteinander auf eine Weise praktizieren, die liberale Philosophen als den ‚Naturzustand‘ bezeichnet haben. Man gehe hiervon aus und versuche die Entwicklung der politischen Institutionen als einen Weg zu modellieren, auf dem die Individuen ihre Freiheit nicht auf eine Weise ausüben, bei der ihre Freiheit nicht einfach aufgehoben wird. Das Gesellschaftsvertragsmodell repräsentiert die Funktionen der Regierung als eine Reihe von Schwierigkeiten, die solche Leute im Naturzustand zu gewärtigen hätten. Die Konzeptionen dieser Schwierigkeiten fallen allerdings unterschiedlich aus. Es könnte z.B. einen vernichtenden Kampf um Ressourcen geben (Hobbes und 1018
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Hume meinten dies); oder die Rechte des anderen könnten zwar beachtet werden, aber es gäbe keine Instanz ihrer Durchsetzung (Locke); oder es könnte Uneinigkeit über die Gerechtigkeit aufkommen, so dass jeder Einzelne einfach das tut, was ihm nach eigenem Gutdünken gerecht oder gut erscheint (Kant). Das gemeinsame Element dieser Auffassungen ist, dass die Menschen im Naturzustand einer verlässlichen Vorstellung ermangeln würden, worauf sie in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Leben zählen können. Am dringendsten bräuchten sie eine Reihe von Regeln, die unparteiisch verwaltet und durchgesetzt werden, um damit einen Rahmen zu schaffen, in dem eine friedliche Zusammenarbeit und eine langfristige Produktion möglich seien. Die Regierung würde sich dann als eine Vereinbarung einer jeden Person mit jeder anderen in einem gegebenen Land darstellen, um bei der Einrichtung und Erhaltung eines permanenten regelerzeugenden und regeldurchsetzenden Apparates zusammenzuwirken. Der Vertrag wäre dagegen keine Vereinbarung zwischen der Regierung und einem Individuum. Stattdessen stellt er die rechtlichen und regierungsseitigen Institutionen als Kooperationsstrukturen unter Individuen dar und verwendet diese Idee als Grundlage zur Ableitung von Grenzen der Regierungsgewalt, und beschränkt andererseits auch die individuelle oder parteiliche Ausbeutung dieser Macht. Die tyrannische Ausbeutung dieser Macht und eine willkürliche Regierung werden von dieser Konzeption ausgeschlossen, insofern sie nicht als Verbesserung gegenüber jener Situation der Individuen dargestellt werden können, die sie zu erwarten hätten, wenn sie ohne jegliche politische Institution zu leben versuchten. Einige Theoretiker, z.B. Rousseau und Rawls, verwenden die Idee des Gesellschaftsvertrages als eine Denkweise über den Inhalt gesetzlicher Regeln: wir können über die gerechte Verteilung von Ressourcen und darüber diskutieren, welche Rechte wir haben, indem wir fragen, welche Sicherheiten wir einem jeden Individuum zu gewähren hätten, um seine Zustimmung zur grundlegenden Struktur dieses sozialen Arrangements zu erhalten. In den Händen dieser Theoretiker ist der Gesellschaftsvertrag ein Test dessen substanzieller politischer Rechtfertigung. Andere sehen ihn eher prozedural: der Gesellschaftsvertrag bildet die Konstruktion politischer und konstitutioneller Mechanismen nach, die dann die grundlegenden Lösungen auf einem Fundament erarbeiten, das relativ unabhängig der Vertragsidee ist. Hobbes’ Theorie ist hierfür das extremste Beispiel: der Hobbessche Gesellschaftsvertrag ist einfach eine Vereinbarung, mittels derer ein Individuum oder eine Organisation (ein ‚Souverän‘) mit der Lösung von Problemen beauftragt wird, die im Naturzustand Konflikte verursachen, und an deren Lösung man auf irgendeine Weise arbeiten kann. Die absolute Autorität, mit der der Souverän dadurch ausgestattet ist, hat einige dazu gebracht zu leugnen, dass Hobbes ein Liberaler sei. Sicherlich ist er nicht mit der Position verheiratet, die wir zu Beginn dieses Beitrages als Liberalismus identifizierten. Aber seine zugrunde liegende politische Philosophie ist liberal; seine Wertprämissen sind individualistisch, und er ist unnachgiebig in seiner Auffassung, dass die politischen Institutionen (mit der ihnen jeweils zustehenden Macht) in Relation zu den Interessen eines jeden Individuums gerechtfertigt werden müssen; ferner ist er der optimistischen Auffassung, dass eine solche Rechtfertigung möglich ist. Nicht alle liberalen Philosophen berufen sich auf die Idee des Gesellschaftsvertrages. Viele bevorzugen die Entwicklung eigener Theorien ohne die Vermittlung dieses Modells. Die Argumente beispielsweise in J.S. Mills Essay von 1859 mit dem 1019
Liberalismus
Titel ‚On Liberty‘, den viele als die Quintessenz der liberalen Prinzipien verstehen, werden direkt als Rechte dargestellt, die Individuen gegenüber ihrer Gesellschaft und Regierung stellen können. Andere verwenden den Gesellschaftsvertrag zur Rechtfertigung von einigen, aber nicht allen politischen Einschränkungen, die sie vertreten. In den Theorien von John Locke und Robert Nozick setzt das Argument des Gesellschaftsvertrages eine Verteilung von ‚natürlichen‘ Eigentumsrechten voraus. Für sie ist die Funktion des Gesellschaftsvertrages die Unterstützung und Regelung dieser Rechte, nicht dagegen ihre Umgestaltung oder Neuverteilung. Mit anderen Worten: Locke und Nozick schlagen vor, dass Eigentumsrechte direkt durch moralische Schlüsse gerechtfertigt werden sollten, d.h. ohne Berufung auf den Gesellschaftsvertrag. Ich habe den Verdacht, dass etwas davon für alle liberalen Theorien gilt. Der Gesellschaftsvertrag ist eher eine vermittelnde, als eine fundamentale Idee, nämlich eine, die voraussetzt, dass Individuen frei, gleich und rational orientiert sind, und dass die politische Macht einer Rechtfertigung bedarf, die aus den Interessen der Einzelnen folgt. Wenn man ihn auf diese Weise versteht, d.h. als eine Methode zur Modellierung der Kraft gewisser, tiefer liegender Annahmen oder Theoreme über die Rechtfertigung, dann kann der Gesellschaftsvertrag als eine rein hypothetische Funktion in normativen Schlussketten eingesetzt werden. Schon Kant und Rawls wiesen darauf hin, dass wir nicht darüber verwirrt zu sein brauchen, dass ein solcher Vertrag faktisch nie geschlossen wurde. Er ist dennoch ein nützlicher Test, der sich auf eine Verfassung oder eine Reihe von Gesetzen anwenden lässt. Wenn wir nämlich zu dem Schluss kommen, und sei es nur hypothetisch, dass unsere Gesetze oder unsere Verfassung nicht die Zustimmung aller jener erhalten hätte, die durch sie eingeschränkt werden, dann haben wir eine bedeutsame Unstimmigkeit zwischen unserer politischen Gestalt und dem grundlegenden (vorvertraglichen) Begriff des Respekts für jedes einzelne Individuum aufgefunden, d.h. eine Unstimmigkeit, die alle liberalen Philosophen angehen sollte, unabhängig davon, ob sie an den Feinheiten der Vertragstheorie interessiert sind oder nicht. Anmerkungen und weitere Lektüre: Manning, D. (1976): ‚Liberalism‘. London: Dent. (Ein kurzer Überblick über die liberale politische Philosophie.) Rawls, J. (1971): ‚A Theory of Justice‘. Oxford: Oxford University Press; dt.: ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘, Frankfurt am Main 1975. (Die ist die vermutlich berühmteste Konstruktion einer liberalen Theorie seit dem Beginn der Moderne; ihr liegt die Idee eines hypothetischen Gesellschaftsvertrages zugrunde, um Fragen der Gerechtigkeit und Fairness untersuchen zu können.) JEREMY WALDRON
Libertinismus
In der politischen Philosophie ist ‚Libertinismus‘ der Name für eine Reihe von Standpunkten, denen allen als zentraler Wert die Freiheit gemeinsam ist. Obwohl der Ausdruck gelegentlich auch auf Fassungen der antiautoritären marxistischen Theorie angewandt wird (die ‚libertäre Linke‘), wird er doch üblicherweise mehr mit einer Sichtweise assoziiert, die insbesondere die reine Form des Kapitalismus verteidigt. Die Libertären unterstützen den freien Markt und den uneingeschränkten freien Warenaustausch, und sie stellen sich einer paternalistischen oder moralistischen 1020
Liebe
Gesetzgebung entgegen (z.B. solchen Gesetzen, die das sexuelle Verhalten oder den Alkohol- oder Drogenkonsum regulieren wollen). Die Freiheit wird nach einer solchen Auffassung mit der Abwesenheit der Einmischung durch den Staat oder durch andere identifiziert. Der legitime Staat existiert lediglich zur Wache über die individuellen Rechte, zum Schutz der Menschen und ihres Eigentums gegen Gewalt, Diebstahl und Betrug. Dies ist der ‚Minimalstaat‘ oder ‚Nachtwächterstaat‘ des klassischen Liberalismus. Der Staat hat keine Autorität, um sich in die Umverteilung von Eigentum einzumischen (außer zur Berichtigung der Wirkungen von Diebstählen etc.), oder (zumindest in bestimmten Fassungen) nicht zur Verfolgung einer Politik, die auf ein späteres und gemeinsames Gutes aus ist. Solche Tätigkeiten werden von den Libertären als unrechtmäßige Einmischung in die individuellen Rechte aufgefasst, denen zufolge sie mit ihrer eigenen Person und ihrem Eigentum tun und lassen können, was sie möchten. JONATHAN WOLFF
Liebe
Die Liebe wird gemeinhin als ein mächtiges Gefühl verstanden, das mit einer intensiven Anhänglichkeit an einen Menschen, ein Tier oder einen Gegenstand verbunden ist und diesen sehr hoch bewertet. In einem gewissen Verständnis jedoch impliziert die Liebe überhaupt kein Gefühl, sondern ausschließlich ein aktives Interesse an dem Wohlergehen dieses Liebesgegenstandes. Nach wieder anderen Darstellungen ist die Liebe wesentlich eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit und Wechselwirkung beruht, statt auf Emotionen. Ferner gibt es viele Varianten der Liebe, einschließlich der erotischen und romantischen Liebe, der Freundschaftsliebe und der Liebe zur Menschheit oder zu Gott. Unterschiedliche Kulturen erkennen auch unterschiedliche Typen von Liebe an. Die Liebe hat im Übrigen eine komplizierte Archäologie: weil sie stark mit der frühen Erfahrung von Bindung verbunden ist, kann sie in einer Persönlichkeit auf unterschiedlichen Ebenen hinsichtlich ihrer Tiefe und Artikulation bestehen, was der Selbsterkenntnis spezielle Schwierigkeiten bereiten kann. Es wäre ein Fehler, sich um eine zu einheitliche Darstellung eines so komplexen Phänomenbereichs zu bemühen. Die Liebe wurde von vielen Philosophen als die Quelle großen Reichtums und starker Energie im menschlichen Leben verstanden. Aber selbst diejenigen, die ihren Beitrag preisen, sahen sie als mögliche Bedrohung eines vortrefflichen Lebens. Die Philosophen der westlichen Tradition waren deshalb um Vorschläge zu Reformen oder einem ‚Aufstieg‘ der Liebe bemüht um zu zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, die Energie und Schönheit dieser Leidenschaft zu erhalten und gleichzeitig ihre schlechten Konsequenzen vermeiden. Siehe auch: Familie, Ethik und; Gefühle, Philosophie der; Gefühle, Wesen der; Sexualität, Philosophie der MARTHA C. NUSSBAUM
Linguistik, Philosophie der Siehe: Sprache, Philosophie der
Linguistik, Strukturalismus in der Siehe: Strukturalismus in der Linguistik
Linguistische Relativität
Siehe: Sapir-Whorf-Hypothese 1021
Locke, John (1632–1704)
Literatur und Philosophie
Siehe: Alighieri, Dante; Bakhtin, Mikhail Mikhailovich; Barthes, Roland; Camus, Albert; Cavell, Stanley; Dekonstruktion, Derrida, Jacques; Dichtung; Diderot, Denis; Dodgson, Charles Lutwidge (Lewis Carroll); Dostojewskij, Fjodor Mikhailovich; Erzählung; Emerson, Ralph Waldo; Goethe, Johann Wolfgang von; Irigaray, Luce; Johnson, Samuel; Komödie; Kristeva, Julia; Lessing, Gotthold Ephraim; Montaigne, Michel Eyquem de; Poesie; Rorty, Richard McKay; Rousseau, Jean-Jacques; Sartre, Jean-Paul; Schiller, Johann Christoph Friedrich; Thoreau, Henry David; Tolstoi, Graf Leo Nikolajewitsch; Tragödie; Voltaire (François-Marie Arouet)
Llull, Ramon (1232–1316)
Ramon Llull war eine der außergewöhnlichsten Figuren im Europa des 13. Jahrhunderts. Er war ein autodidaktischer Laientheologe und Philosoph, der sich hauptsächlich mit der Reform der christlichen Gesellschaft und der Bekehrung von Ungläubigen beschäftigte. Die Einzelheiten seines Lebens sind dunkel, aber mehr als zweihundert seiner Schriften sind erhalten. Die meisten von ihnen führen sein persönliches dialektisches System aus, die ‚Große universelle Kunst des Auffindens der Wahrheit‘, und eine enzyklopädische Zusammenstellung von allgemeinen Lehren, die zu zeigen versuchen, wie alles menschliche Wissen mit der göttlichen Wahrheit übereinstimmt. Die ‚Große Kunst‘ wurde zu Llulls Lebzeiten weitgehend ignoriert und im späten Mittelalter als häretisch denunziert. Sie wurde jedoch in der Renaissance sehr populär im Sinne eines Programms für die universale Erkenntnis. Siehe: Bonaventura; Natürliche Theologie; Nicholas von Cusa MARK D. JOHNSTON
Locke, John (1632–1704) Einführung John Locke war der Erste der empiristischen Widersacher von Descartes, der eine vergleichbare Autorität unter seinen europäischen Zeitgenossen erreichte. Zusammen mit Newtons Physik stellte die Philosophie von ‚An Essay concerning Human Understanding‘ (dt.: ‚Essay über den menschlichen Verstand‘) den Kartesianismus allmählich in den Schatten und lenkte damit das europäische Denken in entscheidender Weise auf eine neue Bahn. Die neuplatonische Lehre vom Angeborenen wurde durch eine bescheidenere, naturalistische Konzeption unserer kognitiven Fähigkeiten ersetzt, indem er die sorgfältige Beobachtung und die systematische Beschreibung zur ersten Aufgabe der Untersuchung der Natur machte. Locke sah sich selbst als jemanden, der ein solches beschreibendes Vorhaben im Hinblick auf den Geist selbst durchführte. Die Theoriebildung ist die Konstruktion von Hypothesen auf der Grundlage von Analogien und nicht das Eindringen in das Wesen der Dinge durch übersinnliche Mittel. In der Religion nahm Locke eine ähnliche, antidogmatische Haltung ein, indem er insbesondere in seiner Schrift (‚Epistola de tolerantia‘ (dt.: ‚Brief über die Toleranz‘) und in ‚The Reasonableness of Christianity‘ (dt.: ‚Die Vernünftigkeit des Christentums‘) für die religiöse Toleranz und minimale Lehrvoraussetzungen eintrat. Im Wege seiner Verbindung mit dem Grafen von Shaftesbury wurde er an Regierungsgeschäften beteiligt, und daraufhin auch an der Revolutionspolitik gegen Karl II. und James II. Die letztere Beteiligung führte zu 1022
Locke, John (1632–1704)
seiner Exilierung und inspirierten seine ‚Two Treatises of Government‘ (dt.: ‚Zwei Abhandlungen über die Regierung‘), die eine Ablehnung des Patriarchalismus und ein Beweis der ersten Prinzipien für eine konstitutionelle Regierung im Interesse der Regierten enthielten und für das Recht der schlecht Regierten auf Rebellion eintraten. Locke veröffentlichte seine Hauptschriften erst nach der ‚Glorious Revolution‘ von 1688. Er übernahm eine Zeit lang wichtige Regierungspflichten und schrieb weiterhin zu vielen Themen bis zu seinem Tode, einschließlich der Ökonomie und der Bibelkritik. Sein ‚Essay‘, die ‚Epistola‘ und die ‚Zweite Abhandlung‘ wurden zu zentralen kanonischen Texten. Locke meinte, dass alle unsere Vorstellungen (ideas3) entweder in der Erfahrung gegeben oder komplexe Vorstellungen sind, die aus einfachen, derartig gegebenen Vorstellungen zusammengesetzt sind, dass aber all unser Wissen auf Erfahrung beruht. Er akzeptierte, dass die Geometrie beispielsweise eine apriorische Wissenschaft ist, leugnete aber, dass die Ideen, die Gegenstand des geometrischen Schlussfolgerns sind, angeboren sind. ‚Erfahrung‘ schließt ‚Reflexion‘ mit ein, d.h. die reflexive Bewusstheit unserer eigenen geistigen Vorgänge, die die Kartesianer als eine Art des Zugang zu unseren angeborenen Ideen betrachteten, die aber Locke nunmehr den ‚internen Sinn‘ nennt. Vorstellungen in seinem Geiste zu haben heißt, gegebene oder konstruierte sensorische oder quasi-sensorische Bilder zu sehen, also Dinge als durch die Sinne wahrgenommen zu erfahren. In der Abstraktion betrachten wir jedoch nur die Aspekte dessen, was präsentiert wird, beispielsweise kann ein geometrischer Beweis nur die Aspekte einer gezeichneten Figur berücksichtigen, wobei dieser Beweis Verallgemeinerungen auf alle Figuren zulässt, die ihr in dieser Hinsicht ähneln. Universales Wissen ist daher die Wahrnehmung einer Beziehung zwischen abstrakten Vorstellungen. Wir haben aber auch unmittelbares Wissen in der Empfindung, dass nämlich bestimmte externe Dinge Vorstellungen in uns verursachen. Dieses Bewusstsein erlaubt uns, die Vorstellung als ein Zeichen seiner externen Ursache zu verwenden. Beispielsweise bedeutet die Empfindung von Weiß, dass irgendein Merkmal eines Gegenstandes diese Empfindung verursacht hat. Die Repräsentation ist deshalb grundlegend kausal. Die Kausalität überbrückt den Graben zwischen Wirklichkeit und Vorstellungen. Folglich haben wir Empfindungswissen von Dingen nur vermöge ihrer Wirkkräfte und Wissen über ihre Existenz ohne Wissen über ihr Wesen. Jede Art, wie die Dinge auf die Sinne einwirkt, lässt eine phänomenal einfache Vorstellung entstehen, die eine Qualität des Gegenstandes ist, auf uns einzuwirken. Einige einfache Vorstellungen, nämlich jene der ‚primären Qualitäten‘, also der Festigkeit, der Ausdehnung, der Form, der Bewegung oder der Ruhe und der Anzahl (wobei diese Liste variieren mag) können als solche verstanden werden, dass sie den Ursachen ähneln. Andere aber, nämlich die Vorstellungen der sog. ‚sekundären Qualitäten‘ wie Farbe, Geschmack, Geruch usw. können nicht so verstanden werden. Ferner formen wir auch Vorstellungen von den Wirkkräften der Gegenstände um mit ihnen umzugehen. Unsere Vorstellung von jeglicher Art von substanziellem Ding ist daher komplex, einschließlich der Vorstellungen von all den Qualitäten und Kräften, durch Die Übersetzung des englischen Wortes ‚idea‘ erfolgt hier durchgehend als ‚Vorstellung‘. Dies entspricht der gängigen Übersetzung dieses Wortes bei Locke. Gleichwohl ist sie nicht ganz unproblematisch, insofern die Verwendung von ‚idea‘ bei Locke selbst nicht durchgängig eindeutig ist. Auf diese Ambivalenz geht der Beitrag allerdings weiter unten (§ 3) auch selbst ein.
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Locke, John (1632–1704)
die wir den Begriff der ‚Substanz‘ kennen und definieren. Zusätzlich schließt die Vorstellung eine ganz allgemeine Vorstellung von Substanz ein, im Sinne eines abstrakten Trägers von Qualitäten, und zwar als Platzhalter für die unbekannte zugrunde liegende Ursache und ihre Einheit. Locke unterscheidet zwischen der allgemeinen Substanz, der Materie, und der ‚spezifischen Verfassung‘ der Materie, aus der sich die beobachtbaren Eigenschaften ergeben, durch die wir die beobachtbaren Eigenschaften erfahren, und durch die wir jede einzelne Substanzart definieren und ihnen einen Namen geben wie z.B. ‚Gold‘, ‚Pferd‘, ‚Eisen‘ etc. Diese ‚wirkliche Verfassung‘ oder dieses ‚reale Wesen‘ ist nur im Verhältnis zu unserer Definition oder dem ‚nominalen Wesen‘ der Spezies unterscheidbar. Locke dehnt diese begriffliche Sichtweise der Klassifikation zwecks Individuation einer berühmten und immer noch einflussreichen Schlusskette dergestalt aus, dass eine Person nicht durch eine immaterielle Seele individuiert ist, sondern durch Vereinheitlichung und fortgesetztes Bewusstsein. Weil uns das wirkliche Wesen der Substanzen unbekannt ist, sind wir nur zu einer wahrscheinlichen Überzeugung über sie in der Lage, nicht dagegen zu einer ‚Wissenschaft‘ von ihnen. In der Mathematik werden jedoch wirkliche Wesenheiten erkannt, denn es handelt sich hier um abstrakte Vorstellungen, die ohne Bezugnahme auf die Wirklichkeit konstruierbar sind. Gleiches gilt für Vorstellungen ‚gemischter Art und Weise‘ und ‚Beziehungen‘, einschließlich der Vorstellungen von sozialen Handlungen, Rollen und Beziehungen, die Gegenstand von apriorischen Wissenschaften sind und natürliches, soziales und positives Recht betreffen. Die drei entsprechenden Gesetzgeber sind Gott, die öffentliche Meinung und die Regierung. Gottes Autorität leitet sich von seinem Status als Schöpfer ab, und sein wohlwollender Wille ist das natürliche oder moralische Gesetz für uns. Lockes politische Theorie betrifft die Autorität von Regierungen, der er im Grunde als das Recht aller menschlichen Individuen zur Aufrechterhaltung des natürlichen Rechts sieht, insofern es einem zentralen Akteur um seiner Macht und Unparteilichkeit Willen übertragen wurde. Wirtschaftliche Veränderungen, so wendet er ein, machen diese Machtgewährung zwingend. Im Naturzustand besitzen die Menschen, was sie sich erarbeitet haben, wenn sie es nutzen können und genug für andere übrig bleibt. Allerdings geht die Einzäunung von Land (d.h. dem privaten Grundbesitz, was nach Locke jedem nützt, weil die Produktivität sich dadurch erhöht) und der Institution des Geldes (was es nach Locke sowohl möglich macht, als auch moralisch rechtfertigt, das Produkt von dem privatisierten Land zu genießen) über dieses primitive Eigentumsrecht hinaus, und es bedarf jetzt einer Befehlsgewalt zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Gerechtigkeitsregeln zum Wohle aller. Eine jede Regierung hat deshalb ein gewisses Vertrauen zu erfüllen, und sollte so organisiert sein, dass sie diese Rolle auch gewährleisten kann. Ein Führer, der nur in seinem eigenen Interesse regiert, büßt im Krieg mit seinen Untergebenen wie ein Krimineller sämtliche Rechte ein. In diesem Falle ist die Rebellion als Selbstverteidigung gerechtfertigt. 1. Leben und Hauptwerke 2. Die Struktur von Lockes Empirismus 3. Sinnesvorstellungen und Reflexionsvorstellungen: ihre Aufbewahrung und Abstraktion 4. Fünf Arten von Vorstellungen 1024
Locke, John (1632–1704)
5. Substanzen, gemischte Formen und die Verbesserung der Sprache 6. Erkenntnis und Glaube 7. Glaube, Vernunft und Toleranz 8. Personale Identität 9. Ethik, Motivation und freier Wille 10. Politische Theorie 11. Einfluss 1. Leben und Hauptwerke John Locke wurde am 28. August 1632 in Wrington, Somerset in England geboren. Sein Vater war ein kleiner Landbesitzer, Rechtsanwalt und unterer Verwaltungsbeamter, der im Bürgerkrieg auf der Seite des Parlaments unter dem einflussreicheren Alexander Popham gedient hatte. Durch Popham wurde Locke zum Schüler der Westminster Schule, die seinerzeit die beste Schule in England war. In Westminster wurde er im Mai 1652 für ein Studium an der Christ Church in Oxford ausgewählt, und zwar bedingt auf Lebenszeit. Während der nächsten fünfzehn Jahre in Oxford erlangte Locke seine akademischen Abschlüsse (B.A. 1656, M.A. 1658) und übernahm verschiedene Verwaltungsämter an diesem College. Im Jahre 1661 wurde er Tutor. Zwischen 1660 und 1662 schrieb er drei Manuskripte über Fragen der Kirche und des Staates, über das individuelle Bewusstsein und die religiöse Autorität, die heute beide zusammen veröffentlicht werden und unter dem Titel ‚Two Tracts on Government‘ bekannt sind, sowie ‚An necesse sit dari in Ecclesia infallibilem Sacro Sanctae Scripturae interpretem?‘ (dt.: ‚Ist es notwendig, in der Kirche einen unfehlbaren Interpreten der Heiligen Schrift zu haben?‘). Obwohl seine Antwort auf die letzte Frage voraussehbar negativ war, äußerte er in den ‚Tracts‘ doch eine weniger tolerante Auffassung über eine gewissensbasierte religiöse Unorthodoxie und schrieb den Regierenden das Recht zur Bestimmung der Einzelheiten der Religionsausübung zur Bewahrung des öffentlichen Friedens zu. Während er im Jahre 1664 Gutachter für Moralphilosophie an der Christ Church war, vollendete er das lateinische Manuskript, dass nunmehr unter dem Titel ‚Essays [or Questions] on the Law of Nature‘ (dt.: ‚Essays [oder Fragen] über das Naturgesetz‘) bekannt ist, das bereits ein Vorbote seiner reifen Ansichten war, sowohl seinen allgemeinen Empirismus, als auch seine Konzeption der moralischen Verpflichtung im Sinne einer Verpflichtung gegenüber Gott zum Gehorsam gegenüber dem Naturrecht4. Dieses Werk lehnt auch undurchschaubare
4 Im Englischen wird an dieser Stelle der Ausdruck natural law verwendet, was üblicherweise mit ‚Naturgesetz‘ übersetzt wird, während die Übersetzung von ‚Naturrecht‘ ins Engliche ‚natural justice‘ lautet. In der traditionellen angelsächsischen Philosophie besteht jedoch eine enge begriffliche Verbindung von Naturgesetz und Naturrecht, und zwar dergestalt, dass das Naturrecht als jene Gruppe von Regeln, die das Verhältnis der Menschen untereinander und zu Gott bestimmt, eine Teilmenge aller von Gott gegebenen Regeln ist, die die gesamten ‚Naturgesetze‘ in diesem Sinne jenes Wortes ausmachen. Im Deutschen bezeichnet der Ausdruck ‚Naturgesetze‘ dagegen nur die von der Naturwissenschaft ermittelten Regeln des objektiven, z.B. physikalischen Weltgeschehens; er umfasst damit nicht, wie im Englischen, auch die ‚natürlichen Gesetze‘ unter Menschen. Deshalb wird in diesem Beitrag der Ausdruck natural law, sofern er sich auf menschliches Verhalten bezieht, als ‚Naturrecht‘, und in den übrigen Fällen als ‚Naturgesetze‘ übersetzt. [WS]
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und dogmatische Berufungen auf das Bewusstsein zugunsten einer Vernunft ab, die auf der Erfahrung aufbaut. Die Religionspolitik, die in jener Zeit ein großer Teil der Politik überhaupt war, gehörte nicht zu den einzigen Interessen außerhalb der Vorlesungen. Seine Vorlesungsskripte (‚commonplace books‘) dieser Zeit zeigen auch ein Interesse an anglikanischer Theologie, und um das Jahr 1658 las er auch zur Medizin und fertigte hierzu Vorlesungsskripte mit einem Eifer an, der auf eine entsprechende Berufswahl schließen ließ. Dieses Interesse dehnte er auf die Chemie, und in den 1660er Jahren auch auf die neue mechanische Philosophie aus, wie sie z.B. von Robert Boyle vertreten wurde, welchen Locke 1660 getroffen hatte. Locke las auch die philosophischen Hauptwerke von Descartes und einige von Gassendi, doch die Aufzeichnungen zeigen eine Konzentration auf deren Auffassungen zur Korpuskulartheorie, wobei er allerdings deren metaphysische und erkenntnistheoretische Grundlagen umging (siehe Descartes, R., §§ 11–12), Gassendi, P.). Offensichtlich lockte die Naturphilosophie ihn zu dieser Zeit mehr als die Metaphysik, obwohl der etwas derbe Empirismus der ‚Essays on the Law of Nature‘ durchaus dem von Gassendi nahe steht. Doch Locke konnte den Kampf zwischen den neuen Philosophen, den ‚Göttern‘ und den ‚Giganten‘, d.h. zwischen denen, die von Descartes geführt waren und in der aristotelisch-augustinischen metaphysischen Tradition standen, und denen, die Gassendi und Hobbes anhingen und die alten empiristischen und materialistischen Theorien weiterentwickelten, auf die Dauer nicht indifferent zuschauen. Im Jahre 1665 wurde Lockes universitäres Leben durch eine diplomatische Mission nach Brandenburg als Sekretär von Sir Walter Vane unterbrochen. Ungefähr in dieser Zeit entschied er sich, nicht in die Kirche einzutreten, erhielt sich aber den einzigen Weg zur Aufrechterhaltung seines Studentenstatus (ohne Verpflichtung zum Aufenthalt in Oxford), indem er formal zur Medizin wechselte. Im Jahre 1666 kam es zu einem folgenschweren Treffen mit Lord Ashley (Anthony Ashley Cooper, der 1672 zum Grafen von Shaftesbury wurde), in dessen Londoner Haushalt Locke danach im Jahre 1667 eintrat. Hier erhielten seine medizinischen und politischen Interessen gleichermaßen eine etwas praktischere Ausrichtung, als es zuvor der Fall war. Er begann eng mit dem herausragenden Arzt Thomas Sydenham zusammenzuarbeiten, und im Jahre 1668 überwachte er erfolgreich eine Operation an Lord Ashley, wo es um die Drainage eines Leberabszesses ging. In den folgenden Jahren arbeitete er weiterhin als medizinischer Ratgeber innerhalb von Ashleys Kreis und überwachte z.B. die Geburt von Ashleys Enkel, der später zum philosophisch geneigten Dritten Grafen von Shaftesbury wurde. Ein Manuskript dieser Zeit in Lockes Handschrift (das inhaltlich aber vielleicht ganz oder teilweise von Sydenham stammt) mit dem Titel ‚De Arte Medica‘, äußert sich sehr skeptisch über den Wert von Hypothesen in der Medizin im Gegensatz zur Erfahrung. In derselben Periode, vermutlich beeinflusst durch seinen Schutzherrn, schrieb Locke das Manuskript ‚Essay concerning Toleration‘ (dt.: ‚Aufsatz über die Toleranz‘, 1667), wo er von seiner früheren, etwas nervös-unliberalen Rechtfertigung einer Beschränkung der Toleranz abwich und nunmehr die Toleranz gegenüber einer jeden religiösen Überzeugung vertrat, die keine wirkliche moralische oder politische Gefahr darstellte – allerdings unter Vorbehalt des Ausschlusses der Atheisten und der Römisch-Katholischen. Im Jahre 1667 wurde Ashley Mitglied der regierenden ‚Geheimgruppe‘, die auf Clarendons Zeit als Lordkanzler folgte, und im Jahre 1672 1026
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wurde er selbst Lordkanzler. Unter Ashley und für eine gewisse Zeit auch noch nach Ashleys Vertreibung aus dem Amt im Jahre 1673 war Locke an Regierungsgeschäften beteiligt. Er begann mit der Arbeit an wirtschaftlichen Fragen, und für einige Jahre half er bei der Organisation der neu gegründeten Kolonie Carolina. Er war von 1670 bis 1675 Archivar der Verbrauchssteuereintreiber (vielleicht als Pfründe gedacht), von 1672–1673 Sekretär für Aufführungen (unter kirchlicher Schirmherrschaft) und von 1673–1674 Sekretär und Schatzmeister des Handels- und Plantagenrates (was kein Pfründe-Amt war). Dennoch fand er noch die Zeit für neue intellektuelle Interessen. Noch vor 1671 schrieb er für eine Diskussion unter Freunden nieder, was er später als seine ersten Gedanken über die Verstandeskräfte ausgab (was in Anbetracht der bereits vorliegenden ‚Essays on the Law of Nature‘ unpräzise ist). Er fand dieses Thema packend genug, um ihm eine ausführlichere Abhandlung zu widmen, als es eine solche Gelegenheit unter dem Titel ‚Intellectus humanus com cognitionis certitudine, et assensus firmitate‘ (dt.: ‚Der menschliche Intellekt, die Gewissheit der Erkenntnis und die Bestätigung des Glaubens‘) aus dem Jahre 1671 gefordert hätte, und entwarf das Werk im selben Jahr neu unter dem Titel ‚An Essay concerning the Understanding, Knowledge, Opinion and Assent‘, also als das, was heute als die Entwürfe A und B der ‚Essays über den menschlichen Verstand‘ bekannt sind. 1675 ging Locke nach Frankreich und begann zur selben Zeit sein Tagebuch zu schreiben. Er traf Ärzte und Philosophen, unterzog sich Leseprogrammen in französischer Philosophie und setzte seine Arbeit an seinem ‚Essay‘ fort. Nach seiner Rückkehr nach England im Jahre 1678 wurde er nach seiner Niederschrift von ‚Popish plot‘ (dt.: ‚Papistischer Komplott‘) wieder von der Politik vereinnahmt, sowie von seinen Versuchen, Karls Bruder James von der Thronfolge auszuschließen. Karl löste das Parlament im Jahre 1681 auf, und Shaftesbury führte eine Gruppe von Whigs (einer losen Sammlung von Oppositionellen, die sich in der British Whig Party zusammenfanden) an, die einen Aufruhr planten. Während dieser Zeit schrieb Locke wahrscheinlich einen großen Teil seiner ‚Zwei Abhandlungen über die Regierung‘. Zumindest die erste sollte Bewegungen zum Ausschluss von James unterstützen, und die zweite sollte möglicherweise später die tatsächlich eintretende Rebellion stützen. Ebenfalls schrieb er zusammen mit James Tyrrell eine lange Antwort auf Edward Stillingfleets ‚Unreasonableness of Separation‘ (dt.: ‚Unvernunft der Trennung‘), womit er die Position der Nonkonformisten gegen Stillingfleets Kritik verteidigte. Im Jahre 1682 musste Shaftesbury ins Exil gehen und starb kurz darauf. Als 1683 die Rye House Verschwörung zur Ermordung von Karl und James aufgedeckt wurde, ging Locke selbst klugerweise nach Holland, wo er weitere und offener agierende Exilanten traf. Seine Verbindungen führten 1684 zum Ausschluss aus seinem Christ Church Studentendasein, und zur Zeit der Monmouth-Rebellion versteckte er sich, um seiner Verhaftung zu entgehen. Seinen intellektuellen Tätigkeiten ging er jedoch unvermindert nach, und der ‚Essay‘ war im Jahre 1686 weitgehend fertig. In den Jahren 1685–1686 schrieb er die ‚Epistola de Tolerantia‘ (dt.: ‚Brief über die Toleranz‘), vielleicht als Erwiderung auf den Widerruf des Ediktes von Nantes. Er gewann Freunde und diskutierte theologische Fragen mit dem ermahnenden Philippus van Limborch und Jean Le Clerc, veröffentlichte mehrere Artikel in der Zeitschrift des Letzteren, der ‚Bibliothèque universelle et historique‘, einschließlich
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einer Rezension von Newtons ‚Principia‘ (1686) und einem zweiundneunzig Seiten starken Auszug aus dem ‚Essay‘ (1688). Im Jahre 1688 brachte die ‚Glorious Revolution‘ die Amtsenthebung von James mit sich, und Locke kehrte im folgenden Jahr nach England zurück. Er lehnte den Posten des Botschafters von Brandenburg ab, nahm einen anspruchslosen Posten als Berufungsbevollmächtigter mit einem Jahresgehalt von 200 Pfund an und begann die Veröffentlichung seiner Schriften in Angriff zu nehmen. Die ‚Epistola de Tolerantia‘ wurde unter einem Pseudonym in Holland im Mai 1689 veröffentlicht, und Popples englische Übersetzung folgte innerhalb eines Monats. Die ‚Zwei Abhandlungen über die Regierung‘ wurden korrigiert und anonym veröffentlicht, und der ‚Essay‘ folgte im Dezember (mit expliziter Autorenangabe), obwohl beide Bücher auf das Jahr 1690 datiert waren. ‚Ein zweiter Brief über die Toleranz‘ (1690) und ‚Ein dritter Brief für die Toleranz‘ (1692) erschienen als Erwiderung auf die Angriffe eines anglikanischen Kirchenmannes namens Jonas Proast. ‚Some Considerations of the Consequences of the Lowering of Interest and Raising the Value of Money‘ (dt.: ‚Einige Betrachtungen über die Konsequenzen der Zinssenkung und der Anhebung des Geldwertes‘) basierte teilweise auf einem Manuskript von 1668 und wurde 1691 (datiert 1692) als Mittel gegen die parlamentarischen Maßnahmen dieser Zeit veröffentlicht. Im Jahre 1691 akzeptierte Locke die Einladung einer alten Freundin namens Damaris Masham und ihres Mannes, bei ihnen in Oates in Essex zu leben, so weit es seine Geschäfte erlaubten. Das Landleben scheint sein Asthma gelindert zu haben, das ihn seine letzten Jahre quälte. ‚Some Thoughts concerning Education‘ (dt.: ‚Einige Gedanken über die Erziehung‘, 1693, überarbeitet 1695), eine bedeutende Arbeit in der Geschichte der Erziehungstheorie, basierte auf einer Reihe von Ratgeber-Briefen an seinen Freund Edward Clarke. Im Jahre 1694 kam die zweite Auflage des ‚Essay‘ mit wichtigen Ergänzungen heraus, einschließlich eines umstrittenen Kapitels über die Identität. 1695 publizierte Locke eine neue Arbeit, diesmal wieder anonym, mit dem Titel ‚The Reasonableness of Christianity‘ (dt.: ‚Die Vernünftigkeit des Christentums‘). John Edwards Angriff auf seine liberale, minimalistische Interpretation des christlichen Glaubens wies er in zwei ‚Vindications‘ (dt.: ‚Rechtfertigungen‘, 1695 und 1697) zurück. Locke war weiterhin in wirtschaftlichen Fragen tätig, und 1695 trat er in einen Ausschluss zur Beratung des Schatzkanzlers in der Geldpolitik bei. Seine Empfehlungen, die durch weitere Papiere unterlegt wurden, wurden angenommen. Im Jahre 1696 erlebte er eine wichtige Regierungsernennung als Rat für Handel und Plantagen, und über vier Jahre übernahm er recht gut bezahlte Ämter im englischen Handelsdirektorium mit dem beachtlichen Jahressalär von 1.000 Pfund. Zur selben Zeit geriet er in eine ausgedehnte Kontroverse mit Edward Stillingfleet, der den ‚Essay‘ theologisch verdächtig fand. Der Schrift ‚A Letter to the Right Reverend Edward, Lord Bishop of Worcester‘ (dt.: ‚Ein Brief an Hochwürden Edward, Lordbischof von Worcester‘) folgten zwei weitere Briefe als Erwiderung auf Stillingfleets Antworten. Trotz des streitigen Stils ist Lockes Argumentation oft eine zwingende Klarstellung seiner Position. Der Austausch hatte bedeutende Änderungen in der vierten Auflage des ‚Essay‘ (1700) zur Folge, und lange Passagen wurden als Fußnoten in die posthum veröffentlichte fünfte Auflage eingearbeitet. Im Juni 1700 trat er von seinem Posten im Handelsdirektorium als ein kranker Mann zurück und lebte fortan die meiste Zeit in Oates. Er folgte dort seinen bereits lang bestehenden Interessen an der 1028
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Bibelkritik und machte sich an die Arbeit, die nach seinem Tode unter dem Titel ‚A Paraphrase and Notes on the Epistles of St Paul‘ (dt.: ‚Eine Kommentierung und Notizen über die Briefe des Hl. Paulus‘) veröffentlicht wurden und ein bedeutender Beitrag zur Hermeneutik sind. 1702 schrieb er den ‚Discourse of Miracles‘ (dt.: ‚Abhandlung über die Wunder‘) und begann 1704 den ‚Fourth Letter on Toleration‘ (dt.: ‚Vierter Brief über die Toleranz‘). Am 28. Oktober 1704 starb er, als Damaris Masham ihm aus dem Buch der Psalmen vorlas. Über die letzten Jahre seines Lebens wurde er allgemein, zusammen mit Newton, als einer der beiden intellektuellen Giganten Britanniens angesehen, und diese Reputation wurde durch seinen Tod nicht gemindert. 2. Die Struktur von Lockes Empirismus Lockes reife Philosophie ist begriffsempiristisch, und das heißt: nicht erkenntnisempiristisch. Er war der Auffassung, dass alle unsere Begriffe aus der Erfahrung gewonnen werden, aber nicht unsere gesamte Erkenntnis auf der Erfahrung beruhe. Allerdings war seine erste Position, wie sie in den ‚Essays über das Naturgesetz‘ und dem ersten Teil von ‚Entwurf A‘ zum Ausdruck kommt, genau in diesem Sinne noch erkenntnisempiristisch; sogar die Axiome der Geometrie gewinnen seine Zustimmung „nur durch das Zeugnis und die Versicherung unserer Sinne“ (Entwurf A I: 22 – 23). Dem Entwurf A zufolge nehmen wir allerdings an, wenn wir der Meinung sind, dass gewisse Beziehungen ohne Ausnahme bestehen, dass sie universell bestehen und wenden sie daraufhin als Maßstab unserer Messungen an, was sich in der Bedeutung unserer Ausdrucksweise verkörpert. Locke sieht dies als etwas an, was eine Wahl impliziert: ein Axiom kann entweder als eine ‚aufschlussreiche‘ (engl.: ‚instructive‘), aber ungewisse Zusammenfassung von Erfahrungen verstanden werden, oder aber als eine Quasi-Definition, die auf der Erfahrung gegründet ist, und damit „nur verbal […] und nicht aufschlussreich“. Später jedoch im Entwurf A verwirft er die Vorstellung, dass geometrische Axiome empirisch interpretiert werden können und versteht sie nur noch in dem Sinne, in dem man sie als Demonstration auffasst, oder als das „reine Zeigen der Dinge oder Verbringen vor unsere Sinne oder unser Verstehen“ (Entwurf A I: 50), d.h. durch Intuitionen von wahrgenommenen oder vorgestellten Exemplaren (z.B. einer Grafik) als ihren Gegenständen. Gleichzeitig erkennt er an, dass mathematische Aussagen plausiblerweise nicht nur als verbal angesehen werden können. Die Möglichkeit alternativer Interpretationen universeller Aussagen als entweder gewiss, aber verbal, oder als aufschlussreich, aber ungewiss, wird nun auf Aussagen über Substanzen beschränkt, wie z.B. ‚der Mensch ist rational‘. Locke hat sich in der Tat vom Erkenntnisempirismus zu einem Begriffsempirismus hin bewegt, der auch sog. ‚aufschlussreiches‘ apriorisches Wissen zulässt (wobei Letzteres inzwischen als der Vorläufer von Kants synthetischem Apriori gilt, siehe Kant, I., § 4). Lockes Intuitionismus formte seinen Angriff auf die Lehre vom Angeborenen, die charakteristisch für die platonisch-augustinische Tradition der Kartesianer ist. Indem er mit Aussagen beginnt, widerlegt Locke den Beweis der angeblich universellen Zustimmung bzw. die Zustimmung seitens aller, die ihre Vernunft gebrauchen. Aber Vorstellungen sind das, was in Gedanken vor den Geist tritt, und Aussagen sind Vorstellungen, die in Beziehungen zueinander stehen. Lockes zugrunde liegende These ist die, dass die Auffassung, entweder die Erkenntnis oder die Vor1029
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stellungen angeborenerweise ‚in den Geist eingeprägt‘ seien, und zwar im Sinne einer reinen Möglichkeit (und sie sind natürlich nicht in allen Menschen von Geburt an verwirklicht), im Gegensatz zu jedem einsehbaren Begriff von ‚im Geiste sein‘ steht: „Wenn eine Vorstellung niemals vom Geist wahrgenommen wurde, befand sie sich auch niemals im Geist“ (‚Essay‘ I.iv.20). Locke gesteht zwar mögliche Erkenntnis und mögliche Vorstellungen zu, insofern sie von der Erinnerung zurückgehalten werden und damit wiedergewonnen werden können, aber er versteht sowohl die Intentionalität, als auch die Erkenntnis als Wahrnehmung und findet deshalb die Rede von Wahrnehmungen unsinnig, die niemals bewusst und wirklich wurden. Dieses strikt intuitionistische Modell schließt die Lehre von angeborenen Möglichkeiten als einsehbare Möglichkeit aus. Der rationalistische Intuitionismus ist aus Lockes Sicht schlicht inkohärent. Und weil die einzigen dispositionalen Vorstellungen und Erkenntnisse das sein können, was in der Erinnerung zurückgehalten wird, muss das, was vor den Geist als ein Gegenstand der Intuition oder der Demonstration tritt, erfahrungsmäßig oder durch Wahrnehmung verwirklicht werden. Locke wendet ferner ein, dass es keine allgemeinen Maximen der Logik oder der Mathematik gibt, denen alle zustimmen würden, sobald es um die Anwendung der Vernunft geht, denn viele rational denkende, aber ungebildete Menschen seien nie mit solchen abstrakten Prinzipien umgegangen. Er akzeptiert nicht, dass ein vernünftiges Denken, dass lediglich mit logischen Prinzipien im Einklang ist, dadurch bereits eine Zustimmung zu diesen Prinzipien bedeuten soll, oder dass beispielsweise die Unterscheidung zweier Dinge bereits stillschweigend die Anwendung der Vorstellung von Identität impliziert. Explizite abstrakte Prinzipien und Vorstellungen kommen sehr spät und mit so großen Schwierigkeiten, dass die Menschen über solche Vorstellungen wie die Unmöglichkeit, die Identität, die Pflicht, die Substanz, Gott und dergleichen mehr nicht einer Meinung sein können, obwohl doch gerade dies die Vorstellungen sein sollen, die angeblich angeborenerweise einleuchten. Dass rationale Menschen gewissen Aussagen auch auf erste Ansprache hin zustimmen, ist unbestritten, doch solche Menschen werden den fraglichen Ausdruck lediglich durch Abstraktion von der Erfahrung verstanden haben. Deshalb werden sie zustimmen, und nicht etwa, weil die jeweilige Aussage angeboren ist, sondern weil sie evident ist. Wenn man die reine Fähigkeit zur Wahrnehmung solcher Wahrheiten als den Besitz angeborener Prinzipien beschreibt, heißt dies, jede Vorstellung von universellem Wissen zu einer angeborenen Vorstellung zu machen, egal wie spezifisch oder abgeleitet sie ist. Und wenn er sich den praktischen Prinzipien und der Vorstellung von Gott zuwendet, dann beruft sich Locke auf die Anthropologie, um die Behauptung zu widerlegen, dass irgendeines von diesen Prinzipien universell anerkannt sei. Die hauptsächliche Stoßkraft seines Beweises ist jedoch begrifflicher Natur. Lockes Empirismus hat aber noch ein weiteres, zentrales Merkmal. Wie Gassendi und Hobbes gewährt er den einzelnen Zulieferungen der Sinne ausdrücklich eine unabhängige Autorität. Descartes hatte argumentiert, dass die Sinneseindrücke einer Interpretation unter Anwendung angeborener, rein intellektueller Vorstellungen bedürfen, damit wir ihre Gegenstände als unabhängige Körper wahrnehmen. Für Descartes ist ferner die natürliche, sinnesbasierte Überzeugung schutzlos gegenüber einem skeptischen Argument; sicheres Wissen über die Existenz von Körpern kann nur durch einen rationalen Beweis erlangt werden, der die Reflexion der Rolle 1030
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des Mechanismus der Sinne einschließt (siehe Descartes, R., § 9). Diese betonte Unterordnung der Sinne unter die Vernunft wies Locke ebenso fest zurück: die Sinne sind „die eigentlichen und einzigen Richter“ der Existenz von Körpern. Er sieht die Sinne als Erkenntnis liefernde Vermögen eigener Art, die vor jeglichem Verstehen ihres Mechanismus gegeben sind: „das tatsächliche Empfangen von Vorstellungen von außerhalb […] lässt uns wissen, dass etwas zu dieser Zeit ohne uns existiert, was die entsprechende Vorstellung in uns verursacht, selbst wenn wir niemals erfahren oder darüber nachdenken, wie das vor sich geht“ (‚Essay‘ IX.xi.2). Der Zweifel des Skeptikers über die externe Welt sei nur ein Vorwand, den man nicht ernst zu nehmen braucht: „Niemand kann ernstlich so skeptisch sein, dass er sich über die Existenz solcher Dinge ungewiss ist, die er sieht und fühlt“. Indem er Lukrez wiederholt, sieht Locke die Vernunft, die im skeptischen Argument selbst angewandt wird, mit den Sinnen stehen oder fallen: „Wir können überhaupt nicht handeln, als mittels unserer Sinnesvermögen, noch von Erkenntnis an sich reden, als durch die Hilfe unserer Sinnesvermögen, die passend eingerichtet sind zum Begreifen selbst noch dessen, was Erkenntnis ist“ (‚Essay‘ IX.xi.3). Locke identifiziert einzelne Merkmale der Sinneserfahrung, die dem Skeptizismus widersprechen. Beispielsweise hängen Sinnesvorstellungen von physischen Sinnesorganen ab, und sie folgen systematisch und unvermeidlich unserer jeweiligen Situation; die Zulieferungen unterschiedlicher Sinne sind kohärent zueinander; es gibt einen „manifesten Unterschied“ zwischen Vorstellungen der Sinne und solchen der Erinnerung und der Einbildung (am dramatischsten im Hinblick auf den Schmerz), und ein solcher Unterschied besteht auch zwischen dem Handeln in der Welt und unserer Einbildung von unserem Handeln, usw. (‚Essay‘ IX.xi.4–8). Doch alle diese Überlegungen sind einfach nur „zusammenlaufende Gründe“, die ferner, wenn auch nicht notwendig, die „Versicherung bestätigen, die wir von unseren Sinnen selbst erhalten“ (‚Essay‘ IX.xi.3). Lockes Erklärung der Gewissheit und des Umfanges des sog. ‚Empfindungswissens der Existenz‘ hängt an dieser Sichtweise, dass wir uns der Sinneswahrnehmung unmittelbar bewusst sind, d.h. nicht nur der Empfindung von Vorstellungen, sondern davon, dass sie durch Dinge verursacht werden, die sich außerhalb von uns befinden. Wir sind deshalb in der Lage, die unbekannte Ursache vermittels ihrer Wirkung in uns zu denken: „Während ich dies schreibe, habe ich durch das Papier, das meine Augen affiziert, die entsprechende Vorstellung in meinem Geist, so dass, wodurch dies auch immer verursacht sein mag, ich es als weiß bezeichne. Hierdurch weiß ich, dass die Qualität oder das Akzidenz (d.h. das, dessen Erscheinung vor meinen Augen ist, verursacht immer diese Vorstellung) wirklich existiert und ihm ein Sein auch ohne mich zukommt“ (‚Essay‘ IX.xi.2). Diese Behauptung ist mit einer anderen verbunden, dass die Vorstellungen einfacher Sinnesqualitäten immer wahr seien, d.h. wirklich und angemessen: „Ihre Wahrheit besteht in nichts anderem als in diesen Erscheinungen, wie sie in uns hervorgebracht werden, und müssen zu diesem Wirkkräften passen, die [Gott] den äußeren Gegenständen eingepflanzt hat, denn sonst könnten sie gar nicht in uns hervorgerufen werden“ (‚Essay‘ II.xxxii.14). Einfache Vorstellungen sind nach Locke sog. ‚Unterscheidungszeichen‘, die ihre Funktion gut genug erfüllen, welcher unbekannte Unterschied auch immer hinter der empfundenen Unterscheidung liegt. Aber diese Funktion erzeugt noch eine andere Eignung, nämlich jene zu ihrem Ausdruck in der natürlichen Sprache der Gedanken. Die Vorstellung von ‚weiß‘ bedeutet, dass es seine unbekannte Ursache anzeigt, und 1031
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sie bedeutet auch, dass sie für dieses Merkmal der Dinge in den Gedanken steht. Damit erlaubt uns das begrenzte kausale Wissen, das uns die Empfindung liefert, ein inhaltsvolles Denken und Wissen der äußeren Welt. Die Vorstellung von der Wirkkraft dehnt ein solches vortheoretisches Wissen aus: unsere Vorstellung vom Schmelzen des Wachses, zusammen mit der Vorstellung von einer aktiven oder passiven Wirkkraft, kann als ein Zeichen aufgefasst werden von irgendetwas in der Sonne, das das Wachs schmelzen lässt, oder von irgendetwas im Wachs, was sein Schmelzen verursacht. Folglich entscheidet sich Locke, die Vorstellung von den Wirkkräften als einfache Vorstellungen zu behandeln, und das Wissen von diesen Kräften als Beobachtungswissen. Die Sinne gewähren uns keine Erkenntnis vom Wesen oder der Natur der Körper, sondern sie gewähren uns eine Erkenntnis ihrer Existenz und versetzen uns in die Lage, zwischen ihnen zu unterscheiden. 3. Sinnesvorstellungen und Reflexionsvorstellungen: ihre Aufbewahrung und Abstraktion Lockes Anwendung des Wortes ‚Vorstellung‘ (engl.: ‚idea‘) ist als eine Antwort auf eine Reihe von vorangehenden Umständen zu verstehen. Wie Descartes verwendet er dieses Wort mehrdeutig sowohl für repräsentative Zustände (Vorgänge, Änderungen) des Geistes, und noch häufiger für die repräsentierten Dinge, wie sie von den so genannten ‚unmittelbaren‘ Gegenständen der Wahrnehmung des Denkens repräsentiert oder gedacht werden. Eine Vorstellung im Geiste zu haben ist für Locke allgemein etwas, wo etwas unter einem gewissen Begriff anstatt als ein psychologischer Zustand betrachtet wird. ‚Eine Beziehung zwischen Vorstellungen wahrzunehmen‘ heißt eine Beziehung zwischen Dingen, wie sie erfasst werden, wahrzunehmen. Aber Lockes Darstellung schaut auch zurück auf die epikureische Sichtweise der Empfindung als Zeichen ihrer ungewussten Ursachen in der Bewegung der Atome oder Korpuskeln (siehe § 2). Dies ist eine Sichtweise, die von der kartesischen und scholastischen Annahme spezifischer repräsentativer Elemente in den Gedanken wegführt, hin zu einem rein kausalen Verständnis der Repräsentation. Dabei behandelt er die Vorstellungen als reine Empfindungseffekte im Geist. Locke löste die Spannung zwischen diesen unterschiedlichen Konzeptionen der Vorstellung nie auf, obwohl jede von ihnen für seine Theorie notwendig ist. Locke widerspricht fest der augustinisch-kartesischen Sichtweise, derzufolge das Wissen und die Wahrheit in der Übereinstimmung menschlicher Auffassungen mit Gottes Auffassungen bestehen, wobei die göttlichen Vorstellungen oder Archetypen in der Schöpfung angewandt und uns durch unserem aktiven Gebrauch der Vernunft offenbart werden. Für Descartes ist die menschliche Vernunft nur zufällig an unserer Sinnesempfindung beteiligt, während es für Locke gar keine rein intellektuellen Vorstellungen gibt. Die Aufgabe, die traditionell dem Intellekt zugeordnet wird, nämlich das Denken der Universalien, schreibt Locke der sog. ‚Abstraktion‘ zu, die er als die Fähigkeit des Geistes zu einer gewissen Herauslösung von Elementen der Roherfahrung auffasst und sie als „Maßstäbe und Vertreter einer Klasse“ einsetzt. Was dies bedeutet, wird noch betrachtet werden. Obwohl Locke manchmal schreibt, dass alle Worte für Vorstellungen stehen, sind die Vorstellungen doch die geistigen Korrelate von Ausdrücken oder Namen, d.h. Worte können an der Subjekts- oder der Prädikatsstelle stehen. Er hängt der traditionellen Auffassung an, dass sprachliche Partikel, wie die Präpositionen, 1032
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Konjunktionen, die Kopula und die Negation, keine Vorstellungen bedeuten außer „der Verbindung, die der Geist mit den Vorstellungen oder mit den Aussagen oder zwischen diesen herstellt“ (‚Essay‘ III.vii.1). Sie benennen nicht, sondern drücken „Handlungen des Geistes in der Rede“ aus, beispielsweise drückt die englische Konjunktion ‚but‘ verschiedene mentale Vorgänge aus, die zusammen als ‚verbindende Sonderung‘ (engl.: ‚discretive conjunction‘) bezeichnet werden. Die geistigen Handlungen oder Vorgänge, die durch ‚ist‘ oder ‚ist nicht‘ ausgedrückt werden, sind entweder „die Wahrnehmung der Übereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung mit Vorstellungen“, was Lockes Definition zumindest der allgemeinen Erkenntnis ist, oder die Annahme einer solchen Beziehung, was Lockes Darstellung der Überzeugung oder des Urteils ist. Wie es in der früheren Logik üblich war, wird das reine Denken einer Aussage nicht von der Erkenntnis oder dem für wahr haltenden Urteil unterschieden. Das Ziel des 2. Buches des ‚Essay‘ ist es darzulegen, dass alle unsere Vorstellung von der Erfahrung abgeleitet sind, d.h. dass die Art und Weise, auf die wir die Welt denken (einschließlich unserer selbst) letztlich durch die Art und Weise determiniert ist, auf die wir die Welt erfahren: „Erfahrung schließt nicht nur die Sinneserfahrung, sondern auch die Reflexion ein, allerdings nicht die Reflexion im heutigen Sinne des Wortes, sondern reflexives Bewusstsein unserer eigenen mentalen Operationen“. Platoniker, Aristoteliker und Kartesianer rechneten alle das reflexive Bewusstsein des Denkens dem Intellekt, und nicht den Sinnen zu. Für Descartes besteht die Angeborenheit solcher Vorstellungen als Substanz, Denken und sogar Gott in der Potentialität ihres Ausdrücklichwerdens durch die Reflexion des Geistes auf sich selbst, und Leibniz argumentiert entsprechend, dass Locke bereits durch die Zulassung der Reflexion neben den Sinnen die angeborenen Vorstellungen zulässt (siehe Leibniz, G.W., § 8). Locke behauptet jedoch, dass die Reflexion, „obwohl sie keine Sinnestätigkeit ist, weil sie nichts mit externen Gegenständen zu tun hat, diesen doch sehr ähnlich ist, und deshalb durchaus als interner Sinn bezeichnet werden kann“ (‚Essay‘ II.i.4). Von da ab behandelt er die Sinne und die Reflexion als theoretisch äquivalent (obwohl die reflexive Erkenntnis von der jeweils eigenen Existenz für ihn eine intuitive und keine sinnliche ist – ‚Essay‘ IV.ix.3). Diese Bewegung dehnt nicht nur das empiristische Prinzip auf solche nichtsinnlichen Begriffe wie das Wollen, das Wahrnehmen, die Kontemplation oder die Hoffnung aus, sondern widerspricht auch dem kartesischen Modell des Denkens als sich selbst transparent und vertritt stattdessen eine Kluft zwischen der Art, wie das Denken dem Subjekt erscheint, und was es wirklich an sich selbst ist, wobei Letzteres unbekannt bleibt. Locke besteht auch darauf, dass die Reflexion eine Bewusstheit zweiter Ordnung ist, wobei er voraussetzt, dass die Sinneswahrnehmung eine mentale Operation erster Ordnung ist. Und obwohl „Vorstellungen im Intellekt zugleich mit der Empfindung bestehen“ (‚Essay‘ II.i.23), scheint es doch so, dass der Geist die Vorstellungen „zurückhalten und unterscheiden“ müsse, bevor man sagen könne, dass einem Vorstellungen zur Verfügung stehen, indem sie in der Erinnerung zur Anwendung als Vorbote des Denkens gespeichert seien. Speziell die Vorstellungen der Reflexion erlangt man nur „in der Zeit“, und hier gelangt der Ausdruck ‚Reflexion‘ in die Nähe seiner modernen Nähe zur Kontemplation. Kinder, so impliziert Lockes Darstellung sowohl der Reflexionen, als auch der Wortpartikel, können Vorstellungen unterscheiden oder zusammensetzen, ohne dabei die Vorstellung des Unterscheidens oder 1033
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Zusammensetzens zu haben, und wenige von denen, die solche Wortpartikel zum Ausdruck verschiedener mentaler Handlungen verwenden, achten jemals darauf, sie auch benennen zu können. Locke behauptet also, dass der Verstand im Empfang von Vorstellungen gänzlich passiv sei, er lässt jedoch zu, dass die Aufmerksamkeit, genauso wie die Wiederholung, sehr bei der „Fixierung irgendeiner Vorstellung in der Erinnerung“ hilft (‚Essay‘ II.x.3). Die sog. ‚Zurückhaltung‘ von Vorstellungen in der Erinnerung ist daher eine notwendige Bedingung des diskursiven Denkens, und seine Beschreibung wiederholt auf bedeutsame Weise Hobbes’ Darstellung der Erinnerung als ‚verfallende Sinneswahrnehmung‘. Den gesamten ‚Essay‘ durchdringt die Frage, was für einen Verfall die Bilder im Gehirn erleiden, und ebenfalls eine Feindseligkeit gegen die Trennung des Intellekts von der Einbildungskraft. Descartes’ berühmter Beweis für eine solche Trennung, dass wir präzise über ein Tausendeck nachdenken können, obwohl wir uns doch kein bestimmtes Bild davon machen können, wird von Locke direkt zurückgewiesen: das Nachdenken darüber wird durch unsere genaue Vorstellung von der Anzahl der Seiten möglich (die selbst von der Technik des Zählens abhängt), und nicht durch eine klare und bestimmte Vorstellung vom Umriss. Klare Vorstellungen sind definitionsgemäß jene, die wir „in einer wohlgeordneten Empfindung oder Wahrnehmung“ empfangen. Lockes Behandlung der Abstraktion stimmt daher mit einer ausdrücklichen Empfindungslehre überein. ‚Abstrakte Vorstellungen‘ sind Einzeldinge, die nur „in der Fähigkeit, […] die ihnen durch ihre Bedeutung oder Repräsentation vieler einzelner Dinge zukommt“, universell sind (‚Essay‘ III.iii.11). Locke meint, dass der Geist im abstrakten Denken sich auf gewisse Weise in Beziehung zu Sinnesbildern setzt und diese verwendet, und nicht etwa, dass er sinnentranszendente Gegenstände des Intellekts selbst herstellt. Abstrakte Vorstellungen seien demzufolge das, was wir auf bestimmte Weise im allgemeinen Denken vor unserem Geiste haben, aber diese Bestimmtheit kann auch durch Teilbetrachtungen erreicht werden, nicht aber durch eine absolute Trennung: „Viele Vorstellungen erfordern andere, die für ihre Existenz oder Auffassung notwendig sind, und die bereits sehr bestimmt sind. Die Bewegung kann ohne den Raum weder sein, noch gedacht werden“ (‚Essay‘ II.xiii.11–13). Die sehr abstrakten Vorstellungen des Seins und der Einheit sind solche von etwas, das auf irgendeine Weise als existierend oder als Eines gedacht wird. Die Geometrie verschaffte Locke sein Paradigma der „Wahrnehmung der Beziehung zwischen Vorstellungen“. Aber wo die Kartesianer die Rolle der geometrischen Darstellung als Anregung einer intellektuellen Vorstellung sahen, ist für Locke, wie schon für Hobbes, der Gegenstand des Nachdenkens und die Quelle der Evidenz die grafische Abbildung selbst, sei sie wirklich oder nur vorgestellt (Kants ‚Intuition‘ geht teilweise auf Locke zurück). Angesichts dieser strukturellen Merkmale seiner Theorie wird man nicht leugnen können – obwohl dies einige taten – dass Lockes Vorstellungen im Kern Sinnesbilder oder reflexive Bilder sind (siehe Hobbes, T., § 4; Kant, I. § 5). 4. Fünf Arten von Vorstellungen Das 2. Buch des ‚Essay‘ präsentiert eine Alternative zu Aristoteles’ Kategorienlehre, d.h. der traditionellen Typologie jener Entitäten, die einer Benennung oder Prädizierung zugänglich sind (siehe Aristoteles, § 7). Der Umstand, dass die Klassifikation der Lockeschen Vorstellungen eine der Vorstellungen, und keine der Dinge 1034
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ist, betont, dass seine Kategorien rein begrifflicher Natur sind. Er identifiziert fünf große Typen: die einfachen Vorstellungen, die Vorstellungen einfacher Art und Weise, die Vorstellungen gemischter Art, die Vorstellungen der Substanzen und die Vorstellungen von Beziehungen. Die einfachen Vorstellungen stehen an unterster Stelle in der Lockeschen Ordnung der Erkenntnis, so wie die Substanzen an erster Stelle in der aristotelischen Ordnung des Seins stehen. Einfache Vorstellungen sind notwendig in der Erfahrung gegeben, wobei die komplexen (zusammengesetzten) Vorstellungen im Wege einer ‚Vergrößerung‘ (‚Wiederholung‘) oder ‚Zusammensetzung‘ einfacher Vorstellungen konstruiert werden können. Vorstellungen von Beziehungen ergeben sich auch aus dem Vergleich von Vorstellungen. Abstrahieren ist nach Locke eher eine Sache der Konzentration auf eine Vorstellung, oder besser noch, ein einzelner Aspekt einer Vorstellung, sei er gegeben oder konstruiert, statt der Erzeugung einer neuen (siehe § 3). Locke erkannte manchmal an, dass das überragende Modell der Zusammensetzung problematisch in seiner Anwendung sein kann, ja es wird bereits durch seine formale Einführung des Begriffs der einfachen Vorstellung zweifelhaft. Die Vorstellungen der Sinnesqualitäten eines Körpers, so behauptet Locke, sind selbst dann, wenn sie vom selben Körper und in gewissem Sinne vom selben Sinnesorgan sind, dennoch offenkundig voneinander unterschieden, wobei jede von ihnen „nichts als eine einheitliche Erscheinung oder eine Auffassung des Geistes ist“ (‚Essay‘ II.ii.1). Schreibt man allerdings den Auffassungsunterschied beispielsweise zwischen der Form eines Dinges, seiner Bewegung und seiner Farbe einer ursprünglichen Artikulation der Erscheinung zu, so läuft dies auf eine petitio principii hinaus, d.h. auf eine Frage, die ihre Antwort bereits selbst voraussetzt. Unter dem Stichwort der einfachen Vorstellungen führt Locke seine berühmte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten aus (‚Essay‘ II.viii). Da die Ursache einer einfachen Vorstellung sich hinsichtlich ihres Charakters sehr von der Vorstellung selbst unterscheiden kann, sollten wir die Vorstellung im Geiste von der entsprechenden Qualität, d.h. von der Wirkkraft in Körpern, die die Vorstellung hervorruft, sondern. Gewisse Qualitäten sind jedoch für unsere Auffassung von Körpern an sich notwendig. Dies sind die primären Qualitäten der „Festigkeit, der Ausdehnung, der Figur, der Bewegung oder Ruhe und der Anzahl“, also genau jene, die auch in den korpuskulartheoretischen Spekulationen eine Rolle spielten. Lockes Vorschlag (der die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen der Repräsentation, die in § 3 dieses Beitrages beschrieben wird, zum Ausdruck bringt) ist jener, dass in der Wahrnehmung einer primären Qualität die repräsentierte Ursache als die Grundlage der Wirkkraft im wahrgenommenen Gegenstand qualitativ ähnlich der verursachten Vorstellung ist: „Ein Kreis und ein Quadrat bleibt [jeweils für sich] dasselbe in der Vorstellung und in der Existenz“ (‚Essay‘ II.viii.18). Nur deshalb geht es an, dass die Einwirkungen äußerer Körper auf die Sinne „durch einen Anstoß [erfolgt], [was] die einzige Art und Weise ist, durch die wir Körper in ihrer Einwirkung erfassen können“ (‚Essay‘ II.viii.12); dies ist eine Berufung auf den Gemeinplatz des 17. Jahrhunderts, dass mechanische Erklärungen besonders nachvollziehbar seien. Dann aber müssen Vorstellungen von „Farben, Klängen, Geschmack etc.“, also Lockes sog. ‚sekundäre Qualitäten‘, auch mechanisch stimuliert sein. Folglich sind sekundäre Qualitäten „nichts als die Gegenstände selbst, aber [in Gestalt von] Kräfte[n], die verschiedene Empfindungen in uns durch ihre primären Qualitäten hervorbringen, z.B. jene der Ausdehnung, der Figur, der Oberflächengeschaffenheit 1035
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und der Bewegung ihrer nicht wahrnehmbaren Teile“ (‚Essay‘ II.viii.10). Ontologisch sitzen sie im selben Boot wie die Wirkkraft des Feuers zur Verursachung von Schmerz oder auch zum Schmelzen des Wachses. Die Vorstellung der Wirkkraft selbst schreibt Locke der Erfahrung von regelmäßigen Mustern der Veränderung zu, was Anlass gibt zu der Erwartung, dass „ähnliche Veränderungen zukünftig an demselben Ding vor sich gehen werden, und zwar durch ähnliche Akteure und auf eine ähnliche Weise“, und dann zu dem Gedanken führt, dass in einer Sache die Möglichkeit zur Änderung gegeben sei, und in einer anderen „die Möglichkeit zur Verursachung dieser Änderung“ (‚Essay‘ II.xxi.1). So bilden wir uns die Vorstellung der aktiven und passiven Wirkkraft: die Kraft des Feuers zum Schmelzen des Wachses, und die Kraft des Wachses zum GeschmolzenWerden sind beides Aspekte des Feuers und des Wachses, die nur durch ihre gemeinsam auftretende Wirkung erkannt und identifiziert werden kann. Die Vorstellung der Wirkkraft ist daher ein Platzhalter für Attribute, die im Prinzip auch direkter erkannt werden könnten. Die Vorstellungen oder Erfahrungen der Lust und des Schmerzes sind wichtige einfache Vorstellungen, denn sie sind für unsere Vorstellungen des Guten und des Bösen verantwortlich, und sie sind „die Gelenke, an denen sich unsere Leidenschaften drehen“ (‚Essay‘ II.xx.3). (Diese hedonistische Theorie der Motivation und des Wertes wird noch weiter unten in § 9 dieses Beitrages untersucht.) Die sog. ‚einfachen Weisen‘ der Vorstellungen bilden eine weitere problematische Kategorie. Locke beginnt mit den Weisen der Ausdehnung, also dem Gegenstand der Geometrie, die er mit den Weisen der Dauer vergleicht. Hier lautet seine These, dass wir die Vorstellungen bestimmter Weisen der Ausdehnung oder Dauer (d.h. bestimmte Längen und Figuren bzw. Zeitabschnitte) in der Erfahrung erwerben, und dass wir sie dann wieder herbeiholen (oder teilen), so dass wir daraus die Vorstellungen möglicher Längen, Figuren oder der Zeitdauer konstruieren, die wir zuvor noch nicht erfahren haben. Grob gesagt bedeutet der Ausdruck ‚Veränderung‘ hier die Zusammensetzung von Ähnlichem mit Ähnlichem. Dasselbe Modell verwendet Locke auch für die Darstellung der Zahlen, die man sich durch die Wiederholung oder Addition von Einheiten aneignet, unterstützt und geordnet durch die sprachlichen Techniken des Zählens. Doch er erkennt auch qualitativ einfache Weisen der Ausdehnung an und gibt effektiv zu, dass Vorstellungen von unterschiedlichen „Schattierungen derselben [erfahrenen] Farbe“ konstruierbar sind. Selbst im Umgang mit den quantitativen ‚Weisen‘, deren ‚Wiederholung‘ noch am plausibelsten erscheint, ist es problematisch, was eine einfache Vorstellung eigentlich ist. Die Vorstellung einer bestimmbaren Ausdehnung wäre ein plausibler Kandidat, da seine Koordinaten solche ‚Weisen‘ wären, aber das Wiederholungsmodell geht von einfachen Einheiten aus. Locke antwortet hierauf ungeduldig, dass die kleinsten sensiblen Punkte „vielleicht die geeignetsten sind, die wir hier als einfache Vorstellung dieser Art betrachten sollten“ (‚Essay‘ (5. Aufl.) II.xv.5 f.), aber er war offenkundig mehr darum besorgt zu beweisen, dass Vorstellungen neu bestimmter Figuren irgendwie aus dem Gegebenen heraus konstruierbar seien und damit ein platonischkartesisches Argument für das Angeborensein zu untergraben, anstatt auf der Angemessenheit eines strikten Modells der Zusammensetzung zu beharren. Ein weiteres Ziel der Lockeschen Darstellung der einfachen Vorstellungsweise ist Descartes’ begriffliche Identifikation des Raumes und der Materie in der These, 1036
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dass das Wesen der Materie die Ausdehnung ist. Für Locke sind sowohl das Wesen der Materie, als auch die Natur des Raumes unbekannt. Er wendet ein, dass unsere Vorstellung eines Vakuums nicht widersprüchlich ist, weil unsere gewöhnliche Vorstellung des Körpers dessen Festigkeit genau umfasst wie seine Ausdehnung, und er wehrt sich gegen die Wahl zwischen relationalen und realistischen Theorien des Raumes. Ein Vergleich des ‚Essay‘ mit früheren Notizen und Entwürfen zeigt jedoch, dass Locke, nachdem er zunächst eine Hobbessche relationale Sichtweise vertreten hatte, mit der Zeit einen Realismus favorisierte, der nahe dem von Newton stand (siehe Descartes, R., §§ 8, 11; Newton, I.). Vorstellungen der gemischten Weise entstehen demnach durch die Kombination von unähnlichen einfachen Vorstellungen, wie z.B. in der Vorstellung des Regenbogens. Aber Lockes Paradigmen sind Vorstellungen von menschlichen Handlungen und Institutionen, die Gegenstände der demonstrativen Moral und der politischen Theorie. Ähnlich wie die Vorstellungen von geometrischen Figuren können die Vorstellungen der gemischten Weise auch regelgerecht geformt werden ohne Rücksicht darauf, was existiert. Ethisches Denken kann niemals schaden, wenn es um die Hervorbringung einer Tugend oder von Motiven oder von politischen Zuständen, die nirgendwo tatsächlich verwirklicht sind, geht. Vorstellungen von Substanzen sind etwas anderes, denn sie betreffen das Wirkliche, und nicht das Ideelle: „Wenn wir von Gerechtigkeit sprechen oder von Dankbarkeit […] dann enden unsere Vorstellungen in den abstrakten Vorstellungen dieser Tugenden und schauen nicht weiter, wie sie es tun, wenn wir von einem Pferd oder von Eisen sprechen, deren spezifische Vorstellungen wir nicht nur als etwas, was nur im Geiste ist, sondern als Dinge an sich selbst betrachten, was auf die ursprünglichen Muster dieser Vorstellungen zurückgeht“ (‚Essay‘ III.v.12). Wo die Vorstellungen von Substanzen auf der Annahme aufbauen, dass die komplexe Vorstellung ein wirklich oder natürlich vereintes Ding repräsentiert, dort ist die Einheit der gemischten Vorstellungsweisen im Wesentlichen begrifflich. Tatsächlich sagt er: „Obwohl […] es der Geist sein mag, der die Sammlung zusammenstellt, ist es doch der Name, der sie wie ein Knoten fest aneinander bindet.“ Unterschiedliche Sprachen teilen das große Feld des menschlichen Lebens und seiner Handlungen auf unterschiedliche Weisen ein, bestimmt durch die Praktiken und Prioritäten der Gemeinschaften, die diese Sprachen sprechen. Diese These kann man auf die natürlichen Vorstellungsweisen wie z.B. das Frieren ausdehnen, denn selbst hier noch ist der Ausdruck an eine starke Erscheinung gebunden und nicht an eine natürliche Grenze, die den natürlichen Prozess aus dem allgemeinen Prozess der Natur ‚ausschneidet‘. Dies, so nimmt Locke plausibel an, ist hierbei anders als beispielsweise bei Pferden. Der Hauptgedanke hinter Lockes etwas verwirrender Darstellung der Vorstellungen von Substanzen ist, dass unsere Vorstellung eines Dinges oder eines Stoffs aus Vorstellungen seiner Qualitäten zusammengesetzt ist, aber das Ding selbst ist kein Zusammengesetzes von Qualitäten (‚Essay‘ II.xxiii). Die Substanz-AkzidenzStruktur ist ein Merkmal unserer Vorstellungen und Sprache, nicht dagegen eine Struktur der Wirklichkeit. Sie ist ein Merkmal, das unser Nichtwissen der zugrunde liegenden Natur der Dinge kennzeichnet, denn wir denken und sprechen ständig von einer Substanz als einem Ding, das bestimmte Qualitäten besitzt, d.h. als einem „substratum, in dem [die Qualitäten] fortbestehen, und von dem sie ausgehen, und die wir deshalb Substanz nennen“. Der Irrtum der dogmatischen Philosophen liege 1037
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darin zu denken, dass sie einfache Begriffe der Substanzen bilden können, die sich mit ihrer einheitlichen Natur decken. Die Aristoteliker seien von der Sprache so verführt worden, dass sie, nur weil wir „der schnellen Aussprache wegen“ einen Namen verwenden, z.B. ‚Gold‘ oder ‚Schwan‘, bereits meinen, dies wäre ein sog. ‚einfacher Ausdruck‘, der auch einer ‚einfachen Auffassung‘ zukäme. Die Kartesianer fassen die einfachen Wesenheiten der Materie und des Geistes als Ausdehnung bzw. Gedanken auf. Wir sind jedoch so weit von einem Erfassen der Natur irgendeines komplexen Dinges entfernt, dass wir, wenn man nach dem Subjekt der Qualitäten fragt, durch die wir es definieren (z.B. die Farbe und das Gewicht des Goldes), als beste Antwort darauf nur sagen können, es seien feste, ausgedehnte Teile, d.h. dass wir nur die mechanistische korpuskulare Hypothese vertreten können, die von Boyle vorgetragen wurde. Wenn man aber fragt: ‚Was ist es, dem die Festigkeit und Ausdehnung innewohnt?‘, dann können wir nur sagen: ‚Wir wissen nicht, was dies ist‘. Unsere Vorstellung von der Substanz ist eine von „nichts als der angenommenen, wenn auch unbekannten Träger dieser Qualitäten, die wir für existent halten, da sie nicht sine re substante bestehen können, d.h. ohne etwas, was sie trägt.“ Eine solche Vorstellung sei „dunkel und relativ“. Vorstellungen von bestimmten Substanzen sind „nichts anderes als verschiedene Kombinationen einfacher Vorstellungen, die in einer solchen, uns freilich unbekannten Ursache ihrer Verbindung miteinander bestehen, welche bewirkt, dass das Ganze für sich bestehen kann“ (‚Essay‘ II.xxiii.6). Es kommt Locke darauf an, dass keine Theorie, nicht einmal die Korpuskular-Hypothese, eine Darstellung der eigentlichen Natur der Dinge gibt. Schließlich gibt es die Vorstellungen der Beziehungen, wie sie sich z.B. in Worten wie Vater, Schwiegersohn, Feind, jung, schwärzer, rechtmäßig etc zeigt. (‚Essay‘ II.xxv–xxviii). Wie die Vorstellungen von den Weisen können auch die Vorstellungen von den Beziehungen ohne Ansehung der Wirklichkeit konstruiert werden, speziell wenn es sich dabei um konventionelle Beziehungen handelt. Es seien sogar angemessene Vorstellungen von natürlichen Beziehungen möglich, meint Locke, ohne angemessene Vorstellungen der auf sie bezogenen Dinge; wir können das Wesen der Vaterschaft begreifen ohne das Wesen des Menschen oder sogar des Mechanismus der Reproduktion zu kennen. Hier geht es ihm darum, dass die biologischen Einzelheiten für die Rechte und Pflichten eines Vaters irrelevant sind; diese Frage wird rational in seinem eigenem Angriff auf den Patriarchalismus in den ‚Zwei Abhandlungen‘ durchgeführt. Aus seiner Sicht sind die Beziehungen theoretisch den Vorstellungsweisen nahe. Doch Locke erlaubt gewissen Beziehungen, dass sie eine ganz eigene ontologische Bedeutung haben. Kausale, räumliche und temporale Beziehungen seien universelle Beziehungen, die allen endlichen Wesen anhingen. Für die Identität und die Verschiedenheit gilt dies ebenfalls; ein Ding unterscheidet sich von allem sonst Existierenden an einem anderen Ort zur selben Zeit, „wie ähnlich und ununterscheidbar es auch sonst in jeglicher Hinsicht sein mag“, und die Kontinuität der individuellen Substanzen ist raumzeitlich. Der letzte wichtige Beziehungstyp, der von ihm zur besonderen Diskussion herausgegriffen wird, ist jener der moralischen Beziehungen bzw. die Beziehungen der Handlungen zu irgendeinem Gesetz, „wobei uns das Gute oder Böse durch den Willen und die Macht des Gesetzgebers zugeschrieben wird“ (‚Essay‘ II.viii.5).
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5. Substanzen, gemischte Formen und die Verbesserung der Sprache Nach Lockes Darstellung der Kommunikation (‚Essay‘ III.i–ii) sollten Namen durch allgemeine Konvention oder besondere Vereinbarung im Geist des Hörers dieselben Vorstellungen hervorrufen, mit denen sie im Geist des Sprechers assoziiert waren. Ein kooperativer Fortschritt in den Naturwissenschaften hänge hier von klaren und distinkten oder auch bestimmten und bestimmenden Vorstellungen ab, d.h. von der konsistenten und übereinstimmenden Assoziation von Vorstellungen und Worten (‚Essay‘ II.xxix; vgl. ‚Sendschreiben an den Leser‘). Lockes Diskussion der Sprache ist geformt von seiner Überzeugung, dass die Bedingungen der Übertragung von Wissen zu seiner Zeit noch nicht ganz erforscht waren, insbesondere in zwei Bereichen. Erstens gab es keine Einstimmigkeit bezüglich der Klassifizierung der Substanzen (im Sinne lebender Dinge und Chemikalien), die auf einer sorgfältigen Beobachtung und dem Experiment aufbauten. Zweitens variierten die Vorstellungen, die mit Namen von gemischten Vorstellungsweisen assoziiert wurden, bei verschiedenen Personen oft in ihrem Gebrauch, und sogar bei einer und derselben Person zu unterschiedlichen Zeiten. Besonders zwei Irrtümer verschleiern diese Unzulänglichkeit der Sprache. Der erste ist die Annahme, dass eine gemeinsame Gruppe von Worten auch eine gemeinsame Sprache im vollen Wortsinne sichert, d.h. mit jeweils gemeinsamen Satzbedeutungen. So können die Menschen sich über Ehre und Mut streiten, ohne zu merken, dass sie unterschiedliche Dinge oder sogar überhaupt nichts mit diesen Worten meinen. Die zweite irrige Annahme besteht darin, dass Worte angeblich eine Bedeutung dadurch haben, dass sie direkt für Dinge stehen, als wäre die Bedeutung von ‚Salz‘, ‚Gold‘ oder ‚Fisch‘ demonstrativ durch das fixiert, was es benennt. Die erste Annahme korrumpiert hauptsächlich unsere Gedanken über die gemischten Vorstellungsweisen, die zweite bringt „auf bestimmte Weise Substanzen und ihre Namen zusammen“ (‚Essay‘ III.ii.5). Lockes radikale und einflussreiche Sichtweise über den letzteren Irrtum wird nachfolgend als erste betrachtet. Die sog. ‚Vorstellung der Substanz im Allgemeinen‘, wie sie in der Vorstellung von bestimmten Substanzen angewandt wird, ist die Vorstellung von etwas Unbekanntem, das den Attributen zugrunde liegt, die uns durch die Erfahrung bekannt sind (siehe § 4 dieses Beitrages). Viele, die Leibniz folgten, haben eingewandt, dass Locke hier irrigerweise das Nichtwissen des Subjektes eines Attributes postuliert, was man nicht mit dem Nichtwissen der Attribute des jeweiligen Subjekts verwechseln darf. Er meint jedoch, dass unser Nichtwissen der Substanz eines Körpers und der Substanz des Geistes ein Nichtwissen der Natur dieser Dinge ist, d.h. ein Nichtwissen, das sich in unserer Unfähigkeit zum Verständnis des internen Zusammenhanges oder (wie er in späteren Schriften hinzufügt) der gegenseitigen Anziehung von Körpern manifestiert, oder zur Erklärung, was in uns denkt, und wie es dies tut. Seine Zustimmung zur Korpuskular-Hypothese und Newtons Mechanik ist bedingt: die beste verfügbare physikalische Theorie lässt noch zu viel unerklärt, um als die ganze Wahrheit gelten zu können (wogegen Newton nicht widersprach). Die Vorstellung von der Substanz sei ein Platzhalter für das Wesen, das uns unbekannt ist, aber gewusst werden kann, wenn auch möglicherweise nicht durch Menschen (siehe Newton, I.). Ein Merkmal der Lockeschen Theorie, das einer gegenwärtigen Interpretation Schwierigkeiten bereitet, ist die Unterscheidung, die er zwischen den Begriffen 1039
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‚Substanz‘ und ‚wirkliches Wesen‘ trifft. Das wirkliche Wesen einer Sache, sagt Locke, kann man als „das eigentliche Sein des Dinges auffassen, wodurch es ist, was es ist“, die „wirkliche innere, aber im Allgemeinen in Substanzen unbekannte Verfassung des Dinges, von dem seine entdeckbaren Qualitäten abhängen“ (‚Essay‘ III. iii.15). Gleichwohl bezieht sich das „Wesen im gewöhnlichen Sprachgebrauch auf Arten“ (‚Essay‘ III.vi.4). Arten und Gattungen, oder auch Sorten von Dingen, behauptet Locke, sind Produkte des Verstandes, deren Mitgliedschaft durch abstrakte Vorstellungen bestimmt wird, die auf der Grundlage von erfahrenen Ähnlichkeiten produziert werden, und nicht durch die Gegenwart in jeder spezifischen Form, und auch nicht durch eine gemeinsame Ableitung von einem göttlichen Urtypus. Letztlich seien sie eine Sache der willkürlichen Definition, welche beobachtbaren Ähnlichkeiten wir als notwendig für eine Mitgliedschaft für diese oder jene benannte Art gelten lassen. Es sei nicht gerecht, dass bestimmte wirkliche Wesenheiten unbekannt seien, denn, so argumentiert Locke, selbst wenn wir die wirkliche Verfassung der Dinge so gut wie Uhrmacher das Funktionieren der Uhren kennen würden, so läge es doch immer noch an uns, wo wir die Grenzen zwischen den Arten ziehen würden, und was wir unter unsere abstrakten Vorstellungen oder sog. ‚nominalen Wesenheiten‘ fallen lassen. Das wirkliche Wesen einer Art kann daher nur „jene wirkliche Verfassung sein […] die die Grundlage aller jener Eigenschaften ist, die in dieser Art kombiniert werden, und die fortgesetzt miteinander existieren, d.h. die nominale Essenz“ der Spezies (‚Essay‘ III.vi.6). Hier ist das Vorbild des einen universellen Stoffes, der auf bestimmte Weise als eine Vielheit von Partikeln verändert wird, die ihrerseits mechanisch aufeinander einwirken, so dass sie das materielle Ding der gewöhnlichen Erfahrung bilden. Da sich auf dieser fundamentalen Ebene diese beobachtbaren Quasi-Maschinen voneinander lediglich quantitativ unterscheiden und dies auch in unendlicher Abstufung können, so gibt es keine absoluten Grenzen zwischen ihnen. Sie sind nur die unterscheidbaren Ähnlichkeiten und Unterschiede, die aus den ihnen zugrunde liegenden, mechanischen Unterschieden folgen, also die „Räder oder Federn darin“. Und noch gewisser sei unsere wirkliche Einteilung nicht auf der Grundlage unseres Wissens von solchen Grenzen errichtet. Die Rede vom wirklichen Wesen einer Spezies und die Unterscheidung zwischen seinen Eigenschaften und seinen Akzidenzien (die Eigenschaften ergeben sich aus dem Wesen) widerspricht daher den aristotelischen Annahmen, und zwar de dicto, sowie im Verhältnis zu der nominalen Essenz, durch die der Name dieser Art definiert wird (siehe Aristoteles, § 8; De re / De dicto; Essentialismus). Diese Konzeption des wirklichen Wesens schreibt ihm eine Rolle zu, die in enger Beziehung zu jener der Substanz steht. Was ist am Ende die „unbekannte Ursache der Einheit“ von irgendeiner der „Kombinationen einfacher Vorstellungen“, durch die „wir uns spezifische Arten von Substanzen vor Augen führen“, wenn nicht das wirkliche Wesen, das der fraglichen nominalen Essenz zugrunde liegt? Doch Locke unterscheidet manchmal sowohl den Begriff und die Erkenntnis des wirklichen Wesens von dem Begriff und der Erkenntnis der Substanz. Dies tut er jedoch nicht, weil die Substanz bei ihm ein unheilbar unbekanntes Subjekt ist, das sogar noch dem Wesen zugrunde liegt, sondern weil sie der gemeinsame Stoff ist einer Vielzahl von Dingarten „wie der Baum und ein Kieselstein, die in demselben Sinne Körper sind und in der gemeinsamen Natur des Körpers übereinstimmen und sich dabei nur in einer bloßen Änderung dieses gemeinsamen Stoffes unterscheiden“ (‚Essay‘ 1040
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II.xiii.18). Locke fasst auch die tieferen Artunterschiede zwischen den Substanzen ins Auge: „Gott, Geister und Körper“ sind allesamt nur deshalb Substanzen, weil wir jedes von ihnen ohne weitere Bestimmung als etwas ansehen, und nicht wegen einer gemeinsamen Natur. Aber durch dasselbe Zeichen unterscheiden wir Geist und Körper nur deshalb, weil wir nicht verstehen können, wie die Materie denken kann, und zwar nicht etwa, weil wir nicht ihr unterschiedliches Wesen begreifen könnten, wie Descartes angenommen hatte (siehe Descartes, R., § 8). Weil wir tatsächlich alle gleichermaßen unfähig sind zu verstehen, wie Geist und Körper zusammenwirken, oder wie der Geist eine Raumstelle einnehmen könne, so ist die Frage zwischen materialistischen und immaterialistischen Darstellungen des Geistes für Locke unentscheidbar und bestenfalls eine Sache der Spekulation. Lockes korpuskulare Konzeption einer Maschinenwelt, wo die Dinge einander in kontinuierlicher Abstufung ähneln und sich unterscheiden, spielt zusammen mit seiner davon unabhängigen erkenntnistheoretischen Überzeugung, dass die Namen ihre Bedeutung nur durch ihre Assoziation mit den Vorstellungen beziehen, statt direkt mit den „Dingen, wie sie wirklich sind“. Dies zusammen genommen ist das Motiv für sein Programm einer Verbesserung der natürlichen Fundamental-Einteilung, die nicht dem vermutlich unmöglichen aristotelischen Ideal einer Identifikation der natürlichen Hierarchie der Gattungen und Arten, sondern einer allgemeinen Übereinkunft auf einem praktischem Wege der Sammlung und Ordnung der Dinge der Welt anhängt, wobei das verlässliche Zusammensein von Qualitäten und Kräften den Ausschlag gibt, wie sie sich in sorgfältiger Beobachtung und dem Experiment zeigen. Locke sah die Zukunft der Biologie und der Chemie und sogar der Mechanik als Teil der deskriptiven ‚Naturgeschichte‘, deren Rechtfertigung in der nützlichen, ordentlichen Auflistung verlässlicher Mittel gegeben sei, der es aber an systematischer ‚Wissenschaft‘ mangele. Trotz seinem offenkundigen Pessimismus hat seine Sichtweise in der biologischen Taxonomie (Klassifizierungslehre) als eine fortgesetzte Tradition des Skeptizismus überlebt, bis hin zu unserer gegenwärtigen taxonomischen Einteilung. In der semantischen Theorie wurde Lockes breit angelegte Konzeption, wie die Namen der Substanzen zu ihrer Bedeutung kommen, erst kürzlich durch eine quasi-aristotelische Sichtweise in den Schatten gestellt (siehe Kripke, S.A.; Putnam, H.). Locke sah mit gleicher Notwendigkeit den Bedarf nach einem Programm übereinstimmender Definitionen in der Ethik, wo sein Ziel weniger die Idee ist, dass die moralischen und die politischen Ausdrücke unabhängige Wirklichkeit benennen, als vielmehr die Annahme, dass die Existenz selbst eines Wortes in einer Sprache sicherstellt, dass es eine fixierte, gemeinsame Bedeutung hat. „Die gemeinsame Verwendung“, gibt Locke zu, „reguliert die Bedeutung der Worte recht gut für die gemeinsame Konversation“ (‚Essay‘ III.ix.8), d.h. für die ‚bürgerliche‘, und nicht für die philosophische Verwendung von Worten. Wo aber Genauigkeit gefordert sei, so wie in der Aufstellung oder Interpretation eines Gesetzes oder einer moralischen Regel, mache uns das Verlassen auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch verletzlich gegenüber den Kniffen der Rhetoriker, die schlechte Eigenschaften gut reden, indem sie die Bedeutung der Ausdrücke verschieben, oder auch gegenüber den Feinheiten von Interpreten, sei es des Zivil- oder des Offenbarten Rechts, wo plötzlich undurchsichtig werde, was zunächst ganz klar begann. Das Mittel hiergegen ist, den Namen der Tugenden und Laster, und auch den sozialen Handlungen, Rollen und 1041
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Beziehungen jene fixierten und eindeutigen Definitionen zu geben, die für eine klare und felsenfeste Sichtweise des Richtigen und des Falschen notwendig sind, d.h. „die Zustimmung oder Ablehnung unserer Handlungen durch ein Gesetz“. 6. Erkenntnis und Glaube Wie die Platonisten und Kartesianer unterschied Locke streng zwischen Erkenntnis und Glaube (wobei er Letzteres auch Meinung, Urteil oder Einverständnis nannte). Aber der Grund und die Verortung dieser Teilung zwischen zwei Formen propositionaler Bestätigung wich von jener der zuerst Genannten grundlegend ab. So wie die Unterscheidung im 4. Buch des ‚Essay‘ dargestellt wird, hat die universelle Erkenntnis oder Wissenschaft keine bestimmten Gegenstände, und zwar weder in der transzendenten intelligiblen Welt im Geiste Gottes, noch in den angeborenen intellektuellen Vorstellungen. In der universellen Erkenntnis wird die „Verbindung und die Übereinstimmung, oder der Dissens und das sich Abstoßen“ von Vorstellungen wahrgenommen, wogegen im Glauben dies auf der Grundlage von etwas angenommen wird, das „dem von mir geglaubten Ding äußerlich“ ist. Aus einem Beweis folgt die Erkenntnis der Schlussfolgerung, wobei aber das Akzeptieren der Schlussfolgerung wegen der Autorität eines Mathematikers ebenfalls nur Glaube ist. Ähnliches gilt für den Fall des Wahrnehmungswissens von Einzelexistenz, d.h. dass wir wissen, was wir wahrnehmen. Doch was wir nur schließen oder aufgrund eines Zeugnisses akzeptieren, das glauben wir nur. Erkenntnis ist genauso wie die Zustimmung Gegenstand von Abstufungen: Es gibt nicht nur Grade der Wahrscheinlichkeit, sondern auch der Evidenz. Der unterste Grad der Erkenntnis ist das intuitive Wissen, bei dem der Geist „die Wahrheit wahrnimmt wie das Auge das Licht, nur indem es darauf gerichtet ist“. Die Intuition „lässt keinen Raum für das Zögern, für den Zweifel oder die Prüfung“. Der zweite Grad ist das demonstrative Wissen, wo die Wahrheit mit Hilfe einer Kette vermittelnder Vorstellungen wahrgenommen wird. Zweifel oder Irrtum können an jedem Punkt der Folge im Hinblick auf die Verbindungen auftreten, die man gerade nicht im Blick hat. Daher Lockes Ausspruch: „Die Menschen heißen oft das Falsche für Beweise willkommen.“ Lockes hauptsächliche Vorlage für die sog. ‚vermittelnden Vorstellungen‘ ist geometrisch, beispielsweise die Hilfslinien, die im euklidischen Beweis in den Zwischenschritten eingesetzt werden, die es uns ermöglichen zu sehen, dass die Winkel des Dreiecks gleich dem Winkel auf einer geraden Linie sind. Obwohl diese Konzeption der Intuition kartesisch aussehen mag, besteht hier doch der tiefe Unterschied, dass für Locke die Vorstellungen, die Gegenstände der Intuition sind, im Wesentlichen ein Produkt der Sinne sind (einschließlich der Reflexion), sowie der Einbildungskraft. Wie es in ‚Entwurf B‘ heißt: Die Winkel und die Figuren, die man betrachtet, können „auf Papier gezeichnet, in Marmor eingraviert und nur in meinem Verstand eingebildet sein“ (‚Entwürfe‘, Bd. 1: 152). Folglich spricht Locke oft so, als ob wir buchstäblich eine notwendige Beziehung zwischen den Vorstellungen wahrnehmen können. Ein weiterer Unterschied zu Descartes wie auch zu Hobbes besteht darin, dass er die Anmaßung eines Vorschlages analytischer Methoden zur Enthüllung selbstevidenter Prinzipien ablehnt, aus denen die Phänomene angeblich abgeleitet werden können. Der dritte Grad der Erkenntnis ist Sinneserkenntnis der Existenzen oder der Koexistenz von Qualitäten in externen Dingen. Lockes erste Einführung dieser Ka1042
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tegorie scheint nur eine tastende zu sein, womöglich gar nur ein nachträglicher Einfall, so als würde sie nur aus Höflichkeit noch zur Erkenntnis gerechnet. Damit sie in seine Hauptdefinition der Erkenntnis hineinpasst, muss sie als die Wahrnehmung der Übereinstimmung von Vorstellungen von Sinnenqualitäten mit der Vorstellung von Existenz verstanden werden. Dies ist allerdings eine Analyse, die Locke verständlicherweise sich vorzunehmen weigert. Dennoch erfüllt der Ausdruck ‚Sinneserkenntnis der Existenz‘ direkt seine andere Definition der Erkenntnis: was in der Sinneserkenntnis erkannt wird (dass nämlich etwas Externes eine Sinnesvorstellung verursacht), wird direkt erkannt, d.h. wahrgenommen und nicht geschlossen (siehe § 2 dieses Beitrages). Locke schrieb in einem Kontext, in dem, trotz Gassendis epikureischem Anspruch, dass die Sinneserkenntnis die evidenteste überhaupt sei, weithin angenommen wurde, dass Erkenntnis im Vollsinne nur die Erkenntnis der notwendigen ersten Prinzipien umfasst, d.h. die demonstrierte Wissenschaft, und vielleicht noch die reflexive Erkenntnis. Locke wollte sowohl der orthodoxen Lehre zugestehen, dass die Evidenz und Gewissheit unserer Sinneserkenntnis nicht so hoch ist wie die Intuition und die Demonstration, als auch darauf bestehen, dass trotzdem die „Sinneserkenntnis der Existenz“ ein Maß unmittelbarer Gewissheit gewährt und deshalb „den Namen Erkenntnis verdient“. Die Erkenntnis wird auch in Gestalt von vier Aussagebeziehungen zwischen Vorstellungen kategorisiert (d.h. Formen der Übereinstimmung), nämlich Identität (oder Verschiedenheit), Beziehung, notwendige Verbindung oder Koexistenz, und Existenz (‚Essay‘ IV.i). Mit dem Ausdruck ‚Identität‘ meint Locke Tautologien wie ‚Gold ist gold‘ und ‚Rot ist nicht blau‘. Intuitive Erkenntnis solcher Identitäten erreicht man einfach durch die Unterscheidung von Vorstellungen. Diese Kategorie schließt auch solche Wahrheiten ein wie ‚Gold ist ein Metall‘ oder ‚Gold ist verformbar‘, wenn die prädizierte Eigenschaft ein Teil der gedachten Definition des Goldes ist. Auf diese Weise deckt die Kategorie der Lockeschen Identität auch die ‚unbedeutenden‘ oder ‚rein verbalen‘ Aussagen (siehe § 2 dieses Beitrages). Die Kategorien ‚Beziehung‘, ‚notwendige Verbindung oder Koexistenz‘ und ‚Existenz‘ schließen auf der anderen Seite alle sog. ‚aufschlussreichen‘ Aussagen mit ein. Die Kategorie ‚Beziehung‘ als Teil einer Antwort auf Lockes frühere Schwierigkeiten mit dem Informationsgehalt der Mathematik (siehe § 2 dieses Beitrages) bezeichnet auch seine Zurückweisung der analytischen Methoden in der Wissenschaft. So wie die geometrischen Axiome und Theoreme schließt auch ‚Beziehung‘ vermutlich die interessanteren Lockeschen Prinzipien mit ein, wie z.B. jenes, dass, wenn sich etwas verändert, es die Wirkkraft besitzen muss, um diesen Wechsel hervorbringen zu können; dass, wenn überhaupt etwas existiert, etwas auch seit ewig existiert haben muss; und dass ein Schöpfer die Rechte an seinen Produkten hat. Kategorische Aussagen über natürliche Dinge fallen jedoch entweder unter ‚Existenz‘ oder unter ‚notwendige Verbindung oder Koexistenz‘. Unsere eigene Existenz ist uns intuitiv bekannt, Gottes Existenz demonstrativ (Locke verwendet hierfür einen eigentümlich Zwitter des kosmologischen und teleologischen Beweises), und die Existenz der Körper, wie bereits diskutiert, durch die Sinne. Die Kategorie ‚notwendige Verbindung oder Koexistenz‘ schuldet ihren disjunktiven Namen einer ziemlich komplizierten Beziehung zwischen Einzel- und Universalaussagen. Einzelne Koexistenzen werden nach Locke durch die Sinne wahrgenommen, beispielsweise wenn wir einfach beobachten, dass die Gelblichkeit, die Schwere und 1043
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die metallischen Qualitäten in einem bestimmten einzelnen Gegenstand zusammen mit dessen Verformbarkeit koexistieren (d.h. dieses Gold ist verformbar), ohne eine notwendige Verbindung zwischen ihnen wahrzunehmen. Locke geht allerdings wie die meisten Philosophen des mechanischen Denkens davon aus, dass zwischen universell koexistenten Eigenschaften immer notwendige Beziehungen bestehen, selbst wenn wir sie nicht wahrnehmen oder begreifen können. Weil er sich beschwert, dass keine Naturwissenschaft, die auf dem Wesen der Substanzen beruht, erreicht werden konnte, bietet er selbst nur sehr eingeschränkte Beispiele wahrgenommener und notwendiger Verbindungen an, wie z.B. ‚was immer fest ist, ist auch undurchdringlich‘ und ‚ein von einem anderen Körper angestoßener Körper wird sich bewegen‘. (Nach der kurzen und posthum veröffentlichen Schrift ‚Elemente der Naturphilosophie‘ sind die Trägheitsgesetze evidenterweise notwendig, aber das Gravitationsgesetz beruht nur auf der Erfahrung.) Bei Abwesenheit von Wissen mögen Glaubensüberzeugungen von der universellen Koexistenz von Qualitäten (z.B. dass sich alles Gold in Scheidewasser auflöst), sofern wir nicht wahrgenommene Verbindungen annehmen, induktiv auf dem Sinneswissen einzelner Koexistenz beruhen. Dies ist dann deskriptive Naturgeschichte, aber keine Wissenschaft. Im Allgemeinen gilt für Locke: wenn die Vorstellung einer bestimmten Qualität von der Vorstellung einer Substanz ableitbar ist, dann nur deshalb, weil die Aussage dieser Qualität die einer Identität ist. Universalaussagen über Substanzen sind also, wenn sie gewiss sind, unbedeutend (d.h. trivial), und sofern sie aufschlussreich sind, ungewiss (siehe § 2 dieses Beitrages). Im Gegensatz dazu sind aufschlussreiche apriorische Wissenschaften gerade deshalb möglich, weil ihre Gegenstände von uns selbst konstruiert werden: unsere Vorstellungen von einfachen oder gemischten Vorstellungsweisen, die ohne Wesensbezug auf die Wirklichkeit gebildet werden, stellen selbst den Gegenstand der Mathematik und der Ethik dar. Mit anderen Worten, diese demonstrativen Wissenschaften sind möglich, während die Naturwissenschaft dies nicht ist, und zwar genau deshalb, weil sie zumindest hypothetisch von Abstraktionen handeln. Die Abstufungen der Zustimmung sind „Glaube, Vermutung, Meinung, Zweifel, Schwanken, Misstrauen, Unglaube etc.“ (‚Essay‘ IV.xvi). Die Wahrscheinlichkeit ist „das Maß, durch das verschiedene Abstufungen [der Zustimmung] reguliert werden oder werden sollten“. Wenn die Zustimmung unvernünftig ist, so stellt sie einen Irrtum dar. Die vernünftige Zustimmung wird entsprechend der Übereinstimung der Aussage mit der eigenen Erfahrung desjenigen, der sie denkt, oder dem Zeugnis eines anderen reguliert. Die Aussage kann Tatsachen betreffen, die in die menschliche Erfahrung fallen, oder auch Unbeobachtbares, das „hinter der Entdeckung unserer Sinne liegt“. Locke identifiziert vier grobe Abstufungen der Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf die Tatsachen: (1) wenn die allgemeine Zustimmung anderer mit der konstanten Erfahrung eines Subjekts zusammenfällt; (2) wenn Erfahrung und Zeugnis nahe legen, dass etwas meistens oder größtenteils so ist; (3) wenn unbezweifelte Zeugen etwas berichten, was in der Erfahrung gegeben sein kann oder nicht; und (4) wenn „die Berichte der Geschichte und Zeugenaussagen vom gewöhnlichen Lauf der Dinge abweichen oder sich untereinander widersprechen“, was eine Situation ist, in der es keine genauen Regeln zur Bewertung der Wahrscheinlichkeit gibt. Schließlich ist im Hinblick auf die nicht beobachtbaren Dinge „ein waches Denken der Analogie“ mit etwas, das in unsere Erfahrung fällt, die einzige Grundlage von Wahrscheinlichkeit (siehe Descartes, R., § 4). Obwohl 1044
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Locke – in auffallendem Gegensatz zu Descartes – die Wahrscheinlichkeit in den Mittelpunkt der Erkenntnislehre stellt, wird doch der Glaube immer als ein praktischer Ersatz für Erkenntnis behandelt, und er versteht die Induktion selbst noch als etwas, was auf der Annahme von zugrunde liegenden, unbekannten und doch notwendigen Verbindungen beruht: „Denn was unsere eigene stetige Beobachtung und die von anderen immer als etwas von derselben Art vorgefunden hat, das halten wir vernünftigerweise für die Wirkungen von beständigen und regulären Ursachen, auch wenn sie nicht innerhalb der Reichweite unserer Erkenntnis liegen“ (‚Essay‘, IV.xvi.6). Ein weiterer überlegter und radikaler Unterschied zu Descartes bezieht sich auf die Rolle des Willens in der Auffassung. Für Locke ist die Erkenntnis unserer Sinneswahrnehmung ähnlich; wir können wählen, wohin und wie genau wir schauen, aber wir können dann nicht wählen, was wir dort sehen. Mit dem Glauben steht es ähnlich: „Die Zustimmung steht nicht mehr in unserer Kraft als die Erkenntnis […] Und was ich mittels gründlicher Prüfung am wahrscheinlichsten finde, dem kann ich meine Zustimmung nicht verweigern“ (‚Essay‘, IV.xx.16). Allerdings sind wir moralisch sowohl für den Irrtum, als auch für das Nichtwissen insofern verantwortlich, als diese das Ergebnis unserer Nichtanwendung unserer Fähigkeiten in der Weise sind, wie wir sie anwenden sollten. In einer Reihe der Kapitel des ‚Essay‘ prüft Locke die Ursachen des Irrtums und findet sie, wie auch viele andere Autoren seiner Zeit, in denselben Neigungen, Interessen, Leidenschaften, eigensinnigen Vorstellungen und Assoziationen von Vorstellungen, die auch gewillkürte Handlungen hervorbringen können. Sprachverwirrung und ihre vorsätzliche Ausnutzung (siehe § 5 dieses Beitrages) spielt manchmal eine Rolle, und manchmal, wie bei Malebranche und anderen, nimmt Locke direkten Bezug auf die Physiologie, indem er ausdrücklich seine Erklärungen des Irrtums mit Erklärungen der Geisteskrankheit mischt. Im Gegensatz zu Hobbes siedelt er die lediglich gewohnheitsmäßige Assoziation von Vorstellungen in der Pathologie ‚extravaganter‘ Gedanken und Handlungen an: „Dies alles scheinen mir nichts als Bewegungsfolgen in den Lebensgeistern zu sein, die […] sich in der derselben Abfolge abspielen […] und die, weil sie sich schon oft so abspielten, zu einem angenehmen Pfad verwoben sind, und die Bewegung auf ihm wird dadurch leichter und geradeso, als wäre sie natürlich“ (‚Essay‘, II.xxxiii.16). Zurechenbare Irrtümer entstehen aber nach Lockes offizieller Sichtweise, wenn wir „sowohl die Erkenntnis, als auch die Zustimmung behindern, indem wir unsere Nachforschungen einstellen und unsere Fähigkeiten zum Aufsuchen einer Wahrheit nicht anwenden“ (‚Essay‘, IV.xx.16). Es ist ein Fehler, unsere Kraft nicht zur vollständigen Prüfung einzusetzen, was noch Raum lässt für Glaubensüberzeugungen, die durch Interesse und Leidenschaften motiviert sind. Aber dieses Zwei-EbenenModell, wobei die erste Ebene freiwillig, die zweite unfreiwillig ist, erweist sich als zu schwierig, um es aufrecht zu erhalten, und manchmal nehmen die Leidenschaften und die Interessen zwischen der Untersuchung und dem Urteil auf den Willen Einfluss, indem sie unser Maß für die Wahrscheinlichkeit selbst verzerren. Lockes Ansatz ist mehr auf den common sense abgestellt als der von Descartes, aber die Psychologie des motivierten Irrtums ist eine harte Nuss, die auch er nicht zu knacken vermochte.
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7. Glaube, Vernunft und Toleranz Lockes Sichtweise des Glaubens, der Wahrscheinlichkeit und des Irrtums verdanken sich weitgehend der traditionellen Philosophie des religiösen Glaubens, sowie der umfassenden Debatte seines Jahrhunderts über die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft. Er war stark von Autoren der anglikanischen ‚wahrscheinlichkeitsbasierten‘ Überlieferung beeinflusst, die für die Toleranz innerhalb der Kirche im Hinblick auf alle kirchlichen Dogmen eintraten bis auf die ganz zentralen. William Chillingworth lehnte die traditionelle Konzeption der moralischen Voraussetzung des Glaubens in dem Sinne, dass die Überzeugung dem Wissen gleichsteht, aber über das hinausgeht, was rational gerechtfertig ist, als absurd ab. Eine Aussage zu einem gewissen Grade als wahrscheinlich wahr anzuerkennen, heißt, sie in diesem Umfange zu glauben. Die Offenbarung kann daher keine Grundlage für einen Glauben sein, der sich von der Wahrscheinlichkeit unterscheidet, aber sie ist etwas, deren Bedeutung rational bewertet werden muss, und die bestenfalls zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Wahrheit gewisser Aussagen in der Lage ist. Ähnlich gilt für Locke, dass, wenn die Offenbarung einem Glauben zugrunde liegt, der ansonsten unwahrscheinlich wäre, eben ein natürlicher Grund einen anderen überwiegt: „Es ist immer noch vernünftig über die Wahrheit von etwas zu urteilen, das einer Offenbarung entspringt, und über die Bedeutungen der Worte, durch die sie auf uns kommt“ (‚Essay‘ IV.xviii.8). Denn „die Vernunft muss nicht ihre Wahrheit durch etwas Äußeres zur Überzeugung von sich selbst prüfen; Inspirationen und Täuschungen, Wahrheit und Falschheit werden mit demselben Maß gemessen“ (‚Essay‘ IV.xix.14). Entsprechend kombinierte Locke wie Chillingworth, More und andere eine behauptetermaßen vernünftige Akzeptanz der Bibel als Offenbarung mit einem kritischen Ansatz zu ihrer Interpretation, wobei er in Rechnung stellte, dass sie von Menschen unter sehr spezifischen Umständen geschrieben worden war. Eine mutmaßliche Offenbarung, die mit dem in Konflikt gerät, was natürlicherweise evident ist, verliert ihren Anspruch darauf, eine Offenbarung zu sein. Gewisse offenbarte Wahrheiten (wie z.B. die Wiederauferstehung) lägen „jenseits der Entdeckbarkeit durch unsere natürlichen Fähigkeiten, und über der Vernunft“, aber Locke hatte für Rätsel keine Zeit: „Diese Überspanntheiten des Glaubens, die im Widerspruch zur Vernunft stehen, dürfen wir, denke ich, zu einem guten Teil jenen Absurditäten zuschlagen, die in praktisch allen Religionen gegeben sind, die die Menschheit besitzt und sie teilen“ (‚Essay‘ IV.xviii.7, 11). Locke verstand die Existenz von Gott und den Inhalt des Moralgesetzes als etwas durch Vernunft Demonstrierbares, und entsprechend seiner Schrift ‚Die Vernünftigkeit des Christentums‘ und denen in ihnen enthaltenen ‚Rechtfertigungen‘ ist die einzige und wesentlich offenbarte Wahrheit des Neuen Testaments jene, dass Christus der Messias ist, der die Vergebung der Sünden denjenigen verspricht, die aufrichtig bereuen und ihr unvollkommenes Bestes tun, um das natürlich gegebene Gesetz zu erfüllen. Die Bibel macht dieses Gesetz auch jenen zugänglich, die nicht die Muße oder Fähigkeit zu ihrer vernünftigen Auslegung haben, was eine wirklich schwierige Aufgabe für jeden ist, wie Locke reumütig eingesteht. Die Bedeutung der Heiligen Schrift ist für Locke deshalb vorrangig eine moralische, und die „Wahrheit, Einfachheit und Vernünftigkeit“ der Lehren Christi sind an sich selbst ein Hauptgrund zu der Annahme, dass es sich dabei um eine Offenbarung handele. Eine Erhaltung des Glaubens ist mit Arbeit verbunden, und nicht
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mit der Akzeptanz eines jeden Satzes des Neuen Testaments unter dieser oder jener bevorzugten Interpretation. Ungefähr dasselbe gilt auch für die spontane Offenbarung. Selbst der echt Inspirierte würde Beweise brauchen, dass er wirklich inspiriert war, und die Irrtümer des gewöhnlichen Enthusiasmus werden z.B. durch Thomas Morus der Physiologie als „Einbildung eines erhitzten oder überdrehten Gehirns“ zugeschrieben. Der Vertreter einer spontanen persönlichen Offenbarung verhält sich so, als wolle er jemanden überreden, „seine Augen für ein Teleskop herzugeben, um das entfernte Licht eines unsichtbaren Sterns zu sehen“ (‚Essay‘ IV.xix.4). Göttliche Erleuchtung hängt notwendig vom natürlichen Licht ab und ist von ihr nicht zu treffen, d.h. „die Vernunft muss unser letzter Richter und Führer in allem sein“. Locke wiederholt damit Chillingworths grundlegendes Prinzip: wer die Wahrheit liebt, und zwar ohne Umwege über die eigenen Interessen oder Leidenschaften, wird „keine Aussage mit größerer Gewissheit vertreten, als es die Beweise, die dahinter stehen, hergeben“. Die Folge dieses Maßstabes unter den wirklichen Lebensumständen ist Toleranz: „Denn wo ist der Mann, der einen unbestreitbaren Beweis von der Wahrheit all dessen hat, dass er meint, oder der Falschheit all dessen, was er verdammt, oder der sagen kann, dass er bis auf den Grund alle seine eigenen oder die Meinungen anderer Menschen geprüft hat?“ (‚Essay‘ IV.xvi.4). Lockes ‚Brief über die Toleranz‘, die reife Frucht seiner beachtlich höheren Anzahl unveröffentlichter Schriften zu diesem Thema, verbindet seine Erkenntnislehre mit seinem politischen Denken. Der Glaube ist nicht etwas, das man befehlen oder das der Autorität einer Regierung überlassen werden kann, deren Sorge nicht der Errettung von Seelen, sondern Erhaltung von Eigentum gilt. Notwendigerweise muss jeder einzelne Mensch nach eigenem Gutdünken urteilen, und die Wahrheit bedarf keiner Hilfe, denn sie verfügt über ihre eigenen Mittel. Aber das Recht auf Toleranz wird gleichwohl im Kontext der Lehre des Rechts und der Pflicht betrachtet, um Erlösung und die wahre Lehre ohne Schaden für andere zu finden, d.h. ohne Schaden, der zumindest seitens all derer droht, die die Autorität entweder des Moralgesetzes oder der bestehenden Regierung leugnen. Atheisten verspielen daher das Recht auf Toleranz grundsätzlich, und die Katholiken der Römisch-Katholischen Kirche als Folge einer politischen Tatsache. (Siehe Socinianismus). 8. Personale Identität Das Hauptziel des Kapitels des ‚Essay‘ mit dem Titel ‚Über Identität und Verschiedenheit‘ (II.xxvii) handelt von der Erklärung, wie die Unsterblichkeit mit dem Materialismus vereinbar ist. Um eine agnostische Neutralität über die Frage der Immaterialität der Seele zu bewahren, musste Locke zunächst die kartesische Behauptung zurückweisen, dass das Selbstbewusstsein eine klare und bestimmte Vorstellung von einer einfachen, stetig existierenden Substanz vermittelt; und zweitens musste er zeigen, dass die metaphysischen Fragen für ‚die großen Ziele der Moral und der Religion‘ irrelevant sind (‚Essay‘ IV.iii.6). Er trägt vor, dass, obwohl der moralische Akteur tatsächlich stetig existiert, und zwar als rationales, selbstbewusstes Subjekt des Bewusstseins, doch die Person, d.h. die Identität dieses Subjekts über die Zeit, durch die Kontinuität des einheitlichen Bewusstseins selbst bestimmt wird, und nicht durch die Kontinuität der immateriellen Seele. Locke kann daher die Wiederauferstehung und das Jüngste Gericht als Lehrsatz seines ‚vernünftigen‘ 1047
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Christentums akzeptieren, ohne dabei dem Dualismus verpflichtet zu sein, und zwar aufgrund der Annahme, dass das Bewusstsein der wieder auferstandenen Person sich über ihre Erinnerung kontinuierlich fortsetzt und mit demjenigen der Person, die starb, identisch ist. Diese Schlussfolgerung vermeidet einen Einwand gegen seinen Begriff der demonstrativen Ethik als einer Wissenschaft der Vorstellungsweisen (engl.: modes), derzufolge die Moral den Menschen zu einer Substanz, und nicht zu einer Vorstellungsweise in Beziehung setzt. Seine Antwort hierauf ist, dass die Moralität den Menschen nicht als biologische Spezies betrifft, sondern als ein rationales Wesen, nämlich den moralischen Menschen, und mit ihm alle rationalen Wesen. Die ‚Person‘ ist daher in seinen Worten ein ‚juristischer‘Ausdruck. Lockes Beweis beginnt mit der Behauptung, dass Fragen der Identität über die Zeit hinweg immer Fragen über die kontinuierliche Existenz im Raum seien, und zwar von etwas als Fall einer bestimmten Art, und dass Schwierigkeiten hier vermieden werden können, indem man „präzise Begriffe der Dinge verwendet, denen man sie zuschreibt“. Die Identität von Nicht-Substanzen haftet parasitär an jener der Substanzen: „Alle anderen Wesen, die nichts als Vorstellungsweisen oder Beziehungen sind, enden letztlich in Substanzen“, ihre Identität werde folglich auf dieselbe Weise bestimmt (‚Essay‘ II.xxvii.2). Locke meint, dass Ereignisse und Prozesse (engl.: actions) von einem Moment zum nächsten nicht strikt identisch seien, sondern jeder Teil dessen, was wir als einen Prozess ansehen, ist von jedem anderen Teil verschieden. Substanzen dagegen existieren echt als dieselben von Moment zu Moment. Die Identität ‚einfacher Substanzen‘, d.h. materieller Atome und der angenommenen einfachen ‚Intelligenzen‘, ist eine ganz direkte. Jede schließt andere derselben Art von ihrem Platz schlicht infolge ihrer eigenen Existenz aus; dies ist ein definitives Prinzip der Identität. Schwierigkeiten entstehen aber bei den zusammengesetzten Substanzen. Im strengen Sinne ist ein Körper, der aus vielen Atomen zusammengesetzt ist, nur so lange derselbe, als wie er aus denselben Atomen zusammengesetzt ist. Dennoch ist „eine Eiche, die von einem Schössling zu einem großen Baum heranwächst und dann gestutzt wird, immer noch derselbe Baum“. Lockes Erklärung hierfür ist, dass „in diesen beiden Fällen einer Stoffmasse und eines lebenden Körpers, der Ausdruck ‚Identität‘ nicht auf dieselbe Sache angewendet wird“ (‚Essay‘ II.xxvii.3). Obwohl er diese beiden Sichtweisen nicht klar unterscheidet, scheint er hier doch eine Individuation im Sinne einer Artenzuordnung zu meinen und keine Identitätsrelation. Eine Pflanze oder ein Tier ist nicht einfach „ein Zusammenschluss von Partikeln, die irgendwie vereint sind“, sondern eine solche Organisation von Teilen, dass diese die Fortsetzung ihres charakteristischen Lebens beispielsweise einer Eiche ermöglicht. Tatsächlich ist die Spezies des lebendigen Dinges für Lockes Theorie nicht relevant (glücklicherweise, in Anbetracht des Umstandes, dass seine Sichtweise der Definition von ‚Eiche‘ von Sprecher zu Sprecher variiert). Die wesentliche Behauptung ist die, dass das Leben ein Prinzip der Einheit und der Kontinuität ist, die sich von dem einfachen Aneinanderhaften unterscheidet, und die es einem lebenden Gegenstand und der Stoffmasse, aus dem er besteht, deshalb erlaubt, sich in seiner Art so zu verändern, dass es in der Lage ist, fortgesetzt denselben Platz zu der selben Zeit einzunehmen. Locke definiert ‚Person‘ als „ein denkendes, intelligentes Wesen, das über Vernunft und Reflexion verfügt und sich selbst als sich selbst bedenken kann, d.h. als dasselbe denkende Ding zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen 1048
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Orten“ (‚Essay‘ II.xxvii.9). Seine These lautet, dass genauso, wie das Leben ein bestimmtes individuiertes Prinzip der Einheit und Kontinuität bildet, es auch das reflexive Bewusstsein ausbildet. Er tritt für die logische Unabhängigkeit der Kontinuität des Bewusstseins sowohl von der Kontinuität der Substanz ein (sei sie materieller oder immaterieller Natur, einfach oder komplex), und für die Kontinuität des Lebensgeistes, und zwar auf der Grundlage einer Reihe vorgestellter Fälle: beispielsweise würde jemand, der jetzt die Seele des Sokrates besäße, dadurch nicht zur selben Person wie Sokrates werden, solange er sich nicht an Sokrates’ Handlungen als seine eigenen erinnerte, wobei, wenn die Seele der Sitz des Bewusstseins ist und die Seele eines Prinzen von seinem Körper zu dem eines Flickschusters wandern könnte, „jedermann sehen könnte, dass er dieselbe Person wie der Prinz wäre und ihm alle Handlungen des Prinzen zugerechnet würden. Aber wer könnte sagen, dass er derselbe Mann wäre?“ (‚Essay‘ II.xxvii.15). Locke sah solche Fälle zwar nicht notwendig als reale Möglichkeiten, aber doch als vereinbar mit unserem teilweisen Verständnis der Dinge, d.h. unseren Vorstellungen an: „Denn in der Weise, wie die Vorstellung zur diesem Namen gehört [d.h. dem Namen ‚Person‘, ‚Mensch‘ oder ‚Substanz‘], so muss auch seine Identität beschaffen sein.“ Doch in dem zentralen Fall der Wiederauferstehung fragen wir uns, wie die kontinuierliche Existenz über die Zeit, vom Raum gar nicht zu reden, allein dadurch erreicht werden soll, dass das gegenwärtige Bewusstsein und die vergangene Erfahrung und ihre Handlungen zueinander passen. Tatsächlich, so wandten Berkeley und Reid ein, leisten Erinnerungsverbindungen einerseits zu wenig, andererseits zu viel für die Kontinuität eines substanziellen Dinges. Doch trotz dieser und anderer Schwierigkeiten in Lockes Theorie bestimmte dies doch die Tagesordnung der nachfolgenden Diskussion, und einige Fassungen von ihr haben noch bis heute Anhänger (siehe Personale Identität). 9. Ethik, Motivation und freier Wille Mit Lockes Überzeugung, dass eine demonstrative Ethik möglich sei, ging der Glaube einher, dass das, was ihr im Wege steht, die bedauernswerte Schlüpfrigkeit einer moralischen Sprache sei, noch dazu offen unterstützt durch die rhetorische Praxis, deren Ausdrücke nicht konsistent an Vorstellungen geknüpft sei (siehe § 5 dieses Beitrages). Beides geht einher mit seiner offenbar früheren Überzeugung, dass die Theorie des natürlichen Rechts, wie sie bereits bei Hooker und Grotius verfolgt wird, eine Entwicklung zu einer vollen Darstellung unserer Pflichten gegenüber Gott und unseren Zeitgenossen tauglich ist, und dies, obwohl er zunächst das natürliche Recht als etwas ansah, was auf empirischen Grundlagen ruht (siehe § 3 dieses Beitrages). Die Theorie des natürlichen Rechts gab ihm aber auch, was er durch die Konzeption eines quasigeometrischen Systems der Rechte und Pflichten, das sich aus den Definitionen der gemischten Vorstellungsweisen und Beziehungen ergab, nicht abzuleiten vermochte, nämlich die Konzeption einer unbedingten Verpflichtung zu einem Handeln im Einklang mit dem moralischen Prinzip, und gegen das, was wir sonst wünschen (siehe Naturrecht). Im ‚Essay‘ beginnt der Beweis, wie nicht anders zu erwarten, mit der Frage, wie unsere grundlegenden Wertbegriffe aus der Erfahrung abgeleitet werden. Locke zweifelt nicht daran, was uns an der Erfahrung affiziert. Wie andere Empiristen seiner Zeit ist er sowohl ein psychologischer, als auch ein ethischer Hedonist. Lust 1049
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und Schmerz liefern uns nicht nur die einzigen Motive, sondern auch unsere Vorstellungen von Gut und Böse: „Dass wir dasjenige gut nennen, das uns geeignet erscheint, uns Lust zu verschaffen oder diese zu erhöhen oder unseren Schmerz zu mindern, oder auch dafür zu sorgen, dass wir in den Besitz irgendeines anderen Lebensgutes kommen und uns dies bzw. die Abwesenheit von Übel zu bewahren“ (‚Essay‘ II.xx.1). Die Leidenschaften sind sog. ‚Weisen‘ der Lust und des Schmerzes, die aus Werturteilen entstehen oder diese mit sich bringen; daher ist die Hoffnung „jene Lust im Geiste, die jeder in sich findet bei dem Gedanken an den wahrscheinlichen, künftigen Genuss von Dingen, die [in Wirklichkeit] gar nicht geeignet sind, ihn zu erfreuen“; die Angst ist „ein Unbehagen des Geistes an dem Gedanken an ein künftiges Böses, das uns befallen wird“ (‚Essay‘ II.xx.9–10). Der Wunsch ist das „Unbehagen, das ein Mann bei der Abwesenheit von einer Sache empfindet, deren gegenwärtiger Genuss eine Vorstellung der Freude mit sich bringt“ (‚Essay‘ II.xx.6). Diese Theorie der Motivation hat gewisse Probleme. Zunächst ist unklar, wie wir von Urteilen über das Gute und Böse, als von dem, was zur Lust und zum Schmerz führt, zu Urteilen über das Richtige und das Falsche kommen, oder was wir moralisch tun oder nicht tun sollten. Zweitens, wenn wir dies beantwortet haben, ist unklar, wenn die Leidenschaften als Vorstellungsweise der Lust und des Schmerzes unsere einzigen Motive bilden sollen, welche Leidenschaften uns dazu motivieren könnten, das Richtige zu tun. Und drittens ist unklar, worin, wenn überhaupt, die Wahlfreiheit und damit der freie Wille, und das heißt: das moralische Handeln, besteht. Lockes Antwort auf die erste Frage, die er bereits im ‚Essay über das Naturrecht‘ gegeben hatte, ist, dass der Begriff der Verpflichtung zusammen mit dem relationalen Begriff des Gesetzes gegeben ist: „Moralisch Gutes und Böses ist dann nur die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer freiwilligen Handlungen mit einem Gesetz, wobei das Gute oder Böse durch den Willen und die Macht des Gesetzgebers über uns verhängt wird; weshalb das Gute und das Böse, die Lust oder der Schmerz […] das ist, was wir Belohnung und Strafe nennen“ (‚Essay‘ II.xxviii.5). Locke macht dabei klar, dass der Begriff der Verpflichtung das Recht voraussetzt, genauso wie die Macht des Gesetzgebers zu Verordnung von Gesetzen und zur Bestrafung. Im ‚Essay‘ ist Lockes ‚Macht‘-Begriff ausdrücklich jener der potestas, also der Autorität, und nicht jener der potentia, der reinen Kraft. Es gibt, so sagt er im ‚Essay‘, drei Arten von Gesetz: das göttliche Gesetz, d.h. das Maß der Sünde und der moralischen Pflicht; das menschengemachte Gesetz, d.h. das Maß der Verbrechen und der Unschuld; und das Gesetz der Meinung oder des Ansehens, d.h. das Maß der Tugend und des Lasters. Gott erlässt Gesetze im Wege der ius creationis, d.h. kraft des Rechts des Schöpfers über das, was er geschaffen hat, und das göttliche Gesetz ist bindend für alle rationalen Geschöpfe, die zu Lust und Schmerz in der Lage sind. Gottes Gesetz stimmt mit der Weisheit und dem Wohlwollen überein, so dass wir durch Reflexion wissen können, was eine weise und wohlwollende Gottheit von uns verlangt. Es überrascht nicht, dass Lockes Ethik stark utilitaristisch ist. Die Beziehung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Gesetz, und der Umstand, dass der menschliche Richter unter göttlichem Recht steht, ist Gegenstand von Lockes politischer Theorie, wie sie in den ‚Zwei Abhandlungen‘ ausgeführt wird. Der Begriff des ‚Gesetzes des Ansehens‘, der manchmal auch ‚das philosophische Gesetz‘ genannt wird, spielt eine komplexere Rolle in seinem Denken. 1050
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Es ist Lockes Erklärung der populären, säkularen Moral, aber es repräsentiert auch seine Sichtweise der Möglichkeit eines nicht-theistischen philosophischen Systems der Ethik. Grob gesagt lautet der Gedanke, dass die gewöhnliche Moral, die durch öffentliche Zustimmung oder Ablehnung sanktioniert wird, als ein Mittel zur Bewahrung der Gesellschaft existiert und selbst eine Bedingung des Glücks einzelner Menschen ist. So wie sich die Verhältnisse in den verschiedenen Gesellschaften unterscheiden, so unterscheiden sich auch ihre moralischen Begriffe und das, was als Tugend und als Laster bei ihnen gilt, obwohl sie sich natürlich in Anbetracht des gemeinsamen Ziels der Selbsterhaltung überlappen werden. Da es auch dem göttlichen Gesetz um das Gute der Menschen und um die Selbsterhaltung als einer Pflicht geht, so wird das Gesetz des Ansehens dazu neigen, mit dem göttlichen Gesetz übereinzustimmen. In dem abgebrochenen Fragment zum ‚Essay‘ mit dem Titel ‚Über die Ethik im Allgemeinen‘ legt Locke nahe, dass die Philosophen vielleicht eine Neigung zum göttlichen Gesetz haben, aber sie verwechseln dieses mit dem Gesetz des Ansehens. Folglich reduzieren sich ihre Systeme entweder (wie das von Hobbes) auf eine Verteidigung dessen, was zur Bewahrung der Gesellschaft geeignet scheint, oder (wie das von Aristoteles) zur Ausarbeitung einer Reihe von Definitionen des Verhaltens, die eine bestimmte Gesellschaft annimmt oder verwirft. Locke leugnet allerdings nicht die soziale Bedeutung des Gesetzes des Ansehens, und in ‚Einige Gedanken über die Erziehung‘ schreibt er der öffentlichen Wertschätzung und Scham eine notwendige Rolle in der moralischen Erziehung eines Kindes zu. Er klagt, dass eine Erklärung der moralischen Verpflichtung als der Wert gewisser Handlungen in der Gesellschaft und der Wert der Gesellschaft beim Individuum nicht erklären können, wie wir moralisch dazu verpflichtet werden können, etwas gegen unsere gefühlten Interessen zu tun, d.h. zumindest gegen unserer Interesse in dieser Welt. Das Selbstinteresse mag üblicherweise vorschreiben, dass man sich an die sozialen Regeln hält, aber dies muss nicht immer so sein. Wie Locke in den ‚Essays über das Naturrecht‘ (1664) sagt: „Eine große Zahl an Tugenden und das Beste an ihnen besteht nur darin: dass wir anderen Gutes zu unserem eigenen Nachteil tun.“ Lockes Position ist demzufolge die, dass wir, statt sowohl die moralische Verpflichtung und die moralischen Motivation zu erklären (die in der üblichen Auffassung des Begriffs der der Verpflichtung im 17. Jahrhundert beide verschmolzen werden), die Moral als ein System von Gesetzen sehen müssen, die uns von einem überragend rationalen, gerechten und wohlwollenden Schöpfer vorgeschrieben werden, dem wir den Gehorsam als seine Geschöpfe schulden, und dessen Macht zur Belohnung und zur Bestrafung im nächsten Leben in der Lage ist, jeden zu motivieren, der dies nur ordentlich bedenkt (siehe Voluntarismus). Wie jede theistische Erklärung der Bindungskraft der Moral ist dieser Vorschlag inkohärent, und in diesem Falle liegt die Inkohärenz in der Kombination der Sichtweise, dass die Verpflichtung durch das Gesetz geschaffen sei, mit der Behauptung, wir seien natürlicherweise zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz unseres Schöpfers verpflichtet. Locke war allerdings mehr mit dem Problem beschäftigt, warum ein Bedenken des Lebens nach dem Tode so oft fehlschlägt und die Theisten nicht zur Einhaltung ihrer Pflichten bewegt. Tatsächlich stellte er das Problem in einen weiteren Zusammenhang, denn er folgte Pascal in dem Gedanken, dass die reine Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode in Anbetracht des unendlichen Guten, was hier auf dem Spiele steht, vernünf1051
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tigerweise zu einem christlichen Leben motivieren sollte (siehe Pascal, B.). Lockes Erklärung der menschlichen Fähigkeit, das Bessere zu kennen und das Schlechtere zu wählen, brachte eine Verfeinerung seiner Theorie der Motivation mit sich, in der sich seine Theorie des Irrtums spiegelt. In der ersten Ausgabe des ‚Essay‘, und zwar in dem langen Kapitel ‚Über die Macht‘, meint er, dass „die Wahl des Willens überall durch das offenkundig größere Gute bestimmt ist“ (‚Essay‘ II.xxi.70). In der zweiten Auflage glaubte er, dass die reine Betrachtung künftiger Vorteile uns nicht zum Handeln bringen wird, solange dies Anlass ist zu einem „Unbehagen, es zu wollen“, d.h. zum Wunsch. Nur eine gegenwärtige Leidenschaft, und, so scheint es, eine Art des Schmerzes, kann gegenwärtig eine Handlung motivieren. Es mag einiger Reflexion der Situation über die einfache Anerkennung wahrscheinlicher oder möglicher Konsequenzen für das Gute oder Schlechte hinaus bedürfen, um den Wunsch von Grund auf zu erzeugen und die Vorliebe unseres Geistes mit dem wahren, spezifischen Guten oder Bösen, das in den Dingen ist, in Einklang zu bringen. Jemand, der das Gute sieht, es aber nicht verfolgt, hat nicht genug darüber nachgedacht: „Die Moral, die auf guten Fundamenten errichtet ist, kann nicht anders als die Wahlentscheidung eines jeden zu bestimmen, der sie bedenkt“ (‚Essay‘ II.xxi.70). Lockes gesteigerte Betonung der Rolle der Bedachtsamkeit in seiner hedonistischen Theorie der moralischen Motivation kompliziert seine häufig überarbeitete Darstellung der Freiheit. Er wählte eine selbstbestimmte Sichtweise des freien Willens, bei der eine freie Handlung nicht kausal unterbestimmt ist, sondern durch den „eigenen Wunsch des Akteurs bestimmt und geleitet durch sein eigenes Urteil“. Er definiert die Freiheit als die „Macht zu handeln oder nicht zu handeln, im Einklang mit den Weisungen des Geistes“ (‚Essay‘ II.xxi.71). Aber eine andere Macht wurde immer wichtiger für ihn, nämlich die Macht „still zu stehen, die Augen zu öffnen, hinzuschauen und auf die Konsequenzen zu achten, die wir eingehen, und zwar mit dem Gewicht, wie es die Angelegenheit verlangt“ (‚Essay‘ II.xxi.67). Diese Macht ist es, so sagt er mehrfach, aus der die Freiheit des rationalen Akteurs wirklich besteht. Die Spannung ist ungelöst, denn Locke nimmt an keiner Stelle die rhetorische Frage zurück, auf die er selbst die Antwort gegeben zu haben scheint: „Denn wie können wir uns jemanden freier vorstellen als jemanden, der die Macht hat, zu tun was er will?“ (‚Essay‘ II.xxi.21) (siehe Freier Wille). 10. Politische Theorie Lockes reife politische Theorie wird in der Schrift ‚An Essay concerning the True Original, Extent, and End of Civil Government‘ (dt.: ‚Ein Essay über den wahren Ursprung, den Umfang und das Ziel der bürgerlichen Regierung‘) skizziert, also in der zweiten der ‚Zwei Abhandlungen über die Regierung‘, wobei die erste eine Widerlegung Punkt für Punkt von Robert Filmers biblisch basiertem Patriarchalismus ist (siehe Filmer, R.). Lockes hauptsächlicher Einwand ist, dass das Recht zu regieren mit der Pflicht einhergeht, im Interesse der Regierten zu regieren. Das Versagen der Regierung zur Anerkennung oder Beobachtung dieser Pflicht erzeugt das Recht zur Rebellion. Wie die Naturrechtstheorien von Hooker, Grotius und Pufendorf, auf die er sich bezieht, geht Lockes Beweis von ersten Prinzipien aus; der Text war in Wirklichkeit ein Fragment seiner geplanten demonstrativen Ethik. Aber ein großer Teil der Reichhaltigkeit seiner Schrift leitet sich von den Verbindungen mit seiner praktischen politischen Bemühung und den daraus folgenden Interessen ab. 1052
Locke, John (1632–1704)
Sie interpretiert die Einstellungen und Handlungen, die Karl II. und James II. zurechenbar sind, als einen Vertrauensverrat, weil sie jenen Merkmalen der britischen Verfassung feindselig gegenüber standen, die am stärksten an die wesentlichen Zwecke der Regierung angepasst waren. Er äußert aber auch Prinzipien betreffend das Eigentum, das Geld, die sozialen Konventionen, die Besteuerung, die Bestrafung, die Familienbeziehungen, das Erbrecht, die Rechte der Armen, die Inbesitznahme von Land, die Praxis und Rechtfertigung kolonialer Niederlassungen, und mehr. Filmer hatte eingewandt, dass sowohl die politische Autorität, als auch das Eigentumsrecht nur infolge göttlicher Einrichtung existierten, d.h. dadurch, dass Gott Adam die Herrschaft über die Geschöpfe verliehen habe, durch die Unterwerfung von Eva, sowie durch Adams natürliche paternale Rechte an seinen Kindern. Monarchen gelten als die natürlichen Erben von Adams Rechten. Ein Teil von Lockes Strategie gegen diese Lehre, die er in beiden Abhandlungen verfolgt, war es, einen Keil zwischen den Besitz und das Erbe an Eigentum einerseits und den Besitz und die Übertragung der Autorität andererseits, sowie zwischen paternalistische (oder, was Locke bevorzugt, elterliche) Autorität und politische Autorität zu treiben. Beispielsweise stamme das Recht der Kinder zum Erbe am Eigentum ihrer Eltern von ihrem natürlichen Recht (nicht nur jenem des ältesten Kindes!) ab, von ihren Eltern unterhalten zu werden, was ein Recht sei, von dem nicht angenommen werden könne, dass es die patriarchalische Autorität oder die politische Macht umfasse. Die Analogie der Macht mit dem Eigentum wird in Filmers Argument allerdings nicht nur in der Beziehung zur Erbschaft aufgemacht, denn sie brachte es mit sich, dass die individuelle Eigentümerschaft einfach eine Begünstigung des Königs bedeutete, der die Besteuerung und ihre teilweise Einziehung zu seinem persönlichen Recht machte. Locke ging es folglich darum, dem Eigentum eine gänzlich andere Rolle in seiner Erklärung der politischen Gesellschaft zu geben. Für Locke ist die Regierung eine menschliche Erfindung, der das persönliche Eigentum vorausgeht. Im Naturzustand, so argumentiert er in der ‚Zweiten Abhandlung‘, haben Menschen im Einklang mit dem göttlichen oder natürlichen Moralgesetz die moralische Verpflichtung zur Bewahrung ‚des Restes der Menschheit‘, da sie ebenfalls Geschöpfe und Diener Gottes sind, und zwar infolge einer rationalen Erweiterung ihrer Pflicht zur Selbsterhaltung. Genauer gesagt „sollte niemand jemand anderem in seinem Leben, an seiner Gesundheit, Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.6). Doch noch vor jeder Regierung hat „jedermann das Recht, die Übertreter dieses Gesetze in einem solchen Maße zu bestrafen, um seine [weitere] Verletzung zu verhindern“. Der Naturzustand ist für Locke nicht nur eine rein ideale Abstraktion, sondern eine historische Situation, in der Mitglieder einfacher Gesellschaften gelebt haben und immer noch leben, außer in Kriegszeiten und in solchen Zeiten, in denen unabhängige nationale Regierungen immer notwendig existieren. Denn internationale Beziehungen richten sich nicht nach positivem Recht, das von einer anerkannten Autorität vorgeschrieben und sanktioniert wird. In dieser Situation hat das Opfer einer Aggression, bzw. tatsächlich jeder Zuschauer (denn die Verletzung ist eine des Naturrechts, die das Wohlergehen aller betrifft) das Recht zur Zerstörung des Aggressors, bis er Frieden, Reparation und Sicherheit für die Zukunft anbietet. Innerhalb bürgerlicher Gesellschaften existiert dieses Recht zum Krieg oder der Selbstverteidigung, wann immer das Gesetz nicht wirksam durchgesetzt werden kann, sei es unter den unmittelbaren 1053
Locke, John (1632–1704)
Umständen eines drohenden Schadens, oder wenn die Sachverwalter des Gesetzes manifest korrupt sind und selbst Gewalttaten und Unrecht begehen. Freiheit ist im Naturzustand die Freiheit von jeglicher Einschränkung außer den Moralgesetzen der Natur. Unter einer Regierung ist sie die Freiheit von dem „willkürlichen Willen eines anderen Menschen“, und von einer jeglichen menschlichen Regel außer „den geltenden Regeln […] die für jeden dieser Gesellschaft gelten“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.22). (Locke sieht die Sklaverei als eine Fortsetzung des Krieges an; sie ist gerecht, wenn der Krieg gerecht war, d.h. wenn sie anstatt der Todesstrafe stattfindet, weil die zu Recht Versklavten wie Kriminelle außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Dies deckt nach seiner Auffassung aber keineswegs die zeitgenössische koloniale Sklaverei, und tatsächlich lehnt Locke es auch ab, dass die Kinder der Aggressoren – sofern es bei der Kolonisierung überhaupt Aggressoren auf Seiten der Versklavten gab – ebenfalls zu Recht versklavt oder auch nur enterbt werden dürfen.) Besitz ergibt sich im Naturzustand mit der Handlung der Aneignung, die eine notwendige Bedingung der Nutzung jeglicher Lebensmittel sind, die allen zur Verfügung stehen: „Dieses Gesetz der Vernunft gilt auch für den Hirsch und die Indianer, die ihn getötet haben“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.30). Solche Aneignung ist eine Erweiterung des Prinzips, dass „jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person hat“, und daher auch „an der Arbeit seines Körpers“. Folglich ist alles, was aus einer „Mischung mit seiner eigenen Arbeit“ resultiert, sein Eigentum, vorausgesetzt, dass es für seinen eigenen Gebrauch ist, und „es gibt genug, und ausreichend Gutes bleibt gemeinsam für die anderen“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.27). Dieses Prinzip gilt auch für die Inbesitznahme und Abtrennung von Land zur Landwirtschaft, wodurch dessen Produktivität drastisch steigt. Mit dem Land, wie auch bei allem anderen, „macht die Arbeit bei weitem den größten Teil des Wertes der Dinge aus, derer wir uns in dieser Welt erfreuen“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.42). Gleichwohl habe niemand vor der konventionellen Verwendung des Geldes weder ein Motiv, noch ein Recht zur Produktion von mehr, als er selbst gebrauchen, anderen geben oder eintauschen kann, bevor es verdirbt. Etwas aus dem gemeinsamen Vorrat zu nehmen und es verderben zu lassen, ist gegen das Naturrecht. Geld jedoch ist ein Kunstprodukt, das das gesamte Wesen der Eigentumsrechte verändert, denn es kann unendlich lange aufbewahrt werden, ohne zu verderben. Durch Geld wird es lohnend, das Land vollständig zu nutzen, und es ist ein einfaches Mittel zur Aufbewahrung der eigenen Produktion. Solange andere nicht betrogen werden, erhöht die Abtrennung und Verbesserung von Land in großem Umfange „den gemeinsamen Vorrat der Menschheit“, wodurch „Tagelöhner in England besser leben als ein König unter den [eingeborenen] Amerikanern“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.41). Starke Wohlstandsunterschiede werden damit sowohl möglich und sind auch moralisch gerechtfertigt, sofern niemand darunter absolut leidet. (In einem Dokument des Handelsdirektoriums ging Locke einfach davon aus, dass jedermann „Fleisch, zu trinken, Kleidung und Feuerholz […] aus den Beständen des Königreichs haben sollte, egal ob sie arbeiten oder nicht“.) Die Wirkung dieses Postulats ist jedoch, dass die Verwaltung des Naturrechts wesentlich komplizierter und seine Umsetzung ungewiss wird, und ferner wird man auch durch die Gier zu seinem Bruch ermutigt. All dies macht nach Locke über den Bedarf sowohl an Unparteilichkeit, als auch an genügender Kraft zur Bestrafung von Übeltätern hinaus eine Regierung notwendig. Die Hauptrolle einer solchen Regierung ist die Bestimmung von Regeln 1054
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zur Ordnung und Bewahrung des Eigentums. Die gemeinsame Verteidigung ist ein weiteres Gebot. Eine Regierung, die mit einer solchen legislativen und exekutiven Macht ausgestattet ist, entsteht, wenn die Menschen im Wege ihrer Zustimmung ihre „exekutive Macht aus dem Naturrecht […] an die Öffentlichkeit abtreten“ (‚Zwei Abhandlungen‘ II.89). Jedes einzelne Mitglied erteilt seine Zustimmung, ist aber danach auch gebunden, sich mit der Mehrheit zu bewegen. Gegen den Einwand, dass eine solche Übereinkunft niemals stattgefunden habe, wendet Locke ein, dass, obwohl „die Regierung überall den geschichtlichen Aufzeichnungen vorausgeht“, es reichlich Fälle von neuen oder primitiven Gesellschaften mit gewählten Führern gäbe. Zunächst mag dies „irgendein guter und herausragender Mann sein“, oder auch ein wirkungsvoller Heerführer, oder tatsächlich der Vater einer familialen Gruppe, aber die Erfahrung der unbeschränkten Monarchie bestärkt die Bildung von gesetzgebenden Gewalten in Form von „menschlichen Kollektiven“, wobei niemand über dem Gesetz steht. Wie dem auch sei, die Zustimmung ist normalerweise eine stillschweigende und wird im aktiven Genuss der Vorteile des Gesetzes erteilt, sei es durch Landbesitz oder „durch einfache und freie Reise auf der Landstraße“. Eine solche stillschweigende Zustimmung verpflichtet zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz, obwohl die Verpflichtung nur so lange gilt, wie der Genuss besteht; denn das Individuum ist frei, auf den Gewinn daraus zu verzichten und sich einem anderen Gemeinwesen anzuschließen. Ausdrückliche Zustimmung bindet jedoch das Individuum zum Gehorsam und zur Unterstützung gegenüber einer bestimmten Regierung, bis diese sich auflöst (oder bei Vertrauensbruch). Die äußerste Verpflichtung eines Subjekts besteht gegenüber der höchsten Macht, und dies ist die Legislative, die ihrerseits durch das Naturrecht bei der Wahl ihrer Mittel gebunden ist, sowie durch die „bestehenden und verkündeten Gesetze“, und zwar zum Schutze ihrer Untergebenen und ihres Eigentums. In Anbetracht dieser Rolle hat eine Regierung kein Recht zur Besteuerung ihrer Untergebenen ohne deren Zustimmung „entweder durch sie selbst oder ihre Vertreter, die sie gewählt haben“. Zur Minimierung der Risiken aus einer Gesetzgebungstätigkeit um ihrer selbst Willen statt im öffentlichen Interesse sei es am besten, dass sie sich in Form einer Versammlung von Zeit zu Zeit treffe, und zwar gesondert von der ständig handelnden Exekutive. Eine dritte und ‚föderative‘ Kriegs-, Friedens- und Gemeinschaftsmacht kann nicht so leicht durch vorangehende Gesetzgebung wie die exekutive Macht geleitet werden, fällt aber natürlicherweise in dieselben verwaltenden Hände, denn beide hängen von der öffentlichen Gewalt ab. Locke lässt in Anerkennung der vorrangigen Macht des englischen Königs einige Einschränkungen der absoluten Gewaltenteilung zu, und auch der Unterordnung der Exekutive unter die Legislative, und zwar jene zur Auflösung und Einberufung des Parlaments nach Erfordernis der Umstände, und zum Ermessen bei der Anwendung des Gesetzes (Locke gesteht ihm auch ohne besondere Zustimmung das Vetorecht gegen die Gesetzgebung zu). Doch Locke sieht diese Vorrechte nur dann als gerechtfertigt an, wenn sie unter „die Macht zum Handeln zum Wohle der Öffentlichkeit ohne Regel“ fallen, d.h. angesichts unvorhergesehener Umstände, die daher gefährdet sind, missbraucht zu werden. Ihre fortgesetzte Anwendung entgegen dem öffentlichen Wohl, beispielsweise durch die Verweigerung der Zustimmung zu beschlossenen Gesetzen oder durch Fälschung der Regeln zu seiner Wahl, macht den König selbst zum Rebellen und Zerstörer der Regierung, der dann im Krieg mit seinen eigenen Untergebenen steht und diese in 1055
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den Naturzustand zurückwirft, wodurch sie das Recht haben, eine neue Regierung aufzustellen.
11. Einfluss
Vielleicht hatte kein Philosoph der Neuzeit einen größeren Einfluss als Locke. Seine unmittelbare Leistung war, zusammen mit Newton, die kartesische Wissenschaft und Philosophie in Europa zu beenden und damit die weit verbreitete neuplatonische Vorstellung vom Thron zu stürzen, dass der Geist und die Welt eine gemeinsame, göttlich auferlegte Struktur gemeinsam haben. Er setzte an ihre Stelle eine bescheidenere, naturalistische Konzeption der menschlichen Fähigkeiten. Die sorgfältige Beobachtung und systematische Beschreibung sind nach seiner Ansicht wertvoller als die Konstruktion von Hypothesen, die angeblich mit Hilfe überexperimenteller Mittel aufgestellt werden. Lockes eigene ‚historische‘ Behandlung des Geistes als einer vertrauten und beschreibbaren, aber tief rätselhaften Seite der Natur hatte bedeutenden Einfluss auf das europäische Denken. Seine Theorie der Klassifizierung beeinflusste die spätere Klassifizierungslehre, und seine brillante und originelle Theorie der personalen Identität ist immer noch ein Standardtext der philosophischen Diskussion. Seine Philosophie war einer der Haupteinflüsse auf die kantische, kann aber nach wie vor als eine Alternative zum Neukantianischen Konzeptualismus aufgefasst werden. Wenn seine ethische Theorie auch eher der letzte Atemstoß der früh-neuzeitlichen Naturrechtstheorie als ein Neubeginn war, verkündete er doch innerhalb dieser Struktur eine klassische Rechtfertigung der verantwortlichen, toleranten und im weiten Sinne politisch-demokratischen Gesellschaft, und sie war damit eine wichtige Quelle aller seitdem aufgetretenen politischen Theoretiker. Siehe auch: Empirismus; Rationalismus
Anmerkungen und weitere Lektüre: Locke, J. (1689/1690): ‚An Essay concerning Human Understandig‘, in der
engl. Ausgabe von P.H. Nidditch (Hrg.), Clarendon Edition, Oxford: Oxford University Press, 1975. (Es existieren mehrere deutsche Übersetzungen des ‚Essay‘. Die originalen Texte Lockes sind heute, selbst für einen geübten Leser englischer Texte, nicht mehr leicht zu verstehen. Gleichwohl empfiehlt sich beim genaueren Studium unbedingt der Originaltext, da die deutschen Übersetzungen häufig stark voneinander abweichen und das sichere Verständnis des Textes daher nur durch die Originallektüre gesichert werden kann. Die genannte Ausgabe wurde ursprünglich im Dezember 1689 veröffentlicht, trägt aber das Datum 1690. In diesem Hauptwerk trägt Locke sehr umfassend vor, dass alles, was wir wissen und denken können, durch unsere Erfahrung der Welt beschränkt ist, womit er dogmatische Ansprüche zum Erfassung des Wesens der Dinge angreift und darauf besteht, dass „die Vernunft unser letzter Richter und Führer in allem“ sein muss, einschließlich der Moral und der Religion. Dieser Text ist grundlegend für das Verständnis des neuzeitlichen Europa.) Lowe, E.J. (1995): ‚Locke on Human Understanding‘. London: Routledge. (Eine klare philosophische Einführung in den ‚Essay‘ für Studenten, der auf sensible Weise in die Interpretation der Lockeschen Argumente auch die moderne Lehre mit einbezieht.) Yolton, J.W. (1956): ‚John Locke and the Way of Ideas‘. Oxford: Oxford University Press. (Dieses kurze, aber informative Buch, das Lockes Denken in seinem 1056
Logik der Vagheit
englischen Kontext einordnet, war ein Meilenstein im historischen Studium der allgemeinen Philosophie.) MICHAEL AYERS
Logik der Vagheit
Der Ausdruck ‚Logik der Vagheit‘ oder ‚Fuzzy-Logik‘ (engl.: fuzzy logic) bezieht sich auf Begriffe ohne präzise Grenzen. Die Mitgliedschaft in einer unscharfen oder vagen Menge, d.h. der Menge von Dingen, auf welche der Begriff der Vagheit anwendbar ist, muss man sich als eine graduelle Angelegenheit denken. Daher muss man, statt die vage Menge zu spezifizieren, für jeden Gegenstand des Universums das Maß bestimmen, in dem dieser Gegenstand Mitglied dieser Menge ist. Der Ingenieur Lotfi Zadeh entwickelte eine Theorie der vagen Mengen und trat für ihre Verwendung in vielen Gebieten der Ingenieurskunst und der Wissenschaften ein. Zadeh und seine eifrigen Nachfolger versuchten eine Theorie der vagen Systeme, vage Algorithmen und sogar eine vage Arithmetik zu entwickeln. Die Wendung fuzzy logic wird inzwischen recht ungenau auf jegliche Analyse angewandt, die nicht strikt zweiwertige Ergebnisse hervorbringt. Sie bezieht sich auf keine bestimmte formale Logik in dem Sinne, wie der Ausdruck ‚Logik‘ von Philosophen oder Mathematikern verwendet wird. (Der Ausdruck fuzzy logic wird manchmal auch auf anachronistische Weise verwendet, um auf irgendeine mehrwertige Logik zu verweisen.) CHARLES G. MORGAN
Logik zweiter Ordnung, Philosophische Fragen der
Typischerweise verfügt eine formale Sprache über Variablen, die innerhalb einer Sammlung von Objekten oder einer sog. Diskursdomäne Gültigkeit haben. Eine Sprache hat einen Rang ‚zweiter Ordnung’, wenn sie zusätzlich Variablen enthält, die auf Mengen, Funktionen, Eigenschaften oder Relationen einer Diskursdomäne anwendbar sind. Eine Sprache ist ‚dritter Ordnung’, wenn sie Variablen enthält, die auch auf Mengen von Mengen oder auf Funktionen von Relationen etc. anwendbar sind. Eine Sprache ist von einer höheren Ordnung, wenn sie mindestens zweiter Ordnung ist. Sprachen zweiter Ordnung haben eine größere Ausdruckskraft als Sprachen erster Ordnung. Beispielsweise sagt man von einer Satzmenge S, sie sei kategorisch, wenn jeweils zwei Modelle, die S erfüllen, isomorph sind, d.h. dieselbe Struktur haben. Es gibt von wichtigen mathematischen Strukturen kategorische Beschreibungen zweiter Ordnung, einschließlich der natürlichen Zahlen, der reellen Zahlen und des euklidischen Raumes. Eine Folge des Löwenheim-Skolem-Theorems (siehe Löwenheim-Skolem Theoreme und Nicht-Standard-Modelle) ist es, dass es keine Beschreibung erster Ordnung der infiniten Strukturen gibt. Es gibt ferner eine Reihe zentraler mathematischer Begriffe wie z.B. die Endlichkeit, die Abzählbarkeit, der Minimal-Abschluss und die Wohlgeformtheit, die mit Formeln der Sprachen zweiter Ordnung dargestellt werden können, nicht aber in Sprachen erster Ordnung. Einige Philosophen machen geltend, dass eine Logik zweiter Ordnung keine Logik sei. Eigenschaften und Beziehungen seien zu undurchsichtig für das strikte Grundlagenstudium, während Mengen und Funktionen in den Bereich der Mathematik fielen, nicht aber in den der Logik, denn die Logik sollte keine eigene Ontologie haben. Andere Autoren disqualifizieren die Logik zweiter Ordnung, weil ihre
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Logik, Philosophie der
Folgebeziehung nicht effektiv sei: es gibt kein rekursiv abzählbares, schlüssiges und vollständig ableitbares System für die Logik zweiter Ordnung. Die tieferen Fragen hinter diesem Streit betreffen die Ziele und Zwecke der logischen Theorie. Wenn eine Logik ein Kalkül sein soll, d.h. ein effektiver Schlusskanon, dass ist die Logik zweiter Ordnung inakzeptabel. Wenn jemand dagegen einen Standard aufstellen will, dem das korrekte Schließen entsprechen muss, und die deskriptiven und kommunikativen Fähigkeiten der informellen mathematischen Praxis beschreiben will, dann ist hier vielleicht auch Platz für eine Logik zweiter Ordnung. Siehe auch: Typentheorie STEWART SHAPIRO
Logik, intensionale
Siehe: Intensionale Logik
Logik, intuitionistische und antirealistische Siehe: Intuitionistische Logik und Antirealismus
Logik, mehrwertige
Siehe: Mehrwertige Logik; Mehrwertige Logiken, Philosophische Fragen der
Logik, parakonsistente
Siehe: Parakonsistente Logik
Logik, Philosophie der Einführung Die Philosophie der Logik kann man im Großen und Ganzen als die Gruppe jener philosophischen Fragen beschreiben, die sich entweder aus der technischen Entwicklung der symbolischen (mathematischen) Logik ergaben, oder aus den Begründungen, die Logiker für ihre im technischen Sinne logischen Zwecke entwickelt haben. In der Aufstellung einer Liste von Gegenständen, die man als Philosophie der Logik einstufen könnte, liegt daher eine gewisse Willkür, denn die Fragen, die sich aus der technischen Entwicklung der Logik ergaben, können mit gleichem Recht auch solchen Gebieten wie der Semantik, der Sprachphilosophie, der Philosophie der Mathematik, der Erkenntnistheorie und sogar der Ethik zugerechnet werden (siehe Mathematik, Grundlagen der; Semantik; Sprachphilosophie).
1. Die Wirkung der Modallogik 2. Logik und Sprache 1. Die Wirkung der Modallogik Auf dem großen Gebiet der mathematischen Logik wird der größte philosophische Brocken von der modalen Logik vereinnahmt, einschließlich der Zeitlogik (siehe Modallogik; Zeitlogik). Die Modallogik ist seit Aristoteles wichtig gewesen. Sie ist aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine strenge formale Grundlage gestellt worden, und zwar durch Personen wie Hintikka, Kanger, Prior und vor allem durch Kripke (siehe Mögliche-Welten-Semantik). Das wichtigste philosophische Ergebnis dieser mathematischen Arbeit ist in Kripkes drei Vorlesungen vom Januar 1970 enthalten, die unter dem Titel ‚Name und Notwendigkeit‘ veröffentlicht wurden, und in denen Kripke einige Wege aufzeigt, auf denen die Mögliche-Welten-Semantik in ein Spannungsverhältnis zur damals vorherrschenden 1058
Logik, Philosophie der
Orthodoxie der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes gerät. Einige von Kripkes Ansichten wurden seitdem zu neuen Orthodoxien (siehe Eigennamen; Essentialismus; Referenz. Für entsprechende Arbeiten von David Lewis, Robert Stalnaker, David Kaplan und anderen, die den Rahmen der Mögliche-Welten-Semantik verwenden, siehe Beschreibungen; Demonstrative und Indexikalische Zeichen; Kontrafaktische Konditionalsätze). Um einen Vorgeschmack für die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu geben, bedenke man die vertraute Fregesche Ansicht, dass die Beziehung der Bedeutung, die zwischen einem Namen und dem, das diesen Namen trägt, durch die Beziehung der Darstellung unterhalten wird, die zwischen dem Sinn des Namens und dem Träger des Namens besteht. Der Name bezieht sich also auf einen bestimmten Gegenstand genau deswegen, weil er einen Sinn ausdrückt, der den Gegenstand darstellt (siehe Frege, G., § 3; Sinn und Bedeutung). Wenn man eine Erklärung des Sinns eines Namens verlangt, dann lautet die selbstverständliche Fregesche Erwiderung, ihn als etwas zu spezifizieren – wie es übrigens Frege selbst in einigen Fällen tat –, indem man definite Beschreibungen (siehe Beschreibungen) für diesen Namen verwendet. So könnte beispielsweise der Sinn des Namens ‚Aristoteles‘ sein: ‚Schüler von Platon, der Alexander den Großen unterrichtete‘. Obwohl es nun allerdings in der Tat der Fall gewesen sein kann, dass Aristoteles Alexander unterrichtete, so gibt es doch viele Wege, auf denen sich die Dinge hätten entwickeln können (d.h. viele ‚mögliche Welten‘), in denen jemand anderes als Aristoteles von Platon unterrichtet wurde und selbst den Alexander unterrichtete; man nehme nur an, Aristoteles hätte die Ernennung als Lehrer erhalten, wäre aber in einem Unfall getötet worden, bevor er seine Aufgabe wahrnehmen konnte, und wurde infolge von Philips Eingreifen durch einen anderen Schüler von Platon ersetzt worden. Die Beschreibung ‚der Schüler von Platon, der Alexander lehrte‘ ist deshalb in Kripkes Terminologie ‚nicht starr‘. Das heißt, sie kann unterschiedliche Individuen in unterschiedlichen möglichen Welten bezeichnen, und in einigen Welten bezeichnet sie vielleicht überhaupt niemanden (beispielsweise misstraut Philip aus irgendeinem Grunde plötzlich der platonischen Pädagogik und unternimmt keine Suche nach einem entsprechenden Lehrer). Es ist aber durch die formale Semantik für die modale Logik klar, dass begrifflich Raum für eine Kategorie von Ausdrücken gegeben ist, die starr sind, und zwar in dem Sinne, dass sie in jeder möglichen Welt denselben Gegenstand bezeichnen, wenn sie überhaupt einen Gegenstand bezeichnen. So wirft die formale Semantik also die Frage auf, ob sich Namen in den natürlichen Sprachen so verhalten, dass ihre Bedeutung (ihre Referenz) durch einen Sinn bestimmt ist, der unterschiedliche Gegenstände in unterschiedlichen Welten bezeichnet, oder ob sich Namen wie ‚starre Bezeichner‘ verhalten, die in jeder möglichen Welt denselben Gegenstand bezeichnen. Mit einer Reihe brillanter Beispiele demonstriert Kripke, dass Namen ‚starre Bezeichner‘ sind und deshalb keinen bedeutungsbestimmenden Sinn ausdrücken, der nicht starr ist (siehe Eigennamen). Die Idee, dass eine formale Semantik für eine bestimmte Form von Logik eine Darstellung der möglichen Semantik für eine Kategorie der natürlich-sprachlichen Ausdrücke liefert, eröffnet die Möglichkeit einer Debatte darüber, ob diese Darstellung die richtige ist und berührt damit auch philosophische Auffassungen zu Logiken, die selbst keine modale Logik sind. So zeigt die ‚freie Logik‘, wie namensartige Ausdrücke auch ohne eine standardisierte existenzielle Bindung, d.h. ohne 1059
Logik, Philosophie der
Existenzbehauptungen auskommen; die intuitionistische Logik und die mehrwertige Logik zeigen wiederum, wie eine Sprache eine kompositionale Semantik aufweisen kann, selbst wenn ihre Sätze gar nicht verwendet werden, um Aussagen mit verifikationstranszendenten Wahrheitsbedingungen zu treffen, die immer entweder zutreffen oder nicht zutreffen (siehe Intuitionistische Logik und Antirealismus; Kompositionalität; Mehrwertigen Logik, philosophische Fragen in der; Voraussetzung). Und die Logik zweiter Ordnung bietet einen eigenen Weg zum Verständnis der Bedeutung der Semantik mit einer Reihe von Sprechakten an, wie z.B. der Mehrfachquantoren (siehe Logik zweiter Ordnung, Philosophische Fragen der). In allen diesen Fällen ruft die formale Semantik des logischen Systems Debatten darüber hervor, wie gut die jeweilige Semantik die natürliche Sprache abbildet. 2. Logik und Sprache Es gibt auch eine Sammlung schon lang bestehender Fragen, deren Diskussionsqualität im Lichte dieser Entwicklung der modernen Logik sehr verbessert werden kann, zumindest was ihre Strenge angeht. Beispielsweise liegen die Ursprünge der Unterscheidung zwischen Aussagen (oder Sätzen oder Satzkontexten), die de dicto aufgebaut sind, und Aussagen etc., die de re aufgebaut sind, in der mittelalterlichen Philosophie (siehe Beschreibung; De re / De Dicto-Unterscheidung). Aber erst die zeitgenössische modale Logik liefert die Werkzeuge für eine präzise Charakterisierung dieser Unterscheidung, obwohl man zugeben muss, dass die Unterscheidung in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen nach wie vor ein Rätsel. Bezüglich anderer Diskussionspunkte, die hiervon betroffen sind (siehe Essentialismus, Existenz, Identität; Hinweisende Konditionalsätze, Quantoren und Vagheit). Betrachten wir noch einmal, um einen Vorgeschmack auf die anstehenden Arbeiten zu bekommen, den de re/de dicto-Gegensatz. Es gibt eine offenkundige syntaktische Differenz zwischen den Sätzen ‚Es ist notwendig, dass Eltern Kinder haben‘ und ‚Eltern sind so beschaffen, dass es notwendig ist, dass sie Kinder haben‘. Aber nur, weil es zwischen ihnen einen syntaktischen Unterschied gibt, folgt daraus nicht, dass es irgendeinen interessanten Unterschied in ihrer Bedeutung gibt. Ihr Unterschied kann jedoch recht genau in einer Mögliche-Welten-Semantik dargestellt werden. Wenn man sagt, es sei notwendig, dass Eltern Kinder haben, dann sagt man damit, dass in jeder möglichen Welt diejenigen Menschen, die in dieser Welt Eltern sind, in dieser Welt auch Kinder haben; dies ist eine offenkundige Wahrheit. Wenn man andererseits sagt, dass Eltern so beschaffen sind, dass es notwendig ist, dass sie Kinder haben, so sagt man damit, dass Menschen, die in der gegenwärtigen Welt Eltern sind, so beschaffen sind, dass sie in jeder möglichen Welt Kinder haben. Das ist offenkundig falsch, selbst wenn man die Kontingenz der Existenz der wirklichen Eltern beiseite lässt. Denn wenn man irgendwelche wirklichen Eltern betrachtet, dann gibt es auch denkbare Ereignisverläufe, und das heißt: eine mögliche Welt, in der diese Personen kinderlos sind und damit keine Eltern (siehe Quantoren, ersetzende und gegenständliche). Wenn eine formale Semantik für ein logisches System auf ein Fragment einer natürlichen Sprache angewandt wird, so wird der wörtliche Inhalt von Sätzen in diesem Fragment sehr präzise dargestellt. Es kann aber Aspekte der Bedeutung von solchen Sätzen geben, die dabei übersehen werden. Philosophische Standpunkte können dann darüber auseinander gehen, ob die jeweilige formale Semantik sich als eine solche erwiesen hat, die eine vollständige Darstellung der Semantik dieses 1060
Logik, Philosophie der
Fragments leistet, oder ob stattdessen diese nicht erfassten Bedeutungsaspekte sich als etwas erweisen, was gar nicht zum wörtlichen Inhalt dieses Fragments gehört (siehe Voraussetzungen). Im Falle der hinweisenden Konditionalsätze ist beispielsweise die relevante formale Semantik immer die einfachste mögliche Art, nämlich jene, deren wahrheitsfunktionale Darstellung lautet: ‚Wenn … dann …‘. Nach dieser Darstellung ist die Aussage ‚wenn p, dann q‘ wahr, wenn p falsch ist, oder wenn q wahr ist, ohne Rücksicht auf die wirkliche Bedeutung von p und q. So ist insbesondere jeder hinweisende Konditionalsatz mit einer wahren Folge wahr; Beispiele hierfür lauten: ‚Wenn Blei sich frei im Wasser bewegt, dann sinkt Blei im Wasser hinab‘ und ‚Wenn das Sonnensystem neun Planeten hat, dann hat die deutsche CDU die letzten Bundestagswahlen verloren‘. Wenn man einmal von astrologischen Rechtfertigungen der letzten Aussage absieht, dann schauen diese beiden Konditionalsätze entschieden seltsam aus. Aber Seltsamkeit ist eine Sache, Falschheit eine andere. Die Vorstellung, dass solche Konditionalsätze falsch sind, beruht auf dem Gedanken, dass man, wenn ein Konditionalsatz wahr ist, dies auf die direkteste mögliche Art zeigen kann, indem man den nicht-redundanten Gebrauch des Antezedens prüft. Die Durchführung dieser Anweisung führt zur Relevanzlogik (siehe Hinweisende Konditionalsätze; Relevanzlogik und Folgebeziehung). Andererseits gelangen wir, wenn wir sagen, dass Konditionalsätze einfach seltsam sind, zu einer Theorie der Kommunikation, die sich mit einer Erklärung der Seltsamkeit beschäftigt (siehe Grice, H.P.; Implikatur). Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, dass der philosophische Verkehr eine Einbahnstraße sei, nämlich von der Logik zur Sprache oder von der reinen Mathematik zur reinen Philosophie. Der Gedankenverkehr geht in beide Richtungen, wobei die obigen Bemerkungen über die Konditionalsätze, die ein alltägliches Phänomen darstellen, auch hier gelten, dass nämlich die Bemühungen in der Sprachphilosophie eine formale Entwicklung hervorbrachte, die umgekehrt auch wieder auf die Philosophie zurückwirkte. Beispielsweise ist die Idee, dass der Beweis für die Wahrheit eines Konditionalsatzes über eine direkte, nicht-redundante Prüfung seiner Antezedentien führt, bei ihrer Betrachtung recht klar, aber der nähere Kontakt mit der Literatur der Logik der Konditionalsätze kann auch dazu führen, seine Haltung zu überdenken. Diese Art von dialektischem Wechselspiel sollte fortbestehen, da es auf absehbare Zeit eine fruchtbare Quelle der philosophischen Forschung ist. Siehe auch: Anapher; Dummett, M.A.E.; Geltungsbereich; Identität des Ununterscheidbaren; Indirekte Rede; Intensionale Entitäten; Intensionalität; Kripke, S.A.; Logische Konstanten; Massenausdrücke; Notwendige Wahrheit und Konvention; Ontologische Verpflichtung; Prior, A.N.; Quantoren, Verallgemeinerte; Quine, W.v.O.; Russell, B.A.W.; Type/Token-Unterscheidung; Uneindeutigkeit; Vagheit; Zitat, Unterschied des Wortgebrauchs und der Gegenstandserwähnung beim Anmerkungen und weitere Lektüre: Hughes, R.I.G. (Hrg.) (1993): ‚A Philosophical Companion to First-Order Logic‘. Indianapolis, Indiana: Hackett Publishing Company. (Neue und erneut abgedruckte Aufsätze zur Aussagenlogik mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad.) Tomberlin, J.E. (Hrg.) (1994): ‚Logic and Language‘. Philosophical Perspectives 8, Atascadero, California: Ridgeview. (Eine Sammlung neuer Aufsätze über relevante Diskussionspunkte der modernen philosophischen Logik.) GRAEME FORBES 1061
Logische Konstanten
Logiken, Freie
Siehe: Freie Logiken
Logiken, infinitistische
Siehe: Infinitistische Logiken
Logiken, ordinale
Siehe: Ordinale Logiken
Logische Form
Siehe: Logische Konstanten
Logische Konstanten
Ein fundamentales Problem in der Philosophie der Logik ist die Charakterisierung der Begriffe der ‚logischen Konsequenz‘ und der ‚logischen Wahrheit‘ auf eine Weise, dass damit erklärt wird, was das semantisch, metaphysisch oder erkenntnistheoretisch Bestimmende an ihnen ist. Traditionell heißt es, dass ein Satz p eine logische Konsequenz einer Menge S von Sätzen einer Sprache L ausschließlich dann ist, wenn (1) die Wahrheit der Sätze von S in L die Wahrheit von p sicherstellen, und wenn (2) diese Garantie eine Folge der ‚logischen Form‘ der Sätze von S und des Satzes p ist. Ein Satz ist demzufolge logisch wahr, wenn seine Wahrheit durch seine logische Form gesichert ist (beispielsweise ‚2 ist gerade oder 2 ist ungerade‘). Es gibt drei Probleme bei diesem Szenario, nämlich bei der Explikation des Begriffs der logischen Form, bei der Erklärung, wie die logische Form von Sätzen dazu führt, dass die Wahrheit gewisser Sätze die Wahrheit anderer Sätze garantiert, und bei der Erklärung, was dann eigentlich garantiert wird. Die logische Form eines Satzes kann dargestellt werden, indem man nichtlogische Ausdrücke durch einen schematischen Buchstaben ersetzt. Zwei Sätze habe dieselbe logische Form, wenn sie unter Einsatz dieser Prozedur in demselben Schema abgebildet werden können (‚2 ist gerade oder 2 ist ungerade‘ und ‚3 ist eine Primzahl oder 3 ist keine Primzahl‘ haben dieselbe logische Form: ‚p oder nicht-p‘). Wenn ein Satz logisch wahr ist, dann ist jeder Satz, der ihre logische Form teilt, ebenfalls wahr. Jede Beschreibung der logischen Konsequenz setzt dann eine Konzeption der logischen Form voraus, die umgekehrt eine vorangehende Abgrenzung von den logischen Konstanten voraussetzt. Eine solche Abgrenzung führt zu einer Antwort auf das erste der oben geschilderten Probleme; das Ziel ist die Erzeugung einer Abgrenzung auf eine Weise, dass auch eine Lösung für die übrigen beiden Fragen möglich wird. Ansätze zur Beschreibung der logischen Konstanten und der logischen Konsequenz sind von der Entwicklung der mathematischen Logik betroffen. Ein Weg zur Betrachtung der logischen Konstanz ist, sie als semantische Eigenschaft anzusehen, d.h. als eine Eigenschaft, die ein Ausdruck kraft des Beitrages besitzt, den er zur Bestimmung der Wahrheitsbedingungen von in ihm enthaltenen Sätzen leistet. Ein weiterer Weg ist die beweistheoretische Berufung auf Aspekte der kognitiven oder operativen Rolle als den definierenden Merkmalen logischer Ausdrücke. Im Großen und Ganzen passen beweistheoretische Darstellungen ohne weiteres zu einer Konzeption der Logik als einer Theorie des formal-deduktiven Schlusses. Modelltheoretische Darstellungen ergänzen eine Konzeption der Logik als einem Instrument zur Charakterisierung von Strukturen. Siehe auch: Beweistheorie TIMOTHY MCCARTHY 1062
Logischer Positivismus
Logischer Atomismus
Der Name ‚logischer Atomismus‘ bezieht sich auf ein Netz von Thesen über die Teile und die Struktur der Welt, sowie über die Mittel, durch die die Sprache die Welt abbildet. Wittgenstein führt in seinem ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘ eine Fassung des logischen Atomismus aus, die er in der Zeit um den Ersten Weltkrieg entwickelte, so wie auch Russell, der seine Arbeiten etwa zeitgleich publizierte. Es ist kein Zufall, dass diese Arbeiten über den logischen Atomismus eine gemeinsame Oberflächenbeschreibung der Sprache teilen, denn die beiden Autoren haben sich gegenseitig in Cambridge beeinflusst. Das gemeinsame Thema ist, dass die Bedeutung unserer Sätze ihre Wurzeln in einer einfachen Beziehung zwischen einfachen Ausdrücken und ihren ebenfalls einfachen Wortträgern haben, die ihre logischen Atome sind. In einer logisch vollkommenen Sprache beschreiben atomare Sätze die Anordnungen dieser Atome, und komplexe Sätze sind nach dieser Darstellung Kombinationen solcher atomaren Sätze. Aber Sätze der gewöhnlichen Sprache können eine irreführende Oberfläche haben, die sich durch solche Analysen offenbart. Das gemeinsame Thema verschleiert bemerkenswerte Unterschiede in der Lehre beider Autoren. Insbesondere gibt es Differenzen im Wesen der logischen Atome und in den Beweisen für die Existenz dieser Atome. Siehe auch: Pluralismus ALEX OLIVER
Logischer Positivismus Einführung Der logische Positivismus (auch ‚logischer Empirismus‘ oder ‚Neo-Positivismus‘ genannt) entstand in Österreich und Deutschland in den 1920er Jahren. Er war inspiriert durch die logischen, mathematischen und physiko-mathematischen Revolutionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und zielte auf die Schaffung einer ähnlich revolutionären wissenschaftlichen Philosophie, die gereinigt sein sollte von den endlosen Kontroversen der überkommenen Metaphysik. Seine wichtigsten Vertreter waren die Mitglieder des Wiener Kreises (siehe Wiener Kreis), die sich um Moritz Schlick an der Wiener Universität sammelten (einschließlich Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Kurt Gödel, Hans Hahn, Karl Menger, Otto Neurath und Friedrich Waismann), sowie die Mitglieder der Gesellschaft für Empirische Philosophie, die sich um Hans Reichenbach an der Berliner Universität sammelten (einschließlich Walter Dubislav, Kurt Grelling und Carl Hempel). Obwohl sie nicht als offizielle Mitglieder eines der beiden Kreise galten, waren doch die österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein und Karl Popper zumindest zeitweise dem logischen Positivismus eng verbunden. Die Bewegung des logischen Positivismus erreichte ihren Höhepunkt in Europa in den Jahren 1928–1934, doch das Aufkommen des Nationalsozialismus markierte das effektive Ende dieser Phase. Danach emigrierten seine wichtigsten Vertreter in die USA. Hier fand der logische Positivismus eine empfängliche Zuhörerschaft unter so pragmatisch, wie auch empirisch und logisch gestimmten amerikanischen Philosophen wie Charles Morris, Ernest Nagel und W.v.O. Quine. Auf diese Weise entfaltete sie als so genannte ‚Analytische Philosophie‘ einen enormen Einfluss, insbesondere auf die Wissenschaftsphilosophie und die allgemeinere Anwendung 1063
Logischer Positivismus
logischer und mathematischer Techniken zur Lösung philosophischer Probleme. Dieser Einfluss begann um 1960 mit dem Aufkommen einer pragmatischen Form des Naturalismus durch Quine und einer historisch-soziologischen Herangehensweise in der Philosophie vor allem durch Thomas Kuhn zu schwinden. Beide Formen dieses späteren Trends entwickelten sich jedoch in ausdrücklicher Reaktion auf die Philosophie des logischen Positivismus und bezeugen damit seine fortdauernde Bedeutung. 1. Historischer Hintergrund 2. Relativistische Physik 3. Logik und die Grundlagen der Mathematik 4. Der Wiener Kreis 5. Emigration, Einfluss, Nachwirkungen 1. Historischer Hintergrund Immanuel Kant hat in den Augen der Positivisten einen andauernden Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie geleistet, speziell durch seine Ablehnung der Möglichkeit übersinnlichen metaphysischen Wissens, und durch seine Rückorientierung auf die theoretische Philosophie zu den beiden Fragen ‚Wie ist reine Mathematik möglich?‘ und ‚Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?‘ In der Beantwortung dieser beiden Fragen entwickelte Kant seine berühmte Verteidigung der synthetischen Erkenntnis a priori, d.h. eines Wissens, das von der Sinneserfahrung unabhängig und dennoch substanziell auf die empirische Welt anwendbar ist. Für Kant ist die mathematische Physik Newtons ein typisches Beispiel für eine solche synthetischapriorische Erkenntnis, weil sie sich auf die euklidische Geometrie und auf fundamentale Gesetze der Bewegung, wie z.B. das Trägheitsgesetz, stützt. Kants Theorie der apriorischen Vermögen des Geistes, d.h. das Vermögen der reinen Intuition oder Sinneswahrnehmung und jenes des reinen Verstandes, sollte den Ursprung der synthetisch-apriorischen Erkenntnis erklären und damit die Möglichkeit der Newtonschen mathematischen Physik erfassbar machen. Nach der zwischenzeitigen Dominanz des nachkantischen Idealismus wiederholte eine Reihe deutschsprachiger Philosophen den Ruf nach einer wissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen und nicht-metaphysischen Form der Philosophie. Aber die neukantianischen Philosophen mussten auch mit einer neuen und wichtigen Herausforderung der kantischen synthetisch-apriorischen Erkenntnis fertig werden, nämlich der nicht-euklidischen Geometrie von Gauss, Bolyai, Lobachevskii, Riemann und Klein (siehe Arithmetik, Philosophische Fragen der). Obwohl noch einige Neukantianer die Einzigartigkeit und Apriorität der euklidischen Geometrie zu verteidigen versuchen, ging es anderen, insbesondere den Mitgliedern der Marburger Schule wie z.B. Paul Natorp und Ernst Cassirer, um eine Verallgemeinerung der synthetisch-apriorischen Erkenntnis über ihre konkrete Verkörperung in der klassisch-euklidisch-newtonschen mathematischen Physik hinaus (siehe Neukantianismus). Diese Tendenz war ähnlich einflussreich wie die Ideen, die von den logischen Positivisten ausgearbeitet wurden. Die wichtigsten Vorgänger des logischen Positivismus im 19. Jahrhundert waren jedoch Hermann von Helmholtz, Ernst Mach und Henri Poincaré. Durch ihre Bemühungen um ein Verständnis der radikalen Änderungen, die durch die Wissen-
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Logischer Positivismus
schaft des 19. Jahrhunderts wehten, initiierten diese drei Denker einen neuen Stil der wissenschaftlichen Philosophie, der später von den Positivisten aufgegriffen und systematisiert wurde. Die fraglichen Veränderungen betrafen den Aufstieg der nichteuklidischen Geometrie, die Formulierung des Energieerhaltungssatzes und die allgemeine Thermodynamik, sowie den Beginn der wissenschaftlichen Physiologie und Psychologie. Helmholtz leistete grundlegende Beiträge auf allen drei Gebieten. Er gründete die Geometrie auf dem Postulat der ‚freien Beweglichkeit‘ starrer Körper, und da alle klassischen Geometrien mit konstanten Kurvaturen, d.h. negativer, positiver oder Null-Kurvatur (Euklid), dieses Postulat erfüllen, widersprach er der kantischen Bindung an die Apriorität der Geometrie: ob der Raum euklidisch oder nichteuklidisch ist, sei eine empirische Frage betreffend das wirkliche Verhalten der starren Körper. In der Physiologie artikulierte Helmholtz ein allgemeines Prinzip der psychophysischen Korrelation, das besagt, dass unsere Empfindungen mit einem Prozess der externen physikalischen Welt korrespondieren, dabei aber keineswegs Bilder dieses Prozesses sind. Diese Prozesse bestehen am Ende aus mikroskopischen Atomen, die über zentrale Kräfte miteinander interagieren. Auf dieser Basis entwickelte Helmholtz seine berühmte Interpretation der Energieerhaltung. Mach und Poincaré können als Personen angesehen werden, die auf verschiedene Weise auf Helmholtz reagierten. Mach griff besonders den Atomismus und die Idee einer psychophysischen Korrelation zwischen zwei inkommensurablen Bereichen an und favorisierte seinerseits ein Programm der Einheit der Wissenschaften, das auf den unmittelbar wahrnehmbaren ‚Elementen‘ oder ‚Empfindungen‘ beruhen sollte. Die Aufgabe einer Wissenschaft bestünde demzufolge allein in der Suche nach Korrelationen zwischen solchen Elementen (wie in der phänomenologischen Thermodynamik), und alle dualistischen und atomistischen Tendenzen müssten über die historisch-kritische Analyse als metaphysisch ausgemerzt werden. Dieser Machsche Empirismus übte einen entscheidenden Einfluss auf die logischen Positivisten aus. Poincaré wiederum beeinflusste die Positivisten vor allem im Wege seiner Philosophie der Geometrie. Er war sich mit Helmholtz in der Betonung der freien Beweglichkeit einig, nicht aber mit Helmholtz’ Empirismus. Nach Poincaré ist die Idee eines starren Körpers eine Idealisierung, die nicht direkt in der physikalischen Welt angetroffen werden kann. Aber wenn wir frei eine der drei klassischen Geometrien sozusagen als Definition der Starrheit wählen, dann ermöglichen wir es überhaupt erst, empirische Untersuchungen mit wirklichen physischen Körpern auf den Weg zu bringen. Die physikalische Geometrie ist daher weder synthetisch a priori, noch empirisch; sie ist vielmehr ‚konventionell‘ (siehe Konventionalismus). 2. Relativistische Physik Albert Einsteins spezielle (1905) und allgemeine (1916) Relativitätstheorie schlugen in diese hochbewegliche intellektuelle Situation wie eine Offenbarung ein (siehe Einstein, A.; Relativitätstheorien, Philosophische Bedeutung der). Und die relativistische Revolution in der Physik stimulierte unmittelbar Schlick, Reichenbach und Carnap zur Einleitung einer parallelen Revolution in der wissenschaftlichen Philosophie. Alle drei Denker waren sich darin einig, dass die Relativität, speziell wegen der allgemein relativistischen Beschreibung der Gravitation durch eine vierdimensionale Geometrie variabler Kurvatur, endgültig die kantische Idee widerlegte, dass die euklidische Geometrie a priori synthetisch sei. Darüber hinaus 1065
Logischer Positivismus
verdankt sich der Aufstieg der Relativität einer kritischen Reflexion der empirischen Bedeutung raumzeitlicher Begriffe in der Physik (speziell der Begriffe der Gleichzeitigkeit und der Bewegung) und demonstriert auf diese Weise die Fruchtbarkeit des entsprechenden, grundlegenden Standpunktes von Mach. Zur selben Zeit illustriert jedoch die Relativität infolge ihrer Anwendung fortgeschrittener mathematischer Techniken die Beschränkungen des Machschen Empirismus, nach dem sogar noch die mathematischen Begriffe einen empirischen Ursprung haben. Alle drei Denker versuchten daher eine vermittelnde Position zu formulieren, die sowohl dem Machschen Empirismus, als auch der fortgesetzten Bedeutung apriorischer mathematischer Elemente in der Physik gerecht werden sollte. Poincarés Begriff der Konvention wurde in dieser Situation zu einer zentralen Idee. Schlick, Reichenbach und Carnap gingen zunächst ziemlich unterschiedliche Wege. Während Schlick grundsätzlich davon ausging, dass das kantische synthetische Apriori überhaupt keinen Platz mehr im relativistischen Kontext habe, versuchten Reichenbach und Carnap zunächst noch, wichtige Aspekte des Kantianismus zu retten. Reichenbach unternahm dies, indem er die Idee der notwendigen und nicht revidierbaren Wahrheit von der Idee einer notwendigen Annahme einer bestimmten wissenschaftlichen Konzeptualisierung der Natur unterschied. Für Reichenbach widerlegte die Relativität eine frühere solche Konzeptualisierung und verkörperte eine nachfolgende. Kant hatte nach seiner Auffassung Recht darin, dass die notwendigen Annahmen der Newtonschen Physik auch die euklidische Geometrie und die Bewegungsgesetze einschlossen. Im Wechsel zur relativistischen Physik werden diese Konzepte jedoch durch grundlegend neue Annahmen ersetzt. Wir kommen somit zu einer relativistischen Fassung des kantischen Apriori, die nunmehr die Vorannahmen einer bestimmten neuen Theorie bilden. Im Gegensatz dazu begann Carnap mit der Unterscheidung der metrischen von den topologischen Merkmalen des physischen Raumes. Letztere sind tatsächlich synthetische Apriori im Sinne Kants, ja sie hängen sogar von einer Art reiner Intuition ab, aber die Ersteren implizieren, wie die allgemeine Relativitätstheorie gezeigt hat, im Wesentlichen ein Verhalten von empirisch gegebenen Körpern. Wir gelangen damit, d.h. mit dem Übergang von den metrischen zu den topologischen Merkmalen, zu einer Aufweichung des kantischen Apriori. Die frühen Versuche zur Rettung bestimmter Merkmale des synthetischen Apriori hatten jedoch keinen Bestand. Schlicks Auffassung, dass die Relativitätstheorie mit Kant einfach unvereinbar ist, setzte sich schließlich durch. Obwohl die Unterscheidung zwischen Poincarés Konventionalismus und dem Helmholtzschen Empirismus nicht ganz klar war (und speziell Reichenbach bevorzugte in seinem späteren Standpunkt eher die Nähe zu Helmholtz als zu Poincaré), ersetzten doch sowohl Reichenbach, als auch Carnap bald den kantischen Begriff des Apriori mit Poincarés Begriff der Konvention. Diese Form des Konventionalismus war jedoch, anders als die Poincarésche, im Schmelztiegel einer revolutionär neuen Physik geschmiedet worden und bewies daher die Vitalität und Relevanz einer neuen Philosophie. 3. Logik und die Grundlagen der Mathematik Während die Positivisten sich auf Poincarés Begriff der Konvention beriefen (wie er, so meinten sie, in der relativistischen Physik realisiert war), um eine neue Antwort auf Kants Frage betreffend die Möglichkeit einer reinen Naturwissenschaft 1066
Logischer Positivismus
zu geben, so beriefen sie sich auf moderne Entwicklungen der Logik und der Grundlagen der Mathematik, um eine neue Antwort auf Kants Frage betreffend die Möglichkeit der reinen Mathematik zu geben. Es gab in der Tat zwei unterschiedliche Entwicklungen hier. Der formale Standpunkt, für den David Hilberts logisch strenge Axiomatisierung der Geometrie steht, befreite die Geometrie von jeder Referenz auf intuitive räumliche Formen und schilderte ihren Gegenstand als etwas, das einfach aus irgendetwas besteht, das die relevanten Axiome erfüllt (siehe Hilberts Programm und Formalismus). Die Geometrie ist im strikten Sinne und a priori wahr, nicht etwa, weil sie die Struktur eines intuitiv gegebenen Raums wiedergibt, sondern vielmehr weil sie eine ‚implizite Definition‘ ihres Gegenstandes durch rein logische Formeln gibt, oder aber gänzlich unbestimmt ist. Die mathematische Wahrheit wird nach dieser Sichtweise mit logischer Konsistenz identifiziert. Der ‚Logizismus‘ von Gottlob Frege und Bertrand Russell zielt dagegen auf die Konstruktion einer spezifisch mathematischen Disziplin (insbesondere der Arithmetik) innerhalb eines allumfassenden Systems der Logik. Nach dieser Auffassung haben die mathematischen Disziplinen (wie die Arithmetik) einen definiten Gegenstand, über den sie Wahrheiten aussagen, nämlich den Gegenstand der Logik selbst (Aussagen, Klassen etc.). Da diese allerdings rein logischer Natur sind, drücken solche rein mathematischen Disziplinen lediglich analytische Wahrheiten aus und sind keine synthetischen Apriori (siehe Logizismus). Hilberts formaler Standpunkt wurde besonders von Schlick weiter verfolgt, der in gewissem Sinne auch den Begriff der ‚impliziten Definition‘ prägte, zusammen mit der damit zusammenhängenden Unterscheidung zwischen der unbestimmten Form und dem bestimmten (d.h. gegebenen) Inhalt, die das Kernstück seiner Philosophie ist. Der logizistische Standpunkt wurde dagegen speziell durch Carnap verfolgt, der während seines Studiums bereits Frege gesehen hatte und dann entscheidend von Russell beeinflusst wurde. Tatsächlich wurde Carnap durch Russells Konzeption der ‚Logik als dem Wesen der Philosophie‘ inspiriert, um die Philosophie selbst nach dem Vorbild der logizistischen Konstruktion der Arithmetik neu zu fassen. Er begann in seinem Buch ‚Der logische Aufbau der Welt‘ (1928) mit der Entwicklung einer ‚rationalen Rekonstruktion‘ der empirischen Erkenntnis, d.h. einer Erkenntnislehre, innerhalb des logischen Rahmens von Russells und Whiteheads ‚Principia Mathematica‘ (1910–1913). Durch die Definition oder die ‚Bildung‘ aller Begriffe der empirischen Wissenschaften innerhalb seiner Logik auf der Grundlage einer subjektiven ‚elementaren Erfahrung‘ sollte Carnaps Rekonstruktion unter anderem zeigen, dass die Dichotomie zwischen empirischer Wahrheit und analytischer / definitorischer Wahrheit tatsächlich eine sehr gründliche ist. Die Logik der ‚Principia Mathematica‘ warf jedoch selbst ernsthafte technische Schwierigkeiten auf, nämlich den Bedarf nach einem speziellen existenziellen Axiom, ähnlich dem Unendlichkeitsaxiom oder dem Auswahlaxiom. Teilweise als Antwort auf solche Schwierigkeiten behauptete Ludwig Wittgenstein in seinem ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘, dass die Logik am Ende überhaupt keinen Gegenstand habe: die Aussagen der Logik seien vollkommen tautologisch oder inhaltsleer (siehe Wittgenstein, L.J.J., §§ 3–7). Carnap nahm diese Idee begeistert auf, versuchte aber, sie an die technisch neue Situation nach den ‚Principia‘ anzupassen, was die Einbeziehung der ‚intuitionistischen‘ oder ‚konstruktivistischen‘ Sichtweise in der Form von L.E.J. Brouwer mit sich brachte, sowie der Metamathematik in der Form, 1067
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wie sie von Hilbert und Kurt Gödel entwickelt worden war (siehe Intuitionismus; Mathematik, Grundlagen der). In seinem Buch ‚Die Logische Syntax der Sprache‘ (1934) formulierte Carnap seine reife Theorie der formalen Sprachen und trug seine berühmten ‚Prinzipien der Toleranz‘ vor, nach denen es gar nicht die Aufgabe der Logik sei, nach wahren oder ‚korrekten‘ Prinzipien Ausschau zu halten. Die Aufgabe der Logik sei vielmehr die Erforschung der Struktur einer bzw. aller formalen Sprachen, d.h. ‚des grenzenlosen Ozeans der unbeschränkten Möglichkeiten‘, um deren unendlich verschiedene logische Strukturen zu erforschen und zu ‚kartographieren‘. Tatsächlich wurden die Konstruktion und die logische Erforschung solcher formaler Sprachen für Carnap zur neuen Aufgabe der Philosophie. Dem Begriff der Analytizität kam dadurch eine noch größere Bedeutung zu. Denn dieser Begriff kennzeichnet die logische im Gegensatz zu der empirischen Forschung und drückte nun den distinkten Charakter der Philosophie selbst aus. 4. Der Wiener Kreis Otto Neurath, Hans Hahn und der Physiker Philipp Frank initiierten ab dem Jahre 1907 eine Diskussionsgruppe in Wien, in der sie über eine Kombination des Machschen Empirismus mit Poincarés neuen Einsichten in den konventionellen Charakter der physikalischen Geometrie nachdachten. Tief beeindruckt von Schlicks Arbeit über die Relativitätstheorie schafften sie es (offenbar mit Einsteins Hilfe), Schlick im Jahre 1922 an die Wiener Universität zu bringen, wo er den Lehrstuhl für die Philosophie der induktiven Wissenschaften übernahm, auf dem vorher Mach gelehrt hatte. Was wir heute als den Wiener Kreis kennen, nahm nun schnell Form an. Reichenbach, der Carnap über ihre gemeinsamen Interessen an der Relativitätstheorie kennen gelernt hatte, stellt ihn 1924 Schlick vor. 1925 las Carnap vor dem Kreis in Wien über seine neue ‚konstitutive Theorie der Erfahrung‘ und wurde 1926 unter Schlick Assistenzprofessor. Der Kreis stürzte sich daraufhin in intensive Diskussionen von Carnaps Erkenntnislehre und Wittgensteins ‚Tractatus‘. Wittgensteins Auffassung, dass alle Aussagen Wahrheitsfunktionen elementarer Aussagen seien, wurde mit Carnaps Bildung wissenschaftlicher Begriffe auf der Grundlage elementarer Erfahrungen kombiniert, um daraus eine neue und logisch stringente Form des Empirismus zu machen, nach der alle bedeutungsvollen, d.h. wissenschaftlichen Aussagen auf Aussagen über unmittelbar gegebene Erfahrung reduziert werden können. Dies wurde dann als die ‚offizielle‘ Philosophie des Wiener Kreises in dem berühmten Manifest ‚Wissenschaftliche Weltauffassung‘ von 1929 dargelegt. Neurath war die treibende Kraft, die den Wiener Kreis daraufhin zu einer öffentlichen philosophischen Bewegung machte. Als ausgebildeter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler war Neurath politisch als ein wissenschaftlicher Neomarxist außerordentlich aktiv. Insbesondere begriff er die Gemeinschaft der Naturwissenschaftler als ein Vorbild oder Modell für eine rational organisierte menschliche Gesellschaft, und auf dieser Grundlage trat er für die Reorganisation sowohl des intellektuellen, als auch des sozialen Lebens ein, aus dem alle nicht-rationalen, ‚metaphysischen‘ Elemente definitiv getilgt sein sollten. In diesem Sinne sah Neurath die philosophische Arbeit des Wiener Kreises als einen Reflex der größeren Bewegung für eine ‚neue Sachlichkeit‘ an, die in der Kultur der Weimarer Zeit ohnehin en vogue war und beispielsweise durch das Dessauer Bauhaus einen bleibenden Ausdruck erhielt. Wie auch in der allgemeinen Kultur stand diese Bewegung in der 1068
Logischer Positivismus
Philosophie für eine Ablehnung des Individualismus zugunsten einer Kooperation in kooperativer, stückweiser und ‚technologischer‘ Herangehensweisen an die Probleme, die sich beispielhaft in den Wissenschaften zeigten, und sie stand deswegen insbesondere feindselig dem gegenüber, was als eine Rückkehr zum metaphysischen Systembau des postkantischen Idealismus angesehen wurde, nämlich die Philosophie des ebenfalls einflussreichen Martin Heidegger. Carnap stand Neuraths weiteren philosophisch-politischen Visionen besonders positiv gegenüber und drückte diese Vision klar im Vorwort zum ‚Logischen Aufbau der Sprache‘ aus. Schlick dagegen bevorzugte ein individualistischeres Modell der Philosophie und widerstand der Idee einer ‚Bewegung‘. Diese Divergenz zwischen einem ‚linken‘ und einem ‚rechten Flügel‘ innerhalb des Wiener Kreises zeigte sich in der Sphäre der Erkenntnislehre in den Jahren 1930– 1934 in einer Debatte über die ‚Protokollsätze‘. Zur Diskussion stand der Status der grundlegenden Aussagen oder Protokolle, in denen die Ergebnisse wissenschaftlicher Beobachtung niedergelegt werden. Anfangs sah es in Carnaps System der Bildungsgesetze im ‚Aufbau‘ so aus, als ob solche Aussagen private und subjektive Sinneserfahrung ausdrücken müssten. Für Neurath war diese Auffassung jedoch inkonsistent mit der Öffentlichkeit und Intersubjektivität, die von der Wissenschaft gefordert wird. Er vertrat daher eine stärker naturalistische Konzeption des Protokolls als Sätze, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als Aufzeichnung der Ergebnisse von Beobachtungen zu einem gegeben Zeitpunkt akzeptiert wurden. Diese Sätze mussten deshalb in der Öffentlichkeit und in ‚physikalistischer‘ Sprache der vereinheitlichten Wissenschaft ausdrückbar sein und seien folglich, wie alle anderen Sätze auch, revidierbar. Schlick war über Neuraths Sichtweise tief empört, weil er sie als eine Aufgabe des Empirismus zugunsten der Kohärenztheorie der Wahrheit auffasste (siehe Wahrheit, Kohärenztheorie der). Carnap versuchte auf seine typische Art in dem Disput zu vermitteln: es stünde lediglich die Wahl zwischen zwei verschiedenen Sprachen zur Diskussion, in denen die Ergebnisse der vereinheitlichten Wissenschaft formuliert oder rational rekonstruiert werden müssten. Obwohl Neuraths gründlich intersubjektive und ‚physikalistische‘ Sprache (wo, wie besonders Karl Popper betonte, jeder Satz widerlegbar ist) aus pragmatischen Gründen eigentlich klar überlegen war, meinte Carnap, dass diese Wahlentscheidung, wie jede andere Wahl einer formalen Sprache, am Ende konventionell sei. Der Empirismus war damit in Carnaps Händen selbst durch konventionelle und damit nichtempirische Wahlentscheidungen geprägt (siehe Wiener Kreis). 5. Emigration, Einfluss, Nachwirkungen Der Aufstieg des Nazi-Regimes löste eine umfassende Emigration der logischen Positivisten in die englischsprachige Welt aus. Carnap, der im Jahre 1931 Professor in Prag geworden war, ging 1936 an die Universität von Chicago. Reichenbach, der 1933 nach Istanbul geflüchtet war, ging 1938 an die Universität von Kalifornien in Los Angeles. (Nach Reichenbachs Tod im Jahre 1953 übernahm Carnap 1954 seine Stellung an der UCLA.) Neurath flüchtete, nachdem er Wien in Richtung Den Haag im Jahre 1934 verlassen hatte, 1940 nach England, wo er in Oxford bis zu seinem Tode im Jahre 1945 arbeitete. Friedrich Waismann flüchtete ebenfalls nach England, wo er in Oxford von 1939 an lehrte. Philip Frank emigrierte im Jahre 1938 ebenfalls von Prag aus in die USA und ließ sich 1939 in Harvard nieder. Karl Menger über1069
Logischer Positivismus
nahm eine Position an der Universität Notre Dame im Jahre 1937, und Kurt Gödel wurde Mitglied des Institute for Advanced Study an der Princeton Universität im Jahre 1940. Herbert Feigl ging 1933 zunächst an die Universität von Iowa und dann im Jahre 1940 an die Universität von Minnesota, wo er das einflussreiche Minnesota Center für die Philosophie der Wissenschaften im Jahre 1953 gründete. Carl Hempel tat sich 1939 mit Carnap an der Universität von Chicago zusammen, und nachdem er am Queens College und in Yale gelehrt hatte, ließ er sich 1955 in Princeton nieder. (Schlick wurde 1936 von einem geisteskranken Studenten an der Universität Wien ermordet.) Das Aufblühen der Wissenschaftsphilosophie in den USA wurde entscheidend durch die Arbeiten von Carnap, Reichenbach und Hempel geformt. Reichenbach beeinflusste insbesondere die Entwicklung der physikalischen Philosophie durch seine Arbeit über die Geometrie, die Relativität und die Gerichtetheit der Zeit (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). Hempel veröffentlichte außerordentlich einflussreiche Aufsätze über die logische Analyse der Erklärung und der Bestätigung und brachte hierdurch das Ideal einer wissenschaftlichen Philosophie voran, das zuerst von Carnap formuliert worden war (siehe Bestätigungstheorie; Erklärung). Carnap selbst setzte die Konstruktion formaler Sprachen fort, in denen solche Begriffe wie die Prüfbarkeit, die Modalität und die Wahrscheinlichkeit rational rekonstruiert oder ‚expliziert‘ werden konnten und trug auf diese Weise weiter zur Entwicklung desselben Ideals bei. Tatsächlich beeinflusste Carnaps Erklärung von Begriffen durch die Konstruktion formaler Sprache die englischsprachige Welt der Analytischen Philosophie noch weit über die Grenzen der Wissenschaftsphilosophie hinaus. Weiterentwicklungen speziell der formalen Semantik und der Sprachphilosophie beruhten auf Carnaps anfänglicher Arbeit über die Modalität (siehe Semantik). Das Carnapsche Ideal der Erklärung beruht auf einer scharfen Unterscheidung zwischen logischer und empirischer Untersuchung, sowie von analytischer und synthetischer Wahrheit. In seiner ‚Logischen Syntax der Sprache‘ von 1934 hatte Carnap eine allgemeine Erklärung des Begriffs der Analytizität selbst versucht, d.h. die Formulierung einer allgemeinen, formalen Methode innerhalb des Kontextes irgendeiner gegebenen formalen Sprache zur Unterscheidung der analytischen von den synthetischen Sätzen dieser Sprache. Nachdem er 1935 Tarskis semantische Konzeption der Wahrheit akzeptiert hatte, gab Carnap jedoch den Ansatz der ‚Logischen Syntax‘ auf und gestand ein, dass er (obwohl Erklärungen für viele bestimmte Sprachen immer noch konstruiert werden konnten) nunmehr keine allgemein anwendbare Erklärung mehr für den Begriff der Analytizität hätte. Nach einem Studium bei Carnap in den frühen 1930er Jahren nutzte Quine diese Situation für einen Angriff auf den Begriff der Analytizität als solchen und auf dieser Grundlage auch zu einem Angriff auf das Carnapsche Ideal der logischen Explikation (siehe Quine, W.V., §§ 2, 4). Die Philosophie ist für Quine selbst eine Art von empirischer Wissenschaft, ein Zweig der menschlichen Psychologie oder der ‚naturalisierten Erkenntnistheorie‘ (siehe Naturalisierte Erkenntnistheorie). Ferner veröffentlichte zur selben Zeit, als Quine seine neue philosophische Vision artikulierte, Thomas Kuhn sein Buch ‚The Structure of Scientific Revolutions’ (1962) in der International Encyclopedia of Unified Science, die von Carnap und Charles Morris herausgegeben wurde. Während Carnap die konventionelle Wahl der wissenschaftlichen Sprache 1070
Logizismus
in die Vorhölle der Pragmatik verbannt hatte, konzentrierte sich Kuhn genau auf diese Faktoren, speziell auf die sozialen, die in einer wissenschaftlichen Revolution genau diese Wahlentscheidungen beeinflussen. Diese Ideen, im Einklang mit Quines allgemeinerem und naturalistischerem Standpunkt, führten dann zu historischen und soziologischen Ansätzen zum Studium der Wissenschaft, und damit am Ende, zu einem Niedergang der logischen Analyse der wissenschaftlichen Sprache im Carnapschen Stile. Siehe auch: Analysis, Philosophische Fragen der; Analytizität; Bedeutung und Verifikation; Emotivismus; Empirismus; Logischer Atomismus; Operationalismus; Positivismus in den Sozialwissenschaften; Theorien, wissenschaftliche; Einheit der Wissenschaften Anmerkungen und weitere Lektüre: Ayer, A. (Hrg.) (1959): ‚Logical Positivism‘. New York: Free Press. (Eine sehr nützliche und kleine Aufsatzsammlung. Sie enthält insbesondere einige der wichtigsten Aufsätze aus der sog. ‚Protokollsatz-Debatte‘, die in § 4 diskutiert wird.) Frank, P. (1949): ‚Modern Science and its Philosophy‘. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Eine klassische Diskussion der positivistischen Bewegung durch einen Teilnehmer. Sie enthält insbesondere eine gute Diskussion des Einflusses von Mach und Poincaré.) MICHAEL FRIEDMAN
Logizismus
Der Ausdruck ‚Logizismus‘ bezieht sich auf die Lehre, derzufolge die Mathematik ein Teil der (deduktiven) Logik ist. Es heißt oft, dass Gottlob Frege und Bertrand Russel die ersten Vertreter eines solchen Standpunktes waren. Dies ist jedoch insofern unrichtig, als Frege eine solche Behauptung nicht für die gesamte Mathematik aufstellte. Andererseits verdient Richard Dedekind als einer derjenigen erwähnt zu werden, die zuerst die Überzeugung ausdrückten, dass die Arithmetik ein Zweig der Logik sei. Der logizistische Anspruch hat zwei Teile: erstens, dass unser Wissen der mathematischen Theoreme vollständig auf logischen Beweisen grundlegender Wahrheiten der Logik beruht; und zweitens, dass die in solchen Theoremen involvierten Begriffe sowie die Gegenstände, die sie implizieren, rein logischer Natur sind. Folglich meinte Frege, dass die Arithmetik keiner Vorannahmen als jener der Logik bedürfe, dass ferner der Begriff der Zahl ein Begriff der reinen Logik sei, und dass Zahlen selbst sog. ‚logische Gegenstände‘ seien. Diese Sichtweise der Mathematik wäre ohne jene gründliche Umgestaltung der Logik nicht möglich gewesen, die im späten 19. Jahrhundert stattfand, insbesondere durch das Werk von Frege. Vor dieser Zeit konnte wirklich mathematisches Denken nicht in den anerkannten logischen Beweisformen durchgeführt werden; dieser Umstand verlieh Immanuel Kants Lehre, dass das mathematische Denken nicht ‚rein diskursiv‘ sei, sondern auf ‚Konstruktionen‘ der Intuition gründe, beachtliche Plausibilität. Die neue Logik macht es nun aber möglich, das standardisierte mathematische Denken in der Form reiner logischer Ableitungen darzustellen, wie es einerseits Frege und andererseits Russell in Zusammenarbeit mit Whitehead im Detail zu zeigen unternahmen. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass der Logizismus allerdings von zwei weiteren Entwicklungen untergraben wurde, nämlich erstens der 1071
Logos
Entdeckung, dass die Prinzipien, die Frege in seinem bedeutendsten Werk zugrunde legte, inkonsistent sind; dies gilt auch noch für den mehr oder weniger unbefriedigenden Charakter jener Systeme, die diesem Fehler eigentlich abhelfen sollten; und zweitens die epochale Entdeckung von Kurt Gödel, dass die ‚Logik‘, die für eine Ableitbarkeit aller mathematischen Wahrheiten erforderlich wäre, grundsätzlich nicht formalisiert werden kann. Ob diese Überlegungen den Logizismus grundsätzlich widerlegen, ist noch zu klären. Siehe auch: Arithmetik, Philosophische Fragen der; Hilberts Programm und Formalismus; Intuitionismus HOWARD STEIN
Logos
Das Nomen ‚logos‘ stammt von dem griechischen Verb legeïn ab, das unter anderem ‚lesen‘, ‚auflesen’, ‚sammeln’, ‚sagen‘, und im engeren philosophischen Sprachgebrauch ‚etwas Bedeutsames sagen‘ bedeutet. Das dazu gehörige Substantiv ‚logos‘ entwickelte mit der Zeit eine große Vielzahl von Bedeutungen, einschließlich ‚Beschreibung‘, ‚Theorie‘ (manchmal auch im Gegensatz zu ‚Tatsache‘), ‚Erklärung‘, ‚Vernunft‘, ‚Beweiskraft‘, ‚Prinzip‘, ‚Verstand‘ und ‚Prosa‘. Der Ausdruck ‚logos‘ taucht als philosophischer Begriff mit Heraklit (ca. 540 – ca. 480 v.Chr.) auf, für den er die Verbindung zwischen der rationalen Rede und der rationalen Struktur der Welt darstellt. Er wurde von Platon und Aristoteles frei verwendet, und später insbesondere von den Stoikern, die die rationale Weltordnung als eine immanente Gottheit interpretierten. Die platonischen Philosophen legten die Hauptbedeutung auf den ‚nous‘, d.h. auf den intuitiven Intellekt, der sich im logos ausdrückt. Für Philon von Alexandrien und nachfolgend für die christlichen Theologen ist mit logos ‚das Wort‘ gemeint, d.h. eine abgeleitete göttliche Macht, die zunächst als etwas angesehen wurde, dass sich dem Gottvater unterordnet, dann aber schließlich als etwas, das mit Gott koordiniert in der Welt wirkt. CHRISTOPHER STEAD
Lokalität
Siehe: Bells Theorem
Lokayata
Siehe: Materialismus, Indische Schule des
Lombard, Peter (1095/1100–1160)
Peter Lombards philosophische Standpunkte waren in Anbetracht der maßgeblichen Rolle wichtig, die seine ‚Sententiae in IV libris distinctae‘ (dt.: ‚Vier Bücher der Sprüche‘) bei der Ausbildung universitärer Theologen im Hochmittelalter spielten, denn viele dieser Theologen waren auch Philosophen. Lombard widersprach standhaft allen Theologien, Kosmologien und Anthropologien platonischer oder neuplatonischer Prägung. Während er in den neuen Entwicklungen in der Logik seiner Zeit bewandert war, war er gleichzeitig abgeneigt, theologische Fragen als Illustrationen für Regeln der formalen Logik oder der Naturphilosophie zu behandeln, und bevorzugte stattdessen, sie aus einer metaphysischen Perspektive zu betrachten. In seiner Lehre von Gott vermeidet er absichtlich eine Terminologie, die auf irgendeine philosophische Schule hinweist. In seiner Anthropologie und seiner sakramentalen Theologie zeigt er allerdings eine deutliche Bevorzugung des Aristotelismus. Die Freundlichkeit seiner Theologie gegenüber dem Aristotelismus und gegenüber einer philosophischen 1072
Lotze, Rudolph Hermann (1817–1881)
Behandlung einer Reihe theologischer Fragen machten seine ‚Sentenzen‘ flexibel genug, um an die Rezeption des griechisch-arabischen Denkens angepasst werden zu können, und um als ein pädagogischer Rahmen zu dienen, der von Philosophen aller Richtungen während der folgenden drei Jahrhunderte eingesetzt wurde. Siehe auch: Gott, Begriffe von; Dreifaltigkeit MARCIA L. COLISH
Lotterie-Paradox
Siehe: Paradoxa, Erkenntnistheoretische
Lotze, Rudolph Hermann (1817–1881)
Lotze war eine der herausragenden Figuren der deutschen akademischen Philosophie zwischen dem Niedergang des Absoluten Idealismus und dem Aufstieg des Neukantianismus. Er versuchte zwei Extrema zu vermeiden, nämlich erstens jenes eines Idealismus, der die Welt aus einem einzigen, allgemeinen Prinzip abzuleiten versucht, und zweitens jenes eines Realismus, der durch eine Scheidung der Wirklichkeit vom Geist die Welt in zwei vollkommen gesonderte Sphären teilt. Die Suche nach Erkenntnis sollte durch eine Anerkennung der Ergebnisse der Naturwissenschaften gekennzeichnet und nüchtern sein in Anbetracht des Umstandes, dass die Wirklichkeit notwendig immer das Denken überholen wird. Darüber hinaus kann unser geistiges Leben nicht auf rein intellektuelle Funktionen reduziert werden; beispielsweise sind ebenso die Gefühle und Wertschätzungen ein integraler Bestandteil der menschlichen Existenz. Während es also keine apriorische Deduktion eines metaphysischen Systems geben kann, muss nach Lotze eine teleologische Interpretation, die den grundlegendsten Wert des Menschen und der Welt ausleuchtet, die rein naturalistische Erklärung ergänzen. Das Universum hat demzufolge die Bedeutung eines sich entfaltenden Plans, wobei die Dinge Gegenstand einer allgemeinen Ordnung sind, die eine geistige Bedeutung besitzt. Auf diese Weise kombinierte Lotze eine Art von Respekt vor den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung mit seinem eigenen idealistischen Programm. DAVID SULLIVAN
Löwenheim-Skolem-Theorem und Nicht-Standard-Modelle
Manchmal bestimmen wir eine Struktur, indem wir eine Beschreibung entwerfen und sehen alles, was dieser Beschreibung genügt, als ein weiteres Modell des Beschriebenen an. Ein anderes Mal aber beginnen wir mit einer Konzeption, die wir artikulieren möchten, aber unsere Artikulation versagt darin, das zu beschreiben, was wir im Kopf hatten. Den Mengen schien ein solches Schicksal beschieden zu sein. Jahrtausende lang lagen die Mengen in der Logik brach, doch als sie durch Mathematiker im 19. Jahrhundert kultiviert wurden, schienen sie sich sowohl als Grundlage der gesamten Mathematik und als eine Theorie des Unendlichen zu qualifizieren. Die Paradoxa der Mengenlehre wiederum bedrohten diese Aussicht. In der Hoffnung auf eine Befreiung von den Paradoxa wurden daraufhin Fassungen einer strengen Mengenlehre formuliert. Aber um das Jahr 1920 bewiesen Löwenheim und Skolem, dass keine solche formalisierte Mengenlehre sich in einer riesigen unendlichen Welt als wahr erweisen kann, denn wenn sie in einer solchen Welt wahr wäre, dann wäre sie auch in der kleinsten unendlichen Welt wahr. (Versionen solcher Formalisierungen bleiben allerdings auch wahr, selbst wenn wir die Standardausdrucksweisen zur Formalisierung der Mengenlehre erweitern.) Dann aber, so schloss
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Lucrez (ca. 94 – ca. 55 v.Chr.)
Skolem, können wir die Mengen nicht so bestimmt artikulieren, dass wir damit eine feste Grundlage für die Mathematik erhalten. W.D. HART
Lucrez (ca. 94 – ca. 55 v.Chr.)
Titus Lucretius Carus war ein römisch-epikureischer Philosoph und Dichter. Über sein Leben und seine Persönlichkeit kann mit Gewissheit nur wenig gesagt werden, doch sein einziges bekanntes Werk mit dem Titel ‚Über die Natur der Dinge‘ (lat.: ‚De rerum natura‘) hat einen beträchtlichen Umfang und ist eine der bemerkenswertesten Leistungen der lateinischen Poesie. Als ein didaktisches Gedicht in sechs Büchern führt es die epikureische Physik aus. Sein Programm ist die Abschaffung der Angst vor den Göttern und vor dem Tod durch den Nachweis, dass die Seele sterblich ist und die Welt nicht von Göttern regiert wird, sondern von den Gesetzen der Mechanik. Siehe auch: Atomismus, antiker MICHAEL ERLER
Lukács, Georg (1885–1971)
Lukács Buch ‚Geschichte und Klassenbewusstsein‘ (1923) ist sowohl wegen seiner spezifischen Verdienste, als auch wegen seines enormen Einflusses das wichtigste Werk der marxistischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Es versuchte die Abhängigkeit des Marxschen Denkens von der Hegelschen Dialektik als Mittel zur Erhellung sowohl des spezifischen Charakters des historischen Materialismus als Mittel der theoretischen Untersuchung zu verdeutlichen, als auch dessen revolutionäre Ablehnung der Denkweise, die in der kapitalistischen Gesellschaft vorherrscht, zu zeigen. Lukács’ allgemeines Ziel teilte er mit vielen Autoren der ersten philosophischen Reflexionen des Marxschen Projekts, z.B. Engels und Plechanow, die ihre Beeinflussung durch Hegel betont hatten. Lukács versuchte jedoch Marx in jene breite kontinentaleuropäische Denkströmung des 20. Jahrhunderts zu integrieren, die eine scharfe Trennung zwischen den Methoden der physikalischen Wissenschaften zog. Diese seien bestenfalls zur Analyse der unbelebten Natur und jenen der Humanwissenschaften geeignet, deren Ziel die Interpretation menschlicher Handlungen im Licht der Gedanken, von denen sie bewegt werden, ist. Daher sieht Lukács Marx nicht als den Theoretiker der Gesetze der Dialektik oder einer unvermeidlichen sozialen Transformation, sondern als einen der revolutionären Subjektivität des Proletariats im Sinne des ‚identischen Subjekt-Objekts‘ der Geschichte. Dies war eine Fassung des Marxismus, die in ihre Zeit passte, d.h. in die unmittelbare Folgezeit der Russischen Revolution vom Oktober 1917. Als die revolutionären Wellen nicht mehr so hoch schlugen, fand Lukács philosophische und politische Gründe für einen Schritt zurück in Richtung eines etwas orthodoxeren Historischen Materialismus, der wesentlich stärker die objektiven Einschränkungen und Prozesse betonte als seine Fassung der frühen 1920er Jahre. Doch die Kraft ihrer gesamten Argumentation und die Qualität ihrer individuellen Analyse machten ‚Geschichte und Klassenbewusstsein‘ zu einem andauernden Bezugspunkt in den nachfolgenden Diskussionen der marxistischen Theorie. ALEX CALLINICOS
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Łukasiewicz, Jan (1878–1956)
Łukasiewicz, Jan (1878–1956)
Vor 1918 konzentrierten sich Łukasiewicz’ Interessen auf die Logik (in einem weiten Sinne) und auf die Philosophie, und er arbeitete über die Begriffe der Induktion und der Wahrscheinlichkeit. Er schrieb auch ein wichtiges wissenschaftsgeschichtliches Buch über das Prinzip des Widerspruchs bei Aristoteles. Nach 1918 konzentrierte sich Łukasiewicz praktisch gänzlich auf die mathematische Logik und wurden zum Hauptorganisator der Warschauer Schule für Logik. Die Entdeckung der mehrwertigen logischen Systeme ist vielleicht das wichtigste Ergebnis seiner Arbeit. Ferner formulierte er einen genialen logischen Symbolismus, in dem Klammern (oder andere Interpunktionszeichen) nicht mehr notwendig sind (die sog. ‚klammerlose‘ oder ‚polnische Notation‘). Aussagekalküle wurden zu einem bevorzugten Gegenstand von Łukasiewicz’ logischen Forschungen. Schließlich war auch die Geschichte der Logik ein Thema, zu dem er wichtige Beiträge beisteuerte. JAN WOLEŃSKI
Lull, Ramon
Siehe: Llull, Ramon
Lunyu
Siehe: Konfuzius
Lust
Bereits seit Platon und noch über ihn hinaus wird die Lust als ein fundamentaler, und manchmal überhaupt als der einzige Grund dafür angesehen, dass wir etwas tun. Da die Lust viele Formen annehmen kann und es viele individuelle Auffassungen darüber gibt, worin die Lust besteht, wurde viel Mühe darauf verwendet, wie man verschiedene Arten von Lust unterscheiden kann, welche Bedeutung ihren Beweggründen und ihrer Moral zukommt, und ob sie sich objektiv bestimmen lässt, ferner, ob manche von ihnen gut und andere schlecht sind bzw. ob einige Lüste besser sind als andere. Zunächst stellt sich aber die Frage, was Lust überhaupt ist. Wiederholt dachte man, sie sein ein geistiger Zustand wie die Betrübnis, nur eben sozusagen umgekehrt, oder auch die Abwesenheit oder das Nachlassen oder die Freiheit von Schmerz, oder eine Art von Ruhe oder Stille wie die Zufriedenheit, oder aber die Erfahrung körperlicher Empfindungen, die man im Unterschied zu den Schmerzempfindungen nicht unterbrechen möchte. Wir identifizieren auch bestimmte Quellen der Lust miteinander und fassen sie zusammen, wie z.B. das Essvergnügen, die Geselligkeit, die Sexualität, die Unterhaltung, die Einsamkeit, der Wettbewerb, das Nachdenken oder sportliche Vergnügen. In diesem Sinne mag es auch Formen der Lust geben, die uns kein Vergnügen bereiten. Aber im Allgemeinen ist die Lust das, was wir fühlen, wenn uns etwas Spaß macht. Dies wirft die Frage auf, was alles in diesem ‚etwas’ inbegriffen ist, was es also heißt, dass etwas Saß macht, und in welchem Maße sich Theorien der Lust sowohl mit einem passiven, als auch mit einem aktiven Umgang mit der Lust vertragen. Die einflussreichsten Theorien waren hier diejenigen von Platon, Aristoteles und jene der Empiristen wie z.B. Hume und Bentham. GRAEME MARSHALL
Luther, Martin (1483–1546)
Martin Luther war ein deutscher augustinischer Mönch, der die Theologie und die Bußpraxis seiner Zeit ungeeignet fand, um durch sie die Angst um seine eigene 1075
Lyotard, Jean-François (1924–1998)
Erlösung zu überwinden. Er wandte sich zunächst einer Theologie der Mildtätigkeit zu, bei der das Geständnis der eigenen, ausdrücklichen Sündigkeit alles ist, was Gott verlangt, und daraufhin einer Theologie der Rechtfertigung durch den Glauben, in der der Mensch als unfähig gesehen wird, sich aus eigener Kraft Gott zuzuwenden. Ohne Vorbereitung des Sünders wendet sich Gott ihm von sich aus zu und zerstört das Selbstvertrauen des Menschen, wodurch er in ihm andererseits das Vertrauen in Gottes Verheißungen erzeugt, die sich durch Jesus Christus manifestieren. Indem Gott die Menschen in einer Einheit mit Christus betrachtet, behandelt er sie, als käme ihnen selbst Christus’ Aufrichtigkeit zu: er ‚rechtfertigt‘ sie. Der Glaube entsteht im Sünder durch das Wort Gottes betreffend Jesus Christus in der Bibel, und durch das Werk des Heiligen Geistes, der dem Sünder den spezifischen und wahren Gegenstand der Bibel zeigt. Dieser ist nicht durch die Philosophie geformt, denn die Perspektive des Glaubens transzendiert und überwindet die natürliche Vernunft. Der Glaube bringt dieser Lehre zufolge durch das Wirken von Gottes Heiligem Geist innerhalb des Gläubigen ganz von selbst gute Taten hervor, aber die Rechtfertigung hängt nicht davon ab, sondern sie ist ein freier Ausdruck des Glaubens in Liebe. Gleichwohl ist die säkulare Regierung mit ihren Gesetzen und ihren Zwängen in dieser Welt immer noch notwendig, weil es in ihr so wenig wirkliche Christen gibt. Luthers Theologie brachte ihn in Konflikt mit der römisch-katholischen Kirchenhierarchie und war Auslöser bei der Anfachung der Reformationsbewegung, in der sich die protestantischen Kirchen von Rom abspalteten. Siehe auch: Calvin, J; Erasmus, D.; Hus, J; Melanchthon, P.; Politische Philosophie, Geschichte der; Renaissance Philosophie; Voluntarismus M.A. HIGTON
Lyceum
Siehe: Aristoteles
Lyotard, Jean-François (1924–1998)
Jean-François Lyotard war ein prominenter französischer Philosoph des späten 20. Jahrhunderts, der allgemein als der führende Theoretiker der Postmoderne betrachtet wird. Seine Arbeit ist eine beharrliche Kritik des philosophischen Abschlusses, der historischen Totalisierung und des politischen Dogmatismus, sowie eine Neubewertung des Wesens der Ethik, der Ästhetik und der Politik nach dem Niedergang der totalisierenden Metatheorien. In seinen frühen Arbeiten geht Lyotard auf die Beschränkungen der dialektischen Philosophie und der strukturalistischen Linguistik ein und analysiert die verstörenden, außerdiskursiven Kräfte des Wunsches und der nicht-repräsentationalen oder figurativen Dimensionen der Kunst und Literatur. In ‚La Condition postmoderne‘ (dt.: ‚Die postmoderne Verfassung‘, 1979) behandelt er die narrative Pragmatik und Sprachspiele als die Grundlagen für eine kritische Herangehensweise an die postmoderne Kunst und Politik, sowie an Probleme der Gerechtigkeit. Jüngere Texte insistieren auf die Verpflichtung der Philosophie, der Politik und der Schriftsteller, Zeugnis abzulegen von der Heterogenität und über das, was in allen Repräsentationen der Vergangenheit unterdrückt oder vergessen wird. Sein Werk stellt die Grenzen der Philosophie, der Ästhetik und der politischen Theorie als Probleme dar, die mit der irreduziblen Komplexität der Kunst und der Literatur, sowie den
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Lyotard, Jean-François (1924–1998)
nicht-repräsentationalen Affekten geschichtlicher und politischer Ereignisse zusammenhängen. Siehe auch: Postmoderne DAVID CARROLL
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M Mach, Ernst (1838–1916)
Ernst Mach war ein österreichischer Physiker und Philosoph. Obwohl er nicht zu den ‚großen‘ Philosophen gezählt wird, war er doch enorm einflussreich bei der Entwicklung der sog. ‚wissenschaftlichen Philosophie‘ im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als leidenschaftlicher Gegner aller Arten von Metaphysik wurde er als Stammvater des logischen Positivismus gefeiert. Sein Werk wird als Grenzfall des reinen Empirismus betrachtet. Er steht zwischen dem Empirismus von Hume und J.S. Mill einerseits, und dem des Wiener Kreises andererseits. Machs positivistische Konzeption der Wissenschaft sah deren Ziel in beschreibenden Aussagen über ihre Gegenstände. Die Erklärung wird dagegen hintangestellt. Wissenschaftliche Gesetze und Theorien sind wirtschaftliche Mittel zur Beschreibung von Phänomenen. Theorien, die sich auf unbeobachtbare Entitäten beziehen, einschließlich der Atomtheorie, können die Untersuchung erschweren. Sie sollten eliminiert werden, wo dies möglich ist, und zwar zugunsten von Theorien, die sich auf ‚direkte Beschreibungen‘ von Phänomenen beziehen. Mach beanspruchte, ein Wissenschaftler zu sein, kein Philosoph, aber die ‚Machsche Philosophie‘ hatte dennoch einen Namen: sie hieß ‚neutraler Monismus‘. In enger Nähe zum Phänomenalismus sah diese Theorie die Welt als eine Ganzheit funktional aufeinander bezogener Empfindungskomplexe und strebte nach metaphysischer Neutralität. Siehe auch: Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der ANDY HAMILTON
Machiavelli, Niccolò (1469–1527)
Machiavelli, ein florentinischer Diplomat, Dramatiker und politischer Denker, schuf mit seiner Abhandlung ‚Il principe‘ (dt.: ‚Der Fürst‘, 1532) ein berüchtigtes Andenken als politischer Immoralist (oder zumindest als Amoralist) und als Lehrer des Bösen. In diesem Werk (‚Der Fürst‘) entwirft Machiavelli eine komplexe Beziehung zwischen Ethik und Politik, die die fürstliche virtù (Tugend) mit der Fähigkeit zum Wissen und Handeln innerhalb der politischen Welt, so wie sie ist, verbindet, und diese ferner mit den verabscheuungswürdigsten Fähigkeiten zur Anwendung von Gewalt und zur Manipulation. Hinter dieser Darstellung steht die unbedingte Machiavellische Einsicht, dass die Politik das Reich der Erscheinungen ist, wo die Praxis der Moral oder der christlichen Tugenden oft zum Ruin des Fürsten führt, während das Wissen um das eigene Nicht-gut-sein vielleicht größere Sicherheit und mehr Wohlergehen sowohl für den Fürsten, als auch für die Menschen bedeutet. Machiavelli warnt, dass die Möglichkeiten des Prinzen zum Erfolg in dieser Sache immer vom Schicksal abhängig sind. Deshalb ist der kluge Fürst jemand, der darauf vorbereitet ist, dem Schicksal zu trotzen, indem er sein Verhalten den Zeiten und sein Wesen der Notwendigkeit des jeweiligen Falles anpasst. Ein nicht so anstößiger, aber ebenfalls sehr einflussreicher Text sind die ‚Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‘ (dt.: ‚Reden über die ersten zehn Bücher des Titus Livy‘, 1531), in denen Machiavelli die öffentliche Freiheit und die republikanische Regierung verteidigt, die das Vorbild des antik-republikanischen Rom 1078
MacIntyre, Alasdair (1929–)
warrn, und betont die Rolle des Volkes in der öffentlichen Verwaltung der Stadt. Allerdings trägt Machiavelli auch vor, dass eine Republik nur so erfolgreich in ihrer Selbstregierung sein kann, wie die Bürger sich in bürgerlicher virtù üben, d.h. nicht korrupt sind. Entsprechend lobt er das Werk von politischen Gründern, die republikanische Gesetze und Institutionen schaffen, und die Religionsgründer, die Gott und Vaterland als Eines im Herzen der Menschen verschmelzen. Die offenkundige Spannung zwischen Machiavellis republikanischer Sympathie in den ‚Discorsi‘ und seine elitistischen Neigungen in ‚Der Fürst‘ provozierten eine weit gestreute Sekundärliteratur betreffend seine politische Einstellung, seine Theorie der Politik und des Wesens und der Bedeutung des Machiavellismus im westlichen politischen Denken. Siehe auch: Politische Philosophie, Geschichte der; Renaissancephilosophie; Republikanismus MARY G. DIETZ
MacIntyre, Alasdair (1929–)
Alasdair MacIntyre hat Beiträge zu verschiedenen Feldern der Sozial-, Moral und der politischen Philosophie geleistet. Er ist einer der führenden Vertreter eines Ansatzes der Tugendethik in der Moralphilosophie, der Teil eines großen angelegten Versuches zur Wiedergewinnung einer aristotelischen Konzeption sowohl der Moral, als auch der Politik ist. Seine Rückkehr zu den antiken Quellen war von einer kritischen Anklage gegen die moderne moralische Zwangslage motiviert, die MacIntyre als theoretisch verwirrt und praktisch zerstückt ansah. Nur eine Rückkehr zu einer Tradition, die die aristotelischen und die augustinischen Themen verschmilzt, wird ihm zufolge die Rationalität und die Einsehbarkeit der zeitgenössischen Moral und des heutigen politischen Lebens wieder herstellen. Siehe auch: Tugendethik ALAN THOMAS
McTaggart, John und McTaggart, Ellis (1866–1925)
Die Eheleute McTaggart war zwei der letzten der sog. ‚Britischen Idealisten‘, d.h. jener Gruppe britischer Philosophen wie beispielsweise B. Bosanquet und F.H. Bradley, die ihre Inspiration von Hegel bezogen. In seinen frühen Schriften aus den 1890er Jahren äußerte sich McTaggart in Gestalt einer kritischen Darstellung von Themen der Hegelschen Logik, bevor er seine eigene und sehr spezifische idealistische Position über die Zeit, den Geist und die Wirklichkeit im Allgemeinen vortrug. In seinen Schriften ab 1910 entwickelte er jedoch eine unabhängige Darstellung der Struktur der Existenz, aus der er dann dieselbe idealistische Position wie zuvor ableitete. Die These, für die McTaggart heute noch sehr bekannt ist, betrifft die Unwirklichkeit der Zeit. Noch schwerer zu verstehen ist jedoch seine These, dass die unterste Wirklichkeit der Welt eine Gemeinschaft von ‚Selbstheiten‘ umfasst, die gänzlich durch ihre Liebe zur gegenseitigen Wahrnehmung konstituiert ist. Diese These ist ein Manifest des Mystizismus, der ein wesentliches Element in McTaggarts Philosophie ist. Gleichzeitig ist dieser Mystizismus mit einer rationalistischen Bestimmtheit gekoppelt, die an Spinoza erinnert, um die mystischen Einsichten allein durch das Licht der reinen Vernunft zu erhellen. THOMAS BALDWIN
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Maimonides, Moses (1138–1204)
Magie
Die Magie ist die Kunst der Beeinflussung des Laufs der Natur durch verborgene Kräfte. Sie findet sich in den meisten Gesellschaften durch deren gesamte Geschichte. Sie ist oft definiert als Gegensatz zu anderen kulturellen Institutionen oder Gegenständen wie z.B. der Wissenschaft, der Rationalität und der Religion. Praktiker der Magie sehen sich selbst vielleicht als Geisterbeschwörer, Zauberer oder Naturphilosophen; oft wurden sie als Hexenmeister, Häretiker oder Hexen bezeichnet. Ein konzentriertes Auftreten dessen, was man, wenn auch zeitweise inkohärent, eine Erkenntnistheorie der Magie bezeichnen könnte, erreichte ihren Gipfel in der europäischen Philosophie in der Spätantike in den Schriften von Plotin, Porphyr und Proclus. Dieses Interesse wurde in der Renaissance durch die Schriften von Agrippa, Pico della Mirandola, Ficino und anderen wieder in einer Richtung entfacht, die häufig als ‚Hermetische‘ oder ‚Okkultistische Tradition‘ bezeichnet wird. Es wurde z.B. diskutiert, ob die Magie mit natürlichen, dämonischen oder göttlichen Kräften arbeitet, und während der Renaissance entwickelte sich die Dämonologie gar von einer theologischen zu einer philosophischen Beschäftigung. Im Mittelalter war die Erklärung der Wirkungsweise der Magie eine Sache der Theologen; in der Renaissance beschäftigte sie die Naturphilosophen und Ärzte. Und in der Moderne ist sie schließlich ein Topos der Anthropologen und der Historiker. Die Magie wurde immer mit Bauernfängerei und Gefahr assoziiert, und ferner auch mit den Begriffen des Wissens und der Macht. Siehe auch: Agrippa von Nettesheim; Bruno, G.; Campanella, T.; Ficino, M.; Hermetismus; Kaballah; Neuplatonismus; Pico della Mirandola; Platonismus; Renaissance; Pomponazzi, Pietro; Renaissancephilosophie LAUREN KASSELL
Maimon, Moses Ben
Siehe: Maimonides, Moses
Maimonides, Moses (1138–1204)
Rabbi Moses Maimonides wird in alten hebräischen Quellen Rambam genannt (ein Akronym seines Namens), und in islamischen Texten ist er als Musa ibn Maimun bekannt. Er ist im Westen hauptsächlich unter dem Namen Moses Maimonides bekannt und genießt allgemein eine Anerkennung als der größte der mittelalterlichen jüdischen Philosophen. Maimonides lebte in seiner späteren Lebensphase in Ägypten und verdiente seinen Lebensunterhalt als Arzt. Er ist der Autor von zehn medizinischen Arbeiten, wurde aber bereits zu Lebzeiten durch sein Werk über das jüdische Gesetz, die Halakhah, berühmt, hauptsächlich wegen des Kitab al-Fara’id (Sefer ha-Mitzvot, d.h. das Buch der Gebote), in denen er die überlieferten 613 Gebote des Pentateuch katalogisierte; des Kitab al-Siraj (Sefer ha-Maor, Perush ha-Mishnah, d.h. Kommentar zum Mishnah); und vor allem dem Mishneh Torah (‚Das Gesetz in der Kritik‘), einem umfassenden und immer noch Gültigkeit beanspruchenden Kodex des rabbinischen Gesetzes. Die Klarheit und Bestimmtheit des Mishneh Torah führte zu einer Kritik daran, und nach Maimonides’ Tod sogar zu seiner Verdammung durch einige Rabbis, die die fortgesetzte Dialektik der talmudischen Disputation priesen und gegenüber dem maimonidischen Rationalismus misstrauisch waren.
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Maimonides, Moses (1138–1204)
Maimonides’ philosophisches Meisterwerk, der ‚Dalalat al-Ha’irin‘ (dt.: ‚Führer der Verwirrten‘) wurde auf Arabisch mit dem Ziel geschrieben, dem intellektuell wissbegierigen Leser der Tora zu helfen, der sich durch die offensichtliche Unstimmigkeit zwischen biblischen und wissenschaftlichen bzw. philosophischen Ideen verwirrt fühlte. Das Werk formuliert einen mächtigen, aber nicht arroganten Rationalismus, der viele biblische Postulate und gewinnbringende Sprüche aus den Instruktionen der rabbinischen, d.h. talmudischen Quellen, sowie aus der kritischen Aneignung der Leistungen islamischer Philosophen und Theologen und ihrer griechischen Vorfahren ausfindig macht und anpasst. Er verteidigt die Lehre der Weltschöpfung gegen die Ewigkeitslehre des neuplatonischen Aristotelismus, lehnt es aber ab, den Begriff der Schöpfung oder der Ewigkeit einem Beweis zu unterwerfen. Stattdessen, so argumentiert Maimonides, ist die Schöpfungslehre ihren Alternativen vorzuziehen und auch plausibler, weil sie die Idee des göttlichen Willensaktes als einer Erklärung für das Entstehen der Komplexität aus der göttlichen Einfachheit bewahrt, und weil sie den Unterschied verdeutlicht, den Gottes Schöpfungsakt für die Existenz und das Wesen der Welt ausmacht. Gott ist die reine Vollkommenheit und absolute Einfachheit. Die Anthropomorphismen der Tora selbst führen uns dazu, dies anzuerkennen, wenn wir der Dialektik folgen, durch die die prophetische Sprache uns zu noch höheren Auffassungen der göttlichen Transzendenz bringt. Die biblische Dichtung und die konkreten Forderungen des Gesetzes sind Anpassungen an unsere kreatürlichen Beschränkungen. Solche Anpassungen werden durch die materielle Seite der Natur des Propheten möglich, wie sie sich in der Sprache und der Einbildungskraft äußert, die in nicht geringerem Maße als der Intellekt ein Ausdruck Gottes sind und von uns durch das erfasst werden können, was in der Natur willkürlich und beliebig erscheint. Dies beschreibt Maimonides nicht als positives Prinzip und auch nicht als Verdinglichung bzw. Vermenschlichung, sondern ein notwendiger Begleitumstand des Schöpfungsaktes selbst. Denn ohne dies würde nichts weiter als Gott existieren. Unsere Aufgabe als Menschen ist es, unsere materielle Natur zu disziplinieren, und nicht etwa sie zu bekämpfen oder gar zu zerstören, sondern sie dazu zu bringen, dass sie uns bei unserer Selbstvervollkommnung hilft, durch die unsere innere, intellektuelle Anziehung zu Gott realisiert wird. Maimonides’ synthetische Herangehensweise, die die Einsichten der Vernunft und die Lehren der Heiligen Schrift und der Tradition einander annäherte, wurde von Thomas von Aquin hoch geschätzt, der sie häufig zitiert, sowie auch durch andere europäische Philosophen wie z.B. Jean Bodin. Leibniz schätzte Maimonides’ Denken sehr, wie seine Lesenotizen zeigen. Unter den nachfolgenden jüdischen Denkern wurde Maimonides’ Werk sowohl für seine Bewunderer, also auch für seine Gegner zum Paradigma des jüdischen Rationalismus schlechthin. Seine Philosophie liegt auch der philosophischen Tradition zugrunde, auf die Spinoza eingeht. Sogar noch heute stellen aktive jüdische Philosophen ihre jeweilige Position in Bezug auf Maimonides dar und formulieren ihre eigenen Standpunkte, Aneignungen, Varianten oder Interpretationen von Elementen seines Denkens. Siehe auch: Gott, Begriffe von; Halakhah; Religionsphilosophie L.E. GOODMAN
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Malebranche, Nicolas (1638–1715)
Maistre, Joseph de (1753–1821)
Graf Joseph de Maistre war einer der bedeutenderen Theoretiker der Gegenaufklärung, dessen Schriften ganze Generationen von französisch-katholischen Royalisten inspirierten und so unterschiedliche Denker wie Saint-Simon, Auguste Comte und Charles Maurras anregten. Besonders bekannt ist er für seine positive Interpretation der Französischen Revolution, seine Unterstützung für eine bourbonische Restauration in Frankreich, seine Opposition gegen alle Theorien einer gesellschaftsvertraglichen Regierung, seine Argumente zugunsten der päpstlichen Unfehlbarkeit, seine philosophischen Spekulationen über die Gewalt und das Blutvergießen, seine Kritik an John Lockes Erkenntnislehre und sein Angriff auf Francis Bacons ‚Szientismus‘. Siehe auch: Konservatismus RICHARD A. LEBRUN
Malebranche, Nicolas (1638–1715)
Nicolas Malebranche, ein französischer katholischer Theologe, war der wichtigste kartesische Philosoph der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sein philosophisches System war eine große Synthese des Denkens seiner beiden intellektuellen Mentoren Augustinus und Descartes. Sein wichtigstes Werk namens ‚De la recherche de la vérité‘ (dt.: ‚Die Suche nach der Wahrheit‘) ist ein ausgreifendes Werk, dass unterschiedliche Themen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Ethik, der Physik, der Physiologie des Denkens und der philosophischen Theologie abdeckt. Es wurde seitens vieler der berühmtesten Denker dieser Epoche sowohl bewundert, als auch kritisiert, einschließlich Leibniz, Arnauld und Locke, und stand im Brennpunkt zahlreicher erbitterter und ausgedehnter öffentlicher Debatten. Malebranches philosophische Anerkennung beruht hauptsächlich auf drei Lehren. Der Okkasionalismus, dessen systematischster und berühmtester Exponent er ist, ist eine Theorie der Verursachung, derzufolge Gott die einzige echte Ursache im Universum ist; alle physischen und geistigen Ereignisse in der Natur sind nur ‚Gelegenheiten‘ (‚Okkasionen‘) für Gott, um seine notwendig wirksame Macht auszuüben. In der Lehre, die unter der Bezeichnung ‚Vision in Gott‘ bekannt ist, tritt Malebranche dafür ein, dass die repräsentativen Ideen (also diejenigen Vorstellungen, die ein Abbild von etwas sind), die im menschlichen Wissen und in der Wahrnehmung wirksam sind, in Wirklichkeit die Ideen aus Gottes Verstand sind, d.h. die ewigen Urbilder oder Wesen der Dinge. Und in seiner Theodizee rechtfertigt Malebranche die Wege Gottes und erklärt die Existenz des Bösen und der Sünde in der Welt durch Berufung auf die Einfachheit und die Universalität der Naturgesetze und der Gnade, die Gott für uns eingerichtet hat und die zwingend folgen wird. In allen drei Lehren ist Malebranches überwältigende Sorge der Beweis der essentiellen und aktiven Rolle Gottes in jeder Hinsicht des Universums, also materiell, geistig und moralisch. STEVEN NADLER
Malerei, Ästhetik der Einführung Warum sollen wir uns in philosophischem Zusammenhang gerade um die Kunstform der Malerei bemühen? Können wir uns hiervon eine Anregung unseres ästhetischen Interesses auf eine Art und Weise versprechen, die andere Kunstformen 1082
Malerei, Ästhetik der
nicht zu bieten haben, oder würden wir nur die ästhetische Befriedigung beschreiben können, die sie uns bietet? Die meisten Gemälde bestehen aus Zeichen auf einer Oberfläche (d.h. dem Malgrund), sowie etwas, das durch diese Zeichen dargestellt wird. Wenn man zu sagen versucht, was das Spezifische der Malerei ist und sich dabei auf die zuvor genannten Merkmale stützt, so versteht man diese Kunst als eine Erforschung der zweidimensionalen Bildfläche. Andere konzentrieren sich dagegen auf den darstellenden Aspekt und versuchen etwas Besonderes an den Dingen zu ermitteln, die die Malerei darstellen kann, oder an der Art und Weise, wie sie diese Darstellung vornimmt. Der vielversprechendste Ansatz anerkennt beide Aspekte, und zwar als wesentliche Elemente der Erfahrungen, die wir durch die Malerei machen. Wenn dieser Ansatz erfolgreich ist, dann erlaubt er uns, die Malerei als etwas zu sehen, was ästhetische Werte darbietet, die auch anderweitig zu finden sind, wenn auch in jeweils spezifischer Form. Dieser Ansatz hilft uns auch etwas über eine Reihe von Gemälden zu sagen, die ansonsten Gefahr liefen, ignoriert zu werden, nämlich die abstrakten Bilder. 1. Die Frage 2. Einige grundlegende Beobachtungen 3. Antworten, die die Gestaltung hervorheben 4. Reiner Inhalt 5. Malerei und Erfahrung 6. Hineinschauen und damit verwandte Phänomene 1. Die Frage Was kann man Malerei ästhetisch bewerten? Auf den ersten Blick scheinen dies viele Dinge zu sein. Ein Gemälde kann beispielsweise das Empfinden von Schönheit hervorrufen, ein Gefühl ausdrücken oder eine abstrakte Idee erhellen, indem sie diese in der Darstellung von etwas Konkretem verkörpert. Diese Vorzüge finden sich auch in vielen anderen Kunstformen. Es könnte deshalb etwas willkürlich erscheinen, gerade nach der Ästhetik der Malerei zu fragen. Eine solche Untersuchung ist allerdings durchaus sinnvoll, wenn die Malerei ästhetisch etwas Spezifisches zu bieten hat, dass sie von den anderen Kunstformen unterscheidet. Dies könnte beispielsweise sein, dass die Malerei eine einzigartige Kombination von Werten aufweist, von denen nur jeweils ein Teil in anderen Kunstformen zu finden ist, oder es könnte sein, dass einiges von dem, was uns die Malerei zu bieten hat, überhaupt nirgendwo sonst zu finden ist. Jede dieser Möglichkeiten führt zu einem anderen Ansatz für das hier behandelte Thema. Die Geschichte liefert Beispiele für beide Ansätze, manchmal innerhalb des Werkes eines einzelnen Autors (siehe beispielsweise Ruskin, 1843–1860). Aber jeder Ansatz sieht sich sogleich einer weiteren Frage ausgesetzt, und zwar jener danach, wie der Bereich der Malerei überhaupt beschrieben wird. Zum Beispiel versuchte der Theoretiker und Dramatiker Lessing im 18. Jahrhundert die Werte zu beschreiben, die er sowohl in der Malerei, als auch in der Bildhauerei vorfand, wobei er sich auf diese beiden bezog, um ästhetische Unterscheidungen zwischen der bildenden Kunst und der Literatur, vor allem der Dichtung, herauszuarbeiten. Andere, wie der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg, meinte die Malerei von der Bildhauerei mittels ästhetischer Kriterien abgrenzen zu können. Aber auch die
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Malerei, Ästhetik der
Bildkunst an sich selbst stellt uns noch vor Schwierigkeiten: soll man unter ihr nur die Malerei im engen Sinne verstehen, oder auch einige oder gar alle der vielen anderen Möglichkeiten, in welcher Bilder produziert werden können, z.B. das Fresko, die Zeichnung, den Stich und die Fotografie? Der Ausdruck ‚Malerei‘ wird hier so verstanden, dass er alle Formen zweidimensionaler Bildlichkeit umfasst, mit Ausnahme der Fotografie. Dieser Ansatz ist ästhetisch allerdings mit besonderen Problemen behaftet. Wir werden uns fragen müssen, ob es in einer so verstandenen Malerei Dinge zu bewerten gibt, die sich in anderen Kunstformen nicht finden. Warum verfolgen wir überhaupt diesen Ansatz? Ein Grund hierfür ist die geringe Anzahl systematischer Darstellungen des Künstlerischen im Allgemeinen, die ihrerseits zum Teil eine Folge der geringen Anzahl systematischer Darstellungen der allgemeinen künstlerischen Werte ist. Ein weiterer Grund dafür ist, dass man nur finden kann, was man auch sucht. Die philosophische Ästhetik steht in einer gegenseitigen Beziehung zur Kunstkritik, wobei jede im besten Falle in der Lage ist, von der jeweils anderen zu lernen. Weil allerdings einige Urteile sowohl über die Kunstkritik, als auch über das gewöhnliche ästhetische Engagement zutreffen, besteht die Gefahr, dass, wenn wir uns nicht darum bemühen, was das Besondere an der Betrachtung der Malerei aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik ist, ein solches Engagement für die tatsächlich praktizierte Malerei sowohl auf Seiten der Kritik, als auch auf Seiten der alltäglichen Beschäftigung damit verarmt. Zwei Fragen werden hier nicht diskutiert, obwohl sie eine gewisse Aktualität aufweisen. Eine von ihnen ist die Spekulation darüber, ob die Malerei ‚tot‘ bzw. ob ihre Zeit als Kunstform vorüber ist. Die andere ist die radikale Neustrukturierung der Selbstkonzeption der Kunstgeschichte als akademische Disziplin in der jüngsten Zeit. Letzteres Thema ist entweder zu umfassend, um hier behandelt werden zu können, nämlich in Gestalt der Idee, dass die Ästhetik selbst ein überholter Begriff ist, oder aber das Thema ist hier irrelevant, weil dahinter die Idee steht, dass die Kunstgeschichte sich zumindest teilweise mit nicht-ästhetischen Fragen beschäftigen sollte. Die erste der beiden Fragen untergräbt nicht die Fragestellung dieses Beitrages, sondern setzt sie im Gegenteil sogar voraus. Denn wenn die Malerei tot ist, dann deshalb, weil sie bereits abschließend erforscht hat, welches ihr ästhetisches Potenzial ist. 2. Einige grundlegende Beobachtungen Es ist unwahrscheinlich, dass wir den Ausdruck ‚Malerei‘ definieren können, weder wenn wir ihn so eng, noch wenn wir ihn so weit, wie es hier erforderlich wäre, konstruieren, außer wenn wir dies in einer Form tun, die selbst wieder ästhetische Bedenken mit sich bringt. So erhält unser Untersuchungsgegenstand keinen definierten und damit neutralen Anfangspunkt. Dennoch gibt es einige einfache Merkmale aller oder zumindest sehr vieler der Fragen, die uns hier beschäftigen. Unser Thema sind materiale Oberflächen, die von menschlicher Hand in der Absicht markiert wurden, uns vermittels unseres Sehvermögens zu stimulieren. Die überwiegende Mehrheit dieser Oberflächen stellt etwas dar. Matisses ‚Der Tanz‘ zeigt z.B. eine Gruppe sich im Kreis bewegender Tänzer, die sich an den Händen halten und sich ganz der Musik überlassen. Wenn Oberflächen auf diese Weise markiert werden, um etwas zu repräsentieren, dann weisen sie mindestens zwei Merkmale 1084
Malerei, Ästhetik der
auf. Der eine ist der Aspekt der Anordnung oder Konfiguration der Markierungen, und er betrifft die Frage, welches der verwendeten Zeichen wo belegt ist. Der andere Aspekt, nennen wir ihn den repräsentativen, betrifft die Frage, wofür diese Zeichen stehen, d.h. was sie repräsentieren. Die Repräsentation findet sich allerdings in vielen bildlichen Darstellungen, die uns hier nicht weiter beschäftigen, entweder weil ihnen Methoden der Bildproduktion zugrunde liegen, die wir hier beiseite lassen, z.B. die Fotografie, oder weil es ihnen gar nicht um die Erregung eines ästhetischen Interesses geht, wie z.B. Straßenschilder oder beliebige Illustrationen in einer Gebrauchsanweisung. Es wurde und wird ausführlich darüber diskutiert, wie man die Gesamtheit der repräsentativen Bilddarstellungen in diese beiden Gruppen unterteilen kann (siehe Abbildung). Ein bestimmter Ansatz wird hier allerdings besonders maßgeblich sein (siehe unten). Er sieht die bildliche Repräsentation oder Darstellung als etwas, was eine spezielle Erfahrung auf Seiten des Betrachters des Bildes mit sich bringt. In dieser Erfahrung, deren genaues Wesen ebenfalls strittig ist, sehen wir die Zeichen, aus denen das Bild besteht, als auf eine bestimmte Weise organisiert an, und zwar so, dass sich daraus das ergibt, was wir als den repräsentierten Gegenstand dieses Bildes ansehen: wir sehen häufig Gegenstände in diesen Zeichen, z.B. die Tänzer in dem besagten Bild von Matisse. 3. Antworten, die die Gestaltung hervorheben Obwohl viele Bilder repräsentativer Natur sind, gilt dies zumindest nicht für alle. Eine offenbar selbstverständliche Art und Weise, die bildliche Darstellungskunst zu verstehen, ist gerade jene, die der Repräsentation vorangeht. So gesehen haben abstrakte Bilder einen konfigurationalen Aspekt, also einen der Anordnung der darin enthaltenen Zeichen, einfach weil sie markierte, materielle Oberflächen sind, aber gleichwohl keine repräsentativen. Jeder, der sich bemüßigt sieht, die Bestimmtheit der Malerei als einer Kunstform hervorzuheben, sich aber gleichermaßen bemüßigt sieht, der Abstraktion darin eine zentrale Rolle zuzuweisen, steht daher vor der Notwendigkeit, sich auf die konfigurationalen Aspekte von Bildern konzentrieren zu müssen. Der deutlichste Ausdruck dieser Tendenz ist das Werk von Clement Greenberg. Greenberg meinte, dass die Malerei oft ein Opfer der ‚Verwirrung der Künste‘ gewesen sei, wobei ihr Werte zugeschrieben würden, die eigentlich der Literatur zugehörten. Der wahre Zweck der Malerei sei die Erforschung der Fläche auf der markierten Oberfläche. Sie würde auf einzigartige Weise die Gelegenheit eröffnen, seine Aufmerksamkeit auf die zweidimensionalen Zeichenmuster auf der Leinwand zu richten und ihren Status als solche betonen; ferner würde sie die Gelegenheiten zur Stimulation, der Kommentierung und der Überraschung eröffnen, die eine solche Betonung mit sich bringe. Die Malerei könne dies im Zuge der Repräsentation erledigen, aber die Repräsentation sei nicht wesentlich für die Verfolgung dieser Zwecke, die ihre eigentliche Aufgabe seien. Greenberg sah die Kunstgeschichte aus der Perspektive des Hervortretens oder Zurücktretens dieser zentralen Beschäftigung. Er zitierte beispielsweise Ingres Portraits als Werke, die die Bildfläche betonen, auch wenn sie repräsentativ seien. Aber erst in der Abstraktion erreicht diese Tendenz ihre reinste und erhabenste Form. Denn während Greenberg es zulässt, dass selbst noch die abstraktesten Gemälde nicht vollständig ‚flach‘ seien, zählten sie doch zu den 1085
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Bildern, die den Betrachter am wenigsten von der Erforschung der Fläche ablenken. Die abstrakte Bildkunst ist daher nicht nur die richtige Art zu malen, sondern auch die reinste Verkörperung ihrer Ideale. Greenbergs Schriften bieten eine etwas grobe, aber kraftvolle Formulierung von Themen allgemeinerer Bedeutung. Eines davon ist seine Betonung der Malerei als einer Tradition, als einer historisch erstreckten Tätigkeit der Durcharbeitung einer gemeinsamen Problematik. Spätere Exponenten dieser Kunst beziehen sich jeweils und reagieren auf die Leistungen und Fehler ihrer Vorgänger, und ihre Arbeit ist nicht richtig zu verstehen, außer als Teil dieser fortgesetzten, praktisch in Bildern verkörperten Diskussion. Ein weiteres, allgemeines Thema ist Greenbergs Betonung von Merkmalen wie der Form vor jenem des Inhalts als zentral für die Bewertung. Der Begriff der Form ist sehr elastisch, und folglich bezeichnet der Ausdruck ‚Formalismus‘ nicht nur eine einzige Position, sondern viele (siehe Formalismus in der Kunst). Freilich schließen nicht alle dieser Positionen die Repräsentation aus dem Reich des ästhetisch Bedeutsamen aus. Greenberg steht allerdings nicht alleine in seiner Zurückweisung der Relevanz der Repräsentation, und zwar selbst dann nicht, wenn seine Behauptungen durch die ausschließliche Konzentration auf die Malerei einen deutlich engeren Geltungsbereich haben als einige andere formalistische Auffassungen. Gleichwohl ist Greenbergs Position am Ende unbefriedigend. Ein großer Teil der Geschichte der Malerei beschäftigte sich mit der Ausweitung ihrer repräsentativen Darstellungskraft. Tatsächlich ist es möglich, diese Bemühungen als den Drehund Angelpunkt zu sehen, um den sich die Geschichte der westlichen Bildkunst dreht. Greenberg ist gezwungen, diese Bemühungen entweder als die Verfolgung von etwas gänzlich anderem zu deuten, was mit der Malerei gar nichts mehr zu tun hat, oder als Verirrung, die auf irgendeine wunderbare Weise dennoch das Ziel trifft, nämlich die Betonung der reinen Bildfläche. Er marginalisiert damit etwas, was durchaus Anspruch darauf erheben könnte, im Zentrum der Malerei zu stehen, und was durch seine Beschreibung verzerrt wird. Wenn es andere und bessere Wege des Umgangs mit der Abstraktion gibt, die sich weniger einseitig bei der Identifikation spezifischer Bildwerte verhalten, verdienen diese ebenfalls unsere Aufmerksamkeit. 4. Reiner Inhalt Positionen, die genau entgegengesetzt zu derjenigen von Greenberg stehen, beharren darauf, dass der Wert der Malerei vollständig eine Sache der Repräsentation sei. Solche Auffassungen sind die Erben der aristotelischen Tradition, die die Kunst im Wesentlichen als mimēsis sieht, d.h. als Imitation (siehe Mimēsis). Aristoteles unterschied zwischen diesen Begriffen noch, aber seine Nachfolger nicht mehr. Wenn wir die Imitation auf die bloße Kraft zur Repräsentation von etwas anderem reduzieren, so ist diese Tradition nicht besonders viel versprechend. Denn selbst die gröbsten Bilder oder die einfachsten Wortkombinationen repräsentieren noch etwas. Die reine Repräsentation ist deshalb weder etwas Besonderes der Bildkunst, noch ist sie an sich selbst von ästhetischem Interesse. Vielleicht kommen wir jedoch voran, wenn wir etwas Spezifisches am repräsentativen Inhalt von Bildern identifizieren, d.h. etwas, was insbesondere durch die Bildkunst entwickelt werden könnte. An diesem Punkt taucht ein Thema auf, das in der Literatur über die Malerei sehr hervorsticht, und zwar sowohl philosophisch, als auch kunstgeschichtlich. Wenn es 1086
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etwas Besonderes am bildnerischen Inhalt gibt, so liegt dieser in irgendeiner Art der Bindung an das Sehvermögen. Dabei geht es nicht einfach darum, dass Bilder gesehen werden müssen, um verstanden zu werden; dies gilt auch für die geschriebene Sprache. Vielmehr repräsentieren Bilder Dinge, die wir sehen, und sie repräsentieren sie auf eine Art und Weise, wie das Sehvermögen selbst dies ebenfalls tut. Etwas dieser Art liegt dem Gemeinplatz zugrunde, der von Ruskin zu einem Prinzip der Kritik weiterentwickelt wurde, dass nämlich die Bildkunst unsere visuelle Einstellung zur Welt um uns herum schärfen kann. Wir verdanken beispielsweise vielleicht der Malerei die Entdeckung, dass Schatten farbig sein können, oder auch unser Empfinden für die Erscheinungsvielfalt, die uns durch die Darstellung von Wolken, Bäumen und Berghängen zu Bewusstsein kommt (Ruskin, 1843–1860). Und hiermit hängt die Vorstellung eng zusammen, dass die Malerei sich die visuelle Erfahrung als ihren ausdrücklichen Gegenstand vornimmt und damit zum Beispiel die Art und Weise einfängt, wie visuelle Details über unser Sehfeld verteilt sind als Reaktion auf Bewegungen des Fokus und der Aufmerksamkeit. Die vielleicht systematischste Entwicklung von Ideen dieser Art lieferte Lessing in seinem Drama ‚Laocoon‘ (1766) (siehe Lessing, G.E.). Lessings Versuch einer Trennung der Malerei von der Dichtung beginnt mit einem Merkmal, das beiden gemeinsam ist: beide streben danach, was er die ‚Illusion‘ nennt. Diese Bezeichnung mag irreführend klingen; Lessings Position ist, dass jede Kunst darauf abzielt, lebendige Empfindungsbilder hervorzurufen. Der Unterschied zwischen den beiden Kunstformen ergebe sich aus den jeweiligen Zeichensystemen, die jede von ihnen zur Repräsentation verwende. Weil die Zeichen der Malerei gleichzeitig existieren und räumlich organisiert seien, könnten sie nur Gegenstände ausdrücken, deren Gesamtheit oder Teile davon koexistieren. Die Dichtung verwende dagegen Zeichen, die aufeinander folgen, und könne daher nur Dinge beschreiben, die in Abfolgen gegeben sind, und das heißt, in Handlungen. Eine wichtige Folge hieraus sei, dass die Malerei den ästhetischen Wert dessen erfassen kann, was den Dingen kraft der Wechselbeziehungen ihrer koexistierenden Teile zukomme, d.h. die ‚materielle Schönheit‘. Die Dichtung sei nicht in der Lage, dies nachzubilden, weil unsere psychologischen Grenzen uns davon abhalten, angemessene Empfindungsbilder des Gleichzeitigen auf der Grundlage der Darstellung von Aufeinanderfolgendem zu bilden. Die Dichtung sei daher beschränkt auf die Imitation der Wirkungen der materiellen Schönheit, oder der Schönheit in Bewegung, die Lessing ‚Anmut‘ nennt. Die Aufgabe der Malerei sei es folglich, die materielle Schönheit zu imitieren. Damit kommt Lessing einem noch stärkeren Anspruch zumindest näher, dass sich nämlich die Schönheit eines Bildes – für ihn der ästhetische Hauptverdienst eines Bildes – auf den Gegenstand reduziert, der dargestellt wird. Hier ist einiges fraglich. Es ist sicherlich falsch, dass ein Bild nur so schön ist wie der von ihm dargestellte Gegenstand. An einem Gemälde findet sich mehr, und uns wird mehr daran bewusst als nur sein repräsentativer Aspekt. Wir bemerken auch die konfigurativen Aspekte, und dies allein macht es bereits wahrscheinlich, dass die Schönheit des Bildganzen gesondert von dem zu betrachten ist, was auf dem Bild dargestellt wird. Beispiele hierfür sind leicht zu finden. Bellinis ‚Doge Leonardo Loredan‘ ist die Darstellung einer ausgesuchten und köstlichen Schönheit; gleichwohl hat der dargestellte Doge, obwohl er sicherlich eine eindrucksvolle 1087
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Figur ist, nicht diese Qualitäten. Und vielleicht noch problematischer für Lessings Theorie ist es, dass sein Lob auf die Schönheit vor allen anderen malerischen Werten ernstlich etwas eng erscheint, und sei es auch nur im Lichte der künstlerischen Entwicklung seit seiner Zeit. Diese Probleme können zumindest erleichtert, wenn nicht gänzlich gelöst werden, ohne den Geist von Lessings Auffassung zu opfern. Wir können ausdrücklich bestreiten, dass ein Bild nur so schön wie der darauf dargestellte Gegenstand sei, ohne hierdurch auch nur eine von Lessings zentralen Einsichten zu verlieren, dass nämlich die dargestellte Schönheit zumindest zur Schönheit der Repräsentation beitragen kann. Und die Blickverengung auf die Schönheit lässt sich aufheben, so dass die Schönheit auch andere ästhetische Eigenschaften, die unserem Sehvermögen zugänglich sind, mit erfasst. Sofern wir davon abgehen, den ästhetischen Charakter eines Werkes direkt mit dem von ihm dargestellten Gegenstand zu verknüpfen, müssen diese nicht einmal mehr nur positive Qualitäten sein, wie man sie in direkter Gegenüberstellung empfindet. Wir können auch zulassen, dass die Malerei erfolgreich sogar abstoßende und visuell verstörende, oder umgekehrt auch erotische Merkmale umsetzt, also das visuell ‚Giftige‘ und das ‚Sublime‘ aufgreift. 5. Malerei und Erfahrung Der vorangehende Abschnitt konzentrierte sich auf Konstrukte der ‚aristotelischen Formel‘, demzufolge Kunst mimēsis ist, was in eingeschränktem Sinne als ‚Imitation‘ verstanden werden kann. Eine gänzlich andere Sichtweise eröffnet sich, wenn wir uns auf eine andere unserer grundlegenden Beobachtungen beziehen, die oben bereits angesprochen wurde. Vielleicht ist die Art und Weise, wie Bilder die Wirklichkeit imitieren, einzigartig und im Wesentlichen eine Sache unserer Erfahrung dieser Bilder. Diese Idee kommt besonders klar in einer Auffassung zum Ausdruck, die man mit gutem Gunde ebenfalls Lessing zuschreiben kann. Wie bereits angedeutet, können wir uns nicht besonders auf seine Rede der ‚Illusion‘ an sich stützen. Er identifiziert die Illusion aber nicht nur mit der lebendigen Wahrnehmungsempfindung, sondern meint offenbar auch, dass sich das Vorstellen von der Sinneserfahrung nur hinsichtlich seiner Lebhaftigkeit unterscheide. Wenn dies so ist, so werden, phänomenologisch betrachtet, die lebendigsten Vorstellungsakte von Wahrnehmungsakten gänzlich ununterscheidbar sein. Der Illusionismus ist die Auffassung, dass unsere Erfahrung der Bilder phänomenologisch identisch mit unserer Erfahrung dessen ist, was sie repräsentieren. Die Vorstellung, dass irgendein Erfahrungsmerkmal speziell einem Bild entspringt oder zumindest von diesem beabsichtigt wird, hat eine sehr lange Geschichte. Es bindet ferner die Malerei auf die denkbar stärkste Weise an das Sehvermögen. Kann sie darüber hinaus auch die Grundlage für eine bestimmte malerische Ästhetik bilden? Dies kann sie leider nicht. Das Problem ist dabei nicht, dass viele Bilder gar keine Illusionen in diesem Sinne erzeugen. Dies mag zwar wahr sein, erweist die genannte Auffassung aber nur in dem Sinne als falsch, als sie eine Darstellung einer bildlichen Repräsentation sein will, nicht aber als Behauptung eines Ideals, nach dem die bildende Kunst streben sollte. Noch besteht das Problem darin, dass dieses Ideal niemals von der Malerei anerkannt oder angeblich nicht erreicht wurde. Es gibt wirklich illusionistische Momente in einigen Bereichen der westlichen bildenden Kunst. Im Vordergrund von Caravaggios ‚Der Flötenspieler‘ (Metropolitan Muse1088
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um, New York) liegt eine Flöte dermaßen realistisch dargestellt, dass man wirklich meint, auf poliertes Holz zu schauen, dass das Licht spiegelt. Das Problem ist vielmehr, dass ein zu großer Teil der Bildkunstwerke es gar nicht auf diese Effekte abgesehen hat. Man bedenke beispielsweise nur die Leistungen des 20. Jahrhunderts, die großartigen japanischen Holzschnitte oder die mittelalterliche Ikonographie. Doch der Illusionismus wirft zwei Probleme von allgemeiner Bedeutung auf. Erstens: Wenn der Wert eines Gemäldes in der Erzeugung einer Erfahrung durch den darin dargestellten Gegenstand liegt, was hat dann das Bild zu bieten, was nicht bereits in diesem Gegenstand selbst enthalten ist? Selbstverständlich mag Letzterer nicht zur Verfügung stehen, oder er mag nicht einmal existieren. Wenn aber der Wert von Bildnissen sich auf denjenigen eines bequemen visuellen Ersatzes reduziert, dann ist schwer nachzuvollziehen, dass es in der westlichen Kultur einen so hohen Platz einnimmt. Diese Schwierigkeit lässt sich vielleicht umgehen, indem wir sagen, dass der Wert eines Gemäldes nicht im Wesen der Erfahrung liegt, die es vermittelt, sondern in der Leistung, die mit der Vermittlung dieser Erfahrung verbunden ist. Eine wirkliche Flöte wird leicht den visuellen Eindruck einer Flöte hervorrufen, für eine Darstellung auf einer Leinwand ist dies jedoch eine erhebliche Leistung. Wenn wir uns hierauf berufen, geraten wir jedoch in eine zweite Schwierigkeit. Es ist sehr verlockend zu denken, dass der ästhetische Wert auf besondere Weise an die Erfahrung gebunden ist. Die zwingendste Form dieses Gedankens lautet, dass ich, wenn ich zwei Gegenstände auf genau dieselbe Art und Weise wahrnehme, sie keinen unterschiedlichen Wert für mich haben können. Der Illusionismus als ästhetische Lehre vertritt genau diese Übereinstimmung von Erfahrungen, d.h. vom Abgebildeten und seinem Gegenstand, als sein Ideal der bildenden Kunst. Dann aber können das Abbild und der Gegenstand überhaupt keinen unterschiedlichen Wert mehr haben. Natürlich kann der Illusionismus zulassen, dass die Herstellung einer Illusion sich in der Erfahrung des Bildes zeigen kann, aber doch nur in dem Umfange, wie diese Herstellung eine teilweise ist. Dem Bild misslingt dann dadurch, dass es seine eigene Präsenz entfaltet, die Darstellung der Erscheinung des Gegenstandes. Damit geraten wir jedoch in ein Paradox; je größer die künstlerische Leistung ist, umso weniger ist sie selbst als Bild präsent. Damit würde die Kunst sich nicht verbergen, sondern sich sogar selbst aufheben. Beide dieser Probleme gelten noch in weiterem Umfange. Das Prinzip hinter dem zweiten Einwand reicht bis ins Zentrum des künstlerischen Schaffens, nämlich wie ein Original sich hinsichtlich seines ästhetischen Werts von einer perfekten Kopie seiner selbst unterscheiden kann. Und die Schwierigkeit der ästhetischen Unterscheidung zwischen einem Gemälde und seinem Gegenstand bedroht viele Auffassungen, die den Wert von Gemälden aus ihrer Beziehung zum Sehvermögen heraus verstehen. Der Illusionismus wirft diese Fragen jedoch auf eine besonders scharfe Weise auf. Um hier Fortschritte zu erzielen, bedürfen wir einer etwas weniger extremen Position. 6. Hineinschauen und damit verwandte Phänomene Der Illusionismus ist hinsichtlich weniger Bilder eine präzise Darstellung unserer Erfahrung. Gibt es eine Darstellung, die allen bildnerischen Darstellungsformen gerecht wird und folglich besser als Grundlage einer Ästhetik der Malerei geeignet ist? Eine solche Darstellung würde mit der Anerkennung einer Tatsache 1089
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beginnen müssen, die der Illusionismus übersieht, nämlich dass wir uns sowohl der repräsentativen, als auch der konfigurationalen Aspekte von Bildern bewusst sind. Wie oben unter § 2 bereits festgestellt, erfahren wir letzteres als etwas, was auf erstere Aspekte bezogen organisiert ist. Obwohl dies recht schematisch ausschaut, bietet es uns doch schon einige Hilfe. Durch die Anerkennung der Rolle der Konfiguration eines Bildes distanzieren wir unsere Erfahrung des Bildes vom dort repräsentierten Gegenstand. Wir sind damit zumindest in der Lage zu erklären, wie es den beiden Aspekten möglich ist, sich ästhetisch zu unterscheiden. Und ferner schaffen wir, indem wir unsere Bewusstheit dieser beiden Aspekte des Bildes betonen, Platz für die Idee, dass das Bild eine Schönheit aufweist, die weder allein auf das hinausläuft, was dort dargestellt wird, noch alleine auf die Bildzeichen als solche, sondern auf die Art und Weise, wie das eine aus dem anderen hervorgeht. Dies scheint in der Tat für viele Bilder der Fall zu sein; man bedenke beispielsweise nochmals Bellinis ‚Doge Leonardo Loredan‘. Die dort dargestellte Schönheit ist sowohl für die Malerei wichtig, als auch für das spezifisch Bildhafte daran. Denn während andere Kunstformen ebenfalls Schönheit ausdrücken können, die sich aus der Art der Darstellung und den dabei eingesetzten Mitteln ergibt, leistet nur die Malerei dies in der spezifischen Erfahrung, durch die bildlicher Inhalt erfasst wird. Eine Lehre aus der Diskussion über Lessing ist jedoch, dass an der bildenden Kunst mehr zu finden sein muss als nur die Schönheit. Wenn ein Gemälde nicht schön ist, oder wenn seine Schönheit nur ein Teil des insgesamt erregten ästhetischen Interesses ist, vielleicht sogar nur ein kleiner Teil, was spielt dann noch weiter eine Rolle dabei? Wir können uns hier nicht im Stile Aristoteles’ auf die Imitation selbst berufen, und zwar nicht einmal dann, wenn wir diese als wesentliches Moment unserer zweifältigen Erfahrung des Hineinsehens (eines Gegenstandes in seine bildliche Darstellung) verstehen. Denn jedes Bild unterstützt diese Form der Erfahrung, ja sogar noch jene, die gar keinen Wert haben. Wir haben deshalb noch keine Einsicht gewonnen, warum eine solche Erfahrung an sich selbst bereits ästhetisch bedeutsam sein sollte. Wie können wir an dieser Stelle weiter verfahren? Wir müssen uns nach einer neuen Strategie umschauen. Statt nach Werten zu suchen, die man nur in der Malerei findet, oder uns auf Werte zurückzuziehen, die man in genau derselben Form auch in anderen Kunstformen findet, sollten wir die Malerei besser als etwas verstehen, was allgemeinere Werte auf eine spezifische Weise verkörpert. Diese Bestimmtheit leitet sich aus der Art und Weise ab, wie sich diese Werte selbst in der bildlichen Erfahrung darstellen. Das Hineinsehen ist daher nicht nur das Mittel, durch das wir den repräsentativen Gehalt eines Bildes erfassen. Es ist auch unser Wegweiser, dem aller bildnerischer Wert folgt, und der den Werten, die auf diese Weise erfahren werden, eine spezifisch bildliche Gestalt gibt. Das Hineinsehen ist jetzt, wo wir den Illusionismus definitiv zurückgewiesen haben, nicht mehr nur eine auf andere Weise hervorgerufene unmittelbare visuelle Erfahrung. Sondern es ist auf bedeutsame Weise mit unserem alltäglichen Sehen verbunden. Und auf diese Weise erklärt sich, dass das ästhetisch Verfügbare im Hineinsehen auf bedeutsame Weise mit dem verknüpft ist, was uns im unmittelbaren visuellen Kontakt mit der Welt verfügbar ist. Wenn wir beispielsweise eine Person in menschliche Körperteile ‚hineinsehen‘, dann haben wir nicht nur eine bestimmte Person und ihre Eigenschaften vor uns, 1090
Malerei, Ästhetik der
sondern können gelegentlich sogar eine affektive Reaktion auf eine solchermaßen wahrgenommene Person entwickeln. Der Wolkenkratzer schaut nicht einfach grau und turmartig aus, sondern vielleicht bedrohlich oder feindselig. Das Hineinsehen kann die Affekte vielleicht auf ähnliche Weise körperlich einbinden, wie De Chirico nicht nur seltsame Gebäude und Alleen mit langen Schatten zeigt, sondern auch eine gewisse affektive Reaktion auf sie gleichsam erfasst, nämlich die einer schmerzlichen Melancholie. Wenn dies so ist, so bietet uns das Hineinsehen nicht nur einen spezifisch bildnerischen Weg zur Repräsentation von Dingen an, sondern auch die Gelegenheit, diese zusammen mit einer affektiven Erwiderung zu repräsentieren, die ihnen zukommt. Diese Erwiderung muss nicht unbedingt eine sein, die wir normalerweise auf solche Gegenstände entwickeln, sondern sie kann sogar eine sein, die im wirklichen Kontakt kein Gegenstand dieser Art je in uns erregen würde. Die Malerei würde uns damit die Chance eröffnen zu erforschen, wie ein anderer die Welt sehen und empfinden kann. Sie stellt uns Einblicke in die Empfindung anderer Menschen in Aussicht. Dies ist etwas, was natürlich auch die Literatur leistet. Das Besondere an der Malerei ist aber, dass sie dies gar nicht auf eine speziell visuelle Weise tut. Sie nutzt die Vermengung von Wahrnehmung und Affekt in der Alltagserfahrung aus, aber auch die Art und Weise, wie das Hineinsehen in der Lage ist, solche strukturellen Merkmale der visuellen Alltagserfahrung innerhalb dessen zu bewahren, was phänomenologisch ein gänzlich andere Erfahrung ist (nämlich im Bild). Sie erlaubt es dem Künstler dadurch, zu uns mit Mitteln der Sprache und den Bildern, die Sprache zu vermitteln weiß, zu sprechen, sondern mit manipulierten, komplexen Gebilden aus Sehen und Fühlen. Dies ist aber allenfalls erst der Anfang einer Antwort auf unsere Frage. Um unsere Argumentation zu konkretisieren, müssten wir mehr über das Hineinsehen verstehen, und insbesondere darüber, wie es in der Lage ist, die Ressourcen des unmittelbaren, nicht bildvermittelten Sehens zu entfalten. Wir müssten diese Ressourcen selbst viel besser verstehen, wenn wir beispielsweise die Rolle der Gefühle im alltäglichen Sehen beschreiben wollen. Wir würden uns dann auch klarmachen müssen, welche Bedeutung in der Malerei die Möglichkeit des Künstlers zur Kontrolle unserer Reaktion spielt, und was dies für unseren Begriff der Kommunikation bedeutet. Wir müssten ferner erklären, wie eine solche Kontrolle sich unserer Erfahrung auswirkt. Und wir müssten unsere Wahrnehmung für die Phänomene erweitern, die solche Strukturen ermöglichen: ist die bezeichnete Wirkung einzigartig, oder ist sie ein Modell für einen ganzen Bereich spezifisch visueller Formen oder gar noch allgemeinerer künstlerischer Werte, die die Malerei zu bieten hat? Nachdem wir all dies erledigt haben, müssten wir die solchermaßen beschriebenen Werte in einer plausiblen Darstellung der bildnerischen Traditionen zusammenfassen, ungefähr in der Art, wie es Greenbergs Empfindung einer historisch erweiterten und praktisch umgesetzten Diskussion zwischen den Kunstausübenden tat (siehe § 3). Dies können wir hier nicht erledigen. Obwohl er die Fragestellung nicht in diesem Rahmen angeht, ist der ernsthafteste Versuch, mit ihnen überhaupt fertig zu werden, jener von Richard Wollheim (1987). Der interessierte Leser sollte sich hier weiter orientieren. Wir werden den Beitrag stattdessen beschließen, indem wir nochmals auf einen der vielen offenen Punkte zu sprechen kommen, nämlich die Frage der abstrakten Kunst. Das obige Programm zur Konstruktion einer bildnerischen 1091
Malerei, Ästhetik der
Ästhetik könnte so aussehen, als würde es bereits, wenn auch nur angedeutet, die Abstraktion ignorieren. Denn wenn bildnerische Werte sich spezifisch durch das Hineinsehen von etwas entfalten, und wenn das Hineinsehen diejenige Erfahrung ist, durch die bildlicher Inhalt erfasst wird, was können wir dann über Bilder sagen, die prima facie gar keinen solchen Inhalt haben? Wollheim hat hierauf eine Antwort. Wir sehen Gegenstände in abstrakten Bildern. Solche Gegenstände werden lediglich in hohem Maße schematisch von uns erfahren, d.h. wir sehen keine Flöten, Dogen und Tänzer, sondern beispielsweise Dreiecke, die sich mit Vierecken überschneiden, oder einfache Formen, die auf verschiedenen Ebenen arrangiert werden. Vielleicht ist dies keine richtige Beschreibung für alle abstrakten Bilder, aber es dürfte doch zumindest für einen überwiegenden Teil von ihnen wahr sein. Selbst Greenberg scheint in diese Richtung zu gehen. Denn es ist schwer zu verstehen, was er sonst mit seinem Zugeständnis meinen sollte, dass selbst noch die abstrakteste Malerei nicht nur ‚flach‘ sei. Diese Taktik erlaubt uns also zumindest die Hoffnung, noch die abstraktesten Bilder als eine Erforschung derselben, vielleicht vielgestaltigen Werte zu behandeln, wie dies vor uns schon in der bildnerischen Tradition der Fall war. Und wenn einige Bilder hierdurch ausgeschlossen werden sollten – Wollheim verweist auf den frühen Mondrian und auf Barnett Newman als die deutlichsten in diesem Sinne – dann ist dies vielleicht der Preis einer Ästhetik, die sich als fruchtbar wird, sobald sie erst richtig ausgearbeitet ist. Siehe auch: Abbildung; Formalismus in der Kunst; Lessing, G.E.; Mimēsis; Wahrnehmung Anmerkungen und weitere Lektüre: Lessing, Gotthold Ephraim (1766): ‚Laokoon‘ (In vielen Ausgaben erhältlich, z.B. bei Reclam. Dies ist ein sehr fruchtbares Werk, bei dem man sogar noch aus seinen Mängeln viel lernen kann.) Ruskin, John (1843–1860): ‚Modern Painters‘, 5 Bände. Neudruck 1906, London: J.M. Dent & Co. (Eine Respekt gebietende, einsichtsvolle und sehr eigene Erforschung der Malerei, sowohl in kritischer, als auch in theoretischer Hinsicht, mit spezieller Aufmerksamkeit für das Werk von Turner.) Wollheim, Richard (1987): ‚Painting As An Art‘. London, Thames & Hudson. (Trotz seiner großen Resonanz im angelsächsischen Raum wurde dieses Werk nie ins Deutsche übersetzt. Es liefert eine Art Modell aller Darstellungen der Bilderfahrungen unter Anerkennung beider Aspekte des Bildnerischen. Dieses Werk ist der ausführlichste, fortgeschrittenste und gelungenste moderne Versuch einer Antwort auf unsere Fragen.) ROBERT HOPKINS
Mandeville, Bernard (1670–1733)
Bernard Mandevilles ‚Fable of the Bees‘ (dt.: ‚Die Bienenfabel‘, 1714) löste einen Skandal unter seinen Zeitgenossen aus, weil er vorbrachte, dass die blühende kommerzielle Gesellschaft, die sie so hoch schätzten, von den Lastern abhängt, die dieselben Zeitgenossen denunzierten. Dies ergab sich nicht nur aus der komplementären Befriedigung öffentlich abgelehnter Begierden, sondern auch aus dem Stolz, dem Neid und der Scham, die Mandeville auf die ‚Selbstliebe‘ zurückführte. Zahlreiche Personen, die nur von ihren eigenen Wünschen getrieben sind, handeln unabhängig voneinander, um Güter zu produzieren, die ausgedehntes und kooperatives 1092
Manichäismus
Handeln erfordern. Diese Idee steht im Zentrum des wirtschaftlichen Marktkonzepts von Mandeville. Mandeville wollte ursprünglich den ‚geschickten Politikern‘ zugute halten, dass sie Moral und Gesellschaft stiften würden. In der Verteidigung und Ausführung seines Standpunktes skizzierte er jedoch eine ‚mutmaßliche Geschichte‘ der stufenweisen Entwicklung vieler komplexer sozialer Tätigkeiten und Institutionen, einschließlich der Sprache und der Gesellschaft selbst, wodurch er implizit leugnete, dass sie durch die öffentlich verehrten Heroen erfunden worden waren. Im Verlauf seiner Schriften entwickelte Mandeville ein strenges Kriterium der Tugend und leugnete wiederholt, dass er ein Fürsprecher des Lasterhaften sei, die er als inhärenten Teil der menschlichen Gesellschaft ausgemacht hatte, sondern vielmehr nur jemand, der sie beschreibe. M.M. GOLDSMITH
Manichäismus
Der Manichäismus ist eine erloschene Religion, die in Mesopotamien im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufkam und zum letzten Mal im 16. Jahrhundert in China bezeugt ist. Ihr Gründer Mani (ca. 216–276) war mit dem Judentum recht vertraut, aber auch mit dem Christentum, dem Zoroastrismus und dem Buddhismus. Er wollte alle diese Religionen verdrängen. Er lehrte eine Form des Dualismus, der durch die frühen Gnostiker beeinflusst war: Gott sehe sich Kräften der Finsternis gegenüber; sie, und nicht Gott, schufen die Menschen, die gleichwohl Partikel des Lichts enthalten, die durch ein enthaltsames Leben freigesetzt werden können. Zwei Gegensätze zum Katholischen Christentum sind besonders auffallend. Erstens ist die Sündigkeit im Manichäismus der Naturzustand des Menschen (wegen ihrer Schöpfer); sie beruht deshalb nicht auf Adams Sündenfall. Zweitens schuf der manichäische Gott nicht und kontrolliert auch nicht die Kräfte der Finsternis (obwohl er schließlich siegen wird). Folglich hat das Problem des Bösen nicht eine so reine Form und ist nicht so bedeutend, wie es dies für den allmächtigen christlichen Gott ist. Obwohl Manis eigene missionarische Reisen ihn nach Osten führten, fiel seine Lehre doch im römischen Westen zuerst auf einen fruchtbaren Boden. Augustinus von Hippo war neun Jahre lang sein Anhänger. Die Religion wurde schließlich im Römischen Reich unterdrückt und durch die arabische Eroberung von Mesopotamien nach Osten abgedrängt. Im Westen wurden verschiedene christliche Häresien durch das ganze Mittelalter als manichäisch verschrien. Siehe auch: Bösen, Problem des CHRISTOPHER KIRWAN
Marcuse, Herbert (1898–1979)
Herbert Marcuse erlebte einen kurzen Moment der Berühmtheit in den 1960er Jahren, als sein bekanntestes Buch mit dem Titel ‚Der eindimensionale Mensch‘ (1964) von den Massenmedien als die Bibel der Stundentenrevolte bezeichnet wurde, die damals die meisten westlichen Länder durchzog. Obwohl Marcuses wirklicher politischer Einfluss uneinheitlich war, beschrieb ihn dieses öffentliche Bild doch nicht ganz falsch. Auf der einen Seite popularisierte er die Kritik am Nachkriegskapitalismus, die er zusammen mit anderen Theoretikern der Frankfurter Schule aus der Taufe gehoben hatte; demnach waren die westlichen liberalen Demo1093
Marktes, Ethik des
kratien „total verwaltete Gesellschaften“, die durchdrungen seien von dem Wert des Konsumismus, und denen die Fabrikation und Befriedigung sog. ‚falscher Bedürfnisse‘ dazu diente, die arbeitende Klasse von der Gewinnung jeder echten Einsicht in ihre Situation abzuhalten. Auf der anderen Seite schloss sich Marcuse nie dem sehr pessimistischen Weltbild des Marxismus an, wie es von den zentralen Figuren der Frankfurter Schule, namentlich Adorno und Horkheimer, entwickelt wurde. Er hoffte, dass die Revolten von Seiten einer Unterschicht der „Ausgestoßenen und Außenseiter, der Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Hautfarben, die Arbeitslosen und nicht Arbeitsfähigen“ eine breite soziale Transformation anstoßen würden. Dieser positiven Einstellung zu einer revolutionären Entwicklung lag eine Konzeption des Seins als einem Ruhezustand zugrunde, in dem alle Konflikte überwunden werden, wo das rationale Denken und die sinnliche Freude nicht mehr miteinander im Konflikt liegen, und wo die Arbeit zum Spiel wird. Andeutungen dieser Zustände, die nach seiner Auffassung erst nach dem Sturz des Kapitalismus wirklich realisiert werden können (und vielleicht nicht einmal dann), sah Marcuse bereits in der Kunst, „der möglichen Form einer freien Gesellschaft“. Die Vorstellungskraft könnte demzufolge der Politik den Weg weisen. Siehe auch: Frankfurter Schule ALEX CALLINICOS
Marginalität
Siehe: Randgruppen
Marktes, Ethik des
Märkte sind Tauschsysteme, in denen Menschen mit Geld oder Waren auftreten, und die diese freiwillig gegen andere Waren oder Leistungen einhandeln, die sie stattdessen bevorzugen. Viele wirtschaftliche Transaktionen in den entwickelten Gesellschaften sind von dieser Art, und jeder Versuch, Märkte umfassend durch eine andere Form der wirtschaftlichen Koordination zu ersetzen, scheint zum Scheitern verurteilt. Aber Fragen über die Ethik des Marktes sind dennoch von erheblicher praktischer Bedeutung, und zwar mindestens aus zwei Gründen. Erstens müssen wir kollektive Entscheidungen über die richtige Reichweite von Märkten treffen: gibt es Güter und Dienste, die grundsätzlich nicht im Wege von Marktmechanismen verteilt und ausgetauscht werden sollten – beispielsweise medizinische Versorgungsleistungen oder Kriegswaffen? Zweitens funktionieren Märkte innerhalb eines Rahmens von Eigentumsrechten, die Bedingungen setzen, unter denen Menschen miteinander Handel treiben können, und diese Bedingungen sind ebenfalls Gegenstand einer kollektiven Entscheidung. Soll beispielsweise die Arbeit einer Person als eine Ware wie andere betrachtet werden, die man nach den freien Bedingungen kaufen und verkaufen kann, die zwischen den Parteien jeweils ausgehandelt werden, oder bringt Arbeit besondere Rechte mit sich, die solchen Abreden Grenzen setzen? Sind Arbeiter und Angestellte moralisch berechtigt, am Gewinn ihrer Arbeitgeber teilzuhaben (um einen konkreten Fall zu nennen)? Um solche Entscheidungen herbeizuführen, müssen wir allgemeine ethische Prinzipien auf Markttransaktionen anwenden. Erstens fragt sich dabei, ob Märkte bereits aufgrund ihrer Effizienz gerechtfertigt sind, wie oft behauptet wird. Und welches Effizienzkriterium wird hier angewandt, wenn solche Behauptungen aufgestellt werden? Zweitens fragt sich, ob wir das Ergebnis von Tauschhandel als gerecht 1094
Marx, Karl (1818–1883)
betrachten können, oder ob wir es nicht vielmehr notwendig als ausbeuterisch ansehen müssen? Drittens wäre zu fragen, ob Tauschhandel die Menschen notwendig voneinander entfremdet und ihren Gemeinschaftssinn zerstört. Dies sind sehr unterschiedliche Fragen. Eine vollständige Bewertung der Marktethik muss jede von ihnen behandeln, und darüber hinaus vielleicht noch weitere. DAVID MILLER
Marx, Karl (1818–1883) Einführung Karl Marx war der wichtigste aller Theoretiker des Sozialismus. Er war kein Berufsphilosoph, obwohl er in der Philosophie promoviert hatte. Sein Leben war einer radikalen, politischen Aktivität gewidmet, ferner dem Journalismus und theoretischen Studien der Geschichte und der Volkswirtschaftslehre. Marx kam über die romantische Literatur zur Politik. Seine frühesten Schriften verkörpern eine Konzeption der Wirklichkeit, die einem turbulenten Wandel unterworfen ist, und wo die Menschen sich selbst in einem Kampf für die Freiheit erleben. Seine Identifikation mit diesen Elementen in Hegels Denken (und seine Geringschätzung dessen, was er als Hegels vergöttlichende Haltung gegenüber dem preußischen Staat ansah), brachte Marx dazu, sich mit den Junghegelianern zusammenzutun. Die Junghegelianer waren zu der Auffassung gelangt, dass die implizite Botschaft der Hegelschen Philosophie eine radikale sei, dass nämlich die Vernunft innerhalb der Welt existieren könne und dies auch sollte, im Gegensatz zu Hegels ausdrücklicher Behauptung, dass die verkörperte Vernunft bereits existiere. Darüber hinaus lehnten sie auch Hegels Idee ab, dass die Religion und die Philosophie Hand in Hand gehen sollten, weil die Religion die Wahrheiten der Philosophie in unmittelbarer Form darstelle. Im Gegenteil; die Junghegelianer sahen die zentrale Aufgabe der Philosophie in der Kritik der Religion, d.h. in dem Kampf (wie ihn Marx selbst in seiner Inauguraldissertation nannte) „gegen die Götter des Himmels und der Erde, die nicht das menschliche Selbstbewusstsein als die höchste Göttlichkeit anerkennen“. Schließlich wollte sich Marx nicht mehr mit der Annahme abfinden, dass die Religionskritik allein ausreichen würde, um die Emanzipation des Menschen herbeizuführen. Er arbeitete die Konsequenzen dieses Sichtwechsels in den Jahren 1843 bis 1845 aus, die die intellektuell fruchtbarste Periode seiner gesamten Laufbahn waren. Hegels Philosophie, so argumentierte Marx nun, enthalte zwei Hauptfehler. Erstens verkörpere sie die Illusion, dass die Wirklichkeit als Ganzes der Ausdruck einer Idee der absoluten rationalen Ordnung sei, die die Wirklichkeit leite. Dagegen stellte Marx die Auffassung (und über diesen Punkt war er sich mit den Junghegelianern noch ganz einig), dass der Mensch und nicht die Idee es sei, um die es in Wahrheit ginge. Zweitens warf er Hegel vor, dieser glaube, dass der politische Staat, d.h. die Organe der Gesetzgebung und die Regierung, Vorrang bei der Bestimmung des Charakters einer Gesellschaft als Ganzem hätten. Tatsächlich sei, so Marx, genau das Gegenteil wahr: das politische Leben und die Ideen, die damit zusammenhängen, seien selbst durch den Charakter des wirtschaftlichen Lebens bestimmt.
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Marx, Karl (1818–1883)
Marx behauptete, dass das artenspezifische Sein des Menschen in seiner Arbeit bestünde, und dass der Mensch in dem Maße ‚entfremdet‘ sei, wie die Arbeit in Form einer Arbeitsteilung vollzogen werde, die vom Markt diktiert wird. Nur wenn die Arbeit ihren kollektiven Charakter zurückgewinne, würden die Menschen sich selbst als das erkennen, was sie eigentlich seien, nämlich die wahren Schöpfer der Geschichte. Wenn sie an diesem Punkte angelangt seien, würde das Bedürfnis nach der Darstellung der menschlichen Essenz als Ausdruck einer Beziehung zu einem fremden Sein, sei dies der christliche Gott oder der Hegelsche ‚Geist‘, von selbst verschwinden. In seinen späteren Schriften, die auf seinen Bruch mit den Junghegelianern folgten, legte Marx eine quasiwissenschaftliche Geschichtstheorie vor, die die Geschichte als einen Fortschritt durch verschiedene Etappen darstellt. Auf jeder Stufe wird die Form, die eine Gesellschaft annimmt, durch ihr Produktionsniveau bestimmt, sowie durch die Voraussetzungen ihres weiteren Wachstums. In den vorsozialistischen Gesellschaften bringt dies die Teilung der Gesellschaft in gegeneinander kämpfende Klassen mit sich. Die Klassen unterscheiden sich durch das, was sie zur Aneignung des Mehrwertes oder Überschusses aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozess befähigt (oder nicht befähigt). Allgemein kann man Marx zufolge sagen, dass eine Klasse in dem Umfange, wie sie zur Aneignung dieses Mehrwertes in der Lage ist, ohne dafür zu bezahlen, eine ‚ausbeutende Klasse‘ ist. Umgekehrt ist eine Klasse, die mehr produziert, als sie dafür erhält, eine ‚ausgebeutete Klasse‘. Obwohl die ausbeutenden Klassen einen besonderen Zugang zu den Mitteln der Gewalt haben, ist die Ausbeutung im Allgemeinen doch keine Sache der Gewaltanwendung. Im Kapitalismus beispielsweise ergibt sich die Ausbeutung aus der Art und Weise, in welcher Produktionsmittel, wie andere Waren auch, Gegenstand privaten Eigentums sind und Arbeit gekauft und verkauft werden kann. Dass solche Zustände ohne den notwendigen Einsatz von Zwangsmitteln akzeptiert werden, zeigt, dass die herrschende Klasse einen besonderen Einfluss auf die Vorstellungen einer Gesellschaft ausübt. Sie kontrolliert die Ideologie, die seitens der Mitglieder der Gesellschaft im Allgemeinen akzeptiert wird. In seinem Werk ‚Das Kapital‘, dem Marx den letzten Teil seines Lebens widmete, skizziert er die ‚Bewegungsgesetze‘ des Kapitalismus. Das kapitalistische System wird hier als ein sich selbst reproduzierendes Ganzes dargestellt, das durch ein zugrunde liegendes Gesetz gesteuert wird, und zwar das ‚Gesetz des Wertes‘. Aber dieses Gesetz und seine Konsequenzen sind für die Akteure, die am Kapitalismus teilhaben, nicht allein und nicht immer unmittelbar spürbar; vielmehr ist es ihnen meistens verborgen. Daher ist der Kapitalismus ein ‚täuschender Gegenstand‘, d.h. einer, in dem es eine Diskrepanz zwischen seinem Wesen und seiner Erscheinung gibt. Die ‚Kritik des Gothaer Programms‘ fasst zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft ins Auge. In der ersten wird die Produktion auf einer nicht mehr ausbeuterischen Grundlage durchgeführt: alle, die zur Produktion beitragen, erhalten den Wert dessen zurück, was sie beigetragen haben. Aber dies, so erkennt Marx an, ist eine Form der Gleichberechtigung, die die natürlichen Ungleichheiten der Menschen unberücksichtigt lässt. Folglich ist dies nur eine Übergangsphase, die allerdings unvermeidlich ist. Dahinter liegt eine Gesellschaft, in der die einzelnen Menschen nicht mehr ‚Sklaven‘ der Arbeitsteilung sind, sondern wo die Arbeit ‚nicht nur 1096
Marx, Karl (1818–1883)
zum einzigen Lebenszweck, sondern zum herausragenden Lebensbedürfnis‘ wird. Erst dann, so meinte Marx, „kann der enge Horizont der Bourgeoisie wirklich insgesamt überschritten werden, und die Gesellschaft kann sich auf ihre Fahnen schreiben: von jedem nach seiner Fähigkeit zu jedem nach seinem Bedürfnis!“ Dies ist die endgültige Vision des Kommunismus. 1. Leben und Werk 2. Marx als Junghegelianer 3. Philosophie und die Kritik der Religion 4. Entfremdete Arbeit 5. Die Kritik der Philosophie 6. Die Theorie der Ideologie: (1) Das Reflexionsmodell 7. Die Theorie der Ideologie: (2) Das Interessensmodell 8. Historischer Materialismus 9. Volkswirtschaftslehre 10. Der Warenfetisch 11. Moral 12. Sozialismus 1. Leben und Werk Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier, einer kleinen, ursprünglich römischen Stadt an der Mosel, geboren. Viele von Marx’ Vorfahren waren Rabbis, aber sein Vater Heinrich, ein Rechtsanwalt mit liberalen politischen Ansichten, konvertierte vom Judentum zum Christentum. Marx wurde mit dem Rest seiner Familie im Jahre 1824 getauft. In der Schule tat sich der junge Marx in literarischen Gegenständen hervor (ein vorausahnender Lehrer kommentierte seine Aufsätze jedoch dahingehend, dass diese „durch ein übertriebenes Streben nach ungewöhnlichen, pittoresken Ausdrücken ruiniert“ würden). 1835 schrieb er sich an der Universität Bonn zum Studium der Rechte ein. Ende 1836 übersiedelte er nach Berlin und wurde Mitglied des junghegelianischen ‚Doktorklubs‘, eine bohèmienartige Gruppe, deren leitende Figur der Theologe Bruno Bauer war. Die Ansichten des ‚Doktorklubs‘ wurden im Laufe der späten 1830er Jahre immer radikaler, in gewissem Umfange wohl auch infolge von Marx’ Einfluss. Marx’ Vater starb 1838, und im folgenden Jahr – was vielleicht kein Zufall war – gab Marx das Rechtsstudium zugunsten eines Doktorandenstudiums in der Philosophie auf. Seine Inauguralthese: ‚Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie‘ wurde von der Universität Jena im Jahre 1841 angenommen. Marx hatte gehofft, dies zum Erlangen einer akademischen Stelle nutzen zu können. Doch nach Bruno Bauers Abberufung von seinem Posten an der Universität Bonn wurde ihm klar, dass solche Hoffnungen in dem damals aktuellen politischen Klima keinen Boden hatten. Marx wandte sich nun dem Journalismus zu. Er beteiligt sich an der neu gegründeten Rheinischen Zeitung und übernahm dort im Oktober 1842 die Redaktion. Das Blatt kam jedoch in steigendem Maße mit der preußischen Regierung in Konflikt und wurde im März 1843 verboten. Zu diesem Zeitpunkt entschied sich Marx auszuwandern. Im Sommer heiratete er nach sechsjähriger Verlobung Jenny von Westphalen, und während einer langen Hochzeitsreise nach Kreuznach arbeitete er
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Marx, Karl (1818–1883)
an der Schrift ‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘, sowie an dem Aufsatz ‚Zur Judenfrage‘, in denen er seine Unzufriedenheit mit seinen Genossen bei den Junghegelianern auszudrücken begann. Er und Jenny zogen noch im Oktober dieses Jahres nach Paris. Im Jahre 1844 traf sich Marx erneut mit Friedrich Engels, den er oberflächlich in Berlin kennengelernt hatte. Die beiden bildeten eine Allianz, die für den gesamten Rest von Marx’ Leben halten sollte. Zusammen schrieben Marx und Engels ‚Die Heilige Familie‘ (1845), eine Polemik gegen Bruno Bauer. Wichtiger war jedoch eine Sammlung von Schriften zur Ökonomie und Philosophie, die Marx zu dieser Zeit produzierte, und die als die ‚Pariser Manuskripte‘ (1844) bekannt geworden sind. Marx wurde schließlich im Jahre 1845 aus Frankreich ausgewiesen und ging nach Brüssel. Im Frühjahr 1845 schrieb er zu seiner eigenen Klärung eine Reihe von Aufsätzen über Feuerbach. Diese ‚Thesen über Feuerbach‘ gehören zu den wenigen reifen Darstellungen, die wir von seinen Ansichten über erkenntnistheoretische und ontologische Fragen haben. In den Jahren 1845–1846 schrieben Marx und Engels ‚Die deutsche Ideologie‘, die, obwohl ebenfalls unveröffentlicht, eine maßgebliche Darstellung ihrer Geschichtstheorie und insbesondere des Ortes der Ideen in einer Gesellschaft ist. Marx’ sich entwickelnden ökonomischen Ansichten erhielten einen Ausdruck in einer polemischen Schrift gegen Proudhon mit dem Titel ‚La Misère de la Philosophie‘ (dt.: ‚Das Elend der Philosophie‘), die 1847 veröffentlicht wurde. ‚Das kommunistische Manifest‘, gemeinsam von Marx und Engels als Manifest der Kommunistischen Liga im Frühjahr 1848 verfasst, ist die klassische Darstellung der revolutionären Folgen von Marx’ Ansichten über die Geschichte, die Politik und die Ökonomie. Während der revolutionären Aufstände von 1848 kehrte Marx nach Deutschland zurück. Mit der Niederlage der revolutionären Bewegung war er aber erneut zur Flucht gezwungen, zunächst nach Paris, um dann im August 1849 nach London zu gehen, wo er im Exil für den Rest seines Lebens blieb. Die Jahre im britischen Exil waren für Marx problematisch (und noch viel mehr für seine loyale und hingebungsvolle Familie). Er war in ständigen finanziellen Schwierigkeiten und musste sich stark auf Engels und andere Freunde und Beziehungen stützen. Seine theoretischen Aktivitäten richteten sich hauptsächlich auf das Studium der Volkswirtschaftslehre und speziell der Analyse des kapitalistischen Systems. Der Höhepunkt dieser Tätigkeit war die Publikation des ersten Bandes von ‚Das Kapital‘ im Jahre 1867. Dieses Werk ist jedoch nur die Spitze eines gehaltvollen Bergs weniger wichtigerer Publikationen und unveröffentlichter Schriften. Unter diesen enthält das Vorwort von ‚Zur Kritik der politischen Ökonomie‘, veröffentlicht im Jahre 1859, eine klassische Darstellung von Marx’ materialistischer Geschichtstheorie. Der zweite und dritte Band von ‚Das Kapital‘ blieben bis zum Tode von Marx unveröffentlicht und wurden posthum von Engels ediert und publiziert. Zusätzlich und wesentlich später, nämlich erst im frühen 20. Jahrhundert, erschienen drei Bände mit den ‚Theorien über den Mehrwert‘, eine Reihe kritischer Diskussionen anderer politischer Ökonomen aus den Jahren 1862–1863. Eine groß angelegte und mehr oder weniger vollständige Ausgabe der ‚Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie‘, geschrieben in den Jahren 1857–1858, wurde erst im Jahre 1939 veröffentlicht. Die Einführung in die ‚Grundrisse‘ ist Marx’ reife und ausführlichste Diskussion über die Methoden der Volkswirtschaftslehre. Darüber hi-
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naus existieren zahlreiche Notizbücher und Entwürfe, von denen viele (wenn nicht alle zurzeit ihrer Abfassung) veröffentlicht wurden. Abgesehen von den Schriften zur Volkswirtschaftslehre schrieb Marx drei Essays über politische Ereignisse in Frankreich: ‚Die Klassenkämpfe in Frankreich‘ (1850); ‚Das achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte‘ (1852) und ‚Der Bürgerkrieg in Frankreich‘ (1871). Unter seinen vielen polemischen Schriften ist die ‚Kritik des Gothaer Programms‘ (1875) besonders bedeutsam, weil sie ein Licht auf Marx’ Konzeption des Sozialismus und seine Beziehung zur Idee der Gerechtigkeit wirft. Marx war in den letzten zehn Jahren seines Lebens gesundheitlich in sehr schlechter Verfassung, was offenbar an seinen Kräften für größer angelegte theoretische Arbeiten zehrte. Jedoch war sein Engagement in den praktischen Einzelheiten der revolutionären Politik ungebrochen. Er starb am 14. März 1883 und wurde auf dem Highgate Cemetery, London, begraben. 2. Marx als Junghegelianer Marx ist für die Philosophie auf drei unterschiedliche Arten relevant: (1) als Philosoph, (2) als ein Kritiker der Philosophie, ihrer Hoffnungen und ihres Selbstverständnisses, und (3) wegen der philosophischen Konsequenzen von Arbeit an sich, die nach Marx’ Auffassung überhaupt nicht philosophischer Natur ist. Im weiteren Sinne gesprochen korrespondieren diese drei Aspekte den Stufen von Marx’ intellektueller Entwicklung. Dieser und der folgende Abschnitt beschäftigen sich mit der ersten Stufe. Die Junghegelianer, mit denen Marx zu Beginn seiner Laufbahn verbunden war, erwiesen sich zunächst nicht als Kritiker von Hegel. Dass sie dies dennoch schnell wurden, hat mit den Schlussfolgerungen zu tun, die sie aus gewissen Spannungen innerhalb von Hegels Denken zogen. Hegels zentrale Behauptung war, dass sowohl die Natur, als auch die Gesellschaft die rationale Ordnung oder den Geist verkörpern. Gleichwohl meinten die Junghegelianer, daraus folge nicht, dass alle Gesellschaften die Rationalität im größtmöglichen Umfange entfalten. Dies sei auch im damals zeitgenössischen Deutschland der Fall. Nach ihrer Auffassung gab es einen Konflikt zwischen der essentiellen Rationalität des Geistes und den empirischen Institutionen, innerhalb derer der Geist sich realisiert hatte: Deutschland war ‚hinter der Zeit‘ zurückgeblieben (siehe Hegel, G.W.F., §§ 5–8; Hegelianismus). Eine zweite Spannungsquelle liegt in Hegels Einstellung zur Religion. Hegel wollte der Religion eine Rolle als Ausdrucksform des Inhalts der Philosophie in ihrer unmittelbaren Form zugestehen. Die Junghegelianer wandten dagegen allerdings ein, dass die Beziehung zwischen den Wahrheiten der Philosophie und den religiösen Darstellungen in Wahrheit aber einander entgegengesetzt seien. Indem man die Wirklichkeit nicht als die Verwirklichung der Vernunft, sondern als den Ausdruck des Willens eines personalen Gottes hinstellt, wie es die christliche Religion tue, errichte man einen metaphysischen Dualismus, der im vollständigen Gegensatz zur säkularen Innerweltlichkeit steht, die die wahre Bedeutung der Hegelschen Philosophie sei (obwohl Hegel selbst zu vorsichtig gewesen sein mag, um dies explizit so auszudrücken). Dies war die Position, hinter der auch Marx zur Zeit seiner Dissertation über Epikur und Demokrit stand. Ihr Gegenstand war einer Periode des griechischen 1099
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Denkens entnommen, die gewisse Parallelen mit dem Deutschland zu Marx’ eigener Zeit aufwies. Genauso wie die Junghegelianer über das Problem nachdachten, wie man die Philosophie nach Hegel weiter betreiben könne, so schrieb auch Epikur im Schatten eines anderen großen Systems, nämlich dem von Aristoteles. Epikur war erfolgreicher als Demokrit, glaubte Marx, indem er den Materialismus mit einer Darstellung des menschlichen Handelns verband. Darüber hinaus bewunderte Marx Epikur wegen seiner expliziten Religionskritik, von der Epikur meinte, dies sei in allen Zeitaltern die Hauptaufgabe der Philosophie. In ihrer Zerstörung der Illusionen der Religion glaubten die Junghegelianer, dass die Philosophie sowohl die notwendigen Bedingungen für die menschliche Emanzipation, als auch für die Herbeiführung eines rationalen Staates liefern würde. In den Arbeiten, die er in Kreuznach im Jahre 1843 schrieb (der unveröffentlichte Entwurf der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ und den Essay ‚Zur Judenfrage‘), und kurz danach (‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einführung‘) stellte Marx diese Position in Frage. In der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ formuliert Marx zwei Hauptkritiken an Hegel. Die erste lautet, dass es Hegels wirkliche Sorge sei, die Umrisse seiner eigenen Metaphysik im Reich des Politischen zurückzuverfolgen, statt eine Analyse der politischen Institutionen und Strukturen selbst zu leisten. Dies gibt der politischen Philosophie eine apologetische Funktion, denn sie verführt ihn nunmehr dazu, den Widerspruch, den er in der Wirklichkeit vorfindet, als etwas darzustellen, was im Wesentlichen mit der angeblich höheren Einheit der ‚Idee‘ versöhnt sei. Dies sind sie jedoch keineswegs, meint Marx. Im Gegenteil, es handele sich hierbei um ‚wesentliche Widersprüche‘. Unter diesen Widersprüchen sticht jener hervor, der zwischen dem ‚System der Einzelinteressen‘ (d.h. die Familie und die Zivilgesellschaft, also das wirtschaftliche Leben) und dem ‚System des Gemeininteresses‘, nämlich dem Staat, besteht. Dies führt Marx zu seiner zweiten Kritik. Hegel, so mutmaßt Marx, nimmt an, dass der Staat, weil er aus der Sicht der Hegelschen Logik das ‚Höhere‘ sei, die Widersprüche des ökonomischen Lebens wirksam miteinander versöhnen könne. Tatsächlich sei es aber, so Marx, die bürgerliche Gesellschaft, die vor dem Staat existiere. Der Staat entstehe auf der Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und sei immer der Form der Letzteren untergeordnet. 3. Philosophie und die Kritik der Religion Marx präsentiert die Konsequenzen dieser Kritiken für die Religionskritik in seiner ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einführung‘. Dieser kurze Aufsatz ist ein komprimiertes Meisterwerk der leidenschaftlichen Rhetorik, überschäumend von Antithesen und Chiasmen. In Deutschland, so schreibt Marx, „ist die Religionskritik im Wesentlichen vollendet“. So stellt sich also die Frage, wie man darüber hinaus kommt. Marx’ erster Schritt dahin ist die Erklärung der Bedeutung dieser Kritik, so wie er sie versteht. Die Welt der Religion ist ein Spiegelbild der bestimmten Form einer Gesellschaft: „Dieser Staat, diese Gesellschaft produziert Religion, die ein verkehrtes Weltbewusstsein ist, weil sie eine verkehrte Welt ist.“ Das heißt, nur eine verkehrte, säkulare Welt produziert die Religion als einen Nebenarm. Im religiösen Glauben findet der Mensch sich selbst reflektiert in der „fantastischen Wirklichkeit des Him1100
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mels“ wieder, während er dort „doch nur einen Schein seiner selbst finden kann, aber kein menschliches Wesen“. Die Religion liefert also ein Reich, in dem die einzelnen Menschen sich realisieren können, zumindest teilweise, da die volle und angemessene Selbstverwirklichung in der profanen Welt nicht möglich ist. Nach dieser Auffassung erhält die Religion die soziale Ordnung, von der sie ein Nebenprodukt ist, sowohl durch eine Ablenkung der Aufmerksamkeit von gesellschaftlichen Fehlern, als auch durch die Lieferung einer teilweisen Flucht aus ihr. In Marx’ berühmten Worten ist „die Religion das Seufzen der unterdrückten Kreatur, das Herz einer herzlosen Welt und die Seele der seelenlosen Bedingungen. Sie ist das Opium des Volkes.“ Daher sind die Religion und die Lebensform, mit der sie verbunden ist, einer dreifältigen Kritik ausgesetzt: (1) Es gibt, erstens, die verarmte und entstellte Welt, von der die Religion das Nebenprodukt ist. (2) Es gibt eine Art und Weise, in der das Bild der Wirklichkeit, so wie es die Religion hervorbringt, falsch zustande kommt. (3) Und schließlich versagt der Mensch auch darin, nicht die Tatsache anzuerkennen, dass die Religion ihre Ursprünge in der diesseitigen Wirklichkeit hat. Es ist dieses letzte Element, gegen das sich die Religionskritik richtet. Die Religionskritik verbindet die Religion wieder mit ihren vergessenen Ursprüngen in der diesseitig-sozialen Existenz. Damit aber noch nicht genug. Die Religionskritik, insoweit sie ein Aufruf an die Menschen ist, ihre Illusionen aufzugeben, ist nach Marx auch „der Aufruf zur Aufgabe der Umstände, der Illusionen notwendig macht“. Die Religionskritik kann selbst nicht die Verzerrungen und Verarmungen der Welt beseitigen, aus denen heraus die Religion entsteht. Dies ist selbstverständlich Marx’ eigentliches Vorhaben, dem die Religionskritik nur den Boden bereitet hat. Sobald die Religionskritik ihre Arbeit verrichtet hat, muss sich die Philosophie weiter an die „Demaskierung der menschlichen Selbstentfremdung in ihrer säkularen Form“ machen. Die Religionskritik endet, so Marx, „mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist; deshalb endet sie mit dem kategorischen Imperativ, alle Umstände zu überwinden, durch die der Mensch ein entwürdigtes, versklavtes, vernachlässigtes, verachtenswertes Wesen ist“ (‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘, 1843). Ein großer Teil dieser Analyse war zwischen Marx und seinen früheren junghegelianischen Genossen unstrittig. Marx gibt zu, dass die Philosophie sowohl eine kritische Rolle bei der Darstellung der Illusionen der Religion zu spielen hat, als auch eine bestätigende bei der Errichtung eines Ideals menschlicher Erfüllung. Marx wirft den Junghegelianern aber auch vor, sie würden meinen, dass die Philosophie allein genug sei, um die menschliche Emanzipation herbeizuführen. Die Philosophie, so meint er, muss über sich selbst hinausgehen: „Eine Kritik der spekulativen Rechtsphilosophie bleibt nicht innerhalb ihrer selbst, sondern schreitet fort zu Aufgaben, zu deren Lösung es nur ein Mittel gibt – Praxis“. Hierfür wiederum bedarf es einer materialen Kraft, einer „Klasse mit radikalen Ketten“, nämlich des Proletariats. Auf dieser Stufe ist Marx nunmehr nicht mehr so kritisch gegenüber dem Inhalt der Philosophie, sondern vielmehr gegenüber dem, was man eine metaphilosophische Überzeugung nennen könnte, die mit ihr verbunden ist: dass es nämlich möglich sei (so jedenfalls formuliert er es im Zusammenhang mit den Junghegelianern), die „Philosophie zu realisieren, ohne sie zu transzendieren“. Eine wirklich
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erfolgreiche Kritik der Religion mache es notwendig, die sozialen Bedingungen zu transformieren, innerhalb derer die Religion erzeugt und aufrechterhalten wird. 4. Entfremdete Arbeit In Paris warf sich Marx in das Studium der philosophischen Ökonomie. Sein Ziel ist nun eine Ausweitung der Kritik an Hegel und den Junghegelianern durch eine weitreichendere Darstellung des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft. Die ‚Pariser Manuskripte‘ liefern uns daher eine einzigartige Verbindung zwischen Marx’ ökonomischer Theorie und seiner philosophischen Auffassung des menschlichen Wesens. Der Begriff, der die beiden zusammenbringt, ist jener der Entfremdung (siehe Entfremdung). Obwohl Marx selbst von diesem Ausdruck in seinen frühen Schriften nur geringen Gebrauch machte, wird doch die Struktur dieses Begriffes in seiner Kritik der Religion klar vorweg genommen. Dessen grundlegende Idee ist, dass eine Entität oder ein Akteur ein Produkt oder einen Ausdruck entstehen lässt, der sich von dieser Entität oder diesem Akteur unterscheidet, aber gleichzeitig für ihn wesentlich ist. Dieses Sekundärprodukt wird von seinem Ursprung abgeschnitten. Als Folge davon erleidet der Akteur in gewissem Sinne einen Verlust an seiner Identität. Daher muss der Akteur, um sich selbst vollständig zu verwirklichen, diese Trennung aufheben, die sich zwischen ihn und sein eigenes Produkt geschoben hat. In der zentralen Diskussion der ‚Pariser Manuskripte‘ umreißt Marx die Anwendung des Begriffs der Entfremdung auf den Arbeitsprozess. Entfremdung, so Marx, ist typisch für eine Situation, in der (1) sich die Arbeit auf die Herstellung von Waren richtet, d.h. auf Dinge, die auf dem Markt einen Tauschwert haben, und (2) die Arbeit selbst eine solche Ware ist. Marx teile die mit der Arbeit entstehende Entfremdung in drei Hauptformen ein: (1) Erstens gibt es die Trennung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit. Es liegt in der Natur des Arbeitsprozesses, dass sie eine ‚Aneignung‘ der äußeren Welt mit sich bringt. Wenn aber die Arbeit entfremdet ist, dann wird die wahrnehmbare äußere Welt zum Gegenstand, an den der Arbeiter gebunden ist, also etwas, das ihm feindselig gegenüber steht, statt ein Mittel zu seiner Selbstverwirklichung zu sein. (2) Gleichzeitig wird der Arbeitsprozess selbst zu etwas Fremdem für den Arbeiter. Weil die Notwendigkeiten, unter denen die Arbeit stattfindet, auf den Arbeiter von außen zukommt, d.h. direkt oder indirekt vom Markt, ist die Arbeit kein Vorgang der Selbstverwirklichung mehr. Sie wird aus der Sicht des Arbeiters „eine Tätigkeit, die sich gegen ihn richtet, die unabhängig von ihm ist und nicht zu ihm gehört“. (3) Schließlich, so sagt Marx, sei die Konsequenz dieser beiden Formen von Entfremdung die Abtrennung des Menschen von dem, was er dessen Gattungswesen nennt. Dieser Begriff, den Marx in den Jahren 1843–1844 häufig verwendete, hatte er von Ludwig Feuerbach übernommen. Der Mensch, so Marx, sei ein Gattungswesen, „weil er sich selbst als die gegenwärtige, lebende Art betrachtet, weil er sich selbst als ein universales und daher freies Wesen betrachtet“. Eine Analogie zur Familie kann zur Klärung dieser offenkundig zirkulären Definition beitragen. In einem eingeschränkten Sinne können Menschen Teil einer Familie sein, ohne sich bewusst so zu verhalten (bis hin zu der gedachten Grenze eines Familienmitgliedes, dass sich seiner Verwandtschaft nicht einmal bewusst ist). Aber um eine Familie im volleren Sinne des Wortes zu sein, müssen sich die Menschen zueinander als Familie verhalten, und zumindest ein Teil von ihnen sollte sich klar 1102
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darüber sein, dass sie eine Familie sind. So verhält es sich auch mit dem menschlichen Gattungswesen. Während das zugrunde liegende Phänomen, auf dem die Familie beruht, eine biologische Beziehung darstellt, ist diese Beziehung zwischen den Menschen als Gattungswesen die Arbeit. Da nun die Arbeit in anderer Hinsicht entfremdet wird, entfremden sich die Menschen von ihrem Gattungswesen. Die Konsequenz ist die Entfremdung von Mitgliedern der Gattungsmitglieder untereinander. Jeder dieser drei Punkte ließe sich, so könnte man meinen, bestreiten. Gewiss, in irgendeiner Situation, in der Einzelmenschen nicht ausschließlich für sich selbst produzieren, wird es unvermeidlich sein, dass die Produkte ihrer Arbeit von dem ursprünglichen Produzenten ‚getrennt‘ werden. Und ähnlich kann der Arbeitsprozess nicht etwas sein, dass durch den jeweiligen Menschen frei gewählt wird, solange sie objektiv durch das Wesen der materiellen Welt und die verfügbaren Ressourcen zum Auffinden effizienter Mittel zu den gesetzten Zielen eingeschränkt sind. Und schließlich ist es überhaupt nicht klar, was es bei Menschen heißen soll, dass sie sich wieder ihr ‚Gattungswesen anzueignen‘. Eine Möglichkeit zur Präzisierung des Begriffs der entfremdeten Arbeit ist es zu fragen, wie eine nicht entfremdete Arbeit ausschauen könnte. Marx spricht diese Frage am Ende der Diskussion von James Mills ‚Elements of Political Economy‘ (dt.: ‚Elemente der Volkswirtschaftslehre‘) an. „Nehmen wir an“, so beginnt Marx, „dass wir wie Menschen produziert hätten.“ In diesem Falle, so behauptet er, würde jeder von uns sowohl sich selbst, als auch seine Gefährten im Produktionsprozess bestätigen. Zunächst würde ich, der Produzent, mich selbst in meiner Produktion bestätigen. Gleichzeitig würde ich ein menschliches Bedürfnis befriedigen, und zwar das meiner Nachbarn, für die ich in diesem Falle produziere. Indem ich daher auf deren Bedürfnisse eingehe, würde ich zwischen ihnen und der Gattung vermitteln: „Ich würde von dir als die Ergänzung deines eigenen Seins anerkannt werden, als ein wesentlicher Teil von dir selbst“. Auf diese Weise bringt die Produktion und die Erfüllung der Bedürfnisse eine Gegenseitigkeit der Selbstverwirklichung und der gegenseitigen Anerkennung mit sich: „Im individuellen Ausdruck meines eigenen Lebens hätte ich so den Ausdruck deines Lebens hervorgebracht, und so hätte ich mich auch in meiner eigenen Tätigkeit direkt bestätigt und meine eigentliche Natur verwirklicht, d.h. meine menschliche, gemeinschaftliche Natur.“ (‚Pariser Manuskripte‘) Diese Ideen helfen bei der Erklärung von Marx’ Antagonismus gegenüber dem, was er eine ‚bourgeoise‘ politische Theorie nennen würde. Insofern die traditionelle politische Philosophie es als ihre grundlegende Frage betrachtet, wie man die miteinander widerstreitenden Interessen versöhnen kann, ist ihr Anfangspunkt aus Marx’ Sicht auf nicht annehmbare Weise individualistisch. Denn was berechtigt uns anzunehmen, dass die Interessen der einzelnen Menschen notwendig einander widersprechen müssen? Statt zu fragen, wie man die Rechte und Pflichten fair verteilen kann, wenn es zu Interessenskonflikten kommt, sei die Aufgabe, so glaubte Marx, die Menschheit zu einer Lebensform zu bewegen, in der solche Interessenskonflikte gar nicht mehr verwurzelt sind. 5. Die Kritik der Philosophie Obwohl die ‚Pariser Manuskripte‘ Marx’ wachsendes Engagement in der Volkswirtschaftslehre zeigen, sind sie doch noch kein Beweis für die Aufgabe seines In1103
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teresses an der Philosophie. Die Haltung, die Marx gegenüber der Philosophie einnimmt, wird allerdings kritischer, als sie es in seiner früheren, junghegelianischen Periode war. Teilweise kann dies bereits bis auf Ludwig Feuerbach zurückverfolgt werden, den Marx in zahlreichen Punkten zustimmend zitiert (siehe Feuerbach, L.) Es war Feuerbachs große Leistung, schrieb Marx, „gezeigt zu haben, dass die Philosophie nicht mehr als die Religion ist, die ins Denken gebracht und im Denken entwickelt wurde, und dass sie gleichermaßen verdammt werden muss wie jede andere Form und Existenzweise der Entfremdung der menschlichen Natur“. Marx betrachtet die Philosophie also nunmehr im Grunde als eine Nachfolgerin der Religion, d.h. nicht als eine Kraft, die sich gegen die Religion richtet, wie er dies noch zur der Zeit seiner Dissertation meinte. Marx bringt auch eine Reihe negativer Bemerkungen bezüglich der Philosophie im Allgemeinen an, aber seine eigentlich kritischen Kommentare richten sich gegen Hegel. Wie Feuerbach ist er der Auffassung, dass Hegel die Philosophie zu einem Endpunkt gebracht habe. Das dynamische Prinzip im Kern der Hegelschen Philosophie ist nach Marx das der „abstrakten geistigen Arbeit“. Gleichwohl, trotz der wirklich kritischen Elemente, die darin enthalten sind, ist Hegels Philosophie durch seine idealistischen Annahmen verdorben. Am Ende ist die Entfremdung für Hegel lediglich eine Sache abstrakter Trennung der Gedankenprodukte vom Denken an sich, und das ist wiederum etwas, was es durch eine philosophische Neuorientierung des Bewusstseins zu überwinden gilt. Um über Hegel hinauszukommen, wäre es notwendig, den Begriff der wirklichen, konkreten Arbeit zur Grundlage der Philosophie zu machen. Aber dies, so denkt Marx, führe über die Philosophie an sich selbst hinaus. Marx verfolgt diese Ideen in den ‚Thesen über Feuerbach‘, die er im Frühling 1845 schrieb. Hier sagt er ausdrücklich, dass seine Ablehnung sich nicht nur auf die idealistischen Philosophien, wie z.B. diejenige von Hegel, bezieht, sondern auch auf die angeblich materialistischen, einschließlich jene von Feuerbach. Indem er die Idee der ‚Tätigkeit‘ verinnerlichte, habe der Idealismus wichtige Vorteile gegenüber dem Materialismus. Marx schreibt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher [wird] die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.“ (‚Thesen über Feuerbach‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 5)‘) Hier muss angemerkt werden, dass diese Passage mehrdeutig ist. Sieht Marx einer neuen Art von Materialismus entgegen, nämlich einer, die nicht die Fehler „alles bisherigen Materialismus“ hätte, oder ist dies ein Aufruf, die Philosophie, und zwar sowohl den Materialismus, als auch den Idealismus, ganz und gar hinter sich zu lassen? Die Interpreten von Marx, die die erste der beiden Sichtweisen einnehmen, schreiben ihm eine implizit philosophische Position zu, die ‚dialektischer Materialismus‘ genannt wird. Dennoch bleibt der Umstand, dass Marx selbst niemals ausdrücklich eine solche Position formulierte, und die Schlussfolgerung der ‚Thesen über Feuerbach‘ scheint von der Philosophie gänzlich wegzuführen: „Die 1104
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Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es käme darauf an, sie zu verändern.“ ‚Die deutsche Ideologie‘, die Marx und Engels vom September 1845 bis in den Sommer 1846 schrieben, schreibt diese Argumentationsweise fort. Wie in so vielen von Marx’ Schriften, ist die rhetorische Figur, von der aus die Kritik aufgenommen wird, die Umkehrung einer Umkehrung. Die Junghegelianer, nimmt Marx an, halten sich selbst für Menschen, die an einem Kampf mit den Illusionen teilnehmen, die die Deutschen in ihrem Bann halten. Tatsächlich aber sind sie selbst im Griff einer Illusion, nämlich jener, dass die Ideen eine unabhängige und bestimmende Kraft im politischen Leben seien. Feuerbach wird von dieser Kritik nicht ausgenommen. Obwohl er den Anschein erweckt, das Reich der reinen Ideen zu entmystifizieren, verbleibe er doch, so Marx und Engels, „im Reich der Theorie“. Feuerbach, behaupten sie, „erreicht nie den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei der Abstraktion des ‚Menschen‘ stehen“. Die von Marx und Engels vorgeschlagene Alternative ist natürlich ebenfalls nur eine Theorie, aber diese sei eine Theorie gänzlich anderer Art, so behaupten sie. „Im direkten Gegensatz zur deutschen Philosophie, die vom Himmel zur Erde hinuntersteigt“, schlagen sie eine Darstellung vor, die „von der Erde in den Himmel hinansteigt“. Statt allgemeine Ideen zurück in ebenso allgemeine anthropologische Kategorien zu übersetzen, ist das Ziel vielmehr, eine bestimmte Darstellung ihrer historischen Ursprünge zu geben. Indem sie dies tun, untergraben sie die Voraussetzungen, auf denen das philosophische Unternehmen beruht, und die Philosophie als ein unabhängiger Wissenszweig verliert sein Existenzmedium: „Die Philosophen hätten ihre Sprache nur in die gewöhnliche Sprache, aus der sie abstrahiert ist, aufzulösen, um sie als die verdrehte Sprache der wirklichen Welt zu erkennen und einzusehen, dass weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eigenes Reich bilden; dass sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind.“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 432–433) 6. Die Theorie der Ideologie: (1) Das Reflexionsmodell ‚Die deutsche Ideologie‘ ist voll von polemischen Behauptungen über den Vorrang des materiellen Lebens über die Welt der Religion, des Denkens und der Spekulation. Das Werk schickt sich an, auch mehr zu sein als nur ein Kompendium der Schlagworte und Losungen. Sein Ziel ist die Entwicklung eines Rahmens zur wissenschaftlichen Erklärung, die das materielle Leben das Denken und die Kultur bedingt und bestimmt. Zur Zeit der Niederschrift der ‚Deutschen Ideologie‘ hatte sich der Ausdruck ‚Ideologie‘ im Deutschen bereits als ein Wort etabliert, das auf Ideensysteme verwies, die von der empirischen Wirklichkeit abgehoben waren und in einem disproportionalen Verhältnis zu ihr standen. Heinrich Heine, mit dem Marx sich in Paris sehr gut verstand, verwendete das Wort auch in diesem Sinne. In der ‚Deutschen Ideologie‘ ist dies deshalb sicherlich auch ein Teil der Bedeutung dieses Ausdrucks. Aber der Begriff hat auch eine weitere explanatorische Funktion (siehe Ideologie). Seit der Antike sind die politischen Denker um die Rolle des ‚Falschen‘ oder der irrationalen Formen des Bewusstseins besorgt, die in das politische Leben hineinspielen. Diesbezüglich stellte die junghegelianische Kritik der Religion den letzten Ausdruck einer sehr langen Tradition dar. Die Ursprünglichkeit des Marxschen 1105
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Ideologiebegriffs liegt jedoch in der Art und Weise, wie er die Idee des falschen Bewusstseins mit einer spezifisch modernen Konzeption von Gesellschaft zusammenbringt. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann eine Konzeption der Gesellschaft in Deutschland und in Frankreich an Kraft, nach der Gesellschaften wie auch andere Organismen die Kraft zur Selbsterhaltung und Selbstreproduktion haben. Marx war von dieser Auffassung sehr angetan, hinter die er sich in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ stellte. Nach Marx ragen unter den Bedingungen einer Gesellschaft zur Reproduktion ihrer selbst jene Ideen heraus, denen ihre Mitglieder anhängen. Daher sollte ein falsches Bewusstsein, statt nur als zufälliges Merkmal der menschlichen Natur (wenn auch eines mit enormen politischen Konsequenzen) vielmehr als ein Phänomen betrachtet werden, dass durch den spezifischen Charakter der Gesellschaft, in der es auftritt, zu erklären ist. Wenn Gesellschaften nicht ausschließlich auf Zwangsgewalt beruhen, dann deshalb, weil diejenigen, die unterdrückt und ausgebeutet werden, dies aus irgendeinem Grund akzeptieren. Marx sagt dies freiweg: „Die Ideen der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Ideen.“ Wie aber kommt dies zustande? Welche Verbindung besteht zwischen den ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft und den Ideen ihrer Mitglieder? ‚Die deutsche Ideologie‘ enthält zwei Analogien, die als Erklärungsmechanismus der Verbindung zwischen materiellem Leben und Ideen dienen könnten. Die erste ist in der folgenden, berühmten Passage enthalten: „Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dieses Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. […] [E]s wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 26) Bezeichnen wir dies hier als das ‚Reflexionsmodell‘ der Ideologie. Die Idee dahinter ist, dass die Ideologie zum materiellen Leben steht, wie die Bilder einer camera obscura oder der Netzhaut zur Wirklichkeit: Gegenstände der Wirklichkeit werden akkurat, aber umgekehrt reproduziert. Ein kurzes Nachdenken über diese Analogie zeigt aber, dass sie, wie sie dort gefasst ist, vollkommen unangemessen ist. Es ist zwar tatsächlich wahr, dass die Bilder auf der menschlichen Retina umgekehrt erscheinen. Aber bedeutet dies, dass Menschen die Welt nicht richtig wahrnehmen? Natürlich nicht. Tatsache ist, soweit es die menschliche Wahrnehmung betrifft, dass die umgekehrte Projektion die richtige Art und Weise ist, wie Bilder auf unsere Retina gelangen. Und dies weist den Weg zum Umgang mit dem Problem der Marxschen Analogie. Indem er alles Bewusstsein als verkehrt oder „auf den Kopf gestellt“ beschreibt, verliert der Gegensatz zwischen wahr und falsch seinen Sinn. Ein weiterer Einwand ergibt sich später in der zitierten Passage, in der Marx mit der Reflexionsanalogie fortfährt, wenn er von den ideologischen „Reflexen und 1106
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Echos“ des wirklichen Lebensprozesses spricht. Ideologische Ideen sind, so fährt er fort, Phantome und sog. ‚Sublimate‘. Diese Metaphern bergen eine wichtige Folgerung in sich: ideologisches Denken ist die Wirkung realer Prozesse, es ist aber an sich selbst nicht substanziell, d.h. ohne materielle Wirklichkeit, und damit ohne kausale Macht. Wenn dies der von Marx eingenommene Standpunkt ist, dann ist er offenkundig katastrophal für die Theorie der Ideologie. Denn der Mittelpunkt der Theorie der Ideologie war es doch zu erklären, wie es sein kann, dass gewisse Formen des Denkens der Erhaltung bestimmter Gesellschaften dienen. Also sind diese Denkformen qua der explizierten Prämisse keineswegs wirkungslos, sondern haben sehr wichtige kausale Wirkungen: sie helfen nämlich bei der Erhaltung einer konkreten sozialen und ökonomischen Ordnung. Schließlich ist es auch nicht klar, dass die Ideologie zum materiellen Leben in einem Verhältnis steht, wie der Geist zur Materie. Soll die Folge hiervon sein, dass die Ideologie immateriell und das Materielle nicht-intellektuell ist? Dies widerspricht klar der grundlegenden Marxschen Position. Es wäre für einen eingeschworenen Materialisten nicht nur seltsam vorzuschlagen, dass Ideen etwas grundlegend nicht-substanzielles seien, sondern – und noch wichtiger – stünde dies auch im Widerstreit mit der Idee, dass das ökonomische Leben, wenn es denn nicht mehr unbewusst oder unreflektiert ist, der zentrale Bereich des menschlich-kognitiven Engagements in der externen Wirklichkeit ist. 7. Die Theorie der Ideologie: (2) Das Interessensmodell Es gibt jedoch noch ein weiteres, wirksames Modell in der ‚Deutschen Ideologie‘. Während das Reflexionsmodell die Parallele zwischen dem ideologischen Prozess und einer traditionellen, realistischen Darstellung der Wahrnehmung zieht (der immaterielle Geist spiegelt passiv eine geistunabhängige Wirklichkeit), entwickelt Marx etwas, was wir als das ‚Interessenmodell‘ bezeichnen können. Dies ergibt sich aus einer eher instrumentalen Herangehensweise an die Erkenntnistheorie. In den ‚Thesen über Feuerbach‘ offenbart sich deutlich, dass sich Marx, zumindest zu dieser Zeit, von solcherlei Ansichten angezogen fühlte. In der zweiten These schreibt er: „Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (‚Thesen über Feuerbach‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 5) Aus dieser Perspektive ist das bedeutendste Merkmal der Ideen nicht ihre Beziehung zu einer geistunabhängigen Wirklichkeit, sondern dass sie die Produkte praktischer Tätigkeiten sind, dass diese praktischen Tätigkeiten selbst von Interessen geleitet sind. Die materialistische Sichtweise der Geschichte, auf die diese Einsicht hinausläuft, erklärt nach Marx und Engels „nicht die Praxis von der Idee aus, sondern erklärt die Bildung der Ideen aus der materiellen Praxis“. Das Problem des Interessenmodells liegt nicht in der Auffassung, dass Ideen das Produkt von Interessen sind, was allerdings sehr plausibel ist (obwohl es schwieriger zu bestimmen sein dürfte, genau welcher Anteil unserer Ideen ein Produkt von Interessen dieser Art ist; sicher nicht alle von ihnen. Und es dürfte auch schwierig sein zu erklären, wie es sein kann, dass die Interessen sich selbst in dem Prozess durchsetzen, durch den die Ideen erst geformt werden. Das Problem ist hier, dass die ideologischen Ideen nicht einfach Ideen sind, die in der Verfolgung von Interessen gebildet werden. Sie sind vielmehr Ideen, die sich gegen die Interessen einer großen
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Zahl jener richten, die sich annehmen (und auf diese Weise die Interessen anderer befördern). Wie können Ideen dieser Art überhaupt angenommen werden? Marx’ und Engels’ Antwort hierauf geht von der folgenden Behauptung aus: „Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 46) Dies ist allerdings keine sehr befriedigende Lösung. Marx und Engels sehen offenbar diejenigen, die unter dem Befehl der herrschenden Klasse leben, als passive Opfer, die die Ideen der Herrschenden wie folgsame Hühner von jenen aufnehmen, die die „Mittel der geistigen Produktion“ kontrollieren, ohne jegliche kritische Reflexion, ob diese Ideen entweder wahr oder in ihrem eigenen, rationalen Interesse sind. Warum aber sollte man annehmen, dass die herrschende Klasse in der Lage ist, ihre Interessen wirksam durchzusetzen und Ideen als Antwort auf diese Interessen zu formulieren, während die beherrschte Klasse sie lediglich akzeptiert, egal, was man ihr auftischt? Marx und Engels versuchen nun tatsächlich, ihren Anspruch im Wege ihrer Diskussion des Wesens mentaler Produktion plausibler zu machen. Es sei, so schreiben sie, die bedeutsamste Entwicklung in der Arbeitsteilung, dass geistige und manuelle Arbeit getrennt werden: „Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblick an ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ‚reinen‘ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen.“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 31) Die Trennung zwischen geistiger und materieller Arbeit, so meinen Marx und Engels, führt nicht wirklich zur Bildung autonomer Ideen; die Ideologen, die Ideen produzieren, sind immer noch Teil der herrschenden Klasse, deren Interessen von ihren Ideen repräsentiert werden. Dennoch liefert sie eine Erklärung dafür, warum solche Ideen von der beherrschten Klasse angenommen werden, obwohl sie doch ihren Interessen widersprechen: Die Ideen werden angenommen, weil sie auf den ersten Anschein uneigennützig sind. Der Ideologe verhält sich nach dieser Auffassung also wie ein bestochener Schiedsrichter; er ist in der Lage, das Ergebnis eines Spiels umso wirksamer zu beeinflussen, als man ihn fälschlicherweise für neutral hält. Sind Ideologen also an einem Betrug beteiligt? Wissen sie um die Parteilichkeit ihrer Ideen, stellen diese aber dennoch als etwas Neutrales und Uneigennütziges vor? Im Gegenteil. Nach Marx und Engels sind Ideologen aufrichtig, und gerade weil sie aufrichtig an ihre Unabhängigkeit und die objektive Geltung ihrer eigenen Ideen glauben, sind sie in der Lage, andere von ihren eigenen Ideen umso wirksamer zu überzeugen. Genau hier liegt jedoch das Problem. Wie können wir davon ausgehen, dass es wahr ist, dass die Ideologen sowohl gezwungen werden sollten, ihre Ideen offen im Interesse jener herrschenden Klasse zu produzieren, der sie mutmaßlich angehören, als auch, dass sie (und diejenigen, die ihre Ideen annehmen) aufrichtig in 1108
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Unkenntnis der wahren Natur dieses Zusammenhanges bleiben? Warum denken sie, dass sie unabhängig seien, wenn sie dies doch in Wirklichkeit nicht sind? Und wenn sie nicht unabhängig sind, wie behaupten sich dann eigentlich die Klasseninteressen, die sie mit dem Rest der herrschenden Klasse teilen? Wie dem auch sei, es ist nun klar, warum Marx sich so feindselig gegen die Philosophie wandte. Wie jede angeblich ‚reine‘ Theorie repräsentiert die Philosophie eine täuschende Abstraktion von den besonderen Umständen und materiellen Interessen, denen sie dient. Diese Denkbewegung, durch die jene Ideen, die das Produkt der materiellen Interessen sind, von den Interessen abgesondert werden, für die sie stehen, wird aus Sicht von Marx und Engels von Kant zusammengefasst (der für sie der „rein waschende Sprecher“ der deutschen Bourgeoisie schlechthin ist). Kant, so schreiben sie: „[...] machte die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu reinen Selbstbestimmungen des ‚freien Willens‘, des Willens an und für sich, des menschlichen Willens, und verwandelte ihn so in rein ideologische Begriffsbestimmungen und moralische Postulate.“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 178) Für Marx und Engels sind, zumindest auf dieser Stufe, sog. ‚moralische Postulate‘ von Grund auf ideologisch. 8. Historischer Materialismus „Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen“ (‚Die deutsche Ideologie‘, vgl. MEW Bd. 3, S. 27), so behaupten Marx und Engels. Die Wissenschaft, auf die sie sich beziehen, ist die materialistische Theorie der Geschichte, deren klassische Darstellung im Vorwort des Buches ‚Zur Kritik der politischen Ökonomie‘ von 1859 zu finden ist. Ganz allgemein behauptet die materialistische Theorie der Geschichte, dass die Art und Weise, auf die die Menschen die Notwendigkeiten des Lebens bewerkstelligen, auch die Form der jeweiligen Gesellschaft bestimmt, in der sie leben. Jede Gesellschaft, außer den ganz primitiven, produzieren einen ‚Mehrwert‘ über das hinaus, was sie unmittelbar konsumieren. Die Art und Weise, auf die dieser Mehrwert ‚angeeignet‘ wird, d.h. auf die er den direkten Produzenten weggenommen und verteilt wird, bestimmt die Klassenstruktur der fraglichen Gesellschaft. Wenn eine Gesellschaft in direkte Produzenten und jene aufgeteilt ist, die von den Ersteren in Gestalt ihrer „unbezahlten Mehrwertarbeit“ profitieren (was von allen Gesellschaften wahr ist, wo es einen Mehrwert gibt, und die noch nicht beim sog. ‚wahren‘ Sozialismus angelangt sind), dann ist die Beziehung zwischen den Klassen widerstreitend. Auf jeder Entwicklungsstufe ist der Mehrwert ein Ausdruck der jeweiligen Entwicklung der sog. ‚Produktivkräfte‘, d.h. der physischen und intellektuellen Ressourcen, auf denen die materielle Produktion beruht. Jede Gesellschaft enthält sowohl eine ökonomische ‚Basis‘, die aus ‚Produktionsbeziehungen‘ besteht (d.h. jenen Beziehungen, die die Produzenten zu den Produktionsmitteln und untereinander haben), und einer gesetzlichen und politischen Superstruktur, von Marx und Engels ‚Überbau‘ genannt, die einander entsprechen. Die Produktionsbeziehungen begün1109
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stigen die Entwicklung von Produktivkräften aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Über diesen Punkt hinaus werden sie, wie Marx sagt, zu ‚Fesseln‘ der Produktivkräfte, und es entsteht ein Konflikt, der schließlich zur Ersetzung der bestehenden Produktionsbeziehungen durch neue und höhere führt. Nach dieser Darstellung ist es klar, dass die materialistische Geschichtstheorie eher ein Unternehmen der Sozialwissenschaften, als eines der Philosophie ist. Deshalb mag es überraschen, dass sie eine so andauernde Aufmerksamkeit von Seiten der Philosophen erfahren hat. Aber auch wissenschaftliche Theorien können die Philosophie betreffen, wenn ihre Annahmen neuartig, obskur oder fraglich sind, und zwar selbst dann, wenn die Absichten hinter ihnen in keiner Weise philosophischer Natur sind (Beispiele hierfür lieferten Darwin, Freud und Newton, aber auch Einstein). Im Falle von Marx’ Geschichtstheorie ist es nicht unbedingt die Bedeutung oder die Evidenz bestimmter Behauptungen, die sich in der Theorie finden, über die gestritten wurde. Vielmehr sind es die allgemeinsten Fragen der Erklärungsweise, die Marx hier anwendet, und die Art von Entitäten oder Gegenständen, die eine solche Erklärung voraussetzt, die zur fortgesetzten Diskussion darüber führten. Interpreten von Marx scheiden sich zu diesen Fragen im Großen und Ganzen in drei Gruppen. In die erste fallen diejenigen, die Marx’ Theorie der Geschichte als etwas Wissenschaftliches wie jede andere wissenschaftliche Theorie erscheint. Mit geringen Abstrichen fällt die Mehrheit der frühesten Marxisten (beispielsweise Engels selbst, sowie Kautsky und Plechanow) in diese Gruppe. Auf der anderen Seite teilen sich diejenigen, die glauben, dass es einen Gegensatz zwischen Marx’ Konzeption der Wissenschaft und den Naturwissenschaften gibt, wiederum in diejenigen, die Marx’ Theorie als eine Transformation von Hegels Geschichtstheorie sehen, und jene, für die er vor allem ein Antihegelianer ist. Die einflussreichste Darstellung der ersteren Interpretation findet man bei Georg Lukács in seinem Buch ‚Geschichte und Klassenbewusstsein‘ (1921), während die letztere Auffassung vor allem mit dem französischen Philosophen Louis Althusser assoziiert wird (siehe Althusser, L.P.; Lukács, G.; Plechanow, G.V.). In den späten 1970er Jahren wurde der erstere Ansatz in der englischsprachigen Welt von G.A. Cohens fruchtbarem Buch ‚Karl Marx, Theory of History: A Defence‘ (1978) wieder belebt. Nach Cohen kann der historische Materialismus auf eine Weise dargestellt werden, die nichts enthält, das von irgendjemandem zurückgewiesen werden könnte, der die Legitimität von Darwins Biologie akzeptiert (siehe Darwin, C.R.). Die beiden Theorien stehen nach Cohens Auffassung in einer wichtigen Parallele zueinander, denn beide wenden sog. ‚funktionale Erklärungen‘ an (siehe Funktionale Erklärung). Wenn Marx sagt, dass die Produktionsbeziehungen den Produktionskräften entsprechen, dann meint er nach Cohen, dass erstens diese Beziehungen in gewissem Sinne gut für die Entwicklung der Produktivkräfte sind, und zweitens, dass dies der Fall ist, weil sie für diese Kräfte gut sind. (Dieselbe Analyse, entsprechend angepasst, lässt sich auf die Entsprechung zwischen Basis und Überbau anwenden.) Das Spezifische an der Darwinschen Biologie ist jedoch nicht etwa, dass sie funktionale Erklärungsmuster anwendet, sondern dass sie eine überzeugende Darstellung liefert, warum funktionale Erklärungen wahr sind (und was Cohen eine ‚ausgeführte Erklärung‘ nennt): dies ist der natürliche Selektionsprozess. Verfügt der Marxismus ebenfalls über eine solche ausgeführte Erklärung? 1110
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Alles weist darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. Als Reaktion hierauf ergaben sich zwei hauptsächliche Argumentationslinien. Die eine lautet, dass die Theorie eine solche Erklärung haben sollte (die ihr allerdings fehlt), und dass es folglich die Aufgabe einer sympathisierenden Rekonstruktion von Marx sei, diese nunmehr zu liefern. Andererseits ist es auch möglich zu argumentieren, dass eine solche Suche, die von Jon Elster als Suche nach ‚Mikro-Grundlagen‘ bezeichnet wurde, in die Irre führen wird. Daher beruhen die funktionalen Erklärungen, auf die sich Marx in seiner Geschichtstheorie bezieht, darauf, dass es wirklich kollektive Akteure gibt (z.B. Klassen). Nach dieser ‚kollektivistischen‘ Lesart reicht es aus, einfach das Wesen der kollektiven Akteure anzuerkennen um zu sehen, warum kollektive Akteure in funktionalen Erklärungen auftreten: sie haben die Macht zum zweckgerichteten Handeln, um ihre Ziele durchzusetzen. Aus dieser Sicht bedarf es keiner ‚ausgeführten Erklärungen‘. Sich dieser Auffassung anzuschließen heißt, sich in die Reihen der zweiten und dritten Gruppe der Marx-Interpreten einzugliedern und die grundlegende Diskrepanz zwischen Marx’ Geschichtstheorie und den Erklärungen der Naturwissenschaften zu bestätigen (wo funktionale Erklärungen nicht einfach unausgeführt bleiben). Wenn dies der Fall ist, kann die marxistische Geschichtstheorie nicht das allgemeine Prestige der Wissenschaftlichkeit als Rechtfertigung für sich in Anspruch nehmen. 9. Volkswirtschaftslehre Im Gegensatz zu dieser relativ kurzen und schematischen Darstellung über die allgemeine Geschichte schrieb Marx sehr ausführlich über das ökonomische System, in dem er selbst lebte. ‚Das Kapital‘, das eine definitive Darstellung der Marxschen Analyse des Kapitalismus ist, ist ein Werk außerordentlicher methodischer Komplexität, wie sich dies bereits am Untertitel ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ zeigt. Diese Wendung ist uneindeutig. Ist Marx’ Ziel eine Kritik der bourgeoisen Ökonomie oder eine Kritik der bourgeoisen Wirtschaftswissenschaft? Tatsächlich verwirft Marx diese Frage als eine falsche Antithese: der Gegenstand des Buches ist beides. Zehn Jahre vor ihrer Publikation beschrieb Marx jene Arbeit, die später ‚Das Kapital‘ werden sollte, bereits in einem Brief: „Die […] fragliche Arbeit ist eine Kritik der ökonomischen Kategorien, oder wenn du willst, das System der bourgeoisen Ökonomie in kritischer Darstellung. Es ist eine Darstellung des Systems und gleichzeitig seine Kritik.“ Diese beiden Aspekte gehen aus Marx’ Sicht zusammen, weil ökonomische Kategorien nicht einfach die Mittel sind, die von einem Beobachter zur Klassifizierung irgendeiner trägen Datenmasse angewandt werden. Sie sind selbst ein Teil der sozialen Wirklichkeit, d.h. ‚abstrakte Formen‘ der sozialen Produktionsbeziehungen. Bourgeoise Ökonomen, so mutmaßt Marx, versagen typischerweise darin anzuerkennen, dass ihre Kategorien genau auf den Kapitalismus passen, und deshalb behandeln sie die kapitalistische Produktionsweise als „auf ewig durch die Natur und für jeden Zustand der Gesellschaft fixiert“. Eine kritische Darstellung der Wirtschaftswissenschaft müsse der falschen Verewigung der Ökonomie entgegenwirken, die die bourgeoise Wirtschaftswissenschaft in sich selbst trägt. So gesehen ist dies eine Kritik der Grenzen des Selbstverständnisses der bourgeoisen Wirtschaftswissenschaft, und weniger eine Herausforderung ihres empirischen Inhalts oder Gegenstandes. Doch die empirische Erklärung ist ein zentraler 1111
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Teil des Marxschen Projekts. Es sei, so schreibt er im Vorwort zum ‚Kapital‘, das äußerste Ziel dieser Arbeit, die ökonomischen Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft offen zu legen. Hat die bourgeoise Wirtschaftswissenschaft darin versagt, dieses Gesetz zu entdecken, oder hat sie ihre Kategorien einfach nur nicht in einen historischen Zusammenhang gestellt? Im schlimmsten Falle lautet Marx’ Vorwurf, dass beide Kritiken wahr sind, und dass das erstere Versagen eine Folge des letzteren ist. Das ‚Wertgesetz‘, das Marx entdeckt zu haben beansprucht, hätte nach seinen Worten durch die Wirtschaftswissenschaft nicht entdeckt werden können, „solange sie noch in ihrer bourgeoisen Haut steckt“. Den Zusammenhang, den Marx zwischen den Kategorien des ökonomischen Lebens und den Kategorien der ökonomischen Analyse sieht, wird noch durch die Struktur kompliziert, die er dem Kapitalismus zuschreibt. Marx glaubte, dass es für ein Verständnis des Kapitalismus unverzichtbar sei, den Gegensatz zwischen seinem Wesen, d.h. seine zugrunde liegenden Determinanten, und seiner Erscheinung zu begreifen, d.h. der Art und Weise, auf die er unmittelbar diejenigen betritt, die in ihm leben. Entsprechend dieser Unterscheidung gibt es zwei Arten des bourgeoisen ökonomischen Denkens: erstens das, was Marx die ‚klassische Ökonomie‘ nennt, und zweitens die ‚Vulgärökonomie‘. Die klassische Ökonomie (d.h. jene Tradition, deren größte Vertreter Ricardo und Adam Smith waren), beschäftigt sich mit dem Wesen des Kapitalismus; sie „berührt fast die wahre Beziehung der Dinge“, obwohl sie nicht in der Lage ist, diese Beziehung ausdrücklich zu formulieren. Nach Marx ist es im Gegensatz dazu das Kennzeichen der ‚vulgären Ökonomie‘ seiner eigenen Zeit, dass sie sich besonders in den entfremdeten, äußerlichen Erscheinungen der ökonomischen Beziehungen zu Hause fühle. Dies bedeutet jedoch, dass sie grundlegend unwissenschaftlich sei, denn „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die äußere Erscheinung und das Wesen der Dinge übereinstimmten“. Eine wahrhaft wissenschaftliche Volkswirtschaftslehre muss deshalb über die unmittelbar wahrnehmbaren Kategorien des ökonomischen Lebens hinausgehen. Dies ist es, von dem Marx meinte, dass er selbst dies geschafft habe (und er selbst betrachtete sich aus diesem Grund als der Erbe der traditionellen, klassischen Volkswirtschaftslehre). In einem Brief an Engels, den er zur Zeit der Veröffentlichung des ersten Bandes von ‚Das Kapital‘ geschrieben hatte, greift Marx das heraus, was er als den ‚zwiefältigen Charakter der Arbeit‘ und als den wichtigsten Punkt dieses Buches bezeichnet. Arbeit, so behauptet Marx, ist sowohl die Quelle von Werten, als auch gleichzeitig und im Kapitalismus selbst eine Ware. Doch diese Ware (‚Arbeitskraft‘, wie Marx sie nennt) ist von besonderer Art. Ihr Wert ist nicht derselbe wie jener der Waren, die durch Arbeit hergestellt werden, die ihrerseits im Auftrag ihres Käufers, des Kapitalisten, eingesetzt wird. Diese Diskrepanz erklärt auf Marx’ Sichtweise den ‚Ursprung‘ des Mehrwertes, nämlich den Fakt, dass der Kapitalist sich den Arbeitsmehrwert des Arbeiters unter dem Anschein eines fairen Tauschs aneignet. In der Diskussion der Art und Weise, auf die in kapitalistischen Gesellschaften die Arbeit dem Kapitalisten wie eine Ware im Austausch für Löhne verkauft wird, schreibt Marx, dass man nun die entscheidende Bedeutung der Transformation des Wertes und des Preises von Arbeitskraft in Form von Löhnen, oder auch in Wert und Preis von Arbeit selbst verstehen werde. Die phänomenale Form, die die wirkliche Situation unsichtbar macht und tatsächlich das direkte Gegenteil dieser Beziehung zeige (nämlich einen fairen Tausch), bilde die Grundlage all der rechtlichen Begriffe 1112
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sowohl der Arbeiter, als auch der Kapitalisten, aller Mystifizierungen der kapitalistischen Produktionsform, aller ihrer Illusionen wie z.B. über die Freiheit, und alle apologetischen Denkbewegungen der sog. ‚Vulgärökonomen‘. Wir sehen hier, dass Marx drei Ansprüche erhebt: (1) dass wir die Wirklichkeit als geschichtet betrachten sollten, und zwar dergestalt, dass sie eine oberflächliche Erscheinungsform habe, die durch eine zugrunde liegende Struktur gesteuert werden; (2) dass die Behauptung eines solchen Unterschiedes charakteristisch für eine allgemein wissenschaftliche Herangehensweise an die Wirklichkeit sei; und (3), dass die phänomenale Form die wirklichen Beziehungen verberge (sie „macht die wirkliche Beziehung unsichtbar und zeigt tatsächlich das Gegenteil dieser Beziehung“). Nun folgt allerdings aus (1) und (2) nicht (3). Nach den Behauptungen (1) und (2), die an sich sehr plausibel sind, ist die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, nicht unmittelbar tauglich, um zu erklären, wie sie wirklich beschaffen ist. Dies macht unsere unmittelbare Wahrnehmung der Welt aber nicht falsch. Es mangelt ihr lediglich an einer Theorie. Doch Marx’ Behauptung (3) geht viel weiter: die Wirklichkeit präsentiert sich selbst auf eine Art und Weise, die diejenigen täuscht, die sie unmittelbar wahrnehmen. Marx’ eigene Erklärungen dagegen legen es nun nahe, dass man diese Behauptung am besten nicht als eine allgemeine Konsequenz des Wesens des wissenschaftlichen Verständnisses auffasst, sondern als ein spezifisches Merkmal des Kapitalismus. Der Kapitalismus mystifiziert diejenigen, die in ihm leben, meint Marx, weil er ein ‚täuschender Gegenstand‘ ist. Zur wissenschaftlichen Durchdringung der Oberfläche ist es notwendig, über die Grenzen der bourgeoisen Volkswirtschaftslehre hinauszugehen. 10. Der Warenfetisch Die detaillierteste Diskussion, die Marx von einem Fall liefert, wo die Oberfläche des Kapitalismus sich selbst als falsch darstellt, findet sich im Kapitel ‚Der Fetischcharakter der Waren und sein Geheimnis‘ im ‚Kapital‘. Diese Diskussion ist eine erkennbare Überarbeitung der zentralen Themen, die sich bereits in der Behandlung der entfremdeten Arbeit in den ‚Pariser Manuskripten‘ finden. Aus dem Sinnhorizont des 19. Jahrhunderts dieses Ausdrucks waren Fetischisten solche Nicht-Europäer, deren Religion die Verehrung unbelebter Gegenstände mit sich brachte. Der Fetischismus ist ein Irrtum, weil er Gegenständen in der Welt irgendeine soziale Qualität zuschreibt (Macht und Persönlichkeit beispielsweise), die ihnen in Wirklichkeit gar nicht zukommt. Marx’ Konzeption des Warenfetischismus schließt sich dieser Struktur an, unterscheidet sich aber in einem wichtigen Punkt. Der Fetischismus von Waren ist keine Sache der subjektiven Täuschung oder Irrationalität auf Seiten des Wahrnehmenden, sondern ist irgendwie in die Wirklichkeit eingebettet, die sie wahrnehmen. Nach Marx werden zwei voneinander unabhängige Fakten oder Eigenschaften in ihrer Form als Ware verzerrt. Erstens erscheint der soziale Charakter menschlicher Arbeit fälschlicherweise als objektives Merkmal des Produkts selbst, und zweitens und als Folge des ersten Umstandes, wie Marx behauptet, erscheint die eigene Beziehung des Produzenten zu seiner sog. ‚kollektiven Arbeit‘ als eine soziale Beziehung zwischen Gegenständen, die außerhalb des Produzenten zu existieren scheint. Der erste Punkt betrifft das, worauf der soziale Charakter, der offensichtlich eine Eigenschaft des Produkts ist, hinausläuft. Ist dies die schiere Tatsache, dass die 1113
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Ware eben eine Ware ist? Diese Vermutung muss man zurückweisen, denn die Überzeugung, dass das Produkt eine Ware ist, ist ja eben keineswegs eine falsche oder täuschende. Entsprechend kann es nicht etwas vor den Produzenten Verborgenes sein, dass Waren in der Tat untereinander in einem gewissen Verhältnis getauscht werden. Es ist schwer einzusehen, wie jemand innerhalb einer Marktgesellschaft leben könnte, wenn er nicht über ein angemessenes Verständnis dieser Art von Tatsachen Bescheid wüsste (jedenfalls so viel, dass er imstande ist, sich etwas zu essen zu kaufen). Die beste Interpretation von Marx’ Argument ist deshalb, dass es nicht diese ‚Tatsachen erster Ordnung‘ betreffend die Waren sind, sondern dass es ‚Tatsachen zweiter Ordnung‘ sind, die die Quelle der Täuschung sind: es ist nicht der Umstand, dass Waren in bestimmten Relationen getauscht werden können, sondern warum sie in jenem bestimmten ‚Wechselkurs‘ getauscht werden, der ihr Geheimnis ausmacht. Marx’ Darstellung der Illusion betreffend den sozialen Charakter der Arbeitsprodukte wird durch seine Darstellung des zweiten Elements innerhalb des Warenfetischismus ergänzt. Weil die Warenproduktion in einem Prozess stattfindet, durch den die Tätigkeiten des Produzenten allein auf der Grundlage der Imperative eines Systems des Markttauschs koordiniert werden, so folgt daraus laut Marx, dass „die sozialen Beziehungen zwischen ihren privaten Arbeitshandlungen sich selbst als das darstellen, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbare soziale Beziehungen von Personen in ihrer Arbeit, sondern als materielle Beziehungen zwischen Personen und soziale Beziehungen zwischen Dingen“. Indirekt vergleicht der Markt die Arbeit eines jeden Individuums mit der Arbeit eines jeden anderen Produzenten; individuelle Arbeit erhält ihren Wert in Relation zu der Art und Weise, in der andere Personen dieselbe Arbeit verrichten. Der sozial nützliche Charakter der Arbeit des individuellen Produzenten erscheint ihnen folglich, nach Marx, nur in jener Form, die dadurch geprägt ist, dass die tägliche Arbeit Gegenstand des Austauschs von Produkten ist. Hier weist Marx nun wieder auf eine Illusion der zweiten, und nicht auf eine der ersten Art hin. Die individuellen Produzenten sind sich der Rolle des Marktes bewusst, dass er nämlich die Art und Weise bestimmt, auf die sie arbeiten. Hierin liegen sie durchaus richtig. Aber sie glauben fälschlicherweise auch, dass es der Markt sei, der ihre Arbeit nützlich macht, statt zu erkennen, dass dies ein kontingenter Umstand der kapitalistischen Produktion ist, dass ihre sozial nützliche Arbeit eine marktbestimmte Form annimmt. Die Gesellschaft erzeugt solche falschen Überzeugungen spontan, behauptet Marx. Die Warenwelt verbirgt den sozialen Charakter der privaten Arbeit und der Beziehungen zwischen den individuellen Produzenten eher, als dass sie diese enthüllte, so meint Marx. Dass die wahre Quelle des Wertes der Waren in der Arbeit liegt, die für ihre Produktion aufgewendet wird, ist Marx zufolge eine Sache schlichter wissenschaftlicher Wahrheit. Und so sei es ebenso eine Tatsache, dass der soziale Charakter der privaten Arbeit in der Gleichsetzung dieser privaten Arbeit unter der Schutzherrschaft des Marktes liege. Gleichwohl sei der Fetischismus eine ‚objektive Illusion‘, und das Wissen um diese Wahrheiten vertreibe solche falschen Erscheinungen keineswegs. Die Entdeckung des Wertgesetzes „löst keineswegs die objektiven Illusionen auf, durch die der soziale Charakter der Arbeit als ein objektiver Charakter der Produkte selbst erscheint“, genauso wenig wie „die Entdeckung der Gasbestandteile
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der Luft durch die Wissenschaft“ die Atmosphäre ändert, in der die Menschen atmen. Die Analogie, die Marx hier wählt, ist keine sehr glückliche. Es ist zugegebenermaßen absurd zu glauben, dass eine wissenschaftliche Entdeckung über einen Gegenstand dieses bereits verändert. Darum geht es hier aber gar nicht. Es geht hier nicht um die Frage, ob sich die Atmosphäre selbst nach einer Entdeckung ihrer Gasbestandteile ändert, sondern darum, ob die Art und Weise, wie wir über diese Veränderungen denken. Nämlich nur, wenn wir meinen, dass der Kapitalismus, anders als die Atmosphäre, ein Gegenstand besonderer Art ist, nämlich ein täuschender Gegenstand, ist es möglich zu behaupten, dass er solche falschen Überzeugungen in Anbetracht eines entgegengesetzten Wissens weiter bestärken wird. Es ist andererseits nicht so, dass die Individuen, die in einer Gesellschaft leben, die auf der Warenproduktion beruht, dadurch getäuscht werden, wie sie die Art und Weise ihres Funktionierens betrachten. Diese Art ihres Funktionierens wird von Marx selbst kritisiert: vor allem wird der soziale Charakter der Arbeit zur Privatsache erklärt. Dies ist keine Fehlwahrnehmung oder falsche Überzeugung, sondern ein Widerspruch, d.h. eine Diskrepanz zwischen dem, was Marx als das spezifische Wesen der sozialen Arbeit auffasst, und der Art und Weise, dass und wie sie in Wirklichkeit organisiert ist. Der Kapitalismus ist nicht nur irreführend, sondern auch fehlerhaft. 11. Moral Die Frage, ob Marx’ Theorie eine moralische oder ethische Dimension hat, ist eine der strittigsten bei der Interpretation seines Werks, und die Schwierigkeiten, der sich die Interpreten gegenüber sehen, sind leicht zu sehen. Auf der einen Seite sagt Marx eine Reihe kompromisslos negativer Dinge über die Moral. Darüber hinaus bestätigt er zumindest nach 1845, dass eine eigene Theorie keine utopische oder ethische sei, sondern „wirkliche, positive Wissenschaft“. Doch ist andererseits ein großer Teil der Sprache, die er zur Beschreibung des Kapitalismus verwendet, einfach eine verdammende (z.B. dass er antagonistisch, unterdrückerisch oder ausbeuterisch sei). Ist dies auf Marx’ Seite kein Fall von Inkonsistenz? Die Auslegung hängt von einem Gegensatz zwischen gewissen Lehren ab, die typisch für die Moralphilosophie sind (und die, wie noch darzustellen ist, von Marx verworfen werden), und der Zurückweisung ethischer Werte als solcher (und denen er, wie hier vertreten wird, dadurch nicht verpflichtet ist). Wir sollten allerdings festhalten, dass diese Interpretation strittig ist und eine beachtliche Rekonstruktion der ziemlich knappen Hinweise erfordert, die wir hier von Marx’ Auffassungen haben. Es ist hilfreich, wie Marx selbst mit Hegels Kritik an Kant zu beginnen. Marx und Hegel sind sich in der Überzeugung einig, dass die Moral aus ihrer Sicht, wie sie in Kants Moralphilosophie gefasst ist, abstrakt sei (siehe Hegel, G.W.F., § 8). In dieser Kritik sind drei untereinander verbundene kritische Elemente zusammengeschweißt: (1) Erstens wird von der kantischen Moral angenommen, sie sei in dem Sinne abstrakt, dass sie Prinzipien enthalte, die in universaler Form formuliert sind. Konkret ist der kategorische Imperativ, demzufolge man sich immer nach der Maxime verhalten soll, dass das eigene Verhalten gleichzeitig ein allgemeines Gesetz sein könne, ein solches universales Gesetz (siehe Kantische Ethik). Während solche 1115
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Prinzipien als moralischer Test für gewisse Handlungen taugen, bestimmen sie doch nicht, so lautet die Kritik, den (positiven) Inhalt der vorzunehmenden Handlung, also wie man sich konkret verhalten soll. So verwandelt sich der Anspruch der Moralphilosophie in sein Gegenteil, und bestimmte Verhaltensinhalte werden trügerischerweise aus den bestehenden Institutionen oder Verhaltenskodizes der fraglichen Gesellschaft in die Ethik zurück übertragen. (2) Zweitens ist die Moral in der Hinsicht abstrakt, wenn sie die Form eines reinen Unterlassungsbefehls annimmt, z.B. in Gestalt eines Imperativs, der sich an die sog. ‚moralische Vernunft‘ von Menschen richtet und ihnen sagt, dass sie sich auf eine gewisse Weise verhalten sollen, weil dies ‚gut an sich‘ sei. Die moralische Handlung ist hierdurch von anderen Formen des menschlichen Handelns abgesondert, und als Ergebnis hiervon kann die Moraltheorie nichts über die Umstände sagen, unter denen diese Verhaltensformen, die sie empfiehlt, praktisch realisierbar wären. (3) Drittens ist auch Hegels Moral insofern abstrakt, als sie ein unhistorisches Verständnis ihres eigenen Status zeigt. Sie stellt ihre Prinzipien so dar, als wären sie die Axiome irgendeiner zeitlosen moralischen Geometrie. In Wirklichkeit jedoch ist jedes moralische System eine bestimmte Weise des Blicks auf die Welt, der sich unter gegebenen, konkreten Umständen ergibt und auf die bestimmten Bedürfnisse innerhalb dieser Umstände eingeht. Obwohl uns eines oder mehrere dieser Merkmale in jeder der jeweiligen Moralphilosophien begegnen, mit denen wir am vertrautesten sind, folgt daraus doch nicht, dass sie ein notwendiges Merkmal jeder Perspektive sind, die man als moralisch bezeichnen kann. Nicht alle ethischen Positionen müssen sich als Systeme universaler Prinzipien präsentieren, unter denen wir uns nur deshalb zusammenfinden, weil sie um ihrer selbst Willen gut sind. Zugegebenermaßen würden viele Philosophen einwenden, die Kombination von Wertbindungen, die typisch für moralische Standpunkte seien, mit der Metalehre, dass solche Werte am Ende der Ausdruck von Interessen seien (Marx’ Fassung des 3. obigen Einwands), untergrabe unvermeidlich, wie Nietzsche vielleicht gesagt hätte, den Wert des Wertes selbst. Man kann aber zumindest einwenden, dass die beiden Standpunkte miteinander vereinbar sind. Der Pfad vom soziologischen Determinismus zum moralischen Skeptizismus ist nicht so abschüssig, schlüpfrig und unbarmherzig, wie es manchmal behauptet wird. Gesteht man dies zu, so können wir eine Unterscheidung zwischen Formen der Moralität in zweierlei Hinsicht treffen: die Moral als ein quasi-kantisches Prinzipiensystem (was Marx zurückweist), und die Moral als eine Gruppe von Werten, die eine Konzeption dessen verkörpern, was gut für die Menschen ist (und dies können wir konsistent akzeptieren). Die Dinge auf diese Weise darzustellen, scheint zu wenig den vehementen Feindseligkeiten gerecht zu werden, die Marx gegenüber Ideen speziell der Gerechtigkeit und dem Recht an den Tag legt. Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation versteht man Marx’ Erbitterung am besten als etwas, das es auf das abgesehen hat, was er als die Voraussetzungen hinter solchen Werten ausgemacht hat, und nicht als Kritik der Tatsache, dass es sich überhaupt um Werte handelt. Grob gesagt können wir uns Rechte als Dinge vorstellen, die Individuen ein bestimmtes Handeln auf gewisse Art und Weise und unter bestimmten Umständen erlauben, sofern sie überhaupt handeln wollen, und ferner als die Fähigkeit, von anderen die Einhaltung entsprechender Pflichten zu verlangen. Eine Pflicht würde 1116
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passend dazu Individuen voraussetzen, die ebenfalls auf eine bestimmte Weise handeln sollen, und zwar unabhängig davon, ob sie selbst das wollen oder nicht. Die Gerechtigkeit (wenn wir sie uns nicht einfach als eine Sache von Rechten und Pflichten vorstellen) würde dann aus Prinzipien bestehen, auf deren Grundlage Nutzen und Lasten in Fällen des Interessenskonfliktes verteilt werden. Die Werte solcher Prinzipien haben gemeinsam, dass sie einen Rahmen bilden, der das selbstbestimmte Verhalten von Individuen reguliert und einschränkt. Dabei handelt es sich um Werte, die von einem Konflikt zwischen ‚Pflicht‘ und ‚Neigung‘ ausgehen (kantisch ausgedrückt). Genauso wie Marx annimmt, dass die Kategorien der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft die Formen des bürgerlichen ökonomischen Lebens verewige (d.h. zeitlich invariant behandelt), so meint er, verewige auch die Diskussion der Rechte (die er in der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ verurteilt) eine Situation, in der das Gute eines jeden Individuums als unabhängig dargestellt wird und damit nur auf Kosten anderer vorankommen kann. Das Recht könne ferner nur auf fixierte und einheitliche Weise auf ungleiche Menschen angewandt werden, also quasi ‚von außen‘. Für den Liberalen, dem es um den Schutz der Macht des Individuums zur Selbstbestimmung und gegen die Einmischungen anderer geht, ist der Begriff der Rechte anziehend, gerade weil er nichts über den Charakter und die Persönlichkeit des Individuums voraussetzt. Für Marx ist genau dies die Schwäche des Rechts: Rechte helfen nicht dabei, das Wesen des Menschen zu ändern. Demgegenüber ist es klar, dass Marx seit der Zeit seiner ‚Pariser Manuskripte‘ den sozialen Fortschritt in Gestalt einer Gemeinschaft sieht, in der (wie er und Engels es im ‚Kommunistischen Manifest‘ ausdrücken) ‚die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‘. Marx’ ethisches Ideal ist eines der Solidarität, in dem sich alle zusammen entwickeln. Nun wird auch Marx’ Widerstand, in der Sprache der Gerechtigkeit den Kapitalismus zu verdammen, verständlicher. Marx denkt nicht etwa, dass Ausbeutung, Enteignung, Unterdrückung, Sklaverei und Elend (dies sind nur einige der Ausdrücke, die er zur Kennzeichnung des kapitalistischen Systems verwendet) gerecht seien. Aber es widerstrebt ihm ein Sprache zu verwenden, die es nahe legen würde, dass dies Formen der Ungerechtigkeit sind, für die ‚Gerechtigkeit‘ (im Sinne von ‚jeder bekommt, was ihm zusteht‘) ein abschließendes und passendes Gegenmittel ist. 12. Sozialismus Es mag seltsam erscheinen in Anbetracht des Umstandes, dass Marx sein Leben der Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaft widmete, wie kurz und unbestimmt seine Darstellungen dieses Ziels sind. Eine Erklärung, die oft bezüglich dieser offenkundigen Unterlassung vorgetragen wird, lautet folgendermaßen. Marx meinte, so sagt man, dass das Denken jeweils auf seine eigene Zeit beschränkt sei. Daher sei es unangemessen für ihn als jemand, der im Kapitalismus lebe, das Wesen einer Gesellschaft zu antizipieren, die den Kapitalismus ersetzen könnte und „Rezepte für die Garküchen der Zukunft zu schreiben“ (wie er es im Vorwort zur zweiten Auflage von ‚Das Kapital‘ formuliert). Während dies ein Grund für Marx’ Schweigen sein kann, ist dieser allein doch nicht ausreichend. Denn selbst wenn wir zugestehen, dass Marx meinte, jede Entwicklungsstufe einer Gesellschaft setze Grenzen, die das Denken nicht zu übersteigen vermag (und es ist keineswegs frag1117
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los, dass er wirklich in so strenger Form dieser Auffassung war), so ist er dennoch an die Auffassung gebunden, dass der Sozialismus im Kapitalismus antizipiert wird. Im Vorwort zur ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ erhebt Marx den allgemeinen Anspruch, dass neue Gesellschaftsformen immer innerhalb der alten vorgezeichnet seien, die sie schließlich ersetzen. „Die Menschheit“, so schreibt er, „setzt sich immer nur solche Aufgaben, die zu lösen sie imstande ist, denn eine genauere Prüfung wird immer zeigen, dass das Problem selbst nur dann entsteht, wenn die materiellen Bedingungen für seine Lösungen bereits gegeben oder zumindest im Zuge ihrer Bildung sind.“ Marx beschreibt den Prozess, durch dem der Kapitalismus den Boden für den Sozialismus vorbereitet, am Ende des ersten Bandes des ‚Kapitals‘. In dem Umfange, wie sich die Produktivkräfte durch das Wachstum des Kapitalismus entwickelt haben, so behauptet er, geschieht dies auch mit der „Masse des Elends, der Unterdrückung, der Sklaverei, der Erniedrigung, der Ausbeutung“. Es sei allerdings eine Stufe erreicht, wo das Monopolkapital zur Fessel der Produktion und „die Zentralisierung der Produktionsmittel und die Sozialisierung der Arbeit schließlich einen Punkt erreicht haben, wo sie mit der kapitalistischen Hülle selbst unvereinbar werden“. An diesem Punkt ‚platze‘ die Hülle, dem Kapitalismus läute das Totenglöcklein und die „Expropriateure werden selbst expropriiert“. Der erste und offenkundigste Unterschied zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus sei, dass das gemeinschaftliche Eigentum zu sehr anderen Verteilungsmustern der Arbeitsprodukte führt. Der Kapitalist wird infolge seines nicht mehr bestehenden Eigentums an den Produktionsmitteln auch nicht mehr in der Lage sein, die individuellen Produzenten auszubeuten. In der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ unterscheidet Marx zwei Stufen der postkapitalistischen Gesellschaft. Auf der ersten erhalte der direkte Produzent von der Gesellschaft (nach Abzug der gemeinsamen Kosten und der Sozialausgaben) das zurück, „was er ihr als sein individuelles Arbeitsmaß gegeben hat“. Marx weist aber darauf hin, dass dies ein Verteilungsprinzip ist, das nur die Ausbeutung korrigiert. Damit werden nicht die Ungleichheiten beseitigt, die sich aus den kontingenten Unterschieden an natürlichen Fähigkeiten zwischen den individuellen Produzenten ergeben. Später jedoch wird die Gesellschaft über diese Stufe hinausgehen, so behauptet Marx, und der enge Horizont der bourgeoisen Rechte wird „gänzlich durchkreuzt“. An diesem Punkt wird das Prinzip, auf dessen Grundlage die Gesellschaft arbeitet, sein: „Von jedem nach seiner Fähigkeit, zu jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Aber der Sozialismus unterscheide sich durch mehr als sein Verteilungsprinzip. Insbesondere werde die Arbeit ganz anders organisiert, als sie es unter dem Kapitalismus war. Eine der wenigen angemessenen ausführlichen Darstellungen Marx’ von dem Wesen der sozialistischen Organisation der Produktion findet sich im Abschnitt über den Warenfetischismus in ‚Das Kapital‘, und zwar als Teil des Vergleichs zwischen kapitalistischen und anderen Produktionsformen. Marx beginnt mit Robinson Crusoe, dessen Produktionstätigkeit er als „einfach und klar“ beschreibt. Für Robinson, sagt Marx, ist die Organisation der Produktion ein rein administrativer Vorgang: das Ziel ist bekannt, genauso wie die verfügbaren Ressourcen und die Techniken, mittels derer dieses Ziel erreicht werden kann. Marx geht nun weiter von „Robinsons Insel, in Licht gebadet“, durch feudale und patriarchalische Produktionsformen, bis 1118
Marx, Karl (1818–1883)
er schließlich bei „einer Gemeinschaft freier Individuen, die ihre Arbeit mit den gemeinsamen Produktionsmitteln betreiben, in der die Arbeitskraft aller unterschiedlichen Individuen bewusst als die kombinierte Arbeitskraft der Gemeinschaft eingesetzt wird“, landet. Hier nun sagt Marx: „Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn. […]Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier einfach durchsichtig in der Produktion sowohl als in der Distribution.“ (‚Das Kapital‘, I.4) Die Idee, dass die Arbeit in einer komplexen modernen Gesellschaft „bewusst eingesetzt“ werden kann, d.h. dass die Ressourcen und Bedürfnisse koordiniert, effiziente Techniken eingesetzt werden, Innovationen verwaltet werden etc., und zwar mit derselben transparenten Einfachheit wie bei einem Einzelmenschen, der seine Zeit für verschiedene Aufgaben auf einer einsamen Insel einteilt, klingt überraschend unplausibel. Und selbst wenn dies nicht so wäre, stellte sich immer noch die Frage, wie der „gemeinsame und rationale Plan“ (wie ihn Marx an anderer Stelle nennt) zu den Menschen steht, die ihn ausführen sollen. Wäre ein solcher Plan aus ihrer Perspektive nicht ein ebensolcher externer Imperativ, dem sie zu folgen hätten, wie jener, der ihnen vom Markt diktiert wird und der ihre Arbeit im Kapitalismus leitet? Hier drängt sich bei der Vorstellung einer Gesellschaft im Sozialismus, die sich in Marx’ reifem Denken spontan wie eine große, selbsttransparente Super-Einzelperson vereinheitlicht, ein Nachgeschmack an Hegels Lehre des Geistes auf. Wie dem auch sein mag, die Gegebenheit dieser Lehre erklärt nach einem langen Weg der Erklärung, warum Marx über das Problem der sozialistischen ökonomischen Arbeitsorganisation so wenig zu sagen hatte: er sah einfach nicht die Schwierigkeiten, die darin liegen. Wohl kaum ein theoretisches Versäumnis hatte allerdings je so katastrophale historische Konsequenzen. Siehe auch: Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Geschichte, Philosophie der; Kommunismus; Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische; Marxismus, Westlicher; Ökonomie, Philosophie der; Politische Philosophie, Geschichte der; Revolution; Sozialismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Marx / Engels, Gesammelte Werke, Bd. 1–42, Berlin 1962 (Dies ist die alte DDR-Ausgabe der Werke von Marx und Engels, die meistens auch heute noch als Referenz verwendet wird.) Wood, A. (1981): ‚Karl Marx‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Dieses Werk legt besonderen Wert auf die philosophischen Aspekte des Marxschen Werkes. Es enthält eine ausgedehnte Betrachtung der Marxschen Einstellung zur Moral, die sich sehr von derjenigen unterscheidet, die hier vorgetragen wurde.) MICHAEL ROSEN
Marxismus, Westlicher
Der Ausdruck ‚Westlicher Marxismus‘ wird hier als ein Klammerausdruck für die verschiedenen Schulen des marxistischen Denkens gebraucht, die in Westeuropa seit dem Tode von Marx im Jahre 1883 blühten. Er wird manchmal im engeren Sinne 1119
Marxismus, Westlicher
als Bezug auf diejenigen marxistischen Philosophen gebraucht, deren Denken durch die Hegelsche Idee der Dialektik beeinflusst war, und die sich auf die kulturellen im Gegensatz zu den ökonomischen Aspekten des Kapitalismus konzentrierten. Im weiteren Sinne bezeichnet der Ausdruck ‚Westlicher Marxismus‘ keine spezifische Lehre, sondern weist auf einen Bereich von Anliegen hin, über den die marxistische Philosophen in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften gearbeitet haben. Diese Anliegen richten sich hauptsächlich auf drei verschiedene Bereiche: (1) Erkenntnislehre – was würde die Behauptung rechtfertigen, dass die Marxistische Sozialtheorie und insbesondere die materialistische Konzeption der Geschichte wahr sind? (2) Ethik – Erfordert die marxistische Kritik des Kapitalismus ethische Grundlagen, und wenn dies so ist, wie können diese entdeckt werden? Und (3) die Praxis – wenn der wirtschaftliche Kollaps des Kapitalismus nicht länger als unvermeidlich betrachtet werden kann, wer sind dann die Akteure, von denen erwartet werden kann, dass sie diese sozialistische Transformation durchführen? Was den ersten Bereich betrifft haben bereits frühe Abweichler vom orthodoxen Marxismus von Engels, wie z.B. Eduard Bernstein, über die Grenzen des Marxismus selbst hinweg geschaut, insbesondere auf die Philosophie von Kant, um dort nach ethischen Prinzipien zu suchen, die den Sozialismus rechtfertigen würden. Dies änderte sich mit der Wiederentdeckung der ‚Pariser Manuskripte‘ (1844) des jungen Marx, von dem aus spätere Marxisten, speziell jene, die sich mit der Frankfurter Schule verbunden fühlten, in der Lage waren, eine humanistische Ethik zu extrahieren, die sich um den Begriff der Entfremdung drehte. Im Verhältnis zu dem dritten genannten Bereich schauten die meisten westlichen Marxisten weiterhin auf das Proletariat als den Kollektivakteur des revolutionären Wandelns, wobei sie häufig, wie z.B. Lukács, zwischen dem richtigen Bewusstsein dieser Klasse und dem falschen Bewusstsein, dass die Verzerrungseffekte der bürgerlichen Ideologie reflektiert, unterschieden. Aber im Falle der Frankfurter Schule war die Kritische Theorie, die den Weg zu einer befreiten menschlichen Zukunft wies, von jeglicher spezifischer Akteursgruppe abgehoben und handelte lediglich von der Kritik. Der originellste Beitrag wurde von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci vorgetragen, der meinte, dass die Arbeiterklasse die Kraft ihrer Ideen einsetzen müsste, um eine Hegemonie über die anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft herzustellen, die sich daraufhin dem Proletariat anschließen würden, um den Kapitalismus zu überwinden. Die Desintegration des Westlichen Marxismus begann in den 1960er Jahren, als der französische Philosoph Louis Althusser sowohl den Gebrauch der Hegelschen Dialektik durch Marxisten, als auch die verschiedenen Formen des marxistischen Humanismus angriff. Althusser beharrte darauf, dass der Marxismus eine Wissenschaft sei und deshalb keiner ethischen Grundlegung bedürfe. Seine Kritik war von der Überzeugung geleitet, dass die menschliche Subjektivität zusammen mit den philosophischen Problemen, die durch einen Subjekt-Objekt-Dualismus entstehen, aus nichts als Illusionen besteht. Der Marxismus nach Althusser kam an den englischsprachigen Universitäten in Mode, aber ihr Hochmut und der paradoxe Stil führten auch zum Aufkommen des analytischen Marxismus in den späten 1970er Jahren. Die analytischen Marxisten kehrten zu einer erneuten Befragung der Marxschen Texte auf konventionellerem Wege zurück, indem sie Methoden der analytischen Philosophie und der zeitgenös1120
Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
sischen Sozialwissenschaften zu deren Neuformulierung einsetzten, um der akademischen Genauigkeit der Nicht-Marxisten standhalten zu können. Der analytische Marxismus, der eher eine Tendenz als eine Bewegung war, markiert vielleicht die abschließende Stufe eines Prozesses, der mit Lukács begann, und zwar der Umwendung des Marxismus in eine rein akademische Frage, die von der Politik weit entfernt ist. Siehe auch: Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische JOHN TORRANCE
Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
Die Geschichte des Russischen Marxismus bringt ein dramatisches Wechselspiel von Philosophie und Politik ins Spiel. Die Ideen von Marx wurden von den Russischen Populisten in den 1870er Jahren zwar zunächst sehr selektiv aufgenommen, doch die Vision der Philosophie des tiefgründigen russischen Marxisten G.V. Plechanow wurde schließlich zur Orthodoxie unter den russischen Kommunisten. Inspiriert durch Engels argumentierte Plechanow, dass die marxistische Philosophie eine Form des ‚dialektischen Materialismus‘ (eine Plechanowsche Wortprägung) sei. Folge man Hegel, so fokussiere sich der Marxismus auf Phänomene in ihrem Wechselspiel und ihrer jeweiligen Entwicklung, die er durch Berufung auf dialektische Prinzipien erklärt (beispielsweise durch das Gesetz der Transformation von Quantität in Qualität). Anders jedoch als der Hegelsche Idealismus erklärt der Marxismus alle Phänomene auf materielle Weise (für Marxisten schließt der Ausdruck ‚materiell‘ auch ökonomische Kräfte und Beziehungen ein). Daraus schloss man, dass der dialektische Materialismus die Grundlage der Marxschen Vision einer Geschichte sei, nach der die historische Entwicklung das Ergebnis von Änderungen im Bereich der Produktivkräfte ist. Im Jahre 1903 wurde Plechanows Orthodoxie durch eine bedeutende revisionistische Schule in Frage gestellt, nämlich den russischen (von Lenin so titulierten) ‚Empiriokritizismus‘. Inspiriert durch den Machschen Positivismus argumentierten A.A. Bogdanow und andere, dass die Wirklichkeit eine sozial organisierte Erfahrung sei. Diese Sichtweise schien ihnen zu dem Marxschen Beharren darauf zu passen, dass die Gegenstände aus ihren Beziehungen zur menschlichen Tätigkeit heraus verstanden werden müssen. Der Empiriokritizismus wurde bis 1909 mit dem Bolschewismus assoziiert. Doch dann verdammte Lenin Bogdanows Standpunkt als eine Art von Idealismus, die sowohl vom Standpunkt des Marxismus, als auch des common sense abstoßend sei. Lenin unterstützte den dialektischen Materialismus, der späterhin als die philosophische Weltanschauung der Bolschewiken erachtet wurde. Nach der Revolution von 1917 zerstritten sich die sowjetischen Philosophen bald bitter und teilten sich in die ‚Mechanisten‘ und die ‚Dialektiker‘. Erstere meinten, dass die Philosophie sich der Wissenschaft unterzuordnen habe. Im Gegensatz dazu beharrten die Hegelschen ‚Dialektiker‘, angeführt von A.M. Deborin, darauf, dass die Philosophie gebraucht werde, um überhaupt die Möglichkeit des wissenschaftlichen Wissens erklären zu können. Die Diskussion war bald völlig verfahren, und 1929 nutzten die Dialektiker ihre institutionelle Macht, um den Mechanismus als Häresie zu verdammen. Im folgenden Jahr wurden jedoch die Dialektiker selbst von einer Gruppe junger Aktivisten in die Flucht geschlagen, die von der Kommunistischen Partei gefördert wurden. Sie denunzierten Deborin und sein Gefolgschaft als ‚Menschewikische Idealisten‘, und proklamierten, dass die marxistische 1121
Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische
Philosophie nun in ihre ‚leninistische Phase‘ eingetreten sei und beriefen sich damit auf Lenins Idee der partiinost, d.h. der ‚Parteilichkeit‘ der Philosophie, womit die Erlaubnis gemeint war, philosophische Theorien aus rein politischen Gründen kritisieren zu dürfen. Damit wurde die Philosophie zu einer Waffe im Klassenkampf. Im Jahre 1938 wurde die marxistisch-leninistische Philosophie vereinfacht im vierten Kapitel der ‚Istoriia kommunisticheskoi partii sovetskogo soiuza (Bol’sheviki). Kraatkii kurs‘ (dt.: ‚Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion‘, Bolschewiken, Kurzfassung). zusammengefasst. Dieses Kapitel, das offenkundig von Stalin selbst geschrieben worden war, wurde zum letzten Stand der Weisheit erklärt, und die sowjetischen Philosophen trauten sich nicht, seinen beschränkten Horizont zu überschreiten. Die ‚neue philosophische Führerschaft‘ widmete sich ganz der Glorifizierung der Partei und ihres Generalsekretärs. Das ideologische Klima verschlechterte sich sogar noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als A.A. Zhdanows Kampagne gegen den ‚Kosmopolitanismus‘ eine Welle des russischen Chauvinismus erzeugte, in denen Gelehrte, die mit dem westlichen Denken sympathisierten, unter Verfolgung gerieten. Die Partei mischte sich auch in die Wissenschaften ein, z.B. durch Förderung einer schwindlerischen Genetik von T.D. Lysenko, während sie die Kritik an der Quantenmechanik, der Relativitätstheorie und der Kybernetik stärkte und behauptete, sie sei mit dem dialektischen Materialismus unvereinbar. Das Tauwetter unter Chruschtschow brachte eine Renaissance des Sowjet-Marxismus, als eine neue Generation junger Philosophen mit einer kritischen, neuen Lektüre der Marxschen Texte begann. Marx’ so genannte ‚Methode des Aufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten‘ wurde von E.V. Iljenkow und anderen entwickelt und zu einer anti-empiristischen Erkenntnislehre ausgebaut. Es gab auch wichtige Untersuchungen zum Bewusstsein und ‚dem Idealen‘ von Iljenkow und M.K. Mamardaschwili, wobei der erstere eine Vision des sozialen Ursprungs des Geistes vortrug, die die kulturhistorische Psychologie von L.S. Vygotskij in Erinnerung rief, die dieser in den 1930er Jahren entwickelt hatte. Aber das Tauwetter war nur kurzlebig. Das philosophische Establishment in der Sowjetunion, in dem immer noch die alte stalinistische Garde vorherrschte, übte weiterhin einen erstickenden Einfluss aus. Obwohl die späten 1960er und die 1970er Jahre auch leidenschaftliche Debatten auf vielen Gebieten erlebten, insbesondere über die biologische Grundlage des Geistes und das Wesen des Wertes (die Moralphilosophie war bis dahin vernachlässigt worden), fehlte doch die Energie der frühen 1960er Jahre. Der Marxismus-Leninismus diktierte immer noch den Verlauf der Debatte, und das Wissen von westlichen Philosophen blieb relativ beschränkt. Mitte der 1980er Jahre brachten Gorbatschows Reformen bedeutsame Änderungen. Der Marxismus-Leninismus war nicht mehr ein notwendiges Thema in allen Institutionen der höheren Bildung. Tatsächlich wurde sogar der Ausdruck selbst bald ganz getilgt. Diskussion über die Demokratie und den Rechtsstaat erschienen in den Zeitschriften, und Schriften westlicher Philosophen und russische Emigranten durften plötzlich veröffentlicht werden. Einflussreiche Philosophen wie z.B. I.T. Frolow, der damals Redakteur der Prawda war, riefen nach einer Erneuerung des humanistischen Marxismus. Die Reformen kamen jedoch zu spät. Die zahlreichen Diskussionen über das Schicksal des Marxismus zu dieser Zeit offenbaren eine intellektuelle Kultur in der Krise. Während viele bei der Auffassung blieben, dass Marx’ Theorien 1122
Masseausdrücke
für den Fall der UdSSR nicht verantwortlich waren, erklärten andere den Bankrott der marxistischen Ideen und riefen nach einem Ende der russischen marxistischen Tradition. Nach dem Eintritt des Kollapses der Sowjetunion im Jahre 1991 sieht es so aus, als habe sich ihr Wunsch erfüllt. Siehe auch: Marxismus, Westlicher DAVID BAKHURST
Masseausdrücke
Masseausdrücke sind Worte und Wendungen wie ‚Wasser‘, ‚Holz‘ und ‚weiße Tapete‘. Sie stehen im Gegensatz zu Stückausdrücken wie z.B. ‚Kind‘, ‚Wort‘ und ‚wilde Rose‘. Intuitiv beziehen sich Masseausdrücke auf Stoff aller Art, Stückausdrücke dagegen auf einzelne Gegenstände. Masseausdrücke erlauben ihre Messung (‚drei Kilo Holz‘, ‚viel Wasser‘), während Stückausdrücke die Zählung, Quantifizierung und Individuation ihrer Gegenstände erlauben (‚drei Kinder‘, ‚jede Welt‘, ‚die wilde Rose dort‘). Philosophische Probleme im Zusammenhang mit Masseausdrücken beziehen sich auf: (1) die Unterscheidung der Masse- von den Stückausdrücken, (2) die Beschreibung der Semantik von Sätzen, die Masseausdrücke enthalten, und (3) die Klärung der Ontologie, die durch unsere Verwendung von Masse- gegenüber den Stückausdrücken vorausgesetzt wird. Im Zusammenhang mit diesen drei philosophischen Fragen, insbesondere der dritten, stehen die metaphilosophischen Fragen betreffend den Umfang, in dem eine jede Untersuchung der linguistischen Praxis von Sprechern einer Sprache als Beweis dafür verwendet werden kann, wie diese Sprecher die ‚Wirklichkeit‘ wahrnehmen. Siehe auch: Mereologie JEFFRY PELLETIER
Massilianismus
Siehe: Pelagianismus
Maßtheorie
Eine begriffliche Analyse der Messung könnte auf richtige Weise damit beginnen, dass sie zwei grundlegende Probleme eines jeden Messverfahrens formuliert. Das erste Problem ist jenes der Repräsentation, wobei die Zuordnung von Zahlen zu Gegenständen oder Phänomenen begründet werden muss. Wir können nicht buchstäblich eine Zahl in unsere Hände nehmen und sie auf einen physischen Gegenstand ‚anwenden‘. Was wir jedoch zeigen können, ist, dass die Struktur einer Menge von Phänomenen unter gewissen empirischen Operationen und Beziehungen dieselbe ist wie die Struktur einer Menge von Zahlen unter entsprechenden arithmetischen Operationen und Beziehungen. Die Lösung des Repräsentationsproblems in einer Maßtheorie legt nicht vollständig die Struktur der Theorie offen, denn es besteht oft eine formale Differenz zwischen den Zuordnungsformen von Zahlen, die sich aus unterschiedlichen Maßvorgängen ergeben. Und in der Bestimmung des Skalentypus einer gegebenen Prozedur besteht das zweite fundamentale Problem. Das Zählen steht für ein Beispiel auf einer absoluten Skala. Die Zahl der Mitglieder einer gegebenen Sammlung von Gegenständen ist eindeutig bestimmt. Im Gegensatz dazu ist die Messung von Masse oder Gewicht ein Beispiel für eine Verhältnisskala. Eine empirische Prozedur für das Messen von Masse bestimmt nicht die Einheit der Masse. Die Messung von Temperatur ist ein Beispiel für eine Inter1123
Maßtheorie
vallskala. Die empirische Prozedur der Temperaturmessung durch die Benutzung eines Thermometers bestimmt weder eine Einheit noch einen Ursprung (d.h. einen Nullpunkt). Bei dieser Art von Messung ist der Abstand von jeweils zwei Intervallen unabhängig von der Einheit und dem Nullpunkt der Messung. Noch ein weiterer Skalentyp ist der, wo bis auf die Reihenfolge alles beliebig ist. Mohs Härteskala, nach der Mineralien hinsichtlich ihrer Härte, die durch einen Kratztest bestimmt wird, eingeordnet werden, und die Beaufort Windskala, durch die die Stärke eines Windes als ruhig, leichter Zug, leichte Briese etc. klassifiziert werden, sind Beispiele von Ordinalskalen. Ein Unterschied besteht ferner zwischen solchen Maßskalen, die grundlegend sind, und solchen, die abgeleitet sind. Eine abgeleitete Skala setzt voraus und nutzt die numerischen Ergebnisse von wenigstens einer weiteren Skala. Im Gegensatz dazu hängt eine fundamentale Skala von keiner anderen Skala ab. Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen extensiven und intensiven Quantitäten oder Skalen. Für extensive Quantitäten wie die Masse oder den Abstand kann eine empirische Kombinationsoperation angegeben werden, die die strukturellen Eigenschaften der numerischen Operation der Addition hat. Intensive Quantitäten kennen keine solche Operation; typische Beispiele sind die Temperatur und die grundsätzliche Nützlichkeit. Eine verbreitete Klage über diese klassischen Grundlagen der Messung ist, dass sie zu wenig auf die Analyse der Variabilität in der gemessenen Quantität eingehen. Eine wichtige Quelle dieser Klage ist die systematische Variabilität in den empirischen Eigenschaften des gemessenen Gegenstandes. Eine weitere Quelle von Klagen liegt nicht in dem gemessenen Gegenstand, sondern in der verwendeten Messprozedur. Es gibt auch zufällige Irrtümer, die sich aus der Variabilität in den Gegenständen ergeben können, oder aus den Prozeduren, oder aus den umgebenden Beobachtungsbedingungen. Siehe auch: Beobachtung; Experiment; Operationalismus PATRICK SUPPES
Materiale Implikation, Paradoxa der Siehe: Hinweisende Konditionalsätze
Materialismus Einführung Der Materialismus ist eine Gruppe aufeinander bezogener Theorien, die besagen, dass alle Entitäten und Prozesse aus Stoff, stofflichen Kräften oder physikalischen Prozessen bestehen oder auf solche zurückführbar sind. Alle Ereignisse und Tatsachen sind demzufolge tatsächlich oder prinzipiell durch körperliche, materielle Gegenstände oder dynamische Materialveränderungen oder -bewegungen erklärbar. Im Allgemeinen folgt aus der metaphysischen Theorie des Materialismus die Leugnung der Wirklichkeit geistiger Wesen, des Bewusstseins mentaler oder psychischer Zustände oder Prozesse, insofern sie sich ontologisch von materiellen Änderungen oder Prozessen unterscheiden oder unabhängig sein sollen. Da der Materialismus die Existenz geistiger Wesen oder Kräfte leugnet, geht er typischerweise einher mit dem Atheismus oder dem Agnostizismus.
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Materialismus
Die Formen des Materialismus erstrecken sich vom griechisch-antiken, atomistischen Materialismus über die wissenschaftlichen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu den kürzlich weiter entwickelten Rechtfertigungen verschiedener Formen des metaphysischen Materialismus. 1. Materialismus 2. Antiker griechischer Atomismus 3. Moderner Materialismus 4. Zeitgenössischer Materialismus 1. Materialismus Der Materialismus ist die allgemeine Theorie, dass die letzten Bestandteile der Wirklichkeit materielle oder physikalische Körper, Elemente oder Prozesse sind. Er ist somit eine Form des Monismus, insofern er davon ausgeht, dass alles Existierende Natur auf Materielles oder Physikalisches reduzierbar ist. Er steht im Gegensatz zu dualistischen Theorien, die behaupten, dass Körper und Geist etwas Verschiedenes sind, und er steht in direkter Antithese zu einer idealistischen Philosophie, die die Existenz des Stoffs oder der Materie überhaupt bestreitet. Er steht tendenziell feindselig den abstrakten Gegenständen gegenüber, wenn diese als etwas angesehen werden, das mehr sein soll als nur eine Redewendung oder Sprechweise (siehe Abstrakte Gegenstände). Eine Folge des Materialismus ist, dass die verschiedenen qualitativen Erfahrungen, die wir an den Gegenständen machen, letztlich auf quantitative Änderungen an den Gegenständen oder in unserer physiologischen Funktionsweise zurückführbar sind. Alle Eigenschaften von Dingen, einschließlich der Personen, sind auf Eigenschaften der Materie reduzierbar. Obwohl diejenigen Ausdrücke, die sich auf psychische Zustände beziehen, wie z.B. ‚Absicht‘, ‚Überzeugung‘, ‚Wunsch‘ und ‚Bewusstsein‘, selbst einen unterschiedlichen Sinn haben und anders verwendet werden als Ausdrücke, die sich auf materielle Vorgänge beziehen, würde ein konsistenter Materialismus bestreiten, dass sog. ‚mentalistische‘ Ausdrücke irgendeine andere Beziehung, außer zu physischen Ereignissen oder physiologischen Änderungen in unserem Gehirn, haben. Die enormen Fortschritte in der Naturwissenschaft haben riesige Lager empirischer Daten angehäuft, die häufig zur Rechtfertigung des Materialismus eingesetzt werden. Viele Philosophen, vor allem in den USA und Australien, fühlen sich vom Materialismus sowohl wegen seiner reduktiven Einfachheit, als auch wegen seiner Verbindung zum naturwissenschaftlichen Wissen angezogen, viele andere, vor allem in Europa und z.B. in Japan, genau wegen dieses Reduktionismus und der geargwöhnten ungerechtfertigten Hegemonie naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle in gleichem Umfange davon abgestoßen. 2. Antiker griechischer Atomismus Obwohl Leukipp die Erfindung der antiken Atomtheorie der Materie im 5. Jahrhundert v.Chr. zugeschrieben wird, war es doch Demokrit (4. Jahrhundert v.Chr.), der als erster eine systematische Theorie des atomistischen Materialismus entwickelte. Diese Theorie besagt, dass die Materie aus gesonderten und winzigen Elementen zusammengesetzt sei, die ‚unteilbar‘ (gr.: atoma) seien, ferner, dass sich diese Elemente im leeren Raum oder ‚der Leere‘ bewegen. Die Atome unterscheiden sich dieser Theorie zufolge nur in Gestalt und Volumen, und alle Veränderungen ereignen sich durch eine Übertragung infolge direkten Bewegungskontaktes von be1125
Materialismus
wegten Atomen. Diese elementaren Entitäten weisen keinerlei sekundäre Qualitäten auf und sind daher unzerstörbar. Demokrit meinte bereits, dass die Dinge nicht heiß oder kalt, süß oder bitter seien und auch nur ‚durch Übereinkunft‘ unterschiedliche Farben auswiesen. In Wirklichkeit gebe es allerdings nur Atome und die Leere. Die wesentlichen Elemente des frühen Atomismus erhielten sich in der Physik des Epikur, mit der Ausnahme, dass Epikur den Atomen in ihrer Bewegung durch den Raum Freiheit zuschrieb. Epikurs Materialismus wird sehr klar in den philosophischen Gedichten von Lukrez im 1. Jahrhundert v.Chr. erklärt (‚De rerum natura‘, dt.: ‚Über die Natur der Dinge‘). Diese Popularisierung des epikureischen Denkens trug viel dazu bei, sowohl den atomistischen Materialismus lebendig zu erhalten, als auch das, was sich als ein naturalistisches Verständnis der Menschen und der Welt im Allgemeinen beschreiben lässt (siehe Epikureismus). 3. Moderner Materialismus Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfuhr der atomistische Materialismus der griechisch-römischen Zeit eine paradoxe Wiederbelebung durch Pierre Gassendi. Er schätzte zwar die wissenschaftliche Interpretation der Natur und die wissenschaftlichen Methoden, doch gleichzeitig wollte er die christliche Idee der Unsterblichkeit der Seele bewahren und sah Gott als den Schöpfer der Atome. Der englische Philosoph Thomas Hobbes legte eine systematische Theorie der Natur und des menschlichen Wesens vor, die weithin, wenn nicht durchgehend, materialistisch geprägt ist. Abgesehen von der Zuschreibung eines sog. ‚Antriebes‘ (lat.: conatus) zum Bereich des menschlichen Handelns und Empfindens verbannte Hobbes den Begriff der ‚unkörperlichen Substanz‘ praktisch gänzlich. In der Theorie und seinem eigenen Empfinden war Hobbes ein materialistischer Denker, obwohl nicht auf konsistente Weise. Das frühe 18. Jahrhundert erlebte die Veröffentlichung des ersten von vielen ähnlichen noch folgenden Werken, die eine materialistische und mechanistische Interpretation der Natur des Menschen auf der Grundlage physiologischer Theorien rechtfertigten. In ‚L’Homme machine‘ (dt.: ‚Der Maschinenmensch‘, 1748) beschrieb Julien de La Mettrie, ein philosophierender Arzt, die Menschen als einen sich selbst bewegenden Mechanismus und suchte nach einer neurologischen Grundlage für die geistige Tätigkeit. Wiederum einen Fortschritt gegenüber den vorangehenden Versuchen zur Entwicklung eines systematischen Materialismus lieferte Paul H.D. d’Holbachs Buch ‚Système de la nature‘ (dt.: ‚Das System der Natur‘, 1770) Hier wird ein konsistenter naturalistischer Materialismus dahingehend ausgeführt, dass die kognitiven und emotionalen Zustände auf interne materielle ‚Veränderungen des Gehirns‘ zurückgeführt werden. Obwohl er es nicht genauso bezeichnet, präsentiert d’Holbach damit eine Form des physiologischen Determinismus. Mit dem schnellen Wachstum der Wissenschaften, mit den astronomischen Entdeckungen von Kopernikus, den Theorien von Galilei und der systematischen Konzeption der Natur in der physikalischen Theorie von Isaac Newton wurden naturalistische Interpretationen einer Vielzahl von Phänomenen immer dominanter. Dieses wissenschaftlich begründete Bild der Wirklichkeit verlieh den Prinzipien der materialistischen Theorie noch größere Plausibilität. Der Astronom und Mathematiker Pierre Laplace (1749–1827) formulierte eine ausgefeilte astronomische Theorie, die, so meinte er, illustrieren würde, dass ein ‚Supergeist‘, der alle Zustände und Bedin1126
Materialismus
gungen für jede existierende Entität der Welt kennen würde, den Gesamtzustand des Universums im nächsten Moment voraussagen könnte. Als Napoleon I. eine Kopie von Laplaces Arbeit gezeigt wurde, wies er angeblich auf die vollständige Nichterwähnung von Gott in dieser Theorie hin. Laplace antwortete hierauf angeblich lapidar: „Ich bedarf dieser Hypothese nicht“. Laplaces mechanistischer Materialismus wurde in den Augen vieler folgender Denker zum definitiven Erklärungsprinzip aller Ereignisse des Kosmos überhaupt. Die Formulierung der biologischen Evolutionstheorie mittels natürlicher Selektion durch Charles Darwin beseitigte praktisch jegliche noch bestehende teleologische Erklärung biologischer Phänomene und stützte damit die materialistische und physikalische Interpretation der organischen Entwicklung. Mit dem Fortschritt in der Chemie durch Lavoisier (1743–1794) in Frankreich und John Dalton (1766– 1844) in England wurde die reduktive Analyse natürlicher Phänomene auf chemische Substanzen, Elemente und Prozesse in Gestalt empirischer, naturalistischer und materialistischer Interpretation dieser Phänomene weiter gestärkt. Während des 19. Jahrhunderts versuchten sich viele Philosophen an der Formulierung einer Theorie der Grundlegung wissenschaftlicher Tatsachen, Prinzipien oder Gesetze. Der historische Materialismus, der von Marx und Engels entwickelt wurde, bemühte sich um die Formulierung von Gesetzen der sozialen, wirtschaftlichen und historischen Entwicklung, verteidigte aber nicht den metaphysischen Materialismus (siehe Dialektischer Materialismus; Marx, Karl). Die allgemeine Berufung auf den Materialismus des 19. Jahrhunderts zeigt sich besonders deutlich in der Popularität des Werks von Ludwig Büchner ‚Kraft und Stoff‘ von 1855, das in sechzehn Auflagen erschien. Obwohl es philosophisch ungehobelt ist, taugt es doch als Kompendium des seinerzeit populären Materialismus. Bereits im Jahre 1852 hatte Jakob Moleschott die Reduktion von Kraft auf Materie, die Lehre von der Erhaltung der Materie und eine Art von objektivem Realismus in seinem Buch ‚Der Kreislauf des Lebens‘ vorgetragen. Im Anschluss an die schlecht gewählte Analogie zwischen Gehirn und Denken einerseits und dem Verdauungsapparat andererseits in Jean Cabanis’ ‚Rapports du physique et du moral de l’homme‘ (dt.: ‚Beziehungen des Physischen und des Mentalen im Menschen‘, 1802) verkündete Karl Vogt, dass das Gehirn genauso Gedanken ‚ausscheidet‘ wie die Leber Galle. Trotz solcher Abschweifungen in den ‚vulgären Materialismus‘ war das 19. Jahrhundert eine Zeit der intensiven Debatte zwischen Wissenschaftlern und Philosophen über die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis und die erkenntnistheoretischen Probleme des metaphysischen Materialismus. Diese Debatte wurde noch angefeuert durch eine neukantianische Bewegung, die insbesondere in dem Buch ‚Geschichte des Materialismus‘ (F.A. Lange, 1865) die Auffassung vertrat, dass der Materialismus ein nützliches methodologisches Prinzip der Naturwissenschaft, als reduktionistische Metaphysik aber fraglich sei. Die Begriffe und Postulate der Wissenschaften seien theoretische Entitäten oder konventionelle Begriffe, die durch den Geist gebildet werden. Ihr Nutzen garantiere nach Lange jedoch nicht ihre Tauglichkeit als Grundlage für den Materialismus. 4. Zeitgenössischer Materialismus Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Physikalismus aus dem Positivismus heraus. Der Physikalismus beschränkt den Umfang sinnvoller Rede auf jene von 1127
Materialismus in der Philosophie des Geistes
physikalischen Körpern oder Prozessen, die verifizierbar oder zumindest im Prinzip verifizierbar sind. Er ist damit eine empirische Hypothese, die selbst der Revision zugänglich ist und folglich nicht den Dogmatismus des klassischen Materialismus aufweist. Herbert Feigl verteidigte den Physikalismus in den USA und vertrat die konsistente Ansicht, dass mentale Zustände Gehirnzustände seien, sowie dass mentale Ausdrücke denselben Referenten (Bezugsgegenstand) haben wie physikalische Ausdrücke (Feigl 1958). Das 20. Jahrhundert erlebte viele materialistische Theorien des Mentalen, und auch viele Diskussionen darum (siehe Behaviorismus, analytischer; Funktionalismus; Geistes, Identitätstheorien des; Materialismus in der Philosophie des Geistes). Auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz wird der Geist insofern als ein Analogon zum Computer behandelt, als er aus dieser Perspektive wie eine informationsverarbeitende Entität funktioniert. Daniel Dennett trug auf qualifizierte Weise vor, dass die informationsverarbeitenden Maschinen gültige Modelle des Geistes sind. Zu den wissenschaftlich basierten Argumenten für die unterschiedlichen Formen des Materialismus, einschließlich dem nichtreduktiven Materialismus, gesellen sich die Konzeptionen der Materie im 20. Jahrhundert als Kombinationen von Elektronen, Protonen und weiteren subatomaren Partikeln, die eine umfangreiche spekulative Literatur inspirierten, die auf wirksame Weise frühere Formen des Materialismus untergräbt. Was der junge US-Wissenschaftsphilosoph Norwood Hanson die ‚Dematerialisierung der Materie‘ nennt, wirft Fragen betreffend die Bedeutung des Ausdrucks ‚Materialismus‘ im Lichte der mikrophysikalischen Theorien auf. Viele der Argumente, die hinter früheren Formen des Materialismus standen, einschließlich der Annahme der Kausalität als universal in der Natur, sind in Frage gestellt worden. Das Zusammenlaufen zeitgenössischer Theorien über die Struktur und Funktion des Geistes und der Natur der Materie haben zu einer neuen Komplexität im Detail und einem ganzen Feld paradoxer Behauptungen geführt, die den zeitgenössischen Materialismus zu einem Allerlei verwickelter, aber miteinander nicht vereinbarer und verblüffender theoretischer Elemente macht. Siehe auch: Materie Anmerkungen und weitere Lektüre: Armstrong, D.M. (1968): ‚A Materialist Theorie of the Mind‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Eine gründliche Analyse des Geistes und mentaler Zustände aus der Perspektive eines ‚Physikalismus des Zentralzustandes‘. Zwei jüngere Werke von Armstrong, nämlich ‚Sachverhalte, Sachverhalte‘ und ‚Was ist ein Naturgesetz‘, sind 2005 beim xenomoi Verlag auch auf Deutsch erschienen.) Feigl, H. (1958): ‚The “Mental” and the “Physical”‘, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. 2, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. (Eine klassische Darstellung des Physikalismus.) GEORGE J. STACK
Materialismus in der Philosophie des Geistes
Der Materialismus, der in praktisch allen Fällen dasselbe ist wie der Physikalismus, ist die Theorie, dass alles, was existiert, materieller Natur ist. Die Naturwissenschaft zeigt, dass die meisten Dinge auf materielle Weise verständlich und zugänglich sind. Doch der Geist ist hier mindestens in zweierlei Hinsicht ein Problem. Die erste ist das Bewusstsein, wie man es in dem ‚Rohempfinden‘ der subjektiven 1128
Materialismus, Indische Schule des
Erfahrung findet. Die zweite ist die Intentionalität des Denkens, womit die Eigenschaft bezeichnet wird, dass es dem Denken um etwas geht, das außerhalb oder jenseits seiner selbst liegt. Die ‚Betroffenheit‘ scheint nämlich keine physikalische Beziehung im üblichen Sinne des Wortes zu sein. Es wurden im Laufe der Philosophiegeschichte drei Wege zur Annäherung an diese Probleme vorgeschlagen. Der härteste von ihnen ist der sog. ‚Eliminativismus‘, der besagt, dass es gar keine ‚Rohempfindungen‘ gibt, auch keine Intentionalität, und daher ganz allgemein auch keine mentalen Zustände. Der Geist und all sein ‚Inventar‘ seien Teil einer verzopften Pseudowissenschaft, die wir nunmehr angeblich als falsch erkannt haben. Dem folgt der Reduktionismus, der eine Darstellung unserer Erfahrung und unserer Intentionalität auf eine Art und Weise zu geben versucht, die für die physikalischen Wissenschaften annehmbar ist. Dies bedeutet praktisch, dass man den Geist im Wege seiner Rolle bei der Hervorbringung von Verhalten analysiert. Und abschließend mag ein Materialist die Wirklichkeit und Irreduzibilität des Geistes zwar hinnehmen, dabei aber behaupten, dass sie von der Materie auf eine solch enge Weise abhängt, d.h. viel enger als nur durch eine kausale Verbindung, dass der Materialismus durch die Irreduzibilität des Geistes nicht bedroht ist. Die ersten beiden Herangehensweisen könnte man ‚harter Materialismus‘, die dritte ‚weichen Materialismus‘ nennen. Das Problem des Eliminativismus ist, dass wir es in der Regel schwierig finden zu glauben, dass eine jegliche Überzeugung, die wir denken oder fühlen, nur eine theoretische Spekulation sei. Die Hauptschwierigkeit des Reduktionismus ist, dass am Bewusstsein mehr zu sein scheint als nur sein Beitrag zum Verhalten; ein Roboter könnte sich wie wir verhalten, ohne zu denken oder zu fühlen. Die weichen Materialisten wiederum müssen die Supervenienz des Geistes auf eine Weise erklären, die den Geist nicht zu einem Epiphänomen macht, ohne andererseits in die Probleme des Interaktionismus zu fallen. HOWARD ROBINSON
Materialismus, Dialektischer
Siehe: Dialektischer Materialismus
Materialismus, Indische Schule des
Der Ausdruck ‚Materialismus‘ steht in diesem Zusammenhang für den SanskritAusdruck ‚Lokāyata‘, die verbreitetste Bezeichnung für die materialistische Schule der klassischen indischen Philosophie. Zu Beginn ihrer jeweiligen Entwicklung waren ‚Materialismus‘ und ‚Lokāyata‘ jedoch nicht äquivalent; die frühen materialistischen Lehren hatten keine Verbindung zur ‚Lokāyata‘, und die frühe ‚Lokāyata‘ war weder materialistisch, noch überhaupt eine philosophische Schule. Die klassische ‚Lokāyata‘ steht abseits aller anderen indischen philosophischen Traditionen, weil sie die ethischen und metaphysischen Lehren wie z.B. die Vergeltung des Karmas, das Leben nach dem Tode und die Befreiung leugnet. Ihre Ontologie, die darauf zurechtgeschnitten ist, diese Herausforderungen zu rechtfertigen, sieht nur vier materielle Elemente und ihre verschiedenen Kombinationen vor. Weitere Unterstützung liefert die ‚Lokāyata‘-Erkenntnislehre: die Gültigkeit von Schlüssen und die Autorität von Heiligen Schriften wird bestritten, stattdessen wird die Wahrnehmung als das einzige Mittel der gültigen Erkenntnis proklamiert. Als Frucht hiervon und als Antwort auf die Kritik anderer Philosophen entwickelten sich 1129
Materie
dazu passend ein durchgestalteter Skeptizismus und eine Theorie der beschränkten Geltung von Schlüssen. In Abstimmung mit der ‚Lokāyata‘-Ontologie und Erkenntnislehre zentriert sich ihre Ethik auf die Kritik aller religiösen und moralischen Ideale, die einen unsichtbaren Akteur und ein Leben nach dem Tode voraussetzen. Ihre Feinde stellen ihre Anhänger als die Verkünder eines unbeschränkten Hedonismus dar. ELI FRANCO, KARIN PREISENDANZ
Materie
Sieht man die philosophische Behandlung der Materie als etwas an, was innerhalb des Denkrahmens einer allgemeineren Theorie der Substanz entsteht, so hat sich dieser philosophische Gegenstand traditionell um zwei Fragen gedreht: (1) Das Wesen der Materie: was sind die unterscheidenden Merkmale der Materie oder der materiellen Substanz(en), die sie definieren und sie von anderen Substanzen unterscheiden, sofern es solche gibt? (2) Das Problem der Elemente: bestehen materielle Dinge aus elementaren Substanzen, oder gibt es immer weitere Bestandteile? Eine mögliche Sichtweise ist hier, dass es keine fundamentale Ebene gibt, d.h. dass es immer weitere Bestandteile von Bestandteilen gibt. Die Sichtweise, die am häufigsten sowohl von Philosophen, als auch von Naturwissenschaftlern vertreten wird, ist allerdings die, dass es tatsächlich fundamentale Elementarentitäten geben muss, aus welchen alle materiellen Dinge gemacht sind. Schließt man sich dieser Auffassung an, ergibt sich die Frage, was diese Elementarentitäten sein sollen und welche Eigenschaften sie voneinander unterscheiden. Diese beiden Fragen wurden, wenn auch stufenweise, bereits in der antiken griechischen Philosophie entwickelt. Eine bedeutsame Wende stellte sich im 17. Jahrhundert ein, als die Arbeiten von Descartes und Newton zu einem Bild der Materie als etwas Passivem, Trägem und Toten führten, das im Gegensatz zum Geist und zu Kräften stand, die beide als aktiv gedacht wurden. Viele philosophische Probleme und Lehren wurden auf der Grundlage dieser Unterscheidung formuliert. Spätere Entwicklung der Naturwissenschaften, speziell im 20. Jahrhundert, brachten jedoch so grundlegende Änderungen der klassischen Begriffe der Materie mit sich, dass diese nicht länger tauglich sind. Diese Entwicklungen veränderten gründlich sämtliche Lehren und Problemformulierungen, die bis dahin mit der Materie assoziiert waren. Siehe auch: Substanz; Einheit der Wissenschaften DUDLEY SHAPERE
Mathematik, Grundlagen der Einführung Philosophisch betrachtet betrifft die Grundlegung der Mathematik zahlreiche metaphysische und erkenntnistheoretische Probleme, die durch die mathematische Praxis aufgeworfen werden, aber auch durch ihre Ergebnisse und Anwendungen. Die meisten dieser Probleme sind bereits sehr alt; insbesondere zwei von ihnen sind von nie abreißender Bedeutung. Dies ist die Frage nach ihrer Inhaltsfülle und der Notwendigkeit ihrer Erkenntnisse. Ebenfalls wichtig, wenn auch nicht so prominent in der Geschichte der Mathematik ist das Problem ihrer Anwendung oder wie man dem Umstand gerecht werden soll, dass die Mathematik zu einer so umfangreichen, 1130
Mathematik, Grundlagen der
wichtigen und unterschiedlichen Anwendung in vielen anderen Disziplinen aufgestiegen ist. Die Griechen kämpften mit diesen Fragen, und ebenso viele mittelalterliche und moderne Denker. Die Ideen vieler von ihnen sind bis auf den heutigen Tag beim Nachdenken über die mathematischen Grundlagen noch einflussreich. Während des 19. und 20. Jahrhunderts waren die wichtigsten Ideen dazu allerdings jene von Kant. Auf die eine oder andere Weise, und in größerem oder geringerem Umfang sind alle Hauptströmungen der Grundlagenforschung während dieser Epoche, die die aktivste und fruchtbarste Periode in der gesamten Geschichte dieses Forschungsgegenstandes war, Versuche zur Versöhnung von Kants Gedanken zu den Grundlagen der Mathematik mit zahlreichen späteren Entwicklungen der Mathematik und der Logik. Diese Entwicklungen umfassen hauptsächlich (1) die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie, (2) die kraftvolle Entwicklung der mathematischen Logik, (3) die Entwicklung einer rigorosen Axiomatisierung der Geometrie, (4) die Arithmetisierung der Analysis und (5) die Entdeckung einer Axiomatisierung der Arithmetik im 19. Jahrhundert (durch Dedekind und Peano). Die erste dieser Entdeckungen ist vielleicht die wichtigste. Sie führte zu der weit verbreiteten Akzeptanz der Idee, dass der Raum nicht lediglich eine kantische ‚Form der Anschauung‘ ist, sondern dass er unabhängig von unserem Intellekt besteht, und sich deshalb von der Arithmetik unterscheidet. Diese Asymmetrie zwischen der Geometrie und der Arithmetik wurde eine wichtige Prämisse der meisten großen Schulen oder Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Philosophie der Mathematik beschäftigten. Die Intuitionisten erhielten Kants Konzeption der Arithmetik aufrecht und nahmen denselben Standpunkt gegenüber jenem Teil der Geometrie ein, der auf die Arithmetik reduziert werden kann. Die Logizisten bestanden darauf, dass die Arithmetik ‚analytisch‘ sei, unterschieden sich aber in ihrer Sicht der Geometrie. Hilberts formalistische Sichtweise wiederum unterstützte einen größeren Teil der kantischen Konzeption. Die zweite Entwicklung brachte die Logik an einen Punkt, der weit jenseits des Entwicklungsstandes lag, an dem sie sich zu Kants Zeiten befunden hatte; ihre Vertreter legten nahe, dass seine Ansichten über die Natur der Mathematik einem relativ dürren Gehalt seiner Logik geschuldet seien. Die dritte Entwicklung arbeitete heraus, dass die Geometrie vollständig formalisiert werden könne, und dass die Intuition für Schlussfolgerungen innerhalb von Beweisen folglich nicht mehr notwendig sei. Die vierte und fünfte Entwicklung lieferten schließlich die Kodifizierung eines großen Teils der klassischen Mathematik, d.h. der Analysis und ihrer Nachbarn, innerhalb eines einzigen axiomatischen Systems, nämlich der Arithmetik zweiter Ordnung. Dies wiederum bestätigte die Auffassungen jener (z.B. der Intuitionisten und der Logizisten), die meinten, dass die Arithmetik einen speziellen zentralen Platz innerhalb des menschlichen Denkens einnehme. Sie lieferte auch ein klares, reduktives Ziel für solche späteren antikantischen Unternehmungen wie den Russellschen Logizismus. Die größeren Bewegungen in der Philosophie der Mathematik dieser Zeit bezogen alle einen Teil ihrer Kraft aus den nachkantischen Entwicklungen der Mathematik und der Logik. Jede von ihnen sah sich allerdings auch mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert, kaum dass sie ihre anfängliche Überzeugungskraft entfaltet hatten. Freges Logizismus wurde durch Russells Paradox besiegt; Russells 1131
Mathematik, Grundlagen der
Logizismus wiederum machte von solchen – zumindest aus logizistischer Perspektive – fragwürdigen Dingen wie den Axiomen der Unendlichkeit und der Reduktion Gebrauch. Sowohl der Logizismus, als auch Hilberts formalistisches Programm gerieten mit der Entdeckung des Unvollständigkeitstheorems durch Gödel in schwere Not. Und schließlich litt auch der Intuitionismus unter seiner Unfähigkeit, eine mathematische Grundlage zu schaffen, die mit der Fülle der klassischen Mathematik vergleichbar wäre. Trotz des Versagens dieser nicht-kantischen Programme setzte sich allerdings die Bewegung weg von Kant in der Mitte und dem letzten Teil des 20. Jahrhunderts fort. Von den 1930er Jahren an wurde diese Entwicklung hauptsächlich durch eine Wiederbelebung der empiristischen und naturalistischen Ideen in der Philosophie gespeist, die durch die Schriften sowohl der logischen Empiristen, als auch der später sehr einflussreichen Arbeiten von Quine, Putnam und Benacerraf prominent wurden. Diese sind in gewisser Weise weiterhin die treibenden Kräfte der aktuellen Philosophie der Mathematik. 1. Kants Auffassung; Reaktionen 2. Intuitionismus 3. Logizismus 4. Hilberts Formalismus 5. Modifikationen 6. Jüngere Entwicklungen 1. Kants Auffassung; Reaktionen Die Problematik, die Kant für die Erkenntnislehre der reinen Mathematik ausmachte, konzentriert sich auf die Versöhnung zweier offenkundig unvereinbarer Merkmale der reinen Mathematik: (1) das Problem der Notwendigkeit, oder wie man den offenbaren Fakt erklären soll, dass die mathematischen Aussagen (beispielsweise Aussagen wie 1 + 1 = 2, oder dass die Summe der Innenwinkel eines euklidischen Dreiecks gleich der Summe von zwei Rechten Winkeln ist) nicht nur wahr, sondern sogar notwendig, d.h. unbedingt wahr und unabhängig von aller empirischer Evidenz gültig sind, und (2) das Problem der kognitiven Fülle, oder wie man den Fakt darstellen kann, dass die reine Mathematik abstrakte Gegenstände ergibt, die an Inhalt und Methode so reich, so robust in ihrem Wachstum und voll von überraschenden Dingen sind, wie sich im Laufe der Geschichte der Mathematik ergeben hat. In der Mathematik, sagt Kant, finden wir einen großen und fest etablierten Erkenntnisbereich vor, d.h. ein Erkenntnisgebiet von so „wunderbarer Größe“ und mit der Aussicht auf so „unbeschränkte künftige Erweiterung“, dass es so aussähe, als ergäben sich uns diese aus anderen Quellen als der reinen, ohne fremde Hilfe operierenden menschlichen Vernunft (‚Prolegomena‘, §§ 6, 7). Gleichzeitig bringe die Mathematik aber auch eine Gewissheit oder Notwendigkeit ihrer Schlüsse mit sich, die für Urteile der reinen Vernunft typisch seien. Das Problem sei daher, die offenbar miteinander in Konflikt stehenden Merkmale zu erklären. Kants Erklärung lautete, dass sich die mathematische Erkenntnis aus gewissen bestehenden Bedingungen oder ‚Formen‘ ergebe, die unsere Erfahrung von Raum und Zeit formen, d.h. Formen, die trotz ihres Anteils an unserem angeborenen kognitiven Apparat, durch den
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Mathematik, Grundlagen der
wir zur Erfahrung gelangen, dennoch unsere Erfahrung auf eine Weise formen, die über das rein logische Voranschreiten hinausgehen. Zur Ausarbeitung dieser Hypothese sortierte Kant die Urteile bzw. Aussagen auf zwei verschiedene Weisen: erstens danach, ob sie zur ihrer Rechtfertigung einer Berufung auf die sinnliche Erfahrung bedürfen, und zweitens, ob ihre Prädikatsbegriffe in ihren Subjektsbegriffen ‚enthalten‘ seien. Ein Urteil oder eine Aussage sei ferner ‚a priori‘, wenn man sie ohne Berufung auf einen sinnlichen Gehalt rechtfertigen könne. Wenn nicht, so sei sie ‚a posteriori‘. Sie sei ferner ‚analytisch‘, wenn der Akt des Denkens des Subjektsbegriffs selbst als Bestandteil seiner selbst das Denken des Prädikatsbegriffs enthält. Wenn nicht, sei das Urteil bzw. die Aussage entweder falsch oder ‚synthetisch‘. Im synthetischen apriorischen Urteil, also dem Urteilstyp, den Kant als typisch für die Mathematik betrachtete, wird der Prädikatsbegriff nicht durch das reine Denken des Subjektsbegriffs gedacht, sondern durch seine ‚Konstruktion in der Intuition‘. Eine ähnliche Haltung nahm er gegenüber dem mathematischen Schluss ein, indem er meinte, dass dieser eine Intuition mit sich bringe, die über die rein logische Verbindung von Prämisse und Konklusion hinausgehe (‚Kritik der reinen Vernunft‘, A 713–719 / B 741–747). Kant errichtete seine mathematische Erkenntnislehre auf diese Unterscheidungen und meinte bekanntlich, dass das mathematische Urteil und ihre Schlussfolgerung einen synthetisch-apriorischen Charakter hätten. Auf diese Weise versuchte er sowohl die Schlussnotwendigkeit, als auch die Reichhaltigkeit der Mathematik zu erklären, wobei ihre Notwendigkeit ein Spiegel ihrer Apriorität und ihre kognitive Reichhaltigkeit eine Folge ihrer Synthetizität sei. Kant wandte dieses grundlegende Schema sowohl auf die Arithmetik, als auch auf die Geometrie an, und darüber hinaus auf die reine Mechanik. Er betrachtete diese Gebiete jedoch nicht als vollständig identisch, da er davon ausging, dass sie auf unterschiedlichen apriorischen Intuitionen beruhen. Und er sah sie auch nicht als etwas an, was genau denselben Grad an Universalität aufweist (‚Kritik der reinen Vernunft‘, A 163–165, 170–171, 734 / B 204–206, 212, 745, 762). Allerdings erachtete er ihre Ähnlichkeiten für wichtiger als ihre Unterschiede, und deshalb ordnete er sie im Wesentlichen demselben Erkenntnistyp zu, nämlich dem synthetischapriorischen Urteil. Am Ende war es die Zusammenfassung der Geometrie und der Arithmetik unter denselben Erkenntnistyp, und nicht seine eigentlich zentralere Behauptung betreffend die Existenz des synthetisch-apriorischen Wissens, die Anlass zu den ernsthaftesten Bedenken gegen seine Auffassungen gab. In den Jahrzehnten, die auf die Veröffentlichung der ersten Auflage der ‚Kritik‘ folgten, richtete sich die Hauptaufmerksamkeit bezüglich seiner Auffassungen auf die wachsende Evidenz und schließlich die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie. Dies wiederum führte zu Fragen, ob die Geometrie und die Arithmetik von demselben, grundlegenden Erkenntnistyp seien. Die ernsthafte Möglichkeit der nichteuklidischen Geometrien ging auf die Arbeiten von Lambert und anderen Mathematikern des 18. Jahrhunderts zurück. Indem sie auf diesen Leistungen aufbauten, stellten sich einige, insbesondere Gauss (‚Briefe an Olbers und Bessel‘), gegen Kants Auffassung, noch bevor die wirkliche Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien durch Bolyai und Lobatschewskij in den 1820er Jahren stattfand. Gauss Argumentation war im Wesentlichen die folgende: die Zahl scheint ein reines Produkt des Intellektes zu sein und daher etwas, 1133
Mathematik, Grundlagen der
von dem wir ein rein apriorisches Wissen haben können. Der Raum scheint andererseits eine unserem Geist äußere Wirklichkeit aufzuweisen, so dass sich seine rein apriorische Erkenntnis verbietet. Die Arithmetik und die Geometrie sind daher, erkenntnistheoretisch betrachtet, nicht identisch miteinander. Dieser Gedankengang wurde zu einer kraftvollen Bewegung, die das Grundlagendenken des 19. und 20. Jahrhunderts prägte. Eine weitere solche Kraft war die dramatische Entwicklung der Logik und der axiomatischen Methode von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein. Dies umfasste die Einführung der algebraischen Methoden von Boole und De Morgan, die verbesserte Behandlung von Beziehungen durch Peirce, Schröder und Peano, die Ersetzung der Subjekt-Prädikat-Konzeption der Aussagen durch Freges fruchtbarere funktionale Konzeption, sowie die Fortschritte in der Axiomatisierung und der Formalisierung durch die Arbeiten von Frege, Pasch, Peano, Hilbert und insbesondere Whitehead und Russell. Gewisse Entwicklungen in der Mathematik übten ebenfalls einen Einfluss auf die Philosophie aus. Unter diesen ragte die Arithmetisierung der Analysis durch Weierstrass, Dedekind und andere heraus, aber auch die Axiomatisierung der Arithmetik durch Peano und Dedekind. Von etwas geringerer Bedeutung, wenn auch immer noch bedeutend hinsichtlich ihrer Wirkung auf Hilberts Denken waren die Einsteinschen relativistischen Ideen in der Physik. 2. Intuitionismus Eine Gruppe von Ansichten betreffend die Asymmetrie der Geometrie und der Arithmetik tauchte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf. Die Sichtweise der frühen Intuitionisten Brouwer und Weyl bewahrten dabei Kants synthetisches Apriori der Arithmetik. Sie antworteten jedoch auf die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien, indem sie den apriorischen Status jenes Teils der Geometrie bestritten, der durch solche Mittel wie das kartesische Koordinatenkalkül nicht auf die Arithmetik reduziert werden konnte. Sie bewahrten andererseits einen Typ der apriorischen Intuition der Zeit als Grundlage für die arithmetische Erkenntnis. Sie betonten ferner den synthetischen Charakter des arithmetischen Urteils und Schlusses und unterschieden beide scharf vom logischen Urteil und Schluss. Brouwer beschrieb seine Intuition der Zeit als Bewusstsein des Wandels per se, d.h. als die vorrangige innere Bewusstheit des menschlichen Subjekts von dem ‚Abfall‘ eines Lebensmomentes in einen Teil, der entflieht, und einen Teil, der gerade wird. Er meinte, dass man durch den Abstraktionsprozess von dieser grundlegenden Intuition der Zeit zu einem Begriff der ‚bloßen Zwei-Einheit‘ kommen könne, und von diesem Begriff erstens zu den finiten Ordinalzahlen, dann zu den transfiniten Ordinalzahlen, und schließlich zum linearen Kontinuum. Auf diese Weise könnten Teile der klassischen Arithmetik, der Analysis und der Mengenlehre intuitionistisch wieder eingefangen werden. Brouwer modifizierte auf diese Weise Kants intuitive Grundlage der Mathematik. Er modifizierte aber auch dessen Konzeptionen des Erkennens von Existenz. Kant war überzeugt, dass die Menschen eine Erkenntnis von der Existenz nur durch die sinnliche Intuition erhalten können. Nur dies, so meinte er, würde jene Unwillkürlichkeit und Objektivität aufweisen, die uns versichert, dass die Überzeugung betreffend einen Gegenstand nicht nur Zwang oder Einbildung unseres subjektiven 1134
Mathematik, Grundlagen der
Selbst sei. Wie die nachkantischen, romantischen Idealisten glaubten Brouwer und Weyl aber auch an die Erkenntnis der Existenz mittels einer Art von ‚intellektueller Intuition‘, d.h. einer Intuition, die durch einen gänzlich internen Typ mentaler Konstruktion zustande komme. Die frühen Intuitionisten (insbesondere Brouwer und Poincaré) blieben in ihrer Konzeption des mathematischen Denkens kantisch und verstanden dies dem Wesen nach als unterschiedlich im Verhältnis zum ‚diskursiven‘ oder logischen Denken. Brouwer meinte, das logische Denken bilde keine Muster im mathematischen Denken an sich, sondern nur Muster in deren linguistischer Repräsentation. Es weise daher nicht auf die Schlussstrukturen des mathematischen Denkens selbst hin und hätte innerhalb des echten mathematischen Denkens per se keinen Platz. Dies war im Kern die Idee, die Brouwer in seiner ‚Ersten Handlung des Intuitionismus‘ ausdrückte. So verwarfen also die frühen Intuitionisten (insbesondere Brouwer und Weyl, aber in gewissem Umfange auch Poincaré) Kants Auffassung der Geometrie, überarbeiteten seine Konzeption der Arithmetik und der Existenzbehauptungen und bewahrten seine Grundeinstellung gegenüber dem Wesen des mathematischen Denkens und seiner Beziehung zum logischen Denken. Spätere Intuitionisten (z.B. Heyting und Dummett) hielten sich aber nicht mehr an diesen Plan. Sie lehnten Brouwers Sichtweise der Trennung von logischem und mathematischem Denken ab und billigten der Logik einen bedeutenden Platz in ihren Darstellungen des mathematischen Denkens zu. Einige von ihnen (Dummett und seine antirealistischen Nachfolger) gingen sogar so weit die Frage zu stellen, was die Logik des mathematischen Denkens sei, und machten diese Frage zum Zentrum ihrer Philosophie der Mathematik (siehe § 5). 3. Logizismus Die Sichtweise des Logizisten Frege (und in gewissem Umfange auch von Dedekind) akzeptierte Kants synthetisch-apriorische Konzeption der Geometrie, bestand aber darauf, dass die Arithmetik analytisch sei. Russell, ein weiterer Logizist, verwarf Kants Auffassung sowohl von der Geometrie, als auch von der Arithmetik und der reinen Mechanik, und er bekannte sich zur Analytizität der ersten beiden Gebiete (siehe Logizismus). Freges Logizismus unterschied sich scharf vom Intuitionismus. Erstens wies er der Logik einen anderen Platz innerhalb des mathematischen Denkens zu. Frege (in den ‚Grundlagen der Arithmetik‘, Vorwort) bestand darauf, dass das Denken im Wesentlichen überall dasselbe sei, und dass selbst ein Schlussmuster wie das der mathematischen Induktion, das besonders die Mathematik auszeichne, im Grunde rein logischer Natur sei. Zweitens vertrat er eine andere Konzeption der Geometrie. Wie die frühen Intuitionisten betrachtete Frege die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien als die Offenbarung einer wichtigen Asymmetrie zwischen der Arithmetik und der Geometrie. Anders als sie sah er dies jedoch nicht als einen Grund zur Ablehnung von Kants synthetisch-apriorischer Konzeption der Geometrie an (siehe seine ‚Begriffsschrift‘ und die ‚Grundlagen‘), sondern vielmehr als einen Hinweis auf einen fundamentalen Unterschied zwischen der Geometrie und der Arithmetik. Frege war überzeugt, dass der grundlegende Begriff der Arithmetik, nämlich die Größe, sowohl zu durchdringend, als auch zu abstrakt sei, um das Produkt einer 1135
Mathematik, Grundlagen der
kantischen Intuition zu sein. Er tauche in jeder Art des Denkens auf und müsse deshalb, so meinte er, eine Grundlage im Denken haben, die tiefer liege als diejenige der Intuition. Er müsse seine Grundlage genau im Herzen des rationalen Denkens selbst haben, d.h. in den Gesetzen der Logik. Hier nun stellte sich das Problem, den kognitiven Reichtum der Arithmetik auf der Grundlage einer solchen Auffassung darzustellen. Wie können ‚die großen Drei der Wissenschaft von der Zahl‘ (‚Grundlagen‘, § 16) ihre Wurzeln in rein logischen bzw. analytischen ‚Identitäten‘ haben? Frege antwortete hierauf mit neuen Darstellungen sowohl der Objektivität, als auch des Inhalts der Arithmetik. Erstere schrieb er ihrem Gegenstand, den so genannten ‚logischen Gegenständen‘, zu (§§ 26, 27, 105). Letztere leitete er von einer neuen Theorie des Inhalts ab, der den Begriffen die Aufnahme (stillschweigender) Inhalte erlaubte, die für das Verstehen dieser Begriffe nicht notwendig waren. Nach dieser Auffassung kann das analytische Urteil einen Inhalt haben, der für das bloße Verständnis der in ihnen enthaltenen Begriffe nicht notwendig war. Daraus folgte, dass solche Urteile mehr enthalten konnten als nur die Erkenntnis durchsichtiger logischer Identitäten (§§ 64–66, 70, 88, 91). Anders als Kant behauptete Frege dann aber eine wichtige erkenntnistheoretische Asymmetrie zwischen der Geometrie und der Arithmetik, nämlich eine Asymmetrie, die auf seiner Überzeugung beruhte, dass die Arithmetik grundlegender für das menschliche rationale Denken sei als die Geometrie. Hinzu kam, dass er sich von Kant mit seinem Festhalten an einer realistischen Konzeption des arithmetischen Wissens, trotz ihres analytischen Charakters, löste. Er sah die arithmetische Erkenntnis als die Hervorbringung einer Klasse von Gegenständen, den so genannten ‚logischen Gegenständen‘, die zwar außerhalb des Geistes bestünden, aber in einer ganz dichten Beziehung zum Geist stünden und deshalb nicht nur der Ausdruck von Eigenschaften menschlicher Auffassung seien. Die Unterschiede zwischen der arithmetischen und der geometrischen Notwendigkeit von Schlüssen müssten durch eine Trennung der Beziehungen dargestellt werden, die der Geist zu den Gegenständen der Arithmetik unterhält, im Gegensatz zu jenen Beziehungen, die er zu den Gegenständen der Geometrie unterhält. Russells Logizismus unterschied sich wiederum von Freges. Am wichtigsten ist vielleicht, dass Russell die Existenz nichteuklidischer Geometrien nicht als Beweis für eine erkenntnistheoretische Asymmetrie zwischen der Geometrie und der Arithmetik betrachtete. Stattdessen sah er die ‚Arithmetisierung‘ der Geometrie und anderer Gebiete der Mathematik als Beweis für eine erkenntnistheoretische Symmetrie zwischen der Arithmetik und dem Rest der Mathematik an. Russell dehnte damit seinen Logizismus auf die Gesamtheit der Mathematik aus. Die grundlegenden Komponenten seines Logizismus waren demzufolge ein allgemeines methodisches Ideal, jede Wissenschaft bis zu der ihr jeweils größtmöglichen Stufe an Allgemeinheit zu treiben, und eine Konzeption der größtmöglichen Allgemeinheit in der Mathematik, derzufolge diese an einem Punkt läge, wo alle ihre Theoreme in der Form ‚p impliziert q‘ vorliegen, alle ihre Konstanten logische Konstanten und alle ihre Variablen von unbeschränktem Geltungsbereich sind. Theoreme dieser Art, so meinte Russell, würden zu Recht als logische Wahrheiten betrachtet werden. Russells Logizismus beruhte daher auf einer Auffassung der Mathematik, die sie als die Wissenschaft der allgemeinsten formalen Wahrheiten ansah, eine Wissenschaft, deren Undefinierbarkeiten diese Konstanten des rationalen Denkens seien 1136
Mathematik, Grundlagen der
(die so genannten logischen Konstanten), die allüberall anwendbar seien, und deren Unbeweisbarkeiten jene Aussagen seien, die gleichzeitig ihre Undefinierbarkeiten abstecken (Russell 1903: 8). Nach seiner Auffassung liefert nur diese Auffassung eine präzise Beschreibung dessen, was Philosophen meinen, wenn sie die Mathematik als eine notwendige oder apriorische Wissenschaft beschreiben. Russell sprach sich also für die Unbedingtheit der mathematischen Erkenntnis aus, indem er auf ihren logischen Charakter hinwies. Er trat für ihre Reichhaltigkeit prinzipiell durch die Einbeziehung einer neuen Definition der Synthezität ein, die erlaubte, dass alle bis auf die allertrivialsten logischen Wahrheiten und Schlussfolgerungen als aufschlussreich bzw. synthetisch zu gelten hätten. Mathematische Wahrheiten wären demzufolge logische Wahrheiten, sie wären deshalb aber nicht allesamt auch analytische Wahrheiten. Dasselbe gilt für die Schlussfolgerungen. Eine Schlusskette würde als synthetische gelten, solange ihre Konklusion eine andere Aussage darstellt als ihre Prämissen. Kognitiver Reichtum wird von ihm vor allem als die Produktion neuer Aussagen aus alten dargestellt, und nach Russells Konzeption der Annahme eines ausreichend strengen Kriteriums propositionaler Identität könnte sogar noch der rein logische Schluss einen bunten Strauß neuer Erkenntnis aus alter hervorbringen. Russell war damit in der Lage, sowohl die Notwendigkeit, als auch die kognitive Reichhaltigkeit der Mathematik darzustellen, während er gleichzeitig die Mathematik zu einem Teil der Logik machte. Was vorangehende Generationen von Denkern und speziell Kant von der Anerkennung einer solchen Möglichkeit nach seiner Meinung abgehalten hatte, war der relativ dürre Zustand der Logik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die neue Logik mit ihrem robusten Vorrat an neuen Formen, ihren funktionalen Konzeptionen der Aussage und der daraus folgenden vollständigeren Axiomatisierung der Mathematik, die dies ermöglichte, hätte all dies für immer geändert und damit die Argumente für die endgültige Widerlegung von Kant geliefert. So zumindest lautete Russells Position. 4. Hilberts Formalismus Hilbert akzeptierte den synthetisch-apriorischen Charakter großer Teile der Arithmetik und der Geometrie, lehnte aber Kants Darstellung der vermeintlichen Intuitionen ab, auf denen sie beruhen würden (siehe Hilberts Programm und Formalismus). Alles in allem war Hilberts Position in ihrer Beziehung zu Kants Erkenntnislehre komplizierter als jene der Intuitionisten und der Logizisten. Wie Russell verwarf er Kants spezifisch mathematische Erkenntnislehre und insbesondere seine Konzeption des Wesens und Ursprungs ihres apriorischen Charakters. Wie Russell lehnte er ferner die verbreitete nachkantische Überzeugung einer erkenntnistheoretischen Asymmetrie von Arithmetik und Geometrie ab. Hilbert war jedoch insofern einzigartig unter den hier Erwähnten, als er dem Rahmen der allgemeinen kantischkritischen Erkenntnislehre beipflichtete und diesen sogar zu einem zentralen Merkmal seiner mathematischen Erkenntnislehre machte. Genauer gesagt übernahm er Kants Unterscheidung zwischen dem Vermögen des Verstandes und dem Vermögen der Vernunft als dem Leitfaden für seine zentrale Unterscheidung zwischen den so genannten ‚realen‘ und ‚idealen‘ Anteilen an der klassischen Mathematik. Hilbert verstand die von ihm als ‚wirklich‘ bezeichnete Mathematik als etwas, das sich mit den sog. ‚Gestalten‘ der konkreten Zeichen oder Figuren beschäftigt, 1137
Mathematik, Grundlagen der
die in der Intuition gegeben sind und einen Typ der unmittelbaren Erfahrung vor allem Denken bezeichnet (‚Über das Unendliche‘, 1926; ‚Die Grundlagen der Mathematik‘, 1928). Hilbert schlug seine grundlegende Intuition der Gestalt als Ersatz für Kants zwei apriorische Intuitionen des Raumes und der Zeit vor. Wie Kant zuvor seine apriorischen Intuitionen, so betrachtete aber auch Hilbert seine finite Intuition als eine unerlässliche Vorbedingung aller mathematischen (tatsächlich aller wissenschaftlichen) Urteile, und ferner als die letzte Quelle aller echten, apriorischen Erkenntnis (‚Naturerkennen und Logik‘, 1930). Die echten Urteile der wirklichen Mathematik waren solche Urteile, aus denen unser mathematisches Wissen besteht. Die Pseudourteile der idealen Mathematik hatten andererseits eine sinnvolle Funktion in Kants Vernunftideen. Sie beschrieben weder gegenwärtige Dinge dieser Welt, noch bildeten sie eine Grundlage für unsere Urteile in Betreff solcher Dinge. Stattdessen spielten sie eine ausschließlich regulative Führungsrolle bei der wirksamen und geordneten Entwicklung unseres wirklichen Wissens. Hilbert bestätigte daher nicht die Notwendigkeit der Arithmetik oder der Geometrie auf irgendeinem direkten Wege. Stattdessen unterschied er zwei Notwendigkeitstypen, die in beiden wirksam sind. Einer dieser Notwendigkeitstypen, der zu den Urteilen der wirklichen Mathematik gehört, besteht in der (angenommenen) Tatsache, dass die Auffassung gewisser elementarer räumlicher und kombinatorischer Merkmale einfacher, konkreter Gegenstände eine Vorbedingung allen wissenschaftlichen Denkens ist. Der andere Notwendigkeitstyp gehört zu den idealen Teilen der Mathematik und weist eine Art psychologischer Notwendigkeit aus, die sich daraus ergibt, wie unser Geist unvermeidlich bzw. so gut als möglich die Entwicklung unseres wirklichen Wissens entwickelt. Diese Konzeption der Notwendigkeit der Mathematik unterscheidet sich sowohl von der kantischen, als auch von jener der Intuitionisten und der Logizisten. So war also auch Hilberts Sichtweise eine der kognitiven Reichhaltigkeit der Mathematik, die er sowohl auf die objektive Reichhaltigkeit der Formen, als auch auf die kombinatorischen Merkmale konkreter Zeichen, und auf die Fülle unserer Vorstellungen bei der ‚Schöpfung‘ ergänzender idealer Gegenstände zurückführte. In ihrer Gesamtstruktur spiegelt Hilberts mathematische Erkenntnislehre Kants allgemeine kritische Erkenntnistheorie wieder. Dies schließt auch sein so genanntes ‚Konsistenz-Erfordernis‘ ein, d.h. die Voraussetzung, dass das ideale Denken gar nichts gegenüber dem zu beweisen vermag, was durch wirkliche Mittel festgestellt wurde. Dieses Erfordernis spiegelt wiederum Kants Forderung, dass das Vernunftvermögen kein Verstandesurteil produziert, dass nicht grundsätzlich auch allein aus dem Verstand heraus produziert werden könnte (‚Kritik der reinen Vernunft‘, A 328 / B 385). 5. Modifikationen Während der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geriet jedes der vier oben skizzierten nachkantischen Programme unter Kritik. Freges Logizismus wurde durch Russells Paradox in Frage gestellt. Russells Logizismus geriet wegen seiner Verwendung gewisser Existenzaxiome, d.h. seinen Axiomen der Reduzibilität und der Unendlichkeit in Schwierigkeiten, weil diese offenbar keine logischen Gesetze waren. Wiederum beide wurden durch Gödels Unvollständigkeitstheorem heraus1138
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gefordert, genauso wie Hilberts formalistisches Programm. Und schließlich wurden auch die Intuitionisten sowohl philosophisch kritisiert, indem ihr Idealismus in Frage gestellt wurde, als auch mathematisch infolge ihrer Möglichkeit, einen bedeutenden Teil der Mathematik zu bestätigen, der zweifelhaft war. Daraufhin wurden verschiedene Änderungen vorgeschlagen. Modifikationen des Logizismus. Auf der mathematischen Seite kann man in der modelltheoretischen Arbeit von Abraham Robinson und seinen Nachfolgern vielleicht die ‚gestutzten‘ Nachfolger des Logizismus erblicken. Sie interessieren sich für die Bestimmung des mathematischen Inhalts, der latent in den rein ‚logischen‘ Merkmalen verschiedener mathematischer Strukturen verborgen liegt, oder auch für den Umfang, in dem ursprünglich mathematische Probleme, die diese Strukturen betreffen, mit rein logischen Mitteln gelöst werden können, d.h. modelltheoretisch. Sie waren vor allem in ihrer Behandlung verschiedener algebraischer Strukturen erfolgreich. Aber auch philosophisch gab es Versuche zur Erneuerung des Logizismus. Er tauchte in den 1930er und 1940er Jahren als die bevorzugte Philosophie der Mathematik auf Seiten der logischen Empiristen wieder auf. Diese entwickelten jedoch keinen eigenen Logizismus, wie dies Dedekind, Frege und Russell zuvor getan hatten, sondern eigneten sich einfach die technischen Vorarbeiten von Russell und Whitehead an (mit den üblichen Vorbehalten betreffend die Axiome des Unendlichen und der Reduzibilität), und versuchten darüber hinaus, sie in eine insgesamt empiristische Erkenntnislehre einzubetten. Diese empiristische Wende war eine Neuentwicklung in der Geschichte des Logizismus und stellte eine ernsthafte Abwendung sowohl vom ursprünglichen Logizismus von Leibniz (§ 10), als auch von den jüngeren Logizismen von Frege und Dedekind dar. Russells Form des Logizismus hatte er weniger entgegen zu setzen, weil dieser die Mathematik und die empirischen Wissenschaften als etwas ansah, was im Kern von einer induktiven Methode Gebrauch mache (die von ihm so genannte ‚regressive‘ Methode). Wie alle Empiristen kämpften auch die Logischen Empiristen mit dem kantischen Problem, wie man die offenkundige Notwendigkeit der mathematischen Erkenntnis darstellen kann, während sie sich doch auf der anderen Seite in einer so großen kognitiven Fülle zeigt. Ihre Strategie lautete, die Mathematik von allen nichtanalytischen Inhalten zu befreien und gleichzeitig zu beweisen, dass die analytische Wahrheit und Schlussfolgerung substanziell und nicht selbst-evident sein können. Diese Ideen wurden jedoch heftig von W.V. Quine angegriffen, der ihre Schlüsselunterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Wahrheit in Frage stellt. Er argumentierte, dass die grundlegende Einheit der Erkenntnis, d.h. der elementare Baustein unseres Denkens, der vor der Erfahrung Bestand haben muss, die Wissenschaft als Ganzes sei, und dass diese von der empirischen Evidenz als ihrer Rechtfertigung abhänge. Die Mathematik und die Logik würden verwendet, um die empirische Evidenz mit dem Rest der Wissenschaft in Beziehung zu setzen, und so seien beide unentwirrbar miteinander zum Gesamtprodukt der Wissenschaft verbunden. Sie seien damit Teil eines wissenschaftlichen Gesamtkörpers, der sich gegenüber der Erfahrung beweisen müsse, und deshalb gebe es keine klare Trennlinie zwischen den analytischen Wahrheiten der Bedeutung und den synthetischen Wahrheiten der Tatsachen. 1139
Mathematik, Grundlagen der
Während einer relativ kurzen Zeitspanne brachte es Quines Argumentation zu einem relativ großen Einfluss in der Philosophie der Mathematik, und der Logizismus der Logischen Empiristen wurde weitgehend aufgegeben. Immer wieder entstanden jedoch neuere Konzeptionen des Logizismus. Beispielsweise sprach Putnam die für einen Logizisten schwierige Frage der Existenzbehauptungen an, indem er bewies, dass solche Sätze als die Behauptung der möglichen Existenz (im Gegensatz zur wirklichen Existenz) von Strukturen bedeuteten. Sie seien deshalb im Grunde logische Behauptungen und könnten mit logischen (oder metalogischen) Mitteln aufgestellt werden. Hodes nahm demgegenüber eine etwas andere Haltung ein, indem er vorbrachte, dass arithmetische Behauptungen in Sätze der Logik zweiter Ordnung übersetzt werden können, in denen die Variablen zweiter Ordnung für Funktionen und Begriffe (im Gegensatz zu Gegenständen) stehen. Auf diese Weise könnten Bindungen an Mengen und andere spezifisch mathematischen Gegenstände eliminiert und die Arithmetik daraufhin als ein Teil der Logik betrachtet werden. Field präsentierte ebenfalls eine Art logizistischer Sichtweise, derzufolge die mathematische Erkenntnis (zumindest weitgehend) logische Erkenntnis sei. Mathematische Erkenntnis wird von ihm dadurch definiert, dass Wissen, das eine Person, die von der Mathematik weiß, von einer Person trennt, die nur wenig darüber weiß, und er dann behauptet, dass das, was diese beiden Arten von Wissenden trenne, hauptsächlich logisches Wissen sei, d.h. Wissen darüber, was aus was folgt. Modifikationen des Hilbertschen Programms. Auch Hilberts Programm hat immer noch seine Anhänger. Die meisten von ihnen wählten einen von zwei grundlegenden Standpunkten, nämlich entweder den der Ausweitung der Methoden, die zum Beweis der Konsistenz der klassisch-idealen Mathematik zur Verfügung stehen, oder aber jenen einer Einschränkung des Geltungsbereichs und der Stärke der klassisch-idealen Mathematik, so dass ihre Konsistenz (oder die Konsistenz von wichtigen ihrer Teilbereiche) mit jenen elementaren Mitteln direkter bewiesen werden können, die ursprünglich schon Hilbert ins Auge gefasst hatte. Einige Mitglieder der ersten Gruppe, z.B. Gentzen, Ackermann und Gödel, behaupteten, dass es einen Beweistyp gäbe, der den finiten Beweis an Stärke übertreffen würde und gleichzeitig dieselben grundlegenden erkenntnistheoretischen Vorzüge wie dieser hätte. Andere, z.B. Kreisel, Feferman und Sieg, setzten sich für einen Wechsel in der Konzeption dessen ein, was ein Konsistenzbeweis überhaupt leisten soll. Sie meinten, dass seine wesentliche Aufgabe die Realisierung eines Erkenntnisgewinns sei, und dass finite Methoden nicht die einzigen Erkenntniswege seien, mit denen sich die Konsistenz einer Aussage beweisen lasse. Jene der zweiten Gruppe, also die so genannte ‚Schule der umgekehrten Mathematik‘ von Friedman, Simpson und weiteren, versuchten die ‚Kerne‘ der Mathematik in den verschiedenen Gebieten der klassischen Mathematik zu isolieren und die Konsistenz dieser reduzierten Theorien durch finite oder ähnliche Mittel zu beweisen. Bis auf den heutigen Tag wurden bereits bedeutende Fortschritte mit den skizzierten Strategien erzielt (siehe Hilberts Programm und Formalismus). Modifikationen des Intuitionismus. Hinsichtlich des Intuitionismus führte Heytings Arbeit in den 1930er Jahren zur Formalisierung des Intuitionismus und mittels Identifikation seiner Logik zu einem kraftvollen Programm logischer und mathematischer Forschung. Neben Heyting und seinen Studenten weiteten Errett Bishop und
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Mathematik, Grundlagen der
seine Schüler einen konstruktivistischen Ansatz auf Gebiete der klassischen Mathematik aus, auf die er bis dahin noch nicht angewendet worden war. Auf der philosophischen Seite war die vielleicht wichtigste Entwicklung die Konstruktion einer Rechtfertigung des Intuitionismus durch Michael Dummett und seine antirealistischen Schüler auf der Grundlage einer nach ihrer Ansicht besten Antwort auf die Frage ‚Was ist die Logik der Mathematik?‘ Ihre Antwort basiert auf dem, was sie als eine wirkliche Bedeutungstheorie auffassen, nämlich eine Theorie, die im Anschluss an gewisse Ideen, die bereits von Wittgenstein in seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ umrissen wurden, die die Bedeutung eines Ausdrucks mit seinem kanonischen (d.h. konventionell ‚richtigen‘) Gebrauch innerhalb der Praxis, zu der der jeweilige Ausdruck gehört, gleichsetzen. Daraufhin identifizieren sie den kanonischen Gebrauch eines Ausdrucks in der Mathematik mit der Rolle, die er in der zentralen Beweistätigkeit spielt, und von hier aus schließen sie auf eine intuitionistische Behandlung der logischen Operatoren. 6. Jüngere Entwicklungen Parallel zu den Modifikationen der breiteren nachkantischen Standpunkte, die oben beschrieben wurden, verdienen zwei weitere Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Erwähnung. Eine von ihnen ist die Bewegung zum Empirismus, die von Quine ausgelöst wurde, indem er Duhem darin folgte, die Mathematik und die empirischen Wissenschaften zu einer einzigen, großen Begründungseinheit zu verschmelzen, die im Kern von induktiv-empirischen Methoden geleitet ist. Nach dieser Auffassung mag die Mathematik im Ganzen der Falsifikation durch die sinnliche Erfahrung weniger zugänglich sein als die empirischen Wissenschaften; dies sei aber nur ein gradueller, kein wesentlicher Unterschied. Diese Konzeption der Mathematik befreite sie von einem Aspekt der mathematischen Erkenntnistheorie, mit der die Philosophen der Mathematik von Kant an immer wieder gekämpft hatten, nämlich der vermuteten Notwendigkeit der Erkenntnisse der Mathematik. An ihre Stelle tritt eine allgemeine empiristische Erkenntnislehre, in der alle Urteile, also jene der Mathematik und der Logik genauso wie jene der Naturwissenschaften als evidenterweise mit sinnlichen Phänomen verbunden angesehen werden und damit ebenfalls der empirischen Überprüfung unterworfen seien. Zum Abgleich mit der nachklingenden Überzeugung, dass die Mathematik von der empirischen Evidenz in einer Weise unabhängig sei, wie dies bei der Naturwissenschaft nicht der Fall ist, führte Quine eine pragmatische Unterscheidung zwischen beiden ein. Die rationale Überprüfung von Überzeugungen, sagte er, sei von dem praktischen Ziel geleitet, die allgemeine Voraussagbarkeit und Erklärungskraft des jeweiligen Gesamtsystems an Überzeugungen zu maximieren. Ferner würde die Voraussage- und Erklärungskraft allgemein durch Überprüfungsmaßnahmen unterstützt, die die Änderungen zur erfolgreichen Anpassung von bis dahin erfolgreichen Überzeugungssystemen, die auf widersprechende Erfahrung einzugehen hätten, sowohl in ihrem Geltungsbereich, als auch in ihrer Schwere, so gering wie möglich halten. Deshalb sind mathematische und logische Überzeugungen normalerweise in geringerem Maße Gegenstand einer empirischen Überprüfung als Überzeugungen der Naturwissenschaft und des common sense, denn deren allgemeine Revision (die 1141
Mathematik, Grundlagen der
nach Quines Auffassung aber auch nicht vermieden werden kann) gefährdet ein Überzeugungssystem stärker als die Revision des common sense oder der naturwissenschaftlichen Überzeugungen. Die Notwendigkeit der Mathematik passt sich daher in Quines Erkenntnislehre der Naturwissenschaft dadurch an, dass er sie näher an das Zentrum eines ‚Netzes‘ menschlicher Überzeugungen heranschiebt, wo die Überzeugungen seltener einer empirischen Neubewertung ausgesetzt sind als die Überzeugungen der Naturwissenschaften und des common sense, die damit stärker an den Rand dieses Netzes geraten. In Quines Sicht bringt die Verschmelzung der Mathematik und der Naturwissenschaft in ein einziges Überzeugungssystem auch eine realistische Konzeption der Mathematik hervor. Mathematische Sätze müssten demzufolge als wahr behandelt werden, damit sie eine Rolle in diesem System spielen können, und die Welt müsse so betrachtet werden, als würde sie von solchen Entitäten bevölkert, die sich unter den Werten von Variablen wahrer Sätze finden. Mathematische Entitäten seien demzufolge wirklich, weil mathematische Sätze eine integrale Rolle in unserer besten Gesamttheorie der Erfahrung spielen. Quines Ansicht wurde allerdings aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt. Beispielsweise wandte Parsons ein, dass eine Behandlung der elementaren arithmetischen Bereiche der Mathematik als etwas, das erkenntnistheoretisch ebenso wie die Hypothesen der Theoretischen Physik zu behandeln sei, darin versage, eine erkenntnistheoretisch wichtige Unterscheidung zwischen diesen unterschiedlichen Arten von Evidenz zu erfassen, die beide aufwiesen. Sogar hochgradig bestätigte physikalische Hypothesen wie z.B. ‚Die Erde bewegt sich um die Sonne‘ sind eher ‚abgeleiteter‘ Natur, d.h. stärker theoriegeladen als eine elementare arithmetische Aussage wie z.B. ‚7 + 5 = 12‘. Es sei daher nicht plausibel, die beiden Behauptungen als etwas aufzufassen, was auf einem im Wesentlichen gleichen Evidenztyp aufbaue. Aber auch andere Aspekte der Quineschen Position wurden in Frage gestellt. Field und Maddy hinterfragen beispielsweise beide seine Verschmelzung der Mathematik und der Naturwissenschaften, wenn auch auf verschiedenem Wege. Field wendet ein, dass die Naturwissenschaften, die die Mathematik für sich verwenden würden, sie damit auf konservative Weise erweitern würden und so gar keinen Bedarf für ihre Entitäten hätten. Der mathematische Teil der Naturwissenschaften kann daher in einem wichtigen Sinne von den übrigen Teilen abgesondert werden. Maddy untersuchte die Möglichkeit, dass unser Wissen zumindest gewisser mathematischer Gegenstände vielleicht gar nicht so diffus und untrennbar mit dem Gesamtschema unseres naturwissenschaftlichen Wissens verbunden sei, wie Quine dies vermutet hatte. Sie wendet ein, dass die Wahrnehmungserfahrung eng und sehr spezifisch an gewisse mathematische Gegenstände gebunden werden kann, insbesondere an bestimmte Mengen, und zwar so, dass dies mit Quines Holismus nichts zu tun hat. Zusätzlich zu Quine haben wieder andere Denker unterschiedliche Verschmelzungen der Mathematik und der Naturwissenschaften vorgeschlagen. Kitcher stellte beispielsweise eine allgemeine empiristische Erkenntnislehre für die Mathematik vor, in der die Geschichte und die wissenschaftliche Gemeinschaft wichtige epistemische Kräfte sind. Gödel argumentiert andererseits, dass die Mathematik wie die Naturwissenschaften von etwas Gebrauch machen würden, was im Grunde eine induktive Rechtfertigung sei, wenn damit strukturhöhere mathematische Hypothesen auf der Grundlage ihrer explanatorischen oder vereinfachenden Wirkungen auf 1142
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strukturtiefere mathematische Wahrheiten und auf die Physik gerechtfertigt würden. Er gab jedoch zu, dass nur einige unserer mathematischen Erkenntnisse aus empirischen Quellen entwüchsen und betrachtete die Idee als absurd, dass dies für alle Erkenntnisse der Fall sei. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf die jüngere Philosophie der Mathematik ist Benacerrafs ‚Mathematische Wahrheit‘ (1973). In diesem Buch trägt er vor, dass die Philosophie der Mathematik vor einem allgemeinen Dilemma steht. Sie müsse sowohl die mathematische Wahrheit, als auch die Erkenntnis erklären. Ersteres scheint abstrakte Gegenstände zu erfordern, wie z.B. die Referenten singulärer Terme im mathematischen Diskurs. Letzteres scheint auf der anderen Seite zu erfordern, dass wir genau solche Referenten vermeiden. Es gibt mathematische Erkenntnistheorien (z.B. einige platonische), die eine plausible Darstellung der Wahrheit mathematischer Sätze zulassen. Entsprechend gibt es jene (z.B. verschiedene formalistische Ansätze), die eine plausible Darstellung dessen zulassen, wie wir zur Erkenntnis mathematischer Sätze kommen. Leider bietet aber keine der bekannten Erkenntnislehren beides. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde ein großer Teil der Bemühungen zur Lösung dieses Dilemmas aufgewendet. Field, Hellman und Chihara bemühen sich um antiplatonische Lösungen. Maddy versucht sich andererseits gleichzeitig an platonischen und naturalistischen Ansätzen. Bis auf den heutigen Tag ist kein allgemeiner Konsens darüber in Sicht, welche Herangehensweise aussichtsvoller ist. Ein früheres Argument von Benacerraf (siehe Benacerraf, 1965) war sehr einflussreich für die nachfolgenden Arbeiten. Seine hauptsächliche Inspiration bezog er aus einer Position, die als ‚Strukturalismus‘ bekannt ist, d.h. der Auffassung, dass mathematische Gegenstände im Wesentlichen Positionen in Strukturen sind und keine weitere, wichtige interne Zusammensetzung oder Beschaffenheit aufweisen. Abgesehen von dem Wunsch nach einer deskriptiv passenderen Darstellung der Mathematik ist das Hauptanliegen des Strukturalismus erkenntnistheoretischer Natur. Wissen um die Merkmale individueller abstrakter Gegenstände scheint Erkenntniskräfte zu erfordern, die naturalistisch nicht erklärt sind. Die Erkenntnis zumindest einiger Strukturen würde sich andererseits als erklärbar erweisen, wenn man sie als das Ergebnis der Anwendung solcher klassisch-empiristischer Erkenntnismittel sehen würde, und damit als Abstraktionen beobachtbarer physikalischer Komplexe. Strukturen, die mittels Abstraktion zum Teil eines allgemeinen Denkrahmens werden, können ausgedehnt und auf vielerlei Art und Weise verallgemeinert werden, wenn man das einfachste und insgesamt wirksamste begriffliche Schema sucht. Der Strukturalismus als eine allgemeine Philosophie der Mathematik wurde von Parsons kritisiert, der einwandte, dass es wichtige mathematische Gegenstände gebe, die sich im Strukturalismus nicht angemessen darstellen lassen. Dies sind die ‚quasi-konkreten‘ Gegenstände der Mathematik, d.h. Gegenstände, die direkt durch konkrete Objekte ‚instantiiert‘ oder ‚dargestellt‘ werden (z.B. geometrische Figuren und Symbole wie die so genannten ‚Strichzahlen‘ in Hilberts finitistischer Arithmetik, wo diese als Typen konstruiert werden, deren Instanzen geschriebene Zeichen oder Symbole oder ausgestoßene Laute sind). Solche Gegenstände können nicht auf eine rein strukturalistische Weise behandelt werden, weil ihre ‚darstellende‘ Funktion nicht auf die rein innerstrukturellen Beziehungen reduziert werden kann, die sie im Verhältnis zu anderen Gegenständen innerhalb eines gegebenen Systems aufwei-
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Maxwell, James Clerk (1831–1879)
sen. Gleichzeitig gehören sie aber zu den elementarsten und wichtigsten mathematischen Entitäten, die es überhaupt gibt. Siehe auch: Dedekind, J.W.R.; Beweistheorie Anmerkungen und weitere Lektüre: Benacerraf, P. (1965): ‚What Numbers Could not Be‘, Philosophical Review 74: 47–73. (Eine strukturalistische Darstellung, derzufolge die Arithmetik keine Wissenschaft einzelner Gegenstände, nämlich der Zahlen, ist, sondern vielmehr eine Wissenschaft, die sich mit der Struktur beschäftigt, die alle arithmetischen Reihen gemeinsam aufweisen. Dedekind argumentierte bereits ein Jahrhundert zuvor in diese Richtung.) Heijenoort, J. van (Hrg.) (1967): ‚From Frege to Gödel: A Source Book in Mathematical Logic, 1879–1931.‘ Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Eine Sammlung grundlegender Aufsätze der mathematischen Logik und der Grundlagen der Mathematik. Enthält nützliche Vorworte und Bibliographien.) Russell, B.A.W. (1903): ‚Principles of Mathematics‘. Cambridge: Cambridge University Press; 2. Aufl., London: Allen & Unwin, 1937; Neudruck: London: Routledge, 1992. (Russells erste vollständig durchgeführte Entwicklung seines logizistischen Standpunktes.) MICHAEL DETLEFSEN
Maxwell, James Clerk (1831–1879)
Für seine beiden Leistungen der Vereinheitlichung der Elektrizität, des Magnetismus und des Lichts, und der Erfindung der statistischen Dynamik gilt Maxwell als der Begründer der modernen theoretischen Physik. Mehr als jeder andere Physiker war er auch in der Philosophie sehr bewandert und geübt, auch wenn er, anders als beispielsweise Heinrich Hertz oder Ernst Mach, niemals eine philosophische Abhandlung schrieb. Machs und Hertz’ wertvollste Entdeckungen haben allerdings nichts mit der Metaphysik zu tun, während Maxwells Entdeckungen starke metaphysische Rückbindungen haben. Philosophisch besonders wichtig sind seine miteinander verbundenen Verwendungen der Beziehung, der Analogie und der Klassifizierung. Auf ihn geht auch die Einführung des Wortes ‚Relativität‘ in die Physik zurück, sowie die Artikulation der wissenschaftlichen Problematik, die zu Einsteins Theorie führte. C.W.F. EVERITT
Mead, George Herbert (1863–1931)
Zusammen mit Charles S. Peirce, William James und John Dewey wird George Herbert Mead als einer der klassischen Vertreter des amerikanischen Pragmatismus betrachtet. Er ist insbesondere für seine Ideen über die Besonderheit der menschlichen Kommunikation und Sozialität bekannt geworden, sowie über jene zur Entstehung des personalen Selbst in der kindlichen Entwicklung. Mit der Entwicklung dieser Ideen wurde Mead zu einem der Begründer der Sozialpsychologie, und vor allem durch seinen Einfluss auf Schulen des symbolischen Interaktionismus, zu einer der einflussreichsten Figuren der zeitgenössischen Soziologie. Im Vergleich mit diesem enormen Einfluss auf den genannten Gebieten werden andere Teile seines philosophischen Werkes relativ vernachlässigt. Siehe auch: Kommunikation und Intention; Kommunikative Rationalität; Pragmatismus HANS JOAS 1144
Medizinische Ethik
Medizinische Ethik
Die medizinische Ethik beschäftigte sich einst mit den professionellen Pflichten der Ärzte, was sich in Verhaltensregelwerken wie dem antiken hippokratischen Schwur niederschlug und von den jeweils zeitgenössischen professionellen Gemeinschaften umgesetzt wurde. Heute ist dieser Gegenstand eine weite und nur lose definierte Sammlung von Fragen zur Moral und Gerechtigkeit in der Gesundheit, dem Gesundheitswesen und damit zusammenhängenden Gebieten. Der Ausdruck ‚Bioethik‘ wird z.B. häufig mit wechselnden Bedeutungen gebraucht, obwohl er auch noch in seiner ursprünglich sehr weiten Bedeutung verwendet wird und die Fragen der Ökologie mit einschließt. Der Bereich dessen, was die ‚medizinische Ethik‘ betrifft, beginnt mit der Beziehung vom Arzt zum Patienten, einschließlich solcher Fragen wie die Zustimmung zu Behandlungen, die Mitteilung auch unangenehmer Wahrheiten, den Paternalismus, die Vertraulichkeit und die Behandlungspflicht. Spezielle moralische Unsicherheit entsteht in Zusammenhängen, die eine geteilte Treuepflicht von mehreren beteiligten Ärzten verlangen, wie z.B. bei medizinischen Experimenten an Menschen, öffentlichen Gesundheitsnotfällen und profitabler Medizin (wie z.B. bei kosmetischen Operationen). Fragen der medizinischen Ethik entstehen auf jeder Stufe des Lebens, beginnend mit dem Schicksal eines genetisch missgebildeten Neugeborenen bis zur Zurückhaltung von lebensnotwendigen Therapien bei sehr alten Menschen. Die medizinischen Praktiken im Umgang mit Patienten, die womöglich nicht kompetent sind, um ihre eigenen medizinischen Entscheidungen zu treffen, einschließlich der Kinderärzte und Psychiater, wirft eine ganz bestimmte Gruppe ethischer Fragen auf, genauso wie die medizinische Genetik, die Fragen der Wahl mit sich bringt, die künftige Familienmitglieder und Nachkommen in utero betreffen. Kürzlich hat die medizinische Ethik ihren Horizont über den individuellen Arzt oder die einzelne Krankenschwester hinaus erweitert und schließt jetzt auch die Organisation, das Funktionieren und die Finanzierung des gesamten Gesundheitssystems als Ganzes mit ein, einschließlich schwieriger theoretischer und praktischer Ungewissheiten betreffend die faire Allokation von Gesundheitsressourcen. Die medizinische Ethik ist zugleich ein Studiengebiet und eine Reformbewegung. Letztere sorgte in vielen Ländern für öffentliche Aufmerksamkeit wegen der Patientenrechte, einer besseren Pflege der Sterbenden und der Freiheit der Frauen in Reproduktionsentscheidungen. Als Bereich der Gelehrsamkeit spricht die medizinische Ethik diese und viele andere Fragen an, ist aber nicht durch Positionen definiert, die der eine oder andere Beteiligte daran einnimmt. Obwohl Ethiker häufig eine Betonung des informierten Konsens bevorzugen und dem Paternalismus widersprechen, ferner häufig auf die Zulässigkeit einer Beendigung von lebensverlängernden Maßnahmen drängen (oder die Wahl des Selbstmordes befürworten) und den Schutz des Menschen vor Experimenten vertreten, um nur einige Beispiele zu nennen, findet sich in der Literatur der medizinischen Ethik doch auch eine breite Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte zu diesen Fragen. DANIEL WILDER
Mehrdeutigkeit
Siehe: Uneindeutigkeit
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Mehrwertige Logik
Mehrwertige Logik
Die mehrwertige Logik kann von der klassischen Logik allein nach semantischen Kriterien unterschieden werden. Eine der vereinfachenden Annahmen, auf denen die klassische Logik basiert, ist die These der Zweiwertigkeit, die besagt, dass es nur zwei Wahrheitswerte gibt, nämlich wahr und falsch. Jeder Satz muss demzufolge entweder den einen oder den anderen Wert annehmen. Die mehrwertige Logik weist diese These der Zweiwertigkeit zurück und erlaubt mehr als zwei Wahrheitswerte. CHARLES G. MORGAN
Mehrwertige Logik, Philosophische Fragen der
Die erste philosophisch motivierte Verwendung von mehrwertigen Wahrheitswerttabellen entstand mit Jan Łukasiewicz in den 1920er Jahren. Łukasiewicz war besorgt, weil das Prinzip der Zweiwertigkeit in der Formulierung ‚Jede Aussage ist entweder wahr oder falsch‘ eine unerwünschte Bindung an den Fatalismus, d.h. an eine vollständige Bestimmtheit des Weltverlaufs, mit sich bringt. Sollten nicht Aussagen über die Zukunft, deren eventuelle Wahrheit oder Falschheit von den Handlungen freier Akteure abhängen, ‚unbestimmt‘, und somit nicht bereits als endgültig wahr oder falsch determiniert sein? Zur Einfügung dieser Idee in den sprachlichen Kontext der Aussagenlogik (mit ihren Konjunktionen, Disjunktionen, Implikationen und Negationen) müssen wir zeigen – sofern der übliche Stil der Behandlung solcher Konnektive in zweiwertigen Umgebungen weiter verfolgt werden soll – wie der Status einer zusammengesetzten Formel durch den Status ihrer Bestandteile bestimmt werden kann. Łukasiewicz’ Entscheidung, wie geeignete dreiwertige Wahrheitsfunktionen auszusehen hätten, ist in Wahrheitstafeln festgehalten, in denen die bestimmte Wahrheit und Falschheit durch ‚1‘ und ‚3‘ dargestellt werden, und die Unbestimmtheit durch ‚2‘. Man bedenke nun z.B. die Formel A ∨ B (‚A oder B‘), wenn A den Wert 2 und B den Wert 1 hat. Der Wert von A ∨ B ist dann ‚1‘, und dies mit Grund, denn wenn A’s schlussendliche Wahrheit oder Falschheit davon abhängt, wie die Menschen aus freiem Entschluss handeln, aber B bereits abschließend wahr ist, dann ist A ∨ B schon unabhängig von einer solchen freien Handlung wahr. Es gibt keine Beschränkungen hinsichtlich der Werte, die einer Aussagenvariablen zugewiesen werden. Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ist für den Fall der Unbestimmtheit außer Kraft gesetzt: wenn p der Wert 2 zugewiesen wird, dann hat auch p ∨ ¬p den Wert 2. Dies spiegelt Łukasiewicz’ Idee, dass solche Disjunktionen wie in dem Satz: ‚Entweder werde ich in einem Flugzeugabsturz am 1. Januar 2030 sterben, oder ich werde nicht in einem Flugzeugabsturz am 1. Januar 2030 sterben‘ gar nicht als logische Wahrheiten aufgefasst werden sollten, oder man verfällt wieder in die fatalistischen Bindungen, die bereits angesprochen wurden. Zusammen mit der Wahl besonders gekennzeichneter (‚designierter‘) Elemente, deren Rolle die Gültigkeitsbestimmung ist, die in der zweiwertigen Logik den Begriff der Wahrheit spielt, bilden Łukasiewicz’ Tabellen eine logische Matrix. Eine alternative Drei-Elemente-Matrix, die sog. ‚1-Kleene-Matrix’, die das Identitätspostulat in Form von ‚2 → 2 = 2‘ voraussetzt, lässt alles Übrige unverändert. Und eine dritte solche Matrix, die sog. ‚1,2-Kleene-Matrix‘ unterscheidet sich von der anderen dadurch, dass sie die Wertelemente {1, 2} als designiert annimmt, und nicht nur
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Meinong, Alexius (1853–1920)
{1}. Die 1-Kleene-Matrix wurde für die Semantik der Unklarheit vorgeschlagen. Im Falle eines Satzes, der ein unklares Prädikat enthält wie z.B. ‚jung‘ in Bezug auf einen einzelnen Gegenstand, lautet die Idee, dass, wenn dieser Gegenstand ein Grenzfall des Prädikates (z.B. nicht abschließend jung, aber auch nicht abschließend nicht-jung) ist, dann der Wert 2 angebracht ist, während 1 und 3 für definitive Wahrheiten und Falschheiten reserviert sind. Łukasiewicz erforschte auch als eine Art technischer Kuriosität n-wertige Tabellen, die auf demselben Modell beruhten, und zwar für höhere Wert von n, sowie gewisse unendlich vielwertige Tabellen. Variationen dieses Themas haben zur Anerkennung so vieler Werte geführt, wie es reale Zahlen gibt, was für den Begriff der Unklarheit und die Näherungsweisen im Denken von Bedeutung ist. Siehe auch: Intuitionismus; Łukasiewicz, J.; Mehrwertige Logik LLOYD HUMBERSTONE
Meinong, Alexius (1853–1920)
Meinong war ein österreichischer Philosoph und Psychologe, der an der Universität von Graz lehrte. Er trug Wesentliches zur Psychologie, zur Erkenntnistheorie, zur Werttheorie, der Ethik und der Wahrscheinlichkeitstheorie bei, ist jedoch am bekanntesten geworden für seine Gegenstandstheorie, in der er sich für den radikalen Standpunkt einsetzt, dass es Gegenstände gibt, die keinerlei Sein aufweisen, einschließlich unmöglicher Gegenstände. Meinong beeinflusste Russell und die amerikanischen ‚Neuen Realisten‘. Obwohl er weithin abgelehnt wurde, erwies es sich jedoch als schwierig seine Positionen abschließend zu widerlegen, und er fand auch die Sympathie und Unterstützung einer Reihe von Logikern und Philosophen. PETER SIMONS
Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit ist eines der am meisten akzeptierten Prinzipien des modernen politischen und sozialen Lebens. Die drei zu seiner Rechtfertigung üblicherweise angeführten Argumente sind, a) dass sie wesentlich der Ermittlung der Wahrheit dient, b) dass sie ein grundlegender Bestandteil der Demokratie ist, und c) dass sie entscheidend für den Erhalt der menschlichen Würde und des menschlichen Wohlergehens ist. Ihre Fürsprecher weisen auch auf die Gefahren hin, die es mit sich bringt, wenn Regierungen die Kontrolle darüber erlaubt ist, was gesagt oder gehört werden darf. Es herrscht aber auch allgemeine Einigkeit darin, dass die Meinungsfreiheit gewisse Grenzen hat. Die meisten zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die Meinungsfreiheit betreffen diese Grenzen. Einige konzentrieren sich dabei darauf, was als Meinungsäußerung gelten soll, andere auf den Schaden, den eine Meinungsäußerung anrichten kann. PETER JONES
Meister Eckhart (ca. 1260–1327/1328)
Mehr als jeder andere mittelalterliche Denker erfuhr das Werk von Meister Eckhart weit auseinander gehende Interpretationen. Die Kontroversen um ihn lassen sich dadurch verstehen, dass seine Schriften in zwei verschiedene Gruppen fallen, die einen in Mundart geschrieben, und die anderen auf Lateinisch. Die deutschen Schriften, die für eine größere Leserschaft bestimmt waren, etablierten Eckharts dauerhaften Ruhm als Mystiker. Ein anderer und stärker akademisch geprägter Eckhart tauchte jedoch auf, als sein lateinisches Werk im Jahre 1886 wieder entdeckt wurde. 1147
Melanchthon, Philipp (1497–1560)
Das Studium von Eckharts Denken zentriert sich heute auf die Einheit des scholastischen, d.h. lateinischen, und des populären, d.h. deutsch geschriebenen Werkes. Siehe auch: Gott, Begriffe von JAN A. AERTSEN
Melanchthon, Philipp (1497–1560)
Phillip Melanchthon war einer von Luthers engsten Verbündeten, der bei der Systematisierung der Lutherischen Theologie half. Seine ‚Loci communes‘ (dt.: ‚Gemeinplätze‘, 1521) gehörten zu den einflussreichsten Werken der frühen protestantischen Theologie. Er übte oft einen mäßigenden Einfluss auf die theologischen Debatten zwischen Katholiken und Protestanten aus. Melanchthon war ferner auch an der Kontroverse über die Beziehung zwischen dem menschlichen Willen und Gottes Gnade zur Erlangung der Erlösung beteiligt. Er ist der Urheber der Reform der protestantischen deutschen Ausbildung im 16. Jahrhundert infolge der Abfassung einer großen Anzahl von Lehrbüchern, die er schrieb, und infolge der Überarbeitung der Universitätsstatuten (vor allem in Wittenberg) und anderer Ausbildungsstätten. Als Gelehrter und Ausbildungsreformer war er ein treuer Anhänger des Humanismus von Agricola und Erasmus und dadurch der Lehre der hervorragendsten lateinischen Autoren und der griechischen Sprache verpflichtet. Viele seiner Werke sind Lehrbücher, die er häufig in unterschiedlichen Fassungen produzierte, und die zumeist auf Vorlesungsnotizen basierten, wobei er klassische Autoren oder Schriften zusammenfasste oder kommentierte. Obwohl er in dieser Hinsicht und als Verbreiter dieser Texte wichtiger war, als durch die Entwicklung eigener, neuer Ideen, leistete Melanchthon doch auch wichtige Beiträge zur Entwicklung der Logik, der Rhetorik, der Ethik und der Psychologie, sowie zu einigen Aspekten der Reformationstheologie. In der Logik förderte er das Interesse an der logischen Methodik. In der Ethik verschaffte er der klassischen Morallehre neben der Bibellehre einen Platz, auch wenn erstere der Letzteren untergeordnet war. Sein bevorzugter Philosoph war Aristoteles, und er neigte manchmal zur Verächtlichkeit gegenüber rivalisierenden antiken Philosophieschulen. In der Psychologie favorisierte er einen vereinfachten Aristotelismus, der nahe der mittelalterlichen Vermögenspsychologie angesiedelt war, und betonte stark die Beziehungen von Psychologie und Biologie. Dem Skeptizismus widersprach er, wo immer er auf ihn stieß. Siehe auch: Erasmus, D.; Humanismus in der Renaissance; Luther, M.; renaissance-Philosophie PETER MACK
Mencius (4. Jh. v.Chr.)
Mencius (Mengzi) war ein chinesischer konfuzianischer Philosoph, der vor allem durch seine Behauptung bekannt wurde, dass das Wesen des Menschen gut sei. Er ist wahrscheinlich als Einzelperson der einflussreichste chinesische Philosoph, insofern eine Interpretation seines Denkens seit dem 14. Jahrhundert die Grundlage der Beamtenprüfung in China wurde und dies für fast 600 Jahre blieb. Die primäre Quelle seines Denkens sind die Sammlungen seiner Sprüche, Debatten und Diskussionen, die unter dem Titel ‚Mengzi‘ bekannt sind. Siehe auch: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Tugenden und Laster BRYAN W. VAN NORDEN
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Mendelssohn, Moses (1729–1786)
Mendelssohn, Moses (1729–1786)
Als jüdischer Schüler von Leibniz und Wolff strebte Mendelssohn sein ganzes Leben hindurch nach einer Aufrecherhaltung und Stärkung ihrer rationalistischen Metaphysik, während er gleichzeitig seiner angestammten Religion treu blieb. Seine wichtigste philosophische Aufgabe war nach seiner Auffassung die Verfeinerung und überzeugendere Darstellung der philosophischen Beweise für die Existenz Gottes, der Vorsehung und der Unsterblichkeit. Seine größte Abweichung von Leibniz bestand in der Betonung des Umstandes, dass ‚die beste aller Welten‘, die Gott geschaffen hatte, sich den Menschen gegenüber tatsächlich freundlicher zeigte, als Leibniz dies angenommen hatte. Gegen Ende seines Lebens erschütterte der Irrationalismus von Jacobi und die kritische Philosophie Kants seinen Glauben in die Beweisbarkeit der fundamentalen metaphysischen Gebote, nicht aber sein Vertrauen in ihre Wahrheit. Er argumentiert, dass sie so lange vom Alltagsverstand bestätigt werden müssten, bis zukünftige Philosophen der Metaphysik endlich wieder ihre frühere Größe zurückgeben würden. Während er Wolffs teleologisches Verständnis des menschlichen Wesens und des Naturrechts akzeptierte, legte Mendelssohn doch viel größeren Wert auf die menschliche Freiheit und entwarf eine politische Philosophie, die die Freiheit des Bewusstseins schützte. Seine philosophische Verteidigung seiner eigenen Religion betonte, dass der Judaismus keine ‚offenbarte Religion‘ sei, die eine Akzeptanz bestimmter Dogmen bzw. Lehren erfordere, sondern eine ‚offenbarte Gesetzgebung‘, die die Durchführung bestimmter Handlungen nach sich ziehe. Gegenstand dieser göttlichen und immer noch gültigen Gesetze sei es häufig, so meinte er, solchen Kräften entgegenzuwirken, die ansonsten die natürliche Religion untergraben würden, die uns durch die Vernunft gegeben sei. Zur Auflösung der Spannung zwischen seinem eigenen politischen Liberalismus und der biblischen Bejahung der Anwendung von religiösem Zwang argumentierte Mendelssohn, dass der zeitgenössische Judaismus in keinem Falle mehr die Autorität irgendeiner Person anerkennen würde, auf deren Grundlage sie jemand anderes zur Ausübung religiöser Handlungen zwingen könne. Siehe auch: Leibniz, G.W.; Wolff, C. ALLAN ARKUSH
Meng Ki / Mengzi Siehe: Mencius
Mengenlehre
Im späten 19. Jahrhundert schuf Georg Cantor mehrere mathematische Theorien, zunächst einer der Mengen oder Aggregate reeller Zahlen oder linearer Punkte, und später von Mengen oder Aggregaten beliebiger Elemente. Die Beziehung von Element a zur Menge A schreibt man seitdem: a ∈ A. Sie ist zu unterscheiden von der Beziehung der Untermenge B zur Menge A, die besteht, wenn jedes Element von B auch ein Element von A ist. Diese Beziehung schreibt man: B ⊆ A. Cantor wurde berühmt für seine Theorie der transfiniten Kardinalzahlen bzw. der Elementanzahlen in unendlichen Mengen. Eine Untermenge einer unendlichen Menge kann dieselbe Anzahl von Elementen wie die Obermenge selbst haben, und Cantor bewies, dass die Mengen der natürlichen und rationalen Zahlen dieselbe Anzahl von Elementen aufweisen; diese nannte er ℵ0, und bewies auch, dass die Mengen der reellen und komplexen Zahlen dieselbe Anzahl Elemente haben, die er c nannte. Cantor bewies,
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Mengenlehre
dass ℵ0 kleiner als c ist. Er vermutete, dass keine Menge eine Anzahl Elemente aufweist, die genau zwischen diesen beiden Größen liegt. Im frühen 20. Jahrhundert und als Erwiderung auf die Kritik an der Mengelehre unternahm Ernst Zermelo deren Axiomatisierung, und mit den Nachbesserungen von Abraham Fraenkel sind diese die seitdem akzeptierten Axiome der Mengenlehre. Sie helfen bei der Unterscheidung des Begriffs der Menge, der zu grundlegend ist, um auf informative Weise definiert werden zu können, von anderen Begriffen des Einen, das auf Vielem besteht, die bereits zuvor in der Logik und in der Philosophie betrachtet worden waren. Eigenschaften, die in genau denselben Einzeldingen instantiiert sind, müssen deshalb nicht identisch sein, während Mengen, die exakt dieselben Elemente aufweisen, infolge des Extensionalitätsaxioms identisch sind. Daher gibt es für irgendeine Bedingung Φ höchstens eine Menge {x | Φ(x)}, deren Elemente alle und nur solche x sind, dass Φ(x) gilt sowie {x | Φ(x)} = {x | Ψ(x)}, wenn und nur wenn die Bedingungen Φ und Ψ genau für dieselben x gelten. Man kann nicht konsistent davon ausgehen, dass {x | Φ(x)} für jede Bedingung Φ gilt. Umgekehrt wird nicht angenommen, dass die Existenz einer Menge von der Möglichkeit ihrer Definition durch eine Bedingung Φ als {x | Φ(x)} abhängt. Eine Menge x0 kann Element einer weiteren Menge x1 sein, die wiederum Element einer Menge x2 ist, und so fort: x0∈x1∈x2∈…, aber die umgekehrte Situation … ∈x2∈x1∈x0 kann durch das sog. Fundierungsaxiom1 ausgeschlossen werden. Daraus folgt, dass keine Menge sich selbst als Element enthalten kann, und dass es keine universale Menge y = {x | x = x} gibt. Während der Teil eines Teils eines Ganzen selbst ein Teil dieses Ganzen ist, muss das Element eines Elements einer Menge nicht ein Element dieser Menge sein. Die moderne Mathematik wurde enorm von der Mengenlehre beeinflusst, und Philosophien, die letztere ablehnen, müssen daher auch große Teile der Mathematik ablehnen. Viele mengentheoretische Notationen und Ausdrücke finden sich sogar außerhalb der Mathematik und werden auch häufig in der Philosophie verwendet: Paar {a,b} { x | x = a oder x = b} Singleton1 {a} { x | x = a} Leermenge ∅ { x | x ≠ a} { a | a ∈ A für eine beliebige Menge A ∈ X} Vereinigungsmenge ∪X Binäre Vereinigung A ∪ B { a | a ∈ A oder a ∈ B} { a | a ∈ A für jede Menge A ∈ X} Schnittmenge ∩ X Binäre Schnittmenge A ∩ B { a | a ∈ A und a ∈ B} Differenzmenge A – B { a | a ∈ A und nicht a ∈ B} Komplentärmenge A–B Potenzmenge ℘(A) {B | B ⊆ A} (In Zusammenhängen, wo nur Untermengen von A betrachtet werden, kann ‚A – B’ auch ‚– B’ geschrieben und das Komplement von B genannt werden.) Während die akzeptierten Axiome als Grundlage für die Entwicklung nicht nur der Mengenlehre an sich, sondern auch der modernen Mathematik insgesamt genügen, hinterlassen sie doch einige unbeantwortete Fragen betreffend die transfiniten 1
Ein Singleton ist eine Menge mit nur einem Element.
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Mereologie
Kardinalzahlen. Der Status solcher Fragen bleibt bis auf weiteres ein Thema der logischen Forschung und der philosophischen Auseinandersetzung. Siehe auch: Cantors Theorem JOHN P. BURGESS
Mengentheoretische Paradoxa
Siehe: Paradoxa, Mengentheoretische
Menschliche Natur
Siehe: Natur des Menschen
Mentale Verursachung
Siehe: Geistige Verursachung
Mereologie
Die Mereologie ist die Theorie der Beziehung des Teiles zum Ganzen oder der davon abgeleiteten Operationen, wie z.B. die mereologische Summe. (Die Summe mehrerer Dinge ist das kleinste Ding, von dem sie alle Teile sind.) Diese Theorie wurde von Leśniewski eingeführt, um Russells Paradox zu vermeiden. Anders als die Beziehung eines Mengenelements zu einer Menge ist die Beziehung des Teils zum Ganzen transitiv. Dies macht die Mereologie wesentlich schwächer als die Mengenlehre, hat aber den Vorzug der ontologischen Sparsamkeit. Beispielsweise kennt die Mereologie nicht die Wucherung von Entitäten, die man in der Mengenlehre findet, wie z.B. ∅, {∅}, {{∅}}, {{{∅}}}, … Die Mereologie hat Kontroversen hervorgerufen, z.B. darüber, ob Dinge wirklich eine mereologische Summe bilden, wenn sie entweder verstreut gegeben sind, oder noch schwieriger, wenn sie aus unterschiedlichen Kategorien zusammengesetzt sind, ferner über die Eindeutigkeit der Summen, und über die Behauptung Lewis, dass die nichtleeren Untermengen von Mengen im wörtlichen Sinne Teile von ihnen sind. Siehe auch: Strukturalismus PETER FORREST
Merleau-Ponty, Maurice (1908–1961)
Merleau-Ponty gehört zu jener Gruppe französischer Philosophen, die die französische Philosophie der frühen Nachkriegszeit umformten, indem sie die phänomenologischen Methoden der deutschen Philosophen Edmund Husserl und Martin Heidegger in die französische Philosophie einbrachten. Sein zentrales Interesse galt der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ (was auch der Titel seines bedeutendsten Werkes ist), und seine Originalität liegt in der Darstellung der Rolle der körperlichen Sinnesorgane in der Wahrnehmung. Dies führte ihn zur Entwicklung einer phänomenologischen Behandlung der subpersonalen Wahrnehmungen, die bei den körperlichen Bewegungen eine zentrale Rolle spielen. Diese Darstellung der subpersonalen Aspekte des Lebens befähigten ihn wiederum zu einer berühmten Kritik an Sartres Konzeption der menschlichen Freiheit, die er als eine Illusion betrachtete, die durch eine überzogene Aufmerksamkeit für das Bewusstsein zustande kommt. Dennoch arbeiteten er und Sartre viele Jahre in Themen der französischen Politik zusammen, bis Merleau-Ponty am orthodoxen Marxismus-Leninismus der französischen kommunistischen Partei auf eine Weise verzweifelte, wie es Sartre, der ihr weiterhin treu blieb, nicht erlebte. Neben zahlreichen und wesentlichen politischen
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Metapher
Aufsätzen schrieb Merleau-Ponty auch über Themen der Kunst, der Anthropologie und insbesondere der Sprache. Als er starb, waren einige wichtige Werke noch unvollendet. Obwohl sein Werk innerhalb des französischen akademischen Establishments noch geschätzt wird, ist sein Einfluss in Frankreich doch bereits verblasst, weil man dort dazu neigte, allein seine deutschen Vordenker bis hin zum Ausschluss alles anderen zu studieren. Doch an anderen Orten, vor allem in den USA, wird MerleauPontys Werk nach wie vor viel gelesen, insbesondere jetzt, wo Fragen über die Unterscheidung zwischen personalen und subpersonalen Aspekten des Lebens wieder eine prominente Rolle spielen. Siehe auch: Idealismus; Marxismus, Westlicher; Phänomenologische Bewegung THOMAS BALDWIN
Messproblem der Quanten
Siehe: Quantenmessproblem; Masstheorie
Metapher
Nach den Definitionen üblicher Wörterbücher ist die Metapher ‚eine Redefigur, in der ein Wort oder eine Wendung wörtlich eine Art von Gegenstand anstelle eines anderen bezeichnet, um auf eine Ähnlichkeit zwischen ihnen hinzuweisen‘. Obwohl die theoretische Angemessenheit dieser Definition fraglich ist, gibt sie doch die durchschnittliche Auffassung wieder, dass es hier einen Unterschied zwischen der buchstäblich gemeinten und der nicht buchstäblich gemeinten Rede gibt, d.h. dass das figurative Sprechen ein nicht-buchstäblich gemeintes Sprechen ist, und dass eine Metapher ein Beispiel für figuratives Sprechen ist. Die drei einflussreichsten Behandlungen der Metapher sind die Vergleichsmethode, die Interaktionsmethode und die Sprechakttheorien. Nach der Vergleichsmethode steckt in jeder Metapher ein Vergleich. Eine bestimmte Fassung dieser Auffassung lautet, dass jede Metapher eine abgekürzte Ähnlichkeitsbeziehung beschreibt. Nach der Interaktionsmethode steckt in jeder Metapher eine semantische Interaktion zwischen einem Gegenstand oder Begriff, der wortwörtlich durch ein Wort bezeichnet wird, sowie einem Begriff, der metaphorisch von diesem Wort oder Begriff ausgesagt wird. Nach den Sprechakttheorien sind es nicht die Worte oder Sätze, die metaphorisch sind, sondern ihre Verwendung in spezifischen Situationen; daher muss man zum Verständnis der metaphorischen Funktionen verstehen, wie Menschen mit Sprache kommunizieren. Siehe auch: Davidson, D.; Kommunikation und Intention; Sprechakte A.P. MARTINICH
Metaphysik Einführung Die Metaphysik ist ein ausgedehntes Gebiet der Philosophie, das durch zwei Formen der Befragung gekennzeichnet ist. Die erste zielt auf die möglichst allgemeine Erforschung des Wesens der Wirklichkeit: gibt es Prinzipien, die auf alles Wirkliche, also alles was es gibt, anwendbar sind? Wenn wir von allen spezifischen Einzelheiten der Natur existierender Dinge absehen, die sich voneinander unterscheiden: können wir dann etwas über sie wissen einfach infolge der Tatsache, dass sie existieren? Die zweite Form der Untersuchung versucht zu erhellen, was letzt1152
Metaphysik
lich überhaupt wirklich ist, wobei hier häufig Antworten entwickelt werden, die in scharfem Gegensatz zu unserer alltäglichen Erfahrung der Welt stehen. Diesen beiden Frageformen zufolge steht die Metaphysik in sehr enger Beziehung zur Ontologie, die sich normalerweise auf beide Fragen bezieht, nämlich ‚Was ist Existenz / Sein?‘ und ‚Was unterscheidet die grundlegenden Typen der wirklichen Dinge?‘ (siehe Ontologie). Diese beiden Fragen sind nicht identisch, denn jemand, der gänzlich sorglos hinsichtlich der Möglichkeit ist, dass die Welt vielleicht in Wirklichkeit ganz anders beschaffen ist, als sie ihm erscheint (und deshalb die zweite, oben bezeichnete Untersuchungsform als vollkommen trivial empfindet), könnte sich immer noch für die Frage interessieren, ob es irgendwelche allgemeinen Wahrheiten gibt, die auf alle existierenden Dinge gleichermaßen zutreffen. Aber auch wenn sich beide Fragen unterscheiden, so sind sie doch aufeinander bezogen. Man könnte beispielsweise der Auffassung sein, dass die Antwort eines Philosophen auf die erste Frage zumindest die Grundlagen seiner Antwort auf die zweite Frage liefert. Aristoteles entschied sich für die erste der beiden Untersuchungen. Er nannte sie ‚Erste Philosophie‘, manchmal auch ‚die Wissenschaft vom Sein‘ (was auch mehr oder weniger das bezeichnet, was der Ausdruck ‚Ontologie‘ meint). Aber ab einem gewissen Zeitpunkt der Antike wurden seine Schriften über dieses Gegenstandsgebiet als ‚Metaphysik‘ bezeichnet, was wörtlich das meint, was nach (gr.: metá) dem Studium der Natur (gr.: physike) kommt. Dies ist alles, was wir über den Ursprung dieses Wortes wissen (siehe Aristoteles, § 11 ff.). Es wäre jedoch ziemlich irreführend, sich die Metaphysik nur als ein ‚westliches‘ oder abendländisches Phänomen vorzustellen. Die klassische indische Philosophie, speziell der Buddhismus, ist diesbezüglich ebenfalls eine reichhaltige Quelle (siehe Buddhistische Philosophie, Indische; Hinduistische Philosophie; Jainistische Philosophie). 1. Allgemeine Metaphysik 2. Besondere Metaphysik 1. Allgemeine Metaphysik Jeder Versuch der Antwort auf eine beliebige Frage verwendet bei genauerem Hinschauen den Begriff des Seins und der Existenz und geht auf diese ein (siehe Sein; Existenz). Es ist daher selbstverständlich zu fragen, ob es weitere, detailliertere Einteilungen gibt, unter die alles Wirkliche fällt, und eine positive Antwort auf diese Frage wird uns zu einer Kategorienlehre führen (siehe Kategorien). Das historisch gewachsene Bild dieser Situation ist jedoch komplex. Die beiden Hauptvertreter einer solchen Lehre sind Aristoteles und Kant. In Aristoteles’ Fall ist unklar, ob er seine Einteilung überhaupt als eine Lehre über die Dinge und ihre grundlegenden Eigenschaften, oder vielmehr über die Sprache und ihre grundlegenden Prädikate ansah. Kant dagegen verwendete seine Kategorien ganz ausdrücklich als Merkmale unserer Art zu denken und wandte sie nur auf die Dinge an, wie sie uns erscheinen, d.h. nicht auf das, was sie letztlich sind (siehe Kant, I.). In der Nachfolge von Kant gab Hegel seinen Kategorien beide Rollen und richtete seine Antwort auf die anderen metaphysischen Fragen über die wahre, zugrunde liegende Natur der Wirklichkeit darauf ein (siehe Hegel, G.W.F.).
1153
Metaphysik
Eine bereits frühe und extrem einflussreiche Auffassung betreffend die Wirklichkeit im allgemeinsten Lichte betrachtet ist die, dass sie aus Dingen und ihren Eigenschaften besteht, d.h. individuellen Dingen, die im Englischen oft particulars (dt.: ‚Einzeldinge‘) genannt werden, sowie Eigenschaften, die häufig als ‚Universalien‘ bezeichnet werden und vielen solchen Einzeldingen zukommen können (siehe Universalien). Sehr eng mit dem Begriff des Einzeldings ist der Begriff der Substanz verbunden, d.h. dasjenige, was die Eigenschaften ‚trägt‘ (siehe Substanz). Dieser Gedankengang, der schließlich auch eine biologische Fassung durch die Begriffe des individuellen Geschöpfes und ihrer Arten hervorbrachte, löst eine der berühmtesten metaphysischen Kontroversen aus, nämlich jene, ob die Universalien wirkliche Entitäten sind oder nicht (siehe Art; Natürliche Arten). Platon und Aristoteles entwickelten hierzu auf unterschiedlichen Wegen verschiedene Auffassungen. Der Nominalismus ist der allgemeine Ausdruck für verschiedene Fassungen der negativen Position, d.h. der Auffassung, dass den Universalien keine wirklichen Gegenstände entsprechen (siehe Nominalismus). Der Zusammenstoß von Nominalisten und Realisten hinsichtlich der Universalien illustriert ein weit verbreitetes Merkmal metaphysischer Debatten. Welche Entitäten, Kräfte etc. auch immer vorgeschlagen werden, so gibt es doch prima facie immer eine Wahl, ob man diese als wirkliche Dinge, echte Bestandteile der Welt ansehen will, oder ob man sie zu Fiktionen oder Projektionen unserer eigenen Redeund Denkweise herabstuft (siehe Objektivität). Letzteres ist, grob gesagt, die Art und Weise, wie die Nominalisten die Universalien behandelt sehen wollen. Entsprechende Debatten gibt es auch betreffend die Kausalität (siehe Kausalität), die moralischen Werte (siehe Emotivismus; Moralischer Realismus; Moralischer Skeptizismus), die Notwendigkeit und Möglichkeit (siehe Notwendige Wahrheit und Konvention), um nur einige wenige zu nennen. Es wurde sogar vorgeschlagen, dass die Kategorien (siehe oben), wie sie in der abendländischen Tradition verfochten wurden, grammatische Reflexe der Indoeuropäischen Sprachen sind und ihnen überhaupt kein weiterer ontologischer Status zukommt (siehe Sapir-Whorf-Hypothese). Wittgenstein schrieb bekanntlich, dass die Welt die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge sei, und brachte damit einen weiteren Begriff der größten Allgemeinheit ins Gespräch (siehe Tatsachen). Vielleicht hatte er dabei im Kopf, dass genau dieselben Dinge, wenn sie unterschiedlich zueinander in Beziehung gebracht werden, gänzlich verschiedene Welten bilden können, so dass es nicht die Dinge, sondern Sachverhalte oder Tatsachen sind, die bestimmen, wie die Dinge sind. Die Offenkundigkeit der Formel ‚Wenn es wahr ist, dass p, dann ist es eine Tatsache, dass p‘ weist uns darauf hin, dass Tatsachen, wie auch immer, in sehr enger Beziehung zur Wahrheit stehen (siehe Wahrheit, Kohärenztheorie der; Wahrheit, Korrespondenztheorie der), obwohl hier anzumerken ist, dass nicht jede philosophische Auffassung des Wesens der Wahrheit eine metaphysische ist, denn manche Denker sehen sie einfach als eine sprachliche Konstruktion (siehe Wahrheit, Deflationäre theorien der), und andere als eine Reflexion nicht der Beschaffenheit der Welt, sondern der menschlichen Bedürfnisse und Zwecke (siehe Wahrheit, Pragmatische Theorie der; Relativismus). Raum und Zeit sind ähnlich schwer fassbar wie das Sein und damit weitere Kandidaten von Merkmalen, die für alles gelten, was existiert (siehe Raum; Zeit). Doch auch dies ist strittig, wie man der Debatte über die Existenz abstrakter Ge1154
Metaphysik
genstände entnehmen kann (siehe Abstrakte Gegenstände). Wir reden zumindest normalerweise so, als ob wir dächten, dass die Zahlen existieren, denken jedoch nicht, dass sie auch eine raumzeitliche Ausdehnung hätten. Kant betrachtete seine ‚Dinge an sich‘ weder als räumlich, noch als zeitlich, und einige Denker drängten uns dazu, von Gott auf dieselbe Weise zu denken (siehe Gott, Begriffe von). Es gibt Darstellungen des Geistes, die es zulassen, dass man den geistigen Zuständen zeitliche Eigenschaften zuschreibt, die aber gleichzeitig bestreiten, dass sie auch räumliche Eigenschaften haben (siehe Dualismus). Wie dem auch sei, und wenn es auch nicht gänzlich alles betrifft, so betrifft es doch praktisch alles, was wir erfahren, das dies in der Zeit gegeben ist. Die Zeitlichkeit ist daher eines der Phänomene, die Gegenstand einer jeden Untersuchung sein sollten, die eine maximale Allgemeinheit anstreben. Ebenso verhält es sich mit dem Wandel bzw. der Veränderung (siehe Veränderung; Wandel). Und wenn wir die Veränderung betrachten und die anderen, typisch metaphysischen Fragen auf sie anwenden (‚Was passiert eigentlich, wenn sich etwas ändert?‘), so stehen wir zwei Arten von Antworten gegenüber. Die eine Art geht davon aus, dass die Veränderung ein Wechsel der Eigenschaften irgendeines fortbestehenden Dinges ist (siehe Fortbestehende Dinge). Die andere wird alle Entitäten dieser Art bestreiten und stattdessen behaupten, dass das, was wir wirklich haben, nur eine Folge von Zuständen ist, d.h. eine Folge, die genug interne Kohärenz aufweist, um uns den Eindruck zu vermitteln, dass sie fortbestehende Dinge seien (siehe Augenblicks, Buddhistische Lehre des). Die Erstere wird dazu neigen, die ‚Dinge‘ und ‚Substanzen‘ zu den allgemeinsten metaphysischen Kategorien zu erklären, während die Letztere eher dazu neigen wird, diese Rolle den Ereignissen und Prozessen zuzusprechen (siehe Ereignisse; Prozesse). An dieser Stelle werden Fragen betreffend die Identität über die Zeit dringend, speziell in den Fällen der fortbestehenden Dinge (bzw. der Prozesse), die man als Personen bezeichnet (siehe Identität; Personen; Personale Identität). Die beiden größten historischen Tendenzen der Metaphysik sind der Idealismus und der Materialismus, wobei die Erstere die Wirklichkeit als letztlich geistig oder mental darstellt, und die letztere sie als vollständig materiell betrachtet (siehe Idealismus; Materialismus; Materialismus in der Philosophie des Geistes). Infolge ihres Ausgangs von einem einzigen letzten Prinzip sind sie beide monistisch (siehe Monismus). Dieses Feld besetzen sie allerdings keineswegs alleine. Ein kleinerer Wettbewerber ist der so genannte ‚Neutrale Monismus‘, der den Geist und die Materie als unterschiedliche Manifestationen oder Äußerungen von etwas betrachtet, das letztlich weder das eine, noch das andere ist (siehe Neutraler Monismus). Wichtiger hingegen ist, dass viele metaphysische Systeme dualistischer Natur sind oder waren, indem sie beide als fundamental und keines von beidem als eine Form des anderen ansehen (siehe nkhya, Saˉnkya ). Beide Traditionen sind bereits antiken Ursprungs. Seit der Neuzeit wurde der Idealismus am intensivsten im 19. Jahrhundert behandelt (siehe Absolute, Das; Deutscher Idealismus); die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte den Aufstieg des Materialismus. Eine weitere Lehre besagt, dass alle Materie, ohne deshalb wirklich geistiger Natur zu sein, doch immerhin gewisse geistige Eigenschaften aufweise (siehe Panpsychismus).
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Metaphysik
2. Besondere Metaphysik Es gibt auch metaphysische Theorietypen, die sich in Bezug auf konkrete Gegenstände ergeben, und die deshalb vor allem hinsichtlich der zweiten Frage (‚Wie sind die Dinge letztlich beschaffen?‘ oder ‚Welche Arten von Dingen existieren letztendlich?‘) als metaphysisch zu betrachten sind, und weniger hinsichtlich der ersten. Einer der offensichtlichsten Fälle dieser Art und historisch der prominenteste ist die Theologie, aber auch die Philosophie des Geistes, die Philosophie der Mathematik und die Werttheorie fallen darunter. Weniger offensichtlich schleichen sich metaphysische Fragen auch in die Philosophie der Sprache und die Logik ein, so z.B. wenn man meint, dass jede zufriedenstellende Bedeutungstheorie auch die Existenz der intensionalen Entitäten zu behaupten habe, oder dass jede bedeutungsvolle Sprache die Struktur der Welt spiegeln müsse (siehe Intensionale Entitäten; Logischer Atomismus). Diejenigen politischen Theoretiker und Sozialwissenschafter, die meinen, dass die erfolgreiche Erklärung von sozialen Phänomenen von den Eigenschaften von Gesellschaften ausgehen müssen, die nicht auf die Eigenschaften von Individuen reduzierbar sind, aus denen eine Gesellschaft besteht (wodurch sie aus der Gesellschaft in gewisser Weise eine Entität machen, die grundlegender ist als ihre Mitglieder), werfen damit bereits eine metaphysische Frage auf (siehe Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften). Eine Metaphysik, wie sie durch die zweite Frage umrissen wurde, kann überall ganz plötzlich auftauchen. Die Beziehung zur Metaphysik gestaltet sich jedoch im Falle der Naturwissenschaft und der Wissenschaftstheorie besonders eng. Aristoteles scheint seine ‚Erste Philosophie‘ als eine Fortsetzung dessen verstanden zu haben, was heute seine Physik, d.h. seine Naturlehre, genannt wird, und tatsächlich lässt sich sagen, dass die grundlegenden Zweige der Naturwissenschaften in der hier charakterisierten Form selbst Arten der Metaphysik sind. Denn sie beschäftigen sich typischerweise mit der Entdeckung von Gesetzen und Entitäten, die vollkommen allgemein in dem Sinne sind, dass alles aus diesen Entitäten bestehen und den bezeichneten Gesetzen gehorchen soll. Die Unterschiede sind dann eher erkenntnistheoretischer Natur und betreffen das Gleichgewicht zwischen apriorischen Überlegungen und empirischen Details, die von Naturwissenschaftlern und Philosophen zur Untermauerung ihrer jeweiligen Behauptungen angewandt werden. Der Diskussionsgegenstand dieser Behauptungen muss nicht einmal ein verschiedener sein: während der 1980er Jahre wurde die Gegebenheit möglicher Welten von einer Anzahl Autoren aus ganz unterschiedlichen Gründen behauptet, von denen einige eher der naturwissenschaftlichen, andere wieder der philosophischen Forschung zuzurechnen wären (siehe Mögliche Welten). Und wo immer wir in der Metaphysik auf eine Debatte darüber stoßen, ob irgendwelche Behauptungen eher realistisch oder antirealistisch interpretiert werden sollten, da findet sich auch eine parallele Kontroverse über den Status dieser Dinge in der Wissenschaftstheorie (siehe Realismus und Antirealismus; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus). Es ist allerdings wahr, dass es einen erheblichen Widerwillen gegen die Anerkennung einer solchen Kontinuität gab und gibt. Eine Hauptquelle dieser Abneigung war der logische Positivismus mit seiner Einteilung der Aussagen in solche, die empirisch verifizierbar und damit angeblich bedeutungsvoll seien, und solchen, die nicht auf diese Weise verifizierbar und damit entweder analytisch oder aber be1156
Metaphysik
deutungslos seien. Hieraus folgte die Gleichsetzung der Naturwissenschaft mit der ersteren Aussagengruppe, und der Metaphysik mit der letzteren (siehe Logischer Positivismus; Bedeutung und Verifikation). Kombiniert man diese Haltung mit der Auffassung, dass analytische Wahrheiten nichts über die Welt aussagen, sondern nur linguistische Konventionen sind, führt dies zu einer totalen Zurückweisung jeglicher Metaphysik, ganz zu schweigen von jeglicher Kontinuität in der Wissenschaft. Aber auch abgesehen von dem Umstand, dass diese Gedankenschule die Akzeptanz des Prinzips der Bedeutungslosigkeit voraussetzt, geht sie noch von einer weiteren zweifelhaften erkenntnistheoretischen Annahme aus, nämlich dass das, was wir Naturwissenschaft nennen, niemals nichtempirische Argumente verwende, und dass das, was wir als Metaphysik betrachten, niemals auf empirischen Prämissen beruhe. Feinde des Obskurantismus müssen sich dennoch keiner dieser Auffassungen verpflichtet fühlen; sie können die Kontinuität zwischen Wissenschaft und Metaphysik anerkennen, ohne sich des Wortschatzes zu bedienen, der gröblich in extravagante, unbeweisbare oder gar kaum noch bedeutungsvolle Redeweisen führt, in die sich die Metaphysik in den Augen Einiger manchmal verloren hat. Selbst ein Philosoph mit geringer Meinung über die Aussichten der traditionellen Metaphysik kann in Ruhe annehmen, dass es einen allgemeinen Rahmen gibt, den wir in der Tat als die Grundlage unseres Denkens über die Wirklichkeit ansehen, und er kann es folglich unternehmen, diesen zu beschreiben und zu erforschen. Ein solches Unternehmen, das Kant zu seinen illustren Vorgängern zählt, wurde im 20. Jahrhundert manchmal als ‚deskriptive Metaphysik‘ bezeichnet, auch wenn das, was sie erforscht, die allgemeinsten Muster unseres Denkens sind und das Wesen der Dinge höchstens indirekt, wenn überhaupt. Auch wenn eine solche Unternehmung durchaus mit einer Geringschätzung der traditionellen Metaphysik vereinbar ist, wie sie in unseren beiden eingangs gestellten Fragen umrissen wurde, heißt dies doch nicht, dass es nicht einen kleinen, aber recht stabilen Kern des menschlichen Denkens gibt, den sie erforschen kann. Und dies kollidiert mit der Ansicht jener, die bestreiten, dass es einen solchen Gegenstand überhaupt gebe (siehe Postmodernismus). Siehe auch: Brahman; Hegelianismus; Kausalität, Indische Theorien der; Materialismus, indische Schulen des; Neukantianismus; Neuplatonismus; Platonismus in der Renaissance; Prozessphilosophie; Religionsphilosophie; Unendlichkeit Anmerkungen und weitere Lektüre: Kim, J. und Sosa, E. (Hrg.) (1995): ‚A Companion to Metaphysics‘. Oxford: Blackwell. (Ein enzyklopädischer Band mit über 250 Beiträgen verschiedener Länge zu Ausdrücken, Theorien, Bewegungen und einzelnen Philosophen. Es werden sowohl erkenntnistheoretische, als auch metaphysische Fragen behandelt.) EDWARD CRAIG
Methodischer Individualismus
Der methodische Individualismus ist die These, dass gewisse psychologische Eigenschaften wesentliche Eigenschaften sind, wie z.B. ‚aus Eisen bestehend‘, und folglich keine äußerlich-relationalen Eigenschaften wie z.B. ‚eine Tante sein‘. Diese These wurde durch einflussreiche antiindividualistische Behauptungen z.B. von Putnam und Burge angefochten, denen zufolge der Inhalt der Worte oder Gedanken eines Individuums (z.B. seine Überzeugungen und Wünsche) zum Teil durch Umstände ihrer sozialen oder physischen Umgebung bestimmt werden. Putnam stellt 1157
sich beispielsweise einen Planeten namens ‚Zwillingserde‘ vor, der in jeder Hinsicht identisch mit der Erde in ihrem Zustand im Jahre 1750 sei (also vor der Entwicklung der modernen Chemie), bis darauf, dass überall dort, wo die Erde H2O aufweist, die Zwillingserde mit einer anderen, aber oberflächlich ähnlichen Substanz XYZ bestückt sei. Putnam behauptet, dass sich das deutsche Wort ‚Wasser‘ im Jahre 1750 auf unserer Erde nur auf H2O bezog, während sich das Wort ‚Wasser‘ auf der Zwillingserde nur auf XYZ bezog. Historisch bezog sich der Ausdruck ‚methodischer Individualismus‘ auf die These, dass alle sozialen Erklärungen letztlich als Tatsachenaussagen über ein menschliches Individuum ausdrückbar sein müssten, nicht dagegen über gesellschaftliche oder wirtschaftliche Klassen, Nationen etc. Zu einer weiteren Behandlung dieses Themas siehe Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften. Siehe auch: Inhalt: ‚weiter‘ und ‚enger‘; Putnam, H.; Semantik, Begriffliche Rolle der GABRIEL SEGAL
Mill, John Stuart (1806–1873) Einführung John Stuart Mill, Großbritanniens größter Philosoph des 19. Jahrhunderts, brachte die empiristischen und liberalen Traditionen seines Landes in einer Weise zum Ausdruck, die eine ähnliche Bedeutung erlangten wie zuvor jene von John Locke. Sein sehr spezifischer Beitrag bestand darin, diese Traditionen in Verbindung mit den kontinentaleuropäischen Ideen des 19. Jahrhunderts zu bringen. Er vereinigte auf eindrucksvolle Weise die Radikalität der aufgeklärten Vernunft mit den geschichtlichen Einsichten des 19. Jahrhunderts und führte in den englischen Liberalismus höchst romantische Kulturbegriffe ein. Mill war der Auffassung, dass alle Erkenntnis auf der Erfahrung beruht; er glaubte, dass unsere Wünsche, Zwecke und Überzeugungen das Ergebnis unserer psychologischen Assoziationsgesetze sind, und akzeptierte Benthams Maßstab des vollständigsten Glücks aller Wesen, die zu ihrem Glück überhaupt in der Lage sind, nämlich dem Prinzip der ‚Nützlichkeit‘. Dies war sein Vermächtnis der Aufklärung. In der Erkenntnistheorie war Mills Empirismus sehr radikal. Er unterschied zwischen ‚verbalen‘ und ‚realen‘ Aussagen ähnlich dem, wie Kant zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterschieden hatte. Anders als Kant meinte Mill jedoch, dass nicht nur die reine Mathematik, sondern auch die Logik an sich reale Aussagen und Schlüsse enthalte, und abweichend von Kant leugnete er, dass irgendeine synthetische oder (in seinem Sprachgebrauch) reale Aussage apriorischer Natur sei. Die Wissenschaften der Logik und der Mathematik legen nach Mill die allgemeinsten Gesetze der Natur dar, und beruhen, wie alle anderen Wissenschaften, letztlich auf induktiven Schlüssen aus der Erfahrung. Wir fassen die Prinzipien der Logik und der Mathematik als etwas Apriorisches auf, weil wir es undenkbar finden, dass sie nicht wahr seien. Mill erkannte die Tatsachen an, die unseren Überzeugungen zugrunde liegen, d.h. die Tatsachen über die Undenkbarkeit oder Unvorstellbarkeit, und er versuchte diese Tatsachen auf assoziationistische Weise zu erklären. Er meinte, dass wir hierzu berechtigt seien, indem wir
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die logischen und mathematischen Behauptungen auf Tatsachen dessen gründen, was denkbar ist; die Rechtfertigung selbst ist gleichwohl a posteriori. Was aber ist dann das Wesen und der Status der Induktion? Mill war der Auffassung, dass die primitive Form der Induktion die aufzählende Induktion ist, also die einfache Verallgemeinerung aus der Erfahrung. Er ging nicht auf Humes skeptisches Problem betreffend die enumerative Induktion ein. Die Verallgemeinerung der Erfahrung ist unsere einfachste Schlusspraxis und bleibt dies auch dann, wenn wir uns dessen reflexiv bewusst werden. Nach Mills Ansicht sollte und kann darüber nicht mehr gesagt werden. Stattdessen folgte er der enumerativen (aufzählenden) Induktion, wie sie intern durch ihre wirklichen Erfolge beim Erkennen von Regelmäßigkeiten gestärkt wird, und wie aus ihr schließlich weitere Forschungsmethoden der induktiven Untersuchung folgen, die zur Entdeckung von Regularitäten imstande sind, wo die enumerative Induktion allein nicht hinreichen würde. Wo also Hume skeptische Einwände gegen die Induktion erhob, boxte Mill eine empiristische Analyse der Deduktion durch. Er erkannte lediglich die Fähigkeit, sich auf seine Erinnerung zu stützen, als ursprünglich gerechtfertigt an, sowie die Fähigkeit zur Verallgemeinerung aus der Erfahrung. Hieraus, so leitete er ab, sei die Gesamtheit der Wissenschaft aufgebaut. Insbesondere akzeptierte er nicht, dass die reine Tatsache, demzufolge eine Hypothese bestimmte Daten erklärt, jemals die Annahme ihrer Wahrheit rechtfertigen könne (wohlgemerkt im Gegensatz zu der Annahme ihrer Nützlichkeit). Es sei immer möglich, dass eine Gruppe von Sinnesdaten gleichermaßen gut durch mehr als eine einzige Hypothese erklärbar ist. Diese Auffassung, dass die enumerative Induktion die einzige maßgebliche Quelle allgemeiner Wahrheiten sei, war auch in seiner Metaphysik wichtig. Da er akzeptierte, dass unser Wissen angenommener Gegenstände außerhalb des Bewusstseins nur durch die Bewusstseinszustände gegeben ist, die diese Gegenstände in uns hervorrufen, schloss er, dass externe Gegenstände nur auf die „permanenten Möglichkeiten zur Empfindung“ zurückführbar seien. Diese Möglichkeiten sind permanent in dem Sinne, dass man sich auf sie verlassen kann, wenn gewisse vorangehende Umstände erfüllt sind. Mill war der Gründer des modernen Phänomenalismus. In der Ethik war Mills leitende Überzeugung, dass das Glück das einzige und letzte menschliche Ziel ist. Wie im Falle der Induktion berief er sich auf die reflektierende Übereinstimmung, und zwar in diesem Falle jener der Wünsche, und nicht des Vernunftvermögens. Wenn das Glück nicht „in der Theorie und in der Praxis als Zweck anerkannt wäre, dann würde auch sonst nichts eine Person je davon überzeugen, das es überhaupt einer ist“ (‚Utilitarianism‘, 1861). Er erkannte jedoch an, dass wir in der Lage sind, etwas tun zu wollen, was wir eigentlich nicht zu tun wünschen; wir können aus Pflichtgefühl handeln, und nicht nur aus dem Wunsch heraus. Und er unterschied zwischen dem Wünschen einer Sache als Teil unseres Glücks und dem Wünschen desselben als Mittel zu unserem Glück. Die Tugenden können ein Teil unseres Glücks werden, und für Mill sollten sie dies idealerweise werden. Sie finden in unserer Psychologie eine natürliche Grundlage, auf der man eine moralische Erziehung aufbauen kann. Allgemein gesagt können die Menschen ein tieferes Verständnis des Glücks durch Erziehung und Erfahrung erreichen: einige Formen des Glücks werden an sich selbst als feinere von denen vorgezogen, die imstande sind, sie voll zu erleben. 1159
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Auf diese Weise erweiterte und bewahrte Mill gleichzeitig Benthams Auffassung, dass das Glück aller, unparteiisch betrachtet, der Verhaltensmaßstab ist. Seine Darstellung dessen, in welchem Verhältnis dieser Maßstab zu den alltäglichen Verhaltensnormen steht, war mit dem Geschichtssinn des 19. Jahrhunderts beladen, bewahrte aber dennoch seine Bindungen an Bentham. Die Gerechtigkeit sei eine Klasse außergewöhnlich bindender Pflichten gegenüber der Gesellschaft; sie sei der Anspruch, den wir an unsere Mitgeschöpfe haben, sich zusammenzutun und dadurch die Grundlage unserer Existenz selbst zu sichern‘ (‚Auguste Comte and Positivism‘, 1865). Weil die Normen der Gerechtigkeit diese Grundlage schützen, genießen sie Vorrang gegenüber der direkten Verfolgung des allgemeinen Nutzens genauso wie gegenüber der privaten Verfolgung persönlicher Ziele. Mills Freiheitslehre der schließt unmittelbar an seine Darstellung der Gerechtigkeit an. Hier beruft er sich auf die Rechte, die auf dem „Nutzen im weitesten Sinne gründen, d.h. auf den permanenten Interessen des Menschen als einem voranschreitenden Wesen“ (‚On Liberty‘, 1859). Das in diesem Aufsatz ausgedrückte Prinzip sichert die Freiheit der Menschen bei der Verfolgung ihrer eigenen Ziele, solange sie dabei nicht die legitimen Interessen anderer verletzen; außer in „rückständigen Gesellschaften sollte über Menschen keine Macht nur um ihrer selbst Willen ausgeübt werden“. Mill verteidigte dieses Prinzip aus zwei Gründen. Es versetzt das Individuum in die Lage, seine Möglichkeiten auf seine eigene, bestimmte Weise zu verwirklichen, und es schafft die sozialen Bedingungen zur moralischen Entwicklung der Kultur und des individuellen Charakters. 1. Leben 2. Sprache und Logik 3. Mathematik 4. ‚Psychologismus‘ und Naturalismus 5. Induktive Wissenschaft 6. Geist und Materie 7. Die Freiheit und die Moralwissenschaften 8. Glück, Wunsch und Wille 9. Bedingungen der Lust 10. Das Nützlichkeitsprinzip 11. Moral und Gerechtigkeit 12. Freiheit und Demokratie 1. Leben Mill wurde am 20. Mai 1806 in London geboren. Er war der älteste Sohn eines Schotten namens James Mill und einer Engländerin namens Harriet Burrow. James erzog seinen Sohn selbst; sein Erziehungsstil wurde durch die Darstellung von John Stuart berühmt, die er hiervor in seiner ‚Autobiography‘ von 1873 gab. Der Vater lehrte John die Klassiker, die Logik, die Volkswirtschaftslehre, die Rechtswissenschaft und die Psychologie; mit dem Griechischen begann er bereits im Sohnesalter von drei Jahren. John Stuart wurde in einem Kreis intellektueller und politischer Grundlagendenker aufgezogen, die Freunde seines Vaters waren, und unter denen sich Jeremy Bentham und David Ricardo befanden. In seinen zwanziger Jahren wurde er, was vielleicht nicht überraschend ist, von tiefen Depressionen geplagt, von
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denen er sich teilweise durch poetische Lektüre erholte. In diesen und den folgenden Jahren lernte er auch einige der interessantesten jüngeren Figuren der englischen Politik und Kultur kennen. Unter diesen befanden sich auch konservative Kritiker des Benthamismus, sowie radikale Anhänger von Bentham. Mill folge seinem Vater in die Ostindische Gesellschaft, wo er zu einem einflussreichen Amtsträger wurde und erst im Jahre 1858 zurücktrat, als die Gesellschaft in der Folge des Indischen Aufstands von der Krone übernommen wurde und die Regierung von Indien zur direkten Aufgabe des Britischen Staates wurde. Im Jahre 1851 heiratete er Harriet Taylor, die nach seiner eigenen Darstellung seine Sozialphilosophie beeinflusste. In den 1860er Jahren war er kurz Parlamentsmitglied, und durch sein ganzes Leben hindurch war er in viele grundsätzliche politische Vorfälle verstrickt. Zu diesen zählt auch seine lebenslange Unterstützung der Rechte der Frauen; siehe ‚The Subjection of Women‘ (1869). Mill erlangte seine philosophische Anerkennung durch sein ‚System of Logic‘ (1843). Die ‚Principles of Political Economy‘ (1848) waren eine Synthese der klassischen Ökonomie, aus der sich die liberale Wirtschaftslehre fast ein Vierteljahrhundert lang definierte. Seine beiden bekanntesten Arbeiten zur Moralphilosophie, ‚On Liberty‘ und ‚Utilitarianism‘, erschienen erst später in den Jahren 1859 und 1861. Er hat jedoch sein ganzes Leben lang über Ethik und Politik nachgedacht, und daher sind es auch seine politischen und moralischen Schriften, die heutzutage am meisten gelesen werden. 2. Sprache und Logik Aber auch Mills Erkenntnislehre und Metaphysik sind nach wie vor genauso interessant und relevant wie seine Ansichten zur Ethik und Politik, und von diesen Aspekten seiner Philosophie muss auch eine allgemeine Erkundung seiner Philosophie ausgehen. Im ‚System der Logik‘ unterscheidet Mill ‚verbale‘ und ‚reale‘ Aussagen, und entsprechend ‚lediglich anscheinende‘ von den ‚wirklichen‘ Schlüssen. Ein Schluss ist nur ein anscheinender, wenn sich daraus keine neue Behauptung ergibt. Damit dies der Fall ist, muss die Konklusion buchstäblich in den Prämissen behauptet werden. In einem solchen Falle könne es kein erkenntnistheoretisches Problem mit der Rechtfertigung des scheinbaren Schlusses geben, denn es gäbe gar nichts zu rechtfertigen. Eine verbale Aussage kann man nun als eine bedingte Aussage definieren, die mit einem lediglich scheinbaren Schluss korrespondiert. Aussagen und Schlüsse, die nicht verbal oder lediglich scheinbar sind, sind real. Mill argumentiert, dass nicht nur die Mathematik, sondern auch die Logik reale Schlüsse bereithält. Um dies zu beweisen unternimmt er eine semantische Analyse von Sätzen und Ausdrücken, die er ‚propositions‘ (dt.: ‚Aussagen‘) und ‚names‘ (dt.: ‚Namen‘) der syllogistischen Logik und der so genannten ‚Gesetze des Denkens‘ nennt. Seine Analyse enthält Fehler, und er vereinheitlicht sie nicht in einer durchgehend allgemeinen Darstellung, sondern legt nur die Fundamente einer solchen Darstellung. Indem er dies unternimmt, hebt er die empiristische Erkenntnislehre der Logik und der Mathematik auf ein neues Niveau. Der Anfangspunkt ist seine Unterscheidung zwischen der Denotation (Bezeichnung) und der Konnotation (Mitbezeichnung) von Namen. Namen können allgemeiner und einzelner Natur sein; sie bezeichnen Dinge und konnotieren Eigenschaften bzw. Merkmale (Attribute) von Dingen. Ein allgemeiner Name konnotiert Merk1161
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male und denotiert jeden Gegenstand, der diese Eigenschaften besitzt. Die meisten singulären Namen, d.h. Namen zur Bezeichnung bestimmter, einzelner Dinge konnotieren ebenfalls Eigenschaften dieses Dinges. Es gibt jedoch eine wichtige Klasse singulärer Namen, d.h. Eigennamen im üblichen Sinne des Wortes, wie z.B. ‚London‘, die einen Gegenstand ohne Konnotation einer Eigenschaft bezeichnen (siehe Eigennamen). Identitätsaussagen, die nur nicht-konnotative Namen enthalten, wie z.B. ‚Tullius ist Cicero‘, sind nach Mills Auffassung verbal. Mill zufolge fehlt es ihnen in dem Sinne an Inhalt, dass die einzige vermittelte Information jene über die Namen selbst ist: ‚Tullius‘ bezeichnet denselben Gegenstand wie ‚Cicero‘. Mill weist nun darauf hin, dass es keine Tatsache in der Welt gibt, der die Aussage ‚Tullius ist Cicero‘ entspricht. Um diese Aussagen als verbale zu klassifizieren, wäre allerdings eine Abänderung der Beschreibung verbaler Aussagen, wie sie oben definiert wurden, notwendig. Ferner ist die Erkenntnis, dass Tullius Cicero ist, nicht apriorischer Natur. Wir können diese Aussage nicht allein durch die Reflexion der Bedeutung von Namen als wahr erkennen, während es doch Mills durchgängige Absicht ist, dass die Klasse der verbalen Aussagen identisch sein sollte mit der Aussagenklasse, die harmloserweise apriorischer Natur sind, gerade weil sie bar jedes Inhalts sind. Auf diese Schwierigkeit geht er allerdings nicht ein. Die Bedeutung eines deklarativen Satzes – in seiner Ausdrucksweise: ‚die Bedeutung einer Aussage‘ – wird durch die Konnotation, nicht durch die Denotation ihrer konstituierenden Namen bestimmt. Die einzige Ausnahme hiervon sind die konnotationslosen Eigennamen, bei denen die Bedeutung durch die Denotation bestimmt wird. Und auch hier erklärt Mill nicht, wie diese These über die Bedeutung der Eigennamen mit der Aposteriorität von ‚Cicero ist Tullius‘ versöhnt werden kann. Mill fährt nun fort zu zeigen, wie die verschiedenen syntaktischen Formen, die durch die syllogistische Theorie miteinander identifiziert werden, Wahrheitsbedingungen für Sätze unter der Bedingung ergeben, dass die Konnotation ihrer konstituierenden Namen gegeben ist. Gerüstet mit dieser Analyse beweist er nun, dass die Logik reale Schlüsse und Aussagen bereithält. Er geht von der Behauptung aus, dass eine Konjunktion ‚A und B‘ schlicht die Behauptung von A und die Behauptung von B sei. ‚A oder B‘ definiert er als ‚Wenn nicht A, dann B, und wenn nicht B, dann A‘. Die Aussage ‚Wenn A, dann B‘ bedeutet, so meint er, ‚die Aussage B ist ein legitimer Schluss aus der Aussage A‘. Aus diesen Behauptungen folgert er, dass gewisse deduktive Schlüsse, z.B. jener aus einer Konjunktion auf eines ihrer Konjunkte lediglich scheinbarer Natur sind. Gleichzeitig ist Mill aber der Auffassung, dass die Gesetze des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten reale und folglich aposteriorische Aussagen sind. Er geht davon aus, dass ‚nicht P‘ bedeutungsäquivalent mit ‚Es ist falsch, dass P‘ ist. Wenn wir nun ferner die Bedeutungsgleichheit von P und ‚Es ist wahr, dass P‘ annehmen, dann ergibt sich aus dem Prinzip des Widerspruchs nach seiner Auffassung: ‚Dieselbe Aussage kann nicht zur selben Zeit falsch und wahr sein‘. ‚Dies kann ich nicht als eine rein verbale Aussage auffassen‘, schreibt er. Entsprechende Bemerkungen macht er auch über das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten, das sich nach diesen Definitionen in ein Prinzip der Zweiwertigkeit verwandelt: ‚Entweder ist es wahr, dass P, oder es ist falsch, dass P‘.
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Mill fügt seiner semantischen Analyse noch einen erkenntnistheoretischen Beweis hinzu: Wenn die Logik keine realen Schlüsse enthält, dann wären alle Vernunftschlüsse eine petitio principii, also Fragen, die ihre Antworten jeweils bereits voraussetzen, und könnten deshalb gar keine neue Erkenntnis hervorbringen. Sie bringen jedoch klarerweise neue Erkenntnisse hervor. Deshalb muss die Logik also reale Schlüsse enthalten. Unglücklicherweise vermischt Mill dieses erkenntnistheoretische Argument mit einem zwar interessanten, aber doch fremden Ziel. Er will nämlich zeigen, dass „alle Schlüsse solche von Einzeldingen auf Einzeldinge sind“, um auf diese Weise die Rolle zu entmystifizieren, die die allgemeinen Aussagen im Denken spielen. Er argumentiert, dass sie im Prinzip nichts zur Kraft eines Beweises hinzufügen; spezifische Schlüsse könnten immer induktiv direkt aus Einzelprämissen abgeleitet werden. Ihr Wert sei deshalb psychologischer Art. Sie spielen die Rolle von ‚Memoranda‘ (Erinnerungsstücken) oder zusammenfassenden Aufzeichnungen des induktiven Potenzials all dessen, was wir beobachtet haben, und sie liefern uns ‚Schlussfolgen‘, z.B. in der Aussagenfolge: ‚Dies ist A; Alle A’s sind B’s; Kein B ist C; also ist dies kein C‘. Psychologisch erhöht dies in großem Maße unsere Erinnerung und unsere Schlusskraft, aber erkenntnistheoretisch sind sie verzichtbar. Diese These ist mit Mills Ablehnung der ‚intuitiven‘ Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten und mit seinem Induktivismus verbunden (siehe unten § 5). Es gibt aber noch eine tiefere Art und Weise, auf die ein radikaler Empirist behaupten muss, dass alle Schlussfolgerungen solche von Einzelnem auf Einzelnes sind. Man betrachte beispielsweise den Schluss von ‚Alles ist F‘ auf ‚a ist F‘. Ist dies ein realer oder nur ein scheinbarer Schluss? Es ist unmöglich zu meinen, er sei real, wenn man gleichzeitig beweisen möchte, dass die realen Schlüsse aposteriorischer Natur sind. Aber der einzige Weg, auf dem Mill dies als eine verbale Aussage behandeln kann, ist jener, ihn als Prämisse einer Konjunktion zu behandeln: ‚a ist F und b ist F und …‘. Schließt man diese Herangehensweise aus, dann bleibt nur noch die Leugnung, dass ‚Alles ist F‘ überhaupt eine Aussage sei; stattdessen müsste sie dann eine abgeleitete Bindung ausdrücken. Beide Herangehensweisen ergeben sich ganz leicht aus der Millschen Diskussion des Syllogismus, auch wenn er sie an keiner Stelle explizit benennt. 3. Mathematik Die Strategie, die Mill auf die Mathematik anwendet, ähnelt im Großen und Ganzen jener, mit der er auch auf die Logik zugeht. Handelte es sich bei dem mathematischen Denken um eine rein verbale Angelegenheit, dann höbe sie sich als eine petitio principii selbst auf; die semantische Analyse zeige jedoch, dass sie reale Aussagen enthält. Mill liefert hier kurze, aber tiefgründige empiristische Umrisse der Geometrie und der Arithmetik. Die Theoreme der Geometrie leitet er aus den Prämissen ab, die zunächst reale Aussagen sind und dann induktiv verallgemeinert werden. (Die Deduktion ist für ihn an sich selbst weitgehend ein Prozess des realen Schlusses.) Diese Prämissen, sofern sie nicht unmittelbar vom physischen Raum wahr seien, seien doch hinsichtlich ihrer Grenzbestimmungen (engl.: limits) wahr. Geometrische Gegenstände, also Punkte, Linien, Ebenen, seien ideale oder ‚fiktive‘ Grenzbestimmungen ideal konstruierbarer, materieller Entitäten. Daher sind die real-empirischen 1163
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Behauptungen, die einem Axiom wie z.B. ‚Zwei gerade Linien können keinen Raum einschließen‘ zugrunde liegen, so etwas wie die Behauptung ‚Je näher sich zwei Linien der absoluten Ausdehnungslosigkeit und Geradheit annähern, desto kleiner ist der Raum, den sie einschließen‘. Indem er seine Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation hierauf anwendet, beweist Mill, dass die arithmetischen Identitäten wie z.B. ‚Zwei plus Eins ergibt Drei‘ reale Aussagen seien. Zahlausdrücke denotieren ‚Aggregate‘ und konnotieren gewisse Merkmale von Aggregaten. Er sagt hier allerdings nicht, dass sie diese Merkmale von Aggregaten denotieren, obwohl dies vielleicht sinnvoll gewesen wäre. Aggregate sind natürliche, nicht abstrakte Entitäten, also ‚Kollektionen‘ oder ‚Agglomerationen‘, die durch ein Aggregationsprinzip individualisiert werden. Diese Theorie widersteht einigen der einflussreichsten Kritiken, die Frege später daran übte, aber ihre Anwendbarkeit bleibt nichtsdestotrotz höchst zweifelhaft. Die Hinsichten, durch die diese Aggregate sich von Mengen unterscheiden, wenn sie als natürliche im Gegensatz zu abstrakten Entitäten glaubhaft gemacht werden, sind genau jene, durch die sie offenbar nicht imstande sind, ein vollständige und angemessene Ontologie der Arithmetik zu liefern. Man kann beispielsweise Zahlen nummerieren; aber kann es auch Aggregate von Aggregaten oder Merkmale von Aggregaten geben, wenn Aggregate natürliche Entitäten sind? Wie dem auch sei, wird dadurch doch Mills philosophisches Programm deutlich. Die Arithmetik ist wie die Logik und die Geometrie für ihn eine Naturwissenschaft, die sich mit einer Kategorie der Naturgesetze befasst, nämlich jenen, die die Aggregation betreffen. Die grundlegenden Prinzipien der Arithmetik und der Geometrie, genauso wie auch schon der Logik, sind real. Mill liefert damit die erste gründliche empiristische Analyse der Bedeutung und des deduktiven Denkens. Er unterscheidet seine Auffassung von drei anderen: dem ‚Konzeptualismus‘, dem ‚Nominalismus‘ und dem ‚Realismus‘. Als ‚Konzeptualismus‘ bezeichnet er die Auffassung, die die Gegenstände, die von der Logik untersucht werden, als psychologische Zustände oder Handlungen betrachtet. Der Konzeptualismus behaupte, so meint Mill, dass Namen für Vorstellungen stünden, die Urteile ergeben, und dass „eine Aussage der Ausdruck einer Beziehung zwischen zwei Vorstellungen“ sei. Er verwechsle somit die Logik und die Psychologie durch die Angleichung von Aussagen und Urteilen, sowie von Merkmalen von Gegenständen und Vorstellungen. Gegen diese Lehre beharrt Mill darauf: „Alles Sprechen erkennt den Unterschied zwischen einer Lehre und einer Meinung und die Tatsache des Bestehens auf einer Meinung an, zwischen der Zustimmung und dem, wozu man zustimmt […] Die Logik befasst sich nach der hier gebildeten Konzeption nicht mit dem Wesen des Urteilsaktes, noch mit der Überzeugung; die Betrachtung dieses Aktes als einem Phänomen des Geistes gehört in eine andere Wissenschaft.“ (‚System of Logic‘) Die Nominalisten – Mill zitiert hier Hobbes – würden meinen, dass die Logik und die Mathematik gänzlich verbaler Natur seien. Mill fasst diese Position wesentlich ernsthafter auf als den Konzeptualismus und bemüht sich deshalb bis ins Detail um seine Widerlegung. Sein Hauptargument lautet, dass die Nominalisten nur zu einer Begründung ihrer Auffassung in der Lage seien, weil sie bei der Unterscheidung zwischen der Denotation und der Konnotation der Namen versagen und sich „für 1164
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ihre Bedeutung lediglich auf dass zurückziehen, was sie [die Namen] bedeuten“. (‚System of Logic‘) (siehe Nominalismus). Die Nominalisten und die Konzeptualisten meinen nach Mill, dass die Logik und die Mathematik nicht-empirisch erkannt werden könnten, obwohl sie doch weiterhin der Auffassung bleiben, dass keine reale Aussage über die Welt auf diese Weise erkannt werden kann. Die Realisten wiederum meinten, dass das logische und das mathematische Wissen die Erkenntnis von Universalien sei, die in einem abstrakten, platonischen Reich existieren würden. Ihnen zufolge seien die Ausdrücke, aus denen Sätze geformt werden, Zeichen, die wiederum für solche Universalien stünden. Abwandlungen dieser Auffassungen würden sicherlich wieder eine größere Wiederauferstehung erleben, und die semantische Analyse würde sicherlich wieder ihre Hauptquelle oder -grundlage sein; gleichwohl ist dies die Auffassung, die Mill am wenigsten ernst nimmt. Im heutigen Verständnis des Ausdrucks ist Mill selbst ein Nominalist: er verwirft abstrakte Entitäten (siehe Abstrakte Gegenstände). Genauso allerdings, wie es ernsthafte Schwierigkeiten mit der Auffassung gibt, dass die Arithmetik sich mit Aggregaten statt mit Mengen beschäftige, so gibt es auch Schwierigkeiten bei der Behandlung der Ontologie der allgemeinen Semantik ohne Berufung auf Universalien und Mengen bzw. ohne Berufung auf natürliche Eigenschaften und Gegenstände. Wir haben keine klare Vorstellung davon, wie Mill auf diese Schwierigkeiten geantwortet hätte, sofern sie ihm bewusst geworden wären. Wir können uns aber recht gewiss sein, dass er nach Wegen gesucht hätte, um auf seinem Nominalismus zu bestehen. Sein Hauptgegner ist jedoch die Lehre, demzufolge es reale apriorische Aussagen gibt (siehe A Priori). Was, so fragt er, passiert in der Praxis, wenn wir meinen, dass eine reale Aussage a priori wahr sei? Wir meinen dann, dass die Negation einer solchen Aussage undenkbar sei, und auch, dass sie aus Prinzipien abgleitet sei, deren Unstimmigkeit wir undenkbar finden, oder aus Prämissen, deren Negation wir undenkbar finden. Mill offeriert keine Definition dessen, was mit solchen Ausdrücken wie ‚a priori‘ oder ‚selbstevident‘ gemeint sein soll; er besteht lediglich darauf, dass Tatsachenbehauptungen darüber, was wir undenkbar finden, lediglich ein Schlaglicht auf unsere Verwendung dieser Ausdrücke werfen, sonst nichts. Es gibt Tatsachenbehauptungen über die Grenzbestimmungen dessen, was wir uns als Wahrnehmung vorstellen können, und die wir in unserem Innern spüren. Mill meinte, er könnte diese Tatsachenbehauptungen über die Undenkbarkeit oder die Unvorstellbarkeit mit assoziationistischen Mitteln erklären, und ein guter Teil seines Werks behauptet, genau dies zu tun. Diese assoziationistische Psychologie ist heutzutage kaum mehr geeignet, uns zu überzeugen. Dies berührt aber nicht den wesentlichen Punkt in ihr, nämlich dass der Schritt von unserer Unfähigkeit zur inneren Repräsentation der Negation einer Aussage zur Akzeptanz ihrer Wahrheit einer Rechtfertigung bedarf. Und darüber hinaus muss die Rechtfertigung selbst apriorischer Natur sein, wenn sie beweisen soll, dass die Aussage a priori erkannt wird. 4. ‚Psychologismus‘ und Naturalismus Mill wird in seiner Behandlung der Logik oft irrtümlich des ‚Psychologismus‘ beschuldigt. Dieser Vorwurf scheint auf Husserl zurückzugehen; jedenfalls wird er von Frege nicht erhoben. Der Psychologismus ist die Auffassung, dass die Gesetze 1165
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der Logik in Wirklichkeit psychologische Gesetze unserer geistigen Prozesse seien, oder dass Bedeutungen geistige Entitäten seien, und dass Urteile nur Beziehungen zwischen diesen Entitäten behaupten würden. Mills Auffassung dagegen ist die, wie wir sahen, dass die Logik und die Mathematik die allgemeinsten empririschen Wissenschaften seien, die alle Phänomene leiten würden. Er meinte ausdrücklich, dass die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten, wenn man sie metaphysisch verstünde, leer sei. Und er verwirft die konzeptualistische Behauptung, dass sich Namen auf Vorstellungen bezögen, und dass Aussagen eine psychologische Beziehung zwischen ihnen ausdrücken oder behaupten würden. Was erklärt dann den Vorwurf des Psychologismus gegenüber Mill? Husserl zitiert eine Passage aus ‚An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy‘ (1865), die seitdem sehr häufig zitiert wurde: „Die Logik ist nicht die Theorie des Gedankens als Gedanke, sondern des gültigen Gedankens; nicht des Denkens, sondern des korrekten Denkens. Sie ist keine Wissenschaft, die sich von der Psychologie unterscheidet, sondern sich mit ihr zusammenfindet. Insofern sie überhaupt eine Wissenschaft ist, ist sie ein Teil oder ein Zweig der Psychologie. Sie unterscheidet sich von ihr einerseits so, wie sich der Teil vom Ganzen unterscheidet, und andererseits so, wie sich die Kunst von der Wissenschaft unterscheidet. Ihre theoretischen Grundlagen sind vollständig von der Psychologie entliehen und umfassen so viel von dieser Wissenschaft, als es zur Rechtfertigung der Regeln dieser Kunst notwendig ist.“ (Die kursive Auszeichnung stammt von Husserl.) Dies im psychologistischen Sinne zu verstehen heißt, den Absatz außerhalb seines Zusammenhanges zu lesen. Mill meint hier, dass der Logiker die Regeln des Denkens auf eine Weise formulieren muss, die dem Fragenden so hilfreich als möglich sein soll, und er muss sich deshalb auf die Psychologie des Denkens beziehen, damit dies der Fall ist. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass die Kunst des Logikers von der Wissenschaft des Psychologen entliehen ist. Wie man die Kunst des klaren Denkens am besten befördern kann, ist eine Frage der Psychologie. Gleichwohl, „gehören die Gesetze des Denkens als Denken im wissenschaftlichen Sinne dieses Ausdrucks nicht zur Logik, sondern zur Psychologie; und es ist nur die Geltung des Denkens, die die Logik zur Kenntnis nimmt.“ (Mill, ‚Hamilton’s Philosophy‘) Deshalb ist es falsch, Mill eine Psychologisierung der Logik vorzuwerfen. In einem gewissen Sinne ist seine Auffassung unserer grundlegendsten Formen des induktiven Schließens jedoch psychologistisch oder naturalistisch. Denn was würde er auf die kantische Behauptung erwidern, dass bereits die Möglichkeit der Erkenntnis apriorische Elemente unserer Erkenntnis notwendig macht? Selbst wenn wir seine induktive Darstellung der Logik und der Mathematik akzeptieren, müssen wir dann nicht immer noch das Prinzip der Induktion selbst als etwas Apriorisches annehmen? Für Mill ist die primitive Form des Schlussdenkens, und zwar sowohl im erkenntnistheoretischen, als auch im ätiologischen (d.h. auf die Ursachen abstellenden) Sinne eine enumerative Induktion, d.h. die Fähigkeit zu der Schlussfolgerung, dass alle A’s B’s sind, aus der vorangehenden Beobachtung von A’s, die alle B’s sind (oder auch die Schlussfolgerung, dass ein gewisser Prozentsatz aller A’s B’s sind aus 1166
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der Beobachtung dieses Prozentsatzes von B’s unter der Anzahl beobachteter A’s). Wir sind spontan mit einer solchen Schlussfolgerung einverstanden, und wir halten eine solche Schlussfolgerung auch für stimmig. Diese Methode des Schlussfolgerns, d.h. die enumerative Induktion, ist nicht nur ein verbales Prinzip. Folglich kann sie nach Mills eigener Darstellung nicht apriorisch sein. Mill sagt, dass wir „die Gesetze unseres eigenen rationalen Vermögens wie jene eines jeden anderen natürlichen Akteurs lernen“, indem wir „dem Handelnden bei der Arbeit zusehen“. Wir bringen unser grundlegendstes Denkvermögen durch kritische Reflexion über unsere wirkliche Praxis zum Bewusstsein. Es ist richtig, wenn er sagt, dass diese reflexive Prüfung der Praxis in gewissem Sinne ein aposteriorischer Prozess ist. Er überprüft die Dispositionen, die wir haben, bevor wir die Prüfung vornehmen. Nachdem wir diese Dispositionen geprüft haben, gelangen wir zu einem reflexiven Gleichgewicht, in dem wir einigen beipflichten und andere zurückweisen. Wir pflichten denen bei, die uns als stimmige Formen des Schlussfolgerns erscheinen. Darüber hinaus gibt es nichts zu sagen, insbesondere gibt es hierzu keine weitere platonische oder transzendente Geschichte zu erzählen. Anders als Hume und auch Reid zeigt Mill keinerlei Interesse am Skeptizismus. Wenn jemand meint, dass der Skeptizismus weder beantwortbar, noch unseriös sei, so möge dies eine wahrhafte philosophische Weisheit sein. Mills erkenntnistheoretische Kritiker, egal ob sie Realisten oder nachkantische Idealisten waren, hielten es aber für offensichtlich, dass hier eine Ausflucht vorlag und keine Weisheit. Der Naturalismus könne sich vom Skeptizismus nur dadurch unterscheiden, dass er unkritisch ist, und darin liegt auch ein Stück Wahrheit der Vermutung, dass Mills logisches System ‚psychologistisch‘ sei; wenn dies eine stimmige Kritik ist, so ist dies eine stimmige Kritik aller naturalistischen Erkenntnislehren. 5. Induktive Wissenschaft Mill wirft nicht einfach skeptische Fragen über einfache Verallgemeinerungen aus der Erfahrung auf; er meint allerdings, dass dies eine hoch fehleranfällige Methode sei. Sein Ziel ist es zu zeigen, wie Schlussmethoden daraus hervorgehen können, die das Risiko der Induktion deutlich reduzieren, selbst wenn man es niemals gänzlich eliminieren kann. Das Menschsein beginnt mit ‚spontanen‘ und ‚unwissenschaftlichen‘ Induktionen über einzelne, unverbundene Naturphänomene oder Erfahrungsaspekte. In dem Umfange, wie sich diese Verallgemeinerungen akkumulieren und untereinander verknüpfen, rechtfertigen sie eine induktive Schlussfolgerung zweiter Ordnung, dass alle Phänomene Gegenstand einer Einheitlichkeit sind, und noch genauer gesagt, dass sie alle in ausreichendem Umfange erkennbar strukturiert sind. In einer weniger vagen Form wird das Prinzip der allgemeinen Einheitlichkeit in Anbetracht von Mills Analyse der Kausalität damit zu einem Gesetz der universalen Kausalität. Dies wiederum liefert, so glaubt Mill, die Grundannahmen für einen neuen Denkstil über die Natur, den Mill ‚eliminative Induktion‘ nennt. Bei dieser Art des Schlussfolgerns initiiert die Annahme, dass ein Phänomentyp einheitliche Ursachen habe, zusammen mit der revidierbaren Annahme darüber, was dessen mögliche Ursachen seien, eine vergleichende Untersuchung, bei der die wirkliche Ursache mittels Elimination herausgefunden wird. Mill formuliert die Logik dieses eliminativen Schlusses in seinen bekannten ‚Methods of Experimental In1167
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quiry‘ (2. Buch, Kap. 7 des ‚System of Logic‘). Sein inneres Bild des Wechselspiels zwischen enumerativem und eliminativem Schlussfolgern und der Weise ihrer Feststellung, und damit unser rationales Vertrauen in den induktiven Prozess ist elegant und eindringlich. Die verbesserte wissenschaftliche Induktion, die sich aus diesem neuen Denkstil ergibt, wirkt auf das Prinzip der universalen Verursachung zurück, auf dem sie beruht, und hebt ihre Gewissheit auf ein neues Niveau. Dies wiederum hebt unser Vertrauen in die Gesamtheit der einzelnen enumerativen Induktionen, aus denen das Prinzip abgeleitet wurde. Deshalb hängt der Umfang des Vertrauens, durch den sich jemand auf diesen ‚induktiven Prozess‘ verlässt, insgesamt von dem Stand ab, der bis dahin bereits erreicht wurde, auch wenn das Vertrauen in die Induktion des Einzelfalls immer schwankt. Mills Induktivismus, d.h. seine Auffassung, dass die enumerative Induktion die einzige und letzte maßgebliche Schlussmethode auf neue Wahrheiten ist, wurde von William Whewell bestritten, der einwandte, dass die wirklich fundamentale Methode der wissenschaftlichen Untersuchung die ‚Hypothetische Methode‘ sei, in der jemand auf die Wahrheit einer Hypothese aus der Tatsache schließt, dass hierdurch die beobachteten Phänomene erklärt werden (siehe Schluss auf die beste Erklärung). Mill hatte Whewells ‚History of the Inductive Science‘ (1837) gelesen und konnte kaum dessen Darstellung der Durchdringung wirklicher Untersuchungsprozesse durch Hypothesen vergessen haben, und auch nicht deren Unverzichtbarkeit als vorläufige Annahmen, d.h. ihren ‚heuristischen‘ Wert, wie Whewell sie nennt. Mill konnte allerdings nicht den einfachen Umstand akzeptieren, dass eine Hypothese, die Daten erklärt, bereits an sich selbst Anlass dazu gibt, sie für wahr zu halten. Whewells Berufung bezog sich allerdings auf die wirkliche Praxis des wissenschaftlichen Schließens, wie es in der Wissenschaftsgeschichte beobachtet wurde. Eine Berufung dieser Art war genau das, was Mill nach seinen eigenen Prinzipien nicht ignorieren konnte. Wenn die Disposition zur Hypothesenbildung eine spontane ist, warum sollte sie dann nicht als eine grundlegende Methode des Schlusses auf die Wahrheit anerkannt werden, wie er dies auch von der enumerativen Induktion behauptete? Mills Weigerung, dies anzuerkennen, ist nicht willkürlich. Was dieser Weigerung wesentlich zugrunde liegt, ist die mächtige Möglichkeit, dass eine Datengesamtheit eventuell gleich gut durch mehr als eine Hypothese erklärt ist. Mill leugnet nicht die wachsende induktive und mathematische Organisation der Wissenschaft, er betont sie sogar. Dies ist durchaus mit seinem Induktivismus vereinbar, und tatsächlich steht dies im Zentrum seiner Darstellung eines wachsenden Vertrauens in den induktiven Prozess. Er ist ferner einverstanden, dass eine Hypothese manchmal mittels eliminativer Methoden des induktiven Schließens bewiesen werden kann, die er akzeptiert, sofern sie daraufhin die einzige ist, die mit den Tatsachen übereinstimmt. Und er erlaubt verschiedene weitere Fälle offenkundig rein hypothetischer Schlüsse, die nach seiner Auffassung echt induktiv sind. Wenn man alle diese Fälle berücksichtigt, so bleiben nur noch die reinen Fälle der Hypothetischen Methode übrig, in denen die postulierten Ursachen nicht direkt beobachtbar sind, und zwar nicht einfach deshalb, weil sie im Einklang mit bekannten Gesetzen, die induktiv begründet wurden, in Regionen des Raums oder der Zeit als operabel angenommen werden, die für die Beobachtung zu weit ent1168
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fernt liegen. Was sollen wir zu solchen Hypothesen sagen, z.B. jener der ‚wellenförmigen‘ Theorie des Lichts? Sie können nicht, meint Mill, als induktiv begründete Wahrheiten akzeptiert werden, nicht einmal als wahrscheinliche. „Eine Hypothese dieser Art wird nicht als wahrscheinlich wahr angenommen, weil sie alle bekannten Phänomene erklärt. Denn dies ist eine Bedingung, die manchmal auf hinnehmbare Weise auch durch zwei miteinander widerstreitende Hypothesen erfüllt wird, während es wahrscheinlich viele weitere gibt, die gleichermaßen möglich sind, die aber infolge des Fehlens irgendeiner Analogie in unserer Erfahrung von unserem Geist nicht gedacht werden können.“ (‚System of Logic‘) Eine solche Hypothese kann fruchtbare Analogien hervorrufen, meint Mill, aber sie kann nicht als etwas betrachtet werden, dass an sich selbst zu einer neuen Wahrheit führt. Die Daten legen uns auf keine bestimmte Hypothese fest; es ist diese Möglichkeit der Unterbestimmung, die ihn daran hindert, das hypothetische Schließen als eine unabhängige Methode zur Erlangung der Wahrheit zu akzeptieren. Mill bewegt sich sicherlich auf festem Grund, wenn er diese Schwierigkeit sieht. Was er allerdings nicht sieht, ist die Frage, wie viel vom Gebäude unserer Überzeugungen eingerissen werden muss, wenn sein Induktivismus strikt angewandt wird. Es ist deshalb eine wichtige Frage, ob diese Schwierigkeit gelöst werden kann, und ob sie innerhalb eines naturalistischen Rahmens gelöst werden kann, der sich nicht auf einen zugrunde liegenden Idealismus beruft, wie dies Whewell tat. Wenn der Naturalismus die hypothetische Methode bestätigen kann, dann kann er unter anderem auch einen plausibleren Empirismus als den Millschen für die Logik und die Mathematik entwickeln. Aber die Rahmenbedingungen seines Induktivismus sind sogar noch weiter gesteckt, wie sich bei der näheren Betrachtung seiner allgemeinen Metaphysik zeigen wird. 6. Geist und Materie Mill umreißt seine metaphysischen Anschauungen in ‚An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy‘. Hamilton war der letzte herausragende Vertreter der Scottish Common Sense School und ein grimmiger Polemiker. In Mills Augen war er ein rechthaberisches Mitglied des Establishments und deshalb reif für seine Demontage. Als Ergebnis hiervon zeigt sich Mills Diskussion der allgemeinen metaphysischen Fragen in einer sehr polemischen Form, bei der wichtige Themen im Dunkeln bleiben. Er nahm sich jedoch die Zeit zur Entwicklung seiner Auffassung unserer Erkenntnis der externen Welt. Er beginnt mit einer Lehre, die er richtigerweise als (zu seiner Zeit) allgemein akzeptiert auffasst, nämlich „dass alle Merkmale, die wir den Gegenständen zuschreiben, darin bestehen, dass sie die Kraft haben, die eine oder andere Form von Empfindung in unserem Geiste zu erregen, und die schon existierten; dass ein Gegenstand nichts anderes ist als das, was unsere Sinne auf gewisse Weise berührt“ (‚Hamilton’s Philosophy‘). Dies ist die „Lehre der Relativität der Erkenntnis im Verhältnis zum erkennenden Geist“. Sie macht die Erkenntnistheorie nach Mills Worten zur „Interpretation des Bewusstseins“. Sodann schreitet er zur Analyse dessen, was wir meinen, wenn wir sagen, dass Gegenstände uns äußerlich seien: „Wir meinen damit, dass unsere Wahrnehmung etwas betrifft, was auch noch existiert, wenn wir nicht an sie denken; was schon existierte, noch bevor wir über-
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haupt an sie dachten und auch noch dann existieren würde, wenn es uns nicht gäbe; und ferner, dass dort Dinge existieren, die wir niemals gesehen, berührt oder auf andere Weise wahrgenommen haben, und Dinge, die noch nie ein Mensch je gesehen hat; diese Idee von etwas, die man von unseren flüchtigen Eindrücken dessen unterscheiden muss, was in kantischer Sprechweise Dauerhaftigkeit genannt wird; etwas also, das existiert, egal ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, bildet unsere Idee der externen Substanz. Wer immer diesem komplexen Begriff einen Ursprung [d.h. einen objektiven Bezug] zuordnen kann, hat damit erklärt, was wir mit dem Glauben an die Materie meinen.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘) Zur Zuschreibung dieses ‚Ursprungs‘ postuliert Mill, dass „wir imstande sind, den Begriff der ‚möglichen Empfindung‘ zu bilden; Empfindungen, die wir im gegenwärtigen Moment nicht spüren, die wir aber spüren würden und sollten, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘) „Diese Möglichkeiten, die bedingte Gewissheiten sind, bedürfen eines besonderen Namens, um sie von den lediglich unbestimmten Möglichkeiten zu unterscheiden, bei denen die Erfahrung nicht garantiert, dass man sich auf sie verlassen kann. Sobald man ihnen aber einen unterscheidenden Namen gegeben hat, auch wenn es sich um denselben Gegenstand, nur aus einer anderen Perspektive betrachtet, handelt, so lehrt uns eine der vertrautesten Erfahrungen unserer geistigen Natur, dass der abweichende Name als der Name eines anderen Gegenstandes betrachtet wird.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘) Physische Gegenstände sind „permanente Möglichkeiten der Empfindung“, wobei sich eine Veränderung in den permanenten Möglichkeiten der Empfindung von etwas ergibt, sobald in der Welt eine Veränderung stattfindet. Mill verwendet auch andere Ausdrücke wie z.B. ‚gesicherte‘ oder ‚garantierte‘ Möglichkeiten. Wir stellen oft fest, dass immer dann, wenn ein gegebenes Muster gesicherter Empfindungsmöglichkeiten gegeben ist, darauf ein anderes folgt. „Folglich verbinden sich unsere Vorstellungen der Kausalität, der Kräfte, der Tätigkeit […] nicht mit Empfindungen, sondern mit Gruppen von Empfindungsmöglichkeiten.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘) (siehe Phänomenalismus). Aber selbst wenn unser Begriff der Materie als der externen Ursache von Empfindungen auf der Grundlage psychologischer Prinzipien erklärt werden kann, so ist es immer noch möglich gute Gründe dafür anzugeben, dass dieser Begriff auch instantiiert ist. Es mag einen legitimen Schluss von der Existenz der permanenten Möglichkeiten und ihren Entsprechungen auf die Existenz einer externen Ursache unserer Empfindungen geben. Genau an diesem Punkt spielt der Millsche Induktivismus eine Rolle. Dieser Schluss wäre ein Fall des hypothetischen Schlusses auf eine Erklärung der Erfahrung, der alle möglichen Erfahrungsdaten transzendieren würde; genau dies aber weist Mill zurück: „Ich gehe nur von der Neigung aus, nicht aber von der Legitimität der Neigung, alle Gesetze unserer eigenen Erfahrung auf eine Sphäre auszuweiten, die jenseits unserer Erfahrung liegt.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘). Wenn die Materie die permanente Möglichkeit der Empfindung ist, was ist dann der Geist? Kann er ebenfalls aufgelöst werden in eine „Reihe von Gefühlen mit einem Hintergrund an Gefühlsmöglichkeiten“? Mill sieht in dieser Auffassung eine
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ernsthafte Schwierigkeit: sich eines Bewusstseinszustandes zu erinnern oder ihn zu erwarten heißt nicht einfach zu glauben, dass er schon existiert hat oder noch existieren wird; dies heißt vielmehr zu glauben, dass ich selbst bereits diesen Bewusstseinszustand erfahren habe oder noch erfahren werde. „Wenn wir also vom Geist als einer Reihe von Gefühlen sprechen, so sind wir verpflichtet, diese Erklärungen dadurch zu vervollständigen, dass wir sie eine Gefühlsreihe nennen, die sich ihrer selbst als Vergangenheit und Zukunft bewusst ist, und wir sind damit auf die Überzeugungsalternative eingeschränkt, demzufolge der Geist oder das Ego etwas anderes ist als diese Gefühlsreihe oder deren Möglichkeiten, oder auch zur Annahme des Paradoxons, dass etwas, das ex hypothesi nicht als eine Gefühlsreihe ist, sich selbst als einer solchen Reihe bewusst sein kann.“ (‚Hamilton’s Philosophy‘) Obwohl Mill also nicht gewillt ist, „die übliche Theorie des Geistes als die so genannte Substanz“ zu akzeptieren, treibt ihn doch das Selbstbewusstsein, dass an der Erinnerung und der Erwartung beteiligt ist, dazu, „dem Ego, also meinem eigenen Geist, eine Wirklichkeit zuzuschreiben, die sich von der realen Existenz als der permanenten Möglichkeit unterscheidet, die die einzige Wirklichkeit ist, die ich der Materie zugestehe“ (‚Hamilton’s Philosophy‘). Diese Ontologie, meint Mill, sei konsistent mit einer common-sense-Auffassung der Weltwirklichkeit. Der Phänomenalismus, also die Konzeption der Materie als einer Möglichkeit der Erfahrung, lasse angeblich den common sense und auch die Wissenschaft unberührt. Insbesondere sehe sie den Geist und die Erfahrung als Teil einer natürlichen Ordnung. Wenn aber der Phänomenalismus richtig ist, dann sind nur die Erfahrungen wirklich. Mill meint, wir kämen zu dieser Schlussfolgerung durch die Maßstäbe der Vernunft selbst, die in einer naturalistischen ‚Wissenschaft der Wissenschaft‘ oder dem ‚System der Logik‘ niedergelegt sei. Träfe dies zu, würde sich die naturalistische Sicht der Welt, die den Geist als Teil einer größeren kausalen Ordnung sieht, allerdings selbst untergraben. Denn wenn wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass Bewusstseinszustände nur infolge der Anwendung jener Maßstäbe des Naturalismus selbst wirklich sind, dann wäre diese Schlussfolgerung wie eine naturalistische Bestätigung zu verstehen, dass Bewusstseinszustände ebenfalls Teil einer größeren kausalen Ordnung sind, die ihnen äußerlich ist – was in einen Selbstwiderspruch führt. Kausalbeziehungen können nicht zwischen fiktionalen Entitäten existieren, die nur reine Zeichen für Empfindungsmöglichkeiten sind. Dies ist eine Bruchlinie in Mills Erkenntnistheorie und Metaphysik. Entweder untergräbt sich der Naturalismus selbst, oder etwas an Mills induktivistischer Analyse unserer natürlichen Vernunftregeln oder auch seiner Bestätigung der Lehre von der Relativität der Erkenntnis ist falsch, oder gar beides. Es ist nicht klar, ob Mills grundlegendster Lehrsatz, nämlich seine naturalistische Sichtweise des Geistes, dadurch gerettet werden kann, dass man seinen Induktivismus verwirft und sich der hypothetischen Methode verschreibt. Diese Hypothese, nach der sich die Welt allein durch die Erfahrung erklären lässt, ist immer noch unplausibel. Mill selbst erkannte nun ausdrücklich an, dass die Erinnerung, ebenso wie die Induktion, erkenntnistheoretisch relevant sei. Hätte er die Bedeutung dieser Anerkennung gründlicher überdacht, wäre ihm vielleicht eine Parallele aufgefallen: auf der einen Seite jene 1171
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primitive erkenntnistheoretische Norm, die die Behauptungen betreffend die Vergangenheit sicherstellt, die auf gegenwärtigen Erinnerungserfahrungen beruhen; andererseits jene primitiven erkenntnistheoretischen Normen, die die Behauptungen über die physische Welt sichern, die auf (gegenwärtiger) Wahrnehmungserfahrung beruhen. Beide Auffassungen sind denselben Einwänden ausgesetzt. Aber vielleicht hätte ihn eine solche Überlegung zu weit in die Richtung der Reidschen Prinzipien des common sense gedrängt. 7. Die Freiheit und die Moralwissenschaften Das sechste und letzte Buch des ‚System of Logic‘ ist eine klassische Methodenlehre der ‚moralischen‘ Wissenschaften (d.h. der Sozialwissenschaften, worunter in diesem Zusammenhang auch die Psychologie fällt). Dessen Stärke leitet sich teilweise aus der Tatsache ab, dass Mill ein Philosoph war, der auch im Bereich der gesamten übrigen Wissenschaften auf ihrem damaligen Wissensstand zu Hause war. Er war hauptsächlich als Nationalökonom bekannt, interessierte sich aber auch stark für die Psychologie und die gerade im Entstehen begriffene Wissenschaft der Soziologie. Er dachte über den Sozialismus, über die Besteuerung und Eigentumssysteme als Volkswirt genauso wie als Philosoph, und er dachte in soziologischen Bahnen über solche Themen wie die Demokratie und die Rolle der Moral und der intellektuellen Eliten nach. Er zeigte auch Interesse an einer Vielzahl psychologischer Fragen, einschließlich jenen zum Begriff des Wunsches, der Lust und des Willens, sowie zu den Ursprüngen des Bewusstseins und der Gerechtigkeit. Die Phänomene des Geistes und der Gesellschaft sind nach Mills Auffassung kausale Prozesse. Wenn der Geist und die Gesellschaft ein Teil der kausalen Ordnung sind und die Kausalität ihrerseits eine reguläre Ereignisfolge ist, dann ist das allgemeine Erklärungsmodell, das er vorschlägt, und demzufolge eine Erklärung die Tatsachen unter Gesetze subsumiert, die diese jeweils mit ihren kausalen Vorgängertatsachen verbinden, auch auf die sog. ‚moralischen Wissenschaften‘ anwendbar. Für die Sozialwissenschaften mag es in Anbetracht der komplexen Datenlage schwierig sein, diesen Erwartungen gerecht zu werden; dennoch ist dieses Modell quasi ihr Ideal. Wichtige Fragen ergeben sich daraus zum Charakter der einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und den Beziehungen zwischen ihnen, und Mill behandelt diese Fragen ganz im Detail. Er denkt aber nicht, dass die Idee einer Moralwissenschaft bereits grundsätzlich neue metaphysische oder erkenntnistheoretische Fragen aufwirft (siehe Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften). Psychologische Begriffe sind intentionaler Natur, und entsprechend haben die Sozialwissenschaften interpretierenden Charakter. Können Gesetze des individuellen Verhaltens – und dies vermutete Mill – in einem solchen hermeneutischen Vokabular formuliert werden? Sein Verständnis der Sozialwissenschaften geht davon aus, dass ihre grundlegenden Gesetze in der Psychologie begründet liegen. Er war zwar auch mit einer anderslautenden Ansicht vertraut, nämlich einer von Auguste Comte, der meinte, dass die grundlegende und irreduzible Moralwissenschaft die Soziologie sei (wobei die Bezeichnung von ihm selbst geprägt wurde). Für ihn gab es keine ‚tiefere‘ Moralwissenschaft, keine Wissenschaft des Psychischen. Die nächste Ebene unterhalb der Soziologie war für ihn bereits die Biologie. Mill lehnte diese Sichtweise ab, teilte aber begeistert Comtes Vision einer historischen Sozio1172
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logie. Die Psychologie mochte die irreduzible theoretische Grundlage der Moralwissenschaften sein; die historische Soziologie wäre dann aber, zumindest was Mill betrifft, ihr erstes Beweisstück. Eine Art von Assoziationismus und die Comtesche historische Soziologie sind somit die treibenden Ideen hinter Mills Logik der Moralwissenschaften. Beide greifen ineinander. Der Assoziationismus stärkte seinen Glauben an die Wandelbarkeit des menschlichen Wesens: unterschiedliche soziale und historische Formationen können radikal unterschiedliche Assoziationsmuster hervorbringen. Die Brücke zwischen der historischen Soziologie und den invarianten Gesetzen der Assoziationspsychologie könnte, so meinte Mill, durch eine gesonderte Neuerung geschlagen werden, und zwar durch eine Wissenschaft, die er ‚Ethologie‘ nannte, in der die verschiedenen Formen des menschlichen Charakters unter unterschiedlichen sozialen Bedingungen untersucht werden. Er versuchte eine Abhandlung über diesen Gegenstand zu schreiben. Es ist jedoch kein Zufall, dass er hierin scheiterte. Wie können Menschen in einer naturalistischen Sichtweise des Geistes und der Gesellschaft frei sein? Diese Frage beschäftigte Mill tief. Die Schlussfolgerung, die andere aus der Lehre des Determinismus zogen, dass wir nämlich (in Mills Worten) „keine Kraft der Selbstbildung haben“, und dass wir deswegen für unseren Charakter und unsere Handlungen nicht wirklich verantwortlich sind, hätte seine moralische Vision zerstört. Die ‚Selbstbildung‘ ist der Dreh- und Angelpunkt seines Lebensideals, und die moralische Freiheit, d.h. die Fähigkeit, seine Wünsche unter die Kontrolle eines beständigen rationalen Zweckes zu bringen, ist eine Bedingung der Selbstbildung und damit des Besitzes eines Charakters im vollen Wortsinne (siehe Freier Wille, §§ 3–4). Mill musste also zeigen, wie kausal konditionierte, natürliche Gegenstände auch und gleichzeitig moralisch freie Akteure sein können. Die Skizze einer Lösung in seinem ‚System of Logic‘ (6. Buch, Kap. 2), die Mill für das beste Kapitel des ganzen Buches hielt, ist kurz, aber eindringlich. Es gibt noch eine längere Diskussion dieses Themas in ‚An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy‘, Kap. 26. Eines der herausragenden Merkmale dieser Darstellung ist die Unterscheidung zwischen ‚widerstehlichen‘ und ‚unwiderstehlichen‘ Ursachen; im Alltagsbewusstsein werden nur die unwiderstehlichen Ursachen, deren Eintreten „zu mächtig erlebt wird, als das man irgend dagegen angehen könnte“, notwendig genannt: „Es gibt physische Ereignisfolgen, die wir notwendig nennen, wie den Eintritt des Todes infolge Nahrungs- oder Luftmangels; und es gibt andere, die, obwohl sie genauso Fälle der Kausalität sind wie die zuvor genannten, als nicht notwendig angesehen werden, wie z.B. der Gifttod, den ein Gegenmittel oder der Einsatz einer Magenpumpe manchmal abzuwenden vermag […] Die menschlichen Handlungen fallen unter die letzte Kategorie: sie sind nie (außer in einigen Fällen der Besessenheit) durch irgendeinen Beweggrund mit so absoluter Macht geleitet, dass es keinen Platz mehr gibt für den Einfluss eines anderen.“ (‚System of Logic‘) Eine Handlung, die durch einen unwiderstehlichen Beweggrund (eine ‚Besessenheit‘) verursacht wird, ist offensichtlich nicht frei. Dies ist sicherlich richtig. Allerdings steht die Sache schon wieder etwas anders, wenn wir von der Idee der ‚widerstehlichen‘ Beweggründe infolge der Anwesenheit anderer Motive zur Idee der moralischen Freiheit kommen, d.h. der Idee, dass ich keine Kraft habe, um den 1173
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jeweiligen Beweggründen zu widerstehen. Es handelt sich hier um die Fähigkeit zur Anerkennung und Antwort auf Gründe. Ich handele frei, wenn ich dem Beweggrund widerstanden haben könnte, dem ich tatsächlich handelnd gefolgt bin, sofern ich Gründe für einen solchen Widerstand gehabt hätte. Ein Beweggrund beeinträchtigt meine moralische Freiheit, wenn es nicht durch einen zwingenden Grund dafür, ihm die Gefolgschaft zu verweigern, überwunden werden kann. Mill schafft es aber nicht, diese Verbindung zwischen der Freiheit und der Vernunft klar darzustellen, sondern er verlässt sich in seinen moralischen Schriften einfach auf diese Verbindung. Er geht einfach davon aus, dass man überall mehr oder weniger frei sei, je nach dem Maß oder Umfang, in dem ich meine Beweggründe prüfe und nach dem Ergebnis dieser Prüfung handele. So kann ich mich also freier machen, indem ich meinen Wünschen eine Form gebe oder zumindest meine Willensstärke kultiviere, um sie zu überwinden. „Eine Person fühlt sich moralisch frei, die spürt, dass ihre Gewohnheiten oder ihre Versuchungen keine Herrschaft über sie ausüben, sondern umgekehrt die Person über ihre Gewohnheiten und Versuchungen, d.h. wer selbst noch dann, wenn er ihnen nachgibt, weiß, dass er ihnen widerstehen könnte […] Wir müssen spüren, dass unser Wunsch, wenn er nicht stark genug ist, unseren Charakter zu ändern, er doch stark genug ist, unseren Charakter zu erobern, wenn die beiden über irgendeine bestimmte Verhaltensfrage in Streit miteinander geraten. Und deshalb kann man mit Wahrheit sagen, dass niemand außer einer Person mit festen Tugenden vollständig frei ist.“ (‚System of Logic‘) Die Identifikation der moralischen Freiheit mit ‚festen Tugenden‘, und etwas weniger ausdrücklich der festen Tugend mit der beständigen Empfänglichkeit für Gründe, ist bei Mill genauso gegenwärtig wie bei Kant (siehe Kant, I., § 11). Aber Mill behandelt nicht die entscheidenden Fragen wie z.B. jene, was es heißen soll, einen Grund zu erfassen, oder wie die Vernunft überhaupt ihre Wirkung entfalten kann. Um die Kohärenz seiner Auffassung zu rechtfertigen, müsste man zeigen, wie man auf solche Fragen auf eine Weise antworten kann, die mit dem Naturalismus vereinbar ist. Diese Problematik ist noch in der zeitgenössischen Philosophie ein zentraler Punkt, doch Mill hat sich darüber nie wirklich Rechenschaft abgelegt. 8. Glück, Wunsch und Wille Mills einziger und letztlicher Maßstab aller theoretischen Vernunft ist die ‚enumerative Induktion‘. Sein einziger und letzter Maßstab der praktischen Vernunft ist das Nützlichkeitsprinzip; an dessen Elle wird alles Gute gemessen. Aber was ist das Gute? Nach Mill ist es die Glückseligkeit (engl.: happiness), die er als „Lust und Abwesenheit von Schmerz“ versteht (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) (siehe Glück). Seine ganze Auffassung ruht hier auf dem folgenden methodischen Prinzip: „Der alleinige Beweis, den man dafür erbringen kann, dass irgendetwas Wünschenswertes möglich ist, liegt darin, dass die Menschen sich dies wirklich wünschen. Wenn der Zweck, den die utilitaristische Lehre behauptet, in der Theorie und der Praxis nicht als ein Zweck anerkannt wäre, dann würde auch sonst nichts je eine Person davon überzeugen, das es überhaupt ein Zweck ist.“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) Mill behauptet nicht, dass die Schlussfolgerung, derzufolge das Glück wünschenswert sei, deduktiv aus der Prämisse folge, dass die Menschen es sich im All1174
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gemeinen wünschen. Er verleitet aber insofern zu einem solchen Missverständnis, als er die Denkbewegung von ‚erwünscht‘ zu ‚wünschenswert‘, mit jener von ‚gesehen‘ und ‚gehört‘ zu ‚sichtbar‘ und ‚hörbar‘ vergleicht. Diese Prozedur ist allerdings einfach eine Berufung auf die reflexive Praxis, so wie im Falle der enumerativen Induktion, wo wieder der alleinige Beweis, dass die enumerative Induktion eine letzte Denknorm ist, das ist, was wir als solches in der Theorie und Praxis anerkennen (sollen). Eine Frage, die sich aus Mills eigenem methodischem Prinzip aufdrängt, ist allerdings, ob die reflexive Praxis zeigt, dass das Glück die einzige Sache ist, die wir uns wünschen. Wünschen sich die Menschen in der Theorie und Praxis nicht auch andere Sachen als nur das Glück? Mill kommt dieser Frage zuvor und antwortet ausführlich auf diesen Einwand. Er behauptet, dass, wenn wir einen bestimmten Gegenstand um seiner selbst Willen ohne einen weiteren Zweck begehren, wir ihn uns dann deshalb wünschen, weil wir ihn uns als genussvoll vorstellen: „Sich etwas jenseits der Vorstellung zu wünschen, dass dies auch lustvoll ist, ist eine physikalische und metaphysische Unmöglichkeit“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5). Dies heißt aber nicht, dass wir uns alle Gegenstände als Mittel unserer Lust erwünschen. Sich einen Gegenstand zu wünschen ist ein echter Wunsch nach diesem Gegenstand; es ist nicht der Wunsch nach Lust als solcher. Mill vermerkt dies, indem er sagt, dass der Gegenstand als ‚Teil‘ oder als ‚Bestandteil‘ des Glücks gewünscht wird, aber nicht als Mittel dazu. Seine Ablehnung des psychologischen Egoismus war einer der Punkte, in dem er sich von Bentham absetzte (siehe Bentham, J.). Wenn eine Person etwas tut, weil sie meint, dies sei lustvoll, z.B. eine großzügige Person, die ein Geschenk macht, so folgt daraus nicht, dass sie eigennützig handelt (siehe Egoismus und Altruismus). Großzügige Menschen gewinnen Lust aus der Erwartung des Gebens, nicht aus der Aussicht auf Lustgewinn; ihr Wunsch zu geben ist nicht von dem Wunsch nach Lustgewinn abgleitet. Geben ist ein Teil ihres Glücks, nicht ein Mittel dazu. Daher lautet Mills Eintreten für die Behauptung, dass das Glück der alleinige menschliche Lebenszweck ist, sorgfältiger formuliert, folgendermaßen: „Was immer anders als nur als Mittel zu irgendeinem Zweck über sich selbst hinaus ersehnt wird, und damit letztlich zur Erreichung des Glücks, wird selbst als Teil des Glücks ersehnt und nicht an sich selbst, bis es eingetreten ist“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5). Nichts an dieser Formulierung setzt Humes Ansicht voraus, dass jede Handlung letztlich aus einem unabgeleiteten Wunsch heraus entspringt. Dies ist eine vollkommen gesonderte Frage, und Mills Auffassung von ihr liegt näher bei Kant oder Reid als bei Hume. Er beharrt „positiv und mit Betonung“ darauf: „dass der Wille etwas anderes ist als der Wunsch; dass eine Person mit gefestigter Tugend, oder auch jede andere Person, deren Zwecke festgelegt sind, diese Zwecke ohne jeden Gedanken an die Lust verfolgt, die er gewinnt, wenn er daran denkt, oder die er aus ihrer Erreichung abzuleiten erwartet.“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) Diese Unterscheidung zwischen Zweck und Wunsch liegt im Zentrum von Mills Konzeption des Willens. Wenn wir Zwecke entwickeln, so können wir uns willentlich gegen reine Neigung oder Abneigungen durchsetzen: „Im Falle eines gewöhnlichen Zwecks wünschen wir uns eine Sache oft nur deshalb, weil wir sie wollen, und wollen sie nicht, weil wir sie uns wünschen“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5). 1175
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Jede Handlung wird durch einen Beweggrund verursacht, aber nicht jeder Beweggrund ist eine Neigung oder Abneigung: „Wenn der Wille durch Beweggründe bestimmt wird, so bedeuten diese Beweggründe nicht immer oder allein die Vorwegnahme einer Lust oder eines Schmerzes […] Eine Gewohnheit des Willens wird üblicherweise ‚Zweck‘ genannt; und unter den Ursachen unserer Willensakte und der Handlungen, die sich aus ihnen ergeben, dürfen nicht nur die Neigungen und Abneigungen in Rechnung gestellt werden, sondern auch die Zwecke.“ (‚System of Logic‘) Die Bildung von Zwecken aus Wünschen ist die Evolution des Willens; dies ist aber auch die Entwicklung des Charakters. Mill zitiert Novalis: „Ein Charakter ist ein vollständig gestalteter Wille“ (‚System of Logic‘). Darin spiegelt sich allerdings nicht die Gesamtheit seiner Ansichten über den Charakter wider. Der Charakter erfordert nach seiner Meinung die Kultivierung sowohl des Gefühls, als auch des Willens: „Von einer Person, deren Wünsche und Impulse ihre eigenen sind – d.h. der Ausdruck ihres eigenen Wesens sind, wie es sich entwickelt hat und durch seine eigene Kultur verändert wurde – heißt es, sie habe einen Charakter“ (‚On Liberty‘). Die entwickelte Spontaneität des Gefühls sei Teil eines voll entfalteten Charakters, und die moralische Freiheit sei dies sicherlich ebenfalls: „Niemand außer einer Person mit gefestigter Tugend ist vollständig frei.“ Wie bereits oben unter § 7 vermerkt, spricht Mill nicht die zentrale Frage an, was es an einem Zweck ausmacht, von der Vernunft geformt zu sein. Dennoch erlaubt ihm die Unterscheidung zwischen Zweck und Wunsch die Anerkennung gewissenhafter Handlungen, d.h. solcher, die nicht die Folge irgendeiner Neigung sind, sondern allein aus der Willensgewohnheit folgen. Er behauptet die Möglichkeit und den Wert eines „festen Willens, das Richtige zu tun“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5), was sich von den Beweggründen der antizipierten Lust und eines solchen Schmerzes unterscheidet. Dieser ‚tugendhafte Wille‘ ist für ihn jedoch kein spezifisch Gutes, wie dies bei Kant der Fall ist. Es ist: „ein Mittel zum Guten, nicht an sich selbst ein Gutes; und es widerspricht nicht der Lehre, dass nichts für die Menschen gut ist, wenn es nicht selbst lustvoll ist oder ein Mittel zur Erreichung von Lust oder zur Vermeidung von Schmerz.“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) 9. Bedingungen der Lust Glück, d.h. Lust und die Abwesenheit von Schmerz, ist das alleinige und abschließende Ziel des Lebens. Aber Mills Idee hiervon ist viel romantischer und liberaler als diejenige der früheren Utilitaristen. Er stellt auch den Umstand in Rechnung, dass eine Vielzahl von Begriffen, z.B. die Reinheit, die (psychische oder soziale) Erhöhung, die Tiefe, die Verfeinerung, die Erhabenheit und ihre Gegenteile in unsere Bewertung der Lust einfließen. Wir bewerten die Lust nicht nur in einer einzigen Dimension. In seinen allgemeinen ethischen und politischen Schriften bedient sich Mill sehr frei dieser ausführlichen und flexiblen Wendungen. Er sieht das Bedürfnis nach ihrer Anerkennung auch in einer utilitaristischen Theorie, doch hier verwendet er sie eher mechanisch, indem er ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ der Lust unterscheidet. Seit seiner ersten Veröffentlichung des ‚Utilitarianism‘ wurden zumindest drei Fragen zu dieser berühmten Unterscheidung gestellt. Die erste lautet, ob diese Unterscheidung mit dem Hedonismus vereinbar ist. Die zweite ist erkenntnistheoretischer 1176
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Natur: gibt es eine zwingende Art und Weise zur Bestimmung, ob einigen Arten von Lust eine höhere ‚Qualität‘ zukommt? Die dritte und vielleicht herausforderndste, auch wenn sie seltener diskutiert wird, lautet, wie diese Unterscheidung überhaupt in den Rahmen des Utilitarismus passt. Was die erste Frage betrifft: tatsächlich gibt es, wie Mill selbst sagt, logisch betrachtet keinen Grund, warum nicht mehr als ein Merkmal der jeweiligen Lüste zur Einschätzung ihres Wertes relevant sein sollten. Doch wenn wir dieses Merkmal in quantitative und qualitative einteilen, so müssen wir sorgfältig zwischen der Quantität und der Qualität einer Lust einerseits, und ihrer Werthaltigkeit andererseits unterscheiden. Der Hedonismus erfordert lediglich, dass die einzigen Dinge, die eine Lust wertvoll machen, ihre Merkmale als Lust sind (siehe Hedonismus). Gleichwohl klingt der Eindruck nach, dass Mills Diskussion sich auf Intuitionen beruft, die nicht hedonistischer Natur sind. Ein Beispiel: „Wenige Menschen würden darin einwilligen, dass man sie in irgendein niedrigeres Tier mit dem Versprechen verwandelt, dass sie dort in den Genuss der vollständigsten tierischen Lüste kommen; kein intelligenter Mensch würde freiwillig so dumm sein, keine aufgeklärte Person wäre ein solcher Ignorant, keine fühlende und bewusste Person würde so egoistisch und niedrig sein, selbst wenn man sie davon überzeugte, dass der Narr, der Einfaltspinsel oder der Halunke mit seinem Los zufriedener wäre, als sie es mit dem ihren sind.“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) Er merkt auch an, dass ein „Wesen mit höheren Vermögen mehr verlangt, um glücklich zu werden, wahrscheinlich zu einem schärferen Leiden imstande ist und sicherlich diesen Dingen auf vielfältigere Weise zugänglich ist als ein Wesen geringeren Typs“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5). Daher kann ein Wesen mit höheren Vermögen mit einer Wahlentscheidung konfrontiert werden: auf der einen Seite ein Leben mit scharfem Leiden zu führen und ohne Zugang irgendeiner Art höherer Lust, zu deren Wertschätzung es aufgrund seiner Vermögen in der Lage wäre, und auf der anderen Seite ein Heilmittel (beispielsweise eine Operation), die sein Leiden mildert, ihm aber nur noch die Lustformen verfügbar lässt, die auch einem Narren oder Einfaltspinsel zugänglich sind. Meint Mill, dass in allen diesen Fällen das leidende Leben bevorzugt werden sollte? Er sagt dies nicht ausdrücklich, und wenn er ein Anhänger des Hedonismus ist, dann sollte er dies auch nicht tun. Denn es gibt sicher mögliche Fälle, in denen das Leben nach der Heilbehandlungen einen Strom von lustvollen Erlebnissen ermöglicht, die insgesamt, wenn man sowohl die Qualität, als auch die Quantität in Rechnung stellt, wertvoller sind als das leidende Leben, in dem man zwar seine höheren Vermögen behält, aber der höheren Lustformen beraubt ist. Wie steht es mit der erkenntnistheoretischen Frage? Mill stellt Bewertungen vergleichbarer Qualitäten von Lustformen den Bewertungen vergleichbarer Quantitäten gegenüber: beide würden „durch Gefühle und Urteile über die Erfahrung“ bestimmt (‚Utilitarianism‘, Kap.5). Aber das Urteil, dass der Lustgewinn aus dem Anschauen von Film A höherer Art ist als jener aus Film B, ist in Mills Anschauung sicher ein Werturteil. Der richtige Vergleich wäre eigentlich derjenige mit dem Werturteil, dass die empfundene Lust als solche wünschenswert ist. Eine höhere Form der Lust hat irgendein Merkmal als diese Lust, dass sie insgesamt wünschenswerter macht als die ‚niedrigere‘ Lust ähnlicher Quantität. Mill könnte hierauf erwidert haben, dass bei diesem Urteil, wie im Allgemeinen bei grundlegenden Werturtei1177
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len, das einzige Kriterium die reflektierende Praxis ist, d.h. die Selbstprüfung und Diskussion. In einer solchen Diskussion erweisen sich einige Menschen als bessere Richter als andere; dies ist keine Zirkularität des Urteils, sondern ein inneres Merkmal des normativen Urteils. Damit wird allerdings die dritte Frage schwierig: wie können solche Urteile über die Qualität einer Lusterfahrung in ein utilitaristisches Nützlichkeitskalkül integriert werden? Indem Mill vom Utilitarismus fordert, dass er solche Urteile aufnimmt, macht er eine Denkbewegung, die sowohl politisch, als auch ethisch bedeutsam ist. Denn in welcher Reihenfolge ordnen wir diese Lüste in unsere Sozialordnung ein: in derjenigen Reihenfolge, die sehr hoch entwickelte Menschen ihnen zuerkennen würden, oder in derjenigen, die weniger entwickelte Menschen zuschreiben würden? Mills Antwort hierauf ist eindeutig: es ist das Urteil der ‚kompetenten Richter‘, das zählt. Man nehme nun an, dass Menschen mit hoch entwickelten Fähigkeiten den Lustgewinn aus wissenschaftlichen Entwicklungen oder künstlerischen Schöpfungen so viel höher als einen solchen aus materiellem Wohlergehen ansetzen, dass (oberhalb eines kleinen Umfanges an physischem Komfort und an Sicherheit) jeder Betrag aus dem erstgenannten Lustgewinn, egal wie klein er ist, über den letzteren Typ von Lustgewinn gewertet wird, egal wie groß dieser ist. Angenommen jedoch, dass Menschen mit deutlich geringer entwickelten Fähigkeiten diese Reihenfolge nicht teilen. Und nun stelle man sich vor, dass Mill gefragt wird, wie viel von dem ‚niedrigeren‘ Lustgewinn der weniger Entwickelten geopfert werden soll, um den ‚höheren‘ Lustgewinn der Entwickelteren zu erhalten. Mills Anschauung ist hier, dass die höher entwickelten Menschen die korrekte Einschätzung des relativen Wertes der höheren und niedrigeren Lüste liefern. Auf der Grundlage dieser Hypothese würden die Höherentwickelten dann aber einen jeglichen Umfang der ‚niedrigeren‘ Lust bis auf das kleine Mindestmaß zum Überleben nur um des geringsten Betrages an ‚höherer‘ Lust Willen herunterstufen. Gilt dasselbe auch für den zwischenmenschlichen Bereich? Muss es für einen Utilitaristen folglich richtig sein, jeden Umfang an ‚niedrigerer‘ Lust der geringer Entwickelten bis auf ein Mindestmaß zum Überleben zu opfern, nur um etwas ‚höhere‘ Lust für irgendein höheres Wesen zu sichern? Hierauf gibt Mill keine Antwort. 10. Das Nützlichkeitsprinzip Obwohl Mill das utilitaristische Verständnis der Lust, des Wunsches, des Charakters und des Willens vertieft hat, überprüfte er doch niemals auf angemessene Weise das Prinzip der Nützlichkeit selbst. Wenn er die utilitaristische Lehre darstellt, bevor er darüber nachdenkt, wie man sie beweisen könnte, dann erklärt er sie folgendermaßen: „Die Glückseligkeit ist wünschenswert, und sie ist die einzige wünschenswerte Sache im Sinne eines Ziels, so dass alle anderen Dinge nur wünschenswert sind im Sinne eines Mittels zu diesem Zweck“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5). Tatsächlich versteht er seine Aufgabe als diejenige, die Wahrheit des Hedonismus zu beweisen. Alles, was er über den Wechsel vom Hedonismus zum Nützlichkeitsprinzip zu sagen hat, lautet folgendermaßen: wenn „das Glück einer jeden Person ein Gut für diese Person ist“, dann müsse „das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit aller Menschen sein“. In einem Brief, in dem er auf diese undeutliche Bemerkung eingeht, sagt er: „Ich wollte mit diesem bestimmten Satz bloß sagen, 1178
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dass, wenn A’s Glück etwas Gutes, B’s Glück etwas Gutes, C’s Glück etwas Gutes ist etc., auch die Güter aller dieser Leute ein Gutes sein muss“ (‚Later Letters‘). Diese Bemerkung enthält zwei unausgesprochene Annahmen. Die offensichtlichere von beiden ist, dass ein Egoist den Millschen Beweis akzeptieren würde, demzufolge „das Glück einer jeden Person auch ein Gut dieser Person ist“, aber bestreiten würde, dass er damit auch bewiesen habe, dass das Glück ein Gut für alle sei. Der Egoist bestreitet, dass Mill den Beweis erbracht hat, dass jeder einen Grund zur Förderung des Glücks von jedem hat. Hierzu bedürfte es nämlich eines gesonderten Postulats, wie Henry Sidgwick gezeigt hat. Die zweite unausdrückliche Annahme ist etwas subtiler. Am Ende des letzten Kapitels vom ‚Utilitarianism‘ mit dem Titel ‚On the Connexion beween Justice and Utility‘ erklärt Mill, dass er „die vollkommene Unparteilichkeit zwischen den Menschen“ als Teil der Kernbedeutung des Prinzips des größten Glücks versteht: „Dieses Prinzip ist nur eine Wortbildung ohne rationale Bedeutung, solange wir nicht das Glück eines Menschen, vorausgesetzt, es ist dem Maße nach genau gleich wie dasjenige eines anderen Menschen (und unter entsprechender Berücksichtung der Art), dem des anderen Menschen gleichsetzen. Sind diese Bedingungen erfüllt, so mag Benthams dictum, dass ‚jeder als einer zählt, und niemand mehr als einer‘, dem Nützlichkeitsprinzip als ein erklärender Kommentar zugeschrieben werden.“ (‚Utilitarianism‘, Kap. 5) Hier liefert Mill also das erforderliche Postulat der Unparteilichkeit. Der Begriff der Unparteilichkeit ergibt aber aus sich selbst heraus noch nicht das utilitaristische Aggregationsprinzip der Verteilung. Die Maximierung der Summe des individuellen Glücks, wenn es überhaupt etwas bedeutet, so zu reden, ist eine Weise der Unparteilichkeit: keiner individuellen Glückseligkeit wird in dem Verfahren, durch das der Wert von Sachverhalten als einer Funktion des Glücks von Individuen in Sachverhalten festgestellt wird, ein größeres Gewicht als irgendeiner anderen eingeräumt. In diesem Sinne wird das Prinzip: ‚Jeder zählt als einer, keiner zählt mehr als einer‘ von dem Verfahren umgesetzt. Dies gilt aber auch für die Maximierung des Durchschnitts der ungewichteten Glückseligkeiten aller Individuen. Hier würden nämlich auch alle Individuen jeweils als eines zählen, und niemand mehr als einer. Tatsächlich ist eine große Vielzahl nicht-äquivalenter Verteilungsprinzipien in diesem Sinne unparteiisch. Von dieser Kombination eines Postulats der Unparteilichkeit mit dem Hedonismus kann man nicht mehr erwarten, als dass der ethische Wert eine unparteiische Funktion des individuellen Glücks ist. In einer Fußnote zum dem Absatz, kommentiert Mill das Erfordernis der vollständigen Unparteilichkeit wie folgt: „Gleiche Mengen Glücks sind gleich wünschenswert, egal ob sie von ein und demselben Menschen oder von unterschiedlichen Menschen erlebt werden“. Dies ergibt einen aggregativen oder Durchschnitts-Utilitarismus, doch folgt dieser weder aus der These, dass das Glück das einzig Wünschenswerte für die Menschen ist, noch aus dem formalen Begriff der Unparteilichkeit (siehe Unparteilichkeit). 11. Moral und Gerechtigkeit Wenn wir uns Mills Konzeption der Beziehung zwischen dem Nützlichkeitsprinzip und dem Gefüge von Prinzipien zuwenden, das das alltägliche soziale Leben regelt, erleben wir ihn wiederum sehr beeindruckend. Er betont, dass ein utilitaristischer Wertemaßstab an sich nichts über praktische Regeln, Ziele oder Ideale sagen 1179
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kann, nach denen oder für die wir leben sollten. In seiner Autobiographie datiert er diese Überzeugung in die Periode seiner geistigen Krise. Er gebe nun „der inneren Kultur des Individuums ihren richtigen Platz unter den ersten Notwendigkeiten des menschlichen Wohlergehens“ (‚Autobiography‘, 1873). Die Hauptaufgabe der Menschen sei es, sich ihrer inneren Kultur zuzuwenden, d.h. das zu entwickeln, was am besten an ihnen ist. Die indirekte Rolle, in der er nunmehr das Nützlichkeitsprinzip fasst, wurde dann ein grundlegendes strukturelles Merkmal seiner moralischen und politischen Philosophie. Beispielsweise beschuldigt er Auguste Comte, er begehe „den Irrtum, der oft, wenn auch falsch, der gesamten Klasse der utilitaristischen Moralisten vorgeworfen wird; er forderte, dass die Verhaltensprüfung ihr einziger Beweggrund sein solle […] Herr Comte ist ein moraltrunkener Mann. Jede Frage ist für ihn eine moralische Frage, und er lässt keinen Beweggrund außer dem moralischen zu.“ (‚Auguste Comte and Positivism‘) Mill liefert eine kurze und bündige Erklärung seiner eigenen Lehre am Ende des ‚System of Logic‘. Wie immer bestätigt er, „dass die Beförderung des Glücks das letzte Prinzip der Teleologie“ sei. Dann aber fährt er fort: „Ich will damit nicht sagen, dass die Beförderung des Glücks an sich selbst der Zweck aller Handlungen sein sollte, und nicht einmal die leitende Regel des Handelns. Sie ist die Rechtfertigung und sollte auch der Kontrolleur aller Ziele sein, aber sie ist nicht selbst das alleinige Ziel […] Ich gebe vollkommen zu, dass […] die Kultivierung einer idealen und edlen Gesinnung des Willens und des Verhaltens den Menschen ein Ziel sein sollte, für das sie die spezifische Verfolgung entweder ihres eigenen Glücks oder das von anderen (außer wenn es Teil dieser Idee ist) im Konfliktfalle fahren lassen. Aber ich meine, dass die Frage an sich, was diese Erhöhung des Charakters ausmacht, durch eine Bezugnahme auf das Glück als Maßstab zu entscheiden ist.“ Das Glück aller ist „die Prüfung aller Verhaltensregeln“, und nicht nur der Verhaltensregeln, sondern auch der Kultivierung der Gefühle. Wie aber wird dieser Test vollzogen? An dieser Stelle lernte Mill mehr von Coleridge als von Bentham, d.h. mehr vom historischen Kritizismus, der sich gegen die abstrakten sozialen Visionäre der Aufklärung richtete. Letztere sahen nicht, dass die moralischen Empfindungen nur innerhalb einer stabilen Tradition und sozialen Umgebung wachsen können. Sie begriffen nicht die notwendigen Bedingungen für eine solche Tradition und eine solche Umgebung, d.h. die Ausbildung persönlicher Impulse zur beherrschenden Disziplin, gemeinsamer Loyalität gegenüber einigen andauernden und unhinterfragten Werten, „ein starkes und aktives Prinzip des Zusammenhalts“ unter „Mitgliedern derselben Gemeinschaft oder eines Staates“. Daraus folgt: „Sie warfen die Hülle weg, ohne den Kern zu bewahren, und versuchten die Gesellschaft ohne die Bindungskräfte neu zu formen, von der sie zusammengehalten wird, was den voraussehbaren (Miss)erfolg hatte.“ (Coleridge) Dieses Gefühl für die Historizität sozialer Formen und Genealogien der Moral geben Mills ethischer Vision eine Durchdringungskraft, die bei Bentham nicht vorkommt (und die auch größer ist als jene der übermäßig abstrakten Diskussionen des Utilitarismus in der Philosophie des 20. Jahrhunderts). Auf der anderen Seite
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schuldet die Analyse der Moral, der Rechte und der Gerechtigkeit, die Mill in diese ethische Vision einpasst, auch Bentham viel. Mill betrachtet den Begriff der Gerechtigkeit im 5. Kapitel des ‚Utilitarianism‘. Seine Beobachtung, dass die Idee eines Zwanges zu einer Handlung oder einer Einschränkung im Handeln unter Androhung von Strafe im Mittelpunkt der Idee einer verpflichtenden Gerechtigkeit steht, führt ihn zu der Bemerkung, dass sie gleichwohl „als solche nichts enthält, dass diese Verpflichtung von der moralischen Verpflichtung im Allgemeinen unterscheidet“: „Die Idee der Strafmaßnahme, die der Kern des Gesetzes ist, geht nicht nur in die Konzeption der Ungerechtigkeit ein, sondern auch in jene von jeglicher Art von Unrecht. Wir bezeichnen nichts als Unrecht, bis wir damit nicht auch meinen, dass eine Person auf die eine oder andere Weise dafür bestraft werden sollte, und wenn nicht durch das Gesetz, dann durch die Meinung seiner Mitgeschöpfe; und wenn nicht durch die [öffentliche] Meinung, dann durch die Vorwürfe seines eigenen Bewusstseins.“ (‚Auguste Comte and Positivism‘) Dies ist eine normative, keine positive Darstellung der Moral; das moralisch Falsche ist das, was durch das Gesetz, die gesellschaftliche Meinung oder das Bewusstsein bestraft werden sollte. Die Darstellung wäre zirkulär, wenn dieses fragliche ‚sollte‘ selbst ein moralisches ‚sollte‘ wäre. Aber das Nützlichkeitsprinzip ist das grundlegendste Prinzip der Teleologie. Die Teleologie ist die Lehre von den Zielen. Indem er Anleihen bei der Sprache der deutschen Metaphysiker macht, beschreibt Mill sie auch als „die Prinzipien der praktischen Vernunft“ (‚System of Logic‘). So ist das ‚sollte‘ also eines der praktischen Vernunft, das, wenn man die Gesetze der Natur auf angemessene Weise anwendet, Lebenskunst hervorbringt. Die Moral selbst ist nur eine Abteilung dieser Kunst. Moralische Begriffe und Urteile ergeben sich aus den moralischen Empfindungen, die beim Schuldgefühl und der Scham auftreten. Sie sind aber durch eine rationale Lehre der Ziele korrigierbar. Und diese Lehre ist nach Mills Auffassung das Nützlichkeitsprinzip. Von dieser Darstellung der Moral schreitet Mill zu einer Darstellung der Rechte und der Gerechtigkeit fort. Eine Person hat ein moralisches Anrecht auf eine Sache, wenn es eine moralische Verpflichtung der Gesellschaft gibt, ihren Besitz dieser Sache zu schützen. Verpflichtungen der Gerechtigkeit sind von moralischen Verpflichtungen im Allgemeinen durch das Vorhandensein entsprechender Rechte zu unterscheiden: „Die Gerechtigkeit impliziert etwas, was nicht nur einfach richtig ist, wenn man es tut und falsch, wenn man es nicht tut, sondern was irgendeine Einzelperson von uns als ihr moralisches Recht verlangen kann […] Wann immer dies ein Recht ist, handelt es sich um einen Fall von Gerechtigkeit.“ (‚Auguste Comte and Positivism‘) Die Aufrechterhaltung von Rechten ist eine der vitalen Aufgaben einer Gesellschaft. Denn davon hängt unsere Sicherheit ab, die „nach dem Gefühl aller das vitalste aller Interessen“ ist: „Dieses unverzichtbare von allen Bedürfnissen, nach der körperlichen Ernährung, ist nicht zu erreichen, wenn der Mechanismus, der dies leistet, nicht ununterbrochen aktiv ist. Unsere Vorstellung des Anspruchs, den wir gegen unsere Mitgeschöpfe auf ihren Beitrag zur Sicherung der Grundlagen unserer Existenz haben,
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erzeugt so viel intensivere Gefühle als die sonstigen Fälle üblicher Nützlichkeit, dass der graduelle Unterschied (wie dies oft in der Psychologie der Fall ist) zu einem Unterschied der Art wird.“ (‚Auguste Comte and Positivism‘) Auf diese Weise wird der Gerechtigkeitsanspruch als einer der höheren Art gespürt als jeglicher der sonstigen Nützlichkeit. Gerechtigkeit, so schließt Mill, „ist der Name für eine bestimmte Klasse moralischer Regeln, die die wesentlichen Dinge des menschlichen Wohlergehens im Näheren betreffen, und die deshalb von absoluterer Verpflichtung sind als jede andere Regel der Lebensführung.“ (‚Auguste Comte and Positivism‘) Mill verdeutlicht in seinen Schriften zu verschiedenen sozialen Fragen ganz im Einzelnen, wie diese moralischen Regeln aussehen sollten. Im ‚Utilitarianism‘ beschäftigt er sich mit der abstrakteren Aufgabe zu zeigen, wie die formalen Rechte zu ihrem Vorrang gegenüber der direkten Verfolgung des allgemeinen Nutzens Einzelner oder des Staates kommen, genauso wie sie Vorrang gegenüber der privaten Verfolgung persönlicher Ziele genießen. Seine Position ist daher komplexer als die von Philosophen in der kantischen Tradition, die in einer Wendung von John Rawls davon ausgehen, dass das Richtige (oder Gerechte) dem Guten vorgeht. Für Mill ist das Gute philosophisch vorrangig vor dem Richtigen, aber politisches und soziales Recht schränkt die Verfolgung des Guten ein (siehe Gerechtigkeit, § 3). 12. Freiheit und Demokratie Der am meisten gefeierte Teil der Millschen Sozialphilosophie, sein Aufsatz ‚On Liberty‘, sollte als seine Konzeption des Richtigen und des Guten gelesen werden. Mill ist kein Liberaler des Gesellschaftsvertrages oder der ‚natürlichen Rechte‘. Er beruft sich stattdessen auf den „Nutzen im weitesten Sinne dieses Begriffs, der auf dem permanenten Interesse des Menschen als einem fortschreitenden Wesen beruht“. Er hat die höhere menschliche Natur im Sinn, die durch Selbstkultivierung zur Entwicklung imstande ist, und von der Mill annimmt, dass sie in jedem Menschen angelegt ist. Die Selbstkultivierung eröffnet den Zugang zu den höheren Formen des menschlichen Glücks; dazu muss sie jedoch ‚Selbstkultivierung‘ sein, erstens weil die menschlichen Möglichkeiten vielgestaltig sind und jeder Mensch seine eigenen Fähigkeiten am besten kennt, und zweitens, weil die Menschen nur dann, wenn sie nach ihrem eigenen Lebensplan vorgehen, sie die moralische Freiheit entwickeln, die für das höhere menschliche Wesen wiederum unverzichtbar ist. In Anbetracht der Wichtigkeit einer freien Selbstkultivierung, die Mills Idee des menschlichen Guten zugrunde liegt, und der Konzeption der Rechte, wie sie eben geschildert wurde, muss die individuelle Freiheit ein politisch fundamentales Recht sein. Denn die Selbstentwicklung ist eine der ‚Grundlage des menschlichen Wohlergehens‘. So kommt Mill zu seinem berühmten Prinzip, das er in ‚On Liberty‘ formuliert: „Der einzige Zweck, für den Macht zu Recht über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden darf, ist die Verhinderung der Schädigung anderer. Sein eigenes Gut, sei es physischer oder moralischer Natur, bietet hierfür keine ausreichende Gewähr. Er kann nicht zu Recht gezwungen werden etwas zu tun, und ihm kann genauso wenig etwas verboten werden, weil dies gut für ihn sei, da ihn dies glücklicher machen würde, oder weil dies nach der Meinung anderer klug oder sogar richtig wäre.“ 1182
Mill, John Stuart (1806–1873)
Eine Gesellschaft, die dieses Prinzip respektiert, ermöglicht damit den Einzelnen die Verwirklichung ihrer Möglichkeiten auf ihre je eigene Weise. Sie setzt damit eine reife Vielgestaltigkeit von Interessen und Gefühlen frei und nährt die moralische Freiheit der Vernunft und des Willens. Indem man den Talenten, der Kreativität und der Dynamik dergestalt die Türen öffnet, stellt man die sozialen Bedingungen des moralischen und intellektuellen Fortschritts her. Dieses Millsche Argument ist nach wie vor die stärkste Verteidigung einer jeglichen Form von Liberalismus, der auf einer teleologischen Ethik aufbaut. Es ist eine Ressource, auf die sich teleologische Liberale immer beziehen können, unabhängig davon, ob sie Mills hedonistische Konzeption des menschlichen Gutes oder seine aggregative Konzeption des Guten aller Menschen akzeptieren oder nicht. Dieses Argument steht aber auch in Zusammenhang mit Mills Ambivalenz gegenüber der Demokratie. Wie viele andere Denker des 19. Jahrhunderts, und zwar sowohl Liberale, als auch Konservative, fühlte Mill eine tiefe und starke Angst gegenüber den demokratischen Institutionen und dem demokratischen Geist (siehe Demokratie, § 2). Sicherlich begrüßte er das Ende des ancien régime und sympathisierte mit den moralischen Zielen der Französischen Revolution, also der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Doch aus dieser Revolution lernte er auch, ebenso wie die Liberalen auf dem europäischen Festland, einen Feind zu seiner Linken zu fürchten, und zwar genauso wie den autoritären Feind zu seiner Rechten. In seiner revolutionären Form droht der Feind zur Linken mit jakobinischem Terror oder den Katastrophen, die einem jeden Versuch folgen, moralische Ideale durch einen Neustart der Geschichte beim Nullpunkt erreichen zu wollen. Die Gesellschaftsform der Demokratie auf der anderen Seite könne man in der „demokratischen Republik“ Amerikas (also den heutigen USA) betrachten: ein kontinuierlicher und unermüdlicher Druck in Richtung einer Anpassung an ein Mittelmaß. Das romantisch-hellenistische Ideal des menschlichen Lebens inspirierte sowohl Mills demokratisches Ideal, als auch seine Ängste gegenüber der verwirklichten Demokratie. Dies war ein Ideal, das er mit den Linkshegelianern wie Marx teilte, die seine Kombination mit einem demokratischen Egalitarismus als weniger schwierig empfanden. Mill hatte ebenfalls eine langfristige Vorstellung, wie die Emanzipation und Bildung der Arbeiterklasse allen Menschen eine Selbstkultivierung bringen könnte. Er war imstande, auf der Grundlage seiner assoziationistischen Psychologie daran zu glauben, dass alle Menschen das gleiche Entwicklungspotential hinsichtlich ihrer höheren Fähigkeiten aufweisen. Damit wandte er die Möglichkeit ab, dass der Utilitarismus womöglich als Empfehlung einer extrem unegalitären Verfolgung höherer Formen des Wohlergehens als dem neuen Gleichgewichtszustand der voll entwickelten menschlichen Gesellschaft missverstanden würde. Somit blieb Mill mehr ein Demokrat als andere Liberale des 19. Jahrhunderts wie z.B. Tocqueville oder Burckhardt, aber wie auch sie sah er, wie die moralische und kulturelle Vortrefflichkeit und die Freiheit des Geistes durch die Massendemokratie gefährdet werden können. Wie auch bei den anderen Genannten war seine Einstellung gegenüber einer unmittelbaren Aussicht auf die demokratische Politik entschieden gemischt. Er wollte eine demokratische Gesellschaft frei entwickelter Menschen; er sah diese Gesellschaft nicht als eine nahe oder auch nur sichere Chance, und er meinte, dass eine schlechte Form der Demokratie selbst eine Bedrohung
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Mill, John Stuart (1806–1873)
für diese Menschen darstellen kann, indem sie in einen „kollektiven Despotismus“ abrutscht, eine Gefahr, der Amerika (nach seiner Auffassung) bereits erlegen war. Sein Ratschlag zur Abwendung dieser Bedrohung war nicht die Empfehlung von weniger Demokratie, sondern von mehr Freiheit: „Wenn die amerikanische Form der Demokratie uns zuerst übernimmt, dann wird die Mehrheit ihren Despotismus nicht mehr lockern, als dies auch ein einzelner Despot tun würde. Unsere einzige Chance ist es daher, ihnen als Liberale zuvor zu kommen und die demokratische Idee auf diese Weise durchzuführen, und nicht uns ihr, wie die Konservativen, entgegen zu stellen.“ (‚Later Letters‘) Darin liegt die Bedeutung des Aufsatzes über die Freiheit, und speziell in der Verteidigung der Denk- und Diskussionsfreiheit, die darin enthalten ist. Und die Redefreiheit und die Freiheit des Individuums sind nicht die einzigen Probleme, durch die Mill hoffte, die schlechten Formen der Demokratie auf die guten hinzulenken. Einige seiner Empfehlungen – z.B. die Mehrfachwahl, eine öffentliche Abstimmung, ein Bürgerrecht, das je nach Ausbildung beschränkt ist – scheint uns heute irregeleitet oder sogar bizarr. Andere, einschließlich der proportionalen Repräsentation von Minderheiten und nicht zuletzt sein lebenslanges Eintreten für die Gleichberechtigung der Frauen, machen ihn zu jemandem, der seiner Zeit voraus war. Wie auch immer, in der politischen Philosophie von Platons ‚Staat‘ bis in die Gegenwart hat Mills Diskussion der Demokratie infolge ihrer geistigen Offenheit, ihrer historischen und psychologischen Bewusstheit und ihrer zugrunde liegenden ethischen Kraft wenige Konkurrenten. Siehe auch: Empirismus; Feminismus, § 3; Freiheit; Guten, Theorien des; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der, Induktiver Schluss; Liberalismus; Kausalität; Konsequenzialismus; Utilitarismus
Anmerkungen und weitere Lektüre: Mill, J.S. (1873): ‚Collected Works of John Stuart Mill‘. London: Routledge
1991. (Dies ist die englische Referenzausgabe der Millschen Texte. Auf Englisch sind einzelne seiner Texte auch in vielen anderen Ausgaben erhältlich. Auf Deutsch wurde sehr wenig von Mill übersetzt. Aktuell ist in Deutschland nur sein ‚Utilitarismus‘ auf Deutsch verfügbar. Sein wichtiger Aufsatz ‚Über die Freiheit‘ wurde 1974 von Reclam verlegt und ist nur noch antiquarisch erhältlich.) Ryan, A. (1974): ‚J.S. Mill‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Dies ist eine nützliche Einführung nicht nur in Mills Philosophie, sondern insgesamt in sein Denken als Ganzes.) Skorupski, J. (Hrg.) (1998): ‚The Cambridge Companion to Mill‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Zahlreiche Aufsätze zu unterschiedlichen Aspekten von Mills Philosophie.) JOHN SKORUPSKI
Mīmām sā
Die Schule von Mīmām. sā oder Pūrva Mīmām.sā war eines der sechs Systeme der klassischen hinduistischen Philosophie. Sie erwuchs aus der indischen Wissenschaft der Exegese und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Verteidigung des Lebensstils, der durch die antike Schrift des Hinduismus vorgezeichnet war, der Veda. Ihre wichtigsten Vertreter, Śabarasvāmin, Prabhākara und Kumārila, lebten im 6. und 7. Jahrhundert. Der Kern ihrer Lehre war, dass die Veda das alleinige Mit1184
Mīmām sā
tel zur Erkenntnis des dharma oder der Rechtschaffenheit ist, da sie ewig ist. Alle Erkenntnis, so meint ihre Lehre, ist gültig, solange ihre Ursache nicht fehlerhaft ist. Da die Veda keinen einzigen weder menschlich noch göttlich fehlbaren Autor hatte, muss die Erkenntnis, die auf ihr beruht, wahr sein. Die Veda muss überhaupt autorenlos sein, weil es keine Erinnerung irgendeines Autors oder irgendeinen anderen Hinweis darauf gibt, dass sie zusammengestellt wurde; wir beobachten nur, dass sie von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Die Denker des Mīmām.sā verteidigten auch verschiedene metaphysische Ideen, die sich aus der Veda ergeben, insbesondere jene der Wirklichkeit der physischen Welt und der Unsterblichkeit der Seele. Sie leugneten jedoch die Existenz von Gott als dem Schöpfer der Welt und dem Autor der heiligen Schrift. Die Ewigkeit der Veda impliziert auch allgemein die Ewigkeit der Sprache. Worte und die Buchstaben, aus denen sie bestehen, sind ewig und allgegenwärtig. Es sind nur ihre bestimmten Materialisierungen, die durch Artikulationen unserer Sprechorgane verursacht werden, die an bestimmte Zeiten und Orte gebunden sind. Die Bedeutungen der Worte als Universalien sind ebenfalls ewig. Schließlich ist damit auch die Beziehung zwischen Wort und Bedeutung ewig. Jedes Wort hat eine ihm innewohnende Fähigkeit zur Anzeige seiner Bedeutung. Worte können dieser Lehre zufolge keine Bedeutung nur auf der Grundlage künstlicher Konventionen ausdrücken. Die grundlegende Orientierung des Mīmām.sā war jedoch pragmatisch und antimystisch ausgerichtet. Man glaubte in dieser Schule, dass das Glück und die Errettung einfach aus der Befolgung der Vorschriften der Veda folgen, nicht dagegen aus der Praxis des Yoga oder der Einsicht in das Eine. Diese Schule kritisierte insbesondere und scharf andere Traditionen heiliger Schriften (namentlich den Buddhismus und den Jainismus), die vorgaben, von allmächtigen Lehrern erzeugt worden zu sein. JOHN A. TABER
Mimēsis
Die Mimēsis ist ein Schlüsselbegriff in den Literaturtheorien Platons und Aristoteles’. Mimēsis beschreibt die Beziehung zwischen Worten und jenen Handlungen und Ereignissen, die die Worte darstellen. Bei Platon bedeutet der Ausdruck in der Regel ‚Nachahmung‘ und legt damit nahe, dass die Poesie von der Wirklichkeit abgeleitet ist und ihr damit nachsteht. Bei Aristoteles verliert der Ausdruck diese pejorative Konnotation und tendiert dazu, einfach ‚Darstellung‘ zu meinen, sowie anzuzeigen, dass die Welt, wie sie in einem Gedicht beschrieben wird, der unsrigen zwar ähnelt, mit ihr aber nicht identisch ist. Siehe auch: Aristoteles, § 29; Ästhetik; Katharsis; Platon, § 14; Tragödie GLENN W. MOST
Mittelalterliche Philosophie Einführung Die mittelalterliche Philosophie ist die Philosophie des westlichen Europa ungefähr vom Jahre 400 unserer Zeitrechnung an bis zum Jahr 1400, d.h. ungefähr die Periode zwischen dem Niedergang von Rom und der Renaissance. Die mittelalterlichen Philosophen sind die historischen Nachfolger der antiken Philosophie, aber sie sind tatsächlich nur schwach mit ihnen verbunden. Ungefähr bis 1125 hatten die mittelalterlichen Denker nur zu sehr wenigen Texten der antiken griechischen 1185
Mittelalterliche Philosophie
Philosophie Zugang (wobei der wichtigste Teil daran ein Teil der aristotelischen Logik war). Diese Beschränkung ist der Grund für die besondere Aufmerksamkeit der mittelalterlichen Philosophen für die Logik und die Sprachphilosophie. Sie gewannen einige Vertrautheit im Umgang mit anderen griechischen philosophischen Denkformen (insbesondere mit dem späteren Platonismus), und zwar indirekt durch die Schriften lateinischer Autoren wie z.B. Augustinus und Boethius. Diese christlichen Denker hinterließen ein dauerhaftes Vermächtnis der platonischen, metaphysischen und theologischen Spekulation. Ab dem Jahre 1125, d.h. mit dem Einsickern der ersten lateinischen Übersetzungen der noch vorhandenen Werke von Aristoteles in das westliche Europa veränderte sich das mittelalterliche Denken dramatisch. Die philosophischen Diskussionen und Dispute des 13. und 14. Jahrhunderts geben das anhaltende Ringen der spätmittelalterlichen Denker um ein Verständnis des neuen aristotelischen Materials wieder, das sie in ein vereinheitlichtes philosophisches System transformierten. Der bedeutendste außerphilosophische Einfluss auf die mittelalterliche Philosophie durch ihre tausendjährige Geschichte hindurch ist das Christentum. Die christlichen Institutionen unterhielten das mittelalterliche intellektuelle Leben, und die christlichen Texte und Ideen lieferten reichen Stoff für die philosophische Reflexion. Obwohl die meisten der großen Denker dieser Epoche hoch gebildete Theologen waren, bemüht sich ihr Werk doch um die alten und immer wiederkehrenden philosophischen Fragen, und sie wählen dabei einen vollkommen philosophischen Ansatz, um die Welt zu verstehen. Sogar ihre Diskussion der spezifisch theologischen Fragen geschieht auf typisch philosophische Weise, durchsetzt mit philosophischen Ideen, strenger Beweisführung und ausgefeilten logischen und begrifflichen Analysen. Das Unternehmen der philosophischen Theologie ist eine der größten philosophischen Leistungen. Die Art und Weise, auf die die mittelalterliche Philosophie ihren Dialog mit den Texten der antiken Philosophie und der frühchristlichen Tradition entfaltet (einschließlich der patristischen Philosophie) zeigt sich in zwei sehr distinkten pädagogischen und literarischen Formen: dem Textkommentar und der Disputation. In expliziten Kommentaren von Texten wie z.B. den Arbeiten von Aristoteles, Boethius’ theologischen Abhandlungen und Peter Lombards klassisch-theologischem Lehrbuch, den ‚Sentenzen‘, rangen mittelalterliche Denker immer wieder aufs Neue mit den Traditionen, die ihnen überliefert worden waren. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Disputation, jene Diskursform, die für die universitäre Umgebung des späten Mittelalters typisch ist, nicht auf einzelne Texte, sondern auf spezifische philosophische und theologische Fragen. Sie gestattet es den mittelalterlichen Philosophen, die relevanten Passagen und Argumente zusammenzutragen, die über die maßgebliche Literatur verstreut sind, und die einander widersprechenden Behauptungen auf systematische Weise gegenüber zu stellen. Diese dialektischen Denkformen und der dabei stattfindende Gedankenaustausch förderten die Entwicklung mächtiger Werkzeuge der Interpretation, der Analyse und der Beweise, die für die philosophische Untersuchung ideal geeignet sind. Genau dieses hochgradig technische Wesen der akademischen oder scholastischen Denkformen riefen später allerdings auch die Feindseligkeit der Renaissance-Humanisten hervor, deren Angriffe die mittelalterliche Philosophie schließlich zu einem Ende brachten.
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1. Historische und geographische Grenzen 2. Anfänge 3. Historische Entwicklung 4. Typische Merkmale der Lehren 5. Philosophische Theologie 6. Gelehrsamkeit in der mittelalterlichen Philosophie 1. Historische und geographische Grenzen Der Ausdruck ‚Mittelalter‘ leitet sich von dem lateinischen Ausdruck ‚medium aevum‘ ab, der von den Renaissance-Humanisten geprägt wurde, um sich auf die Epoche zu beziehen, die das goldene Zeitalter des klassischen Griechenland und Rom von dem trennte, was sie als die Wiedergeburt der klassischen Ideale zu ihrer eigenen Zeit erlebten. Die Humanisten schrieben aus der Perspektive der westeuropäischen Kultur; insofern ihre Konzeption des Mittelalters überhaupt mit einer identifizierbaren geschichtlichen Epoche korrespondiert, so korrespondiert sie mit einer Epoche in der Geschichte des lateinischen Westens. Die historischen Grenzen der mittelalterlichen intellektuellen Kultur in Westeuropa sind klar abgegrenzt: am einen Ende durch den Zerfall der kulturellen Strukturen der römischen Zivilisation (Alarich plünderte Rom im Jahre 410 n.Chr.), und am anderen Ende durch die dramatische kulturelle Revolution, die von den Humanisten selbst im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert eingeleitet wurde. Es ließe sich daher rechtfertigen, als ‚mittelalterliche Philosophie‘ vor allem jene zu bezeichnen, die im lateinischen Westen ungefähr zwischen den Jahren 400 und 1400 getrieben wurde. Selbstverständlich gab es bedeutende nicht-lateinische philosophische Entwicklungen in derselben Epoche, beispielsweise im griechischsprachigen byzantinischen Reich und in den Arabisch sprechenden islamischen und jüdischen Kulturen im Nahen Osten, in Nordafrika und in Spanien. Keine dieser philosophischen Traditionen war jedoch so stark von dem philosophischen Erbe der Antike abgeschnitten wie der lateinischsprachige Westen infolge des Zusammenbruchs des Römisches Reichs. Aus diesem Grunde betrachtet man diese Traditionen besser gesondert von jener des westlichen Europa. Deshalb werden sie in diesem Beitrag nur in dem Umfange einbezogen, wie sie die Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie im lateinischen Westen beeinflussten. (Siehe: Humanismus in der Renaissance; Islamische Philosophie; Jüdische Philosophie; Renaissance-Philosophie) 2. Anfänge Der allgemeine Charakter der mittelalterlichen Philosophie im Westen wurde in bedeutendem Umfang durch historische Ereignisse geformt, die mit dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation zusammenhingen. Die Überwältigung des westlichen Europa durch die eindringenden Goten, die Hunnen und die Vandalen brachten zunächst nicht nur die militärische und politische Niederlage des Römischen Reichs, sondern auch die Auflösung der gemeinsamen Institutionen und einer gemeinsamen Kultur, die die philosophische Tätigkeit bis in die Spätantike hinein getragen hatte. Boethius, ein gebürtiger römischer Patrizier und hochrangiger Offizier in der ostgotischen Verwaltung, ist ein beredsamer Zeuge des allgemeinen Niedergangs der intellektuellen Vitalität seiner Zeit. Er kündigt seine Absicht an, alle Arbeiten von Platon und Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen und sie über-
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dies zu kommentieren und nennt als Grund dafür seine Sorge, dass seine eigenen Lateinisch sprechenden und zunehmend schlechter ausgebildeten Zeitgenossen, da es an derlei Hilfestellung sonst gänzlich ermangeln würde, das philosophisch-antike griechische Erbe sonst womöglich bald ganz und gar verlieren würden. Boethius’ Einschätzung der Situation scheint besonders klug gewesen zu sein, denn tatsächlich hingen die westlichen Philosophen in den sechs auf seinen Tod folgenden Jahrhunderten, nämlich bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts, fast vollständig von Boethius’ Texten ab, denn diese waren der einzige und schmale Zugang, den sie noch zur antiken griechischen Philosophie zur Verfügung hatten. Damit nicht genug, realisierten sich Boethius’ Ängste tatsächlich im Wesentlichen, denn kaum hatte er mit der Ausführung seines Plans begonnen, wurde er bereits wegen Hochverrats hingerichtet. Da er bis dahin neben Porphyrs Einführung in die aristotelischen ‚Kategorien‘ nur Aristoteles’ Abhandlungen zur Logik hatte übersetzen können (siehe Aristoteles; Porphyr), und ferner nur einige Kommentare zu den von ihm übersetzten Texten hatte ausarbeiten können, hinterließ Boethius den nachfolgenden Generationen mittelalterlicher Denker keinen direkten Zugang zu den meisten von Aristoteles’ Werken, einschließlich der Naturphilosophie, der Metaphysik und der Ethik, und keinen einzigen Text von Platon (obwohl ein kleiner Teil des ‚Timaios‘ von Calcidius im 4. Jahrhundert übersetzt und kommentiert worden war). Die mittelalterliche Philosophie war daher wesentlich dadurch geformt, dass ihr vieles vorenthalten war. Sie wurzelte in einer Umgebung, die keine der sozialen Einrichtungen und Bildungsstrukturen der Antike mehr aufwies, nicht mehr Griechisch sprach und von den reichhaltigen Quellen des größten Teiles des klassischen Denkens abgeschnitten war. Es überrascht nicht, dass die schrittweise Wiedergewinnung des antiken Denkens im Verlauf des Mittelalters eine bedeutende Wirkung auf die Entwicklung der mittelalterlichen philosophischen Tradition hatte. Die mittelalterliche Philosophie empfing ihre spezifische Form allerdings auch durch das, was ihr geblieben war, und insbesondere durch zwei Stücke des kulturellen Vermächtnisses der Antike, die den Zusammenbruch des römischen Reichs überlebt hatten. Das erste dieser ‚Stücke‘ ist die lateinische Sprache, die durch das ganze Mittelalter hindurch bis in die Renaissance und die Aufklärung hinein die ausschließliche Sprache des intellektuellen Diskurses blieb. Das Lateinische ermöglichte den mittelalterlichen Denkern den Zugang zu einigen wichtigen antiken Quellen, einschließlich Cicero, Seneca, Macrobius, Calcidius, die lateinischen Kirchenväter (siehe Patristische Philosophie), Augustinus und Boethius. Diese lateinischen Quellen vermittelten den frühmittelalterlichen Denkern einen allgemeinen, wenn auch nicht sehr tiefen Einblick in die klassischen Ideen. Augustinus ist mit großem Abstand die bedeutendste dieser lateinischen Quellen. Sein Denken und insbesondere seine philosophische Herangehensweise an das Christentum, sowie sein christianisierter, neuplatonischer Standpunkt wirkten sehr tief auf jede der folgenden Abschnitte und insgesamt auf die gesamte Epoche der mittelalterlichen Philosophie (siehe § 5). Das zweite bedeutende ‚Stück‘ der lateinischen Antike, das in das Mittelalter überliefert wurde, ist das Christentum selbst. Das Christentum hatte bereits in der römischen Spätantike an Bedeutung gewonnen, und mit dem Niedergang der Sozialstrukturen des Römischen Reiches blieb die Kirche bis ins 12. Jahrhundert hinein praktisch die einzige Institution, die zur Unterstützung einer intellektuellen Kultur 1188
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in der Lage war. Sie hielt die formale Ausbildung an Schulen aufrecht, die mit ihren Klöstern, Kirchen und Kathedralen verbunden waren, und sorgte damit für die Bewahrung der antiken Texte in ihren Bibliotheken und Skriptorien (Schreibstuben), und zwar sowohl der sakralen, als auch der säkularen. Die mittelalterlichen Philosophen erhielten zumindest einen Teil ihrer formalen Ausbildung in kirchlichen Institutionen, und die meisten von ihnen gehörten selbst amtlich auf die eine oder andere Weise der Kirche an, wie z.B. als Mönche, Klosterbrüder, Priester oder kirchliche Verwaltungsbeamte. Im Spätmittelalter stand das Studium der Theologie nur solchen Männern offen, die ein philosophisches Diplom erworben hatten, und der Magister der Theologie war der höchste Grad akademischer Bildungsauszeichnung. Entsprechend haben sich die meisten der philosophischen Denker dieser Epoche selbst vor allem als Theologen betrachtet. Ferner war das Christentum, neben seiner Rolle als institutionelle Grundlage für die mittelalterliche Philosophie, ein wichtiger Anreiz für die philosophische Tätigkeit. Seine Ideen und Lehren stellten eine reiche Quelle philosophischen Materials dar. Die mittelalterlicher Philosophie wurzelte daher in einer intellektuellen Welt, die praktisch vollständig von der Kirche getragen und von christlichen Texten durchdrungen war (siehe § 5). (Siehe Augustinus; Boethius, A.M.S.; Liber de Causis; Patristische Philosophie; Platonismus in der Renaissance; Stoizismus; Tertullian, Q.S.F. ; Ursachen und Gründe) 3. Historische Entwicklung Zu ihrer vollen Blüte kommt die philosophische Tradition, die aus diesen Anfängen heraus entsteht, in dem Zeitraum vom 1100 bis 1400. Zwei Entwicklungen sind dabei von spezieller Bedeutung für das Verständnis des raschen Wachstums und Aufblühens der Intellektualkultur in diesen Jahrhunderten. Die erste ist das Einströmen einer umfangreichen und zuvor unbekannten Masse philosophischen Materials, das frisch aus dem Griechischen und den arabischen Quellen ins Lateinische übersetzt worden war. Die zweite ist das Auftauchen und das Wachstum der großen mittelalterlichen Universitäten. Wiederherstellung von Texten. Die mittelalterlichen Philosophen vor Pierre Abälard hatten nur zu sehr wenigen Texten der antiken griechischen Philosophie Zugang, nämlich zur ‚alten Logik‘ (d.h. den aristotelischen ‚Kategorien‘ und ‚De interpretatione‘, und zu Porphyrs ‚Isagōgē), sowie zu einem kleinen Teil von Platons ‚Timaios‘. Im Verlauf der nächsten hundert Jahre wurde der größte Teil der aristotelischen Naturphilosophie (vor allem die wichtigen Texte der ‚Physik‘ und ‚De anima‘), sowie dessen ‚Metaphysik‘ und ‚Ethik‘ zum ersten Male wieder verfügbar. Nicht alle dieser aristotelischen Texte wurden mit demselben Enthusiasmus begrüßt, noch fanden die mittelalterlichen Philosophen sie alle gleichermaßen genial oder inhaltlich zugänglich (d.h. nicht einmal in der lateinischen Übersetzung). Dennoch kann man die Wirkung des Umstandes, dass der volle aristotelische Textkorpus der mittelalterlichen Philosophie schließlich zugänglich wurde, kaum überschätzen. Die neuen Texte wurden zum Gegenstand einer in steigendem Maße ausgefeilten und durchdringenden gelehrten Kommentierung. Sie wurden in den Kern der universitären Curricula aufgenommen, und mit der Zeit wurden die Ideen und Lehren, die die mittelalterlichen Philosophen dort vorfanden, mit dem mittelalterlichen Denken selbst verwoben. Da sie niemals zuvor aus ihrem eigenen Kulturkreis heraus einem so breiten und fortgeschrittenen philosophischen System begegnet waren, wird es 1189
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verständlich, dass die Philosophen des 13. und 14. Jahrhunderts von Aristoteles häufig einfach nur noch als von ‚dem Philosophen‘ sprachen. Im Umfange der Wiederentdeckung des aristotelischen Denkens machten die mittelalterlichen Denker zum ersten Male auch mit wichtigen jüdischen Philosophen wie z.B. Avencebrol und Maimonides in lateinischer Übersetzung Bekanntschaft, und ferner auch mit islamischen Denkern wie z.B. Avicenna (siehe Ibn Sina) und Averroes (siehe Ibn Rushd). Einige dieser Arbeiten waren Kommentare zu Aristoteles (Averroes wurde deshalb schlicht als ‚der Kommentator‘ bekannt), während andere Texte, wie z.B. Avicennas Kommentare zur ‚Metaphysik‘ und zu ‚De anima‘ mehr oder weniger unabhängige Abhandlungen waren, die einen neuplatonischen Aristotelismus darstellten. Die mittelalterlichen Philosophen dieser Epoche wandten sich eifrig diesen Texten zu, weil sie ihnen beim Verständnis der neuen aristotelischen Primärtexte halfen, und sie wurden deutlich durch sie beeinflusst. Averroes Interpretation von Aristoteles’ ‚De anima‘ (dt.: ‚Über die Seele‘) entzündete beispielsweise eine enorme Kontroverse über das Wesen des Intellekts, und Avicennas metaphysische Ansichten initiierten die späteren und berühmten mittelalterlichen Debatten über die Universalien und über das Wesen der Unterscheidung zwischen der Essenz (dem ‚Wesen‘) und der Existenz (dem ‚Bestehenden‘ oder ‚Gegebenen‘). Der Aufstieg der Universitäten. Als Abt des Klosters von Bec richtete Anselm von Cantebury in den 1080er Jahren seine theologischen Schriften an seine Mönche. Im Gegensatz dazu verbrachten die großen philosophischen Denker der nächsten Generation wie z.B. Abälard, Gilbert von Poitiers und Thierry von Chartres einen großen Teil ihres beruflichen Lebens an den Schulen in Paris und Chartres und richteten deshalb den wesentlichen Teil ihrer Werke an akademische Hörerschaften. Das Aufblühen dieser Schulen und anderer ähnlicher Einrichtungen in Zentren wie z.B. Oxford, Bologna und Salerno signalisierte einen ständigen und schnellen Aufstieg des intellektuellen Lebens in Westeuropa. In der Mitte des 13. Jahrhunderts waren die Universitäten von Paris und Oxford die führenden Zentren der europäischen philosophischen Aktivität. Praktisch alle großen Philosophen zwischen 1250 und 1350, einschließlich Albert dem Großen, Thomas von Aquin, Bonaventura, Johannes Duns Scotus und William von Ockham, studierten und lehrten in den Schulen des einen oder anderen dieser beiden Zentren. Teilweise aus diesem Grunde beziehen sich die frühneuzeitlichen Philosophen, die typischerweise nicht aus den Universitäten hervorgingen, auf ihre mittelalterlichen Vorgänger im Allgemeinen als ‚die Scholastiker‘, was eine Ableitung aus dem lateinischen Wortstamm scola, dt.: Schule, ist und soviel wie ‚Schullehrer‘ heißt. Die allmähliche Ansiedlung der philosophischen Aktivität an den Universitäten bedeutete nicht nur ihre Zentralisierung, sondern auch deren Transformation in eine zunehmend formale und technisch-akademische Unternehmung. Die philosophische Ausbildung wurde Schritt für Schritt ausgedehnt und standardisiert; die Philosophen selbst wurden zu hoch trainierten akademischen Spezialisten, und die philosophische Literatur setzte bei ihrem Publikum zunehmend ebenfalls eine Bekanntschaft mit den Standardtexten und Fragen der universitären Curricula voraus, sowie Übung im Umgang mit dem technischen Argumentationsapparat, vor allem den logischen Werkzeugen ihrer Disziplin. Diese Merkmale der spätmittelalterlichen Philosophie machten sie zu der im eigentlichen Sinne ‚scholastischen‘ Denkweise, d.h. zu einem Produkt der akademischen Umgebung der Schulen. 1190
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Die philosophischen Disziplinen im engeren Sinne, also die Logik, die Naturphilosophie, die Metaphysik und die Ethik, besetzten den Kern der Curricula, die zu den grundlegenden universitären Abschlüssen führten, nämlich einer Art von Diplom und dem Magister der Philosophie. Die meisten der großen Philosophen dieser Epoche gingen jedoch über die Magister-Curricula hinaus, um ihren fortgeschrittenen Themenstellungen in der Theologie zu folgen. Die Voraussetzungen für den Abschluss als Magister der Theologie umfasste das Bibelstudium, die das Studium der Kirchenväter und ab ungefähr 1220 auch Pierre Lombards ‚Sentenzen‘ (die seit ca. 1158 vollständig vorlagen). Letztere waren eigentlich speziell für pädagogische Zwecke entworfen worden; sie sind daher reich an Zitaten und Hinweisen auf maßgebliche theologische Quellen, Zusammenfassungen von respektierten Meinungen über zentrale Fragen des christlichen Verständnisses der Welt. Ungefähr von 1250 an mussten alle Kandidaten für den Abschluss als Magister der Theologie Vorlesungen zu Lombards Texten halten und Kommentare dazu verfassen. Dieses Erfordernis bot den Gelehrten die formale Gelegenheit, zur eigenen intellektuellen Reife zu gelangen und ihre eigenen Standpunkte zu einer großen Bandbreite philosophischer und theologischer Fragen Stellung zu nehmen, indem sie sich von der Struktur der Lombardschen Darstellung leiten ließen (die oft ziemlich lose zitiert wird). Durch diese historischen Umstände bestand die mittelalterliche philosophische Methode von Anbeginn an weitgehend aus der Kommentierung eines klar bestimmten und relativ kleinen Korpus anerkannter Texte, sowie aus Reflexionen zu einem kanonischen Fragenkreis, der sich daraus ergab. Die Philosophen in der großen Zeit der mittelalterlichen Universitäten gingen bereits von der Bekanntschaft mit einem relativ viel größeren und vielschichtigeren intellektuellen Erbe aus, aber ihre Herangehensweise an die philosophischen Fragestellungen blieb innerhalb einer etablierten Texttradition, und sie artikulierten weiterhin ihre philosophischen Standpunkte in ausdrücklichen Dialogen mit diesen Texten. Formale Kommentare zu Standardtexten blühten sowohl als pädagogisches Hilfsmittel, als auch als literarische Form. Andere Formen der Philosophie, einschließlich der Disputation, die die spezifischste philosophische Form des 13. und 14. Jahrhunderts war, waren dagegen ihrem Wesen nach dialektisch. In der universitären Umgebung wurde die Disputation zu einem idealen technischen Werkzeug zur Bewältigung der drängenden Aufgabe der Sammlung, Organisation und Bewertung der unterschiedlichen Behauptungen aus einer komplexen Tradition von Texten von Standpunkten. Eine Disputation identifiziert zunächst eine spezifisch philosophische oder theologische Frage für die nachfolgende Diskussion und liefert die Struktur für ein informiertes und begründetes Urteil darüber. In ihrer grundlegenden Form ist eine Disputation folgendermaßen gegliedert: (1) eine bündige Darstellung des Themas, um das es gehen wird, typischerweise in der Form einer Frage, die am Ende nur mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ beantwortet werden kann; (2) zwei Gruppen einleitender Argumente, von denen die erste eine bestätigende, und die zweite eine abschlägige Antwort auf die Frage erteilt; (3) eine Lösung oder ‚Bestimmung‘ der Frage, in der der Magister seine eigene Position darstellt und rechtfertigt, typischerweise durch das Aufstellen relevanter Unterscheidungen, die Erklärung subtiler oder möglicherweise verwirrender Aspekte, oder durch die Ausarbeitung der zugrunde liegenden theoretischen Voraussetzungen seiner Antwort; und (4) eine Gruppe von Antworten, die speziell auf die einführenden Argumente eingehen, die nicht im Einklang 1191
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mit dem dargestellten Standpunkt des Magisters stehen. Diese beiden Gruppen einführender Argumente einer Disputation erlaubt die Zusammenstellung der wichtigsten bzw. relevantesten Passagen und Argumente, die häufig über die gesamte maßgebliche Literatur verstreut sind. Mit den Argumenten beider Seiten der Frage in der Hand ist der Magister dann in der idealen Lage, sowohl mit den begrifflichen Fragen, die durch das Thema aufkommen, als auch mit den hermeneutischen Problemen, die sich durch die historische Tradition hindurch aufbauen, umzugehen. Die akademischen Philosophen hielten ihre Disputationen in ihren Klassenräumen und auf großen universitären Einberufungen ab, und sie nutzten diese Form für den literarischen Ausdruck ihrer Ideen. Thomas von Aquins ‚Summa theologiae‘, deren einzelne Artikel pädagogisch vereinfachte Disputationen sind, ist vielleicht das bekannteste Beispiel der systematischen Verwendung der Disputation als Mittel der Literatur. Das Vorherrschen dieser Form in der spätmittelalterlichen Philosophie ist auch der Grund dafür, dass sie als die Verkörperung der ‚scholastischen Methode‘ schlechthin angesehen wurde. (Über das frühe Mittelalter der Jahre ca. 600–1100 siehe Eriugena, J.S.) (Zu den Philosophen des 12.Jahrhunderts siehe Abälard, P; Anselm von Canterbury; Lombard, P.) (Zu den Philosophen des 13. Jahrhunderts siehe Albert der Grosse; Aquin, Thomas von; Bacon, R; Bonaventura; Grosseteste, R.) (Zu den Philosophen des 14. Jahrhunderts siehe Alighieri, Dante; Buridan, J.; Duns Scotus, J.; Llull, R.; Meister Eckhart; Oxford Calculators; William von Ockham; Wyclif, J.) (Zu den Philosophen des 15. Jahrhunderts siehe Hus, J.; Nicholas von Cusa.) 4. Typische Merkmale der Lehren Auf der untersten Ebene teilen die mittelalterlichen Philosophen eine gemeinsame Sicht der Welt, die all den unterschiedlichen Entwicklungen zugrunde liegt, die den Reichtum der mittelalterlichen Philosophie ausmachen. Metaphysik. Die gemeinsame metaphysische Grundlage der mittelalterlichen Philosophie besagt, dass die Wirklichkeit im allgemeinsten Sinne in Substanzen und Akzidenzen eingeteilt werden kann. Substanzen, für die als Schulbeispiel häufig Sokrates oder irgendein Möbelstück eingesetzt wird, existieren unabhängig voneinander und sind daher ontologisch grundlegend. Körperliche Substanzen, und vielleicht auch gewisse unkörperliche, werden aus Stoff und Form gebildet (siehe Substanz). Der Stoff, der an sich selbst buchstäblich strukturlos ist, ist das Substrat der Form (siehe Materie). Die Form liefert der Substanz ihre Struktur oder Organisation und macht dadurch aus der Substanz ein konkretes Ding. Sokrates’ Seele ist beispielsweise die Form, die dem Stoff des Sokrates die Form gibt, so dass daraus das früher einmal lebende Fleisch und Blut eines menschlichen Körpers wurde und aus Sokrates genau jenes menschliche Wesen machte, das wir alle zu kennen meinen. Akzidenzien, also z.B. die Körpergröße des Sokrates oder die Farbe eines Tisches, sind ebenfalls eine Art von Form, doch ihr Substrat ist nicht der Stoff selbst, sondern eine Substanz, nämlich Sokrates oder der Tisch. Akzidenzien hängen hinsichtlich ihrer Existenz von den Substanzen ab und stehen für die ontologisch abgeleiteten Merkmale der Substanzen.
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Die mittelalterlichen Philosophen erkannten den Stoff und die Form als die grundlegenden Bestandteile der körperlichen Substanzen an, d.h. als fundamental erklärende Prinzipien. Der Stoff einer Sache (oder ihre materiale Ursache) und ihre Form (oder ihre formale Ursache) liefern die grundlegenden Erklärungen über die Natur und das Verhalten der Dinge. Diesen beiden Prinzipien wurden noch zwei weitere hinzugefügt, nämlich die causa efficiens (dt.: Wirkursache) und die causa finalis (Zielursache oder Ziel). Die Wirkursache ist das, was immer Bewegung oder Wandel verursacht; die Zielursache ist der Zweck oder das Gut, auf den sich eine bestimmte Aktivität, ein Prozess oder ein Wandel richtet. Die mittelalterlichen Philosophen waren sich uneins über die Reichweite und die Bedingungen dieser grundlegend metaphysischen Weltanschauung. Sie debattierten beispielsweise darüber, ob unkörperliche Substanzen den körperlichen Substanzen darin ähneln, dass sie letztlich ebenfalls aus Stoff und Form zusammengesetzt sind, oder ob sie nur immaterielle Trägerformen sind. Sie debattierten auch, ob Substanzen wie z.B. Sokrates nur eine substanzielle Form aufweisen (nämlich Sokrates’ rationale Seele), oder aber viele (eine Form bildet Sokrates’ Körper, eine weitere macht aus ihm einen lebenden Körper mit gewissen Fähigkeiten zur Bewegung und zur Wahrnehmung (ein Tier), und eine weitere macht aus ihm ein rationales Tier (einen Menschen). Sie zweifelten aber nie an der grundlegenden Richtigkeit des metaphysischen Rahmens aus Substanzen und Akzidenzien bzw. Form und Stoff, noch gerieten sie je in Zweifel darüber, ob die analytischen Hilfsmittel, die dieser Rahmen zur Verfügung stellt, auch auf philosophische Probleme im Allgemeinen anwendbar sind. Psychologie und Erkenntnistheorie. Die mittelalterlichen Philosophen verstanden das Wesen der Menschen durch die Metaphysik von Form und Stoff und identifizierten die menschliche rationale Seele, d.h. den Sitz der spezifisch menschlichen Fähigkeiten, mit der Form des Menschen. Alle mittelalterlichen Philosophen standen daher auf einem im weiten Sinne dualistischen Standpunkt, demzufolge die See und der Körper etwas grundlegend Verschiedenes sind. Aber nur einige von ihnen waren auch Substanzdualisten (d.h. Dualisten im kartesischen Sinne), die zusätzlich meinten, dass die Seele und der Körper selbst Substanzen sind. Die mittelalterlichen Philosophen verwendeten sehr wenig Aufmerksamkeit auf das, was die moderne Philosophie als die zentralen Fragen der Erkenntnistheorie ansieht (siehe Erkenntnistheorie, Geschichte der). Bis fast zum Ende des Mittelalters bemühten sie sich kaum um skeptische Einwände und waren nicht besonders an einer Aufklärung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Wahrheit einer Aussage interessiert. Meistenteils gingen sie davon aus, dass wir verschiedene Arten von Wissen haben und konzentrierten sich stattdessen auf die Entwicklung einer Darstellung des kognitiven Mechanismus, durch den wir dieses Wissen erwerben. In Anbetracht einer Welt um uns, die mit einzelnen materiellen Gegenständen angefüllt ist, die sich ständig wandeln, waren sie hingegen besonders interessiert daran, wie wir dazu in der Lage sind, Wissen von Universalien und notwendigen Wahrheiten zu erwerben, d.h. von Gegenständen oder Wahrheiten, die immateriell, ewig und unwandelbar sind. Die Antworten der mittelalterlichen Philosophen auf diese Fragen fallen sehr unterschiedlich aus und reichen von platonischen Darstellungen, die sich auf unsere direkte intellektuelle Sicht unabhängig voneinander existierender und unveränderlicher Dinge mit Hilfe göttlicher Erleuchtung berufen (wie z.B. die 1193
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Ideen im göttlichen Geist), bis hin zu naturalistischen Darstellungen, die sich auf die Wahrnehmungsfähigkeiten berufen, die vollständig im menschlichen Intellekt selbst enthalten sind, der wiederum die Universalien aus den gelieferten Daten der Sinneswahrnehmung abstrahiert (siehe Universalien). Ethik. Die mittelalterlichen Philosophen schlossen sich dem allgemeinen Rahmen der griechischen Ethik an, erweiterten und modifizierten sie aber im Sinne des Christentums. Deren Hauptmerkmale umfassen eine objektivistische Werttheorie, eine eudämonistische Darstellung (d.h. eine Auffassung vom Glück als einem objektiv guten Leben) des menschlichen Guten, sowie eine Fokussierung auf die Tugenden als dem Kern der moralischen Bewertung (siehe Eudämonie; Aretē; Tugenden und Laster). Entsprechend der Metaphysik des Guten, die die mittelalterlichen Philosophen vom griechischen Denken geerbt hatten, gibt es eine notwendige Verbindung zwischen der Gutheit und dem Sein. Die Dinge sind in dem Umfange gut, in dem ihnen Sein zukommt. Das Böse ist kein positives ontologisches Merkmal der Dinge, sondern ist ein Seinsmangel in irgendeiner relevanten Hinsicht. Das letztendliche Gute des Menschen oder das Ziel der menschlichen Existenz ist das Glück oder die beatitudo, d.h. jene Vollkommenheit, die die meisten mittelalterlichen Philosophen als ein übernatürliches Einswerden mit Gott nach dem irdischen Leben verstanden. Dieses höchste menschliche Gute erreicht man sowohl durch die Kultivierung der moralischen Tugenden, als auch durch die göttliche Gnade in der Form übernatürlich eingegebener Zustände und Dispositionen wie z.B. den Glauben, die Hoffnung und die Barmherzigkeit, d.h. die so genannten theologischen Tugenden. Innerhalb dieses Rahmens debattierten die mittelalterlichen Philosophen darüber, ob das menschliche Glück im Wesentlichen ein affektiver Zustand (d.h. einer der Zuneigung in Gestalt der Liebe Gottes) ist oder ein kognitiver Zustand (d.h. eine Art von Erkenntnis oder Vision von Gott), und ob die Tugenden absolut notwendig sind für das Erlangen der beatitudo. Sie diskutierten aber auch, ob die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen allein von Gottes Willen abhängt. Im Gegensatz zur gängigen Auffassung der mittelalterlichen Ethik waren sie sich keineswegs darüber einig, ob es einen göttlichen Befehl gibt, nach dem die moralische Richtigkeit (oder Falschheit) aller Handlungen allein von ihrer Zustimmung (oder Ablehnung) durch Gott abhängt (siehe Voluntarismus). Logik und Sprache. Die mittelalterlichen Philosophen widmeten enorme Kräfte – vielleicht mehr als sonst jemals die Philosophen in irgendeiner geschichtlichen Epoche der Philosophie außer jener des 20. Jahrhunderts – der Logik und der Sprachphilosophie. Dieses Phänomen erklärt sich vorrangig durch die einzigartig wichtige Rolle, die die aristotelische Logik in der Entwicklung des mittelalterlichen Denkens spielte. Bis in das frühe 11. Jahrhundert beschränkte sich das Wissen der mittelalterlichen Philosophen der griechischen Philosophie auf einige wenige Texte der aristotelischen Logik, und in der Regel auf solche Texte, die auf der Tagesordnung für philosophische Diskussionen standen. Es ist beispielsweise eine einzige Passage aus Porphyrs Isagōgē, die Boethius und nach ihm eine lange Reihe ihm folgender Kommentatoren lockte, und die damit zur Grundlegung des philosophischen Problems der Universalien wurde (siehe Universalien). Die Texte der alten Logik, die ein zentraler Teil der philosophischen Curricula im Spätmittelalter waren, wurden schließlich durch die verbleibenden Abhandlungen der aristotelischen Logik ergänzt, unter denen die ‚Topik‘ und die ‚Sophistischen Widerlegungen‘ das spezielle 1194
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und intensive Interesse an der Form des philosophischen Beweises und dem Wesen der Bedeutung entzündeten. Naturphilosophie. Die mittelalterlichen Philosophen glaubten, dass eine vollständige Darstellung der Wirklichkeit auch eine Darstellung der grundlegenden Bestandteile und Prinzipien des Naturreichs beinhalten müsse. Ihre frühesten Reflexionen zu diesen Gegenständen waren vor allem durch zwei antike Darstellungen der Ursprünge und des Wesens des Universums inspiriert, nämlich der biblischen Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis und Platons Erzählung im ‚Timaios‘ vom Demiurgen, der die Welt hervorbringt (siehe Platon). Das Zusammenfließen dieser antiken Quellen bewirkte eine mittelalterliche Tradition des spekulativen kosmologischen Denkens, das paradigmatisch in den Diskussionen der sechs Schöpfungstage zum Ausdruck kommt. Speziell dieser Gegenstand gab den mittelalterlichen Philosophen die Gelegenheit zur Reflexion des Wesens und des Inhalts des Universums, sowie der Prinzipien, die das Reich der Schöpfung leiten. Vom späten 12. Jahrhundert an waren die mittelalterlichen Philosophen durch die neue aristotelische Naturphilosophie und die neuen wissenschaftlichen Abhandlungen seitens islamischer Philosophen tief berührt. Die ‚Physik‘ des Aristoteles erfuhr eine ganz besonders große Aufmerksamkeit, und die mittelalterlichen Philosophen entwickelten sehr fortgeschrittene Denkwerkzeuge der logischen, begrifflichen und mathematischen Analyse zum Umgang mit Problemen, die durch Aristoteles’ Diskussionen der Bewegung, des Wandels, der Kontinuität und der Unendlichkeit aufkamen. Naturwissenschaftliche Abhandlungen islamischer Denker wie z.B. Alkindi, Alpetragius, Avicenna (siehe Ibn Sina) und Alhasen lieferten das Material und den Anstoß für bedeutende Entwicklung in der Astronomie, der Medizin, der Mathematik und der Optik (siehe Oxford Calculators). 5. Philosophische Theologie Das Christentum ist nicht an sich selbst eine philosophische Lehre, sondern es beeinflusste grundlegend die mittelalterlich-philosophische Weltsicht, sowohl innerhalb der Philosophie, als auch in ihrem externen Kontext. Auf der einen Seite lieferten christliche Texte und Lehren reichen Stoff für die philosophische Reflexion, und das Wesen und die zentralen Behauptungen des Christentums zwangen die mittelalterlichen Intellektuellen zur Ausarbeitung einer umfassenden Darstellung der Wirklichkeit und zum ausdrücklichen Umgang mit sehr tiefen Fragen über die Ziele und Methoden einer jeden philosophischen Unternehmung. Auf diese Weise wurde das Christentum in die Philosophie ‚erhoben‘, indem es zu deren Inhalt Wesentliches beitrug und ihre Strukturen und Methoden veränderte. Auf der anderen Seite setzte das Christentum dem mittelalterlichen Denken externe Schranken. Zu verschiedenen Zeiten nahmen diese Beschränkungen institutionelle Formen durch amtliche Vorschreibungen von Texten, der Verdammung bestimmter philosophischer Standpunkte und der Zensur individueller Meinungen, an. Augustinus legte in zweierlei Hinsicht die Fundamente für die christliche philosophische Theologie des Mittelalters. Erstens lieferte er eine theoretische Grundlage sowohl für die christlichen Intellektuellen, die sich allgemein philosophisch engagierten, als auch für deren Annahmen speziell der christlichen Lehren als dem Gegenstand philosophischer Forschung. Augustinus zufolge ist der christliche Glaube der philosophischen Wahrheitssuche nicht entgegengesetzt, sondern ist vielmehr 1195
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eine unschätzbare Ergänzung und Hilfe beim Philosophieren. Mit der offenbarten Wahrheit im Kopf seien die christlichen Philosophen in der Lage, das Wahre und Nützliche an der heidnischen Philosophie zu retten, und andererseits das Falsche an ihr zurückzuweisen. Ferner argumentierte Augustinus, dass das Christentum durch die Philosophie gestärkt und angereichert werden kann. Die christlichen Philosophen sollten deshalb mit dem Glauben beginnen (d.h. im Glauben auch an die Autorität der Bibel und der Kirche), was das Christentum bekennt und sucht, und zwar im Wege der Vernunft, um hierdurch zu verstehen, was sie ursprünglich hinsichtlich der Autorität glaubten. Im Aufsuchen des Verständnisses vertrauen die Philosophen auf jenen Aspekt an ihnen selbst, nämlich die Vernunft, kraft dessen sie Gott am ähnlichsten von allen Geschöpfen sind. Und in der Zunahme dieses Verständnisses stärken sie die Grundlage für den christlichen Glauben. Die augustinische Methode des Glaubens, der das Verständnis sucht, wurde von praktisch allen mittelalterlichen Philosophen fraglos übernommen. Zweitens lieferten Augustinus’ Schriften einen großen Vorrat an inhaltsreichen und zwingenden Beispielen der philosophischen Reflexion zu Fragen, die vom Wesen des Bösen und der Sünde bis zum Wesen der Dreifaltigkeit reichten. Boethius steht in dieser Hinsicht, d.h. auch als Vorbild für spätere Denker, ganz auf der Linie von Augustinus. Er kombinierte zahlreiche kurze theologische Abhandlungen, die ganz bewusst die Werkzeuge der aristotelischen Logik auf Fragen anwenden, die mit den Lehren des christlichen Glaubens verbunden waren. Viele mittelalterliche Philosophen griffen diese, inspiriert durch die hervorragende philosophische Analyse und die Beweisführung in diesen Schriften, begeistert auf, entwickelten sie weiter und dehnten das Unternehmen der philosophischen Theologie weiter aus. Mit dem Aufkommen der akademischen Strukturen in den neuen europäischen Schulen und Universitäten des 12. und 13. Jahrhunderts wurde die Theologie in den formalen Curricula der höheren Ausbildung zur höchsten akademischen Disziplin. Dennoch sollte der Umstand, dass die großen Denker des Spätmittelalters normalerweise Philosophie zur Vorbereitung auf den höheren Ruf der Theologie studierten, nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie die Philosophie aufgaben, um sich der Theologie zu widmen. Tatsächlich setzten die Theologen des späteren Mittelalters durch ihre gesamte Karriere hindurch ihre Beschäftigung mit grundlegenden philosophischen Fragen vor allem auf philosophischem Wege fort. Und es ist auch klar, warum sie dies taten: diejenigen, die das Studium der Theologie aufnahmen, gehörten zu den begütertsten und am höchsten ausgebildeten philosophischen Geistern ihrer Zeit, und sie brachten der Theologie ihre scharfe philosophische Wahrnehmung, ihre Interessen und Fähigkeiten mit. Und insofern sie das Christentum als Rahmenangebot für eine umfassende Darstellung der Welt überhaupt ansahen, waren sie ganz selbstverständlich von der weit gefassten philosophischen Aufgabe angetan, an diesem Rahmen weiter zu bauen, seine Pfeiler zu verstehen und seine Schwierigkeiten zu lösen. Trotz der Dominanz des augustinischen Standpunktes betreffend die Beziehung zwischen Christentum und Philosophie tauchte in verschiedenen Formen immer wieder und durch das ganze Mittelalter auch religiös motivierter Widerstand gegen die Philosophie im Allgemeinen und gegen die Anwendung philosophischer Methoden zum Verständnis des christlichen Glauben im Besonderen auf. Im 12. Jahrhundert sahen einige einflussreiche Kirchenmänner das aufblühende Studium der Logik 1196
Mittelalterliche Philosophie
in Paris als einen gefährlichen Einfluss auf die Theologie an und setzten kirchliche Mittel ein, um Pierre Abälard und Gilbert von Poitiers anzugreifen. Im 13. Jahrhundert rief die neue aristotelische Naturphilosophie eine neue Welle nachhaltiger kirchlicher Reaktionen hervor. Im Jahre 1210 und 1215 verboten kirchliche Autoritäten die Lehre der aristotelischen Naturphilosophie in Paris, und 1277 verlautbarte der Bischof von Paris die Verdammung von 219 Schriften, die viele theologische und philosophische Themen betrafen. Diese Verdammung scheint vor allem eine Reaktion auf das Werk radikaler Averroes-Interpreten von Aristoteles gewesen zu sein. Es ist unklar, wie wirksam diese Aktionen bei der Unterdrückung der Bewegungen und Lehren waren, auf die sie sich richteten (siehe Naturtheologie). 6. Gelehrsamkeit in der mittelalterlichen Philosophie Das heutige, d.h. zeitgenössische Studium der mittelalterlichen Philosophie steht vor besonderen Schwierigkeiten. Erstens konnte ein großer Teil der mittelalterlichen philosophischen und theologischen Literatur in europäischen Bibliotheken erhalten werden. Weil aber viele dieser Sammlungen noch immer nicht vollständig katalogisiert sind, haben die Gelehrten immer noch kein vollständiges Bild von dem existierenden Primärmaterial. Zweitens können die Primärquellen selbst in der Form von handschriftlichen Texten und frühen Druckschriften normalerweise nur noch von solchen Leuten entziffert und gelesen werden, die über spezielle paläographische Fähigkeiten verfügen. Nur ein sehr kleiner Teil des bekannten und überbrachten Materials wurde ins Englische oder eine andere moderne Sprache übersetzt, geschweige denn in gelehrter Weise kommentiert oder so analysiert, dass es dadurch einem größeren philosophischen Interessentenkreis zugänglich wird. Aus diesen Gründen ist die Wissenschaft der mittelalterlichen Philosophie noch immer in einem Anfangsstadium und ist weit von der Erschließung einer maßgeblichen und umfassenden Auffassung ihres Gegenstandsgebietes entfernt, die die Philosophie als Wissenschaft von anderen geschichtlichen Epochen hinsichtlich ihrer Gegenstandsgebiete hat. Für die nähere Zukunft wird der Fortschritt hier nicht nur von der Art und Weise der philosophischen und historischen Analyse abhängen, die grundlegend ist für den Wissensgewinn in der Geschichte der Philosophie, sondern auch von der Form der Textarchäologie, die notwendig ist zur Wiedergewinnung der mittelalterlichen philosophischen Primärtexte. Siehe auch: Antike Philosophie; Islamische Philosophie; Neuplatonismus; Religionsphilosophie; Renaissance-Philosophie. Anmerkungen und weitere Lektüre: Armstrong, A.H. (Hrg.) (1967): ‚The Cambridge History of Later Greek und Early Medieval Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Ein nützlicher Überblick über die Vorläufer der mittelalterlichen Philosophie, einschließlich der philosophischen Bewegungen der Spätantike und der Hauptfiguren der mittelalterlichen Epoche bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts.) Dronke, P. (Hrg.) (1988): ‚A History of Twelfth-Century Western Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Sammlung von sechzehn Aufsätzen, die sowohl den Hintergrund der Philosophie des 12. Jahrhunderts, als auch ihre Neuerungen und Hauptfiguren erforscht. Der Band enthält eine gute Bibliographie und nützliche biographische Darstellungen von Philosophen des 12. Jahrhunderts.)
1197
Modallogik
Marenborn, J. (1983): ‚Early Medieval Philosophy (480–1150): An Introduction‘. London: Routledge, 2. Aufl. 1988. (Eine gut lesbare und informative allgemeine Einführung in diese Epoche.) SCOTT MACDONALD, NORMANN KRETZMANN
Mo Ti/Mo Tsu
Siehe: Mohistische Philosophie; Mozi
Modallogik
Die Modallogik im engen Sinne untersucht die Prinzipien des Denkens unter Einbeziehung von Notwendigkeit und Möglichkeit. Etwas weiter konzipiert umfasst sie auch eine Reihe strukturell ähnlicher Schlusssysteme. In diesem Sinne sind die deontische Logik, die sich mit der Pflicht, der Erlaubnis und damit zusammenhängenden Begriffen beschäftigt, sowie die Erkenntnislogik (die unser Wissen und damit zusammenhängende Begriffe betrifft) als Zweige der Modallogik. Und in noch weiterem Sinne ist die Modallogik das Studium der Klassen aller möglichen formalen Systeme dieser Art. Die frühesten formalen Ansätze zu einer Modallogik finden sich bereits bei Aristoteles in seiner ‚Ersten Analytik‘. Dort werden zu jedem kategorischen Syllogismus auch deren modallogische Varianten untersucht. Im Mittelalter untersuchte u.a. Duns Scotus modallogische Begriffe. Gottfried Wilhelm Leibniz prägte den Ausdruck ‚mögliche Welt‘, der für die Entwicklung der modallogischen Modelltheorie bedeutsam geworden ist. Die ersten modallogischen Kalküle in moderner Darstellungsform finden sich in Clarence Irving Lewis Werken ‚A Survey of Symbolic Logic‘ (1918) und in dem zusammen mit C. H. Langford verfassten Buch ‚Symbolic Logic‘ (1932). In letzterem präsentieren die Autoren fünf Systeme (S1 bis S5), bei denen sie sich nicht entscheiden wollen, welches davon die Prinzipien modallogischen Folgerns am besten ausdrückt. Im Jahr 1933 zeigte Kurt Gödel eine enge Verbindung zwischen S4 (spezifiziert durch die unten genannten Axiome K, T und S4) und der intuitionistischen Logik auf. Rudolf Carnaps Buch ‚Meaning and Necessity‘ (1947) stellt den Versuch dar, den Begriff der Intension mit modallogischen Mitteln zu rekonstruieren. 1959 entwickelt Saul Kripke eine Semantik für verschiedene modallogische Systeme. Es ist üblich, die Sprache der Modallogik so zu fassen, dass man zur Sprache der klassischen Aussagen- oder Prädikatenlogik zwei einstellige Operatoren, nämlich den Operator ‚□‘ für die Notwendigkeit und den Operator ‚◊‘ für die Möglichkeit hinzufügt. Notwendigkeit und Möglichkeit sind wechselseitig definierbar durch die Negation. Es gilt: A ↔ ¬◊¬A, und ◊A ↔ ¬□¬A, und □A ↔ ¬◊¬A Eine modale Logik ist eine Menge von Formeln dieser Sprache, die diese Bikonditionale enthält und drei weitere Bedingungen erfüllt: (1) sie enthält alle Fälle von Theoremen der klassischen Logik; (2) sie ist unter dem modus ponens geschlossen, d.h., wenn sie A enthält und A → B, auch B enthält, und (3) wenn sie unter der Ersetzung geschlossen ist, d.h. wenn sie A enthält, dann enthält sie auch jede Ersetzungsinstanz von A bzw. jedes Ergebnis von einheitlichen Substitutionsformeln für 1198
Modallogik
Satzbuchstaben in A. Um eine Logik zu erhalten, die auf angemessene Weise die metaphysische Notwendigkeit und Möglichkeit abbildet, sind gewisse zusätzliche Axiome und Regelschemata erforderlich. Die folgenden modallogische Systeme gehören heute zu den gebräuchlichsten: Name K T D B S4 S5
Axiom
□(A → B) → (□A → □B) K + □A → A K + □A → ◊ A T + A → □◊A T + □A → □□p T + ◊A → □◊A
Zugänglichkeitsrelation (zwischen mögl. Welten) Beliebig Reflexiv Seriell Reflexiv und symmetrisch Reflexiv und transitiv Reflexiv, transitiv u. symmetrisch
Indem man diese und andere der □-◊-Bikonditionale zu einer Standardaxiomatisierung der klassischen Aussagenlogik hinzufügt, erhält man eine Axiomatisierung der wichtigsten Modallogik namens ‚S5‘, die ihren Namen daher hat, dass sie die Logik ist, die als fünfte im System von Lewis und Langfords Buch Symbolic Logic (1932) erzeugt wurde. S5 kann man direkter durch Mögliche-Welten-Modelle beschreiben. Ein jedes solches Modell bestimmt eine Menge möglicher Welten und schreibt atomaren Sätzen relativ zu diesen Welten Wahrheitswerte zu. Wahrheitswerte aus klassischen Aussageverbindungen einer Welt w hängen üblicherweise von Wahrheitswerten ihrer Bestandteile ab. □A ist in w wahr, wenn A in allen Welten des Modells wahr ist; ◊A ist wahr, wenn A in irgendeiner Welt des Modells wahr ist. S5 bezieht sich auf alle wahren Formeln in allen Welten solcher Modelle. Viele Modallogiken, die schwächer als S5 sind, kann man durch Modelle beschreiben, die neben einer Menge möglicher Welten eine Beziehung der ‚Zugänglichkeit‘ oder der relativen Möglichkeit über diese Menge spezifizieren. □A ist in w wahr, wenn A in allen Welten von w aus zugänglich ist, d.h. in allen Welten, die möglich wären, wenn w wirklich wäre. Von den oben aufgezählten Schemata ist nur K in allen diesen Modellen wahr, aber jedes der anderen ist wahr, wenn die Zugänglichkeit mit einer entsprechenden Beschränkung versehen wird. Die Hinzufügung von Modaloperatoren zur Prädikatenlogik bringt zusätzliche begriffliche und mathematische Schwierigkeiten mit sich. In einer der Konzeptionen spezifiziert ein Modell für die quantifizierte Modallogik neben einer Menge von Welten auch die Menge Dw von Einzeldingen, die in w existieren, und zwar für jede Welt w. Beispielsweise ist ∃x□A in w wahr, wenn es irgendein Element in Dw gibt, das A in jeder möglichen Welt sättigt. Wenn A nur durch existente Einzeldinge einer gegebenen Welt gesättigt wird, dann impliziert ∃x□A, dass es notwendig Einzeldinge gibt, und zwar solche, die in jeder zugänglichen möglichen Welt existieren. Wenn A durch nicht-existente Dinge gesättigt wird, dann gibt es möglicherweise Modelle und Zuschreibungen, die A sättigen, aber nicht ∃xA. Infolgedessen ist die modale Prädikatenlogik nach dieser Konzeption keine Erweiterung ihres klassischen Gegenparts. Die moderne Entwicklung der Modallogik wurde aus verschiedenen Gründen kritisiert, und einige Philosophen haben sich skeptisch hinsichtlich der Verständ-
1199
Modelle
lichkeit des Begriffs der Notwendigkeit geäußert, der doch durch die Modallogik beschrieben werden soll. STEVEN T. KUHN
Modelle
Die vielen Arten von Dingen, die als ‚Modelle‘ taugen, fungieren alle und grundlegend als Repräsentationen dessen, was wir verstehen oder sein oder tun möchten. Modellflugzeuge und andere größenskalierte Modelle teilen ausgewählte strukturelle Eigenschaften mit ihrem jeweiligen Original, während sie sich in anderen Eigenschaften unterscheiden, wie beispielsweise den Konstruktionsmaterialien und der Größe. Analoge Modelle, die ihren Originalen in einigen strukturellen Aspekten oder internen Beziehungen ähneln, sind in den Wissenschaften wichtig, weil sie Schlüsse über komplizierte oder dunkle natürliche Verhältnisse zulassen. Eine Sammlung von Billardkugeln in zufälliger Bewegung ist ein analoges Modell eines idealen Gases; die Wechselwirkungen und Bewegungen der Billardkugeln versteht man dabei so, dass sie die Wechselwirkung die die Bewegungen von Molekülen im Gas repräsentieren bzw. sich analog zu ihnen verhalten. In der mathematischen Logik ist ein Modell eine Struktur, d.h. eine Anordnung von Gegenständen, die eine Theorie repräsentieren, die durch eine Menge von Sätzen ausgedrückt wird. Die unterschiedlichen Ausdrücke in Sätzen dieser Theorie werden auf Gegenstände und ihre Beziehungen zu dieser Struktur abgebildet. Ein Modell ist eine Struktur, innerhalb derer alle Sätze der Theorie wahr sind. Dieser spezialisierte Begriff des Modells wurde von den Wissenschaftsphilosophen aufgegriffen. Nach einer ‚strukturalistischen‘ oder ‚semantischen‘ Konzeption werden wissenschaftliche Theorien als Strukturen verstanden, die zur Repräsentation realer Systeme in der Natur verwendet werden. Philosophische Debatten entzündeten sich hinsichtlich des genauen Umfanges der Ähnlichkeit zwischen dem wissenschaftlichen Modell und dem natürlichen System, dass sie repräsentieren. Siehe auch: Theorien, wissenschaftliche; Wissenschaftliche Methode; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus ELISABETH A. LLOYD
Modularität des Geistes
Eine übliche Auffassung in der jüngeren Wissenschaftsphilosophie lautet, dass es keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen theoretischen und auf Beobachtung beruhenden Behauptungen gibt, da die Wahrnehmung selbst durch und durch von Überzeugungen und Erwartungen des Beobachters durchsetzt ist. Neuere psychologische und neurologische Forschungsergebnisse stellen diese Behauptung jedoch in Frage und legen stattdessen nahe, dass die Verarbeitung der Wahrnehmung in bedeutendem Umfange ‚kognitiv undurchdringlich‘ sei: sie finde in informationell verkapselten ‚Modulen‘ statt, die rational, d.h. durch Überzeugungen oder andere ‚zentrale‘ kognitive Zustände, nicht beeinflussbar seien, oder sogar in noch anderen Abschnitten des Wahrnehmungssystems. Siehe auch: Sehvermögen; Wahrnehmung ZENON W. PYLYSHYN
Mögliche Welten
Der Begriff der möglichen Welten ergibt sich beinahe von selbst beim Studium von Möglichkeit und Notwendigkeit. Es ist relativ unstrittig, dass sich unser Son1200
Mögliche-Welten-Semantik
nensystem z. B. so hätte entwickeln können, dass keine Erde darin entstanden wäre, oder – anders gesagt – dass es eine mögliche Welt gibt, in der keine Erde vorhanden ist. Obwohl wir eine solche Rede von möglichen Welten nicht wörtlich nehmen, hat sie doch eine Reihe unerwarteter Vorteile. Der Ausdruck ‚mögliche Welten’ versetzt uns in die Lage und hilft uns, einen großen Bereich problematischer und schwieriger Begriff zu analysieren und zu verstehen. Die Modalität und die modale Logik, kontrafaktische und andere Aussagen und Eigenschaften sind nur einige der Begriffe, die durch den Begriff der ‚möglichen Welten’ erhellt werden. Und doch scheint es, als würde die Rede von den möglichen Welten mehr Probleme aufwerfen, als sie imstande ist zu lösen. Was für eine Art von Gegenstand ist eine mögliche Welt? Sind mögliche Welten nur unsere Gedankenschöpfung, oder existieren sie ‚wirklich’, d.h. unabhängig von uns? Sind sie konkrete Gegenstände wie unsere wirkliche Welt, die Menschen aus Fleisch und Blut enthalten, aber in einer alternativen Wirklichkeit leben, oder sind sie abstrakte Gegenstände wie Zahlen, die unzeitlich und unräumlich sind und damit über keine Kausalkräfte verfügen? Da mögliche Welten nicht die Art von Gegenstand sind, die wir je ‚besuchen’ können, fragt sich in der Tat, wie wir je wissen können, ob solche Welten überhaupt existieren. Dies sind nur einige der schwierigen Fragen, denen sich jeder stellen muss, der mit möglichen Welten umgehen möchte. Siehe auch: Abstrakte Gegenstände; Intensionale Entitäten; Intensionale Logik; Modallogik JOSEPH MELIA
Mögliche-Welten-Semantik
Die Mögliche-Welten-Semantik (nachfolgend: MWS) ist eine Schar von Ideen und Methoden, die zur Analyse von philosophisch interessanten Begriffen verwendet werden. MWS hatte seinen Schwerpunkt ursprünglich auf den wichtigen Begriffen der Notwendigkeit und der Möglichkeit. Man betrachte: (a) Notwendigerweise ist 2 + 2 = 4. (b) Notwendigerweise hatte Sokrates eine Stupsnase. Intuitiv würden wir sagen, dass (a) wahr und (b) falsch ist. Es gibt einfach keine Möglichkeit, 2 und 2 anders zusammenzuzählen, als dass 4 dabei herauskommt, also ist (a) wahr. Aber obwohl Sokrates (angeblich) eine Stupsnase hatte, war dies nicht notwendigerweise so; er hätte auch eine anders geformte Nase haben können. Also ist (b) falsch. Die Sätze (a) und (b) weisen ein bestimmtes Merkmal auf, dass als ‚Intensionalität’ bezeichnet wird (siehe Intensionalität). Sätze mit demselben Wahrheitswert sind Bestandteile von anderweitig ähnlichen Sätzen, die abweichende Wahrheitswerte aufweisen können. Die ‚extensionale Semantik’ geht davon aus, dass Sätze für ihre Wahrheitswerte stehen, und dass dasjenige, wofür ein Satz steht, eine Funktion dessen ist, wofür seine Bestandteile stehen und wie sie angeordnet sind. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht leicht, den Unterschied im Wahrheitswert zwischen (a) und (b) zu erklären, und folglich auch nicht leicht, die Notwendigkeit darzustellen. Die MWS versteht einen Satz dagegen so, dass er für eine Funktion von Welten auf Wahrheitswerte steht. Für jede Welt ergibt die Funktion den Wahrheitswert, den der Satz haben würde, wenn diese Welt wirklich wäre. Daher steht ‚2 + 2 = 4’ für eine Funktion, die den Wahrheitswert ‚wahr’ für jede Welt ergibt, während ‚Sokrates 1201
Mohistische Philosophie
hatte eine Stupsnase’ für eine andere Funktion steht, die ‚wahr’ für einige Welten’ und ‚falsch’ für andere ergibt, je nachdem, wie Sokrates’ Nase in der jeweiligen Welt ausschaut. Da diese beiden Sätze für unterschiedliche Dinge stehen, können Sätze, in denen sie wiederum als Bestandteile erscheinen, wie z.B. (a) und (b), auch für unterschiedliche Dinge stehen. Die zugrunde liegende Idee, die von Leibniz geliehen und durch Carnap, Kripke und andere in die moderne Logik eingebracht wurde, hat sich als extrem fruchtbar erwiesen. Sie wurde auf eine Reihe intensionaler Phänomene zusätzlich zur Notwendigkeit und Möglichkeit angewandt, einschließlich der Konditionale, zeitgebundener Aussagen und zeitindizierter Adverbien, auf die Verpflichtung und auf Berichte mit informationell-kognitivem Inhalt. Die MWS beflügelte die Entwicklung der philosophischen Logik und führte zu neuen Anwendungen der Logik in der Computerwissenschaft und der künstlichen Intelligenz. Sie revolutionierte das Studium der Semantik der natürlichen Sprachen. Die MWS hat die Analyse vieler philosophisch bedeutsamer Begriffe angeregt, und der Begriff der ‚möglichen Welt’ gehört zum Kern wichtiger philosophischer Systeme. Siehe auch: Intensionale Entitäten; Mögliche Welten JOHN R. PERRY
Mohistische Philosophie
Die mohistische Philosophie beschreibt die weit ausgreifende philosophische Tradition, die von Mo Ti oder Mozi (‚Meister Mo‘) im 5. Jahrhundert v.Chr. begründet wurde. Mozi war wahrscheinlich von relativ bescheidener Herkunft, vielleicht war er ein Mitglied der Handwerker- oder Künstlerklasse. Schon früh in seinem Leben hat er vermutlich mit Anhängern von Konfuzius studiert. Gleichwohl wurde er schließlich zum ersten ernsthaften Kritiker des Konfuzianismus. Mozis Philosophie war Teil einer organisierten, utopischen Bewegung, deren Mitglieder sich in direkten sozialen Handlungen engagierten. Er war ein charismatischer Führer, der seine Anhänger ermutigte, sich seiner einzigartigen Auffassung von sozialer Gerechtigkeit zu widmen. Diese Anschauung forderte von ihnen, ein sparsames und anspruchsvolles Leben zu führen. Zum Beispiel rief er sie auf, an solchen Unternehmungen wie der militärischen Verteidigung von Staaten, die zu Unrecht angegriffen wurde, teilzunehmen. Mozi ist vermutlich der erste wirkliche Philosoph Chinas. Er war der erste, der seine Widersacher systematisch analysierte und kritisierte und dabei eine sorgfältig ausgearbeitete eigene Position präsentierte. Dies regte ihn und seine Anhänger zum Studium der Formen und Methoden der philosophischen Argumentation an, die in bedeutender Weise zur Entwicklung der frühen chinesischen Philosophie beitrug. Mozi sah ideologische Differenzen und den Geist der Parteilichkeit, der davon ausgeht, als die primäre Quelle des menschlichen Leidens an. Deshalb kritisierte er leidenschaftlich das familienbasierte ethische und politische System des Konfuzius wegen seiner immanenten Parteilichkeit. An dessen Stelle vertrat er drei grundlegende Lebensgüter: den Wohlstand, die Ordnung und die Gesamtbevölkerung eines Staates. Gegen den Konfuzianismus argumentierte er mit dem jian’ai (dt.: ‚unparteiische Sorge‘). Das Jian’ai wird oft als ‚universale Liebe‘ übersetzt; dies ist jedoch irreführend. Mozi sah als zentrales ethisches Problem den Exzess der Parteilichkeit, nicht einen Mangel an Mitgefühl an. Er interessierte sich nicht für eine Kultivierung der Gefühle oder subjektiven Einstellungen, sondern für die Formung des 1202
Molina, Luis de (1535–1600)
Verhaltens. Er zeigte bemerkenswert geringes Interesse für die Moralpsychologie und vertrag ein extrem armes Bild des menschlichen Wesens. Dies führte ihn von dem ansonsten in China verbreiteten Interesse an der Selbstkultivierung weg. Seine allgemein geringe Wertschätzung der psychischen Güter und sein Bedürfnis nach einer Kontrolle der Wünsche und einer Gestaltung der Neigungen und Einstellungen führte ihn ferner zur einer Ablehnung der typischen konfuzianischen Bemühungen um Kultur und Rituale. Mozi glaubte, dass die Menschen ein extrem form- und dehnbares Wesen hätten, und er vertrat eine starke Form des Voluntarismus. Aus verschiedenen Gründen glaubte er, dass die Menschen dazu gebracht werden könnten, praktisch jede Art von Verhalten anzunehmen. Zunächst teilte er eine damals verbreitete chinesische Überzeugung von einer psychischen Tendenz des Menschen, derzufolge ein Mensch immer auf diejenige Art und Weise reagiert, in der er angesprochen wird. Er glaubte ferne, dass viele Menschen, um die Gunst ihrer Herrscher zu gewinnen, dazu neigen sich so zu verhalten, wie ihre Herrscher sich dies wünschen. Und jene, die sich keiner dieser Einflüsse beugen, können durch ein System der strikten Belohnungen und Bestrafungen motiviert und kontrolliert werden, das vom Staat durchgesetzt und mit der Hilfe des Himmels, der Geister und Gespenster garantiert wird. Am wichtigsten war jedoch für Mozi der Glaube, dass rationale Beweise eine extrem starke, wenn nicht zwingende Motivation zum Handeln liefern: wenn denkende Menschen mit einem überlegenen Argument konfrontiert werden, handeln sie dementsprechend. Die sozialen und politischen Bewegungen der späteren Mohisten dauerten bis in den Aufstieg der Han-Dynastie (206 v. Chr.). Sie folgten weiterhin den frühen Interessen Mozis und entwickelten ausgeklügelte Systeme der logischen Analyse, der Mathematik, der Optik, der Physik, der defensiven Kriegsführungstechnik und -strategie, sowie eine formale Ethik, die auf Berechnungen des Nutzens und des Schadens aufbaute. Alle philosophischen Bemühungen der späteren Mohisten kann man in den frühen Schichten der Mozi finden, und sie scheinen durchgängig den Lehren ihres Gründers treu geblieben zu sein. Siehe auch: Chinesische Philosophie; Daoistische Philosophie; Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Mozi PHILIP J. IVANHOE
Molina, Luis de (1535–1600)
Molina war eine der führenden Figuren der iberischen Scholastik des 16. Jahrhunderts und einer der umstrittensten Denker in der Geschichte des katholischen Denkens. Indem er sich an die sehr libertäre Darstellung des freien menschlichen Willens hielt, die die frühen jesuitischen Theologen kennzeichnet, behauptete Molina, dass Gottes kausaler Einfluss auf die freien menschlichen Handlungen infolge seines spezifischen Wesens nicht allein bestimmt, wie diese Handlungen aussehen werden, oder ob sie gut oder böse sein werden. Deshalb behauptete Molina gegen seine dominikanischen Rivalen, dass sich Gottes umfassender Vorsehungsplan für die erschaffene Welt, sowie sein unfehlbares Vorwissen der künftigen Ereignisse gerade nicht aus der Kombination seines vorangehenden ‚natürlichen‘ Wissens metaphysisch notwendiger Wahrheiten und seinem ‚freien‘ Wissen des kausalen Einflusses ergebe – dies sowohl im natürlichen Sinne von ‚tritt allgemein auf‘, als auch im übernatürlichen Sinne von ‚ist Ausdruck der göttlichen Gnade‘ – , sondern dass er darin vielmehr seinen Willen zur Kooperation mit dem freien menschlichen Han1203
Monismus
deln äußere. In Ergänzung zu Gottes natürlichem Wissen behauptete Molina vielmehr eine bestimmte Art von vorangehendem göttlichem Wissen, das er ‚mittleres Wissen‘ taufte, und durch das Gott vorwillentlich, d.h. vor jeglicher freier Willensäußerung gegenüber den kontingenten Wesen, weiß, wie irgendein möglicherweise rationales Geschöpf sich tatsächlich frei unter den jeweiligen möglichen Umständen entscheiden würde, in denen es die Macht zum freien Handeln besitzt. Und auf dieser Grundlage entwarf Molina seine umstrittene Versöhnung des freien Willens mit der katholischen Lehre der Gnade, der göttlichen Vorsehung, des göttlichen Vorwissens und der Prädestination. Neben diesem Beitrag zur dogmatischen Theologie war Molina auch ein vollendeter Moral- und politischer Philosoph, der umfangreiche und empirisch gut informierte Traktate über die politische Autorität, die Sklaverei, den Krieg und die Wirtschaft schrieb. Siehe auch: Allwissenheit; Freiheit, Göttliche; Gassendi, P.; Gott, Begriffe von; Prädestination; Renaissance-Philosophie; Suárez, F. ALFRED J. FREDDOSO
Molyneux-Problem, Das
Der Ursprung dessen, was als das ‚Molyneux-Problem‘ bekannt wurde, liegt in der folgenden Frage, die von William Molyneux an John Locke gerichtet wurde: wenn ein Mensch blind geboren wurde, der in der Lage ist, durch Berührung zwischen einem Würfel und einer Kugel zu unterscheiden, und dieser Mensch plötzlich sehend wird: könnte er uns nun allein durch das Sehen mitteilen, was der Würfel und was die Kugel ist, bevor er sie anfasst? Die Frage wirft fundamentale Probleme der Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes auf und wurde auch noch lange diskutiert, nachdem Locke sie in seine zweite Auflage seines ‚Essay concerning Human Understanding‘ aufgenommen hatte. MENNO LIEVERS
Monismus
‚Monismus‘ ist ein sehr weit verwendeter Ausdruck, der auf jede Lehre anwendbar ist, die behauptet, dass es letztlich entweder nur eine Sache gibt, oder nur eine Art von Ding. Er wurde auch zur Bezeichnung der Anschauung verwendet, dass es nur eine Menge wahrer Überzeugungen gibt. In diesen Verwendungsweisen steht der Ausdruck jenen des ebenfalls sehr weiten Ausdrucks ‚Pluralismus‘ gegenüber. Er wird aber auch häufig dem ‚Dualismus‘ gegenüber gestellt, weil sich zahlreiche philosophische Debatten um die Frage drehten, ob es zwei unterschiedliche Arten von Dingen gibt, nämlich Geist und Materie, oder nur eine allein. Siehe auch: Pluralismus EDWARD CRAIG
Montaigne, Michel Eyquem de (1533–1592)
Montaigne war ein französischer Philosoph und Essayist des 16. Jahrhunderts, der zu seiner Zeit als der ‚französische Sokrates‘ bezeichnet wurde. Während der Religionskriege zwischen den Katholiken und den Protestanten in Frankreich war er der Freund und Berater von Führern beider Seiten, einschließlich des protestantischen Führers Heinrich von Navarra, der zum Katholizismus übertrat und König Heinrich der IV. wurde. Montaigne riet allgemein zur Toleranz gegenüber allen Gläubigen, und diese Sicht wurde durch den neuen König im Edikt von Nantes 1204
Montesquieu, Charles Louis de Secondat (1689–1755)
(1598) auch öffentlich verkündet. Sein literarisches Hauptwerk schuf er in der Form der essais (was ursprünglich ‚Versuche‘ bedeutet) oder Diskussionen verschiedener Themen. In diesen Texten entwickelte er Standpunkte zu vielen Themen, beginnend bei der skeptischen und stoischen Literatur der Antike. In der ihm eigenen, weitschweifigen Manier präsentierte er auf diese Weise die erste vollständige Darstellung der Neuzeit des pyrrhonischen Skeptizismus und des kulturellen Relativismus. Insbesondere entwickelte und modernisierte er das antike skeptische Argument der Unverlässlichkeit aller Information, die man durch die Sinne oder durch die Vernunft gewinnt, aber auch jenes zur Unfähigkeit der Menschen, ein befriedigendes Erkenntniskriterium zu finden, und jenes betreffend die Relativität der moralischen Meinungen. Sein Eintreten für den vollständigen Skeptizismus und Relativismus war an die Berufung geknüpft, die Religion allein auf der Grundlage des Glaubens zu akzeptieren. Seine Schriften wurden enorm populär. Beispielsweise kannten wahrscheinlich auch Shakespeare und Francis Bacon die englische Übersetzung durch John Florio, die im 1603 zum ersten Male veröffentlicht wurde. Montaigne, dessen Aufsätze das Grundvokabular der neuzeitlichen Philosophie lieferten, und die in traditioneller Mundart geschrieben waren, war einer der einflussreichsten Denker der Renaissance, und seine Werke werden als Klassiker der Literatur und Philosophie angesehen. Siehe auch: Glauben; Humanismus in der Renaissance; Politische Philosophie, Geschichte der; Pyrrhonismus; Renaissance-Philosophie; Sextus Empiricus RICHARD H. POPKIN
Montesquieu, Charles Louis de Secondat (1689–1755)
Montesquieu, einer der größten Figuren der europäischen Aufklärung, war nicht nur in seinem eigenen Land, Frankreich, sondern auch im Ausland von Russland bis in die amerikanischen Kolonien berühmt. Spätere Generationen der französischen philosophes (also der französischen Aufklärer) nahmen seine Bemühungen um eine Reform des Strafrechts bereits als selbstverständlich, aber auch jene einer Ersetzung der Inquisition durch eine Atmosphäre der Toleranz, als auch seinen Abscheu vor den brutalen Eroberungen der Spanier in Südamerika. Sie akzeptierten ferner seine Auffassung, dass die Protestanten, sowie das kommerziell orientierte und konstitutionelle England und Holland die besten Möglichkeiten Europas repräsentierten, wogegen die Katholiken, die wirtschaftlich zurück waren, und das absolutistische Portugal und Spanien die schlechtesten Beispiele der westlichen Welt abgäben und eine Warnung an die Adresse von Frankreich seien. Obwohl seine Auffassungen und die spezifischen Reformen, die Montesquieu vorschlug, auch von vielen anderen Beteiligten der französischen Aufklärung wiederholt wurden, ist sein Werk in gewisser Hinsicht doch einzig in den Kreisen auch noch der fortgeschrittensten Denker. In seinen Bemühungen um systematisches Denken in der Politik, und indem er dies im Rahmen einer vergleichenden Methode anwandte, steht er praktisch allein für sein Zeitalter. Andere Denker teilten seine Bindung an die universelle Sprache der Naturrechte, wenn sie sich in das Gebiet der politischen Philosophie vorwagten, oder sie banden wie Voltaire ihre Gedanken über die Politik an die Verfolgung bestimmter Fragen, wobei der jeweilige Aufsatz dann so untrüglich den Stempel ihrer Zeit und ihres jeweiligen Ortes trug, dass für die Theorie in ihren Schriften kein Raum mehr war. Schließlich gilt auch für Diderot und d’Alembert, dass viele der philosophes nur langsam erkannten, was Montesqui1205
Moore, George Edward (1873–1958)
eu bereits von Anfang an gewusst hatte, dass die Aufklärung nämlich, wenn sie nicht die Politik ergreift, nutzlos ist. Durchtränkt vom Skeptizismus Montaignes fand Montesquieu, dass in der Abwesenheit des Absoluten gute Gründe zur Wertschätzung des ‚mehr als‘ und des ‚weniger als‘ gegeben seien, sowie auch für Urteile des ‚besser‘ bzw. ‚schlechter als‘ im Zuge einer vergleichenden Analyse. In seinen Notizbüchern kommentierte er, der Fehler der meisten Philosophen sei es gewesen, nicht zu beachten, dass die Ausdrücke ‚schön‘, ‚gut‘, ‚edel‘, ‚groß‘ und ‚vollkommen‘ relativ zu den Wesen stünden, die sie verwenden. Nur ein Absolutes existierte für Montesquieu, und das war das Böse des Despotismus, was unter allen Umständen zu vermeiden sei. Montesquieu schrieb drei große Werke, von denen jedes Lektionen über den Despotismus und die Freiheit enthielt: ‚Die Persischen Briefe‘ (1721), die ‚Betrachtung der Größe der Römer und die Ursache ihres Niedergangs‘ (1734) und ‚Der Geist der Gesetze‘ (1748). Siehe auch: Geschichte, Philosophie der MARK HULLIUNG
Moore, George Edward (1873–1958)
G.E. Moore war einer der einflussreichsten britischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine frühen Schriften erregten wegen ihrer Ablehnung der idealistischen Metaphysik und seinem Beharren auf der Irreduzibilität der ethischen Werte Aufmerksamkeit, und sein späteres Werk wurde berühmt wegen seiner Verteidigung des common sense und seiner Konzeption der philosophischen Analyse. Er verbrachte den größten Teil seines beruflichen Lebens in Cambridge, wo er ein Freund und Kollege von Russell, Ramsey und Wittgenstein war. Die bekannteste These aus Moores früher Abhandlung über die Ethik, ‚Principia Ethica‘ (1903), ist, dass es in nahezu aller vorangegangenen ethischen Literatur einen Trugschluss gibt, den sog. ‚naturalistischen Trugschluss‘. Dieser Irrtum entstünde vermutlich aus dem Versuch einer Definition ethischer Werte.2 Die Gültigkeit des Mooreschen Beweises wurde viel diskutiert, aber viele Philosophen meinen weiterhin, dass Moore darin Recht hatte, die Möglichkeit einer reduktiven Definition der ethischen Werte abzulehnen (siehe hierzu auch Naturalismus in der Ethik). Das genannte Buch ist auch bekannt für Moores Bestätigung des Vorranges der Werte der Kunst und der Liebe. Moores späteren Schriften betreffend das Wesen der äußeren Welt und den Umfang unseres Wissens von ihr. Im Gegensatz zu den idealistischen Zweifel an ihrer Wirklichkeit und den skeptischen Zweifeln betreffend unser Wissen von ihr verteidigte Moore den common sense, indem er die Tiefe unserer Bindung an die uns 2 Zum Begriff des sog. ‚naturalistischen Trugschlusses‘ (engl.: ‚naturalistic fallacy‘): Moore stimmte den übrigen Philosophen durchaus darin zu, dass es die Aufgabe der Ethik sei, diejenigen Eigenschaften zu entdecken oder zu benennen, die Ereignisse oder Dinge zu guten Ereignissen oder Dingen machen. Er widersprach allerdings der Vorstellung, dass mit der Benennung guter Eigenschaften bereits auch das Gute an sich selbst bezeichnet sei. Eine solche Behauptung betrachtete Moore vielmehr als einen ernsthaften Irrtum. Beispielsweise mag ein Hedonist Recht haben, wenn er sagt, dass etwas genau dann gut sei, wenn es lustvoll erfahrbar sei. Dies bedeute jedoch keineswegs, dass wir damit den Wert von Dingen als Lust definieren können. Es sei eine Sache zu sagen, welche Eigenschaft ein Ereignis oder einen Gegenstand lustvoll werden lasse, dagegen eine gänzlich andere Sache, was ein Wert an sich selbst sei. [WS]
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Moral und Gefühl
vertrauten Überzeugungen betonte und die Argumente jener kritisierte, die sie in Frage stellten. Aber obwohl er auf der Wahrheit unserer vertrauten Überzeugungen bestand, war er doch bemerkenswert offen gegenüber ihrer jeweiligen ‚Analyse‘, die die Tatsachen, aus denen ihre Wahrheiten bestehen, klären sollten. Siehe auch: Analytische Philosophie THOMAs BALDWIN
Moral und Kunst
Siehe: Kunst und Moral
Moral und Gefühl
Gefühle wie z.B. Angst, Trauer, Neid, Mitgefühl, Liebe und Eifersucht stehen in enger Verbindung mit der Moral. Die Philosophen sind sich im Allgemeinen einig, dass diese Gefühle auf vielfältige Weise moralische Probleme verursachen können: in dem sie das Urteil behindern, indem sie die Aufmerksamkeit ablenken und verzerren, indem sie die fühlende Person destabilisieren und übermäßig bedürftig machen, und indem sie moralisch inakzeptable Vorhaben und Ziele formulieren. Der Platz der Gefühle in den Moraltheorien hängt davon ab, ob man sie sich lediglich als Impulse ohne gedanklichen oder intentionalen Inhalt vorstellt, oder als etwas, was einen gewissen kognitiven Inhalt besitzt. Platon argumentierte, dass Gefühle ein Teil der Seele sind, abgesondert von den Gedanken und den Bewertungen. Er bewegte sich jedoch im Verlauf seiner Schriften von einer skeptischen Sichtweise ihres Beitrages zur Moral zu einem moralisch positiveren Urteil über sie. Aristoteles verband die Gefühle eng mit dem Urteil und der Überzeugung und meinte, dass sie im Wege der moralischen Erziehung zu wichtigen Bestandteilen eines tugendhaften Charakters kultiviert werden können. Die Stoiker identifizierten die Gefühle mit Urteilen, durch die den externen Gegenständen und Personen ein sehr hoher Wert zugeschrieben wird, und wandten ein, dass alle solche Urteile falsch seien und außer Acht gelassen werden sollten. Ihre kognitive Analyse der Gefühle ist unabhängig von dieser radikalen normativen These und wurde von vielen Philosophen übernommen, die die stoische Lehre im Übrigen ablehnen. Die modernen Theorien des Gefühls kann man als eine Reihe von Antworten und Gegenantworten auf die stoische Herausforderung betrachten. Descartes, Spinoza, Kant und Nietzsche akzeptierten allesamt viele der stoischen normativen Argumente zugunsten einer Herabstufung der Rolle, die die Gefühle in der Moral spielen. Sie unterschieden sich jedoch in ihren Darstellungen der Gefühle. Indem sie sich auf das Mitgefühl oder die Sympathie konzentrierten, verteidigten Hutcheson, Hume, Rousseau, Adam Smith und Schopenhauer alle die Rolle bestimmter Emotionen in der Moral und kehrten damit zu einer normativen Position zurück, die der aristotelischen näher steht, wenn auch nicht immer auf der Grundlage einer ähnlichen kognitiven Analyse. Zeitgenössische Auffassungen des Gefühls sind vor allem mit der Kritik reduktiver Darstellungen beschäftigt, die aus der behavioristischen Psychologie abgeleitet werden. Es ist aber inzwischen allgemein anerkannt, dass die Gefühle intelligente Teile der Persönlichkeit sind, die sowohl informieren, als auch erhellen und motivieren können. Die Auffassungen der Philosophen wurden durch Fortschritte in der kognitiven Psychologie, der Psychoanalyse und der Anthropologie bereichert, Die feministischen Darstellungen des Gefühls unterscheiden sich allerdings scharf von 1207
Moral und Ethik
den übrigen; einige insistieren darauf, dass wir die Gefühle als wichtige Teile des moralisches Charakters anerkennen sollten, andere meinen, dass die Gefühle, die durch ungerechte Bedingungen zustande kommen, unzuverlässige Führer im Alltag sind. Siehe auch: Emotivismus; Familie, Ethik und die; Normativität MARTHA C. NUSSBAUM
Moral und Ethik
Die Moral ist eine bestimmte Sphäre innerhalb des Bereichs des normativen Denkens über Handlungen und Gefühle (siehe Normativität); der ganze Bereich ist jedoch Gegenstand der Ethik. Wie sollte die moralische Sphäre charakterisiert werden? Die drei einflussreichsten Vorschläge hierzu lauten, dass ein Moralsystem a) durch seine Funktion beschrieben werden sollte, b) durch die Vorherrschaft der Moral in diesem System, oder c) durch die bestimmten moralischen Empfindungen. Es ist plausibel, dass die moralischen Codes eine soziale Funktion haben, wie z.B. jene der Erhaltung einer nützlichen Zusammenarbeit. Dies scheint aber keine apriorische Wahrheit zu sein. Im Gegensatz dazu könnte es jedoch a priori wahr sein, dass moralische Verpflichtungen den höchsten Rang einnehmen, d.h. dass die Akzeptanz einer Verpflichtung als moralische Pflicht bedeutet, dass sie eingelöst werden muss, unabhängig davon, was ansonsten dagegen vorgebracht wird. Aber selbst wenn dies a priori der Fall ist, so erhalten wir damit noch kein Kriterium zur Abgrenzung der Moral. Eine bessere Kennzeichnung versteht eine Verpflichtung als moralisch, wenn ausschließlich bestimmte Gefühle, nämlich diejenigen des Vorwurfs, gegenüber einem Akteur gerechtfertigt sind, der diese Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Dies liefert ein Kriterium zur Abgrenzung der Moral, allerdings nur, wenn die Empfindungen dahinter identifiziert werden können. Die Empfindung im Kern des Vorwurfs ist z.B. etwas, was für eine Mischung aus Zorn und Entrüstung gehalten wird. Es sieht allerdings so aus, dass man jene Empfindung, die beim Schuldgefühl oder beim Vorwurf beteiligt ist, auch ohne ein Gefühl der Entrüstung haben kann. Eine Auffassung, die sich aus Hegels Konzeption des Fehlverhaltens ableitet, könnte hier etwas präziser sein. Während die Entrüstung zu einer Handlung neigt, den jeweils alten Zustand aggressiv wieder herzustellen, zielt die Empfindung des Vorwurfs auf einen Entzug der Anerkennung, d.h. einen Ausstoß aus der Gemeinschaft. Die Bestrafung kann in diesem Falle mit Hegel so verstanden werden, dass die Handlung auf einen neuen Weg gebracht wird, bei dessen Einhaltung die Anerkennung wieder hergestellt wird. Die Kritik der Moralsysteme nimmt im Allgemeinen zwei Formen an, die sich allerdings oft überschneiden: jene, dass die moralische Bewertung auf inkohärenten Voraussetzungen beruhe, und jene andere, dass die Moralsysteme gestörte Systeme seien. Die führende Quelle der ersten Form von Kritik (und eine Quelle auch der zweiten) ist Nietzsche; die in der zeitgenössischen Philosophie daran anknüpfenden Ideen wurde von Bernhard Williams entwickelt. Eine von Williams Kritiken konzentriert sich auf etwas, das tatsächlich von der moralischen Bewertung vorausgesetzt zu werden scheint, jedenfalls im modernen moralischen Denken, dass nämlich die moralischen Verpflichtungen unabhängig von den eigenen Wünschen und Vorhaben existieren würden und doch gleichwohl bereits für sich einen Handlungsgrund abgeben. Andere Zweifel über die Kohärenz der Moral konzentrieren sich auf eine Kon1208
Moralische Akteure
zeption, die wiederum ausgesprochen modern zu sein scheint, nämlich durch ihre spezifische Verbindung mit einigen Formen des protestantischen Christentums und mit Kant. Nach dieser Konzeption sind alle Menschen gleichermaßen autonom, und ihr einzig wahrer Wert ist ihr moralischer Wert. Kritiken dieser Konzeption zeigen sich auf verschiedene Weise in Nietzsches Behandlung der modernen Wirklichkeit und in Hegels Behandlung dessen, was er ‚Moralität‘ nennt. Die Idee, dass jedes Moralsystem ein gestörtes System ist und dass Vorwurf und Schuld das Leben verleugnen oder uns Schmerzen auferlegen, ohne dies durch kompensatorische soziale ‚Gewinne‘ zu besichern, hat bemerkenswerten Einfluss in der zeitgenössischen Kultur, wie auch die Idee, dass sie durch die Interessen derjenigen korrumpiert werden, die dieses System formen. Solche Kritiken müssten von einer anderen Konzeption des ethischen Wertes ausgehen und annehmen, dass es eine Alternative zu solchen Moralsystemen gibt. Solange jemand an die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens glaubt, das überhaupt nicht durch irgendwelche disziplinarischen Gewalten zusammengehalten wird, muss diese Annahme lauten, dass es eine Disziplin gebe, die aus ethischer Perspektive besser sei als eine Disziplin, deren Messlatte die Schuld und der Vorwurf ist. Siehe auch: Moralische Akteure; Moralischer Realismus; Moralisches Urteil; Universalismus in der Ethik JOHN SKORUPSKI
Moral und Gesetz
Siehe: Recht und Moral
Moral und Religion
Siehe: Religion und Moral
Moralische Akteure
Moralische Akteure sind solche, von denen man erwartet, dass sie den Forderungen der Moral genügen. Nicht alle Akteure sind moralische Akteure. Junge Kinder und Tiere, die ebenfalls zum Handeln in der Lage sind, können Akteure sein, wie es Steine, Pflanzen und Autos nicht sind. Aber auch wenn sie Akteure sind, so werden sie damit doch noch nicht automatisch als moralische Akteure betrachtet. Denn ein moralischer Akteur muss auch in der Lage sein, zumindest einigen der Forderungen der Moral zu genügen. Dieses Erfordernis kann man auf verschiedene Weise interpretieren. In der schwächsten Auffassung genügt es, wenn der Akteur die Fähigkeit besitzt, einigen der äußeren Erfordernisse der Moral zu genügen. Wenn also bestimmte Akteure den moralischen Gesetzen wie z.B. ‚Morden ist falsch‘ oder ‚Stehlen ist falsch‘ gehorchen können, dann sind sie auch dann moralische Akteure, wenn sie ihnen nur aus überlegten Gründen wie z.B. Angst vor Bestrafung entsprechen, und sogar dann schon, wenn sie infolge moralischer Überlegungen gänzlich unfähig zum Handeln sind. Nach der starken Auffassung, nämlich der kantischen, ist es auch wesentlich, dass die Akteure die Fähigkeit haben, über ihre Gefühle und Leidenschaften hinaus zu wachsen und nur um des Gesetzes selbst Willen handeln. Es wird ferner eine mittlere Position vertreten, die behauptet, dass es genügt, wenn der Akteur die maßgeblichen Handlungen aus altruistischen Antrieben heraus durchführen kann. Weitere vorgeschlagene Bedingungen des moralischen Handelns sind, dass der Akteur folgende Eigenschaften aufweist: ein dauerhaftes Selbst mit einem freien Willen 1209
Moralische Empfindungen
und einem ‚Innenleben‘; ein Verständnis der maßgeblichen Tatsachen, sowie deren moralisches Verständnis; und moralische Empfindungen, wie z.B. die Fähigkeiten zu Gewissensbissen und der Sorge um andere. Philosophen sind sich oft uneins darüber, welche dieser und anderer Bedingungen wesentlich sind; der Ausdruck ‚moralischer Akteur‘ wird in unterschiedlichen Abstufungen der Strenge verwendet, die davon abhängt, was jemand als die Qualifikationsmerkmale ansieht. Die kantische Auffassung ist diesbezüglich die strengste. Da es unterschiedliche Auffassungen des moralischen Akteurs gibt, hängen Antworten auf Fragen wie ‚Sind menschliche Gemeinschaften moralische Akteure?‘ von dem Verständnis ab, das dahinter steht. Aus kantischer Perspektive sind Akteure wie z.B. Psychopathen, rationale Egoisten, Gemeinschaften und Roboter bestenfalls quasi-moralische Akteure, denn sie erfüllen nicht einige der wesentlichen Bedingungen des moralischen Akteurs. Siehe auch: Handlung; Kantische Ethik; Moralische Motivation; Moralische Rechtfertigung VINIT HAKSAR
Moralische Empfindungen
Moralische Empfindungen sind Gefühle, die im Zentrum des moralischen Handelns stehen. Aristoteles behandelte Empfindungen als nichtrationale Bedingungen, die durch Gewöhnung in Tugenden umgeformt werden können. Die Theoretiker des moralischen Empfindens der Aufklärung verstanden Gefühle als etwas, was die psychologische Grundlage für unser alltägliches moralisches Leben liefert. Der kantische Ansatz bestreitet den Vorrang der Empfindungen in der moralischen Persönlichkeit und behandelt die moralischen Empfindungen als etwas, was von der rationalen Erfassung unserer moralischen Prinzipien abhängt. Eine Kernfrage ist hier, ob die moralischen Empfindungen auch moralische Überzeugungen umfassen. Darstellungen, die eine Verbindung mit den moralischen Überzeugungen bestätigen, verweisen auf eine komplexe Intentionalität (d.h. Gegenstandsgerichtetheit) solcher Zustände als Verärgerung oder Entrüstung. Dagegen machen andere geltend, dass die moralischen Gefühle auch als unberechtigt empfunden werden können. Besonders interessant sind Schuld- und Schamgefühle. Diese scheinen unterschiedliche Orientierungen gegenüber moralischen Normen zu reflektieren, und daraus ergeben sich Fragen über das Maß, in dem diese unterschiedlichen Orientierungen kulturell lokaler Natur sind, und ob die eine Orientierung die jeweils andere überwiegt. Siehe auch: Bewusstsein; Moralisches Urteil; Moralisches Wissen; Moralische Beweggründe R. JAY WALLACE Siehe auch: Emotivismus; Erkenntnis, Begriff der; Moralisches Urteil; Präskriptivismus; Rechtfertigung, Erkenntnistheoretische GEOFFREY SAYRE-MCCORD
Moralische Rechtfertigung Einführung Rechtfertigungsfragen ergeben sich in der Moralphilosophie mindestens in dreierlei Formen. Die erste betrifft die Art und Weise, auf die bestimmte moralische 1210
Moralische Rechtfertigung
Behauptungen wie z.B. jene über das Richtige und das Falsche als richtig bewiesen werden können. Praktisch jede Moraltheorie bietet ihre eigene Darstellung der moralischen Rechtfertigung in diesem Sinne an, und die Darstellungen unterscheiden sich natürlich voneinander. Eine zweite Frage betrifft die Rechtfertigung der Moral als Ganzer: wie soll man auf die Frage antworten: ‚Warum soll man sich moralisch verhalten?‘. Die Philosophen sind sich hierüber uneins, und auch darüber, ob eine Antwort darauf überhaupt möglich ist. Schlussendlich haben manche Philosophen behauptet, dass die Rechtfertigung unserer Handlungen gegenüber anderen ein zentrales Ziel des moralischen Denkens ist. Sie meinen, dass dieses Ziel Antworten auf die anderen beiden Fragen zur Rechtfertigung liefert, indem es die Gründe erklärt, die wir für moralisches Verhalten und die spezifische Rechtfertigung innerhalb moralischer Argumente bereitstellen. 1. Drei Fragen der Rechtfertigung 2. Die Rechtfertigung innerhalb der Moral 3. Die Rechtfertigung der Moral als Ganzer 4. Die Rechtfertigung als ein Ziel der Moral 1. Drei Fragen der Rechtfertigung Rechtfertigungsfragen ergeben sich in der Moralphilosophie auf mindestens drei verschiedenen Wegen. Erstens wird es allgemein als eine zentrale Aufgabe der Moralphilosophie angesehen, die Struktur des moralischen Denkens ‚erster Ordnung‘ zu klären. Eine Theorie sollte beispielsweise erklären können, was Handlungen zu richtigen Handlungen macht (siehe Moral und Ethik). Wird der moralische Status einer Handlung als richtig oder falsch durch ihre wirklichen oder erwarteten Konsequenzen, durch ihre Übereinstimmung mit bestimmten Regeln oder Maßstäben, oder auf eine noch andere Weise (siehe Konsequenzialismus; Deontologische Ethik)? Jede Theorie, die diese Fragen beantwortet, liefert uns eine Darstellung der moralischen Rechtfertigung, d.h. eine Rechtfertigung innerhalb der Moral. Als zweite Aufgabe der Moralphilosophie gilt die Erklärung, warum wir uns überhaupt um die Moral kümmern und ihr einen Vorrang vor anderen Überlegungen einräumen sollen. Dies kann man als eine Frage nach der Rechtfertigung der Moral insgesamt ansehen. Drittens haben einige Philosophen eingewandt, dass es ein zentrales Ziel der Moral (oder zumindest eines Teils von ihr, wie z.B. den Gerechtigkeitsprinzipien) sei, eine Grundlage für die gegenseitige Rechtfertigung unserer Handlungen oder unserer Institutionen zu liefern, und dass dieses Ziel eine Grundlage für das Verständnis der Bedeutung der Moral insgesamt, sowie zur Bestimmung ihres Inhalts liefere. Diesen Autoren zufolge ist die Rechtfertigung ein Ziel der Moral. 2. Die Rechtfertigung innerhalb der Moral Jede Moraltheorie leistet ihre eigene Darstellung der moralischen Rechtfertigung. Es gibt allerdings eine allgemeinere methodische Frage, die die einzelnen Darstellungen dessen, was Handlungen richtig macht, transzendiert, nämlich die Frage, wie die Behauptung einer jeglichen solchen Darstellung, die richtige Darstellung moralischer Rechtfertigung zu sein, selbst gerechtfertigt werden kann. Eine Antwort auf die allgemeine methodische Frage wurde von Rawls als die Methode des ‚reflexiven Gleichgewichts‘ formuliert. Nach dieser Methode beginnt 1211
Moralische Rechtfertigung
man mit der Identifikation von ‚als moralisch betrachteten Urteilen‘, d.h. solchen Urteilen, in die jemand ein Höchstmaß anfänglichen Vertrauens hat. Dies können Urteile auf jeder Abstraktionsstufe sein: Urteile über die Richtigkeit oder Falschheit bestimmter Handlungen oder über die moralische Relevanz verschiedener Überlegungen. Daraufhin versucht man die Menge der Prinzipien herauszufinden (d.h. die Darstellung des jeweiligen moralischen Gebiets, um das es geht), die am besten auf diese Urteile passt. Eine solche Projektion wird nie ganz deckungsgleich sein, so dass man nun überlegt, ob und wie man die Prinzipien verändern muss, die zuvor formuliert wurden, damit sie besser zum getroffenen Urteil passen, und umgekehrt ob und wie die getroffenen Urteile im Lichte dieser Prinzipien verändert werden müssen, die man angenommen hat. Dieser Überarbeitungsprozess führt zu einer neuen Prinzipienmenge und folglich auch zu einer neuen Stufe der Ausrichtung von Prinzipien und Urteilen aneinander. Dieser Prozess wird fortgesetzt, bis ein ‚Gleichgewicht‘ zwischen Prinzipien und Urteilen erreicht ist. Die Prinzipien, die man auf dieser Stufe formuliert hat, müssen daraufhin in dem fraglichen Gebiet der Moral als gerechtfertigt aufgefasst werden. Diese Darstellung, wie moralische Prinzipien gerechtfertigt werden können, wurde kritisiert, hauptsächlich deshalb, weil sie den überlegten Urteilen zu viel Raum gibt, mit denen der Prozess in Gang kommt. Dies ist manchmal als der Vorwurf formuliert worden, dass es zirkulär sei, einen Beweis für eine bestimmte Form moralischer Rechtfertigung genau auf eine der Überzeugungen zu stützen, die es zu rechtfertigen gilt. Es wurde ferner eingewandt, dass zwei Menschen, wenn sie dieselbe Methode anwenden, gleichwohl zu vollkommen unterschiedlichen Prinzipien gelangen können, weil sie mit einem hohen Maß an Selbstvertrauen unter einer unterschiedlichen Menge bereits bestehender Urteile begannen. Hierauf kann man erwidern, dass der Vorwurf der Zirkularität fehlgeht, weil das Ziel des Prozesses nicht die Lieferung der benötigten Rechtfertigung für jede moralische Überzeugung ist, die wir haben, sondern vielmehr die Schaffung der bestmöglichen, allgemeinen Darstellung des jeweiligen Gegenstandes. Wie anders sollten wir sonst überhaupt zu einer gerechtfertigten Schlussfolgerung über einen Gegenstand kommen, außer indem wir uns zunächst auf jene Überzeugungen hinsichtlich des fraglichen Gegenstandes stützten, der uns am wahrscheinlichsten als wahr erscheint? Darüber hinaus wird bei der Suche nach einem reflexiven Gleichgewicht kein bestimmtes Urteil als unwiderruflich richtig vorausgesetzt. Alle Gründe, die wir für ein Misstrauen in bestimmte Überzeugungen haben, werden bei dem beschriebenen Prozess berücksichtigt, und zwar entweder als mögliche Gründe für eine Ablehnung des Status des betreffenden Urteils, mit dem begonnen wurde, oder aber als Gründe dafür, sie später fallen zu lassen, wenn sich ihre Unvereinbarkeit mit den besten Darstellungen unserer Überzeugungen ergibt. 3. Die Rechtfertigung der Moral als Ganzer Wenn wir uns nun der Frage der Rechtfertigung der Moral selbst zuwenden, lauert wieder die Zirkularität, sofern die Grundlage einer vorgeschlagenen Rechtfertigung selbst moralischer Art zu sein scheint. Man kann die Frage: ‚Warum kümmert uns überhaupt das Richtige und das Falsche?‘ nicht dadurch beantworten, indem man sagt, dass es moralisch mangelhaft wäre, dies nicht zu tun. Hier liegt allerdings ein Dilemma, denn eine Rechtfertigung für die Moral insgesamt, die sich letztlich 1212
Moralische Rechtfertigung
auf Werte bezieht, die offenkundig nicht moralischer Natur sind (wie z.B. der Wert des Eigeninteresses) scheinen nicht die richtige Erklärung für die Wichtigkeit der Moral zu geben. Es scheint nicht so zu sein, dass wirklich tugendhafte Menschen sich um das moralisch Richtige deshalb kümmern, weil dies ihrem Eigeninteresse dient. Prichard schloss aus diesem Dilemma, dass die Moralphilosophie, oder zumindest der Teil an ihr, der eine Rechtfertigung der Moral insgesamt zu leisten versucht, auf einem Irrtum beruht. Eine weniger pessimistische Schlussfolgerung wäre es zu sagen, dass sich eine angemessene Rechtfertigung oder Erklärung der Geltung moralischer Voraussetzungen letztlich auf Überlegungen berufen müsse, die zwar offenkundig relevant für die Moral sind, allerdings auch eine Bedeutung haben, die nicht vollständig von der Moral abhängt oder über diese hinausgeht. Die Attraktion des Utilitarismus und die Überzeugung einiger, dass die Moral eine Grundlage in der Religion haben müsse, kann man teilweise mit der Tatsache erklären, dass die Ideen des größten Glücks der größten Zahl von Menschen, sowie die Idee des Göttlichen den Mitgliedern dieser Gruppen als die einzig plausible Lösung des Problems erscheint. Das heißt, diese Gründe scheinen für Werte zu stehen, die sowohl für die Moral relevant sind, als auch imstande sidn, ihr die gehörige Geltung zu verschaffen, ohne jedoch von ihr abhängig zu sein (so wird es zumindest behauptet). Eine Frage wäre hier, ob es auch noch andere Begründungen gibt, die diesen Status beanspruchen können. Die Aufgabe eines Auffindens solcher Begründungen wird noch schwieriger infolge des Anspruchs der Moral auf unbedingte Geltung und auf Vorrang vor allen anderen Werten. Eine Rechtfertigung solcher Autorität scheint einen Anfangspunkt zu erfordern, der an sich selbst zwingend ist, und dass Begründungen, die sich auf etwas stützen, was am Ende nur ein Wert unter vielen ist, diese Probe nicht bestehen. Entsprechend haben viele Philosophen versucht, die Moral dadurch zu rechtfertigen, dass sie aus etwas folgt oder etwas voraussetzt, dem alle zustimmen müssten. So argumentierte beispielsweise Kant, dass wir an die Moral insofern gebunden seien, als wir uns selbst als rationale Akteure betrachten. Und Habermas bestand darauf, dass moralische Voraussetzungen bereits aus der Idee der Kommunikation mit anderen folgen. 4. Die Rechtfertigung als ein Ziel der Moral Moralische und politische Theorien, die man grob als ‚kontraktualistisch‘ einordnen kann, betonen die Rechtfertigung der Moral als ein Ziel der Moral selbst (siehe Vertragstheorie). Sie bringen beispielsweise vor, dass unser Denken über das Richtige und das Falsche von der Idee dessen geleitet ist, was man anderen gegenüber mit Gründen rechtfertigen könnte, die sie vernünftigerweise nicht zurückweisen können, oder dass Gerechtigkeitsprinzipien wegen ihrer Eignung als öffentlicher Maßstab zur Bewertung von Ansprüchen gegen die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft verteidigt werden könnten. Diese Ideen stehen im Zusammenhang mit Fragen der beiden Formen von Rechtfertigung, die bereits diskutiert wurden. Erstens kann man behaupten, dass das Ziel einer Rechtfertigung anderen gegenüber innermoralische Rechtfertigungen begründet. Rawls schloss beispielsweise, dass die Gerechtigkeitsprinzipien und die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft auf einer Grundlage zu rechtferti1213
Moralischen Empfindens, Theorie des
gen sein müssten, die unabhängig von den strittigen Weltanschauungen und Konzeptionen betreffend das gute Leben sind. Zweitens lässt sich einwenden, dass der Wert der Fähigkeit, seine Handlungen gegenüber anderen zu rechtfertigen, gerade in der passenden Kombination von Moral und Unabhängigkeit von ihr liegt, um als Erklärung für die Bedeutung der Moral für uns zu dienen. Diese Behauptungen sind jedoch strittig. Gegen sie wird eingewandt, dass es der Idee der Rechtfertigung gegenüber anderen Menschen an ausreichender Gewichtigkeit mangele, um die Geltung begründen zu können, die die Moral auf einer tieferen Ebene des Richtigen und Falschen als Maßstab ihrer Rechtfertigung in Anspruch nehmen müsse. Siehe auch: Fallibilismus; Moralische Motivation, §§ 4–7; Moralischer Skeptizismus; Moralisches Urteil Anmerkungen und weitere Lektüre: Brink, D. (1989): ‚Moral Realism and the Foundations of Ethics‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Kritische Diskussion von Fragen betreffend die moralische Rechtfertigung, wobei hier eine Methode verteidigt wird, die der des ‚reflexiven Gleichgewichts‘ von Rawls ähnelt, siehe insb. das 5. Kap.) T.M. SCANLON
Moralischen Empfindens, Theorie des
Im ‚Leviathan‘ (1651) machte Thomas Hobbes geltend, dass das Gute und das Böse natürlich von den privaten Begierden eines jeden Einzelnen abhinge und die Natur des Menschen vor allem egoistisch sei. Und weil dies so sei, müsse sich die Moral des Menschen auf Konventionen stützen. Seine Ansichten provozierten starke Reaktionen unter den britischen Moralphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Theorien des moralischen Empfindens betonen die zentrale Rolle der Affekte und Empfindungen bei der moralischen Wahrnehmung, der Bewertung des Verhaltens und von Charakteren, und auch der Abwägung und der Beweggründe für Handeln. Shaftesbury und Francis Hutcheson wandten ein, dass wir über eine einzigartige Fähigkeit der moralischen Wahrnehmung, nämlich den moralischen Sinn oder eben das moralische Empfinden verfügten. David Hume und Adam Smith meinten, dass wir unsere moralische Empfindsamkeit kultivieren, wenn wir unser Mitgefühl angemessen durch die erfahrungsgeleitete Vernunft und Reflexion regulieren. Siehe auch: Cambridge Platonismus; Moralische Beweggründe JACQUELINE TAYLOR
Moralischer Beweggrund Einführung Fragen zur Möglichkeit und dem Wesen des moralischen Beweggrundes (d.h. dem Willen zum moralisch korrekten Handeln) nehmen einen zentralen Platz in der Geschichte der Ethik ein. Die Philosophen sind sich allerdings über die Rolle uneins, die die Forschungen zur moralischen Motivation innerhalb des größeren Gebietes der ethischen Theorie spielen sollten. Diese Uneinigkeit äußert sich in dem Disput darüber, ob moralisches Denken notwendig motivierend ist, wobei die ‚Internalisten‘ meinen, dass dies der Fall sei, und die ‚Externalisten‘ dies bestreiten. Die Uneinigkeit zwischen den Externalisten und den Internalisten spiegelt einen grundlegenden Unterschied wieder, wie der Gegenstand der Ethik überhaupt aufzufassen ist. Der Externalismus vertritt die Auffassung, dass die Ethik sich zu1214
Moralischer Beweggrund
erst mit der Wahrheit von Theorien beschäftigen müsse, die aus einer Reihe von Aussagen aufgebaut seien, während die Internalisten die Moral als eine Menge von Prinzipien sehen, die die praktischen Überlegungen individueller Akteure leiten sollen. Die Internalisten interpretieren die Fragen der Objektivität in der Ethik als Fragen der praktischen Vernunft und der Geltung moralischer Prinzipien, die unsere Handlungen regulieren sollen. Hier hat sich die Kontroverse darauf konzentriert, ob die Geltung praktischer Prinzipien für einen gegebenen Akteur sich auf die vorangehenden Wünsche dieses Akteurs stützen müsse, oder ob die praktische Vernunft stattdessen neue Beweggründe entstehen lassen könne. Es gibt aber auch wichtige Fragen zum Inhalt der moralischen Motivation. Eine Moraltheorie sollte uns helfen, dem Umstand einen Sinn zu verleihen, dass Menschen sich oft zur Vornahme der ‚richtigen‘ Handlung bewegen lassen, indem sie als ernsthafte Quelle ihres Denkens einen fundamentalen Beweggrund für ihr moralisches Verhalten ausmachen, und zwar einen Beweggrund, der sowohl verbreitet, als auch einsichtig ist. Die Philosophen rechnen zur moralischen Motivation das Eigeninteresse, die Sympathie, sowie eine höherrangige Sorge darum, dass man im Einklang mit moralischen Prinzipien handelt. Aber jeder dieser Ansätze sieht sich ernsthaften Herausforderungen gegenüber. Können egoistische Konzeptionen den spezifischen Charakter der moralischen Motivation erfassen? Kann die unparteiische Sympathie in ein realistisches System menschlicher Ziele integriert werden? Können wir das Empfinden für moralische Prinzipien als natürlichen menschlichen Anreiz erklären? 1. Internalismus und Externalismus 2. Implikationen 3. Gründe und Wünsche 4. Erklärungen und Rechtfertigung 5. Egoismus und Eigeninteresse 6. Altruismus und Sympathie 7. Prinzipienabhängige Beweggründe 1. Internalismus und Externalismus Der Internalismus behauptet, dass moralische Überlegungen für diejenigen, die sie anstellen, notwendig motivierend sind. Die verbreitetste Fassung dieser Auffassung mündet in die Behauptung, dass die aufrichtige Befürwortung eines moralischen Urteils impliziert, dass die Person, die dieses Urteil akzeptiert, einen bestimmten Beweggrund hat, der allerdings nicht notwendig überwiegen muss, sich diesem Urteil entsprechend zu verhalten. Die Externalisten bestreiten dies und beharren stattdessen darauf, dass man aufrichtig ein moralisches Urteil akzeptieren könne, ohne daraufhin eine entsprechende Motivation zu entwickeln. Nach dieser Auffassung sind psychologische Fragen über die menschliche Motivation streng zu unterscheiden von Fragen der Wahrheit moralischer Urteile oder des Wesens und der Beschaffenheit moralischer Tatsachen (siehe Moralisches Urteil, § 1; Moralischer Realismus, § 1). Die Kategorien ‚Internalismus‘ und ‚Externalismus‘ wurden erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt. Es ist oft unklar, wie diese Kategorien genau zu verstehen sind, was zur Verwirrung über ihren präzisen Umfang einlädt. Welche
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Moralischer Beweggrund
moralischen Urteile sollen eine moralische Wirkung entfalten? Wie sollen wir den Begriff eines Motivs verstehen, das einerseits wirklich ist, andererseits aber nicht notwendig andere Kriterien überwiegen sollen? Es ist deshalb oft schwer, Moralphilosophen als Internalisten oder Externalisten einzuordnen. Gleichwohl gibt David Hume offenbar einem internalistischen Standpunkt seine Stimme, wenn er die für seine Theorie zentrale Idee entwickelt, derzufolge „die Moral die Leidenschaften erregt und Handlungen hervorruft oder verhindert“ (‚Traktat über die menschliche Natur‘, 1739/1740). Auf eine typisch internalistische Art interpretiert Hume diese Idee als eine, die der Darstellung der moralischen Unterscheidungen eine wichtige Beschränkung auferlegt, nämlich dass sie erklären muss, wie das Erfassen moralischer Unterscheidungen unmittelbarer Anlass zu Leidenschaften und Handlungen in der Weise sein kann, wie dies offenbar der Fall ist. Im Gegensatz dazu legt die hermetische Unterscheidung von John Stuart Mill in seinem Buch ‚Utilitarianism‘ (1861) zwischen dem Beweis des Nützlichkeitsprinzips und der Sanktionierung seiner Befolgung eine externalistische Position nahe. Nach dieser Auffassung wäre es möglich, ein moralisches Prinzip ohne die geringste Neigung zu akzeptieren, sich dementsprechend zu verhalten; die Frage der Wahrheit eines moralischen Prinzips sei daher als psychologische Frage vollständig davon zu unterscheiden, ob und wie das jeweilige Prinzip wirksam in die Motivation von Menschen übersetzt werden kann (siehe Hume, D., § 10; Mill, J.S., §§ 7–8). 2. Implikationen Die Frage der moralischen Motivation trifft den Nerv in Diskussionen über das Wesen und den Status moralischer Urteile und moralischer Werte. Die Nonkognitivisten, die meinen, dass moralische Urteile nur Gefühle oder Vorlieben ausdrücken und keine echten Wahrheiten, beginnen häufig damit, dass das moralische Urteil direkt motiviere, was eine Fassung des Internalismus ist (siehe Emotivismus; Moralisches Urteil, § 1). Der Auffassung, dass angeblich nur Nonkognitivisten diesen Umstand erklären können, liegt die Annahme zugrunde, dass die kognitiven Zustände, durch die wir Urteile erfassen, die einer echten Wahrheit zugänglich sind, für die Beweggründe unerheblich sind. In einer stärker metaphysischen Einfärbung argumentieren die Irrealisten oder Irrtumstheoretiker, die die Wirklichkeit der moralischen Werte in der Welt bestreiten, auf der Grundlage ähnlich internalistischer Annahmen. Wirkliche moralische Werte würden nach ihrer Auffassung die bestimmte Eigenschaft besitzen, den Willen direkt zu affizieren. Aber, so wenden sie ein, die Gegenstände, die eine solche Eigenschaft tragen sollen, seien rätselhaft und ausdrücklich ganz anders geartet als andere Arten von Dingen, mit denen wir in der Welt vertraut sind, und so sollten wir große Zurückhaltung zeigen, sie in unser Inventar der Wirklichkeit aufzunehmen (siehe Moralischer Realismus). Philosophen, die sich gegen diese Schlussfolgerungen wehren wollen, können entweder den Internalismus akzeptieren und zu beweisen versuchen, dass die kognitivistischen oder realistischen Sichtweisen durchaus die Wirkungen einer ethischen Reflexion auf die moralischen Beweggründe darzustellen vermögen, oder sie können den Internalismus ablehnen (siehe Moralischer Realismus). Diejenigen, die die zweite Option verfolgen, müssen deshalb nicht leugnen, dass Menschen oft motiviert sind das zu tun, was sie moralisch für richtig oder gut halten. Wie Mill 1216
Moralischer Beweggrund
müssen sie jedoch darauf bestehen, dass Motivationen dieser Art nicht notwendig ein Bestandteil der moralischen Reflexion sind; stattdessen ist dies die Aufgabe der moralischen Erziehung, sie ihnen zu verschaffen. Das Interesse dieser Diskussion liegt in ihrer Verbindung mit grundlegend divergierenden Denkweisen über die moralische Objektivität und den Gegenstand der Ethik. Der Externalismus tut sich leicht mit der Auffassung, dass die Moralphilosophie im Wesentlichen von den Moraltheorien handelt, die als Mengen von Aussagen konstruiert sind, die ihrerseits umreißen, was moralisch richtig oder gut ist. Nach dieser Konzeption drehen sich Fragen der Objektivität in der Ethik vor allem um die Wahrheit von Aussagen, die verschiedene Moraltheorien voneinander unterscheiden. Aber ob eine bestimmte Aussage wahr oder falsch ist, scheint unabhängig von der psychologischen Frage zu sein, ob und wie Menschen sich angetrieben fühlen mögen, im Einklang mit dieser Aussage zu handeln. Nimmt man diesen Ansatz ernst, so führt er uns zu der Schlussfolgerung, dass die wahre Moraltheorie offenbar nur Eingeweihten zugänglich ist, so dass die Theorie selbst gute Gründe für eine Entmutigung liefern sollte, sich ihr anzuschließen; diese Schlussfolgerung wird von Sidgwick und anderen Utilitaristen gezogen. Die internalistischen Ansätze konzipieren die Moralphilosophie dagegen als etwas, was von allgemeinen Prinzipien des öffentlichen Moraldiskurses und von praktischen Überlegungen handelt. Nach dieser Auffassung ist die Frage der Objektivität in der Ethik in erster Linie eine der praktischen Vernunft, d.h. eine Frage nach dem Recht moralischer Prinzipien, unsere Tätigkeiten zu regulieren. Moralische Reflexion ist demzufolge eine Form der praktischen Abwägung, die Urteile darüber hervorbringt, was getan werden sollte, und folglich nehmen Fragen über die Wahrheit moralischer Aussagen nur eine untergeordnete Rolle ein. Wenn wir den Gegenstand auf diese Weise begreifen, dann scheint die eine oder andere Form des Internalismus unvermeidlich zu sein, denn es ist jenes Unterscheidungsmerkmal der praktischen Überlegung, wodurch der Willen direkt affiziert wird. Ferner wird man kaum annehmen können, dass die Kriterien des Richtigen, die durch eine richtige Moraltheorie definiert werden, esoterisch im Sinne eines Wissens von Eingeweihten sein sollten, denn die Art der Objektivität, die in der ethischen Theorie angestrebt wird, ist genau eine solche der praktischen Vernunft und damit gerade nicht esoterisch (sieh Praktische Vernunft und Ethik). 3. Gründe und Wünsche Innerhalb des internalistischen Lagers zeigt sich jedoch verblüffende Uneinigkeit über den Umfang, in dem die Konsequenzen unserer praktischen Vernunft für unsere moralischen Beweggründe tatsächlich unsere philosophischen Wahlmöglichkeiten einschränken. Auf der einen Seite stehen hier die Humeaner, die meinen, dass das praktische Denken immer auf nonkognitivistischen, psychologischen Zuständen des individuellen Akteurs beruhen muss; dies nennt Bernard Williams deren ‚subjektive Umstände der Beweggründe‘. In Kombination mit dem Internalismus hat diese Auffassung zur Folge, dass moralische Prinzipien zu Geiseln vorangehender, empirischer Tatsachen betreffend die Umstände der Beweggründe der jeweiligen Akteure werden, die diese Prinzipien annehmen. Diese Schlussfolgerung übt wiederum einigen Druck in Richtung eines Relativismus aus, denn bei den Motiven, die mit den moralischen Prinzipien Hand in Hand gehen müssen, kann es faktisch 1217
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ausbleiben, dass sie überhaupt je in den subjektiven Umständen aller Akteure erscheinen (siehe Moralischer Relativismus). Auf der anderen Seite bestreiten die Kantianer, dass empirische Tatsachen über die subjektiv-bewegenden Umstände von Menschen dem Inhalt oder der normativen Kraft moralischer Prinzipien substanzielle Einschränkungen auferlegen. Sie weisen darauf hin, dass jede Theorie der praktischen Vernunft auch das Phänomen der irrationalen Beweggründe behandeln muss (siehe Akrasie). So kann ich beispielsweise darin versagen, die Maßnahmen zu ergreifen, die ich selbst für notwendig halte, wenn ich irgendein Ziel erreichen will, dass mir klar ist. Das Prinzip, dass ich diese Mittel zur Erreichung meiner Zwecke ergreifen sollte, impliziert nicht generell, dass ich notwendig, sondern nur in dem Umfange, wie ich rational handle, dazu motiviert sein werde. Hierauf hat Christine Korsgaard hingewiesen. Wenn sie damit Recht hat, dann kann von der Tatsache, dass es einem gegebenen Akteur an empirischen Motiven mangelt, sich im Einklang mit einem Prinzipienkandidaten zu verhalten, nicht geschlossen werden, dass es seinen Akteur nicht an sich bindet, denn es ist offenbar möglich, dass der Akteur sich irrational verhält. Die Entscheidung darüber, ob dies der Fall ist, wird es allerdings notwendig machen, den Inhalt der Prinzipien der praktischen Vernunft zu bestimmen, und zwar auf eine Weise, die nicht durch die vorangehenden tatsächlichen Beweggründe von Menschen umschrieben wird. Eine zentrale Frage in dieser Diskussion betrifft die Rolle der Wünsche bei der Erklärung der Motivation. Der Humesche Widerstand gegen die Idee der praktischen Prinzipien, die nicht auf den subjektiven Umständen der Menschen beruhen, leitet sich von der Idee ab, dass die Motivation im Wesentlichen eine nonkognitive Orientierungsform in der Welt ist. Die Kantianer, zu denen vor allem Thomas Nagel (1970) gehört, haben zugegeben, dass die Motivation immer einen Zustand des Wunsches mit sich führt, schlugen aber vor, dass das Nachdenken in Übereinstimmung mit den praktischen Prinzipien neue Wünsche hervorbringen kann, so dass die Geltung solcher Prinzipien für einen konkreten Akteur nicht auf die Gegenstände beschränkt sein muss, die bereits in der subjektiv-bewegenden Ausstattung dieses Akteurs vorhanden sind. 4. Erklärungen und Rechtfertigung Wie auch immer dieser Disput sich lösen wird, so kann man nicht leugnen, dass die Neigung zu einer Reaktion auf moralische Prinzipien im normalen Verlauf der menschlichen psychologischen Entwicklung zuverlässig geweckt und gestärkt wird. Darüber hinaus wiegen moralische Gründe oft schwer in den praktischen Überlegungen von Menschen und bringen sie zum Ergreifen bemerkenswerter Maßnahmen, nur um zu vermeiden, was ihnen ansonsten falsch erscheint. Es scheint den Moraltheorien eine sinnvolle Einschränkung aufzuerlegen, dass sie dabei helfen sollten, diese Tatsache zu erklären. Eine Theorie, nach der es ausdrücklich rätselhaft ist, dass die Menschen ganz von selbst moralische Überlegungen anstellen und sie ernsthaft zu einem Teil ihres Denkens machen, wäre in dieser Hinsicht unplausibel. Es wird hier also eine Darstellung des Inhalts unserer moralischen Anreize gesucht. Moraltheorien identifizieren typischerweise einige verbreitete Motivationsmuster wie z.B. die Sympathie oder das Eigeninteresse, und versuchen dann zu zeigen, wie die Motive solchen Typs die Menschen dazu bringen, sich im Einklang mit den Prinzipien des Richtigen zu verhalten, so wie die jeweilige Theorie dies 1218
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darstellt. In der Praxis sind menschliche Motive jedoch heterogen, komplex und fließend; warum sollten wir annehmen, dass es irgendwelche allgemeinen Beschreibungen für unsere Empfänglichkeit gegenüber moralischen Erwägungen gibt? Diese Annahme ist mit zwei strittigen normativen Annahmen verknüpft. Erstens besteht hier die Annahme, dass moralische Überlegungen auf eine solche Weise zusammenhängen, dass man daraus eine einheitliche Darstellung dessen ableiten kann, was Handlungen moralisch falsch macht (beispielsweise nach Maßgabe ihrer Wirkungen auf den allgemeinen Nutzen, oder dass sie nicht universell für alle Menschen anwendbar sind). Philosophen, die diese Annahme akzeptieren, erwarten ganz selbstverständlich, dass sie auch ein ergänzendes und allgemeines moralisches Motivationsmuster finden, während diejenigen, die dies bestreiten – vielleicht z.B. einige Tugendtheoretiker – der Annahme eher skeptisch gegenüber stehen werden. Zweitens wird üblicherweise angenommen, dass die moderne Moral im Rahmen der praktischen Vernunft nach irgendeiner Art von Objektivität strebt, wobei sie öffentliche Prinzipien beisteuert, die eine Geltung praktisch gegenüber allen Akteuren beansprucht. Hier konzentriert sich die Kontroverse weniger darauf, ob die Moral ihre Geltung auf diese Weise beansprucht, als vielmehr auf das Recht zu diesem Geltungsanspruch selbst. Wie sich diese Kontroverse entscheidet, hängt teilweise davon ab, ob wir Anreize für das moralische Verhalten ausmachen können, die sowohl bei den Menschen weit verbreitet sind, als auch als Vernunftquellen ernst zu nehmen sind. Denn die Verfügbarkeit solcher gemeinsamer Strukturen von Beweggründen scheint eine notwendige Bedingung für die objektive Autorität der Moral zu sein. Dies würde allerdings noch nicht ausreichen. Wenn beispielsweise Nietzsche und Freud Recht haben, dann gibt es gemeinsame Strukturen von Beweggründen an den Wurzeln der moralischen Ansprechbarkeit, die interne Mechanismen zur Stärkung der Befolgung moralischer Normen umfassen, und die durch eine Umleitung aggressiver Impulse auf das Selbst zugreifen (siehe Nietzsche, F., §§ 8–9; Freud, S.). Diese Darstellungen suggerieren eine wohlfeile Erklärung der Dringlichkeit, mit der sich moralische Forderungen in den Erwägungen vieler Akteure Geltung verschaffen. Tatsächlich haben sie aber noch den weiteren Vorteil, die typischen Pathologien des moralischen Lebens erklären zu können, wie z.B. moralistische Formen der extremen Selbstverleugnung. Aber die Erklärungen, die durch diese Darstellungen geliefert werden, scheinen die Autorität der Moral eher zu untergraben als sie zu rechtfertigen, indem sie nahe legen, dass die üblichen Muster der moralischen Motivation im Kern dem Subjekt schaden, das ihnen folgt. Dies zeigt, dass die Geltung der Moral nicht nur von der Verfügbarkeit eines gemeinsamen Anreizes für das moralische Verhalten abhängt, sondern auch vom Inhalt des als gemeinsam ausgemachten Anreizes. Eine Darstellung der moralischen Motivation, die den normativen Ansprüchen der Moral angemessen ist, müsste also einen Beweggrund für das moralische Verhalten ausmachen, der so kultiviert werden kann, dass er zumindest nicht zwingend schlimme psychische Schäden bei einem Individuum anrichtet, das sich diesen Beweggrund zu eigen macht. Über diese Mindestanforderung hinaus sollte sich ein wirksamer moralischer Beweggrund in das allgemeine System der Zwecke und Ziele eines Akteurs integrieren lassen, um dadurch die Entwicklung einer stabilen und sich selbst stärkenden Persönlichkeit zu unterstützen. 1219
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5. Egoismus und Eigeninteresse Nur sehr wenige Philosophen akzeptieren einen Egoismus, der auf der psychologischen These aufbaut, dass unsere Motive einheitlich dem Eigeninteresse dienen. Diese etwas armselige These steht in krassem Widerspruch zu den vielen Gelegenheiten, bei denen Menschen ohne erkennbare Sorge um ihr eigenes Interesse handeln, wie weit gespannt auch immer man sich dieses denkt. Selbst wenn unsere Motive auf unser Eigeninteresse gerichtet sind, so scheint doch die Bestimmung unserer Interessen im Kern einige nichtegoistische Interessen vorauszusetzen; hierauf hat bereits Joseph Butler hingewiesen (siehe Butler, J.; Egoismus und Altruismus, § 3). Dennoch ist das Eigeninteresse ein nicht zu leugnendes, weit gestreutes und mächtiges Motivationsmuster, und dies macht es auch zu einem nahe liegenden Kandidaten, um moralische Bemühungen zu rekonstruieren. Man nehme nun an, dass gezeigt werden könnte, wie die Befolgung moralischer Prinzipien langfristig dem Interesse eines jeden Individuums dient. Damit sollten wir über eine perfekte Erklärung für die Leichtigkeit verfügen, mit der moralische Anreize im Verlauf der psychologischen Entwicklung entstehen, und auch der Dringlichkeit, mit der sich moralische Überlegungen in die praktischen Überlegungen hineindrängen: diese Phänomene würden dann die natürliche Sorge des Menschen um sein eigenes Wohlergehen widerspiegeln, sowie den ebenfalls natürlichen Einsatz der praktischen Vernunft im Dienste dieser Sorge. Diese Erklärung würde wiederum die Autorität der Moral eher unterstützen denn untergraben. Diejenigen, die die Moral zu einem Regulativ ihrer Tätigkeiten machen, würden hierdurch eine Integration und Stabilisierung ihrer Persönlichkeit in beispielhaftem Umfange erreichen, denn die Moral, die für unsere übrigen Interessen alles andere als abträglich ist, würde sich im Gegenteil als Bedingung ihrer wirksamen Verfolgung erweisen. Diese im weiten Sinne Hobbessche Strategie zum Verständnis der Moral geht auf die Idee zurück, dass jeder von uns enorm von der Verfügbarkeit gewisser öffentlicher Lebensgüter profitiert, wie z.B. dem Frieden, der Sicherheit, der Vertrauenswürdigkeit, die allesamt nur durch eine allgemeine Befolgung moralischer Normen gesichert werden können (siehe Hobbes, T., § 5). Die Strategiediskussionen hierzu sind inzwischen sehr fortgeschritten und profitieren von den Fortschritten in der Theorie der rationalen Wahl (siehe Theorie der rationalen Wahl). Aber die wachsende Raffinesse in der Formulierung solcher Strategien kann nicht ihre Unangemessenheit zur Darstellung der moralischen Motivation kompensieren. Eine Strategie mag zeigen, dass so etwas wie moralische Normen uns allen gegenüber Geltung beanspruchen. Aber in dem Umfange, wie unser Anreiz zur Befolgung dieser Normen das Eigeninteresse ist, scheinen diese Normen ihren moralischen Charakter im eigentlichen Sinne zu verlieren, denn es bildet einen Teil unseres Verständnisses moralischer Grundlagen, dass man sie auch dann befolgt, wenn dies für uns unzweckmäßig ist. Das Problem wird deutlich durch die Figur des zu erwartenden Trittbrettfahrers, der sich fragen wird, warum er die sozialen Normen einhalten sollte, wenn doch ausreichend viele andere Menschen dies bereits tun, um die öffentlichen Früchte einer solchen Kooperation zu sichern. Aber wie auch immer man diese Frage beantwortet, folgt doch aus der einfachen Tatsache dieser zwingenden Frage, dass der zu erwartende Trittbrettfahrer absolut kein normaler moralischer Akteur ist.
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6. Altruismus und Sympathie Ein echt moralischer Akteur, im Gegensatz zum Egoisten, ist altruistisch, und zwar in dem Sinne, dass er sich unmittelbar um die Interessen anderer kümmert. Darüber hinaus scheint die Fähigkeit zur mitfühlenden Identifikation für Menschen selbstverständlich zu sein; selten sind eher die Menschen, die sich gar nicht durch die Erscheinung menschlichen Leidens bewegt zeigen, und diese Tendenz zum Mitgefühl kann durch eine moralische Erziehung gefördert werden. Aus diesen Gründen folgten viele Denker Hume und Schopenhauer, die die Sympathie bzw. das Mitgefühl als die paradigmatischen moralischen Motivationen auffassten (siehe Hume, D., § 10; Moralische Empfindungen; Schopenhauer, A.;). Wenn jedoch das Mitgefühl diese Rolle spielt, dann muss es korrigiert und verfeinert werden. Wirkliches Mitgefühl ist notorisch parteiisch und sprunghaft, richtet sich beispielsweise auf jene Individuen, zu denen man eine persönliche Beziehung unterhält, während die Moral doch eher das unparteiische Verhalten verlangt. Ob die Moral verlangt, dass ich einer bestimmten Person helfe, sollte kaum davon abhängen, ob ich sie kenne, sondern vielmehr z.B. von der vergleichsweisen Dringlichkeit des Bedürfnisses des anderen. Der übliche Umgang mit diesem Problem ist es, den Mechanismus der mitfühlenden Identifikation der Disziplin unparteiischer Reflexion zu unterwerfen. Man hat dann die Perspektive eines informierten Betrachters einzunehmen, der von dem Wissen um die eigene Position in der Welt absieht und das Wohlergehen einer jeden Person als gleich wichtig erachtet. Die moralisch richtige Handlung ist diejenige, die das Mitgefühl, verfeinert durch diesen Reflexionsprozess, sodann als richtig anerkennt. Obwohl auch dies noch vielen unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt sein mag, wird dieser allgemeine Ansatz an die moralische Motivation doch traditionell mit dem Utilitarismus identifiziert (siehe Unparteilichkeit; Utilitarismus). Der utilitaristische Ansatz führt zu einer unpersönlichen Konzeption der ethischen Unparteilichkeit, nach der die moralischen Voraussetzungen eher eine akteursneutrale als eine akteursrelative Form annehmen. Man bedenke beispielsweise das vertraute moralische Tötungsverbot. Es wird üblicherweise als ein akteursrelatives Erfordernis verstanden, insofern es mir die Tötung anderer Personen selbst dann verbietet, wenn ich dadurch eine Reihe weiterer Morde verhindern könnte. Aber ein Verbot dieser Art würde in den Augen einer unparteiischen, utilitaristischen Reflexion keinen Bestand haben. Sobald wir von unserem Wissen über unsere Stelle in der Welt abstrahieren, ist es nicht länger möglich, eine solche Sorge um den Charakter unserer eigenen Handlungen zu unterhalten. Wenn das Mitgefühl dem Filter der unpersönlichen Reflexion unterworfen wird, so kann es nur noch jene Voraussetzungen gutheißen, die ihrer Form nach akteursneutral sind, und die folglich geeignet sind, genauso von beliebigen anderen Akteuren akzeptiert und befolgt zu werden (wie beispielsweise eine gerichtliche Verfügung, weitere Morde zu verhindern anstelle des konventionellen und akteursrelativen Verbots, selbst jemanden zu töten). Auf diese Weise definiert die unpersönliche Interpretation der Unparteilichkeit einen Standpunkt, der von jedem moralischen Akteur eingenommen werden kann. Fragen entstehen jedoch hinsichtlich der Geltung und der Wirksamkeit des Beweggrundes eines solchen Anspruchs, der von diesem Standpunkt aus erhoben wird. Hinsichtlich des letzteren der beiden Punkte ist von einem Vorteil des utilitaristischen Ansatzes auszugehen, insofern er die moralische Motivation als eine 1221
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vertraute Reaktion des Mitgefühls darstellt. Aber es besteht ein enormer Unterschied zwischen dem unmittelbaren Impuls des Mitgefühls, das ganz von selbst im Menschen entsteht, und der unpersönlichen Sorge um die Maximierung eines Lebensgutes. Die utilitaristische Behauptung, dass das Mitgefühl sich in eine Empfänglichkeit für akteursneutrale Verhaltensgründe als Ergebnis einer moralischen Reflexion verwandelt, wirft den Zweifel auf, ob das auf diese Weise umgewandelte Mitgefühl immer noch ein natürliches und damit selbstverständliches Motivationsmuster ist. Was die Autorität dieses Anspruchs betrifft, ist die Frage, ob sich das unpersönliche Mitgefühl in das System der personalen Ziele eines Menschen integrieren lässt. Dieses Mitgefühl gibt uns ein ständiges Ziel erster Ordnung, nämlich die Maximierung des Guten, dass sich über und gegen unsere übrigen hochrangigen Ziele setzt und deshalb wahrscheinlich grundlegend mit diesen in Konflikt geraten wird, wenn man die Anforderungen bedenkt, die eine Maximierung des Guten an einen einzelnen Menschen stellen. Das Ergebnis hiervon ist, dass wir die Verfolgung unserer übrigen Lebensinteressen um der Moral Willen entweder radikal beschneiden müssen, oder uns damit bescheiden müssen auf eine Weise zu leben, die moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Die Utilitaristen antworten hierauf, dass die Moral eine schwere Aufgabe ist, und dass wir nicht erwarten sollten, ihren Forderungen innerhalb des Rahmens des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens genügen zu können. Diese Schwierigkeit einer Integration des unpersönlichen Mitgefühls in das normale System unserer Lebensinteressen wird jedoch ziemlich wahrscheinlich Zweifel an der Autorität einer Moral aufkommen lassen, die auf dieser Annahme beruht: mit welchem Recht fordert sie ein derartig großes Opfer von uns? 7. Prinzipienabhängige Beweggründe Die kantischen Ansätze führen das moralische Bemühen normalerweise auf einen Beweggrund höherer Ordnung zurück, wie z.B. auf die Sorge darum, nur so zu handeln, wie dies durch moralische Prinzipien zugelassen ist (siehe Kantische Ethik). Motive dieses Typs werden einem Akteur manchmal Ziele erster Ordnung verschaffen, vor allem dann, wenn moralische Prinzipien einen gewissen Handlungsverlauf erfordern (z.B. ein Versprechen zu halten). Wenn aber moralische Prinzipien keine Ansprüche dieser Art stellen, so steht es den Akteuren offen, ihre Ziele erster Ordnung zu verfolgen, während sie gleichzeitig und vollständig ihre moralischen Interessen höherer Ordnung befriedigen. Die Moral reguliert unsere Beschäftigungen erster Ordnung. Weil der moralische Beweggrund an sich aber nicht automatisch auch ein dauerhaftes Ziel erster Ordnung ist, gerät es auch nicht unvermeidlich in Konflikt mit jenen Beschäftigungen, und so besteht die Möglichkeit einer Integration moralischer Anliegen in ein realistisches System menschlicher Lebensinteressen weiterhin fort. Ob diese Möglichkeit realisiert wird, hängt vom Inhalt der moralischen Prinzipien ab. Wenn diese Prinzipien uns anweisen würden, immer das Gute zu maximieren, dann würden sie uns in der Tat einen Zweck erster Ordnung verschaffen. In diesem Falle könnte das Anliegen höherer Ordnung, auf eine Weise zu handeln, die durch moralische Prinzipien gedeckt ist, so schwierig mit unseren Lebensinteressen in Einklang zu bringen sein, wie es dies auch für das unpersönliche Mitgefühl gilt. Die Kantianer lehnen solche Maximierungs-Interpretationen der Moral allerdings ab und fassen moralische Voraussetzungen stattdessen so auf, dass sie sich aus der 1222
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Reflexion der Universalisierbarkeit unserer Ziele ableiten, wobei sie behaupten, dass dieses Universalisierungsverfahren zu speziellen, akteursrelativen Verpflichtungen führt, die als Grenzbedingungen unserer Tätigkeiten fungieren. Die Idee, nach der die Moral einen Beweggrund höherer Ordnung liefert, lädt zu dem Vorwurf ein, dass dies zu einer Haltung der Selbstnachsichtigkeit führt, weil sich darin eine verwöhnte Sorge um die eigene Tugend zeige, statt eine direkte Empfänglichkeit für die Bedürfnisse anderer Menschen. Darüber hinaus scheint die Einbeziehung moralischer Prinzipien in der kantischen moralischen Motivation den moralischen Wert spontaner und von Herzen kommender Handlungen zu bestreiten und droht damit, einen entfremdenden ‚Reflexionszaun‘ zwischen moralischen Akteuren und ihren Projekten zu errichten. Eine fundamentalere Frage sei es daher, ob der Beweggrund der Pflicht als ein natürlicher menschlicher Anreiz verständlich gemacht werden kann. Warum sollte die Sorge, auf eine universalisierbare Weise zu handeln, sich so einfach in der moralischen Entwicklung herauskristallisieren und sich uns als eine ernsthafte Quelle von Gründen darstellen? Hierauf antwortet Kant, dass der Beweggrund der Pflicht konstitutiv rational ist, und dass ein demgemäßes Handeln uns in die Lage versetzt, das höchste Gut der Autonomie zu verwirklichen (siehe Kant, I., § 9). Etwas anspruchsloser beobachtet T.M. Scanlon, dass die Menschen üblicherweise imstande sein wollen, ihr Verhalten anderen gegenüber aus Gründen zu rechtfertigen, die vernünftigerweise nicht zurückgewiesen werden können, indem sie vorbringen, dass uns die moralischen Prinzipien sagen, was wir zu tun haben, um diesen vertrauten Wunsch zu erfüllen. Jeder dieser Strategien mag Unterstützung durch jene Bereitwilligkeit verdienen, mit der die Menschen auf ‚Goldene-Regel‘-Argumente reagieren, in denen wir sie auffordern zu bedenken, wie es wäre, wenn sie ihren Standpunkt mit jenen tauschen, die durch ihre Handlungen betroffen sind. Dieses Phänomen legt nahe, dass die Bemühung um ein universalisierbares Handeln ein mächtiges Muster sui generis menschlicher Motivation sein kann. Siehe auch: Moralische Rechtfertigung, § 3 Anmerkungen und weitere Lektüre: Nagel, T. (1970): ‚The Possibility of Altruism‘. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1978. (Eine herausfordernde und suggestive Darstellung, nach der die praktische Vernunft neue Motivationen erzeugen kann, und nach der der Altruismus auf der Reflexion eines unpersönlichen Standpunktes basiert.) Scanlon, T.M. (1998): ‚What We Owe to Each Other‘. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Eine Verteidigung der kontraktualistischen Darstellung der Moral, die wichtige Diskussionen der Beziehung zwischen Vernunft und Wünschen, sowie des Einflusses normativer Gründe auf den Willen umfasst; ihr Schwerpunkt liegt auf der Kraft der moralischen Motivation.) Scheffler, S. (1992): ‚Human Morality‘. New York: Oxford University Press. (Eine subtile und weitreichende Diskussion des naturalistischen Ansatzes an die moralische Motivation und ihre Implikationen für den Inhalt und die Geltung moralischer Forderungen; enthält umfangreiche bibliographische Referenzen.) R. JAY WALLACE
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Moralischer Realismus
Moralischer Realismus Einführung Der moralische Realismus ist die Auffassung, dass es Tatsachen gibt, durch die Handlungen richtig oder falsch sind, bzw. gut oder schlecht. Aber hinter dieser nackten Erklärung liegt ein sehr komplexes Reich. Wenn jemand ein voll entwickelter moralischer Realist ist, dann wird er wahrscheinlich die folgenden drei Behauptungen gutheißen. Erstens: Moralische Tatsachen sind etwas Spezielles und unterscheiden sich von anderen Arten von Tatsachen. Die Realisten unterscheiden jedoch, ob die Form dieser Besonderheit damit vereinbar ist, gewisse natürliche Tatsachen als moralische Tatsachen aufzufassen. Man betrachte beispielsweise die natürliche Tatsache, dass wir durch eine bestimmte Handlung jemanden die Hilfe verschaffen, die er benötigt. Kann dies eine moralische Tatsache sein, d.h. kann dieselbe Tatsache, die wir als natürliche ansahen, auch jene sein, die besagt, dass wir diese Handlung vornehmen sollten? Oder müssen wir uns eine solche natürliche Tatsache als den natürlichen ‚Grund‘ für die davon vollkommen unterschiedene moralische Tatsache denken, dass wir sie vornehmen sollten, d.h. als die Tatsache in der Welt, durch die es wahr ist, dass wir auf diese Weise handeln sollten? Zweitens: Moralische Realisten meinen, dass moralische Tatsachen unabhängig von Überzeugungen oder Gedanken sind, die wir über sie haben. Was richtig ist, bestimmt sich nicht danach, was ich oder irgendjemand für richtig hält. Es bestimmt sich nicht einmal danach, was wir alle für richtig halten, selbst wenn wir darüber Einigkeit herstellen könnten. Wir können keine richtigen Handlungen vornehmen, indem wir uns einfach darüber einigen, dass sie richtig sind, genauso wenig wie wir Bomben dadurch zu entschärfen vermögen, dass wir uns darüber einig sind, sie seien harmlos. Drittens: Es ist möglich, dass wir uns über das, was richtig oder falsch ist, irren. Egal, wie sorgfältig und aufrichtig wir darüber nachdenken, was wir tun sollten; es gibt keine Garantie dafür, dass wir immer die richtige Antwort finden. Was Menschen folglich bewusst entscheiden zu tun, kann immer genau das sein, was sie gerade nicht tun sollten. 1. Realismus, Objektivismus, Kognitivismus 2. Argumente für den Realismus, und eine Skizze seiner Geschichte 3. Amerikanischer moralischer Realismus 4. Britischer moralischer Realismus 5. Realismus und Minimalismus 6. Argumente gegen den Realismus 1. Realismus, Objektivismus, Kognitivismus Die Bedeutungen dieser drei Ausdrücke sind schwer auseinander zu halten, doch es lohnt die Mühe. Der Kognitivismus ist die Behauptung, dass moralische Haltungen kognitive Zustände sind und folglich keine nichtkognitiven. Der Unterschied zwischen kognitiven und nichtkognitiven Zuständen ist allerdings nicht klar; am besten verdeutlicht man ihn, indem man auf den Unterschied zwischen zwei ‚Richtungen des Passens‘ verweist. Überzeugungen, die als Paradigmen kognitiver 1224
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Zustände gelten, haben eine ‚Passrichtung‘; Wünsche, die als Paradigmen der nichtkognitiven Zustände gelten, haben eine andere ‚Passrichtung‘. Eine Überzeugung muss zur Welt auf irgendeine Weise passen; die Welt ist einfach irgendwie gegeben, und es ist die ‚Aufgabe‘ der Überzeugung, auf diese Welt zu passen, damit die Überzeugung ‚stimmt‘. Ein Wunsch verhält sich nicht so; die ‚Aufgabe‘ des Wunsches ist es – sofern man ihm überhaupt so etwas zuschreiben kann – eine Welt herzustellen, die zum Wunsch passt, d.h. die Dinge so zu richten, wie der Wunsch es verlangt. Ein Wunsch ist nicht schon deshalb ein Irrtum, weil die Welt nicht so beschaffen ist, wie der Wunsch sie voraussetzt. Die Frage, ob moralische Haltungen kognitive oder nichtkognitive Zustände sind, ist also die Frage danach, ob diese Haltungen die ‚Passrichtung‘ der Überzeugung, oder jene des Wunsches haben. Sie könnten natürlich auch zusammengesetzte Zustände mit einer Mischung aus beidem sein; der Nonkognitivismus ist allerdings die Auffassung, dass moralische Haltungen entweder teilweise oder zur Gänze die Passrichtung eines Wunsches haben. Dies wird normalerweise kürzer als die Auffassung ausgedrückt, dass moralische Haltungen entweder Wünsche sind oder zumindest Wünsche enthalten. Eine Handlung als richtig zu denken wäre dann eine Art von befürwortender Haltung, und befürwortende Haltungen sind Wünsche (siehe Moralisches Urteil, § 1; Überzeugung; Wunsch). Die Realisten, die glauben, dass es bestimmte moralische Tatsachen gibt, sind häufig Kognitivisten, denn die geeignete Einstellung zu einer Tatsache ist die Überzeugung, und nicht der Wunsch. Aus diesem Grunde wird der Widerspruch gegen den Realismus normalerweise ‚Nichtkognitivismus‘ genannt. Die Realisten, die meinen, dass es moralische Tatsachen gibt, sind aus diesem Grunde auch der Auffassung, dass die moralischen Einstellungen Überzeugungen sind; die Nonkognitivisten, die meinen, dass die moralischen Einstellungen entweder Wünsche sind oder zumindest solche enthalten, behaupten aus diesem Grunde, dass es keine Tatsachen gibt, die Gegenstände solcher Einstellungen sein könnten. Der Objektivismus ist vom Realismus schon schwerer zu unterscheiden, denn die beiden sind eng miteinander verknüpft. Die Objektivität hat etwas mit Unabhängigkeit von uns zu tun. Der Realismus, wie er oben geschildert wurde, kombiniert drei Thesen: eine Bestimmtheitsthese, eine metaphysische These und eine erkenntnistheoretische These. Die metaphysische These ist die Behauptung, dass moralische Tatsachen objektiver Natur sind. Wenn moralische Tatsachen in gewisser Weise unabhängig sind, von was genau sind sie dann unabhängig? Zu sagen, sie seien ‚unabhängig von uns‘, hilft uns bestenfalls wenig und ist schlechtestenfalls direkt falsch. Moralische Tatsachen betreffen Akteure und Handlungen, sind also menschliche Angelegenheiten. Folglich sind sie nicht vollständig unabhängig von uns; wenn wir anders wären, wären auch andere Handlungen falsch. Die oben gebrauchte Wendung „unabhängig von jeglichen Überzeugungen und Gedanken, die wir von ihnen haben mögen“ versucht präziser zu sein, schließt damit jedoch zuviel aus. Ist die Einschränkung, die durch die Wendung „von ihnen“ zum Ausdruck kommt, gerechtfertigt? Wenn nicht, welche anderen Beschränkungen wären angebrachter? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten (siehe Objektivität). Der Realismus ist in Anbetracht dieser Überlegungen ein ganzer Komplex von Behauptungen. Die Bestimmtheitsbehauptung schält einen bestimmten ethischen Aspekt heraus. Die Unabhängigkeitsbehauptung erzählt uns etwas über die Art von Tatsachen, mit denen sich die Ethik beschäftigt. Die erkenntnistheoretische Behaup1225
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tung sagt uns, dass wir einen nicht ganz sicheren Zugriff auf diese Tatsachen haben. Die moralischen Realisten sind jedoch allgemein gewillt zu sagen, dass wir zu moralischem Wissen in der Lage sind, selbst wenn wir es nicht oft erlangen. Sie alle wären sich darin einig, dass wir zu gerechtfertigten moralischen Überzeugungen in der Lage sind (wenn sie Kognitivisten sind!). Der Leser sollte sich darüber bewusst sein, dass die Einstufung des moralischen Realismus ein Gegenstand heißer Debatten ist. Insbesondere gibt es neben der Darstellung von ihm, die hier angeboten wird, noch eine Form von Realismus, die, indem sie von der Behauptung ausgeht, das es ethische Tatsachen gibt und deshalb auch moralische Wahrheiten, meint, dass es folglich auch Wahrheitskriterien geben muss, also Dinge oder Bedingungen, die die Wahrheit wahr machen. Im Falle der Moral muss das, was die moralischen Wahrheiten wahr macht, der Besitz von moralischen Eigenschaften auf Seiten von entsprechend handelnden Akteuren und ihren Handlungen sein. Der Realismus, so verstanden, ist die Bindung an moralische Eigenschaften und Beziehungen, die nicht weniger ‚wirklich‘ sind wie andere Eigenschaften auch. Es ist jedoch möglich, diese beiden Richtungen des realistischen Denkens ohne Anstrengung miteinander zu verbinden. 2. Argumente für den Realismus, und eine Skizze seiner Geschichte Entsprechend diesen drei Elementen des Realismus gibt es drei Dinge, die üblicherweise von den Realisten zugunsten ihrer Position aufgerufen werden. Auf verschiedenen Wegen legen sie alle nahe, dass wir es ernst nehmen sollten, wie uns die Dinge anfänglich erscheinen. Die Realisten versuchen zu behaupten, dass die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen, trotz der nonkognitivistischen Argumente, dass dies möglicherweise gar nicht sein kann. Dies wird manchmal auch die ‚Berufung auf die Phänomenologie‘ genannt. Erstens behaupten die Realisten, dass das moralische Denken seinen eigenen Gegenstand hat, der ein anderer ist als jener der Naturwissenschaft und jeder Erforschung der Natur. Zweitens wenden sie ein, dass das moralische Urteil sich als Versuch zeigt, eine Tatsache zu bestimmen, die unabhängig von jeglicher Überzeugung ist, der wir darüber vielleicht anhängen; die Tatsache ist eine Sache, und was wir darüber denken, ist eine andere. Drittens meinen die Realisten, dass moralische Urteile sich dem Urteilenden gegenüber als riskant und fehlbar darstellen. Insbesondere wenn man vor einer schwierigen Wahl steht, hat man ein Gefühl wie auf dünnem Eis. Wir wissen dann, dass wir auch mit dem besten Willen der Welt mit unserer Auffassung falsch liegen können. Nur die zweite von diesen drei Behauptungen kann also mit Recht als ‚phänomenologisch‘ bezeichnet werden. Die meisten Moraltheoretiker sind Realisten gewesen, von Platon und Aristoteles angefangen, über Price und Hutcheson bis Sidgwick und Mill, und dann im 20. Jahrhundert zu Moore und der intuitionistischen Tradition (siehe Intuitionismus in der Ethik). Es ist deshalb der Widerspruch gegen den Realismus, der dokumentiert werden muss. Hier ist David Hume der ‚heilige Schutzpatron‘, dessen Werk, obwohl in vieler Hinsicht verändert, in der nonkognitivistischen Tradition von Stevenson, Ayer und Hare blühte (siehe Emotivismus). Die führenden zeitgenössischen Nonkognitivisten sind Blackburn und Gibbard. Fortschritte in der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes und der Wissenschaftsphilosophie in den 1960er und 1970er Jahren überzeugten viele davon, 1226
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dass die nonkognitivistischen Argumente gegen den Realismus, die die intellektuelle Szene seit den 1930er Jahren dominiert hatten, weniger mächtig waren, als sie zunächst schienen. Zwei vollkommen unterschiedliche Formen des moralischen Realismus tauchten auf, nämlich der amerikanische und der britische Realismus. (Dies bedeutet nur, dass die meisten Befürworter der ersten Form Amerikaner, und die meisten Befürworter der zweiten Briten waren.) In den nächsten beiden Abschnitten werden die Unterschiede zwischen den beiden Positionen auf den Gebieten der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und der Motivationstheorie (Theorie der Beweggründe) dargestellt. 3. Amerikanischer moralischer Realismus Metaphysik. Die amerikanischen moralischen Realisten sind Naturalisten: sie gehen davon aus, dass moralische Tatsachen entweder natürliche Tatsachen oder Zusammensetzungen aus natürlichen Tatschen sind (siehe Naturalismus in der Ethik). Wie bereits in der anfänglichen Zusammenfassung angedeutet, ist es möglich, dass die Tatsache, dass ich dies oder jenes tue, was jemandem hilft und niemandem schadet, gleich der Tatsache ist, dass man diese Handlung vornehmen sollte. Vielleicht ist die moralische Tatsache jedoch komplexer als diese natürliche Tatsache (und damit auch komplexer als jede andere natürliche Tatsache), ohne dass dies bedeutet, dass sie nicht gleichwohl dieselbe Kombination natürlicher Tatsachen ist. Wenn dies so ist, so müssen die natürlichen Tatsachen auf die richtige Art und Weise kombiniert werden, und zwar auf die Art und Weise, wie es durch meine Handlung gerade der Fall war, wenn sie zusammen die moralische Tatsache ergeben sollen, dass ich diese Handlung ausführen sollte. Dann wird die moralische Tatsache mit dieser Kombination natürlicher Tatsachen identisch sein. Diese Form des Naturalismus in der Ethik wird oft, wenn auch nicht immer von einer Form von Konsequenzialismus begleitet. Eine bestimmte Art naturaler Tatsachen ist auch eine moralische Tatsache, weil es eine Beziehung zwischen den Tatsachen und bestimmten Konsequenzen von ihr gibt (siehe Konsequenzialismus). Der Naturalismus in der Ethik ist inzwischen wieder eine lebendige Alternative, weil das ‚Offene-Frage‘-Argument3 von G.E. Moore zunehmend als fehlerhaft empfunden wird (siehe Moore, G.E.). Erkenntnislehre. Die amerikanischen moralischen Realisten, die die moralischen Tatsachen als natürliche Tatsachen betrachten, gehen davon aus, dass diese Tatsachen genauso wie natürliche Tatsachen erkannt werden können, einschließlich der naturwissenschaftlichen. Um solche Tatsachen zu identifizieren, bedürfe es der Kombination der besten wissenschaftlichen Theorie mit der besten Moraltheorie. Das ‚Argument der offenen Frage‘ von Moore lautet folgendermaßen: Die besprochene Frage hat prinzipiell die Form ‚Ist X ein Y?‘. Bei einer solchen Frage ist ferner das Wort ‚ist‘ kein Prädikat, sondern ein Identitätsoperator (wobei die Identität von X und Y hier gerade fraglich ist). Nach Moore ist eine solche Frage offen, wenn man auf sie sinnvollerweise mit ‚nein‘ antworten kann. Kann man dies nicht, so ist die Frage geschlossen. Hierzu ein Beispiel. Auf die Frage: ‚Sind alle Junggesellen unverheiratete Männer?‘ ist nur eine bejahende Antwort möglich, weil definitionsgemäß der Junggeselle ein unverheirateter Mann ist; folglich ist diese Frage eine geschlossene. Eine Beispielfrage aus der Morallehre könnte nun lauten: ‚Ist die Nächstenliebe eine notwendig gute Handlung?‘ Moore meint, dass man auf solche Fragen immer mit ‚nein‘ antworten kann, denn es gebe es keine situationsunabhängige, absolute Verhaltensvorschrift. [WS]
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Theorie der Motivation. Wie ist es möglich, die Behauptung, dass moralische Tatsachen natürliche Tatsachen sind, mit dem verbreiteten Empfinden zu versöhnen, dass moralische Tatsachen eine spezifische Geltung beanspruchen, d.h. dass sie Forderungen an uns stellen, denen wir entsprechen sollten, unabhängig von unserer persönlichen Wahlentscheidung und Vorliebe? Diese ‚spezifische Geltung‘ ist im Detail schwer zu verstehen. Vielleicht ist der beste Ansatz die kantische Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen (siehe Kant, I., § 1; Kantische Ethik). Die moralischen Imperative wie z.B. ‚Hilf denen, die weniger glücklich sind als du‘ sind kategorisch in dem Sinne, dass man ihrer Relevanz nicht dadurch entkommt, dass man sagt: ‚Ich kümmere mich um diese Dinge einfach nicht‘. Im Unterschied dazu ist ein hypothetischer Imperativ wie ‚Verwende zum Omelette-Machen nur frische Eier‘ wirkungslos bei denjenigen, die sich einfach nichts daraus machen, wie ihr Omelette schmeckt. Wie auch immer wir dies verstehen, die Idee der Geltung moralischer Tatsachen verträgt sich nicht leicht mit dem ethischen Naturalismus. Natürliche Tatsachen, wie auch immer sie zusammengestellt werden, scheinen nicht in der Lage zu sein, eine solche Geltung auf den Willen auszuüben (siehe Moralische Beweggründe, §§ 1–2). Die amerikanischen Realisten gehen hierauf in der Regel ein, indem sie die Behauptung bezweifeln, dass überhaupt irgendeine Tatsache diese Geltung beanspruchen könne. Unsere Auffassung von der Welt, sei es in ihrem moralischen oder in ihrem natürlichen Gewande, hängt davon ab, dass wir an sie ein moralisches Anliegen herantragen, das entweder eine Frucht der Evolution oder der Erziehung sein muss. Mangelt es uns an diesem Anliegen, werden uns moralische Unterscheidungen kaum bewegen, selbst wenn wir noch so vollständig in der Lage sein sollten zu beurteilen, welche Handlungen richtig und welche falsch sind. Doch es ist eine Sache das Richtige zu kennen, und eine andere seinen Willen danach auszurichten. Moralische Urteile sind kognitiver Natur, sie beruhen auf der Entdeckung von Tatsachen. Tatsachen sind hinsichtlich ihrer Beweggründe aber ‚träge‘ oder indifferent; ob sich jemand durch sie motiviert fühlt, hängt weniger von diesen Tatsachen ab, als davon, was jemanden bewegt. Deshalb sind die moralischen Imperative ungeachtet aller Erscheinungen hypothetisch. In einem solchen Denken wenden sich die amerikanischen Realisten etwas zu, was manchmal die ‚Humesche Theorie der Beweggründe‘ genannt wird. Weder die Überzeugung, noch der Wunsch allein führt zur Handlung; nur eine Kombination der beiden kann dies leisten: zum Auslösen einer Handlung bedarf es zweier mentaler Zustände, nämlich jeweils einem in jede ‚Passrichtung‘ (s. oben). Moralische Tatsachen sind die Gegenstände der Überzeugung. Keine solche Überzeugung kann jedoch allein und für sich zur Handlung bewegen. Damit es zur Handlung kommt, muss der Akteur irgendeinen Wunsch oder eine Vorliebe neben seiner Überzeugung haben. Moralische Tatsachen können nicht allein zur Handlung bewegen; ihre Fähigkeit zur Erzeugung eines Unterschieds in unserer Reaktionsweise hängt von dem unabhängigen Beitrag eines Wunsches hierzu ab. Wenn dies so ist, können die moralischen Tatsachen aber keine spezifische Autorität uns gegenüber geltend machen. Denn ob sie einen Unterschied in unserer Handlungsweise zu erzeugen vermögen, hängt von etwas ab, über das sie selbst keine Kontrolle haben (siehe Praktische Vernunft und Ethik, § 2).
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Moralischer Realismus
4. Britischer moralischer Realismus Die britische Variante des moralischen Realismus bestreitet alles, was die amerikanische Variante behauptet. Metaphysik. Der britische moralische Realismus ist nicht-naturalistisch: moralische Tatsachen sind nach ihm keine natürlichen Tatsachen, noch sind sie natürliche Kombinationen natürlicher Tatsachen. Sie können nicht-natürliche Kombinationen natürlicher Tatsachen sein, aber dies ist eine andere Frage. Natürliche Tatsachen sind für moralische Tatsachen selbstverständlich von Belang, denn sie sind die Gründe dafür, warum Handlungen richtig oder falsch sind. Hieraus folgt, dass jegliche zwei Situationen, die natürlich ununterscheidbar sind, auch moralisch ununterscheidbar sind (siehe Supervenienz). Aber diese Form von Supervenienz ist weit entfernt von jeglicher Identität zwischen dem Reich des Natürlichen und der Moral. Im Vergleich zu der zuvor gegebenen Beschreibung des moralischen Realismus schreiben die Briten folglich den moralischen Tatsachen eine viel größere Bestimmtheit zu, indem sie diese metaphysisch für etwas anderes als die natürlichen Tatsachen halten. Die Amerikaner haben es schwerer zu zeigen, was das Besondere des Moralischen ist, auch wenn dies nicht unmöglich ist. Sie können z.B. sagen, dass die moralischen Tatsachen durch ihren Gegenstand unterschieden sind, oder auch durch die Art der Kombination natürlicher Tatsachen, die sie verkörpern. Erkenntnistheorie. Wenn moralische Tatsachen keine natürlichen Tatsachen sind, so werden die normalen Methoden zum Herausfinden, wie sich die Dinge verhalten, für die Entdeckung des Moralischen nicht ausreichen. Man muss zugeben, dass die britischen Realisten dazu neigten zu behaupten, sie sähen es, wann eine Handlung richtig sei. Im weiteren Diskussionsverlauf zeigte sich jedoch, dass sie damit weder meinten, dass die Richtigkeit einer Handlung ‚sichtbar‘ sei, noch dass es irgendeine moralische Sinnesqualität gäbe, die über die fünf bekannten Sinne hinausginge. Die eher metaphorische Rede von der Sichtbarkeit, dass eine Handlung richtig sei, war eher als Echo auf Aristoteles’ Bemerkung gemeint, dass das Richtige und das Falsche keine Frage der Regeln sei, sondern vielmehr der Fallgestalt vor uns ist, und dass wir uns zur Unterscheidung dessen, was richtig sei, auf die Einzelheiten der jeweils gegebenen Situation zu konzentrieren hätten (siehe Tugendethik, § 6). Sie bestreiten daher, dass das moralische Urteil eine Frage der Subsumtion ist, d.h. der strukturellen Identifikation eines gegebenen Falles mit irgendeiner moralischen Regel. Ein moralisches Urteil besteht in der Anwendung von Begriffen auf Sachverhalte, aber diese Begriffe sind keine Regeln. Tatsächlich ist die Skepsis typisch für die britischen Realisten, mit der sie bereits der Möglichkeit moralischer Regeln oder Prinzipien begegnen. Für sie ist das moralische Urteil eine Sache der Anerkennung von Gründen für die Handlung, wie sie sich ihnen im jeweils vorliegenden Falle zeigt, und die abstrakte Erwiderung auf diese Handlungen (siehe Universalismus in der Ethik). Diese Art von Anerkennung ist nicht wahrnehmungsbedingt, sie ist aber kognitiv und praktisch zugleich, denn was jemand in solchen Fällen anerkennt, ist genau die Begründung für eine Handlung, d.h. die Anerkennung des normativen Status eines Weltausschnitts. Theorie der Beweggründe. Die amerikanischen Realisten sind ‚Externalisten‘ hinsichtlich des moralischen Urteils. Sie meinen, dass die Fähigkeit eines moralischen Urteils zur Motivation, d.h. zur Bewirkung jenes Unterschieds darin, wie jemand handelt, von der Gegenwart eines vollkommen anderen mentalen Zustandes 1229
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abhängt, nämlich von einer Art von Wunsch. Die britischen moralischen Realisten sind im Allgemeinen ‚Internalisten‘. Sie meinen, dass ein moralisches Urteil ganz eigene Beweggründe enthält und seine Fähigkeit zur Bewirkung von Handlungen nicht von einem gleichzeitig bestehenden Wunsch bezieht (siehe Moralischer Beweggrund, § 1). Um dies zu erreichen, müssen sie allerdings das Humesche Standbild des moralischen Beweggrundes ablehnen, obwohl sie sich untereinander nicht einig sind, wie so etwas zu realisieren sei. Wiggins und McDowell meinen, dass Handlungen einer Kombination von Überzeugung und Wunsch bedürfen, dass es aber im Falle eines moralischen Urteils die Überzeugung sei, die das Urteil leite, und der Wunsch ihr lediglich folge. Dancy schlägt vor, dass es die Überzeugung alleine sei, die uns motiviert, da die reine Anerkennung der maßgeblichen Gründe für das Auslösen einer Handlung genügen sollte. Er sieht den Wunsch als einen Zustand des Motiviert-Seins (nämlich durch die Gründe), und nicht als das, was uns motiviert. Welchen Weg man auch einschlägt, der Vorschlag, dass es echt normative und nichtnatürliche Tatsachen gibt, ist mit der Behauptung verbunden, dass die Anerkennung dieser Tatsachen selbst Beweggründe schafft, und zwar auf eine Weise, die nicht von der Anwesenheit eines unabhängigen Wunsches abhängt. Dies wirft Probleme auf. Zunächst jenes, dass die Humesche Philosophie selbst große Anerkennung genießt. Die Briten schwimmen also sozusagen gegen den Strom, wenn sie diese ablehnen. Die zweite Schwierigkeit ist, dass es sehr schwer ist, die Idee eines Weltzustandes oder einer Tatsache zu verstehen, die in einer spezifischen Beziehung zum Willen stehen soll. Normalerweise denken wir, dass Tatsachen, was ihre Beweggründe angeht, indifferent oder ‚träge‘ sind. Sie anzuerkennen ist eine Sache, den Willen nach ihnen zu richten jedoch eine andere. Die Briten meinen, dass die Erwiderung auf die Tatsache, die wir ‚Anerkennung‘ nennen, selbst von Beweggründen getragen ist. Die bevorzugte Art und Weise, dies zu tun, ist jene durch Berufung auf die sog. ‚dispositionale Konzeption des Wertes‘. Diese Konzeption wird ihrerseits durch die Analogie mit einer angeblich ähnlich dispositionalen Konzeption der Farbe befruchtet: ein roter Gegenstand ist einer, der ‚disponiert‘ (geneigt) ist, in uns die bekannten Farberfahrungen hervorzurufen (siehe Farbe, Theorie der). Ähnlich sollen wir uns nun einen wertvollen Gegenstand als etwas vorstellen, was geneigt ist, in uns eine gewisse Antwort hervorzurufen, d.h. eine Neigung des Willens bewirkt. Als solches wäre einer solcher Gegenstand allerdings nicht vollkommen unabhängig von uns, denn er existiert ja zumindest teilweise in einer gewissen Beziehung zu uns; und dies bedeutet, dass er nicht vollkommen objektiv in dem Sinne ist, dass er nicht vollkommen unabhängig von uns ist. Er ist aber immer noch in einem schwachen Sinne objektiv, denn der Wert kann durchaus als etwas gedacht werden, das für uns dazu da ist, anerkannt zu werden und damit in jedem Falle gegeben ist, d.h. unabhängig davon, ob wir ihn anerkennen oder nicht. Diese Berufung auf die Dispositionen eines Gegenstandes bringt zwei Schwierigkeiten mit sich. Die erste ist die, dass die Zulässigkeit einer Analogie mit den Farben sehr umstritten ist. Die zweite ist, dass die Objektivität von Gegenständen, damit ihre Werte in der Welt erhalten können, ihre Objektivität vermindert werden muss. Für manche ist diese schwächere Konzeption der Objektivität deshalb kaum mehr von der Subjektivität zu unterscheiden.
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Moralischer Realismus
5. Realismus und Minimalismus In diesem Beitrag wurde der Realismus als eine Kombination von drei unterschiedlichen Thesen angesehen. Es gibt aber noch eine alternative Darstellung des Realismus. Diese betrachtet ihn nicht mehr als eine Wahrheitsbehauptung. Der Realist meint nach dieser Darstellung, dass moralische Erklärungen wahrheitsfähig sind, und dass auch tatsächlich einige von ihnen wahr sind. Wenn wir dies sagen, so können wir immer noch zwischen Realismus und Objektivismus in der Ethik unterscheiden. Der Realismus ist die Behauptung, dass moralische Urteile manchmal wahr sind; der Objektivismus ist die Behauptung, dass die Art von Wahrheit, die moralische Urteile an sich haben können, eine Form objektiver Wahrheit ist. Wir können die Widersprüche gegen diese Form des Realismus in zwei Arten einteilen. Der erste akzeptiert, dass moralische Aussagen wahrheitsfähig sind, meint aber, dass alle solchen Aussagen falsch sind (siehe Moralischer Skeptizismus). Der zweite besagt, dass die Wahrheit nicht die geeignete Form ist, um etwas über die Folge einer moralischen Aussage sagen zu können, und dass wir sie besser für aufrichtig oder unaufrichtig halten sollten, vielleicht auch als mehr oder weniger gut mit anderen Urteilen vereinbar, oder als solche, der wir unter Umständen zustimmten würden. Man sollte allerdings nicht versuchen, diese beiden Arten von Widersprüchen zu kombinieren. Crispin Wright meint, dass sich die Frage, sofern es sich um die Entscheidung zwischen Realismus und Nonkognitivismus handelt, sehr schnell zugunsten des Realismus entscheiden werde. Nach seiner Auffassung genüge bereits die Tatsache, dass der moralische Diskurs behauptender Natur ist, und dass die moralischen Äußerungen von Normen geleitet werden, die mit Recht und Sicherheit ausgesagt werden können, um schließen zu können, dass wir keinen Fehler machen, wenn wir etwas richtig und anderes falsch nennen. Die Frage sollte also nicht lauten, ob moralische Urteile wahrheitsfähig sind, denn jeder gibt in Wirklichkeit zu, dass sie dies sind. Stattdessen sollte sich die Debatte über den Realismus auf andere Fragen konzentrieren. Nach Wright gehören zu diesen Fragen: (1) Ist es a priori der Fall, dass Unterschiede in der moralischen Meinung nur als Unterschiede einer unterschiedlichen Wahrnehmung, ungeeigneter Bedingungen oder als Fehlfunktion (wie z.B. Vorurteile oder Rechthaberei) erklärbar sind? (2) Dienen die angenommenen Tatsachen überhaupt zur Erklärung von irgendetwas? Angenommen, sie erklärten einige unserer moralischen Überzeugungen. Erklären sie damit auch etwas anderes auf eine Weise, die nicht durch unsere Überzeugungen vermittelt ist? Das heißt: erklären moralische Tatsachen irgendetwas an dem Weltverlauf? Wright meint, dass wir nur dann einen vollblütigen moralischen Realismus erhalten werden, wenn unsere Antwort auf diese Fragen ‚ja‘ lautet. Es wird deshalb Abstufungen des Realismus geben, und in gewisser Weise lautet die Frage deshalb nicht, ob wir Realisten sein sollten, sondern welche Art von Realismus wir annehmen sollten, und wie weit unser Realismus gehen sollte. 6. Argumente gegen den Realismus Da sich der Realismus in verschiedenen Formen zeigt, werden Argumente gegen ihn wahrscheinlich eher bestimmte dieser Formen treffen, als den Realismus insgesamt. Die Hauptschwierigkeiten für die amerikanischen und die britischen re1231
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alistischen Schulen wurden bereits erwähnt. In beiden Fällen waren sie metaphysischer Natur. Die Amerikaner haben Schwierigkeiten mit der Behauptung, dass moralische Tatsachen sowohl natürlich, als auch moralisch seien. Die Briten haben Schwierigkeiten mit der Erklärung, wie die Welt anders als ‚träge‘ sein kann hinsichtlich der in ihr gegebenen Beweggründe. Zwei allgemeine Herausforderungen des Realismus, die beide am häufigsten erwähnt werden, sind jene, die von John Mackie und Gilbert Harman formuliert wurden. Harman fragt, was durch moralische Tatsachen erklärt wird – wenn damit überhaupt etwas erklärt wird –, das sich nicht ebenfalls durch moralische Überzeugungen erklären ließe. Wenn die moralische Überzeugung allein für solche Erklärungen genügte, warum sollen wir dann annehmen, dass über diese Überzeugungen hinaus auch noch moralische Tatsachen existieren? Die Tatsachen erweisen sich nach seiner Auffassung als für die Erklärung redundant. Wir könnten zwar annehmen, dass die Tatsachen zumindest die Überzeugungen erklären, aber Harman erwidert hierauf, dass die Überzeugungen genauso gut auf andere Weise erklärt werden können, beispielsweise durch eine Berufung auf das Aufwachsen und die Erziehung. Damit würde den Tatsachen gar nichts mehr zu erklären übrig bleiben; sie wären reine metaphysische Schürzenjäger, die in der Luft hängen und mit nichts anderem in Verbindung stehen. Wir kämen besser voran ohne solche Dinge. Diese Auffassung unterscheidet sich von jener von Wright, die oben geschildert wurde, weil Wright noch zulässt, dass moralische Tatsachen moralische Überzeugungen erklären können; er fragt lediglich, ob sie darüber hinaus noch irgendetwas ‚direkt‘ erklären könnten. Mackie (1977) meint, dass Werte, wenn sie überhaupt existieren, sehr sonderbare Dinge wären, die nichts sonst im Universum ähneln; sie wären so seltsam, dass wir, wenn sie tatsächlich existierten, einer speziellen Fähigkeit der moralischen Wahrnehmung oder Intuition bedürften, um sie wahrzunehmen. Ihre Sonderbarkeit liegt in der Idee begründet, dass ein objektiver Wert notwendig durch jeden aufgesucht werden müsste, der ihn erkennt, denn solche Werte hätten dann ein ‚Aufgesucht-Werden-Müssen‘ an sich, weil dies ihre Existenz als Wert selbst ausmache. Und selbst wenn solche Dinge möglich wären, was niemand zugibt, der von David Hume beeinflusst ist, dann wären diese Dinge von einer anderen Ordnung als alles andere, mit dem wir vertraut sind. Mackie fragt auch nach der angeblichen Beziehung zwischen moralischen Tatsachen und natürlichen Tatsachen. Wir sagen gewöhnlich z.B., dass eine Handlung falsch gewesen sei, weil sie grausam war. Aber „was bedeutet dieses weil aber in der Welt?“ (1977: 41; Kursivierung im Original). Nicht nur, dass hier eine Falschheit und eine Grausamkeit behauptet wird, sondern auch eine vollkommen rätselhafte ‚konsequenzialistische Verknüpfung‘ zwischen den beiden Ausdrücken. Diese Argumente von Mackie werden von verschiedenen Arten des Realismus auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet. Die Amerikaner bestreiten die Möglichkeit jenes ‚Aufgesucht-Werden-Müssens‘; die Briten geben sie zu, versuchen es aber durch eine Berufung auf die dispositionale Werttheorie zu erklären. Was die rätselhafte Verbindung zwischen den beiden Begriffen angeht, versuchen beide Seiten auf unterschiedliche Weise zu zeigen, dass die Falschheit auf irgendeine Weise von der Grausamkeit ‚erzeugt‘ wird.
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Moralischer Relativismus
Siehe auch: Moralische Rechtfertigung; Moralischer Relativismus; MoraWissen; Realismus und Antirealismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Mackie, J.L. (1977): ‚Ethics: Inventing Right and Wrong‘. Harmondsworth: Penguin, 1. Kap. (Dies ist ein einführender und sehr einflussreicher Text, der damit beginnt, dass er den Realismus zu widerlegen versucht.) JONATHAN DANCY
lisches
Moralischer Relativismus Einführung Der moralische Relativismus, oft Gegenstand erhitzter Debatten, ist ein ganzes Bündel von Lehren, die die Unterschiedlichkeit des moralischen Urteils über die Zeiten, die Gesellschaften und die Einzelmenschen hinweg betreffen. Der deskriptive Realismus ist die Lehre, dass es eine ausgedehnte moralische Systemvielfalt gibt, und dass diese Vielfalt Werte und Prinzipien betrifft, die für die verschiedenen Moralsysteme von zentraler Bedeutung sind. Der metaethische Relativismus ist die Lehre, dass es keine allein wahre oder vorrangig gerechtfertigte Moral gibt. Der normative Relativismus ist die Lehre, dass es moralisch falsch ist, moralische Urteile auf andere abzuwälzen oder sich in die moralische Praxis anderer einzumischen, die sich anderen Moralsystemen als wir verschrieben haben. Ein guter Teil der Debatten um den moralischen Relativismus dreht sich um Fragen, ob der deskriptive Relativismus präzise die moralische Vielfalt beschreibt, und ob die wirkliche Vielfalt den metaethischen und den normativen Relativismus unterstützt. Einige Kritiker fürchten auch, dass der Relativismus in den Nihilismus abgleiten kann. 1. Deskriptiver Relativismus 2. Metaethischer Relativismus 3. Normativer Relativismus 4. Relativismus und moralisches Vertrauen 1. Deskriptiver Relativismus Vom Anbeginn der abendländischen Tradition an diskutierten die Philosophen über das Wesen und die Konsequenzen moralischer Vielfalt. Unterschiede in den Bräuchen und Werten der Griechen, die sich durch den Handel, durch Reisen und im Krieg zeigten, brachten jenes Argument hervor, das in Platons ‚Theaitet‘ dem Sophisten Protagoras zugeschrieben wird: die menschlichen Bräuche bestimmen, was gut und was hässlich sei, was gerecht und was ungerecht (siehe Protagoras). Die Anthropologen des 20. Jahrhunderts betonten die grundlegenden Unterschiede zwischen den Moralsystemen kleiner, traditioneller Gesellschaften und dem modernen Westen. Beispielsweise haben sich viele traditionelle Gesellschaften auf gemeinschaftsorientierte Werte konzentriert, die die Förderung und den Erhalt eines gemeinsamen Lebens gegenseitiger Beziehungen voraussetzen, im Gegensatz sowohl zu den deontologischen Moralsystemen individueller Rechte und der Moral des Utilitarismus, die inzwischen in der modernen, westlichen Moralphilosophie am anerkanntesten sind. Innerhalb dieser Philosophie wird die moralische Vielfalt wiederum durch Debatten zwischen Utilitaristen und Deontologen repräsentiert, und in jüngerer Zeit auch durch Kritiken an beiden Lagern seitens der Verteidiger der Tu1233
Moralischer Relativismus
gendethik und des Kommunitarismus (siehe Deontologische Ethik; Gemeinschaft und Kommunitarismus; Tugendethik; Utilitarismus). Solche Unterschiede haben die Lehre des deskriptiven Realismus hervorgebracht. Diese besagt, dass es eine ausgedehnte Vielfalt moralischer Urteilssysteme über die Zeit, die Gesellschaften und die Einzelpersonen hinweg gibt, und dass deren Unterschiede die zentralen moralischen Werte und Prinzipien des jeweiligen Systems betreffen. Kritiker des deskriptiven Relativismus wenden ein, dass er nicht die wichtigen moralischen Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen darzustellen vermag, wie z.B. das Verbot der Tötung Unschuldiger und Vorkehrungen zur Ausbildung und Sozialisierung der Jugend. Eine relativistische Antwort von Michael Walzer hält dagegen, dass gemeinsame Normen auf eine extrem allgemeine Art und Weise beschrieben werden müssen, und dass man, wenn man einmal die konkreten Formen prüft, die sie jeweils in unterschiedlichen Gesellschaften annehmen, eine signifikante Vielfalt bemerkt, beispielsweise welche Personen überhaupt als ‚unschuldig‘ gelten. Der deskriptive Realist kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass überhaupt keine bedeutsamen Ähnlichkeiten bestehen, während eine alternative Position besagt, dass es starke Ähnlichkeiten gibt, die andererseits mit bedeutenden Unterschieden zwischen den Moralsystemen von Menschen vereinbar sind. Kritiker des deskriptiven Relativismus wenden auch ein, dass viele moralische Überzeugungen einen religiösen und/oder metaphysischen Glauben voraussetzen, und dass dieser Glaube, statt zu irgendeinem Unterschied in den grundlegenden Werten, vielmehr Anlass zu moralischer Vielfalt gibt (siehe Religion und Moral). Ferner müssen Unterschiede in der moralischen Überzeugung über verschiedene Gesellschaften hinweg nicht aus Unterschieden der zugrunde liegenden Werte resultieren, sondern können sich auch aus dem Bedürfnis zur Einführung derselben Werte auf unterschiedlichen Wegen ergeben, die wiederum aus den variierenden Lebensbedingungen in diesen Gesellschaften folgen. Eine relativistische Antwort hierauf lautet, dass solche Erklärungen zwar auf einige moralische Uneinigkeiten anwendbar sein können, auf viele andere jedoch nicht, wie z.B. Uneinigkeiten über die Richtigkeit des Essens von Tieren, oder den moralischen Status des Fötus, oder die Richtigkeit der Opferung unschuldiger Personen um der Rettung Hunderter anderer Willen. 2. Metaethischer Relativismus Die erhitzteste Debatte über den Relativismus dreht sich jedoch um die Frage, ob der deskriptive Relativismus den metaethischen Relativismus fördert. Letzterer besagt, dass es gar keine alleinige wahre oder am meisten gerechtfertigte Moral gibt. Es führt kein direkter Weg vom deskriptiven zum metaethischen Relativismus; das plausibelste Argument für den metaethischen Relativismus lautet, dass er Teil einer größeren Moraltheorie ist, die die wirkliche moralische Vielfalt am besten erklärt. Die Kritiker des metaethischen Relativismus weisen darauf hin, dass moralische Uneinigkeit durchaus mit der Möglichkeit zusammenpasst, dass einige moralische Urteile wahrer oder gerechtfertigter sind als andere, so wie auch eine Uneinigkeit zwischen Wissenschaftlern nicht heißen muss, dass die wissenschaftliche Wahrheit eine relative ist. Einige Relativisten sind von dieser Analogie zu den Wissenschaften aber nicht überzeugt und meinen, dass eine Uneinigkeit über die Struktur der Welt so radikal sein kann, dass sie die Annahme eines gemeinsam aufzufindenden, absoluten 1234
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Wahrheitskerns untergraben kann. Diese Verteidigung des metaethischen Relativismus läuft damit auf die Ausrufung eines erkenntnistheoretischen Relativismus heraus, der sich skeptisch über die Bedeutsamkeit überhaupt eines Sprechens über eine Wahrheit äußert, die unabhängig von den Theorien und Rechtfertigungspraktiken bestimmter Diskursgemeinschaften definiert oder gegeben sein soll. Eine alternative relativistische Antwort lautet, eine nichtrelativistische Haltung gegenüber der Wissenschaft einzunehmen und einen Keil zwischen den wissenschaftlichen und den moralischen Diskurs zu treiben. Die Verteidiger eines solchen moralspezifischen, metaethischen Relativismus wenden ein, dass wissenschaftliche Uneinigkeiten auf Weisen erklärt werden können, die mit der Existenz nichtrelativer Wahrheiten über die Struktur der physikalischen Welt konsistent sind, während moralische Uneinigkeiten nicht analog behandelt werden können. Beispielsweise können viele wissenschaftliche Kontroversen auf ungenügende oder mehrdeutige Beweise oder Verzerrungen von Urteilen zurückgeführt werden, die von persönlichen Interessen herrühren. Die Relativisten wandten dagegen ein, dass solche Erklärungen nicht auf moralische Unstimmigkeiten anwendbar sind wie z.B. die oben erwähnte betreffend das Essen von Tieren, die Abtreibung und die Opferung von Unschuldigen zur Rettung zahlreicher anderer Leben. Mit dem Vorschlag alternativer Erklärungen der moralischen Meinungsverschiedenheit tendieren die moralspezifischen Relativisten zur Annahme eines ‚naturalistischen‘ Ansatzes in der Moral in dem Sinne, dass sie eine wissenschaftliche Sichtweise der Welt bevorzugen und ihre Konzeption der Moral und der moralischen Uneinigkeit in diesen Rahmen einpassen. Sie leugnen, dass moralische Werte und Prinzipien einen irreduziblen Teil des Weltgefüges ausmachen und wenden ein, dass man die Moral am besten theoretisch so erklärt, dass sie zumindest teilweise durch Bräuche und Konventionen entsteht. Nach Wongs Auffassung (1984) entsteht z.B. ein guter Teil der Moral aus dem kollektiven Bedürfnis nach sozialer Struktur; sie reguliert die soziale Zusammenarbeit und löst Interessenskonflikte. Der metaethische Relativismus ist ihm zufolge wahr, weil es keinen allein gültigen Weg zur Strukturierung der sozialen Zusammenarbeit gibt. Der moralspezifische Relativismus teilt sich in die kognitiven und den nonkognitiven Fassungen (siehe Moralisches Urteil, § 1). Nach C.L. Stevensons emotivistischer Auffassung drückt beispielsweise der moralische Diskurs lediglich die Emotion aus und beeinflusst so die Einstellungen und das Verhalten der anderen (siehe Emotivismus). Die kognitiven Relativisten, wie z.B. Mackie, Harman, Foot und Wong, interpretieren moralische Urteile als Ausdruck von Überzeugungen, und zwar deshalb, weil moralische Urteile oft unter Angabe von Gründen als wahr oder falsch behauptet oder beurteilt werden. Innerhalb des kognitiven Relativismus gibt es diejenigen, die meinen, dass es keine allein wahre Moral gebe, weil mehr als eine Moral wahr sein könne, sowie jene, die meinen, dass es keine allein wahre Moral gebe, weil alle falsch seien. J.L. Mackie (1977) steht für das letztere Feld mit der Begründung, dass, während die Moral in Wirklichkeit aus den Bräuchen und der Konvention heraus entstehe, die Bedeutung moralischer Ausdrücke sich missverständlicherweise auf Eigenschaften sui generis bezöge, die jedermann mit einem Grund ausstatte, um daraufhin entsprechend seiner Moral zu handeln. Andere kognitive Relativisten sehen keinen Bedarf zur Konstruktion moralischer Ausdrücke,
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Moralischer Relativismus
die eine Referenz auf nichtexistente Eigenschaften enthalten und binden ihren kognitiven Inhalt moralischer Ausdrücke stattdessen an gewisse Maßstäbe und Regeln. Einem solchen ‚Standard-Relativismus‘ (oder ‚Maßstab-Relativismus‘) zufolge wird die moralische Sprache zur Beurteilung und zur Erteilung von Vorschriften im Einklang mit einer Reihe von Maßstäben verwendet. Unterschiedliche Gruppen solcher Maßstäbe und Regeln werden mit der Zeit und im Denken einzelner Menschen, Gruppen und sogar ganzer Gesellschaften zur Bedeutung von ethischen Ausdrücken wie z.B. ‚gut‘, ‚richtig‘ und ‚sollte‘ kodifiziert, und zwar dergestalt, dass zwei offenkundig miteinander widerstreitende moralische Überzeugungen dennoch beide wahr sein können. Bei einer relativistischen Analyse weisen diese Überzeugungen keine einander widersprechenden Behauptungen darüber auf, was wahr ist, sondern sie geraten in Konflikt miteinander darüber, welche Handlungsvorschriften zu befolgen seien, oder welche Ziele verfolgt werden sollten. Diese Uneinigkeit ist rein pragmatischer Natur, obwohl die Parteien eines solchen Zwistes sich dessen nicht bewusst sein müssen, wenn sie irrtümlich annehmen, sie teilten dieselben Maßstäbe. Eine weitere Schlüsselfrage für die Standard-Relativisten betrifft die Frage, wessen Maßstäbe und Regeln anzuwenden seien, wenn jemand eine moralisches Urteil fällt. Angenommen, Frau Meier fällt ein moralisches Urteil darüber, was Frau Schmidt tun sollte, aber die Maßstäbe von Frau Meier zur Ausrichtung ihres eigenen Verhaltens sind nicht dieselben wie die Maßstäbe von Frau Schmidt zur Ausrichtung des ihrigen. Eine Möglichkeit ist hier, dass Frau Meier die Maßstäbe von Frau Schmidt anlegt, um darüber zu urteilen, was Frau Schmidt tun sollte. Eine weitere Möglichkeit wurde von Harman in einigen seiner Schriften über den Relativismus angeboten und besagt, dass man den anderen nach von den beiden geteilten, d.h. den gemeinsamen Standards beurteilen müsste. Seine Theorie lautet, dass die Moral aus einer impliziten Einigung über die Strukturierung der sozialen Zusammenarbeit heraus vollzogen wird. Moralische Urteile, die implizieren, dass es immer einen Grund hat, wenn ein Verhalten vorgeschrieben wird, machen als Vorschriften nur dann Sinn, wenn sich Sprecher und Betroffene (und die beabsichtigte Zuhörerschaft für den jeweiligen Urteilsakt) sich genau hierüber einig sind. Weitere Standard-Relativisten beobachten, dass Menschen ihre eigenen Maßstäbe bei der Beurteilung des Verhaltens anderer anlegen, unabhängig von ihrer Auffassung darüber, ob die anderen ihre Maßstäbe teilen oder nicht. Es gibt radikale und moderate Fassungen des metaethischen Relativismus. Die radikalen Relativisten meinen, dass jede Moral genauso wahr oder gerechtfertigt sei wie eine andere. Moderate Relativisten wie z.B. Foot (1978) und Wong (1984) bestreiten, dass es nur eine wahre Moral gebe, behaupten aber gleichzeitig, dass einige Moralsysteme wahrer oder gerechtfertigter seien als andere. Nach Wongs Auffassung verbinden sich beispielsweise bestimmte Merkmale der menschlichen Natur und Ähnlichkeiten der Umstände und Voraussetzungen der sozialen Zusammenarbeit und bringen dadurch universelle Beschränkungen hervor, wie eine sozial geeignete Moral auszusehen habe. Man könnte z.B. behaupten, dass ein gemeinsames Merkmal geeigneter Moralsysteme die Bestimmung der Sorge- und Erziehungspflichten gegenüber den jungen Mitgliedern sei, da dies eine Notwendigkeit sei, die sich aus der verlängerten Abhängigkeit des Nachwuchses und der Tatsache ergebe, dass sie eine Erziehung und Ausbildung bedürften, um ihre Rolle in der sozialen Zusammenarbeit spielen zu können. Es mag ferner ein gemeinsames Merkmal 1236
Moralischer Relativismus
geeigneter Moralsysteme sein, von den jungen Mitgliedern umgekehrte Pflichten der Ehre und des Respekts denen gegenüber zu verlangen, die sie großziehen, und die können sich teilweise aus der Rolle ergeben, die eine solche Reziprozität bei der Sicherung der notwendigen Motivation spielt, die diejenigen aufbringen müssen, die mit der Sorge für den Nachwuchs belastet sind. Solche gemeinsamen Merkmale sind mit der Anerkennung vereinbar, dass geeignete Moralsysteme in ihrer Konzeption jener Werte signifikant variieren können, die eine solche Zusammenarbeit vor allem hervorbringen soll. Einige Moralsysteme könnten die stärkste Betonung auf gemeinschaftszentrierte Werte legen, die einer Förderung und Unterhaltung in Form eines gemeinsamen Lebens und von Beziehungen bedürfen, während andere die individuellen Rechte betonen könnten, und wieder andere die Förderung des (individuellen, kollektiven oder sogar partikularen) Nutzens. 3. Normativer Relativismus Entfaltet der metaethische Relativismus wesentliche Konsequenzen für das Handeln? Der normative Relativismus, d.h. die Lehre, dass es moralisch falsch ist, sein moralisches Urteil anderen aufzudrängen oder sich in die moralischen Praktiken anderer einzumischen, sofern diese anderen Moralsystemen als dem eigenen anhängen, wird oft von Anthropologen, vielleicht als Reaktion auf gewisse westliche Auffassungen über die Minderwertigkeit anderer Kulturen, die zu Zeiten des Kolonialismus verbreitet waren, verteidigt. Der normative Relativismus ist auch anwendbar auf Uneinigkeiten innerhalb einer Gesellschaft, wie z.B. jene betreffend den moralischen Status von Abtreibungen, wo die Positionen der streitenden Parteien letztlich auf fundamental unterschiedlichen Konzeptionen der Personalität zu beruhen scheinen. Wie im Falle des deskriptiven und metaethischen Relativismus existiert hier jedoch ebenfalls keine direkte Verbindung zwischen dem metaphysischen und dem normativen Relativismus. Man könnte konsistent behaupten, dass es keine alleinig wahre Moral gibt, während man gleichzeitig mit anderen zusammen auf der Basis der eigenen Moral urteilt. Wong schlug eine Fassung des normativen Relativismus vor, der mit der Auffassung zusammen geht, dass nichts Normatives unmittelbar aus dem metaethischen Relativismus folgt. Der metaethische Relativismus bedarf einer Ergänzung durch eine liberale, kontraktualistische Ethik, damit aus ihm eine Ethik des Nicht-Interventionismus wird. Eine liberale kontraktualistische Ethik setzt wiederum voraus, dass moralische Prinzipien auf Seiten der Individuen unter der Leitung solcher Prinzipien zu rechtfertigen sind. Wenn keine Moral für sich allein vor allen anderen gerechtfertigt ist, so wird der liberale normative Relativismus voraussetzen müssen, dass sich diejenigen nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, die einer anderen Moral als der eigenen anhängen, selbst wenn diese Voraussetzung der Nicht-Einmischung im Konfliktfalle mit anderen moralischen Voraussetzungen wie z.B. dem Folterverbot oder der Tötung Unschuldiger keine absolute ist (siehe Liberalismus). 4. Relativismus und moralisches Vertrauen Ein Grund, warum der Relativismus vielerorts gefürchtet wird, ist der Verdacht, dass er leicht in den moralischen Nihilismus abgleiten könne. Kann jemand gemäß einem moralischen Wertesystem leben, das doch manchmal erhebliche persönliche Opfer verlangt, wenn er nicht länger glauben kann, dass dieses Wertesystem wahrer oder gerechtfertigter ist als andere Wertesysteme, die mit dem seinen unvereinbare 1237
Moralischer Relativismus
Handlungen fordern? Eine relativistische Antwort hierauf ist, dass man vernünftigerweise die Wichtigkeit gewisser Merkmale der eigenen Moral in Frage stellen kann, indem man ihren konventionellen Ursprung untersucht. Man betrachte die Pflicht, anderen Hilfe zu leisten. Diese wird üblicherweise als weniger streng betrachtet als jene andere Pflicht, ihnen nicht zu schaden. Gilbert Harman meinte, dass dieser Unterschied sich aus der überlegenen ‚Wirtschaftsmacht‘ derjenigen mit den größeren materiellen Ressourcen ergebe, und daraus die entsprechende Moral folge. Diejenigen mit den geringeren materiellen Ressourcen könnten dieses Merkmal der Moral begründet in Frage stellen, wenn sie von Harmans Erklärung überzeugt sind. Man beachte jedoch, dass es nicht lediglich die Annahme ist, dass dieses Merkmal aus einer Konvention hervorging, die unser Vertrauen darin untergraben kann. Hinsichtlich der anderen Merkmale der eigenen Moral kann man durchaus eine relativistische Sichtweise annehmen und sie gleichzeitig hochschätzen, einfach weil sie einem dabei helfen, seine eigene Lebensform zu finden. Man muss zugeben, dass Menschen, die z.B. die Folter verurteilen und unaufhörliche Grausamkeiten als einen Angriff auf das moralische Gefüge der Welt betrachten, vielleicht eine Gewissheit in sich spüren, die den Relativisten nicht zugänglich ist, und die es deshalb einfacher finden, jene persönlichen Opfer zu bringen, die ihre Moral von ihnen verlangt. Die moralische Gewissheit bringt jedoch ebenfalls ihre eigenen Pflichten mit sich, und sie hat selbst zu den unaufhörlichen Grausamkeiten beigetragen, die sich Menschen einander angetan haben. Siehe auch: Moral und Ethik; Relativismus; Sozialer Relativismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Foot, P. (1978): ‚Moral Relativism (The Lindley Lectures)‘. Lawrence, Kansas: University of Kansas Press. (Eine Verteidigung des moderaten Relativismus.) Mackie, J.L. (1977): ‚Ethics: Inventing Right and Wrong‘. Harmondsworth: Penguin. (Mackie verteidigt eine skeptische Form des Relativismus, demzufolge moralischen Urteilen nicht die von ihnen beanspruchte Objektivität zukommt. Folglich seien keine moralischen Urteile wahr.) Wong, D. (1984): ‚Moral Relativity‘. Berkeley, California: University of California Press. (Eine Verteidigung des moderaten Relativismus, die auf einem naturalistischen Ansatz aufbaut. Einige Kapitel setzen eine Kenntnis der zeitgenössischen Sprachphilosophie voraus, was manche Leser vielleicht als etwas ‚technisch‘ empfinden werden.) DAVID B. WONG
Moralischer Partikularismus
Der moralische Partikularismus ist eine weitgefasste Menge von Auffassungen, die die Rolle der allgemeinen moralischen Prinzipien in der Moralphilosophie und der moralischen Praxis herunterspielen. Die moralischen Partikularisten betonen die Rolle der Beispiele in der moralischen Erziehung und der moralischen Empfindungsfähigkeit oder dem moralischen Urteil in der Entscheidungsfindung, und sie kritisieren Moraltheorien, die sich auf allgemeine Prinzipien stützen. Es wurde noch nicht demonstriert, dass der moralische Partikularismus eine wichtige oder strittige Position zur Moralphilosophie beizusteuern hat. Siehe auch: Ästhetik und Ethik ROGER CRISP 1238
Moralischer Skeptizismus
Moralischer Skeptizismus
Der Skeptizismus ist im Allgemeinen die Auffassung, dass wir nur geringes oder gar kein Wissen haben können; folglich ist der moralische Skeptizismus die Auffassung, dass wir kein moralisches Wissen haben können, weil uns nicht der notwendige Beweis zugänglich ist, der irgendein moralisches Urteil rechtfertigen könnte. Noch radikalere Skeptiker argumentieren gar, dass wir kein moralisches Wissen haben können, weil die Moral gar keine Wahrheiten enthält, die man wissen könnte. Diese radikalen Skeptiker behaupten entweder, dass alle moralischen Urteile falsche sind, weil sie irrtümlich von der wirklichen Existenz ‚objektiver Werte‘ ausgingen, oder dass moralische Urteil auf den Ausdruck von Gefühlen oder die Beeinflussung von Verhalten abzielten, statt auf die Erklärung von Wahrheiten. Kritiker des moralischen Skeptizismus bringen hiergegen wiederum vor, dass moralische Urteile zumindest in einigen Fällen auf die Behauptung von Wahrheiten abzielten, und dass einige dieser Behauptungen in der Tat wahr seien, und dass wir ferner über genügend Beweise verfügten um sagen zu können, dass wir diese moralischen Wahrheiten wissen. Siehe auch: Moralische Rechtfertigung MARK T. NELSON
Moralisches Glück
Der Ausdruck ‚moralisches Glück‘ wurde von Bernard Williams im Jahre 1976 als Bezeichnung der Idee eingeführt, dass der moralische Status eines Sachverhalts in weitem Umfange Glückssache ist. Dass Paul beispielsweise unter verdorbenen Umständen aufwuchs und Thomas tugendhaft, hängt weitgehend von ihren familiären Bedingungen ab, sowie von ihrem Ausbildungshintergrund. Indem er Williams folgte, erweiterte Thomas Nagel den Bereich des moralischen Glücks noch. Die Position, die beide einnehmen, steht in starkem Gegensatz zu der verbreiteten Ansicht, die von Kant beeinflusst ist, dass jemand moralisch für das verantwortlich ist, was unter seiner Kontrolle geschieht, so dass die moralische Zurechenbarkeit gerade keine Sache des Glücks ist. Diese Idee ist so stark mit unserer modernen Vorstellung der Moral verwachsen, dass ihre Ablehnung zu einer Revision und Neuformulierung der grundlegendsten Begriffe der Moral führen würde. Einige Philosophen wandten ein, dass das Paradox des moralischen Glücks einen starken Grund dafür liefert, die traditionellen Moraltheorien zu verwerfen und stattdessen die Tugendethik stärker zu stützen. DANIEL STATMAN
Moralisches Urteil Einführung Der Ausdruck ‚moralisches Urteil‘ kann sich auf vier unterscheidbare Gegenstände beziehen: Erstens auf die Tätigkeit des Denkens darüber, ob ein gegebener Gegenstand der moralischen Bewertung (sei es eine Handlung, eine Peron, eine Institution oder ein Sachverhalt) eine bestimmte moralische Eigenschaft besitzt, und zwar entweder allgemein (etwa wie das Richtige oder das Falsche) oder speziell (wie die Unempfindlichkeit, die Integrität); zweitens der Zustand, der sich aus dieser Tätigkeit ergeben kann, d.h. der Zustand des Urteilens darüber, dass der Gegenstand dieses Merkmal hat; drittens der Inhalt dieses Zustandes, d.h. was durch uns beur1239
Moralisches Urteil
teilt wird, statt der Tatsache des Urteilens; und viertens kann der Ausdruck als Empfehlung verstanden werden, der sich auf eine moralische Tugend bezieht, die wir auch ‚moralisches Unterscheidungsvermögen‘ oder ‚moralische Weisheit‘ nennen können. Es gibt drei prinzipielle Fragen hinsichtlich des moralischen Urteils. Die erste fragt, was für ein Zustand jener des moralischen Urteilens ist, und speziell, ob dieser Zustand gänzlich oder teilweise als einer der Überzeugung bezeichnet werden kann. Die zweite betrifft die Tätigkeit des moralischen Urteilens und befasst sich speziell mit der Rolle, die die Anwendung von Regeln innerhalb dieser Tätigkeit spielt. Die dritte untersucht die Bedingungen, unter denen eine Person mit Recht ein moralisches Urteil mit einem bestimmten Inhalt fällen kann. 1. Kognitivismus versus Nonkognitivismus 2. Moralische Regeln und Abwägung 3. Moralische Regeln und Rechtfertigung 4. Die Tugend des moralischen Urteils und die moralische Erkenntnislehre 1. Kognitivismus versus Nonkognitivismus Wenn ich glaube, dass etwas bestimmte moralische Merkmale hat (dass z.B. eine Handlung falsch ist), dann scheint der Zustand, in dem ich mich befinde, sowohl kognitive (überzeugungs- oder glaubensbasierte), als auch nicht-kognitive Merkmale aufzuweisen. Zunächst tendieren meine moralischen Zuschreibungen dazu, als objektive Wahrheiten aufgefasst zu werden, d.h. unabhängig von meiner Haltung ihnen gegenüber wahr zu sein. Denn meine moralische Haltung kann die Form ‚Diese Handlung ist falsch und wäre dies auch dann noch, wenn ich mit ihr einverstanden gewesen wäre‘ annehmen, was mich an mutmaßliche moralische Tatsachen bindet, zu denen ich mich falsch oder richtig verhalten kann (siehe Moralischer Realismus). Und ein Zustand, der darauf abzielt, als unabhängig gegebene Tatsache wahr zu sein, muss offenbar als eine Überzeugung gedacht werden (siehe Überzeugung). Die Zuschreibung eines moralischen oder anderweitig bewertenden Merkmals zu etwas scheint aber über das hinauszugehen, was man einen lediglich kognitiven Zustand nennen würde: er scheint meine Orientierung zu einem Gegenstand der moralischen Zuschreibung hin oder von ihm weg zu implizieren. Insbesondere wird oft behauptet, dass es eine bestimmte Art von ‚interner Verbindung‘ zwischen dem Zustand des moralischen Urteils und der Motivation des Urteilenden gibt. Dieser Auffassung zufolge ist es Teil des Urteilsbegriffs, dass etwas tatsächlich fasch ist, sofern und weil ich es für falsch halte, dass irgendeine Handlung unter jenen Umständen vorgenommen wird. Dies bedeutet, dass ich – vorausgesetzt, ich leide nicht unter Willensschwäche oder ähnlichen Dingen – motiviert bin, die betreffende Handlung unter diesen Umständen zu vermeiden (siehe Moralische Motivation, §§ 1–2). Der Kognitivismus hinsichtlich des Zustandes des moralischen Urteils, d.h. die Auffassung, dass ein moralisches Urteil im Wesentlichen eine Überzeugung ist, wird folglich von dem Charakter dieser Urteile gefördert, der ihre Objektivität voraussetzt, während der Nonkognitivismus, also das Bestreiten des Kognitivismus, offenbar von der internen Verbindung eines moralischen Urteils zur Urteilsmotivation gestützt wird. Dieses Problem wird nicht einfach dadurch gelöst, dass man das moralische Urteil als einen zusammengesetzten Zustand beschreibt, der sowohl eine Überzeugung, als auch einen nichtkognitiven Begleitzustand umfasst. Denn dies
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Moralisches Urteil
würde wohl einen isolierbaren Urteilsbestandteil in Gestalt einer reinen Überzeugung voraussetzen, dass die betreffende Handlung falsch ist. Doch die Möglichkeit einer solchen Überzeugung ist ja genau das, um das es hier geht. Insgesamt zeigen sich hier vier Hauptlösungen. Jede Seite des Disputs kann die Behauptung, die zur Unterstützung der jeweils anderen Seite vorgebracht wird, entweder bestreiten, oder aber sie akzeptieren und stattdessen bestreiten, dass sie die jeweilige Auffassung stützt. Folglich kann ein Kognitivist die interne Verbindung bestreiten und darauf beharren, dass in dem Umfange, wie sich moralisch Urteilende um die Moral bemühen (was allerdings fast immer der Fall sein dürfte), die entsprechenden Aussagen nur kontingent wahr seien. Eine zweite und weniger plausible Sichtweise wäre die eines Nonkognitivsten, der einfach bestreitet, dass moralische Urteile überhaupt Objektivität implizieren. Vielleicht sollten die nach Objektivität heischenden Moralurteile – wie es die Emotivisten (siehe Emotivismus) nahe legen – abgelehnt und durch etwas anderes ersetzt werden. Es scheint kaum bestreitbar zu sein, dass ein moralisches Urteil in seiner konkreten Erscheinung praktisch immer diesen objektivitätsheischenden Charakter hat. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, von denen jede den Versuch darstellt, sowohl die objektivitätsheischende Natur des moralischen Urteils, als auch seine innere Verbindung zur Motivation zuzulassen. Nach dem ‚kognitivistischen Internalismus‘ von John McDowell (1979) sind moralische Urteile tatsächlich Überzeugungen, wenn auch solche besonderer Art, insofern sie innerlich mit den Beweggründen des Überzeugten verbunden sind. Und nach dem ‚nonkognitivistischen Objektivismus‘ von Simon Blackburn (1984) kann der objektivitätsheischende Charakter des moralischen Urteils erklärt werden, auch ohne diese Urteile als Überzeugungen anzusehen. Der zentrale Gedanke bei beiden ist, dass die Haltung, die sich durch die Aussage ‚Diese Handlung ist falsch und wäre auch dann noch falsch, wenn ich mit ihr einverstanden gewesen wäre‘ zeigt, als eine nichtkognitive Haltung erklärt werden kann, die sich sowohl auf kontrafaktische Aussagen, als auch auf ‚wirkliche Möglichkeiten‘ bezieht, d.h. als eine Haltung der Zustimmung zu einer Handlung nicht nur in der Welt, wie sie tatsächlich gegeben ist, sondern auch in einer Welt, in der ich dieser Handlung zugestimmt hätte, auch wenn sie sich im übrigen von der ersten nicht unterschieden hätte. Unklar bleibt jedoch, ob der Nonkognitivismus eine zufriedenstellende Behandlung sämtlicher semantischer Merkmale des moralischen Urteils leisten kann, und dies speziell hinsichtlich des nicht gesicherten Auftretens moralischer Ausdrücke wie z.B. dem erstmaligen Erscheinen des Wortes ‚wrong‘ in dem englischen Satz: ‚If blasphemy is very seriously wrong, then it is wrong to associate with blasphemers.‘4 Leistet er dies nicht, sollten wir uns hinsichtlich unserer wirklichen Zustände des Dieses englische Beispiel ist nicht übersetzbar, weil sich eine entsprechend zweideutige Satzkonstruktion mit dem zentralen Wort wrong im Deutschen nicht herstellen lässt. Wrong heißt sowohl ‚falsch‘ (attributiv), als auch ‚das Vergehen‘ (nominal). Folglich lässt sich die Doppeldeutigkeit des obigen Beispielsatze nur in zwei verschiedenen deutschen Sätzen angeben und erläutern: (1) ‚Wenn das Fluchen ernsthaft falsch ist, dann ist es falsch, sich mit Fluchenden zu verbünden‘, oder (2) ‚Wenn das Fluchen ein sehr ernstes Vergehen ist, dann gehören die Fluchenden und das Vergehen zusammen.‘ Der semantische Unterschied beider Sätze zeigt sich bei der Frage, ob in einem dieser Sätze überhaupt ein moralisches Urteil ausgesagt wird. Satz (1) ist offensichtlich ein moralisches Urteil, während Satz (2) lediglich ein begrifflogischer Schluss ohne moralische Implikationen ist. [WS]
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Moralisches Urteil
moralischen Urteils auf die Seite des Kognitivismus schlagen. Ob die objektiven moralischen Tatsachen, die in moralischen Urteilen offenbar vorausgesetzt werden, überhaupt Sinn machen, ist eine weitere Frage, und zwar eine des moralischen Realismus (siehe Moralischer Realismus). 2. Moralische Regeln und Abwägung Welche Rolle spielt die Beachtung der Regel einer sorgfältigen Erwägung der moralischen Merkmale von Angelegenheiten? Eine verbreitete Meinung hierzu lautet: das gute moralische Denken identifiziert die korrekten moralischen Prinzipien, unter die der moralisch Urteilende sodann seinen bestimmten Fall subsumiert, mit dem Ziel, ein moralisches Urteil über sie zu fällen (siehe Universalismus in der Ethik). Nach dieser Auffassung hat jedoch kaum noch eine moralische Erwägung im Sinne einer guten Überlegung Bestand. Wohl nur sehr wenige moralisch Urteilende sind mit einer erschöpfenden Menge ausnahmslos moralischer Prinzipien ausgestattet, auf die sie sich in allen ihren moralischen Urteilen beziehen können. Den größten Teil der Zeit, wenn wir darüber nachdenken, ob ein Fall einen moralischen Begriff in Anspruch nimmt, beschäftigen wir uns mit einer moralischen Unterscheidung oder einem entsprechenden Urteil, die beide nicht nur einfach ein Anwendungsfall einer vollständig bestimmten, unabhängig formulierbaren Regel sind. Vielmehr gibt es gute Gründe zu der Annahme, die moralische Erwägung nicht als etwas zu betrachten, das idealerweise aus der Anwendung einer erschöpfenden Menge ausnahmslos moralischer Regeln besteht. Diese Auffassung führt uns jedoch in ein Dilemma. Entweder ist die Menge unserer Prinzipien zu klein und damit vorschnell zu umfassend – z.B. wenn sie nur aus einer einzelnen Regel besteht, wie im direkten Utilitarismus (siehe Utilitarismus) – und deshalb in so allgemeinen Ausdrücken beschrieben werden muss, damit die Anwendung dieser Regel noch auf die einfachsten Fälle nicht bereits zum Problem wird; oder aber sie müssen so speziell gefasst sein, dass ihre direkte Anwendung auf einen konkreten Fall möglich wird, wodurch die Anzahl der Regeln aber zu stark zunehmen würden und zu beschränkt wäre, um noch verwendbar zu sein. Dies beweist allerdings nicht, dass eine gründliche Erwägung nicht allein in der Anwendung von Regeln bestehen kann. Nach der konsequenzialistischen Auffassung von R.M. Hare (siehe Konsequenzialismus) sollte die Antwort auf dieses Problem so aussehen, dass wir uns mit einer Menge vertrauter moralischer ‚Daumenregeln‘ ausstatten (beispielsweise: ‚Versprechen muss man halten, alles andere zählt nicht‘), zusammen mit einer Metaregel, dass wir in Fällen, wo diese Regeln miteinander in Konflikt geraten, ein grundlegendes Prinzip des direkten Konsequenzialismus anwenden. Als Alternative hierzu sagt uns die Kantische Theorie von Barbara Herman (1985), dass wir uns mit einer ähnlichen Menge vertrauter und eindeutiger moralischer Regeln rüsten sollten – und zwar solchen, die bestimmte Merkmale jener Maximen ausmachen, auf deren Grundlage man handeln soll, und die die Beweislast ihrer moralischen Rechtfertigung tragen – zusammen mit einer Metaregel, dass die Zulässigkeit einer Handlung, wenn diese Handlung ein moralisch hervorstechendes Merkmal aufweist, nach dem grundlegenden Prinzip des kantischen kategorischen Imperativs beurteilt werden sollte (siehe Kantische Ethik).
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3. Moralische Regeln und Rechtfertigung Die gerade beschriebenen Auffassungen lassen es zu, dass es einem guten Teil unserer Erwägungen eigen ist, sich dabei auf reine prima facie-Regeln zu berufen, d.h. solche, die sich in ihren moralischen Zuschreibungen auf aufhebbare Gründe beziehen (d.h. Gründe, die durch andere überholt werden können); aber sie ergänzen diese Zuschreibungen mit grundlegenderen, bestimmenderen Regeln für das Urteil in Fällen, wo die prima-facie-Regeln miteinander in Konflikt geraten. Warum aber sollten wir nach Regeln dieser vollständig bestimmenden Art suchen? Die selbstverständliche Antwort hierauf lautet: gute moralische Erwägungen laufen auf gerechtfertigte Urteile hinaus; wenn ich in einem Falle, wo meine prima-facie-Regeln in Konflikt miteinander geraten, ein Urteil fälle, das rundherum überdacht wurde, und ich es daraufhin rechtfertigen soll, so kann diese Rechtfertigung nicht willkürlich ausfallen. Mein Urteil kann jedoch nur dann nicht-willkürlicher Art sein, wenn es ein Fall einer vollständig bestimmenden Regel ist. Wenn man sagt, dass Urteile nur durch die Existenz von Regeln gerechtfertigt sind, so meint man damit vielleicht folgendes: (a) Es ist eine Regel, die die Anwendung eines Begriffs auf einen Sachverhalt oder Gegenstand rechtfertigt. (b) Es ist eine Regel, die mir die Sicherheit in meinem Urteil verschafft, dass dieser Begriff auf diesen Sachverhalt oder Gegenstand anzuwenden ist. Behauptung (a), so könnte man sagen, betrifft die ‚konstitutive Rechtfertigung‘ eines Urteilsinhalts, während (b) die erkenntnistheoretische Rechtfertigung eines Urteilszustandes betrifft (siehe Begründung, Erkenntnistheoretische). Die Behauptung (b) stellt die Rechtfertigung im Wesentlichen als etwas dar, das aus der Subsumtion von Fällen unter Regeln besteht. Dieses Bild wurde kritisiert, weil es einen Trugschluss über das Regelfolgen enthält (siehe Bedeutung und Regelfolgen; Wittgenstein, L.J.J., § 10). Unsere Fähigkeit zur Unterscheidung, ob ein gegebener Fall unter eine Regel fällt, kann nicht darin bestehen, dass wir eine unabhängige Metaregel begreifen, weil dies in einen unendlichen Regress mündet. Dies gilt genauso für die Regel oder Aufforderung: ‚Identifiziere Fälle, die unter einen Begriff c fallen‘, wie für jede andere. Wenn man korrekt bei der Anwendung eines Begriffs verfährt, so kann man keine Rücksichtnahme auf eine unabhängig ausdrückbare Regel nehmen, die gerade aus der Anwendungspraxis des fraglichen Begriffs folgt. Wenn dies richtig ist, so bleibt damit die Möglichkeit gegeben, dass es keine weiteren solchen Regeln gibt, die unsere Praxis der Anwendung moralischer Begriffe rechtfertigen. Die Beweislast liegt in jedem Falle bei jenem, der eine solche Regel behauptet, denn er muss zwingende Beispiele bringen, die zu unserer Urteilspraxis passen. Die Kritik lautet, dass solche Beweise bisher nicht vorgelegt wurden. Den Gegnern von (a) zufolge hindert uns folglich nichts an der Behauptung eines ‚moralischen Pluralismus‘, demzufolge die einzigen vertretbaren moralischen Regeln die prima-facie-Regeln sind. Eine weitere daraus folgende Behauptung lautet, dass es nicht einmal Regeln dieser beschränkten Art gibt. Dies wird von den ‚moralischen Partikularisten‘ behauptet, indem sie sagen, dass es keine Eigenschaften gibt, die immer als Gründe für dieselbe moralische Zuschreibung gelten. Oft ist der Umstand, dass eine meiner Handlungen einen anderen Menschen schädigt, der Grund dafür, dass diese Handlung falsch ist. Manchmal aber, z.B. wenn ich zu Recht eine gerechte Strafe vollziehe, gilt dies moralisch als Grund für die Richtigkeit der 1243
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Handlung. Wenn dies so ist, so müssen wir eine Form des moralischen Urteilens üben, die über die Anwendung von Regeln hinausgeht, und zwar nicht nur um zu bestimmen, in welchem Verhältnis moralische Begründungen zueinander stehen, sondern auch um zu bestimmen, wann eine Überlegung überhaupt als eine moralische Begründung zählt (siehe Tugendethik, § 6). 4. Die Tugend des moralischen Urteils und die moralische Erkenntnislehre Wenn man die Behauptung (a) mit ihrem subsumtiven Bild einer konstitutiven moralischen Rechtfertigung ablehnen will, dann sollte man auch (b) hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung ablehnen. Wenn es keine unabhängig formulierbare Regel für eine richtige moralische Zuschreibung gibt, dann gibt es auch keine solche Regel zu meiner Sicherung in meinem Urteil, dass diese Zuschreibung richtig ist. Trotzdem kann man aber immer noch eine Beziehung gegenseitiger erkenntnistheoretischer Unterstützung zwischen meinen Urteilen betreffend die moralischen prima-facie-Prinzipien und meinen Urteilen über die Existenz moralischer Gründe in Einzelfällen behaupten, sofern man von einer Kohärenzkonzeption der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung ausgeht (siehe Erkenntnis und Begründung, Kohärenztheorien der). Was jedoch die Rechtfertigung meines Urteils angeht, dass nach Überlegung aller dieser Dinge ein bestimmter Gegenstand ein bestimmtes moralisches Merkmal aufweist, so schaut es so aus, als müssten wir einfach sagen, dass dies nur dann gerechtfertigt ist, wenn es sich dabei um eine Zuschreibung handelt, die von einer Person vorgenommen wurde, die mit der Tugend moralischer Urteilsoder Unterscheidungsfähigkeit gesegnet ist. Wie kann sich jemals irgendwer bezüglich seiner selbst sicher sein, dass dies der Fall ist? Wenn die Richtigkeit eines moralischen Urteils von der Bestätigung durch einen Handelnden abhängt, dessen Tugendhaftigkeit gar nicht unabhängig feststellbar ist, dann scheint wohl jede Behauptung einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung auf eine dubiose Behauptung der Selbstevidenz herauszulaufen (siehe Intuitionismus in der Ethik). Um hierüber hinweg zu kommen, müssten wir notwendig in der Lage sein, die Übereinstimmung von Urteilen derjenigen aufzuzeigen, für die wir gute Gründe haben, sie als ‚gute moralische Akteure‘ anzusehen. Siehe auch: Erkenntnistheorie und Moral; Moralische Rechtfertigung; Moralisches Wissen; Objektivität Anmerkungen und weitere Lektüre: Blackburn, Simon (1984): ‚Evaluations, Projections and Quasi-Realism‘, 6. Kapitel von ,Spreading the Word‘. Oxford: Clarendon, S. 181–223. (Eine prominente Verteidigung des Nonkognitivismus gegen den Einwand, dass er nicht mit dem objektivitätsheischenden Charakter des moralischen Urteils zurechtkommt.) Herman, Barbara (1993): ‚The Practice of Moral Judgment‘. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Eine kantische Darstellung der Rolle von Regeln im moralischen Urteil.) McDowell, John (1979): ‚Virtue an Reason‘. In: The Monist 63: S. 331–350. (Eine Verteidigung des Kognitivismus und der Notwendigkeit der Tugendhaftigkeit des moralischen Urteils für den Besitz von moralischem Wissen.) GARRETT CULLITY
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Moralisches Wissen
Moralisches Wissen
Jemand besitzt moralisches Wissen ausschließlich dann, wenn seine moralischen Meinungen wahr sind und er diese Meinungen zu Recht vertritt. Ob jemand wirklich moralisches Wissen hat, ist ernstlichen Zweifeln ausgesetzt, sowohl weil die moralische Meinung so schwer zu rechtfertigen ist, als auch, weil es Gründe für die Annahme gibt, dass Meinungen Ausdrucksformen sind, die nicht unter die Überzeugungen fallen, die nämlich als wahr oder falsch ausgewertet werden können, sondern unter das Geschmacks- oder Vorzugsurteil. Eine erfolgreiche Verteidigung dieser Auffassung, dass Menschen über moralisches Wissen verfügen, erfordert eine Auflösung dieser Zweifel. Versuche in dieser Richtung betonen üblicherweise die Aspekte, nach denen unsere moralischen Meinungen und die Beweise, die wir für sie anführen, analog zu den Meinungen und den Beweisen sind, die wir zu nicht-moralischen Fragen haben, wie z.B. der Logik, der Mathematik, der Naturwissenschaft, der Psychologie und der Geschichte. In diesem Prozess versuchen sie zu zeigen, dass wir durchaus Grund zu der Annahme haben, dass einige unserer moralischen Meinungen wahr sind. Siehe auch: Emotivismus; Rechtfertigung, erkenntnistheoretische; Wissens, Begriff des; Moralisches Urteil; Präskriptivismus GEOFFREY SAYRE-MCCORD
Moralphilosophie Siehe: Ethik
Moralpsychologie Einführung Die Moralpsychologie als eine Forschungsdisziplin befasst sich hauptsächlich mit psychologischen Fragen, die im Zusammenhang mit der moralischen Bewertung von Handlungen entstehen. Sie befasst sich mit den psychologischen Vorannahmen einer geltenden Moral, d.h. mit den Annahmen, die notwendig zu sein scheinen, damit man überhaupt von objektiven oder bindenden moralischen Forderungen sprechen kann. Wenn wir beispielsweise gar keinen freien Willen hätten oder allesamt unfähig wären, egoistisch zu handeln, dann wäre überhaupt nicht klar, wie diese Moral wirklich auf alle Menschen anwendbar sein soll. Die Moralpsychologie beschäftigt sich auch mit dem, was man als die moralischen Begleiterscheinungen des wirklich richtigen oder falschen Handelns bezeichnen könnte, also z.B. mit Fragen über das Wesen und die Möglichkeit moralischer Schwäche oder der Selbsttäuschung, sowie mit Fragen über die Beweggründe, die moralisch handelnde Akteure antreiben. Ferner mischen sich in der ethischen Theorie, die unter der Bezeichnung ‚Tugendethik‘ bekannt ist, Fragen der richtigen oder falschen Handlung mit solchen über die Motive, Dispositionen und Fähigkeiten unserer moralischen Akteure, und die Moralpsychologie spielt dort eine wichtigere Rolle als in anderen Arten der ethischen Theorie. 1. Die Psychologie und die Möglichkeit der Moral 2. Die Psychologie und das moralische Urteil
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Moralpsychologie
1. Die Psychologie und die Möglichkeit der Moral Wir können die hauptsächlichen, traditionellen Anliegen der Moralpsychologie als einer profilierten philosophischen Disziplin einteilen in Fragen über die psychologischen Vorannahmen, die für die Geltung der Moral getroffen werden müssen, oder der moralischen Regeln im Allgemeinen, und in Fragen über die psychologischen Begleitumstände oder Fundamente der jeweils konkreten Handlungen, die als richtig oder gut bzw. falsch oder schlecht bewertet werden. Die Frage, ob Menschen einen freien Willen oder die Freiheit der Wahlentscheidung haben (siehe Freier Wille) fällt natürlicherweise in das erste dieser beiden Gebiete. Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, dann kann er, so wurde über die Jahrtausende in der Regel (wenn auch nicht überall) angenommen, für sein Handeln nicht zur Verantwortung gezogen werden, und kann auch an moralische Verpflichtungen nicht mehr als Tiere oder kleine Kinder gebunden werden. Daher erachteten diejenigen, die systematisch die eine oder andere Auffassung des moralisch Richtigen oder Falschen ausgearbeitet haben, es gewöhnlich als notwendig, die Existenz eines freien Willens bzw. die Wahlfreiheit entweder zu verteidigen oder gar explizit vorauszusetzen. Auf den ersten Blick bringt dies normalerweise eine Aussage über das freie Handeln im Verhältnis zum universell kausalen/naturgesetzlichen Determinismus mit sich. Wenn die Welt universell durch kausale oder physikalische Gesetze geleitet wird, dann ist es unklar, wie sich überhaupt jemand anders verhalten können soll, als er es tatsächlich tat, und wie er für dieses Verhalten folglich verantwortlich sein kann. Damit jedoch fühlen sich die Verteidiger einer objektiven Moral typischerweise aufgerufen, entweder zu behaupten, dass Menschen in wichtiger Hinsicht nicht den eisenharten Gesetzen der kausalen Determination unterworfen seien, oder aber zu zeigen, dass uns der kausale Determinismus in Wirklichkeit nicht des freien Willens beraubt (siehe Determinismus und Indeterminismus). Eine weitere metaphysische oder quasimetaphysische Frage, die sich schon seit langem in der Moralpsychologie abzeichnet, betrifft die menschliche Fähigkeit zur Moral. Die meisten moralischen Vorschriften und Moralphilosophien setzen beispielsweise voraus, dass die Menschen gelegentlich ihr Eigeninteresse im Namen der Ehre, der Fairness, des Anstandes, des Mitgefühls, der Loyalität oder um des allgemeinen Guten Willen zurückstellen. Wenn aber jemand an den psychologischen Egoismus glaubt, dann wird er nicht an diese Fähigkeit zu solchen Formen des Selbstopfers glauben, und dann wird es problematisch, ob Menschen wirklich verpflichtet sind, den Ansprüchen der zahlreichen nichtegoistischen Moralauffassungen bzw. Theorien Folge zu leisten (siehe Egoismus und Altruismus). Aber selbst wenn man sowohl den psychologischen, als auch den ethischen Egoismus bestreitet, gibt es immer noch moralpsychologische Fragen darüber, wie viel Moral man den Menschen vernünftigerweise auferlegen kann. Diese Frage tauscht besonders im Zusammenhang mit dem Utilitarismus (siehe Utilitarismus) und dem Kantianismus auf (siehe Kantische Ethik). Der Utilitarismus wird normalerweise in einer ‚Maximalform‘ erklärt, die ihn als eine notwendige und hinreichende Bedingung des richtigen Handelns darstellt, d.h. wie sich jemand unter den gegebenen Umständen am besten verhalten kann, um das Glück der Menschheit (oder ‚empfindender Wesen‘) zu befördern. Aber eine solche Lehre scheint zu implizieren, dass jemand, der in der Lage ist, das Leiden, den Hunger oder die Krankheit von anderen zu lindern, auch moralisch verpflichtet ist, dies zu tun, selbst wenn 1246
Moralpsychologie
das bedeutet, dass der Betreffende dafür seine Lebenspläne und das meiste dessen, was den Inhalt seines Lebens ausmacht, aufgeben muss. Die traditionellen utilitaristischen Moralmaßstäbe sind also sehr anspruchsvoll, und einige Philosophen haben in Frage gestellt, ob die Moral zu Recht so viel von den Menschen verlangen kann. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die meisten Menschen überhaupt imstande sind, nach einer so stringenten Moral zu leben, wie sie und durch die ‚Maximalutilitaristen‘ vorgestellt wird. Gewisse Lehren der kantischen Ethik können so ähnlich betrachtet werden, als würden sie sich gegen die grundsätzliche Beschaffenheit des menschlichen Wesens oder seine Fähigkeiten richten, und zwar nicht deshalb, weil sie ein zu großes Opfer bezüglich des Eigeninteresses verlangen, sondern weil sie zu stringente oder enge psychologische Bedingungen zugrunde legen, welche Handlungen überhaupt bewunderungswürdig seien. Nach Kant mangelt es dem Verhalten von jemandem, der einem anderem, der in Not geraten ist, aus Freundschaft oder Mitgefühl hilft, an jeglichem moralischem Wert, weil sein Handeln keinem Pflichtgefühl für das moralische Gesetz entspringt. Viele ethische Denker haben entweder indirekt oder explizit eine solche Auffassung der moralischen Tugendhaftigkeiten als zu eng qualifiziert, weil sie außerhalb jeglicher realistischer menschlicher Psychologie liegt. Sie wandten dagegen ein, dass gewisse vorrangige, unmittelbare oder natürliche Beweggründe, wie z.B. das Mitgefühl oder Freundschaftsgefühle, nicht nur moralischen Wert haben, sondern oft sogar lobenswerter sein können als eine ‚kalte‘ Berufung auf die Pflicht oder etwas ähnlich Abstraktes wie die Moralgesetze. Aber Kant stellt die Dauerhaftigkeit und die Verlässlichkeit des reinen Gefühls in Frage, und auf diesem Gebiet sind noch beachtliche Diskussionen im Gange. 2. Die Psychologie und das moralische Urteil Ein weiterer Diskussionspunkt wurde kürzlich von den Moralpsychologen und Ethikern aufgegriffen, nämlich die Relevanz so genannter ‚moralischer Gefühle‘ für das moralische Urteil. Einige Philosophen sind der Auffassung, dass die Geltung einer Moraltheorie teilweise davon abhängt, ob die Menschen zu einem Schuldgefühl neigen, wenn sie die Vorgaben dieser Theorie verletzen. Andere dagegen meinten, dass es Situationen gibt, wo die Übernahme von Schuld unvermeidlich ist, obwohl tatsächlich kein Hinweis auf ein Fehlverhalten vorliegt. Nun wird manchmal argumentiert, dass die Frage, ob die Schuld wegen einer Handlung angemessen oder gerechtfertigt ist, von der Frage zu trennen ist, ob diese Handlung wirklich moralisch falsch war (Greenspan, 1988). Ist es beispielsweise richtig, sich wegen der Verletzungen schuldig zu fühlen, die man einem anderen in einem Verkehrsunfall zugefügt hat, für die aber vollständig der Fehler eines anderen ursächlich ist? Wieder andere Philosophen versuchen die moralischen Gefühle mit der Moral durch die Behauptung zu verknüpfen, dass die Unausrottbarkeit unsere Gefühle der Angst oder der Feindseligkeit eine Art von Grundlage oder Fundament für die menschlichen Urteile über die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit, über das Lobenswerte und das Vorwerfbare liefern (siehe Moral und Gefühle; Moralisches Empfinden). Hinzu kommt, dass Moralpsychologen sich um verschiedene Formen des situationsbezogenen Moralversagens bemühen, wie z.B. die Selbsttäuschung und die Willensschwäche (siehe Akrasie). Bereits die Existenz solcher Phänomene wird häufig aufgrund ihres paradoxen Charakters in Frage gestellt. Wenn jemand moti1247
Moralpsychologie
viert ist, sich selbst über eine wichtige Angelegenheit zu betrügen, beispielsweise über die Bedürfnisse der eigenen Kinder, wie kann er dann überhaupt wissen – solange er nicht weiß, was es heißt, sie selbst zu betrügen – in welchem Fall er sich wirklich selbst betrogen hat? Ähnliches gilt für die Willensschwäche: wenn die moralische Willensschwäche oder die Willensschwäche im Allgemeinen bedeutet, dass jemand sich seinem Zorn oder seiner Leidenschaft überlässt, die ihn zu Handlungen führt, die er dann gegen besseres Wissen ausführt, so ist es keineswegs selbstverständlich, unser Verständnis des Geschehenen dahingehend umzudeuten, dass die Gründe für den Zorn oder die Leidenschaft unsere Sinne für das verzerren, was in Wirklichkeit das Beste für jemanden wäre. In diesem Falle wäre die Frage, ob bzw. wie derjenige überhaupt gegen sein – und sei es auch nur augenblickliches – besseres Wissen gehandelt hat. Sowohl die Willensschwäche, als auch der Selbstbetrug sind daher inhärent problematisch, und die Moralpsychologie sucht nach Wegen, diesen Phänomenen entweder einen Sinn zu geben, oder sie als definitiv inkohärent und damit für unmöglich zu erklären (siehe beispielsweise Pears 1984). Jeder dieser ‚Lösungen‘ hat Folgen für die moralische Bewertung von Handlungen und Wünschen. Wenn der Selbstbetrug möglich ist, was für ein Vorwurf folgt dann daraus, wenn dieses Verhalten schlechte Folgen hat, z.B. die Vernachlässigung von Kindern? Sollte es als vorsätzliche, intentionale Handlung aufgefasst werden? Wenn aber die Selbsttäuschung gar nicht möglich ist, haben Maskeraden dann als absichtliches Fehlverhalten zu gelten und sind vielleicht sogar vorwerfbarer, als es zunächst aussieht (siehe Selbsttäuschung, Ethik der)? Und auch, wenn die Willensschwäche gar nicht möglich ist, werden wir viele Fälle, bei denen wir bisher geneigt wären, sie zumindest teilweise infolge von Willensschwäche zu entschuldigen, als solche ansehen, bei denen der Akteur in Wirklichkeit psychologisch gezwungen war, falsch zu handeln, oder aber vielleicht für einen Moment sich nicht des Unterschiedes zwischen richtig und falsch bewusst war. Solche Schlussfolgerungen haben Folgen für die Art und die Schwere des Vorwurfs und der Bestrafung, die sich gegen jene richten, die zunächst nur willenschwach erschienen. Ein weiterer Fragenkreis der Moralpsychologie ergibt sich innerhalb jener Tradition der Moraltheorie, die als Tugendethik bekannt ist, und wo Fragen der Moralpsychologie als wesentlich für unser Verständnis der richtigen oder falschen Handlung betrachtet werden (siehe Tugendethik). Daher bestreitet die aristotelische Tugendethik, statt die Moral auf moralischen Regeln oder der Bewirkung ‚guter Konsequenzen‘ aufzubauen, die Möglichkeit der universellen moralischen Regeln und betrachtet das tugendhafte Individuum als eines, das intuitiv wahrnimmt, was in verschiedenen Situationen richtig oder edel ist, und das sich folglich recht mühelos entsprechend verhält. Diesbezüglich entwickelte die aristotelische Tradition der Tugendethik die Idee der moralischen Richtigkeit in gewissem Umfange indirekt, indem sie sich auf den Charakter, die Gewohnheiten und Fähigkeiten des tugendhaften Individuums konzentrierte, das dem Richtigen im Denken und Handeln folgt. Darüber hinaus gibt es eine noch radikalere Tradition der Tugendethik, in der die moralische Bewertung von Handlungen und Moralregeln direkt aus der Typisierung der guten und schlechten Handlungen abgeleitet wird, und wie sich diese in den Handlungen einer Person ausdrücken oder realisieren. Das vielleicht bekannteste historische Beispiel eines solchen Ansatzes findet man in Platons ‚Staat‘ (4. Buch), 1248
Morus, Thomas (1477–1535)
wo es heißt, dass gute Handlungen diejenigen sind, die die Gesundheit und Harmonie der Seele stärken oder unterstützen (siehe Platon, § 14). Ein jüngeres und ‚reines‘ Beispiel – weil es sich auf keinerlei Form irgendeines Guten beruft – findet man in James Martineaus ‚Types of Ethical Theory‘. Martineau ordnet alle menschlichen Beweggründe auf einer absoluten Skala ein, z.B. ist das Mitgefühl über dem Ehrgeiz angesiedelt, und das Letztere noch über dem sexuellen Wunsch, und Letzteres wiederum noch über der Rachlust. Er behauptet, dass richtiges Handeln jenes ist, dass dem jeweils höheren oder sogar höchsten Beweggrund entspringt, der in einer gegebenen Situation der moralischen Wahlentscheidung wirksam ist. Dies lässt wiederum moralische Daumenregeln zu, die aus Verallgemeinerungen darüber abgeleitet werden, welche Beweggründe wahrscheinlich in den unterschiedlichen und moralisch vertrauten Situationen wirksam sind. Diese unterschiedlichen tugendethischen Ansätze bringen die Moralpsychologie mitten ins Zentrum der Ethik. Für die voraussehbare Zukunft wird die Hauptrolle der Moralpsychologie allerdings darin bestehen, eine Disziplin zu sein, die eher als Hilfswissenschaft der Moraltheorie fungiert, und nicht in deren Zentrum steht. Anmerkungen und weitere Lektüre: Greenspan, P. (1988): ‚Emotions and Reasons: An Inquiry into Emotional Justification‘. New York: Routledge. (Eine umfängliche Prüfung des rationalen Status der Gefühle.) Pears, D. (1984): ‚Motivated Irrationality‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine ausgedehnte Analyse der Willensschwäche und anderer Formen der Irrationalität.) MICHAEL SLOTE
Morus, Thomas (1477–1535)
Thomas Morus war ein klassischer biblischer und patristischer Gelehrter und Autor von Büchern verschiedener Genres. Ferner war er Rechtsgelehrter und wurde sogar Lordkanzler. Er war ein Humanist, der nach dem Zeugnis von Erasmus ‚zur Freundschaft geboren‘ war; er verlor seine erste Frau und heiratete erneut, worauf er sich allerdings nicht entscheiden konnte, welche von beiden Frauen er mehr liebte; er war ein Vater, der eine ‚Schule‘ mit den besten Lehrern in seinem Haus einrichtete, so dass seine Töchter dieselbe formale Ausbildung erhielten wie sein Sohn, was den Mädchen seiner Zeit ansonsten verwehrt war. Er war aber auch ein Märtyrer, der sich weigerte, Heinrich VIII. als Kirchenoberhaupt in England anzuerkennen und dafür von jenem König enthauptet wurde, den er selbst gegen Luther verteidigt hatte. Mit seinem Buch ‚Utopia‘ prägte er ein Wort großer visionärer Kraft und inspirierte zahllose nachfolgende Autoren, sich sowohl die idealen, als auch die nichtidealen Gesellschaften vorzustellen und zu beschreiben. Siehe auch: Erasmus; Humanismus in der Renaissance CLARE M. MURPHY
Moses Ben Maimon
Siehe: Maimonides, Moses
Moses Maimonides
Siehe: Maimonides, Moses
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Motoori Norinaga (1730-1801)
Motivation, Moralische
Siehe: Moralische Motivation
Motoori Norinaga (1730–1801)
Motoori Norinaaga war eine Schlüsselfigur in Japans ‚Heimatstudien‘ bzw. einer Bewegung namens ‚Nationales Lernen‘ (‚kokugaku‘). Als vollendeter Philologe half er bei der Entzifferung der sehr eigenen Orthographie der Chronik der japanischen Geschichte und Mythen, den ‚Kojiki‘ (dt. etwa: ‚Berichte alter Angelegenheiten‘). Dies war wiederum Teil seines weiter gefassten akademischen Projekts einer Definition des Wesens der antiken japanischen Empfindsamkeit namens ‚Herzund-Geist‘ (‚kokoro‘). Hierin artikulierte er eine einflussreiche religiöse Philosophie des Shintō und einen Rahmen der traditionellen japanischen Werte, die er vor allem als emotivistisch und ästhetisch auffasste. Siehe auch: Japanische Philosophie; Shintō THOMAS P. KASULIS
Mozi (5. Jahrhundert v.Chr.)
Mozi war der erste Philosoph, der die Ideen des Konfuzius in Frage stellte. Akademische Diskussionen konzentrierten sich auf die Frage, ob Mozi ein ‚weicher‘ oder ein ‚harter‘ Utilitarist, ein ‚Handlungs‘- oder ein ‚Regelutilitarist‘ sei, und ob er ein ‚Sprachutilitarist‘ war oder ob er die religiöse Autorität eher in einen personalisierten Himmel im Zentrum seines Systems verschob. Er ist erwähnenswert, weil er der erste Denker war, der eine dreiteilige Methodik zur Verifikation von Erkenntnisansprüchen entwickelte, und auch für seine Angriffe auf die konfuzianische Betonung des Rituellen und der Zentralität der Familie als der Basis allen sozialen und politischen Handelns. Siehe auch: Chinesische Philosophie; Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Mohistische Philosophie ROBIN D.S. YATES
Multikulturalismus
Die multikulturalistische politische Philosophie erkundet Wege der geeigneten Anpassung kultureller Vielgestaltigkeit. Öffentliche politische Maßnahmen haben oft unterschiedliche Konsequenzen für Mitglieder unterschiedlicher kultureller Gruppen. Beispielsweise betrifft die Wahl der Amtssprache eines Landes in Anbetracht der Wichtigkeit der Sprache für eine Kultur und der Rolle des modernen Staates in vielen Lebensbereichen unterschiedliche Menschen auf sehr unterschiedliche Weise. Ähnliche Fragen ergeben sich hinsichtlich des kulturellen Inhalts der Ausbildung und der Strafgesetze, sowie bei der Wahl der öffentlichen Feiertage. Um eine Politik zu vermeiden, die unfaire Lastenverteilungen dieser Art zur Folge hat, unternimmt die multikulturalistische Theorie abstrakte Untersuchungen vor, die sich mit solchen Fragen wie der Beziehung zwischen einer Kultur und dem individuellen Wohlbefinden oder mit der Beziehung zwischen der persönlichen Kultur eines Menschen und den geeigneten Maßstäben zu ihrer Beurteilung beschäftigen. Der Multikulturalismus wirft auch entsprechende Fragen für die Demokratietheorie auf. Die jeweilige Kultur kann für eine Entscheidung über eine angemessene Gliederung demokratischer Institutionen wichtig sein, oder auch für die Gestaltung spezieller Mechanismen zur Repräsentation von Minderheiten innerhalb solcher Institutionen. Jede dieser Fragen wird im Zusammenhang von Kulturen noch schwieriger, die die 1250
Murdoch, Iris (1919–1999)
Forderungen der Freiheit und Gleichheit ablehnen. Die Herausforderung an die Philosophie ist es hier, eine grundsätzliche Denkweise über diese Fragen zu entwickeln. Siehe auch: Staatsbürgerschaft; Kultur ARTHUR RIPSTEIN
Murdoch, Iris (1919–1999)
Iris Murdoch war eine Moralphilosophin in Oxford, und eine fruchtbare Romanautorin. Ihre Philosophie ist von einem starken Sinn für die moralische Bedeutung unseres inneren Lebens gekennzeichnet, d.h. die Qualität unseres Sehens, Fühlens und Vorstellens ist bedeutsam sowohl an sich selbst, als auch als Hintergrund unseres aktiven Lebens. Moralische Bemühungen, so glaubte Murdoch, bestehen hauptsächlich in dem Kampf gegen unseren natürlichen Egoismus. Sie dachte, die Ethik sollte die Techniken dieses Kampfes diskutieren, wobei sie sich insbesondere für die Rolle interessierte, die die Kunst in diesem Zusammenhang spielen könnte. Sie beharrte auf der irreduziblen Pluralität des moralischen ‚Kraftfeldes‘ und entwickelte keine eigene Moraltheorie. Sie glaubte allerdings auch, dass die moralische Erfahrung von einem Gefühl der Einheit beseelt ist. Ihr ganzes Denken kreiste um diese Spannung. Infolge ihrer Inspiration durch Platon bezog sie sich auf diese Einheit als ‚Gott‘ und verstand sie als eine entfernte, vollkommene Wirklichkeit, die sich in unvollkommenen Menschen als eine verblüffende, aber förmlich ‚magnetische‘ Kraft darstellt. Die Phänomene und Probleme, die Murdochs Interesse erregten, wurden auch in ihren Romanen erkundet, obwohl sie darauf beharrte, dass sie keine philosophische Romanautorin sei. Siehe auch: Egoismus und Altruismus; Ethik; Freier Wille; Guten, Theorien des; Kunst und Moral; Moral und Gefühl; Moralischen Empfindens, Theorie des; Moralischer Realismus; Platon; Rechte; Religion und Moral; Tatsache und Wert, Unterscheidung von; Tugendethik; Tugenden und Laster; Utilitarismus; Weil, Simone THOMAS NORGAARD
Musik, Ästhetik der
Die Ästhetik der Musik (oder auch: musikalische Ästhetik) umfasst die philosophische Reflexion des Ursprungs, des Wesens, der Macht, des Zwecks, der Erschaffung, der Aufführung, der Aufnahme, der Bedeutung und des Wertes der Musik. Einige ihrer Fragestellungen sind allgemeine Probleme der Ästhetik, die in einen musikalischen Zusammenhang gestellt werden, beispielsweise jene des ontologischen Status des musikalischen Kunstwerks in der Musik. Andere Probleme sind mehr oder weniger nur solche der Musik, so dass sie keine klare Parallele zu anderen Kunstformen aufweisen. Was ist z.B. das Wesen des Gefühls, das durch die Musik erregt wird, oder wie kann die Vermischung von Musik und Worten am besten dargestellt werden? Versuche zur Definition des Begriffes der Musik beginnen im Allgemeinen mit der Tatsache, dass die Musik Klänge mit sich bringt, gehen aber auch von solchen Dingen wie einer kulturellen Tradition, der Erfüllung der Ziele eines Komponisten oder dem Ausdruck von Gefühlen als wesentlichen musikalischen Merkmalen aus. Vielleicht muss aber jeder plausible Begriff der Musik auch, im weitesten Sinne, die Erzeugung von Klängen durch Menschen zum Zwecke ihrer ästhetischen Wertschätzung mit einbeziehen. Durch die Entscheidung, was mit einem musikalischen Kunstwerk gemeint ist, kommen weitere Überlegungen ins Spiel, die zur Identi1251
Musik, Ästhetik der
fikation solcher Werke mit Klangstrukturen, die von bestimmten Komponisten in gewissen musikhistorischen Kontexten definiert wurden, führen können. In welchem Sinne kann man sagen, dass ein Musikstück eine Bedeutung habe? Einige meinen, dass diese Bedeutung nur ‚interner‘ Art sei, d.h. in seiner Struktur als einem Arrangement z.B. von Melodien, Harmonien, Rhythmen und Klangfarben bestehe, während andere behaupteten, dass seine Bedeutung in der Mitteilung von etwas liege, das selbst nicht etwas an sich Musikalisches sei, wie z.B. Gefühle, Haltungen oder das tiefere Wesen der Welt. Die populärste dieser Anschauungen ist diejenige, dass die Musik Gefühle ausdrückt. Dies heißt allerdings nicht, dass das in einem Kunstwerk ausgedrückte Gefühl notwendig von denen erlebt wird, die an seiner Komposition oder Aufführung beteiligt waren: Komponisten können friedvolle oder furiose Musik komponieren, ohne sich selbst in diesen Zuständen zu befinden, und dasselbe gilt für die Aufführung solcher Musik auf Seiten der Aufführenden. Auch scheinen die Gefühle, die in Zuhörern erweckt werden, anderer Natur zu sein als diejenigen, die direkt erfahren werden: negative Emotionen, die durch Musik ausgedrückt werden, schließen eine Wertschätzung durch das Publikum keineswegs aus, und tatsächlich werden solche Gefühle in der Regel vermittelt. Und schließlich sollte der Ausdrucksgehalt eines Werks als etwas angesehen werden, was in direktem Zusammenhang mit dem Hören dieses Werks steht. Von der Musik heißt es oft, sie beziehe ihren Wert vor allem daher, dass sie schön sei, wobei ihre Schönheit als das verstanden wird, was dem Hörer auf irgendeine Weise einen Genuss oder Lust verschafft. Aber die Ausdrucksqualität eines Werks, d.h. seine Tiefe, seine Reichhaltigkeit und Subtilität etc. bildet offenbar ebenfalls einen wichtigen Teil eines jeden Werturteils, das wir über das Werk fällen. Siehe auch: Gefühl als Antwort auf Kunst; Gurney, E.; Hanslick, E.; Künstlerischer Ausdruck; Kunstwerks, Ontologie des; Langer, S.K.K.; Oper, Ästhetik der JERROLD LEVINSON
Mystizismus, Jüdischer Siehe: Kabbalah
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N Nachhaltigkeit
Die Nachhaltigkeit ist die Eigenschaft einer Tätigkeit, einer Gewohnheit, eines Prozesses oder einer Institution, derzufolge sie die Fähigkeit aufweisen, auf mehr oder weniger dieselbe Art und Weise unendlich fortgesetzt zu werden. Der Begriff gelangte in den vergangenen Jahren zu gewisser Prominenz als Antwort darauf, dass den Menschen klar wurde, dass die fortgesetzte soziale und wirtschaftliche Entwicklung unter Umständen nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn man die beispiellosen Umweltveränderungen ins Auge fasst, die sie mit sich bringt. Eine Entwicklung ‚nachhaltig’ zu gestalten heißt in den Worten des Brundtland Berichts1, „[…] dass die jeweils gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihrerseits ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können“. Der Bericht sagt ferner: „Eine zukunftsfähige Entwicklung ist ein Prozess der Veränderung, in dem die Nutzung der Ressourcen, die Struktur der Investitionen, die Orientierung des technischen Fortschrittes und die institutionellen Strukturen in einem konsistenten Verhältnis zu den zukünftigen und den gegenwärtigen Bedürfnissen stehen.“ Die darin zum Ausdruck kommenden Vorgaben werden weithin als eine Anweisung zur Erfassung und Integration einer Reihe existierender, sozialer und politischer Ziele (Gerechtigkeit, Linderung von Armut und Umweltschutz) verstanden. Im Anschluss an die Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahre 1992 sind dies nunmehr weltweit die erklärten Ziele lokaler und nationaler Regierungen, sowie jene einer Vielzahl von Wirtschafts- und Nicht-Regierungsorganisationen. In Anbetracht ihrer behaupteten praktischen Bedeutsamkeit wurde sehr viel intellektuelle Bemühung zur Entwicklung einer machbaren Konzeption der Nachhaltigkeit für politische Zwecke aufgewandt. Wirtschaftliche und ökologische Modelle des Begriffs wurden entwickelt und auch kritisiert. Seit kurzem konzentriert sich die Aufmerksamkeit mehr auf die politischen und institutionellen Dimensionen des Problems. Siehe auch: Bevölkerung und Ethik; Technologie und Ethik; Umweltpolitik, Philosophie der; Wirtschaft und Ethik ALAN HOLLAND
Næss, Arne (1912–)
Als Professor der Philosophie in Oslo zwischen 1939 und 1970 trug Arne Næss zur Stärkung der Position der Philosophie im norwegischen akademischen Leben bei. Während der deutschen Besatzungszeit (1940–1945) spielte er eine aktive Rolle in der Widerstandsbewegung. In den 1940er und 1950er Jahren war er Inspirationsquelle und Zentrum einer Gruppe von Studenten der Philosophie und Sozialwissenschaften, der sog. ‚Osloer Schule‘, deren Mitglieder in der späteren Entwicklung dieser Fachgebiete Einfluss erlangten. Sein philosophisches Denken durchlief eine frühe ‚szientistische‘ Periode des radikalen Empirismus, ging dann über in ‚possibiAls Brundtland-Bericht wird der 1987 veröffentlichte Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung bezeichnet. Er erhielt seinen Namen von der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin G. H. Brundtland, die in dieser Kommission den Vorsitz innehatte. Der Bericht ist für seine Definition des Begriffs der ‚nachhaltigen Entwicklung’ bekannt.
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Nagel, Ernest (1901–1985)
listische‘ und pluralistische Auffassungen und mündete schließlich in einen undogmatischen Skeptizismus. Nachdem er seinen Lehrstuhl 1970 aufgegeben hatte, wurde er zum Protagonisten einer bestimmten Fassung der ökologischen Philosophie, die sich als ‚Tiefenökologie‘ bezeichnete. Er war immer ein Bewunderer von Spinoza und fand im Spinozismus auch Anregungen für seine ökologische Philosophie. Siehe auch: Umweltphilosophie INGEMUND GULLVÅG
Nagel, Ernest (1901–1985)
Ernest Nagel war vielleicht der herausragendste amerikanische Wissenschaftsphilosoph in den Jahrzehnten von 1930 bis 1960. Er lehrte praktisch sein gesamtes Berufsleben an der Columbia University. Obwohl er mit Bertrand Russell und Mitgliedern des Wiener Kreises den Respekt vor und die Empfänglichkeit für Entwicklungen der Mathematik und der Naturwissenschaften teilte, unterstützte er eine Denkrichtung von Charles S. Peirce und John Dewey, die Nagel selbst ‚kontextuellen Naturalismus‘ nannte. Zu den Hauptmerkmalen dieses kontextuellen Naturalismus zählt sein Misstrauen gegenüber reduktionistischen Ansprüchen, die nicht das Ergebnis naturwissenschaftlicher Untersuchungen sind. Nagels kontextueller Naturalismus ging in seine einflussreichen, detaillierten und sehr informierten Aufsätzen über die Wahrscheinlichkeit, die Erklärung in den Natur- und den Sozialwissenschaften, das Messen, die Geschichte der Mathematik und die Rechtsphilosophie ein. Er zeigt sich auch in seiner schneidenden Kritik beispielsweise der Russellschen Rekonstruktion der äußeren Welt und von Russells Erkenntnislehre, sowie auch der Kritik verwandter Ansichten, die von Zeit zu Zeit von Mitgliedern des Wiener Kreises unterstützt wurden. Siehe auch: Logischer Positivismus ISAAC LEVI
Nagel, Thomas (1937–)
Thomas Nagels umfassende Herangehensweise an die Philosophie hebt ihn aus dem Kreis der analytischen Philosophen des späten 20. Jahrhunderts heraus. Nagel entwickelte eine zwingende Analyse der grundlegenden philosophischen Probleme, indem er zeigt, wie sie sich aus unserer Fähigkeit ergeben, in zunehmendem Umfange objektive Standpunkte einzunehmen, die uns aus unserer individuellen und subjektiven Auffassung unserer sozialen Gemeinschaft, Nation und Spezies herauslösen. Unsere wesentliche duale Natur, die uns erlaubt, sowohl objektive, als auch subjektive Standpunkte zu beziehen, stellt uns vor unlösbare Probleme, weil subjektive und objektive Standpunkte auf miteinander konfligierenden Tatsachen und Werten beruhen. Unsere Fähigkeit zur Einnahme zunehmend abgelöster Standpunkte, durch die objektive Tatsachen in unser Blickfeld kommen, zeigt, dass wir Bestandteile einer Welt sind, die unseren Geist transzendiert, d.h. seine Grenzen überschreitet. Auf ähnliche Weise bringt unsere Fähigkeit zur Prüfung unserer Werte und Gründe von einem abgehobenen oder unparteiisch-objektiven Standpunkt es mit sich, dass moralische Werte in dem Sinne wirklich werden, dass sie die Grenzen unserer persönlichen Beweggründe und Neigungen überschreiten. Doch Nagel meint auch, dass unsere Fähigkeit zum objektiven Denken durch die Tatsache beschränkt ist, dass wir uns nicht selbst vollständig von unserer eigenen Natur lösen können, wenn wir versuchen, entweder unsere Welt zu erkennen oder moralisch zu handeln. Subjektive 1254
Nation und Nationalismus
Tatsachen sind ebenso ein Teil der Wirklichkeit, und unsere moralische Anschauung ist im Wesentlichen die individueller Akteure mit persönlichen und gemeinschaftsbezogenen Bindungen. Als Folge hiervon wendet sich Nagel gegen jede Form des Reduktionismus, der behauptet, dass nur objektive Tatsachen und Werte wirklich seien, oder der versucht, subjektive Tatsachen und Werte als objektive zu erklären. Siehe auch: Reduktion, Probleme der SONIA SEDIVY
Namen
Siehe: Eigennamen
Nation und Nationalismus
Niemand, der heutzutage die politischen Ereignisse der Welt beobachtet, kann die fortgesetzte Macht des Nationalismus leugnen. Viele der verworrensten Konflikte entstehen dadurch, dass eine nationale Gemeinschaft sich von einer anderen zu lösen versucht, oder wenn zwei solcher Gemeinschaften auf dasselbe Territorium Anspruch erheben. Für Außenstehende ist die Grundlage solcher Konflikte häufig rätselhaft. Die Menschen sind bereit, für ihre Nation zu kämpfen und zu sterben; doch was ist eigentlich genau diese ‚Nation‘, die angeblich eine solche Treue einfordert? Warum soll es so bedeutend sein, dass eine Person von Menschen regiert wird, die einer bestimmten Gemeinschaft und nicht einer anderen entstammen? Die Philosophen sind oft geneigt, den Nationalismus als etwas zu verwerfen, was keine rationale Grundlage hat, sondern nur auf Stammesinstinkten und rohen Gefühlen beruht. Eine solche Reaktion übersieht die unterschiedlichen Formen des Nationalismus; insbesondere der Gegensatz zwischen dem autoritären Nationalismus, der es zulässt, dass nationale Kulturen mit Gewalt auch gegenüber Fremden durchgesetzt werden, und der Aggressionen gegen Nachbarn rechtfertigt, und andererseits dem liberalen Nationalismus, der die individuellen Freiheitsrechte zur Bildung politischer Gemeinschaften jener, die sich mit ihm identifizieren, erhält und ihre gemeinsame Kultur schützt. Wir müssen sorgfältig die jeweiligen Argumente prüfen, die von nationalistischen Denkern vorgetragen werden, um entscheiden zu können, welche Form von Nationalismus, wenn überhaupt, rational vertretbar ist. Siehe auch: Globalisierung; Staat, Der DAVID MILLER
Nativismus
Der Nativismus ist die Lehre von den angeborenen kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Die traditionelle Auffassung lautet, dass der Geist von vornherein nur mit der Fähigkeit zur Erfahrung und dem Mechanismus ausgestattet ist, der es uns ermöglicht, aus der Erfahrung zu lernen. Die Nativisten wandten dagegen ein, dass dies nicht genug sein kann, und dass darum unsere angeborene Ausstattung wesentlich umfangreicher sein muss, d.h. dass sie auch Informationen, Ideen, Überzeugungen, vielleicht sogar Erkenntnisse umfasst. Der Empirismus behauptete dies noch bis vor kurzem, teilweise wegen einer falschen Identifikation des Nativismus mit dem Rationalismus. Die Rationalisten wie z.B. Descartes und Leibniz dachten, der Nativismus würde erklären, wie apriorisches Wissen notwendiger Wahrheiten möglich ist. Die Tatsache, dass etwas angeboren ist, sagt aber noch nichts darüber aus, ob dieses Angeborene auch wahr ist, ganz zu schweigen davon, ob es notwendig oder apriorisch ist. 1255
Natürliche Arten
In jüngerer Zeit wurde der Nativismus durch Chomskys Behauptung wieder belebt, demzufolge Kinder über eine angeborene, sprachspezifische Information verfügen müssen, die den Erwerb ihrer Muttersprache vermittelt. Er argumentierte, dass in Anbetracht der empirisch gewöhnlichen Lernprozesse die einem Kind verfügbaren Sprachinformationen nicht zur vollständigen Bestimmung der grammatischen Regeln genügen, zu der sie in einem sehr frühen kindlichen Entwicklungsstadium in dessen Auffassung von der Sprache zusammenlaufen. Vielmehr lernen die Kinder eine Sprache mit relativ geringem Aufwand und wenig Einweisung. Erfolge in der Linguistik führten zu fruchtbaren Forschungen über den Nativismus in anderen Bereichen des menschlichen Wissens, beispielsweise in der Arithmetik, dem Wesen physischer Gegenstände, den Merkmalen von Personen und dem allgemeinen Besitz von Begriffen. JERRY SAMET
Natorp, Paul
Siehe: Neukantianismus
Natürliche Arten
Gegenstände, die zu einer natürlichen Art gehören, bilden eine Gruppe von Gegenständen, die irgendeine theoretisch wichtige Eigenschaft gemeinsam haben. Beispielsweise bilden Hasen eine natürliche Art, alle Goldproben eine weitere etc. Natürliche Arten stehen im Gegensatz zu willkürlichen Gruppen von Gegenständen wie z.B. die Inhalte von Abfalleimern oder Juwelensammlungen. Letztere haben keine theoretisch wichtige Eigenschaft gemeinsam: sie haben kein vereinheitlichendes Merkmal. Natürliche Arten liefern ein System zur Klassifizierung von Gegenständen. Wissenschaftler können dieses System dann zur Voraussage der Erklärung des Verhaltens solcher Gegenstände nutzen. Aus diesem Grunde ist der Begriff der natürlichen Arten von besonderem Interesse für die Metaphysik, aber auch für die Wissenschaftsphilosophie. Siehe auch: Masseausdrücke; Referenz CHRIS DALY
Natürliche Deduktion, Tableau- und Sequenzkalküle
Unterschiedliche Darstellungen der Prinzipien der Logik spiegeln unterschiedliche Herangehensweisen an den Gegenstand selbst. Die drei Arten von Systemen, die hier diskutiert werden, behandeln als die Grundlage der Logik nicht die logische Wahrheit, sondern die Konsequenz, d.h. die Beziehung, die in einem wahren Schluss zwischen seinen Prämissen und der Konklusion besteht. Sie werden jedoch von unterschiedlichen Konzeptionen dieser Beziehung getragen. Die natürlichen Deduktionsregeln sind zur Formalisierung des Weges gedacht, auf dem die Mathematiker ihre Beweise begründen. Tableausysteme spiegeln die semantische Konzeption der Schlussfolgerung; ihre Regeln können als die systematische Suche nach einem Gegenbeispiel für einen Beweis verstanden werden. Und die Sequenzkalküle wurden schließlich wegen ihrer mathematischen Eigenschaften entwickelt. Alle drei Systeme verwenden Regeln statt Axiome. Jede logische Konstante wird von einem Regelpaar geleitet, das nicht die anderen Konstanten mit einbezieht, wobei die beiden Regeln in gewisser Weise in einem Umkehrverhältnis zueinander stehen. Man nehme beispielsweise den Implikationsoperator ‚→‘. In der natürlichen Deduktion gibt es eine Einführungsregel für ‚→‘, die eine hinreichende Bedingung 1256
Natur des Menschen
für den Schluss aus einer Implikation setzt, sowie eine Tilgungsregel, die die stärkste Schlussfolgerung liefert, die aus einer Prämisse geschlossen werden kann, die ihrerseits die Form einer Implikation hat. Tableausysteme enthalten eine Regel, die eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit einer Implikation enthält, sowie eine weitere Regel, die eine hinreichende Bedingung für ihre Falschheit darstellt. Eine Sequenz ist ein Feld Γ |– Δ, wobei Γ und Δ Listen oder Mengen von Formeln sind. Sequenzkalküle weisen Regeln zur Einführung der Implikation auf der linken Seite des ‚|–‘ - Zeichens im Verhältnis zur rechten Seite dieses Zeichens aus. Die Konstruktion von Ableitungen oder ‚Tableaus‘ in diesen Systemen ist oft bündiger und intuitiver als in axiomatischen Systemen, und Fassungen aller drei Systeme haben Eingang in die Einführungstexte zur Logik gefunden. Darüber hinaus kann eine natürliche Deduktion oder eine sequentielle Ableitung direkter durchgeführt werden, indem man sie in eine ‚Normalform‘ überführt. Im Falle des Sequenzkalküls ist dieses Ergebnis als das sog. ‚Schnitteliminations-Theorem‘ bekannt. Dieses wurde umfassend in der Mathematik angewandt, im bekanntesten Falle zur Durchführung von Konsistenzprüfungen. Die semantische Anregung zur Konstruktion der Tableau-Regeln geht von einem sehr eingängigen Beweis der klassischen Vollständigkeit aus, der auch auf das Sequenzkalkül angewandt werden kann. Die Einführungs- und Eliminationsregeln der natürlichen Deduktion sind intuitionistisch gültig und führen zum Vorschlag einer alternativen Semantik, die auf einer Konzeption der Bedeutung als Verwendung aufbaut. Die Idee lautet hier, dass die Bedeutung einer jeden logischen Konstanten sich abschließend aus ihrem Schlussverhalten ergibt. Sie kann daher durch ihre Einführungs- und Eliminationsregeln beschrieben werden. Obwohl sich die obige Diskussion auf die intuitionistische und klassische Logik erster Ordnung beschränkt, wurden verschiedene andere Logiken ebenfalls als Sequenzkalküle, natürliche Deduktionen und sogar als Tableausysteme formuliert: beispielsweise die modalen Logiken, die Relevanzlogik, die infinitistische Logik und Logiken höherer Ordnung. Man gewinnt ein größeres Verständnis der Rolle der logischen Konstanten, das sich auf der Formulierung der Einführungs- und Eliminationsregeln (oder der Rechts- und Linksregeln) für sie ergibt. Einige Autoren haben sogar vorgeschlagen, dass man in der Lage sein muss, einen Operator so darzustellen, damit dieser überhaupt als logischer Operator gelten kann. A.M. UNGAR
Natur des Menschen Einführung Jede politische Philosophie sieht irgendeine Auffassung von der Natur des Menschen als selbstverständlich an, und jede Auffassung von der Natur des Menschen ist strittig. Politische Philosophen haben auf diese schwierige Frage auf unterschiedliche Weise reagiert. Einige haben spezifische Auffassungen von der Natur des Menschen verteidigt, während andere sich um die Entwicklung von politischen Philosophien bemühten, die mit vielen anderen Auffassungen über die Natur des Menschen vereinbar sind, oder die auf so wenig wie möglich strittigen Annahmen über die Natur des Menschen aufbauten. Einige politische Philosophen vertraten die Meinung, dass die Natur des Menschen etwas Unveränderliches sei, andere meinten, sie sei in verschiedenem Umfange durch die Kultur und die Umstände geformt. 1257
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Differenzen über die grundlegende Haltung der Menschen zueinander, d.h. ob sie selbstsüchtig, altruistisch oder irgendeine Kombination davon sei, wurde von wieder anderen Philosophen durchgespielt. Obwohl keine dieser Fragen bislang definitiv gelöst wurde, gelangen doch verschiedene Fortschritte dadurch, dass man sie systematisch durchdachte. Vier prominente Debatten behandeln folgende Themen: (1) die Unterschiede zwischen perfektionistischen Auffassungen, in denen die Natur des Menschen als formbar angesehen wird, und eingeschränkten Auffassungen, die dies nicht zugestehen; (2) der Streit zwischen den Polen der Natur einerseits und der Erziehung andererseits, die darin besteht, ob die Natur des Menschen eine Folge biologischer Entwicklung im Gegensatz zu jener der sozialen Einflüsse ist, und die Implikationen dieser Frage für die politische Philosophie; (3) der Gegensatz zwischen selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Konzeptionen der Natur und Motivation des Menschen , d.h. ob wir mehr durch unsere eigenen Daseinsbedingungen an sich selbst betroffen sind, oder aber durch Vergleiche zwischen unseren eigenen und fremden Daseinsbedingungen; und (4) Versuche, das philosophische Denken über die politischen Zusammenhänge von allen streitigen Annahmen über die Natur des Menschen überhaupt abzulösen. 1. Perfektionstische gegenüber eingeschränkten Auffassungen von der Natur des Menschen 2. Der Streit um den Einfluss der Natur bzw. der Erziehung 3. Selbstreferentielle gegenüber fremdreferentiellen Konzeptionen der Natur des Menschen 4. ‚Politische‘ gegenüber ‚metaphysischen‘ Konzeptionen der Natur des Menschen 1. Perfektionistische gegenüber eingeschränkten Auffassungen von der Natur des Menschen Der berühmteste Vertreter der perfektionistischen Auffassung von der Natur des Menschen ist Aristoteles, und seine am meisten ausgearbeitete Diskussion dieser Frage findet sich in der ‚Nikomachischen Ethik‘ (ca. 330 v.Chr.). Die von Aristoteles dort entwickelte Auffassung wird öfters als teleologisch bezeichnet, weil sie sich durch den Verweis auf einen grundlegenden Gegensatz zwischen einer ungebildeten oder rohen menschlichen Natur auf der einen Seite bezieht, und andererseits einer Natur des Menschen, wie sie sein könnte, wenn wir unsere wesentliche Natur oder unser telos (dt. in etwa: ‚Ziel‘, siehe Telos) verwirklichen würden. Die Ethik ist für Aristoteles die Wissenschaft, die uns lehrt, wie wir von dem einen Zustand zu dem anderen gelangen. Werden sie richtig angewandt, so bergen die ethischen Verhaltensvorschriften das Potenzial zur Umformung des Menschen von seinem rohen Zustand in die besten Seinsformen, die er nur werden kann. Obwohl es nach Aristoteles’ Auffassung genügend Bewegungsfreiheit und auch Notwendigkeit für die menschliche Natur gibt, sich zu entwickeln und zu verändern, ist seine Sichtweise doch eine naturalistische in dem Sinne, dass sowohl die Darstellung der rohen Natur, als auch jene der vervollkommneten Natur in einer philosophischen Psychologie wurzeln, d.h. in einer Theorie von der Natur der menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Naturalistische Auffassungen wer-
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den allgemein von antinaturalistischen Darstellungen unterschieden, in denen die Quellen der Bedeutungen und der Werte dem Menschen extern vorgegeben sind, sei es in Gestalt der platonischen Formen, transzendentaler Argumente über die Natur des Wissens und der Pflichten oder irgendwelcher anderer äußerer Ursprünge. In der antinaturalistischen Auffassung ist etwas gut oder richtig ohne Rücksicht auf wirkliche menschliche Bedürfnisse oder Wünsche, während für die Naturalisten der Graben zwischen ‚ist‘ und ‚sollte‘ durch eine Darstellung der menschlichen Bedürfnisse oder die Psychologie überbrückt wird (siehe Naturalismus in der Ethik). Der naturalistische Perfektionismus kann säkular oder theologisch begründet werden; tatsächlich stützten sich viele mittelalterliche christliche Aristoteliker auf eine Anpassung der Geschichte des Garten Eden, des Sündenfalls und der Möglichkeit der Erlösung an Aristoteles’ ethische Kategorien. Auf der anderen Seite ist der Marxismus eine säkulare Fassung des naturalistischen Perfektionismus. Für Marx sind die Menschen, wie wir sie erleben, von ihrem wahren ‚Selbst‘ entfremdet, und ihr Potenzial ist durch eine Vielzahl böswilliger Kräfte verkrüppelt. Aber diese Kräfte sind in gewisser Hinsicht künstliche Hindernisse der menschlichen Blüte, die man verstehen und letztlich überwinden kann, wodurch der Weg für eine authentische menschliche Entwicklung geebnet wird (siehe Entfremdung). Obwohl die perfektionistische Sichtweise naturalistisch oder antinaturalistisch sein kann, sind die sog. ‚eingeschränkten‘ Sichtweisen von der Natur des Menschen allesamt naturalistischer Art. Vertreter der eingeschränkten Sichtweise betrachten die Natur des Menschen als ein unveränderlich Gegebenes und meinen, dass soziale und politische Institutionen dies in Rechnung stellen müssen, darauf im Übrigen aber keinen Einfluss haben. Der vielleicht extremste Vertreter dieser Auffassung in der Geschichte der abendländischen Philosophie war Jeremy Bentham, der es zu einem Axiom seines utilitaristischen Systems erklärte, dass die Natur „die Menschheit unter die Führung zweier souveräner Meister gestellt hat, nämlich Schmerz und Lust“ (1948: 125). Für Bentham leitet uns die Suche nach Lust und die Vermeidung von Schmerz „in allem, was wir tun, in allem, was wir sagen, in allem, was wir denken: jede Bemühung, die wir nur unternehmen können, um uns dieser Unterwerfung zu entledigen, wird nur ihrer Demonstration und ihrer Bestätigung dienen“ (1948: 125). Bentham glaubte, dass das utilitaristische System, für das er eintrat, auf eine einzigartige Weise wissenschaftlich begründet sei, insofern es unsere unvermeidliche Unterwerfung unter das Kalkül von Lust und Schmerz bestätige. Obwohl Bentham eine der unverblümtesten und klarsten Darstellungen der eingeschränkten Auffassung von der Natur des Menschen gibt, ist diese doch keineswegs die erste oder gar einzige dieser Art in der Geschichte der abendländischen politischen Theorie. Die moderne Form solcher Auffassungen lässt sich mindestens bis auf Hobbes’ Insistieren darauf zurückverfolgen, contra Aristoteles, dass die Natur des Menschen streng fixiert sei. Für Hobbes (1651) sind Menschen unausweichlich von der vorherrschenden Todesangst getrieben, die in ihnen einen „ruhelosen Wunsch nach Macht und noch mehr Macht“ hervorruft. Grundlegende menschliche Impulse können in mehr oder weniger produktiven Formen kanalisiert werden, und bis zu einem gewissen Grade können die Menschen erzogen und ausgebildet werden, um zu sehen, dass eine bestimmte politische Loyalität in Anbetracht ihrer fundamentalen Antriebe besser ist als andere Impulse, doch die Impulse selbst lassen sich nicht verändern (siehe Hobbes, T., § 6). 1259
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Die Utilitaristen haben seit Bentham die Natur des Menschen allgemein als etwas Gegebenes betrachtet, das außerhalb der Tätigkeitsfelder der politischen und kulturellen Institutionen liegt. Selbst wenn die Utilitaristen sich untereinander stark unterschieden: was den Inhalt der Natur des Menschen angeht, und sogar darin, wie weit man überhaupt hoffen kann, etwas über ihn zu erfahren, haben sie doch allgemein Humes Diktum akzeptiert, dass die Vernunft der Sklave der Leidenschaften ist. Während Hume wie Bentham dachte, dass wir alle von denselben Leidenschaften und auf dieselbe Weise von ihnen getrieben werden, stellten neoklassizistische Utilitaristen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (so wie Pareto) diese Annahme in Frage und nahmen eine Sichtweise der Natur des Menschen ein, die vielleicht am deutlichsten durch den emotivistischen Philosophen Charles Stevenson in seiner Kritik an Hume ausgedrückt wurde: dass selbst dann, wenn wir alle überzeugt sind, dass alle Menschen von dem Bedürfnis nach irgendeiner Belohnung angetrieben sind, es doch immer noch keinen entscheidenden Grund zu glauben gibt, dass wir alle dieselben derartigen Bedürfnisse haben, oder auch nur, dass wir einsichtsvoll unterschiedliche Wünsche, die von verschiedenen Menschen unterschiedlich erfahren wurden, miteinander vergleichen können. Dies ist die übliche Sichtweise in der modernen Wirtschaft und den politischen Theorien der rationalen Wahl. Präferenzen stellt man sich als von außen her bestimmt vor, aber die Möglichkeit eines bedeutungsvollen, interpersonellen Vergleichs von Präferenzen zwischen Individuen wird bestritten (siehe Utilitarismus; Wirtschaftswissenschaft und Ethik). 2. Der Streit um den Einfluss der Natur bzw. der Erziehung Schon seit undenklicher Zeit diskutieren die Wissenschaftler und Philosophen über die Frage, ob die Natur des Menschen biologisch vorgegeben ist, oder ob sie das Ergebnis kultureller Kontingenzen bzw. historischer Umstände ist. Diese Debatten scheinen voll von politischer Bedeutung zu sein. Rousseau (§ 2) beispielsweise war der erste in einer langen Reihe politischer Theoretiker, die meinten, dass Hobbes’ politisches System auf einer Verwechslung einiger sehr enger gesellschaftlicher Merkmale, die das Produkt des englischen Lebens im 17. Jahrhundert waren, mit zeitlosen Merkmalen der Natur des Menschen beruht. Aus Rousseaus Sicht dachte Hobbes fälschlicherweise, dass der Impuls zur Selbsterhaltung unvereinbar wäre mit dem Wunsch zur Erhaltung anderer, und zwar „weil er fälschlich in die Sorge des Wilden um seine Selbsterhaltung das Bedürfnis nach Befriedigung einer Vielzahl von Leidenschaften gemischt [habe], die ein Produkt der Gesellschaft seien“ (‚Erster und Zweiter Diskurs‘). Rousseaus eigene Darstellung der Natur des Menschen wurde allerdings aus ganz ähnlichen Gründen kritisiert. Tatsächlich ist es in den modernen politischen Auseinandersetzungen üblich geworden, jede Behauptung über die Merkmale und Neigungen der Natur des Menschen, wie qualifiziert oder historisch begründet sie auch vorgetragen werden, in Frage zu stellen, indem man einwendet, dass die fraglichen Merkmale gesellschaftlich produziert oder sozial konstruiert werden. Solche Debatten können außerordentlich erhitzt geführt werden, wenn sie zu Diskussionen über die Determinanten der Intelligenz und solcher Dinge wie ethnischer, rassischer und geschlechterbezogener Unterschiede ausarten (siehe Soziobiologie). Der Streit um den Einfluss der Natur bzw. der Erziehung wird oft mit der Frage verwechselt, ob die Natur des Menschen nach menschlichen Entwürfen veränderbar 1260
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ist. Es heißt beispielsweise oft, dass ein großer Teil oder gar die gesamte Natur des Menschen sozial konstruiert und nicht natürlich vorgegeben sei, und dass man sie aus diesem Grunde nicht als unveränderlich betrachten könne. Tatsächlich mag der Umstand, ob ein gegebenes menschliches Merkmal das Produkt der Natur oder der Kultur ist, wenig mit dem Grad zu tun haben, zu dem es durch bewusste menschliche Eingriffe abänderbar ist. Auf der einen Seite gibt es viele Merkmale der natürlichen Welt, die die Menschen sehr wirksam verändert haben und dies in Zukunft noch mehr tun werden. Die Wissenschaft der genetischen Manipulation ist z.B. erst in ihren Anfängen. Auf der anderen Seite gibt es viele Stücke oder Aspekte der menschlichen Wirklichkeit, die unbestreitbar das Produkt menschlicher Handlungen sind, und wir scheinen ihnen gleichwohl vollkommen machtlos gegenüber zu stehen. Der Rassenhass mag beispielsweise anerzogen sein, aber es scheint fast unmöglich zu sein, den Betroffenen diese Haltung wieder abzugewöhnen, und selbst noch sie nur darin zu bremsen, diesen Hass auch noch an die nächste Generation weiter zu geben. Es heißt manchmal, dass die kulturellen Schöpfungen leichter zu verstehen seien als die natürlichen, weil sie das Produkt des menschlichen Willens seien. Diese Sichtweise war beispielsweise im 17. Jahrhundert sehr verbreitet, wo Philosophen wie Hobbes und Locke unter dem starken Einfluss der Descartesschen Idee, dass das reflektierende Individuum einen bevorzugten Zugang zu den Inhalten seines eigenen Geistes habe, meinten, dass nur dieses Individuum wirklich „den Geist in der Maschine“ kennen könne, um es mit Gilbert Ryles denkwürdigen Worten zu sagen. Seine eigenen Motivationen zu kennen und sein eigenes Verhalten zu verstehen garantiert jedoch leider gar nichts hinsichtlich des Verständnisses der Verwicklungen des menschlichen Zusammenspiels auf der sozialen und politischen Bühne. In jedem Falle muss in einer postfreudianischen Zeit die cartesische Auffassung als zumindest fraglich angesehen werden. Wir können verwirrt sein oder uns irren, oder wir können uns selbst über unsere Motive und Zwecke betrügen. Nach allem, was wir wissen, könnte Bentham Recht gehabt haben, wenn er darauf bestand, dass es „mit der Anatomie des menschlichen Geistes wie mit der Anatomie und der Physiologie des menschlichen Körpers bestellt ist: der seltene Fall ist nicht der, dass der Mensch damit unvertraut ist, sondern jener, dass er damit [durchaus] vertraut ist“ (in: Jeremy Bentham’s Economic Writings, 1954, Bd. III: 425). Kurz gesagt, die menschliche Fähigkeit, der Natur des Menschen eine Form zu geben, hängt davon ab, wie gut wir die kausalen Mechanismen verstehen und kontrollieren, um aus den Wesensmerkmalen des Menschen das zu machen, was sie sind. Und dies hängt, wenn überhaupt, auf kontingente Weise damit zusammen, ob ein bestimmter Wesenszug an ihm das Produkt der Biologie, der Kultur, einer Kombination aus beidem, oder gar irgendeiner dritten Sache ist. Nach all der Aufmerksamkeit, die dieses Thema von Seiten der politischen Philosophen über die Jahrhunderte erfahren hat, führt die Kontroverse zwischen Natur und Kultur noch in anderer Hinsicht in die Irre, jedenfalls soweit es die Politik betrifft. Da die Menschen von Natur aus konventionelle Geschöpfe sind, die häufig eine biologische Anpassung durch soziales Lernen bewirken, ist die Unterscheidung zwischen dem, was am menschlichen Verhalten natürlich ist, und dem, was kulturell bedingt ist, nicht nur schwierig in der Praxis fest zu machen, sondern ganz und gar unmöglich, wenn es ums Prinzip geht. Vielleicht teilweise aus diesem Grund hat sich ein großer Teil der anglo-amerikanischen politischen und Moralphilosophie von 1261
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dem Streit um den Einfluss von Natur oder Kultur abgewandt, hin zu der Forderung nach einer prinzipiellen Rechtfertigung für eine jegliche Unterscheidung zwischen Personen, die politische Konsequenzen haben soll, und zwar unabhängig von ihrem Ursprung. John Rawls ist vielleicht mehr als jede andere einzelne Figur hierfür verantwortlich. In seinem Buch ‚A Theory of Justice‘ (1971) liefert er die Begründung dafür, dass die Unterschiede in den Begabungen und Fähigkeiten zwischen Personen, seien sie natürlichen oder kulturellen Ursprungs, moralisch unerheblich seien. Damit meint er, sie seien eine Sache des Glücks entweder in der genetischen Lotterie oder in dem Milieu, in welches jemand hineingeboren wird. In jedem dieser Fälle sind die Unterschiede nicht frei gewählt oder durch irgendeine Handlung herbeigeführt, für die die betreffenden Akteure vernünftigerweise verantwortlich gemacht werden könnten. Durch dieselbe Denkfigur scheint es unfair, wenn man den Menschen Vorteile auf unterschiedliche Weise kraft der Unterschiede in ihren Begabungen und Fähigkeiten zukommen lässt, und zwar auch dann, wenn diese Unterschiede in der Natur, der Kultur oder in beidem wurzeln. Vollzieht man die Rawlssche Denkbewegung nach, so hat dies die Wirkung, dass man die menschlichen Fähigkeiten ohne Rücksicht auf ihre Ursprünge sozialisiert (zumindest im normativen Bereich), und obwohl es außerordentlich schwer ist, eine prinzipielle Grundlage zu finden, auf der sich eine solche Argumentation aufbauen lässt, erzeugt sie Probleme, die in vieler Hinsicht genauso schwierig sind wie jene, die sie löst. Eine Person mag es gleichermaßen rational unbestreitbar und psychologisch unmöglich finden zu akzeptieren, dass nichts, was sie tut oder erreicht, das autonome Ergebnis ihrer eigenen Bemühungen ist. Analog könnte man einwenden, dass sowohl für das Individuum, als auch für die Spezies einige Fiktionen betreffend die individuelle Verantwortung für unterschiedliche Ergebnisse für die menschliche Reproduktion und ihr Wohlergehen unerlässlich sind, und zwar selbst dann noch, wenn wir wissen, dass sie Fiktionen sind. Solche Überzeugungen können für die grundlegende Integrität der menschlichen Psyche unverzichtbar und notwendig zur Erzeugung und Erhaltung der Arbeitsanreize sein, auf die sich die Menschen am Ende kritischerweise verlassen. Obwohl die Tatsachen betreffend das moralische Glück und die sozial verursachten Fähigkeiten dergestalt miteinander eine Wechselwirkung haben, dass sie, wenn sie gegeneinander ausgespielt werden, die Idee der individuellen Verantwortung für ihr Tun entkräften, können die Menschen als Ergebnis hiervon dennoch machtlos sein, daran etwas zu ändern (siehe Verantwortung). Ein interessanter Strang der modernen Lehre von Ronald Dworkin, vertreten durch Amartya Sen, Richard Arneson und andere, versucht mit der von Rawls aufgebrachten Diskussion moralischer Beliebigkeit zwar fertig zu werden, hat es aber noch zu keiner einzigen halbwegs zwingenden Lösung gebracht. 3. Selbstreferentielle gegenüber fremdreferentiellen Konzeptionen der Natur des Menschen Eine dritte Dimension, in der sich die Konzeptionen betreffend die Natur des Menschen unterscheiden, betrifft den Umfang, zu dem die Interessen der Menschen mit den Schicksalen und der Wahrnehmung anderer verbunden sind. Man stelle den Wahlslogan von Ronald Reagan im Jahre 1984: ‚Geht es Ihnen jetzt besser als vor vier Jahren?‘ dem Satz eines Angestellten gegenüber, der zu seinem Arbeitgeber sagt: ‚Es interessiert mich nicht, was ich verdiene, so lange es nur mehr ist als das 1262
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Gehalt von Schulze am Ende des Flurs.‘ Der Slogan von Reagan basiert auf einer selbstreferentiellen Konzeption der menschlichen Natur. Er nimmt an, dass die Menschen an einer Verbesserung ihrer eigenen Lebenssituation interessiert sind, ohne dass man sich dazu auf irgendjemand anderen beziehen müsste. Das letztere Beispiel ist fremdreferentiell: die Wahrnehmung der eigenen Interessen einer Person stützt sich innerlich auf das Wohlergehen eines anderen. Wir können über ihr Wohlergehen nicht ohne Bezugnahme auf das Wohlergehen von anderen urteilen. Die Unterscheidung zwischen Sichtweisen der Selbst- und Fremdreferenz ist unabhängig davon operabel, ob jemand ein Subjektivist ist, und auch unabhängig von dem zugrunde gelegten Wertmaßstab dessen, von dem das Wohlergehen gemessen wird. Beispielsweise ist Marx’ Maßstab der Ausbeutung insofern radikal fremdreferentiell, als er sich entscheidend auf den Anteil am Mehrwert stützt, den der Arbeiter erhält, im Verhältnis zu demjenigen Anteil, den der Arbeitgeber behält. Das technische Maß des Ausbeutungsgrades eines Arbeiters kann sich sogar erhöhen, selbst wenn die Reallöhne gestiegen sind und auch der Arbeiter in seiner subjektiven Wahrnehmung den Eindruck hat, dass sein Lebensstandard sich verbessert hat. Rawls arbeitet auf der anderen Seite mit einer Mischung aus selbst- und fremdreferentiellen Sichtweisen der Natur des Menschen, wenn er argumentiert, dass rationale Menschen immer daran interessiert sein werden, das Los der am schlechtesten gestellten Menschen einer Gesellschaft im Verhältnis zur vorangehenden Situation zu verbessern, selbst wenn dies bedeutet, dass sich damit ändert, wem es am schlechtesten geht. Ob jemand der Meinung ist, die Natur des Menschen sei grundlegend selbstoder fremdreferentiell, hat bedeutende Auswirkungen auf die Politik und die Verteilungsgerechtigkeit. Die Utilitaristen, und zwar sowohl die klassischen, als auch die neoklassischen, neigen zu der Meinung, dass die Menschen selbstreferentielle Maximierer seien, die in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse so hoch wie möglich kommen wollen, ohne sich auf irgendjemand anderes zu beziehen, obwohl es hierfür gar keinen notwendigen Grund gibt. Andererseits sind Aristoteliker wie Alasdair MacIntyre notwendig einer fremdreferentiellen Position verpflichtet. Für sie muss das, was Menschen über allem schätzen, auch von anderen bewertet werden, die wiederum über sie ein Werturteil abgeben. ‚Er ist noch päpstlicher als der Papst‘ ist eine Beschreibung, die wir intuitiv verstehen, und in dem Umfange, wie mit solchen relativierenden Ausdrücken etwas Grundlegendes darüber beschrieben wird, was Menschen motiviert, werden Modelle der individuellen Maximierung deskriptiv irreführend und moralisch unbefriedigend sein, die dies ignorieren. In diesem Zusammenhang soll der Hinweis nicht fehlen, dass Hegel in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘ (1807) argumentiert, dass die Sklaverei nicht einfach deshalb eine instabile gesellschaftliche Einrichtung sei, weil der Sklave sich womöglich gegen seine Unterdrückung auflehnt, sondern auch deshalb, weil sein Herr diese unbefriedigend findet; er braucht nämlich die Anerkennung von jemandem, den er schätzt (siehe Hegel, G.W.F.). Ob und in welchem Umfange die Natur des Menschen wesentlich selbstreferentiell ist, darf nicht damit verwechselt werden, ob und in welchem Umfange die Menschen selbstsüchtig sind. Obwohl selbstreferentiell motivierte Menschen typischerweise und bestenfalls indifferent dem Schicksal von anderen gegenüberstehen, können fremdreferentielle Motivationen genauso stark oder mehr oder weniger selbstsüchtig sein. Die Forderung nach einer Bezahlung ‚höher als Schulze‘, ‚das1263
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selbe wie Schulze‘ oder ‚weniger als Schulze‘ sind alle fremdreferentiell, obwohl sie sich deutlich in ihrem Grad der Eigensucht bzw. der altruistischen Motivation unterscheiden. Sadisten und Frauenschänder zeigen ein Verhalten, dass Ökonomen als eine ‚unabhängig-negative Nützlichkeit‘ bezeichnen, insofern ihr Wohlergehen an sich selbst mit dem Leiden von anderen verknüpft ist. Dies gilt auch für die sich scheidende Ehegattin ohne eigenen Erwerb, deren subjektive Befriedigung sich mit jedem Euro steigert, der dem Ehegatten aus der Tasche gezogen und verbrannt wird. Dies sind alles fremdreferentielle Motivationsformen, gleichwohl sind sie ebenso Motivationen wie die von jenen Menschen, die eine gesteigerte Lust an dem Glück oder Erfolg eines anderen suchen und empfinden. Kurz gesagt, die selbstreferentielle oder fremdreferentielle Dimension bezieht sich auf ein Strukturmerkmal der menschlichen Psyche, und weniger auf ihren Inhalt. Dies heißt nicht, dass diese Struktur keine Implikationen für den Inhalt mit sich bringt. Insbesondere in dem Umfange, wie Menschen fremdreferentiell motiviert sind, wird ihr Verhalten und ihr Streben dazu neigen, dass sie nicht von Modellen rationaler Akteure erfasst werden, die von der Betriebswirtschaft übernommen wurden, und die ausschließlich auf selbstreferentiellen Annahmen über die menschliche Psyche beruhen. Menschen, die Argumente unbefriedigend finden, die auf Modellen rationaler Akteure basieren, neigen deskriptiv oder moralisch zur Skepsis gegenüber dem Umfang, in dem selbstreferentielle Annahmen wichtige Dimensionen des menschlichen Daseins erfassen. Ob ein solcher Skeptizismus begründet ist, ist schlussendlich eine empirische Frage. Sie wird nicht durch reines Nachdenken entschieden (siehe Rationalen Wahl, Theorie der). 4. ‚Politische‘ gegenüber ‚metaphysischen‘ Konzeptionen der Natur des Menschen In Anbetracht der andauernden und offenbar eingefleischten Meinungsverschiedenheit über die Natur des Menschen wird es wahrscheinlich kaum überraschen, dass einige politische Philosophen nach einer politischen Theorie suchten, die von so wenig wie möglichen Vorannahmen über den Gegenstand der Diskussion ausgeht. Eine diesbezügliche Strategie, die seit den 1960er Jahren ausgiebig ausprobiert wurde, versucht politische Prinzipien herauszufinden, die neutral hinsichtlich der unterschiedlichen Sichtweisen der Natur des Menschen und der Konzeptionen vom menschlich Guten sind. Einige der frühen Formulierungen des Rawlsschen Projekts wurden auf diese Weise verstanden, und Bruce Ackerman, Charles Larmore und andere versuchten nachfolgend weitere und unterschiedliche Neutralitätsargumentationen zu entwickeln (siehe Neutralität, politische). In den 1990er Jahren begann sich ein recht breiter Konsens darüber zu zeigen, dass die Neutralitätsstrategie fehlschlägt, ferner dass es keine politischen Prinzipien gibt, die wirklich inmitten der unterschiedlichen Konzeptionen von der Natur des Menschen und dem menschlich Guten neutral sein können, und dass schon geringes Nachdenken über die vorgeblich neutralen Argumente unvermeidlich wieder Vorannahmen ans Licht bringt. Eine subtilere Antwort auf das Problem ist es, die Suche nach neutralen politischen Standards aufzugeben, aber den Anspruch zur Entwicklung politischer Prinzipien aufrecht zu erhalten, die mit so vielen wie möglichen unterschiedlichen Sichtweisen von der Natur des Menschen vereinbar sind. Hier ist die Schlüsselidee, das einzugrenzen, was man vernünftigerweise als Rechtfertigung einer politischen 1264
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Theorie erwarten kann, und insbesondere alle Bestrebungen aufzugeben, die wahre oder richtige Theorie der menschlichen Natur zu finden. Dies ist die Strategie, die vom späteren Rawls eingeschlagen wurde, der fragt: „Bei welchen politischen Prinzipien macht es am meisten Sinn, ihnen zuzustimmen, wenn man davon ausgeht, dass wir niemals in allen grundlegenden metaphysischen Fragen über die Natur des Menschen übereinstimmen werden?“ Die Antwort, auf die er stieß, lautet, dass man so viele Konzeptionen des für die Menschen Guten wie möglich tolerieren sollte, die mit der beschreibenden Wendung ‚ähnlich einer Freiheit für alle‘ vereinbar sind. Dieser Ansatz gibt ausdrücklich das Vorhaben auf, richtige Antworten auf die Frage nach der Natur des Menschen geben zu wollen, und bemüht sich nur um eine Toleranz gegenüber so vielen Antworten wie möglich. Sie wirbt für die Möglichkeit, dass uns dies tatsächlich zur Intoleranz gegenüber einer angeblich ‚richtigen‘ Sichtweise der menschlichen Natur führt, wenn diese beispielsweise im Kontext einer fundamentalistischen Religion vorgebracht wird, die es mit sich bringt, dass keine andere Sichtweise toleriert wird. Bei einem politischen, aber nicht metaphysischen Ansatz müssen wir als politische Theoretiker nicht fürchten, einen Standpunkt zu der Frage beziehen zu müssen, ob die fundamentalistische Sichtweise richtig ist oder nicht. Sie kann es nach unserem Wissen sogar sein. Da wir jedoch niemals wissen können, ob sie wirklich die richtige Sicht der Dinge ist, wir andererseits aber wissen, dass es immer damit konkurrierende Sichtweisen geben wird, ist es niemals rational, sie als Leitlinie unserer Politik zu akzeptieren. Dieser Ansatz und andere Versuche stehen ebenfalls vor verschiedenen Schwierigkeiten, sich in die politische, nicht in die metaphysische Richtung zu bewegen. Einige Menschen werden es sicher unmöglich finden, mit der philosophischen Abdankung zu leben, die eine solche Strategie impliziert. Aber in einer Welt, in der Annahmen über die Natur des Menschen sowohl für die Politik unverzichtbar, als auch an sich selbst kontrovers sind, ist es schwierig einzusehen, wie man dem Druck zu einer Hinwendung zu institutionellen statt zu philosophischen Lösungen des Problems widerstehen kann. Anmerkungen und weitere Lektüre: Bentham, J. (1948): ‚A Fragment on Government and An Introduction to the Principles of Morals and Legislation‘. Oxford: Blackwell. (Der locus classicus von Benthams Utilitarismus. Das Buch enthält eine programmatische Darstellung seiner Annahmen über die Natur des Menschen, sowie Anwendungen auf dem Gebiet der Politik, des Rechts und der Wirtschaft. Leicht zu lesen, trotz seines etwas ungewöhnlichen Stils.) Locke, J. (1690): ‚Two Treatises of Government.‘ Hrg.: P. Laslett. Cambridge: Cambridge University Press, 1960. (Die ausgearbeitetste Darstellung von Lockes Auffassung über die Natur des Menschen und die Politik. Zugänglich geschrieben.) Rawls, J. (1971): ‚A Theory of Justice.‘ Cambridge, MA: Harvard University Press, dt.: ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975. (Die bedeutendste Abhandlung über die Gerechtigkeit und die Natur des Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gut lesbar geschrieben.) IAN SHAPIRO
Natur und Konvention
Die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention setzt instinktive oder ‚spontane‘ Verhaltensweisen, d.h. solche, die sich angeblich aus dem ‚Wesen des Menschen‘ ergeben, jenen entgegen, die sozial eingerichtet oder kulturell vermittelt 1265
Natur, Ästhetische Wertschätzung der
und vorgeschrieben sind. Das philosophische Interesse an dieser Unterscheidung leitet sich aus ihrer Verwendung zur Rechtfertigung oder Anfechtung bestimmter Formen des menschlichen Verhaltens und der sozialen Organisationen ab. Weil das Konventionelle dem Natürlichen als dasjenige gegenüber gestellt wird, was im Prinzip in das jeweils andere überführbar ist, sind die Anhänger einer bestimmten Ordnung der menschlichen Angelegenheiten üblicherweise um einen Beweis der Natürlichkeit der von ihnen jeweils behaupteten Ordnung bemüht, während die Kritiker ihren ‚bloß konventionellen‘ Status herauszustreichen versuchen. Entsprechend werden ‚Konventionen‘ häufig mit dem zusammen gesehen, was als ‚menschlich‘ bezeichnet wird, was wiederum der ‚tierischen‘ Natur gegenübersteht bzw. dem, was infolge der Rolle des ‚Tierischen‘ bei der Unterdrückung unserer ‚natürlichen‘ Regungen als solches denunziert wird. Siehe auch: Konventionalismus; Kultur; Naturalismus in den Sozialwissenschaften
KATE SOPER
Natur, Ästhetische Wertschätzung der
In der westlichen Welt kamen die ästhetische Wertschätzung der Natur und ihre philosophische Erforschung im 18. Jahrhundert zur vollen Blüte. Während dieser Zeit erklärten Ästheten die Natur zum idealen Gegenstand der ästhetischen Erfahrung und entdeckten als Merkmal dieser Erfahrung das Desinteresse, wodurch die Fundamente eines Verständnisses der Wertschätzung der Natur als das Sublime (d.h. Ehrfurchtgebietende) und das Anschauliche legten. Diese philosophische Tradition erreichte ihren Zenit in Kant, während die populäre ästhetische Wertschätzung der Natur vor allem in Gestalt des Anschaulichen fortbestand. Im späten 20. Jahrhundert brachte ein erneutes Interesse an der Ästhetik der Natur verschiedene Positionen hervor, die die Angleichung einer Wertschätzung der Natur an die traditionellen Modelle der Wertschätzung von Kunst verhindern wollten. Von diesen Ansätzen sind vor allem drei erwähnenswert. Der erste besagt, dass die Wertschätzung der Natur in Wirklichkeit nicht ästhetischer Art ist; der zweite verwirft die traditionelle Analyse der ästhetischen Erfahrung als einer desinteressierten und hält dagegen, dass die ästhetische Wertschätzung der Natur ein Engagement für die Natur mit sich bringe; der dritte versucht die traditionelle Analyse aufrecht zu erhalten, während er die ästhetische Wertschätzung der Natur von ihrer Abhängigkeit von wissenschaftlichem Wissen zu unterscheiden versucht. Diese Positionen setzen eine Reihe von Grundannahmen voraus. In der Befreiung der ästhetischen Wertschätzung der Natur von künstlerischen Erfahrungsmodellen ebnen sie den Weg für eine allgemeine Umweltästhetik, die mit anderen Gebieten der Philosophie, wie z.B. der Umweltethik, in Verbindung steht. Ferner erklärt die Bedeutung, die dem wissenschaftlichen Wissen in der dritten Position zugestanden wird, die ästhetische Wertschätzung im Zusammenhang mit dem Umweltdenken und liefert gleichzeitig ästhetische Wertschätzungen der Natur mit einem Grad an Objektivität, der es einfacher macht, ästhetische Überlegungen in Stellungnahmen zu Umweltfragen einfließen zu lassen. Siehe auch: Ästhetische Haltung; Hegel, G.W.F., § 8; Kant, I., § 12; Naturphilosophie; Sublime, das; Umweltästhetik ALLEN CARLSON
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Naturalisierte Erkenntnistheorie
Natur, Philosophie der Siehe: Naturphilosophie
Naturalisierte Erkenntnistheorie
Der Ausdruck ‚naturalisierte Erkenntnistheorie‘ wurde von W.v.O. Quine geprägt und bezieht sich auf einen erkenntnistheoretischen Ansatz, den er im Jahre 1969 in seinem Aufsatz ‚Epistemology Naturalized‘ erstmals darstellte. Viele der Denkbewegungen, die für die naturalisierte Erkenntnistheorie typisch sind, wurden bereits von David Hume vorgezeichnet, aber Quines Aufsatz fixierte den Sinn dieses Ausdrucks in der Form, in der er heute verwendet wird. Die naturalisierte Erkenntnistheorie formuliert sowohl kritische, als auch konstruktive Anstöße. Im kritischen Sinne geben die ‚Naturalisten‘ (d.h. Theoretiker, die sich selbst mit der Bezeichnung ‚naturalisierte Erkenntnistheorie‘ identifizieren) zahlreiche Annahmen auf, die sie traditionell vorfanden. Sie lehnen Descartes’ Vision einer Erkenntnistheorie als einen Versuch der Umwandlung unserer Überzeugungen in ein Wissensgebäude ab, das auf Fundamenten ruhen soll, deren wir uns vollkommen gewiss sein können. Descartes habe sich darin geirrt, die Erkenntnis mit Gewissheit gleichzusetzen, und es sei falsch zu glauben, dass Erkenntnis durch apriorisches Theoretisieren zu erlangen sei, d.h. durch ein Denken, das nicht auf die Erfahrung zurückgreift. Noch sollte die Erkenntnistheorie auf den Wegen von David Hume fortfahren, das Wissen auf einer introspektiven Untersuchung geistiger Inhalte zu begründen. Ferner sollte der allgemeine skeptische Anspruch, dass es überhaupt keine Möglichkeit der gleichzeitigen Rechtfertigung aller unserer Ansichten gibt, entweder verworfen oder zugestanden werden. Auf der konstruktiven Seite schlagen die Naturalisten vor, dass wir uns bei der Erforschung der Erkenntnis nur auf den Apparat, die Techniken und Annahmen der Naturwissenschaften verlassen können. Entsprechend will die naturalisierte Erkenntnistheorie eine wissenschaftliche und folglich weder unwiderlegbare, noch apriorische Erklärung liefern, wieso einige Überzeugungen zu Wissen oder Erkenntnis werden. Fragen des Skeptizismus sollen nur angesprochen werden, wenn sie sich im Verlauf der wissenschaftlichen Untersuchung von selbst ergeben. Quines fruchtbarer Aufsatz entwarf den Kern der naturalisierten Erkenntnistheorie, aber die nachfolgenden Naturalisten waren sich über die richtigen Antworten auf zahlreiche Fragen, die daraus hervorgingen, uneins. Darunter waren die folgenden: (1) Können Theorien auf der Grundlage einer davon unabhängig plausiblen und theorieneutralen Beobachtung überprüft werden, oder sind Beobachtungen auch wieder nur Theorie? (2) Überlebt die Erkenntnistheorie, nachdem sie naturalisiert wurde, überhaupt als eine selbstständige Disziplin? Quine meinte, dass die Erkenntnistheorie ein Unterbereich der Naturwissenschaften werden sollte, vermutlich ein Teil der Psychologie, so dass es kein darüber hinaus gesondertes Gebiet gibt, das speziell für die Philosophen übrig bleibt. Aber können alle unsere Fragen über die Erkenntnis durch Naturwissenschaftler beantwortet werden? (3) Die Behauptung, dass die Erkenntnistheorie erkläre, wie Wissen zustande kommt, suggeriert, dass die Erkenntnistheorie nur die Ursprünge von Überzeugungen beschreiben wolle, die wir als Wissen auffassen. Worin besteht aber die Beziehung zwischen einer solchen deskriptiven Aufgabe und normativen Aufgaben wie z.B. der, wie man zu seinen Ansichten überhaupt gelangen sollte? (4) In welchem Umfange ist die neue Herangehensweise an die Erkennt-
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Naturalismus in den Sozialwissenschaften
nistheorie gegen skeptische Einwände gefeit wie z.B. jene, die die traditionellen Erkenntnistheoretiker plagten, und wie wirksam kann sie auf diese Einwände antworten? Siehe auch: Erkenntnis, Begriff der; Soziale Erkenntnislehre STEVEN LUPER
Naturalismus in den Sozialwissenschaften
Der Ausdruck ‚Naturalismus‘ wird auf verschiedene Weisen verwendet. Die Bedeutung von ‚Naturalismus‘ im engeren Sinne in der Sozialphilosophie beruht auf der großen und populären Autorität, die sich die modernen naturwissenschaftlichen Methoden zusammen mit den Erklärungsformen, die noch aus den Anfängen der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert stammen, erworben haben. Von vielen der Denker der europäischen Aufklärung und ihren Anhängern im 19. Jahrhundert wurde der Erfolg der Naturwissenschaften bei der Entdeckung der Gesetze, die die natürliche Welt regieren, als ein Argument für die Ausdehnung ihrer Methoden auf das Studium der Moral, der Gesellschaft, der Regierung und des menschlichen geistigen Lebens verwendet. Sie meinen, dies hätte nicht nur den Vorteil des methodischen Konsenses auf diesen umstrittenen Gebieten, sondern würde auch eine stimmige Grundlage für die Durchführung von Sozialreformen liefern. Unter diesen einflussreichen Vertretern des Naturalismus in diesem Sinne war Auguste Comte, ein französischer Philosoph des frühen 19. Jahrhunderts. Die Autorität der neuen ‚mechanischen‘ Wissenschaft wurde hinsichtlich ihrer Darstellung und Erklärung der nicht-menschlichen Natur von den romantischen Philosophen sogar fortgesetzt bekämpft. Die deutschen Neukantianer griffen schließlich die nunmehr etwas enger gefasste Aufgabe eines Widerstands gegen die naturwissenschaftliche ‚Invasion‘ des menschlichen Selbstverständnisses am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Anhänger und Verbündete dieser Tradition wie z.B. Windelband, Rickert, Dilthey und andere beharrten darauf, dass es eine grundsätzliche Kluft zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und jenen Verständnisformen gäbe, die auf die Sphäre der menschlich erzeugten Bedeutungen und Kulturen anwendbar seien. Diese Sichtweise wurde auf viele verschiedene Weisen vorgetragen. Manchmal wurde auf einen Unterschied hingewiesen, der einerseits zwischen der Regelmäßigkeiten besteht, die von den Naturgesetzen erfasst werden, und den sozialen Regeln auf der anderen Seite. Manchmal wurde auch das menschliche Bewusstsein und Selbstverständnis dem nicht bewussten ‚Verhalten‘ nichtmenschlicher Wesen und Gegenstände gegenübergestellt, so dass das Studium der Gesellschaft sich eher wie die Lektüre eines Buches oder das Führen eines Gesprächs darstellt, und nicht wie das Studium einer chemischen Reaktion. TED BENTON
Naturalismus in der Ethik
Der ethische Naturalismus ist ein Vorhaben, bei dem es darum geht, eine bestimmte Darstellung der Ethik in den Rahmen einer naturalistischen Weltsicht einzupassen. Er umfasst auch die nihilistischen Theorien, die gar keinen Platz für reale Werte und keine erfolgreiche Rolle für ethisches Denken in einer rein natürlichen Welt sehen. Der Ausdruck ‚Naturalismus‘ wird allerdings oft zu eng verwendet, wenn er nur auf einen kognitivistischen Naturalismus verweist, der meint, dass ethische Tatsachen einfach natürliche Tatsachen sind, und dass das ethische Denken dann erfolgreich ist, wenn es diese Tatsachen entdeckt. 1268
Naturgesetze
G.E. Moore griff den kognitivistischen Naturalismus als grundsätzlichen Irrtum an, weil er nach dem gehe, was er den ‚naturalistischen Trugschluss‘ nannte. Er dachte sich einen einfachen Test aus, der zeigen sollte, dass ethische Tatsachen keine natürlichen sein können (der ‚Trugschluss‘ liegt in der Überzeugung, dass dies doch der Fall sei), und er folgerte hieraus, dass ethisches Wissen auf der nichtsinnlichen Intuition beruhen müsse. Spätere Autoren fügten diesem Argument weitere mit derselben Schlussfolgerung hinzu. Moore selbst war keineswegs ein Naturalist, denn er dachte, dass man die Ethik auf eine nicht-naturalistische Grundlage stellen könne. Viele, die seine Kritik des kognitivistischen Naturalismus weiter ausarbeiteten, taten dies jedoch zur Verteidigung eines echten ethischen Naturalismus, und damit verteidigten sie entweder den ethischen Nihilismus oder andere, bescheidenere und konstruktivere Positionen, in der Regel Fassungen des Nonkognitivismus. Die Nonkognitivisten gestehen den Nihilisten zu, dass die Natur keine wirklichen Werte enthält, bestreiten aber, dass es jemals die Aufgabe oder Funktion des ethischen Denkens gewesen sei, solche Dinge überhaupt zu entdecken. Sie schaffen im ethischen Denken damit Platz für den Erfolg anderer ethischer Aufgaben, wie z.B. jener, einen Akteur mit Handlungsorientierungen für sein Handeln zu versehen. Die Verteidiger des kognitivistischen Naturalismus bestreiten, dass es einen ‚naturalistischen Trugschluss‘ gibt, oder dass ethisches Wissen auf Intuition beruhen muss. Und sie beschuldigten Moore und seine Nachfolger, dass sie sich auf zweifelhafte Annahmen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes stützen würden. Daher sind viele und schwierige philosophische Fragen von dieser Debatte betroffen. Siehe auch: Moralisches Urteil; Moralisches Wissen NICHOLAS L. STURGEON
Naturalistischer Trugschluss
Siehe: Moore, George Edward; Naturalismus in der Ethik
Naturgesetze
Man geht allgemein davon aus, dass es in der Naturwissenschaft um die Identifikation von ‚Naturgesetzen‘ geht. Was aber sind Naturgesetze? Wie – wenn überhaupt – unterscheiden sich Gesetzesaussagen von ‚nur‘ allgemeinen Wahrheiten, die ihre Verallgemeinerung nur ‚zufällig‘ enthalten? Angenommen beispielsweise, es sei wahr, dass alle (d.h. vergangene, gegenwärtige und zukünftige) Goldkugeln einen kleineren Durchmesser als 1 km haben. Man stelle dies der Wahrheit gegenüber, derzufolge alle Elektronen negativ geladen sind. Intuitiv scheint es einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden Wahrheiten zu geben, aber gibt es auch eine prinzipielle Unterscheidung zwischen ihnen, die man beschreiben und vertreten kann? So lautet die traditionelle Fragestellung der Philosophie betreffend die Naturgesetze, und grundsätzlich wurden hierauf zwei einander entgegengesetzte Darstellungen entwickelt. Der ersten zufolge gibt es wirkliche Notwendigkeiten in der Natur über die Regelmäßigkeiten hinaus, die sie angenommenermaßen hervorbringen, und zwar unabhängig davon, ob man diese Regelmäßigkeiten beobachten kann oder nicht, und die Gesetzesaussagen sind Beschreibungen dieser Notwendigkeiten. Der zweiten Darstellung zufolge gibt es keine solche Notwendigkeiten, sondern nur Regelmäßigkeiten (Korrelationen oder Muster von Ereignissen), und Gesetze sind Beschreibungen dieser Regelmäßigkeiten (wenn auch vielleicht nicht von jeder Regel1269
Naturphilosophie
mäßigkeit, sondern nur von den grundlegendsten oder allgemeinsten). Es gibt äußerst unterschiedliche Varianten zu jeder dieser Darstellungsweisen und auch Positionen, die rundheraus die Existenz allgemeiner Gesetze leugnen (oder die leugnen, dass die Naturwissenschaft darauf aus sein sollte, sie zu beschreiben). Jede dieser Darstellungen, sofern sie sich letztlich als kohärent und damit vertretbar erweisen sollen, müssen erfolgreich vier aufeinander bezogene Fragen beantworten: Was ist die Bedeutung einer Gesetzesaussage (die semantische Frage)? Auf welche Tatsache bezieht sich eine Gesetzesaussage und was macht eine solche Aussage wahr (die metaphysische Frage)? Auf welcher Grundlage sind die Erkenntnisaussagen über ein solches Gesetz gerechtfertigt (die erkenntnistheoretische Frage)? In welchem Umfange ist eine solche Aussage in der Lage, die Vielfalt und unterschiedlichen Rollen von Naturgesetzen angemessen zu erklären (die Erklärungsfrage)? In der Beschäftigung mit dieser Aufgabe sieht sich jede der bislang vorgelegten Darstellungen ganz eigenen und spezifischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Wenn es in der Natur beispielsweise Notwendigkeiten gibt, wie die erste Gruppe von Darstellungen behauptet, fragt sich, wie man diese genau identifizieren kann: wie können wir beschreiben, welche der induktiv bestätigten Regelmäßigkeiten Gesetze sind? Wenn es aber andererseits nur Regelmäßigkeiten gibt, wie die zweite Gruppe behauptet, bedeutet dies, dass unsere Intuitionen und wissenschaftliche Praxis falsch sind, und dass es folglich gar keine Unterscheidung zwischen Gesetzen und zufälligen Verallgemeinerungen gibt? Die Schwierigkeiten aller bestehenden Darstellungen werden noch deutlicher, wenn wir uns die überraschende Bandbreite (angeblicher) Gesetze klarmachen, die von der heutigen Naturwissenschaft geliefert werden, und ferner die Komplexität der Beziehungen zwischen diesen angeblichen Gesetzen oder Regelmäßigkeiten und ihren Ursachen. Siehe auch: Positivismus in den Sozialwissenschaften; Pragmatismus; Theorien, wissenschaftliche; Wissenschaftliche Methodik C.A. HOOKER
Naturphilosophie
Der Ausdruck ‚Naturphilosophie‘, der auch im Englischen unübersetzt so verwendet wird, verweist auf die Philosophie der Natur, die vor allem in der deutschen Philosophie, Wissenschaft und Literatur ungefähr von 1790 bis 1830 vorherrschend war. Sie plädierte für eine organische und dynamische Weltsicht als Alternative zu den atomistischen und mechanistischen Perspektiven der modernen Naturwissenschaften. Gegen den kartesischen Dualismus von Materie und Geist, der dem mechanistischen Materialismus der französischen Enzyklopädisten den Weg geebnet hatte, wurde Spinozas Theorie der zwei Aspekte von Geist und Materie als zwei Weisen einer einzigen Substanz favorisiert. Die Quellen dieser heterogenen Bewegung liegen in der Philosophie des deutschen Idealismus, sowie im späten Klassizismus und Romantizismus. Schelling als führende Figur assimilierte und stimulierte die größeren Strömungen und Ideen dieser Epoche durch sein Werk. Nach dem Tode Hegels (1831) und Goethes (1832) verabschiedete sich die Naturphilosophie rasch aus den Hauptströmungen des Denkens. Allerdings überlebte sie in verschiedenen, wenngleich unterschiedlichen Formen, insbesondere als eine unterschwellige Strömung der deutschen Kultur und Wissenschaft bis in das 20. Jahrhundert. Siehe auch: Deutscher Idealismus MICHAEL HEIDELBERGER 1270
Naturrecht
Naturrecht
Wenn dieser Ausdruck im ethischen, politischen, rechtlichen oder rechtsphilosophischen Diskurs verwendet wird, so steht dahinter in der Regel die Behauptung, dass es ein naturgegebenes Recht gibt und dieses zur Erklärung oder Verteidigung gewisser Ansprüche geeignet ist, die oft im Verlauf solcher Diskussionen erhoben werden. Im vortheoretischen moralischen Diskurs werden bestimmte Wahlentscheidungen, Handlungen oder Dispositionen als ‚unmenschlich‘, ‚unnatürlich grausam‘, ‚pervers‘ oder ‚moralisch unvernünftig‘ abqualifiziert. Im vortheoretischen politischen Diskurs werden bestimmte Vorschläge oder politische Verhaltensweisen als Verletzung der ‚Menschenrechte‘ beschrieben. Im internationalen Recht und der internationalen Rechtswissenschaft werden bestimmte Handlungen als ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ beschrieben, und Bürger können Immunität vor ihrer gesetzlichen Verantwortung oder Pflicht beanspruchen, indem sie sich auf ein ‚höheres Gesetz‘ berufen. Eine Theorie des Naturrechts bietet Erklärungen an, warum Ansprüche dieser Art rational begründet und wahr sein können. Sie leistet dies, indem sie solche Ansprüche im Zusammenhang einer allgemeinen Theorie des Guten und des Bösen im menschlichen Leben platziert, insofern das menschliche Leben auf freier Erwägung und Wahlentscheidung beruht. Eine solche allgemeine Theorie kann auch als eine allgemeine Theorie des Richtigen und des Falschen bei menschlichen Wahlentscheidungen und Handlungen genannt werden. Sie wird sowohl (1) normative Aussagen über die Typen von Wahlentscheidungen, Handlungen oder Dispositionen als richtig oder falsch, zulässig, verpflichtend etc., als auch (2) nichtnormative Aussagen über die Objektivität und die erkenntnistheoretische Berechtigung zu solchen normativen Aussagen enthalten. Siehe auch: Grotius, H.; Rechtsphilosophie; Rechtspositivismus JOHN FINNIS
Naturtheologie
Die Naturtheologie bemüht sich um die Feststellung von Wahrheiten oder den Erwerb von Wissen über Gott (oder allgemeine göttliche Angelegenheiten) unter Verwendung allein von natürlichen kognitiven Mitteln. Der Ausdruck ‚unsere natürlichen kognitiven Erkenntnismittel‘ identifiziert sowohl die Methoden, als auch die Daten der Naturtheologie: sie stützt sich auf Standardtechniken des vernünftigen Denkens und der Tatsachen oder Wahrheiten, die prinzipiell allen menschlichen Wesen allein kraft ihrer Vernunftbegabung und ihrer Sinnesorgane zugänglich sind. Traditionell formuliert beginnt die Naturtheologie mit der Feststellung der Existenz von Gott und schreitet dann fort mit der Ermittlung von Wahrheiten über das Wesen von Gott (beispielsweise dass Gott ewig, unveränderlich und allwissend ist), sowie über Gottes Beziehung zur Welt. Eine präzise Beschreibung der Naturtheologie hängt von einer weiteren Bestimmung ihrer Methoden und Daten ab. Eine strikte Konzeption der Naturtheologie – wobei die traditionelle Konzeption manchmal Thomas von Aquin zugeschrieben wird – erlaubt nur gewisse Arten deduktiver Argumente, deren Anfangspunkt immer Aussagen sind, die entweder selbstevident oder sinnesevident sind. Eine breitere Konzeption könnte auch nicht nur deduktive, sondern auch induktive Schlüsse zulassen und darüber hinaus als Anfangspunkte auch Aussagen, die nicht vollkommen evident sind.
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Negative Theologie
Die Naturtheologie steht im Gegensatz zu Untersuchungen in göttlichen Angelegenheiten, die zumindest teilweise auf Daten aufbauen, die uns als menschlichen Wesen nicht verfügbar sind. Eine solche Art von Unternehmung könnte als offenbarungsbasierte Theologie bezeichnet werden, insofern es übernatürliche Elemente sind, auf die sie sich stützt und diese übernatürlichen Dinge uns durch Gott offenbart wurden. Offenbarungsbasierte Theologien können auch Aussagen verwenden, die uns nur durch spezielle göttliche Unterstützung zur Verfügung stehen. Die dogmatische und die biblische Theologie wären Unternehmungen dieser Art. Kritiker der Naturtheologie teilen sich allgemein in drei Gruppen. Die erste Gruppe und Mehrheit wendet ein, dass einige oder alle der spezifischen Argumente der Naturtheologie in Wirklichkeit nicht zutreffend sind. Die Kritiker der zweiten Gruppe wenden ein, dass die Naturtheologie im Prinzip keinen Erfolg haben kann, entweder deshalb, weil das menschliche Wissen grundsätzlich so beschränkt ist, dass es uns unmöglich ist, Wissen über Gott zu erlangen, oder weil die religiöse Sprache so geartet ist, dass eine Untersuchung ihrer Wahrheit praktisch nicht möglich ist. Die dritte Gruppe der Kritiker meint, dass die Naturtheologie in gewisser Weise irrelevant oder gar schädlich ist für die wahre Religion. Sie argumentieren auf verschiedene Weise, dass die vergegenständlichende, abstrakte und unpersönliche Methodik der Naturtheologie nicht erfassen kann, was am Göttlichen und unserer Beziehung dazu grundlegend wichtig ist. Siehe auch: Agnostizismus; Atheismus; Gott, Argumente für die Existenz von; Gott, Begriffe von; Mendelssohn, M.; Offenbarung SCOTT MACDONALD
Navya-Nyāya
Siehe: Nyāya-vaiśes.ika
Negative Theologie
Der Ausdruck ‚negative Theologie‘ bezieht sich auf Theologien, die negative Aussagen als vorrangig beim Ausdruck unseres Wissens von Gott ansehen, im Gegensatz zu den ‚positiven Theologien‘, die hauptsächlich die positiven Erklärungen betonen. Die Unterscheidung wurde innerhalb des islamischen, jüdischen und christlichen Theismus entwickelt. Wenn der negative Weg (via negativa) bis an seine Grenzen gegangen wird, so stellen sich zwei Fragen: erstens, ob man von Gott genauso gut auf persönliche wie auf unpersönliche Weise sprechen kann (womit sich die Unterscheidung zwischen Theismus und z.B. dem philosophischen Hinduismus von Śan.kara verwischen würde); und zweitens, ob dies nicht letztlich überhaupt zur Ablehnung eines ersten Wesens oder Subjekts führt (womit die Unterscheidung zwischen dem Theismus und z.B. dem Atheismus des Mahāyāna Buddhismus verwischt würde). Innerhalb ihres ursprünglichen theistischen Kontextes sind positive und negative Aussagen über Gott unabhängig voneinander, wobei letzte die ersteren unverzichtbar voraussetzen, weil die negativen Aussagen allein sinnlos sind.
Negative Qualifikationen positiver Aussagen, die Gott die so genannten ‚Vollkommenheiten‘ zuschreiben, beispielsweise die Existenz, das Leben, die Güte, das Wissen, die Liebe oder aktive Kraft (‚Stärke‘), sind offensichtlich notwendig, wenn man sich Gott nicht vorstellen kann. Wenn seine Gegenwart immer die seines ganzen Seins und Lebens insgesamt und auf einmal ist, und zwar an jedem Ort in Raum und 1272
Neukantianismus
Zeit, dann muss er nicht-räumlich und nicht-zeitlich in seinem Sein und seinem Wesen sein, und dies ist in der Tat unvorstellbar. Seine angenommene ‚Einfachheit‘ und ‚Unendlichkeit‘ impliziert jedoch, dass er in einem viel radikaleren Sinne außerhalb der Reichweite unseres Verständnisses oder unserer Auffassung ist, wodurch sich der negative Weg auf einer tieferen Ebene doch wieder stärker aufdrängt als die reine Unvorstellbarkeit. Diese Unvorstellbarkeit und Unbegreiflichkeit sind die Schlüssel zu den theistischen Darstellungen der Gebete und des mystischen Lebens. Siehe auch: Patristische Philosophie DAVID BRAINE
Négritude
Siehe: Afrikanische Philosophie, anglophone; Afrikanische Philosophie, Frankophone
Neukantianismus
Im Gegensatz zu den früheren Forschungen, die sich für eine Unterscheidung von bis zu sieben Denkschulen innerhalb des Feldes des Neukantianismus entschieden, gehen jüngere Studien von zwei grundlegenden Bewegungen als ihrem Anfang aus: die Marburger Schule und die Südwestdeutsche Schule, die jeweils auf systematisch orientierten Arbeiten über Kant, veröffentlicht in den 1870er– und 1880er Jahren durch Hermann Cohen und Wilhelm Windelband, aufbauten. Cohen meinte, dass sich Kant in allen drei Kritiken um die Offenlegung jener apriorischen Aspekte bemühte, die vor allem die Bereiche der wissenschaftlichen Erfahrung, der Moral und der Ästhetik hervorbrachten. Auf der anderen Seite meinte Windelband, dass Kants Leistung in dem Versuch lag, eine kritische Wissenschaft der Normen zu erschaffen, die statt einer Herkunftserklärung bezüglich der Normen der Logik, der Moral und der Ästhetik deren Geltung beleuchten wollte. Beide Ansätze führten nach einer Anfangsphase, in der man sich Kants Lehren aneignete, zur Entwicklung eigener Systeme. So publizierte Cohen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein ‚System der Philosophie‘, das aus der ‚Logik der reinen Erkenntnis‘ (1902), der ‚Ethik des reinen Willens‘ (1904) und der ‚Ästhetik des reinen Gefühls‘ (1912) bestand, und in dem der operative Ansatz seiner Arbeiten über Kant weiter vorangetrieben wird. Noch später konzipierte Cohen sein Werk ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ (1919). Windelband, der sich bis dahin vor allem einen Namen in der Geschichte der Philosophie gemacht hatte, verstand die Philosophie als etwas, wo es im Wesentlichen um Werte geht, die im transzendentalen Bewusstsein verankert sind. Er verknüpfte mit Nachdruck die klassische Aufteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Ästhetik mit den Werten des Wahren, des Guten und des Schönen und versuchte auch, die Religionsphilosophie in diesem Kontext zu verorten. Abgesehen von Cohen wird die Marburger Schule von Paul Natorp und Ernst Cassirer repräsentiert, deren frühe Arbeiten Cohens philosophischen Ansichten folgten (vgl. Natorps Interpretation der platonischen Ideenlehre und Cassirers Geschichte des Erkenntnisproblems), deren spätere Arbeiten aber von diesem Ansatz abwichen. Gleichwohl können ihre Zusätze und Entwicklungen auch innerhalb des Rahmens der ursprünglichen Marburger Lehren erklärt werden. Die ontologische Wende, die Natorp in seinen späteren Jahren vollzog, kann man als eine Radikalisierung des Cohenschen Prinzips des Ursprungs verstehen, von dem Natorp mein1273
Neukantianismus
te, dass er nicht als rein intellektuelle Setzung ausgedrückt werden könne, und das funktionale Moment, dass von Cohen eingeführt wurde, lebte als eine Theorie der schöpferischen Gestalt in Cassirers Theorie der symbolischen Formen fort. Zusätzlich zu Windelband wird die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus von Heinrich Rickert, Emil Lask, Jonas Cohn und Bruno Bauch repräsentiert. Windelband regte zwar die systematische Herangehensweise der Südwestdeutschen Schule an, doch es war Rickert, der sie voll entwickelte. Anders als Windelband, der den Unterschied zwischen der Geschichte und der Wissenschaft auf den Unterschied zwischen den idiographischen (d.h. den bildschriftlichen) und den nomothetischen (d.h. den Gesetze aufstellenden) Methoden zurückführte, unterschied Rickert zwischen den individuierenden Begriffen der Geschichte und den verallgemeinernden Begriffen der Wissenschaft. In seiner mittleren Schaffensperiode wandte er sich dem Problem der Artikulation eines Wertesystems zu. In seinen späteren Arbeiten bemühte sich Rickert auch um die Ontologie, wobei dies eine Entwicklung darstellt, die nicht notwendig als ein Bruch mit den grundlegenden Theorien seiner frühen Jahre interpretiert werden muss. Genauer gesagt unterschied Rickert, indem er auf seinen frühen Theorien betreffend die konstitutive Rolle der Begriffe in der Erfahrung aufbaute, hinfort nicht nur das Reich der wissenschaftlichen und kulturellen Gegenstände einerseits und der Wertsphäre andererseits, sondern auch die weiteren ontologischen Weltregionen der freien Subjekte und der metaphysischen Welt, wobei letztere der Gegenstand des Glaubens ist, und die man nur durch das Denken in Symbolen erfassen kann. Lasks theoretische Philosophie war von einer Hinwendung zum Objektivismus gekennzeichnet. Im Gegensatz zur klassischen neukantianischen Konzeption des Wissens, derzufolge alles Gegebene durch die Form seiner Auffassung bestimmt ist, sieht Lask die Materie als das Element an, das die Bedeutung bestimmt. Entsprechend liegt im Kern dieser Erkenntnistheorie nicht die Tätigkeit des Subjekts zur Bildung des Gegenstandes, sondern die Offenheit des Subjekts zum Gegenstand. Auf der letzten Stufe seiner Philosophie schrieb er jedoch erneut dem Subjekt eine autonome Rolle bei der Verwirklichung der Erkenntnis zu. Cohn steuerte zur Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus nicht nur seine ‚Allgemeine Ästhetik‘ (1901) bei, sondern auch Werke zur Kulturphilosophie und Erziehung, sowie solche über die systematische Gliederung der Werte und das Problem der Wirklichkeit. Während der 1920er Jahre bewegte sich Cohn hin zur Dialektik. Im Gegensatz zu Hegel fasste er diese jedoch als etwas auf, was insofern kritisch sei, als es ihr nicht um die Aufhebung oder Überwindung des Gegensatzes ginge, sondern sie sich lediglich selbst die niemals endende Aufgabe setzt, miteinander unversöhnliche Widersprüche aufzulösen. Schlussendlich kann Bauch als der essentiellste synthetische Denker der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus betrachtet werden. Er versuchte die untrennbare Verbundenheit der individuellen Probleme aufzuzeigen, die im Allgemeinen gesondert behandelt wurden. Abgesehen von seinen großartigen Kant-Monographien entwickelte er diese Ideen auch in seinen systematischen Arbeiten über die Fragen der theoretischen und der praktischen Philosophie weiter, wie z.B. in seiner Studie ‚Wahrheit, Wert und Wirklichkeit‘ (1923) und seinem Buch ‚Grundzüge der Ethik‘ (1935).
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Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
Trotz der Einseitigkeit seiner Rezeption der kantischen Lehren war der Neukantianismus für den Anstoß wichtig, den er der Forschungsbemühung um die kantische Philosophie während des 20. Jahrhunderts gab. Seine systematische Leistung liegt in seiner Entwicklung des normativen Begriffs der Geltung und seinem programmatischen Entwurf einer Kulturphilosophie. Siehe auch: Cohen, H.; Nishida Kitarō HANS-LUDWIG OLLIG
Neumann, Franz
Siehe: Frankfurter Schule
Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des Einführung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die herrschende philosophische Anschauung auf die ein oder andere Weise eine idealistische, wobei bereits Versuche unternommen wurden, die intellektuelle Revolution, die Kant unternommen hatte, zu Ende zu führen, die er aber nach Meinung der nachfolgenden Generation auch auf vielfältige Weise selbst gefährdete. Nach dem Höhepunkt der Herrschaft von Hegel und dem Hegelianismus in den 1830er Jahren wurde diese idealistische Position schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus einer Reihe von Perspektiven kritisiert, einschließlich jener des Neukantianismus, der versuchte, zu einem Idealismus zurückzukehren, der dem kantischen näher war, und dem Positivismus, der nach einer Wiederbelebung des Empirismus trachtete, den Kant in Zweifel gezogen hatte. Dennoch verlor der Idealismus niemals gänzlich seinen Einfluss, und es gibt interessante und wichtige Gegenströmungen zwischen allen diesen Positionen durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch. Aus unserer gegenwärtigen Perspektive sind viele Diskussionen bereits die Vorboten zeitgenössischer Kontroversen, wie z.B. jene zwischen Naturalismus und Transzendentalismus, und jene zwischen unterschiedlichen Formen des Idealismus und des Realismus, sowie die weiter gefassten Fragen betreffend die Natur der Philosophie und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion. 1. Vom 18. zum 19. Jahrhundert 2. Der Idealismus des 19. Jahrhunderts 3. Die Wendung gegen den Idealismus: Materialismus, Positivismus, Empirismus, Naturalismus 4. Das erneute Auftauchen des Idealismus 5. Das Vermächtnis der Philosophie des 19. Jahrhunderts 1. Vom 18. zum 19. Jahrhundert In seiner ‚Autobiography‘ (geschrieben in den 1850er und 1860er Jahre) identifizierte J.S. Mill bekanntlich „die Reaktion des 19. gegenüber dem 18. Jahrhundert“ als ein zentralen Merkmal des intellektuellen Lebens dieser Epoche. Die Reaktion, auf die sich Mill hier bezieht, ist die Art und Weise, auf die viele Denker des frühen 19. Jahrhunderts die Konzeption der aufgeklärten Vernunft sahen, und den Naturalismus und den Liberalismus als etwas, was zum Skeptizismus, Materialismus und der Anarchie führt. Wenn der Rationalismus, die Wissenschaft und die Freiheit etwas seien, was es zu verteidigen gälte, so argumentierten sie, so könne dies nur 1275
Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
geleistet werden vor dem Hintergrund irgendeiner Art von Idealismus, der ein neuartiges Nachdenken über die Religion, die Natur und die soziale und historische Welt voraussetze. Für ihre Kritiker war dieser Anspruch der Idealisten, die die Perspektive des 18. Jahrhunderts in Frage stellen wollten, nicht mehr als ein Deckmantel für eine Rückkehr zu jener Art von reaktionärem, metaphysischem Denken, dass doch die Aufklärung gerade erst hinweggefegt hatte. Diese Kritiker versuchten daher den Empirismus, die Autorität der Wissenschaft und den Naturalismus gegen diese Bürde zu verteidigen, und so entstand eine Gegenreaktion im Interesse der Ideale des 18. Jahrhunderts. Mill beschrieb den hierdurch entfachten Kampf mit einem denkwürdigen Bild: „Der Kampf zwischen dem 19. und dem 18. Jahrhundert erinnerte mich immer an die Schlacht um das Schutzschild, von dem die eine Seite schwarz, und die andere Seite weiß war. Ich staunte über die blinde Wut, mit der die Kombattanten aufeinander losgingen“ (aus seiner Autobiographie). (Siehe Aufklärung, Kontinentaleuropäische) Die Ursprünge dieses Kampfes finden sich bereits im 18. Jahrhundert und können bis zu Kant zurückverfolgt werden, der damit auch im 19. Jahrhundert eine Schlüsselfigur bleibt. Während Kant auf seiner Stufe tief den Ideen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verpflichtet war, nämlich der Freiheit, der Vernunft, der Newtonschen Wissenschaft, der religiösen Toleranz, schien es ihm doch, dass die Erkenntnistheorie und die Metaphysik der Aufklärung, also der Empirismus, der Realismus und der Materialismus, zu einer Aushöhlung dieser Ideale führten, weil die Freiheit durch die kausale Determination, die Vernunft und die Wissenschaft durch den Skeptizismus, und die Religion durch dogmatische Materialisten und militante Atheisten gefährdet wurden. Kant versuchte deshalb, die aufklärerischen Ideale zu erhalten, gleichzeitig aber jene Erkenntnistheorie und Metaphysik zu stürzen, die sie aus seiner Sicht zu untergraben schienen. Seine Lösung war das, was er ‚transzendentalen Idealismus‘ nannte. Seine Strategie lautete zu behaupten, dass der Skeptizismus, der Determinismus und der Atheismus vermieden werden können, sobald die empirische Welt als eine Erscheinung behandelt werde: der Skeptizismus werde dadurch vermieden, weil wir dann sicher sein können, dass diese Welt mit unseren Begriffen übereinstimmen werde; der Determinismus werde vermieden, weil die Kausalität nur in der Sphäre der Erscheinungen wirke und nicht in Beziehung auf Dinge an sich, wo das Selbst angesiedelt sei; und der Atheismus könne vermieden werden, weil wir immer noch die Existenz von Gott und der Unsterblichkeit postulieren können, und damit dem Glauben Platz ließen. Indem er jedoch die Ideale der Aufklärung auf diese Weise präsentierte, stürzte Kant bewusst ihre Erkenntnislehre und ihre Metaphysik um; er argumentierte nämlich, dass uns die Erfahrung keinen Zugang mehr zur geistunabhängigen Wirklichkeit vermittelt, die rein materiell und kausal determiniert ist. Stattdessen ist das, was wir auf diese Weise erfahren, nur die Welt, eben wie sie uns erscheint. Trotzdem versuchte er seinen Zeitgenossen diese bittere Pille zu versüßen, indem er betonte, dass die Empiristen und die Materialisten selbst akzeptiert hätten, dass dies hinsichtlich vieler Aspekte der Welt wahr wäre, die der Alltagsverstand als unmittelbar wirklich versteht, wie z.B. die Farbe und der Geschmack von Dingen. Alles was er tue, sei nur die Anwendung derselben Idee auf einer höheren Ebene, d.h. auf die Zeit und den Raum selbst. Sobald dieser Schritt einmal getan sei, so argumentierte er, könne man sehen, dass der Empirismus und
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der Materialismus selbst zum transzendentalen Idealismus führen würden, und dass dieser daher die ganz natürliche nächste Stufe des aufgeklärten Denkens sei. Für diejenigen, die im 19. Jahrhundert nach Kant kamen, so wie die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel, die Romantiker Hölderlin, Novalis und Schlegel, ferner der protestantische Theologe Schleiermacher, war das allgemeine Vorhaben noch dasselbe, und die Diagnose war eine gemeinsame. Doch die kantische Lösung wurde abgelehnt. Das heißt, für diese Generation von Denkern war es klar, dass die Perspektive der Aufklärung der englischen Empiristen und der französischen Enzyklopädisten, trotz ihrer hohen Ideale, durch einen skeptizistischen, materialistischen und nihilistischen Zusammenbruch gefährdet war. Entsprechend teilten sie mit Kant die Empfindung, dass der Fehler in der Metaphysik und der Erkenntnistheorie der Denker des 18. Jahrhunderts lag. Allerdings meinten sie auch, dass die kantische Berufung auf den transzendentalen Idealismus als Alternative unangemessen gewesen sei, teilweise deshalb, weil sie selbst mit ihrer atomistischen Sichtweise der Erfahrung, ihrem Skeptizismus über die Welt an sich und ihrer Bindung an die Newtonsche Mechanik im Sinne eines wissenschaftlichen Paradigmas der Perspektive des 18. Jahrhunderts zu stark verhaftet waren, die sie doch transzendieren wollten. Diese Unzufriedenheit mit Kant wurde teilweise bereits durch die etwas frühere Kritik an Kant u.a. durch Jacobi, Herder und Hamann eingeleitet. Auf verschiedenen Wegen suchten diese Postkantianer nach anderen Lösungen für die Krise des Denkens im 18. Jahrhundert, auf die Kant reagiert hatte, und sie waren sich darin einig, dass das kantische radikal-dualistische Bild der Erscheinungen und das ‚Ding an sich‘ den Zusammenbruch in den Skeptizismus, Determinismus und Atheismus nicht verhindern könne. Obwohl er in dieser Zeit von den Übrigen ignoriert wurde, war Schopenhauer der einzige größere Denker dieser Epoche, der immer noch weitgehend innerhalb des kantischen Rahmens zu arbeiten versuchte, während Kant außerhalb Deutschlands weiterhin viele Anhänger fand, z.B. Rosminiserbati in Italien. 2. Der Idealismus des 19. Jahrhunderts Während die postkantianischen deutschen Idealisten und Romantiker eine gemeinsame Einschätzung der Schwierigkeiten hatten, die es zu überwinden galt, und auch der Art und Weise, wie Kant selbst dabei gescheitert war, diese Schwierigkeiten zu lösen, unterschieden sie sich doch darin, welche Alternative zu wählen sei, und der Streit zwischen ihnen war zeitweise intensiv (siehe Deutscher Idealismus). Im Hinblick auf den historischen Einfluss besteht allerdings kein Zweifel, dass Hegel als der Denker mit der größten Wirkung aus den1820er und 1830er Jahren hervorging, und zwar sowohl innerhalb Deutschlands, als auch in großen Teilen des übrigen Europas und später in Amerika (siehe Bakunin, M.A.; Belinskij, V.G.; Cousin, V; Hegelianismus), obwohl Schelling in dieser Zeit ebenfalls Nachfolger außerhalb Deutschlands hatte, wie auch Krause in Spanien und Argentinien. Wenn auch einige den Eindruck hatten, dass Hegel den großen Zyklus des westlichen Denkens zu einem befriedigenden Abschluss gebracht habe, und dass es kein Vor und Zurück hieraus mehr gäbe, blieb es doch nicht lange bei diesem Eindruck, teilweise wegen der Schwierigkeiten und Spannungen, die auftauchten, als Hegels Denken stärker in Frage gestellt wurde, und teilweise, weil ab 1840 eine wachsende Wiederbelebung der Perspektive des 18. Jahrhunderts stattfand, die der Idealismus 1277
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in den Schatten gestellt zu haben meinte. Daher sah sich Hegels große Synthese einerseits der Kritik und Nachbesserung durch eine Reihe jüngerer und radikaler Denker wie z.B. Feuerbach, Hess, Ruge, Bauer, Cieszkowski, Herzen, Marx, Heine und Kierkegaard ausgesetzt, von denen einige teilweise durch Schellings Angriff auf Hegel nach dessen Tod angeregt waren (siehe Schelling), und durch weitere andere Kritiken wie z.B. die von Trendelenburg; und andererseits ergab es sich, dass die idealistische Kritik des Denkens des 18. Jahrhunderts, die davon ausging, dass dieses Denken in den Determinismus, den Immoralismus, den Atheismus und den Skeptizismus führen würde, selbst irregeleitet war – oder, sofern sie berechtigt war, einfach akzeptiert werden müsste, genauso wie die herbe, aber unvermeidliche Wahrheit über die Welt und unseren Platz darin. Aller zugrunde liegenden Beweggründe beraubt, zeigte sich der postkantianische Idealismus nunmehr als reaktionär, der einfach versuchte, die grundlegenden Wahrheiten zu vernebeln, die die Empiristen des 18. Jahrhunderts entdeckt hatten, dass wir nämlich natürliche Geschöpfe sind, die in einem gottlosen Universum leben, das von den naturwissenschaftlichen Gesetzen regiert wird, zu denen uns die Erfahrung einen zwar angemessenen, aber nur beschränkten Zugang verschafft. Die gründlichsten Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie z.B. Marx, Mill und Nietzsche, können als Philosophen betrachtet werden, die darum kämpften, mit diesen Einsichten zurecht zu kommen und irgendeinen Schritt über diese Schlussfolgerung hinaus zu finden, ohne zum Idealismus zurückkehren zu müssen. 3. Die Wendung gegen den Idealismus: Materialismus, Positivismus, Empirismus, Naturalismus Nachdem die Autorität des Hegelschen Idealismus ab 1840 in Frage gestellt wurde, ist der übrige Teil dieses Jahrhunderts von einem Kampf zwischen jenen gekennzeichnet, die versuchten, ins 18. Jahrhundert zurückzugehen und die Lehren von Locke, Hume, Bentham oder den französischen Materialisten zu überarbeiten, und jenen anderen, die glaubten, dass dies ein Rückschritt sei, der nur zu denselben Fehlern führen könne und damit zu einer Bedrohung der Freiheit, der Vernunft, der Moral und der Religion. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich eine Rückkehr zum 18. Jahrhundert vielleicht am offenkundigsten in Art und Weise, wie die größten Bewegungen dieser Epoche, d.h. der Materialismus, der Positivismus und der Empirismus, auf eine Konzeption der Wissenschaft und zu einer Beziehung zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie zurückschwenkten, die zum 17. und 18. Jahrhundert gehörte, als die wissenschaftliche Revolution entscheidend das philosophische Denken geprägt hatte. Es wäre falsch, den deutschen Idealismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als grob ‚antiwissenschaftlich‘ zu charakterisieren; zugleich sah er sich selbst nämlich durchaus im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Paradigmen des 17. und 18. Jahrhunderts, speziell zu den philosophischen Konsequenzen aus den Erkenntnissen von Newton. Im frühen 19. Jahrhundert wurde der neue Ansatz der Naturphilosophie, der vor allem von Schelling, Goethe und Hegel vertreten wurde, in der Tat bei einigen Forschern zur favorisierten naturwissenschaftlichen Perspektive und war beispielsweise im Werk von Lorenz Oken, Hans Christian Ørsted und Johann Wilhelm Ritter sehr fruchtbar. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese idealistische Naturphilosophie 1278
Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
als rein metaphysische Spekulation abgetan, weil sie mit der wahren Wissenschaft nichts zu tun habe, und was wiederum als Voraussetzung einer Bindung an die mechanistischen Erklärungsparadigmen galt, den die Naturphilosophen in Frage zu stellen versucht hatten. Daher kann die Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Rückkehr zu der Positionen gesehen werden, die sie schon zuvor einmal angenommen hatte, als sie unter dem Einfluss der wissenschaftlichen Revolution im 17. und 18. Jahrhundert gestanden hatte. Im 18. Jahrhundert war eine der Weisen, auf die man am direktesten diesen Einfluss zu spüren bekam, die physikalistische, mechanistische und deterministische Konzeption, die die Philosophen als das endgültige Wesen der Wirklichkeit entwarfen. Diese Auffassung wurde von den radikalen französischen philosophes der Aufklärung, speziell von Julien de La Mettrie und Paul d’Holbach, vertreten, die in ihrem wissenschaftlichen Materialismus kompromisslos waren. Indem sie darauf hinarbeiteten, die kartesische Dualität des Geistes und der Materie zu überwinden, sahen sie die materielle Welt gleichzeitig und im Wesentlichen als ein mechanistisches Gebilde an. Zur Herausforderung aller metaphysischen Spekulationen und Aprioris setzten sie auch die Autorität und die Methoden der Naturwissenschaft ein und verteidigten stattdessen einen gründlichen Empirismus. Auf ähnliche Weise nahm auch der Materialismus im 19. Jahrhundert eine verwandte Einstellung an und begriff diese als eine Lehre der zeitgenössischen Naturwissenschaften, die sie als bruchlose Fortsetzung des Physikalismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert auffassten. Das Denken von La Mettrie und d’Holbach hat daher im 19. Jahrhundert in Deutschland sein Gegenstück in den Werken von Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner und Heinrich Czolbe, in England bei John Tyndall und bei Nikolai Chernytschevski in Russland (siehe auch Nihilismus). Die Wirkung von Darwin und des Darwinismus spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Autorität dieser breit materialistisch und naturalistisch angelegten Perspektive, sowie bei ihrer Ausdehnung auf das Verständnis des Geschichtsprozesses selbst (siehe Materialismus, § 3). Während der Materialismus vielleicht für den direktesten Einfluss der Naturwissenschaft auf die Philosophie steht, findet sich eine etwas geringere Wirkung auch in der Neubelebung des Empirismus und der damit zusammenhängenden Position des Positivismus, in dem die Philosophen auf die Naturwissenschaft und die naturwissenschaftlichen Methoden schauten, um zu verstehen, wie Wissen über die Welt erworben werden kann, welche Form dieses Wissen annimmt, und wie weit es sich ausdehnen lässt. Wie bereits im 17. und 18. Jahrhundert beruhte diese Sichtweise auf der Empfindung, dass die naturwissenschaftliche Untersuchung enorm erfolgreich sei und deshalb auch als Modell für alle kognitiven Unternehmungen taugen müsse. Dieses Modell war induktivistisch geprägt: indem sie sich auf Beobachtungen stützt und daraus beobachtungsbasierte Verallgemeinerungen ableitet, sei die Naturwissenschaft in der Lage, die gesetzesgesteuerten Kausalbeziehungen zwischen natürlichen Phänomenen offen zu legen. Nach dieser Sichtweise sind wir in der Lage, ein angemessenes Verständnis der Welt zu erlangen, und zwar im Sinne eines Verständnisses, das für die Naturwissenschaften vollkommen befriedigend ist, ohne dass man sich dabei auf metaphysische Spekulationen einlassen oder versuchen müssten, die Grenzen der Erfahrung zu übersteigen. Keine weitere Wissensform sei uns möglich, ja nicht einmal wünschenswert, insofern die empirischen 1279
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Wissenschaften uns mit einem vollständig angemessenen Verständnis der Welt um uns versorgen. Wie Mill uns erklärt, sahen sich die Empiristen und Positivisten des 19. Jahrhunderts durch die Einnahme einer solchen Haltung als Rückkehrer zu der älteren empiristischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts. „Die Wahrheit dieser viel debattierten Frage betreffend die Quellen unseres Wissens liegt in der Schule von Locke und Bentham. Das Wesen und die Gesetze der Dinge-an-sich oder der verborgenen Ursachen von Phänomenen, die Gegenstände unserer Erfahrung sind, scheinen uns bzw. dem menschlichen [Erkenntnis-] Vermögen absolut unzugänglich zu sein. Wir sehen keinen Grund für die Annahme, dass irgendetwas außer unsere Erfahrung und dem, was im Wege der Analogie aus unserer Erfahrung zu schließen ist, Gegenstand unseres Wissens sein kann; noch, dass es irgendeine Idee, ein Gefühl oder eine Kraft im menschlichen Geist gibt, die zur Darstellung dieses Wissens voraussetzt, dass dessen Ursprung aus irgendeiner anderen Quelle erschlossen werden sollte.“ (Coleridge, 1840) Wir sehen hier eine typische Mischung empiristischer und positivistischer Themen, die um einen erneuerten Glauben an die Methoden und die Ergebnisse der Naturwissenschaften angeordnet sind, wie diese bereits im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert worden waren, zusammen mit einem scharfen Bewusstsein für die Grenzen der wissenschaftlichen Untersuchung aus der metaphysischen Perspektive: metaphysische Fragen zu den ‚verborgenen Ursachen der Phänomene‘ müssen unbeantwortet bleiben, jedoch auf eine Weise, die die Angemessenheit unserer Untersuchung unberührt lässt. Die scharfe Unterscheidung zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft, die im 17. und 18. Jahrhundert entstand, kann als Kennzeichnung des Positivismus und Empirismus auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet werden, denn in beiden Epochen wurde diese Unterscheidung eingesetzt, um den Vorrang der Naturwissenschaft über die Metaphysik zu postulieren, wogegen in dem früheren Abschnitt dieses Jahrhunderts die Rangfolge genau umgekehrt gegeben war. (Siehe Brentano, F.C.; Comte, A.; Mach, E.; Positivismus in den Sozialwissenschaften) Eine dritte Art und Weise, auf die die Naturwissenschaft die Philosophie ab den 1840er Jahren beeinflusste, und zwar parallel zu dem Einfluss, den sie im 17. und 18. Jahrhundert ausübte, zeigte sich darin, wie die Naturwissenschaft – speziell die Physiologie und die Psychologie – zur einer naturalistischen Auffassung des Geistes als etwas führten, das im Einklang mit Prozessen und Gesetzen arbeitet, die ebenfalls natürlich-kausaler Art sind, wodurch sie keinen Raum für irgendein kantisches ‚transzendentales Subjekt‘ außerhalb dieser Ordnung ließ. Dies hatte Folgen sowohl für die Philosophie des Geistes, als auch für die Erkenntnistheorie, wo es darum geht zu zeigen, wie verschiedene mentale Fähigkeiten und Wissensformen (wie z.B. das angeborene, apriorische Wissen, die Intentionalität oder die Normativität des Denkens) mit diesem naturalistischen Bild vereinbar sind, oder – sofern dies nicht der Fall ist – wie sie ‚wegerklärt‘ werden können. Dieses Programm wurde am klarsten und gründlichsten bei Mill durchgeführt, aber auch in den Arbeiten von Hermann von Helmholtz, Herbert Spencer und William James. Deshalb kann das Auftauchen dieser Denkrichtungen – metaphysischer Materialismus, Empirismus und Positivismus, sowie Naturalismus – dem vorherrschenden Idealismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts gegenübergestellt werden, und jede von ihnen kann als eine Erneuerung von Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts 1280
Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
gesehen werden, geformt durch eine Rückkehr zur naturwissenschaftlichen Perspektive und deren Beziehung zur Philosophie, die sich erstmals in diesen frühneuzeitlichen Epochen herausbildete. Dennoch gibt es bedeutende Spannungen zwischen diesen Denkrichtungen, die die Debatten des 19. Jahrhunderts kennzeichneten, wie dies auch schon der Fall gewesen war, als sie sich das erste Mal ereigneten. Eine solche Spannung bestand zwischen dem metaphysischen Materialismus einerseits und dem Positivismus auf der anderen Seite; denn von einem positivistischen Standpunkt aus betrachtet schien es, als ob der Materialismus nicht zu rechtfertigen sei, weil er Behauptungen über die letzte Ursache der Wirklichkeit mit sich brachte, die nicht mehr auf der Grundlage normaler naturwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigt werden konnten, womit sie die erkenntnistheoretischen Grenzen überschritten, die die Positivisten sich selbst gesetzt hatten. Auf ähnliche Weise bestärkte der Positivismus eine instrumentalistische oder konventionalistische Konzeption der naturwissenschaftlichen Theorien, die zu einer Art von antirealistischem Konstruktivismus betreffend die natürliche Welt zu führen drohten. Dies vertrug sich im Übrigen auch nicht mit dem materialistischen Realismus (siehe Duhem, P.M.M.; Konventionalismus; Mach, E.; Poincaré, J.H.). Eine weitere Spannung entstand zwischen dem Positivismus und dem Empirismus, wobei der Positivismus – wie von Comte vorgetragen – zu größeren Konzessionen gegenüber den rationalistischen und kantischen Traditionen in der Lage war als die Empiristen, wie z.B. Mill, indem er akzeptierte, dass die naturwissenschaftliche Untersuchung eine Beobachtung mit sich bringt, die tatsächlich in gewisser Weise theoretisch vorgeformt ist. Eine weitere Spannung sieht man ferner in der Beziehung zwischen dem Empirismus und dem Naturalismus, beispielsweise in der Art und Weise, wie Mills Empirismus zum Phänomenalismus führte, der besagt, dass der Geist und die Erfahrung alles sind, was existiert; aber diese Position scheint sich wiederum nicht mit seiner Bindung an den Naturalismus zu vertragen, der normalerweise impliziert, dass der menschliche Geist Teil einer realistisch konzipierten, natürlichen Welt ist. Während Comte versuchte, dem wissenschaftlichen Verständnis der Gesellschaft und ihrer historischen Entwicklung einen eigenen und spezifischen Status zu verleihen, wurde schließlich der Umstand, dass dieses Verständnis durch Paradigmen der Naturwissenschaften geformt wurde, zur unvermeidlichen Drohung, dass diese Form der Sozialtheorie dadurch in den Reduktionismus ‚abrutscht‘. (siehe Positivismus in den Sozialwissenschaften). 4. Das erneute Auftauchen des Idealismus Genauso wie diese internen Spannungen wurden die drei Richtungen des Materialismus, des Positivismus und des Naturalismus ebenfalls mit Gegenströmungen des Idealismus und der idealistischen Traditionen konfrontiert, die auf unterschiedliche Art und Weise die von Ersteren vertretene Konzeption der Naturwissenschaften in Frage stellten. So wurde beispielsweise der Materialismus von Büchner, Vogt und Moleschott zuerst durch Engels in Frage gestellt, der eher mit der Kritik des Mechanizismus sympathisierte, wie sie von den ‚Naturphilosophen‘ vorgetragen worden waren, während er dem widersprach, was er als ihren Idealismus ansah. Engels argumentierte, dass der metaphysische Materialismus genau deshalb veraltet sei, weil dessen Grundlagen um das frühneuzeitliche Wissenschaftsparadigma herum angeordnet seien; Engels führte dagegen die seinerzeit aktuellen physikalischen Entwicklungen wie die elektromagnetische Feldtheorie an, die er für ein weniger 1281
Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
mechanistisches bzw. atomistisches metaphysisches Bild hielt (siehe auch: Dialektischer Materialismus). Von zahlreichen Hegelianern wie z.B. Johann Bernard Stallo, der auch R.W. Emerson beeinflusste, wurde vorgetragen, dass Hegels Konzeption der Dialektik und seine Betonung der Zeit und des Wandels mit der Evolutionstheorie vereinbar sei, die wiederum von einem im geringeren Maße mechanistischen Verständnis der beteiligten Prozesse ausging, und mehr von Zufallsvariationen und natürlicher Selektion. Auf ähnliche Weise nahm Ravaisson in Frankreich eine mehr zur Romantik tendierende Konzeption der Natur an, die auf der Irreduzibilität der höheren geistigen Fähigkeiten auf materielle Prozesse beruhte, während der britische Psychologist James Ward gleichermaßen kritisch dem Mechanizismus gegenüber stand. Während ferner die Neukantianer dem widersprachen, was sie als die antinaturwissenschaftliche, spekulative Metaphysik des hegelianischen Idealismus ansahen, stellten sie doch gleichzeitig die Frage, wie weit die menschliche Auffassung auf natürliche Prozesse reduziert werden kann, wobei sie argumentierten, dass Kants transzendentaler Erkenntnisansatz für eine richtige Grundlegung der Wissenschaften gebraucht würde (siehe Cohen, H.; Neukantianismus; Renouvier, C.B.). Zweitens: Während die Positivisten einer einheitlichen Konzeption der naturwissenschaftlichen Methode verpflichtet waren, weil der Mensch und die Natur jeweils eigenständige Kontinua seien, sahen diejenigen, die in der kantischen Tradition arbeiteten, die Notwendigkeit zur wiederholten Behauptung einer grundlegenden Trennung der natürlichen von den Humanwissenschaften und stellten mithin die Annahme der Einheitlichkeit in Frage, auf welcher der Positivismus beruhte. Die bedeutendste Figur war hier Wilhelm Dilthey, der in den 1880er Jahren und darüber hinaus argumentierte, dass die menschlichen Kulturen Untersuchungen erforderten, die nicht auf Klassifizierung und kausaler Erklärung aufbauen, sondern von innen heraus durch die lebendige Erfahrung geleitet würden, was er als eine historische Fragestellung begriff und nicht als etwas, was unter die unhistorischen Paradigmen der Naturwissenschaften fiele. Während nach Dilthey also die Positivisten Recht darin hätten, dass die Naturwissenschaften nach allgemeinen Gesetzen Ausschau hielten, hätten die ‚Geisteswissenschaften‘ (ein von ihm geprägter Ausdruck) die anders lautende Aufgabe, die Bedeutung einzelner menschlicher Situationen aufzusuchen und sich dadurch ein hermeneutisches Verständnis des Menschen statt einer voraussagenden Kontrolle anzueignen. (Siehe auch: Naturalismus in den Sozialwissenschaften; Neukantianismus.) Drittens: Mills empiristische Annahme, dass die naturwissenschaftliche Methode rein induktiver Natur sei, wurde durch eine Fehldarstellung und Übervereinfachung der tatsächlichen wissenschaftlichen Methodik durch William Whewell herausgefordert, der ein stärker an Kant orientiertes Bild zeichnete, nach dem die Ideen den Empfindungen zugeschrieben und nicht von ihnen abgleitet würden. Er behauptete auch, dass der Positivismus seine empiristischen Ansprüche betreffend die Grenzen der Untersuchung zu weit triebe, und wandte ein, dass wir über Ursachen spekulieren müssen, wenn wir Gesetze behaupten wollen. Auf ähnliche Weise kombinierte Peirce seine Verpflichtung gegenüber den Methoden der Naturwissenschaften mit einer Anerkennung ihrer metaphysischen Grundlagen auf eine Weise, die ihn die Naturphilosophie von Schelling und Hegel im Verein mit deren antinominalistischem Idealismus sehr ernst nehmen ließ.
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Neunzehnten Jahrhunderts, Philosophie des
Was den Naturalismus angeht, widersprachen schließlich mehrere der neukantianischen Schulen in Deutschland sowohl der empiristischen Ablehnung des Apriori, als auch dem Psychologismus über das Apriori, weil dies den Eindruck erweckte, als sollten die Logik und die Erkenntnistheorie unter die Psychologie subsumiert werden. Dieser Nicht-Naturalismus sollte über den Anti-Psychologismus von Frege noch einen entscheidenden Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts ausüben. Widerstand gegen den Naturalismus findet sich auch in Royces idealistischer Alternative (siehe Royce, J.) gegen James’ naturalistischen Pragmatismus, sowie in den Werken der britischen Idealisten, unter denen vor allem T.H. Green Kant gegen die Hume-Interpretation von Mill ausspielte und Mill und andere Empiristen in Anbetracht der kantischen Anerkennung der Humeschen Lehren der Naivität beschuldigte, die doch besagten, dass der Naturalismus in den Skeptizismus führe. Großbritannien und andere europäische Länder beendeten deshalb das 19. Jahrhundert mit einem Wiederaufleben der Positionen, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts vorherrschend gewesen waren, die aber offensichtlich durch die ‚Rückkehr ins 18. Jahrhundert‘ ab den 1840er Jahren für eine Weile in den Schatten gestellt worden waren (siehe: Berdiaev, N.A.; Bergson, H.-L.; Bosanquet, B.; Bradley, F.H.; Croce, B.; Gentile, G.; McTaggart, J.M.E.). In Anbetracht der Polarität, die sich von der Jahrhundertmitte an zwischen dem Idealismus auf der einen und verschiedenen Richtungen des Materialismus, Positivismus und Naturalismus auf der anderen Seite entwickelte, überrascht es nicht, dass einige Denker nach Wegen eines Kompromisses zwischen ihnen suchten. Ein Weg dahin bestand in dem Aufgreifen einer Art kantischer Bescheidenheit, wobei der Positivismus und der Naturalismus hinsichtlich der materialen Welt angenommen wurden, gleichzeitig aber Grenzen unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis gesetzt wurden, über die hinaus die traditionellen metaphysischen Möglichkeiten offen bleiben und für uns nicht lösbar sein sollten. Dies erlaubte einen dualistischen Kompromiss zwischen Wissenschaft und Religion der Art, wie er von Spencer, Thomas Huxley (der den Ausdruck ‚Agnostizismus‘ prägte), William Hamilton, Leslie Stephens, Rudolph Virchow und Emil Du Bois-Raymond favorisiert wurde (der in einer Rede vor der Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahre 1880 sein berühmtes ‚Ignorabimus!‘ (dt.: ‚Wir werden es niemals wissen!‘) auf die Frage nach dem Ursprung der Empfindung, des Bewusstseins und anderer ‚Welträtsel‘ ausrief. Für einige stellte diese Demut die höchste Form der Weisheit dar; andere (wie z.B. Ernst Haeckel) hielten dies für inkohärent, dunkel und böswillig. Eine weitere Strategie ging dahin, den Idealismus und die mit ihm offenkundig konkurrierenden Positionen zu integrieren; dies führte zum Eklektizismus von Cousin (siehe Eklektizismus) und zu ähnlichen synkretistischen Ansätzen von Taine, Renan, Cournot, Boutroux, Lange und Lotze, während viele der amerikanischen Pragmatisten versuchten, Elemente des Idealismus und des Naturalismus zu kombinieren, wie z.B. Dewey in seinen frühen Papieren in dem Versuch einer Versöhnung des Hegelianismus und des Darwinismus; hiervon nahm er später wieder Abstand, als er seinen Glauben an den Wert des Hegelschen Idealismus verloren hatte (siehe Dewey, J. ). Jedoch wurde selbst noch von einigen enthusiastischen Verfechtern der Wiederauferstehung der Paradigmen des 18. Jahrhunderts in der Wissenschaft und der Philosophie anerkannt, dass Aspekte der sozialen, ethischen und religiösen Darstellung, die die Idealisten und Romantiker präsentiert hatten, einen Wert hatten und erhalten 1283
Neuplatonismus
bleiben sollten. Auf diesem Gebiet war es beispielsweise Mill, der eifrig den Beitrag von Coleridge und Carlyle und der Deutschen Schulen, die sie vertraten, betonte, und zwar als Gegengewicht zu der ahistorischen und abstrakten Rationalisierung der philosophes, der frühen Utilitaristen und der politischen Radikalen. Daher versuchte Mill, wie viele Kommentatoren seitdem, die sozialen und historischen Einsichten der idealistischen Tradition zu bewahren, sie aber gleichzeitig von dem zu scheiden, was er als ihre irrigen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen ansah. 5. Das Vermächtnis der Philosophie des 19. Jahrhunderts Man kann daher sagen, dass der ‚Kampf zwischen dem 19. und dem 18. Jahrhundert‘ wie ein roter Faden durch die philosophischen Debatten in dem hier diskutierten Zeitraum läuft (und überall dort, wo sich die europäischen Ideale verbreiteten, eine ähnliche Entwicklung durchlief; siehe Lateinamerika; Philosophie in). Darüber hinaus geht dieser Kampf in wichtiger Hinsicht auch jetzt noch weiter, wo die Kantianer und die Idealisten die Positionen der Materialisten, Empiristen und Naturalisten im Lichte der naturwissenschaftlichen Entwicklungen und Diskussionen über die Methoden der Naturwissenschaften in Frage stellen. Während einige Aspekte der Debatte des 19. Jahrhunderts vielleicht nicht mehr so stark empfunden werden, wie z.B. die religiösen Folgen dieser Fragen, stehen die Fragen selbst nach wie vor im Zentrum großer Bereiche der Philosophie, insofern sie nicht nur unsere Konzeption der Natur der Wirklichkeit, der Erkenntnis und des Geistes betreffen, sondern auch jene der Ethik, der menschlichen Freiheit, der Gesellschaft, des historischen Verständnisses und der Politik. Vielen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, wie z.B. dem Existenzialismus, der Phänomenologie (siehe Phänomenologische Bewegung), der Kritischen Theorie oder der Hermeneutik, liegt noch immer diese Spannung zwischen dem ‚Naturalismus‘ und zahlreichen Formen des ‚Anti-Naturalismus‘ zugrunde. Um unsere eigene Voreingenommenheit besser zu verstehen, müssen wir zunächst die Debatten des 19. Jahrhunderts kennen, die als erste diese Spannung aufnahmen. Anmerkungen und weitere Lektüre: Gardiner, P.L. (Hrg.) (1969): ‚Nineteenth-Century Philosophy‘. New York: The Free Press und London: Collier-Macmillan. (Eine nützliche Sammlung privater Texte mit einer hilfreichen Einführung.) Mandelbaum, M. (1971): ‚History, Man, and Reason: A Study of Nineteenth Century Thougth‘. Baltimore an London: John Hopkins University Press. (Eine klassische Studie.) Solomon, R. und Higgins, K. (Hrg.) (1993): ‚Routledge History of Philosophy, vol VI: The Age of German Idealism‘. London und New York: Routledge. (Klare und zugängliche Artikel mit einem Schwerpunkt auf den bedeutenderen Figuren des Deutschen Idealismus und ihren Nachfolgern.) ROBERT STERN
Neuplatonismus
Der Neuplatonismus war die abschließende Blüte des antiken griechischen Denkens. Er währte vom 3. bis ins 6. oder auch 7. Jahrhundert. Indem er acht Jahrhunderte einer ungebrochenen philosophischen Debatte aufbaute, stellte er Fragen wie: Was ist das wahre Selbst? Was ist das Bewusstsein, und wie verhält es sich zur Wirklichkeit? Kann die Intuition mit der Vernunft versöhnt werden? Welche sind die ersten Ursachen der Wirklichkeit? Wie kam das Universum ins Sein? Wie kann eine 1284
Neuplatonismus
Wirkursache ihre Identität erhalten und doch auf ihre Wirkungen übergehen? Warum wird die Seele verkörpert? Was ist das gute Leben? Es gab viele Richtungen des Neuplatonismus, die die Sorgen und Hintergründe seiner Ausübenden widerspiegelten. Diese reichten von Plotin und seinem Kreis unabhängiger Denker bis zu den Köpfen der universitären Schulen des Römischen Reichs, nämlich Proklus, Ammonius und Damaskius. In seiner späteren und stärker gegliederten Form sehen wir ein reichhaltiges Schema vielschichtiger Metaphysik, Erkenntnislehre und Ethik, aber auch der Literaturtheorie, der Mathematik, der Physik und anderer Gegenstände, die alle in einem Lehrplan vereinigt waren. Der Neuplatonismus war nicht nur eine Philosophie, sondern das höhere Ausbildungssystem seiner Zeit. Der Neuplatonismus, der die antike Welt vom 4. Jahrhundert an beherrschte, war eine unauflösliche Mischung von angeregtem Denken und scholastischer Ordnung. Hierauf gehen vielleicht auch einige seiner internen begrifflichen Konflikte zurück, beispielsweise der Begriff der freien, individuellen Seele gegenüber den Rängen des Seins, die persönliche Erfahrung gegenüber dem beweisbaren Wissen. Hierauf mag auch seine Berufung auf polarisierte Zuhörerschaften zurückgehen: Mystiker und mathematisierende Wissenschaftler, Romantizisten und Rationalisten. Für den Neuplatoniker besteht das Wissen in Graden der Vervollständigung. Man nehme das Beispiel des Lehrers und des Studenten. Beide beschäftigen sich mit derselben Sache, aber der Lehrer hat ein weiteres und vertrauteres Verhältnis zu ihr. Der Lehrer öffnet den Geist des Studenten für die Breite und die Verwobenheiten des Studiengegenstandes und korrigiert die Überlegungen des Studenten. So verhält es sich auch mit den neuplatonischen Ebenen der Erkenntnis. Jede Ebene gewährt einen Zugang zum gesamten Spektrum dessen, was es zu erkennen gibt, aber jede Ebene ist durch einen ihr eigenen, umstandsbezogenen Faktor gekennzeichnet. Auf der ‚tieferen‘ Ebene erfasst ein Individuum die Dinge als einzeln und beschäftigt sich mit den Abbildern oder Darstellungen des Geistes und der Sinneseindrücke der Qualitäten physischer Dinge. Auf einer ‚höheren‘ Ebene erfasst ein Individuum die Dinge ganzheitlich, d.h. als universale Bekundungen (die im Neuplatonismus oft ‚Gesetze‘ oder ‚Kanon‘ genannt werden). Die Bemühung richtet sich nun auf Aussagen über das, was wahr oder falsch, was selbstbegründend und logisch notwendig ist. Daher korrigiert die höhere Ebene und liefert das ‚Kriterium‘ für die untere Ebene des Denkens. Wissen ist allerdings kein Zweck an sich selbst, sondern ein Mittel zur Erlösung. Ein wachsendes Bewusstsein bringt uns mit den Ebenen der Wirklichkeit in Berührung, von denen wir selbst ein Teil sind. Die äußerste Wirklichkeit ist keine andere als die grundlegende Einheit, aus der alles in das Sein gelangt: Gott. In dieser Einheit (unio) gewinnen wir unser wahrhaft Gutes. Als Zusammenfassung der antiken griechischen Philosophie wurde der Neuplatonismus an Byzanz, den Islam und an das westliche Europa weitergegeben. Er war die herausragende intellektuelle Kraft hinter den Protagonisten der italienischen Renaissance, und sein Einfluss ist noch bis ins 19. Jahrhundert spürbar. Siehe auch: Hypatia; Kabbalah; Renaissance-Philosophie LUCAS SIORVANES
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Neutralität, Politische
Neutraler Monismus
Der neutrale Monismus ist eine Theorie der Beziehung des Geistes zur Materie. Er besagt, dass beide Entitäten komplexe Konstruktionen auf der Grundlage einfacherer Elemente sind, die in dem Sinne neutral sind, dass sie weder materieller, noch mentaler Natur sind. Geist und Materie unterscheiden sich daher nicht durch die spezifische Natur ihrer Bestandteile, sondern durch die Art und Weise, auf die ihre Bestandteile organisiert sind. Die Theorie ist nur in ihrer Behauptung monistisch, dass alle grundlegenden Elemente der Welt desselben fundamentalen Typs sind (im Gegensatz zum Geist-Körper-Dualismus); sie ist jedoch pluralistisch insofern, als sie eine Pluralität solcher Elemente annimmt (im Gegensatz zum metaphysischen Monismus). Siehe auch: Behaviorismus, analytischer; Funktionalismus; Geist, Identitätstheorien des; Monismus NICHOLAS GRIFFIN
Neutralität, Politische
Das Prinzip der politischen Neutralität, das von einem Staat fordert, sich neutral zu strittigen Fragen über das Gute zu verhalten, ist eine Erweiterung der traditionellen liberalen Prinzipien der Toleranz und der religiösen Enthaltung. Die Verwendung dieses Begriffs in der internationalen Politik z.B. zur Kennzeichnung von Staaten, die sich existierenden Machtblöcken nicht anschließen wollen, ist nur ein völkerrechtlich nicht kodifizierter Spezialfall (der allerdings vor allem in der Zeit des Kalten Krieges häufiger in Anspruch genommen wurde, z.B. zur Kennzeichnung der politischen Haltung von Schweden, Österreich oder Jugoslawien gegenüber den beiden damaligen Supermächten). Der Begriff der Neutralität bezeichnet historisch, neben der militärischen Neutralität in internationalen Spannungsfällen, vor allem die innenpolitische Neutralität eines Staates gegenüber den weltanschaulich-politischen unterschiedlichen Auffassungen seiner Bürger. Da die Neutralität selbst jedoch ein umstrittener Begriff ist, bleibt das Prinzip in gewisser Weise unterbestimmt: setzt sie beispielsweise neutrale Zurückhaltung bei der Gesetzgebung (d.h. neutrale legislative Absichten) voraus, oder ist sie anspruchsvoller im Sinne einer Forderung nach gleichmäßiger Auswirkung von legislativen Maßnahmen? Die Antwort muss sicherlich auf die tieferen Werte eingehen, die zur Rechtfertigung des Neutralitätsprinzips in Anspruch genommen werden. Dies wirft jedoch weitere Probleme auf. Wenn das Prinzip auf gewissen Wertbindungen beruht, wie z.B. der Bedeutung der Gleichheit oder der individuellen Autonomie, dann kann die Forderung nicht lauten, über alle anderen Werte hinweg neutral zu sein. Das Prinzip verlangt nach einer Art von Unterscheidung zwischen Rechtsprinzipien (von denen die Neutralität selbst eines ist), und Konzeptionen des Guten (die die Neutralität voraussetzen). Kritiker meinen, dass liberale Rechtsprinzipien ein Indiz für eine tiefer liegende liberale Voreingenommenheit zugunsten der Individualität als Lebensstil seien. Vielleicht sollten die Liberalen diese Feststellung gutheißen und damit akzeptieren, dass die Neutralität, für die sie eintreten, recht oberflächlich ist im Vergleich zu der Tiefe ihrer eigenen Wertbindungen. Siehe auch: Liberalismus JEREMY WALDRON
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Newton, Isaac (1642–1727)
Newton, Isaac (1642–1727)
Newton ist uns vor allem wegen seiner Erfindung der Infinitesimalrechnung (zeitgleich mit Leibniz) und der Formulierung der Theorie der universalen Schwerkraft bekannt. Letztere legte er in seinen ‚Principia‘ nieder, dem wichtigsten Einzelwerk bei der Umformung der ehemaligen Naturphilosophie zur moderne Physik. Er machte aber auch größere Entdeckungen in der Optik und verwandte keine geringeren Mühen auf die Alchemie und die Theologie, als auf die Mathematik und die Physik. Über seine ganze Laufbahn hinweg betonte Newton scharf den Unterschied zwischen vermutenden Hypothesen und experimentell festgestellten Ergebnissen. Diese Unterscheidung stand im Zentrum seiner Behauptung, dass die Methode, durch die er in den ‚Principia‘ seine Schlüsse über die Kräfte aus den beobachteten Phänomenen zog, es ermöglicht hätten, „mit größerer Gewissheit über die physischen Arten, die physischen Ursachen und die physischen Verhältnisse dieser Kräfte“ zu sprechen. Das universelle Schwerkraftgesetz, das er auf diese Weise aufstellte, rief gleichwohl starken Widerstand hervor, insbesondere von solchen führenden Figuren auf dem europäischen Kontinent wie Huygens und Leibniz: sie protestierten, weil sich Newton auf eine unsichtbare Kraft der distanten Wirkung berief, denn er bot keinen ‚Kontaktmechanismus‘ an, durch den die Schwerkraft hätte wirken können. Dieser Widerstand führte ihn in der zweiten Auflage der ‚Principia‘, die sechsundzwanzig Jahre nach der ersten publiziert wurde, zu einer noch strafferen und noch nachdrücklicheren Darstellung seiner Methodik. Der Widerstand gegen die Theorie der Schwerkraft verblasste während der fünfzig bis fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tode, da sich alle Voraussagen in solchen Fragen wie der nichtsphärischen Form der Erde, der Kreiselbewegung der Äquinoktien, der Kometenbahnen (einschließlich der Rückkehr von ‚Halleys Komet‘ im Jahre 1758), den Launen der Mondbewegung und anderen Abweichungen von den Keplerschen Bahnberechnungen bestätigten. Während dieser Epoche wurde die Punktmassenmechanik der ‚Principia‘ durch Wissenschaftler wie z.B. Euler auch auf feste Körper und Flüssigkeiten ausgedehnt, woraus das entstand, was wir heute als die ‚Newtonsche Mechanik‘ kennen. Siehe auch: Kosmologie; Raum; Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der; Theorie, wissenschaftliche WILLIAM L. HARPER, GEORGE E. SMITH
Nichtbegrifflicher Inhalt
Siehe: Inhalt, nichtbegrifflicher
Nichtmonotone Logik
Eine Schlussbeziehung ist ‚monoton‘, wenn die Addition von Prämissen zuvor gezogene Schlüsse nicht untergräbt bzw. diese nicht aufhebt; andernfalls ist die Beziehung nichtmonoton. Der deduktive Schluss ist, zumindest im Kanon der klassischen Logik, monoton: wenn eine Schlussfolgerung auf der Grundlage einer gewissen Menge von Prämissen gezogen wurde, dann gilt diese Schlussfolgerung auch dann noch, wenn weitere Prämissen hinzugefügt werden. Im Gegensatz dazu ist das alltägliche Denken im Regelfall nichtmonoton, weil es immer ein Risiko birgt: wir springen zur Schlussfolgerungen aus unzureichenden Prämissen. Wir wissen, wann es sich lohnt oder sogar notwendig ist (beispielsweise in der medizinischen Diagnostik) ein Risiko zu übernehmen. Wir sind uns aber 1287
Nietzsche, Friedrich (1844‑1900)
auch darüber bewusst, dass ein solcher Schluss widerrufbar ist, d.h. dass neue Informationen die alten Schlussfolgerungen entwerten können. Verschiedene Arten der fehlbaren und dennoch bemerkenswert erfolgreichen Schlüsse haben schon immer die Aufmerksamkeit von Philosophen erregt (und führten zu zahlreichen Induktionstheorien, zu Peirces Theorie der Abduktion, der Theorie des Schlusses auf die beste Erklärung etc.). In jüngerer Zeit begannen die Logiker, sich diesem Phänomen von einer formalen Seite zu nähern. Das Ergebnis ist eine größere Anzahl von Theorien mit Schnittstellen zur Philosophie, zur Angewandten Logik und zur künstlichen Intelligenz. ANDRÉ FUHRMANN
Nichtstandard-Modelle
Siehe: Löwenheim-Skolem Theorem und Nichtstandard-Modelle
Nicole, Pierre
Siehe: Arnauld, Antoine
Nietzsche, Friedrich (1844–1900) Einführung Von Nietzsche, der schon mit 24 Jahren als außerordentlicher Professor für klassische Philologie an der Universität Basel lehrte, erwartete man, dass er mit seinem ersten Buch ‚Die Geburt der Tragödie‘ (1872) seine Reputation als ein brillanter junger Gelehrter weiter ausbauen würde. Doch dieses Buch schaute so gar nicht nach einem Werk der klassischen Gelehrsamkeit aus. Aller Fußnoten beraubt und höchst kritisch gegenüber Sokrates und den modernen Lehren erzählte es in rhapsodischen Tönen von antik-orgiastischen, dionysischen Festen und der Wiedergeburt der dionysischen Tragödie in der Neuzeit. Klassische Gelehrte, deren Handwerk und Temperament es mit bitterem Spott bedachte, reagierten auf das Buch mit vernichtender Kritik und Feindseligkeit; sogar Nietzsche selbst meinte schließlich, es sei schlecht geschrieben und konfus. Und doch ist es eine der drei wichtigsten philosophischen Abhandlungen über die Tragödie (zusammen mit denen von Aristoteles und Hegel), und ist der Boden, auf dem Nietzsches spätere Philosophie erwuchs. Bis zum Jahre 1889, als er einen geistigen und physischen Zusammenbruch erlitt, der das Ende seines produktiven Lebens markierte, hatte Nietzsche insgesamt dreizehn Bücher geschrieben, die einen tiefen Abdruck in den meisten Gebieten des westlichen intellektuellen und kulturellen Lebens hinterließen, ihn zu einem der größten Prosaschriftsteller Deutschlands und darüber hinaus zu einem der wichtigsten, wenn auch umstrittensten, Philosophen der westlichen Welt machten. Es zeigte sich, dass Nietzsche praktisch alles angreifen sollte, was bis dahin als heilig galt: nicht nur Sokrates und die Gelehrsamkeit an sich, sondern auch Gott, die Wahrheit, die Moral, die Gleichheit, die Demokratie und die meisten anderen modernen Werte. Er räumte dem Willen zur Macht eine große Rolle ein und schlug vor, die von ihm attackierten Werte durch neue Werte und ein neues Ideal der menschlichen Person zu ersetzen (der von ihm so betitelte ‚Übermensch‘). Obwohl die Nazi-Theoretiker versuchten, diese Ideen für ihre eigene Sache zu vereinnahmen, sind sich die heutigen, verantwortlichen Nietzsche-Interpreten doch darin einig, dass Nietzsche sowohl den deutschen Nationalismus, als auch den Antisemitismus verachtete und unzweideutig ablehnte. Nur Weniges in seinem Denken ist so eindeutig 1288
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wie genau dies, teilweise auch deshalb, weil er nur selten in einem direkt vorwärts gerichteten, argumentativen Stil schrieb, und weil sein Denken sich im Verlauf seines produktiven Lebens radikal änderte. Letzteres gilt insbesondere für seine Kritik an Sokrates, der Wissenschaft und der Wahrheit. Nietzsches Philosophie erwächst aus einer tief empfundenen Unzufriedenheit mit der modernen westlichen Kultur, die er im Vergleich mit jener des antiken Griechenlands als oberflächlich und leer empfand. Indem er als Quelle des Problems die Tatsache ausmachte, dass die modere Kultur die Wissenschaft bevorzuge (wobei ‚Wissenschaft‘ hier im weiten Sinne so zu verstehen ist, dass alle Formen von Gelehrsamkeit und Theorie darunter fallen), und während die vorsokratischen Griechen der Kunst und dem Mythos den Vorrang eingeräumt hätten, rief er zu einer Anerkennung der Kunst als „der höchsten Aufgabe und der wahrhaft metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens“ auf. Dieser frühen Kritik an der Wissenschaft kehrte er jedoch bald den Rücken zu. In den Werken seiner mittleren Periode lehnte er metaphysische Wahrheiten ab, feierte dafür die Wissenschaft und die empirische Wahrheit über den Mythos als ein Zeichen hoher Kultur. Obwohl er genau dies früher für kulturzerstörend gehalten hatte, verpflichtete er sich mit seiner Philosophie nunmehr einem gründlich naturalistischen Verständnis des Menschen. Er war zwar weiterhin überzeugt davon, dass der Naturalismus die Bindung an Werte untergrabe, weil er Mythen und Illusionen zerstöre; nunmehr hoffte er aber, dass das Wissen das menschliche Streben reinigen und es schließlich dahin bringen würde, dass die Menschen ohne Vorlieben oder Bewertungen leben könnten. In den Arbeiten der abschließenden Schaffensperiode lehnte Nietzsche diese Hoffnung allerdings als nihilistisch ab. In seiner letzten Schaffensperiode kombinierte er seine Hingabe an die Wissenschaft mit einer Bindung an Werte, indem er anerkannte, dass der Naturalismus nicht alle Werte untergräbt, sondern nur jene, die von dem größten Wertideal gestützt werden, dem wir bislang anhängen, nämlich dem Ideal der Askese. Dieses Ideal fasst als die höchste Lebensform jene der Selbstverleugnung, die Leugnung des natürlichen Selbst auf und behandelt damit die natürliche oder irdische Existenz als etwas, was von jedem Wert an sich selbst entleert ist. Nietzsche sah dieses lebensentwertende Ideal in den meisten westlichen und östlichen Religionen und Philosophien am Werke. Werte entstehen immer als Unterstützung von irgendeiner Lebensform; aber sie gewinnen die Unterstützung der asketischen Religionen und Philosophien nur, wenn man sie lebensentwertend interpretiert. Die asketischen Priester interpretieren Handlungen als falsch oder ‚sündhaft‘, weil diese Handlungen eigennützig oder ‚tierisch‘ motiviert sind, d.h. sie entspringen den natürlichen Instinkten. Die asketischen Philosophen interpretieren alles, was sie bewerten, also die Wahrheit, die Erkenntnis, die Philosophie, die Tugend, aus nicht-natürlicher Perspektive, weil sie die Auffassung teilen, dass alles wirklich Wertvolle eine Quelle außerhalb der natürlichen Welt, d.h. der empirisch zugänglichen Welt haben muss. Nur weil der späte Nietzsche noch diese Arroganz des asketischen Ideals voraussetzte, schien ihm der Naturalismus alle (im Sinne von: den höchsten aller) Werte zu untergraben. Seinem späteren Denken zufolge untergräbt das asketische Ideal selbst alle Werte. Zunächst beraubt es die Natur ihres Wertes, indem sie die Quelle allen Wertes außerhalb der Natur setzt. Dann führt es, indem es den Wert der Wahrheit über alle anderen Werte setzt, zur Leugnung, dass überhaupt noch etwas neben der Natur 1289
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besteht. Unter den Opfern dieses Prozesses ist auch die Moral und der Glaube an Gott, worauf Nietzsche hinwies, indem er verkündete, dass Gott tot sei, und dass die Moral schrittweise verschwinden würde. Die Moralität sei allerdings nicht die einzige Möglichkeit zur Führung eines ethischen Lebens, jedoch eine spezifische Form, die durch das asketische Ideal hervorgebracht würde. Dieses Ideal habe von ihr wenig übrig gelassen, meint Nietzsche, genauso wenig wie das ethische Leben, das es erzeuge. Die Moralität habe jetzt nur noch geringe Kräfte zur Begeisterung des Menschen für die Tugend oder irgendetwas anderem. Und es gebe nichts mehr, was die wesentliche Rolle spielen könnte, die das asketische Ideal gespielt hat, nämlich die Menschen für die Aufgabe, mehr zu werden als sie sind, zu begeistern, und sie dadurch zu veranlassen, ihren Willen als Macht gegen sich selbst zu richten. Die moderne Kultur verfüge daher über ungenügende Abwehrmittel gegen jene Ausbrüche von Barbarei, die Nietzsche als einen großen Teil der Geschichte des 20. und des 21. Jahrhunderts voraussagte. Aber Nietzsche sah nun, dass es keinen Weg mehr zurück zu früheren Werten gab. Seine Hoffnung sichtete sich stattdessen auf ‚neue Philosophen‘, die die Werte des asketischen gelebt und bis zu Ende gedacht hätten und dadurch die Notwendigkeit neuer Werte erkannt hätten. Seine eigene Kritik sollte ein neues Ideal entfalten, oft unter Zuhilfenahme alter Tugenden, denen eine neue und lebensbejahende Deutung gegeben wird. 1. Leben 2. Schriften und Entwicklung 3. Der Nachlass 4. Wahrheit und Metaphysik 5. Erkenntnis 6. Philosophie und das asketische Ideal 7. ‚Gottes Tod‘ und Nihilismus 8.–9. Moral 10. Der Übermensch 11. Der Wille zur Macht 12. Ewige Wiederkehr 1. Leben Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Rocken, einer Kleinstadt in der damals preußischen Provinz Sachsen geboren. Sein Vater, ein lutherische Pastor, erkrankte 1848 schwer und starb im Juli 1849 an einer Krankheit, die damals als Gehirnerweichung bezeichnet wurde. Sein Bruder starb im folgenden Jahr, und Nietzsches Mutter zog mit ihrem Sohn und ihrer Tochter nach Naumberg um, einer Stadt mit damals 15.000 Einwohnern, wo sie zusammen mit der Mutter des verstorbenen Vaters und ihren beiden Schwestern lebten. Im Jahre 1858 wurde Nietzsche die kostenfreie Aufnahme in Pforta, der seinerzeit berühmtesten deutschen Schule, angeboten. Nach seinem Schulabschluss im Jahre 1864 mit einer lateinischen Arbeit über den griechischen Dichter Theogonis immatrikulierte er sich an der Universität Bonn als Student der Theologie. Das folgende Jahr wechselte er nach Leipzig, wo er sich als Student der Philologie einschrieb und unter dem klassischen Philologen Friedrich Ritschl arbeitete. Die Ereignisse seiner Leipziger Jahre, die einen sehr tiefen und
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lang andauernden Einfluss auf seine späteren Arbeiten hatten, waren die Entdeckung von Schopenhauers ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ und F.A. Langes ‚Geschichte des Materialismus‘, sowie der Beginn einer persönlichen Beziehung mit Richard Wagner (siehe Schopenhauer, A.; Lange, F.A.). Nietzsche wurde Ritschls Vorzeigeschüler, und aufgrund der Empfehlung von Ritschl wurde er im Jahre 1869 im Alter von erst vierundzwanzig Jahren auf den Lehrstuhl für klassische Philologie in Basel berufen. Leipzig verlieh ihm gar die Doktorwürde, ohne die Einreichung einer Dissertation von ihm zu fordern. Basels Nähe zur Residenz der Wagners in Tribschen erlaubte es Nietzsche, eine enge Beziehung zu Cosima und Richard Wagner aufzubauen. Mit dem Komponisten teilte er eine tiefe Zuneigung zu Schopenhauer und eine Hoffnung auf die Wiederbelegung der europäischen Kultur. Anfangs idealisierte er Wagner und seine Musik. Sein erstes Buch, ‚Die Geburt der Tragödie‘ (1872), verwendete Schopenhauers Philosophie zur Deutung der griechischen Tragödie und zu dem Vorschlag, dass Wagners Oper deren Wiedergeburt darstelle und damit die Erlösung der modernen Kultur. Nachdem er zwischen der Philologie und der Philosophie bereits kurz nach seiner Entdeckung von Schopenhauer hin und her gerissen war, widmete Nietzsche einen großen Teil seiner Lehre den Texten der antiken griechischen und römischen Philosophie und hoffte, dass ihn sein erstes Buch dazu als Philosophen ausweisen würde. Stattdessen sollte die unorthodoxe Mischung aus Philosophie und Philologie dieses Buches lediglich zur Beschädigung seiner Reputation als Philologe taugen. Im Jahre 1879 gab er seinen Lehrstuhl in Basel infolge von Gesundheitsproblemen auf, die ihn bereits seit Jahren plagten. In der Zwischenzeit hatte er sich auch zunehmend von Wagner entfremdet, was 1878 in der Veröffentlichung des ersten Bandes von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ kulminierte, einem proto-positivistischen Manifest, das die Wissenschaft und nicht die Kunst als Hinweis auf eine hohe Kultur pries. Die zehn ihm noch verbleibenden produktiven Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Universität waren von furchtbaren Gesundheitsproblemen und einer fast vollständigen Abwesenheit menschlicher Kameradschaft gekennzeichnet. Er lebte allein in italienischen und schweizerischen Pensionen und schrieb in dieser Zeit zehn Bücher, von denen jedes, zumindest nach dem Urteil einiger, ein Meisterstück ist. Seine letzten sieben Bücher markieren einen Höhepunkt des deutschen philosophischen Prosastils. Im Januar 1889 brach Nietzsche in Turin zusammen. Er schrieb in den darauf folgenden Tagen noch einige hellsichtige und schöne (wenn auch geisteskranke) Briefe, und danach nichts mehr, was noch irgendeinen Sinn ergibt. Nach einer kurzen Einweisung in eine psychiatrische Anstalt lebte er mit seiner Mutter und mit seiner Schwester bis zu seinem Tode in Weimar am 25. August 1900. 2. Schriften und Entwicklung Während der sechzehn Jahre zwischen seinem ersten Buch und seinem letzten produktiven Jahr durchlebte Nietzsches Denken eine bemerkenswerte Entwicklung, die sich in der Regel seinen Lesern kaum ankündigte. Der traditionellen Gruppierung seiner Schriften in drei größere Schaffensperioden schließt sich dieser Beitrag an, obwohl es eine bedeutsame Entwicklung auch innerhalb einer jeden Periode gibt. Zusätzlich zu seiner ‚Geburt der Tragödie‘ besteht sein Frühwerk aus vier Aufsätzen zur Kulturkritik, und zwar über David Strauss, die Geschichte, Schopenhauer und 1291
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Wagner, die zunächst gesondert voneinander veröffentlicht, aber schließlich in den Jahren 1873 – 1876 zusammen unter dem Titel ‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘ publiziert wurden, zuzüglich einer Reihe weitgehend fertiger Aufsätze und Fragmente, die zum Nachlass dieser Periode gehören. Die Wichtigsten dieser Aufsätze ist jener mit dem Titel ‚Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘, ‚Homers Wettkampf‘ und ‚Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘. Diese frühen Schriften vermitteln eine große Unzufriedenheit mit der europäischen Aufklärungskultur, für die Nietzsche Sokrates als ihren frühesten Vertreter und ihre fortgesetzte Anregung ausmacht. Auf dem Grund der sokratischen Kultur findet Nietzsche den Glauben, dass das höchste Ziel des Lebens das theoretische Begreifen der Wahrheit sei, nach der die Wissenschaft und die Philosophie streben. Der Anspruch der Theorie, die Wahrheit zu liefern, wurde nach seiner Auffassung durch die Lehre von Kant und Schopenhauer untergraben, demzufolge das diskursive Denken keinen Zugang zu den Dingen an sich verschafft, sondern nur zu ihren Erscheinungen (siehe Kant, I, § 5; Schopenhauer, A.). Nietzsches Vorschlag zur Rettung der europäischen Kultur lautet, dass die Kunst an die Stelle der Theoriebildung als der am höchsten bewerteten, d.h. ‚wirklich metaphysischen menschlichen Tätigkeit‘ treten sollte. Auf den ersten Blick ist sein Hauptargument für diese Hochschätzung der Kunst, dass sie wahrhaftiger sei als die Theorie. Er legt aber noch ein weiteres und ganz anderes Argument nahe, dass nämlich die Theorie für die Kultur zerstörerisch ist, solange sie nicht durch die Bedürfnisse des Lebens, denen die Kunst dient, geleitet und beschränkt wird. In seinem Aufsatz über die Geschichte ersetzt das zweite Argument weitgehend das erste. Er wendet ein, dass die Geschichte, wenn sie autonom ihre Theoriebildung betreibt und sich dabei allein der Wahrheit widmet, die beschränkten und mythischen Horizonte zerstört werden, die das lebendige Handeln benötigt. Und wenn wir noch für eine weitere Generation lang das naturalistische Verständnis der Menschen auf der Ebene betonen, die das sokratische Denken bereits erklommen hat (beispielsweise die Leugnung der grundlegenden Unterscheidung zwischen Menschen und anderen Tieren), so werden wir unsere kulturelle Desintegration nur weiter in Richtung chaotischer Systeme aus individuellen und kollektiven Egoismen treiben. Nietzsche legt damit nahe, dass die Geschichte in Beschlag genommen werden kann, um den Bedürfnissen des Lebens zu dienen, beispielsweise wenn sie geschrieben wird, um die großen Lebensgeschichten und anderen Aspekte zu erzählen, die den Einzelnen ermutigen, sich hoch stehende und edle Ziele zu setzen. Eine solche Geschichtsschreibung ist genauso Kunst, wie sie Theorie oder Wissenschaft ist. Nietzsche wendet sich in den Schriften der mittleren Periode, ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ (1878–1880) und ‚Morgenröte‘ (1881), entschieden von einer solchen Kritik der reinen Theorie ab. Hier feiert er vielmehr eine Wertschätzung der kleinen Wahrheiten als ein Zeichen hoher Kultur, die mittels strenger Methodik gewonnen werden, und präsentiert seine eigene Philosophie als eine Form der Naturwissenschaft, die nur der Wahrheit dient. Er verschreibt sich sogar der Wahrheit des Naturalismus, die er früher so gefährlich fand: es gebe keine grundlegende Unterscheidung zwischen Menschen und anderen Tieren; alles betreffend die Menschen, einschließlich ihrer Werte, könne als eine Entwicklung von Charakteristika erklärt werden, die man auch bei anderen Tieren findet. Zu Beginn dieser Periode kämpft Nietzsche noch damit, wie man den Naturalismus mit einer Bindung an Werte für 1292
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vereinbar erklären kann, denn er sieht im Naturalismus eine enthüllende Kraft wirken, die jene Illusionen untergräbt, die zum Auffinden von Werten im Leben benötigt werden. In ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ äußert er die Hoffnung, dass die Erkenntnis stufenweise „die alten Beweggründe des gewaltsamen Wünschens reinigt, bis man zuletzt unter den Menschen [lebte] und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte.“ (‚Menschliches, Allzumenschliches‘, § 34). Nietzsche lässt später seinen Zarathustra über diese Zuschauervorstellung der Erkenntnis und über jene vom Leben als ‚unbefleckte Wahrnehmung‘spotten (‚Zarathustra‘, § 15). Nietzsches abschließende Periode beginnt mit der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ (1882), die die Betrachterkonzeption gegen eine austauscht, in der der ‚Wissende‘ zu einem Tanz der Existenz gehört und selbst einer ihrer Zeremonienmeister ist (‚Die fröhliche Wissenschaft‘, § 54). Diese Formulierung drückt sein neues Vertrauen aus, dass der Naturalismus, den er oft ‚Wissen‘ nennt, vereinbar sei mit einer Bindung an Werte. In dieser Periode feiert Nietzsche erneut die Kunst, kritisiert Sokrates und bestreitet die Autonomie der Theorie, wobei er in gewisser Weise nahe legt, dass er zu einem Standpunkt einer früheren Periode zurückgekehrt sei. Und er liefert in diesem Beitrag einige Evidenz für eine alternative Interpretation: der späte Nietzsche bestreitet nicht mehr, dass die Theorie Wahrheit ermitteln kann, und er bleibt der Verfolgung der Wahrheit auf dieselbe Weise verpflichtet, wie er dies in seiner mittleren Schaffensperiode war. Der Unterschied ist, dass er nun selbst in der offenkundig autonomen Theorie seiner mittleren Periode eine Bindung an ein Ideal anerkennt, das der Theorie äußerlich ist und von dieser bedient wird, nämlich das asketische Ideal. Nietzsche kehrt zu dem Vorschlag seines ersten Buches zurück, dass die Theorie nicht autonom sei; er wendet sich nun jedoch nicht mehr gegen die Theorie an sich, sondern nur noch gegen dieses Ideal, dem die Theorie dient (siehe §§ 6 f. dieses Beitrages). Die Arbeiten in Nietzsches letzter Schaffensperiode sind weitgehend der aufklärenden Beschreibung dieses Ideals, seiner Kritik und der Erarbeitung einer Alternative dazu gewidmet. Der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ folgte das Buch ‚Also sprach Zarathustra‘ (1883–1885), eine märchenartige Erzählung in biblischem Sprachstil, die Nietzsche als Vehikel für seine rätselhaftesten und berüchtigsten Lehren, einschließlich jener vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und jener von der ewigen Wiederkehr nutzte. Er hielt dieses Buch für das tiefgründigste Werk in deutscher Sprache und vermutete, dass eines Tages philosophische Lehrstühle seiner Auslegung gewidmet sein würden. Unsere sichersten Führer zu seinem heutigen Verständnis sind die anderen Bücher von Nietzsches abschließender Schaffensperiode, insbesondere die beiden, die direkt darauf folgten: ‚Jenseits von Gut und Böse‘ (1886) und ‚Zur Genealogie der Moral‘ (1887). Diese Meisterwerke zeigen Nietzsche auf der Höhe seiner Kräfte als Denker, als einen Ideenorganisator und -künstler. Zu Beginn des Jahres 1888 veröffentlichte Nietzsche ‚Der Fall Wagner‘ und stellte daraufhin vier kurze Bücher zusammen, noch bevor das Jahr zu Ende ging: ‚Die Götzen-Dämmerung‘, eine offenkundige Anspielung auf Wagners ‚Götterdämmerung‘ legt letzte Hand an seine Darstellungen der Erkenntnis und der Philosophie an und offeriert seine abschließende Kritik an Sokrates. ‚Der Antichrist‘, eine Kritik des paulinischen Christentums, zeichnet ein vergleichsweise mitfühlendes Portrait von Jesus, und ‚Ecce 1293
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Homo‘ ist ein Selbstportrait Nietzsches, seines Lebens und Werkes, unter solchen Kapiteltiteln wie ‚Warum ich so gute Bücher schreibe‘ u.ä. Es ist nicht schwer, in den schrillen Tönen und der Selbstbeweihräucherung, die manchmal in diesen Büchern überhand nimmt, bereits die Vorboten der nahenden Geisteskrankheit zu erkennen (nicht jedoch in dem sehr humorvollen und brillanten, antisokratischen Kapitel zu Beginn des ‚Ecce Homo‘), und vielleicht auch an dem Verfall der organisatorischen und künstlerischen Kraft gegenüber den Meisterstücken der vorangegangenen zwei Jahre. ‚Nietzsche Contra Wagner‘, das er auf Weihnachten 1888 datierte, hinterlässt einen anderen Eindruck. Nietzsches kürzestes und vielleicht schönstes Buch ist eine Zusammenstellung von Passagen aus früheren Arbeiten mit einigen wenigen Verbesserungen, als wollte er es vervollkommnen. Neun Tage später brach er zusammen. 3. Der Nachlass Nietzsche hinterließ eine große Menge unveröffentlichten Materials, seinen ‚Nachlass‘, der technisch betrachtet auch ‚Der Antichrist‘ und ‚Ecce Homo‘ enthalten müsste, weil diese beiden Werke durch seine Schwester erst in den Jahren 1895 und 1908 publiziert wurden. Allerdings hatte Nietzsche bereits Vorkehrungen für ihre Veröffentlichung getroffen und eine Fahnenkorrektur von beiden vorbereitet. Zum Verständnis seiner Philosophie wird diesen beiden Werken daher derselbe Status wie seinen früheren Werken zuerkannt, die üblicherweise nicht zum ‚Nachlass‘ gerechnet werden. Dieser Beitrag weist dem Rest von Nietzsches ‚Nachlass‘ eine nur sehr untergeordnete Rolle zu, was auch die beiden relativ geschliffenen Aufsätze betrifft, die in den frühen 1870er Jahren geschrieben wurden (s. oben § 2). Diese Aufsätze sind informativ hinsichtlich der frühen Ansicht Nietzsches, und sie werden manchmal auch als Mittel zum klareren Verständnis seiner späteren Auffassungen über Wahrheit und Sprache aufgefasst, als sie die veröffentlichten Werke selbst leisten. Die Interpretation von Nietzsches Entwicklung unterstützt hier eine ganz andere Sichtweise, nämlich jene, dass Nietzsche es vorzog, diese Aufsätze nicht zu veröffentlichen, weil er schon bald über sie hinaus zu genau entgegengesetzten Standpunkten vorgedrungen war. Eine weitere Frage, über die sich die Nietzsche-Interpreten uneins sind, betrifft das Gewicht, das man den Notizen aus Nietzsches späteren Jahren beimessen soll. Viele behandeln sie als ein Material, dass er veröffentlicht hätte, wenn seine produktive Zeit länger angedauert hätte. Aber da er auch viel von diesem Material abgelehnt und beiseite gelegt haben könnte, raten andere im Umgang damit zu großer Vorsicht. Ferner können wir oft nicht genau sagen, welche Verwendung Nietzsche für bestimmte Notizen im Kopf hatte, schon als er sie schrieb. Nietzsche komponierte seine Bücher, um vorbereitete Leser zu bestimmten Auffassungen hinzuführen. Der reiche Kontext und die Hinweise zu ihrer Lektüre, die er immer wieder in seinen Büchern einstreute, liefern, wenn man sie beachtet, eine Kontrolle der interpretativen Erlaubnis und eine Grundlage des Zugangs zu Nietzsches eigenem Denken, dass im ‚Nachlass‘ keine Parallele hat. Dies gilt für den gesamten Text des ‚Willen zur Macht‘, den manche als Nietzsches magnum opus betrachten. Obwohl er ankündigte, dass es ‚in Vorbereitung‘ sei, gibt es doch Hinweise darauf, dass er seine Pläne zur Veröffentlichung eines Buchs mit diesem Titel fallen ließ. Das uns vorliegende Buch ist tatsächlich eine Zusammenstellung von Notizen aus den Jahren 1883–1888, ausgewählt aus seinen Notizbüchern und in ihrer gegenwärtigen Form durch seine Schwester und die von ihr ernannten Herausgeber arrangiert. Solche 1294
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Notizen werden manchmal verstehen helfen, was Nietzsche wirklich veröffentlichte. Es ist aber schwierig zu rechtfertigen, wenn man ihnen einen Vorrang zuerkennt, sofern hier Standpunkte entwickelt werden, die bei sorgfältiger Lektüre von den von ihm selbst veröffentlichten Büchern abweichen oder sogar im Gegensatz zu diesen stehen (siehe §§ 11 f. dieses Beitrages). 4. Wahrheit und Metaphysik In den Schriften seiner frühen und mittleren Schaffensperiode scheint Nietzsche oft zu bestreiten, dass irgendeine unserer Theorien und Überzeugungen wirklich wahr sind. Am Ende seiner Schlussphase bestreitet er nur noch die metaphysische Wahrheit. Die Ablehnung der Metaphysik bildet den Eckstein seiner Spätphilosophie. Was Nietzsche als Metaphysik ablehnt, ist zunächst und hauptsächlich der Glaube an eine zweite Welt, d.h. an eine metaphysische oder wahre Welt. In ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ bietet er eine Genealogie (Werdensgeschichte) dieses Glaubens an. Die Menschen empfangen ihre ersten Ideen einer zweiten Welt aus Träumen. Nietzsche meint, dass die Menschen ‚zusammen mit allem Organischen‘ den Glauben an die Existenz permanenter Dinge (Substanzen) und den freien Willen teilten. Wenn das reflektierende Nachdenken einsetze und sie keinen Beweis für diese Dinge in jener Welt finden, die empirischen Methoden zugänglich sei, dann schlössen sie daraus, dass diese Methoden eine Fähigkeit seien, und dass die ‚wirkliche‘ (also gerade die metaphysische) Welt nur mittels nicht-empirischer Methoden zugänglich sei. Sie fassten die empirische Welt damit als eine reine Erscheinung oder Verzerrung einer zweiten Welt auf, die aus dieser Gedankenfolge als die wahre Welt hervorgeht. Die Metaphysik ist mutmaßliches Wissen über diese nicht-empirische Welt. ‚Die Geburt der Tragödie‘ bestätigt die Metaphysik in dem Sinne – später nennt er sie ‚die Metaphysik eines Künstlers‘ –, dass die Wahrnehmung und die Wissenschaft uns auf die reine Erscheinung beschränkten, wogegen die Wahrheit durch eine spezielle Art vorbegrifflicher Erfahrung zugänglich sei, die wiederum charakteristisch für die dionysische Kunst sei. Das Buch ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ unternimmt die Aushebelung der Metaphysik, indem es zeigt, dass die Erkenntnis einer nicht-empirischen Welt kognitiv überflüssig sei. Nietzsches Aufklärungsvorgänger hatten bereits die Angemessenheit der empirischen Methoden zur Erklärung dessen, was in der nichtmenschlichen Welt vor sich geht, festgestellt. Der Glaube an eine metaphysische Welt bestand jedoch fort, weil diese Welt zur Darstellung der Gegenstände von höchstem Wert für die Menschen als notwendig angesehen wird. Nietzsche versuchte den Ursprung dieser Annahme zu erklären und zu untergraben. Diese Annahme sei getroffen worden, so behauptet er, weil die Denker nicht imstande waren zu sehen, wie die Dinge aus ihren Gegenteilen hervorgegangen seien: die desinteressierte geistige Betrachtung aus der Lust, das Leben für andere aus dem Egoismus, die Rationalität aus der Irrationalität. Sie konnten folglich diesen Ursprung nur durch die Setzung einer rätselhaften Quelle für das höher bewertete Ding genau im Kern und Sein des Dinges-an-sich bestreiten. Nietzsche entwickelte eine naturalistische Darstellung der höheren Dinge, die sie als Sublimationen verschmähter Dinge darstellt, und damit als etwas ‚Menschliches, Allzumenschliches‘. Sobald klar sei, dass wir ihren Ursprung ohne die Setzung einer metaphysischen Welt erklären können, meinte er, 1295
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würde das Interesse an einer solchen Welt austrocknen. Wir können zwar nicht die nackte Möglichkeit ihrer Existenz bestreiten, weil wir alle Dinge durch den menschlichen Kopf sehen würden und uns diesen Kopf nicht abschneiden könnten; doch die Frage sei offen, was von der Welt wohl dabliebe, wenn wir ihn abgeschnitten hätten (‚Menschliches, Allzumenschliches‘, §§ 1, 9). Nietzsche geht später noch einen Schritt weiter und leugnet überhaupt die Existenz einer metaphysischen Welt. Seine Geschichte der ‚wahren‘ Welt in der ‚Götzendämmerung‘ entfaltet einen schematischen Abriss in sechs Akten, wie die Welt dazu kam, als ‚Fabel‘ betrachtet zu werden. Der vierte Akt entspricht der Position von Hume: die ‚wahre‘ (im Sinne einer metaphysischen, nicht empirischen oder jenseitigen) Welt ist kognitiv überflüssig. Im fünften Akt wird ihre Existenz geleugnet. Im sechsten Akt kommt hinzu, dass es ohne eine ‚wahre‘ Welt die Welt der Erscheinungen auch nicht mehr gibt. Die empirische Welt, die ursprünglich als reine Erscheinung herausgesucht wurde, ist die einzige Welt, die es gibt. Nietzsche macht uns auf diese Weise klar, dass er über die Annahme hinweggegangen sei, dass es eine metaphysische Welt geben könnte, und postuliert die empirische Welt als die einzige bestehende. Er verwirft die gesamte Idee einer zweiten Welt als uneinsehbar. Die Bücher nach ‚Jenseits von Gut und Böse‘ schreiten auf der Grundlage dieser Annahme fort; sie behaupten nicht mehr, dass die empirische Welt eine reine Erscheinung, oder, was auf dasselbe hinausläuft, dass die empirischen Wahrheiten nur Illusionen oder Fälschungen sind. 5. Erkenntnis Die Erkenntnisposition, zu der Nietzsche durch seine Ablehnung der Metaphysik geführt wird, ist eine Kombination von Empirismus, Antipositivismus und Perspektivismus (d.h. einer Lehre, derzufolge die Wirklichkeit vom Standpunkt und den Eigenschaften des betrachtenden Individuums abhängig ist). Mit seiner Behauptung in seinen späteren Werken, dass alle Evidenz der Wahrheit nur von den Sinnen abstammt, und dass wir die Wissenschaft nur in dem Umfange hätten, wie wir uns entschieden hätten, das Zeugnis der Sinne zu akzeptieren, d.h. soweit wir die Sinne weiter schärfen, sie mit Instrumenten ausstatten und die Ergebnisse durchdenken, qualifiziert er den Rest des angeblichen Wissens als Fehlschlag und ‚noch nicht Wissenschaft‘, oder als nur formale Wissenschaft, wie die reine Logik und die Mathematik (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 134; ‚Götzendämmerung‘, 3. Teil, § 3). Letztere Gebiete, so behauptet er nun und setzt sich damit von einem früheren Standpunkt ab, verfälschten die Wirklichkeit, d.h. sagten überhaupt nichts über die Wirklichkeit aus. Nietzsches Empirismus läuft auf die Ablehnung jeder allgemeinen Geringschätzung der Sinneserfahrung hinaus, wobei er darauf beharrt, dass die einzigen Grundlagen zu einer Kritik oder einer Korrektur bestimmter Eindrücke der Sinne andere Sinneserfahrungen sein könnten, oder aber Theorien, die auf ihnen beruhten. Nietzsches Antipositivismus bringt wiederum eine Ablehnung von zwei Aspekten mit sich, die mit anderen Versionen des Empirismus verbunden sind. Erstens lehnt er jegliche Art von Letztbegründungsphilosophie ab. In einer Vorwegnahme vieler späterer Kritiken am Positivismus bestreitet er, dass es irgendeine Erfahrung gäbe, die nicht durch Begriffe, Interpretationen oder Theorien vermittelt sei. Die Sinneserfahrung, unsere einzige Beweisgrundlage für die Wahrheit, ist immer interpretiert, und Erkenntnis ist daher Interpretation, im Gegensatz zur angeblichen Auf1296
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fassung unvermittelter Fakten. Nietzsche vermeidet auch das Problem des Bedarfs einer apriorischen Theorie zur Begründung seines Empirismus. Diesen stellt er vielmehr auf die Fundamente seiner Genealogie des Glaubens an eine metaphysische Welt (d.h. eine Genealogie, die selbst empirisch ist, insofern sie das Zeugnis der Sinne akzeptiert), und der Diagnose und Ausarbeitung der intellektuellen Verwirrungen, die frühere Philosophen an dieser Einsicht gehindert haben. Indem er diese Verwirrungen aufzuklären meint (insbesondere die Bilder eines Wissens, dass die wahre Weltnatur über und gegen ihre Erscheinungen setzt), beseitigt er alle intellektuellen Hürden, die in der Annahme bestehen, dass die Sinneserfahrung prinzipiell problematisch sei. Die Philosophen mögen allerdings immer noch – nunmehr aber nichtintellektuelle – Beweggründe für ein solches metaphysisches Unternehmen haben (siehe unten § 6). Das Fazit von Nietzsches Antipositivismus ist, dass alles, was als Wissen zählt, immer im Lichte neuer oder verbesserter Erfahrung revidierbar ist. Dies stärkt seinen Empirismus und entwertet keineswegs die empirische Theorie, und leugnet auch nicht, dass sie uns Wahrheiten vermitteln kann. Nietzsches Perspektivismus wird oft so verstanden, als impliziere er, dass das empirische Wissen uns ‚nur eine Perspektive‘ anböte, aber keine Wahrheit. Aber ist der Perspektivismus nicht selbst nur eine Perspektive? Wenn nicht, ist er selbstwidersprüchlich und damit falsch. Ist er dies doch, so ist nicht klar, warum wir den Perspektivismus statt irgendeiner anderen Perspektive wählen sollten. Und Nietzsche selbst trägt als Wahrheiten nicht nur den Perspektivismus, sondern auch viele andere Behauptungen vor. Wir können es vermeiden, Nietzsche mit diesen Problem zu belasten, wenn wir anerkennen, dass der Perspektivismus zumindest in seiner reifen und wichtigsten Formulierung (in der ‚Genealogie der Moral‘, 3. Buch, § 12) eine Behauptung über die Erkenntnis ist. Er ist keine Behauptung über die Wahrheit, und er impliziert nicht, dass die Wahrheit relativ zur jeweiligen Perspektive ist. Darüber hinaus bestehen die sog. Perspektiven aus Affekten und nicht aus Überzeugungen. Das Entscheidende ist dabei nicht, dass die Erkenntnis immer aus der Sichtweise einer spezifischen Menge von Überzeugungen heraus entsteht, oder dass es immer alternative Überzeugungsmengen gibt, die ebenso gute Sichtweisen eines Gegenstandes ergeben würden (siehe Relativismus). Eine solche Sichtweise belastet den Perspektivismus unvermeidlich mit dem Relativismus und den Problemen der Selbstreferenz. Nietzsches ausdrücklicher Hinweis bei der Beschreibung der Erkenntnis als Perspektive ist es, sich gegen eine Erkenntnis im Gewande einer „desinteressierten Kontemplation“ zu schützen. Sein früher Aufsatz ‚Wahrheit und Lüge‘ verwendete diese Figur der Unmöglichkeit des desinteressierten Wissens zur Abwertung des empirischen Wissens, indem er vorbrachte, das Letzteres nur eine Perspektive und damit eine Illusion sei. Aber das Entscheidende der Behauptung in der ‚Genealogie‘, dass es ‚nur ein perspektivisches Wissen‘ gäbe, ist genau das Gegenteil: sich gegen eine Verwendung der Idee des ‚reinen‘ Wissens zu schützen, um diejenige Art von Wissen abzuwerten, das wir haben. Die Metapher der Perspektive stellt das desinteressierte Wissen als das Äquivalent der anerkannt absurden Vorstellung dessen dar, etwas von nirgendwo aus zu sehen. Wenn die Konzeption des Wissens, die durch den Perspektivismus ausgeschlossen wird, wirklich absurd ist – und Nietzsche besteht darauf, dass dies der Fall ist – dann schließt es nur jene Art von Wissen aus, das für uns keinen Sinn hat 1297
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und das wir deshalb auch gar nicht wirklich wollen können. Dies erklärt, warum so viele den Perspektivismus offenkundig und selbstevident finden; aber auf diese Weise interpretiert entwertet er keineswegs das empirische Wissen. Warum bestreitet Nietzsche die Möglichkeit des desinteressierten Wissens? Dies folgt sicherlich nicht aus der Unmöglichkeit, etwas von einem Nirgendwo aus zu sehen. Seine frühe Grundlage für diese Leugnung war Schopenhauers Lehre, dass der Intellekt seinen Ursprung in der Dienerschaft für den Willen hat. Nietzsche akzeptierte dieselbe Lehre in seinen späteren Werken auch als Grundlage eines gründlich darwinistischen Naturalismus. Die menschlichen kognitiven Fähigkeiten gebe es infolge der evolutionären Fortschritte der Spezies, und kein solcher Fortschritt finde sich bei irgendeinem Merkmal der sonstigen Wirklichkeit. Der Intellekt müsse auf gewisse Merkmale gerichtet werden, anfänglich zumindest, und zwar auf diejenigen Merkmale, die für das menschliche Überleben und die Reproduktion am wichtigsten seien. Die Affekte, d.h. die Gefühle, Leidenschaften, Wertorientierungen, wenden den Geist in eine bestimmte Richtung, konzentrieren seine Aufmerksamkeit auf gewisse Merkmale der Wirklichkeit und drängen ihn zu ihrer Wahrnehmung als etwas Wichtiges. Das Wissen werde erst erworben, wenn der Intellekt auf diese Weise gestoßen und konzentriert werde. Nietzsches Perspektivismus ist eine metaphorische Formulierung dieses naturalistischen Verständnisses des Wissens. Weil das Wissen immer aus der Sichtweise partikularer Interessen und Werte heraus erworben wird, gibt es folglich immer auch andere Mengen von Affekten, die die Aufmerksamkeit auf andere Aspekte der Wirklichkeit abziehen. Nietzsches Verwendung der Metapher der Perspektive impliziert daher, dass Wissen in dem Sinne beschränkt ist, dass es immer andere Dinge zu wissen gibt, nicht aber, dass die Perspektiven unseren Zugang zur Wahrheit verstellen. Die Affekte sind unser Zugang, sind die Grundlage unseres Zuganges zur Wahrheit. Wenn ein perspektivenabhängiger Charakter irgendwelche Probleme für die Erkenntnis aufwirft, dann nur deshalb, weil er in eine bestimmte Perspektive eingesperrt und deshalb nicht imstande ist, andere Merkmale der Wirklichkeit zu schätzen, die aus anderen Perspektiven offenkundig sind. Nietzsches Lösung hierzu ist einfach: je mehr Affekte wir zur Anwendung zu bringen vermögen, umso vollständiger wird unser Wissen sein. Dies heißt nicht, dass das wahre Wissen die Annahme voraussetzt, man müsse sich so viele Perspektiven wie möglich aneignen. Wissen muss kein vollständiges Wissen sein, und vollständiges Wissen ist gar nicht Nietzsches erkenntnistheoretisches Ideal. Tatsächlich meint er, dass die größten Gelehrten dazu neigten, der Erkenntnis dadurch zu dienen, dass sie sich tief und gründlich in irgendeine spezielle Perspektive versenkten, und zwar so stark, dass sie sich selbst als Menschen schädigten. Für Philosophen stelle sich die Situation anders dar, weil ihre äußerste Verantwortung gar nicht die Erkenntnis sei, sondern die Werte. Um die Aufgabe anzugehen, die Nietzsche ihnen zuweist, müssten sie Übung in wechselnden Perspektiven gewinnen. Dies erklärt vieles, was sehr bestimmend für seine Art der Produktion von Philosophie ist: warum daran so viel Affekt beteiligt ist, und warum er in solche Extreme des Ausdrucks geht. Er probiert unterschiedliche affektive Haltungen aus, nimmt sie eine Zeit lang an, um uns die Merkmale der Wirklichkeit zu zeigen, die durch sie sichtbar werden. Wichtiger ist dabei noch, dass er durch die Bewegung von einer Perspektive zur nächsten den Philosophen jene Art von ‚Objektivität‘ zu zeigen versucht, die ihre Arbeit voraussetzt: die Objektivität wird nicht als desinteres1298
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sierte Kontemplation verstanden, sondern als ein Zustand, nicht in einer bestimmten Bewertungsperspektive eingeschlossen zu sein, d.h. als die Fähigkeit, sich von einer affektiven Szene in die nächste begeben zu können. 6. Philosophie und das asketische Ideal Nietzsche zufolge wurde die Philosophie als eine apriorische Disziplin verstanden, als eine Befreiung der reinen Vernunft. Welche Rolle kann er in Anbetracht seines Empirismus der Philosophie noch zugestehen? In ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ behauptet er die Ausübung einer ‚historischen Philosophie‘ und bestreitet, dass diese von den Naturwissenschaften getrennt werden könne, indem er hinzufügt, dass er die empirischen Theorien zur Philosophie zähle, sofern sie Themen der traditionellen philosophischen Belange beleuchteten. Eine Befassung mit den eher begrifflich geprägten Aspekten solcher Theorien könnten dabei speziell als die Fortsetzung der traditionell philosophischen Rolle gelten (siehe §§ 8 f., die ein Beispiel hierfür anführen). Darüber hinaus ist Nietzsches Denken zu den Fragen der traditionellen Philosophie (§§ 4 f. dieses Beitrages) auch in einem traditionelleren Sinne philosophisch, soweit es sich dabei um begriffliche im Gegensatz zu empirischen Angelegenheiten handelt. Eine solche ‚reine‘ Philosophie ist eine Sache der Bekämpfung von Bildern und Darstellungen, die den Geist betrügen und die Philosophen auf den Gedanken bringen, dass es hier um rein philosophische Fragen ginge, die zu beantworten seien, z.B. solche betreffend die Erkenntnis, die Wahrheit und die Wirklichkeit. Die Philosophie in diesem Sinne funktioniert als eine Therapie, und soweit Nietzsche sie selbst an sich vollzog, zählt er zu den Vorläufern von Wittgenstein (siehe Wittgenstein, L.J.J., §§ 9–12). Wie Wittgenstein weist Nietzsche der Sprache eine größere Rolle bei der Erzeugung der Probleme und Verwirrungen der vorangegangenen Philosophie zu. Er scheint manchmal die Sprache selbst zu kritisieren, weil sie die Wirklichkeit verfälsche, und meint, dass die Subjekt-Prädikat-Struktur der indoeuropäischen Sprachen für die Neigung der Philosophen verantwortlich sei zu denken, dass die Wirklichkeit selbst aus äußerten oder letzten Gegenständen bestehen müsse, die niemals zu einem Teil der erfahrbaren Welt werden könnten, nämlich Gott und dem Ego, oder den unteilbaren Atomen der Materie. Aber er würde wahrscheinlich über die Sprache das sagen, was er letztlich auch über die Sinne sagte: „Nur was wir aus ihrem Zeugnis machen, führt zum Irrtum.“ Die Sprache verführe uns in der traditionellen Philosophie nur, wenn wir irrtümlich annähmen, dass die linguistische Struktur uns eine Blaupause der Wirklichkeit liefere, die man einsetzen könne, um die Angemessenheit der empirischen Theorien in Frage zu stellen. Dies ähnelt Wittgensteins Diagnose, dass philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache von den alltäglichen Aufgaben abgezogen wird, für die sie gedacht ist, und eine andere Rolle spielen soll. Nietzsches irregeleiteter Philosoph zwingt die Sprache dazu, ein Spiel zu spielen, das ihm zur Einsicht in eine nicht-empirische Welt verhelfen soll. Anders jedoch als Wittgenstein bekämpft Nietzsche die Verwirrung der traditionellen Philosophie, nicht um uns von dem Bedürfnis nach Philosophie zu befreien, sondern um uns hinzuführen zu dem, was er als die wahre Aufgabe der echten Philosophie betrachtet. Und diese Aufgabe ist keine Frage des Angebots empirischer Theorien. In seinem späteren Werk besteht Nietzsche darauf, dass die Philosophen 1299
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sich nicht durch Gelehrte oder Wissenschaftler verwirren lassen sollten, sondern dass Gelehrte und Wissenschaftler nur Mittel in den Händen der Philosophen seien. Stufenweise werde ihm klar, so sagt er, dass die Werte der Philosophen die ‚wirklichen Keime‘ seien, aus denen ihre Systeme heraus wachsen würden. Während sie vorgäben, nur um die Entdeckung der Wahrheit besorgt zu sein, seien die Philosophen in Wirklichkeit willige Fürsprecher von Vorurteilen (d.h. Werten), die sie Wahrheiten nennen. Sie interpretierten die Welt nach ihren eigenen Werten, und behaupteten dann, dass ihre Interpretation, die sie als objektives Wissen ausgeben, jedermann einen Grund verschaffe, diese Werte anzunehmen. So hätten bereits die Stoiker ihr Ideal der Selbstbestimmung auf der Grundlage gerechtfertigt, dass die Natur selbst Gesetzen gehorche. Zu dieser Interpretation seien sie durch die Projektion ihrer Ideale der Selbstbestimmung auf die Natur gelangt (‚Jenseits von Gut und Böse‘, §§ 1–9). Weil Nietzsche glaubte, dass Interpretationen der Welt als Werte etwas leisten würden, das so wichtig wie die Wahrheit sei, wollte er diese Funktion der traditionellen Philosophie auch in der künftigen Philosophie erhalten. Zwei Aspekte jener Art, unter denen die vorangehenden Philosophen sich dieser Aufgabe angenommen hatten, wollte er allerdings nicht bewahren, nämlich 1) den Mangel an Mut, den sie durch ihr Versagen bewiesen hätten, nicht zu erkennen, dass sie Werte in die Welt hineinlesen, statt die Wahrheit zu entdecken, und darüber hinaus 2) jene konkreten Werte, die sie in die Welt hineinlasen. Diese Werte, so behauptete er, seien Ausdrucksweisen des asketischen Ideals gewesen, d.h. desjenigen Ideals, das unter dem höchsten menschlichen Leben jenes der Selbstverleugnung, der Leugnung des natürlichen Selbst versteht. Hinter diesem Ideal, das Nietzsche in den meisten Religionen antrifft, verortet er die Annahme, dass die natürliche irdische Existenz (von der er meint, dass sie die einzige Existenzform sei, über die wir verfügen) bar jedes inneren oder spezifischen Wertes sei, d.h. dass ihr ein Wert nur als ein Mittel zu etwas anderem zukomme, das in Wirklichkeit jedoch seine Negation sei (wie z.B. der Himmel oder das Nirwana). Er behauptet, dass dieses lebensentwertende Ideal alle Werte infiziere, die von den meisten Religionen unterstützt werden (obwohl er in ‚Der Antichrist‘ dies für den Fall des Buddhismus zurückzieht). Gelangten Werte durch Unterstützung irgendeiner Lebensform jedoch zur Existenz, so gewönnen sie die Unterstützung des asketischen Priesters nur, wenn ihnen eine lebensentwertende Deutung gegeben wird. Handlungen würden beispielsweise aus dem Grunde als falsch oder ‚sündhaft‘ gedeutet, weil sie egoistisch oder tierisch sind, d.h. weil sie den natürlichen Instinkten entspringen. Die traditionellen (‚metaphysischen‘) Philosophen seien Nachfolger des asketischen Priesters, weil sie das, was sie bewerten, in einem unnatürlichen Rahmen interpretierten. Vor dem Hintergrund ihrer Interpretationen entdeckt Nietzsche die Grundlagen des asketischen Ideals: was ihm zufolge immer wirklich wahr ist, müsse eine Quelle außerhalb der natürlichen Welt haben, d.h. außerhalb jener Welt, die der empirischen Untersuchung zugänglich ist. Die Annahme, dass die Philosophie etwas Apriorisches sei und deshalb mit der metaphysischen Welt beschäftigt sein müsse, erkläre sich letztlich durch die Annahme der Philosophen, dass nichts, was so wertvoll wie die Philosophie oder die Wahrheit sei, direkt mit den Sinnen im Zusammenhang stehen könne, und auch nicht mehr mit der lediglich natürlichen Existenz des Menschen. 1300
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Nietzsches Philosophie in seiner frühen und mittleren Periode kann allerdings selbst als ein Ausdruck des asketischen Ideals diagnostiziert werden. Wir können seine Abwertung des menschlichen Wissens in ‚Wahrheit und Lüge‘, d.h. seine Behauptung, dass menschliche Wahrheiten ‚Illusionen‘ sind) als eine Antwort auf die Anerkennung verstehen, dass die Wurzeln des Wissens in der natürlichen Welt liegen und es ihnen daher der ‚Reinheit‘ ermangelt, die von den Asketen gefordert wird. Und wir können vermuten, dass er den Darwinschen Naturalismus als gefährlich empfand, weil er sah, dass diese das menschliche Leben seines Wertes beraubt – wenn man das asketische Ideal akzeptiert (siehe Darwin, C.R.). Tatsächlich jedoch zog er, als er die Wahrheit des Naturalismus in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ willkommen hieß (d.h. insofern er die Philosophie selbst als eine empirische Disziplin akzeptierte), daraus die Schlussfolgerung, die genau aus der Kombination von Naturalismus und asketischem Ideal folgt, nämlich dass das menschliche Leben selbst keinen Wert habe. Aus der Perspektive von Nietzsches späterer Philosophie überrascht es daher kaum, dass sich seine frühe Philosophie für ihn als ein weiterer Ausdruck des asketischen Ideals darstellt. Nach seiner ‚Genealogie der Moral‘ ist das asketische Ideal das einzige, dem eine vielschichtige Bedeutung zukommt, und das den Menschen bislang zur Verfügung steht. Es beherrschte die Interpretation und die Bewertung des menschlichen Lebens über Jahrtausende. Dem asketischen Ideal zu entkommen, ohne durch seinen Einfluss hindurchgegangen zu sein, sei unmöglich. Auf der anderen Seite bekämpfte Nietzsche auch das asketische Ideal. Der Naturalismus arbeitet gegen die übernatürliche Interpretation des menschlichen Lebens, das vom asketischen Ideal gefördert wird, und in dem Umfange, wie die moderne Wissenschaft zunehmend zeigt, wie große Teile der Welt auf naturalistische Weise verstanden werden können, schwindet der Einfluss des asketischen Ideals auch. Oder besser gesagt, es wandert ab in den Untergrund. Nietzsche leugnet, dass die Wissenschaft und der Naturalismus, die es fördern, selbst diesem asketischen Ideal entgegengesetzt sind. Die Bindung an die Wissenschaft ist tatsächlich die letzte und edelste Form des asketischen Ideals, und es basiert auf dem platonischen bzw. christlichen Glauben, dass Gott die Wahrheit ist, d.h. dass die Wahrheit göttlich ist. Dies läuft auf die Annahme hinaus, dass die Wahrheit wichtiger ist als alles andere (beispielsweise das Leben, das Glück, die Liebe, die Macht). Nietzsche geht den Entwertungen unserer natürlichen Impulse durch das asketische Ideal nach. Demzufolge fand die Entwicklung der Wissenschaft und des Naturalismus im Wege einer strengen Disziplinierung der Wissenschaft statt, d.h. mit dem Willen, das aufzugeben, was einer glauben möchte um dessentwillen, wofür es einen Grund gibt, es zu glauben, so wie die Erben des christlichen Gewissens dies durch das Bekenntnis kultiviert hatten. Dies hatte sich gegen die äußere Umgebung des asketischen Ideals gerichtet, d.h. gegen die Befriedigung, die aus dieser Entwicklung folgte, und dies brachte speziell ein Empfinden hervor, dass das Leben und speziell das Leiden einen Sinn hat, nämlichen jenen, dass es durch ein weiteres Leben (im Jenseits) erlöst wird. Aber gegen diese Befriedigung anzuarbeiten heißt nicht, dem asketischen Ideal zu widersprechen. Es heißt einfach, noch mehr Selbstverleugnung einzufordern. Nietzsche glaubt, dass wir ein neues Ideal bräuchten, und zwar eine wirkliche Alternative zum asketischen Ideal. Wenn die Philosophen weiterhin zum Ruf der Philosophie stehen und nicht deren Erbe verschwenden wollen, dann müssen sie 1301
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neue Werte schaffen und nicht lediglich fortfahren, die Wertgesetzgebung der asketischen Priester lediglich neu zu kodifizieren und zu strukturieren. Zur Erzeugung neuer Werte werden die Philosophen allerdings notwendig den asketischen Glauben und jenen, dass die Wahrheit wichtiger als alles andere ist, überwinden müssen, denn die Wahrheit ist keine ausreichende Unterstützung für irgendein Ideal. Obwohl sie also das asketische Ideal überwinden müssen, um ein neues zu erschaffen, erfordert eine verantwortliche Übernahme dieser Aufgabe doch Übung in der Aufrichtigkeit, die durch das asketische Ideal gefördert wird. Die Überwindung des asketischen Ideals, die Nietzsche verlangt, ist daher eine Selbstüberwindung. 7. ‚Gottes Tod‘ und Nihilismus Nietzsche ist vielleicht am bekanntesten dafür, dass er den Tod Gottes ausgerufen hat. Er erwähnt tatsächlich, dass Gott tot sei, aber die umfangreichste und kraftvollste Erklärung in dieser Hinsicht lässt er durch einen seiner fiktiven Charaktere abgeben, nämlich den Geisteskranken in der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Nietzsches Irrer erklärt nicht nur, dass Gott tot sei, und dass die Kirchen nunmehr Gräber und Grabkammern Gottes seien, sondern auch, dass wir alle die ‚Mörder‘ Gottes seien. Obwohl der Geisteskranke die Erklärungen selbst für buchstäblich wahr halten mag, sind sie für Nietzsche doch offenkundig Metaphern. Der ‚Tod Gottes‘ ist eine Metapher für ein kulturelles Ereignis, von dem er glaubt, dass es bereits stattgefunden habe, das aber, wie der Tod eines Sterns in großer Entfernung, für das normale Sehen noch nicht sichtbar ist: der Gottesglaube ist unglaubwürdig geworden, die christliche Idee Gottes ist keine lebende Kraft mehr in der westlichen Kultur. Nietzsche sieht alle Götter als menschliche Erfindungen an, als Reflexionen auf das, was Menschen hochschätzen. Die heidnischen Götter wurden noch aus den Eigenschaften konstruiert, die die Menschen wahrnahmen und selbst schätzten, wogegen man dem christlichen Gott Eigenschaften zuschrieb, die das Gegenteil dessen waren, was Menschen an sich selbst wahrnehmen konnten, als das Gegenteil unserer unausweichlich animalischen Instinkte. Unser natürliches Sein konnte damit als ‚Schuld vor Gott‘ uminterpretiert werden und damit unsere Wertlosigkeit anzeigen. Geschaffen, um unser natürliches Sein zu entwerten, ist der christliche Gott eine Projektion des Wertes aus der Perspektive des asketischen Ideals (siehe § 6 dieses Beitrages). Dass dieser Gott tot ist, läuft auf die Voraussage hinaus, dass der christliche Theismus zusammen mit dem asketischen Ideal, das seine Grundlage ist, sich seinem Ende als eine bedeutendere kulturelle Kraft nähert, und dass sein Niedergang durch Kräfte bewirkt wird, die schon und irreversibel am Werk sind. Eine dieser Kräfte, zu der Nietzsche selbst seinen Teil beitrug, ist die Entwicklung des Atheismus in der westlichen Kultur. Diese Entwicklung leitet sich aus der christlichen Moral selbst ab, und der Wille zur Wahrheit begünstigt dies. Der Wille zur Wahrheit, die Verpflichtung ‚um jeden Preis‘ gegenüber der Wahrheit sei der letzte Ausdruck des asketischen Ideals, doch er untergrabe auch die gesamte christliche Weltsicht (mit ihrem Himmel, ihrer Hölle, dem freien Willen und der Unsterblichkeit), für die der Ausdruck ‚Gott‘ das Symbol ist. Angefeuert durch den Willen zur Wahrheit habe die Philosophie seit Descartes fortschreitend die Argumente hinterfragt, auf denen die christliche Lehre ruhte, und die Wissenschaft habe uns einen Grund für den Glauben geliefert, dass wir alle erklärlichen Merkmale der empirischen Wirklichkeit auch wirklich erklären, ohne uns auf Gott oder irgendeine 1302
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andere transzendente Wirklichkeit berufen zu müssen. Der Theismus sei damit kognitiv überflüssig geworden. In dieser Situation können wir den Atheismus rechtfertigen, ohne die Falschheit des Theismus noch beweisen zu müssen, meint Nietzsche, sofern wir nur über eine überzeugende Darstellung verfügen, wie der Theismus überhaupt so hoch steigen und seine Wichtigkeit erlangen konnte, ohne doch wahr zu sein. Aber selbst wenn es keine kognitive Grundlage für den Gottesglauben gibt, könnte nicht doch noch jemand etwas in der Art wie William James’ ‚Wille zum Glauben‘ akzeptieren (siehe James, W.)? Nietzsche behandelt diese Wahlmöglichkeit nirgends als irrational, aber er bestreitet, dass dies noch eine ernsthafte Option für diejenigen ist, die die strengste und ernsthafteste christlich-asketische Moral angenommen haben. Vielleicht sei es nicht irrational, aber es sei psychologisch unmöglich, meint Nietzsche, den Theismus zu akzeptieren, wenn die Verpflichtung gegenüber der Wahrhaftigkeit so eingewurzelt ist, d.h. wenn in Glaubenssachen die Härte gegen sich selbst zur Gewissenssache wird. Der Atheismus ist die „Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schluss sich die ‚Lüge im Glauben an Gott verbietet“ (‚Zur Genealogie der Moral‘, 3. Buch, § 27). Obwohl der Atheismus, insbesondere unter den geistvollsten und intellektuellsten Menschen, zweifellos das Christentum schwächt, indem er ihm sowohl die schöpferische Energie, als auch das Prestige raubt, führt er doch nicht den Tod Gottes von selbst herbei. Die moderne Welt, meinte schon Kierkegaard, enthalte viele andere Faktoren, die den Einfluss des Christentums und seiner Ideale schwächen; unter diese rechnet Nietzsche auch die Entwicklung des Gewerblichen und die Industrialisierung als Ziele an sich, die Demokratie, und die größere Verfügbarkeit der Früchte materieller Arbeit. Zarathustras Feststellung: „Wenn Götter sterben, sterben sie immer viele Arten Todes“ legt nahe, dass gerade dann, wenn das asketische Ideal von unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Gründen akzeptiert wurde, der Tod Gottes und das asketische Ideal auch durch eine Vielzahl von Ursachen hervorgebracht wird, die auf unterschiedlichen Wegen auf unterschiedliche Menschen einwirken. Was zähle, so sagt Zarathustra, sei, dass „er gegangen ist“. (‚Zarathustra‘, 4. Buch, § 6). Nach Nietzsche läutet der Verlust des Glaubens an Gott eine „monströse Logik des Schreckens“ ein, wenn wir die Erfahrung des Zusammenbruchs von allem machen, was „nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsere ganze europäische Moral“ (‚Die fröhliche Wissenschaft‘, § 343). In Notizen, die er später in seinem Leben machte (und die im ‚Willen zur Macht‘ veröffentlicht wurden), nennt Nietzsche diesen Zusammenbruch der Werte ‚Nihilismus‘, das radikale Verstoßen der Werte, der Bedeutungen und der Wünschbarkeit. Er sagt den „Aufgang des Nihilismus“ als die „Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte“ voraus und nennt sich selbst „den ersten vollkommenen Nihilisten Europas“. Er fügt jedoch hinzu, dass er das Ganze des Nihilismus mit dem Ziel durchlebt habe, es hinter sich zu lassen (‚Wille zur Macht‘, Vorwort). Der Nihilismus ist folglich nicht seine eigene Lehre, sondern eine, die er in anderen diagnostiziert (einschließlich seinem eigenen, früheren Selbst). Er glaubt nicht, dass alles wertlos ist (oder dass alles erlaubt ist), wenn Gott nicht existiert, sondern dass diese Form von Urteil das notwendige Ergebnis des asketischen Ideals ist. Nachdem wir zu der Überzeugung gekommen 1303
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sind, dass die Dinge des höchsten Wertes, also das Wissen, die Wahrheit, die Tugend, die Philosophie, die Kunst, eine Quelle in einer Wirklichkeit haben müssen, die die natürliche Welt transzendieren, erfahren wir diese notwendig als aller Werte entleert, sobald uns das asketische Ideal selbst zum Tod von Gott geführt hat, und das heißt: zur Leugnung, dass jegliche transzendente Wirklichkeit existiert. 8. Moral, 1. Teil Nietzsches Kritik der Moral ist vielleicht der wichtigste und schwierigste Aspekt seiner späteren Philosophie. Indem er sich selbst als ‚Immoralist‘ bezeichnet, d.h. als jemand, der aller Moral widerspricht, besteht er wiederholt darauf, dass die Moral das ‚Leben negiert‘. Dagegen wandte er sich, so behauptet er, inspiriert durch einen „Instinkt, der sich selbst nach dem Leben richtet“ (‚Geburt der Tragödie‘, Vorwort). Was auch immer Nietzsche meinen mag, wenn er sagt, dass die Moral ‚gegen das Leben gerichtet‘ ist, so will er damit sicherlich nicht betonen, dass die Moral ‚unnatürlich‘ sei, weil sie die Befriedigung auf die natürlichen Impulse beschränkt. Er findet vielmehr, dass das, was an jeder Moral in dem Hass, den sie auf das einfache Beachten der eigenen Impulse und auf die ‚allzu große Freiheit‘ lehrt, natürlich und ‚unschätzbar‘ ist: sie lehrt den „Gehorsam über eine lange Zeitspanne und in eine einzige Richtung“ (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 188). Nietzsche entdeckt in der Anweisung, der Natur zu folgen, einen Befehl zu etwas, das entweder unmöglich (wenn er meint: ‚Sei wie ein Nicht-Mensch Teil der Natur‘), oder aber unvermeidlich ist (wenn er meint: „Sei wie du bist und sein musst“). Sein Einwand gegen die Moral scheint manchmal nicht dahingehend zu lauten, dass diese gegen das Leben gerichtet sei, sondern dass sie ein Art von Person fördere und feiere, an der er nichts Wertvolles entdecken kann: ein ‚Herdentier‘, das wenig Vorstellung von Größe hat und vor allem anderen nach Sicherheit strebe, nach Abwesenheit von Angst und Leid. Um die Sache noch schwieriger zu machen, verwendet er den Ausdruck ‚Moral‘ manchmal, um sich auf das zu beziehen, was er befürwortet, z.B. die ‚edle Moral‘ und die ‚höhere Moral‘. Das letzte dieser interpretatorischen Probleme kann man lösen, indem man anerkennt, dass Nietzsche das Wort ‚Moral‘ sowohl in einem weiteren, als auch in einem engeren Sinne verwendet. Jede ethische Norm oder jedes ethische System zur Verhaltensbewertung ist eine ‚Moral‘ im weiteren, aber nicht im engeren Sinne. Ein System, dass den Wert des Verhaltens z.B. nur nach der „rückwirkenden Kraft des Erfolgs oder des Versagens“ bemisst, ist der Fall einer Moral im weiteren Sinne. Aber Nietzsche rechnet die letztere zur Vormoral im engeren Sinne (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 32). Es ist der engere Sinn, den Nietzsche meint, wenn er sich selbst an die Überwindung der Moral bindet und behauptet, dass diese das Leben verneine. Sein Immoralismus widerspricht nicht allen Formen des ethischen Lebens. Obwohl er der Moral im engeren Sinne widerspricht, akzeptiert Nietzsche ein anderes ethisches System, an das er sich selbst ‚gebunden‘ oder ‚verpfändet‘ sieht. Tatsächlich behauptet er, dass „wir Immoralisten“ im Gegensatz zum äußeren Anschein Menschen der Pflicht seien: „Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und können da nicht heraus“ (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 226). Warum sagt Nietzsche nicht einfach, dass er einigen Moralsystemen widerspricht, und nennt darüber hinaus sein eigenes System seine ‚Moral‘? Er dachte zweifellos, dass dies noch irreführender wäre als seine Verwendung des Ausdrucks 1304
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im zweifachen Sinne, weil dies das radikale Wesen seiner Position trivialisieren würde. Er nannte sicht selbst ‚Immoralist‘ im Sinne einer Provokation, die darauf hinweisen würde, was ihn „vom gesamten Rest der Menschheit unterscheide“ (‚Ecce Homo‘, 4. Buch, § 7). Und dies könne funktionieren, meinte er, selbst wenn er tatsächlich nur der Moral im engeren Sinne widerspräche, und zwar genau deshalb, weil dies der Sinn sei, den ‚Moral‘ bis jetzt gehabt habe. Das Wort wurde für eine bestimmte Art von ethischem System monopolisiert, dachte er, und alle unsere aktuellen verfügbaren Wahlmöglichkeiten für eine Ethik seien nur Variationen dieser einen. Die ‚Genealogie der Moral‘ offeriert hierzu eine Herkunftsgeschichte im engeren Sinne (und zwar jenen Sinn, den das Wort ‚Moral‘ ab jetzt in diesem Beitrag haben wird), und ferner eine komplexe und feinsinnige Analyse dieses Moralbegriffs. Obwohl es keine abgestimmte Definition hierzu gibt, haben wir doch alle ein Gefühl dafür, was ‚Moral‘ in diesem Sinne meint. Aber sowohl das Gefühl, als auch die Bedeutung von etwas sind in Wirklichkeit Produkte einer komplizierten historischen Entwicklung, die Bedeutungen verschiedenen Ursprungs in eine Einheit zusammenschmelzen, die nur schwierig aufzulösen oder zu analysieren ist, und gänzlich unmöglich zu definieren. Wenn die begriffliche Analyse eine Sache der Formulierung notwendiger und hinreichender Bedingungen für die Verwendung eines Ausdrucks wäre, dann könnten wir den Ausdruck ‚Moral‘ vielleicht dadurch gliedern, dass wir die Eigenschaften bestimmen, die sowohl notwendig, als auch hinreichend sind, um einen Verhaltenskodex als ein Moralsystem gelten zu lassen. Aber dieser Ansatz hat noch niemals große Klarheit gebracht, und Nietzsches Verständnis der Begriffe erklärt auch warum: unsere Begriffe bedürfen der Klärung genau deshalb, weil sie Produkte einer komplizierten historischen Entwicklung sind. Unterschiedliche Denkrichtungen werden hier zu einer solchen engen Einheit zusammengeschnürt, dass sie untrennbar erscheinen und nicht mehr als Richtungen erkennbar sind. Zur Analyse oder Klärung eines solchen Begriffs muss man diese Denkrichtungen in ihm entwirren, so dass wir sehen können, was wirklich in diesem Begriff eine Rolle spielt. Die Geschichte kann bei dieser Analyse eines Begriffs wichtig sein, weil auf früheren Stufen die ihn konstituierenden Bedeutungen nicht so eng miteinander verwoben waren und wir noch ihre Bewegungen neuen Anordnungen wahrnehmen können. Schaut man auf die Geschichte der entsprechenden Phänomene, so kann dies uns das Heraussuchen der einzelnen Denkrichtungen erleichtern, die zusammen den Begriff in seiner heutigen Form ausmachen, und wir sind eher in der Lage andere Wege zu erkennen, wie man sie noch zusammenbinden kann. Nietzsches Genealogie der Moral zielt darauf ab zu zeigen, dass es bestimmte Aspekte der Moral gibt, von denen jeder eine bestimmte vormoralische Quelle hat, und wodurch die Synthese, die wir schließlich ‚Moral‘ nennen, zu etwas macht, das auch wieder rückgängig gemacht werden kann, so dass die in ihr enthaltenen Denkrichtungen daraufhin erneut zu einer unterschiedlichen Form von ethischem Leben gewoben werden können. Die drei Aufsätze der ‚Genealogie‘ lösen drei solcher Hauptrichtungen der Moral zur weiteren Prüfung heraus: das Gute (im Sinne der Tugend), das Richtige (oder die Pflicht), und ein allgemeines Verständnis des Wertes. Jeder Aufsatz konzentriert sich auf die Entwicklung einer dieser Richtungen, ohne sich viel um die beiden anderen zu kümmern, selbst wenn jede entwickelte Form des ethischen Lebens in 1305
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Wirklichkeit alle drei Aspekte in irgendeiner Form und Koppelung beteiligen wird. Die übergreifende Darstellung der Moral bildet eine ‚Genealogie‘ genau deshalb, weil sie die moralische Fassung oder Färbung einer jeden Denkrichtung zurück bis auf ihre vormoralischen Quellen verfolgt, und zwar zu den ‚Vorgängern der Moral‘. Das Ergebnis hiervon zeigt, dass das, was wir ‚Moral‘ nennen, sich aus diesen vormoralischen Vorgängern heraus entwickelte, und zwar als das Richtige und das Gute unter einem Verständnis des Wertes zusammengebunden wurden, das durch das asketische Ideal geliefert wurde. Dies erklärt, warum Nietzsche behauptet, dass die Moral das Leben verneine: die Moral sei eine asketische Deutung des ethischen Lebens. Der erste Essay der Genealogie macht den Kern der vormoralischen Vorgänger der moralischen Idee des Guten bei den politischen führenden Klassen der antiken Welt aus, deren Mitglieder sich selbst ‚die Guten‘ nannten und ‚gut‘ und ‚Tugend‘ als ihre Unterscheidungsmerkmale einsetzten, d.h. als die Qualitäten, die sie von den ‚gemeinen‘ Menschen und den Sklaven unterschieden. ‚Gut‘ und ‚Tugend‘ waren dasselbe wie ‚edel‘ im Sinne von ‚zur herrschenden Klassen gehören‘; der Ausdruck für das Gegenteil ‚niedrig geboren‘ oder ‚schlecht‘ (was im Deutschen etymologisch, wie ‚schlicht‘, aus dem Bedeutungskreis von ‚einfach‘ oder ‚üblich‘ abstammt). So, wie Nietzsche das Wort ‚schlecht‘ einsetzt (wobei er nicht behauptet, sich dabei auf die zeitgenössische Verwendung des Wortes zu stützen), impliziert dies keinerlei Konnotation von Vorwurf, egal, ob es auf eine arme Person oder einen Lügner angewandt wird. ‚Schlecht‘ drückt sicherlich ein Werturteil aus, dass nämlich die so beschriebene Person in der kritisierten Hinsicht geringerwertig ist. Die Edlen betrachten sich selbst als überlegen und schauen auf die ‚Schlechten‘ herab, einmal mit Verachtung, das andere Mal mit Mitleid. Sie werfen ihnen aber nicht vor, minderwertig zu sein, und sie denken auch nicht, dass das Minderwertige gut sein sollte, und noch weniger, dass die Minderwertigkeit Strafe oder das Gutsein Belohnung verdiene. Solche Urteile ergeben nur dann einen Sinn, wenn jemand die fragliche Minderwertigkeit im moralischen Sinne beurteilt, d.h. wenn ‚schlecht‘ zu einem ‚moralisch schlecht‘ oder ‚böse‘ wird. Zur Erklärung des Ursprungs der Gut- bzw. Böse-Bewertung postuliert Nietzsche eine „Sklavenrevolte in der Moral“, d.h. eine Umwertung infolge von Ressentiments gegen die Edlen. Nietzsche behauptet nicht, dass die Handlungen der Edlen als falsch angesehen wurden, weil sie ihnen etwa verübelt wurden. Es geht ihm in diesem Essay nur um die ursprünglichen Ideen des Guten oder der Tugend; er versucht zu erklären, wie das Gutsein in den Zusammenhang mit Lob und Tadel, mit Belohnung und Bestrafung geriet. Die von ihm postulierte Sklavenrevolte wurde ihm zufolge nicht von Sklaven geführt, sondern von Priestern, weil ihre Spiritualität mit der direkten Entladung von Feindseligkeit und Vorwurf unvereinbar war. Sie hassten die Edlen nicht, weil wie sie sich von ihnen unterdrückt fühlten, sondern weil die Edlen sich selbst als höher stehend betrachteten und sie besiegt hatten, indem sie den Respekt und die Bewunderung der Menschen auf sich lenkten. Weil dieser Hass nicht direkt ausgedrückt werden konnte, nahm er monströse Formen an, bis er schließlich ein Ventil in der Umwertung der Edlen und ihrer Eigenschaften als ‚mindere‘ fand. Als Ergebnis hiervon wurden gewisse Eigenschaften – nämlich jene, die denen, die in einer sklavischen oder abhängigen Position waren, nützten – nun1306
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mehr ‚gut‘ genannt, aber nicht etwa, weil irgendjemand sie besonders bewundernswert fand, sondern infolge des Wunsches, diejenigen Menschen ‚herunterzuholen‘, die die entgegengesetzten Eigenschaften aufwiesen. Einfach auf die Edlen und ihre Eigenschaften ‚herabzuschauen‘ hätte nicht denselben Effekt gehabt, insbesondere weil die Mehrheit sie beneidete und bewunderte. Nur durch die Transformation von ‚schlecht‘ in ‚böse‘, d.h. von der Minderwertigkeit in etwas, für dass man jemanden einen Vorwurf machen konnte, konnte diese Umwertung Erfolg haben. Aufgestaute Ressentiments konnten damit in Vorwürfe der moralischen Verdammung umgewandelt werden. Dies sieht Nietzsche als eine Form der ‚imaginären Rache‘ an, die die verhassten Widersacher ‚von ihren Statuen herunterholt‘ und jene erhöht, die die Vorwürfe erheben, zumindest in ihrer eigenen Vorstellung. Einen Vorwurf zu erheben, impliziert nach Nietzsche offenkundig das Urteil, dass die getadelte Person eine Strafe verdient, in diesem Falle für ihre Minderwertigkeit. Daraufhin können, sobald erst ‚schlecht‘ in ‚böse‘ transformiert sei, Gott und sein Urteil zusammen mit dem Himmel und der Hölle zur Durchsetzung der Umwertung eingesetzt werden, indem man diejenigen dafür gewinnt, die sich durch die lediglich moralische Verdammung der Edlen noch nicht genügend erhoben fühlen. Nietzsche meint, dass dies der Gang der Dinge war, wie der freie Wille mit der Moral verknüpft wurde. Dabei gehe es nicht darum, Menschen zu tadeln oder sie für das verantwortlich zu machen, was sie tun, sondern es gehe darum, sie dafür verantwortlich zu machen, was sie sind. Und das ist genau die Vorgehensweise, die zur Umwertung der Edlen gebraucht wird. 9. Moral, 2. Teil Die Priester erfanden die Idee des Bösen allerdings nicht auf der Stelle. Der Begriff des Vorwurfs, der für die Umwertung benötigt wurde, tauchte in einer ganz anderen Sphäre auf, nämlich jener des richtigen Verhaltens oder der Pflicht, deren Sphäre Nietzsche im zweiten Essay der ‚Genealogie der Moral‘ umreißt. Die prämoralischen Vorläufer, auf die dieser Essay die moralischen Versionen des Richtigen, der Pflicht oder der Verpflichtung und des Falschen zurückverfolgt, ist die Sphäre der ‚Sittlichkeit der Sitte‘, ein frühes System der Gemeinschaftspraxis, dass durch die Androhung von Strafe schließlich den Status von Regeln annahm. Diese Regeln wurden als Befehle wahrgenommen, nicht als moralisches Sollen; ihre Verletzung wurde bestraft, aber nicht als eine Sache des Bewusstseins oder des Gedankens betrachtet, dass sich jemand etwas zu Schulden kommen lässt. Nietzsche findet einen Vorläufer der Schuld im Reich des Handels, in der Beziehung von Gläubiger zu Schuldner. Die Schuld entsteht, so behauptet Nietzsche, wenn die Idee der Schuld (im Sinne einer Leistungsverpflichtung) zur Verwendung im Sinne von ‚schlechtes Bewusstsein‘ umgebogen wird, d.h. einen Sinn erhält, wo man sich selbst als unwert erlebt. Diese entwickelt sich, wenn der externe Ausdruck aggressiver Impulse in einem solchen Umfange eingeschränkt wird, dass sie nur noch ausgedrückt werden können, indem man sie gegen sich selbst richtet. Diese Internalisierung von Aggression findet allerdings keineswegs automatisch statt. Die Menschen müssten Techniken lernen, die dies ermöglichen, und Nietzsche sieht die Priester als die großen Lehrer genau auf diesem Gebiet, d.h. als Techniker und Vermittler von Schuldgefühl. Eine dieser Techniken beutet die Idee aus, dass man gegenüber seinen Vorfahren in der Schuld steht (die schließlich als Götter wahrgenommen werden), und zwar wegen der fortgesetzten Vorteile, die sie der 1307
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Gemeinschaft verschaffen, aber auch infolge der Verletzung von Gesetzen, die als Darstellungen des göttlichen Willens vermittelt werden. Die Priester nutzen diese Idee, um den Menschen klar zu machen, dass sie den Göttern schwere Opfer bringen müssen, beispielsweise ihren erstgeborenen Sohn zu opfern, und dass gewisse Fälle offensichtlichen Unglücks und Leidens ‚in Wirklichkeit‘ ein Lohnentzug sind für die Verletzungen göttlicher Gesetze, was folglich Strafe verdient. So betrachtet sind die Schulden zwar immer noch nichts als Schulden, d.h. materieller Natur und keine moralischen Verpflichtungen. Die Moralisierung der Schuld (und damit auch der Pflicht) tilgt die Idee, dass sie schlicht und einfach zurückgezahlt und damit getilgt werden kann und verbindet sie stattdessen mit dem Wert oder dem Gutsein einer Person. Diese Moralisierung erfolgt durch den dritten Wirkungsstrang der Moral, der in der ‚Genealogie‘ herausgearbeitet wird. Dieser betrifft das Verständnis des Wertes, der im Falle der Moral durch das asketische Ideal geleitet wird. Wir betreten das, was Nietzsche die ‚moralische Epoche‘ nennt, nur, wenn das göttliche Wesen, dem gegenüber die Schuld besteht, als das höchste Wesen betrachtet wird und dabei auf nicht-naturalistische oder asketische Weise konzipiert wird, d.h. als ein rein geistiges Wesen und damit als ein Verstoßen des Wertes der natürlichen menschlichen Existenz (siehe §§ 6 f. dieses Beitrages). Nunmehr müssen dem Göttlichen bereits die eigenen und stärksten Instinkte, d.h. die eigene Natur geopfert werden (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 55). Die Bestätigung dieser Instinkte wird als Rebellion gegen Gott konstruiert, und die normalen Leiden des menschlichen Lebens als Strafen für diese Rebellion. Die Schuld besteht nunmehr, genauer gesagt, darin, was jemand ist und weiterhin sein wird, d.h. dafür, dass man Teil der natürlichen Welt ist. Diese ‚Schuld‘ kann nicht mehr als eine materielle aufgefasst werden, also als nichts, was man noch irgendwie zurückzahlen oder tilgen könnte. Und die verdiente Bestrafung ist nunmehr vollständig an den Mangel von Gutsein oder Tugend gebunden, was aus asketischer Perspektive als Befehl zur Selbstverleugnung interpretiert wird, d.h. als die Verleugnung der eigenen, natürlichen Impulse, oder zumindest als Selbstlosigkeit. Nun verfügt der Priester über den Begriff und die Vorstellung vom ‚Bösen‘, den er zur Umwertung der edlen Werte benötigte: der moralisierte Begriff der Tugend als Selbstverleugnung liefert den Standard, dem gegenüber die Edlen als minderwertig verurteilt werden können, während der moralisierte Begriff der Schuld die Grundlage für den Vorwurf der Minderwertigkeit gegenüber den Edlen liefert. Beide Ausdrücke – jener der Tugend und jener der Pflicht – wurden moralisiert, indem sie im Sinne eines Wertverständnisses, das vom asketischen Ideal inspiriert ist, verknüpft wurden. Die Moral verbindet die Pflicht und die Tugend auf eine Weise, dass vorwerfbare Pflichtverletzungen als Beweis nunmehr als Tugendmängel gelten, und Tugendmängel sind vorwerfbar – das Glück hat damit nichts zu tun. Weil Nietzsche diese Verbindung sieht, die über das Vehikel des asketischen Ideals hergestellt wurde, betrachtet er dieses Ideal als ein wichtiges Element der Moral. Sein eigenes Ideal ist davon sehr verschieden. Benannt nach dem griechischen Gott Dionysos feiert Nietzsches Ideal die Bestätigung des Lebens selbst noch im Anblick größter Schwierigkeiten und bringt damit eine Lehre und Bewertungen hervor, die in fundamentalem Gegensatz zu jenen stehen, die er hinter der Moral entdeckt. Er fühlt sich der Suche nach den Quellen der Werte im Leben verpflichtet, und so verwirft er alle nicht-naturalistischen Interpretationen des ethischen Lebens, d.h. al1308
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le diejenigen, die sich in Beziehung zu einer transzendenten oder metaphysischen Welt setzen wollen. So gesehen erscheint es wahrscheinlich, dass diejenigen Dinge, denen er im Bereich des Moralischen widerspricht, nicht für die Idee der Tugend oder für Maßstäbe des Richtigen und des Falschen stehen, sondern für die Moralisierung der Tugend und der Pflicht, die durch das asketische Ideal herbeigeführt wurde. Die Moral ‚negiert‘ das Leben, weil sie eine asketische Interpretation des ethischen Lebens ist. Durch die nicht-naturalistische Interpretation der Tugend und der Pflicht offenbart sie die Grundannahmen des asketischen Ideals, dass nämlich die Dinge mit dem höchsten Wert ihren Ursprung woanders als in der natürlichen Welt haben müssen. Darum sagt Nietzsche, dass das, was ihn an der Moral entsetzte, „der Mangel an Natur [ist], es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, dass die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen bleibt!“ (‚Ecce Homo‘: ‚Warum ich ein Schicksal bin‘, Nr. 7). In welcher Verbindung steht dies aber in Nietzsches Klage gegen die ‚Herdenmoral‘? ‚Herde‘ ist sein absichtlich beleidigend gewählter Ausdruck für diejenigen, die sich in Fragen des Wertes zusammenfinden und jeden als gefährlich wahrnehmen, der mit einem Willen ausgestattet ist, in diesen Fragen alleine zu stehen. Er nennt die Moral des zeitgenössischen Europas ‚Moral der Herdentiere‘, wegen der fast vollständigen Einigkeit ‚in allen größeren moralischen Urteilen‘. Gefahr, Leiden und Elend sollen minimiert werden, die ‚bescheidene, unterwürfige, konforme Mentalität‘ wird belohnt, und man ist beunruhigt durch ‚jede Schwierigkeit, selbst noch in der Gerechtigkeit‘. Gottgefallen und Wohlwollen werden hoch bewertet, wogegen die höchsten und stärksten Antriebe, wenn sie leidenschaftlich ausbrechen und das Individuum weit über das Mittelmaß und das Flachland der Herde hinaus schießen lassen, verleumdet und als Böse verschrien werden (‚Jenseits von Gut und Böse‘, §§ 201 f.). Diese Moral scheint kein asketisches Ideal zu implizieren. Tatsächlich ist es eher als eine Art von Utilitarismus zu begreifen, der eine naturalistische und daher offenbar unasketische Interpretation der Pflicht und Tugend als Glück anbietet (siehe Utilitarismus). Wir können Nietzsches Haupteinwand gegen die Herdenmoral tatsächlich als eine Beschwerde dagegen formulieren, dass es in dieser Moral keine Rolle mehr für das asketische Ideal gibt; es wird damit das Ideal eines Menschen verdrängt, das den Einzelnen darin bestärken könnte, die Aufgabe der Selbsttransformation und der Selbsterschaffung zu übernehmen, und damit die aggressiven Impulse, den Willen zur Macht und das Ressentiment einzufangen, die sich ansonsten extern Luft machen würden. Obwohl es ihn entsetzt, erkennt Nietzsche die Größe des asketischen Ideals an. Es sei das einzige Ideal mit weit verbreiteter kultureller Bedeutsamkeit, über das die Menschen überhaupt verfügten, und es sei zu seiner enormen Macht gekommen, obwohl es ‚das schädliche Ideal par excellence‘ sei, nur weil es notwendig gewesen sei, denn es habe nichts anderes gegeben, was diese Rolle hätte ausfüllen können. ‚Vor allem fehlt ein Gegenideal – bis auf Zarathustra‘ (‚Ecce Homo‘: ‚Genealogie der Moral‘). Das Problem sei, dass das asketische Ideal inzwischen weithin – als Teil des Todes von Gott – selbst tot sei. Nietzsche denkt, wir bräuchten etwas, um es zu ersetzen: ein großes Ideal, dass unser Streben entzünde, eine Verinnerlichung, Tugend, Selbsterschaffung, die das asketische Ideal zu inspirieren vermöchte. Die ‚Herden1309
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tiermoral‘ ist das, was uns in der Abwesenheit eines solchen Ideals geblieben sei. Dazu verkomme die Moral, wenn sich das asketische Ideal erst aus der Synthese zurückgezogen habe, die es hervorbrachte. Der tugendhafte Mensch sei nichts mehr, was unsere Einbildungskraft aufrütteln oder uns bewegen könne. Für Nietzsche ist dies die ‚große Gefahr‘, in die uns die Moral geführt hat: der Anblick der Menschen macht uns matt. 10. Der Übermensch Nietzsches offenkundige Alternative zur sog. Herdentriebmoral ist seine so bekannte wie berüchtigte Idee des Übermenschen. (Übrigens gibt es, zumindest im Englischen, keine anerkannte Übersetzung dieses merkwürdigen Ausdrucks; zur Auswahl wurde im Laufe der Nietzsche-Rezeption overhuman, superman und overman gestellt. Häufig wird jedoch der unübersetzte deutsche Original-Ausdruck verwendet.) Die Idee gehört eigentlich zum Protagonisten von ‚Also sprach Zarathustra‘, jenem Werk aus Nietzsches philosophischer Fiktion, und deshalb kann niemals davon ausgegangen werden, dass Zarathustras Äußerungen immer den Auffassungen Nietzsches entsprechen. Im Eingang der Geschichte kehrt Zarathustra aus zehnjähriger Einsamkeit in der Wildnis zurück und bringt den Menschen ein Geschenk mit, nämlich seine Lehre, dass die Menschheit kein Zweck oder Ziel ist, sondern nur eine Stufe oder Brücke zu einem höheren Seinstyp, dem Übermenschen. Er lehrt, dass Gott nunmehr tot sei, dass es deshalb Zeit für die Menschheit sei, diesen höheren Typus als das Ziel und die Bedeutung des menschlichen Lebens einzurichten, und dass dieses Ziel nur erreicht werden könne, wenn die Menschen überwinden, was sie derzeit sind, d.h. wenn sie das ‚lediglich Menschliche‘ überwinden. Die Idee, durch die Überwindung des eigenen Menschseins eine höhere Art von Wesen zu werden, kann einen erschauern lassen. Für einige ruft dies die Erinnerung an Nazi-Sturmtruppen wach, die ‚Untermenschen‘ suchen, um sie zu vernichten. Aus dem ‚Zarathustra‘ lässt sich jedoch ersehen, dass Nietzsche offenbar etwas gänzlich anderes im Sinn hatte, und der Ausdruck ‚Untermensch‘ keineswegs ein Gegenbegriff zu ‚Übermensch‘ ist und von Nietzsche auch nirgends verwendet wurde. ‚Zarathustra‘ ist ein weiterer Name für Zoroaster, den Begründer des Zoroastrismus (siehe Zoroastrismus). Nietzsche behauptet, dass der historische Zarathustra „den verhängnisvollsten Irrtum beging, nämlich die Moral“, weil seine Lehre als Erste die ethischen Unterscheidungen auf den Bereich des Metaphysischen projizierte, nämlich als kosmischen Kampf zwischen guten und bösen Kräften. Nietzsche schreibt diese Denkfigur Zarathustra zu, weil der Schöpfer dieses Irrtums, „auch der Erste [gewesen] sein [muss], der ihn erkennt“. (‚Ecce Homo‘: ‚Warum ich ein Schicksal bin‘, Nr. 3) Der ‚Zarathustra‘ ist daher die Geschichte eines religiösen Führers, des Erfinders einer der ältesten Religionen der Welt, der schließlich den Irrtum der traditionellen moralisierten Religionen erkennt. Zarathustra ist jedoch weit davon entfernt, sich gegen jeden Aspekt traditioneller Religion zu wenden; vielmehr verschreibt er sich einer zentralen Aufgabe: die Menschen zu drängen, dass sie ihren Blick aus ihrer üblichen Versunkenheit in materielle Ziele erheben, um die Umrisse einer höheren Seinsform zu erkennen, die sie über sich selbst hinaus ruft, d.h. um mehr zu werden, als sie sind. Zarathustras Übermensch kann daher als ein Nachfolger der Bilder einer ‚höheren Menschheit‘ gesehen werden, die von den traditionellen Reli1310
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gionen angeboten wird. Seine Lehren sollen die Menschen nicht darin bestärken, die Beschränkungen und Ketten der Moral einfach abzuwerfen (was Nietzsche vielmehr ohnehin bereits kommen sieht). Vielmehr ginge es darum, die Kräfte der Barbarei zu bekämpfen, indem wir uns darin stärken, eine anspruchsvollere ethische Aufgabe zu übernehmen, als die moderne Moral dies erfordert. Diese Aufgabe ist das, was Nietzsche bereits früher ‚den wahren Menschen‘ genannt hatte. Als er diesen Ausdruck verwendete, glaubte Nietzsche jedoch noch, er wäre nur auf jene „Nichtmehr-Tiere“ anwendbar, d.h. auf die „Philosophen, Künstler und Heiligen“. Animalische, d.h. rein natürliche Existenz sei dagegen ein sinnloser Kreislauf von Werden und Wünschen, und nur diejenigen, die ihm entkommen, indem sie ihre egoistischen Wünsche auslöschen, zählen als wirkliche Menschen. Speziell der Heilige zählt hier als „dieses letzte und höchste werdende Menschliche“, in dem „das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint“. (‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘, III § 5). Aus der Perspektive seiner späteren Philosophie ist die frühe Konzeption der wahren Menschlichkeit Nietzsches ein offenkundiger Ausdruck des asketischen Ideals; es entwerte die natürliche Existenz im Verhältnis zu etwas, das sein Gegenteil ist. Sobald man dieses Gegenteil als unerreichbar erkennt, wie Nietzsche dies in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ tat, könne diese Konzeption als das betrachtet werden, was sie wirklich sei, nämlich eine Entwertung und Verdammung des menschlichen Lebens. Nietzsche gab niemals seinen frühen Glauben auf, dass die moderne Welt von Kräften sowohl des Konformismus, als auch der Barbarei bedroht sei, und dass daher unser großes Bedürfnis nach Lehrern rühre, die uns zur menschlichen Selbstüberwindung durch die Kraft eines hohen Ideals anregen. Da er aber das asketische Ideal ablehnt, muss er sein früheres Bild des wahren Menschen aufgeben. Am Ende des zweiten Essays der ‚Genealogie der Moral‘ deutet Nietzsche an, dass das, was der Übermensch überwindet, nicht seine natürlichen Neigungen gegen das sei, worauf sich das asketische Ideal richte, also das, was unsere Verbindung zu den übrigen Tieren offen lege, sondern vielmehr die unnatürlichen Neigungen, das Streben nach einer Existenzform, die die Natur und das Tierische transzendiert. Mit anderen Worten, der Übermensch muss alle jene Impulse überwinden, die die Menschen zur Annahme eines asketischen Ideals bringen. Dieses Ideal wird bislang als all das definiert, was als menschlich gilt. Wie wir allerdings noch sehen werden, ist Zarathustras Ruf nach der Überwindung des Menschlichen immer noch zu stark an das alte Ideal gebunden. 11. Der Wille zur Macht Zarathustra lehrt, dass das Leben selbst der Wille zur Macht ist, und dies wird oft auch für Nietzsches zentrale Lehre gehalten. Der Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ erscheint jedoch zuerst in seiner ‚Morgenröte‘ (1881), und dort ist er ein menschlicher Trieb unter anderen, nämlich das Streben nach Fähigkeit oder Meisterschaft. Dies sollte man sich sinnvollerweise als einen Antrieb oder Willen zweiter Ordnung vorstellen, d.h. als ein Bedürfnis oder einen Wunsch nach der Wirksamkeit des eigenen Willens erster Ordnung. In der ‚Morgenröte‘ entdeckt Nietzsche, dass dieser Antrieb in großen Bereichen des menschlichen Lebens wirksam sei: in der Askese, in der Rache, der Geldgier, das Streben nach sozialem Unterschied, bei der Grausamkeit, dem Tadeln anderer und dem Tadeln seiner selbst. Er erklärt die 1311
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offenkundige Allgegenwart dieses Antriebs im menschlichen Leben nicht, indem er das Leben zum reinen Machtwillen erklärt (oder dass die Macht das einzige sei, was Menschen suchen), sondern dadurch, dass die Macht eine besondere Beziehung zum menschlichen Glück unterhalte. Er nennt die Liebe zur Macht einen ‚Dämon‘, weil die Menschen unglücklich und ungeistig blieben, wenn dieser Dämon nicht befriedigt sei, selbst wenn alle ihre materiellen Bedürfnisse befriedigt seien, wogegen die Macht sie so glücklich mache, wie Menschen nur sein können, selbst wenn ihnen alles andere genommen wird (‚Morgenröte‘, § 262). In der ‚Genealogie der Moral‘ (1887) bringt er eine ähnliche Idee auf positivere Weise zum Ausdruck, wenn er den Willen zur Macht „den lebensbejahendsten Trieb“ nennt, d.h. es sei derjenige, dessen Befriedigung am meisten dazu beiträgt, das Leben lebenswert zu finden (‚Zur Genealogie der Moral‘, III § 18). Zarathustra behauptet, dass dieser ‚Wille, ein Meister zu sein‘ sich in allem findet, was lebt, und dass dies auch erkläre, warum das Leben „Kampf und Werden“ sei, immer sich selbst überwindend, immer dem widersprechend, was es geschaffen und geliebt hat: „Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absage; und wahrlich, wo es Untergang gibt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht!“ (‚Zarathustra‘, II § 12). Dies scheint aber eine klar anthropomorphe Konzeption des Lebens zu sein, d.h. die Projektion des menschlichen Willens zur Macht auf die nichtmenschliche Natur. Nietzsche lehnt die anthropomorphen Konzeptionen der Natur ab; er beharrt darauf, dass der Wille sich nur in Geschöpfen mit Intellekt findet und beklagt, dass Schopenhauers Idee des Willens sich in eine Metapher verwandelt habe, wenn behauptet würde, dass alle Dinge der Natur einen Willen besäßen. Nietzsche sagt allerdings nicht, dass das Leben oder gar die Wirklichkeit insgesamt ein Wille zur Macht sei. Seine Idee scheint zu sein, dass die Wirklichkeit aus Kraftfeldern oder dynamischen Quanta bestehe, von denen jedes im Kern ein Antrieb zur Ausbreitung und damit zur Erweiterung seiner Macht relativ zu allen anderen solchen Quanta sei. Praktisch alle diesbezüglichen Passagen finden sich allerdings in Nietzsches Notizbüchern. Er argumentiert in Wirklichkeit in nur einer einzigen zur Veröffentlichung bestimmten Passage, dass die Wirklichkeit ein Wille zur Macht sei, und diese Passage gibt uns guten Anlass zum Zweifel, dass Nietzsche wirklich dieses Argument vertrat. Er sagte weder, noch implizierte er, dass er dessen Schlussfolgerung akzeptiert, und er argumentierte in früheren Passagen desselben Buchs gegen diese Schlussfolgerung (‚Jenseits von Gut und Böse‘, § 36). Warum sollte Nietzsche ein ziemlich detailliertes Argument aus Prämissen konstruieren, die er bereits offen zurückgewiesen hat? Vielleicht wollte er damit den Standpunkt der Philosophie illustrieren, den er früher in demselben Buch vertreten hatte. Das äußerste Ziel des Philosophen, behauptet er, sei nicht die Erlangung von Wissen oder Wahrheit, sondern eine Interpretation der Welt nach ihren eigenen Werten (siehe § 6 dieses Beitrages), d.h. die gedankliche Erschaffung einer Welt, vor der sie niederknien können (siehe ‚Zarathustra‘, II § 12). Und dennoch stellen sie ihre Interpretationen als wahr da und argumentieren auf der Grundlage von erstaunlich wenig: „irgendein alter Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit“, ein Wortspiel, eine grammatische Verführung, oder „eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Tatsachen“ (‚Jenseits von Gut und Böse‘, Vorrede). Dies scheint eine passende Diagnose für Nietzsches 1312
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eigenes Argument, da er anderswo dessen erste Prämisse als „Schopenhauerischen Aberglauben“ und als Übertreibung eines populären Vorurteils abtut, und seine zweite und dritte Prämisse als Teil einer „urzeitlichen Mythologie“ Schopenhauer inthronisiere (‚Jenseits von Gut und Böse‘, §§ 16–19; ‚Die fröhliche Wissenschaft‘, § 127). Ferner ist die Wirkung des Arguments eine „kühne Verallgemeinerung des Willens“, den Nietzsche ursprünglich als einen menschlichen Trieb unter vielen verstand, auf das gesamte Universum. Durch die Verallgemeinerung dieses Triebs kann Nietzsche als jemand betrachtet werden, der das verallgemeinert und verherrlicht, was er hoch bewertet; dies sei genau das, was die Philosophen nach seiner Auffassung schon immer getan haben und auch tun müssten. Denn Nietzsches eigene Antwort auf die Frage ‚Was ist gut?‘ lautet: „Alles, was das Machtgefühl im Menschen erhöht, d.h. der Wille zur Macht, die Macht selbst“ (‚Der Antichrist‘, § 2). Warum weist Nietzsche dem Willen zur Macht einen so hohen Wert zu? Sicherlich erkannte er, dass der Machtwille an erster Stelle für die Gewalt und die Grausamkeit des menschlichen Lebens verantwortlich ist und damit das ist, was er früher selbst „den Braukessel einer Hexenküche“ genannt hatte, der die moderne Welt mit „schrecklichen Erscheinungen“ bedrohe (‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘, III § 4). Er sah ihn aber auch als den „lebensbejahendsten Antrieb“, der für große menschliche Leistungen verantwortlich ist, wie z.B. politische Institutionen, die Religion, die Kunst, die Moral und die Philosophie. Seine grundlegende psychologische Behauptung ist daher, dass die Menschen intensiven Erfahrungen der Machtlosigkeit ausgesetzt sein werden, und dass solche Erfahrungen zur Depression führen, bis irgendein Mittel gefunden sei, um das Gefühl der Macht wieder herzustellen. Was wir Barbarei nennen, sei zu einem guten Teil eine Menge direkter und derber Strategien zur Wiederherstellung des Machtgefühls durch das Zeigen der Macht über andere, sie verletzen zu können. Was wir Kultur nennen, sei eine Reihe von Institutionen und Strategien zur Erreichung desselben Gefühls, nur auf eine sublimierte und weniger direkte Art. Die wichtigsten Strategien hätten alle den Willen zur Macht wieder gegen das Selbst gewendet. Eine solche Internalisierung sei für alle ethischen Leistungen des menschlichen Lebens verantwortlich, für alle Wege, auf denen Menschen ihre ursprüngliche Natur verändert und vervollkommnet haben, indem sie ein neues und besseres Wesen annahmen. Die Internalisierung des Willens zur Macht würde aber durch die Verdammung unserer ursprünglichen Natur von Seiten des asketischen Ideals befördert. Dies ist es, was Zarathustra mit seiner Lehre vom Übermenschen zu überwinden versucht, wenn er den Willen zur Macht wieder gegen sich selbst richtet, um so jene Neigung zu überwinden, die zur Etablierung des alten Ideals führte. Er verdammt daher nicht den Willen zur Macht, sondern feiert ihn. 12. Ewige Wiederkehr Nietzsche sieht sich vor allem anderen als der Lehrer der ewigen Wiederkehr, die oft als eine kosmologische Theorie zum Zweck interpretiert wird, dass sich die exakte Geschichte des Kosmos endlos wiederholt. Obwohl er in seinen Notizbüchern Argumente für eine solche Theorie skizzierte, hat er sich real in keinem von ihm veröffentlichten Werk an eine Kosmologie gebunden oder wie eine solche argumentiert. Und obwohl er die ewige Wiederkehr als eine der grundlegenden Konzeptionen des ‚Zarathustra‘ darstellt, verpflichtet er doch auch dessen Protagonisten auf keine Kosmologie. Er identifiziert diese Grundkonzeption nicht als eine Kosmolo1313
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gie, sondern als „diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (‚Ecce Homo‘, III § 1). In ihrer ersten Formulierung in der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ ist die ewige Wiederkehr des Gleichen ein heuristischer Kunstgriff von Nietzsches Darstellung des dionysischen Ideals (siehe § 9 dieses Beitrages). Wie wir dem Leben gewogen sind, lässt sich daran messen, wie wir reagieren würden, wenn uns ein Dämon auf eine Weise erzählen würde, die bei uns auf unkritische Akzeptanz stößt, dass wir wieder und wieder genau dasselbe Leben zu leben haben, dass wir gerade leben. Würden wir Verzweiflung oder Freude empfinden? Würden wir den Dämon verfluchen oder ihn als Gott grüßen? Nietzsches Ideal ist die Bejahung der ewigen Wiederkehr, d.h. das Ideal einer Person, die auf den Dämon mit Freude reagiert. Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem Mangel an Bedauern, denn es sagt nichts darüber, wie man reagieren sollte, wenn man die Wahl einer Veränderung seiner eigenen Geschichte hätte. Nietzsches Ideal ist es, das Leben genug zu lieben, um mit Freude zu wollen, dass sich derselbe Prozess ewig wiederholt, einschließlich aller Teile, die man nicht mochte und sogar derer, die man bekämpft hatte. Die ewige Wiederkehr gibt ihm eine Formel an die Hand, was es heißt, den Prozess des Lebens als ein Ziel an sich selbst, und nicht nur als ein Mittel zu bewerten. Nietzsches besondere Selbstidentifikation mit der ewigen Wiederkehr kann man nach seiner Sichtweise betreffend die Bedeutung des asketischen Ideals und seiner Darstellung ihrer Macht erklären: „Ein Gegenideal fehlte – bis Zarathustra.“ Es gibt nur zwei plausible Kandidaten für das Gegenideal, das Zarathustra anbietet: den Übermenschen und die Bejahung der ewigen Wiederkehr. Der Übermensch ist einer, der das asketische Ideal überwindet. Doch das Ideal des Übermenschen, wie es Zarathustra zunächst predigt, kann als eine weitere Variation des asketischen Ideals verstanden werden. Wie der asketische Priester behandelt auch Zarathustra unser Leben nur im Sinne eines Mittels zu einer Lebensform als sinnvoll, die in Wirklichkeit die Negation unseres Lebens ist. Wie der asketische Priester wendet er seinen Willen zur Macht gegen das menschliche Leben und nimmt Rache daran (wegen der Machtlosigkeit, die es bedingt), indem er es von dem ausschließt, was er als an sich selbst wertvoll ansieht. Das Ideal der Bejahung der ewigen Wiederkunft bewertet dagegen den gesamten Prozess des Lebens hoch und überwindet damit die Entwertung des menschlichen Lebens durch das asketische Ideal, selbst noch wenn dieses Ideal uns antreibt, über die gegenwärtige Form unseres Lebens hinauszugehen. Es versieht uns mit dem Bild einer höheren Form menschlichen Lebens, nimmt aber keine Rache an unserem Leben, indem es sich weigert, seine höhere Form ‚menschlich‘ zu nennen. Es zeigt sich daher als Zarathustras wahre Alternative zum asketischen Ideal. Man könnte allerdings meinen, dass fröhliche, vormoralische Barbaren in der Lage sein sollten, die ewige Wiederkehr ebenfalls zu bejahen. Wie kann uns dieses Bild die Vorstellung einer höheren Form des menschlichen Lebens liefern, nach dem wir streben sollten, d.h. eines, dass zur Verinnerlichung, Tugend und Selbsterschaffung anregen könnte, die mit dem vergleichbar ist, was vom asketischen Ideal geleistet wurde? Ein maßgeblicher Faktor ist Nietzsches Hoffnung auf ‚neue Philosophen‘, die neue Werte schaffen werden. Vielleicht erwartete er von seinem Gegenideal nicht, dass es den vollen Gehalt neuer Werte liefern würde, so wie das asketische Ideal auch nicht den vollständigen Gehalt der alten Werte zu liefern vermochte. Die asketischen 1314
Nietzsche, Friedrich (1844‑1900)
Priester erschufen ihre Werte auch nicht aus dem Nichts. Sie übernahmen Tugenden, Pflichten und Lebensformen, die bereits vorhanden waren, und interpretierten sie neu, und zwar so, dass sie den Wert der natürlichen menschlichen Existenz leugneten. Nietzsche scheint gehofft zu haben, dass ‚neue Philosophen‘ etwas Vergleichbares zustande bringen würden, d.h. dass sie eine neue, lebensbejahende Deutung der Tugenden, der Pflichten und der Lebensformen liefern würden, die es bereits gibt. Die ewige Wiederkehr würde dann als die Form neuer Werte fungieren, als eine Probe, die sie bestehen müssen, um als nicht-asketisch oder lebensbejahend zu gelten. Die Probe für die Lehrer der neuen Werte wäre: kann man diese Werte gutheißen und lehren, während man gleichzeitig die ewige Wiederkehr bejaht? Wenn diese Vermutung richtig ist, dann ist Nietzsches Beziehung zur modernen Welt überhaupt nicht so revolutionär, wie es manchmal scheint. Die Rolle seiner ‚neuen Philosophen‘ wäre es dann nicht, alles umzustürzen, sondern das infolge der Auflösung der alten Deutung der Werte Zerschlagene aufzunehmen und eine neue Deutung daraus zu verfertigen. Diese Art des Philosophierens ist nicht erst in der Zukunft zu finden, sondern erscheint bereits in Nietzsches eigenen Schriften. Er lobt die alten Tugenden – beispielsweise die Gerechtigkeit und die Großzügigkeit –, gibt uns aber dabei eine Deutung von ihnen, eine andere Art und Weise, sie als wertvoll zu erleben. Die Großzügigkeit sei nicht etwa wertvoll, weil sie selbstlos sei, sondern weil sie den Reichtum der Seele und ihre Macht zur Schau stelle. Und die Gerechtigkeit sei vielleicht die größte Tugend, dies aber nicht etwa deshalb, weil sie unparteiisch sei und einem höheren Gesetz folge, sondern weil sie die seltenste und höchste Kunst sei, die auf Erden möglich ist. Und Nietzsche redet nicht nur über diese Dinge. Seine Schriften zeigen uns eine Art von Person und eine neue Art von Philosoph in den Tugenden, die er darin zum Ausdruck bringt, nicht zuletzt in der Deutung, die er von seinen Tugenden gibt. Wahrhaftigkeit oder Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Großzügigkeit kommen allesamt in seinen Schriften zur Geltung, erhalten aber eine lebensbejahende Interpretation, die unsere Aufmerksamkeit auf die Rolle des Willens zur Macht in ihnen richtet. Dies besagt nicht, dass Nietzsches neue Werte einfach nur alter Wein in neuen Schläuchen sind. Nietzsches Ideal führt ihn zu einer Hochschätzung von Eigenschaften, die nach seiner Auffassung nie zuvor als etwas Großes betrachtet wurden, wie z.B. die Boshaftigkeit, die Ausgelassenheit, die Aggression und der Eros, die seine Schriften durchdringen. Auf dieser Ebene ist seine Philosophie Kunst, aber sie ist eine Kunst, die das Wissen vervollständigt, d.h. sie wird nicht länger verwendet, um es zu entwerten; vielleicht sollte man sie als einen manchmal etwas streitsüchtigen Partner in Nietzsches Seele und Schriften anerkennen. Sie auch: Genealogie Anmerkungen und weitere Lektüre: Nietzsche, F.: Kritische Gesamtausgabe. Begr. v. Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino. Fortgef. v. Gerhardt, Volker / Miller, Norbert / Müller-Lauter, Wolfgang / Pestalozzi, Karl. In Gemeinschaft mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Insgesamt ca. 40 Bde. in 9 Abteilungen. Walter de Gruyter, Berlin / New York. Schacht, R. (1983): ‚Nietzsche‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Aus der angelsächsischen Nietzsche-Rezeption. Eine sorgfältige und detaillierte Übersicht über alle Hauptthemen der Nietzscheschen Philosophie. Hier wird Nietzsche auf 1315
Nihilismus
eine im Grunde naturalistische Orientierung hin gedeutet, der aber dennoch den Willen zur Macht als das Grundprinzip des Lebens akzeptiert.) MAUDEMARIE CLARK
Nihilismus
Wie bereits der Name sagt – der Ausdruck ‚Nihilismus‘ stammt von dem lateinischen Wort nihil (dt.: ‚nichts‘) ab – ist der philosophische Nihilismus eine Philosophie der Verneinung, der Ablehnung oder Leugnung einiger oder aller Aspekte des Denkens oder Lebens. Der moralische Nihilismus lehnt beispielsweise jede Möglichkeit einer Rechtfertigung oder der Kritik moralischer Urteile ab, weil er meint, dass jede Moral nur ein Deckmantel für Egoismus und Selbstsucht sei und deshalb eine Heuchelei; ferner, dass nur deskriptive (beschreibende) Behauptungen rational zugeschrieben werden können, und dass moralische, d.h. präskriptive oder vorschreibende Behauptungen von deskriptiven nicht logisch abgeleitet werden können; oder dass moralische Prinzipien nicht mehr seien als Ausdrücke subjektiver Wahl, Vorliebe oder von Gefühlen der Menschen, die sie befürworten. Auf ähnliche Weise leugnet der erkenntnistheoretische Nihilismus die Möglichkeit der Rechtfertigung oder der Kritik von Wissensbehauptungen, weil er davon ausgeht, dass eine Grundlegung unfehlbarer, universeller Wahrheiten für solche Bewertungen notwendig wäre, und dass es so etwas nicht gibt, weil der Nihilismus alle Wissens- oder Erkenntnisbehauptungen als vollkommen relativ zu den historischen Epochen, den kulturellen Kontexten oder den Launen und Schrullen des individuellen Denkens und einer ebensolchen Erfahrung und deshalb als letztlich willkürlich und inkommensurabel betrachtet; aber auch, weil er alle Versuche der Rechtfertigung oder der Kritik als nutzlos ansieht in Anbetracht der bereits Jahrhunderte und Jahrtausende währenden und immer noch ungelösten Zwistigkeiten über die diskutierten Grundfragen sogar noch unter den intelligentesten Denkern; oder einfach, weil er feststellt, dass zahlreiche, weithin akzeptierte, unhinterfragte Überzeugungen der Vergangenheit von einem Tag auf den anderen verworfen werden, und ein ähnliches Schicksal bei vielen, wenn nicht allen der heute noch vertrautesten Überzeugungen voraussehbar sei. Der politische Nihilismus ruft nach einer vollständigen Zerstörung alle existierenden politischen Institutionen, zusammen mit den sie unterstützenden Anschauungen und sozialen Strukturen; er hat jedoch keine positive Botschaft mitzuteilen, was an die Stelle der zerstörten Strukturen treten sollte. Der kosmische Nihilismus betrachtet die Natur als entweder vollkommen uneinsehbar und absolut irrelevant für die grundlegenden menschlichen Belange, oder als nur in dem Sinne erkennbar, dass er einer wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung zugänglich ist. In jedem Falle wird der Kosmos aus der Perspektive des Nihilismus als etwas gesehen, was die konkreten menschlichen Anliegen und Ziele in keiner Weise unterstützt oder bewertet, und er könnte sogar als aktiv feindselig gegenüber dem Menschen angesehen werden. Der existenzielle Nihilismus negiert die Bedeutung des menschlichen Lebens, indem er es als unheilbar nutzlos und absurd betrachtet. Siehe auch: Anarchismus; Lebens, Ursprung des; Moralischer Skeptizismus; Skeptizismus DONALD A. CROSBY
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Nikolaus von Kues (1401–1464)
Nikolaus von Kues (1401–1464)
Nikolaus von Kues wird auch Nikolaus Cusanus genannt. Als deutscher Kardinal erhielt er seinen Namen von seiner Geburtsstadt Kues, die auf lateinisch Cusa hieß. Kues lag an der Mosel zwischen Koblenz und Trier und besteht heute noch als Teil der Gemeinde Bernkastel-Kues. Nikolaus war durch Albert den Großen, Thomas von Aquin, Bonaventura, Ramon Llull, Ricoldo von Montecroce, Meister Eckhart, Jean Gerson und Heimericus de Campot beeinflusst, und mehr im Sinne entfernterer Geistesverwandter auch von Platon, Aristoteles, Proclus, Pseudo-Dionysius und Johannes Scotus Eriugena. Sein eklektisches Denksystem wies in die Richtung eines Übergangs zwischen dem Mittelalter und der Renaissance. In seiner eigenen Zeit, wie auch in der unsrigen, war Nikolaus weithin bekannt für seine frühe Arbeit mit dem Titel ‚De docta ignorantia’ (dt.: ‚Über die gelehrte Unwissenheit’). Hier drückt er seine Auffassung aus, dass der menschliche Geist seine notwendige Unwissenheit dessen, was das göttliche Wesen ausmacht, entdecken müsse, und dass sich diese Unwissenheit aus einem unendlichen ontologischen und kognitiven Missverhältnis zwischen der Unendlichkeit selbst, d.h. Gott, und dem endlichen Menschen oder auch dem engelsgleichen Wissenden ergebe. Entsprechend zur docta ignorantia formulierte er die conicidentia oppositorum in deo, d.h. das Zusammentreffen der Gegensätze oder Widersprüche in Gott. Alle Dinge kämen in Gott in dem Sinne zusammen, dass Gott als das indifferente Wesen jenseits allen Widerspruchs sei, und damit auch jenseits aller Bestimmtheit als dieses oder jenes. Nikolaus ist auch für seine rudimentären kosmologischen Spekulationen bekannt, sowie für seine Prophezeiung gewisser metaphysischer und erkenntnistheoretischer Themen, die sich später bei Leibniz, Kant und Hegel finden, ferner für seine kirchlichen Lehren betreffend den Streit um die päpstliche Autorität gegenüber der Autorität des Konzils, sein Eintreten für eine religiöse Ökumene der Glaubensrichtungen, sein Interesse an rein mathematischen Fragen und sein Einfluss auf den Theologen Paul Tillich im 20. Jahrhundert. Eine bemerkenswerte Anerkennung des Angedenkens an Nikolaus ist auch noch heute lebendig, nämlich das Hospiz für ältere, bedürftige Menschen, das auf sein Betreiben zwischen 1452 und 1458 in Kues errichtet wurde, und das er selbst sowohl finanziell, als auch mit seiner persönlichen Bibliothek ausstattete. Diese kleine, aber brillante Bibliothek, unbeschädigt durch die zwischenzeitig darüber hinweggegangenen Kriege, besteht aus ca. dreihundert Bänden und Manuskripten, die Nikolaus mit eigener Hand geschrieben hat. Siehe auch: Bruno, G.; Kosmologie; Negative Theologie; Ontologie; Platonismus in der Renaissance, Renaissance-Philosophie JASPER HOPKINS
Nishida Kitarō (1870–1945)
Nishida wird als Japans erster wirklich moderner Philosoph betrachtet. Er brachte nicht nur die westlichen philosophischen Probleme unter seine Zeitgenossen, sondern nutzte auch die buddhistische Philosophie und seine eigenen Methoden zum Umsturz der Grundlagen der traditionellen japanischen Dichotomien und schlug neue Integrationskonzepte vor. Seine Entwicklungsphilosophie begann mit dem Begriff der einheitlichen oder reinen Erfahrung vor der Auftrennung in Subjekt und Gegenstand. Sie entwickelte sich zur Herausforderung anderer Gegensätze wie
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Nominalismus
z.B. jenem von Intuition und Reflexion, Tatsache und Wert, Kunst und Moral, Individuum und Universalie, Relativum und Absolutum. In ihrer organischen Entwicklung reagierte Nishidas Philosophie auf die Kritik, dass er die soziale Dimension vernachlässigen würde, mit politischen Aufsätzen, die manchmal dem japanischen Imperialismus nahe standen. Diese kulminierten im Begriff der ‚Logik des Ortes‘, einer Denkform, die der widersprüchlichen Welt menschlicher Handlungen gerecht werden sollte. Siehe auch: Japanische Philosophie; Politische Philosophie, Geschichte der JOHN C. MARALDO
Nominalismus
Der Ausdruck ‚Nominalismus‘ bezieht sich auf eine reduktionistische Herangehensweise an die Probleme der Existenz und des Wesens der abstrakten Entitäten. Er steht damit im Gegensatz zum Platonismus und zum Realismus. Wo der Platoniker einen ontologischen Rahmen verteidigt, in dem Dinge wie z.B. Eigenschaften, Arten, Beziehungen, Aussagen, Mengen und Sachverhalte als einfach und irreduzibel aufgefasst werden, bestreitet der Nominalist die Existenz der abstrakten Entitäten und versucht typischerweise zu beweisen, dass der Diskurs über abstrakte Entitäten in Einzeldiskurse über vertraute, konkrete Einzeldinge auflösbar ist. In verschiedenen Epochen haben unterschiedliche Fragestellungen die Konzentration der Debatten zwischen Nominalisten und Platonisten auf sich gezogen. Im Mittelalter war die Frage der Universalien ein Schlüsselproblem. Nominalisten wie Abälard und Ockham bestanden darauf, dass alles, was existiere, ein Einzelding sei. Sie argumentierten, dass die Rede von den Universalien eine Rede über bestimmte sprachliche Ausdrücke oder Wendungen sei, und sie versuchten eine Darstellung der Semantik allgemeiner Ausdrücke vorzulegen, die weit genug für eine Sichtweise sein sollte, um eine Identifikation der Universalien mit diesen Ausdrücken zuzulassen. Die klassischen Empiristen folgten den mittelalterlichen Nominalisten darin, dass sie Partikularisten (d.h. Anhänger der Lehre von den Einzeldingen) waren; sie versuchten die Arten der mentalen Repräsentationen, die mit den allgemeinen Ausdrücken verbunden waren, zu identifizieren. Locke argumentierte, dass diese Repräsentationen einen besonderen Inhalt hätten. Er nannte sie ‚abstrakte Vorstellungen‘ (engl.: ‚abstract ideas‘) und behauptete, das sie dadurch zustande kämen, dass man von den Vorstellungen von Einzeldingen jene Merkmale abzieht, die typisch für jenes fragliche Einzelding seien, so dass am Ende der allgemeine Ausdruck für eine allgemeine Vorstellung bar aller konkreten Merkmale übrig bleibe. Berkeley und Hume griffen jedoch Lockes Abstraktionslehre an und beharrten darauf, dass die Vorstellungen, die den allgemeinen Ausdrücken entsprächen, solche Vorstellungen seien, deren Inhalt vollständig und im Einzelnen bestimmt sei, die der Geist aber als Näherungen an die anderen Vorstellungen von Einzelgegenständen derselben Art verwende. Ein weiter Bereich von Fragen hat die jüngere ontologische Diskussion dominiert, und Bemühungen um die Existenz und den Status von Dingen wie Mengen, Aussagen, Ereignissen und Sachverhalten ist in jedem Detail inzwischen so bedeutungsvoll wie die Bemühung um die alte Universalienfrage. Darüber hinaus hat sich das Wesen der Debatte verändert. Während es Philosophen gibt, die eine nominalistische Position gegenüber allen abstrakten Entitäten einnehmen, ist es inzwischen ein typischeres Merkmal des Nominalismus, die Existenz von Mengen anzuerken1318
Normativität
nen und zu versuchen, die Rede über andere Arten abstrakter Entitäten auf eine Rede über mengentheoretische Strukturen zu reduzieren, deren letztliche Bestandteile konkrete Einzeldinge sind. Siehe auch: Abstrakte Gegenstände; Intensionale Entitäten MICHAEL J. LOUX
Normativität
Philosophen bezeichnen etwas als ‚normativ‘, wenn dieses Etwas eine Handlung, eine Haltung oder Einstellung oder einen mentalen Zustand anderer Art mit sich bringt, die ihrerseits gerechtfertigt sind, weil sie unter eine Regel fallen, oder weil dieses Etwas eine Handlung, die man vornehmen oder einen Zustand, den man einnehmen sollte, darstellt. Das philosophische Gebiet, das sich am Bestimmtesten mit der Normativität beschäftigt, praktisch schon durch seine Definition, ist die Ethik. Es lässt sich behaupten, dass sich jeder ethische Begriff und jede ethische Kategorie auf Normen irgendeiner Art bezieht. Eine lebendige Debatte innerhalb der ethischen Bemühungen betrifft die genaue Art von Normativität, die unterschiedliche ethische Begriffe in Anspruch nehmen: moralisches Vergehen, Tugend, Wohlbefinden etc. Bedeutet es beispielsweise, wenn eine Handlung falsch ist, dass dies ein Grund ist, dies nicht zu tun, oder bedeutet es lediglich, dass es einen Grund gibt, eine bestimmte Haltung (z.B. eine vorwurfsvolle) denen gegenüber einzunehmen, die sich auf diese Weise verhalten? Eine zweite Art und Weise, auf welche die Ethik mit der Normativität zu tun hat, ist die Erforschung dessen, wie die normativen Ansprüche ethischer Aussagen gerechtfertigt werden können, sowie das Nachdenken darüber, ob sie tatsächlich gerechtfertigt sind. Wenn beispielsweise eine Handlung moralisch nur dann verwerflich ist, wenn ein Grund vorliegt, sie nicht auszuführen: können wir dann jemals auf befriedigende Weise feststellen, dass eine Handlung wirklich falsch ist? Und eine dritte Art der Beschäftigung mit der Normativität betrifft die Quellen der Normativität selbst. Ein Versuch zur Rechtfertigung oder Enthüllung der impliziten Normativität bestimmter ethischer Behauptungen werden sich letztlich der Frage ausgesetzt sehen, was normative Ansprüche im Allgemeinen stützen kann. Hier stoßen wir auf eine fruchtbare Debatte zwischen Humeanern, die sich darum bemühen, die praktische Normativität auf einer instrumentellen Rationalität zu gründen, und auf der anderen Seite die Kantianer, die argumentieren, dass die praktische Vernunft notwendigerweise formale Einschränkungen mit sich bringt, die sich über die Mittel-Zweck-Zusammenhänge hinaus erstrecken. Die philosophische Diskussion der Normativität ist allerdings keineswegs auf die Ethik beschränkt. Die Erkenntnistheorie hat ebenfalls einen irreduzibel normativen Aspekt, insofern sie sich mit Normen für Überzeugungen beschäftigt. Und die Idee, dass die Bedeutung implizit normativ ist, hat einige der aufregendsten Diskussionen der jüngeren Philosophie der Sprache entzündet. Siehe auch: Aristoteles; Ästhetik; Autonomie, Ethische; Bedeutung und Regelfolgen; Begründung, Erkenntnistheoretische; Davidson, D.; Ethik; Eudämonie; Geistes, Philosophie des; Hume, D.; Kant, I.; Kantische Ethik; Moralische Rechtfertigung; Moralischer Realismus; Naturalismus in der Ethik; Praktische Vernunft und Ethik; Rationalen Wahl, Theorie der; Sprache, Philosophie der; Telos; Tugendethik; Tugend und Laster; Überzeugung; Utilitarismus; Wohlfahrt STEPHEN DARWALL 1319
Notwendige Wahrheit und Konvention
Notwendige Wahrheit und Konvention
Die notwendigen Wahrheiten scheinen immer problematisch gewesen zu sein, insbesondere für die Empiristen und andere naturalistisch gesonnene Philosophen. Unser Wissen der notwendigen Wahrheiten ist ein apriorisches, d.h. es gründet auf der Berufung auf das, was wir uns vorstellen oder denken können (und folglich auf dieser Basis beweisen können). Dies scheint kaum vereinbar mit solchen Wahrheiten, die Tatsächlichkeit beanspruchen und keinerlei Berufung auf irgendeine Fähigkeit der apriorischen Intuition bedürfen. Und welche rätselhaften weiteren Merkmale sollen die notwendigen Wahrheiten auch besitzen, die ihre Falschheit unmöglich machen? Der Konventionalismus betreffend die Notwendigkeit behauptet, dass die notwendigen Wahrheiten infolge der Sprachregeln gelten, ungefähr so, wie ‚Stute‘ dasselbe wie ‚weibliches Pferd‘ bedeutet. Weil solche Regeln unsere Beschreibungen aller Fälle leiten, einschließlich der kontrafaktischen und der eingebildeten, erzeugen sie notwendige Wahrheiten (‚Alle Stuten sind Pferde‘). Folglich sei unser apriorisches Wissen einfach ein Wissen von Wortbedeutungen. Die Gegner des Konventionalismus wenden hiergegen ein, dass Konventionen keine notwendigen Wahrheiten begründen können, insbesondere in der Logik nicht, und sie stellten deshalb auch den Begriff der Analytizität (d.h. der Wahrheit kraft Bedeutung) in Frage. Jüngere Behauptungen, dass einige notwendige Wahrheiten aposteriorischer Natur seien, haben ebenfalls den Widerstand gegen den Konventionalismus angefacht. Siehe auch: Konventionalismus; Essentialismus ALAN SIDELLE
Nous
Der griechische Ausdruck ‚nous‘ wird üblicherweise mit ‚Geist‘ oder ‚Intellekt‘ übersetzt. Im Altgriechischen ist er ein Schlüsselbegriff in den Philosophien von Platon, Aristoteles und Plotin. Die spezielle Bedeutung von nous stammt nicht aus seiner Verwendung in der antiken Alltagssprache, denn andere altgriechische Hauptwörter können ebenfalls ‚Geist‘ bedeuten, sondern von dem Wert, der seiner Aktivität und dem metaphysischen Status von Dingen zugeschrieben wird, die ‚noetischer‘ Natur sind, d.h. einsehbar und unkörperlich, im Unterschied zu den wahrnehmbaren und körperlichen Gegenständen. In Platons späteren Dialogen, und noch systematischer bei Aristoteles und Plotin ist der nous nicht nur die höchste Aktivität der menschlichen Seele, sondern auch das göttliche und transzendente Prinzip der kosmischen Ordnung. Siehe auch: Neuplatonismus; Psychē A.A. LONG
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) (1772–1801)
Novalis, dessen Name ein Pseudonym ist, das er für seine veröffentlichten Schriften verwendete, war zusammen mit Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher einer der führenden philosophischen Denker der frühen deutschen Romantik. Noch bis in die jüngste Zeit wurde Novalis hauptsächlich als ein Dichter betrachtet; er war der Autor z.B. der Novelle ‚Heinrich von Ofterdingen‘. Er verfasste aber auch einige philosophische Texte im Zusammenhang mit seinen Schriften über naturwissenschaftliche und politische Themen seiner Zeit. Als Folge des neuerlichen philosophischen Interesses an der Philosophie von J.G. Fichte und anderen deutschen idealistischen Denkern fand auch eine Neubewertung der Schriften sowohl von Schlegel, als auch von Novalis statt. Es ist nunmehr klar, dass Novalis und Schlegel weiter von 1320
Nozick, Robert (1938–2002)
einer Verteidigung von Fichtes ‚subjektivem Idealismus‘ entfernt waren, als die meisten Kommentatoren es bislang darstellten, sondern sich vielmehr zu bedeutenden Kritikern des Fichteschen Idealismus entwickelten und eine anti-letztbegründungstheoretische Tendenz in der modernen Philosophie begründeten, die bis auf den heutigen Tag noch bedeutende Resonanz findet. Siehe auch: Fichte, J.G. ANDREW BOWIE
Novum Organum Siehe: Aristoteles
Nozick, Robert (1938–2002)
Obwohl Robert Nozick Schriften zu einer enormen Vielzahl von Themen veröffentlichte, ist er doch vor allem als ein politischer Philosoph bekannt geworden, insbesondere für seine kraftvollen und unterhaltenden Kommentare zum Liberalismus. In ‚Anarchy, State and Utopia‘ (1974) präsentiert Nozick das Bild einer vollkommen freiwillig basierten Gesellschaft, in der die Menschen nur auf solche Weise zusammenarbeiten, dass keine Rechte anderer verletzt werden. Nozicks weiterer großer Beitrag zur Philosophie ist eine Analyse des Wissens sowie eine damit einhergehende Antwort auf den Skeptizismus, eine Darstellung der persönlichen Identität und Beiträge zur Spieltheorie und der Theorie der Rationalität. Siehe auch: Erkenntnis, Begriff der; Objektivität; Personale Identität; Rationalen Wahl, Theorie der; Skeptizismus JONATHAN WOLFF, SIMON BLACKBURN
Nyāya-Vaiśesika
Die philosophische Nyāya-Schule entwickelte sich aus der antiken indischen Debattier-Tradition heraus; ihr Name, der oft mit ‚Logik‘ übersetzt wird, bezieht sich auf ihre ursprüngliche und hauptsächliche Beschäftigung mit der Methode (nyāya) des Beweisens. Die voll entwickelte klassische Schule stellt ihre Positionen in Form einer Liste von sechzehn Diskussionskategorien dar, von denen die ersten beiden die zentralen sind: die Mittel der gültigen Auffassung (Wahrnehmung, Schluss, Analogie und verbales Zeugnis), und die soteriologisch relevanten Gegenstände2, als da sind: das Selbst, der Körper, die Sinne, die Sinnesgegenstände, die Auffassung etc. Letzteres ist der Widerschein einer älteren Philosophie der Natur, die einer ursprünglich eristisch-dialektischen Tradition hinzugefügt wurde.3 Im Ganzen gesehen schließt sich das klassische Nyāya auf der Grundlage seiner Erkenntnistheorie und Logik der Ontologie des Vaiśesika an. Die soteriologische Relevanz der Schule gründet sich auf die Behauptung, dass ein angemessenes Wissen der sechzehn Kategorien unter Zuhilfenahme weiterer Erwägungen, Yoga-Übungen und philosophischer Debatten zu einer Erlösung von der Wiedergeburt führt. Vaiśes. ika ist auf der anderen Seite eine Philosophie der Natur, die sich hauptsächlich mit der umfassenden Aufzählung und Identifikation aller bestimmten und irreduziblen Weltbestandteile beschäf2 Die Soteriologie (von altgr.: soteriologia = die Lehre von der Erlösung, darin widerum die Wurzel soter = der Retter) ist die (christlich-)theologische Lehre von der Erlösung. In der Religionswissenschaft wird der Ausdruck allgemein für Kulte und Anschauungen gebraucht, in deren Mittelpunkt ein Erlösungsgedanke oder eine Erlöserfigur steht. [WS] 3 Die Eristik ist die Lehre vom Streitgespräch und die Kunst der Widerlegung. [WS]
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Nyāya-Vaiśesika
tigt, wobei es ihr darum geht, eine wirkliche Grundlage für alle kognitiven und linguistischen Handlungen zur Verfügung zu stellen. Dieses Bestimmungsbemühen (viśesa) ist wahrscheinlich der Grund für den Namen der ganzen Schule. Das atomistische und mechanistische Weltbild des Vaiśesika passt zu einer soteriologischen und orthodoxen Ethik, wenn auch nicht ohne Spannung. Erst später wird der Begriff eines höchsten Gottes, dessen Funktion hauptsächlich regulativer Natur ist, eingeführt und später auch auf die Erschaffung der Welt ausgedehnt. In der klassischen Periode präsentiert sich die Vaiśes. ika-Philosophie der Natur, einschließlich ihrer hoch entwickelten Kausalitätslehre, als ein strenges System von sechs, später sieben Kategorien (Substanz, Qualität, Bewegung, Universalie, Einzelheit, Inhärenz, Nichtexistenz). Die Nyāya-Erkenntnislehre beeinflusste in der Folge in steigendem Maße diejenige des Vaiśesika. Die Wechselwirkung und die gegenseitigen Einflüsse zwischen Nyāya und Vaiśes. ika führten schließlich zur Bildung dessen, was man eine synkretistische Schule nennen könnte, die in modernen akademischen Publikationen NyāyaVaiśesika genannt wird. Dieser Schritt, der durch die gemeinsame religiöse Abstammung vom Śaivismus ermöglicht wurde, ereignete sich unter Udayana im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der die Texte beider Schulen kommentierte. Nachfolgend erlangten zahlreiche synkretistische Leitfäden eine hohe Popularität. Udayana läutete auch die Periode des Navya-Nyāya ein, der ‚Neuen Logik‘, die aufwändige und raffinierte Methoden der philosophischen Analyse entwickelte. Siehe auch: Hinduistische Philosophie ELI FRANCO, KARIN PREISENDANZ
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O Objektivität Einführung Der Begriff der Objektivität ist einer der zentralen Begriffe der Metaphysik. Philosophen unterscheiden zwischen der Objektivität und dem Einvernehmen bezüglich eines Sachverhalts: ‚Eiskrem schmeckt gut‘ ist nicht schon deshalb eine objektive Aussage, weil verbreitete Einigkeit darüber besteht, dass diese Aussage wahr ist. Wenn aber die Objektivität nicht lediglich Einvernehmen oder Übereinkunft bezüglich eines Sachverhalts ist, was ist sie dann? Wir denken oft, dass einige Arten von Behauptungen weniger objektiv seien als andere, so dass man ihnen offenbar eine unterschiedliche metaphysische Behandlung angedeihen lassen müsse. Beispielsweise werden ethische Aussagen oft als weniger objektiv angesehen als Aussagen über die Formen mittelgroßer, physischer Gegenstände. Selbst eine Aussage wie ‚Mord ist schweres Unrecht‘ wird deshalb gewöhnlich als weniger objektiv aufgefasst als ‚Dieser Tisch ist viereckig‘, und zwar unabhängig vom moralischen Gewicht der ersteren. Die Philosophen sind sich uneins darüber, wie man die intuitiven Unterschiede der Objektivität zwischen solchen Aussagen erfassen kann. Diejenigen, die als Nonkognitivisten (siehe Kognitivismus) bezeichnet werden, sagen, dass ethische Behauptungen, streng genommen, nicht einmal wahrheitsfähig sind. Sie geben keine Tatsachen wieder, sondern drücken Wünsche oder Neigungen auf Seiten des Sprechers aus. Andere, die in diesem Zusammenhang als Subjektivisten bezeichnet werden, sagen, dass ethische Aussagen in gewissem Sinne solche über menschliche Wünsche oder Neigungen sind. Anders jedoch als die Nonkognitivisten sehen die Subjektivisten ethische Aussagen als wahrheitsfähig an, dies jedoch auf der Grundlage von Tatsachen betreffend die menschliche Wünsche oder Neigungen. Einige Philosophen, die wiederum als Antirealisten bezeichnet werden (siehe Realismus und Antirealismus), haben eine Auffassung hierzu, die sowohl von jener der Nonkognitivisten, als auch von jener der Subjektivisten abweicht, und suchen nach verschiedenen Wegen, um die Objektivität zu bestreiten. Die Quietisten denken wiederum, dass es keine interessanten Weisen zur Unterscheidung von Diskursen gibt, die deren objektiven Status betreffen. 1. Nonkognitivismus und Subjektivismus 2. Antirealistische Auffassungen der Objektivität 3. Objektivität der Bedeutung und Quietismus 1. Nonkognitivismus und Subjektivismus Intuitiv empfinden wir eine Behauptung wie: ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘ als weniger objektiv wie: ‚Dieser Tisch ist viereckig‘. Auf was aber läuft diese Intuition hinaus? Die Nonkognitivisten wie z.B. Ayer, Blackburn und Gibbard konzentrieren sich auf die semantische Funktion dieser beiden Aussagen. ‚Dieser Tisch ist viereckig‘ hat die Funktion zu behaupten, dass eine bestimmte Tatsache in der Welt der Fall ist. Wenn diese Tatsache der Fall ist, d.h. wenn der bezeichnete Tisch viereckig ist, dann ist die Behauptung wahr, andernfalls ist sie falsch. Daher 1323
Objektivität
ist die Aussage ‚Dieser Tisch ist viereckig‘ wahrheitsfähig. Andererseits betrachten die Nonkognitivisten den Satz ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘ als etwas, was eine andere semantische Funktion aufweist: entgegen seiner Erscheinung besteht seine Funktion nicht in der Behauptung, dass eine Tatsache in der Welt der Fall ist. Er ist folglich nicht wahrheitsfähig. Vielmehr drückt er eine Neigung, einen Wunsch oder sonst irgendeine kognitive Einstellung des Sprechers aus, und zwar auf dieselbe Weise, wie ‚Hurra!‘ oder ‚Buuh!‘ lediglich eine günstige oder ungünstige Haltung ausdrückt. Dies ist der Grund, warum einige Fassungen des Nonkognitivismus ‚Expressivismus‘ genannt werden. Ethische Behauptungen sind weniger objektiv als Behauptungen wie ‚Dieser Tisch ist viereckig‘, weil die Letzteren wirklich wahrheitsfähige Aussagen sind, während dies für die Ersteren nicht gilt. Nonkognitivisten betrachteten ethische Behauptungen aus vielen Gründen als nicht objektiv in diesem Sinne: wegen der verbreiteten Uneinigkeit über moralische Satzmuster, ferner weil der Ausdruck ‚moralische Tatsache‘ irgendwie unklar ist, und wegen des normativen Charakters des moralischen Diskurses. Es ist problematisch, die Unterschiede des objektiven Status von Aussagen auf diese Weise zu erfassen. Man bedenke den folgenden Schluss: (1) Wenn Lügen falsch ist, dann ist es falsch, seinen kleinen Bruder zum Lügen anzustiften. (2) Lügen ist falsch. (Im Sinne von: ‚Lügen ist falsches Handeln.‘) (3) Seinen Bruder zum Lügen anzustiften ist falsch. Dem Nonkognitivismus zufolge sind die Sätze wie ‚Lügen ist falsch‘ und ‚Seinen Bruder zum Lügen anzustiften ist falsch‘ nicht wahrheitsfähig. Aber der Schluss ist intuitiv dennoch gültig. Und wenn man sagt, dass ein Schluss gültig ist, dann sagt man damit, dass die Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der Konklusion sichert. Wie kann der Nonkognitivismus die Gültigkeit des Schlusses erklären, wenn man bereits bestreitet, dass (2) und (3) wahrheitsfähig sind? Entsprechend haben die Nonkognitivisten eine Schwierigkeit mit Satz (1). Welchen Sinn kann ein Konditionalsatz haben, dessen Antezedenz und Konsequenz nicht wahrheitsfähig sind? Für Nonkognitivisten ist es schwierig, eine befriedigende Antwort auf diese Fragen zu geben. Die Subjektivisten schlagen einen anderen Kurs ein. Sie lassen zu, dass der Satz ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘ wahrheitsfähig ist, d.h. dass seine aufrichtige Äußerung eine echte Aussage ist. Auf diese Weise vermeiden sie jene Schwierigkeit, die oben angesprochen wurde. Wenn aber eine ethische Behauptung wirklich aussagt, dass eine Tatsache der Fall ist, was für eine Tatsache ist dies dann? Nach den Subjektivisten ist dies einfach eine Tatsachenaussage über die Person, die diese Behauptung äußert: wenn ich sage ‚Es ist richtig den Notleidenden zu helfen‘, dann behaupte ich damit, dass ich den Wunsch habe, ihnen zu helfen. Ethische Behauptungen sind wahrheitsfähig, aber die Tatsachen, die sie aussagen, sind Tatsachen über unseren eigenen Zustand, unsere Wünsche, Neigungen und sonstigen subjektiven Zustände. Wenn ich sage, ‚es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘, so meine ich eigentlich: ‚Ich wünsche mir, dass man den Notleidenden hilft‘. Dies unterscheidet sich von Behauptungen wie ‚Dieser Tisch ist viereckig‘, der, auch wenn er wahrheitsfähig ist, nicht in Tatsachen betreffend die menschliche Subjektivität zerlegbar ist. In diesem Sinne ist ‚Dieser Tisch ist viereckig‘ objektiver. 1324
Objektivität
Der Subjektivismus hat Schwierigkeiten mit der Darstellung moralischer Uneinigkeit. Wenn Frau Maier sagt: ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘, und Herr Schmidt darauf antwortet: ‚Es ist falsch, den Notleidenden zu helfen‘, dann besteht Uneinigkeit zwischen ihnen, und tatsächlich widersprechen sie sich. Wenn aber Frau Maier meint: ‚Ich [d.h. Frau Maier] wünsche mir, dass man den Notleidenden hilft‘, wogegen Herr Schmidt meint: ‚Ich [Herr Schmidt] wünsche mir, dass man den Notleidenden nicht hilft‘, dann besteht kein Widerspruch zwischen beiden Aussagen. In welcher Hinsicht sind sie sich dann aber uneins – was sie doch eigentlich und offenkundig ausdrücken wollen? Der Subjektivismus könnte hierauf reagieren, indem er sich auf einen größeren Bereich von Wünschen konzentriert als nur jene, die ein Individuum gerade besitzt, wenn es diesen Satz sagt. ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘ würde dann wörtlich meinen: ‚Die meisten Menschen wünschen sich, dass den Notleidenden geholfen wird‘, so dass der Satzgehalt hier als ein intersubjektives Einvernehmen über Wünsche aufgefasst würde. Dies ist aber nicht unproblematisch. Wenn dies wahr wäre, so wäre es widersprüchlich zu sagen, dass es richtig ist den Notleidenden zu helfen, obwohl die meisten Menschen nicht wünschen, dass man ihnen hilft. Dies ist aber kein Widerspruch; folglich muss sogar diese erweiterte subjektivistische Analyse fehlerhaft sein. 2. Antirealistische Auffassungen der Objektivität Angenommen, wir geben zu, dass zwei verschiedene Arten von Behauptungen wahrheitsfähig sind, und ferner beide keinen anthropozentrisch subjektiven Gehalt haben. Müssen wir sie dann als gleichermaßen objektiv betrachten? Antirealisten wie z.B. Wright und Dummett meinen, dass dies nicht der Fall sei. Sie versuchen zu zeigen, wie Unterschiede der Objektivität erfasst werden können, ohne sich weder dem Nonkognitivismus, noch dem Subjektivismus zu verschreiben. Wie können wir den Objektivitätsgrad zwischen ‚Es ist richtig, den Notleidenden zu helfen‘ und ‚Dieser Tisch ist viereckig‘ unterscheiden, wenn wir zulassen, dass beide wahrheitsfähig sind, und dass keine von beiden einer subjektivistischen Analyse zugänglich ist? Eine Möglichkeit wäre, eine Analogie zur Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten zu entwickeln, für die der locus classicus Lockes ‚Essay über die menschliche Vernunft‘ (1689/1690) ist (siehe Primär- / Sekundär-Unterscheidung). Das Standardbeispiel einer Sekundärqualität ist die Farbe, während die Form üblicherweise für primär gehalten wird. Was führt zu der Behauptung, dass z.B. die Röte eine sekundäre Qualität sei? Die Idee dahinter lautet, dass es eine enge Beziehung zwischen Tatsachen betreffend unsere subjektiven Zustände einerseits und Aussagen wie ‚Mein Briefkasten ist rot‘ andererseits gibt. Um diese Beziehung zu erklären, müssen wir den Begriff des besten Urteils erläutern. Ein Urteil darüber, dass ein Gegenstand rot ist, ist dann am besten, wenn es unter Bedingungen gefällt wird, die optimal zur Einschätzung, welche Farbe der Briefkasten hat, taugen. Diese Bedingungen können sehr grob als diejenigen bestimmt werden, die vielleicht bei Tageslicht im mittleren Schatten zur Mittagszeit an einem leicht bedeckten Sommernachmittag etc. vorliegen. Zu sagen, dass die Röte eine sekundäre Qualität sei, heißt zu sagen, dass unsere besten Urteile betreffend die Röte von Gegenständen auch die Extension des Begriffes ‚rot‘ bestimmen. Die Extension eines Begriffs ist die Klasse der Dinge, auf die dieser Begriff (also hier: die Röte) korrekt angewandt 1325
Objektivität
werden kann. Im Gegensatz dazu ist eine primäre Qualität wie die Viereckigkeit eine, deren Extension sich unabhängig von Tatsachen über beste Urteile betreffend die Viereckigkeit bestimmt. Beste Urteile beschreiben in diesem Falle lediglich eine von ihnen unabhängige bestimmte Extension. Diese Möglichkeit der Behauptung, ‚Der Briefkasten ist rot‘ sei weniger objektiv als ‚Dieser Tisch ist viereckig‘, unterscheidet sich von der subjektivistischen Analyse. Zu sagen, dass die Röte eine sekundäre Qualität ist, heißt nicht zu sagen, dass der Satz: ‚Der Briefkasten ist rot‘ wörtlich bedeuten müsse: ‚Wenn die Bedingungen hierfür optimal wären, dann würden wir urteilen, dass der Briefkasten rot ist‘. Jene Behauptung ist die schwächere, die besagt, dass unser jeweils bestes Urteil bestimmt, ob der Briefkasten in die Extension von rot fällt. Der Vorschlag, demzufolge die Röte eine sekundäre Qualität ist, kann daher die Probleme umgehen, die mit dem Subjektivismus verbunden sind. Eine Möglichkeit zu der Behauptung, dass ethische Behauptungen weniger objektiv seien als Behauptungen wie: ‚Dieser Tisch ist viereckig‘, wäre dann die, dass ethische Qualitäten wie z.B. ‚richtig‘, ‚falsch‘, ‚gut‘ und ‚schlecht‘ sekundär, und eben nicht primär seien. Den Antirealisten zufolge kann es mehr als nur einen Weg geben zu sagen, dass eine Art von Behauptung weniger objektiv ist als eine andere. Selbst wenn wir nicht beweisen können, dass ethische Qualitäten sekundärer Natur sind, mag es doch andere Wege zur Darstellungen des Gegensatzes zwischen ethischen und anderen Behauptungen geben. Einer dieser Wege betrifft das, was Wright die ‚Objektivität der Wahrheit‘ nennt. Dieser Begriff der Objektivität spielt eine prominente Rolle in Dummetts Diskussionen des Realismus. Zu sagen, dass einer Klasse von Aussagen objektive Wahrheit zukomme, heißt, dass diese Aussagen „vollständig für uns einsehbar sein können, selbst wenn eine Ermittlung ihrer Wahrheitswerte unsere kognitiven Kräfte übersteigen sollte (d.h. im idealisierten Sinne)“ (Wright in ‚Realism, Meaning and Truth‘, 1986: 5). Ihre Wahrheit wäre damit ‚evidenz-transzendent‘: sie sind bestimmt entweder wahr oder falsch, selbst wenn wir grundsätzlich nicht in der Lage sind, den Beweis dafür oder dagegen zu führen. Man nehme beispielsweise Goldbachs immer noch unbewiesene Vermutung, demzufolge jede gerade Zahl größer als 2 die Summe von zwei Primzahlen ist, oder auch irgendeine Behauptung über vergangene Ereignisse in irgendeiner entfernten Galaxie. Wir verstehen diese Behauptungen, aber wir sind zumindest gegenwärtig grundsätzlich nicht in der Lage, ihre Wahrheitswerte zu bestimmen. Dies gibt uns eine Möglichkeit für die Behauptung, dass mathematische oder kosmologische Behauptungen objektiver seien als Behauptungen moralischer oder fiktiver Art. Wir sind kaum versucht zu denken, dass Behauptungen über den moralischen Status einer Handlung oder über die komische Qualität eines Witzes bereits grundsätzlich unsere besten kognitiven Bemühungen und ihre Bestimmung übersteigen. Es gibt bei jenen zuvor genannten Behauptungen keine Schwierigkeiten, die jenen des Nonkognitivismus und des Subjektivismus vergleichbar wären, d.h. es gibt hier kein Bestreiten der Wahrheitseignung, noch eine Zuschreibung irgendeines anthropozentrisch subjektiven Gegenstandes. 3. Objektivität der Bedeutung und Quietismus Die Hauptgefahr für die antirealistische Darstellung der Objektivität ergibt sich jedoch aus Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen. Nach Wright gefährdet das Wittgensteinsche Regelfolgeargument die Objektivität der Bedeutung. Dahin1326
Objektivität
ter verbirgt sich die Auffassung, dass „die Bedeutung eines Satzes eine wirkliche Beschränkung ist, an die wir durch Vereinbarung gebunden sind […], und denen Urteile über den Wahrheitswert objektiv entsprechen können, und zwar unabhängig von unserer Meinung über die jeweilige Sache“ (Wright in ‚Realism, Meaning and Truth‘, 1986: 5). Die Bedeutung eines Satzes setzt Auflagen, was als eine korrekte Verwendung dieses Satzes gilt, womit bestimmt wird, welche Verwendungen davon richtig, und welche unrichtig sind, und zwar unabhängig von jeglicher Meinung, die wir nachfolgend noch dazu entwickeln. Wenn das Wittgensteinsche Regelfolgeargument die Idee zerstört, dass Bedeutungen in diesem Sinne objektiv sind, so ergibt sich das Problem, dass damit auch die unterschiedlichen Wege bedroht werden, auf denen die Antirealisten versuchen, Vergleiche über die Objektivität herzustellen. Zum Beispiel glaubt Wright, dass die Objektivität der Wahrheit eine Objektivität der Bedeutung impliziere. Wenn das Wittgensteinsche Argument uns zwingt, die Objektivität der Bedeutung abzulehnen, dann zwingt es uns auch, die Objektivität der Wahrheit abzulehnen. Und wenn kein Diskurs mehr eine objektive Wahrheit besitzt oder feststellen kann, dann sind Berufungen auf einen Mangel an Objektivität der Wahrheit nutzlos, soweit es um den Vergleich verschiedener Diskurse geht. Und weil die Wahrheit eines jeden Satzes eine Funktion seiner Bedeutung zusammen mit den Tatsachen der Welt sind, würde ein Bestreiten der Objektivität der Bedeutung auch zur Folge haben, dass alle Qualitäten sekundärer Natur sind. Die Möglichkeit einer Berufung auf die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten zur Feststellung eines Gegensatzes wäre damit gefährdet. Kurz gesagt, das Wittgensteinsche Regelfolgeargument scheint uns mit einem erzwungenen Quietismus betreffend die Objektivität zu bedrohen, d.h. der Auffassung, dass es keine prinzipiellen metaphysischen Abstufungen der Objektivität gibt. Antirealisten erkunden Möglichkeiten zur Vermeidung eines solchen Quietismus, während sie gleichzeitig ihre Interpretation des Wittgensteinschen Regelfolgearguments zu bewahren suchen (Wright 1992: 6. Kap.). Man beachte, dass einige Philosophen, wie z.B. McDowell, meinen, dass es noch einen anderen Weg gibt, an dessen Ende der Quietismus über die Objektivität stehen kann. McDowell sieht das Wittgensteinsche Regelfolgeargument nicht als eine Bedrohung der Objektivität der Bedeutung an. Deshalb ist nach ihm auch die Relevanz der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten und die evidenz-transzendente Wahrheit nicht direkt in der Weise gefährdet, wie es der vorangehende Absatz beschreibt. Die Unterscheidungen, die die Antirealisten treffen möchten, können nämlich immer noch getroffen werden: anstelle dessen, was das Wittgensteinsche Regelfolgeargument bedroht, steht bei ihnen die Idee, dass es irgendeinen interessanten metaphysischen Anhaltspunkt gebe, den man in dem Moment bestimmt, wenn man sich auf erstrangige Unterscheidungen beruft. Beispielsweise könnte man vorbringen, dass der Gedanke, demzufolge eine antirealistischen Primär-/Sekundär-Unterscheidung metaphysisch relevant sei, von einer Konzeption abhängt, wie man solche Tatsachen entdeckt oder verfolgt, die das Wittgensteinsche Regelfolgeargument als unhaltbar beschreibt. Siehe auch: Projektivismus; Realismus und Antirealismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Leiter, B. (Hrg.) (1997): ‚Objektivity in Law and Morals‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Aufsatzsammlung über das Wesen und die Rolle der Objektivität in den Gesetzen und der Moral). 1327
Ockham, Wilhelm von (ca. 1287-1347)
Rosen, G. (1994): ‚Objektivität and Modern Idealism: What ist the Question?‘ In: M. Michael und J. O’Leary-Hawthorne (Hrg.): ‚Philosophy in Mind: The Place of Philosophy in the Study of Mind‘. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers. (Eine ganz aktuelle Übersicht zum Thema, zusammen mit einer kraftvollen Argumentation für den Quietismus.) Wright, C. (1992): ‚Truth an Objectivity‘. Cambridge, Massachusetts: Havard University Press. (Eine Weiterentwicklung des Antirealismus. Das 6. Kapitel enthält ebenfalls eine nützliche Diskussion des Quietismus.) ALEXANDER MILLER
Ockham, Wilhelm von (ca. 1287-1347)
Wilhelm von Ockham ist eine bedeutende Figur des spätmittelalterlichen Denkens. Viele seiner Ideen wurden aktiv, manchmal sogar leidenschaftlich, in den Universitäten in ganz Europa von den 1320er Jahren bis ins 16. Jahrhundert und sogar noch darüber hinaus diskutiert. Vor dem Hintergrund eines außergewöhnlich schöpferischen intellektuellen Milieus im England des frühen 14. Jahrhunderts, wo neue Varianten der logischen, mathematischen und physischen Spekulation erkundet wurden, ragt Ockham als der Hauptinitiator des spätscholastischen Nominalismus heraus, einer Denkströmung, die nach ihm von einer Vielzahl von Autoren mit weiteren Beispielen belegt und in wichtiger Hinsicht auch variiert wurde, z.B. von Adam Wodeham, John Buridan und Albert von Sachsen, bis hin zur Schule von John Mair, und damit weit ins 16. Jahrhundert hinein. Als franziskanischer Mönch lehrte Ockham ungefähr von 1317 bis 1324 Theologie und aristotelische Logik und Physik, wahrscheinlich in Oxford und London. Er schuf in dieser kurzen Zeitspanne ein sehr ursprüngliches und eindrucksvolles theologisches und philosophisches System. Seine akademische Karriere wurde jedoch durch einen Ruf an den päpstlichen Hof in Avignon unterbrochen, wo seine Lehren theologisch geprüft werden sollten. Kaum war er dort angelangt, wurde er in die wütenden Auseinandersetzungen zwischen Papst Johannes XXII und dem Ordensminister Michael von Cesena über die sog. ‚Armutsfrage’ der Kirche hineingezogen. Ockham wurde schließlich im Jahre 1328 exkommuniziert. Nachdem er nach München geflohen war, wo er sich unter den Schutz des Kaisers Ludwig von Bayern begab, setzte er seinen erbitterten Kampf gegen den Papst fort und widmete den Rest seines Lebens der Abfassung polemischer Schriften und politisch orientierter Abhandlungen. Weil er niemals offiziell den Titel eines Doktors der Theologie erhalten hatte, wurde Ockham gemeinhin als der venerabilis inceptor, d.h. als ‚ehrwürdiger Anfänger’, bekannt, was in gewisser Weise ein Spitzname war, der gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf den fruchtbaren Charakter seines Denkens lenkte. In Anerkennung der Strenge und Kraft seiner Argumente wurde er auch als invincibilis doctor, d.h. als ‚unbesiegbarer Doktor’, bezeichnet. Der Kern seines Denkens liegt in seiner qualifizierten Herangehensweise an die alten Probleme der Universalien, die die christliche Welt von den Griechen über Porphyrios und Boethius geerbt hatte. Ockhams Position hierzu war, dass nur die Einzeldinge existieren, und dass die Allgemeinheit von Worten nur eine Frage ihrer Bedeutung ist. Dies ist es, was wir heute seinen Nominalismus nennen. In der reifen Fassung seiner Theorie werden Arten und Gattungen mit gewissen geistigen Qualitäten identifiziert, die er Begriffe oder Absichten des Geistes nennt. Ontolo1328
Ockham, Wilhelm von (ca. 1287-1347)
gisch sind dies ebenfalls Einzeldinge, wie alles andere auch: jeder individuelle Geist hat seinen eigenen individuellen Begriffe. Ihre Eigenheit liegt für Ockham in ihrer repräsentativen Funktion: ein allgemeiner Begriff bedeute natürlicherweise viele einzelne Einzelgegenstände. Der Begriff ‚Pferd’ bedeute z.B. natürlicherweise alle einzelnen Pferde, und der Begriff ‚weiß’ alle einzelnen weißen Dinge. Deshalb seien sie keineswegs willkürlich oder illusionär; Gattungs- und Artbegriffe, so meinte Ockham, seien das Ergebnis rein natürlicher Prozesse, die sicher auf der intuitiven Vertrautheit des individuellen Geistes mit wirklichen Einzelgegenständen gegründet seien. Und diese Begriffe zerteilen die Welt an ihren Verbindungspunkten. Das Fazit der Ockhamschen Universalienlehre ist, dass sie behauptet, die Wahrheit der Wissenschaft als objektives Wissen der notwendigen Verknüpfungen von Begriffen zu bestätigen, ohne mysteriöse universale Entitäten ‚draußen’ postulieren zu müssen. Das Denken wird in diesem Ansatz als eine mentale Sprache behandelt. Es setzt sich nicht nur aus Zeichen zusammen, sondern diese mentalen Zeichen, so natürlich sie auch sind, sollen sich auch miteinander zu wahren und falschen Aussagen kombinieren, genauso wie dies die außermentalen sprachlichen Zeichen tun. Und indem sie dies tun, befolgen sie Konstruktionsregeln, die denen der gesprochenen Sprachen stark ähneln. Somit stattete Ockham den mentalen Diskurs mit grammatischen Kategorien aus. Seine hauptsächliche Neuerung auf diesem Gebiet ist jedoch, dass er auch die sehr ins Einzelne gehende Analyse der mentalen Sprache an einen relativ neuen theoretischen Apparat anpasste, der sich in Europa seit dem 12. jahrhundert entwickelt hatte, bzw. diese Analyse daraufhin umschrieb, nämlich die Theorie von den ‚Eigenschaften der Ausdrücke’, die ihrerseits der wichtigste Teil der ‚logica modernorum’, der ‚Logik der Modernen’ war, und die ursprünglich für die semantische Analyse der gesprochenen Sprachen entwickelt worden war. Ockham brachte zusammen mit einigen seiner Zeitgenossen, wie z.B. Walter Burley, diese neue Art der semantischen Analyse auf das Niveau einer philosophischen Methode par excellence. In einer großen Vielfalt philosophischer und theologischer Diskussionen machte er von den technischen Begriffen der Bedeutung, der Konnotation und vor allem der suppositio, also der Referenz, und allen ihren Worten gleicher Abstammung nachhaltigen Gebrauch. Sein sehr prägender Beitrag zur Physik besteht z.B. hauptsächlich aus der semantischen Analyse problematischer Ausdrücke wie z.B. ‚die Leere’, ‚der Raum’ oder ‚die Zeit’, um zu zeigen, wie sie schließlich auf nichts als einzelne Substanzen und deren Eigenschaften verweisen. Ockhams Ablehnung des Universalienrealismus hatte auch einen theologischen Aspekt: wenn die Universalien nämlich existieren würden, so meinte er, würden sie auf ungebührliche Weise Gottes Allmacht beschränken. Andererseits war er überzeugt, dass das reine philosophische Nachdenken dennoch genüge, um den Realismus im Hinblick auf die Universalien abschließend widerlegen zu können, denn alle seine Varianten würden sich letztlich als selbstwidersprüchlich erweisen, was zu beweisen er auch in Form einer detaillierten Kritik unternahm. Insgesamt gesehen zog Ockham eine schärferen Trennungslinie als die meisten christlichen Scholastiker vor ihm zwischen der theologischen Spekulation, die auf offenbarten Prämissen beruht, und den Naturwissenschaften im aristotelischen Sinne, d.h. dem, was auf empirischen Beweisen und selbstevidenten Prinzipien beruht. Er wollte diese sehr klare Unterscheidung im Prinzip durch alle theoretischen und praktischen Erkenntnisse hindurch aufrechterhalten, einschließlich des 1329
Östliche Philosophie
ethischen und politischen Denkens. Speziell auf dem letzten Gebiet, dem Ockham in den letzten Jahrzehnten seines Lebens Tausende von Seiten widmete, verteidigte er mit großer Anstrengung die Unabhängigkeit der säkularen von der Macht der Kirche und betonte, wann immer er konnte, in menschlichen Angelegenheiten die Autonomie der Vernunft. Siehe auch: Buridan, J.; Duns Scotus, J.; Empirismus; Nominalismus; Universalien
CLAUDE PANACCIO
Ökologische Philosophie Siehe: Umweltphilosophie
Östliche Philosophie Einführung Die sinitische Zivilisation, die die vom Chinesischen beeinflussten Kulturen Japans und Koreas umfasst, übernahm schon früh für die gesamte übrige Welt eine führende Rolle bei der Entwicklung deren materieller Kultur, z.B. bei der Herstellung von Textilien, dem Eisenguss, dem Papier, der Seefahrtstechnik, der Töpferei und Keramik, der Bodenkunde, Landwirtschaft und Bewässerungstechnik und anderem mehr. Über Jahrhunderte nach dem ersten nachweislichen Vordringen der Europäer nach Ostasien gab es mehr Bücher, die in klassischem Chinesisch verfasst waren, dem ‚Latein‘ Ostasiens, als in jenen aller übrigen Sprachen zusammen genommen. Und sogar noch zu Beginn der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert war China, und nicht Europa, auf den meisten Gebieten der Vermittler von Wissenschaft und Zivilisation auf diesem Planeten. Wenn ‚Philosophie‘, d.h. die Bemühung um Weisheit, allgemein das Bestreben höherer Kulturen sind, warum wurde dann erst im späten 18. Jahrhundert, und zwar als Antwort auf die sich verstärkenden Kontakte zu westlicher Gelehrsamkeit, ein fernöstlicher Ausdruck für ‚Philosophie‘ geprägt, und zwar zuerst im Japanischen (tetsugaku), der daraufhin auch im Chinesischen (zhexue) und schließlich im Koreanischen (ch´ôlhak) eingeführt wurde? Es ist absurd anzunehmen, dass die fernöstlichen Kulturen keine Geschichte, keine Soziologie, keine Wirtschaft hätten. Wie aber soll man sich dann die Tatsache erklären, dass die asiatische Philosophie als Gegenstand in den meisten anglo-europäischen höheren Lehreinrichtungen weder erforscht noch gelehrt wird? 1. Ungewöhnliche Voraussetzungen, gewöhnliche Missverständnisse 2. Naturale Eine-Welt-Kosmologie 3. Ars contextualis: die Kunst der Kontextualisierung 4. Radiale Harmonie 5. Philosophischer Synkretismus 1. Ungewöhnliche Voraussetzungen, gewöhnliche Missverständnisse Der prominente französische Sinologe Jacques Gernet (1985) behauptet, dass die chinesische und die europäische Zivilisation, als sie sich praktisch vollkommen unabhängig voneinander entwickelten, um 1600 zum ersten Male in engeren Kontakt gerieten, der sich dabei zeigende Widerstand der Chinesen gegenüber dem Christentum und, noch wichtiger, gegenüber dem ihm zugrunde liegenden philo1330
Östliche Philosophie
sophischen Gebäude, nicht nur auf schwierigen Unterschieden bei der Begegnung grundverschiedener intellektueller Traditionen beruhte. Hier zeigte sich vielmehr grundlegende Differenzen der geistigen Kategorien und der Denkformen, und insbesondere eine fundamentale Differenz betreffend die Konzeption menschlichen Handelns. Vieles von dem, was das Christentum und die westliche Philosophie dem Fernen Osten zu sagen hatten, war ziemlich wörtlich genommen Unsinn, denn gemessen an ihren eigenen philosophischen Bindungen konnten sie es nicht denken. Umgekehrt interpretierten die Jesuiten diesen Unterschied der Denkformen recht einseitig als Unfähigkeit des vernünftigen, logischen und dialektischen Denkens. Dem Westen ergingt es bei seinen Gelegenheiten zur Bewertung und Aneignung der sinitischen Kultur nicht besser. Tatsächlich verlief dieser Prozess so schlecht, dass schon das Wort ‚chinesisch‘ an sich in der englischen Sprache, wie man es in illustrativen Ausdrücken wie ‚Chinese revenge‘ (dt. wörtlich: ‚chinesische Rache‘, bedeutet ‚heimliche Kollektivrache, z.B. durch Einmischung von Gift in Essen‘), ‚Chinese puzzle‘ (dt. wörtlich: ‚chinesisches Rätsel‘, bedeutet ‚Geduldsspiel‘, ‚verzwickte Angelegenheit‘) oder ‚Chinese firedrill‘ (dt. wörtlich: ‚chinesische Feuerwehrübung‘, bedeutet ‚vollständiges Durcheinander‘, ‚totale Desorganisation‘) findet, mit Vorstellungen wie ‚verworren‘, ‚unverständlich‘ und ‚undurchdringlich‘ konnotiert wird, also einer Art von Ordnung, die dem westlichen Geist unzugänglich ist. Die Tiefe der Kluft zwischen dem im Westen herrschenden, vor allem metaphysischen Ordnungsschema und dem historizistisch-‚ ästhetischen Ordnungsschema, das in der strahlenförmigen sinitischen Weltanschauung vorherrscht, hat die Begegnung zwischen diesen alten Kulturen von Anfang an belastet. Wenn weise europäische Männer des 17. Jahrhunderts wie Leibniz und Wolff sich darum bemühten, ihre allgemeinen metaphysischen Grundlagen in anderen Hochkulturen zu bestätigen, d.h. den einen, wahren Gott, die überpersönliche Rationalität oder eine universelle Sprache, so wurde China als ein äußerst bemerkenswertes und ‚kurioses Land‘ idealisiert, das die größte Genauigkeit bei der Untersuchung erfordert. Im Laufe der Zeit stürzte die Wertschätzung für das ‚kuriose Land‘ in den weiteren Berichten von Philosophen wie Kant, Hegel, Mill und Emerson jäh von solchen ‚Cathay‘-Idealisierungen (‚Cathay‘ ist der alte Name für China) in die Tiefen der Unzufriedenheit über die Trägheit dessen ab, was im Kontext der von Europa ausgehenden Industriellen Revolution als eine todgeweihte, rückwärts gewandte und im Kern stagnierende Kultur aufgefasst wurde. Im klassischen Chinesisch gibt es den Spruch: ‚Wir können das wahre Gesicht des Berges Lu nicht sehen, weil wir auf seinem Gipfel stehen.‘ Obwohl praktisch alle kulturellen Traditionen und historischen Epochen komplex und vielgestaltig sind, gibt es doch gewisse und oftmals unausgesprochene grundlegende Annahmen, auf denen sie beruhen, und die ihnen ihre spezifische genetische Identität und Kontinuität geben. Diese grundlegenden Annahmen, die von herausragender Bedeutung für das Verständnis der kulturellen Beschreibung sind, sind dem Bewusstsein der Teilnehmer jener Kultur häufig verborgen, die ihr angehören, und werden nur aus einer Perspektive sichtbar, die außerhalb der jeweiligen Tradition oder Epoche liegt. Häufig hebt eine Tradition die innerhalb ihrer selbst konkurrierenden und sogar miteinander in Konflikt stehenden Elemente auf, die, obwohl sie sich unvereinbar zeigen, immer noch ein integrales Bedeutungsmuster wiedergeben, das für ihre kulturelle Identität konstitutiv ist. Die zugrunde liegenden Strukturen sind nicht notwendig 1331
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und nicht einmal typischerweise logisch kohärent oder systematisch. Dennoch weisen sie einen Zusammenhang im Sinne einer definierenden Erzeugung einer spezifischen und einzigartigen Kultur auf. Wenn wir aus der Distanz westlicher Traditionen bestimmte Elemente der fernöstlichen Kulturbeschreibung anschauen und verstehen wollen, da wir in unseren eigenen Mustern kultureller Grundannahmen eingebettet sind, so hat dies sowohl Vor- als auch Nachteile. Einer dieser Nachteile ist offenkundig und unvermeidlich. In dem Umfange, wie wir uns des Unterschiedes zwischen unseren eigenen fundamentalen Annahmen und jenen, die den östlichen Philosophien ihre Gestalt gegeben haben, nicht bewusst sind, werden wir diesem geographischen Bereich mit Sicherheit unsere eigenen Grundannahmen über das Wesen der Welt überstülpen, indem wir uns vertraut machen, was uns exotisch erscheint, und uns das Entfernte nah heranrücken. Andererseits ist es ein klarer Vorteil der externen Perspektive, dass wir in der Lage sind, zumindest einige Aspekte des ‚Berges Lu‘ klarer zu sehen. Wir werden, wenn auch unvollkommen, den gemeinsamen Urgrund wahrnehmen können, auf dem der Konfuzianismus und der Buddhismus stehen, indem wir ihre Unterschiede diskutieren, wobei dieser Urgrund im Übrigen ihnen selbst infolge ihrer eigenen unbewussten Vorannahmen weitgehend unbewusst ist. 2. Naturale Eine-Welt-Kosmologie In dem vorherrschenden Weltbild des klassischen Ostasiens stehen wir nicht vor jener dualistischen ‚Zwei-Welten‘-Unterscheidung in Wirklichkeit und Erscheinung, die uns aus der klassischen griechischen Metaphysik vertraut ist, die dann zu ontologischen Fragen führt wie beispielsweise: ‚Was ist das Sein hinter dem Sein?‘ Stattdessen baute man dort auf der Annahme auf, dass es nur die eine, kontinuierliche und konkrete Welt gibt, die die Quelle und der Ort aller unserer Erfahrung ist, was wiederum zu kosmologischen und letztlich ethischen Fragen führt wie beispielsweise: ‚Wie lassen sich diese Myriaden von Wesen in den bestmöglichen Zusammenhang bringen?‘ Die Ordnung innerhalb der klassischen ostasiatischen Weltsicht ist eine ‚immanente‘ und ‚emergente‘, d.h. eine den Dingen selbst innewohnende Regularität. Sie ist die immer einzigartige Maserung des Holzes, die unterschiedlichen Streifungen eine Stückchens Jade, die reguläre Brechung eines Wellenkamms, die eigenartige Äderung in jedem einzelnen Blatt. Die Kraft der Kreativität wohnt der Welt selbst inne. Die Ordnung und Regelmäßigkeit dieser Weltoffenbarung ist weder eine Ableitung von irgendeiner unabhängigen, aktivierenden Macht, noch ist sie von dieser auferlegt, sondern ist inneres Merkmal der Welt selbst. Veränderung und Kontinuität sind gleichermaßen ‚real‘. Die Zeit selbst ist das Beharren dieser Selbsttransformation. Die ‚eine‘ Welt ist dann also die Wirkursache ihrer selbst. Die Situation ist der Handlung vorrangig; Prozess und Veränderung sind vorrangig gegenüber Form und Stasis. Der Kontext ist an sich durchweg dynamisch, autogenerativ, selbstorganisierend und im realen Sinne des Wortes lebendig. Diese eine Welt hat die Beschaffenheit eines Sees aus qi, d.h. psychophysikalischer Energie, die sich selbst in unterschiedlichen Konzentrationen, Konfigurationen und Störungen entäußert. Es gibt ein intelligibles Muster, das man aus jeder möglichen Perspektive innerhalb der Welt ausmachen und abbilden kann, das dao genannt wird, d.h. ‚Pfad‘ oder ‚Weg‘, und das man in unterschiedlichen Graden nachzeichnen kann, um seinen Platz und 1332
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seinen Kontext in eine kohärente Beziehung zueinander zu bringen. Dao ist zu jeder beliebigen Zeit sowohl das, was die Welt ist, als auch wie sie beschaffen ist, und zwar immer aus der einen oder anderen individuellen Perspektive. In dieser Tradition gibt es keine abschließende Unterscheidung zwischen irgendwelchen unabhängigen Ordnungsquellen und dem, was diese Ordnungen sind. Es gibt keinen determinierenden Anfang, und auch kein voraussichtliches, zielbezogenes Ende. Die Welt und ihre Ordnung ist zu jedem Zeitpunkt selbstverursachend, ‚also-aus-sichselbst‘ (ziran) (siehe Chinesische Philosophie; Daoistische Philosophie). Wahrheit, Schönheit und das Gute als Grundformen von Ordnung sind nicht einfach gegeben. Sie sind historisch emergent, etwas Entstandenes, ein kulturelles Produkt. Unter der Annahme des Vorrangs der Situation vor der Handlung gibt es eine Kontinuität zwischen der Natur und dem Aufziehen oder der Erziehung, eine Gegenseitigkeit zwischen dem Kontext und dem menschlichen Wesen. In einer solchen Welt überrascht es nicht, dass das Yi Jing (Buch der Veränderungen) das erste unter den alten Klassikern ist. 3. Ars contextualis: die Kunst der Kontextualisierung Die metaphysische ‚Zwei-Welten‘-Ordnung, die wir vom klassischen Griechenland geerbt haben, hat der westlichen Tradition eine theoretische Grundlage für die Objektivität hinterlassen, d.h. der Möglichkeit eines außen liegenden Standpunktes und einer vollkommen externen Sichtweise der Dinge, eine ‚Sicht aus dem Nirgends‘. Die Objektivität ist nicht nur die Grundlage für solche universalistischen Ansprüche wie beispielsweise die objektive Wahrheit, die überpersönliche Vernunft und die Notwendigkeit, sondern erlaubt ferner die Dekontextualisierung der Dinge als ‚Gegenstände‘ unserer Welt. Sie ist die Grundlage, auf der wir unterschiedliche, jeweils objektive Beschreibungen von subjektiven Vorgaben trennen können. Im Unterschied dazu liegt der Anfangspunkt der ‚einen Welt‘ des klassischen Ostasiens, statt bei irgendeinem zugrunde liegenden, abstrakten, vereinheitlichenden und erzeugenden Prinzip, vielmehr in dem spezifischen Platz eines jeden Einzelnen innerhalb dieser Welt. Ohne Objektivität lösen sich ‚Gegenstände‘ in das Fließen auf, und Existenz wird ein kontinuierlicher, ununterbrochener Prozess. Jede Person erfährt die Welt unveränderlich aus einer Perspektive innerhalb eines Kontextes vieler solcher Perspektiven. Da es nur diese eine Welt gibt, können wir aus ihr nicht heraustreten. Von dem immer einzigartigen Platz innerhalb des Kosmos des klassischen Ostasiens aus konstruieren und interpretieren wir die Ordnung der Welt um uns herum als eine, die ‚dieses‘ und ‚das‘ voneinander unterscheidet, z.B. ‚diese Person‘ und ‚jene Person‘, und zwar als etwas, was uns mehr oder weniger nah ist. Da alles und jeder Einzelne, aber auch Dinge oder Ereignisse immer von irgendeinem Standpunkt aus wahrgenommen werden, und beide folglich von demselben Kontinuum sind, so sind alle Dinge aufeinander bezogen und bedingen einander gegenseitig. In der menschlichen Welt verlaufen alle Beziehungen kontinuierlich sowohl zwischen Führer und Untergebenem, als auch zwischen Freunden, wodurch alle in einer ‚ausgedehnten‘ Familienbeziehung zueinander stehen. Auf ähnliche Weise sind alle ‚Dinge‘ wie die Mitglieder einer Familie aufeinander bezogen und hängen deshalb voneinander ab. Jedes Ding ist ‚holografisch‘ beschaffen, insofern es alle anderen Dinge als Bedingungen seiner eigenen, kontinuierlichen Existenz umfasst, 1333
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und es ist so zum Gefallen von allem übrigen. Was auch immer von einer Sache oder einer Person ausgesagt werden kann, ist Funktion eines Beziehungsnetzwerks, das in seiner Gesamtheit den Dingen und Menschen ihre Rolle verleiht und ihren Platz und ihre Definition in der Welt hervorbringt. Es gibt keinen strengen Identitätsbegriff, den die Verhältnisse als irgendein wesentlich definierendes Merkmal hervorbringen, wie beispielsweise die göttlich verliehene Seele, die rationalen Fähigkeiten oder die natürliche Herkunft der Rechte, die alle Menschen gleich sein lässt. In Abwesenheit dieser Gleichheit sind die verschiedenen Beziehungen, die eine Sache im Verhältnis zu anderen definieren, qualitativ hierarchisch und in Gegensätzen geordnet: größer oder kleiner, edler oder niedriger, härter oder weicher, stärker oder schwächer, älter oder jünger. Eine Veränderung in der Qualität der Beziehungen zwischen den Dingen ereignet sich immer auf dem Hintergrund eines Kontinuums als Bewegung zwischen solchen polaren Gegensätzen. Die allgemeine und grundlegendste Sprache zum Ausdruck solcher Korrelationen zwischen den Dingen ist metaphorisch: in einer bestimmten Hinsicht und zu einem bestimmten Zeitpunkt ist eine Person oder ein Gegenstand von einem anderen ‚überschattet‘. Das heißt, er wird yin-artig im Verhältnis zur yang-Artigkeit eines anderen. Wörtlich bedeutet yin ‚schattig‘, und yang bedeutet ‚sonnig‘, wodurch auf die allgemeinste Weise die Gegensätze und hierarchischen Beziehungen definiert werden, die jene innewohnende Ordnung und Regelmäßigkeit konstituieren. Es ist wichtig, die wechselseitige Abhängigkeit und den aufeinander bezogenen Charakter der ying-yang-Artigkeit polarer Gegensätze zu verstehen. Dabei gilt es die Spannung dieses Gegensatzes im Verhältnis zu jenem dualistischen Gegensatz zu erkennen, den das Vokabular der klassischen griechischen Welt impliziert, wo ein herausragendes Element einer Begrifflichkeit, wie beispielsweise das Sein, diese Menge transzendiert, daher unabhängig von ihr besteht und folglich auch ‚realer‘ ist als die Welt des Werdens. Die Folgen dieses Unterschiedes zwischen dem Dualismus und dem Gegensatz des Aufeinanderbezogenseins sind grundlegend und ziehen sich durch alle Aspekte hindurch. Bleiben wir bei dem Personenbeispiel. In der ostasiatischen Philosophie ist eine Person allgemein kein abgesondertes Individuum, das sich kraft seiner inhärenten Natur definiert, sondern ist der Mittelpunkt konstituierender Rollen und Beziehungen. Diese Rollen und Beziehungen sind dynamisch, werden ständig gespielt, dabei verstärkt und ideell auf verschiedenen Ebenen natürlicher, kultureller und sozialer Diskurse vertieft. Kraft dieser spezifischen Rollen und Beziehungen nimmt eine Person einen Platz und eine Haltung im Kontext der Familie, der Gemeinschaft und der Welt ein. Das menschliche Wesen erlangt seine Form nicht durch irgendeinen vorgegebenen Entwurf, der der natürlichen und moralischen Ordnung des Kosmos zugrunde liegt, und der gar als letztes Ziel menschlicher Entwicklung und Erfahrung gegeben ist. Vielmehr ist der ‚Zweck‘ menschlicher Erfahrung, wenn man dies überhaupt so beschreiben kann, unmittelbarer. Er liegt darin, die zahlreichen Bestandteile zu koordinieren, die eine spezifische Welt hier und jetzt ausmachen, und aus ihnen heraus die fruchtbarste Harmonie zu entfalten. Einfach gesagt geht es darum, das Beste aus dem zu machen, was man hier und jetzt vorfindet.
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Östliche Philosophie
4. Radiale Harmonie Ein größeres Thema im Konfuzianismus, der in ganz Ostasien fundamentale Bedeutung hat, wird von dem Satz 13.23 der Analekten erfasst: ‚Die vorbildliche Person sucht die Harmonie (ho), nicht die Gleichheit‘ (siehe: Konfuzianische Philosophie, Chinesische). Diese Konzeption der ‚Harmonie‘ wird in den klassischen Kommentaren durch eine Berufung auf die kulinarischen Künste erklärt. In der klassischen Periode war ein gewöhnliches Grundnahrungsmittel im gesamten nordasiatischen Raum das keng, eine Art Hirseschleim, in den verschiedene, regional und saisonbedingt verfügbare Zutaten gemischt und damit zueinander in Beziehung gebracht wurden. Dabei sollte jede Zutat, also der Kohl, das Radieschen und ein bisschen Schweinefleisch, seine eigene Farbe, materiale Struktur und geschmackliche Eigenheit bewahren, gleichzeitig aber durch seine Beziehung zu den anderen Zutaten in seiner Wirkung noch gesteigert werden. Der Schlüssel zu diesem Sinn des Ausdrucks ‚Harmonie‘ ist, dass er von den einzigartigen Bedingungen einer spezifischen geographischen Zuordnung und dem voll entwickelten Beitrag genau dieser Zutaten ausgeht, die gerade hier und jetzt zur Verfügung stehen: dieses Stücke Kohl, dieses frische, junge Radieschen, dieses zarte Stück Schweinefleisch etc. Eine solche Harmonie bedarf mehr der Kunstfertigkeit als eines Rezepts für ihren Erfolg. Die konfuzianische Unterscheidung zwischen der einschließenden Harmonie und der ausschließenden Gleichheit hat offensichtliche soziale und politische Verwendungen. Sie unterstreicht die Fruchtbarkeit jener Art von Harmonie, die den Unterschied maximiert. Diese ‚Harmonie‘ ist keine vorgegebene in vorweg zugewiesenen kosmischen Entwürfen, sondern ist die Qualität der Kombination in jedem gegebenen Moment, die erzeugt wird durch ein wirksames Zueinanderbringen im Kontext der verfügbaren Inhaltsstoffe, seien dies Nahrungsmittel, Bauern oder Soldaten. Es geht nicht um Entdeckungen, um das Erfassen einer unveränderlichen Wirklichkeit hinter den Schatten der Erscheinung, sondern um eine tief gehende, kreative Reise, wobei die Qualität der Reise selbst das Ziel ist. Es ist der Versuch, das Beste aus jeder Situation zu machen. Zusammengefasst steht im Zentrum der klassischen ostasiatischen Weltsicht die Kultivierung der ‚radialen Harmonie‘, d.h. einer spezifischen, auf das Zentrum hinstrebenden oder ‚zentripetalen‘ Harmonie, die Konsens und Orthodoxie (im Sinne einer rechten Lehre) hervorbringt. Diese Harmonie geht davon aus, was am konkretesten und unmittelbarsten ist, und zwar aus der Perspektive eines beliebigen menschlichen Wesens, und zieht sich durch Formen der sozialen Achtung vom äußeren Bereich bis in ihr Zentrum herein. Dadurch erklären sich auch die so weit verbreitete Betonung der persönlichen Kultivierung und die Verfeinerung als Startpunkt aller familiären, sozialen, politischen und kosmischen Ordnung. Die Sorge um die Kultivierung dieser zentripetalen Harmonie im klassischen Ostasien beginnt jeweils bei sich selbst und strahlt von hier aus nach außen. Die ostasiatische Weltsicht ist daher dominiert von jener ‚von Grund auf‘ und aus sich selbst hervortretenden Ordnungsform, die mit der Koordinierung konkreter Einzelheiten beginnt. Sie kann sachgemäß als ein ‚Ästhetizismus‘ beschrieben werden, der sich als eine Bemühung um einen kunstvollen Weg zeigt, auf dem einzelne Gegenstände wirksam in Beziehung zueinander gebracht werden können, so dass sie dadurch den Ethos oder Charakter konkreter geschichtlicher Ereignisse und kultureller Leistungen bilden. Die Ordnung beginnt wie ein Kunstwerk immer mit 1335
Östliche Philosophie
einzigartigen Details, mit diesem Stückchen und jenem, und ergibt sich aus der Art und Weise, in der diese Details nebeneinander gestellt und harmonisiert werden. Insofern ist diese Ordnung eingebettet und konkret; sie ist die spezifische Einfärbung, die die verschiedenen Ebenen der Erde voneinander unterscheidet, die Symphonie des morgendlichen Gartens, der Wind, der durch die Öffnungen der Erde geht, die Rituale und Rollen, die die Grammatik einer Gemeinschaft ausmachen und ihr dadurch Bedeutung geben. Eine auf solche Weise hergestellte Harmonie ist immer eine besondere und spezifische, und sie widersteht einer formalen Erfassung und Wiederholung. 5. Philosophischer Synkretismus Man wird von einem kulturellen Selbstverständnis, das die Unabhängigkeit und das Streben nach radialer Harmonie favorisiert, erwarten, dass die orthodoxe Lehre weder ausschließlich noch systematisch ist. Vielmehr sind die Traditionen durchlässig und synkretistisch. In der Han-Dynastie wird beispielsweise der Konfuzianismus zunächst durch Elemente gestärkt, die er sich aus den konkurrierenden Schulen des Vor-Quin-China angeeignet hatte, wie z.B. dem Taoismus und dem Legalismus. Später absorbiert er auch eine in steigendem Maße von China beeinflusste buddhistische Tradition, die sich mit der Zeit zum Neo-Konfuzianismus weiter entwickelt. Zur selben Zeit werden die shuyuan-Akademien, die von dem großen neo-konfuzianistischen Zhu Xi eingerichtet worden waren, zu buddhistischen Klosterschulen umgestaltet. In der jüngeren Zeit der westlichen Häresie wurden der Marxismus und andere Elemente westlicher Lehren wie z.B. Kant und Hegel in China aufgenommen und weiter verarbeitet, so dass daraus schließlich das wurde, was heute ‚Neuer Konfuzianismus‘ heißt (siehe Marxismus, Westlicher). Die eingeborenen schamanistischen Traditionen der koreanischen Volksreligion absorbierten zunächst den Buddhismus und dann den Konfuzianismus aus China, gaben beiden Lehren jedoch eine gänzlich neue Form, um sie an die einzigartigen sozialen und politischen Bedingungen Koreas anzupassen (siehe Buddhistische Philosophie, Koreanische). Der ursprüngliche japanische Shintoismus wandelt sich infolge der Einführung zunächst des Buddhismus, dann des Konfuzianismus, im Sinne einer notwendig gewordenen Unterscheidung zu diesen beiden, wobei jede Tradition eine jeweils ergänzende Funktion gegenüber den anderen übernimmt (siehe Shintō; Buddhistische Philosophie, Japanische). In jüngerer Zeit wurde durch Denker der Kyoto Schule wie z.B. Nishida, Tanabe und Nishitani der deutsche Idealismus überdacht und mit der japanischen buddhistischen Tradition legiert, was wiederum neue Richtungen hervorbrachte. Obwohl der Konfuzianismus, der Buddhismus und der Taoismus als die vorherrschenden Traditionen Ostasiens einerseits sicherlich Konkurrenten waren, ist es doch charakteristisch für die lebendigen philosophischen Traditionen, die die ostasiatische Kultur prägen, dass sie die gegenseitige Anpassung verfolgen mittels eines fortgesetzten Prozesses der Begegnung und der gegenseitigen Aneignung. Daher kommt auch der bekannte Ausdruck sanjiao weiyi, dt.: ‚Die drei Lehren [Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus] sind wie eine‘. Dieser Prozess ist durch die fortgesetzte Aneignung westlicher Philosophien in Ostasien gegenwärtig noch im Gange.
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Offenbarung
Siehe auch: Antike Philosophie; Chinesische Philosophie; Indische und TibePhilosophie; Japanische Philosophie Anmerkungen und weitere Lektüre: Gernet, J. (1985): ‚China and the Christian Impact‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Die rekonstruierten Gespräche zwischen den jesuitischen und chinesischen Intellektuellen während ihres ersten Treffens im 16. und 17. Jahrhundert.) Hall, D.L., und Ames, R.T. (1997): ‚Thinking From the Han: Self, Truth, and Transcendence in China and the West‘, Albany, NY: State University of New York Press. (Eine Durchmusterung zahlreicher fundamentaler Themen, die die chinesische kulturelle Tradition von jeder des Westens unterscheidet.) Mungello, D.E. (1985): ‚Curious Land: Jesuit Accomodation and the Origins of Sinology‘, Honolulu, HI: University of Hawaii Press. (Eine Diskussion der Untersuchung der Intellektuellen Europäer des 17. Jahrhunderts über die sinitische Kultur.) ROGER T. AMES
tische
Offenbarung
Alle größeren theistischen Religionen haben behauptet, dass Gott selbst sich ihnen auf irgendeine Weise offenbart hat, und zwar sowohl dadurch, dass er sich seinen Anhängern selbst in Ereignissen gezeigt habe, als auch durch Lieferung einiger wahrer, wichtiger und andererseits unerkennbarer Aussagen. Die Ereignisoffenbarung kann sowohl die allgemeine Offenbarung umfassen (Gott offenbart sich selbst demzufolge in sehr allgemeinen Ereignissen, die von allen beobachtbar sind, wie z.B. die Existenz des Universums und seine Übereinstimmung mit den Naturgesetzen), als auch die besondere Offenbarung (Gott offenbart sich dann in gewissen besonderen, historischen Ereignissen). Diese Ereignisse sind in dem Sinne eine Offenbarung, dass Gott sie hervorgebracht hat und sie etwas von ihm zeigen. Der Judaismus lehrt daher, dass Gott sein Wesen und seine Liebe zu Israel zeigte, als er sein Volk aus Ägypten hinweg durch seinen Stellvertreter Moses in das Gelobte Land führte. Das Christentum behauptet traditionell, dass Gott sich selbst in einem viel umfänglicheren Sinne in Jesus Christus offenbart habe, weil Jesus seinen Anhängern nicht nur einige Merkmale Gottes gezeigt habe, sondern selbst Gott gewesen sei. Gott offenbart nach dieser Auffassung seine Aussagen durch einige auserwählte Propheten oder auch eine auserwählte Gesellschaft, die uns die Wahrheit mündlich oder schriftlich mitteilen, die zu glauben wir ansonsten keinen Grund hätten, solange sie uns nicht von Personen vermittelt werden, die gewissen Anzeichen gottgegebener Autorität tragen. So lehrt der Islam, dass Gott Mohamed inspirierte, den Koran im 7. Jahrhundert zu schreiben, und dass sein Erfolg, d.h. seine Verkündung in einem großen Teil der zivilisierten Welt, sowie sein Inhalt und sein Stil (tiefe Gedanken, die auf sehr schöne Weise formuliert sind, und die man nicht von einem nicht entsprechend ausgebildeten Mann erwartet) seinen göttlichen Ursprung beweisen. Siehe auch: Naturtheologie RICHARD SWINBURNE
Okkasionalismus
Der Okkasionalismus (von lat.: occasio = ‚die [günstige] Gelegenheit‘) wird oft als eine ziemlich verzweifelte Lösung für das Problem der Wechselwirkung von Geist und Körper aufgefasst. Geist und Körper, behauptet er, üben überhaupt keine gegenseitigen Wirkungen aufeinander aus; stattdessen sei es Gott, der körperliche 1337
Ontologie
Bewegungen ‚bei Gelegenheit‘ entsprechender mentaler Zustände wie z.B. der Willensakte verursache, und der umgekehrt auch die mentalen Zustände wie z.B. Empfindungen bei Gelegenheit der entsprechenden körperlichen Zustände, z.B. durch Sinnesreize, verursache. Diese Beschreibung, die richtig ist, soweit anwendbar, ist doch stark unvollständig. Okkasionalisten betrachteten den Mangel an wirklichem kausalem Einfluss zwischen Geist und Körper nur als einen Spezialfall der allgemeineren Wahrheit, dass keine zwei erschaffenen Dinge jemals aufeinander kausal einwirken. Die einzige ‚wahre Ursache‘ sei Gott, und die von ihm geschaffenen Wesen dienten ihm als ‚Gelegenheiten‘ seiner kausalen und kreativen Tätigkeit. Niemals aber würden sie von sich aus kausal tätig werden. Die einzige mögliche Ausnahme hiervon sehen sie darin, dass geschaffene Akteure eventuell ihre eigenen Willensakte hervorbringen; dies ist nämlich notwendig, wenn sie auf irgendeine Weise als freie Akteure betrachtet und behandelt werden sollen. Der Okkasionalismus wurde immer hauptsächlich aus religiösen Gründen behauptet, um Gott die ihm zustehende Ehre als Herrn und Herrscher des Universums zuteil werden zu lassen. Er war jedoch zu keiner Zeit der Standpunkt irgendeiner Mehrheit unter den philosophischen Theisten. Siehe auch: Edwards, J.; Religion und Wissenschaft; Wunder WILLIAM HASKER
Omnipotenz
Siehe: Allmacht
Ontologie Einführung Das Wort ‚Ontologie‘ (gr.: ‚Lehre vom Sein‘) wird verwendet, um auf die philosophische Erforschung der Existenz oder des Seins zu verweisen. Eine solche Forschung kann sich auf den Begriff des Seins richten und fragen, was ‚Sein‘ eigentlich bedeutet, oder auch darauf, was es heißt, dass etwas ‚existiert‘. Sie kann sich aber oder stattdessen auch mit Fragen wie ‚Was existiert?‘ oder ‚Welche allgemeinen Arten von Dingen gibt es?‘ beschäftigen. Es ist üblich, von einer philosophischen Ontologie zu sprechen, wenn es darum geht, jene Arten von Dingen zu beschreiben, die überhaupt in der Welt existieren, oder aber von der Ontologie einer Theorie, womit die Dinge gemeint sind, die existieren müssen oder die es geben muss, damit diese Theorie wahr sein kann. 1. Existenz und Sein 2. Was gibt es? 3. Ontologische Verpflichtung 1. Existenz und Sein Da sich so viele zentrale Diskussionen der Philosophie um die Frage drehen, welche Arten von Gegenständen überhaupt existieren, führte die genaue Untersuchung der Beweise, die in ihrem Verlauf vorgebracht wurden, notwendig zur einer Untersuchung des Begriffs der Existenz und seiner Logik. Der berühmteste Fall dieser Art ist der ontologische Gottesbeweis von Anselm von Canterbury, und einer der bedeutendsten Fortschritte in der daraus sich ergebenden Debatte ist Kants Behauptung, dass die Existenz keine Eigenschaft oder Prädikat existierender Dinge sei: 1338
Ontologie
der Satz ‚Katzen existieren‘ teilt uns offenkundig etwas mit, aber er sagt uns nichts über jene Dinge, die zusätzlich zu ihrer Pelzigkeit, Katzenhaftigkeit und dem Besitz einiger Füße noch die weitere Eigenschaft der Existenz aufweisen (siehe Existenz; Gott, Beweise für die Existenz von, §§ 2 f.). Diese Feststellung, die von der modernen Logik bestätigt wird, mag uns lehren, den Satz: ‚Katzen existieren‘ im Sinne von ‚Es gibt Dinge, die sind Katzen‘ zu sagen, bei denen die Existenz nicht einmal mehr als ein Prädikat aufzutauchen scheint. Viele werden aber denken, dass dies nicht sehr weit führen wird. Der Satz sagt uns nämlich nichts darüber, wie wir den Unterschied zwischen einer Welt, in der Katzen existieren, und einer, in der sie nicht existieren, beschreiben sollen, außer durch die ständige Wiederholung der Formel ‚Es gibt Katzen‘. Es hilft unserem Verständnis, was es heißt, dass etwas existiert, nicht weiter. Noch wird die etwas Schwindel erregende Frage berührt: ‚Warum existiert überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?‘ Einige Philosophen haben ein besonderes Interesse an der Existenz oder dem Sein entwickelt, und zwar nicht etwa, weil dies Teil vieler philosophischer Behauptungen wäre, sondern weil sie dies für einen zentralen Begriff der gesamten Philosophie halten. Die prominentesten unter ihnen sind in der Antike Parmenides, und im 20. Jahrhundert Martin Heidegger. 2. Was gibt es? In ihrer typisch philosophischen Form ist die Titelfrage dieses Abschnitts keine Sache der Einzelheiten (z.B.: ‚Gibt es Dinosaurier?‘), sondern über die allgemeinsten Arten von Dingen: gibt es Universalien, oder nur Einzeldinge? Gibt es den (menschlichen) Geist, oder gibt es nur Materie? Gibt es irgendetwas, was außerhalb von Raum und Zeit existiert? Die Debatte über die erste dieser Fragen zwischen den Platonikern und den Nominalisten, oder die beiden anderen Fragen zwischen den Idealisten und den Materialisten könnte jeweils als der Meinungsunterschied über die richtige Ontologie verstanden werden. So könnte die Kontroverse darüber, ob Werte objektive Aspekte der Wirklichkeit sind oder nur ‚im Kopf‘ desjenigen existieren, der sie behauptet, als die Frage verstanden werden, ob wir auf die Dinge reagieren, oder ob die Dinge nur jeweils selbst reagieren (siehe Emotivismus; Projektivismus). Die Fragen: ‚Welche Arten von Dingen existieren letztlich?‘ oder ‚Existiert […] wirklich?‘ oder ‚Existiert […] an sich selbst?‘ haben eine noch betonter philosophische Form der allgemeinen ontologischen Fragestellung. Um zu verstehen, was normalerweise hinter diesen zusätzlichen Ausdrücken steht, muss man (1) den Begriff der Reduktion und (2) die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen-an-sich verstehen. Reduktion. Berkeley wurde berühmt, weil er behauptete, dass die materiellen Gegenstände nur Ansammlungen von ‚Vorstellungen‘ seien (siehe Berkeley, G., § 3). Er meinte damit nicht, dass es keine Tische oder Stühle gebe, sondern dass solche Dinge keine materiellen, d.h. nicht-mentalen Bestandteile haben; was wirklich existiert, sei alles mental. Es gibt Geister und ihre Vorstellungen, und wir sprechen von Stühlen etc., wenn letztere uns in vertrauten Anordnungen begegnen. In moderner Terminologie gesagt behauptete er, dass die materiellen Gegenstände auf Vorstellungen reduziert werden können. Es gibt hierzu noch weitere bekannte Beispiele. Im politischen Diskurs sprechen wir oft davon, was irgendein bestimmter Staat getan 1339
Ontologische Verpflichtung
hat, ohne jedoch anzunehmen, dass es solche Dinge wie Staaten gibt, die etwas anderes sind als die Menschen, die einen solchen Staat bilden. Eine im 20. Jahrhundert populäre These über das Wesen des Geistes lautete, dass es nichts außer Körpern und deren (physikalischem) Verhalten gebe, und dass Worte über mentale Zustände benennen und Ereignisberichte nur eine bequeme Art des Hinweisens auf Verhaltensarten seien (siehe Behaviorismus, Analytischer; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes). Dinge an sich. Wir können zwischen der Art und Weise, wie ein Ding erscheint, unterscheiden – was teilweise von den Fähigkeiten und der Situation dessen abhängen wird, der sie wahrnimmt –, und der Art und Weise, auf die es unabhängig von jeglicher Wahrnehmung an sich selbst existiert oder beschaffen ist. Letzteres ist das Ding-an-sich. Dieser Ausdruck stammt von Kant und wurde umgehend berühmt. Kant argumentierte, dass Raum und Zeit, und damit auch alles in Raum und Zeit, lediglich in der Art und Weise gegeben sei, auf die die eigentlich nicht-raumzeitliche Wirklichkeit, d.h. die Dinge an sich, den Menschen erscheinen (siehe Kant, I. § 5). 3. Ontologische Verpflichtung Der Begriff der ontologischen Bindung gelangte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich durch das Werk von Quine (§ 5) zu einiger Prominenz. Nach Quines Auffassung ist die Naturwissenschaft der richtige Führer hin zu dem, was existiert, womit unser bester Führer zum Existierenden oder durch das Existierende hindurch die jeweils gerade beste wissenschaftliche Theorie sei: was existiert, sei das, was diese Theorie uns als verbindlich vorschreibt. Was aber ist das? Wie lässt sich bestimmen, zu welchen Existenzen uns die Akzeptanz einer gegebenen Theorie verpflichtet? Quine schlägt ein Kriterium vor, das oft zu dem bekannten Slogan zusammengefasst wird: ‚Sein ist der Wert einer Variablen.‘ Wir müssen also schauen, was für Arten von Dingen quantifiziert werden, wenn die Theorie in kanonischer Form aufgestellt wird, wobei die Prädikatenlogik die zugrunde liegende Logik ist. Die Ontologische Verpflichtung der Theorie bestünde dann genau gegenüber Dingen dieser Typen. Dieser Gedankengang hat umfangreiche Diskussionen ausgelöst (siehe Ontologische Verpflichtung). Siehe auch: Abstrakte Gegenstände; Sein; Idealismus; Realismus und Antirealismus; Universalien Anmerkungen und weitere Lektüre: Kant, I. (1781/1787): ‚Kritik der reinen Vernunft‘, erhältlich in zahlreichen kommentierten und unkommentierten Einzelausgaben. (Die berühmte Passage über die Existenz, die kein Prädikat des Existierenden ist, findet sich unter A598/B626– A601/B629. Betreffend die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich ist die Passage unter A45/B62–A46/B63 ein gutes Beispiel.) Quine, W.V. (1948): ‚On What There is‘. In: ‚From a logical point of View‘. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1953. (Ein klassischer Text über die Existenz und die Ontologische Verpflichtung. Er wurde zuerst in der Zeitschrift Review of Metaphysics veröffentlicht.) EDWARD CRAIG
Ontologische Verpflichtung
Eine Person mag an die Existenz Gottes glauben, oder auch an eine Reihe von Geistern. Solche Glaubensüberzeugungen können auch in Form einer Theorie 1340
Oper, Ästhetik der
vorgetragen werden. Behauptungen betreffend die Existenz bestimmter Entitäten oder Arten von Entitäten sind die intuitive Quelle des Begriffs von der ontologischen Verpflichtung, denn es ist nahe liegend von einer Person anzunehmen, die solche Behauptungen aufstellt, dass sie sich an eine Ontologie bindet, die solche Entitäten beinhaltet. So ist die ‚Ontologische Verpflichtung‘ offenbar eine Beziehung zwischen Personen oder Existenzbehauptungen (einschließlich der Theorien) einerseits und bestimmten Entitäten oder Arten von Entitäten (oder Ontologien) andererseits. Die Ontologische Verpflichtung ist daher ein sehr reichhaltiger Begriff, in den logische, metaphysische, linguistische und erkenntnistheoretische Elemente hineinspielen. Das philosophische Hauptproblem betreffend die Ontologische Verpflichtung ist dabei, ob es ein präzises Kriterium für die Entdeckung von Bindungen gibt, das im Einklang mit der Intuition ist. Es war historisch einmal sehr wichtig, ein solches Kriterium angeben zu können, denn davon versprach man sich, es als unverzichtbares Hilfsmittel bei der vergleichenden Bewertung von Theorien einsetzen zu können. Viele unterschiedliche Kriterien wurden seitdem vorgeschlagen, und eine Vielzahl von Problemen ergab sich daraus. Viele wichtige philosophische Fragen stehen in engem Zusammenhang mit den zugrunde liegenden ontologischen Bindungen. Dies betrifft das Wesen von Theorien und ihre Interpretation, die Interpretation der Quantifikation, das Wesen der Arten, die Fragen betreffend die Existenz lediglich möglicher Entitäten, das Wesen der Extensionalität und der Intentionalität, die allgemeine Frage nach dem Wesen der Modalität, und schließlich die Bedeutung von ‚Ockhams Rasiermesser‘, d.h. der von William of Ockham aufgestellten Forderung, dass man die Anzahl der postulierten primären Entitäten einer Ontologie so gering wie möglich halten sollte. Siehe auch: Ontologie; Quine, W.V. MICHAEL JUBIEN
Ontologischer Beweis
Siehe: Gott, Beweise für die Existenz von
Oper, Ästhetik der
Die Oper, die man als eine dramatische Inszenierung definieren kann, die großteils musikalisch gefasst ist, ist eine an sich selbst instabile Kunstform, und zwar stärker als andere. Es ist typisch für sie, dass sie von ihren Anhängern und Kritikern periodisch ‚zur Ordnung‘ gerufen wird, und zwar sprachlich in unterschiedlichen Formen, die gleichwohl mehr oder weniger immer dieselbe Mitteilung enthalten: die Musik sei dazu da, das Drama voranzubringen. Dies wurde oft so verstanden, dass damit die Rangfolge zwischen den beiden Elementen Musik und Text festgestellt würde. Tatsächlich sind jedoch drei solche Elemente in der Oper involviert, nämlich die Musik, der Text und die Handlung. Die Kunstform der Oper entstand relativ abrupt in Norditalien am Ende des 16. Jahrhunderts, teilweise als Ergebnis von Diskussionen über ihre Möglichkeit. Zu Beginn wurden wohlbekannte griechische Mythen umgesetzt, in die heimatliche Mundart übersetzt und nur sparsam musikalisch begleitet, so dass jedes Wort deutlich hörbar war. Dies führte zur Vorherrschaft der Sänger und der theatralischen Darstellung. Nach jeder Welle der Übersteigerung, z.B. durch vokale Heldentaten, 1341
Operationalismus
tänzerische Zwischenspiele, gespreizte Handlungen und Texte, und im 19. Jahrhundert wiederum durch leere Darstellungen und später ungeheuerlich große Orchester, gab es Bewegungen der Revolte. Die Philosophen haben sich selten an diesen ästhetischen Debatten beteiligt, weil die meisten von ihnen musikalisch uninteressiert waren, und was vielleicht noch relevanter ist, weil sie an keinem Gegenstand Interesse haben, der nur durch historische Studien erforscht werden kann. Es ist aber unfruchtbar, über die Oper unabhängig von ihrer tatsächlichen Aufführung nachzudenken; jeder große Opernkomponist hat sein eigenes Abkommen mit den möglicherweise widerstreitenden Elementen abgeschlossen, wobei Wagner der leidenschaftlichste Propagandist für seine eigene Konzeption war. Im 20. Jahrhundert wurde die Ästhetik der Oper pluralistisch, wie auch und auf eine noch die dagewesene Art die Form der Oper selbst. Die andauernde Gefahr dabei ist, dass die Oper zur Unterhaltung verkommt, und es ist immer wieder dieselbe Nachricht, die sie zu ihrer ursprünglichen Funktion ruft, und die die meisten Zuschauer und Zuhörer gerne ignorieren: die Oper ist eine Form des Dramas. Siehe auch: Musik, Ästhetik der MICHAEL TANNER
Operationalismus
Der Ausdruck ‚Operationalismus‘ wurde von dem Physiker Percy W. Bridgman geprägt und bezeichnet eine lose untereinander verbundene Gruppe ähnlicher, aber miteinander nicht verträglicher Sichtweisen darüber, wie wissenschaftliche Theorien oder Begriffe mit der Wirklichkeit oder Beobachtungen verbunden sind, z.B. über verschiedene Messmethoden oder andere Prozeduren. Beispiele von Operationen in diesem Sinne wäre die Prozedur des Anlegens eines Meterstabs an die Kante eine Oberfläche zur Messung ihrer Länge, oder die Verwendung psychometrischer Tests zur Messung der sexuellen Orientierung. Von den 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre wurden unterschiedliche Fassung des Operationalismus erarbeitet, unter anderem von Bridgman, der sich mit der Ontologie grundlegender Einheiten in der Physik beschäftigte, Behavioristen wie z.B. E.C. Tolman und S.S. Stevens, die sich mit der Messung störender Variablen oder hypothetischer Konstrukte beschäftigten, die der direkten Beobachtung nicht zugänglich sind, sowie B.F. Skinner, der solche nicht beobachtbaren Entitäten zu eliminieren versuchte, und schließlich die positivistischen Philosophen der Naturwissenschaft, die die Bedeutung von Ausrücken in der wissenschaftlichen Sprache analysierten. Eine Verschmelzung unterschiedlicher operationalistischer Philosophien führte am Ende zu allerhand Unsinnigkeiten bei den operationalistischen Definitionen, bei der Methodik der Beobachtung und dem Experiment, und auch bei der Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe. Operationalistische Lehren waren am relativ einflussreichsten in den Sozialwissenschaften, und heutzutage ist das zentrale Vermächtnis dieser Denkrichtung ihr Einfluss bei der operationalen Definition abstrakter sozialwissenschaftlicher Begriffe und Messvariablen. Siehe auch: Behaviorismus, Analytischer; Logischer Positivismus; Wissenschaftliche Methode FREDERICK SUPPE
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Ordinale Logiken
Ordinale Logiken
Mit dem Begriff ‚ordinale Logik‘ ist jedes einheitlich erfolgreiche Hilfsmittel bei der Zusammenstellung einer Logik gemeint, d.h. bei der Erzeugung eines erfolgreichen formalen Systems auf der Basis irgendeiner erfolgreichen Darstellung ordinaler Zahlen. Dieser Begriff wurde zuerst von Alan Turing im Jahre 1939 eingeführt und war als Hilfsmittel zur Überwindung der Unvollständigkeit ausreichend mächtiger und konsistenter formaler Systeme konzipiert. Die besagte theoretische Unvollständigkeit formaler Systeme war zuvor von Kurt Gödel im Jahre 1931 aufgezeigt worden. Die erste in Anbetracht von Gödels Ergebnissen zu betrachtende ordinale Logik wäre demzufolge diejenige, die man erhält, wenn man bis in die konstruktive Transfinitheit den Prozess der Anfügens formaler Anweisungen an ein System immer wieder wiederholt, wobei diese Anweisungen nur die Konsistenz dieses Systems aussagen. Für diese ordinale Logik konnte Turing die Vollständigkeit für jene Klasse wahrer Anweisungen nachweisen, bei der alle natürlichen Zahlen eine gegebene und tatsächlich entscheidbare Eigenschaft haben. Er bewies allerdings, dass eine jede ordinale Logik (wie z.B. seine eigene), die mit dem Anwachsen der ordinalen Darstellung selbstständig wächst, nicht die Eigenschaft der Invarianz haben kann: im Allgemeinen werden unterschiedliche Repräsentationen desselben Ordinals unterschiedliche Mengen von Theoremen aufweisen, zu denen sie gehören. Dies macht die Wahl der jeweiligen Repräsentation zu einem Schlüsselproblem, und ohne ein klares Kriterium, wie diese Entscheidung zu treffen ist, wird der Begriff der ordinalen Logik im Hinblick auf seinen intendierten Verwendungszweck problematisch. Die Forschung an den ordinalen Logiken war bis in die späten 1950er Jahre unterbrochen. Dann aber wurde sie wieder aufgenommen und sogar zum Gegenstand systematischer Entwicklung. Abgesehen davon, dass diese Forschung in verschiedener Hinsicht zu einer Verbesserung der Ergebnisse von Turing führte, und zwar sowohl in positiver, wie auch in negativer Hinsicht, wandte sich die neuere Forschung den Beschränkungen der ordinalen Logiken mittels einer Autonomiebedingung zu (auf englisch auch boot-strap [dt.: ‚Stiefelriemen‘] genannt), die die Wahlmöglichkeit zulässiger ordinaler Repräsentationen einschränkt, indem sie ihre Anerkennung als Wahlmöglichkeit bereits von vornherein fordert. Siehe auch: Turing, A.M. SOLOMON FEFERMAN
Organon
Siehe: Aristoteles
Origenes (ca. 185–254)
Als ein asketischer Christ, erstaunlich umfassender Gelehrter und hingebungsvoller Lehrer widmete Origenes sein ganzes Leben der Erforschung der göttlichen Offenbarung. Ein großer Teil seiner Arbeit floss in Kommentare zur Heiligen Schrift. Er behauptete, dass die Heilige Schrift drei Ebenen habe, nämlich die schriftliche, die moralische, und die geistige. Die schriftliche Ebene verberge die beiden anderen, und wir brauchen Gottes Hilfe, um die göttlichen Rätsel hinter diesem Schleier zu entdecken. Seine Kommentare beeinflussten direkt oder indirekt die exegetische Praxis durch die ganze patristische Epoche und das Mittelalter hindurch. Origenes setzte die Erkenntnisse aus seinem Bibelstudium, aber auch seine Argumente, Begriffe und Modelle, die er aus der Philosophie übernommen hatte, ein, 1343
Ortega y Gasset, José (1883–1955)
um mit den theologischen Problemen seiner Zeit fertig zu werden, z.B. mit dem Problem der Vereinbarkeit der Vorsehung und der Willensfreiheit, der Beziehung von Vater, Sohn und Heiligem Geist untereinander und zu den rationalen Geschöpfen, das Problem des Bösen, sowie der Ursprung und die Bestimmung der Seele. Er wurde berühmt oder auch berüchtigt für seinen Gedanken, dass die Seelen der Engel, Dämonen und Menschen zunächst eine himmlische Existenz genossen, dann aber der Sünde verfielen; Gott erschuf die Welt, um sie hierfür zu bestrafen und sie von ihrer Schuld zu erlösen. Siehe auch: Patristische Philosophie; Offenbarung; Dreifaltigkeit JEFFREY HAUSE
Ortega y Gasset, José (1883–1955)
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset übernahm Themen aus der deutschen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts und wandte sie mit frischem Atem und neuer Kraft auf seinen eigenen Kontext an. Indem er seine Philosophie ‚vitale Vernunft‘ oder ‚Ratiovitalismus‘ nannte, nutzte er sie anfänglich zur Beschäftigung mit der spanischen décadence, und später auch zur Befassung mit Fragen der europäischen Kultur wie z.B. der abstrakten Kunst und der Massenrevolte gegen moralisch und intellektuell herausragende Leistungen. Die ‚vitale Vernunft‘ ist eher eine Methode, um mit konkreten historischen Problemen umgehen zu können, als ein System universeller Prinzipien. Aber je disziplinierter die Methode geriet, umso tiefer versenkte sich Ortega in die westliche Geschichte, um die theoretischen und praktischen Dilemmata zu lösen, denen das 20. Jahrhundert zu seiner Zeit entgegen blickte. NELSON R. ORRINGER
Oxford Calculators
‚Oxford Calculators‘ ist die moderne Bezeichnung einer Gruppe von Denkern an der Oxford Universität in der Mitte des 14. Jahrhunderts, deren Herangehensweise an bestimmte Probleme in den unmittelbar folgenden Jahrhunderten infolge ihrer Tendenz, Probleme aller Art, die zuvor mit anderen Methoden bearbeitet worden waren, ihrerseits durch ‚Berechnungen‘ zu lösen, Aufmerksamkeit erregte. Lautete die Frage beispielsweise: ‚Was muss ein Mönch tun, um der Vorschrift seines Abts, Tag und Nacht zu beten, zu entsprechen?‘, so würde einer der Calculators ohne Zögern die Frage umformulieren und zurückfragen, ob es eine minimal aufzuwendende Zeitspanne für das Beten gibt, die ausreicht, um das Gebot des Abtes zu erfüllen, bzw. eine maximal aufzuwendende Zeitspanne, die nicht ausreicht, um das Gebot zu erfüllen. Oder wenn von der Gnade angenommen wird, sie würde einen Christen sowohl in die Lage versetzen, verdienstvoll zu handeln, als auch ihm eine Belohnung für ein solches Handeln einbringen, so würde ein Calculator fragen, ob sich der Gnadenumfang im Zusammenhang mit einer verdienstvollen Handlung bestimmt, bevor die Handlungsentscheidung fällt, oder nach der Handlung, wenn die Belohnung für eine erhöhte Gnade erfolgt. Wenn ein Körper an einem Ende heiß ist, jedoch kalt am anderen Ende, dann würde ein Calculator nicht etwa fragen, ob dieser Gegenstand als Ganzer als heiß oder kalt zu bezeichnen wäre, sondern wie heiß er als Ganzes ist. Und wenn wir schließlich fragen, ob ein schwerer Körper physikalisch als ein Ganzes oder als die Summe seiner Teile ‚handelt‘, dann würde ein Calculator den Fall eines langen, dünnen Stabes zitieren, der durch einen Tunnel fällt, der seinerseits durch den Erdmittelpunkt gebohrt ist, und er würde zu 1344
Oxford Calculators
berechnen versuchen, wie sich die Geschwindigkeit des Stabes in dem Moment verringern würde, wenn Teile des Stabes den Erdmittelpunkt passieren, sofern sich der Stab wie die Summe von Teilen verhält. Von diesen vier Fragen wurden die letzten beiden von Richard Swineshead, einem Kollegen am Merton College, Oxford, in der Mitte des 14. Jahrhunderts gestellt, dessen ‚Liber calculationum‘ (dt.: ‚Buch der Berechnungen‘) dazu führte, dass man ihn als Calculator (dt.: ‚Rechner‘) bezeichnete. Durch den Anschluss an Richard Swineshead wurden auch andere Meister aus Oxford, einschließlich Thomas Bradwardine, Richard Kilvington, William Heytesbury, Roger Swineshead und John Dumbleton als Calculators bezeichnet. Ihre Arbeit enthält eine spezifische Kombination logischer und quantifizierender Techniken, was daher rührt, dass diese Techniken häufig in Disputationen über sog. sophismata eingesetzt wurden. Dieselbe Gruppe von Denkern, mehr unter Betonung ihrer mathematischen, als ihrer logischen Arbeiten, wurde die ‚Merton-Schule‘ genannt, weil viele, wenn auch nicht alle der Calculators dem Merton College, Oxford, verbunden waren. Neben ihren ‚berechnenden‘ Arbeiten schrieben dieselben Autoren Bücher, in denen die Rechentechniken nicht so wichtig waren, einschließlich einiger Kommentare zu Aristoteles, mathematische Lehrbücher und Kommentare zu Peter Lombards ‚Sententiae‘. EDITH DUDLEY SYLLA
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P Paine, Thomas (1737–1809)
Thomas Paine, der in Norfolk, England, geboren wurde, verbrachte seine frühen Jahre als ein wenig auffälliger Handwerker, und später als Zoll- und Steuerbeamter. 1774 emigrierte er nach Amerika und ließ sich in Philadelphia nieder, wo er Journalist und Essayist wurde. Sein Buch ‚Common Sense‘ (1776) und sechzehn Aufsätze in dem Buch ‚The Crisis‘ (1776–1783) wurden zu verblüffenden Beispielen der politischen Propaganda und Theorie. In den späten 1780er Jahren, wieder in Europa, schrieb Paine ‚The Rights of Man‘ (1791–1792) und griff das englische politische System an. Während der französischen Revolution war er als Girondist im französischen Konvent nominiert und schrieb ‚The Age of Reason‘ (1794, 1796), in dem er auf sehr kluge Art das Christentum kritisiert. Er starb 1809 in New York als eine wichtige Figur in den Zeiten revolutionärer politischer Wirren in Amerika und England zum Ende des 18. Jahrhunderts. BRUCE KUKLICK
Paksilasvāmin
Siehe: Vaiśesika Paley, William (1743–1805) William Paley, ein Theologe und Moralphilosoph, formulierte und fixierte im England des 18. Jahrhunderts die Ansichten und Argumente des orthodoxen Christentums und des konservativen moralischen und politischen Denkens seiner Zeit. Paley meinte von seinem Werk, es bilde ein einheitliches System, das auf der Naturreligion basiere. Wie auch andere Menschen seiner Zeit dachte Paley, dass die Vernunft allein, d.h. ohne die Unterstützung durch die Offenbarung, viele der christlichen Thesen als wahr erweisen würde. Er vertraute darauf, dass ein wissenschaftliches Verständnis der Natur den Anspruch stützen würde, Gott sei der Schöpfer der Natur. Paley gehört zur antitheistischen Tradition, die meinte, dass die Offenbarung die Naturreligion ergänzt. Die wichtigste Offenbarung sei vielmehr Gottes Versprechen des Lebens nach dem Tode, in dem die Tugendhaften belohnt und die Lasterhaften bestraft werden. Die natürliche und die offenbarte Religion liefern andererseits die Grundlage für die Moral. Gottes Wille bestimmt, was richtig ist, und seine Macht zur Belohnung und Bestrafung im Leben nach dem Tode sorgt für die moralische Sanktionierung unseres Verhaltens. Im Ganzen gesehen beschäftigt sich Paley mit dem Erhalt des christlichen Glaubens und will sicherstellen, dass die Menschen ihre Pflichten kennen und sich danach richten. Siehe auch: Utilitarismus CHARLOTTE R. BROWN
Panentheismus
Siehe: Gott, Begriffe von
Panpsychismus
Als Panpsychismus wird die These bezeichnet, dass die physische Natur aus Einzeldingen besteht, und dass diese in gewissem Umfange allesamt ein Empfindungsvermögen besitzen. Er ist daher in weiterem Sinne mit dem Hylozoismus verwandt (der Lehre, dass die stoffliche Materie belebt ist), doch anstelle der These des 1346
Pantheismus
alles durchdringenden Lebens in der Natur stellt der Panpsychismus das Allvorhandensein des Empfindens, der Erfahrung, oder in einem weiteren Sinne, des Bewusstseins. Es gibt zwei unterschiedliche Grundlagen, auf denen der Panpsychismus aufgebaut wurde. Einige sahen ihn als die beste Erklärung des Auftretens von Bewusstsein im Universum, indem sie sagten, dieses Merkmal sei in Wirklichkeit universell gegenwärtig, und dass das hohe Bewusstsein der Menschen und auch der Tiere das Produkt spezieller Muster niederer Bewusstseinsstufen oder Gefühle sei, die universell gegeben seien. Die andere Grundlage, auf welche der Panpsychismus aufbaut, ist die, dass die alltägliche Erkenntnis der physischen Welt nur eine solche ihrer Struktur und Empfindungswirkungen auf uns sei, und dass der wahrscheinlichste innere Gehalt, der diese Struktur ausfüllt und diese Erfahrungen hervorbringt, ein System aus Mustern der Empfindung auf einem niedrigeren Niveau sei. T.L.S. SPRIGGE
Pantheismus
Der Pantheismus steht im Gegensatz zum Monotheismus (Eingottlehre), dem Polytheismus (Vielgottlehre), dem Deismus (die Lehre, derzufolge Gott die Welt auf eine Weise schuf, dass sie imstande ist, allein für sich weiter zu existieren und zu ‚funktionieren‘, was Gott ihr dann auch ausdrücklich erlaubt) und dem Panentheismus (der Lehre, derzufolge in Gott eine vorrangige und unwandelbare Natur gegeben ist, sowie eine nachfolgende Natur, die sich verändert und entwickelt). Etymologisch ist der Pantheismus die Auffassung, dass die Gottheit und der Kosmos identisch seien. Theologisch vertritt er die göttliche Immanenz und lehnt die göttliche Transzendenz ab. Wenn der Atheismus die Leugnung ist, dass irgendetwas göttlich ist, dann ist der Pantheismus kein Atheismus; wenn der Atheismus als die Behauptung verstanden wird, dass es keinen Schöpfer, keine Vorsehung, keine transzendente Gottheit oder persönlichen Gott gebe, dann ist der Pantheismus atheistisch. Spinoza, die vielleicht paradigmatische Figur für den Pantheismus, wurde von einigen als ein ‚gotttrunkener Mann‘ beschrieben, von anderen schlicht als Atheist. Nach seiner Darstellung existiert nur Gott oder die Natur, d.h. eine einzige, notwendig existierende Substanz, deren Modi und Qualitäten die gesamte Wirklichkeit ausmachen. Gott-oder-die-Natur, was man sich gleichermaßen als physische oder als mentale Entität vorstellen kann, ist kein geeignetes Objekt der Anbetung, es schöpft nichts, gewährt niemandem Freiheit, erhört keine Gebete und greift nicht in die Geschichte ein. Die persönliche Unsterblichkeit ereignet sich nach Spionzas Auffassung nicht nur nicht, sondern ist logisch unmöglich. Es ist eine Sache, die Natur so hoch zu bewerten, dass man sie als Gottheit bezeichnet, und eine andere, an Gott in irgendeinem monotheistischen Sinne zu glauben. Ergänzend muss allerdings zugegeben werden, dass der Ausdruck ‚Pantheismus‘ nicht leicht wirklich präzise zu definieren ist. Wie er hier vorgestellt wurde, muss der Pantheismus nicht eine Abart des Materialismus sein, und wenn er sich materialistisch gibt, so umfasst er eine höhere Sichtweise des Wertes der Materie. Gleichwohl wurde die Bezeichnung ‚Pantheismus‘ auch missbräuchlich als ein anderes Wort für ‚Atheismus‘, ‚Materialismus‘ und ‚Deismus‘ verwendet, hat mit diesen Begriffen jedoch nicht viel gemein. Siehe auch: Gott, Begriffe von KEITH E. YANDELL
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Paradigma
Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim) (1493–1541)
Paracelsus (das Pseudonym von Theophrastus Bombastus von Hohenheim) war ein herumziehender Schweizer Chirurg und Arzt, der eine neue Philosophie der Medizin formulierte, die auf einer Kombination der Chemie, dem Neuplatonismus und dem Okkultismus, und dies alles innerhalb eines christlichen Rahmens, basierte. Seine Werke, die größtenteils auf Deutsch und nicht auf Latein verfasst waren, wurden zum größten Teil erst nach seinem Tode publiziert. Seine Bedeutung für die medizinische Praxis lag in seinem Beharren auf der Beobachtung und dem Experiment, und sein Einsatz chemischer Methoden zur Herstellung von Arzneien. Er verwarf Galens Erklärung der Krankheit als einem Ungleichgewicht der Körpersäfte ebenso wie die traditionelle Lehre der vier Elemente. Er sah das menschliche Wesen als einen Mikrokosmos an, der die Struktur und die Elemente des Makrokosmos reflektiert und präsentierte damit eine einheitliche Sichtweise des Menschen und des Universums, in der alles miteinander verbunden und voller Vitalkräfte sei. Die paracelsische chemische Medizin war im späten 16. und 17. Jahrhundert sehr populär, vor allem wegen ihrer Darstellung im Rahmen einer allgemeinen Theorie. Siehe auch: Alchemie; Hermetismus; Humanismus in der Renaissance; Religion und Wissenschaft; Renaissance-Philosophie E.J. ASHWORTH
Paradigma
Etymologisch ist das altgriechische Wort ‚Paradigma‘ (dt. Pl.: Paradigmen bzw. Paradigmata; von altgr.: parádeigma) aus para = ‚neben‘ und deiknynai = ‚zeigen, begreiflich machen‘ zusammengesetzt und bedeutet ursprünglich ‚Beispiel‘, ‚Vorbild‘, ‚Muster‘ oder auch ‚Abgrenzung‘. Seit dem späten 18. Jahrhundert wird das Wort auch verwendet, um wissenschaftliche Grundhaltungen zu bezeichnen, die dem konkreten Forschungsansatz als dessen häufig ungenannte Voraussetzung zugrunde liegen und daher die aus dem jeweiligen Blickwinkel einer solchen Haltung oft nicht erkennbaren Grenzen ausmachen. Die heute in der Philosophie gebräuchliche Verwendung des Wortes ist im wissenschaftshistorischen Kontext stark von dem Werk des Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn beeinflusst, der es im Rahmen seiner Theorie im Sinne von ‚herrschender Lehrmeinung‘ verwendet. In der Linguistik hat das Wort ‚Paradigma‘ folgende Bedeutungen: (1) die Menge der Formen eines Wortes, die das Flexionsschema von Verben oder Substantiven bilden, d.h. es bezeichnet ein Konjugations- oder Deklinationsschema (Beispiel: ‚hängen – hing – gehangen); (2) eine singuläre Zusammenstellung austauschbarer Zeichen oder Elemente derselben Wortkategorie, die vertikal austauschbar sind. (Beispiele: ‚der Affe/Elefant/Löwe schläft‘, oder auch die Anlautkonsonanten in den Worten ‚Not‘, ‚Lot‘, ‚Kot‘, ‚Rot‘). Darüber hinaus hat der Ausdruck ‚Paradigma‘ in den letzten Jahren eine unüberschaubare Vielzahl spezieller Bedeutungen in unterschiedlichen praktischen und theoretischen Zusammenhängen erhalten, die sich einer einheitlichen Definition gänzlich entziehen, häufig modisch geprägt und semantisch unscharf sind, und die bestenfalls noch im Sinne der Wittgensteinschen ‚Familienähnlichkeit‘ von Begriffen zusammenzufassen wären. Siehe: Kuhn, Thomas Samuel GEORG SULTAN
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Paradoxa, erkenntnistheoretische
Paradoxa, erkenntnistheoretische
Die vier grundlegenden erkenntnistheoretischen Paradoxa sind unter den Bezeichnungen ‚Lotterie-‘, ‚Vorwort-‘, ‚Erkennbarkeits-‘ und ‚Prüfungsparadox‘ bekannt. Das Lotterieparadox beginnt mit der Vorstellung einer fairen Lotterie mit genau eintausend Losen in der Lostrommel. Jedes Los gewinnt mit derselben (Un) wahrscheinlichkeit wie alle anderen, so dass unsere Überzeugung gerechtfertigt ist, dass es höchstwahrscheinlich verlieren wird. Daraus ließe sich schließen, dass gar kein Los gewinnt. Wir wissen jedoch, dass irgendein Los gewinnen wird. – Das Vorwortparadox geht von der Prämisse aus, dass die Autoren von Büchern in der Annahme gerechtfertigt seien, alles sei richtig, was in ihrem jeweiligen Buch steht. Einige stellen ihrem Buch jedoch ein Vorwort voran, in dem sie in Anbetracht der menschlichen Schwäche behaupten, dass ihr Buch sicherlich einige Fehler enthält. Dann glauben sie aber gerechtfertigtermaßen, dass alles in ihrem richtig sei, und dass einiges falsch sei. Das Erkennbarkeitsparadox ergibt sich aus der Annahme, dass einige Wahrheiten nicht bekannt seien, und dass jegliche Wahrheit erkennbar sei. Weil die erste Behauptung eine Wahrheit ist, muss sie erkennbar sein. Aus diesen Behauptungen folgt, dass es möglich ist, dass es irgendeine spezifische Wahrheit gibt, die als wahr bekannt ist, und von der gleichzeitig bekannt ist, dass sie nicht wahr ist. Das letzte Paradox betrifft die Ankündigung eines (z.B. schulischen) Überraschungstests für die kommende Woche. Ein solcher Test kann am Freitag, weil er am Donnerstagabend voraussehbar ist (weil der Test bis dahin noch nicht geschrieben wurde), zu diesem Zeitpunkt keine Überraschung mehr sein. Doch wenn er nicht am Freitag stattfinden kann, gilt dasselbe auch für den Donnerstag. Denn wenn er am Mittwochabend noch nicht stattgefunden hat, dann kann er keine Überraschung mehr am Freitag sein, und dann kann er auch keine Überraschung mehr am Donnerstag sein. Diese Regel lässt sich über alle Wochentage weiter ausdehnen, folglich kann in der kommenden Woche überhaupt kein Überraschungstest geschrieben werden. Am Mittwoch teilt der Lehrer jedoch einen Testbogen aus, und alle Schüler sind vollkommen überrascht. Siehe auch: Skeptizismus JONATHAN L. KVANVIG
Paradoxa, mengentheoretische
Die Paradoxa der Mengenlehre tauchten um das Jahr 1900 herum auf. Sie beeinflussten sehr stark die Logik und gaben zu einer großen Menge weiterer Literatur Anlass. Einer Unterscheidung von Ramsey aus dem Jahre 1926 zufolge zerfallen sie in zwei verschiedene Kategorien: die logischen und die semantischen Paradoxa. Die logischen Paradoxa verwenden Begriffe wie die Menge oder die Kardinalzahlen, währen die semantischen Paradoxa semantische Begriffe wie z.B. ‚Wahrheit‘ oder ‚Definierbarkeit‘ verwenden. An beiden Arten sind häufig Selbstbezüge (Selbstreferenzen) beteiligt. Das bekannteste logische Paradox ist Russells Paradox betreffend die Menge S aller Mengen x dergestalt, dass x kein Element von x ist. Russells Paradox fragt nun: Ist S ein Element von sich selbst? Etwas Nachdenken zeigt, dass S ausschließlich dann Element von sich selbst ist, wenn S kein Element von sich selbst ist, was ein Widerspruch ist.
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Parakonsistente Logik
Russell stieß auf dieses Paradox durch seine Analyse der größten Kardinalzahl. Die Menge U aller Mengen hat die größte Kardinalität oder Mächtigkeit, weil jede Menge eine Untermenge von U ist. Es gibt aber eine Kardinalzahl, die größer ist als jede gegebene Menge M, nämlich die Mächtigkeit der Potenzmenge (d.h. der Menge aller Untermengen) von M. Daher ist die Mächtigkeit der Potenzmenge von U größer als jene von U, was ein Widerspruch ist. Das Paradox der größten Ordinalzahl ist strukturell ähnlich. Unter den semantischen Paradoxa ist das bekannteste das Lügnerparadox des Griechen Epimenides: Ein Mann sagt, dass er (mit genau diesem Satz) lüge. Ist das, was er gerade sagt, nun wahr oder falsch? Jede Schlussfolgerung führt zur gegenteiligen Antwort. Obwohl dieses Paradox im mittelalterlichen Europa diskutiert wurde, geht das moderne Interesse daran auf Russell zurück, der es im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Paradoxa besprach, einschließlich seinem eigenem, und eine wichtige und große Gruppe dieser Paradoxa in der von ihm formulierten sog. ‚Typentheorie‘ auflöste. GREGORY H. MOORE
Parakonsistente Logik
Eine Logik ist parakonsistent, wenn sie nicht die Prinzipien anerkennt oder bestätigt, was die meisten orthodoxen Logiken behaupten, dass nämlich aus einem Paar widersprüchlicher Prämissen A und ¬A alles folgt. Sei ‚⊂‘ eine Relation der logischen Konsequenz. Dann kann ‚⊂‘ semantisch, beweistheoretisch oder auf andere Weise definiert werden. Die Relation ‚⊂‘ bezeichnet man als ‚explosiv‘, wenn für alle A und B gilt, {A, ¬A} ⊂ B. Eine Relation ist folglich parakonsistent, wenn sie nicht explosiv ist. Eine Logik ist parakonsistent, wenn ihre Konsequenzrelation parakonsistent ist. Eine Logik kann jedoch mehrere Konsequenzrelationen enthalten. In diesem Fall müssen alle Konsequenzrelationen parakonsistent sein. Eine Menge von Aussagen S heißt trivial, wenn für alle B gilt, B ∈ S. Wenn einer Theorie eine parakonsistente Logik zugrunde liegt, kann sie inkonsistent sein, ohne deshalb trivial zu werden, d.h. ohne dass alles oder Beliebiges aus ihren Sätzen folgt. Die nachhaltige Arbeit auf dem Gebiet der parakonsistenten Logik begann erst in den frühen 1960er Jahren. Ein wichtiger und bewegender Gedanke hierbei war, dass es bedeutende, natürlicherweise vorkommende, inkonsistente und doch nichttriviale Theorien gibt. Einige Logiker gingen noch weiter und behaupteten, dass einige dieser Theorien wahr sein könnten. Zur Mitte der 1970er Jahre verstand man bereits gut die Einzelheiten der Semantik und Beweistheorien parakonsistenter Logiken. Jüngere Forschungsprogramme haben sich auf die Anwendung dieser Logiken konzentriert, sowie auf ihre philosophischen Grundlagen und Konsequenzen. GRAHAM PRIEST
Pareto-Prinzip
Ein sozialer Zustand wird als ‚pareto-effizient‘ bezeichnet, wenn es keine machbare Alternative zu ihm gibt, in der mindestens eine Person besser gestellt ist, während alle anderen gleich gut bzw. schlecht gestellt bleiben. Das Pareto-Prinzip sagt uns, dass wir uns von pareto-ineffizienten zu pareto-effizienten Zuständen hin bewegen sollen. Angenommen, ein großer Fruchtkorb wird irgendwie inmitten einer Gruppe Menschen verteilt. Er enthält z.B. einen Apfel, zwei Birnen, ein Dutzend 1350
Parmenides (frühes bis mittleres 5. Jh. v.Chr.)
Kirschen. Wenn die Früchte danach so ausgetauscht werden können, dass zumindest einige Menschen am Ende mehr haben als zuvor und niemand leer ausgeht, dann rät uns das Pareto-Prinzip, so zu verfahren. Tatsächlich rät es uns, mit dem Austausch so lange fortzufahren, bis keine Verbesserungen dieser Art mehr möglich sind. DAVID MILLER
Parmenides (frühes bis mittleres 5. Jh. v.Chr.)
Parmenides von Elea, ein revolutionärer und rätselhafter, griechischer DichterPhilosoph, war der früheste Vertreter der eleatischen Metaphysik. Er trat für die wesentliche Homogenität und Unveränderlichkeit des Seins ein und verwarf die offenkundigen Änderungen der Welt in Raum und Zeit als störend. Sein einziges bekanntes Gedicht, dessen erste Hälfte weitgehend erhalten blieb, beginnt mit der Allegorie einer intellektuellen Reise, durch die es Parmenides gelungen sei, sich von der empirischen Welt fernzuhalten. Er lernt aus dem Munde einer namenlosen Gottheit eine dramatisch neue Perspektive des Seins. Die Abhandlung der Gottheit, die den Rest des Gedichts ausmacht, ist in zwei Teile geteilt, den Weg der Wahrheit und den Weg des Anscheins. Der ‚Weg der Wahrheit‘ ist die früheste bekannte Passage eines durchgeführten Beweises in der abendländischen Philosophie. Zunächst wird eine angeblich erschöpfende Wahl zwischen zwei ‚Pfaden‘ angeboten, nämlich dem des Seins, und dem des Nicht-Seins. Der Pfad des Nicht-Seins wird daraufhin ‚abgesperrt‘: das Prädikat ‚ … ist nicht‘ kann niemals einem Subjekt zugeordnet werden, denn nur Das-was-ist kann Gegenstand des Sprechens und Denkens sein. Und nur bei Strafe des Selbstwiderspruchs kann ein dritter Pfad beschritten werden, d.h. einer, der mit dem Nichtsein trotz des Umstandes zusammenfließt, dass ein solcher Pfad in der gewöhnlichen menschlichen Annahme einer empirischen Welt implizit eine Vielzahl wechselnder Prädikate hervorbringt. Alle offenen oder verdeckten Verweise auf das Nichtsein müssten geächtet werden. Nur das Prädikat ‚… ist‘ (oder auch ‚… ist …‘) könne kohärent von etwas ausgesagt werden. Der nächste Zug ist die Suche der Charakteristika dessen, was ist. Der vollständige Ausschluss des Nichtseins überlässt uns einer Situation, die der empirischen Welt radikal unähnlich ist. Ihr fehlt das Entstehen, das Vergehen, der Wechsel, die bestimmten Teile, die Bewegung und eine asymmetrische Gestalt, denn all dies würde das Ereignis irgendeines Nichtseins voraussetzen. Das-was-ist muss, kurz gesagt, veränderungslos und eine indifferente Sphäre sein. Im zweiten Teil des Gedichts bietet die Gottheit eine Kosmologie an, d.h. eine physikalische Erklärung genau der Welt, die in der ersten Hälfte des Gedichts als inkohärent verbannt wurde. Diese Kosmologie basiert auf einem Paar ‚letzter Prinzipien‘ oder Elemente, von dem das eine hell und feurig sei, das andere schwer und dunkel. Sie wird als etwas dargestellt, das die ‚Meinungen der Sterblichen‘ enthält. Sie ist trügerisch, aber die Gottheit empfiehlt trotzdem, sie kennen zu lernen, ‚so dass keine Meinung der Sterblichen dich mehr übertreffen kann‘. Das Motiv für die radikale Aufspaltung zwischen den beiden Hälften des Gedichts wurde in den letzten Jahrhunderten viel diskutiert. In der Antike wurde ‚Der Weg der Wahrheit‘ als eine Herausforderung für den Begriff des Wandels verstanden, den die Physik beantworten müsse, und von anderen als die Darstellung einer grundlegenden metaphysischen Wahrheit, während ‚Der Weg des Anscheins‘ über-
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Pascal, Blaise (1623–1662)
wiegend als das physische System von Parmenides, das er aufs Geratewohl selbst erfunden hatte, betrachtet. Siehe auch: Sein; Vorsokratische Philosophie DAVID SEDLEY
Pascal, Blaise (1623–1662)
Blaise Pascal war ein mathematisches Wunderkind, zu dessen frühen Leistungen ein Aufsatz über die konischen Schnitte und die Erfindung einer Rechenmaschine zählte. Mit etwas über zwanzig Jahren mischte er sich in die leidenschaftlich geführte europäische Debatte über das Vakuum ein, unternahm (oder versuchte zu unternehmen) eine Reihe von Experimenten, die dabei halfen, die traditionelle Auffassung zu widerlegen, dass die Natur das Vakuum fürchtet und steckte damit klar die Methodik einer neuen Wissenschaft ab. Im Jahre 1646 geriet er unter den Einfluss des Jansenismus; hiervon scheint er jedoch in den frühen 1650er für kurze Zeit wieder Abstand genommen zu haben. Doch dann durchlebte er eine Phase tiefgreifender spiritueller Erfahrung, die sein Leben umgestaltete und ihn in sehr nahe Verbindung mit den führenden Janseniten brachte, mit denen er bei der Herausgabe der polemischen ‚Lettres provinciales‘ (1656–1657) zusammenarbeitete. Zur selben Zeit plante er die Abfassung einer Rechtfertigung für die christliche Religion, doch seine schlechte Gesundheit überschattete seine letzten Jahre zu stark, dass dieses Unternehmen nur in der fragmentarischen Form der ‚Pensées‘ (1670) realisiert wurde. Er leistete bedeutsame Beiträge zur Mathematik, insbesondere auf den Gebieten der Geometrie, der Zahlentheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und er half auch bei der Beschreibung des ‚esprit géométrique‘, der die neue Wissenschaft der 1650er Jahre charakterisierte. Er argumentierte, dass die Geometrie der Logik darin überlegen sei, dass sie nicht nur demonstrative Prozeduren bereitstelle, sondern auch Axiome, auf denen man aufbauen könne. Hierzu entwarf er geeignete Beweisregeln. Seine religiösen Schriften wurden kurz nach seinem Tode veröffentlicht; viele Versuche wurden unternommen, die Apologie zu rekonstruieren, die darin eingeschlossen ist. Am wahrscheinlichsten ist, dass diese in zwei Teile ausgefallen wäre, wobei der erste das Elend der Menschen ohne Gott beschrieben hätte, und der zweite die Wahrheit des Christentums und das Glück des religiösen Lebens. Die Menschen werden in augustinischer Manier als korrupte, fade Kreaturen beschrieben, die ihren Leidenschaften und der Täuschung ihrer Vorstellungen verfallen sind. Sie werden aber auch so dargestellt, dass sie kraft der Vernunft und des Selbstbewusstsein Größe erlangen können, was sie wiederum zu der Anerkennung bringen kann, dass sie allein Christentum ihre Zwangslage richtig erkennen werden, und dass sie sich der Religion zuwenden sollten, selbst wenn sie anfangs nicht den instinktiven Glauben spürten, der das Kennzeichen der Erretteten ist. In den sog. ‚Wett‘-Fragmenten wendet Pascal seine mathematischen Einsichten zur Wiederbelebung eines alten apologetischen Arguments an, demzufolge es weiser ist, auf die Existenz von Gott zu wetten, als auf seine Nichtexistenz, und verband dies mit einem existenziellen Imperativ, dass wir alle verpflichtet sind, zwischen diesen Alternativen zu wählen. Dem geschickten Wechselspiel zwischen Skeptizismus, Rationalismus und Glauben des ersten Teils folgt ein zweiter Teil, der die Aufrichtigkeit des Christentums aus einer Bibelinterpretation, den Prophetien und Wundern heraus beweist. Pascal gibt zu, dass hieraus keine absolute Überzeugung gewonnen werden kann; er beharrt aber darauf, dass die Zurückweisung solcher Argumente nicht durch die rationalen 1352
Passmore, John Arthur (1914–)
Kräfte des Menschen, sondern nur durch seine korrupten Leidenschaften motiviert sein kann. Pascals ‚Pensées‘ sind größtenteils in sehr knapper, aphoristischer Form geschrieben; er strebte einen Stil an, der so zugänglich sein sollte, dass der Leser glauben möchte, er würde selbst an sich die Gedanken erfahren, die er gerade las. Obwohl Pascal gegen Ende seines Lebens sagte, dass er seine mathematischen Unternehmungen als etwas ganz Anderes betrachte als seine religiösen Schriften, findet sich doch in beiden eine gemeinsame Erkenntnislehre, zusammen mit einer wissenschaftlichen Perspektive, die Pascal als den philosophischen Alternativen seiner Zeit als überlegen ansah. Siehe auch: Entscheidung und Spieltheorie IAN MACLEAN
Passmore, John Arthur (1914–)
John Passmore wurde in New South Wales geboren und studierte an der Universität von Sydney. Er lehrte dort auch, bevor er nach Otago in Neu Seeland umzog, und später an der Australian National University. Wahrscheinlich wurde er am bekanntesten für sein Buch ‚A Hundred Years of Philosophy‘, das als ein Meisterstück moderner Philosophiegeschichtsschreibung angesehen wird. Passmore schreibt hier eine Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts mit einem Schwerpunkt auf der Erkenntnistheorie und der Metaphysik, sowie weiteren hervorragenden Darstellungen zur modernen Sprachphilosophie, der Wittgensteinschen Lehre, dem logischen Positivismus, der modernen Wissenschaftstheorie, und zu einer Vielzahl weiterer einzelner Autoren vor allem der angloamerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Passmore hat zahlreiche weitere Beiträge zur Philosophiegeschichte, der Erziehungsphilosophie, der Wissenschaftsphilosophie und der Umweltphilosophie veröffentlicht. Er ist ferner einer der Pioniere dessen, was heute als ‚Angewandte Philosophie‘ (engl.: applied philosophy) bezeichnet wird. FRANK JACKSON
Paternalismus
Die Beschränkung der Handlungsfreiheit von Menschen wird als paternalistisch bezeichnet, wenn behauptet wird, diese Beschränkung sei zum Besten derjenigen, deren Freiheit gegen ihren Willen dadurch eingeschränkt wird. Das Argument zur Verteidigung des Paternalismus lautet, dass es keinen Grund gibt, wenn man Menschen davor bewahren kann, sich selbst Schaden zuzufügen, dies nicht zu tun. Die meisten Varianten des ethischen Liberalismus neigen zum Widerspruch gegen den Paternalismus. Ein Argument dagegen lautet, dass die praktische Erlaubnis des Paternalismus mehr Schaden anrichten würde als Gutes tun, jedenfalls auf lange Sicht gesehen, oder doch zumindest weniger Gutes, als eine strikte Weigerung zur Anerkennung des Paternalismus bewirken würde. Ein weiteres Argument dagegen beruft sich auf das Recht zur Autonomie, das der Paternalismus offenbar verletzt, egal ob seine Konsequenzen insgesamt gut oder unerwünscht sind. Ein Eintreten für den Paternalismus kann ‚hart‘ oder ‚nachgiebig‘ sein. Der nachgiebige Paternalismus ist die Lehre, dass der Paternalismus nur dann zu rechtfertigen ist, wenn die individuelle Handlung, die eingeschränkt wird, nicht auf eine wesentlich freiwillige Art und Weise zustande kam. Siehe auch: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Zustimmung; Freiheit; Liberalismus RICHARD ARNESON 1353
Patristische Philosophie
Patristische Philosophie
Die frühen christlichen Autoren verwendeten in ihren Schriften eine Terminologie und Ideen, die sie aus der griechisch-römischen philosophischen Literatur bezogen, und einige frühe Christen ließen sich auch auf eine etwas formalere philosophische Reflexion ein. Der Ausdruck ‚Patristische Philosophie‘ erfasst alle diese Tätigkeiten auf Seiten der ‚Väter‘ (lat.: patres) der christlichen Kirche. Die Literatur des im Entstehen begriffenen Christentums enthält daher viele Begriffe, die aus der griechisch-römischen Philosophie stammen, und dieser frühe Gebrauch der klassischen Ideen durch herausragende Christen wurde zur Quelle maßgeblicher Autorität für die nachfolgenden philosophischen Diskussionen und die weitere Ausarbeitung dieser Gedanken. Die frühen Christen fühlten sich von der Philosophie aus vielen Gründen angezogen. Die Philosophie nahm einen überragenden Platz in der Kultur des späten Hellenismus und der römischen Welt ein. Ihre Schulen leisten die Ausbildung im logischen Denken und in der systematischen Darstellung des Kosmos, und sie gaben die Richtungen an, wie man ein gutes und glückliches Leben zu führen habe. Während philosophische Bewegungen dieser Epoche wie der Neuplatonismus oder der Stoizismus weit auseinander gehende Lehren vertraten, lieferten doch die meisten von ihnen Darstellungen der Wirklichkeit, die auch eine Beschreibung des Göttlichen enthielten. Diese rational formulierten Darstellungen legten die Fundamente für den theologischen und ethischen Diskurs der griechisch-römischen Kultur und pflegten sie. Auf diese Weise hatte die antike Philosophie eine natürliche Nähe zu den hellenistisch-jüdischen und den frühchristlichen Denkern. Sie lieferte eine taugliche Sprache, in der man Ideen über Gott der antiken hebräischen Schriften formulieren und weiter entwickeln konnte, was z.B. auch zur Ausarbeitung der spezifisch christlichen Gottesvorstellung der Dreifaltigkeit führte. Ferner half dieser Kontext dabei, begriffliche Kohärenz in die Ideen zu bringen, die in den heiligen Schriften beider Religionen vorgefunden wurden. Und schließlich fand auf dieser Grundlage ein allgemeiner intellektueller Diskurs statt, den diese aufstrebenden Gemeinschaften benötigten, um ihre zentralen Überzeugungen der Mehrheitskultur des Römischen Reichs vorstellen zu können. In sehr großem Umfange bedeutete der Ausdruck ‚Philosophie‘ für die antiken Menschen die Beschreibung von Lebensformen, und erst darüber hinaus war sie eine intellektuelle Disziplin. Auch dies lenkte die frühen Christen zu den Lehren der Philosophen hin. Während es bei den größeren Schulen spezifische Verhaltenslehren und -vorschriften gab, neigten die Philosophen im Allgemeinen dazu, ein ethisch reflektierendes und üblicherweise ziemlich asketisches Leben zu befürworten, und überdies eines, dass die intellektuelle mit einer moralischen Disziplin verband. Diese ethische Enthaltsamkeit wurde durch die frühen Christen als ein verbindendes Phänomen innerhalb der griechisch-römischen Kultur gepriesen, auf das sie sich in Debatten über den Charakter ihrer eigenen, neuen Bewegung berufen konnten. Die stillschweigende Bestätigung, die die Philosophie der christlichen Bewegung zollte, hatte daher viele Facetten, und während man sie unter den frühen Christen manchmal für etwas hielt, was auf unakzeptable Weise mit heidnischen religiösen Kulturen assoziiert sei, versorgte die Philosophie doch einige gebildete Christen mit einer subtilen sozialen Sicherheit für ihr eigenes, neues Leben und die dahinter stehenden Glaubensüberzeugungen. 1354
Patristische Philosophie
Hier muss angemerkt werden, dass das antike Christentum selbst eine durchaus komplexe Bewegung war. Wie die griechisch-römische Philosophie, schloss das Christentum auch ein breites Spektrum an Überzeugungen und Praktiken ein. Daher unterstützten solche frühen Christen, die ihre Überzeugungen unter Verweis auf die Philosophie entwickelten, eine weite Palette metaphysischer und ethischer Lehren, die vom Materialismus bis zum extremen Transzendentalismus reichten, vom Asketizismus bis hin zu einem spirituellen Libertinismus. Obwohl also hier eine Vielfalt deutlich wird, ist es doch auch wahr, dass die christliche Bewegung schließlich eine Art von Kernmenge zentraler Überzeugungen und einige frühe Formen gemeinschaftlicher Organisation entwickelten, die mit diesen Überzeugungen zusammenhingen. Diese schon bald einsetzende ‚Orthodoxie‘ bevorzugte eine bestimmte Art des Philosophierens, wie sie sich vor allem im Platonismus zeigte, weil sie am besten zu ihrem theologischen Programm zu passen schien. Diese stillschweigende Allianz mit dem Platonismus war mit allerhand Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten belastet, und es handelte sich dabei niemals um eine gegenseitige Partnerschaft. Gleichwohl entstand im 2. und 3. Jahrhundert eine Art von christlicher philosophischer Theologie, die der (neu)platonischen Schule viel verdankte und zunehmende Dominanz unter den orthodoxen christlichen Autoren erlangte. Dieser Weg war es, der die Eigenart der patristischen Philosophie kennzeichnet. Das frühe christliche Denken hatte seine Ursprünge im hellenistischen Judaismus, und sein anfänglicher Charakter war durch die dominanten kulturellen Muster dieser Tradition definiert. Diese frühe Phase erstreckte sich bis in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts, als das Christentum mit der Formulierung seiner spezifischen Themen begann, die mit dem Wesen und der historischen Mission von Jesus Christus zusammenhingen. Durch das gesamte 2. Jahrhundert wurde die noch junge Christenheit immer mehr zu einer Bewegung, die sich vor allem aus heidnischen Konvertiten zusammensetzte. Einige dieser neuen Mitglieder hatten Ausbildungen erhalten, die auch die Philosophie umfasste, und einige wenige waren sogar regelrecht ausgebildete Philosophen. So entwickelte das Christentum einen sich noch steigernden Kontakt mit den griechisch-römischen philosophischen Schulen; dies war ein Trend, der zweifellos bestärkt wurde durch das starke Bedürfnis der Christen – einer verbotenen religiösen Minderheit – nach einer Verteidigung ihrer Theologie, rituellen Praxis und Ethik angesichts einer kulturell und gesetzlich feindseligen Umgebung. Dieses so genannte ‚Zeitalter der Apologeten‘ dauerte das ganze 2. und 3. Jahrhundert hindurch, d.h. bis den Christen im frühen 4. Jahrhundert zum ersten Male eine gewisse Toleranz entgegengebracht wurde. Es wäre jedoch ein Irrtum, das christliche philosophische Denken in dieser Epoche als etwas zu betrachten, dass vorrangig auf die umgebende heidnische Kultur gerichtet gewesen sei. In vieler Hinsicht bot sich die Philosophie im Sinnes eines intellektuellen Diskurses der griechisch-römischen Kultur den zum Christentum konvertierten Heiden als ein Mittel zur Klärung, zur Artikulation und zur Anpassung der Einstellungen ihres neuen Glaubens an. Dieser Prozess der intellektuellen Aneignung ist für viele griechischrömische Konvertiten offenbar persönlich sehr wichtig gewesen. Die christliche philosophische Theologie half ihnen dabei, Ideen zu übernehmen, die ihnen aus ihrer Ausbildung vertraut waren, und sich andererseits mit großer Strenge von Begriffen zu distanzieren, die innerhalb der griechisch-römischen Kultur verteidigt worden waren. 1355
Peirce, Charles Sanders (1839–1914)
Nachdem das Christentum als Religion im 4. Jahrhundert öffentlich zugelassen war, weitete sich die philosophische Tätigkeit unter den Christen noch aus. Die Aufgabe einer theologischen Selbstfindung wurde immer bedeutsamer in dem Umfange, wie die Christenheit im 4. und 5. Jahrhundert durch kaiserliche Unterstützung bis hin zur Mehrheitsreligion innerhalb des Reichs anwuchs. In dieser späten Epoche weitete sich der intellektuelle Horizont des christlichen Denkens aus, und die Raffinesse ihres Denkens nahm bedeutend zu, doch auch dies teilweise infolge des heidnischen Neuplatonismus, einer Bewegung, zu der einige der geschultesten aktiven Philosophen seit der klassischen Periode von Platon und Aristoteles zählten. Die spätere patristische Philosophie hatte über solche Figuren wie Augustinus und Dionysius der Pseudo-Areopagita schließlich einen entscheidenden Einfluss auf das mittelalterliche christliche Denken, indem es sowohl die begrifflichen Fundamente, als auch die Schriftautorität für die Scholastik des lateinischen Westens und des griechischen Ostens lieferte. Siehe auch: Augustinus; Boethius, A.M.S.; Gnostizismus; Manichäismus; Neuplatonismus; Origines; Pelagianismus; Tertullian, Q.S.F. JOHN PETER KENNEY
Peirce, Charles Sanders (1839–1914)
Peirce war ein amerikanischer Philosoph, der vor allem als der Begründer des Pragmatismus und für seinen Einfluss auf spätere Pragmatisten wie z.B. William James und John Dewey bekannt wurde. Persönliche und berufliche Schwierigkeiten gingen bei ihm zusammen mit Versuchen zur Veröffentlichung einer Darstellung seiner philosophischen Position als Ganzer. Doch in dem Umfange, wie seine Texte zugänglicher wurden, stellte sich heraus, dass er ein Denker war, der in einem deutlich weiteren Horizont gearbeitet hatte und deshalb wichtiger war, als seine damalige Reputation vermuten ließ. Er behauptete, dass sein Pragmatismus die philosophische Perspektive eines Experimentaltheoretikers sei, d.h. von jemandem, der Erfahrung in der Laborarbeit habe. Seine Darstellung der Naturwissenschaft war eine leidenschaftlich antikartesianische: Descartes kritisierte er für seinen unrealistisch anspruchsvollen Zweifel, sowie dafür, dass er sich für einen individualistischen Erkenntnisansatz entschieden habe, der mit der wissenschaftlichen Praxis unvereinbar sei. Forschung sei eine kooperative Tätigkeit, bei der fehlbare Forscher in Richtung der Wahrheit fortschreiten und dabei wirkliche Zweifel durch gefestigte Überzeugungen ersetzen, die später wieder überarbeitet werden können. In seinem Buch ‚Die Festigung der Überzeugung‘ (1877) vergleicht er unterschiedliche Methoden zur Durchführung von Forschungsvorhaben und tritt dafür ein, dass nur die ‚Methode der Wissenschaft‘ ihrer selbst bewusst gewählt werden kann. Diese Methode beruhe auf der ‚realistischen‘ Annahme, dass es wirkliche Gegenstände gebe, die unabhängig von uns existieren, und deren Natur von uns entdeckt wird, wenn wir sie nur lange und gut genug untersuchen. Peirces sog. ‚pragmatistisches Prinzip‘ ist eine Regel zur Klärung von Begriffen und Hypothesen, die die wissenschaftliche Untersuchung leiten. Im Geiste der Arbeit im Labor können wir vollständig den Inhalt einer Hypothese klären, wenn wir auf jener Konsequenzen unserer Erfahrung hören, die wir aus unseren Handlungen erwarten, sofern diese Hypothesen wahr sind: wenn ein Gegenstand zerbrechlich ist und wir ihn fallen lassen, dann werden wir ihn wahrscheinlich zerbrechen sehen. 1356
Peirce, Charles Sanders (1839–1914)
Wenn dies stimmt, sind Aussagen einer apriorischen Metaphysik bedeutungslos. Peirce wandte sein Prinzip zur Erklärung der Wahrheit auch auf die Übereinstimmung verantwortlich handelnder Untersuchender an: eine Aussage ist wahr, wenn sie schließlich durch jeden akzeptiert wird, der an der Untersuchung beteiligt war. Seine detaillierten Forschungen zum induktiven Schließen und zum statistischen Schluss versuchten zu erklären, wie diese Meinungskonvergenz erreicht wird. In Zusammenschau mit seinen wichtigen Beiträgen zur formalen Logik und seinen Grundlagenarbeiten zur Mathematik ermutigte dieser Verifikationismus frühe Leser zu einer Interpretation von Peirces Werk als einer Antizipation des logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts. Diese Interpretation drängt sich auch deshalb auf, weil er seine Logik auf einer systematischen Darstellung der Bedeutung und der Referenz aufzubauen versuchte. Vieles von dieser sehr originellen Arbeit betraf die Semiotik, d.h. die allgemeine Zeichentheorie, die einen neuen Rahmen für das Verständnis der Sprache, des Denkens und aller anderen Arten der Repräsentation darstellte. Peirce hoffte zeigen zu können, dass sich seine Ansichten über die Wissenschaft, die Wahrheit und den Pragmatismus allesamt aus seiner Semiotik ergeben würden. Zweifel an der positivistischen Lesart stellen sich jedoch ein, wenn wir sein Beharren darauf bedenken, dass der Pragmatismus nur demjenigen plausibel werden könne, der eine ganz bestimmte Form des metaphysischen Realismus akzeptiere. Und seine späteren Versuche zur Verteidigung seiner Auffassungen über die Wissenschaft und die Bedeutung im Allgemeinen bringen Ansichten an die Oberfläche, die für einen antimetaphysischen Empiristen inakzeptabel wären. Von Anfang an war Peirce ein systematischer Philosoph, dessen logisches Werk den Versuch unternahm, Kants philosophische Vision zu korrigieren und weiterzuentwickeln. Wenn dessen Ansichten in eine systematische Ordnung gebracht würden, meinte er, so würden sich Positionen zeigen, die seinen eigenen Bemühungen um die Logik zugrunde lägen. Dies schlösse die Theorie der Kategorien ein, die lange die Grundlage von Peirce Arbeit über die Zeichen war: alle Elemente der Wirklichkeit, des Denkens und der Erfahrung können innerhalb eines einfachen, monadischen Phänomens sowie in dyadischen und triadischen Beziehungen klassifiziert werden. Peirce nannte diese die ‚Erstheit‘, die ‚Zweitheit‘ und die ‚Drittheit‘. Er sprach von ihnen auch als die Qualität, die Reaktion und die Vermittlung und insistierte darauf, dass der Irrtum der unterschiedlichen Formen des Empirismus und des Nominalismus in der Leugnung bestünde, dass diese Vermittlung (oder der ‚Drittheit‘) ein irreduzibler Bestandteil unserer Erfahrung sei. In seinem sog. ‚Synechismus‘ bestand Peirces ferner auf der Wichtigkeit von Hypothesen über das Kontinuum für die Philosophie und die Naturwissenschaften. Dieses Kontinuum bezeichnete er als die ‚äußerste Vermittlung‘. Diese Betonung der Kontinua im Denken und der Natur wird als die Grundlage seines Realismus aufgefasst. Darüber hinaus konzentrierte sich seine erkenntnistheoretische Arbeit immer mehr auf die Voraussetzung der rationalen Selbstkontrolle, denn unsere Fähigkeit zur Kontrolle von Untersuchungen im Einklang mit Normen, deren Gültigkeit wir anerkennen können, hängt von dieser Fähigkeit ab. Dies wiederum erforderte eine Theorie der Normen, die unsere Bindung an die Wahrheitssuche erklären würde, und die damit die Einzelheiten eines solchen Begriffs liefern könnte. Nach 1900 begann Peirce mit der Entwicklung einer solchen Darstellung und behauptete, die Logik müsse auf der Ethik und der Ästhetik gründen. 1357
Pelagianismus
Obwohl der Pragmatismus die apriorische Spekulation über das Wesen der Wirklichkeit beseitigte, musste er damit noch nicht die Metaphysik insgesamt ausschließen, die von den wissenschaftlichen Methoden vorausgesetzt wird. Von 1880 an hielt Peirce nach einem System der wissenschaftlichen Metaphysik Ausschau, das die bedeutenden Lücken in seiner Verteidigung der wissenschaftlichen Methodik zu füllen sollte. Dies führte ihn zur Entwicklung einer evolutionären Kosmologie, d.h. einer Darstellung, wie die der existierenden Gegenstände und wissenschaftlichen Gesetze sich mittels eines evolutionären Prozesses aus einem Chaos an Möglichkeiten heraus entwickelte. Sein ‚Tychismus‘ bestand darauf, dass der Zufall ein nicht auszumerzender Bestandteil der Wirklichkeit sei, doch wandte er ebenfalls ein, dass das Universum über die Zeit hinweg immer mehr durch Gesetze und Gewohnheiten geleitet würde. Indem er sowohl den Physikalismus, als auch den Dualismus zurückwies, verteidigte er etwas, was er eine Art von ‚Objektivem Idealismus‘ nannte: die Materie sei demnach eine Form von ‚erschöpftem Geist‘. Siehe auch: Empirismus; Hegelianismus; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Pragmatismus; Semiotik; Skeptizismus; Wahrheit, Pragmatische Theorie der; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus; Zweifel CHRISTOPHER HOOKWAY
Pelagianismus
Pelagius, ein christlicher Laie, lebte um das Jahr 400. Die These, die hauptsächlich mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird, lautet, dass (1) es im eigenen Ermessen der Menschen steht, die Sünde zu vermeiden und das richtige Leben zu erreichen. Kritiker wandten hiergegen ein, dass dies die Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes schmälere. Pelagius bestritt nicht, dass die Kraft zur Vermeidung der Sünde selbst ein Geschenk Gottes sei und damit eine ermöglichende Gnade, d.h. eine göttliche Hilfe zum richtigen Gebrauch dieser Kraft, oder zumindest zur Bestätigung, dass (2) eine solche Hilfe eine Belohnung für die menschliche Bemühung sei und damit selbst kein Gnadenakt. Spätere Denker, die meinten, dass Gottes Hilfe, auch wenn sie keine Belohnung sei, doch nur denjenigen zuteil werde, die sich darum bemühen, wurden daraufhin beschuldigt, sie würden behaupten, (3) es gäbe keinen Bedarf an einer vorauseilenden Gnade zur Bewirkung der vorgenannten Bemühung. Der Pelagianismus ist also eine Tendenz zur Vergrößerung der menschlichen Fähigkeiten; seine Anhänger sahen dies als eine beängstigende Herausforderung der Menschen an, seine Gegner als eine Beleidigung Gottes. Es war jedoch schwer, ohne den Pelagianismus den freien Willen zu verorten, und mit ihm war es schwierig, die Erbsünde zu vertreten. Siehe auch: Prädestination; Sünde CHRISTOPHER KIRWAN
Performative Sprechakte
Es gibt gewisse Dinge, die man einfach dadurch tun kann, dass man sagt, was man tut. Dies ist möglich, wenn jemand ein Verb verwendet, das genau diese Art von Handeln, das man gerade vornimmt, bezeichnet. Daher kann sich beispielsweise jemand bedanken, indem er sagt: ‚Ich danke dir‘, oder jemanden kündigen, indem er sagt: ‚Ich kündige Ihnen hiermit‘, oder sich entschuldigen, indem er sagt: ‚Ich entschuldige mich hiermit‘. Dies alles sind Beispiele ‚ausdrücklich performativer Äußerungen‘, d.h. von Feststellungen der Form nach, aber nicht der Tatsache nach. So 1358
Personale Identität
jedenfalls dachte sich dies ihr Entdecker, J.L. Austin, der sie den sog. ‚Konstativen‘ gegenüberstellt. Ihr typisch selbstreferentieller Charakter legt nahe, dass ihre Kraft einer speziellen Erklärung bedarf. Es lässt sich jedoch vertreten, dass die Performativität von Sätzen sich auch durch die allgemeine Theorie der Sprechakte erklären lässt. Dies ist der Inhalt von Austins sog. ‚Theorie der Sprechakte‘. Siehe auch: Austin, J.L.; Searle, J.; Sprechakte KENT BACH
Perlukutionäre Akte
Siehe: Pragmatik; Sprechakte
Persische Philosophie
Siehe: Al–Ghazali, Abu Hamid
Personale Identität Einführung Was bedeutet es bei jemandem, heute die gleiche Person zu sein, die er oder sie in der Vergangenheit war oder in der Zukunft sein wird? Wie beschreiben wir Fälle, bei denen aus einer Person sozusagen zwei werden? Was, wenn überhaupt, sagen uns die Antworten auf solche Fragen über die Rationalität des Gewichts aus, die wir der personalen Identität beimessen? Dient uns die Identität wirklich als Rechtfertigung für die besondere Bedeutung, die wir unserem zukünftigen Selbst beimessen? Diese Dinge sollen hier diskutiert werden. Um die Frage nach den Bedingungen einer Fortdauer von Personen zu beantworten, seien uns einige Gedankenexperimente erlaubt. Nur auf diese Weise können wir die einzelnen Teile auseinanderlegen, die unseren Begriff der personalen Identität zusammensetzen. Nur so können wir die relative Bedeutung einer jeden einzelnen Komponente bewerten. Es gibt plausible Argumente gegen die Versuche, das Beziehungsgeflecht der personalen Identität grundlegend durch die physischen Beziehungen des gleichen Körpers oder des gleichen Gehirns bestimmt zu sehen. Ich kann mit einem neuen Körper, aber auch mit einem neuen Gehirn überleben. Es folgt aber daraus nicht und ist auch nicht wahr, dass die Identität einer Person über die Zeit hinweg ausschließlich im Sinne psychologischer Beziehungen (der Erinnerung, des Glaubens, des Charakters etc.) analysiert werden kann. Im Gegenteil, die plausibelste Sicht erscheint die einer gemischten Sichtweise, nach der die personale Identität unter Bedingungen, die sowohl physische wie psychologische Beziehungen beinhalten, verstanden werden muss. Dies ist die Ansicht, die aus unserem Grundverständnis allgemeingültiger Ansichten der personalen Identität, das im Übrigen minimal strittig ist, abgeleitet werden kann. Die Möglichkeit der Spaltung von Personen – die Möglichkeit, dass zum Beispiel die Hirnhälften einer Person geteilt und in zwei neue Körper transplantiert würden – zeigt, dass die gemischte Anschauung in ihrer Analyse eine nicht verzweigte oder eine sog. Eindeutigkeitsklausel beinhalten muss. Der Begriff der personalen Identität ist im Gegensatz zu dem, was wir auf erstes Ansehen zu glauben geneigt sind, ein extrinsischer Begriff, d.h. ob eine angenommene Person existiert, kann von der Existenz einer anderen Person abhängen, die ursächlich zu ihr in keiner Beziehung steht.
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Personale Identität
Einige Philosophen haben kürzlich versucht, eine wichtige Beziehung zwischen den Theorien der personalen Identität und der Wertetheorie (Ethik und Rationalität) zu konstruieren. Die Möglichkeit einer solchen Beziehung ist bisher noch nicht in ihre Einzelheiten erforscht worden. Es wurde vorgetragen, dass es bei einer korrekten Theorie der personalen Identität nicht auf die Identität ankomme, sondern auf den Erhalt psychologischer Beziehungen, wie z.B. die Erinnerung und den Charakter. Diese Beziehungen können zwischen einer früheren Person und zwei oder mehreren späteren Personen gelten. Sie können ebenso für variierende Ordnungsgrade gelten (z.B. kann sich mein Charakter über die Jahre hinweg mit stärkeren oder schwächeren Unterschieden entwickeln). Diese Ansicht hat z.B. Auswirkungen auf gewisse Theorien der Bestrafung. Ein nunmehr geläuterter Krimineller kann weniger oder keine Bestrafung für die Verbrechen verdienen, die sein früheres kriminelles Ich verdient hat. Diskussionen über die personale Identität haben überdies eine neue Perspektive zur Debatte zwischen den Vertretern des Utilitarismus und seinen Kritikern beigetragen. 1. Kriterien der personalen Identität 2. Physisches Kriterium 3. Psychologische und gemischte Kriterien 4. Spaltung von Personen 5. Spaltung von Personen (Fortsetzung) 6. Die Wertetheorie 1. Kriterien der personalen Identität Was bedeutet es, eine Person zu sein? Was bedeutet es für eine Person, zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer Person zu einem späteren Zeitpunkt identisch zu sein? Obwohl die beiden Fragen offensichtlich miteinander in Bezug stehen, gilt meine Aufmerksamkeit in dieser Einführung mehr der zweiten Frage (Nähere Einzelheiten zur ersten Frage, siehe Personen; Geistes, Bündeltheorie des). Dennoch setze ich zunächst voraus, was es bedeutet eine Person zu sein: Eine Person ist ein rationales und selbstbewusstes Wesen mit einem (mehr oder weniger) einheitlichen geistigen Leben. In der Tat gibt es jedoch Fälle – multiple Persönlichkeit, Spaltungsbewusstsein etc. –, in denen der augenscheinliche Mangel einer mentalen Einheit Zweifel daran weckt, ob eine einzelne Person einen vorgegebenen Körper einnimmt. Aber solche Fälle sind die Ausnahme. Eine normale Person ist ein geistig einheitliches Individuum. Die zentrale Frage der personalen Identität ist die Frage danach, in welcher Weise sich die Arten der Veränderungen, die wir als geistig-einheitliche Individuen überleben können, von denen unterscheiden, die unseren Tod ausmachen. Gemäß einer sehr allgemeinen Ansicht, die mit Platon, Descartes und der christlichen Tradition assoziiert wird, kann eine Person ihren leiblichen Tod überleben. Der leibliche Tod ist danach nicht die Art der Veränderung, die den persönlichen Tod ausmacht. Nach dieser Ansicht ist eine Person eine immaterielle, das heißt nicht räumliche Seele, die nur zufällig einem physischen Körper beigefügt ist (siehe Seele, natur und unsterblichkeit). Diese Anschauung hat heutzutage wenige philosophische Anhänger. Sie ist mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen
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Personale Identität
Schwierigkeiten beladen: Wie kann beispielsweise eine immaterielle Seele mit einer materiellen Welt in Wechselwirkung eintreten? Wie kann ich wissen, dass du eine Seele hast? Im Folgenden gehe ich ohne weitere Argumente davon aus, dass unsere fortdauernde Existenz nicht die fortdauernde Existenz einer immateriellen Seele ist. Ich muss nicht leugnen, dass es in einigen anderen möglichen Welten Personen geben mag, die immaterielle Seelen sind; unsere Welt ist hingegen nicht eine solche. Unser Interesse gilt hier den Bedingungen einer Identität von aktuellen, menschlichen Personen über die Zeit hinweg. Haben wir erst einmal die immaterialistische Anschauung von uns selbst aufgegeben, können wir folgendes sagen: Eine Person ist eine psychische Entität, die im Wesentlichen physisch verkörpert ist. Eine Person (z.B. ein typisches, erwachsenes Wesen) besteht aus einem biologischen Organismus (einem menschlichen Körper) mit einem Kontrollzentrum (dem Gehirn), das das geistige Leben unterstützt. Personen sind notwendig geistiger Natur und ebenfalls notwendig physisch verkörpert. Jedoch ist dies nicht das Ende der schwierigen Frage nach der personalen Identität; dies ist erst ihr Anfang. Wenn wir urteilen, dass ein genau jetzt vor uns stehender Freund identisch ist mit dem Freund, den wir gestern sahen, erfolgt dieses Urteil unter optimalen Bedingungen. In solch einem Fall steht unser Freund heute physisch in seiner kontinuierlichen Folgebeziehung mit unserem Freund gestern (sie haben genau den gleichen Körper und das gleiche Gehirn). Unser Freund heute steht aber auch psychologisch in einer kontinuierlichen Folgebeziehung mit unserem Freund gestern (sie haben praktisch und mit nur geringfügigen Unterschieden die gleichen Überzeugungen, Charaktermerkmale, Wünsche, Erinnerungen usw.). In diesem Fall ist unser Identitätsurteil aufgrund des Erhalts sowohl der physischen als auch der psychologischen gegebenen Fortdauer (Kontinuität) wahr. Die schwierige Frage nach der personalen Identität ist die: Welches Kontinuum – wenn überhaupt – ist für unser Konzept einer personalen Identität wichtiger oder zentraler? Offensichtlich werden uns unsere Überlegungen über das gerade beschriebene Paradigma allein nicht weiterhelfen, diese Frage zu beantworten. Wir müssen Gedankenexperimente anstellen, um herauszufinden, an welcher Stelle die Kontinuitäten auseinanderfallen. Es gibt im Großen und Ganzen drei Darstellungen oder Kriterien der personalen Identität über die Zeit: Das physische Kriterium, das psychologische Kriterium und das gemischte Kriterium. Diese Kriterien geben allerdings nicht nur allgemein vor, wie man sagen oder herausfinden kann, wer jemand ist. Sie besagen darüber hinaus auch, wie man die Identität von Personen über einen Zeitraum hinweg genauer spezifizieren kann, und worin sie besteht: Was bedeutet es, die gleiche Person über die Zeit hinweg zu sein? Nach dem physischen Kriterium besteht die Identität einer Person durch die Zeit darin, einige Beziehungen der physischen Kontinuität (typischerweise entweder die körperliche Kontinuität oder die des Gehirns) beizubehalten. Nach dieser Anschauung bedeutet die gleiche Person zu sein auch, der gleiche lebende, biologische Gegenstand zu sein, sei es als Körper oder als Gehirn. Gemäß den psychologischen Kriterien besteht die Identität einer Person über die Zeit hinweg in Gestalt ihrer psychologisch kontinuierlichen Beziehungen, d.h. der überlappende Erinnerungsketten, zusammen mit der Beibehaltung anderer psychologischer Merkmale, also feststehende Überzeugungsinhalte, Charakter, grundlegende Wünsche usw. Das psychologische Kriterium spaltet sich in eine engere und eine weiter gefasste Lesart. Gemäß der engeren Lesart muss ein normaler Grund für 1361
Personale Identität
ein psychologisches Kontinuum vorliegen, also die fortdauernde biologische Existenz des eigenen Gehirns, wenn die personale Identität aufrechterhalten bleiben soll. Gemäß der weiter gefassten Lesart würden alle Arten von Anlässen ausreichen, also normale und auch nicht normale. Variationen der weiteren und engeren Lesarten unterscheiden sich in Bezug darauf, ob irgendeine psychologische Beziehung in Bezug auf den Erhalt der Identität zu bevorzugen ist. (Zum Beispiel meint Locke in seinem Werk ‚An Essay Concerning Human Understanding‘, dass die Erinnerung eine solche bevorzugte Beziehung sei). Jedes der physischen und psychologischen Kriterien spaltet sich in viele verschiedene Varianten auf. Die spezifische Behauptung der gemischten Kriterien lautet allerdings, dass keine Fassung weder der physischen, noch der psychologischen Kriterien, für sich allein genommen, korrekt ist. Die beste Darstellung der Identität einer Person über die Zeit wird Bezug auf beide nehmen müssen, d.h. sowohl auf die physischen, als auch auf die psychologischen Kontinuitäten. Ich werde nachfolgend verschiedene Varianten sowohl der physischen als auch der psychologischen Kriterien detaillierter untersuchen. Meine Schlussfolgerung hieraus wird sein, dass gegen alle gängigen Versionen dieser Kriterien Einwände vorgebracht werden können, und dass wir die gemischten Kriterien akzeptieren sollten. Die gemischten Kriterien geben am besten unsere grundlegenden Ansichten über die personale Identität wieder; sie sind überdies minimal strittig. Wir beginnen mit dem physischen Kriterium. Wie bereits erwähnt, teilt sich dieses Kriterium in zwei Maßstäbe: das körperliche und das zerebrale. 2. Physisches Kriterium Physische Kriterien: das körperliche Kriterium. Geht man von den körperlichen Kriterien aus, so ist die Person A zur Zeit t1 ausschließlich dann identisch mit Person B zur Zeit t2, wenn A und B den gleichen Körper haben (das heißt, sie stehen in einem körperlich kontinuierlichen Zusammenhang). Man beachte, dass man davon ausgehen kann, dass A und B wirklich den gleichen Körper haben, obwohl der betreffende Körper zum späteren Zeitpunkt nicht einmal inhaltlich etwas mit dem Körper zum früheren Zeitpunkt gemein haben muss (siehe Fortbestehende Dinge). In einem solchen Fall muss jedoch der Ersatz der Substanz schrittweise erfolgen, und die neue Substanz muss funktional in den lebenden Körper integriert sein. So funktioniert dies zumindest im Leben eines normalen menschlichen Wesens. Das körperliche Kriterium steht im Einklang mit den meisten unserer alltäglichen Meinungen zur personalen Identität. Dennoch gibt es logische mögliche Fälle, in denen die Loslösung von dem körperlichen Kriterium in Konflikt mit unseren Vorannahmen gerät. Der besondere Fall, den ich hier im Sinn habe, ist derjenige einer Hirntransplantation. Solche Transplantate sind zwar gegenwärtig technisch unmöglich. Dies ist aber nicht von Belang. Die Spekulationen der Philosophen sind nicht notwendig darauf beschränkt, was technisch möglich ist. Sydney Shoemaker war der Erste, der solche Fälle in die philosophische Literatur eingeführt hat. In seinem Werk ‚Self-Knowledge and Self-Identity‘ schreibt er: „Es ist nun möglich, gewisse Organe zu transplantieren […]; es ist zumindest denkbar […], dass ein menschlicher Körper seine normalen Funktionen fortsetzen kann, auch wenn sein Gehirn durch ein anderes ersetzt wurde, das einem anderen menschlichen Körper entnommen wurde …. Zwei Männer, ein Herr Müller und ein 1362
Personale Identität
Herr Schmidt, werden beispielsweise wegen eines Hirntumors operiert, und bei beiden wurden Hirnextraktionen vorgenommen. Am Ende der Operation jedoch setzte der Assistent versehentlich Müllers Gehirn in Schmidts Kopf und Schmidts Gehirn in Müllers Kopf. Einer der beiden Männer stirbt unmittelbar nach der Operation, der andere jedoch, und zwar derjenige mit Müllers Kopf und Schmidts Gehirn, erlangte allmählich sein Bewusstsein wieder. Lassen Sie uns den letzteren ‚Schmüller‘ nennen .… Nach seinem Namen gefragt, antwortet er automatisch ‚Schmidt‘. Er erkennt Schmidts Frau und Familie … und ist in der Lage, detaillierte Ereignisse aus Schmidts Leben zu beschreiben […] Von Müllers Leben hat er dagegen nicht die geringste Kenntnis.“ Wir können zudem annehmen, dass Müller und Schmidt physisch einander sehr ähnlich sind, und dass ihre Körper auch zur Realisierung bestimmter Neigungen oder Fähigkeiten ähnlich geeignet sind (zum Beispiel Klavierspielen oder Segelfliegen). Die Beschreibung dieses Falles, der allgemein als Gedankenexperiment gebilligt wurde, bedeutet, dass Schmidt dieselbe Person ist wie Müller. Im Grunde genommen meint niemand, dass die Beschreibung ‚Müller bekam ein neues Gehirn‘ korrekt sei. Einen neuen Schädel und einen neuen Körper zu bekommen scheint nur ein Grenzfall dessen zu sein, wie man auch ein neues Herz, neue Lungen, neue Beine etc. bekommen kann. Wenn Schmidt die gleiche Person wie Schmiller ist, doch Schmillers Körper nicht derselbe wie Schmidts Körper ist, dann folgt daraus allerdings, dass das körperliche Kriterium falsch ist. Physisches Kriterium: Das Hirn-Kriterium. Im Lichte dieses Beispiels wäre es für einen Verteidiger des physischen Kriteriums selbstverständlich, zum Hirnkriterium überzugehen: A ist in t1 ausschließlich dann dieselbe Person wie B in t2, wenn A und B dasselbe Gehirn besitzen. Ist dies aber ein plausibles Kriterium für die personale Identität? Ich denke nicht. Folgendes Szenarium ist denkbar. Man stelle sich vor, dass die Roboter- und die Gehirnwissenschaft bereits so fortgeschritten sind, dass man imstande ist ein Silikongehirn zu konstruieren, dass dieselbe Art geistigen Lebens ermöglicht wie die, die von einem menschlichen Fleisch- und Blutgehirn geleistet wird. Man stelle sich ebenso vor, dass Teile eines menschlichen Gehirns (möglicherweise ein von Krebs befallener Teil) durch Silikonchips ersetzt werden kann, die die gleichen mentalen Funktionen wie das beschädigte Hirngewebe bewirken. Nehmen wir nun an, dass mein gesamtes Gehirn allmählich von Krebs befallen wird. Sobald die Chirurgen einen krebsbefallenen Teil entdecken, ersetzen sie ihn durch Silikonchips. Mein mentales Leben führe ich fort wie bisher – dieselben Überzeugungsinhalte, Erinnerungen, Charaktereigenschaften usw. sind erhalten geblieben. Schließlich ersetzt der Chirurg mein gesamtes biologisches Gehirn durch ein Silikongehirn. Weil mein mentales Leben, mein physikalisches Erscheinungsbild und meine Fähigkeiten durch diesen Ersatz unbeeinträchtigt sind, haben wir keinerlei Zweifel daran festzustellen, dass ich die Operation überlebt habe. Dieses Verfahren bewahrt die personale Identität. Aber ist diese Beurteilung der personalen Identität vereinbar und übereinstimmend mit dem Hirn-Kriterium? Die Beantwortung dieser Frage beruht darauf, ob mein (späteres) Silikongehirn als identisch mit meinem (früheren) menschlichen Gehirn angesehen werden kann.
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Personale Identität
Wenn es sich um ein biologisches Wesen handelt, so ist es plausibel anzunehmen, dass ähnlich seinem Herzen, Gehirn oder seiner Leber auch das gesamte biologische Wesen ganz und gar biologischer Natur ist. Das bedeutet beispielsweise, dass mein Fleisch- und Blutgehirn nichts anderes als eine biologische Entität sein kann. Diese Wesentlichkeitsthese stimmt mit der Ansicht überein, dass die Funktion jedes gegebenen biologischen Gegenstandes (z.B. ein menschliches Herz) im Prinzip auch von einem nicht-biologischen Gegenstand (beispielsweise einer mechanischen Pumpe) übernommen werden kann. Folglich gebe ich gerne zu, dass mein späteres Silikongehirn in der Tat ein Gehirn ist. Dennoch ist es nicht im Entferntesten plausibel anzunehmen, dass es dasselbe Gehirn ist wie mein früheres menschliches Gehirn. Die Wirkung all der Gewebeentfernungen und biologischen Transplantate in meinem Schädel ist es, das eine Gehirn zu zerstören und es durch ein anderes zu ersetzen. Unser Hirn-Beispiel zeigt, dass die Art von Substanz oder Material, mit der wir Teile eines zuvor entfernten Gegenstandes ersetzen, die Gesamtidentität dieses Objektes beeinträchtigen kann, und zwar auch dann, wenn die Kontinuität von Form oder Funktion erhalten bleibt. Mein (früheres) menschliches Gehirn ist nicht identisch mit meinem (späteren) Silikongehirn. Dennoch überlebte ich die Operation. Daraus folgert, dass das Hirn-Kriterium falsch ist. Nun besteht allerdings in Bezug auf die Überzeugungsfähigkeit des Hirnkriteriums noch eine tiefere Sorge. Warum wenden wir uns überhaupt dem Hirn-Kriterium bei der Beantwortung von Gegenbeispielen für das körperliche Kriterium zu? Geschah dies deshalb, weil das menschliche Gehirn ein drei Pfund schweres, rosa-graues und schwammiges Organ ist, das im menschlichen Schädel ruht? Nein, wir gehen zum Hirnkriterium über, weil das menschliche Gehirn der direkte Träger unseres geistigen Lebens ist. Sicherlich ist es diese den Geist tragende Funktion, wegen der wir geneigt sind, das Gehirn als den Sitz der personalen Identität zu lokalisieren. Folglich sollten wir unsere Identität über die Zeit nicht notwendigerweise mit der fortdauernden Existenz jenes menschlichen Gehirns verknüpft sehen, das wir gegenwärtig haben. Wichtig scheint vielmehr die Tatsache, dass der Strom unseres mentalen Lebens fortwährend durch einen physischen Gegenstand unterstützt wird, nicht dagegen, dass es fortwährend vom gleichen biologischen Organ unterstützt wird. Seit Mitte der 1990er Jahre gab es, angefacht durch Eric Olsons Buch ‚The Human Animal‘ (1997), eine lebhafte Debatte über eine bestimmteLesart des physischen Kriteriums, die als Animalismus bezeichnet wurde. Danach ist jeder von uns mit einem besonderen Tier identisch (in unserem Fall mit der Art ‚menschliches Wesen‘). Folglich sind unsere Identitätsbedingungen genau diejenigen eines menschlichen Wesens. Der Animalismus ist wie alle Varianten des physischen Kriteriums durch Einwände jener Art anfechtbar, wie sie in § 3 erhoben werden. Olson deckt jedoch sehr schön folgende Schwierigkeit für jeden auf, der den Animalismus leugnet: Wenn Ich und das Tier, mit dem ich meine Substanz teile, (nennen wir es ‚A‘) nicht miteinander identisch sind, wie vermeiden wir dann die absurde Schlussfolgerung Einhalt, dass es zwei denkende Wesen bzw. Erfahrungssubjekte gibt, die in meinen Schuhen stecken? Ich und A sind Atom für Atom identisch: Warum sollte ich den Status einer Person haben, während A dieser Status abgesprochen wird? Olson meint, dass auf diese Fragen keine taugliche Antwort möglich ist. Also kann man, 1364
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um diese absurde Schlussfolgerung zu vermeiden, einzig den Animalismus akzeptieren. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es eine der dringlichsten Aufgaben als Ergebnis der laufenden Diskussion über die personale Identität ist, auf Olsons Erörterungen einzugehen. 3. Psychologische und gemischte Kriterien Das Beispiel des künstlichen Gehirns scheint nicht nur das Hirnkriterium, sondern auch die engere Version des psychologischen Kriteriums zu untergraben: Ich überlebe mit einem künstlichen Gehirn, aber die Ursache meiner psychologischen Kontinuität ist anormal. Man könnte nun annehmen, dass die kombinierte Wirkung dieser Schlussfolgerungen darin besteht, uns hinsichtlich einer erweiterten Version des psychologischen Kriteriums voran zu bringen. Es bedarf jedoch weiterer Gedankenexperimente, die möglicherweise die erweiterte Fassung des psychologischen Kriteriums untermauern können. Bernard Williams beschreibt eine fiktive Vorrichtung, die ein Gehirn ausleeren oder löschen kann, nachdem sie alle Informationen, die im Gehirn gespeichert sind, aufgezeichnet hat. Diese Maschine kann sodann diese Informationen auf ein anderes Gehirn übertragen. Sie kann auf diese Weise die psychologische Kontinuität auch in Abwesenheit jeder physischen Kontinuität erhalten. Auch Derek Parfit hat von der Star-Trek-Phantasie der Teleportation Gebrauch gemacht. Hier wird ein physisches und psychologisches Abbild von einer Person erzeugt, die dann schmerzlos zerstört wird. Dieses Abbild wird daraufhin an einen anderen Standort übertragen, wo aus anderer Materie eine exakte physische und psychologische Nachbildung der originalen Person erstellt wird. Einige Philosophen haben behauptet, dass in den beiden Beispielen die originale Person mit der späteren Person identisch ist und daraus den Schluss gezogen, die physische Kontinuität sei für die personale Identität über die Zeit hinweg nicht notwendig. Andere Philosophen schlossen sich der gegenteiligen Ansicht an und folgerten, dass physische Kontinuität für die personale Identität über die Zeit hinweg durchaus notwendig ist. Aber dies sind Urteile, in welcher der Theorie zugestanden wird, das Erfassen des Wesentlichen vorzugeben. In Wahrheit besteht keinerlei allgemeine Übereinstimmung darüber, ob das Original in solchen Fällen dieselbe Person ist wie die Nachbildung, in denen eine psychologische, aber keine physische Kontinuität besteht. Weiterhin erhebt sich nun ein entscheidender Einwand gegen die erweiterte Fassung des psychologischen Kriteriums – nämlich gegen jenes, das behauptet, das personale Identität durch die Zeit in psychischer Kontinuität besteht, diese Kontinuität jedoch materiell verursacht ist. (Ein Verfechter der erweiterten Fassung würde meiner Meinung in Bezug auf die Gegenbeispiele zu den Körper- und Gehirnkriterien zustimmen und auch die normale Operation mit der Hirn-Transfer-Erfindung und den Teleportator als identitätsbewahrend betrachten). Stellen Sie sich vor, ich betrete die Teleportator-Zelle. Mein psychophysisches Abbild wird hergestellt und an einen anderen Ort gesendet, wo eine Nachbildung geschaffen wird. Unglücklicherweise funktioniert die Maschine nicht richtig und versagt darin, mich zu zerstören. Ich trete aus der Zelle, im Wesentlichen nicht anders als wie ich hineingegangen bin. In diesem Fall zögern wir nicht in der Beurteilung, dass ich im selben Körper fortfahre zu existieren und daher die Nachbildung nicht Ich ist. Aber sowohl mein 1365
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‚Ich-später‘, als auch meine Nachbildung stehen zu meinem ‚Ich-früher‘ in der Beziehung einer psychischen Kontinuität. Wenn der Grund für diese Kontinuität als irrelevant für die personale Identität erachtet wird, wie in der erweiterten Fassung des psychologischen Kriteriums, dann sollten beide späteren Kandidaten den gleichen Anspruch haben, Ich zu sein. Wir aber glauben fest, wie wir sahen, dass ich mit der späteren Person identisch bin, die in einer physischen und psychologischen Folgebeziehung zu mir steht. Folglich kann die erweiterte Fassung des psychologischen Kriteriums nicht korrekt sein. Ich schließe hieraus, dass die beste Darstellung der personalen Identität über die Zeit hinweg vom gemischten Kriterium bestimmt wird. Wir haben gesehen, dass weder die Kontinuität des Körpers, noch des Gehirns (noch, erweitert, die Kontinuität irgendeines anderen menschlichen Organs) eine notwendige Bedingung für personale Identität über die Zeit hinweg ist. Daraus sollten wir aber nicht folgern, dass die psychische Kontinuität, aus welchem Anlass auch immer, ausreichend für eine personale Identität durch die Zeit ist. Wie gerade festgestellt, stimmt diese These nicht mit unseren Intuitionen überein. Die folgerichtigste und plausibelste Ansicht, die aus unserer Sammlung von Allgemeinurteilen gewonnen werden kann, scheint folgende: Psychische Kontinuität ist für die personale Identität durch die Zeit notwendig. Eine ausreichende Bedingung für die personale Identität durch die Zeit ist nicht die psychische Identität aus irgendeinem Anlass, sondern die psychische Kontinuität aus einem Anlass, der entweder normal oder in einer kontinuierlichen Folgebeziehung zu einem normalen Anlass steht. (Das ist der Grund, warum ich mit einem künstlichen Hirn zu existieren fortfahre). Man mag fragen: Warum haben wir hier nur den einen Begriff der personalen Identität und nicht auch einige andere, ähnlich wie bei der erweiterten Fassung des psychologischen Kriteriums? Hierauf gibt es, wie auch bei anderen Begriffsanalysen, keine nicht-triviale Antwort. Unsere Diskussion hat bisher mit einer gewissen Vereinfachung gearbeitet. Das Gegenbeispiel zur erweiterten Version des psychologischen Kriteriums hat die Tatsache ausgewertet, dass die Beziehungen der psychischen Kontinuität nicht in einer logisch eineindeutigen Entsprechung vorliegen. In diesem Beispiel hat eine der Richtungen der psychischen Kontinuität keinen normalen Anlass. Jedoch ist es einer Person logisch möglich, zu einem Zeitpunkt psychisch mit zwei oder mehr späteren Personen identisch zu sein, sogar wenn beide Richtungen der psychischen Kontinuität mit einem normalen Anlass ausgestattet sind (das heißt hier: eine fortdauernde Existenz von Hirnhälften). Die Identitätsbeziehung ist jedoch logisch immereineindeutig. Ich kann nicht mit zwei einzelnen Personen identisch sein. Daher scheint es, dass die hinreichende Bedingung für die personale Identität, wie sie im vorangehenden Absatz beschrieben wurde, modifiziert werden muss, falls nicht entweder alle Verzweigungen unmöglich sind, oder aber die Möglichkeit einer Verzweigung erneut beschrieben werden kann, so dass sie nunmehr unsere hinreichenden Voraussetzungen erfüllt. Das Problem, dass sich durch die Möglichkeit sich verzweigender Kontinuitäten ergibt, ist als das Problem der Spaltung bekannt. 4. Spaltung von Personen Wie wir gesehen haben, hat ein Großteil der Untersuchung zur personalen Identität von Gedankenexperimenten von imaginären Szenarien Gebrauch gemacht. Die Methode der Gedankenexperimente zur personalen Identität ist jedoch kürzlich in 1366
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die Kritik geraten. Es wurde gefordert, dass wir unsere Einsichten aus Gedankenexperimenten nicht als Richtlinien philosophischer Wahrheit verstehen sollten, da solche Erkenntnisse voreingenommen und unzuverlässig seien. Diese Kritik geht nach meiner Auffassung allerdings fehl. Zum einen ignoriert eine solche Kritik den häufigen und legitimen Gebrauch von Gedankenexperimenten in im Grunde genommen allen traditionellen Bereichen der Philosophie (zum Beispiel in der Erkenntnistheorie und der Ethik). Warum stößt ihr Gebrauch gerade in der Diskussion der personalen Identität auf Kritik? Zweitens, und noch wichtiger, können Gedankenexperimente im Verständnis der Struktur eines Begriffs und der relativen Bedeutung seiner verschiedenen Zweige nützlich sein, vorausgesetzt, dass allgemeine Einigkeit über die beste Beschreibung des Gedankenexperiments besteht. Es besteht eine solche allgemeine Einigkeit über die Gegenbeispiele für das Körper- und Hirnkriterium. Einige Philosophen haben versucht, einen Vorteil aus Gedankenexperimenten trotz des Mangels an einer solchen allgemeinen Übereinstimmung zu ziehen, zum Beispiel im oben diskutierten Fall der Teleportation. Es wäre aber unberechtigt, aus solchen Missbräuchen zu folgern, dass Gedankenexperimente niemals eine sinnvolle Funktion in Diskussionen zur personalen Identität haben können (siehe Gedankenexperimente). Ein Gedankenexperiment, dass in den vergangenen Jahren viel diskutiert wurde und das nicht in die Teleportator-Kategorie von Gedankenexperimenten fällt, ist das der Spaltung oder Auftrennung von Personen. Dieses Gedankenexperiment ist interessant, weil es uns etwas über die Natur oder Metaphysik der personalen Identität sagt, d.h. was es bedeutet, dieselbe Person über die Zeit hinweg zu sein. Die Spaltung ist eine Situation, in der ein Ding sich in zwei (oder mehr) Dinge aufspaltet. Spaltungen treten in der Natur auf (z.B. bei Einzellern). Die Spaltung von Personen tritt normalerweise nicht auf, sie könnte aber auftreten. Wir können ein Gedankenexperiment ersinnen, um sich diese Möglichkeit vorzustellen. Stellen Sie sich eine Person namens Arnold vor. Arnold hat wie wir ein mentales Leben, das entscheidend von der normalen Funktion seines Gehirns abhängig ist. Arnold besitzt zudem eine Eigenschaft, die die meisten von uns nicht haben, sie aber haben könnten: Jede seiner Hirnhälften erfüllt dieselben mentalen Funktionen. Wenn sich in einer von Arnolds Hirnhälften ein Tumor bilden würde, könnte diese Hirnhälfte einfach entfernt werden, und Arnolds mentales Leben bliebe hiervon unbeeinträchtigt. Man nehme nun an, in Arnolds Körper bilde sich Krebs. Die Chirurgen können seinen Körper nicht retten, aber sie können Arnolds Hirn entfernen und beide Hirnhälften in zwei hirnlose Körper transplantieren, die aus Arnolds Körper vor vielen Jahren geklont wurden. Arnold hat dem zugestimmt und die Operation wird erfolgreich ausgeführt. Die Spaltung von Arnold hat stattgefunden. Wir haben nunmehr zwei Personen und nennen wir sie ‚der Linke‘ und ‚der Rechte‘, die beide psychisch mit dem alten Arnold identisch sind (d.h. dieselben Charaktereigenschaften, Überzeugungen, offensichtlichen Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit usw. aufweisen). Sie sind außerdem Arnold psychisch ähnlich, und jeder enthält eine Hälfte von Arnolds Gehirn. Den Linken und den Rechten verbinden sowohl physische wie psychologische Kontinuia mit Arnold. Nehmen wir außerdem an, dass der Linke und der Rechte sich in verschiedenen Räumen im Krankenhaus aufhalten und so keinen ursächlichen Einfluss aufeinander ausüben. Wie sollte man diesen Fall 1367
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beschreiben? Wer ist Wer? Man hat eine Anzahl von Antworten vorgeschlagen, die im Folgenden erörtert werden sollen. (1) Der Fall ist nicht wirklich möglich. Wir können daher nichts darüber sagen und nichts daraus lernen. Diese Ansicht ist nicht überzeugend. Die Transplantation von Hirnhälften mag technisch unmöglich sein, aber sie ist logisch sicher nicht unmöglich. Hirnhälftentransplantationen erscheinen, wie auch andere Organtransplantationen, in der Tat naturgesetzlich möglich (das heißt, sie widersprechen nicht grundsätzlich den Naturgesetzen). Wenn dem so ist, sind solche Transplantationen auch logisch möglich. Also ist Antwort (1) keine ernstzunehmende Behauptung. (2) Arnold hat die Operation überlebt und ist entweder der Linke oder der Rechte. Unmittelbar nach der Spaltung sind der Linke und der Rechte physiologisch und psychologisch nicht zu unterscheiden. Beide stehen zu Arnold in einer identischen psychischen und physischen Beziehung. Beide glauben Arnold zu sein. Gemäß der Antwort (2) ist der eine der richtige und der andere der falsche Arnold. Die Erwiderung (2) ist aus zweierlei Gründen nicht überzeugend. Erstens stehen der Linke und der Rechte zu Arnold im Hinblick auf dessen physische und psychische Kontinuität in einer symmetrischen Beziehung; die Forderung, dass z.B. Arnold mit dem Linken identisch sei, kann nur durch eine Art kartesischer Anschauung der Person aufrechterhalten werden. Wenn wir eine Person als ein immaterielles Ego betrachten, dass typischerweise einen psychischen Lebensstrom durchlebt, können wir annehmen, dass sich Arnolds Ego in den linken Zweig des Bewusstseins schiebt und dabei den rechten Zweig ohne Ego oder aber mit einem ganz neuen Ego hinterlässt. Wie zu Beginn von §1 bemerkt, ist diese Anschauung von Personen bizarr. Die Forderung nach einem solchen Ego ist müßig und steht in Widerspruch sowohl mit der Wissenschaft als auch dem gemeinen Menschenverstand. Zweitens hat die metaphysische Absurdität der Kartesianischen Anschauung ein erkenntnistheoretisches Gegenstück. Entsprechend der Antwort (2) überlebt Arnold, wenn er sich teilt, in einem der beiden Zweige. So ist Arnold entweder der Linke oder der Rechte. Wie aber können wir wissen, welcher von beiden er ist? Aus der Sicht einer grammatischen Dritten Person gibt es keinen Grund, eine der beiden Identifikationen vor der jeweils anderen zu bevorzugen. Auch ist der Verweis auf die Perspektive der grammatischen Ersten Person hilfreich: sowohl der Linke, als auch der Rechte halten sich selbst für Arnold. Also wird, wenn Arnold z.B. der Linke ist, diese Wahrheit für uns absolut nicht erkennbar sein. Es mögen keine Widersprüche in der Idee nicht erkennbarer Wahrheiten liegen, jedoch sollten wir misstrauisch gegenüber einer jeden Theorie der personalen Identität sein, die besagt, dass die Wahrheit darüber, wer von beiden jemand sein kann, grundsätzlich nicht erkennbar sei. Aus diesen Gründen sollten wir Antwort (2) ablehnen. (3) Arnold überlebt die Spaltung sowohl als der Linke, als auch der Rechte. Es gibt drei Arten, diese Antwort zu verstehen. Gemäß der ersten sind der Linke und der Rechte subpersonale Komponenten einer einzigen Person, nämlich Arnold. Entsprechend der zweiten Art ist Arnold sowohl identisch mit dem Linken als auch mit dem Rechten (infolge der Transitivität der Identitätsbeziehung sind damit auch der Linke und der Rechte identisch). Der dritten Auffassung zufolge machen der Linke und der Rechte zusammen genommen Arnold aus (d.h. so, dass zwei Personen Teile einer größeren Person sind, so wie Schottland und England Teile eines größeren Landes sind). Diese Anschauungen sind schwierig nachzuvollziehen. Es scheint eine 1368
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schlichte Auffassung des gemeinen Menschenverstandes zu sein, dass der Linke und der Rechte, d.h. beide, den normalen physischen und psychologischen Kriterien des Menschseins genügen. Sie sind als Personen qualifiziert, und sie sind zwei an der Zahl. Sie mögen einander unmittelbar nach der Spaltung genau gleichen, aber selbst eine exakte Übereinstimmung bedeutet nicht notwendig auch ihre numerische Identität. (Zwei rote Billardkugeln können exakt gleich sein, sind aber numerisch unterschiedlich). Überdies werden beide bald anfangen, sich zu unterscheiden, geistig wie physisch, sodass es unangemessen wäre, sie als irgendetwas anderes als zwei verschiedene Personen zu betrachten. Entsprechend der verbleibenden Lesart der Antwort (3) existiert Arnold nach der Spaltung in den Linken und den Rechten als getrennte Einheit weiter, wobei Letztere folglich als eine Personen betrachtet werden. Dies ist purer Unfug. Die Annahme von Arnolds Existenz unter diesen Umständen (zusätzlich zu der des Linken und des Rechten) funktioniert auf keine Weise. Sie ist vollkommen überflüssig. Kann zudem die Vorstellung, dass eine Person aus zwei verschiedenen körperlichen Personen zusammengesetzt sein könnte, wirklich irgendeinen Sinn machen, d.h. dass eine Person aus zwei Körpern und zwei geistigen Instanzen zusammengesetzt ist? Eine einzelne Person zu sein, bedeutet auch ein einheitliches geistiges Leben zu führen. Aus diesem Grund zögern wir bisweilen, einen Patienten mit Spaltungsbewusstsein als eine einzige Person zu bezeichnen. Angenommen, Arnold ist nach der Spaltung permanent aus zwei nicht miteinander verbundenen Bereichen von Bewusstsein zusammengesetzt. Wie könnten sie dann noch eine einzige Person ausmachen? Wenn der Linke glaubt, dass Clinton die nächste Wahl gewinnen wird und der Rechte glaubt, sie wird es nicht, glaubt dann Arnold, dass Clinton die Wahl sowohl gewinnen als auch verlieren wird? Solche Probleme vervielfachen sich. Es scheint, dass alle Wege, die dritte Frage zu verstehen, unseren Begriff der Person in einem solchen Maße verdrehen, dass sie nicht weiter ernst genommen werden brauchen. 5. Spaltung von Personen (Fortsetzung) (4) Der Fall von Arnolds Spaltung ist falsch beschrieben worden. Der Linke und der Rechte existieren bereits vor der Spaltung und werden nach Arnolds Spaltung nur räumlich voneinander getrennt. Diese Theorie hat ebenfalls mehrere Varianten. Einige Philosophen sind der Meinung, dass nur der Linke und der Rechte den Körper vor der Spaltung eingenommen haben, und dass der Name Arnold uneindeutig ist. Andere meinen, dass drei Personen (Arnold, der Linke und der Rechte) den Körper vor der Spaltung eingenommen haben, aber nur der Linke und der Rechte die Spaltung überlebt haben. Die Unterschiede zwischen diesen Theorievarianten sollen uns nicht weiter kümmern. Die Theorie ist selbst äußerst merkwürdig. Sie bringt eine ungeheure Verzerrung unseres Begriffs der Person mit sich, sofern man annimmt, dass mehr als eine Person den Körper vor der Spaltung eingenommen hat. Entspricht nicht einem Körper und einem einheitlichen Geist auch nur eine Person? Jedoch mag der Grad der Merkwürdigkeit der Antwort (4) von der jeweiligen zugrunde liegenden Metaphysik abhängen. Im Besonderen mag der Grad der Merkwürdigkeit davon abhängen, ob wir eine drei- oder vierdimensionale Sicht von etwas Fortdauerndem wie Personen anerkennen.
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Nach der dreidimensionalen Auffassung von den Personen sind diese zu allen Zeiten, in denen sie existieren, vollständig anwesend (wie man auch von einer Universalie, wie z.B. der Röte, sagt, dass sie in jeder ihrer Instanzen vollständig gegenwärtig ist.) Nach dieser Anschauung sind Personen nur gegenwärtig im Raum existent, nicht dagegen in der Zeit, und haben folglich keine zeitlichen Bestandteile. Nach der 4-dimensionalen Anschauung von Personen sind Personen 4-dimensionale Wesenheiten, die sich in Raum und Zeit erstrecken. Personen haben sowohl zeitliche, als auch räumliche Anteile. Folglich existierte zu jedem angenommen Zeitpunkt, zum Beispiel im Jahre 1993, nur ein Teil von mir, so wie auch nur ein Teil von mir in der räumlichen Region existiert, die von meinem linken Fuß abgegrenzt wird (siehe in der Einführung zum Stichwort Zeit mehr über den Gegensatz zwischen drei- und vierdimensionalen Anschauungen.) Nach der dreidimensionalen Auffassung von Personen ist die Antwort (4) nicht nur seltsam, sondern bereits kaum verständlich. Stellen Sie sich einen Zeitpunkt kurz vor der Spaltung vor. Nach dieser Ansicht besetzen zwei vollkommen anwesende Personen (Wesenheiten der gleichen Art) genau den gleichen Raum zur gleichen Zeit. Das ist ebenso schwer zu verstehen wie die Behauptung, dass es zwei gleichzeitige Momente von Rot in einer einheitlich gefärbten roten Billardkugel gebe. Nach der vierdimensionalen Anschauung sind der Linke und der Rechte jedoch zwei verschiedene Personen, die sich vor der Spaltung eine gemeinsame zeitliche Strecke geteilt haben. Es sollte jedoch nicht mehr überraschen, dass zwei Personen eine zeitliche Strecke miteinander als identisch teilen, als wenn zwei Personen (siamesische Zwillinge) eine gemeinsame Raumstelle miteinander teilen. Man nehme für den vorliegenden Zweck an, wir akzeptierten die vierdimensionale Anschauung. Antwort (4) ist nach wie vor kontraintuitiv. Es ist unplausibel, dass sich zwei Personen (der Linke und der Rechte) einen gemeinsamen zeitlichen Abschnitt bei vollständiger psychischer Einheit teilen. Wir sollten dass Prinzip aufzugeben, dass jedem psychologisch einheitlichen zeitlichen Abschnitt auch nur eine Person entspricht. Zweitens ist es problematisch, wie wir den Zusammenhang und die Einheit der Ich-Gedanken erklären sollen, die im Zusammenhang mit der Raumstelle für ein reflektierendes geistiges Leben stehen, die der Körper vor der Spaltung einnimmt, abgeben sollen. Wie kann eine solche Einheit existieren, wenn zwei Personen den Körper vor der Spaltung innehaben? Diese Einwände zu Antwort (4) mögen nicht entscheidend sein, zeigen aber, wie die Anschauung einer mehrfachen räumlichen Besetzung problematisch ist; deshalb sollten wir sie möglichst vermeiden. (5) Wo ist das Problem? Wenn sich Arnold in den Linken und den Rechten aufteilt, hört Arnold auf zu existieren (ein Ding kann nicht gleichzeitig zwei sein). Daraufhin entstehen der Linke und der Rechte, und sie sind numerisch unterschiedliche, wenngleich ursprünglich sehr ähnliche Personen. Dies ist die Antwort, die ich bevorzuge. Wenn sich Arnold teilt, gehen zwei gleich gute Kandidaten für eine Identität aus ihm hervor. Weil sie gleich gut sind, und weil nicht ein Ding gleichzeitig zwei Dinge sein kann, ist Arnold identisch mit keinem. Und da es keinen anderen gibt, mit dem wir Arnold plausibel identifizieren könnten, existiert Arnold auch nicht mehr. Diese Antwort berücksichtigt die Logik der Identität und verletzt nicht unseren Begriff der Person, indem sie annimmt, dass eine Person vor der Spaltung
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aus zwei Personen zusammengesetzt ist oder dass mehr als eine Person den Körper vor der Spaltung innehatte. Dies ist ein Sieg des gesunden Menschenverstandes. In der Tat ist dies so. Es ist aber wichtig sich darüber klar zu sein, dass, indem wir die Antwort (5) befürworten, wir uns auf eine ganz besondere Auffassung von der personalen Identität über die Zeit hinweg einlassen. Nach dieser Anschauung ist Arnold nicht der Linke. Aus welchem Grunde ist dies wahr? Der Grund, der dafür angegeben wird, ist nicht, dass Arnold und der Linke nicht den gleichen Körper haben, oder dass Arnold und der linke nicht dasselbe vollständige Hirn haben. (Dies wären ohnehin schlechte Gründe, siehe § 1). Der Grund ist vielmehr, dass ein Ding nicht gleichzeitig zwei sein kann. Arnold ist nicht der Linke, weil auch der Rechte existiert. Ob Arnold weiterhin besteht, hängt davon ab, ob es eine oder zwei ihn fortsetzende Person gibt. Da der Linke und der Rechte kausal voneinander getrennt wurden, kann die Identität einer Person über die Zeit hinweg von äußeren Faktoren bestimmt werden. Theorien, die solche äußeren Faktoren zulassen, werden manchmal die ‚Theorien des besten Kandidaten‘ der personalen Identität genannt. Nach diesen Theorien ist B zu t2 ausschließlich dann die gleiche Person wie A zu t1, wenn es keinen besseren oder gleich guten Kandidaten zum Zeitpunkt t2 für A zu t1 gibt. Gibt es zwei gleich gute Kandidaten, so ist keiner A. Sind solche Theorien und folglich Antwort (5) akzeptabel? Einige Philosophen meinen, dass dies nicht der Fall ist, begründen dies jedoch mangelhaft. Man glaubte, dass die ‚Theorien des besten Kandidaten‘ die weit verbreitete These verletzen würden, derzufolge Identitätstheorien, wenn sie wahr seien, dies notwendig seien, und wenn falsch, dann auch notwendig falsch. Ist nicht gerade das Fazit der Antwort (5), dass Arnold zwar nicht der Linke ist, dass Arnold aber, hätte der Rechte nicht existiert (hätte z.B. der Chirurg versehentlich die rechte Hirnhälfte fallen lassen) dann der Linke gewesen wäre? Hier müssen wir vorsichtig sein. Die weithin akzeptierte These lautet nämlich, dass Identitäts-Theorien, die nur einzelne starre Bezeichner beinhalten (d.h. Bezeichner, die ihren Gegenstandsbezug in möglichen andere Welten nicht verändern) notwendig wahr sind, wenn sie wahr sind und notwendig falsch sind, wenn sie falsch sind. Wir können den Begriff des Linken als einen starren, oder auch als einen nicht-starren Bezeichner lesen. Wenn er nicht starr ist (vielleicht indem man die genaue Beschreibung reduziert auf: ‚Die Person, die zufällig die linke Hälfte innehat‘), dann ist es wahr, dass Arnold der Linke gewesen wäre, wenn der Rechte nicht existiert hätte. Aber dieses Ergebnis ist vereinbar mit der Notwendigkeit von Identität und Bestimmtheit. Wenn die Bezeichnung ‚der Linke‘ ein starrer Bezeichner ist, dann muss ein Anhänger der ‚Theorien des besten Kandidaten‘, wenn er die Notwendigkeit von Identität respektiert, leugnen, dass Arnold der Linke gewesen wäre, wenn der Rechte nicht existiert hätte. Wenn der Rechte nicht existiert hätte, so hätte Arnold zwar die linke Hälfte eingenommen, aber diese Person (nämlich Arnold) ist nicht der Linke. Der Linke existiert nämlich nicht in der nächstgelegenen Welt, in der der Rechte nicht existiert, wohl aber ein Duplikat des Linken, d.h. eine Art Zwillings-Linker. Die ‚Theorien des besten Kandidaten‘ verletzen nicht die Notwendigkeit der Identität. Sie haben jedoch Folgen, die als unzulässig betrachtet werden könnten. Betrachten wir noch einmal die Welt, in der Arnold sich in den Rechten und den Linken aufteilt. Nach der ‚Theorie des besten Kandidaten‘ kann der Linke wahrheitsgemäß sagen: ‚Gott sei Dank existiert der Rechte, sonst würde ich nicht existieren.‘ 1371
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Angenommen, der Linke und der Rechte übten keinen kausalen Einfluss aufeinander aus, dann ist eine solche Abhängigkeit reichlich mysteriös. Gegen diese Folgen lässt sich nichts einwenden. Sie illustrieren nur die Tatsache, dass solche Eigenheiten wie ‚von dem Linken besetzt sein‘ (wobei ‚der Linke‘ als starrer Bezeichner zu verstehen ist) nur äußerliche Eigenheiten von Körpern sind. Ob die linke Körperhälfte von dem Linken bewohnt wird, und nicht vom ZwillingsLinken, wird von einem äußeren Faktor (nämlich der Existenz oder Nicht-Existenz des Rechten) bestimmt. Dies ist jedoch nicht kontraintuitiv. Die Eigenschaft, vom Linken eingenommen zu sein, ist keine zufällige Eigenschaft eines Körpers. Im Gegensatz zu Eigenschaften wie der Gestalt und dem Gewicht usw. trägt diese Eigenschaft, die Identität mit sich bringt, nichts zu den kausalen Fähigkeiten irgendeines Körpers bei, dem sie innewohnt. (Die kausalen Fähigkeiten des linken Körpers werden nicht davon berührt, ob der Linke oder der Rechte ihn bewohnt.) Für eine nicht kausal wirksame Eigenschaft ist es typisch, dass die Tatsache, dass ein Gegenstand sie besitzt, davon abhängig sein kann, was mit anderen Gegenständen geschieht, die keinen kausalen Einfluss auf diesen Gegenstand haben. Zum Beispiel ist die Tatsache Witwe zu sein keine kausal wirksame Eigenschaft, und es überrascht nicht, dass die Tatsache, ob eine Frau Witwe ist, davon abhängen kann, was jemand anderem (ihrem früheren Ehemann) zur entsprechenden Zeit zustößt, der gar keinen ursächlichen Einfluss auf sie hat. Antwort (5) lehrt uns, dass Eigenschaften, die eine Identität mit sich bringen (wie jene, vom Linken eingenommen zu sein) auch äußerlich sind. Dies ist kein Gegenbeispiel, sondern lediglich eine Folgerung. Die ‚Theorie des besten Kandidaten‘ verhilft uns zur befriedigendsten Antwort im Falle der Spaltung. Sie offenbart zudem etwas Wichtiges über unseren Begriff der personalen Identität. Seine Struktur ist die eines extrinischen Begriffs. Dieses Ergebnis mag überraschen, doch ist daran nichts zu beanstanden. Wenn wir dieses Ergebnis mit der zentralen Behauptung des letzten Abschnitts verbinden, kommen wir zur folgenden modifizierten Bedingung für die personale Identität über die Zeit: A zu t1 ist identisch mit B zu t2, wenn A zu B in einer psychischen Kontinuitätsbeziehungen infolge einer Ursache steht, die entweder normal oder selbst die kontinuierliche Folge einer normalen Ursache ist, und es keinen besseren oder gleich guten Kandidaten zu t2 für die Identität mit A zu t1 gibt. 6. Die Wertetheorie In diesem letzten Abschnitt untersuche ich die Verbindung (wenn es überhaupt eine solche gibt) der Metaphysik der personalen Identität mit der Wertetheorie. Ein zeitgenössischer Philosoph, Derek Parfit, ist der bekannteste Vertreter solcher tiefer Zusammenhänge. Er argumentiert, dass die einleuchtendste Metaphysik der Person grundlegende Folgen für die Ethik und die Rationalität hat (Wertetheorie). Es ist schon lange anerkannt, dass eine Verbindung zwischen den Theorien über die Person und der Wertetheorie besteht. Offenkundig wird sich der religiöse Glaube einer Person, dass wir unsterbliche Seelen sind, auf die jeweilige Auffassung zur Moral der Abtreibung oder Euthanasie auswirken. Allerdings wird der Wert von Personen in diesem Fall nicht in Frage gestellt. Allein die Extension des Begriffs der Person wird in Frage gestellt. Die Absicht von Parfits Projekt ist dem gegenüber wesentlich subversiver. Es soll die Bedeutung untergraben, die wir gegenwärtig der personalen Identität und Bestimmtheit beimes1372
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sen. Unabhängig davon, ob es letztendlich erfolgreich sein wird oder nicht, ist es wichtig, die Form oder Gestalt dieses Projekts zu erkennen. Das zentrale Merkmal von Parfits Wertetheorie ist die These, dass personale Identität an sich selbst keine wichtige Beziehung ist. Es sind psychologische Beziehungen, die im Normalfall Begleiterscheinungen der personalen Identität sind (nicht dagegen im Falle einer Spaltung). Nach dieser Theorie wäre es irrational von mir, nachdrücklich meine eigene fortgesetzte Existenz meinem Tod durch Spaltung vorzuziehen. Ich werde mich nun mit Argumenten für die These befassen, derzufolge die personale Identität belanglos ist. Deren eine Richtung besagt, dass personale Identität über die Zeit hinweg unwichtig sei; die andere Richtung besagt, dass personale Identität zu einem Zeitpunkt unwichtig sei (dies sind die diachronen und synchronen Varianten). Die These, derzufolge die Identität von Personen über die Zeit hinweg unwichtig ist, wurde benutzt, um die Theorie einer Rationalität im Eigeninteresse zu untergraben, und sie hat selbstverständlich Folgen für die Vertretbarkeit zeitlich übergreifender moralischer Begriffe, wie z.B. die Wiedergutmachung, die Verantwortung und für die persönlichen Bindungen. Die These, dass die Identität und Bestimmtheit von Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt unwichtig sind, wurde dahingehend aufgefasst, dass sie den Utilitarismus stützt. Aus der These, dass personale Identität über die Zeit hinweg unwichtig ist, folgt, dass reines Selbstinteresse irrational ist. Das heißt, ich verhalte mich irrational, wenn ich um das Schicksal einer Person in der Zukunft besonders besorgt bin, nur weil diese Person ich bin. Hieraus folgt, dass eine Theorie der Rationalität im Eigeninteresse falsch sein muss. Nach dieser Theorie, die so viel Nachdenken über die Rationalität bestimmt hat (siehe Vernunft, praktische), gibt es nur eine Person in der Zukunft, bezüglich derer es für mich außerordentlich vernünftig wäre sie zu begünstigen: dies ist die zukünftige Person, die mit mir identisch ist. Da die Theorie der Rationalität im Eigeninteresse aber außerordentliches Gewicht auf eine Beziehung legt, die keine rationale Bedeutung hat, kann diese Theorie nicht richtig sein. Außerdem kann, wenn wir nicht glauben, dass personale Identität durch die Zeit wichtig ist, dies unsere Haltung gegenüber Strafe, Wiedergutmachung und Haftung verändern. Bedenken Sie einen Fall, bei dem nur schwache psychologische Verbindungen zwischen verschiedenen Stadien desselben Lebens bestehen (z.B. ein einstmals Krimineller kann jetzt vollkommen geläutert sein, hat neue und achtbare Wünsche und Glaubensinhalte). Nach der vorstehenden Anschauung sind daher die Gründe gemindert, sein späteres Selbst für die Verbrechen des früheren Selbst verantwortlich zu machen, oder auch, das spätere Selbst für die Verbindlichkeiten, die dem früheren Selbst auferlegt waren, zu entschädigen, oder frühere Verpflichtungen als verbindlich für das spätere Selbst zu betrachten. Die Wahrheit, dass die frühere Person gleich der späteren Person ist, ist zu oberflächlich oder unwichtig, um die gegenteilige Ansicht zu unterstützen. Die These, dass Identität und Bestimmtheit von Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt unwichtig sind, ist zu der Behauptung verwendet worden, dass die Tatsache der Aufteilung von Personen nicht tiefgehend sei, und dass den distributiven Prinzipien weniger Gewicht beigemessen werden sollte. Die synchrone These unterstützt folglich (in Teilen) die utilitaristische Doktrin, dass distributiven Prinzipien kein Gewicht beigemessen werden sollte: Wir sollten einfach darauf abzielen, die 1373
Personale Identität
Endsumme der Vorteile zu maximieren, ohne Ansehung ihrer Verteilung (siehe Utilitarismus). Dies sind radikale Forderungen. Sie basieren alle auf der These, dass die personale Identität hier nicht den Ausschlag gibt. Welche Argumente sprechen für diese These? Ich werde nachfolgend ein Argument für die diachrone These (das Spaltungsargument), und ein Argument für die synchrone These (das Argument der Reduktion) diskutieren. Rufen wir uns die vorangehenden Diskussionen zum Thema Spaltung ins Gedächtnis. Ich argumentierte, dass die plausibelste Beschreibung der Spaltung diejenige ist, dass die Person vor der Spaltung numerisch verschieden ist von den Ablegern (Sprösslingen) nach der Spaltung. Dies enthält bereits die erste Voraussetzung des Spaltungsarguments (Ich werde es in der grammatischen Ersten Person darstellen): (1) Ich bin nicht identisch mit irgendeiner meiner Spaltungsprodukte. Die 2. Voraussetzung lautet: (2) Spaltung ist nicht so schlecht wie ein gewöhnlicher Tod. Diese Voraussetzung schließt eine dritte ein und besagt: (3) Meine Beziehung zu meinen Abkömmlingen (Ablegern) enthält das, was von Bedeutung ist. Die erste und dritte Voraussetzung zusammen besagen, dass personale Identität nicht das ist, was von Bedeutung ist. Dies ist ein interessantes Argument, dass in den letzten Jahren Anhänger gefunden hat. Aber es gibt ein Problem damit. Das Problem betrifft den Weg von der Zweiten zur dritten Voraussetzung. Die zweite Voraussetzung ist wahrscheinlich richtig: Die Aussicht auf Spaltung ist nicht so schlecht wie jene auf einen normalen Tod. Was diese Voraussetzung begründet und was ihren wahren Gehalt ausmacht, ist einfach die Tatsache, dass, vor die Wahl gestellt zwischen diesen beiden Optionen, tatsächlich jedermann die Spaltung vorziehen würde. Eine solche Wahl ist sowohl erklärlich als auch vernünftig: Nach der Spaltung, nicht so wie nach einem normalen Tod, wird es Menschen geben, die viele ihrer Projekte noch zu Ende bringen, sich um ihre Familien kümmern können usw. Wenn jedoch die dritte Voraussetzung auf der zweiten basiert, dann spiegelt die Forderung, dass meine Beziehung zu meinen Abkömmlingen das beinhaltet, was wirklich wichtig ist, nur die harmlose Wahrheit wider, dass Spaltung dem normalen Tod vorzuziehen ist. Das beraubt das Argument jeder radikalen Bedeutung. Die darin enthaltene Schlussfolgerung trägt nichts dazu bei, die Theorie der Rationalität im Eigeninteresse zu untergraben oder die Rationalität fortgesetzte Existenz sowohl der Spaltung als auch dem gewöhnlichen Tod deutlich vorzuziehen. (Dieses Argument wird nicht dadurch besser, dass man nur behauptet, die Spaltung sei ebenso gut wie das normale Überleben. Worauf beruht diese Behauptung?). Was ist mit dem Argument des Reduktionismus? Der Reduktionismus ist die Anschauung, dass eine Beschreibung der Realität, die sich auf Körper und Erfahrungen bezieht, dabei aber den Bezug auf Personen auslässt, gleichwohl vollständig sein kann. Nichts würde dabei ausgelassen (siehe Personen). Das Argument des Reduktionismus versucht zu zeigen, dass die Tatsache einer Sonderung von Personen, sofern der Reduktionismus wahr ist (d.h. die Tatsache, dass du und ich getrennte, einzelne Personen sind, z.B.) nicht bedeutsam oder wichtig ist, und ihr daher weniger Gewicht den unterteilenden Prinzipien zugemessen werden sollte. Dieses Argument kann man folgendermaßen darstellen. Nehmen wir an, der Reduktionismus ist wahr, d.h. die Realität kann vollständig ohne Bezug auf Personen 1374
Personale Identität
beschrieben werden. Wenn eine solche vollständige und unpersönliche Beschreibung möglich ist, wie können dann Trennlinien zwischen Personen wichtig sein? Sofern es keine Antwort auf diese Frage gibt, beinhaltet das Argument vom Reduktionismus, dass die Grenzen zwischen Personen moralisch bedeutungslos sind. Die Gültigkeit dieses Arguments betrifft die Wahrheit des allgemeinen Prinzips, dass die Wirklichkeit, wenn sie vollständig beschrieben werden kann, ohne sich auf F’s zu beziehen, die Grenzen zwischen F’s keinerlei Bedeutung haben können. Sowohl die Interpretation, als auch die Plausibilität dieses Prinzip ist unklar. Noch problematischer ist allerdings, dass der Zweifel an der Prämisse des Arguments begründet werden kann, nämlich dem Reduktionismus gegenüber den Personen. (Insbesondere: Kann unser geistiges Leben wirklich vollständig in unpersönlichen oder identitätsneutralen Begriffen beschrieben werden?) Solange diese Einwände nicht entkräftet sind, sollten wir das Argument des Reduktionismus zurückweisen. Die beiden zentralen Argumente für die These, dass die Identität nicht bedeutsam sei, sind einer kontroverse Debatte ausgesetzt. Der Fehler dieser Argumente lässt es nachdrücklich deutlich werden, wie schwierig es ist, die Bedeutung auszuhebeln, die ich der Tatsache beimesse, dass jene ganz bestimmte Person morgen Ich sein wird, wie auch der Tatsache, dass Du nicht Ich bist. Solange keine anderen Argumente vorgetragen werden, können wir weiterhin mit Recht davon überzeugt sein, dass die personale Identität wichtig ist, und auch den traditionellen Auffassungen in der Ethik und Rationalität beipflichten, die diesen Glauben unterstützen. Siehe auch: Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der; Bewusstsein; Personen Anmerkungen und weitere Lektüre: Olson, E. (1997): ‚The Human Animal.‘ Oxford: Oxford University Press. (Eine Darstellung der personalen Identität im Sinne eines lebenserhaltenden Prozesses, und nicht irgendeiner Art von psychischem Kontinuum.) Unter, P. (1992): ‚Persons, Consciousness and Value‘, New York: Oxfort University Press. (Eine gründliche und vorstellungsstarke zeitgenössische Diskussion. Hier wird das physische Kriterium der personalen Identität verteidigt.) BRIAN GARRETT
Personalismus
Der Personalismus ist die These, dass nur Personen, d.h. sich ihrer selbst bewusste Akteure, und ihre Zustände und Merkmale existieren, und dass die Realität aus einer Gesellschaft solcher miteinander interagierender Personen besteht. Typischerweise ist ein Personalist der Auffassung, dass endliche Personen in ihrer Existenz und ihrem Fortbestehen von Gott abhängen, der die oberste Person ist und als solche mit Intelligenz und Willenskraft ausgestattet. Die Personalisten sind üblicherweise metaphysische Idealisten und konstruieren ihre Erkenntnistheorie durch Schlüsse aus den Daten ihres Selbstbewusstseins. Sie tendieren zum Non-Utilitarismus in der Ethik und verorten den äußersten oder letzten Wert in der Person als einem freien, sich seiner selbst bewussten und moralischen Akteur, statt in mentalen Zuständen oder in unpersönlichen Sachverhalten. Typischerweise glauben sie ferner an ein persönliches Weiterleben nach dem Tod, wobei sie meinen, dass ein guter Gott es nicht zulassen werde, dass etwas mit einem inneren Wert einfach die Existenz verliert. 1375
Personen
Der Ausdruck ‚Personalismus‘, sogar noch als Bezeichnung für ein philosophisches System, wird sehr unterschiedlich verwendet. Es soll beispielsweise einen atheistischen Personalismus geben (wie im Falle von McTaggart, der unter anderem berühmt dafür wurde, dass er sowohl Atheist war und die Unsterblichkeit der Seele propagierte), den absoluten idealistischen Personalismus (Hegel, Royce, Calkins) und den theistischen Personalismus (Bowne, Brightman, Bertocci). Leibniz und Berkeley werden ebenfalls als frühe Personalisten betrachtet; beide waren Theisten und Idealisten. Kant, der kein Personalist im strengen Wortsinne war, bestimmte gleichwohl die Geschichte des Personalismus. Insbesondere B.P. Bowne (1847–1910) übernahm viele Ideen von Kant, lehnte allerdings einen kantischen Transzendentalismus ab, in dem unsere grundlegenden Begriffe oder Kategorien auf eine Erkenntnis bringende Weise nur auf die Erscheinungen anwendbar sein sollen, nicht aber auf die Wirklichkeit. R.H. Lotze machte die Persönlichkeit und ihren Wert zum Kern seiner Weltanschauung und war ein europäischer Vorläufer des amerikanischen Personalismus. Siehe auch: Idealismus KEITH E. YANDELL
Personen
Wir sind alle Personen. Was aber sind Personen? Diese Frage ist von besonderer Wichtigkeit für die Philosophie, und praktisch jeder große Philosoph hat auf sie eine Antwort gegeben. Über zweitausend Jahre glaubten viele Philosophen der abendländischen Tradition, dass wir immaterielle Seelen oder ‚Egos‘ sind, die nur kontingent mit ihren Körpern verbunden sind. Die bekanntesten Vertreter dieser Sichtweise waren Platon und Descartes. Heutzutage akzeptieren nunmehr wenige Philosophen diese Sichtweise, vor allem deshalb, weil sich daraus eine Reihe widerspenstiger metaphysischer und erkenntnistheoretischer Probleme ergeben, z.B.: Wie können immaterielle Seelen oder die Seele und der Geist mit der materiellen Welt wechselwirken? Wie kann ich wissen, dass ich eine Seele habe? Die Abwendung vom Kartesianismus erfolgte in drei Richtungen. Die eine davon, und zwar die ‚animalistische‘, betont die Tatsache, dass Personen Menschen sind, die sich aus bestimmten Tierarten entwickelt haben. Eine zweite Richtung, nämlich die ‚reduktionistische‘, wird von David Hume repräsentiert: das Selbst oder die Person ist keine kartesische Entität, sondern ein ‚Wahrnehmungsbündel‘. Schlussendlich gibt es noch eine Theorie der Personen, die von der Sichtweise John Lockes beeinflusst ist, nach der die Personen weder dem Wesen nach auf Tiere, noch auf ihre Körper oder ihre Erfahrungen reduzierbar sind. Siehe auch: Geistes, Bündeltheorie des; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes BRIAN GARRETT
Perzeption
Siehe: Wahrnehmung
Pflicht
Siehe: Kantische Ethik
Pflicht und Tugend, indische Konzeption der
Zwei grundsätzliche Bahnen des ethischen Denkens werden in der indischen Religion und philosophischen Literatur sichtbar: eine, die im Mittelpunkt des Hindu1376
Pflicht und Tugend, indische Konzeption der
ismus steht, betont ihre Nähe zu den etablierten Normen der antiken indischen Kultur, die in der Literatur schriftlich festgehalten sind und als Dharmaśāstras bekannt sind; eine weiterer Strang findet sich gleichermaßen in den Texten des Buddhismus, des Jainismus und des Hinduismus. Er betont den Verzicht auf die familiären und sozialen Verpflichtungen zwecks Erreichung der Erleuchtung bzw. Befreiung vom Rad der Wiedergeburt. Die Dharmaśāstras bestimmen bis ins Detail eine Form der Lebensführung, die auf einer Einteilung der Gesellschaft in vier ‚Ordnungen‘ (varṇas) beruht, nämlich der Priester, der Krieger, der Händler und der Dienstleute oder Arbeiter, und sie bestimmen ferner die oberen drei Ordnungen der vier ‚Stufen des Lebens‘ (āśramas). Der Verzicht ist nur auf den beiden obersten Stufen des Lebens zulässig, d.h. nachdem man seine Verantwortung als Student der Schriften und als Haushaltsvorstand erfüllt hat. Die unterschiedlichen Traditionen, die die Befreiung betonen, befürworten andererseits die umfassende und unmittelbare Bindung an die Ziele der Befreiung, von denen das Leben eines Haushaltsvorstandes unvermeidlich ablenkt. Hier werden die Pflichten des Haushaltsvorstandes durch die Praxis des Yoga und der Askese ersetzt. Gleichwohl werden auch hier bestimmte ethische Rücksichten als Vorbedingungen zur Erreichung eines höheren Wissens durch Yoga empfohlen, speziell die Gewaltlosigkeit, die Wahrhaftigkeit, der Respekt vor dem Eigentum anderer, die sexuelle Enthaltsamkeit (Zölibat) und die Armut. Die Traditionen der Befreiung kritisierten das System der Dharmaśāstras wegen ihrer übermäßigen Sorge um das Rituelle und um äußerliche Formen der Reinheit, und wegen der Vergebung des tatsächlich vorgeschriebenen Tötens lebendiger Wesen in den vedischen Opferritualen. Aber nur in den Dharmaśāstras wird der Begriff der Handlung allein der Pflicht wegen geschätzt. Die hinduistische Schrift der Bhagavad Gītā (Lied von Gott) zeigt eine Bemühung um die Vereinbarkeit der beiden Ideale des Verzichts und der Erfüllung von Verpflichtungen. Sie lehrt, dass man Yoga und praktisches Leben in der Welt miteinander vereinbaren soll. Nur wenn man aus einem inneren Zustand des Friedens und der Losgelöstheit heraus handelt, der der Höhepunkt der Ausübung des Yoga ist, kann man seine Pflichten auf eine Art und Weise ohne Rücksicht auf die Konsequenzen der eigenen Handlungen ausüben. Andererseits ist die äußerliche Form des Verzichts ohne die Kultivierung des inneren Yoga, also das Zölibat, der Bettelstand und die Askese, ohne Bedeutung. Es ist das innere Yoga, das das Wesen des Verzichts ausmacht, denn Yoga ist durchaus damit vereinbar, dass jemand seinen Verpflichtungen in der Welt nachkommt. JOHN A. TABER
Pflichten, politische
Siehe: Verpflichtungen, politische
Phänomenalismus
Nach der gewöhnlichsten Interpretation behauptet der Phänomenalismus, dass physische Gegenstände bedeutungsäquivalent zu Aussagen sind, die Wahrnehmungen beschreiben. Genauer gesagt behauptet der Phänomenalist, dass die Äußerung, es existiere ein physischer Gegenstand, eine Äußerung darüber sei, dass jemand eine bestimmte Folge von Wahrnehmungen habe, sofern zu diesen Wahrnehmungen noch einige weitere hinzuträten. Hierzu ein Beispiel: Wenn ich sage, hinter mir befindet sich etwas Rundes und Rotes, so sage ich damit zum Teil, dass ich, wenn ich die visuelle, taktile und kinästhetische (Bewegungs-)Empfindung ei1377
Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
ner Drehung meines Körpers und Kopfes ausführen würde, etwas Rotes und Rundes sehen würde. Und wenn ich die Empfindung habe, meinen Arm auszustrecken und dieses Ding zu berühren, dann werden diesen Empfindungen die erwarteten taktilen Empfindungen folgen, die mit der Berührung von etwas Rundem verbunden sind. Statt über die Bedeutung von Aussagen zu reden, können Phänomenalisten aber auch sagen, dass die Tatsache, derzufolge sich dort etwas Rundes und Rotes befinde, nicht mehr sei als die Tatsache, dass ein Subjekt gewisse Empfindungsfolgen habe, die anderen bestimmten Empfindungsfolgen voraus- und nachgehen. Eines der Hauptanliegen der Phänomenalisten ist dabei die Vermeidung des Skeptizismus im Hinblick auf die physische Welt. Weil sehr viele Philosophen die Sinnhaftigkeit von Äußerungen an ihre potenzielle Verifizierbarkeit knüpfen, meinten einige Phänomenalisten ferner, dass wir nur durch die Reduktion von Behauptungen über die physische Welt auf Behauptungen über mögliche Empfindungen überhaupt die Begreiflichkeit einer Rede über die physische Welt bewahren können. Es gibt nur noch wenige zeitgenössische Philosophen, die den Phänomenalismus rundherum gutheißen. Viele verwerfen jenen letztbegründenden erkenntnistheoretischen Rahmen, der es so schwierig macht, dem Skeptizismus auszuweichen ohne in den Phänomenalismus zu verfallen. Die historische Ablehnung dieser Sichtweise hat aber mehr mit der Schwierigkeit zu tun, das implizite Versprechen des Phänomenalismus einer Übersetzung von Empfindungen in physische Wirklichkeit zu erfüllen. Siehe auch: Empirismus; Idealismus RICHARD FUMERTON
Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
Die Phänomenologie ist keine einheitliche Lehre. Ihre Hauptvertreter – Husserl, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty – interpretieren sie sehr unterschiedlich. Es ist jedoch möglich, locker das zu charakterisieren, was sie gemeinsam haben. Die Phänomenologie ist eine Methode der philosophischen Untersuchung, aus der sich eine radikale ontologische Neuorientierung gegenüber dem kartesischen Dualismus ergab. Dies hat Folgen für die Erkenntnistheorie: die Behauptung lautet hier, dass, wenn die Grundlagen des empirischen Wissens in der Wahrnehmung und Handlung angemessen beschrieben werden, die herkömmlichen Formen des Skeptizismus und die üblichen Versuche einer Rechtfertigung des Wissens unterlaufen werden. Die phänomenologische Methode behauptet, deskriptiv und voraussetzungslos zu sein. Zunächst nehme man eine reflektierende Haltung gegenüber seiner eigenen Erfahrung der Welt ein, indem man weitgehend seine Annahme über die Existenz der Welt und ihre Merkmale zur Seite stellt. Dann suche man einzelne, konkrete Phänomene zu beschreiben. Phänomene sind nicht Inhalte des Geistes; sie implizieren alle ein erfahrendes Subjekt und einen erfahrenen Gegenstand. Der phänomenologischen Beschreibung geht es darum, wesentliche Merkmale der ‚Lebenswelt‘ explizit zu machen, d.h. jene Welt, in der wir noch vor jeder Theorie über sie handeln. Die phänomenologische Methode offenbart, dass das praktische Wissen dem ausgesagten Wissen vorausgeht – Wissen ergibt sich daraus, dass man weiß, wie man etwas tun muss. Die Schlüsselthese der Phänomenologie, die von Brentano übernommen wurde, lautet, dass das Bewusstsein intentionaler Natur ist, d.h. auf Gegenstände gerichtet. Die Phänomenologen interpretieren dies so, dass Subjekt und Objekt wesentlich 1378
Phänomenologische Bewegung
aufeinander bezogen sind. Dies sei eine Tatsache, die jede adäquate Darstellung der Subjekte und seiner Gegenstände beachten müsse. Phänomenologische Darstellungen der Subjekte betonen die Handlungen und den Körper (‚Leib‘), und Darstellungen von Gegenständen betonen die Bedeutsamkeit, die sie für uns haben. Das Ziel der Voraussetzungslosigkeit bringt eine genaue Hinterfragung naturwissenschaftlicher und philosophischer Theorien mit sich (jene von Galileo, Locke und Kant werden besonders stark herausgefordert). Die Phänomenologie kritisiert die moderne Philosophie stark dafür, dass sie zu stark von den Ergebnissen der Naturwissenschaften beeinflusst sei. Speziell habe die Erkenntnistheorie von der Naturwissenschaft deren Typik auf der Grundlage von (reduzierten) Erfahrungsdaten übernommen. Der Einfluss der Phänomenologie auf die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts ist zu vernachlässigen. Der Einfluss auf die kontinentaleuropäische Philosophie war dagegen deutlich größer. Die phänomenologische Kritik an der modernen Naturwissenschaft und an der modernen übrigen Philosophie hat das postmoderne Denken beeinflusst, das die modernistische Weltsicht im Sinne einer ‚großen Erzählung‘ interpretiert, statt als Wahrheit. Das postmoderne Denken kritisiert auch die positive phänomenologische Behauptung, dass die Lebenswelt wesentliche Merkmale aufweise. Siehe auch: Bewusstsein; Brentano, F.C.; Wissen, Stillschweigendes JANE HOWARTH
Phänomenologische Bewegung
Die phänomenlogische Bewegung ist eine ca. einhundert Jahre alte internationale Strömung der Philosophie, die die meisten kulturellen Disziplinen durchdrungen hat, insbesondere in der Psychiatrie und der Soziologie. Sie begann in Deutschland mit dem Frühwerk von Edmund Husserl und breitete sich dann in ganz Europa, Amerika und Asien aus. Im Gegensatz zu einer regulären Schule weist sie als eine Bewegung keine zentrale Lehre auf, der alle Mitglieder zustimmen. Stattdessen gibt es eine eher breite Herangehensweise, die von allen geteilt wird. Der phänomenologische Ansatz hat zumindest vier Bestandteile. Erstens neigen die Phänomenologen zum Widerspruch gegen den Naturalismus. Der Naturalismus schließt auch den Behaviorismus in der Psychologie und den Positivismus in den Sozialwissenschaften und der Philosophie ein und ist eine Sichtweise der Welt, die auf den Methoden der Naturwissenschaften beruht. Im Gegensatz dazu neigen die Phänomenologen zu einer Konzentration auf die soziohistorische oder kulturelle Lebenswelt und widersetzen sich allen Arten von Reduktionismus. Zweitens neigen sie zum Widerspruch gegen das spekulative Denken und gegen die Beschäftigung mit der Sprache und drängen stattdessen darauf, dass Wissen und Erkenntnis auf einer ‚Intuition‘ oder einem ‚Sehen‘ der Dinge selbst beruhen würde, von denen das Denken handelt. Drittens betonen sie eine Technik der Reflexion von Prozessen innerhalb des bewussten Lebens oder der menschlichen Existenz, die betont, wie solche Prozesse auf Gegenstände gerichtet sind (wie Gegenstände ‚intendiert‘ werden), und entsprechend, wie sich diese Gegenstände in diesem Prozess oder dieser Intention darstellen. Und viertens neigen die Phänomenologen dazu, bei den von ihnen reflektierten Dingen sowohl die Analyse oder Erklärung, als auch die Wahrnehmung zu verwen1379
Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. bis ca. 50 n.Chr.)
den, um Beschreibungen oder Interpretationen sowohl im Einzelfall, als auch im universellen oder ‚eidetischen‘ Falle zu produzieren. Zusätzlich neigen Phänomenologen auch dazu, die Machbarkeit von Husserls Prozedur der transzendentalen epoché oder der ‚Klammerung‘ und das Projekt der transzendentalen ersten Philosophie, dem dies dient, zu debattieren, weil der überwiegende Teil der Phänomenologie nicht transzendental gestimmt ist. Hinter diesen weitgehend gemeinsamen methodischen Elementen neigen die Phänomenologen dazu, sich der einen oder anderen von vier untereinander kommunizierenden und manchmal auch überlappenden Tendenzen anzuschließen. Diese Tendenzen könnte man als die ‚realistische Phänomenologie‘, die das Sehen und die Wahrnehmung betont und die Beschreibung der universellen Wesenheiten, dann die ‚konstitutive Phänomenologie‘, die als Gegenstände vor allem das gelten lässt, was bewusst von ihnen wahrgenommen wird; ferner die ‚existenziale Phänomenologie‘, die bestimmte Aspekte der menschlichen Existenz innerhalb der Welt betont, und schließlich als die ‚hermeneutische Phänomenologie‘ bezeichnen, die die Rolle der Interpretation in allen Lebenssphären betont. Alle Tendenzen gehen auf das Frühwerk von Edmund Husserl zurück, aber die existenziellen und hermeneutischen Tendenzen sind auch stark beeinflusst durch das Frühwerk von Martin Heidegger. Andere führende Figuren waren Nicolai Hartmann, Roman Ingarden, Adolf Reinach und Max Scheler in der realistischen Phänomenologie; Dorion Cairns, Aron Gurwitsch und Alfred Schütz in der konstitutiven Phänomenologie; Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir in der existenzialen Phänomenologie und Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur in der hermeneutischen Phänomenologie. Siehe auch: Idealismus; Phänomenalismus; Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der LESTER EMBREE
Philo Judaeus
Siehe: Philo von Alexandrien
Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. bis ca. 50 n.Chr.)
Philo von Alexandrien ist der führende Vertreter des hellenistisch-jüdischen Denkens. Trotz seiner felsenfesten Loyalität gegenüber den religiösen und kulturellen Traditionen seiner jüdischen Gemeinschaft fühlte er sich stark von der griechischen Philosophie angezogen, in der er auch gründlich ausgebildet worden war. Seine gedankenreichen griechischen Schriften sind vor allem exegetischer Natur und führen die Bücher Moses aus. Dies zeigt seine apologetische Strategie bei der Darstellung des jüdischen Gesetzgebers Moses als dem Weisen und Philosophen par exellence, der ein Gefäß für die göttliche Inspiration gewesen sei, dies jedoch nicht auf Kosten seiner menschlich-rationalen Fähigkeiten. – In seinen Kommentaren macht Philo ausgedehnten Gebrauch von den allegorischen Methoden, die bereits früher von den Stoikern entwickelt worden waren. Von den seinerzeit zeitgenössischen philosophischen Bewegungen fühlt sich Philo am stärksten vom Platonismus angezogen. Seine Methode ist im Grunde eklektisch, hat aber doch eine klare Orientierung auf die Figur des Moses. Philos Denken ist streng theozentrisch. Er konzipiert Gott im Rahmen des Seins. Gottes Wesen ist für das menschliche Wissen unerreichbar (im Sinne einer 1380
Philoponos (ca. 490 – ca. 570 v.Chr.)
negativen Theologie), aber seine Existenz sollte für alle großartig sein (natürliche Theologie). Wissen von Gott erreicht man durch seine Macht und vor allem durch seinen logos oder die Vernunft, durch die er in Verbindung zu dem steht, was nach ihm kommt. In seiner Schöpfungslehre stützt sich Philo stark auf platonische Begriffe, die er aus einer Reflexion des platonischen Timaios bezog. Die Konzeption der creatio ex nihilo (‚Schöpfung aus dem Nichts‘) war zu seiner Zeit noch nicht voll ausgearbeitet. Philos Lehre der menschlichen Natur stützt sich vor allem auf die beiden anthropologischen Texte der Genesis 1–2, wo die Schöpfung ‚im Einklang mit dem Bild Gottes‘ im Verhältnis zum menschlichen Intellekt interpretiert wird. Hinsichtlich der Ethik zeigen sich sowohl stoische Begriffe, als auch eigene jüdische Themen in Philos Glauben. Bei den allegorischen Interpretationen der biblischen Patriarchen stehen vor allem ethische Ideale im Vordergrund. Philos Einfluss war fast vollständig auf die christliche Tradition beschränkt, die seine Schriften bewahrte. Er war den mittelalterlichen jüdischen Denkern, wie z.B. Maimonides, gänzlich unbekannt. DAVID T. RUNIA
Philoponos (ca. 490 – ca. 570 v.Chr.)
Johannes Philoponos, auch bekannt als Johann der Grammatiker oder Johann von Alexandrien, war ein christlicher Philosoph, Wissenschaftler und Theologe. Philoponos’ Leben und Werk ist eng mit der Stadt Alexandria und ihrer berühmten neuplatonischen Schule verbunden. Im 6. Jahrhundert geriet dieses traditionelle Zentrum heidnischer griechischer Gelehrsamkeit in immer stärkere Isolation, da es sich fast vollständig von einer christlichen Gemeinde umgeben sah. Die intensive philosophische Unvereinbarkeit zwischen den heidnischen und den christlichen Glaubensanschauungen treten in Philoponos’ Werk deutlich hervor. Sein Werk umfasst mindestens vierzig Titel über so unterschiedliche Gegenstände wie die Grammatik, die Logik, die Mathematik, die Physik, die Psychologie, die Kosmologie, die Astronomie, die Theologie und die Kirchenpolitik. Selbst medizinische Abhandlungen werden ihm zugeschrieben. Eine wesentliche Sammlung seiner Werke ist überliefert, aber einige seiner Abhandlungen sind uns nur indirekt durch Zitate oder Übersetzungen bekannt. Philoponos’ Ruhm stützt sich vor allem darauf, dass er die Befreiung der Naturphilosophie aus der Zwangsjacke des Aristotelismus einleitete, obwohl seine nicht polemischen Kommentare zu Aristoteles, wie auch seine theologischen Abhandlungen durchaus ihren eigenen Wert haben. Philoponos’ intellektuelle Laufbahn begann als Schüler des neuplatonischen Philosophen Ammonius, dem Sohn des Hermeasder, der noch von Proclus unterrichtet worden war und als Leiter der Schule von Alexandria tätig war. Einige von Philoponos’ Kommentaren bestätigen, dass sie auf den Vorlesungen von Ammonius beruhen, während andere wiederum mehr Philoponos’ eigenen Gedanken darstellen. Schließlich transformierte er die übliche Darstellungsweise der apologetischen Kommentare in eine offene Kritik der grundlegenden aristotelisch-neuplatonischen Lehren, vor allem in seiner Kritik der Auffassung von der Ewigkeit der Welt. Dieser ‚abtrünnige‘ Ansatz gegenüber der philosophischen Tradition, sowie seine Schlussfolgerungen in seinen Beweisgängen polarisierten Philoponos’ Kollegen. Sie zwangen ihn vielleicht sogar, seine philosophische Karriere aufzugeben. Philoponos widmete sich jedenfalls die zweite Hälfte seines Lebens der Beeinflussung der theologischen Debatten seiner Zeit. Die orthodoxen Kirchenmänner verdammten 1381
Photographie, Ästhetik der
ihn wegen seiner aristotelischen Interpretationen des Trinitäts-Dogmas posthum als Häretiker, weil er auf diesem Wege drei gesonderte Gottheiten verkündete (sog. ‚Tritheismus‘). Der Stil der philoponischen Schriften ist oft weitschweifig und selten unterhaltend. Er kombinierte jedoch eine fast pedantisch anmutende Beweisstrenge und -darstellung mit einer bemerkenswerten geistigen Freiheit, die es ihm erlaubte, die Fesseln der geltenden Autoritäten abzuwerfen, egal ob sie philosophischer oder theologischer Art waren. Obwohl seine Denkweise einen strengen aristotelischen Einfluss verrät, zeigt sie doch auch gewisse Nähe zu den Lehren Platons, abzüglich aller neuplatonischen Beigaben. Seine Werke wurden ins Arabische, Lateinische und Syrische übersetzt, und er beeinflusste später solche Denker wie Bonaventura, Gersonides, Buridan, Oresme und Galileo. CHRISTIAN WILDBERG
Photographie, Ästhetik der
Behauptungen, die Photographie unterscheide sich ästhetisch von der Bildenden Kunst und sei in vielerlei Hinsicht minderwertiger als diese, wurden in zahlreichen Formen vorgebracht: die Photographie sei nur ein mechanischer Prozess und deshalb kein künstlerisches Medium; sie sei ernstlich beschränkt in ihren Ausdrucksmöglichkeiten der Gedanken und Gefühle des Künstlers; ihre Unfähigkeit zur Wiedergabe von mehr als nur einer momentanen ‚Zeitscheibe‘ oder von momentanen Ereignissen beschränke ihre Darstellungsmöglichkeiten; ja, sie sei überhaupt kein darstellendes Medium. Einige dieser Argumente sind gründlich falsch, während andere einen interessanten wahren Kern haben, der sich erst nach einigem Nachdenken zeigt. Im Mittelpunkt dieser Klärung steht die Darstellung des präzisen Sinns, in dem die Photographie mechanisch sei, und eine Klärung unserer Intuition, dass ein Photograph uns auf eine Weise mit seinem Gegenstand ‚in Verbindung‘ bringt, wie es ein Maler womöglich nicht kann. Diese Ideen muss man aber wiederum von der irrtümlichen Sicht befreien, dass es das Wesen der Photographie sei, nur Bilder zu liefern, die ein extremes treues Abbild der Gegenstände sind, die auf ihnen erscheinen. Siehe auch: Film, Ästhetik des; Malerei, Ästhetik der; Semiotik GREGORY CURRIE
Physikalismus
Siehe: Bells Theorem; Bohr, Niels; Boyle, Robert; Einheit der WissenEinstein, Albert; Experiment; Galilei, Galileo; Mach, Ernst; Masztheorie; Materie; Maxwell, James Clerk; Newton, Isaac; Oxford Calculators; Quantenmechanik, Interpretation der; Quantenmessung, Problem der; Reduktion, Problem der; Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der schaften;
Piaget, Jean (1896–1980)
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget war der Gründer eines Wissensgebietes, das wir heute ‚Kognitive Entwicklung‘ nennen. Sein eigener Ausdruck für diese Disziplin war ‚genetische Erkenntnislehre‘, was seine tiefen philosophischen Bemühungen spiegelt. Einer von Piagets einflussreichsten Beiträgen waren seine bemerkenswert robusten und überraschenden Beobachtungen von Kindern. Immer wieder entdeckte Piaget auf verblüffend vielen Gebieten und auf jeder Altersstufe von der
1382
Pico della Mirandola, Giovanni (1463–1494)
Geburt bis zum Erwachsenwerden, dass Kinder die Welt auf eine sehr andere Weise verstehen als die Erwachsenen. Aber Piaget war an Kindern vor allem deshalb interessiert, weil er meinte, sie exemplifizierten einen grundlegenden erkenntnistheoretischen Prozess. Durch das Studium der Kinder könne man entdecken, wie biologische Organismen Wissen der Welt um sich herum erwerben. Das Prinzip der ‚genetischen Erkenntnislehre‘ könne dann auch auf andere Geschöpfe angewendet werden, von den Mollusken bis zu den Physikern. Piagets anderes und immer noch wirksames Erbe ist die Idee, dass offensichtlich grundlegende Wissensformen weder angeboren sind, noch direkt aus der Erfahrung abgeleitet werden. Vielmehr wird das Wissen als Ergebnis eines komplexen Wechselspiels zwischen Organismen und ihrer Umwelt konstruiert. Piaget sah seine Sichtweise als eine Alternative sowohl zum klassischen Rationalismus, als auch zum Empirismus an. ALISON GOPNIK
Pico della Mirandola, Giovanni (1463–1494)
Giovanni Pico della Mirandola, der heute zu den bekanntesten Renaissance-Philosophen gehört, war ein Wunderkind und vornehmer Gelehrter, der die Humanwissenschaften, den Aristotelismus und den Platonismus bei den größten Lehrern seiner Zeit studierte. Er behauptete, bereits im Alter von vierundzwanzig Jahren sämtliche theologische Systeme, d.h. sowohl die christlichen, als auch die nicht-christlichen Systeme, von Moses an, zu kennen. Er war der erste wichtige christliche Student der jüdischen mystischen Theologie, die als Kabbalah bekannt ist. Der Zweck von Picos philosophischen und theologischen Studien war es, eine große Synthese der religiösen Weisheit herbeizuführen, die sowohl das Verständnis der christlichen Wahrheit vertiefen würde, als auch als apologetische Waffe gegen Nichtchristen dienen sollte. So jedenfalls beschrieb er das Unternehmen in seinem berühmtesten Werk ‚De dignitate hominis‘ (dt.: ‚Über die Würde des Menschen‘, 1486), und wurde weiter erhellt in seinen ‚Conclusiones‘ (1486) und der ‚Apologia‘ (1487). Als Teil dieses großen Projektes plante Pico auch eine Darstellung der Übereinstimmung der Systeme Platons und Aristoteles‘, von der nur ein Fragment in Gestalt der Abhandlung ‚De ente et uno‘ erhalten ist (dt.: ‚Über das Sein und das Eine‘, 1491), und der Rest unvollendet blieb. Obwohl er die Gründung einer neuen technischen Schule vorschlug, die auf einer esoterischen Lesart aller vergangenen und gegenwärtigen Religionen basieren sollte, glaubte er doch nicht, dass diese Theologien substanziell dasselbe seien und sich nur im Ausdruck unterschieden. Er bestand beispielsweise auf dem Unterschied zwischen dem Platonismus und dem Christentum, während er gleichzeitig meinte, dass jede größere theologische Tradition einige wahre Elemente enthielte. Zusätzlich zu anderen, nichtphilosophischen Werken schrieb Pico den ‚Commento‘ (1486), der ein Kommentar über ein neuplatonisches Gedicht ist, und der eigentlich eine Kritik von Marsilio Ficinos berühmtestem Werk, dem Dialog ‚De amore‘ (1469) war. Er kritisiert dort Ficino als zu literarisch und verteidigt die Verwendung einer präzisen, technisch-philosophischen Sprache. Pico verwendete die neuplatonische Metaphysik zur Wiederentdeckung der ‚geheimen Mysterien‘ der heidnischen Theologie, auch wenn er manchmal die Verlässlichkeit der Neuplatonisten als Führer zur Platons Denken kritisiert, und offeriert dabei eine frische Interpretation einer Metaphysik der Liebe, die auf seiner eigenen Lesart der plato1383
Platon (425‑347 v.Chr.)
nischen Quellen beruhte und die menschliche erotische Liebe als einen psychologischen Prozess betrachtet, der sich von der kosmischen Liebe unterscheidet. Siehe auch: Ficino, M.; Hermetismus; Kabbalah; Platonismus in der Renaissance; Plotin; Renaissance-Philosophie JAMES HANKINS
Platon (425–347 v. Chr.) Einführung Platon war ein athenischer Grieche aristokratischer Familienherkunft, der als Philosoph in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. tätig war. Er war ein treuer Anhänger des Sokrates, wie aus seinen Schriften überdeutlich zu sehen ist. Nahezu alle seiner philosophischen Dialoge, oft Werke einer verblüffenden literarischen Raffinesse, präsentieren Sokrates als Hauptdarsteller. Sokrates wird darin üblicherweise als eine charismatische Figur dargestellt, der eine ganze Abfolge ihm nicht ebenbürtiger Zuhörer, von den Sophisten, den Politikern, über die Feldherrn bis hin zu gelehrigen Jugendlichen überstrahlt. Die mächtigsten realistischen Fiktionen unter diesen Dialogen, wie z.B. der ‚Protagoras‘ und das ‚Symposion‘, lassen eine ganze Welt übersprudelnden intellektuellen Selbstbewusstseins in einem Athen wieder aufleben, dass noch nicht von bürgerlichem Unfrieden zerrissen oder gedrückt ist durch die Niederlage in den Peleponnesischen Kriegen. Einige von Platons frühesten Schriften wurden offensichtlich zur Verteidigung von Sokrates und seiner philosophischen Mission gegen Missverständnisse und Vorurteile geschrieben, die aus der Sicht seiner Freunde schließlich zu dessen Verfolgung und Hinrichtung führten. Die bemerkenswerteste dieser Schriften ist die ‚Apologie‘, die die mutmaßliche Verteidigungsrede des Sokrates in der Gerichtsverhandlung gegen ihn wiedergibt, und der ‚Gorgias‘, eine lange und leidenschaftliche Debatte über die Wahl zwischen einem philosophischen oder einem politischen Leben. Zahlreiche frühe Dialoge zeigen Sokrates unter den Angriffen von Anhängern rivalisierender Disziplinen, z.B. der Rhetorik (wie im ‚Gorgias‘), der sophistischen Ausbildung (‚Protagoras‘) oder der gebildeten Religionslehre (‚Euthyphron‘). Diese waren offenkundig als Einladungen zur Philosophie geschrieben, aber auch als Warnungen gegenüber den Anmaßungen der Alternativen. Apologetische (d.h. rechtfertigende) oder protreptische (Hilfestellung gebende) Bemühungen finden sich in praktisch allen platonischen Dialogen, in denen Sokrates der Protagonist ist. Doch in anderen unter den frühen Werken liegt die Betonung mehr auf seiner eigenen ethischen Philosophie. Beispielsweise erforschen der ‚Laches‘ (über den Mut) und der ‚Charmides‘ (über die Mäßigung) die jeweiligen Themen im typisch sokratischen Stil, indem sie sich weitgehend auf seine Methode der Widerlegung stützen, obwohl Platon sich keineswegs an die sokratisch-intellektualistische Analyse der Tugenden als Erkenntnisformen gebunden zu fühlen scheint. Diese Analyse wird tatsächlich selbst in den genannten Dialogen untersucht (wie auch im ‚Hippias dem Kleineren‘). In den Dialogen aus Platons mittlerer Periode wie dem ‚Menon‘, dem ‚Symposion‘ und dem ‚Phaidon‘ wird uns ein gänzlich anderer Sokrates vorgestellt. Hier verleiht er positiven Positionen zu einem weit größeren Fragenkreis einen Ausdruck, d.h. nicht nur über die Ethik, sondern auch über die Metaphysik, die Erkenntnistheo1384
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rie und die Psychologie. Und er wird als jemand dargestellt, der aus der Mathematik eine neue und konstruktive Untersuchungsmethode entliehen hat, nämlich jene der Hypothese. Obwohl sich die Entwicklung sehr allmählich abspielt, zeigt sich doch, dass zwischen Platons früher und mittlerer Periode eine solche stattgefunden hat. Platon ist nunmehr kein Sokratiker mehr, ja nicht einmal mehr ein kritischer und origineller Sokratiker; er hat Sokrates jetzt in einen Platoniker verwandelt. Die beiden großen Theorien, die den Platonismus bilden, sind die Theorie der Formen (im Deutschen häufig ‚Ideenlehre‘ genannt1) und die Lehre der Unsterblichkeit der Seele. Der Begriff oder die Vorstellung einer Form (häufig auch als platonische ‚Idee‘ bezeichnet) wird durch Bezugnahme auf den begrifflichen Fundus der eleatischen Philosophie artikuliert. Der äußerste Gegenstand der philosophischen Suche nach Erkenntnis ist nach Platon eine Art von Sein, das den vertrauten Gegenständen der phänomenalen Welt gänzlich unähnlich ist, etwas Ewiges und Unwandelbares. Wie herausragend oder exklusiv, schön oder gerecht oder gleichwertig dieses Sein auch immer sei, ist es doch durch keine Zeit und keinen Ort, durch keine Beziehung oder in sonstiger Hinsicht ausgezeichnet. Eine Darstellung der Form des Schönen wird erklären, was es ausmacht, dass etwas schön ist, und tatsächlich werden andere Dinge infolge ihrer Teilhabe am Schönen veranlasst schön zu sein. Die Dialoge der mittleren Periode entwickeln nirgends einen Beweis der Existenz dieser Formen. Die Theorie wird gewöhnlich in Gestalt einer Grundannahme vorgestellt, der sich die Gesprächsteilnehmer anschließen. Platon scheint sie als eine sehr allgemeine und auf hoher Ebene angesiedelte Hypothese zu betrachten, die den Rahmen liefert, innerhalb dessen andere Fragen erforscht werden können, einschließlich der Unsterblichkeit der Seele. Dem ‚Phaidon‘ zufolge wird eine solche Hypothese nur standhalten, wenn ihre Konsequenzen sich mit anderen relevanten Wahrheiten vertraten; nach dem Dialog ‚Der Staat‘ muss ihre Geltung letztlich durch ihre Kohärenz mit dem unhypothetischen Ersten Prinzip gesichert werden, das durch die Bestimmung des Guten aufgestellt wird. Die pythagoreische Lehre der Unsterblichkeit der Seele ist dagegen etwas, für das Platon explizite Beweise dort vorlegt, wo er sie in die Diskussion einführt. Er setzt die dualistische Idee voraus, dass die Seele und der Körper gänzlich verschiedene Substanzen sind, die während unseres Lebens koexistieren, sich aber im Tode wieder trennen. Diese Theorie erscheint das erste Mal im ‚Menon‘, wo sie zur Erklärung aufgerufen wird, wie wir apriorisches Wissen der mathematischen Wahrheiten erwerben. Sokrates wird hier als jemand dargestellt, der darauf besteht, dass niemand uns solche Weisheiten beibringt; wir arbeiten sie für uns selbst aus, indem Im Englisch existieren zwei verschiedene Bezeichnungen für das, was im Deutschen ganz überwiegend als die platonische ‚Ideenlehre‘ bekannt ist, nämlich ‚Theory of Ideas‘ und ‚Theory of Forms‘. Letztere Bezeichnung für diese platonische Lehre, also ‚Theorie der Formen‘, hat den großen Vorzug, dass sie die Vorstellung einer subjektiven Bindung dieser metaphysischen Gegenstände vermeidet. Hinzu kommt, dass in der englischen Philosophie der Ausdruck idea auch sehr prominent von David Hume in Anspruch genommen wird und dort in der Tat die (an das Subjekt gebundene) Vorstellung von etwas bezeichnet. Eine solche Doppeldeutigkeit ist im Deutschen zwar nicht zu befürchten, weil die Humesche idea allgemein mit ‚Vorstellung‘ übersetzt wird und somit nicht mit der platonischen ‚Idee‘ kollidiert. Dennoch schließt sich die Übersetzung hier aufgrund der höheren begrifflichen Schärfe der Schofieldschen Ausdrucksweise (d.h. dem Autor dieses Beitrages) an und verwendet durchgängig die Übersetzung von Theory of Forms als ‚Theorie der Formen‘. [WS]
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wir sie innerlich aufsammeln, wo sie bis dahin während unseres ganzen Lebens als latente Erinnerung ungenutzt gelegen haben müssen. Ein angeborenes vergessenes Wissen setzt aber eine Zeit voraus, in der es bestanden haben muss, bevor die Seele in den Körper eintrat, d.h. als sie noch in voll bewusstem Besitz der Wahrheit war. Im ‚Phaidon‘ wird das Versprechen in Aussicht gestellt, dass die Seelen der Philosophen, die ihr Leben der Verfolgung der Weisheit widmen, im Tode vollkommen von den Beschränkungen und Beschmutzungen des Körpers befreit werden, wodurch sie erneut ein reines Wissen der Form erwerben. Der ‚Staat‘, Platons größtes Werk, gehört auch zu dieser großen konstruktiven Periode seiner Philosophie. Sie verleiht der Erkenntnistheorie und der Metaphysik der Formen eine Schlüsselrolle auch in der politischen Philosophie. Die ideal gerechte polis (Stadtstaat), oder zumindest etwas, was ihr nahe kommt, und die kommunitären Institutionen, die das Leben ihrer elitären Führungsklasse kontrollieren, können für die Philosophen nur dann zu einer praktischen Möglichkeit werden, wenn die Philosophen zu politischer Macht kommen, oder wenn sich die Herrscher aufrichtig und angemessen auf die Philosophie einlassen. Dies ist so, weil nur der Philosophen-Herrscher, dessen Gefühle durch Platons erzieherisches Reformprogramm angemessen trainiert und diszipliniert wurden, und dessen Geist durch das strenge und umfassende Studium der Mathematik für das abstrakte Denken der Formen vorbereitet wurde, als einziger über das Wissen und die entsprechende Tugend verfügt, die zur Herstellung einer harmonischen Gesellschaft notwendig sind. Das Verständnis der Formen, und vor allem des Guten als dem Schlüssel des Systems der Formen, ist daher eine wesentliche Voraussetzung der politischen Ordnung. Es ist nach wie vor strittig, inwieweit Platons Vision einer guten Gesellschaft, die von Philosophen-Staatslenkern (beider Geschlechter) geführt wird, jemals als Vorlage für eine praktische Umsetzung gedacht war. Viele von seinen Schriften offenbaren einen tiefen Pessimismus über die Aussichten für das menschliche Glück. Das mächtigste Bild im ‚Staat‘ ist das Höhlengleichnis, das die normale Menschheit als von Sinnestäuschungen dermaßen gefesselt und von der Erleuchtung durch die Wahrheit so durchgängig abgewandt darstellt, dass uns nur noch eine radikale und intellektuelle Bekehrung erretten kann. Und seine Theorie der menschlichen Psyche ist nicht weniger dunkel: die einander entgegengesetzten Wünsche der Vernunft, des Gefühls und der Begierde überantworten sie nur allzu leicht jenem internen Konflikt, der die moralische Krankheit ausmacht. Während der ‚Staat‘ für den modernen Leser der zentrale Text in Platons Werk ist, war durch die gesamte Antike und auch das Mittelalter der ‚Timaios‘ jener Dialog, mit dem er am bekanntesten war. In seinem Spätwerk entwickelt Platon eine Darstellung der Schöpfung eines geordneten Universums durch einen göttlichen ‚Handwerker‘ (gr.: dēmiurgos), der den bereits zuvor bestehenden Stoff mit jeder Form des Lebens und der Intelligenz ausstattet, und zwar unter Anwendung harmonischer, mathematischer Verhältnisse. Von dieser Geschichte behauptet Platon, sie sei nur ‚wahrscheinlich‘ wahr, d.h. sie sei die beste Erklärung, die wir aus den Phänomenen schließen können, die keine solche unwandelbare Dauer wie die Formen haben. Nichtsdestotrotz ist der ‚Timaios‘ der einzige unter den auf den ‚Staat‘ folgenden Dialogen, abgesehen von dem stark mythisch aufgeladenen ‚Phaidros‘, in dem Platon nochmals die umfassende Vision mitteilt, die wir aus dem Platonismus der mittleren Dialogepoche entnommen haben. 1386
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Viele dieser Dialoge sind allerdings bemerkenswerte Beiträge zur Philosophie, und keiner ist stärker als der selbstkritische ‚Parmenides‘. Hier wird der reife Parmenides als jemand, der eine Reihe mächtiger Herausforderungen der logischen Kohärenz der Theorie der Formen aufbaut, geschildert. Er drängt zwar nicht darauf, die Theorie aufzugeben, doch sei eine wesentlich härtere Arbeit an der Durchführung des dialektischen Beweises notwendig, wenn sie den Herausforderungen standhalten soll. Wieder andere Pionierleistungen der Forschung sind der ‚Theaitetos‘ für die Erkenntnistheorie und der ‚Sophist‘ in der philosophischen Logik. Der ‚Theaitetos‘ führt einen machtvollen Angriff auf die relativistische Theorie der Wahrheit des Protagoras, bevor er sich auf Rätsel betreffend die falsche Überzeugung und Probleme mit der immerwährend attraktiven Idee einlässt, dass das Wissen ein Komplex ist, der aus unerkennbaren Prinzipien besteht. Der ‚Sophist‘ beschäftigt sich dagegen mit dem Parmenideischen Paradox, dass man von dem, was ist, nicht sprechen und es auch nicht denken kann. Hier wird die Grundlage für die Unterscheidung von Identität und Prädikation gelegt, sowie jener von Subjekt und Prädikat, um den sinnvollen Diskurs vor den Absurditäten des Paradox zu retten. In seinem sechsten Lebensjahrzehnt besuchte Platon zweimal den Hof von Dionysius II. in Sizilien, offenbar von der Hoffnung getragen, auf den jungen Despoten einen wohltuenden Einfluss ausüben zu können. Beide dieser Versuche scheiterten vollkommen. Sie hielten Platon aber nicht davon ab, noch in seinen letzten Jahren ausgedehnt über politische Fragen zu schreiben. ‚Der Staatsmann‘ erforscht das praktische Wissen, dass den fachkundigen Staatsmann lenken muss. Dem folgte das längste, wenn auch nicht das lebendigste Werk Platons, nämlich die zwölf Bücher der ‚Gesetze‘, die vielleicht bei seinem Tode noch unvollendet waren. 1. Leben 2. Schriften 3. Authentizität und Chronologie 4. Die platonischen Dialoge 5. Das Problem des Schreibens 6. Das frühe Werk 7. Die apologetischen Schriften 8. Der ‚Laches‘ und der ‚Charmides‘ 9. Andere untersuchende Dialoge 10. Die Einführung des Platonismus 11. ‚Menon‘ 12. ‚Symposion‘ 13. ‚Phaidon‘ 14. ‚Der Staat‘ 15. Kritische Dialoge 16. Die späten Dialoge 17. Die ‚Gesetze‘ 18. Platons Einfluss 1. Leben Die Hinweise auf Platons Leben sind prima facie im Überfluss vorhanden. Wir sind im Besitz sowohl zahlreicher antiker Biographien, insbesondere jener im 3.
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Buch des Diogenes Laertius mit dem Titel ‚Leben der Philosophen‘, als auch einer Sammlung von dreizehn Briefen, die offenbar von Platon selbst geschrieben wurden. Unglücklicherweise präsentieren die Biographien jedoch etwas, was man zu Recht als ‚ein Durcheinander von Anekdoten, Ehrerbietungen, Bosheiten oder Frivolitäten, zumindest immer pikant‘ bezeichnet hat. Was die Briefe angeht, so geht kein Gelehrter mehr davon aus, dass sie alle authentisch sind, und einige meinen sogar, keiner von ihnen sei echt. Aus den Biographien kann man zumindest mit gewisser Sicherheit einige auffällige Punkte entnehmen. Platon wurde in eine aristokratische Athener Familie geboren. Er war der Bruder von Glaukon und Adimantos, Sokrates’ Hauptgesprächspartner im ‚Staat‘. Zu seinen Verwandten gehörten Kritias und Charmides, die beide Mitglieder der blutigen Junta waren, die nach den Peleponnesischen Kriegen in Athen die Macht an sich rissen. Er wurde zu einem Anhänger von Sokrates, nach dessen Hinrichtung er sich mit einigen anderen Anhängern in die benachbarte Stadt Megara zurückzog. Seine Reisen zu dieser Zeit umfassten auch einen Besuch am Hofe des Dionysius in Sizilien. Nach seiner Rückkehr aus Sizilien nach Athen begann er auf einem wohl von ihm gekauften Grundstück neben einem öffentlichen Sportplatz außerhalb der Stadt zu lehren, das sich in der Nähe eines Wäldchens des griechischen Helden Akademos befand und deshalb als Akademie bezeichnet wurde. Die Schüler dieser Unterrichtsstätte begannen sich im Laufe der Zeit selbst als ‚Akademiker‘ zu bezeichnen. Der ‚Siebte Brief‘, der der längste und interessanteste aus der Sammlung der Briefe ist, enthält eine Menge wahrscheinlich wahrheitshaltiger Informationen, unabhängig davon, ob er von Platon selbst geschrieben wurde. Er beginnt mit einer Darstellung seiner wachsenden Ernüchterung über die athenische Politik in seinem frühen Erwachsensein und seiner Entscheidung gegen eine politische Karriere. Dies leitet eine Skizze des Besuchs bei Dionysius in Sizilien ein, der wiederum eine rechtfertigende Erklärung folgt, warum und wie Platon trotz seiner ursprünglichen Entscheidung in politische Intrigen in Sizilien verwickelt wurde, nachdem der junge Dionysius II. seinem Vater auf dem Thron gefolgt war. Platon stattete dem jüngeren Dionysius zwei gesonderte Besuche ab: der eine ca. 366 v. Chr. wird dargestellt, als habe er auf Geheiß von Dion, dem Neffen von Dionysius I. in der Hoffnung auf eine Bekehrung des Letzteren zu einem Philosophen-Herrscher stattgefunden. Der andere Besuch ca. 360 v. Chr. war dem Briefautor zufolge ein Vermittlungsversuch zwischen Dionysius und Dion, der nunmehr im Exil lebte und alle Gunst verloren hatte. Beide Unternehmungen waren demütigende Niederlagen. Von größerem Interesse für die Geschichte der Philosophie ist Platons Tätigkeit in der Akademie. Man sollte sich aber nicht vorstellen, wie die Gelehrten dies einst taten, als hätte Platon dort ganz formal eine philosophische Schule aufgemacht, mit eigenem Grundstück und institutionellen Strukturen. Obwohl er zwar ein Haus mit Garten in der Nähe erwarb, wo wahrscheinlich öffentliche Mahlzeiten eingenommen wurden, fand doch ein großer Teil seiner philosophischen Lehren und Gespräche eher im öffentlichen Raum auf dem benachbarten Sportgelände selbst statt. Einen gewissen Eindruck von dem sehr eigenen Stil der Akademie mag man dennoch aus den Schriften seiner philosophischen Genossen, die er anzog, entnehmen, vor allem jenen seines Neffen Speusippos, aber auch jenen des Xenokrates, Aristoteles und des Mathematikers Eudoxos. Die Diskussionen von Platons metaphysischen Ideen 1388
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spielen in diesen Schriften eine vorrangige Rolle. Platon verlangte aber keine Orthodoxie, wie man aus ihrer philosophischen Uneinigkeit mit ihm und anderen dort schließen kann. Aristoteles’ frühe ‚Topik‘ lässt annehmen, dass die formalen Diskussionen über philosophische Thesen eine wichtige Rolle spielten. Aufgrund des Ausbildungsprogramms, wie es im ‚Staat‘ beschrieben wird, könnte man bereits schließen, dass Platon der Lehre der Mathematik als einer Vorbereitung für die Philosophie Bedeutung zugemessen hatte, doch haben wir hierauf noch bessere Hinweise. Obwohl er selbst ursprünglich kein Mathematiker war, wissen wir doch aus verlässlichen Quellen, dass er anderen Menschen mathematische Probleme zur Lösung aufgab. Beispielsweise fragte er, welche einheitliche Bewegung dem offensichtlichen Verhalten der Planeten zuzuschreiben sei. Andererseits gibt es wenig verlässliche Informationen darüber, was er in der Akademie lehrte; aus den Burlesken der Komödienschreiber kann man nicht viel schließen. Da mit großer Sicherheit keine Gebühren verlangt wurden, müssen die meisten derjenigen, die aus ganz Griechenland kamen, um Platon zuzuhören, Aristokraten gewesen sein. Von einigen dieser Zuhörer ist bekannt, dass sie bereits in der Politik tätig waren oder Berater von Königsnachfolgern waren, insbesondere hinsichtlich der Verfassungsreformen. Die Akademie hatte jedoch an sich keinerlei politische Mission. Tatsächlich verwarf z.B. der Rhetoriker Isokrates, der der Leiter einer konkurrierenden Schule und damit sicher kein unbefangener Zeitzeuge war, die von der Akademie bevorzugten abstrakten Disziplinen, weil sie in der Welt zu nichts nütze seien. 2. Schriften Thrasyllos, ein Astrologe des Imperators Tiberius, ist vermutlich der Urheber der Anordnung der platonischen Schriften, wie sie in der handschriftlichen Überlieferung auf uns überkommen sind. Für seine Edition der platonischen Schriften gruppierte er sie in Tetralogien (Vierergruppen), in Anlehnung an die Trilogien (dreigliedrigen Werke), die im athenischen tragischen Theater üblich waren. Diese waren nach einem architektonischen Schema organisiert, dass wiederum aus Prinzipien konstruiert war, die nur noch teilweise zu erkennen sind, gewiss aber nicht mit der Chronologie der Urheberschaft zu tun haben. Sein Arrangement beginnt mit einem Quartett darüber, ‚was für ein Leben der Philosoph führte‘ (Diogenes Laertius, III 57): dem ‚Euthyphron‘ oder ‚Über die Frömmigkeit‘, der als ‚periastischer‘ oder ‚elenktischer‘ (d.h. im Beweisen oder Überführen geschliffener) Dialog eingestuft wird (siehe Sokrates, § 3–4), und Beispiele einer seiner beiden Hauptschriftgattungen seien, dem untersuchenden Dialog. Die ‚Apologie‘, der ‚Kriton‘ und der ‚Phaidon‘ werden dagegen allesamt als Muster der Ausführung seiner anderen Schriftgattung betrachtet, d.h. genauer gesagt als Beispiele für Platons Ethik. Diese vier Werke beschäftigen sich alle auf die eine oder andere Weise mit dem Gerichtsverfahren und dem Tod des Sokrates. Dem folgte eine Gruppe, die aus dem ‚Kratylos‘ oder ‚Über die Richtigkeit der Namen‘, dem ‚Theaitetos‘ oder ‚Über die Erkenntnis‘, dem ‚Sophist‘ und dem ‚Staatsmann‘ bestand. Platon selbst weist darauf hin, dass die letzten drei dieser Gruppe zusammen gelesen werden müssten. Sie enthalten einiges Material seiner sehr reifen und anspruchsvollen Erkenntnislehre, Metaphysik und philosophischen Methodenlehre. Hierin ähneln sie dem ‚Parmenides‘ mit seiner berühmten Kritik der Theorie der Formen. Dieser Text ist der erste der nächsten Tetralogie, dem drei 1389
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größere Dialoge folgen, die von Thrasyllos alle als ‚ethisch‘ eingestuft werden: der ‚Philebos‘, eine Untersuchung der Lust, das ‚Symposion‘ und der ‚Phaidros‘, die letzten beiden brillante literarische Unterhaltungen, die das Wesen der Liebe erforschen. Dem folgte ein wesentlich leichtgewichtigeres Quartett: zwei Dialoge mit dem Titel ‚Alkibiades‘, der ‚Hipparchos‘ und ‚Die Nebenbuhler‘. Keiner von diesen mit der umstrittenen Ausnahme des ersten ‚Alkibiades‘ wird von modernen Gelehrten mehr für authentisch platonisch gehalten. Ihnen folgte der ‚Theages‘, ein kurzes Stück, das heutzutage als nebensächlich betrachtet wird, sowie ‚Charmides‘, ‚Laches‘ und ‚Lysis‘. Die letzten drei Werke werden von den modernen Gelehrten allgemein als sokratische Dialoge betrachtet, d.h. sie wurden vermutlich geschrieben, um die besonderen Methoden und die ethischen Bemühungen des historischen Sokrates darzustellen, wie Platon ihn verstand, zumindest in der Form, und sollten nicht Platons eigene Philosophie entwickeln. Thrasyllos wäre mit der letzten Einschätzung einverstanden gewesen, denn er klassifizierte sie als Dialoge der Untersuchung: ‚Laches‘ und ‚Lysis‘ als ‚maieutisch‘, in der der Darsteller Sokrates als eine Art intellektueller Hebamme seinen Gesprächspartnern dabei hilft, ihre eigenen Ideen über den Mut und die Freundschaft auszuarbeiten. Der ‚Charmides‘ mit seinen Gesprächspartnern Charmides und Kritias wird als elenktisch eingestuft, weil sie sich darum bemühen zu formulieren, wie ein Kreuzverhör maßvoll durchzuführen sei. Dies wiederum unterscheidet Thrasyllos interessanterweise von der ‚philosophischen Geburtshilfe‘. Die nächste seiner Gruppen besteht aus dem ‚Euthydemos‘, dem ‚Protagoras‘, dem ‚Gorgias‘ und dem ‚Menon‘, alles wichtige Werke, in denen die neuzeitlichen Gelehrten eine Analyse und weitere Ausarbeitung der sokratischen Konzeption der Tugend durch Platon entdeckten. Die ersten drei Werke dieser Gruppe präsentieren einen Sokrates, der sich in argumentativem Konflikt mit Sophisten unterschiedlicher Provenienz befindet (siehe Sophisten), und so versteht man, dass Thrasyllos den ‚Euthydemos‘ und den ‚Gorgias‘ unter der allgemeinen Überschrift des Widerstreits als Dialoge der Widerlegung einordnete, und den ‚Protagoras‘ als Dialoge der Darstellung von Charakteren, vermutlich weil Protagoras und Sokrates beide als aufmerksam in der Vorstellung ihrer Debattierkünste porträtiert werden. Der ‚Menon‘ wird wiederum als elenktisches Werk charakterisiert. Ihm folgt die siebte Tetralogie: ‚Hippias der Größere‘ und ‚Hippias der Kleinere‘, zwei sehr unterschiedliche Dialoge (oder Widerlegungen, Thrasyllos zufolge), die beide den jeweiligen Sophisten dieses Namens zur Darstellung bringen; ‚Ion‘, ein eigentümliches Werk über die poetische Darbietung, und ‚Menexenos‘, eine noch seltsamere Parodie auf eine Leichenrede, die der Geliebten von Perikles namens Aspasia in den Mund gelegt wird. Die letzten beiden Tetralogien reservierte Thrasyllos einigen von Platons größten Werken. Die insgesamt acht Beiträge enthalten den sehr kurzen (und vermutlich nebensächlichen) ‚Klitophon‘, in dem eine unbedeutendere Figur aus dem ‚Staat‘ Variationen zu Themen des ‚Staates‘ anspricht. Der ‚Staat‘ wiederum als zweiter Dialog der Gruppe wird heute allgemein als Platons größtes Werk betrachtet. Dieses Quartett wird komplettiert durch den ‚Timaios‘ und die unvollendete Fortsetzung ‚Kritias‘, zweifellos weil diese Dialoge sich selbst als solche darstellen, die die Diskussion des ‚Staates‘ weitertreiben. Die vorkopernikanische mathematische Kosmologie des ‚Timaios‘ zieht heute die Leser nicht mehr so an, wie dies in der Antike der 1390
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Fall war, insbesondere im Mittelalter, als diese Dialoge für eine ganze Epoche der einzige Teil aus Platons Œvre waren, die dem lateinischen Westen bekannt waren. Abschließend beginnt die neunte Tetralogie mit dem kurzen ‚Minos‘, einem eher nebensächlichen Dialog, der Fragen der umfangreichen ‚Gesetze‘ aufgreift, Platons längstem und wahrscheinlich letztem Werk, das das nächste in dieser Gruppe ist. Dem folgt die ‚Epinomis‘, ein Anhang zu den Gesetzen, die bereits einem von Platons Schülern in der Antike zugeschrieben wird, nämlich Philipos von Opous, wenn man dem Bericht des Diogenes Laertius, III 37, folgt. Den Abschluss bilden die Briefe, die oben kurz besprochen wurden. 3. Authentizität und Chronologie Thrasyllos verwarf aus seinem Kanon eine Vielzahl kleinerer Stücke, von denen einige in der handschriftlichen Überlieferung dennoch erhalten blieben. Das moderne Urteil stimmt mit dem antiken Verdikt gegen sie überein. Es stellt darüber hinaus auch einige der Werke in Frage oder verwirft sie als nicht platonischen Ursprungs, die Thrasyllos noch für echt platonisch hielt. Wir können damit aber ziemlich gewiss sein, dass wir alles besitzen, was Platon als zur Veröffentlichung bestimmt geschrieben hat. Wenn wir versuchen, die Authentizität oder Unechtheit der antiken Schriften zu bestimmen, so ist dies ein riskantes Geschäft. Ungeheuerliche historische Irrtümer oder Anachronismen reichten manchmal aus, um ein Werk zu verdammen, aber vielleicht mit Ausnahme der ‚Acht Briefe‘ gilt dies nicht für den platonischen Korpus. Stilistische Analysen unterschiedlichster Art können beweisen, dass ein Schriftstück für das Werk eines Autors untypisch ist, ohne damit jedoch seine Unechtheit zu belegen: der ‚Parmenides‘ ist hierfür ein bemerkenswertes Beispiel. Die meisten der größeren platonischen Dialoge werden in der Tat durch Aristoteles bestätigt. Schwierige Fälle sind eher kurze Stücke wie der ‚Theages‘ und der ‚Klitophon‘, und interessanterweise auch drei längere Werke: der ‚Siebte Brief‘, ‚Alkibiades I‘ und ‚Hippias der Größere‘. Über diese ist die Meinung geteilt. Einige Gelehrte entdecken eine grobe oder manchmal auch brillante Flickschusterei des platonischen Stils, oder eine parasitäre Beziehung zu den zweifellos echten Dialogen, philosophische Grobheiten oder Missverständnisse der platonischen Auffassungen, die die Hand des Fälschers verraten. Warum aber sollte Platon nicht für irgendeinen speziellen Zweck auch Dinge rekapituliert oder nochmals überarbeitet haben, die er bereits anderswo ausgearbeitet hatte? Und vielleicht schrieb er manchmal derber oder didaktischer oder auch gewundener als sonst für ihn typisch. Solche Bewertungen sind unvermeidlich Meinungssache, über die intelligente und informierte Leser zu Recht unterschiedlicher Auffassung sein können. Die Aussichten auf eine abschließend richtige Chronologie der platonischen Schriften sind gering. Es gibt in seinem ganzen Textkorpus nicht mehr als zwei oder drei Hinweise auf datierbare zeitgenössische Ereignisse (abgesehen von den Briefen). Anders steht es um die Möglichkeit einer relativen Chronologie. Einige Dialoge beziehen sich auf andere. Einige Beispiele wurden bereits erwähnt, aber wir können noch eine klare Reminiszenz des ‚Menon‘ im ‚Phaidon‘ (72e–73b) hinzufügen, und des ‚Parmenides‘ sowohl im ‚Theaitetos‘ (183e–184a), als auch im ‚Sophist‘ (217c). Entsprechend einer antiken Überlieferung waren die ‚Gesetze‘ zu Platons Tod noch 1391
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unvollendet, und Aristoteles sagt uns, dass sie nach dem ‚Staat‘ geschrieben wurden (1264b24–27), auf die diese wiederum anzuspielen scheinen (siehe beispielsweise die ‚Gesetze‘ 739a–e). Es wurden einige Versuche unternommen, um für die Existenz früherer Fassungen des Werks in abweichender Form interne oder externe Beweise aufzufinden. Ein Beispiel hierfür ist der Vorschlag, dass Aristophanes’ Komödie ‚Die Weibervolksversammlung‘ (388 v. Chr.) eine frühe Fassung des 5. Buches des ‚Staates‘ parodiert. Doch obwohl die Idee, dass Platon einige seiner Schriften überarbeitet hat, nicht unplausibel ist, gibt es doch kaum konkrete Beispiele, wo eine solche Überarbeitung deutlich die beste Erklärung dieses Phänomens sein sollte. Und selbst wenn man sie fände, ist es doch unwahrscheinlich, dass die Folgen für eine Chronologie daraus klar wären. Über ein Jahrhundert lang ruhten alle Hoffnungen einer relativen Chronologie auf der Durchführung einer stilistischen Analyse. Diese wurde schließlich von Lewis Campbell in seiner Ausgabe des ‚Sophist‘ und des ‚Staatsmannes‘ durchgeführt und 1867 veröffentlicht. Seine große Leistung bestand darin, eine Gruppe von Dialogen zu isolieren, die eine Reihe von Merkmalen verbindet (und denen weitere von nachfolgenden Forschern hinzugefügt wurden), die sie von allen übrigen Dialogen unterscheiden. ‚Timaios‘, ‚Kritias‘, ‚Sophist‘, ‚Der Staatsmann‘, ‚Philebos‘ und die ‚Gesetze‘ zeigten, dass sie neben anderen Merkmalen ein gemeinsames technisches Vokabular aufweisen, ferner eine Vorliebe für gewisse Partikel, Konjunktionen, Adverbien und anderer sprachliche Kennzeichner gegenüber Alternativen, die in anderen Dialogen bevorzugt werden; aber auch unterschiedliche Prosa-Rhythmen und den willkürlichen Versuch, die Kombination von einem Vokals am Ende eines Wortes, gefolgt von einem anderen Vokal zu Beginn des nächsten Wortes zu vermeiden. Da es mehrere gute und voneinander unabhängige Gründe gibt, die ‚Gesetze‘ als Platons letztes Werk zu betrachten, ist Campbells Sechsergruppe sehr wahrscheinlich das Produkt von Platons letzter Phase philosophischer Tätigkeit. Eine Anwendung derselben stilistischen Proben auf den gesamten platonischen Textkorpus, vor allem durch Constantin Ritter, erwies den ‚Staat‘, ‚Theaitet‘ und ‚Phaidros‘ als Dialoge, die auf bedeutende Weise mehr als alle anderen von den Merkmalen aufweisen, die auch das letzte Sextett aufweist. Es besteht allgemeine Einigkeit darüber, dass sie unter den Werken sein müssen, deren Verfassung unmittelbar denen der ‚Gesetze‘-Gruppe vorausgeht, wobei immer zugestanden wird, dass der ‚Staat‘ sicherlich einige Jahre bis zu seiner Fertigstellung brauchte, und dass ein Teil davon vielleicht früher geschrieben und später nochmals überarbeitet wurden. Der ‚Parmenides‘ wird üblicherweise auch diesen dreien zugeordnet, obwohl hier nicht aus stilistischen Gründen. Seit Campbells Zeit gab es weitere und wiederholte Versuche der forensischen Linguistik (engl.: stylometry), die verbleibenden Dialoge in Gruppen einzuteilen und ihre Abfolge innerhalb dieser Gruppen zu bestimmen. Die Blütezeit dieser Unternehmungen lag im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Seit den 1950er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung der stilistischen Studien, diesmal unter Einsatz ausgefeilterer statistischer Techniken und unter Einsatz von Computern und Datenbanken. Sichere Ergebnisse haben sich hier jedoch als schwer fassbar erwiesen. Die meisten Gelehrten wären glücklich, wenn man den ‚Phaidon‘, das ‚Symposion‘ und den ‚Kratylos‘ einer mittleren Schaffensperiode innerhalb Platons literarischem und philosophischem Werk zuordnen könnte, die ihren mutmaßlichen Höhepunkt 1392
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im ‚Staat‘ erreicht hat. Aber während diese Datierung manchmal durch eine Berufung auf stilistische Beweise gestützt wird, ist der herangezogene Beweis doch in Wahrheit uneindeutig: die Hypothese einer Dialoggruppe der mittleren Schaffensperiode beruht in Wirklichkeit auf ihrer philosophischen Nähe zum ‚Staat‘ und ihren allgemeinen literarischen Charakter. Dasselbe ließe sich mutatis mutandis auch von Versuchen zur Identifikation einer Gruppe sagen, die Platons früherer Schaffensperiode zugeordnet wird. Der innere Zusammenhang von Campbells später Gruppe blieb allerdings nicht unhinterfragt. Beispielsweise führte G.E.L. Owen im Jahre 1953 einen Angriff auf Campbells Datierung des ‚Tiamios‘ und des ‚Kritias‘, der für eine Weile erfolgreich zu sein schien, weil diese Dialoge philosophisch in Platons mittlere Periode gehören. Allgemein gesagt haben stilistische Untersuchungen bei der Bestimmung geholfen, einen allgemein anerkannten chronologischen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die meisten Debatten über die philosophische Interpretation nunmehr stattfinden. Dies soll aber nicht heißen, dass man sich völlig darüber einig wäre, wie sich Platons Denken entwickelt hat. Und einige Gelehrte weigern sich generell, dem Begriff der Entwicklung für das Verständnis seines philosophischen Unternehmens oder der Projekte in den Dialogen eine Bedeutung zuzumessen. 4. Die platonischen Dialoge Wer den philosophischen Dialog erfand, und welche literarischen Modelle zu dieser Erfindung angeregt haben mögen, sind Fragen, zu denen wir über keine soliden Informationen verfügen. Wir wissen zwar, dass zahlreiche Anhänger des Sokrates etwas schrieben, was Aristoteles Sōkratikoi logoi nannte, also Diskurse, die Sokrates als fiktiven Konversationspartner darstellten. Die einzigen Beispiele, die außer denen von Platon intakt überliefert wurden, stammen von Xenophon, der wahrscheinlich einer der frühesten Praktiker dieses Genres war. Ein wichtigerer Grund für die Produktion dieses Literaturtyps war der Wunsch nach einer Verteidigung des Sokrates gegen die Vorwürfe der religiösen Irrlehre und der Verderbnis junger Menschen, die ihm in seinem Prozess zur Last gelegt wurden, und danach noch in athenischen Flugschriften, sowie auch der implizite Schuldvorwurf einer Nähe zu einer Folge oligarchischer Politiker. Daher wurde seine Hingabe an den schwankenden und heimtückischen Alkibiades mehrfach porträtiert, beispielsweise im ersten der ‚Alkibiades‘-Dialoge, der Platon zugeschrieben wird, und dem heute nur noch fragmentarisch vorhandenen ‚Alkibiades‘ von Aischynes von Sphettos; beide betonen die Kluft zwischen Alkibiades‘ Eigendünkel und seinem Widerstand gegen seine Ausbildung, sowie Sokrates’ selbstloses Bemühen um sein moralisches Wohlergehen. Derselbe allgemeine Zweck stand auch hinter der Veröffentlichung mehrerer Fassungen von Sokrates’ Rede (seine ‚Apologie‘) vor dem Gerichtshof durch Platon, Xenophon und vielleicht noch andere. Schriften zur Verteidigung des Sokrates waren zweifellos ein besonderes Merkmal dieses Jahrzehnts in der Folge des Jahres 399 v. Chr., obwohl sich dies noch lange danach fortsetzte, wie z.B. in Xenophons ‚Memorabilia‘. Nachdem der ‚Gorgias‘-Dialog in einer zunächst ganz anderen Stimmung beginnt, verwandelt er sich doch schließlich in Platons längsten und zornigsten Dialog dieser Art. Sokrates wird hier als jemand dargestellt, der sich selbst als der einzige wirkliche athenische Politiker präsentiert, denn er sei die eine Person, die eine wirklich rationale Darstellung seines Verhal1393
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tens anderen gegenüber geben kann und folglich über die benötigten politischen Fähigkeiten verfüge, durch die man als Bürger gut wird. Aber er sieht voraus, dass er keine Chance auf einen Freispruch vor einem Richtergremium hat, das nur um die Dankbarkeit ihrer politischen Führer buhlt. Stellt man Sokrates dem Alkibiades gegenüber, so ist dies eine Möglichkeit zu seiner Verteidigung. Arrangiert man eine Konfrontation zwischen einem Sophisten (z.B. Protagoras oder Hippias) oder einem Rhetoriker (z.B. Gorgias) oder einem religiösen Fachmann (Euthyphron) oder einem Vortragenden homerischer Gedichte (Ion), so ist Sokrates die Folie, auf der die jeweiligen intellektuellen Ansprüche dieser Personen deutlich werden, und meistens auch ihre moralische Flachheit, während sie ihren Witz, ihre Ironie und Durchdringungskraft zelebrieren und damit erlauben, dass sich ihre spezifische ethische Position und ihre ethischen Methoden vor den Augen des Lesers entfalten. Der elenchos, d.h. die Widerlegung (siehe Sokrates, §§ 3–4), ist dabei keineswegs die einzige Art und Weise des Argumentierens, die Sokrates in diesen fiktiven Treffen verwendet. Besonders Platon erfreut sich daran, ihm die Ausbeutung zahlreicher rhetorischer Figuren zu erlauben, die seine Gesprächspartner anwenden. Es ist aber leicht zu sehen, warum Platon der Dialog als das ideale Instrument nicht nur für ein Gedenken im Stile der sokratischen Gespräche bei Xenophon erschienen sein muss, sondern – und noch wichtiger – zur Darstellung der logischen Struktur und der Dynamik der Widerlegungsmethode, sowie ihrer Kraft in den Händen des Sokrates zur Vernichtung der typischen intellektuellen Einstellungen derjenigen, die sie gegen ihn in Stellung bringen. In diesen konfrontativen Dialogen kommt Sokrates selten dadurch zum Erfolg, dass er seine Gesprächspartner zur demütigen und klaren Einsicht darüber bringt, dass sie nicht wissen, was sie zu wissen vorgaben. Dies ist eigentlich der ‚offizielle‘ Zweck, und zwar gleichzeitig im moralischen wie im intellektuellen Sinne, der Widerlegungsmethode. Es wäre nicht besonders glaubwürdig, ließe man ihn historische Figuren durch gut bekannte intellektuelle Standpunkte bekehren. Die fiktiven Gegner registrieren hauptsächlich, dass sie in einen Widerspruch getrieben werden, nicht mehr. In jedem Falle kommt die konstruktive Antwort auf die außerordentliche Gestalt des Sokrates, den Platon wirklich erhellen will, von der Seite des Lesers. Wir müssen annehmen, dass für Platon eine Bekehrung zur Philosophie kaum unterscheidbar gewesen sein wird von seiner Antwort auf Sokrates (d.h. seine Hingabe an dessen Person, an den Zauber seines Charisma, an eine anstrengende intellektuelle Beschäftigung mit seinem Denken und den Fragen, die er ständig verfolgte), und so dachte er, dass der Standpunkt, von dem aus man philosophische Texte verfasst, derjenige sein müsste, von dem aus man Sokrates für seine Leser auch zu einer charismatischen Figur macht, um uns zu einer ähnlichen Hingabe und zu einem ähnlichen intellektuellen und moralischen Unternehmen zu bewegen. Kurz gesagt, die Dialoge bilden gleichzeitig eine Einladung zur Philosophie und eine Kritik seiner intellektuellen Rivalen. Wie auch immer man über Platons sonstige Leistungen oder Fehler als Autor und Denker urteilen mag: ein Unternehmen, in dem er zweifellos erfolgreich war, ist die Schaffung eines Sokrates, der dem Leser unter die Haut geht (siehe Sokrates, § 7). Platon ist genial in seinem Portrait von dessen Charakter: die manchmal arrogant anmutende ‚Selbstauslöschung‘ der Persönlichkeit des Sokrates; die gleichzeitig aufrichtige und unaufrichtige Ironie; die intellektuelle Schlüpfrigkeit im Dienste 1394
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moralischer Paradoxien; der Adel des Märtyrers, der alles verliert und doch seine eigene Seele rettet, und schließlich die Darstellung des Helden, der fest auf dem Schlachtfeld oder im Angesicht der Drohungen der politischen Autoritäten steht; ruhelose Rationalität und praktisch unbezwingbare Selbstkontrolle, die auf seltsame Weise zusammengeht mit einer Empfindsamkeit für schöne junge Männer und ihren erotischen Charme. Wichtig ist auch die geistreiche Vielfalt der Perspektiven, aus denen wir Sokrates mit anderen redend und handelnd erleben. Manchmal spricht er gar direkt zu uns (beispielsweise in der ‚Apologie‘ und im ‚Gorgias‘). Dann wieder lädt uns Platon zur Komplizenschaft mit ihm ein in eine verständnisvolle Schilderung, die Sokrates von einem seiner eigenen Auftritte gibt (wie im ‚Charmides‘ und im ‚Protagoras‘). Manchmal wird auch jemand anderes vorgestellt, wie er sich an eine unvergesslich emotionale Gelegenheit erinnert, als Sokrates einen ganzen Raum voller Leute dominierte, wie beispielsweise in den mächtigsten aller Dialoge, dem ‚Phaidon‘ und dem ‚Symposion‘. Hier geraten wir in die Illusion, dass Sokrates selbst dann noch er selbst bleibt, obwohl doch die Ideen in ihm schon weiter fortgeschritten sind, als dies vom historischen Sokrates (oder zumindest von dem agnostischen Sokrates der ‚Apologie‘) in seinem Denken über die Seele und ihre Unsterblichkeit oder über die Güte und die Schönheit behauptet werden kann. 5. Das Problem des Schreibens Es mag seltsam erscheinen, dass ein so origineller Autor mit der Kraft und Statur des Platon sich damit zufrieden gegeben haben soll, dass er bis auf die ‚Briefe‘ – wenn diese überhaupt von ihm sind – niemals direkt zum Leser gesprochen haben soll, sondern immer nur indirekt durch das Medium der Erzählung oder der dramatischen Fiktion, selbst wenn man den Spaß daran zugibt, den er offenbar hatte, seine Meisterschaft in diesem Medium unter Beweis zu stellen. Dies wird jedoch schon weniger rätselhaft, wenn wir gründlicher über Sokrates und die sokratische Fragemethode nachdenken. Zur Zeit des ‚Menon‘ wollte Platon bereits auf jeden Fall zeigen, dass die Widerlegungsmethode (also die sog. ‚elenktische’ Methode) voraussetzt, dass das Verständnis nicht etwas ist, was eine Person ganz direkt auf eine andere Person übertragen kann, sondern dass sie von einem Sprecher selbst durch- oder ausgearbeitet werden und dadurch ganz von innen heraus neu gewonnen und gesammelt werden muss. Dies wird im Wege eines Beispiels aus der Mathematik verdeutlicht, wo es offenkundig wahr ist, dass das Erkennen der Antwort auf ein Problem etwas ist, das niemand anderes für uns erledigen kann, selbst wenn die Fragen des Sokrates uns bis an diesen Punkt bringen. Die Lehre, die wir hieraus ziehen sollen, ist, dass Sokrates, indem er seine Gesprächspartner dahin drängt, was sie selbst zu glauben meinen, er nur ein intellektueller Geburtshelfer für sie ist, wenn sie für sich selbst eine tiefere und kohärentere Gruppe von Ansichten formulieren, die idealerweise die Wahrheit bilden. Der platonische Dialog kann als ein Versuch zur Schaffung einer Beziehung zwischen Autor und Leser verstanden werden, der analog zu dem zwischen Sokrates und seinem Gesprächspartner verläuft. Geht man davon aus, dass diese Beziehung auf die Weise konstruiert wird, wie dies im ‚Menon‘ angedeutet wird, so wird der springende Punkt des Dialogs ähnlich dem einer Widerlegung sein: nicht etwa den Leser über die Wahrheit zu belehren (die, genau genommen, gar nicht gelehrt werden kann), sondern ihn dahingehend zu provozieren und zu leiten, dass er, daran ar1395
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beitend, sie für sich selbst entdeckt. Die meisten der Dialoge aus Campbells ‚spätem Sextett‘ sind zugegebenermaßen didaktischer, als man es aus dieser Sicht des Dialogs erwarten sollte, und es ist bedeutsam, dass Sokrates außer im ‚Philebos‘ nicht mehr der Hauptsprecher ist. Und doch kann auch hier noch die dialogische Form als das Symbol dafür aufgefasst werden, dass die Verantwortung für ein aktives philosophisches Engagement, von dem Platon selbst beim Schreiben erfüllt war, beim Leser selbst liegt, wie dies auch durch die Schwierigkeit und in einigen Fällen durch die methodische Vertieftheit in den meisten dieser Werke bestätigt wird. In einer viel diskutierten Passage am Ende des ‚Phaidros‘ (275–278) lässt Platon Sokrates über die Beschränkungen des geschriebenen Wortes sprechen. Dieses könne keine Frage beantworten, es könne seine Leser nicht wählen, es würde missverstanden, ohne über Mittel zu verfügen, um die Irrtümer zu korrigieren. Seine einzige wertvolle Funktion sei es, diejenigen an das zu erinnern, was sie bereits wissen. Im Gegensatz zu diesem toten Diskurs kann sich die lebendige Rede selbst verteidigen wird nach den Fähigkeiten des jeweiligen Publikums gestaltet. Die einzig seriöse Verwendung von Worten sei nur in der gesprochenen Rede möglich, nicht im Schreiben, und zwar dann, wenn sie durch Dialektiker verwendet wird, um den Samen der Erkenntnis in der Seele des Lernenden auszustreuen. Wenn sie ihre Gedanken dem geschriebenen Text anvertrauten, dann täten sie dies nur im Spiel (gr.: paidia‾ = Kinderspiel, Spiel, Scherz). Der ‚Siebte Brief‘ (341–342) enthält ähnliche Bemerkungen über das Niederschreiben von Philosophie, und an verschiedenen Stellen, z.B. im ‚Staat‘, ‚Timaios‘ und den ‚Gesetzen‘, werden die Diskussionen, an denen die Gesprächspartner beteiligt sind, als Spiel bezeichnet, das nicht ernst zu nehmen sei. Die Interpreten haben diese niedergeschriebenen Bemerkungen über das Geschriebene oft mit der nachdrücklichsten Ernsthaftigkeit aufgefasst. Insbesondere die Tübinger Schule des Platonismus hat sie mit Verweisen, insbesondere bei Aristoteles, auf ungeschriebene Lehren von Platon in Verbindung gebracht. Sie schlugen vor, dass die fundamentalen Prinzipien seiner Philosophie überhaupt nicht in seinen Dialogen ausgearbeitet wurden, sondern den mündlichen Diskussionen in der Akademie vorbehalten waren, und dass sie folglich von uns aus Hinweisen über die ungeschriebenen Lehren rekonstruiert werden müssten. Aber diese Hinweise sind verdächtig, weil sie (z.B. von Aristoteles) sehr redegewandt und ungreifbar vorgetragen werden, wogegen die geschriebenen Texte verlässlicher sind. Es gibt jedoch zwei Vorzeigestücke, die den Hinweis auf Platons ungeschriebene Lehre stützen. Erstens erzählte Aristoteles, dem Musiktheoretiker Aristoxenus (4. Jahrhundert v. Chr.) zufolge, üblicherweise, dass Platon seine Zuhörer, wenn er Vorlesungen über das Gute hielt, regelmäßig überraschte und enttäuschte, weil er die meiste Zeit über Mathematik redete (‚Harmonie‘ II, 30.16–31.3). Zweitens bezieht sich Aristoteles an einer Stelle in der Physik (209b13–16) auf Platons „so genannte ungeschriebene Lehren“, und die aristotelischen Kommentatoren berichten, dass Aristoteles und andere Mitglieder der Akademie anderweitig mehr darüber geschrieben hätten. Als Platons Schlüsselidee verstand man das Postulat des Einen und des Großen und des Kleinen, oder die ‚unbestimmte Zweiheit‘ (‚indefinite Dyade‘), als Prinzip aller Dinge, einschließlich der Formen. In seiner ‚Metaphysik‘ (I.6) scheint Aristoteles zu implizieren, dass die Formen in dieser Theorie in gewissem Sinne als Zahlen konstruiert seien. Es bleibt jedoch im Dunkeln und ein Gegenstand einer noch unab1396
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geschlossenen akademischen Debatte, wie weit diese Theorie ausgearbeitet wurde, und welches Gewicht wir ihr zuweisen sollten im Vergleich mit den metaphysischen Erforschungen der Dialoge aus Platons mittlerer und später Schaffensperiode (siehe z.B. Guthrie 1975, 1978). Die allgemeine Frage, wie wir Aussagen von Gesprächsteilnehmern (hauptsächlich Sokrates) in seinen Dialogen Platon selbst zuschreiben können, stellen sich viele Leser. Die Position, die hier eingenommen wird, lautet, dass es nicht leicht ist, hierzu Stellung zu beziehen: manchmal verwendet Platon beispielsweise die dialogische Form, um ein Problem durchzuarbeiten, das ihn plagt, manchmal aber auch, um uns eine Reihe von Ideen vorzustellen; dann wieder spielt er neckisch mit Ideen oder Positionen oder Methoden, ohne sich verbindlich zu einer von ihnen zu äußern; und häufig schlägt er uns Wege vor, auf denen wir selbst ausprobieren sollten, wie weit uns die Philosophie trägt. Was die Tübinger Schule betrifft, stimme ich ihr insofern zu, dass der ‚Staat‘, wenn er die Form des Guten einführt, selbst darauf hinweist, dass dem Leser nur Vermutungen und Bilder angeboten werden, und nicht die gründlichen dialektischen Diskussionen, die für ein eigentliches Verständnis des Stoffes notwendig wären. Aber der Begriff der Ernsthaftigkeit und des Spiels sind weniger direkt zu verstehen, als man annehmen könnte. Das Spiel mit Ideen, d.h. das Ausprobieren und Entwickeln von Ideen, um zu sehen, was an ihnen funktionieren könnte und was nicht, ist die Art und Weise, wie häufig neue Einsichten der Philosophie und der Wissenschaften entdeckt werden. Wenn wir darauf in einem der platonischen Dialoge stoßen, so scheint dies oft unernst gemeint zu sein, ohne damit gleich frivol zu werden. Und wir sollten nicht vergessen, dass der platonische Dialog sich selbst als eine gesprochene Konversation darstellt. Man kann dem Gedanken kaum widerstehen, dass wir hierdurch aufgefordert werden, seine Dialoge nicht so sehr als geschriebenen Text, sondern eher als Versuch zur Überschreitung der Beschränkungen des Geschriebenen zu behandeln. Vielleicht war die Idee dahinter, dass sie den Erfolg der lebendigen Rede erzielen können, wenn sie nicht als Texte behandelt werden, die interpretationsbedürftig sind (trotz Platons unwiderstehlichem Drängen zur Produktion von Texten, die genau dazu gedacht sind, Interpretationsversuche anzuregen), sondern als Anregungen zu Fragen, die wir uns grundsätzlich selbst stellen müssen, oder als Nährboden, aus dem eines Tages in unseren Seelen die Philosophie erwächst. 6. Das frühe Werk Die Fachgelehrten sind sich weitgehend darin einig, dass die folgenden Schriften zu den frühesten von Platon gehören: die ‚Apologie‘, der ‚Kriton‘, ‚Ion‘, ‚Hippias der Kleine‘, ‚Laches‘ und ‚Charmenides‘. Die ‚Apologie‘ passt, wie wir bereits feststellten, am besten in den Kontext des Jahrzehnts, das auf Sokrates’ Tod folgte, und so auch der ‚Kriton‘, der die Frage untersucht, warum Sokrates nicht aus der Todeszelle zu entkommen versucht. Die anderen sind allesamt kurze Abhandlungen von Fragen, die mit der Tugend und der Erkenntnis zu tun haben, oder im Falle des ‚Ion‘ mit dem Fachwissen (gr.: technē), und sie sind relativ einfach in ihrer literarischen Struktur. Der kurze ‚Euthyphron‘ und der wesentlich längere ‚Protagoras‘ und der ‚Gorgias‘ (der häufig mit dem ‚Menexenos‘ in Zusammenhang gebracht wird) werden üblicherweise als Werke betrachtet, die ihnen nahe stehen und werden deshalb auch relativ früh datiert, obwohl in ihnen auch schon die Vorwegnahme 1397
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des Stils oder Inhalts der reifen mittleren Schaffensperiode entdeckt wurden. Die gedanklichen Verbindungen zwischen dem ‚Lysis‘, ‚Euthydemos‘ und ‚Hippias der Größere‘ einerseits und der mittleren platonischen Schaffensperiode könnte sogar noch stärker sein, selbst wenn noch eine klare Ähnlichkeit zu den eindeutig als früh anerkannten Dialogen besteht. Wir wissen nicht, ob Platon irgendetwas vor Sokrates’ Tod schrieb oder gar veröffentlichte. Der ‚Menexenos‘ kann nicht vor 386 v. Chr. geschrieben worden sein, der ‚Ion‘ könnte um die Jahre 394–391 herum v. Chr. datiert werden, doch bei den anderen können wir nur vermuten. Alle die oben aufgezählten Dialoge fallen unter die gemeinhin verwendete Beschreibung ‚Sokratische Dialoge‘, weil sie als solche angesehen werden, die sich tatsächlich mit dem Denken des historischen Sokrates auseinandersetzen, wie Platon ihn verstand, im Unterschied zu den Schriften der mittleren Schaffensperiode, wo ‚Sokrates‘ häufig ein Vehikel zur Erforschung eines weiterreichenden Ideengebäudes zu werden scheint (siehe Sokrates, § 2). In den sokratischen Dialogen beschränkt sich die Diskussion praktisch ausschließlich auf ethische Fragen oder solche über den Geltungsbereich und den Nachweis von Fachwissen. Die Metaphysik und Erkenntnistheorie, aber auch Spekulationen über das Wesen und die Kräfte der Seele fehlen praktisch noch gänzlich. Die Verwendung des elenchos (d.h. der Widerlegungsmethode) steht in ihnen in einer Weise im Vordergrund, wie dies z.B. im ‚Staat‘ später nicht mehr der Fall ist (abgesehen vom 1. Buch, das manchmal auch als ein Frühwerk betrachtet wird, das nachfolgend erneut als Vorwort zum Hauptteil des Dialogs verwendet wird. Die Hypothese, dass ein Philosophieren auf diese Weise das Kennzeichen des historischen Sokrates war, stimmt weitgehend damit überein, was wir über ihn auch durch Xenophon, Aristoteles und in Platons ‚Apologie‘ erfahren, welche letztere gemeinhin als ein Beweisstück mit besonderer Geltungskraft betreffend die Ansichten des historischen Sokrates betrachtet wird, unabhängig davon, ob hier genau wiedergegeben wird, was Sokrates vor Gericht wirklich sagte. Wie genau der historische Sokrates dieser Hypothese zufolge hier wirklich zur Sprache kommt, werden wir niemals erfahren. Die Vermutung, dass viele der sokratischen Dialoge frühe Werke sind, ist ebenfalls nur eine Vermutung, die sich durch linguistische Analysen nicht mit vollständiger Sicherheit verifizieren lässt. Sie verweist jedoch auf eine literarische und philosophische Entwicklung bei Platon, die so ausgesprochen plausibel erscheint, dass alle konkurrierenden Ideen damit praktisch aus dem Feld geschlagen wurden. Die Verortung einzelner Dialoge innerhalb dieses Rahmens könnte nach wie vor bestritten werden, und Zweifel bestehen noch darüber, inwiefern die Interpretation von Platon entweder erhellt oder verstellt wird, indem man sich auf ein solches Entwicklungsmuster stützt. Unter diesen Vorbehalten geht die folgende Darstellung von der Existenz einer Gruppe früher sokratischer Dialoge in dem erklärten Sinne aus. Die Bequemlichkeit ihrer Beschreibung als ‚sokratische Dialoge‘ sollte jedoch nicht die Erwartung eines gänzlich einheitlichen literarischen oder philosophischen Unternehmens in diesen Schriften wecken. Damit würde eine bemerkenswerte Vielfalt verborgen werden, beispielsweise unter den Werken, die der Formulierung und Verteidigung des philosophischen Lebens und Arbeitens gewidmet sind, und die das Denken des Sokrates genauso stark problematisieren, als sie es anziehend erscheinen lassen. Diese Unterscheidung ist nicht erschöpfend, liefert aber nützliche Kategorien zum Nachdenken über einige der Schlüsselwerke aus Platons Frühwerk. 1398
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7. Die apologetischen Schriften Die moralische oder gar existenzielle Wahlentscheidung, um einen anachronistischen Ausdruck zu verwenden, ist der nachdrückliche Kernpunkt der ‚Apologie‘. Gott habe Sokrates ernannt, wie er vor seinen Richtern erklärt, ein philosophisches Leben zu leben, wodurch er sich selbst und andere einer ständigen Prüfung unterwerfe. Die Konsistenz dieses Bekenntnisses zu seiner Mission verlange von ihm nun, eher dem Tod entgegen zu sehen, als von seiner Ausübung der Philosophie abzulassen, von der er um des Arguments Willen annimmt, dass es dies ist, was das Gericht von ihm verlange. Stehe er also vor der Wahlentscheidung, entweder Gott den Gehorsam zu verweigern (d.h. die Philosophie aufzugeben oder dem menschlichen Befehl nicht zu gehorchen (d.h. das Aufgeben der Philosophie abzulehnen), so kann er nur die letztere Option wählen. Seine Entscheidung wird dabei von der Gerechtigkeit geleitet: „Nicht gut sprichst Du, lieber Mensch, wenn du glaubst, Gefahr um Leben und Tod müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein weniges nutz ist, und müsse nicht vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten.“ (‚Apologie‘, 28b) Ob der Tod ein Übel sei oder nicht, meint Sokrates, das wisse er nicht. Er weiß allerdings, dass falsches Verhalten und der Ungehorsam gegenüber den moralischen Vorschriften, seien sie göttlich oder menschlich, schlecht und schändlich seien. Die Forderungen der Gerechtigkeit, wie sein Gewissen (oder das ‚göttliche Zeichen‘) sie interpretieren, hätte ihn schon früher zur Wahl eines Lebens als privater Bürger gebracht, wo er nur mit einzelnen Menschen spricht, statt am politischen Leben teilzuhaben; denn Gerechtigkeit und das Überleben in der Politik seien miteinander unvereinbar. Als er öffentliche Pflichten und für eine Zeit lang ein Amt übernahm, zwang ihn die Gerechtigkeit erneut, den gefährlichen und unpopulären Weg des Widerstands gegen einen Vorschlag einzuschlagen, der politisch gelegen kam, aber gegen geltendes Recht verstieß. Dies gelte auch für diejenigen, mit denen er philosophische Gespräche führe; auch sie stünden vor einer Wahl, entweder sich hauptsächlich um ihren Besitz und ihren Körper zu kümmern, oder um die Tugend und um ihre Seele, d.h. um das, was zu einem selbst gehört, oder was man selbst sei. Und nun müssten die Richter auch wählen und bestimmen, was ihr Gerechtigkeitsschwur von ihnen verlange. Der ‚Kriton‘ und der ‚Gorgias‘ setzen das Thema auf unterschiedliche Weise fort. ‚Kriton‘ wurde häufig als schwierig mit der ‚Apologie‘ vereinbar empfunden, da er auf u.a. paternalistische und quasi-kontraktualistische Weise argumentiert, dass die Bürger immer dem Gesetz zu gehorchen hätten, solange sie den Gesetzgeber nicht davon überzeugen können, dass dieses Gesetz falsch sei. Weil aber das Gesetz verlangt, dass sich Sokrates der Strafe unterwirft, die ihm das Gericht auferlegt hat, muss das über ihn verhängte Todesurteil akzeptieren. Die höhere Autorität des göttlichen Befehls, auf die die ‚Apologie‘ noch abstellt, scheint hier vergessen zu sein. Doch erneut scheint sich die gesamte Argumentation auf die Gerechtigkeit zu berufen und auf die Wahlentscheidungen, vor die sie den Menschen stellt: wir müssen ihre Wahrheit beherzigen und nicht dem folgen, was die populäre Meinung sagt; wir müssen uns entscheiden, ob wir uns der radikalen sokratischen Aussage anschließen wollen, dass eine Vergeltung von Unrecht oder Ungerechtigkeit niemals richtig sei 1399
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(siehe Sokrates, § 4). ‚Gorgias‘, einer der längsten aller Dialoge, steckt einen weiten Themenhorizont ab, aber der Kern ist die Eröffnung einer Wahlentscheidung. Sokrates spricht Kallikles an, in dessen Rhetorik Nietzsche eine Antizipation seines Ideals des Übermenschen sah: „Denn du siehst, unsere Untersuchung bezieht sich auf einen Gegenstand, den jeder Mensch, der nur einigen Verstand besitzt, mit größerem Ernste behandeln müsste als sonst irgend einen: das ist die Frage, auf welche Weise man leben muss, ob nach dem Grundsatz, den du empfiehlst, dass man ja die gepriesenen Mannestaten vollbringe, vor dem Volke als Redner auftrete, die Redekunst übe und ein Staatsmann sei nach eurer Art, oder ob man sich dem Leben zuwenden muss, das in der Philosophie sein Heil sucht, und welcher Unterschied zwischen diesem und jenem stattfindet?“ (‚Gorgias‘, 500c) Dieser Dialog wendet eine enorme Energie für das Argument auf, dass nur die Philosophie, nicht aber die Rhetorik uns mit der wahren Fachkunde ausstattet, die uns wirkliche Macht verleiht, d.h. die Macht, das zu erreichen, was wir wollen, und das ist das wirklich Gute, im Gegensatz zum nur anscheinend Guten. Nur die Philosophie vermag eine rationale und verlässliche Konzeption des Glücks zu vermitteln, und diese erweist sich als etwas, was von der Gerechtigkeit abhängt. 8. Der ‚Laches‘ und der ‚Charmides‘ Man vergleiche nun die Werke, die in § 7 vorgestellt wurden, mit dem ‚Laches‘ und dem ‚Charmides‘, die beide wahrscheinlich als ein Textpaar konzipiert waren; der eine als eine Untersuchung der Tapferkeit, der andere über die sōphrosynē (dt.: Mäßigung, Maß). Beide finden innerhalb eines recht entwickelten Rahmens statt, der mit dem des ‚Kriton‘ und des ‚Gorgias‘ nicht viel zu tun haben scheint. In beiden geht es um die Beziehung von Theorie und Praxis, die noch nachdrücklicher im ‚Laches‘ und etwas ungreifbarer auch im ‚Charmides‘ behandelt wird. Zum Beispiel wird Sokrates im ‚Laches‘ sowohl als Meister des Beweises über die Tapferkeit, und als ein Beispiel der Tugend in der Praxis selbst dargestellt, wörtlich durch Bezugnahme auf sein Verhalten beim Rückzug in Delium im Ersten Peleponnesischen Krieg, metaphorisch durch sein Beharren auf der Dialektik, worauf seine Einlassungen über die Notwendigkeit der Beharrlichkeit in einer Untersuchung hinweisen. Ein besonders interessantes Merkmal dieser Dialoge ist ihr Spiel mit der Dualität. Sokrates ist mit zwei Arten von Gesprächspartnern konfrontiert, die offenkundig komplementäre Rollen spielen. Wir hören zuerst die Ansichten der teilnahmsvolleren Seite. Der Feldherr Laches, den Sokrates als einen Partner während der Beweisführung ausmacht, und den jungen Aristokraten Charmides, von dem er sich angezogen fühlt. Jeder von beiden zeigt Verhaltenszüge, die mit der diskutierten Tugend zusammenhängen, und jeder bietet eingangs eine Verhaltensdefinition der Tugend, die später allerdings zugunsten einer dispositionalen Analyse revidiert wird: die Tapferkeit wird als eine Art von Dauerhaftigkeit der Seele konstruiert, und die sōphrosynē als Mäßigung. Nachdem diese Darstellungen durch das Widerlegungsverfahren zurückgewiesen sind, schlagen die Mitglieder des anderen Typs von Gesprächspartner eine intellektualistische Definition vor. Nikias zufolge, der ebenfalls Feldherr ist, ist die Tapferkeit Wissen über dass, was Angst oder Selbstvertrauen hervorruft, während Kritias die sōphrosynē mit der Selbsterkenntnis identifiziert.
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Der Text enthält deutliche Hinweise, dass der wirkliche Autor hinter diesen letzteren Defintitionen Sokrates selbst ist; und im ‚Protagoras‘ drängt er Protagoras dazu, dieselbe Definition der Tugend anzunehmen. Es gibt ferner Hinweise, dass dieser Intellektualismus nach dem Verständnis der hier auftretenden Darsteller nicht mehr als sophistische Schlauheit ist, und das keiner von ihnen die Tugend besitzt, die zu verstehen sie behaupten. Beide werden durch weitere Widerlegungen (gr.: elenchoi) des Sokrates zurückgewiesen, und in jedem der beiden Fälle führt die Beweisführung zu der Schwierigkeit einer intellektualistischen Darstellung, die praktisch keine Definition der allgemeinen Tugend sei, wie dies für das einfache Wissen des Guten und Schlechten gilt. Der ‚Laches‘ wirft explizit die methodische Frage auf, ob man versuchen sollte, Teile der Tugend zu erforschen, um die Tugend insgesamt zu verstehen, oder eher umgekehrt; hier finden sich klare Verbindungen mit der Hauptargumentation des ‚Protagoras‘. Aristoteles zweifelte nicht daran, dass Sokrates geglaubt habe, alle Tugenden entsprängen dem Wissen (‚Eudemische Ethik‘, 1216b6); und viele Denkbewegungen der frühen Dialoge hängen von der Annahme ab, dass man gut sein wird, wenn man weiß, was gut ist (siehe Sokrates, § 5). Doch ‚Laches‘ und ‚Charmides‘ präsentieren diese sokratische Auffassung als etwas Problematisches. Es sei nicht nur schwierig, den eindeutigen Inhalt jenes Wissens zu bestimmten, mit dem eine jede Tugend zu identifizieren sei, sondern es bestünde auch die Schwierigkeit, dass jede rein intellektuelle Bestimmung dessen, was eine Tugend ausmache, nicht auf die Verhaltensdispositionen verweisen, die von Charmides und Laches erwähnt werden, und für die sie selbst, wie auch Sokrates, Beispiele sind. Indem er diese Schwierigkeit anspricht, kündigt sich bei Platon das Bedürfnis nach einer komplexeren Moralpsychologie als die sokratische an, wenn es auch zunächst nur darum geht, dem Leben des Sokrates gerecht zu werden. Wenn man die Auffassungen von Laches und Nikkias zusammenfasst, sind wir von jener Darstellung der Tapferkeit nicht mehr weit entfernt, wie sie im ‚Staat‘ präsentiert wird, und zwar als eine Tugend des geistigen Teils der Seele: „Tapfer also, meine ich, nennen wir jeden Einzelnen vermöge dieses Teils [seiner Seele], wenn [er] sein Mutartiges durch Lust und Unlust hindurch [in Bezug auf dasjenige] immer treu bewahrt, was von der Vernunft als furchtbar angekündigt worden ist, und was als nicht furchtbar.“ (‚Der Staat‘, 442b) 9. Andere untersuchende Dialoge Im ‚Protagoras‘ ist es Sokrates selbst, der die Theorie ausarbeitet und verteidigt, dass das Wissen bereits für ein tugendhaftes Handeln ausreicht, und dass unterschiedliche Tugenden unterschiedliche Formen dieses Wissens sind (siehe Aretē). Er spielt hier nicht die Rolle des Theoriekritikers, noch sind andere Gesprächspartner anwesend, die Alternativen hierzu vorzuschlagen hätten. Tatsächlich wird Protagoras, Sokrates’ Partner und nicht sein Gegner im Hauptargument, als jemand dargestellt, der die Prämisse akzeptiert, dass – wie er selbst sagt – „Weisheit und Wissen die mächtigsten Kräfte sind, die die menschlichen Angelegenheiten lenken“ (352c–d). Es wäre ein Fehler zu meinen, dass Platon ein und dieselbe Auffassung problematisch fand, als er den ‚Laches‘ und ‚Charmides‘ schrieb, aber unproblematisch, als er den ‚Protagoras‘ schrieb, und daraus die chronologische Hypothese abzuleiten, um mit dem Widerspruch fertig zu werden. Der ‚Protagoras‘ ist einfach eine andere Art von Dialog: er zeigt die sokratische Dialektik in actu, wenn auch 1401
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aus einer gewissen Distanz, ohne dies in Frage zu stellen. Er ist dem Typus nach ein gänzlich anderes Werk auch als der ‚Gorgias‘; ersterer ist ein urban-intellektuelles Kräftemessen, letzterer eine todernste Konfrontation zwischen Philosophie und politischem Ehrgeiz. Der ‚Gorgias‘ greift fraglos den Hedonismus an, während der ‚Protagoras‘ für ihn eintritt, um dadurch eine geeignete Prämisse zur Verteidigung des intellektualistischen Paradox‘ zu erhalten, dass niemand willentlich etwas Falsches tue. Damit jedoch bleibt Sokrates’ eigene Bindung an diese Prämisse bestenfalls ambivalent (siehe Sokrates, § 6). Inkommensurabilitäten dieser Art lassen es nicht geraten erscheinen zu versuchen, eine relative Chronologie der beiden Dialoge auf der Grundlage einer offenkundigen Unvereinbarkeit der beiden hier erscheinenden sokratischen Positionen aufzustellen. Die Gedrängtheit dieses Beitrages erlaubt keine Diskussion des ‚Ion‘, einer Debatte über die Dichtung: ist sie Handwerk oder (göttliche) Inspiration?, und auch nicht des ‚Hippias der Kleinere‘, in dem uns Sokrates an der Nase herumführt mit dem Paradox – das er aus seiner Gleichsetzung von Tugend und Wissen ableitet – dass jemand, der wissentlich und absichtlich etwas Falsches getan habe, besser wäre als jemand, der dies unabsichtlich infolge von Unwissenheit getan habe. Auch die Interpretation des ‚Euthyphron‘ bleibt unvermeidlich strittig. Seine logische Raffinesse ist bewundernswert, und der Dialog wird wegen der dort zum ersten Male formulierten großen Fragen über die Religion gefeiert: entweder sollten wir uns richtig verhalten, weil Gott uns befahl, dies zu tun, was unser aller moralischen Autonomie beraubt, oder weil es richtig ist, dass Gott uns dies befohlen hat, wodurch der Wille Gottes moralisch redundant ist, weil er zu der bereits zuvor bestehenden Richtigkeit der Handlung nichts mehr außer seinem Befehl hinzufügt. Zum ‚Lysis‘ und ‚Euthydemos‘ gibt es etwas mehr zu sagen (in beiden tritt in einer Nebenrolle Kesippos auf, und beide sind von derselben hocherotischen Atmosphäre aufgeladen), sowie auch zum ‚Hippias dem Größeren‘. Sie alle zeigen Sokrates, wie er mit ausgedehnten Frage-und-Antwort-Sitzungen beschäftigt ist, obwohl nur im ‚Hippias dem Größeren‘ dieses Verfahren im eigentlichen Sinne durchgeführt wird. In den anderen Dialogen sind seine Hauptgesprächspartner junge Männer, die noch keine überlegte eigene Meinung haben, die einer Widerlegung wert wären. Alle Gespräche enden damit, dass es den Gesprächspartnern von Sokrates nicht gelingt, ihre Haltung aufrechterhalten zu können. Und alle spielen auf großartige Weise mit Dualitäten unterschiedlicher Arten. Ungewöhnlich geschickte literarische Methoden kennzeichnen die drei Werke, von der Einführung eines alter ego für Sokrates im ‚Hippias‘ bis zur Unterbrechung der Diskussion des Hauptthemas durch den ‚Rahmendialog‘ im ‚Euthydemos‘ an dem Punkte, wo die Diskussion offenkundig die zentralen Bücher des ‚Staates‘ entweder in Erinnerung ruft oder vorwegnimmt. Bei allen scheint es grundsätzlich um die dialektische Methode zu gehen (die allerdings in gewissem Sinne ein Gegenstand aller Dialoge ist). Ferner ist der ‚Hippias‘ eine Untersuchung der Definitionsprozedur, angewandt auf einen Fall des Schönen, ‚Lysis‘ eine Studie in der Gegenüberstellung von These und Antithese, die in Platons Werk eine Parallele nur im ‚Parmenides‘ hat, und ‚Euthydemos‘ die Herausarbeitung des Gegensatzes zwischen ‚eristisch‘, d.h. einer lediglich von Konkurrenz motivierten sophistischen Beweisführung, wie sie von den Brüdern von Euthydemos und Dionysodoros gezeigt wird, und der nicht weniger spielerischen philosophischen Befragung, die sich auf ähnliche Weise, wenn auch am Ende doch 1402
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unterschiedlich selbst verstrickt. Dieser Dialog ist der einzige innerhalb des hier betrachteten Dialogtrios, von dem man wirklich überzeugt sagen kann, dass er sich, wenn auch auf eigenartige Weise, mit dem Denken des historischen Sokrates über das Wissen und die Tugend auseinandersetzt. Doch die dortige Einführung von Ideen aus dem ‚Staat‘ macht es schwierig, ihn unter die platonischen Frühwerke einzuordnen. Ähnlich gibt es auch im ‚Lysis‘ und ‚Hippias der Größere‘ Echos oder Ankündigungen der Theorie der Formen und einiger der Fragen zur Kausalität, die damit zusammenhängen. Wir können daraus schließen, dass diese geistreichen philosophischen Übungen – wahrlich ‚gymnastische‘ Stücke, um einen Ausdruck aus dem ‚Parmenides‘ zu gebrauchen – durchaus zur mittleren Schaffensperiode von Platon gehören. 10. Die Einführung des Platonismus Es ist überflüssig zu sagen, dass es keine Anweisung von Platon gibt, die uns auffordern könnte, den ‚Menon‘, das ‚Symposion‘ und den ‚Phaidon‘ zusammen zu lesen. Es gibt jedoch zwingende Gründe für die Annahme, dass Platon sie als eine Gruppe konzipierte, in der der ‚Menon‘ und das ‚Symposion‘ eine Vorbereitung aus dem ‚Phaidon‘ sein sollten. Kurz gesagt führt Platon im ‚Menon‘ seine Leser in die nichtsokratische Theorie der Unsterblichkeit der Seele und eine neue hypothetische Untersuchungsmethode ein, während das ‚Symposion‘ zum ersten Male die nichtsokratischen Ideen der platonischen Form formuliert, und zwar im Zusammenhang eines Philosophiebegriffs als dem Wunsch nach Weisheit. Nur im ‚Phaidon‘ werden alle diese neuen Ideen zu einer einzigen, komplexen Theorie verschmolzen, die auch die Erkenntnistheorie, die Psychologie, die Metaphysik und die Methodenlehre umfasst, und darüber hinaus eine sehr bestimmte philosophische Position aufstellt, die der Welt seitdem als Platonismus bekannt ist. Der ‚Menon‘ und das ‚Symposion‘ teilen zwei Merkmale, die auf Platons Absicht hinweisen, dass sie als Paar gesehen werden sollten, wobei sie dieselbe Art einführender Funktion erfüllen, trotz ihres enormen Unterschiedes z.B. in der dialogischen Form, dem Umfang und der literarischen Komplexität. Zunächst einmal werden beide sehr stark und auf bestimmte Weise im ‚Protagoras‘ vorweggenommen, der deshalb auch eine der letzten Schriften aus Platons Frühwerk betrachtet werden sollte. Am Ende des ‚Protagoras‘ (361c) lässt Platon Sokrates sagen, dass er den nicht zu Ende gebrachten Dialog gerne nochmals mit einem neuerlichen Definitionsversuch fortsetzen würde und dann auch nochmals überlegen würde, ob die Tugend lehrbar sei oder nicht. Dies ist genau die Aufgabe, der sich die Gesprächspartner im ‚Menon‘ unterziehen. Auf ähnliche Weise sind nicht nur alle dramatis personae des ‚Symposion‘ (außer Aristophanes) bereits im Protagoras versammelt, sondern an einem Punkte wird Sokrates auch dargestellt, wie er der Gesellschaft einige nur am Rande relevante Hinweise gibt, wie man ein Trinkgelage abzuhalten habe (347c–348a), und genau dies auf dem Gelage im ‚Symposion‘ geschieht. Zweitens sind sowohl der ‚Menon‘, als auch das ‚Symposion‘ außerordentlich umsichtig darin, dass Sokrates selbst nicht zu einem sich selbst bindenden Fürsprecher weder der Unsterblichkeit der Seele, noch der Theorie der Formen wird. Diese Lehren werden vielmehr den ‚Priesterinnen und Priestern‘ (im ‚Menon‘) bzw. einer Priesterin, nämlich der Diotima, im ‚Symposion‘ zugeschrieben. Im ‚Menon‘ sagt Sokrates, er wolle sich nicht für die Wahrheit der Lehre der Unsterblichkeit verbür1403
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gen, und im ‚Symposion‘ berichtet er von Diotimas Zweifel, ob er überhaupt in der Lage sei, in die Mysterien (eine Metapher, die im ‚Menon‘ auch für die Mathematik verwendet wird) eingeweiht zu werden, die ihren Höhepunkt in einer Vision der Form des Schönen haben. Im ‚Symposion‘ werden diese Warnzeichen noch verstärkt durch die außergewöhnliche Form des Dialogs selbst: die Abfolge der dort wiedergegebenen Gespräche und Reden sind wie in einer Russischen Puppe von Rahmengesprächen verschachtelt und werden als etwas dargestellt, was Jahre später stattfindet, so dass die Teilnehmer zugeben, dass sie sich nicht mehr ganz genau erinnern können, was sie damals hörten. Der ‚Phaidon‘ setzt wiederum den ‚Menon‘ und das ‚Symposion‘ voraus. In 72–73b wird Menons Argument für die Unsterblichkeit der Seele wieder in Erinnerung gerufen, während die Form des Schönen regelmäßig zu Beginn der List der viel besprochenen Formen erwähnt wird, die der ‚Phaidon‘ von Zeit zu Zeit einführt, beispielsweise in 75c, 77a und 100b. Es kommt einem so vor, als ob sich Platon auf unsere Erinnerung an die wesentlich umfänglichere Beschreibung der Form verlassen würde, die er bereits im ‚Symposion‘ gegeben hatte. Anders aber als im ‚Menon‘ und im ‚Symposion‘ stellt der ‚Phaidon‘ Sokrates selbst als jemanden dar, der den platonischen Positionen verpflichtet ist, zieht dabei aber Vorteile aus dem dramatischen Kontext – eine Diskussion mit Freunden, während er auf die Wirkung des Schierlingsbechers wartet –, indem er ihn für sich selbst wie ein sterbender Schwan prophetische Fähigkeiten beanspruchen lässt (84e–85b). Der Hinweis lautet vermutlich, dass der Platonismus eine natürliche Entwicklung von Sokrates’ Philosophie gewesen wäre, selbst wenn er weit über die Ideen des Wissens und der Tugend und die Imperative des philosophischen Lebens hinausgeht, auf die er sich in den früheren Dialogen beschränkt hatte. 11. ‚Menon‘ Der ‚Menon‘ ist ein Dialog mit sehr einfacher Struktur. Er besteht aus einem Gespräch zwischen Sokrates und Menon, einem jungen thessalischen Adligen, der im Banne des Gorgias steht. Dieser Dialog wird nur durch eine Passage unterbrochen, in der Sokrates Menons Sklaven ausfragt, und später durch eine kurze Einmischung durch Anytos, Menons Wirt und einer von Sokrates´ Anklägern in seinem späteren Gerichtsverfahren. Der Dialog ist in drei Abschnitte geteilt: ein erfolgloser Definitionsversuch, was die Tugend sei, wodurch die formalen Anforderungen an eine gute Definition in den Mittelpunkt rücken, ferner eine Demonstration in Anbetracht von Menons Zweifeln, dass eine erfolgreiche Untersuchung gleichwohl prinzipiell möglich sei, und schließlich eine Untersuchung über die zweitrangige Frage, ob die Tugend gelehrt werden kann, was zunächst im Wege einer Methode besprochen wird, die der Mathematik entlehnt wird. Obwohl der ethische Gesprächsgegenstand ein gründlich sokratischer ist, gilt dies doch nicht für den Charakter und den Umfang der Bemühung um die Methodik, sowie im zweiten Teil für jene um die Erkenntnistheorie und die Psychologie. Auch ist der Gebrauch mathematischer Prozeduren im ‚Menon‘ geeignet, Licht auf die philosophische Methodik zu werfen; diese beschränkt sich nämlich nicht auf den dritten Abschnitt. Definitionen des mathematischen Ausdrucks der Form werden im ersten Abschnitt verwendet, um beispielsweise das Prinzip zu erläutern, dass eine Definition eines Ausdrucks so formuliert sein sollte, dass die Gesprächspartner sie bereits zu kennen bestätigen. Und 1404
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die Demonstration eines elenchos mit einem positiven Ergebnis, der den zweiten Teil dominiert, wird durch ein geometrisches Beispiel erreicht. Es schaut so aus, als ob Platon zu der Auffassung gelangt sei, dass in der Analogie mit der Mathematik eine Hoffnung auf konstruktivere Ergebnisse in der Philosophie lägen, als sie vom sokratischen elenchos allgemein in den früheren Dialogen erreicht wurden. Dies ist eine Schlussfolgerung, zu der insbesondere der zweite und dritte Abschnitt des ‚Menon‘ einladen. Im zweiten Abschnitt wird Sokrates als jemand gezeichnet, der Menons ungelerntem Sklavenjungen eine geometrische Frage stellt (er soll die Länge der Seite eines Quadrates bestimmen, dass die doppelte Seitenlänge eines gegebenen Quadrates hat), und nimmt sich dessen Antworten mit der gewohnten elenktischen Methode genau vor. Der Junge beginnt, indem er meint, er wisse bereits die Antwort. Nach einer Reihe von irrtümlichen Versuchen wird er von Sokrates von seiner Unwissenheit überzeugt. Soweit ist der Verlauf der Dinge ganz sokratisch. Doch mit der Hilfe einer weiteren Konstruktion kommt der Junge schließlich auf die richtige Antwort und erlangt somit eine wahre Auffassung, von der angenommen wird, dass sie in Wissen verwandelt werden könnte, wenn er diese Übungen öfters wiederholen würde. Die stillschweigende Schlussfolgerung ist hier die, dass, wenn der elenchos in der Mathematik zu einem erfolgreichen Resultat führen kann, er dies auch in der Ethik bewirken können sollte. Gleichwohl und vielleicht in bedeutsamem Sinne drängt Sokrates nicht auf diesen Punkt, ja er artikuliert ihn nicht einmal. Die direkte Beschäftigung mit dem ursprünglichen Problem, was die Tugend sei, wird an diesem Kreuzungspunkt praktisch aufgegeben, und die Diskussion wendet sich der Frage ihrer Lehrbarkeit zu, sowie der Methode der Hypothesenbildung. Hier ist die Idee, dass man statt einer direkten Untersuchung der Wahrheit der Aussage p „eine andere Aussage h aufstellt (nämlich die Hypothese), so dass p ausschließlich wahr ist, wenn auch h wahr ist. Dann untersuche man die Wahrheit von h, wobei man zu bestimmen versuche, was daraus folgen würde (abgesehen von p), wenn h wahr, und alternativ, wenn h falsch wäre.“ (So wurde die Methode von Vlastos formuliert.) Nach der Erläuterung dieser Prozedur durch ein ziemlich seltsames geometrisches Beispiel macht Sokrates einen erhellende Gebrauch davon, indem er sie vor den Anwesenden auf ein ethisches Problem anwendet, und offeriert ihnen damit die sokratische These, derzufolge die Tugend Wissen sei, als jene Hypothese, aus der die Lehrbarkeit der Tugend abgeleitet werden kann. Die nachfolgende Überprüfung dieser Hypothese kommt zu einer Schlussfolgerung, die Kommentatoren frustrierend uneindeutig finden. Aber das Weiterleben der hypothetischen Methode im ‚Phaidon‘ und dem ‚Staat‘ reichen aus, um zu zeigen, dass Platon von seiner Methode recht überzeugt gewesen sein muss. Die Episode mit dem Sklavenjungen wird von Sokrates eigentlich als von etwas eingefügt, was viel mehr als nur ein Beweis der Möglichkeit einer erfolgreichen Befragung ist. Hier wird nahe gelegt, dass die beste Erklärung dieser Möglichkeit durch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele geleistet wird, einem pythagoreischen Glauben, der hier zum ersten von vielen Malen in den übrigen platonischen Dialogen auftaucht (siehe Psychē; Pythagoras; Pythagoreismus). Genauer gesagt lautet die Idee, wie sie Sokrates darstellt, dass die Seele schon vor dem Körper existiert, und zwar unter Umständen, die den bewussten Besitz von Wissen implizieren. Mit ihrem Eingang in den Körper vergisst die Seele, was sie weiß, behält dieses Wissen jedoch in latenter Form zurück, nämlich als Erinnerung. Die Entdeckung 1405
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dieser Art von apriorischem Wissen, welches charakteristisch für die Mathematik und nach Platons Auffassung auch für die Ethik ist, ist eine Frage des ‚Einsammelns‘ oder ‚Aufsammelns‘ dieser latenten Erinnerung. Genau dies erlebt der Sklavenjunge; Sokrates lehrt ihn nichts, er arbeitet es aus ihm selbst heraus, indem er birgt, über was dieser Junge ‚innerlich‘ bereits verfügt. Der Sokrates des ‚Menon‘ bekennt sich am Ende zwar nicht ausdrücklich zu der Überzeugung, dass das Lernen ein Aufsammeln angeborenen Wissens sei. Diese Lehre wird jedoch eindeutig im ‚Phaidon‘ befürwortet, und ebenfalls im späteren ‚Phaidros‘. Was aber wird eigentlich genau ‚aufgesammelt‘? Phaidon würde sagen: das Wissen der Formen. Menon dagegen bietet hierzu keine Hinweise an. Die Einführung der Theorie der Formen ist wiederum dem ‚Symposion‘ vorbehalten. 12. ‚Symposion‘ Das ‚Symposion‘ hat die größte Anziehungskraft aller platonischen Schriften. Kein Werk der antiken griechischen Prosadichtung kann sich mit seiner zwingenden Wirkung auf den Leser messen. Platon bedient sich zahlreicher literarischer Register, von der Schmierenkomödie und der literarischen Parodie bis hin zu Passagen verblüffender Phantasie und visionärer Erhebung, die in einer vielfach paradoxen Liebeserklärung an Sokrates kulminiert, die dem betrunkenen Alkibiades in den Mund gelegt wird. Die Liebe (in der hier gemeinten Form gr.: erōs) ist das Thema einer Folge von encōmia oder Lobreden, die auf einem Gastmahl oder Trinkgelage (gr.: symposion) unter der Gastgeberschaft des Bühnenschriftstellers Agathon gehalten werden. Hier geht es nicht um die sublimierte ‚platonische‘ Liebe zwischen den Geschlechtern, sondern um die homoerotische Leidenschaft eines reifen Mannes gegenüber einem Jüngeren, der gar noch ein Jugendlicher ist. Dies geht so dahin, bis Aristophanes, einer der Gäste, und Sokrates die Diskussion erweitern und umformen. Sokrates’ Rede, die eine Art Antilobrede ist, entwickelt eine allgemeine Theorie des Begehrens und dessen Beziehung zum Schönen, und in diesem Zusammenhang erscheint zum ersten Male und unverwechselbar die Theorie der Formen in Platons Œvre. Hier zeigt sich Platon zum ersten Male als ein Metaphysiker, und zwar nicht in einem Werk, dass der philosophischen Beweisführung gewidmet ist, sondern in einem hochgradig rhetorischen Text, wenn auch die flottesten rhetorischen Modelle dort gerade vom Sockel gestoßen werden. Liebe und Schönheit werden zuerst in einer der früheren Lobreden miteinander verbunden, und vor allem Agathons Behauptung, dass unter allen Lebensgütern die ‚Liebe die glücklichste von allen ist, denn sie ist die schönste und beste‘ (195a). Diese These wird in einem der argumentierenden Abschnitte des Dialogs durch Sokrates dem elenchon unterworfen. Agathon sieht sich genötigt zu akzeptieren, dass die Liebe und das Begehren notwendig Liebe und Begehren von etwas sind, nämlich dessen, was die oder der Liebende oder Begehrende braucht. Indem er sich seinem Zugeständnis anschließt, argumentiert Sokrates, dass die Schönheit nicht das ist, was die Liebe besitzt, sondern gerade das ist, dessen sie bedarf. Dieses Argument wird zu einem Wendepunkt in der Philosophie des gesamten Dialogs, den Platon nunmehr durch das Medium der Diotima entwickelt, einer wahrscheinlich fiktiven Priesterin in Delphi, von der Sokrates behauptet, sie habe ihn die Kunst der Liebe gelehrt, in der er bereits früher (177d) fachkundig zu sein beanspruchte. Zunächst erzählt sie einen Mythos, der die Liebe als den Spross der Armut (gr.: penia) und 1406
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der (Geld-)vorräte (gr.: póros, auch ‚Betriebsamkeit‘, ‚Handel‘) darstellt, und damit nach Diotimas Darstellung eine unbefriedigt-vermittelnde Position zwischen dem Nichtwissen und der Weisheit einnimmt, wobei letztere für die Philosophie typisch sei. Dies ist offenbar die Erklärung für Sokrates’ Behauptung, er sei ein Fachmann der Liebe, denn seine Suche nach Weisheit erweist sich damit als der wahrste Ausdruck von Liebe. Dann formuliert sie die theoretische Grundlage für diese intellektualistische Konstruktion der Liebe. Von der Theorie wurde zu Recht gesagt, sie kombiniere „eine Psychologie, die im strengeren oder weniger strengen Sinne sokratisch ist, mit einer Metaphysik, die vollständig platonisch ist“ (siehe Price, ‚Mental Conflict‘, 1995). Diese Psychologie behauptet, dass eine Person, die etwas begehrt, nicht so sehr das Schöne sucht als vielmehr das Gute, oder genauer gesagt das Glück im Sinne eines dauerhaften Besitzes des Guten. Die Liebe sei eine besondere Art von Begehren, das auftritt, wenn die Wahrnehmung der Schönheit in uns den Wunsch weckt, uns zu reproduzieren. (Sokrates drückt an diesem Punkte ausdrückliche Verblüffung aus; vermutlich ist dies ein Hinweis von Autorenseite, also Platon, dass Diotimas Gedankengang sich damit deutlich über das hinaus bewegt, was Platon als im strengen Sinne sokratisch betrachtet.) Diotima fährt mit der Erklärung fort, dass die Reproduktion der Weg sei, auf die die sterblichen Lebewesen die Unsterblichkeit suchen, was sie wiederum interpretiert als die Sehnsucht nach dem andauernden Besitz des Guten, als das sie das Begehren bereits identifiziert hat. Andere Lebewesen und viele Menschen seien glücklich mit der lediglich physischen Reproduktion, aber die Menschen seien darüber auch zur geistigen Schöpfung in der Lage, sofern sie durch einen schönen Körper hierzu angeregt werden, und noch mehr durch eine schöne Seele oder – modern gesagt – Persönlichkeit. Auf diese Weise müsse man die Tätigkeiten der Dichter und Gesetzgeber und allgemein der Tugendhaften verstehen. Vielleicht dachte Platon, dass diese Ideen, obwohl sie nicht mehr sokratischer Natur seien, doch eine überzeugende Erklärung für den Antrieb sei, der der philosophischen Tätigkeit des Sokrates allgemein zugrunde liege, und der ihn dazu bringe, so viel Zeit insbesondere mit schönen jungen Männern zuzubringen. Wie dem auch immer sei, er meint schließlich, dass Diotima noch größere Geheimnisse bereithielte, von denen sie nicht wisse, „ob du [Sokrates] imstande bist, ihnen zufolgen“. Diese sind nun Gegenstand einer lyrischen Darstellung, wie sich ein wahrer Liebhaber Schritt für Schritt von der Beschäftigung mit der Schönheit eines einzelnen Geliebten zur Hochschätzung hinentwickelt, dass es dieselbe Schönheit in allen Körpern ist und man sie deshalb alle lieben müsse, und von dort zu der Einsicht in die Schönheit der Seelen oder Persönlichkeiten und aller Arten geistiger Schöpfungen und die Liebe zu ihnen, „sondern gleichsam auf die hohe See des Schönen hinaussteuernd und es also mit einem Blicke überschlagend, viel schöne und herrliche Reden und Gedanken in des Weisheitsstrebens Fülle [d.h. in der Philosophie] gebäre, bis er, dadurch gekräftigt und bereichert, alles in eine einzige Erkenntnis von folgender Art zusammenfasst, die auf ein Schönes gerichtet ist ‘ (210d). Der abschließende Höhepunkt der Erleuchtung würde schließlich erreicht, wenn der Philosophen-Liebhaber die Schönheit selbst begreift, was als eine Erfahrung beschrieben wird, die wie die Erfüllung aller früheren Anstrengungen sei. Anders jedoch als andere Äußerungen der Schönheit sei die Form (oder Idee) des Schönen etwas Ewiges, dessen Schönheit nicht an einen Ort oder eine Zeit oder eine Beziehung auf etwas gebunden sei. 1407
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Sie ist genau diejenige Sache, die sie darstellt, wogegen Dinge, die Veränderungen oder dem Verfall unterworfen sind, nur aufgrund ihrer Teilhabe an der ewigen Form schön seien. Nur jemand, der danach gesucht habe, wäre in der Lage, nicht nur Bilder der Tugend hervorzurufen (womit vermutlich die Ideen und Theorien gemeint sind, die zuvor erwähnt wurden), sondern die Tugend selbst und auf diese Weise die Unsterblichkeit in dem Umfange erreichen, wie dies dem Menschen zugänglich sei. Es ist besonders auffällig, dass die Lehre der Unsterblichkeit der Seele kein Teil der Darstellung von Diotima ist. Wenn wir von einem fachlichen Konsens ausgehen, dass das ‚Symposion‘ dem ‚Menon‘ nachgeht, so stellt sich dies in gewisser Weise als ein Rätsel dar. Eine Lösung mag hier die Annahme sein, dass, obwohl der ‚Menon‘ diese Lehre bereits präsentiert hat, Platon offenbar selbst noch nicht ganz von ihrer Wahrheit überzeugt ist und ihr deshalb im Rahmen der Sehnsucht nach Unsterblichkeit im ‚Symposion‘ keine Rolle zuweist. Diese Lösung könnte durch den Umstand gestützt werden, dass der ‚Phaidon‘ selbst die Aufgabe des Eintretens für die Unsterblichkeit der Seele mit viel größerer Kraft übernimmt als der ‚Menon‘, und speziell eine viel sorgfältigere und entwickeltere Fassung des Arguments vom ‚Wiederauffinden‘ des Formwissens in der Erinnerung bietet. Ergänzend oder alternativ wäre noch anzumerken, dass Platon, als er die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in den Dialogen vorstellt, sie immer als etwas behandelt, was des ausdrücklichen Beweises bedarf, im Gegensatz zur Theorie der Formen (Ideenlehre), die allgemein als eine Hypothese dargestellt wird, die sich wegen ihrer explanatorischen Kraft oder ihrer Fähigkeit zur Lieferung der Voraussetzungen von Platons Erkenntnistheorie von selbst empfiehlt. Da die Rede von Diotima nicht im Sinne einer Beweisführung konzipiert ist, sondern als die Ausführung einer Idee, bietet sie auch nicht den Rahmen, der leicht jene Art von Darstellung zuließe, die Platon offenbar für notwendig hielt, um über die Unsterblichkeit der Seele reden zu können. 13. ‚Phaidon‘ Der Anfangspunkt für die Betrachtungen des ‚Phaidon‘ über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode liegt der Idee der Liebe als dem Begehren nach Weisheit sehr nahe, das Diotima zu Beginn ihrer Rede im ‚Symposion‘ anführt. Denn hier nun startet Sokrates mit dem Streben nach Weisheit, von dem er meint, es sei wirklich eine Vorbereitung auf den Tod. Dies sei so, weil es den Versuch darstelle, den Beschränkungen des Körpers so weit wie möglich zu entkommen und damit die Seele von ihrer Beschäftigung mit den Sinnen und den physischen Wünschen zu reinigen, so dass sie über die Wahrheit nachdenken kann, und speziell über die Formen, die nicht der Sinneswahrnehmung, sondern nur dem Denken zugänglich seien. Das reine Wissen von etwas würde in der Tat die vollständige Freiheit vom Körper voraussetzen. Nimmt man also an, dass der Tod die Trennung der Seele vom Körper sei, so wäre die Weisheit, die der Philosoph begehrt, erst dann vollständig erreichbar, wenn er tot sei. Deshalb sei der Tod für einen Philosophen nichts, was er fürchten müsse, sondern im Gegenteil etwas, das in Bezug auf den ganzen Lebensweg nur eine Vorbereitung war. Die schier unerträglich machtvolle Todesszene am Ende des Dialoges zeigt Sokrates als jemanden, dessen Heiterkeit und Frohsinn am Ende die Wahrheit dieser Einschätzung bezeugt. Das ‚Symposion‘ implizierte, dass ein langer Prozess der intellektuellen und emotionalen Neuorientierung notwendig sei, wenn für jemanden die Form (d.h. die 1408
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Idee) der Schönheit fassbar werden soll. Der ‚Phaidon‘ wurde manchmal so aufgefasst, als nähme er eine davon abweichende Haltung ein: als Interpret könnte man seine Argumente über das Wiederauffinden der Formen als eine Beschäftigung mit der allgemeinen Tätigkeit der Begriffsbildung verstehen, mit der wir alle schon von früh an in unserem Leben beschäftigt sind. Tatsächlich beschränkt die Passage das Wiederauffinden von Formen auf die Philosophen und legt nahe, dass das Wissen, das hier wiedergewonnen wird, nicht die grundlegende Fähigkeit zur Begriffsschöpfung sei (von der Platon in dieser Schaffensperiode zu meinen scheint, dass sie eine Funktion der Sinneserfahrung sei), sondern hart erarbeitetes philosophisches Verständnis dessen, was es heißt, schön oder gut oder gerecht zu sein. Die Gesprächspartner äußern die Sorge, dass Sokrates, wenn er einmal tot sei, niemanden hinterlassen werde, der noch über dieses Wissen verfüge. Und die Behauptung, dass das reine Wissen der Formen nur nach dem Tode zugänglich sei, passt zu der Darstellung im ‚Symposion‘ sehr gut, da es doch impliziert, dass der Pfad zur philosophischen Erleuchtung zwar nicht lang sei, aber immerhin eine Reise, die in diesem Leben nicht vollendet werden könne. Der Vorschlag, dass die Seele vom Körper abgesondert nach dessen Tod fortbestehe, wird sofort von Sokrates’ Gesprächspartnern in Frage gestellt. Ein guter Teil des verbleibenden ‚Phaidon‘ beschäftigt sich mit einer Folge von Argumenten, die diese Idee verteidigen, sowie das sich daran anschließende Argument, dass die Seele unsterblich sei, bereits vor dem Körper existiere und seine sterblichen Überreste für immer überlebe. Das längste und anspruchsvollste dieser Argumente ist das letzte der Gruppe. Es besteht aus einer Anwendung der hypothetischen Methode, die hier nochmals auf detailliertere Weise als im ‚Menon‘ erklärt wird. Die gewählte Hypothese ist die Theorie der Formen (d.h. der Ideenlehre), oder besser gesagt die Vorstellung, dass die Formen als Erklärungen oder Ursachen von Phänomenen wirken: schöne Dinge seien schön kraft (der Form) des Schönen, große Dinge seien groß kraft (der Form) der Größe etc. Sokrates drückt hier sein Vertrauen in den offenkundig nicht sehr gehaltvollen oder etwas simplen Ausdruck der Ursache als eine Position aus, zu der er erst nach früheren intellektuellen Enttäuschungen gelangt sei; zunächst hinsichtlich der Unangemessenheit der vorsokratischen materialen Ursachen, und dann durch das Versagen von Anaxagoras‘ Versprechen einer teleologischen Erklärung, warum die Dinge so seien, wie sie sind. Er schreitet aber rasch mit dem Hinweis fort, dass diese Hypothese auch zur Erzeugung raffinierterer Kausalmodelle verwendet werden könne. Statt nur vorzuschlagen, dass z.B. heiße Dinge deshalb heiß seien, weil sie an der Form der Hitze teilhätten, könnten wir mit Recht auch die speziellere Erklärung wagen: ‚Heiße Dinge sind heiß kraft des Feuers‘, vorausgesetzt, es sei wahr, dass immer dort, wo Feuer gegeben ist, es auch immer die Dinge in seiner Nähe erhitze, so dass diese selbst heiß und niemals kalt seien. Nach der Ausarbeitung dieses Punktes ist Sokrates bereit, das Modell auf den Fall des Lebens und der Seele anzuwenden. Infolge der Gleichheit der Argumente könnten wir behaupten, dass lebende Dinge nicht einfach lebendig kraft des Lebens sind, sondern kraft der Seele, sofern es der Fall sei, dass überall dort, wo Seelen existieren, diese die Dinge mit Leben erfüllen, so dass diese selbst lebendig und niemals tot seien. Aus dieser Behauptung scheint wiederum das zu folgen, was der Gegenstand der Übung ist: Wenn die Seele immer lebt und nie-
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mals tot ist, so muss sie unsterblich sein, d.h. unfähig zum Tode, und würde damit nicht verschwinden. Der ‚Phaidon‘ endet wie der ‚Staat‘ mit einem düsteren Mythos des jüngsten Gerichts und der Reinkarnation, wodurch vor allem die moralischen Implikationen aus Platons unverwechselbarer Fassung des Körper-Seele-Dualismus deutlich gemacht werden sollen. Dieser Dualismus erinnert uns an die pythagoreischen Ursprünge der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Denn der Platonismus des ‚Phaidon‘ verdankt auch der Metaphysik des Parmenides sehr viel. Sowohl hier, als auch im ‚Symposion‘, wird die Beschreibung der Formen als einfache und ewige Wesen, die nur durch das Denken, nicht aber durch die Sinne zugänglich seien, und auch der Gegensatz beider Dialoge hinsichtlich der Veränderung und der widersprüchlichen Welt der Phänomene, in einer Weise ausgedrückt, die von Parmenides und jener eleatischen Tradition entliehen sind, die von Letzterem ins Leben gerufen wurde. Der Platonismus kann deshalb als das Produkt eines Versuchs angesehen werden, eine grundlegend sokratische Konzeption der Philosophie und des philosophischen Lebens im Lichte einer Reflexion auf dem Hintergrund dieser beiden mächtigen, vorsokratischen Denkschulen zu leisten, und zwar unter Verwendung neuer methodischer Ressourcen, die durch die Geometrie verfügbar wurden. 14. ‚Der Staat‘ Der ‚Staat‘ trägt einen irreführenden Titel. Der griechische Name des Dialogs lautet ‚politeia‘, was die Standardbezeichnung für die Verfasstheit oder die Ordnung einer politischen Struktur ist. Die Überschrift ‚Politische Ordnung‘ gäbe daher vermutlich besser wieder, was Platon damit im Sinn hatte. Es gibt aber noch eine weitere und tiefere Komplikation. Beginnt man mit der Lektüre der Dialoge, so findet man dort vor allem Untersuchungen über die Gerechtigkeit, die als Tugend oder moralische Hervorragendheit einzelner Personen verstanden wird. Die philosophische Aufgabe, die hier nun unternommen wird, lautet nun zu zeigen, dass die Gerechtigkeit, wenn sie so konzipiert wird, im besten Interesse der gerechten Person selbst ist, selbst wenn sie nichts hervorbringt, was üblicherweise als Glück oder Erfolg verstanden wird, und sogar noch (wie bei dem Todesurteil über Sokrates) im Gegenteil eines solchen Erfolges. Daher vertritt der ‚Staat‘ ein Denken über die Gerechtigkeit, das bereits in den frühen Dialogen wie der ‚Apologie‘, dem ‚Kriton‘ und dem ‚Gorgias‘ angerissen wurde. Was bedeutet dann aber ein Titel, der nahe legt, es ginge hier um ein Werk über die politische, und nicht um die Moralphilosophie? Eine Möglichkeit der Antwort auf diese Frage ist eine Betrachtung der formalen Struktur des ‚Staates‘. Nach dem 1. Buch, einem ergebnislosen sokratischen Dialog, der aber immerhin, besonders in dem Gespräch mit Thrasymachos, viele der Themen einführt, im Rest des Werkes dann weiter verfolgt wird, einigen sich die Gesprächspartner darauf, das Problem der individuellen Gerechtigkeit indirekt zu behandeln: sie wollen das Wesen der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit in der polis, d.h. im Stadtstaat, betrachten, in der Hoffnung, dass sich hieraus eine erhellende Analogie ergibt. Das 2. – 4. Buch formuliert die soziale Klassenstruktur, die in einer ‚guten Stadt‘ erforderlich wäre. Hier wird vorgeschlagen, dass die politische Gerechtigkeit in einem solchen Staate in der sozialen Harmonie liegt, die man erreicht, wenn jede Klasse (d.h. die wirtschaftliche, militärische und herrschende Klasse) ausschließlich die ihr zugewiesenen Funktionen wahrnimmt. Sodann wird dieses Modell auf die 1410
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individuelle Seele angewandt (siehe Psychē). Die Gerechtigkeit und das Glück eines Individuums werden gesichert, wenn jeder Teil der Seele (die Begierde, das Gefühl, die Vernunft) die Rolle spielt, die er zum Wohle der allgemeinen Harmonie spielen sollte. Mit der Ausarbeitung dieser Idee der psychischen Harmonie formuliert Platon eine Konzeption der Komplexität psychologischer Beweggründe und der Struktur mentaler Konflikte, die die Einfachheiten des sokratischen Intellektualismus weit hinter sich lässt, und die ferner die Interpreten in manchen Punkten an die Freudsche Theorie erinnert, insbesondere im 8. – 9. Buch. Hier prüft Sokrates die unterschiedlichen Formen der ungerechten Sozialordnung (insbesondere der Oligarchie, der Demokratie und der Tyrannei), sowie die entsprechenden Bedingungen dieser Ordnungen, oder vielmehr die ihnen entsprechend zunehmende Unordnung der Seele. Die politische Theorie spielt daher eine große Rolle in dem Verlauf des Dialogs, selbst wenn der letzte Schwerpunkt auf der moralischen Gesundheit der Seele liegt, wie dies durch die Schlussfolgerung vom 9. Buch bestätigt wird. Sokrates deutet an, dass es vielleicht keine Rolle spiele, ob wir wirklich eine wahrhaft gerechte politische Ordnung bestimmen könnten, sofern wir nur die Idee einer solchen Ordnung zur Begründung einer gerechten Stadt innerhalb von uns selbst verwenden würden. Diese Darstellung des ‚Staates‘ übergeht das zentrale 5. – 7. Buch. Dort wird der Begriff der politischen Ordnung viel weitgehender erforscht, als dies für den Zweck der Untersuchung der individuellen Gerechtigkeit notwendig wäre. Hier entwickelt Platon den Begriff einer Art ‚kommunistischen‘ Regierungsklasse, einschließlich der Anwerbung talentierter Frauen neben den Männern, der Abschaffung der Familie und der Einrichtung eines zentralen eugenischen Fortpflanzungsprogramms. Und hier werden von Sokrates auch die Philosophen-Herrscher vorgeschlagen, um die Frage, wie die Idee der gerechten Stadt jemals in die Praxis umgesetzt werden könne, beantworten zu können: „Wofern nicht […] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten, oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, und dieses beides in einem zusammenfällt, Macht im Staate und Philosophie, den meisten Naturen aber unter den jetzigen, die sich einem von beiden ausschließlich zuwenden, der Zugang mit Gewalt verschlossen wird, gibt es, mein lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit […].“ (‚Der Staat‘, 473c–d). Was Platon vielleicht am meisten im Kopfe hatte, wenn er Sokrates von ‚Übeln‘ sprechen lässt, sind sowohl der Bürgerkrieg, als auch die Korruption, die er in allen existierenden Gesellschaften sieht. Wie er eingesteht, macht dies das Auftauchen eines aufrechten Philosophen-Herrschers unwahrscheinlich, und lässt es übrigens äußerst fraglich erscheinen, ob je eine Person außer Sokrates selbst jene moralische Ordnung innerhalb seiner Seele zu entwickeln vermag, wenn die Gesellschaft außerhalb mit moralischer Unordnung infiziert ist. Hier berühren wir nun ein weiteres und sehr breites politisches Thema des ‚Staates‘, das an verschiedenen Stellen des Dialogs ausgearbeitet wird. Dies betrifft neben anderen Dingen eine radikale Kritik der griechischen kulturellen Normen. Diese wird unterstrichen durch den Vorschlag einer Zensur von Homer im 2. und 3. Buch, und durch den Angriff auf die Dichter, speziell die Dramatiker, im 10. Buch, einschließlich ihrer Vertreibung aus der idealen Stadt. Dies sind aber nur die auffal1411
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lenderen Episoden in einer systematischen Attacke auf die griechischen Überzeugungen über Götter, Helden und die Verstorbenen, auf die ethischen Grundlagen der Musik, des Tanzes und der Gymnastik (siehe Mimēsis), und wiederum auf das erotische Liebeswerben, und auf die medizinische und gerichtliche Praxis. Im ‚Staat‘ wird für all dies ein eigenes, strenges und staatliches Erziehungs- und Ausbildungsprogramm eingesetzt, das sich eingangs auf die Übung der Gefühle konzentriert, nachfolgend aber im 6. und 7. Buch auch auf die Mathematik und die Philosophie ausdehnt. Platon sieht keine Hoffnung für die Gesellschaft oder die menschliche Rasse ohne eine grundlegende Neuorientierung aller Ideale in unserem Herzen und unserem Geiste, unterstützt durch eine absolute politische Autorität. Der ‚Staat‘ ist auf eine Weise geschrieben, dass er seinen Leser auffordert, beständig seine Perspektive auf den riesigen Bereich der Fragen zu erweitern, die hier behandelt werden, angefangen bei den Banalitäten der Eröffnungskonversation zwischen Sokrates und dem betagten Zephalos, bis zu seiner platonischen Ausführung des eigentlichen Begriffs der Philosophie in der Erkenntnistheorie und Metaphysik des 5. bis 7. Buchs. Auf dem Höhepunkt des gesamten Werks präsentiert Platon durch Verwendung der hypothetischen Methode die Form oder Idee des Guten als dem äußersten Ziel des Verständnisses, dass die Philosophie anstrebt. Der Dialog bietet ein Symbol seines eigenen Fortschrittes in dem seinerseits mächtigen Symbol der Höhle. Wir seien wie Gefangene, die unter Tage angekettet sind, und die nur Schatten und flackernde Bilder auf den Höhlenwänden sehen können. Wir bräuchten eine Erlösung von unseren mentalen Ketten und eine Verwandlung, die uns in die Lage versetzt, Schritt für Schritt hinauszuklettern in die Welt unter dem Sonnenlicht. Dafür wären wir dann nach einer Folge schmerzhafter Neuorientierungen in der Lage, das Gute zu begreifen und zu verstehen, wie es alles erklärt, was es gibt. 15. Kritische Dialoge Der ‚Parmenides‘ ist ein seltenes Beispiel für Selbstkritik in der Philosophie. Platon unterwirft hier seine eigene Theorie der Formen einer durchdringenden Untersuchung, die noch bis auf den heutigen Tag Bewunderung für ihren Scharfsinn und Einsicht verdient. Der ‚Theaetetus‘, der auf die Zeit kurz nach 369 v. Chr. datierbar ist, nimmt ebenfalls wieder Platons kritische Betrachtungsweise auf. Er liefert eine angereicherte Variante des sokratischen elenchos als eine Folge von Versuchen zur Definition des Wissens. Das Vertrauen des ‚Phaidon‘ und des ‚Staates‘, demzufolge die platonischen Philosophen im Besitz des Wissens seien und auch formulieren könnten, worin es besteht, ist nirgendwo mehr zu spüren, außer in einer rhetorischen Abschweifung vom Hauptthema. Methodische Fragen dominieren in beiden Werken. Der ‚Parmenides‘ behauptet, dass man, um die Formen gegen ihre Kritik verteidigen zu können, viel mehr Erfahrung im Reden darüber haben müsste, als dies bei ihrem Vertreter in diesem Dialog der Fall sei (d.h. bei dem jungen Sokrates, der sich fiktiv mit einem 65 Jahre alten Parmenides und einem Zenon mittleren Alters trifft). Und er skizziert eine Probe jener Art von benötigter Übung, die sich mehrere Seiten lang mit rein abstrakten Argumenten beschäftigt und sich teilweise mit den Paradoxa von Zenon von Elea beschäftigen, teilweise auch mit Parmenides’ Deduktionen im ‚Weg der Wahrheit‘ (siehe Parmenides). Der ‚Theaetetus‘ präsentiert sich ebenfalls, und zwar eingangs mehr oder weniger explizit, später implizit, als ein Modell, wie man eine Theorie ohne Sophisterei und mit der gebotenen Sympathie 1412
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überprüfen könne. Während die gezogenen Schlussfolgerungen, die mittels dieser ‚Geburtshelfertätigkeit‘, wie Sokrates dies selbst nennt, so vernichtend negativ sind wie in den frühen Dialogen, lernen wir doch dabei noch einiges mehr über die Philosophie. Viele Leser finden den ‚Theaetetus‘ überhaupt den durchgehend lohnendsten aller Dialoge. Eine Skizze der Hauptbemühungen der beiden Dialoge wird ihren radikalen Charakter verdeutlichen. Der ‚Parmenides‘ wirft zwei Hauptfragen über die Formen auf. Erstens: Gibt es Formen (d.h. Ideen) für jede Art von Prädikat, d.h. nicht nur für ‚eines‘ und ‚groß‘, ‚schön‘ und ‚gerecht‘, die uns bereits aus der mittleren Schaffensperiode vertraut sind, sondern auch für ‚Mann‘ und ‚Feuer‘, und sogar für ‚Haar‘ und ‚Schmutz‘? Sokrates wird hinsichtlich dieser Frage als unentschlossen dargestellt. Zweitens: Die Idee, dass andere Dinge, die wir beispielsweise ‚groß‘ oder ‚gerecht‘ nennen, zu ihrer jeweiligen Form in einem Verhältnis der Teilhabe stehen, wird in einer Folge von Argumenten geprüft, die zu zeigen versuchen, dass, wie auch immer man die Form oder diese Beziehung der Teilhabe konstruiert, sich daraus logische Absurditäten der einen oder anderen Art ergeben. Die verwickeltste dieser Absurditäten ist seit Aristoteles als die des ‚Dritten Mannes‘ bekannt: Wenn große Dinge wegen etwas groß sind, was von ihnen verschieden ist, nämlich der Form des Großen, dann werden das Große selbst und die anderen großen Dinge wiederum groß sein kraft einer weiteren Form des Großen (d.h. kraft eines ‚MetaGroßen‘) und so weiter ad infinitum. Der ‚Theaetetus‘ verwendet viel Raum auf die Überlegung des Vorschlages, dass das Wissen nichts außer Sinneswahrnehmung sei, bzw. auf die Entwicklung und Prüfung zweier Theorien, die mit diesem Vorschlag für äquivalent erachtet werden, nämlich der Auffassung des Protagoras, dass die Wahrheit relativ sei, das doch ‚der Menschen das Maß aller Dinge‘ sei, sowie jener Theorie von Heraklit, dass alles im Fluss begriffen sei, was hier vor allem in seiner Anwendung auf das Wesen der Sinneswahrnehmung betrachtet wird. Dieser Dialog ist der Ort eines von Platons denkwürdigsten Argumenten und Analogien. Beispielsweise wird die Lehre des Protagoras durch das brillante (wenn auch fehlerhafte) Argument der Selbstwiderlegung angegriffen: Wenn der Mensch das Maß aller Dinge sei, dann sei auch die Lehre von der Relativität der Wahrheit selbst nur insofern wahr, als sie für wahr erachtet würde. Da die Menschen sie im Allgemeinen aber für falsch hielten, so müsse sie falsch sein. Der nächste Abschnitt des ‚Theaetetus‘ sorgt sich um die Kohärenz des Begriffs der falschen Überzeugung. Hier wird die Seele mit einer Wachstafel verglichen, wobei die falsche Überzeugung als eine Nichtübereinstimmung zwischen aktuellen Wahrnehmungen und den Inschriften auf der Tafel verglichen wird, oder auch mit einem Vogelhaus, wo die falsche Überzeugung mit dem erfolglosen Versuch, den richtigen Vogel (d.h. ein Stück Wissen) zu fangen, verglichen wird. Im Schlussabschnitt erforschen die Gesprächspartner den Vorschlag, dass das Wissen eine solche Struktur aufweisen müsse, dass sie in einem logos, d.h. in einer Aussage, ausgedrückt werden könne. Sokrates’ Traum, dass solches Wissen aus unerkennbaren, einfachen Elementen heraus aufgebaut sein müsste, faszinierte Wittgenstein (§ 5), der darin eine Antizipation seiner Theorie im ‚Tractatus‘ sah. Müssen wir daraus schließen, dass Platon durch die Eröffnung oder die Wiedereröffnung von Fragen dieser Art darauf hinweist, dass er in echter Verlegenheit über das Wissen und die Formen ist? Oder ist sein Hauptziel nur ein philosophisches Wohlbehagen bei seinen Lesern, sowie die notwendige Erinnerung daran, dass eine 1413
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Position dann keinen großen Wert hat, wenn sie nicht mit ‚tüchtigen‘ Argumenten verteidigt werden kann? Sicherlich tritt auch in den beiden anderen Dialogen, die hier mit dem ‚Parmenides‘ und dem ‚Theaetetus‘ in einer Gruppe zusammengefasst werden, die Theorie der Formen erneut in Erscheinung und wird dort als eine Auffassung des Autors präsentiert, die er seinen Lesern intellektuell anempfiehlt. Der ‚Kratylos‘ ist ein Werk, dessen engste philosophische Verbindung zum ‚Theaetetus‘ bestehet, obwohl sein relatives Datum unter den Dialogen strittig ist. Dieser Dialog enthält eine Pionierdiskussion zwischen zwei rivalisierenden Theorien darüber, was es ausmacht, dass ein Wort für einen Gegenstand die richtige Bezeichnung für diesen Gegenstand ist: Konvention oder, wie Kratylos meint, eine natürliche Eignung, d.h. dass der Klang irgendwie das Wesen des Gegenstandes widerspiegeln würde. Der Position von Kratylos liegt eine etwas obskur begründete Bindung an die Wahrheit der Heraklitschen Philosophie zugrunde. Für den gegenwärtigen Zweck interessiert hier nur die letzte Seite dieses Dialogs, die behauptet, dass die Theorie der Formen eine Voraussetzung für das Argument sei, das beweise, dass die Idee eines absolut universalen heraklitschen Flusses nicht haltbar sei. Wie auch der ‚Phaidros‘ enthält dieser Dialog eine der erhebendsten Prosapassagen über die Formen, die Platon überhaupt geschrieben hat. Hier ist der Kontext eine exemplarische rhetorische Übung, in der die Behandlung des philosophischen Verlangens des Liebhabers zum Schönen im Lichte jener Dreiteilung der Seele, wie sie im ‚Staat‘ vollzogen wird, neu durchdacht wird. In der Folge davon lässt Platon seinen Sokrates diese Rede als ‚Schauspiel‘ verwerfen, weil sie nur als methodische Lehren zu rhetorischen Verfahren, die wir daraus ableiten können, tauge. Vorher noch äußert er sich über die Liebe, indem er diejenige seines Gesprächspartners Phaidros sehr positiv bewertet – sofern wir Dialektiker seien. Dieser Kommentar hat einige Leser vermuten lassen, dass Phaidros hiermit den formalen Abschied Platons von der Theorie der Formen anzeigt; in der Rückschau würde Platon demzufolge diese mehr als Rhetorik als eine Philosophie oder Dialektik sehen, und deshalb würde sich ihre Geltung von nun an auf etwas weniger Inspirierendes beschränken, nämlich das geduldige, gründliche und umfassende Studium der Ähnlichkeiten und Unterschiede. Doch der ‚Phaidros‘ ist vor allem ein Dialog, der nicht die Einstellung seines Autors enthüllen soll, sondern Ansprüche an einen fortgeschrittenen Leser stellt. Vielleicht ist Sokrates’ großartige Rede über den philosophischen Liebhaber nicht im absoluten Sinne ein ‚Schauspiel‘, sondern nur relativ zu verstehen im Verhältnis zur kontrollierenden und vereinheitlichenden Bemühung dieses Dialoges, die erneut die Rhetorik prüfend durchmustert und dabei über den ‚Gorgias‘ hinausgeht, indem sie erklärt, wie die Rhetorik eine echte Form fachlicher Kompetenz sein kann, wenn sie auf wahrem Wissen aufbaut und auf vielfache Weise mit den unterschiedlichen psychologischen Typen verzahnt ist, die diese Rede selbst anspricht. Wir können darüber spekulieren, ob Platon die Rede genau deshalb so geschrieben hat, weil er meint oder hofft, viele seiner Leser seien so geartet, dass man sie vom philosophischen Leben durch eine Vision vom Verlangen der Seele nach dem Schönen überzeugen könne. 16. Die späten Dialoge Die Theorie der Formen spielt auch im ‚Timaios‘ eine prominente Rolle. Der ‚Timaios‘ ist einer von Platons Ausflügen in die physikalische Theorie und hat des1414
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halb in dem italisch-griechischen Timaios jemanden anderes als Sokrates als Hauptsprecher. Die Theorie wird durch die Geschichte von Atlantis eingeführt, das angeblich eine Inselmacht sei, die von prähistorischen Athenern besiegt worden sei. Dies wird unter den klassischen griechischen Autoren nur von Platon erwähnt. Der Konflikt zwischen Atlantis und Athen war schon im ‚Kritias‘ Thema, der als ein Dialog konzipiert ist, in dem die politische Philosophie des ‚Staates‘ in der Praxis demonstriert werden soll. Aber der ‚Kritias‘ wurde niemals fertig gestellt, und so steht der ‚Timaios‘ als unabhängiges Werk da. Der Gedankengang des ‚Timaios‘ basiert auf der Prämisse, dass das Universum nicht ewig sei, sondern erschaffen wurde – dies, obwohl schon von der Antike an eine hitzige Debatte darüber geführt wird, ob dies eine Schöpfung in der Zeit bedeute, oder eine zeitlose Schöpfung, die von einer ersten Ursache abhing. Aus der Ordnung und der Schönheit des Universums schließt Platon auf einen guten Schöpfer oder Handwerker (gr.: dēmiurgos), der mit präexistenten Materialien arbeite, die sich auf die ihnen eigene Weise zufällig, aber notwendig bewegten, und der auf der Basis einer ewigen Vorlage das Leben und die Intelligenz in die Welt einschreibt, und zwar in der Form des Tieres. Der größere Teil des ‚Timaios‘ besteht aus einer Darstellung, wie das erste Universum, das als eine lebende Kreatur dargestellt wird, und daraufhin die Menschen nach dieser Vorlage bestmöglich hergestellt worden seien. Hier werden häufig mathematische Modelle in Anspruch genommen, beispielsweise zur Darstellung der Bewegungen der Himmelskörper und der atomistischen Konstruktion der vier Elemente aus dreieckigen Oberflächen. Die Darstellung wird als eine unvermeidlich nur ‚wahrscheinliche Geschichte‘ dargestellt, die den unabweisbaren Wahrheiten der Metaphysik nicht zugänglich sei. Es gibt keine strengere oder gründlichere Arbeit zur Metaphysik in Platons Œvre als den ‚Sophist‘. Wie auch viele andere der Dialoge, die nach dem ‚Staat‘ geschrieben wurden, handelt es sich hier um ein Stück ‚professionelle‘ Philosophie, die wahrscheinlich vor allem für Platons Studenten und ihre Gefährten in der Akademie geschrieben wurden. Der Stil des ‚Sophist‘ und der noch zu besprechenden Arbeiten ist syntaktisch gewunden und überladen mit Abstraktionen und Umschreibungen. Es mangelt ihnen vollständig an jener literarischen Anmut oder den dramatischen Eigenschaften, wegen derer man sie einem weiteren Leserkreis empfehlen könnte. Der Hauptsprecher des ‚Sophist‘ ist ein Fremder aus Elea, der die Herkunft des parmenidischen Problems im Kern des langen und zentralen Abschnitts des Dialogs symbolisiert: Wie ist es möglich, von etwas zu reden, was es nicht gibt (siehe Parmenides)? Dieses Rätsel wird sowohl auf die Irrealität von Bildern und auf die Falschheit angewandt, die beide als etwas aufgefasst werden, was nicht der Fall sei. Die von Platon angebotene Lösung erfordert einige revolutionäre Denkbewegungen in der philosophischen Logik, wie z.B. die ausdrückliche Unterscheidung der Identität von der Prädikation, und die Idee, dass Subjekt und Prädikat in der Syntax eines Satzes unterschiedliche Rollen spielen. Diese Innovationen und ihre Stellung gegenüber der Analyse des Verbs ‚sein‘ haben den ‚Sophist‘ zum Gegenstand einiger der anspruchsvollsten Texte über Platon im 20. Jahrhundert gemacht. Der parallele Dialog ‚Staatsmann‘ behandelt auf direktere Weise als der ‚Staat‘ das praktische Wissen in seinem Unterschied zum theoretischen Wissen des idealen Staatsmannes. Der Beitrag dieses Werkes zum Thema besteht in drei wesentlichen Behauptungen. An erster Stelle steht die Zurückweisung der Souveränität des 1415
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Gesetzes. Platon hat nichts gegen das Gesetz als einer bequemen, aber ungenauen Daumenregel in den Händen eines kompetenten Staatsmannes, vorausgesetzt, das Gesetz hindert ihn nicht am Einsatz seiner Kompetenz. Wenn man aber das Gesetz für souverän erklärt, dann wäre dies, als würde man das starre Festhalten an einem Lehrbuch der Seefahrt oder einem medizinischen Lehrbuch dem Urteil eines erfahrenen Seefahrers oder Arztes vorziehen. Ist ein solches Fachwissen nicht verfügbar, ist eine Verfassung, die auf dem Gesetz beruht, besser als die Gesetzlosigkeit. Aber das heißt nicht viel. Was das Gesetz nicht, kompetente Herrscher aber eben doch tun könnten und sogar müssten, sei die Bestimmung des kairos (dt.: ‚das richtige Maß‘, ‚der richtige Zeitpunkt‘), d.h. die Bestimmung des richtigen und des falschen Augenblicks und Maßes zur Initiierung einer großen staatlichen Aufgabe. Diese Aussage folgt aus der zweiten von Platons Schlüsselbehauptungen, die als eine dargestellt wird, die gleichermaßen für alle praktischen Künste wahr sei: das wirkliche Fachwissen bestehe nicht in der Vermessung des Größeren und des Kleineren, sondern in einer Bestimmung des Maßstabs zwischen Überschuss und Mangel. Dies sind Begriffe, die wir gewöhnlich eher Aristoteles als Platon zuschreiben würden (siehe Aristoteles, § 22), obwohl in diesem Dialog auf verschiedene Weise bereits auf den ‚Philebos‘ Bezug genommen wird. Am Ende des Dialogs meint Platon, wir sollten unser Denken nur noch direkt auf diesen und auf keinen anderen Gegenstand mehr richten, sobald wir das richtige – in der Regel schlichte – Modell gefunden haben. Der ‚Staatsmann‘ macht den Staatsmann zu einer Art von Tuchweber. Diese Analogie hat ihrerseits zwei Stränge. Ersten erfordere die Staatskunst wie das Weben viele untergeordnete Fähigkeiten. Ihre Aufgabe sei nicht nur die Durchführung der Dinge selbst, sondern auch die Kontrolle aller unterordneten Funktionen einer Regierung, und durch seine Bemühung um die Gesetze und jeden anderen Aspekt der Stadt würden sich alle diese Aspekte zusammenfügen. Zweitens seien die einander entgegengesetzten Temperamente der Bürger das, was am meisten einer Zusammenführung bedürfe, wenn bürgerlicher Zank vermieden werden soll, und wie im ‚Staat‘ wird der Herrscher die Ausbildung und eugenische Mittel zur Erreichung dieses Zwecks einsetzen. Der ‚Staatsmann‘ teilt sich einige Themen sowohl mit dem ‚Philebos‘ und mit den ‚Gesetzen‘. Der ‚Philebos‘ ist der eine späte Dialog, in dem Sokrates der Hauptsprecher ist, wie es sich für den ethischen Gegenstand des Dialogs gehört. Es geht um die Frage, ob die Lust oder der Verstand das Gute sei, oder zumindest der wichtigere Bestandteil im guten Leben. Nach einem derartig starken Bestehen auf der Form (d.h. der platonischen ‚Idee‘) als der Einheit im Unterschied zur Vielheit der Phänomene in den Dialogen der mittleren Schaffensperiode, wirkt es wie ein Schock, wenn Sokrates gleich zu Beginn betont, dass es keinen Sinn habe immer zu wiederholen, dass die Lust oder der Verstand eine Einheit seien. Die Geschicklichkeit bestünde vielmehr in der Fähigkeit zu bestimmen, welche und wie viele Formen des Verstandes und der Lust es gebe. Daraufhin entwickelt ‚Philebos‘ ein Gedankenmodell darüber, wie irgendeine komplexe Struktur hergestellt werden könne, sei dies ein Musikstück oder das gesamte Universum. Dies erfordere eine intelligente Ursache, die eine Mischung hervorbringt, indem sie etwas Unbestimmtem Grenze und Proportion auferlege. Dieses Erfordernis zeigt bereits die Hauptlinien der Antwort auf unser Problem an, zumindest, wenn man akzeptiert, dass die Lust an sich selbst unbestimmt sei. Es sei klar, dass die Intelligenz und der Verstand die Kräfte 1416
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zum guten Leben hin formen, aber die Lüste seien hierbei nur zulässig, wenn sie auf geeignete Weise kontrolliert würden. Bei der Entscheidung am Ende des Dialogs erhalten wir genau dieses Ergebnis. Die Mehrheit der vielen Formen der Lust, die im Verlauf des Diskurses definiert und geprüft werden, wird am Ende verworfen. Sie erfüllten nicht die Kriterien des Maßes und der Proportion, die das Kennzeichen des Guten seien. 17. Die ‚Gesetze‘ Der gewaltige Text der ‚Gesetze‘ ist auf seine Weise der außergewöhnlichste aller späten platonischen Schriften, und zwar nicht nur wegen seiner Inspiriertheit (die allerdings auf die Dauer nachlässt), sondern auch im Sinne eines Beispiels für Platons unermüdliche Faszination für politische Angelegenheiten. Seine Beziehung zum ‚Staat‘ und zum ‚Staatsmann‘ wurde viel diskutiert. Klar ist hier, dass Platon zumindest durch die letzten acht der insgesamt zwölf Bücher des Werks die Regeln für einen zweitbesten Staat im Verhältnis zum Idealstaat und den idealen Staatsmann im ‚Staat‘ entwirft, doch mit größerem Eifer, als man vom ‚Staatsmann‘ vielleicht erwartet. Hatte Platon womöglich das Vertrauen in diese Ideale verloren, die im ‚Staatsmann‘ zumindest als ferne Ideale noch lebendig waren? Diese Auffassung würde übersehen, dass der ‚Staat‘ bereits deutliche Hinweise darauf enthält, dass es falsch wäre, in der Praxis irgend mehr als bestenfalls eine Näherung an das Ideal zu erwarten. Und eine Näherung ist genau das, was die Gesetze bieten. Kommunistische Institutionen werden hier aufgegeben, und die Landbesitzer werden den Wächtern gleichgestellt, um der Teilung zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken, die der ‚Staat‘ als die ernsteste Bedrohung für die soziale Harmonie ansah. Das Land wird hier nun so verwendet, als sei es im Gemeinschaftseigentum der ganzen Stadt. Die Familie wird wieder eingesetzt, aber die Frauen werden hierdurch nicht allein auf häusliche Tätigkeiten eingeschränkt; sie müssen immer noch als die Hälfte der gesamten Humanressource der Stadt betrachtet werden. Ausbildungsangelegenheiten werden eher noch vorrangiger behandelt als im ‚Staat‘. Diese Frage beschäftigt sich ausdrücklich mit dem, was der ‚Staat‘ weitgehend undiskutiert ließ, nämlich die Irrationalität des menschlichen Wesens und die Aussicht, es doch noch unter eine rationale Kontrolle zu bringen. Wenn die ideale Stadt des ‚Staates‘ eine Gemeinschaft ist, die durch die Philosophie geformt und regiert wird, so ist der zweitbeste Staat der ‚Gesetze‘ auf der Religion gegründet. Das allererste Wort des gesamten Werkes ist ‚Gott‘, und auf die eine oder andere Weise dominiert hier nicht die Philosophie, sondern die Religion die Diskussion. Die Gesprächspartner sind fromme ältere Herren, zwei von ihnen aus der kulturellen Provinz Sparta und Kreta und daher ohne jegliche Vorerfahrung in der Philosophie. Zusammen mit einem schon eher philosophisch fortgeschrittenen athenischen Fremden befinden sie sich auf einer Reise zu einem Altar des Zeus auf dem Berg Ida in Kreta. Damit ist dies der einzige Dialog, der außerhalb Athens stattfindet. Die Stadt, deren Verfassung und Gesetze sie besprechen, wäre eine Theokratie, und das Erste, worüber sich ihre Gründer verständigen, ist die Notwendigkeit, dass sich all ihr Verhalten in Anbetracht einer göttlichen Gerechtigkeit richten müsse. In einer berühmten, gegen Protagoras gerichteten Wendung sind sie sich einig, dass ‚Gott das Maß aller Dinge‘ sei. 1417
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Bereits an diesem Punkte im 4. Buch ist allerdings klar, dass Platon hier nicht etwa die reine althergebrachte Religion im Sinne hat. Das verwendete theologische Vokabular ist hauptsächlich die Sprache der orphischen und pythagoreischen sog. ‚rationalen Religionen‘. Und vermittels der Theokratie weist Platon darauf hin, dass er die Regeln der Vernunft meint, die im Gesetz verkörpert seien. Als der athenische Fremde sich als nächstes der Betrachtung des Prinzips der Gesetzgebung zuwendet, wendet er eine neue Idee an, die vielleicht der interessanteste Vorschlag in dem gesamten Dialog ist. Es ist der Begriff des ‚Vorspiels‘ zu einem Gesetz, womit er den Versuch beschreibt, den der Gesetzgeber zur Überzeugung der Bürger unternehmen soll, wenn auch nicht immer mit rationalen Mitteln, aber doch, um sie von der Notwendigkeit der Vorschriften des Gesetzes selbst zu überzeugen. Hier haben wir ein Thema, dass in einer interessanten Beziehung zur Konzeption der Vernunft, der Notwendigkeit und des sich Überzeugens-von-etwas steht, die bereits in vielen anderen Dialogen behandelt wurde, vor allem im ‚Staat‘ und im ‚Timaios‘. Zu gegebener Zeit will der athenische Fremde eine begründete Rechtfertigung für die religiösen Annahmen liefern, die seinem ganzen Ansatz an die Gesetzgebung zugrunde liegen. Im 10. Buch, das als ein ausgedehntes ‚Vorspiel‘ zu den Gesetzen gegen die Gottlosigkeit präsentiert wird, stellt sich Platon eine atheistische Infragestellung des gesamten religiösen Rahmens seines Unternehmens vor, und in der Antwort hierauf entwickelt er ein unzweideutiges philosophisches Argument für eine natürliche Theologie, die die Seele als die göttliche erste Ursache der Bewegung und des Wandels im Universum setzt. Platon scheint es um zwei Dinge noch vor allen Diskussionen, die er in den ‚Gesetzen‘ entwickelt, gegangen zu sein: erstens darum, dass dieses Werk eine Art von transzendentem, moralischem Rahmen für die politische und soziale Existenz reflektieren und verkörpern sollte, und zweitens, dass es, weil es unter anderem allgemeinverständlich geschrieben sei, in der Lage sein sollte, einen größeren Teil der Bevölkerung zu überzeugen, und nicht nur eine intellektuelle Elite. Nach seinem Urteil über den Gegenstand sei es ein religiöser Diskurs, der nach entsprechend notwendiger Reformierung und Umorientierung, offensichtlich zur Erfüllung dieser beiden Forderungen (d.h. der Schaffung eines Rahmens für die politische und soziale Existenz) am ehesten imstande sei. 18. Platons Einfluss Platons Einfluss durchdringt weite Teile der nachfolgenden abendländischen Literatur und des abendländischen Denkens. Aristoteles war einer von denen, die ihn in der ‚Schule‘ hörten, die er in der Akademie gründete, und ein großer Teil des aristotelischen Werks ist als eine ausdrücklich oder implizite Antwort auf Platon konzipiert. Andere philosophische Denkschulen blühten nach Aristoteles’ Zeit in den letzten Jahrhunderten vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, und die Akademie dieser Epoche las Platon durch eine skeptische Brille. Aber vom 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung an wurde der Platonismus in verschiedenen, oft synkretistischen Formen2, zur herrschenden Philosophie des Römischen Reichs, speziell mit dem Aufkommen des Neuplatonismus in der Spätantike (siehe Neuplatonismus). Einige der Väter der frühen Griechischen Kirche artikulierten ihre Theologien in plaAls ‚Synkretismus‘ bezeichnet man die Verschmelzung religiöser Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbild. [WS]
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tonischen Ausdrücken, und insbesondere durch Augustinus formte das platonische Denken beispielsweise die Konzeption der abendländischen Kirche von der Zeit und der Ewigkeit (siehe Patristische Philosophie). Eine neuplatonistische Fassung davon herrschte auch im arabischen Raum vor. Mit der Übersetzung von Platon ins Lateinische im Hochmittelalter, und mit dem Wiederaufleben des Studiums der Griechen in der Renaissance erfasst der Platonismus erneut (und wieder in neuplatonischer Gestalt) den Geist der gebildeten Denker in Westeuropa, beispielsweise am Hofe der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts. Aber keiner der großen Philosophen der Neuzeit war Platoniker, auch wenn Platon im Denken eines Leibniz oder Hegel oder Russell immer gegenwärtig war. Wahrscheinlich ist Platon zu keiner Zeit intensiver studiert worden als im späten 20. Jahrhundert und dem frühen 21. Jahrhundert. Dank der Verfügbarkeit preisgünstiger Übersetzungen in jeder größeren Sprache und seiner Position als dem ersten großen Philosophen im Kanon der abendländischen philosophischen Lehren, ist er Teil der meisten Einführungskurse, die jedes Jahr Zehntausenden von Studenten in der gesamten entwickelten Welt angeboten werden. Siehe auch: Angeborene in der antiken Philosophie, Das; Formen, platonische; Neuplatonismus; Renaissance-Platonismus; Technē Anmerkungen und weitere Lektüre: Fine, G. (1999): ‚Platon 1, Platon 2‘. Oxford: Oxford University Press. (Zwei Bände mit wichtigen Aufsätzen über die Hauptaspekte des platonischen Denkens, die allesamt zum ersten Male in den letzten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts publiziert wurden; einschließlich ausführlicher und ausgewählter Bibliographien.) Grube. G (1980): ‚Plato’s Thought‘. London: Athlone Press. (Eine gut lesbare Einführung in Platons Denken, mit einer neuen Einführung und Bibliographie von D. Zeyl.) Guthrie, W.K.C. (1975, 1978): ‚A History of Greek Philosophy, vol. 4, Plato, The Man and his Dialogues: Earlier Period, vol. 5, The Later Plato and the Academy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Die hier genannten Platon-Bände sind die detailliertesten und umfassendsten der griechischen Philosophie in englischer Sprache. Hinsichtlich ihrer englischen Bibliographie sind sie unverzichtbar für den, der sich hierzu in der englischsprachigen Philosophie orientieren möchte. Der 5. Band enthält auch eine Einschätzung der Platon-Interpretation der Tübinger Schule.) MALCOLM SCHOFIELD
Platonismus in der Renaissance
Obwohl der Platonismus während der Renaissance niemals die Vorherrschaft der aristotelischen Schulphilosophie in Frage stellte, war doch sein Wiederaufleben ein wichtiges Phänomen im philosophischen Leben dieser Zeit, und es trug viel zu dem neuen und stärker pluralistisch geprägten philosophischen Klima des 15. und 16. Jahrhunderts bei. Die mittelalterlichen Philosophen hatten nur zu wenigen Werken von Platon selbst Zugang gehabt, und während der indirekte Einfluss der platonischen Tradition durchdringend war, identifizierten sich wenige der abendländischen mittelalterlichen Philosophen direkt mit Platon. In der Renaissance dagegen hatten die Denker Westeuropas bereits Zugang zum gesamten Werk Platons, sowie auch zu vielen Werken Plotins und vielen spätantiken Platonisten. Ferner gab es
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Plechanov, Georgij Valentinowitsch (1857–1918)
auch eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Denkern, die sich mit den christlichen Platonikern identifizierten. Im 15. Jahrhundert fanden sich die wichtigsten von ihnen in den Kreisen von Kardinal Bessarion (1403–1472) in Rom und von Marsilio Ficino (1433–1499) in Florenz. Die platonischen Themen standen auch im Zentrum der Philosophien von Nikolaus von Kues (1401–1464) und Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), den beiden kraftvollsten und originellsten Denkern des 14. Jahrhunderts. Während die herrschende Interpretation der platonischen Dialoge in der Renaissance neuplatonisch blieb, gab es doch auch eine Minderheitsüberlieferung, die die skeptische Interpretation der Dialoge wieder belebte, die für die frühe hellenistische Akademie typisch war. Im 16. Jahrhundert wurde der Platonismus zu einer Art ‚gegenkulturellem‘ Phänomen, und Platon entwickelte sich zu einer wichtigen Autorität für Wissenschaftler und Kosmologen, die die herrschenden aristotelischen Denkschulen herauszufordern trachteten. Hierunter fielen z.B. Männer wie Kopernikus, Giordano Bruno, Francesco Patrizi und Galileo. Gleichwohl wurden die platonischen Dialoge in den italienischen humanistischen Schulen des 15. Jahrhunderts kaum gelehrt. Platon wurde als wichtiger Autor der philosophischen Lehre zuerst an der Universität von Paris eingeführt, später auch an deutschen Universitäten. In Italien wurden Lehrstühle für die platonische Philosophie das erste Mal in den 1570er Jahren eingerichtet. Obwohl die Vorherrschaft des Aristotelismus am Ende durch die neue Philosophie des 17. Jahrhunderts gebrochen wurde, trug Platons Autorität doch viel dazu bei, den Zugriff der Aristoteliker auf die Lehre der Naturphilosophie an den Universitäten der europäischen Spätrenaissance zu lockern. Siehe auch: Ficino, M.; Formen, Platonische; Humanismus in der Renaissance; Pico della Mirandola, G.; Platon JAMES HANKINS
Plechanov, Georgij Valentinowitsch (1857–1918)
Plechanov, der als der ‚Vater des russischen Marxismus‘ bekannt wurde, war der Hauptverbreiter und Interpret des Marxismus im Russland der 1880er Jahre. Sein Interesse an den philosophischen Aspekten des Marxismus verschaffte ihm sowohl innerhalb, als auch außerhalb Russlands Einfluss. Er war ein fruchtbarer Schriftsteller und beschäftigte sich mit zahlreichen Aspekten des marxistischen Denkens. Plechanov war eine wichtige Figur in der russischen revolutionären Bewegung. Er war Gründungsmitglied der Russischen Sozialdemokratischen Partei, und nach deren Spaltung in die Bolschewiken und die Menschewiken im Jahre 1903 eine führende Figur in ihrem ‚menschewikischen‘ Flügel. Als Politiker war Plechanov ständig in polemische Auseinandersetzungen mit politischen und ideologischen Gegnern verwickelt. Der größte Teil seiner theoretischen Arbeiten sind in gewissem Umfange polemischer Natur, und es waren auch die Konflikte zwischen den verschiedenen revolutionären russischen Gruppen, die Plechanovs Interpretation des Marxschen Denkens formten. Ein grundlegendes Merkmal seiner Interpretation war es, dass er die russische historische Entwicklung als etwas ansah, was jener der westeuropäischen Länder ähneln würde, und dass sie folglich eine kapitalistische Phase durchlaufen würden, bevor sie den Sozialismus erreichen. Entsprechend betonte Plechanov diejenigen Schriften von Marx, die man auf eine deterministische Weise verstehen konnte. Plechanov bestand darauf, dass der Materialismus eine materialistische Lehre sei (im 1420
Plotin (204/205 v. Chr. – 70 n. Chr.)
Gegensatz zu einer idealistischen), und dass sie deshalb den Vorrang der Materie in allen Sphären der Existenz anerkennen müsse. Plechanov war in vieler Hinsicht ein Erneuerer. Er war der erste, der den Ausdruck ‚dialektischer Materialismus‘ prägte, und der die Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass die Ursprünge des Marxschen Systems im Hegelianismus lägen. Seine Schriften wurden rasch in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. Seine Interpretation des Marxismus wurde von Lenin sehr bewundert und sollte zur Grundlage der offiziellen Ideologie der Sowjetunion werden. Die von Plechanov verkündete Konzeption des Marxismus übt auch weiterhin weltweit starken Einfluss auf die bestehenden marxistischen Konzeptionen aus. JAMES D. WHITE
Plotin (204/205 – 270 n. Chr.)
Plotin ist der Begründer des Neuplatonismus, d.h. der herrschenden philosophischen Bewegung der griechisch-römischen Welt der Spätantike, und er war der bedeutendste Denker dieser Bewegung. Er wird manchmal als der letzte große, heidnische Philosoph beschrieben. Seine Schriften, die so genannten ‚Enneaden‘, sind insgesamt erhalten. Während er ein ernsthafter Anhänger Platons war, entfaltete er doch auch andere philosophische Strömungen, insbesondere jene des Aristotelismus und des Stoizismus. Plotin entwickelte eine Metaphysik der einsehbaren Ursachen sowohl für die wahrnehmbare Welt, als auch für die menschliche Seele. Die äußere Ursache von allem sei ‚das Eine‘ oder ‚der Gott‘. Diese sei absolut einfach und könne nicht durch das Denken begriffen werden, noch besitze sie irgendeine positive Bestimmung. Das Eine besitze als seinen externen Akteur vielmehr den universellen Geist oder den ‚Intellekt‘. Die Gedanken dieses Intellekts seien die platonischen Formen (siehe Formen, Platonische), d.h. die ewigen und unwandelbaren Paradigmen (im Sinne von Vorlagen oder Beispielen) dessen, von denen die wahrnehmbaren Dinge die unvollständigen Abbilder seien. Dieses Denken der Formen sei die interne Tätigkeit des Intellekts. Sein externes Handeln spiele sich auf einer Ebene der kosmischen Seele ab, die das sinnliche Reich hervorbringe und den verkörperten Organismen ihr Leben einhauche. Die Seele sei somit die unterste intelligible Ursache, die in unmittelbarem Kontakt mit dem Reich des Sinnlichen stehe. Plotin besteht jedoch darauf, dass die Seele ihren intelligiblen Charakter, der sich u.a. durch Nichträumlichkeit und Unwandelbarkeit auszeichne, durch ihren Umgang mit dem Reich des Sinnlichen zurückbehalte. Er war folglich ein leidenschaftlicher Körper-Seele-Dualist. Die Menschen stünden auf der Grenze zwischen den beiden Reichen; durch ihr körperliches Leben gehören sie zum Reich des Sinnlichen, aber die menschliche Seele habe ihre Wurzeln im Reich des Intellekts. Plotin sieht die Philosophie als ein Vehikel für die Rückkehr der Seele zu ihren intelligiblen Quellen an. Während er fest in der Tradition des griechischen Rationalismus verhaftet und dabei selbst ein ungewöhnlich talentierter Philosoph war, zeigt er doch einige Gemeinsamkeiten mit dem Geist der religiösen Errettungsbewegungen, die für seine Epoche charakteristisch waren. Siehe auch: Formen, Platonische; Neuplatonismus EYJÓLFUR KJALAR EMILSSON
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Pluralismus
Pluralismus
Der Ausdruck ‚Pluralismus‘ hat eine weite Bedeutung, die auf jede Lehre anwendbar ist, die behauptet, dass es letztlich viele Dinge oder viele Arten von Dingen gibt. In beidem Sinne steht es dem Ausdruck ‚Monismus‘ gegenüber. Die im späten 20. Jahrhundert üblichste Verwendung von ‚Pluralismus‘ ist jene zur Beschreibung von Ansichten, die viele Bündel gleichermaßen korrekter Überzeugungen oder Bewertungsstandards anerkennen; und in diesem Sinne ist sie der Bedeutung von ‚Relativismus‘ ähnlich. Gesellschaften werden manchmal pluralistisch genannt, was heißen soll, dass sich in ihr eine Vielzahl von Lebensformen, moralischen Maßstäben und Religionen finden. Jemand, der dies nicht als eine unerwünschte Verwirrung betrachtet, sondern als den eigentlichen Zustand der Dinge, tritt für den Pluralismus ein. Siehe auch: Monismus; Multikulturalismus; Postmodernismus; Pragmatismus; Relativismus; Staatsangehörigkeit; Toleranz EDWARD CRAIG
Pneuma
Der griechische Ausdruck pneuma (dt.: ‚Geist‘) leitet sich von dem griechischen Verb pneo ab, mit dem das Blasen oder auch Atmen bezeichnet wird. Weil das Atmen zum Leben und für das Bewusstsein notwendig ist, erlangte pneuma schließlich eine Bedeutung nicht nur des Windes oder Atems, sondern zahlreicher Lebensfunktionen, einschließlich des Empfindens und Denkens, und wurde von einigen Philosophen als ein kosmisches Prinzip gedeutet. Es wurde insbesondere im Stoizismus wichtig, der die Welt als eine Zusammensetzung aus der Materie und den rationalen Strukturen erklärte, die sich in allen ihren Formen zeige. Diese würden sich durch rhythmische Variationen im tonos, d.h. in der ‚Spannung‘ des pneuma bilden. In der hebräischen Tradition, jedenfalls dort, wo Griechisch gesprochen wurde, stand pneuma für ‚Leben‘, ‚Bewusstsein‘ und für die unsichtbaren bewussten Akteure, d.h. die Engel oder Dämonen. Im christlichen Denken bezeichnet es die göttliche Inspiration, insbesondere den Heiligen Geist, der als eine göttliche Person betrachtet wird. In Johannes 4:24 wird der Ausdruck unüblicherweise sogar zur Bezeichnung von Gott selbst verwendet. CHRISTOPHER STEAD
Poesie
Siehe: Dichtung
Poincaré, Jules Henri (1854–1912)
Obwohl er primär Mathematiker war, schrieb und lehrte Henri Poincaré auf der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausführlich über Astronomie, Theoretische Physik, Wissenschaftsphilosophie und die Philosophie der Mathematik. In der Philosophie wurde Poincaré für die konventionalistische These berühmt, dass wir entweder die euklidische oder die nichteuklidische Geometrie in der Physik wählen könnten, womit er behauptete, dass der Raum weder euklidisch, noch nichteuklidisch sei, und dass die Geometrie folglich weder wahr noch falsch sei. Allerdings verstand Poincaré seinen Konventionalismus nicht als einen allumfassenden, wie manche behaupteten. Poincaré meinte, dass nur die Geometrie und vielleicht einige wenige Prinzipien der Mechanik konventioneller Natur seien und wandte deshalb
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Poinsot, John
ein, dass die Wissenschaft die Wahrheit auch trotz der konventionellen Elemente entdecke. Poincaré folgte den Neuentwicklungen in der Mathematik und der Physik sehr eng und war an der Diskussion über die Grundlagen der Mathematik, sowie über die Entwicklung der Relativitätstheorie beteiligt. Er war auf beiden Gebieten eine wichtige Übergangsfigur und wurde manchmal als jemand angesehen, der seiner Zeit voraus sei, und dann wieder als eher traditionell. Vielleicht wegen der Breite seiner Auffassungen, oder auch wegen der Art und Weise, in der sich Philosophen auf Fragen oder kleine Ausschnitte seines Werkes konzentrierten, anstatt auf dessen genaue Geschichte, weichen die Interpretationen von Poincaré stark voneinander ab. Er wurde von den logischen Positivisten häufig als einer ihrer Vorläufer zitiert und darüber hinaus in der Wissenschaftsphilosophie und der Philosophie der Mathematik umfangreich diskutiert, und hierdurch hatten Poincarés Schriften eine starke Wirkung auf die englischsprachige Philosophie. Siehe auch: Konventionalismus DAVID J. STUMP
Poinsot, John
Siehe: Johannes von St. Thomas (1589–1644)
Polanyi, Michael (1891–1976)
Michael Polanyi war ein ungarisch-britischer Chemiker und Philosoph und praktisch einzig unter den Philosophen, indem er die stillschweigenden Dimensionen unseres Wissens nicht nur vollständig anerkannte, sondern auch behauptete, dass dieses stillschweigende Wissen viele Dinge betrifft, die wir wissen, aber nicht nennen oder erklären, ja nicht einmal identifizieren können. Er behauptete, dass unser Wissen eine stillschweigende, personale Integration sekundärer Hinweise in ein zentrales Ganzes sei. Er erarbeitete auf dieser Grundlage eine Strukturtheorie des Wissens innerhalb einer Ontologie und Kosmologie einer Welt aus umfassenden Entitäten und Handlungen, die sich jeweils von niedrigeren Ebenen zu immer höheren integrieren. Polanyi verwendete diese Darstellungen des Wissens und Seins für ein Eintreten gegen die ‚kritischen‘ Forderungen nach einem unpersönlichen, vollkommen objektiven und vollständig expliziten Wissen, d.h. gegen die reduktionistischen Versuche zur Erklärung der höheren Seinsebenen durch die niederen, und zur Verteidigung der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und allgemein der freien Gesellschaft. R.T. ALLEN
Politische Philosophie Einführung Die politische Philosophie kann man als die philosophische Reflexion darüber definieren, wie unser kollektives Leben am besten einzurichten ist, d.h. unsere politischen Institutionen und unsere soziale Praxis wie z.B. unser ökonomisches System und die Muster unseres familiären Lebens. (Manchmal wird auch zwischen der politischen und der sozialen Philosophie unterschieden, aber ich werde den Ausdruck ‚politische Philosophie‘ im weiten Sinne verwenden und beide Gebiete darin einschließen.) Politische Philosophen bemühen sich um die Aufstellung grundlegender Prinzipien, die beispielsweise eine bestimmte Staatsform rechtfertigen oder zeigen 1423
Politische Philosophie
sollen, dass die einzelnen Menschen gewisse und unveräußerliche Rechte haben, oder die uns etwas darüber sagen, wie die materiellen Ressourcen in einer Gesellschaft unter ihren Mitgliedern verteilt werden sollten. Dies bringt üblicherweise eine Analyse und Interpretation von Ideen wie der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Autorität und der Demokratie mit sich, und diese werden dann auf eine kritische Weise auf die vorgefundenen sozialen und politischen Institutionen angewandt. Einige politische Philosophen versuchten zunächst, die vorherrschenden Verhältnisse ihrer jeweiligen Gesellschaft zu rechtfertigen; andere zeichneten Bilder eines idealen Staates oder einer idealen sozialen Welt, die sich sehr stark von allem unterscheidet, was wir bislang erfahren haben (siehe Utopismus). Die politische Philosophie wird so lange praktiziert, wie die Menschen ihre kollektiven Verhältnisse nicht als unveränderlich und Teil der natürlichen Ordnung, sondern als möglicherweise offen für einen Wandel betrachtet haben, und daher auch die Notwendigkeit einer philosophischen Rechtfertigung für einen solchen Wandel sahen. Sie findet sich in vielen unterschiedlichen Kulturen und hat dort eine große Formenvielfalt angenommen. Es gibt zwei Gründe für diese Vielfalt. Erstens geben die Methoden und Ansätze, die von politischen Philosophen angewandt werden, die allgemeinen philosophischen Tendenzen ihrer Epoche wieder. Entwicklungen in der Erkenntnistheorie und der Ethik ändern beispielsweise die Voraussetzungen, unter denen eine politische Philosophie entwickelt werden kann. Zweitens ist die Aufgabenliste der politischen Philosophen freilich weitgehend durch drängende politische Tagesfragen besetzt. Im mittelalterlichen Europa beispielsweise wurde die richtige Beziehung zwischen Kirche und Staat zu einer zentralen Frage der politischen Philosophie. Und in der frühneuzeitlichen Epoche spielte sich die Diskussion hauptsächlich zwischen den Verteidigern des Absolutismus und denen ab, die einen eingeschränkten Verfassungsstaat rechtfertigen. Im 19. Jahrhundert trat wiederum die soziale Frage, d.h. die Frage, wie eine industrielle Gesellschaft ihre Wirtschaft und ihr Wohlfahrtssystem organisieren sollte, in den Vordergrund. Wenn wir uns die Geschichte der politischen Philosophie anschauen, entdecken wir daher, dass neben ständigen und nie gelösten Fragen – wie beispielsweise jene, warum eine Person jemals die Autorität behaupten kann, über eine andere (erwachsene) Person zu bestimmen – dass hier einige große Änderungen stattgefunden haben: in den behandelten Fragen, in der Sprache, die zu deren Behandlung verwendet wird, und in den zugrunde liegenden Prämissen, auf denen der politische Philosoph mit seinen Argumenten aufbaut. (Zur Entwicklung der abendländischen Tradition der politischen Philosophie, siehe Politische Philosophie, Geschichte der.) Eine Frage, die hier sofort auftaucht, ist die, ob die Prinzipien, die von den politischen Philosophen aufgestellt werden, als etwas zu gelten haben, das universelle Geltung beansprucht, oder ob sie als etwas gesehen werden sollten, das nur die Annahmen und die Werte einer bestimmten politischen Gruppe oder Gemeinschaft ausdrückt. Diese Frage über den Geltungsbereich und den Status der politischen Philosophie wurde in den vergangenen Jahren heiß debattiert. Sie hängt eng mit der Frage über das Wesen des Menschen zusammen (siehe Natur des Menschen). Zur Rechtfertigung einer Menge kollektiver Anordnungen muss eine politische Philosophie etwas über die Natur oder das Wesen der Menschen sagen, zum Beispiel über ihre Bedürfnisse, ihre Fähigkeiten, oder auch darüber, ob sie eher egoistisch oder eher altruistisch gesonnen seien etc. Können wir aber überhaupt von gemeinsamen 1424
Politische Philosophie
Merkmalen bei allen Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit ausgehen, oder werden die Charaktere der Menschen vor allem durch die besondere Kultur geprägt, zu der sie gehören? Wenn wir die Hauptarbeiten zur politischen Philosophie in den vergangenen Jahrhunderten durchmustern, so können wir sie grob in zwei Kategorien einteilen. Einerseits finden wir dort diejenigen Werke, die von Philosophen ausgearbeitet wurden, die allgemeine philosophische Systeme aufgestellt haben, und deren politische Philosophie ein Ausfluss und ein integraler Bestandteil dieser Systeme ist. Führende Philosophen, die wesentliche Beiträge zum politischen Denken geleistet haben, waren z.B. Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Hobbes, Locke, Hume, Hegel, J.S. Mill und J. Rawls. Auf der anderen Seite gibt es die sozialphilosophischen und politischen Denker, deren Beitrag zur Philosophie insgesamt nur wenig dauerhafte Bedeutung hatte, die aber einflussreiche Beiträge speziell zur politischen Philosophie leisteten. In diese Kategorie gehören Cicero, Marsilius von Padua, Machiavelli, Grotius, Rousseau, Bentham, Fichte und Marx. Zwei wichtige Figuren, deren Werk die nichtwestlichen Beiträge einbringt, sind Ibn Khaldhun und Kautilya. Unter den wichtigsten politischen Denkern des 20. Jahrhunderts sind Arendt, Berlin, Dewey, Foucault, Ghandi, Gramsci, Habermas, Hayek, Oakeshott, Rawls, Sartre und Taylor zu nennen. 1. Politische Institutionen und Ideologien 2. Zeitgenössische politische Philosophie 1. Politische Institutionen und Ideologien Mit welchen Themen haben sich, sowohl historisch als auch in unserer Zeit, die politischen Philosophen am meisten beschäftigt? Ganz oben in dieser Liste steht hier eine Gruppe von Fragen darüber, wie die politischen Institutionen beschaffen sein sollten. Heutzutage stellen wir uns dies als eine Untersuchung über die beste Form des Staates vor, obwohl man hierzu anmerken muss, dass bereits der Staat an sich eine bestimmte Art der politischen Gestaltung ist, die noch relativ jung ist, denn für den größten Teil der menschlichen Geschichte waren die Menschen nicht durch Staaten regiert (siehe Staat, Der). Da alle Staaten die Autorität über ihre Angehörigen oder Untertanen beanspruchen, betreffen zwei fundamentale Fragen die Bedeutung dieser Autorität, sowie die Maßstäbe, durch die wir Formen der politischen Herrschaft als legitim beurteilen können (siehe Legitimität; Tradition und Traditionalismus; Kontraktualismus). Hiermit ist die Frage verbunden, ob einzelne Menschen moralisch verpflichtet sind, dem Gesetz und ihrem jeweiligen Staat zu gehorchen (siehe Verpflichtung, politische), und der Umstände, unter denen der politisch begründete (zivile) Ungehorsam gerechtfertigt ist (siehe Revolution; Ziviler Ungehorsam). Gleich danach schließt sich eine Reihe von Fragen über die Form an, die der Staat annehmen sollte; ob seine Autorität eine absolute oder eine verfassungsmäßig beschränkte sein sollte (siehe Absolutismus; Konstitutionalismus); ob seine Struktur einheitlich sein sollte oder föderal (siehe (Föderalismus und Konföderalismus); ob er demokratisch kontrolliert sein sollte, und wenn, mit welchen Mitteln (siehe Demokratie; Repräsentation, Politische). Schließlich fragt sich auch noch, ob man der staatlichen Autorität irgendwelche allgemeinen Grenzen setzen kann, d.h. ob es Bereiche der individuellen Freiheit oder Privatheit gibt, in
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Politische Philosophie
die der Staat niemals, d.h. unter keinem Vorwand, eindringen darf (siehe Eigentum; Meinungsfreiheit; Sklaverei; Zwang), und ob es Dinge wie z.B. religiöse Lehren gibt, denen gegenüber der Staat eine strikt neutrale Haltung einnehmen muss (siehe Neutralität, Politische; Toleranz). Noch vor der Frage, wie der Staat selbst beschaffen sein sollte, liegt die Frage der allgemeinen Prinzipien, die alle weiteren Entscheidungen leiten. Welche Werte sollten beispielsweise der ökonomischen und sozialen Politik zugrunde liegen? Ein Teil der Aufgabe eines politischen Philosophen ist es, die Ideen zu prüfen, auf die sich viele politische Argumente berufen, deren Bedeutung aber unklar ist, so dass sie sogar von Politikern einander entgegengesetzter Lager verwendet werden können, um radikal unterschiedliche Politikvorschläge zu rechtfertigen. Politische Philosophen versuchen, eine klare und kohärente Darstellung von Begriffen wie ‚Gleichheit‘, ‚Freiheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Bedürfnisse‘ und ‚Interesse‘, ‚Öffentliches Interesse‘, ‚Rechte‘ und ‚Wohlfahrt‘ etc. zu geben. Und sie versuchen auch zu bestimmen, ob diese Ideen zueinander passen oder in Konflikt miteinander stehen, ob beispielsweise Gleichheit und Freiheit konkurrierende Werte sind, oder ob eine Gesellschaft gleichzeitig sowohl frei, als auch egalitär sein kann. Weitere Fragen ergeben sich aus den Prinzipien, die einen Staat in seinem Umgang mit anderen Staaten leiten sollten. Dürfen Staaten z.B. legitimerweise das verfolgen, was sie als ihre nationalen Interessen ansehen, oder sind sie an ethische Pflichten anderen gegenüber gebunden? Allgemeiner gesagt, sollten wir eine eher kosmopolitische Alternative suchen, bei welcher die Prinzipien der Gerechtigkeiten auf globaler Ebene anzuwenden wären? (Siehe Internationale Beziehungen, Philosophie der; Globalisierung.) Wann, wenn überhaupt, sind Staaten berechtigt, gegen andere Staaten in den Krieg zu ziehen? (Siehe Krieges und des Friedens, Philosophie des). Seit ungefähr zweihundert Jahren wird die politische Debatte oft innerhalb eines allgemeinen Rahmens geführt, der durch konkurrierende Ideologien aufgespannt wird. Wir können uns eine Ideologie als eine Reihe von Überzeugungen über die soziale und politische Welt vorstellen, die gleichzeitig dem Geschehen einen Sinn gibt, das gerade vor sich geht und unsere praktischen Erwiderungen darauf leitet (siehe Ideologie). Ideologien sind oft ziemlich lose strukturiert, so dass sich zwei Menschen, die beispielsweise beide konservativ gesonnen sind, dennoch zu vollkommen unterschiedlichen Schlussfolgerungen über irgendeine konkrete politische Frage kommen können. Trotzdem scheinen die Ideologien unverzichtbar als Mittel der Vereinfachung beim Nachdenken über eine politische Welt mit ständig steigender Komplexität zu sein. Kein politischer Philosoph kann sich vollständig vom Zugriff der Ideologien freimachen, aber politische Philosophie muss zumindest eine kritischere Prüfung der intellektuellen Verknüpfungen vornehmen, die die Ideologien zusammenhalten, und sie muss die nicht genannten Voraussetzungen ans Licht bringen, die ihnen jeweils zugrunde liegen. Die einflussreichsten dieser Ideologien waren der Liberalismus, der Konservatismus, der Sozialismus, der Nationalismus (siehe Nation und Nationalismus) und der Marxismus (siehe Marxismus, Westlicher; Marxistische Philosophie, Russische und Sowjetische). Andere Ideologien haben eine geringere politische Bedeutung, entweder weil sie weniger Anhänger gefunden haben, oder weil sie nur über eine kürzere Zeitspanne einflussreich waren (siehe Anarchismus; 1426
Politische Philosophie
Kommunismus; Faschismus; Liberalismus; Republikanismus; Sozialdemokratie und Totalitarismus). 2. Zeitgenössische politische Philosophie Das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts erlebte ein kraftvolles Wiederaufleben der politischen Philosophie, die sich zumindest in den westlichen Gesellschaften meistens im Rahmen einer liberalen Grundverfassung bewegte. Andere Ideologien wurden überflügelt: Der Marxismus erlebte nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ einen starken Niedergang, und der Konservatismus und der Sozialismus haben nur überlebt, indem sie große Teile liberaler Ideologie mit an Bord nahmen. Einige behaupteten, dass der Hauptkonkurrent des Liberalismus heute der Kommunitarismus sei (siehe Gemeinschaft und Kommunitarismus); bei näherer Betrachtung der so genannten kommunitaristischen Debatte sieht man allerdings, dass diese weniger eine Debatte über den Liberalismus selbst ist, als vielmehr über den genauen Status und die Form, die eine liberale politische Philosophie annehmen sollte; ob sie beispielsweise universelle Gültigkeit beanspruchen kann, oder ob sie sich eher als eine Interpretation der politischen Kultur der westlichen liberalen Demokratien verstehen sollte. Die Vitalität der politischen Philosophie erklärt sich nicht nur durch das Entstehen eines neuerlichen Auflebens des Liberalismus, sondern durch die Tatsache, dass sich ein neuer Kreis politischer Fragen ergeben hat, deren Lösung die intellektuellen Ressourcen des Liberalismus bis an seine Grenzen beanspruchen. Was für Fragen sind das? Die erste betrifft die soziale Gerechtigkeit, die in der einen oder anderen Form die politische Philosophie über mehr als ein Jahrhundert beherrscht hat. Die meisten der zahlreichen liberalen Theorien der Gerechtigkeit, die heute angeboten werden, sind in eine im weiten Sinne egalitäre Atmosphäre eingebettet und rufen folglich nach einer zumindest teilweisen Aufhebung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten, die durch eine uneingeschränkte Marktwirtschaft entstanden3 (siehe Dworkin, R.; Gerechtigkeit; Marktes, Ethik des; Rawls, J.; nur für hiervon abweichende Auffassungen siehe Nozick, R.). Diese Theorien ruhten auf der Annahme, dass die Sozial- und Wirtschaftspolitik weitgehend innerhalb der Grenzen einer sich selbst erhaltenden politischen Gemeinschaft betrieben werden können, die vom Weltmarkt abgeschirmt ist. Diese Annahme wird in steigendem Maße hinterfragt, und dies stellt die Liberalen vor das folgende Dilemma: Wenn das Anstreben sozialer Gerechtigkeit ein integraler Bestandteil des Liberalismus3 ist, fragt sich, wie dies mit individueller Freiheit der Bewegung, der Kommunikation, der Arbeit und des Handels über staatliche Grenzen hinweg vereinbar sein soll. Es zeigt sich hier ein bedeutsamer Unterschied im Verständnis des Wortes ‚Liberalismus‘ im mitteleuropäischen und im angelsächsischen Kulturraum. Während im kontinentalen Mitteleuropa der Liberalismus gerade mit Begriffen wie ‚Marktfreiheit‘, ‚weniger Staat‘, Entbürokratisierung‘ und ‚wirtschaftliche Selbständigkeit‘ etc. zusammengebracht wird und deshalb von ‚linken‘ Parteien und Interessensgruppen eher als unsozial angeprangert wird, bezeichnet man insbesondere in den USA die tendenziell ‚links‘ gesonnenen Parteien und Interessensgruppen als ‚liberal‘, z.B. die Demokratische Partei in den USA. Aus diesem Grunde heißt es hier auch etwas weiter oben, dass der Liberalismus auf einem ‚egalitären‘ Fundament aufbaue, was für die USA sicherlich richtig, für das kontinentale Europa aber gar nicht zutreffend ist. Da sich solche Bedeutungsunterschiede jedoch nicht durch eine entsprechende Übersetzung kenntlich machen lassen, muss es bei diesem Hinweis bleiben. Siehe hierzu auch den Eintrag Liberalismus, wo auf diesen Unterschied ebenfalls explizit hingewiesen wird. [WS] 3
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Politische Philosophie
Die zweite Frage wird durch den Feminismus gestellt, und zwar speziell durch die feministischen Herausforderungen der konventionellen liberalen Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre (siehe Feministische politische Philosophie). In vieler Hinsicht sind der Feminismus und der Liberalismus natürliche Gefährten; wenn aber die Feministen sich für fundamentale Änderungen der Art und Weise aussprechen, wie Männer und Frauen ihre persönlichen Beziehungen gestalten, oder sich für eine Politik der positiven Diskriminierung (d.h. Bevorzugung) in der Beschäftigungspolitik einsetzen, die fest verwurzelten liberalen Prinzipien der Verdientheit von Vorteilen zuwider läuft, so stellt dies eine größere Herausforderung der liberalen politischen Philosophie dar. Drittens gibt es eine Reihe von Fragen, die durch etwas entstehen, was man eine ‚neue Politik der kulturellen Identität‘ nennen könnte. Viele Gruppen in den gegenwärtigen Gesellschaften fordern inzwischen, dass politische Institutionen dahingehend verändert werden sollten, dass sie die unterschiedlichen Kulturen der jeweiligen Gesellschaften spiegeln und ausdrücken; dies umfasst einerseits nationalistische Gruppierungen, die fordern, dass politische Grenzen neu gezogen werden sollten, um ihnen ein größeres Maß an Selbstbestimmung zu gewähren, und andererseits kulturelle Minderheiten, die sich beklagen, dass die öffentlichen Institutionen ihnen hinsichtlich jener Merkmale, die sie von der Mehrheit unterscheiden, nicht den gleichen Respekt entgegen bringen wie der Mehrheit (z.B. hinsichtlich ihrer Sprache oder Religion) (siehe Nation und Nationalismus; Multikulturalismus; Postkolonialismus). Diese Forderungen kollidieren ebenfalls mit schon lange bestehenden liberalen Überzeugungen, dass der Staat sich kulturell neutral verhalten sollte, dass Bürger die gleiche Behandlung vor dem Gesetz erfahren sollten, und dass Rechte immer Einzelpersonen, nicht Gruppen zustehen (siehe Staatsangehörigkeit; Diskriminierung; Diskriminierung, Positive). Wir werden abwarten müssen, ob der Liberalismus die notwendige Flexibilität hat, um solchen Anforderungen gerecht zu werden. Schließlich wird der Liberalismus durch die Umweltbewegung herausgefordert, deren Anhänger behaupten, dass die liberalen politischen Prinzipien mit dringenden Umweltfragen nicht fertig werden, und noch radikaler, dass das liberale Image des selbstgenügsamen, sich selbst steuernden Individuums nicht zum ökologischen Bild des untergeordneten Platzes der Menschheit im System der Natur als einem Ganzen passe (siehe Umweltpolitik, Philosophie der; Umweltethik; Nachhaltigkeit). Der Liberalismus sei, so heißt es, zu fest mit der Marktwirtschaft und dem Konsum als einem Mittel zur Erreichung des persönlichen Wohlergehens verheiratet, um noch imstande zu sein, die gründlichen politischen Mittel zu ergreifen, die notwendig seien, um eine globale Umweltkatastrophe zu vermeiden. Keines dieser Probleme wird leicht lösbar sein, und wir können mit einem gewissen Selbstvertrauen sagen, dass die politische Philosophie weiterhin blühen wird, selbst noch in einer Welt, in der die scharfen ideologischen Teilungen des mittleren 20. Jahrhunderts nicht mehr bestehen. Wir dürfen auch eine Erneuerung der nichtwestlichen Traditionen der politischen Philosophie erwarten, und zwar in dem Umfange, wie die intellektuelle Freiheit in jenen Ländern auflebt, wo diese über ein halbes Jahrhundert oder länger vom Staat unterdrückt wurde. Politische Fragen, die die Philosophen seit über zweitausend Jahren oder länger beschäftigen, werden unter Verwendung neuer Sprachen und neuer Techniken auch neu angegangen werden, 1428
Politische Philosophie, Geschichte der
während die ständige Beschleunigung des technologischen und sozialen Wandels neue Probleme erzeugen wird, deren Lösungen wir kaum antizipieren werden können. Siehe auch: Antisemitismus; Arbeit, Philosophie der; Bevölkerung und Ethik; Entfremdung; Evolution und Ethik; Familie, Ethik und; Gewalt; Historizismus; Kritische Theorie; Kultur; Pareto-Prinzip; Paternalismus; Rechtsphilosophie; Souveränität; Wirtschaftswissenschaft und Ethik; Zustimmung Anmerkungen und weitere Lektüre: Kymlicka, W. (1990): ‚Contemporary Political Philosophy‘. Oxford: Oxford Universitiy Press, 2. Aufl. (Jedes Kapitel dieses umfassenden Werks behandelt eine größere Schule des zeitgenössischen politischen Denkens.) Miller, David (2003): ‚Political Philosophy: A Very Short Introduction‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine gut lesbare Einführung für jene, die das erste Mal mit der politischen Philosophie in Berührung kommen.) Swift, Adam (2001): ‚Political Philosophy: A Beginner’s Guide for Students and Politicians‘. Cambridge: Polity Press. (Eine ausgewählte Diskussion einiger der wichtigsten Begriffe der zeitgenössischen politischen Philosophie.) DAVID MILLER
Politische Philosophie, Afrikanische
Siehe: Afrikanische Philosophie, englischsprachige; Afrikanische Philosophie, französischsprachige
Politische Philosophie, Geschichte der
Die Geschichte der politischen Philosophie versucht, eine verknüpfte Darstellung der vergangenen Spekulationen über den Charakter der menschlichen Zusammenschlüsse im weitest denkbaren Sinne zu geben. Die Ausdrücke ‚Geschichte‘ oder auch ‚Philosophie‘ mögen jeweils unterschiedliche Betonungen erfahren, die das Organisationsprinzip, die zeitliche Folge oder den begrifflichen Rahmen des politischen Denkens betreffen können. Anglophone Arbeiten konzentrieren sich zunehmend auf bestimmte politische ‚Sprachen‘, die durch spezifische Vokabulare, ihre eigene Syntax und andere Parameter definiert sind, beispielsweise klassischer Republikanismus, Römisches Recht, Naturrecht, Utilitarismus. Chronologisch ist es üblich, bei einer Untersuchung auf die Unterteilung zwischen der antiken, mittelalterlichen, Renaissance-, neuzeitlichen und modernen Epoche zu achten. Das Altgriechische ist die Quelle der frühesten politischen Reflexionen, die eine kontinuierliche Geschichte in der abendländischen Kultur haben. Hier regte sich das Nachdenken über das Wesen und die richtige Organisation der politischen Gemeinschaft zur Untersuchung des Unterschiedes zwischen der Natur und der Konvention, dem öffentlichen und dem häuslichen Bereich, dem bestimmten Charakter der politischen Herrschaft, der Beziehung zwischen politischem Leben und Philosophie, aber auch über das Wesen der Gerechtigkeit und die Reihenfolge der Staatsformen, sowie zu eher soziologischen Untersuchungen über die Stabilität und den Niedergang eines politischen Regimes. Das griechische politische Vokabular wurde an die existierende römisch-republikanische Praxis – z.B. durch Polybius und Cicero – angepasst, was rasch zu einer imperialen Staatsverfassung führte, die den Frieden, die Ordnung und die staatliche Einheit betonte. Rom erzeugte hierdurch zwei gegensätzliche politische Ideale: je1429
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nes des tugendhaften, aktiven republikanischen Bürgers, und jenes andere des vereinheitlichten Imperiums, das durch römisches Recht beherrscht wurde. Zusammen mit den Fragen über die Ursachen seines eigenen Aufstiegs und Niedergangs lieferte Rom damit die politischen Werte und das historische Material für die nachfolgende philosophische und historische Reflexion. Das Christentum höhlte die heidnische Autonomie der Politik im Namen eines höheren, transzendenten Ideals aus. Es übernahm allerdings viel vom griechischen Rationalismus und auch das politische Vokabular der klassischen Kultur, indem es ein Glaubensbekenntnis und eine institutionelle Form ausarbeitete. Im Gegenzug verlieh es den imperialen und königlichen Amtsträgern Roms und der nachfolgenden Königreiche ihre Legitimität. Die mittelalterliche politische Philosophie war typischerweise mit der Beziehung zwischen dem Papst und dem König, zwischen der Kirche und dem regnum beschäftigt, doch die Philosophie als Disziplin war der Theologie untergeordnet. Dies wurde durch die Wiederentdeckung von Aristoteles’ selbstgenügsamem säkular-politischem Ideal in Frage gestellt, was eine Zeitlang durch die philosophische Synthese im Werke von Thomas von Aquin gelöst wurde. Die Autonomie der säkularen Politik wurde jedoch durch eine Folge von Autoren ständig neu behauptet, z.B. durch Bartolus von Sassoferrato, Marsilius von Padua, Bruni und Machiavelli, die den klassischen Republikanismus wieder belebten und neu formulierten, indem sie sowohl das Römische Recht, als auch die neuen Techniken und Einsichten der Renaissance anwandten. Die Reformation, obwohl sie anfänglich politisch ruhig war, rief bald neue Konflikte zwischen säkularem und heiligem Recht hervor. Insbesondere führten radikale Behauptungen betreffend die Verantwortung aller Gläubigen für ihre eigene Erlösung auf verschiedenen Wegen zu einer stärker individualistisch orientierten politischen Philosophie. Im frühneuzeitlichen Europa strebte Hugo Grotius, indem er ein erstaunlich neues (und ursprünglich katholisches) Vokabular des Naturrechts verwendete, nach einer Vereinheitlichung der säkularen Grundlage für eine gemeinsame politische Moral auf der Basis individueller Rechte, die er von einem universellen Recht auf Selbsterhaltung ableitete. Dieser Ansatz wurde umfassend von den Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts erforscht, insbesondere von Hobbes und Locke, und kulminierte politisch in der Amerikanischen und Französischen Revolution. Als Nachspiel der Französischen Revolution wurde die Sprache des Naturrechts sowohl von konservativen Denkern wie Burke, als auch von dem neuen und ebenfalls radikalen Utilitarismus, der weitgehend durch Bentham geprägt wurde, abgelehnt. Versuche zu einem Begreifen des politischen Charakters der wirtschaftlichen Umwälzungen und der entstehenden Reiche im neuzeitlichen Europa mündeten in ein wachsendes Interesse an dem wesentlichen historischen Charakter der Politik, deren Dynamik gerade durch den republikanischen Diskurs besonders gut erkundet werden konnte. Indem man den Verlust an Freiheit zu vermeiden versuchte, der mit dem Entstehen des Römischen Reiches einherzugehen schien, begann man auch über mögliche Muster einer politisch-wirtschaftlichen Entwicklung nachzudenken, indem man neue Definitionen der Freiheit erfand, die die persönliche und wirtschaftliche gegenüber der politischen Freiheit betonten, und vorschlug, dass unpersönliche institutionelle Einrichtungen an die Stelle tugendhafter Motive bei der Sicher1430
Politische Philosophie, Geschichte der
stellung der politischen Freiheit und Stabilität treten sollten. Solche Möglichkeiten wurden durch Montesquieu und Constant in Frankreich erforscht, sowie von Hume und Smith in Großbritannien, und von ‚Publius‘ (Madison, Hamilton und Jay) in Amerika. Sie wurden von Rousseau abgelehnt, für den nur der aktive Bürger jegliche Rechte sicherstellen konnte, seien sie bürgerlicher oder staatsbürgerlicher Natur. Die Französische Revolution war nicht nur ein Ereignis, bei dem die politische Philosophie eine wichtige, wenn auch heiß umstrittene Rolle spielte; sie lieferte auch, wie schon beim Aufstieg und Fall Roms, ein zentrales Thema für die nachfolgende politische Reflexion. Der Charakter der Moderne, die Natur der Revolution, die Beziehung der politischen Ideen zum politischen Handeln, die Stärke oder Schwäche des Rationalismus als einem Gestaltungsprinzip, die Machbarkeit und Erwünschtheit der revolutionären Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit: all dies wurde zum Thema der philosophischen Spekulation durch die nachrevolutionären Denker wie Constant, Cabet, de Tocqueville, Burke, de Maistre, Saint-Simon, Owen und Coleridge, aber auch der späteren Generation einschließlich Comte, Carlyle und Marx. Im Gegensatz zur Verwendung der Lockeschen Psychologie und der konditionierenden Wirkungen der Erfahrungen und Assoziationen zum Verständnis der Prozesse des sozioökonomischen Wandels durch seine Vorgänger erzeugte Kants Postulat des transzendenten Selbst ein neues Vokabular des Idealismus. Dies kulminierte in Hegels Versuch einer Demonstration, wie der philosophische und historische (einschließlich dem politischen) Wandel als eine Entwicklung und Verwirklichung eines transhistorischen Bewusstseins oder ‚Geistes‘ verstanden werden könne, womit er die internen Spannungen zwischen einem Projektionsprozess und der Transzendenz zu überwinden hoffte. Die Vorstellung, dass das menschliche Selbstverständnis und seine Praxis historisch zu verstehen sei, beeinflusste umfänglich das nachfolgende politische Denken und wurde zu einem zentralen Moment in den Ideen von Marx, Nietzsche und Freud (und formte auch viele von J.S. Mills Veränderungen des klassischen Utilitarismus). Alle drei der vorstehend Genannten verdanken einen Teil ihrer Einsichten der Hegelschen Behauptung über die Schlüsselrolle und den sinnbildhaften Charakter des Kampfes zwischen Herrn und Knecht. Während jedoch für Hegel und Marx die Einsichten des Sklaven den Übergang zu einer höheren Form von Bewusstsein repräsentieren – im Falle von Marx durch eine Klassenrevolution vermittelt – waren für Nietzsche im verzweifelten und für Freud im resignierten Sinne die Repression ein konstituierendes und sich selbst fortschreibendes Merkmal der modernen Politik. Während das politische Denken des 19. Jahrhunderts vor allem mit der historischen Bedingtheit politischer Empfindlichkeit beschäftigt war, begleitete Freuds Entdeckung des Unbewussten das Aufkommen einer irrationalistischen Massenpolitik, die charakteristisch für das 20. Jahrhundert war und eher einer soziologischen als einer philosophischen Analyse zugänglich ist. Dennoch bleibt die rationalistische politische Theorie, die sich vom Utilitarismus ableitet, sowie der häufige Rückgriff auf wirtschaftliches Denken (und umgekehrt auch die Arbeit daran) der herrschende Akzent der zeitgenössischen politischen Philosophie. Siehe auch: Hegel, G.F.W.; William von Ockham IAIN HAMPSHER-MONK
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Pomponazzi, Pietro (1462–1525)
Pomponazzi, Pietro (1462–1525)
Pietro Pomponazzi war der führende aristotelische Philosoph im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Seine Abhandlung ‚De immortalitate animae‘ (dt.: ‚Über die Unsterblichkeit der Seele‘, 1516) trägt vor, dass, obwohl der Glauben uns die Unsterblichkeit lehrt, die natürliche Vernunft und die aristotelischen Prinzipien diese doch nicht beweisen können. In ‚De incantationibus‘ (dt.: ‚Über Beschwörungen‘, 1556) versucht Pomponazzi auf einer rationalen Basis zu beweisen, dass alle berichteten wunderbaren Aufhebungen oder Umkehrungen der Naturgesetze durch Kräfte der Natur selbst erklärt werden können. Indem er den Glauben und die Vernunft erneut voneinander trennte, verkündete Pomponazzi gleichwohl seinen Glauben in alle kanonischen Wunder der Kirche. Diese Argumente werfen allerdings Zweifel an der Moral auf, denn ohne ein Leben nach dem Tode ist die Menschheit ihrer Tugend beraubt und der Bestrafung für das von ihr zu vertretende Böse enthoben, und die Natur selbst zeigt sich als etwas, was durch unpersönliche Kräfte beherrscht wird, die mit menschlichen Angelegenheiten gar nichts zu tun haben. Die Moral wird im Universum jedoch durch die menschlichen Kräfte zum rationalen Nachdenken wieder hergestellt, die zur Verfolgung der Tugend führen. Doch in ‚De fato‘ (dt.: ‚Über das Schicksal‘, erstmals im Jahre 1567 veröffentlicht) stellt Pomponazzi die gesamte Grundlage seiner eigenen ethischen Lehre in Frage, indem er vorbringt, dass alle Tätigkeiten der nicht-empfindenden und der empfindenden Lebewesen im Hinblick auf vorherbestimmte Zwecke durch Umwelteinflüsse gelenkt seien. Weil er nicht in der Lage ist, die menschliche Freiheit auf rationaler Grundlage zu rechtfertigen, versucht er sie daraufhin wiederherzustellen, indem er Argumente verwendet, die aus der christlichen Naturtheologie abgeleitet sind, und kehrt damit seine zuvor bereits etablierte Trennung von Glauben und Vernunft um. Siehe auch: Ficino, M.; Freier Wille; Renaissance-Philosophie; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der; Wunder MARTIN L. PINE
Popper, Karl Raimund (1902–1994) Einführung Popper gehörte einer Generation emigrierter mitteleuropäischer Gelehrter an, die das Denken in den englischsprachigen Ländern während des 20. Jahrhunderts tief greifend beeinflussten. Seine größten Beiträge leistete er in der Wissenschaftsphilosophie, sowie in der politischen und der Sozialphilosophie. Poppers ‚Falsifikationismus‘ kehrte die bis dahin übliche Sichtweise um, dass die akkumulierte Erfahrung zu wissenschaftlichen Hypothesen führt; stattdessen gehen die frei vermuteten Hypothesen voran und werden gegen die Erfahrung geprüft. Diejenigen Hypothesen, die den Überprüfungsprozess überstehen, stellen laufendes wissenschaftliches Wissen dar. Seine allgemeine Erkenntnistheorie namens ‚Kritischer Rationalismus‘ empfiehlt die sokratische Methode des Hinterfragens und der kritischen Diskussion von Antworten, die hierauf gegeben werden. Popper betrachtet das Wissen im herkömmlichen Sinne von Gewissheit, oder im modernen Sinne einer gerechtfertigten, wahren Überzeugung als nicht erreichbar. Nach dem nationalsozialistischen sog. ‚Anschluss‘ Österreichs an Deutschland beschäftigte Popper das Problem, warum Demokratien dem Totalitarismus verfallen 1432
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und wendete seinen kritischen Rationalismus auf die politische Philosophie an. Da wir über keine unfehlbaren Wege verfügen, um eine gute Regierung zu bekommen oder zu erhalten, meint er, führe Platons Frage ‚Wer sollte herrschen?‘ in die Irre. Trete man für die Herrschaft des Besten, des Weisesten oder des Gerechtesten ein, so lade man damit nur die Tyrannen ein, unter der Verkleidung dieser Prinzipien die Macht an sich zu reißen. Im Gegensatz dazu konstruiere sich eine klug gebaute ‚offene‘ Gesellschaft diejenigen Institutionen, die sicherstellen, dass ein jedes Regime ohne Gewalt ersetzt werden kann, unabhängig von den höheren Zielen, die zu verfolgen es verkündet. Im Rahmen einer erweiterten Kritik von Platon und dem Platonismus, sowie von Marx und dem Marxismus, hatte Poppers politische Philosophie erheblichen Einfluss im Nachkriegseuropa, und zwar sowohl im Westen, als auch im Osten. 1. Leben und Arbeiten 2. Wissenschaftstheorie 3. Späte Ideen 4. Demokratie, Gesellschaft und Individualismus 1. Leben und Arbeiten Karl Raimund Popper wurde im Jahre 1902 in Wien als das jüngste Kind eines Rechtsanwalts geboren. Er erhielt eine Ausbildung an der Universität Wien, wo er Mathematik, Musik, Psychologie, Physik und Philosophie studierte. In den Jahren 1930 bis 1936 war er als Lehrer an einer Oberschule tätig. Die Angst vor dem Nazismus brachte ihn dazu, im Jahre 1937 zu emigrieren; so wurde er Dozent für Philosophie am Canterbury University College, Christchurch, Neuseeland. Im Januar 1946 wurde er zum Universitätslehrer für Logik und Wissenschaftliche Methodik an der London School of Economics ernannt, wurde im Jahre 1949 dort selbst Professor und zog sich von der Vollzeittätigkeit als Lehrender im Jahre 1969 zurück. Neben vielen anderen Ehrentiteln wurde er 1965 zum Ritter geschlagen, wurde 1976 Fellow of the Royal Society und wurde 1982 zum Companion of Honour (‚Ehrenbegleiter‘). Nach einem spezialisierten Anfang in der Wissenschaftsphilosophie offenbarte sich Pooper als ein Philosoph mit großer intellektueller Reichweite, der Beiträge über das gesamte philosophische Spektrum leistete, von vorsokratischen Studien bis zur modernen Logik, von der Politik bis zur Wahrscheinlichkeit, und vom GeistKörper-Problem bis zur Interpretation der Quantentheorie. Alle seine gedruckten Bücher zusammen genommen, viele von ihnen in zahlreiche Sprachen übersetzt, ist Popper einer der am meisten diskutierten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er beharrte aber auch darauf, dass seine Ideen systematisch falsch verstanden und fehlinterpretiert würden; dies führte ihn dazu, ungewöhnliche Energien auf Fragen der Interpretation und Kommentierung seines eigenen Werkes zu verwenden. Popper veröffentlichte drei Hauptwerke zwischen 1935 und 1945. Das erste, die ‚Logik der Forschung‘ (1935), das seine Wissenschaftstheorie enthält, erschien auf Englisch erst im Jahre 1959. Das zweite, ‚Das Elend des Historizismus‘ (1944–1945) erweiterte seine Wissenschaftstheorie auf die Geschichte und die Gesellschaft; dort kritisierte er streng den Begriff der historischen Gesetze. Das dritte, ‚Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ (1945) ist eine zweibändige Abhandlung über die Philosophie der Geschichte, der Politik und der Gesellschaft.
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Poppers weitere Hauptwerke bestehen aus zwei Sammlungen größerer Texte, den ‚Vermutungen und Widerlegungen‘ (1962) und ‚Objektive Erkenntnis‘ (1972); ferner ein Band in der ‚Bücherei der Lebenden Philosophen‘ (1974), der eine intellektuelle Autobiographie und eine Reihe von Erwiderungen auf seine Kritiker enthält; und eine Gemeinschaftsarbeit mit Sir John Eccles über eine Untersuchung des Geist-Körper-Problems mit dem Titel ‚Das Ich und sein Gehirn‘ (1977). ‚Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie‘ erschien 1979, wobei er das erhaltene Fragment des Buches bereits vor der ‚Logik der Forschung‘ geschrieben hatte, das dann an dessen Stelle getreten war; und schließlich das lang herausgeschobene ‚Postskript zur Logik der Forschung‘ (engl.: ‚Postscript to the Logic of the Scientific Discovery‘, 1982–1983), von dem vieles aus den Jahren 1955–1957 stammt. Die meisten dieser Bücher erschienen in vielen Auflagen, die manchmal kleinere, selten auch größere Änderungen mit sich brachten. Durch seine ganze berufliche Laufbahn hindurch produzierte Popper auch viele nicht weiter bearbeitete Texte zu unterschiedlichen Themen und lehrte in der gesamten Welt. Seine Manuskripte und Korrespondenz füllen an der Hoover Institution, Stanford University, ca. 450 Archivkartons. 2. Wissenschaftstheorie Zwei Probleme ziehen sich durch die gesamte Poppersche Wissenschaftstheorie. Er nennt sie ‚das Problem der Induktion‘ und ‚das Problem der Abgrenzung‘. Das Induktionsproblem kann man folgendermaßen formulieren: Welche Beziehung besteht zwischen dem theoretischen Wissen und der Erfahrung? Das Problem der Abgrenzung lässt sich so formulieren: Was unterscheidet die Wissenschaft von der Metaphysik einerseits, und von der Logik und der Mathematik andererseits? Die Antworten, die Popper auf diese Fragen gab, lauteten: wir erhalten Wissen aus der Erfahrung durch die Induktion, d.h. durch den Schluss auf universelle Theorien aus der Akkumulation einzelner Fakten; und die induktive Methode grenzt die Wissenschaft von der Metaphysik genauso wie von der Logik und der Mathematik ab. Allerdings zeigte Hume, dass die induktiven Schlüsse ungültig sind, und damit auch das Problem der Induktion: entweder erhalten wir Wissen aus der Erfahrung durch ungültige Mittel (d.h. wir verhalten uns irrational), oder wir erhalten überhaupt kein Wissen (woraus eine skeptische Einstellung folgt); damit bricht die Induktion auch als Abgrenzungskriterium weg (siehe Abgrenzungsproblem; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der). Im 1. Teil der ‚Logik der Forschung‘ werden diese beiden Probleme umrissen, und es wird gezeigt, dass sie zusammenlaufen: Erkenntnis ergibt sich, wenn wir Aussagen akzeptieren, die die Erfahrung beschreiben, die wiederum unseren Hypothesen widersprechen und sie somit widerlegen; daher besteht eine deduktive, und keine induktive Beziehung zwischen dem theoretischen Wissen und der Erfahrung. Die Erfahrung lehrt uns unsere Irrtümer durch deren Korrektur. Nur Hypothesen, die durch Erfahrung falsifizierbar sind, sollten als wissenschaftlich gelten. Es besteht keine Notwendigkeit jenes induktiven Sprunges, den Hume als unlogisch, wenn auch unvermeidlich kennzeichnete; und die Hobsonsche Wahl zwischen Irrationalismus und Skeptizismus wird ebenfalls vermieden. Auf die Frage: ‚Woher kommen die Hypothesen, wenn nicht induktiv aus der Erfahrung?‘ antwortet Popper wie schon Francis Bacon, dass sie nämlich unserem Hang zum Nachdenken entspringen (siehe Bacon, F., § 6); jedenfalls können sie nicht der Beobachtung allein 1434
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entspringen, denn es gibt keine Beobachtung ohne Hypothesen. Hypothesen gehen sowohl logisch, als auch psychologisch der Beobachtung voran. Wir wenden ständig Theorien an, um uns in der Welt zu bewegen, und unsere Begegnungen mit negativen Evidenzen, d.h. dass sich etwas anders verhält, als wir dies erwarteten, sind die ‚Püffe‘, die uns Informationen über die Gestalt der Wirklichkeit liefern. Die ‚Logik der Forschung‘ ist dialektisch im Stil, handelt von den traditionellen Alternativen und Einwänden gegen jede Idee, sobald sie behandelt wird. Es ist bemerkenswert, wie häufig die Kritiker immer wieder Einwände vorbringen, die in diesem Buch bereits entkräftet wurden. Der üblichste Einwand ist jener, dass deshalb, weil keine auch noch so umfangreiche Erfahrung abschließend eine Aussage verifizieren könne, auch keine noch so umfangreiche Erfahrung sie je falsifizieren würde. Als Antwort auf diesen Einwand verweist Popper auf eine logische Asymmetrie. Eine allgemeine Aussage könne nicht von einer verifizierten, aber singulären Aussage abgeleitet werden, egal wie viele davon aufgestellt werden. Ihr könne jedoch bereits durch eine einzige Aussage widersprochen werden. Die Logik der Falsifikation sei das Thema; die Schlüssigkeit sei dagegen eine falsche Fährte. Ein weiteres Argument des Inhalts, dass die Kraft der falsifizierenden Evidenz immer durch ad-hoc-Definitionen oder eine einfache Weigerung, auf sie einzugehen, umgangen werden kann, erachtet Popper als unüberwindlich. Um hier fortzufahren, so schließt er, müsse man die Möglichkeit der Falsifikation in einer Methodenlehre einbinden. Für Popper ist eine Methodenlehre eine allgemeine Verhaltensentscheidung, die das Handeln leitet und in unseren Normen oder ‚methodischen Regeln‘ verkörpert ist. Unsere Entscheidungen betreffen die Frage, welcher Handlungsverlauf unseren Zielen am förderlichsten ist. Daher wird der Falsifikationismus zur obersten Regel erhoben, was zur Folge hat, dass die „Regeln des wissenschaftlichen Verfahrens so gestaltet sein müssen, dass sie keine wissenschaftliche Aussage gegen die Falsifikation schützen“ (‚Die Logik der Forschung‘, 1935). Die Regel der Kausalität sei typisch für die kleine angebotene Anzahl von Fällen: „Wir sollen die Suche nach einem universellen Gesetz und nach einem kohärenten theoretischen System nicht aufgeben, noch sollen wir jemals unsere Versuche aufgeben, irgendwelche Arten von Ereignissen, die wir beschreiben können, kausal zu erklären.“ Ein breiter erkenntnistheoretischer Anspruch offenbart sich, wenn Popper verallgemeinert: „Man könnte tatsächlich sagen, dass die Mehrheit der Probleme der theoretischen Philosophie, und gerade die interessantesten, […] als methodische Probleme neu interpretiert werden können“ (‚Logik der Forschung‘; siehe auch Wissenschaftliche Methode, § 2). Durch die gesamte ‚Logik der Forschung‘ hindurch beschreibt Popper seine Position im Wege der Debatte mit und durch den Gegensatz zu den Positionen des logischen Positivismus in Bezug auf die Bedeutung wissenschaftlicher Aussagen, und in Bezug auf zwei herkömmliche Standpunkte betreffend die Wissenschaft, nämlich den Induktivismus und den Konventionalismus von Poincaré und Duhem (siehe Konventionalismus; Logischer Positivismus, § 4). Es ist bemerkenswert, dass Popper wie die logischen Positivisten unbeschränkten Respekt vor den Wissenschaften ausdrückt. Anders als sie jedoch, gesteht er der Metaphysik in der Wissenschaft eine konstruktive (historische) Rolle zu, die er als etwas sieht, was direkt von den frühesten griechischen Spekulationen über das Wesen der Welt abstammt. Die Abgrenzung zwischen der Wissenschaft und der Metaphysik ist deshalb eine Frage 1435
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der Entscheidung über die Grenze, und keine der Entdeckung des Wesens der Dinge. Poppers Angriffe auf die zentralen Argumente der Logischen Positivisten trugen zum Niedergang dieser Bewegung bei. Popper respektiert den Konventionalismus als eine in sich geschlossene Theorie, die vertretbar und höchstwahrscheinlich auch konsistent sei. Sein Einwand dagegen lautet, dass sie riskiere, die Auffassung von einer unanfechtbaren Wissenschaft als überflüssig oder uneindeutig zu behandeln. Dennoch ist auch Popper in einer Hinsicht ein Konventionalist, nämlich in Betreff der Methodik. Im Gegensatz zum ‚methodischen Naturalismus‘ der logischen Positivisten, die die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik als einen Unterschied betrachten, der im Wesen der Dinge selbst oder auch im Wesen der Sprache liegt, ist Popper ein ‚methodischer Konventionalist‘, d.h. jemand, der Regeln vorschlägt, die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen verkörpern, und die umgekehrt durch Ziele geleitet werden. Seine eigene Art und Weise der Abgrenzung sollte danach beurteilt werden, so meint Popper, ob sie sich als fruchtbarer in der Weiterentwicklung des Ziels einer Entdeckung neuer Ideen und neuer Probleme erweist. Der 2. Teil der ‚Logik der Forschung‘ besteht aus Kapiteln zur Theorie zur Möglichkeit der Falsifikation, der empirischen Grundlegung, der Überprüfbarkeit, der Einfachheit, der Wahrscheinlichkeit, der Quantentheorie und der Bestätigung. Jedes Kapitel ist eine Erweiterung, eine Entwicklung und Verteidigung der Ideen, die kurz im 1. Teil vorgestellt wurden, und wehrt eine jeweils ganz bestimmte Gruppe kritischer Einwände ab. Die Kapitel über die Wahrscheinlichkeit und die Bestätigung behandelt beispielsweise sehr ausführlich den Einwand, dass die alles durchdringenden Wahrscheinlichkeitsaussagen der modernen Naturwissenschaft nicht falsifizierbar seien, und dass diese Aussagen die Stärke unserer induktiven Beweise messen. Die Kapitel treten somit den Beweis an, wie Wahrscheinlichkeitsaussagen auf relevante Weise falsifiziert werden können, und dass sie besser als Aussagen über die relative Häufigkeit interpretiert werden statt als Maß einer induktiven Beweisaussage. 3. Späte Ideen Die englische Übersetzung von ‚Die Logik der Forschung‘ gleicht einem Palimpsest4: Während seiner Übersetzung fügte Popper Kommentare, Glossen, gedankliche Entwicklung und Korrekturen in neuen Fußnoten und Anhängen ein, und er entwarf dazu einen Ergänzungsband, die dreibändigen ‚Postskripts zur Logik der Forschung‘ von 1982–1983. Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob all dies vollkommen konsistent sei. Ein fraglicher Punkt ist beispielsweise der Abschnitt ‚Das Ziel der Wissenschaft‘ der ‚Postskripts‘, der bereits im Jahre 1957 veröffentlicht wurde, und der dafür eintritt, dass die Wissenschaft nach befriedigenden Erklärungen strebt. Er gruppiert sich um ein historisches Beispiel (Galileo, Kepler, Newton) und zeigt, wie jede Theorie ihren Vorgänger verdrängt und erklärt. Eine be4 Ein Palimpsest (aus dem Gr.: palimpsestos = wieder abgeschabt) ist eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite bzw. -rolle, die ursprünglich beschrieben, später durch Schaben oder Waschen wieder gereinigt und daraufhin erneut beschrieben wurde (lat.: codex rescriptus). Im Englischen ist der Ausdruck ‚Palimpsest‘ eine häufiger verwendete Metapher z.B. für die schöpferischen Funktionen des Gehirns; aber auch die Strukturalisten verwendeten den Ausdruck als Metapher zu Darstellung von allem Geschriebenem als Fortschreibung eines letztlich kollektiven Gesamt-Textkorpus.
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friedigende Erklärung muss zusätzlich zu ihrer Überprüfbarkeit noch weitere Bedingungen erfüllen, wobei dies zu einem deutlich stärkeren Ziel als die Falsifizierbarkeit erklärt wird, und zwar eines, dass dasselbe sein kann (aber nicht sein muss) wie das Ziel der Wissenschaft laut Darstellung am Ende der ‚Logik der Forschung‘ insgesamt, nämlich die Entdeckung neuer, tieferer und noch allgemeinerer Probleme. Sicherlich erkennt Popper gewisse Änderungen in seiner Auffassung an. Da der Begriff der Wahrheit von einer metaphysischen Debatte umgeben ist, vermeidet er in der ‚Logik der Forschung‘ sorgfältig dessen Verwendung und verlässt sich stattdessen auf die logischen Beziehungen (Implikation, Tautologie, Widerspruch). Später, nachdem er von Tarskis Arbeit überzeugt war, verwendete er den Wahrheitsbegriff und auch den Begriff der Plausibilität bzw. der wahrscheinlichen Wahrheit viel freier. Seine Kritik des Konventionalismus in der ‚Logik der Forschung‘ war also, wie bereits festgestellt, methodischer Art. In späteren Jahren war diese Kritik auch zunehmend metaphysischer Natur, in dem Umfange, wie Popper einen robusten Realismus und gleichzeitig einen Indeterminismus verfocht. Über die gesamte ‚Logik der Forschung‘ hinweg findet man darwinistische Metaphern: den Kampf ums Überleben unter den theoretischen Systemen, die natürliche Auslese, die Überlebenstauglichkeit etc., obwohl die Auffassung, dass die Wissenschaft sich nach den Regeln der biologischen Anpassung entwickele, auf den letzten Seiten des Buches zurückgewiesen wird. Dieses darwinistische Leitmotiv wurde zu einem strittigen Punkt in Poppers Spätwerk: führt die evolutionäre Biologie zur selben methodischen Analyse wie die Physik? Wo sind die zentralen Ideen Darwins oder seiner modernen Synthese falsifizierbar? Was die Sache noch verkompliziert ist, dass Popper seine Meinung über diese zentrale Frage änderte, indem er den Darwinismus in ‚Objektive Erkenntnis‘ als eine historische Hypothese bezeichnete, und als unfalsifizierbar, ja in ‚Unended Quest‘ (Poppers intellektuelle Autobiographie) nahezu als tautologisch. Im Gegensatz zu seiner früheren Sichtweise begann Popper sich hier auch für eine evolutionäre Erkenntnislehre einzusetzen, d.h. für einen Versuch zur Erklärung der Wahrheitssuche selbst innerhalb des Rahmens der natürlichen Auslese, und gab damit im Endeffekt dem kantischen Problem ‚Wie ist Erkenntnis möglich?‘ eine biologische Wendung. Seine zweiten Herbert-Spencer-Lectures (1975) behandeln sowohl die endosomatischen (innerkörperlichen), als auch die exosomatischen (außerkörperlichen) Anpassungen als Erkenntnisformen. Biologische Überlegungen wiegen ebenfalls schwer in Poppers Teil von ‚Das Ich und sein Gehirn‘ (zusammen mit John C. Eccles). Indem er sich gegen den reduktionistischen Materialismus der meisten Geist-Körper-Spezialisten wendet, verweist Popper hier vor allem auf indirekte Argumente für einen wechselseitigen Pluralismus. Reflexionen über die Biologie stecken auch hinter einer breiten und neuen metaphysischen Initiative von 1967–1968, insbesondere auch hinter dem provokanten Abschnitt ‚Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt‘ (‚Objektive Erkenntnis‘, 1972: 132 ff.). Indem er die Welt der physischen Dinge von der Welt der geistigen Dinge unterschiedet, tritt Popper dafür ein, dass objektive Erkenntnis in keiner von beiden gegeben ist, sondern in ‚Welt 3‘, d.h. der Welt der menschlich erzeugten objektiven Gedankeninhalte. Solche intellektuellen Produkte haben demzufolge eine objektive Existenz: Theorien, Probleme, Problemsituationen, theoretische Situationen und kritische Argumente haben Eigenschaften und weisen logische Be1437
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ziehungen auf, denen keine physischen oder geistigen Analoga entsprechen. Gespeichertes Wissen existiert sogar dann noch, wenn keine menschliche Person es abruft. Die Kritiker der ‚Welt 3‘ finden einige ihrer Konsequenzen kontraintuitiv: beispielsweise enthält sie nicht nur alle Wahrheiten, sondern auch alle Falschheiten, denen damit eine ebenfalls objektive ‚Existenz‘ zukäme. In den späten 1940er Jahren publizierte Popper ein besonders kraftvolles und elegantes System der natürlichen Deduktion, das sowohl an sich selbst von bemerkenswertem Interesse ist, als auch deshalb, weil aus dieser Perspektive die deduktive Logik als das Organon (Regelwerk) der Kritik betrachtet wird. Er berichtete, dass er, nachdem er einige Fehler darin beseitigt habe, er es doch niemals zu Ende zu bringen vermochte. Seine technische Aufmerksamkeit wendete sich der Wahrscheinlichkeitstheorie zu, zu der er bereits einiges in der ‚Logik der Forschung‘ beigetragen hatte. Das Ergebnis war ein hochgradig axiomatisches System, das von keinen expliziten Vorannahmen über irgendeine logische Beziehung zwischen den Elementen ausgeht, über die die Wahrscheinlichkeit definiert ist, womit es festlegt, dass die Wahrscheinlichkeit eine echte Verallgemeinerung der Deduzierbarkeit ist. Das System ist offen gegenüber vielen neuen Interpretationen von Wahrscheinlichkeitsaussagen. Eine besonders wichtige unter diesen, die die Theorie der relativen Häufigkeit in der ‚Logik der Forschung‘ verdrängte, sieht die Wahrscheinlichkeit als Maß von ‚Tendenzen‘ (‚Propensitäten‘) der Weltzustände an, sich in die eine statt in eine andere Richtung weiter zu entwickeln. In den ‚Postskripts‘ (1982) und ‚A World of Propensities‘ (dt.: ‚Eine Welt der Propensitäten‘, 1995) wird diese Sichtweise zu einer verblüffend neuen Metaphysik ausgebaut (siehe Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der, § 4). 4. Demokratie, Gesellschaft und Individualismus In den ‚Unended Quests‘ erzählt Popper nochmals, wie er schon als politisch bewusster Heranwachsender mit dem Kommunismus liebäugelte. Er war jedoch schnell enttäuscht, als er die kommunistischen Handlungen als unverantwortlich erkannte, insofern sie zum Tod einiger Demonstranten führten. (Individuelle Autonomie, Verantwortlichkeit, sokratischer Fallibilismus und die Pflicht zur Verringerung des Leidens sind die Schlüsselbegriffe seiner verstreuten Bemerkungen zur Ethik.) In den 1920er Jahren begann er mit der Niederschrift einer Kritik an Marx und dem Marxismus, die er zum ersten Male in einem Gespräch im Jahre 1935 unter dem Titel ‚Das Elend des Historizismus‘ einsetzte. ‚Historizismus‘ ist Poppers Bezeichnung für jegliche Idee, dass es unerbittliche Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gäbe, ungefähr der Art: wenn die Naturwissenschaft Sonnenfinsternisse voraussagen könne, dann müssten die Sozialwissenschaften auch zur Voraussage von politischen Revolutionen imstande sein. In sehr systematischer Weise umreißt Popper, wie diejenigen, die so denken würden, dass die Sozialwissenschaften keineswegs so beschaffen wären wie die Naturwissenschaften (also die ‚Anti-Naturalisten‘), als auch jene, die meinen, dass die Sozialwissenschaften den Naturwissenschaften sehr ähnlich seien (die ‚Naturalisten‘) das Ziel einer Voraussage der Geschichte teilen würden. Beide empfehlen die Methodik des Historizismus, den er als theoretisch verarmt und geneigt ansieht, die Gesellschaften als etwas zu behandeln, was als Ganzes auf den Druck nicht zu Ende entwickelter sozialer Kräfte reagiere (siehe Historizismus). 1438
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Stattdessen empfiehlt Popper den ‚methodischen Individualismus‘, d.h. Regeln, mit deren Hilfe das Verhalten und die Handlungen von Kollektiven durch das Verhalten einzelner Menschen erklärt werden sollte, die entsprechend der Logik ihrer sozialen Situation so gut, wie ihnen möglich, und so gut, wie sie es empfinden, auftreten. Die Alternative sei nicht nur unfruchtbar gewesen, wandte er ein, sondern die besten sozialen Erklärungen von Platon und Marx seien ebenfalls individualistischer Art gewesen. Was wie ein holistisches Phänomen ausschaue, müsse als die ‚unbeabsichtigten Konsequenzen‘ solcher individueller Handlungen erklärt werden, die durch das soziale Arrangement widerhallen (siehe Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften). Nach dem methodischen Individualismus würden soziale Theorien nicht durch geschichtliche Voraussagen getestet, die kaum mehr als Prophezeiungen seien, meint Popper, sondern durch die Erfindung von Institutionen, die die sozialen Fehlentwicklungen im Wege einer ‚Sozialtechnik‘ zu korrigieren versuchen. Von Menschen geschaffene soziale Institutionen seien Hypothesen in actu, behauptet er. Wenn wir diese Hypothesen widerlegen wollen, sollten wir es vermeiden, die Dinge mit zu groß angelegten oder zu zahlreichen Experimenten zu verkomplizieren, denn sonst würde die Auswertung unmöglich. Denn wir müssten auch mit störenden Einflüssen des ‚Ödipus-Effektes‘ rechnen, d.h. der Art und Weise, wie eine Voraussage über die Zukunft ein Änderungsfaktor der fraglichen Situation in dem Umfange wird, wie sich die Menschen dessen bewusst werden und damit das Ergebnis ‚stören‘. ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ war eine ‚wirklich unbeabsichtigte Konsequenz‘ eines Versuchs zur Erweiterung von Aspekten von ‚Das Elend des Historizismus‘, um verdutzte Freunde zufrieden zu stellen. Als es zu lang wurde, machte Popper daraus ein eigenes Buch. Bei seiner Veröffentlichung im Jahre 1945 erhob es ihn aus der akademischen Dunkelheit zu akademischem Ruhm. Er wurde damit zu einem umstrittenen und bekannten öffentlichen Intellektuellen. Etwas bescheiden als ‚kritische Einführung in die Philosophie der Politik und der Geschichte‘ wurde ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ in den sieben Jahren ihrer Reifezeit zu einer größeren Abhandlung über die intellektuellen und sozialen Krankheiten seiner Zeit, indem sie eine Erklärung dafür anbot, wie der Totalitarismus sogar einige intellektuelle Seriosität gewann, und wie die sich davon reinigende Nachkriegsgesellschaft auch die gesamte Politik, ihre Erziehung, Ausbildung und die Moral neu überdenken musste. Der Titel des Werks bezieht sich auf zwei Idealtypen, die im Folgenden untersucht werden. Eine ‚geschlossene Gesellschaft‘ ist eine, die eine magische oder tabuisierte Einstellung gegenüber der Tradition und den Bräuchen einnimmt und damit nicht zwischen Natur und Konvention unterscheidet. Eine ‚offene Gesellschaft‘ markiert diesen Unterschied und konfrontiert ihre Mitglieder mit persönlichen Entscheidungen und der Gelegenheit, hierüber rational zu reflektieren. Heraklit, Aristoteles und Hegel werden kurz diskutiert, aber die beiden intellektuellen Antihelden des Buches sind Platon im 1. Band und Marx im 2. Band. Der erste Band mit dem Titel ‚Der Zauber Platons‘ beantwortet zwei Fragen: erstens, warum Platon totalitäre Ideen verfocht, und zweitens, warum Studenten von Platon diese Tatsache ‚weiß gewaschen‘ und ihn ausgeschmückt hätten. Die Antwort auf die erste Frage, ein Beispiel für einen zutiefst einfühlsamen Text, zeichnet ein Portrait des jungen Platon, der mit Entsetzen über die geschlossene Welt 1439
Popper, Karl Raimund (1902–1994)
des stammesgesellschaftlichen Athen nachdenkt, das sich einer liberaleren offenen Gesellschaft zuwendet, wo die sozialen Privilegien verloren gehen und damit auch das Chaos kommt. Popper betont die Brillanz der soziologischen Ursachenanalyse dieses Wandels durch Platon, sowie seiner Vorschläge, dies aufzuhalten und den damit einhergehenden Verfall zu stoppen. Als Antwort auf die zweite Frage heizt Popper den Streit an, indem er nahe legt, dass Platons intellektuelle Anhänger, weil diesen die ihnen zugewiesene Rolle schmeichelte, sich in eine lang dauernde trahison des clercs (dt.: ‚Gehilfenverschwörung‘) verstrickten, indem sie die Lehre des Philosophen-Königs als liberal und erleuchtet darstellten. Um den Einsatz von Platon und den Platonikern für den Totalitarismus herauszustellen muss Popper zunächst unsere Ideale einer liberalen und demokratischen Sozialordnung klären und zeigen, wie Platon uns mit überredenden Definitionen einlullt, während er zu zeigen versucht, dass sein totalitärer Staat angeblich gerecht sei. (Popper formuliert hier auch einen allgemeinen Angriff auf die Vorstellung, dass die Philosophie das Wesen universeller Worte wie z.B. Gerechtigkeiten, Demokratie und Tyrannei herausfinden sollte. Er tritt stattdessen dafür ein, dass die Naturwissenschaft die Methodik des Nominalismus und nicht des Essentialismus verwende, und dass die Sozialwissenschaften und die Philosophie gut daran täten, ihnen darin zu folgen.) Mit Sensibilität für Platons Widerwillen gegen die Herrschaft der Mehrheit, die er z.B. als Pöbelherrschaft oder der Herrschaft der Schlechtesten bezeichnet, diskutiert Popper sorgfältig die Tyrannei und schließt, dass das Problem nicht in der Frage liege, was populär sei, denn gewisse Arten von Tyrannen seien sehr populär gewesen und hätten leicht auch gewählt werden können. Deshalb dürfe man eine offene und liberale Gesellschaft nicht mit einer populär gewählten Regierung identifizieren. Noch sei dies eine Frage des Gerechten, Guten oder Besten, denn keines dieser Ideale biete eine Garantie gegen die Tyrannei in ihrem Namen. Auf der Linie seiner Wissenschaftstheorie und der Erkenntnis im Allgemeinen schlägt er hier eine via negativa, d.h. einen verneinenden Weg vor: Die Frage sei nicht, welches Herrschaftssystem wir wollten, sondern was wir mit einem machen, das wir nicht wollen. Das Problem der Tyrannei sei, dass die Bürger keine friedliche Möglichkeit haben, diese loszuwerden, sofern sie dies wollen. Popper schlägt ein inzwischen berühmtes und allgemein anerkanntes Merkmal für die Demokratie vor, nämlich dass sie jenes politische System sei, das den Bürger erlaubt, eine unerwünschte Regierung loszuwerden, ohne zur Gewalt greifen zu müssen. Er zeigt, dass Platons Frage: ‚Wer sollte herrschen? ‘ und alle ähnlichen Diskussionen der Souveränität allesamt paradox seien, weil die Frage die Entstehung einer Inkonsistenz zwischen der Feststellung eines Herrschers (z.B. der Beste, oder Weiseste sollte herrschen) und dem, was dieser Herrscher befiehlt (z.B. befiehlt uns der Beste oder Weiseste dann: gehorche der Mehrheit oder dem Mächtigsten) zulasse. Popper stellte fest, dass diese Frage die autoritäre Folge in sich trage, insofern jeder, der hierdurch ernannt ist, angeblich zum Herrschen berechtigt sei. Er ersetzt diese Fragen deshalb durch die praktische Frage: ‚Wie können wir die schlechten Regierungen ohne Gewalt loswerden?‘, was zur Folge hat, dass die Herrschenden sich permanent bewähren müssten. Popper hegt eine tief pessimistische Sichtweise, dass alle Regierungen in gewissem Umfange unfähig und in ihrem Fehlverhalten potenziell sogar kriminell seien, und dass nur ein politisches System, das ihn unter der Duldung der Bürger das Regieren erlaube, die ihnen jederzeit ihre Unterstützung wieder entziehen können, eines ist, dass sich 1440
Popper, Karl Raimund (1902–1994)
mehr oder weniger wirksam gegen Missbräuche schützen ließe. Und selbst dann noch bürde uns die Fehlbarkeit unserer institutionellen ‚Hypothesen‘ die Notwendigkeit ewiger Wachsamkeit auf. Der zweite Band, ‚Falsche Propheten – Hegel, Marx und die Folgen‘, versucht zu zeigen, dass die prophetische Tendenz bei Heraklit, Platon und Hegel eine schädliche Zersetzung zur Folge hatte, die bis zur Scharlatanerie ging, und bei Marx ein Projekt des wissenschaftlichen Studiums der Gesellschaft, das trotz edler und emanzipierter Ziele scheiterte, insbesondere unter seinen Anhängern, infolge der Verwechslung von Voraussagen mit unwissenschaftlicher historischer Prophezeiung, was folglich auf eine grundlegende Fehlkonstruktion der wissenschaftlichen Methode hinausliefe. Die Kapitel über Marx gehören zu den durchdringendsten Kommentaren, die je über ihn geschrieben wurden, und sind sowohl einfühlend in ihrer Wertschätzung, als auch unermüdlich in ihrer Kritik. Obwohl Popper Platon klar als den tiefsten Denker betrachtet, wendet er doch ein, dass Marx uns viel darüber zu sagen hat, wie moralische und emanzipatorische Anregungen schief laufen können. Die Marxisten und die radikalen Experimente der Sowjetunion beurteilt er sehr streng, wie alle Formen des Nationalismus. Weil das Buch im Jahre 1945 genau nach dem Ende des 2. Weltkrieges erschien, der doch eine Allianz mit der Sowjetunion bewirkt hatte, polarisierte das Buch viele einflussreiche Intellektuelle in Interessensgruppen. Die Platoniker waren bestürzt, sich plötzlich als Apologeten einer totalitären Tendenz bei Platon angegriffen zu sehen (obwohl Popper nicht einmal der erste war, der hierauf hinwies), und die Marxisten fühlten sich ähnlich beleidigt. Die Nachwehen hiervon waren seltsam. Obwohl Popper zunächst sehr viel gelesen und empört zurückgewiesen wurde, gehörte es sich doch unter Marxisten und den Altphilologen später nicht mehr, ihn überhaupt noch beim Namen zu nennen. Und dennoch bestimmte sein Werk in den folgenden Jahrzehnten in außergewöhnlichem Umfange die Tagesordnung der apologetischen Platoniker, Hegelianer und Marxisten. In vielen Fällen wurde ein Buch oder Artikel dann am bedeutendsten betrachtet, wenn es sich darin versuchte, einige der Argumente in Poppers ‚Offener Gesellschaft‘ zu widerlegen. Als Philosophielehrer zeigte sich Popper ambivalent: philosophische Probleme ergeben sich aus der Wissenschaft, folglich sei es am besten, sich zunächst in einem erstrangigen Fach auszubilden, also vor allem in einem (natur-)wissenschaftlichen. In den Hörsälen hatte er das Charisma eines Menschen, der von intellektuellen Problemen besessen sei, der unablässig über sie nachdenkt. In Vorlesungen oder Seminaren konnte er intellektuell grimmig und streitlustig sein, in der persönlichen Begegnung dagegen liebenswürdig und ermutigend. Normalerweise zeigte er eine erstaunlich schnelle intuitive Auffassung der Logik einer jeden Position, die man ihm präsentierte, selbst noch der armseligsten, und bewies großen Eifer, sie zu stärken und sogar auszuarbeiten, bevor er sich daran machte, sie zu kritisieren. Er exemplifizierte auf diese Weise die Werte, die er vertrat: intellektuelle Aufrichtigkeit, persönliche Verantwortung und Unparteilichkeit, d.h. den Ideen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, unabhängig davon, wie sie gerade vorgetragen würden. Das Versagen vieler kritischer Kommentare, diese Standards ebenfalls zu erfüllen, ist der Grund für seine Klage der Fehlinterpretation seiner Lehre. Dafür gibt es aber noch weitere Gründe. Wenn Popper Recht hat, dann ist nicht nur ein großer Teil der herkömmlichen Art und Weise, wie Philosophie betrieben wird, fehlgeleitet, 1441
Pornographie
sondern sogar die Fragen werden falsch gestellt. Jeder Versuch, Poppers Ideen in traditionell orientierten Diskussionen abzubilden, riskiert eine Fehldarstellung. Die häufige Übung der zeitlosen Rekonstruktion von Poppers Philosophie, indem man Materialien aus seinem Werk zusammenstückt, die in einem zeitlichen Abstand von bis zu fünfzig Jahren geschrieben würden, ist ein Schlag ins Gesicht seiner Betonung der strukturierenden Rolle von Problemen und Problemsituationen in allen intellektuellen Tätigkeiten, speziell in der Untersuchung. Um seiner Originalität und der Kreativität seines Werks gerecht zu werden, müsste die akademische Lehre zu allererst den intellektuellen Kontext seiner Produktion respektieren. Siehe auch: Bedeutung und Verifikation; Carnap, R.; Entdeckung, Logik der; Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Fallibilismus; Induktiver Schluss; Liberalismus; Natürliche Deduktion, Tableau- und Sequenzkalküle; Wiener Kreis; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Hacohen, Malachi (2000): ‚Karl Popper: The Formative Years, 1902–1945‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine intellektuelle Biographie, die Popper im Milieu des kontinentaleuropäischen Denkens verortet, und die auch kritische Bewertungen seiner Unternehmungen in unterschiedlichen philosophischen Gebieten vornimmt.) Miller, David (Hrg.) (1985): ‚Popper Selections‘. Princeton, New Jersey: Princeton University Press. (Miller bietet hier eine maßgebliche Einführung in Poppers Denken an, sowie eine klug ausgewählte Anthologie ausgewählter Werke.) Stokes, Geoffrey (1998): ‚Popper: Philosophie, Politics and Scientific Method‘. Cambridge: Polity Press. (Einer der besseren Versuche einer insgesamt kritischen Reflexion des Popperschen Denkens.) IAN C. JARVIE
Populismus, Russischer
Siehe: Herzen, Alexander Ivanowitsch
Pornographie
Es gibt drei Hauptfragen zur Pornographie: (1) Wie kann man Pornographie definieren? Einige Definitionen enthalten die Behauptung, dass diese moralisch verwerflich sei, während andere sie neutral im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre Funktion definieren. (2) Warum ist sie schlecht? Einige Darstellungen sehen das moralische Übel der Pornographie in ihrer Tendenz zur Entstellung von Individuen oder zur Zersetzung der Moral einer Gesellschaft; andere Darstellungen erklären die Pornographie nur insofern zu etwas Negativem, wie es denen physischen Schaden zufügt, die an ihrer Produktion beteiligt sind, oder durch die Beleidigung ungewollter Beobachtung. (3) Sollte die Pornographie gesetzlich eingeschränkt werden? Der Streit um diese Frage zentriert sich darauf, ob das Gesetz eingesetzt werden sollte, um gegen die Unmoral anzugehen, und ob der Wert der freien Rede und der individuellen Autonomie so hoch ist, dass eine gesetzliche Beschränkung der Pornographie damit ausgeschlossen ist. Hier wiederum wirft die Debatte sehr allgemeine Fragen über das Gesetz und über die Autonomie in liberalen Gesellschaften auf. Siehe auch: Liberalismus; Sexualität, Philosophie der SUSAN MENDUS
1442
Porphyrios (ca. 223–309 v. Chr.)
Porphyrios (ca. 223–309 v. Chr.)
Der spätantike Philosoph Porphyrios (Porphyrios) war einer der Begründer des Neuplatonismus. Er edierte die Texte Plotins in der Form, in der sie heute bekannt sind, versah sie mit eigenen Einsichten und etablierte sie im Denken seiner Zeit. Als Reaktion auf Plotin brachte er aber auch Aristoteles’ Logik voran. Tatsächlich ist Porphyrios der Grund für das Wiederaufleben des Interesses an Aristoteles, das bis ins Mittelalter und darüber hinaus anhielt. Wegen Porphyrios entdeckte die spätantike griechische Philosophie sowohl ihre platonischen, als auch ihre aristotelischen Wurzeln wieder, und dem Neuplatonismus ging es um eine Kombination des inspirierten Denkens mit einer akademischen Genauigkeit. Er war ein großer Gelehrter des Lernens. Sein Interesse reichte von der Literaturkritik und der Geschichte bis zur Religion. Ein Beispiel hierfür ist seine Verteidigung des Vegetarismus, die die moderne Debatte über den Umweltschutz vorwegnimmt. Menschen und Tiere gehören zur selben Familie. Die Bemühung um die Bewahrung des Lebens ist eine Frage der erweiterten Menschenliebe und des Respekts gegenüber allen lebenden Arten, die unsere natürlichen Geschwister sind. Idealerweise sollten wir ‚Harmlosigkeit‘ (d.h. die Enthaltung von jeder Art der Zufügung von Schaden) sogar gegenüber den Pflanzen üben, außer wenn unsere Körper, die etwas Zusammengesetztes und Sterbliches sind, sie unbedingt als Nahrung brauchen. Deshalb sollten wir uns immer über die destruktive Wirkung bewusst sein, die unsere Essgewohnheiten und unser Konsumismus auf jene Schöpfung ausüben, von der wir doch ein Teil sind, und sollten deshalb einen einfachen Lebensstil pflegen. Porphyrs Interesse an der Logik, der Metaphysik und allen anderen Themen, mit denen er sich beschäftigte, entsprang seinem festen Glauben, dass die Vernunft, wie sie vom reinen Geist ausgeübt wird, uns zur wahren Essenz der Dinge führt, nämlich zu dem Einen Gott. Intellektuelle Tätigkeiten entheben die Seele der Leidenschaften und Verwirrungen und konzentriert ihre Aktivität auf die wirklichen Dinge. Porphyrios griff das Christentum und den Gnostizismus an, weil er meinte, sie würden sich auf das Irrationale berufen. Mysterien und Rituale sind etwas für jene, die unfähig zum innerlichen Nachdenken sind. Die Erlösung erlangen wiederum diejenigen, die das Leben eines Philosophen-Priesters führen. Siehe auch: Neuplatonismus LUCAS SIORVANES
Positivismus
Siehe: Comte, Isidore-Auguste-Marie-François-Xavier; Logischer PositivisPositivismus in den Sozialwissenschaften; Rechtspositivismus
mus;
Positivismus in den Sozialwissenschaften
Der Positivismus ging aus voneinander unabhängigen Bewegungen der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert und der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts hervor. Die Schlüsselideen der Positivisten lauteten, dass die Philosophie wissenschaftlich (d.h. nach dem Vorbild vor allem der Naturwissenschaften) betrieben werden sollten, dass metaphysische Spekulationen bedeutungslos seien, dass es eine universelle und apriorische wissenschaftliche Methode gäbe, dass es eine Hauptfunktion der Philosophie sei, diese Methode zu erforschen, und diese grundlegende wissenschaftliche Methode dieselbe sowohl in den Natur-, als auch den Sozialwissenschaften sei, ferner dass die unterschiedlichen Wissenschaften auf 1443
Postkolonialismus
die Physik reduzierbar sein sollten, und dass die theoretischen Teile einer ‚guten‘ Wissenschaft in Beobachtungsaussagen übersetzbar sein müssten. In den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie hat der Positivismus die quantitative Analyse und präzise formulierte Theorien bevorzugt, ferner die Lehren des Behaviorismus, des Operationalismus (d.h. die verstärkte Beschreibung von Vorgehensweisen, statt von Ausgangs- und Ergebniszuständen) und des methodischen Individualismus (d.h. die Bevorzugung der Untersuchung von Einzelfällen, weil diese besser beobachtbar sind). Der Positivismus bezweifelte philosophisch, dass Bedeutung und Interpretation wissenschaftlich relevant seien und bevorzugte eine Herangehensweise an die Sozialphilosophie, deren Fokus auf der begrifflichen Analyse, statt auf der tatsächlichen Forschungspraxis liegt. Einflussreiche Kritiken dieser Haltung bestritten, dass die wissenschaftliche Methode apriorisch oder universell sei, dass wissenschaftliche Theorien in Beobachtungsaussagen übersetzbar sein müssten oder könnten, und dass die Reduktion auf die Physik eine Möglichkeit zur Vereinheitlichung der Wissenschaften sei. Diese Kritiken unterhöhlten die Beweggründe für den Behaviorismus und den methodischen Individualismus in den Sozialwissenschaften. Sie führten ebenfalls bei vielen zu der Schlussfolgerung, die in gewisser Weise allerdings unplausibel war, dass jegliche Maßstäbe einer ‚guten‘ Sozialwissenschaft lediglich eine Sache der rhetorischen Überzeugungskraft und der sozialen Konvention sei. HAROLD KINCAID
Postkolonialismus
Der Ausdruck ‚Postkolonialismus‘ wird zumindest im angelsächsischen Kulturraum in zwei Bedeutungsvarianten verwendet, die sich auch in einer leicht unterschiedlichen Schreibweise ausdrücken: In der Schreibweise post-colonialism bezeichnet er die Lebensumstände nach dem Ende der Ära des Kolonialismus, während die Schreibweise postcolonialism eine Theorie bezeichnet, die eine geistige Einstellung zu beschreiben versucht, die sich als Folge des Endes des Kolonialismus bildete. Es gibt keine formale Unterscheidung beider Bedeutungsvarianten. Die beiden englischen Ausdrücke, aber auch die deutsche Bezeichnung ‚Postkolonialismus‘ beziehen sich sowohl auf den Kolonialismus, als auch auf den Imperialismus, obwohl es sich dabei um unterschiedliche historische Phänomene handelt. Wie der Postmodernismus und der Poststrukturalismus bezeichnet auch der Postkolonialismus eine kritische Haltung oder Praxis, die hochgradig eklektisch und schwer zu definieren ist. Er impliziert ein durch Forschungen gestütztes Engagement gegenüber den Erfahrungen des Kolonialismus und seinen vergangenen und gegenwärtigen Wirkungen auf der Ebene der materiellen Kultur und ihrer Repräsentationen. Der Postkolonialismus führt oft zu Diskussionen von Erfahrungen wie z.B. der Sklaverei, der Migration, der Unterdrückung und des Widerstandes, des gesellschaftlichen Unterschiedes, der Rasse, des Geschlechts, des Ortes und der Analyse von Antworten auf die Diskurse des imperialen Europa, wie z.B. der Geschichtsschreibung, der Philosophie, der Anthropologie und der Linguistik. Da die Lebensbedingungen im eigentlichen Imperialismus und Kolonialismus genauso Gegenstand der Theorie des Postkolonialismus sind wie die Lebensbedingungen nach dem historischen Ende des Kolonialismus, hat die Theorie des Postkolonialismus auch einen weiten Anwendungsbereich und steht im ständigen Wechselspiel mit dem Empfinden für historische Übergänge, kulturelle Orte und eine Bedingtheit 1444
Postmodernismus
der Zeitumstände. Der Postkolonialismus wird dabei als etwas betrachtet, was sowohl die Existenzbedingungen in den früheren Kolonien, als auch die Existenzbedingungen in der Diaspora beschreibt. Beide werden häufig mit einer fortgesetzten Machtausübung und Autorität des Westens in der Weltpolitik, und zwar sowohl in der wirtschaftlichen, als auch der symbolischen Sphäre, verknüpft, und auch mit der Art und Weise, wie der Widerstand gegen die westliche Ordnung, deren Übernahme und Verhandlung verfolgt wurde. Wie man den Begriff aber auch konzipiert, so liegt doch immer ein starker Akzent auf dem Diskurs und der Ideologie des Kolonialismus im Sinne seiner materiellen Wirkungen und seiner kolonialen Unterwerfungspraxis. Weil er seine Quellen in vergangener und noch immer andauernder Unterdrückung hat, hat der Postkolonialismus darüber hinaus eine natürliche Nähe zum Multikulturalismus, zum Feminismus, sowie zu den Untersuchungen zur weiblichen und männlichen Homosexualität. ATO QUAYSON
Postmodernismus
Der Ausdruck ‚Postmodernismus‘ erscheint in einem weiten Bereich von Zusammenhängen, angefangen bei akademischen Aufsätzen bis hin zu Bekleidungsanzeigen in der New York Times. Seine Bedeutung ist von Kontext zu Kontext in einem solchen Umfange unterschiedlich, dass er wie ein Lévi-Strauss’scher ‚fließender Bezeichner‘ zu fungieren scheint: er drückt weniger einen bestimmten Wert oder Gegenstand aus, sondern hält vielmehr einen Bedeutungsraum für etwas offen, was den unmittelbaren Ausdruck übersteigt. Diese weite Fähigkeit des Ausdrucks ‚Postmodernismus‘ bezeugt den Geltungsbereich kultureller Wandlungen, den er zu umfassen versucht. Über einen weiten Bereich kultureller Tätigkeit hinweg gab es zumindest seit dem 15. Jahrhundert, und in manchen Fällen schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., immer wieder und nachhaltig eine ganze Reihe von Infragestellungen der zahlreichen Grundannahmen der abendländischen europäischen Kultur, beispielsweise hinsichtlich der Annahmen über die Struktur und die Identität, über die Transzendenz und über die Einzelheit, über das Wesen der Zeit und des Raumes. Von der Physik bis zur Philosophie, von der Politik bis zur Kunst, hat sich die Beschreibung der Welt auf eine Art und Weise verändert, dass dadurch einige der Grundüberzeugungen der Moderne gleichsam umgestürzt wurden. Beispielsweise versucht die Phänomenologie, die dualistische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt einzureißen; die relativistische Physik verschiebt ihren Beschreibungsschwerpunkt von der Wirklichkeit auf die Messung; die Kunst bewegte sich vor allem im 20. Jahrhundert weg vom Realismus, und eine Konsenspolitik steht dem Totalitarismus und dem Genozid gegenüber. Diese und damit zusammenhängende kulturelle Ereignisse gehören zu den erdrutschartigen Veränderungen der Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und miteinander kommunizieren. Um zu begreifen, um was es im Postmodernismus geht, ist es notwendig, historisch breit angelegt zu denken, und zwar mittels jener komplexen Ausdrücke, die unvermeidlich zu interdisziplinären Bemühungen führen. Dieser damit auch vielsprachige Anstoß, dieses Zusammenbringen von Methoden und Ideen, die sowohl in den akademischen Disziplinen, als auch im praktischen Leben lange voneinander getrennt waren, charakterisiert besonders plastisch den Postmodernismus und weitgehend auch den Widerstand, den er auf den Plan ruft. 1445
Poststrukturalismus
Obwohl er zerstreut und eklektisch ist, können dem Postmodernismus zwei Schlüsselannahmen zugeschrieben werden. Erstens die Annahme, dass es keinen gemeinsamen Denominator (also das Bezeichnete eines bezeichnenden Ausdrucks) in Ausdrücken wie ‚Natur‘, ‚Wahrheit‘, ‚Gott‘ oder ‚die Zukunft‘ gibt, der entweder die Einheit der Welt oder die Möglichkeit eines neutralen oder objektiven Denkens sicherstellt. Zweitens die Annahme, dass alle menschlichen Systeme wie die Sprache operieren, d.h. selbstreflexiv und nicht als Referenzsysteme; damit einher geht die Vorstellung, dass diese menschlichen Systeme solche über Differentialfunktionen sind, die zwar mächtig, aber doch endlich sind, und die die Bedeutung und den Wert unserer Auffassungen konstruieren und erhalten. Siehe auch: Foucault, M.; Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
ELIZABETH DEEDS ERMARTH
Poststrukturalismus Einführung Der Poststrukturalismus ist eine Entwicklung in der Philosophie und der Literaturtheorie des späten 20. Jahrhunderts, der insbesondere mit dem Werk von Jacques Derrida und seinen Anhängern assoziiert ist. Er entsprang als eine Reaktion gegen den Strukturalismus, der zuerst in dem Werk von Ferdinand de Saussure über die Linguistik auftauchte. In den 1950er Jahren wurde er für den Strukturalismus von der Anthropologie (Lévi-Strauss), der Psychoanalyse (Lacan) und der Literaturtheorie (Roland Barthes) übernommen, und man hoffte, dass er die Fundamente einer formal strengen Darstellung aller Bereiche der Humanwissenschaften leisten würde. Obwohl der Strukturalismus niemals als eine philosophische Theorie an sich selbst formuliert wurde, war seine implizite theoretische Basis doch eine Art von Kartesianismus, wenn auch ohne die Betonung der Subjektivität. Er zielt, wie Descartes, auf ein logisch rigoroses Erkenntnissystem, das auf scharfen und expliziten Definitionen fundamentaler Begriffe aufbauen sollte. Der Unterschied zum Kartesianismus lag jedoch darin, dass der Strukturalismus selbst absolut gefasst war und über keine Grundlegung der Subjektivität verfügte. Die postrukturalistische Kritik des Strukturalismus stellte typischerweise diese Annahme in Frage, dass Systeme selbstgenügsame Strukturen seien, und hinterfragte die Möglichkeit präziser Definitionen, auf denen diese Wissenssysteme aufbauen müssten. Derrida formulierte seine Kritik an den strukturalistischen Systemen durch die Technik der Dekonstruktion. Dies ist der Prozess, in dem mittels genauer Text- und Begriffsanalyse gezeigt wird, wie Definitionen grundlegender Begriffe (z.B. Gegenwart versus Abwesenheit, wahr versus falsch) schon allein durch die Bemühung untergraben werden, sie zu formulieren und anzuwenden. Derridas Ansatz hat insbesondere die Literaturtheorie und deren Kritik in den USA beeinflusst. Zusätzlich entwickelte Richard Rorty Themen aus dem Pragmatismus und der jüngeren Analytischen Philosophie weiter und trug damit eine eigene amerikanische Fassung des Poststrukturalismus bei. 1. Strukturalismus 2. Poststrukturalismus: Terminologie 3. Zwei bedeutendere poststrukturalistische Thesen 1446
Poststrukturalismus
4. Derridas Kritik des Logozentrismus 5. Poststrukturalismus und Literaturtheorie 6. Rortys poststrukturalistischer Pragmatismus 1. Strukturalismus In seinen Vorlesungen zur Linguistik schlug Ferdinand de Saussure (1857– 1913) eine Sichtweise der Sprache (franz.: langue) als einer formalen Struktur vor, die durch die Differenzen zwischen systemischen Elementen definiert seien5. Saussure zufolge ist diese Struktur gleichzeitig in den beiden Gebieten des Denkens und der Worte gegenwärtig und vereint sie. Ein gegebener sprachlicher Ausdruck (ein Zeichen) ist die Vereinigung einer Idee oder eines Begriffs (des ‚Signifikanten‘, d.h. des Bezeichnenden) mit einem physischen Wort (dem ‚Signifikat‘, d.h. dem Bezeichneten). Eine Sprache ist ein vollständiges System solcher Zeichen, die nicht als separate Substanzen existieren, sondern lediglich als die unterscheidende Form, die die spezifische Struktur sowohl des Signifikats (der physischen Welt), als auch der Signifikanten (der Ideen) definieren. Saussures Sichtweise bestreitet das übliche Bild von einer Gruppe von Signifikanten und der entsprechenden Menge von Signifikaten als etwas, was unabhängig voneinander gegeben sei, wobei die Signifikate eine eigene Bedeutung haben und die Signifikanten ihre Bedeutung vollständig durch ihre Assoziation mit den entsprechenden Signifikaten erhalten. Saussure bestreitet diese Unabhängigkeit und behauptet stattdessen, dass die Signifikanten und die Signifikate beide nur eine Bedeutung kraft der formalen Struktur haben (die ihrerseits durch Unterschiede zwischen den Elementen definiert wird), die ihnen gemeinsam sei (siehe Strukturalismus in der Linguistik). Saussures strukturalistischer Ansatz war innerhalb der Linguistik sehr erfolgreich, wo er unter anderem von Jakobson und Troubetzkoy angewandt und erweitert wurde. In den 1950er Jahren wurde dieser Ansatz von Lévi-Strauss in die Anthropologie übernommen, von Lacan in die Psychoanalyse, und von Roland Barthes in Es wurde bereits in den 1950er Jahren festgestellt, dass die Auffassung, Saussure sei der Begründer des Strukturalismus, auf einer Zuschreibung von Lehrmeinungen beruht, die womöglich in wesentlicher Hinsicht gar nicht von ihm, sondern von zweien seiner Kollegen stammen, nämlich von Charles Bally und Albert Sechehaye. Das viel zitierte Gründungswerk des Strukturalismus mit dem Titel ‚Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft‘ (franz. Orginaltitel: ‚Cours de linguistique générale‘, 1916) erschien zwar unter Saussures Namen, beruhte jedoch auf Vorlesungsmitschriften, die von den beiden genannten Kollegen zur Rekonstruktion des Saussureschen Denkens verwendet wurden. Bally und Sechehaye hatten die Vorlesungen von Saussure allerdings gar nicht selbst besucht. Es wurde nun anhand quellenkritischer Untersuchungen dieser Skripten festgestellt, dass zentrale Thesen dieses wichtigen Buches offenbar gar nicht von Saussure selbst stammen, sondern vielmehr von den Verfassern des genannten Werks. Dies betrifft auch die oft zitierte Wendung, die Sprache sei „eine Form, keine Substanz“. Damit wäre die Auffassung, Saussure sei der ‚Gründungsvater‘ des Strukturalismus, falsch. Richtig wäre stattdessen, dass erst die Rezeptionsgeschichte des ihm zugeschriebenen Buches den Strukturalismus hervorgebracht hat. Wenn hier von ‚Saussures Sichtweise‘ etc. die Rede ist, muss dies also als abgekürzte Ausdrucksweise für eine Lehrmeinung verstanden werden, die – zumindest in ihrer angeblichen Bestimmtheit – offenbar fälschlicherweise Saussure zugeschrieben wird. Siehe hierzu beispielsweise: ‚Saussures letztes Wort. Deutsche Übersetzung und Deutung der Hörermanuskripte zur dritten Genfer Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft (1910-1911)‘, Inauguraldissertation von Annette Kaudé (2006) an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. [WS]
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Poststrukturalismus
die Literaturtheorie. Ferner hoffte man, dass diese Herangehensweise die Fundamente einer formal strengen Darstellung aller Bereiche der Humanwissenschaften legen könnte. Die drei Unterscheidungsmerkmale dieses Rahmens waren: (1) eine Zurückweisung aller idealistischen Auffassungen von Begriffen und Bedeutungen als etwas, das von der Tätigkeit des Bewusstseins abgeleitet sei; (2) ein Verständnis der Begriffe und Bedeutungen stattdessen als etwas, das auf den strukturellen Beziehungen zwischen den Elementen der abstrakten Systeme aufbaut; (3) eine Explikation solcher strukturaler Beziehungen allein auf der Grundlage bipolarer Differenzen (beispielsweise ‚wirklich/unwirklich‘, ‚zeitlich/unzeitlich‘, ‚gegenwärtig/ abwesend‘ oder ‚männlich/weiblich‘). 2. Poststrukturalismus: Terminologie Der Poststrukturalismus ist offenbar eng an den Strukturalismus gebunden, wobei Kommentatoren diese Beziehung jedoch auf eine Vielzahl von Arten beschrieben haben, die miteinander gar nicht vereinbar sind. Einige Autoren unterscheiden nicht zwischen dem Strukturalismus und dem Poststrukturalismus, sondern wenden nur den einheitlichen Ausdruck ‚Strukturalist‘ oder ‚strukturalistisch‘ auf den gesamten Bereich des Denkens von Saussure bis hin zu Derrida an. Üblicherweise wird jedoch der Poststrukturalismus als eine gesonderte Entwicklung gesehen; es besteht jedoch Uneinigkeit darüber, ob dies primär eine Reaktion auf den Strukturalismus ist oder eine Erweiterung von ihm, wie z.B. aus dem Ausdruck ‚Neostrukturalismus‘ von Manfred Frank und anderen deutschen Kommentatoren deutlich wird. Abgesehen von diesen Definitionsfragen besteht allerdings bereits Uneinigkeit darüber, ob solche bedeutenderen Autoren wie Barthes, Lacan und Foucault Strukturalisten oder Poststrukturalisten sind. Michel Foucaults Buch ‚Les mots et les choses‘ (dt.: ‚Die Ordnung der Dinge‘, 1966) ist ein instruktives Beispiel. In gewissem Sinne ist es die Quintessenz des Strukturalismus. Das Buch legt zunächst die grundlegenden erkenntnistheoretischen Systeme frei (die Foucault épistémè nennt), die dem subjektiven Denken einzelner Epochen zugrunde liegen und es begrenzen. Es schreitet dann fort zu zeigen, wie die offenkundige Letztbegründung der Subjektivität selbst ein Produkt genau eines solchen, kontingenten Epistems ist, nämlich dem der Moderne, welches gerade im Verschwinden begriffen ist (der berühmte ‚Tod des Menschen‘). Trotzdem demonstriert Foucaults historischer Standpunkt in dem Buch die Begrenzung des Strukturalismus im Wesentlichen: seine Unfähigkeit, den Übergang von einem Gedankensystem zum nächsten darzustellen. Foucault scheint von Anfang an gesehen zu haben, dass der Strukturalismus nicht historisch sein kann, was sein konstantes Beharren darauf erklärt, dass er trotz seiner offenkundigen Anwendung strukturalistischer Methoden und Begriffe kein Strukturalist sei. So macht also ‚Die Ordnung der Dinge‘, obwohl es ein strukturalistisches Buch ist, gleichzeitig die Grenzen des Strukturalismus deutlich und bereitet den Weg für Foucaults Spätwerk über die Macht und die Ethik, das dezidiert poststrukturalistisch ist (siehe Foucault, M.) Trotz seiner Uneindeutigkeiten und Uneinigkeiten ist der Begriff des Poststrukturalismus nützlich, wenn nicht sogar für das Verständnis der Philosophie in Frankreich im letzten Abschnitt des 20. Jahrhunderts von wesentlicher Bedeutung. Ein fruchtbarer Ansatz ist es, den Poststrukturalismus als eine philosophische Reaktion auf den Strukturalismus aufzufassen, der während der 1960er Jahre einer sehr mäch1448
Poststrukturalismus
tige Kraft in der Linguistik, der Psychologie und den Sozialwissenschaften war. Der Poststrukturalismus war weder nur eine Verneinung, noch einer Erweiterung des Strukturalismus, sondern eine Reihe philosophischer Reflexionen des strukturalistischen Programms und seiner Leistungen. 3. Zwei bedeutendere poststrukturalistische Thesen Obwohl der Strukturalismus niemals als eine eigene philosophische Theorie formuliert wurde, war doch seine implizite theoretische Grundlage, wie bereits oben bemerkt, eine Art Kartesianismus ohne Subjekt. So erklärt sich auch die Assoziation des Strukturalismus mit der Rede vom ‚Tod des Subjekts‘. Die poststrukturalistische Kritik des Strukturalismus basiert üblicherweise auf zwei grundlegenden Thesen: (1) Kein System kann auf die Weise autonom (selbstgenügsam) sein, wie der Strukturalismus dies fordert. (2) Die definierenden Dichotomien, auf denen die strukturalistischen Systeme beruhen, drücken Unterscheidungen aus, die bei genauer Untersuchung nicht haltbar sind. Die erste These ist nicht so zu verstehen, als unterstütze sie die herkömmliche idealistische Sichtweise, dass systematische Strukturen von konstituierenden Tätigkeiten des Subjekts abhängen. Die Poststrukturalisten beibehalten die strukturalistische Eliminierung des Subjekts aus allen Rollen, die mit der Grundlegung der Wirklichkeit oder unseres Wissens von der Wirklichkeit zu tun haben. Im Gegensatz zum Strukturalismus bestreiten sie aber auch eine jegliche logische Begründung für ein Denksystem (beispielsweise hinsichtlich seiner internen Kohärenz). Für die Poststrukturalisten gibt es keinerlei Begründung, die die Gültigkeit oder Stabilität irgendeines Denksystems sicherstellen könnte. Die zweite These macht die poststrukturalistische Leugnung der internen Kohärenz von Systemen verständlich. Die logische Struktur eines Systems erfordert, dass die Anwendung seiner Begriffe unzweideutig möglich ist. (Im Formalismus der Theorie der Elementarzahlen dürfe beispielsweise nicht fraglich sein, ob eine gegebene Zahl gerade oder ungerade ist.) Als Ergebnis hiervon hängt die Möglichkeit einer systematischen Struktur von der Möglichkeit einer scharfen Unterscheidung zwischen komplementären Begriffen wie z.B. ‚gerade‘/‚ungerade‘, ‚geladen‘/‚nicht geladen‘, ‚lebend‘/‚nicht lebend‘, ‚männlich‘/‚weiblich‘ etc. ab. Die poststrukturalistischen Philosophen beschäftigten sich speziell mit den grundlegenden Dichotomien (oder Gegensätzen), die den strukturalistischen Theorien in den Humanwissenschaften zugrunde liegen. Saussures Linguistik beruht beispielsweise auf der Unterscheidung eines Signifikanten von seinem Signifikat. Lévi-Strauss’ Anthropologie der Mythen wendet Gegensätze wie z.B. ‚roh‘/‚gekocht‘, ‚Sonne‘/‚Mond‘ etc. an. Gegen jeden dieser Fälle wandten die Poststrukturalisten ein, dass die jeweilige Dichotomie keinen absoluten Status habe, weil die Alternativen, die sie anböten, weder exklusiv noch erschöpfend seien. 4. Derridas Kritik des Logozentrismus Diese Art von Kritik wurde speziell von Jacques Derrida auf die Philosophie insgesamt ausgedehnt. Derrida meinte, das abendländische philosophische Denken sei durchtränkt von einem Netzwerk von Gegensätzen – Erscheinung / Wirklichkeit, falsch / wahr, Meinung / Wissen, um nur einige Beispiele zu nennen – die das ausmachen, was er das System des ‚Logozentrismus‘ nennt. Dieser Ausdruck leitet sich aus Derridas Überzeugung ab, dass an der Wurzel des abendländischen 1449
Poststrukturalismus
philosophischen Denkens eine grundlegende Unterscheidung zwischen Rede (logos) und Schrift getroffen werde. Die Rede sei als Ausdruck dessen, was unmittelbar und gegenwärtig ist, privilegiert und damit die Quelle des Wirklichen, Wahren und Gewissen. Das Geschriebene werde dagegen als eine minderwertige Imitation der Rede herabgesetzt, als deren Abfallprodukt, das nicht länger gegenwärtig sei und deshalb der Ort der Ungewissheit, der Täuschungen und der Ungewissheit. Platons Abwertung des Geschriebenen im Vergleich mit dem lebendigen Dialog ist das berühmteste und einflussreichste Beispiel dieser Unterscheidung. Aber Derrida meint herausgefunden zu haben, dass diese Unterscheidung sich durch die gesamte westliche Philosophie ziehe und betrachtet diese nicht nur als eine Bevorzugung der einen Kommunikationsform vor einer anderen, sondern als die Grundlage des gesamten Bündels der hierarchischen Widersprüche, die das philosophische Denken charakterisieren. Die Rede offeriere Gegenwärtigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit, während die Schrift nur eine abgeleitete Darstellung sei, die bei Abwesenheit der lebendigen Sprache zum Zuge komme und uns angeblich unvermeidlich in die Täuschung dränge. Derrida führt seine Kritik der Rede/Schrift-Unterscheidung und aller hierarchischen Gegensätze, die daran hängen, durch Anwendung der von ihm als ‚Dekonstruktion‘ bezeichneten Methode durch (siehe Dekonstruktion). Dies ist der Prozess, durch den im Wege minutiöser textlicher und begrifflicher Analyse gezeigt wird, wie solchen Gegensätzen schon durch die Bemühung selbst widersprochen wird, sie zu formulieren und anzuwenden. Man bedenke beispielsweise den Gegensatz zwischen Gegenwart und Abwesenheit, der eine fundamentale Rolle in der Husserlschen Phänomenologie spielt, aber auch in vielen anderen philosophischen Zusammenhängen. Husserl fordert eine scharfe Unterscheidung zwischen dem, was unmittelbar dem Bewusstsein anwesend ist (und damit unmittelbar gewiss), und dem, was außerhalb des Bewusstseins ist (und damit ungewiss). Nachdem Husserl aber eine genaue Analyse des unmittelbar Gegenwärtigen unternommen hatte, entdeckte er, dass es gar nichts Augenblickliches ist, sondern seine eigene, ausgedehnte Zeitlichkeit enthält. Das ‚Gegenwärtige‘ im Sinne einer konkreten Erfahrungseinheit impliziert sowohl die Erinnerung der unmittelbaren Vergangenheit (in Husserls Terminologie: der ‚Retention‘), als auch die Antizipation des unmittelbar Zukünftigen oder Bevorstehenden (in Husserls Terminologie: die ‚Protention‘). Somit erweisen sich also sowohl die Vergangenheit, als auch die Zukunft, die beide die Paradigmen dessen sind, was abwesend (nicht gegenwärtig) ist, als integrale Bestandteile des Gegenwärtigen. Husserls eigene Darstellung des Gegenwart/Abwesenheit-Gegensatzes bringt dieses selbst zum Einsturz. Die Dekonstruktion behauptet dagegen, dass es in keinem der fundamentalen Gegensätze des Denkens irgendeine Stabilität gebe. Ihre angeblich exklusive Alternativität erweist sich als etwas, wo die Alternativen auf unentwirrbare Weise miteinander verknüpft sind. Ihre implizite Hierarchie ist fortwährend umkehrbar. Im Ergebnis hiervon sehen wir einen unüberbrückbaren Spalt zwischen der Einsehbarkeit eines rationalen Systems und der Wirklichkeit, die es erfassen will. Derrida drückt diesen Spalt oder diese Lücke mit einer Vielzahl von Ausdrücken aus. Häufig spricht er von der différance (ein absichtlich ‚falsch‘ geschriebenes Wort, das homophon zum französischen Wort différence gebildet ist), um erstens den Unterschied zwischen den systematischen Strukturen einerseits, und den Gegenständen (beispiels1450
Poststrukturalismus
weise Erfahrungen, Ereignisse, Texte) andererseits, die sie begreifbar machen wollen, zu betonen, und zweitens auch die Art und Weise, in der die Bemühungen um absolute Unterscheidungen durch die zirkuläre Einbeziehung der einen Seite eines Gegensatzes auf die jeweils andere immer wieder verzögert werden (was ein weiterer Sinn des franz. Wortes différer ist). Letzteres Phänomen diskutiert Derrida auch unter dem Stichwort der ‚Spur‘ jenes Gegensatzes, der immer im Kern des jeweils polar komplementären Gegensatzes nachklingt. Er verwendet auch den Ausdruck ‚dissémination‘ (dt.: ‚Ausstreuung des Samens‘, ‚Verbreitung‘; der Derrida’sche Ausdruck wird im Deutschen üblicherweise nicht übersetzt, sondern neologistisch als ‚Dissemination‘ übernommen), um sich auf die Art und Weise zu beziehen, in der die Gegenstände der Analyse durch das Begriffsnetz schlüpfen, das durch ein gegebenes Verständnissystem zu deren Erfassung aufgespannt wird. 5. Poststrukturalismus und Literaturtheorie Bis hierher konzentrierte sich die Diskussion auf Derridas Dekonstruktion der bedeutungsvollen Strukturen, von denen Philosophen behaupten, sie in der Wirklichkeit zu finden, um in ihnen ihre philosophischen Texte zu entfalten. Derridas Ansatz ist aber auch ohne weiteres auf literarische Texte anwendbar, sowie auf die ‚Welt‘, die sie hervorbringen. Der Grund hierfür ist, dass Gedichte, Romane und andere literarische Texte, genauso wie die philosophischen Systeme, typischerweise für etwas gehalten werden, was vollständige und kohärente Bedeutungssysteme enthalte, die durch die Literaturkritik herausgearbeitet werden sollen. Obwohl Derrida selbst sich vorwiegend mit philosophischen Texten beschäftigt hat, wurde sein Ansatz doch auch sehr verbreitet von Literaturanalytikern verwendet. (Natürlich weisen Derrida und seine Anhänger – wie sollte es anders sein – jede scharfe Unterscheidung zwischen der Philosophie und der Literatur ohnehin zurück.) Die herkömmliche Literaturanalyse verstand die Bedeutung eines Textes als den Ausdruck des Geistes ihres Autors, d.h. als Gedanken des Autors, die durch das Schreiben in den Text übertragen werden sollen. Der erste Schritt der dekonstruktivistischen Kritik ist ein strukturalistischer, der die Bedeutung von der Absicht des Autors ablöst und sie stattdessen im Text selbst als einer linguistischen Struktur verortet. Roland Barthes zeigte beispielsweise, wie man einen Text von Balzac vollständig nach Maßgabe der formalen Codes analysiert, die er enthält, d.h. ohne Bezugnahme auf das, was Balzac eventuell ‚gemeint‘ hat. Diese strukturalistische Vorgehensweise bewirkt den ‚Tod des Autors‘ parallel zu dem anti-kartesianischen ‚Tod des Subjekts‘. Die Poststrukturalisten gehen jedoch noch einen Schritt weiter und bestreiten eine fixierte Bedeutung selbst noch in dem jeweils untersuchten Text. Dem Text mangelt es zwar nicht an jeglicher Bedeutung, sondern im Gegenteil, er ist die Quelle einer endlosen Ausuferung miteinander unverträglicher Bedeutungen. Die Dekonstruktivisten finden ein Vergnügen daran zu zeigen, dass jede privilegiert vorgeschlagene Bedeutung eines Textes untergraben werden kann, indem man sorgfältig auf die Rolle eingeht, die dort angeblich marginale Merkmale spielen. (Beispielsweise wird eine orthodoxe christliche Lesart von Miltons ‚Paradise Lost‘ durch eine genaue Untersuchung gewisser Details in seiner Behandlung des Satans dekonstruiert.) Es besteht natürlich kein Zweifel, dass Texte häufig von Autoren produziert werden, weil sie damit auszudrücken meinen, was sie denken und fühlen. Was sie daraufhin schreiben, geht jedoch immer über jede autorenseitige Absicht 1451
Poststrukturalismus
hinaus und schlägt Wege ein, die niemals auf ein kohärentes Bedeutungssystem reduziert werden könnten. Die dekonstruktivistische Pointe kann man auch als eine Untergrabung der Unterscheidung zwischen Primärtext und Kommentar verstehen. Nach der herkömmlichen Auffassung ist der Kommentar die Bemühung, den Inhalt (die Bedeutung) des Primärtextes so akkurat wie möglich zu reformulieren. In dem Umfange, wie dies Erfolg hat, drückt ein Kommentar nicht mehr und nicht weniger als die Bedeutung des Primärtextes aus. Für die Dekonstruktivisten existiert die fragliche Bedeutung jedoch gar nicht, und der Kommentar muss folglich als etwas verstanden werden, das nicht mehr ist als eine freie Ausarbeitung von vorgeschlagenen Themen, die vom Primärtext nahe gelegt werden, nicht jedoch von diesem zwingend gefordert werden. Der Kommentar, der hierdurch seiner Fähigkeit zur sekundären Reflexion beraubt wird, wird damit selbst zu einer unabhängigen Schöpfung wie der Primärtext. 6. Rortys poststrukturalistischer Pragmatismus Richard Rortys Werk ist sowohl hinsichtlich seiner Voraussetzungen, als auch hinsichtlich seines Stils weit von den kontinentaleuropäischen Poststrukturalisten entfernt (siehe Rorty, R.M.). Seine Kritik des Kartesianismus, die er eher von Dewey als von Heidegger ableitete, richtet sich vornehmlich gegen die Analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts, als gegen die Humanwissenschaften, die die französischen Strukturalisten im Kopf hatten. Und seine moderne, erhellende Prosa steht in scharfem stilistischem Kontrast zu den willkürlich verspielten Verschlingungen z.B. eines Derrida und seinen Anhängern. Nichtsdestotrotz führen Rortys Analysen ihn zu einer Kritik der herkömmlichen Philosophie, die sehr derjenigen der Poststrukturalisten ähnelt. Der zentrale Punkt der Rortyschen Kritik ist das Projekt einer philosophischen Grundlegung allen Wissens (das er als ‚foundationalism‘, dt.: ‚Letztbegründungsphilosophie‘, bezeichnet). Die neuzeitliche Letztbegründungsphilosophie entstand mit Descartes; Rorty sieht sie aber auch als Leitmotiv der Nachfolger von Descartes, von Hume über Kant, bis hin zu den logischen Positivisten. Wie Derrida greift auch Rorty das herkömmlich-systematische Denken an, indem er einige seiner Schlüsselunterscheidungen hinterfragt. Anders jedoch als Derrida führt er seinen Angriff nicht auf der Grundlage einer genauen Lektüre klassischer Texte durch, sondern durch die Nutzbarmachung der Ergebnisse der jüngeren Analytischen Philosophie. Er verwendet beispielsweise Quines Kritik der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen für das Argument, dass es keine letztbegründenden Wahrheiten über die Bedeutung von Begriffen gibt. Er beruft sich ferner auf Wilfrid Sellars Hinterfragung der Unterscheidung zwischen Theorie und Beobachtung, um die empirische Grundlegung von Erkenntnis aus (angeblich) interpretationsfreien Sinnesdaten zu bestreiten. Und er verwendet Donald Davidsons Infragestellung der Unterscheidung zwischen der formalen Struktur und dem materialen Gehalt eines begrifflichen Rahmens, um die kantischen Versuche einer Grundlegung der Erkenntnis durch Prinzipien zurückzuweisen, die den Rahmen alles möglichen Denkens definieren sollen. Nach Rortys Auffassung ist das Fazit aller dieser Kritiken die Trennung aller Quellen einer philosophischen Letztbegründung von unserer Erkenntnis. Deshalb, so sagt er, müsse die Philosophie ihren traditionellen Anspruch aufgeben, die letzte Instanz in den Streitgesprächen über die Wahrheit zu sein. Wir hätten keine Alter1452
Poststrukturalismus
native zur Akzeptanz der Wahrheit dessen, was wir als die Gemeinschaft der Wissenden eben als wahr befinden. Es gebe keine Berufung auf etwas jenseits der Ergebnisse des ‚Gesprächs der Menschheit‘ bis zu dem Stand, der bis heute erreicht wurde. Für uns gebe es keine WAHRHEIT (Rorty schreibt den englischen Ausdruck für Wahrheit, truth, absichtlich gegen die englischen Rechtschreibregeln mit großen Anfangsbuchstaben, also ‚Truth‘), die durch privilegierte Einsichten und Methoden gerechtfertigt sei. Es gebe nur die innerweltlichen Wahrheiten (truth), nämlich das, was uns unsere Gesprächspartner mit dem, was sie sagen, mitgeben. Es könnte so aussehen, als ob die Zurückweisung der Letztbegründungsphilosophie zugleich auch eine Zurückweisung der gesamten abendländischen philosophischen Tradition seit Platon sei. Rorty unterscheidet jedoch zwei PhilosophieStile. Erstens sieht er die systematische Philosophie, die eine Hauptlinie der westlichen Tradition seit Platon ist, und die durch das letztbegründungstheoretische Ziel einer abschließenden Rechtfertigung begründet oder definiert ist. Andererseits gibt es aber auch eine Form der philosophischen Unternehmung, die immer am Rande dieser Tradition stand, und die Rorty ‚edifying philosophy‘, dt.: ‚Erbauungsphilosophie‘, nennt. Während die systematischen Philosophen elaborierte und angeblich ewige Konstruktionen erfinden, die immer durch die jeweils nächste Generation niedergerissen werden, sind die ‚erbaulichen Philosophen‘ zufrieden, ironische Widerhaken auf das systematische Denken ihrer Zeit abzuschießen, die ihre Ansprüche zerreißen und zu verwickelten Formen des Gegendenkens anregen. Die Tradition des ‚erbaulichen Denkens‘ kann mindestens bis auf die antiken Zyniker zurückverfolgt werden und wurde kürzlich durch Denker wie Kierkegaard, Nietzsche und den späten Wittgenstein repräsentiert. Derridas Dekonstruktionen sind in Rortys Sichtweise ein besonders deutliches zeitgenössisches Beispiel der Erbauungsphilosophie. ‚Erbauliche Philosophen‘ sind jedoch nur deshalb Philosophen, weil sie sich gegen die systematische Philosophie auflehnen. Sie unterscheiden sich von anderen Arten von Kulturkritikern (Romanciers, Literaturtheoretikern, Sozialwissenschaftlern und anderen) nicht durch irgendeine bestimmte philosophische Methode oder Anschauung. Wenn in der Folge von Denkern wie Derrida und Rorty die systematische Philosophie aufgegeben wird, so wird auch die Philosophie insgesamt aufgegeben. Der Triumph des Poststrukturalismus wäre auf Gedeih und Verderb das Ende der Philosophie, wie wir sie kennen. Siehe auch: Derrida, J.; Foucault, M.; Postmodernismus; Rorty, R.M.; Strukturalismus; Strukturalismus in der Linguistik Anmerkungen und weitere Lektüre: Dews, P. (1987): ‚Logics of Disintegration: Poststructuralist Thought and the Claims of Critical Theorie‘. London: Verso. (Analytische und kritische Aufsätze zu Derrida, Lacan, Foucault und Lyotard.) Gutting, G. (2001): ‚French Philosophy in the Twentieth Century, Part III: Structuralism an Beyond‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Der 3. Teil dieses Werks schildert sehr umfassend die angelsächsische-amerikanische Sicht auf den Strukturalismus und den Poststrukturalismus.) Howells, C. (1999): ‚Derrida: Deconstruction from Phenomenology to Ethics‘. Cambridge: Polity Press. (Eine umfassende und sehr klar geschriebene Übersicht über Derridas Werk.) GARY GUTTING 1453
Prädestination
Prädestination
Die Prädestination (‚Vorherbestimmung‘) ist eine religiöse oder theologische Fassung eines universalen Determinismus, d.h. eine Fassung, in der der abschließend bestimmende Faktor der Wille oder die Tätigkeit Gottes ist. Diese Lehre wird meistens mit der theologischen Tradition des Calvinismus assoziiert, obwohl einige Theologien außerhalb der calvinistischen Tradition oder vor ihrem historischen Entstehen, beispielsweise Augustinus oder Thomas von Aquin, sich zu ähnlichen Lehren bekennen. Die Idee der Prädestination spielt auch in anderen Religionen als dem Christentum eine Rolle, vielleicht am stärksten im Islam. Manchmal wird die Idee der Prädestination auf eine vergleichsweise eingeschränkte Weise formuliert, indem sie nur auf die Art und Weise angewandt wird, in der die göttliche Gnade der Erlösung sich auf einige Menschen erstrecken soll und auf andere nicht. Johannes Calvin schrieb z.B., dass wir als ‚Prädestination‘ Gottes ewige Verfügung meinen, durch die er das, von dem er wollte, dass es jeder Mensch wird, mit sich vereine. Denn wir seien nicht alle unter denselben Bedingungen geschaffen, sondern das ewige Leben sei einigen vorherbestimmt, und die ewige Verdammung anderen. Daher reden wir in dem Umfange, wie Menschen auf die eine oder andere Bestimmung hin erschaffen worden seien, von diesen als zum Leben oder zum Tode vorherbestimmt. (‚Institutiones‘, 3. Buch, 21. Kap., 5. Abschnitt) Zu anderen Zeiten wird die Idee der Vorherbestimmung jedoch eher allgemein auf den gesamten Ereignisverlauf der Welt angewandt. Was auch immer in der Welt geschieht, ist durch den Willen Gottes bestimmt. Philosophisch sind die interessanten Merkmale der Lehre nicht wesentlich mit der Erlösung verknüpft. Beispielsweise ist Gott die erste Ursache von allem, was geschieht; wie kann man dann aber sagen, dass die Menschen einen freien Willen hätten? Eine Antwort hierauf könnte sein, dass die Menschen insofern frei seien, als sie im Einklang mit ihren eigenen Beweggründen und Wünschen handeln, selbst wenn diese ebenfalls durch Gott bestimmt seien. Ein weiteres Problem ist, dass die Lehre letztlich Gott selbst für alle Sünden verantwortlich macht. Eine mögliche Antwort hierauf ist es, zwischen der aktiven Verursachung von etwas und dem passiven Geschehenlassen zu unterscheiden und dann zu sagen, dass Gott den Menschen lediglich erlaube, Sünden zu begehen. Es seien damit die menschlichen Akteure, die aktiv die Sünde wählten, und der passive Gott wäre dieser Ansicht nach nicht mehr für sie verantwortlich. Die Antwort auf letztere Frage kollidiert allerdings mit der allgemein anerkannten rechtsphilosophischen und moralischen Einsicht, dass Tun und Unterlassen in der kausalen Zurechenbarkeit von Ereignissen gar nicht eindeutig unterschieden werden können. Moralisch und rechtlich muss ein Rechtssubjekt sein Verhalten nämlich auch dann gegen sich gelten lassen, wenn der kausale Verlauf der betrachteten Ereignisse durch sein vorwerfbares Unterlassen zu einem Ergebnis führte, das unerwünscht ist oder rechtlich sanktioniert wird (z.B. ist Vertragsbruch infolge passiver Nichtleistung genauso vorwerfbar wie Vertragsbruch durch aktive Schlechtleistung). Insofern wird hier zwecks Unterscheidung der aktiven und passiven Verantwortung Gottes ein Maßstab angelegt, der unter Menschen weitgehend nicht gilt. Dies wirft die Frage auf, wie eine solche offensichtliche moralische Ungleichbehandlung von Gott und Mensch gerechtfertigt werden kann – oder ob es sich dabei um schlichte Willkür handelt. Siehe auch: Ewigkeit; Allwissenheit GEORGE I. MAVRODES 1454
Prädikatenlogik
Prädikatenlogik
Die Prädikatenlogik, auch ‚Prädikatenkalkül‘ genannt, ist das herrschende System der modernen Logik; sie hat die überkommene aristotelisch-syllogistische Logik ersetzt, die das zuvor geltende Paradigma war. Wie Aristoteles’ Logik, ist auch die Prädikatenlogik eine solche der Quantoren; Worte wie ‚jeder‘, ‚einige‘ und ‚kein‘ werden verwendet um anzuzeigen, dass ein Prädikat universell oder mit einer anderen bestimmten Art von Allgemeinheit anwendbar ist, wie beispielsweise in den Sätzen: ‚Jeder Mensch ist sterblich‘ – ‚Einige Menschen sind sterblich‘ – Kein Mensch ist sterblich‘. Die Schwäche der syllogistischen Logik war ihre Unfähigkeit, die Struktur komplexer Prädikate darzustellen. Daher kam sie nicht zurecht mit Schlussmustern wie: ‚Alles ist F und alles ist G, folglich ist alles F.‘ Noch konnte sie mit den Beziehungen etwas anfangen, denn eine Logik der Beziehungen muss zu einer Analyse von Fällen in der Lage sein, wo ein Quantor auf ein Prädikat angewandt wird, das ebenfalls bereits einen Quantor enthält, wie in dem Satz: ‚Jeder liebt irgendwen‘. Diesem Mangel abzuhelfen erforderte zwei größere Neuerungen. Die eine dieser Neuerungen war die Logik der Konnektive, d.h. von Worten wie ‚und‘, ‚oder‘ und ‚wenn‘, die komplexe Sätze aus einfacheren bilden helfen. Diese wird oft innerhalb eines ganz bestimmten Systems untersucht, das als ‚Aussagenlogik‘ bezeichnet wird. Hier ist eine Aussage ein wahrer oder falscher Satz, und das leitende Prinzip der Aussagenlogik ist ihre Wahrheitsfunktionalität. Dies bedeutet, dass der Wahrheitswert (Wahrheit oder Falschheit) einer zusammengesetzen Aussage einzig durch die Wahrheitswerte ihrer Bestandteile bestimmt ist. Ihre hauptsächlichen Konnektive sind die Negation, die Konjunktion, die Disjunktion und eine ‚materiale‘ (d.h. wahrheitsfunktionale) Bedingtheit (häufig ‚Implikation‘ genannt). Wahrheitsfunktionalität ermöglicht es, die Wahrheitswerte von Aussagen beliebiger Komplexität nach Maßgabe der ihr zugrunde liegenden Aussagebestandteile zu berechnen und damit die Logik der Tautologie und der tautologischen Konsequenz zu entwickeln (logische Wahrheit und tautologische Konsequenz aufgrund von Konnektiven). Die andere Erfindung war die Quantoren-Variablen-Notation. Variable sind Buchstaben, die verwendet werden, um auf unspezifische Weise auf Dinge hinzuweisen; daher wird ‚x ist sterblich‘ als die Prädikation für eine unspezifizierte Sache x gelesen, so wie ‚Sokrates ist sterblich‘ etwas von Sokrates aussagt. Die Konnektive können nun genauso zur Bildung komplexer Prädikate eingesetzt werden, wie zu Aussagen, z.B. ‚x ist ein Mensch und x ist sterblich‘, während unterschiedliche Variablen an unterschiedlichen Stellen zur Bezeichnung relationaler Prädikate verwendet können, wie z.B. in ‚x liebt y‘. Der Quantor steht vor dem Prädikat, für das er gilt, zusammen mit der maßgeblichen Variablen, die daneben wiederholt ist um anzuzeigen, welche Positionen verallgemeinert werden. Diese starken Abweichungen von der quantifizierenden Aussageform in den natürlichen Sprachen werden benötigt, um die weiteren Probleme der Uneindeutigkeit des Geltungsbereichs zu lösen. Man vergleiche beispielsweise die Uneindeutigkeit des Satzes: ‚Die ganze Welt liebt Lisa‘ mit der unzweideutigen, alternativen Übersetzung in ‚Es gibt eine Menge X, so dass für jedes Element x der Menge X gilt: x liebt y‘ und ‚Es gibt ein y und eine Menge X, so dass gilt, das y jedes Element x der Menge X liebt‘, wobei X = die ganze Welt, x = ein Element von X, und y = Lisa.
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Präskriptivismus
Das Ergebnis ist ein formalsprachliches Muster, das auf einem nichtlogischen Vokabular von Dingnamen und einfachen Prädikaten beruht, die Eigenschaften und Relationen von Dingen bezeichnen. Die logischen Konstanten sind die wahrheitsfunktionalen Konnektive und die universellen und existenziellen Quantoren, zuzüglich einer Reihe von Variablen, deren Geltung über Dingbereiche konstruiert wird. Das ist ‚die‘ Prädikatenlogik. Es ist üblich, auch noch das Identitätszeichen ‚=‘ als weitere logische Konstante hinzuzufügen, wodurch man eine Prädikatenlogik mit Identität erhält. Die erste moderne Quantorenlogik, nämlich die von Frege aus dem Jahre 1879, war zum Ausdruck von Verallgemeinerungen nicht nur über einzelne Dinge gedacht, sondern auch über Eigenschaften von Einzeldingen. Diese bezeichnet man heute als ‚Logik zweiter Ordnung‘ (engl.: ‚second-order logic‘) und unterscheidet sie damit von der Logik erster Ordnung (engl.: ‚first-order logic‘), die oben beschrieben wurde. Die Logik zweiter Ordnung ist wesentlich ausdrucksstärker als diejenige erster Ordnung; dies hat jedoch einen Preis: die Logik erster Ordnung kann axiomatisiert werden, diejenige zweiter Ordnung nicht. TIMOTHY SMILEY
Präskriptivismus
Der Präskriptivismus ist eine Theorie über moralische Aussagen. Diese Theorie behauptet, dass moralische Aussagen ein Bedeutungselement enthalten sollen, das zur Vorschreibung oder Anleitung von Handlungen taugt. Die Geschichte des Präskriptivismus reicht von Sokrates und Aristoteles bis hin zu Hume, Kant und Mill, und sie ist bis in die jüngste Zeit hinein wirksam, z.B. bei R.M Hare. Moralische Aussagen enthalten auch ein faktisches oder deskriptives (beschreibendes) Element. Das deskriptive Element der Moral unterscheidet zwischen Personen und Kulturen, während das präskriptive (vorschreibende) Element immer gleich bleibt. Der Präskriptivismus kann moralische Uneinigkeit zulassen und moralische Schwäche erklären. Er kann auch besser als andere Theorien die Rationalität und die Objektivität des moralischen Denkens erklären. R.M. HARE
Präsupposition
Siehe: Voraussetzung
Pragmatische Theorien der Wahrheit Siehe: Wahrheit, Pragmatische Theorie der
Pragmatik, linguistische
Die Analytische Philosophie hat bleibende Beiträge zum wissenschaftlichen Studium der Sprache geleistet. Die Semantik (das Studium der Bedeutungen) und die Pragmatik (das Studium der Sprache in ihrer Anwendung) sind zwei wichtige Bereiche der linguistischen Forschung, die ihre Form der Grundlagenarbeit von Philosophen verdanken. Obwohl die beiden Disziplinen inzwischen als zueinander ergänzend aufgefasst werden, standen die philosophischen Bewegungen, aus denen sie entsprangen, in starker Konkurrenz zueinander. In der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es zwei einander entgegengesetzte ‚Lager‘ in der analytischen Sprachphilosophie. Das erste – die ‚Philosophie der Idealsprache‘, wie sie damals genannt wurde – war jene der Pioniere Frege, Russell und der logischen Positivisten. Sie waren an erster Stelle 1456
Pragmatismus
und vor allem Logiker, die die formalen Sprachen studierten, und über diese hinaus auch die Sprache im Allgemeinen. Die Werke dieser Tradition (insbesondere das von Frege, Russell, Carnap, Tarski und später auch Montague) ließ die zeitgenössische formale Semantik entstehen, die eine sehr aktive Disziplin ist und gemeinsam durch Logiker, Philosophen und Grammatiker entwickelt wird. Das andere Lager war die so genannte ‚Philosophie der Alltagssprache‘, die davon ausging, dass wichtige Merkmale der natürlichen Sprache nicht offen, sondern durch den logischen Ansatz gerade verborgen würden, der von Frege und Russell aufgebracht worden war. Sie vertraten stattdessen eine eher deskriptive Herangehensweise und betonten das ‚pragmatische‘ Wesen der natürlichen Sprachen im Gegensatz zum Beispiel zu der ‚Sprache‘ der Principia Mathematica. Ihr eigenes Werk, speziell das von Austin, Strawson, Grice und dem späten Wittgenstein, führte zur Entstehung der zeitgenössischen Pragmatik, einer Disziplin, die sich (wie schon die formale Semantik) erfolgreich innerhalb der Linguistik in den vergangenen dreißig Jahren entwickelt hat. Indem gewöhnliche Sprachphilosophen sich mit der Konzeption der linguistischen Pragmatik auseinandersetzten entstanden vier Bereiche oder Untersuchungsgegenstände, die zusammen den Kern der linguistischen Pragmatik bilden: die Sprechakte; die Indexikalität und die Kontextempfindlichkeit; die nicht wahrheitswertabhängigen Aspekte der Bedeutung; und schließlich die kontextuellen Implikationen. Schaut man sich diese Bereiche aus der Perspektive eines gewöhnlichen Sprachphilosophen an, so erscheint die linguistische Pragmatik als eine Alternative zu der wahrheitswertabhängigen Herangehensweise an die Bedeutung, die mit der Philosophie der Idealsprache verbunden war und auch erfolgreich innerhalb der formalen Semantik betrieben wurde. Aus der zeitgenössischen Perspektive betrachtet ergänzt die linguistische Pragmatik lediglich diesen Ansatz. Siehe auch: Strawson, P.F.; Wittgenstein, L.J.J. FRANÇOIS RECANATI
Pragmatismus Einführung Der Pragmatismus ist eine philosophische Tradition, die durch die drei amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey begründet wurde. Ausgehend von einer Definition von Alexander Bain, und zwar jener, dass die Überzeugung als eine Handlungsregel oder –gewohnheit zu verstehen sei, argumentierte Peirce, dass die Funktion der Untersuchung nicht die Abbildung der Wirklichkeit sei, sondern vielmehr, uns in die Lage versetzt, wirksamer zu handeln. Er stand der ‚Abbildtheorie‘ der Erkenntnis kritisch gegenüber, die die Philosophie seit Descartes’ Zeiten beherrscht hatte, und insbesondere der Idee einer unmittelbaren, intuitiven Selbsterkenntnis. Er war auch ein Prophet der linguistischen Wende (engl.: linguistic turn), weil er einer der ersten Philosophen war, der sagte, dass die Fähigkeit zur Benutzung von Zeichen wesentlich für das Denken ist. Peirces Verwendung der Texte von Bain wurde von James erweitert, dessen Buch ‚The Principles of Psychology‘ (1890) mit dem Assoziationismus von Locke und Hume brach. James ging in ‚Pragmatism‘ (1907) noch weiter und schockierte die Philosophen, indem er sagte: „ ,Das Wahre‘ ist nur eine Notlösung in unserem Denken.“ Beide, James und Dewey, wollten die Philosophie mit Darwin versöhnen, 1457
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indem sie die Menschen mit ihrer Suche nach dem Wahren und Guten in ein Kontinuum mit den Aktivitäten der anderen, niedrigeren Tiere stellen wollten, d.h. die kulturelle Evolution als Fortsetzung der biologischen Evolution sahen. Dewey kritisierte die kartesische Vorstellung vom Selbst als einer Substanz, die vor der Sprache und der Akkulturation existieren solle, und setzten an diese Stelle eine Darstellung des Selbst als einem Produkt sozialer Praktiken. Diese Darstellung wurde dann von George Herbert Mead weiterentwickelt. Alle drei Gründer des Pragmatismus kombinierten eine naturalistische, darwinistische Sicht des Menschen mit einem tiefen Misstrauen gegenüber den Problemen, die die Philosophie von Descartes, Hume und Kant geerbt hatte. Sie hofften, die Philosophie vor dem metaphysischen Idealismus retten zu können, wollten aber auch die Moral und die religiösen Ideale vor dem empiristischen oder positivistischen Skeptizismus retten. Ihr Naturalismus wurde von Willard van Orman Quine, Hilary Putnam und Donald Davidson mit einer gegen jede Letztbegründungsphilosophie gerichteten und holistischen Darstellung der Bedeutung kombiniert; dies waren Sprachphilosophen, die oft als Forscher innerhalb der pragmatischen Tradition angesehen wurden. Diese Tradition zeigte auch eine gewisse Nähe zum Werk von Thomas Kuhn und dem Spätwerk von Ludwig Wittgenstein. 1. Klassischer Pragmatismus 2. Pragmatismus nach der linguistischen Wende 3. Pragmatismus als Gegenentwurf zum Repräsentationismus 4. Pragmatismus und das Selbstbild der Menschheit 1. Klassischer Pragmatismus Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey, auf die oft als die drei ‚klassischen Pragmatisten‘ Bezug genommen wird, hatten sehr unterschiedliche philosophische Anliegen. Außer ihrem gemeinsamem Widerspruch gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit und gegen die sog. ‚Abbildtheorie‘ der Erkenntnis überlappen sich ihre Lehren nicht übermäßig (siehe Wahrheit, Pragmatische Theorie der). Obwohl jeder von ihnen die anderen beiden kannte und schätzte, meinten sie von sich doch nicht, dass sie gemeinsam einer organisierten, disziplinierten philosophischen Bewegung angehören würden. Peirce hielt sich selbst für einen Schüler von Kant, der Kants Kategorienlehre und seine Konzeption der Logik verbessere. Als ausübender Mathematiker und Laborwissenschaftler war er stärker an diesen Gebieten der Kultur interessiert als James oder Dewey. James nahm weder Kant, noch Hegel besonders ernst, war dafür wesentlich stärker an der Religion interessiert als Peirce oder Dewey. Dewey, der stark von Hegel beeinflusst war, sah sich als grimmigen Anti-Kantianer. Ausbildung und Politik statt Wissenschaft oder Religion waren das Zentrum seines Denkens. Peirce war ein brillanter, rätselhafter und fruchtbarer Universalgelehrter, dessen Schriften sehr schwer zu einem kohärenten System zusammenzubringen sind. Er ist heute am ehesten für seine Pionierarbeiten in der Zeichentheorie und für seine Arbeit in der Logik und Semantik bekannt, die er als Zeitgenosse mit und parallel zu Frege leistete. Peirces Darstellung der wissenschaftlichen Untersuchung als einer Frage der praktischen Problemlösung wurde ergänzt durch seine Kritik der Kartesianer und deren empiristischer Idee einer ‚unmittelbaren Erkenntnis‘, sowie seiner Kritik
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des Projekts der Errichtung von Erkenntnis auf der Grundlage der Selbstevidenz, sei sie rationalistischer oder empiristischer Natur. Peirce protestierte aus verwickelten Gründen, die mit seiner etwas dunklen und eigenwilligen Lehre des ‚Scotistischen Realismus‘ zu tun haben, nämlich der Behauptung der Wirklichkeit der Universalien, die er als Möglichkeiten oder Dispositionen betrachtete, gegen eine Aneignung seiner Ideen durch James. Peirce stand dem metaphysischen Idealismus näher als James und fand James Fassung des Pragmatismus zu simpel und reduktionstisch. James wiederum hielt den Pragmatismus für eine Möglichkeit zur Vermeidung des Reduktionismus jeglicher couleur, und darüber hinaus als einen Wegweiser zur Toleranz. Insbesondere in seinem berühmten Aufsatz ‚Der Wille zum Glauben‘ (1896; der Titel nimmt antagonistisch auf Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ Bezug) versuchte er die Wissenschaft und die Religion dadurch zu versöhnen, dass er beide als Instrumente betrachtete, die zu unterschiedlichen und nicht miteinander widerstreitenden Zwecken nützlich seien. Obwohl er viele metaphysische und theologische Diskussionen bestenfalls als Darstellungen der Mannigfaltigkeit des menschlichen Temperaments betrachtete, hoffte James doch, eine Alternative zu dem antireligiösen, wissenschaftsanbetenden Positivismus seiner Zeit konstruieren zu können. Er zitierte zustimmend Giovanni Papinis Beschreibung des Pragmatismus als etwas, das „wie ein Korridor in einem Hotel [sei]. Zahllose Zimmer öffnen sich von ihm aus. In einem findet man vielleicht einen Menschen, der ein atheistisches Buch schreibt; im nächsten jemanden, der auf den Knien seines Glaubens wegen predigt; im dritten einen Chemiker, der die Eigenschaften eines Körpers untersucht. […] Sie alle gehören dem Korridor, und alle müssen durch ihn hindurch“. Sein Augenmerk lag darauf, dass eine Aufmerksamkeit für die praktischen Folgen des Glaubens der einzige Weg sei, über die Trennungen der Temperamente, der akademischen Disziplinen und der philosophischen Schulen hinweg zu kommunizieren. Dewey versuchte in seiner frühen Periode Hegel mit dem evangelischen Christentum zusammenzubringen. Obwohl die Bezüge auf das Christentum aus seinen Schriften um 1900 praktisch verschwanden, freute er sich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1903 über Emerson auf die Entwicklung einer „Philosophie, die der Religion keinen Anlass zum Tadeln gibt, und die ihre Freundschaft mit der Naturwissenschaft und mit der Kunst kennt.“ Der antipositivistische Zug im klassischen Pragmatismus war mindestens so stark wie der antimetaphysische Einschlag, und so sahen sich James und Dewey gleichzeitig von links von den Empiristen, und von rechts von den Idealisten angegriffen – durch Bertrand Russell genauso wie durch F.H. Bradley. Beide Kritiker hielten die Pragmatisten für verschwommene und trockene Denker. Diese Art von Kritik wurde später im 20. Jahrhundert von den Schülern von Carnap wiederholt, von denen die meisten die klassischen Pragmatisten verwarfen, weil sie an ihnen die Genauigkeit und die argumentative Strenge vermissten. James schrieb einige bemerkenswerte Aufsätze über die Ethik, unter ihnen auch ‚The Moral Philosopher and the Moral Life‘ (1891), in dem er als Antwort auf Mills ‚Utilitarianism‘ sagt, dass bereits der Wunsch und das Bedürfnis ein prima-facieRecht auf Erfüllung habe, und dass nur irgendein konkurrierender Wunsch oder ein konkurrierendes Bedürfnis einen Grund dafür liefern könne, diesen unbefriedigt zu lassen. Aber weder James, noch Peirce bemühten sich um eine systematische Diskussion der Moral- oder politischen Philosophie. Dewey schrieb jedoch durch sein 1459
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gesamtes Leben hindurch umfangreich in diesem Bereich, von den ‚Outlines of a Critical Theory of Ethics‘ (1891) bis zur ‚Human Nature and Conduct‘ (1922) und der ‚Theory of Valuation‘ (1939). Dewey mahnte, dass wir nicht scharf genug zwischen moralischen Überlegungen und Vorschlägen für einen Wandel der soziopolitischen Institutionen oder der Ausbildung unterscheiden. Letzterer Punkt wurde von ihm ausführlich in Büchern behandelt, die eine erhebliche Auswirkung auf die Ausbildungspraxis in vielen Ländern hatten. Er sah Veränderungen in den individuellen Einstellungen, in den öffentlichen Richtlinien und in den Strategien der Akkulturationen als drei untereinander verknüpften Aspekten der schrittweisen Entwicklung freierer und demokratischerer Gemeinschaften und eines ‚besseren Menschen‘, der sich innerhalb solcher Gemeinschaften entwickeln würde. Alle von Deweys Büchern sind durchdrungen von der typischen Überzeugung des 19. Jahrhunderts, dass die menschliche Geschichte eine der sich ausbreitenden menschlichen Freiheit sei, sowie von der Hoffnung auf Einsetzung einer weniger professionalisierten, dafür stärker politisch orientierten Konzeption des Philosophen als einem ‚Betrachter der Zeit und der Ewigkeit‘. In seinem Buch ‚Reconstruction in Philosophy‘ (1920) schrieb er, dass die Philosophie „unter dem Deckmantel einer Befassung mit der grundlegendsten Wirklichkeit mit den kostbaren Werten, die in die sozialen Traditionen eingebettet sind, beschäftigt ist und aus einem Zusammenstoß sozialer Ziele und einem Konflikt der überkommenen Institutionen heutzutage mit unvereinbaren Tendenzen hervorgeht“. Für ihn bestand die Aufgabe der künftigen Philosophie nicht in der Erreichung neuer Lösungen bekannter Probleme, sondern in der Klärung „der menschlichen Ideen im Verhältnis zum sozialen und moralischen Streben ihrer Zeit“. Diese Konzeption der Philosophie, die er aus der Hegelschen Philosophie entwickelte und auch auf Marx anspielt (siehe Hegel, G.W. F.; Marx, K.), entnahm Dewey, insbesondere nach dem Aufstieg der Analytischen Philosophie, somit den Theorien von Philosophen-Kollegen, die ihren Bereich als einen für die Untersuchung näherer und präziserer Fragen verstanden, d.h. solcher Fragen, die über die gesamte menschliche Geschichte hinweg im Wesentlichen unverändert blieben. 2. Pragmatismus nach der linguistischen Wende Peirce war einer der ersten Philosophen, der die Wichtigkeit der Zeichen betonte. „Das Wort oder das Zeichen, die der Mensch verwendet, sind der Mensch selbst“, schrieb er, „… meine Sprache ist die Endsumme von mir selbst; für den Menschen ist sie das Denken.“ Aber mit Ausnahme von C.I. Lewis und Charles Morris nahmen die Philosophen die Arbeit von Peirce über die Zeichen nicht besonders ernst. Tatsächlich blieb Peirce über Jahrzehnte hinweg weithin ungelesen; er veröffentlichte niemals ein philosophisches Buch, und die meisten seiner Aufsätze wurden gesammelt und erst in den 1930er Jahren neu veröffentlicht. Zu dieser Zeit befand sich die Philosophie in der englischsprachigen Welt bereits in einem Umformungsprozess, ausgelöst durch die Bewunderer von Frege, zu denen vor allem Carnap und Russell gehörten. Diese Philosophen erfüllten, was Gustav Bergmann den ‚linguistic turn‘ (dt.: ‚linguistische Wende‘) in der Philosophie taufte. Sie dachten, dass es fruchtbarer sei und auch mit größerer Wahrscheinlichkeit klare und überzeugende Ergebnisse hervorbringen würde, wenn die Phi1460
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losophen die Struktur der Sprache studieren würden, anstatt wie Locke und Kant die Struktur des Geistes oder der Erfahrung zu diskutieren. Die frühen analytischen Philosophen begleiteten diese Wende jedoch mit einem Wiederaufleben der traditionell empiristischen Idee, dass die Sinneswahrnehmung die Grundlage für das empirische Wissen liefere. Dies war eine Idee, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts die Idealisten und die klassischen Pragmatisten in deren Ablehnung vereint hatte. Diese Philosophen bestanden auch auf einer strikten Unterscheidung zwischen begrifflichen Fragen (der Analogie zu Kants ‚transzendentalen‘ Fragen), die nunmehr als Fragen über die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke uminterpretiert wurden, und den wirklich empirischen Fragen. Erst, als diese Unterscheidung von Willard van Orman Quine in seiner bahnbrechenden Arbeit ‚Two Dogmas of Empiricism‘ (1951) hinterfragt wurde, war der Pragmatismus in der Lage, nochmals die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (siehe Quine, W.V., § 8). James und Dewey wurde auf dem Höhepunkt des logischen Positivismus als jemand angesehen, die das Verifikationskriterium der empirischen Bedeutsamkeit vorgezeichnet hatten, denen es aber unglücklicherweise an den mächtigen analytischen Mitteln gefehlt habe, die durch die neue Logik verfügbar wurden. Quines Vorschlag, dass die empirische Beobachtung des linguistischen Verhaltens keinen Unterschied zwischen notwendig-analytischen und kontingentsynthetischen, aber unterhinterfragten Wahrheiten entdecken könne, half bei der Wiederbelegung der pragmatistischen Kombination von Holismus, einer Ablehnung von Letztbegründungsphilosophien und Naturalismus. Dieser Vorschlag von Quine wurde gestärkt durch andere Veröffentlichungen, die im Großen und Ganzen gleichzeitig mit Quines Arbeit erschienen. In den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ (1953) verspottete Ludwig Wittgenstein die Idee, dass die Logik sowohl ‚etwas Sublimes‘, als auch das Wesen der Philosophie sei, wobei er selbst diese Idee früher mit Russell geteilt hatte (siehe Wittgenstein, L.J.J., § 8). Dieses Buch belebte auch neuerlich die pragmatistische Behauptung, dass die meisten philosophischen Probleme abgeschafft, statt gelöst werden sollten. Wilfried Sellars ‚Empiricism and the Philosophy of Mind‘ (1953) erneuerte sowohl Peirces Angriff auf die Idee einer ‚unmittelbaren Erfahrung‘, als auch seine Behauptung, dass die Intentionalität des Geistigen von der Intentionalität des Sprachlichen abgeleitet sei, und nicht umgekehrt (siehe Sellars, W.S.). In den USA hatte dieser Aufsatz die gleiche vernichtende Wirkung auf den Begriff des ‚Sinnesdatums‘, und damit auf die empiristischen Wurzeln des Logischen Positivismus wie die gleichzeitig in Großbritannien veröffentlichte Arbeit von J.L. Austin (siehe Austin, J.L.). Die Arbeiten von Sellars und Austin wirkten dabei zusammen, dem Empirismus das Prestige zu entziehen, dessen er sich in der anglophonen philosophischen Welt bereits sicher gefühlt hatte. Etwas später brach Thomas Kuhns ‚The Structure of Scientific Revolutions‘ (1962) den Klammergriff des positivistischen Begriffs auf, demzufolge die Naturwissenschaften, weil sie beispielhaft rationale Methoden und Verfahren anbieten würden, von der übrigen Kultur nachgeahmt werden sollten (siehe Kuhn, T.S.). Die verschiedenen antiempiristischen und antipositivistischen Schriften bewirkten, dass viele nach-positivistische analytische Philosophen mit Deweys Misstrauen gegen die kartesisch-kantische Problematik der modernen Philosophie sympathisierten. Hilary Putnam, der bekannteste zeitgenössische Philosoph, der sich selbst als Pragmatist 1461
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bezeichnete, hat anerkennend über alle drei klassischen Pragmatisten geschrieben und pries ihre Weigerung, „die Welt, wie sie an sich selbst ist“ von der Welt, wie sie im Licht der menschlichen Bedürfnisse und Interessen erscheint, zu unterscheiden. Nach Putnams Darstellung in seinem Buch ‚The Many Faces of Realism‘ (1987) war „das Herz des Pragmatismus […] das Beharren auf dem Handlungsstandpunkt. Wenn wir der Meinung sind, dass wir einen bestimmten Standpunkt einnehmen müssen, dann verwenden wir ein gewisses Begriffssystem, und wenn wir mit einer praktischen Tätigkeit beschäftigt sind, […] dann dürfen wir nicht gleichzeitig behaupten, dass dieses System sich gar nicht wirklich auf die Dinge an sich selbst bezieht.“ Putnam meint, dass unsere moralischen Urteile nicht mehr und nicht weniger objektiv sind als unsere wissenschaftlichen Theorien, und dass sie auch nicht mehr oder weniger rational gefällt werden. Er ist sich mit Dewey dahingehend einig, dass der positivistische Versuch zur Trennung der ‚Tatsache‘ vom ‚Wert‘ ein genauso hoffnungsloses Unterfangen sei wie ihr prä-Quinescher Versuch zur Trennung der ‚Tatsache‘ von der ‚Sprache‘. Putnam verteidigte damit auch die berüchtigtste und strittigste aller pragmatistischen Lehren, nämlich die so genannte ‚pragmatistische Theorie der Wahrheit‘. Peirce sagt: „Die Meinung, deren Schicksal es ist, dass sie schlussendlich die Zustimmung all jener findet, die [an der zugrunde liegenden Frage] forschen, ist schlussendlich das, was wir mit Wahrheit meinen, und der Gegenstand, der in dieser Meinung abgebildet wird, ist das Wirkliche“. Putnam hat diese Idee wieder aufleben lassen, indem er argumentierte, dass selbst dann, wenn wir uns Peirce bei seiner Definition der Wahrheit als einer ‚idealisierten rationalen Behauptbarkeit‘ nicht anschließen wollen, der letztere Begriff als ein regulatives Ideal doch unlöslich mit dem Verständnis des Begriffs der Wahrheit verbunden sei. Er kritisierte die Korrespondenztheorie der Wahrheit mit dem Argument, dass eine jede solche Korrespondenz einer Überzeugung mit der Wirklichkeit nur unter einer ganz bestimmten Beschreibung gegeben sein kann, und keine solcher Beschreibungen sei ontologisch oder erkenntnistheoretisch privilegiert. Putnam folgte Nelson Goodman, als er sagte, es „gebe nicht nur eine Art und Weise, wie die Welt gegeben ist“. 3. Pragmatismus als Gegenentwurf zum Repräsentationismus Putnam ist gleichwohl behutsam bei der Unterstützung von James Behauptung, dass „das Wahre […] nur eine Notlösung unserer Art zu denken sei, genauso wie das Richtige nur eine Notlösung unseres Verhaltens“ sei. Diese Formulierung wurde von James’ Zeitgenossen als etwas angegriffen, was schlechtestenfalls eine Einladung zur Selbsttäuschung, und bestenfalls eine Verwechslung der Wahrheit mit der Begründbarkeit sei. Dewey versuchte dem Streit aus dem Wege zu gehen, indem er aufhörte, das Wort ‚Wahrheit‘ zu verwenden und stattdessen von ‚gesicherter Behauptbarkeit‘ sprach. Aber auch dies schützte ihn nicht vor dem Vorwurf der Verwirrung und der Inkonsistenz. Russell, der sich erneut Dewey zuwandte, meinte, dass „es einen tiefen Instinkt in mir gibt, der sich von [Deweys] Instrumentalismus abgestoßen fühlt, nämlich der Instinkt des Nachdenkens und des Entkommens aus der eigenen Persönlichkeit.“ Er und viele andere Kritiker beklagten, dass der Pragmatismus unfähig sei, die Ewigkeit und Absolutheit der Wahrheit darzustellen, d.h. der Tatsache, dass ein Satz, der keine Demonstrative (materiell hinweisende Wörter) enthält, wenn er wahr ist, dies ausdrücklich deshalb ist, weil er unabhängig von 1462
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Änderungen der menschlichen Bedürfnisse oder Zwecke gilt. Putnams Behandlung der Wahrheit ist so entworfen, dass sie den Relativismus vermeidet und auch solchen Kritiken wie der Russellschen entkommt. Trotz ihrer paradoxen Anmutung und ihres scheinbaren Relativismus verdeutlicht James’ Behauptung doch das stärkste Argument des Pragmatismus, nämlich seine Weigerung einer Anerkennung der Diskontinuität zwischen menschlichen Fähigkeiten und denen anderer Tiere. Die Pragmatisten fühlen sich verpflichtet, Darwin ernst zu nehmen. Sie gestehen zu, dass Menschen innerhalb des Tierreichs einzigartig sind, weil sie über eine Sprache verfügen, bestehen aber gleichzeitig darauf, dass die Sprache als ein Werkzeug, und nicht als ein Bild verstanden werden sollte. Die schrittweise Entwicklung der Sprache ist genauso leicht auf darwinistische Weise zu erklären wie die stufenweise Entwicklung von Speeren und Kochtöpfen, aber es ist schon schwieriger zu erklären, wie eine Spezies die Fähigkeit zur Darstellung des Universums erworben haben könnte, insbesondere des Universums, wie es wirklich gegeben ist (im Gegensatz dazu, wie es nützlich im Verhältnis zu bestimmten Bedürfnissen einer Spezies beschrieben werden kann). In einem schwachen Sinne von ‚Darstellung‘ kann man natürlich auch sagen, dass ein Regenwurm oder ein Thermostat eine ‚Abbildung seiner Umwelt‘ enthält, denn es gibt interne Anordnungen in beiden Dingen, die für ihre Reaktionen auf jeweils bestimmte Reize zuständig sind. Es hat aber wenig Sinn zu fragen, ob solche Abbildungen exakte seien. Philosophen, die den erkenntnistheoretischen Skeptizismus ernst nehmen – was die Pragmatisten nicht tun – verwenden den Ausdruck ‚Darstellung‘ in einem stärkeren Sinne, und zwar so, dass es sinnvoll ist zu fragen, ob die beste Art und Weise, wie eine Beschreibung des Universums am besten zu den menschlichen Zwecken passt, auch eine exakte Darstellung des Universums im Verhältnis dazu ist, wie es wirklich beschaffen ist (siehe Skeptizismus). Die Idee, dass das Wissen eine exakte Darstellung oder Abbildung von Wirklichkeit ist, und die Idee, dass die Wirklichkeit ein ganz bestimmtes Wesen aufweist, sind voneinander nicht zu trennen, weshalb der Pragmatismus beide ablehnt. In der Ablehnung dieser Ideen bestreiten die Pragmatisten auch die Problematik des Realismus und des Antirealismus, d.h. die Frage, ob es überhaupt einen ‚tatsächlichen Gegenstand‘ z.B. der Mathematik oder der Ethik gebe, ob Überzeugungen auf diesen Gebieten Versuche seien, der Wirklichkeit zu entsprechen. Was auch immer man über die Wahrheit sage, meinten die Pragmatisten, würde dem Begriff der ‚Korrespondenz‘ doch keinen Sinne verleihen, noch jenem der ‚exakten Darstellung dessen, wie die Dinge an sich selbst beschaffen sind‘ (siehe Wahrheit, Korrespondenztheorie der). Donald Davidson ist der Sprachphilosoph, dessen Werk am meisten an den Versuch des klassischen Pragmatismus erinnert, Darwin treu zu bleiben. Davidson sagt, dass „Überzeugungen wahr oder falsch [sind], aber sie repräsentieren nichts. Es ist gut, die Repräsentationen los zu werden, und mit ihr die Korrespondenztheorie der Wahrheit, denn es ist die Vorstellung von den Repräsentationen, die das relativistische Denken erzeugt.“ (‚The Myth of the Subjective‘, 1989). Er argumentierte, dass wir das loswerden müssten, was er ‚das dritte Dogma des Empirismus‘ nannte, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Geist oder der Sprache als einem Organisationsschema, und etwas davon Verschiedenem, beispielsweise der wahrnehmbaren Mannigfaltigkeit, also der Welt als einem organisierten Inhalt, d.h. die kantische Fassung des 1463
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Dualismus von Subjekt und Objekt (siehe ‚On the Very Idea of a Conceptual Scheme‘, 1974). In ‚A Nice Derangement of Epitaphs‘ (1986), das ein Versuch der Radikalisierung und Ausweitung des Quineschen naturalistischen Ansatzes auf das Studium des Sprachverhaltens ist, schlägt er vor, dass wir die Grenze zwischen dem Wissen einer Sprache und dem Wissen um unsere allgemeine Situation in der Welt einreißen sollten, und dass es „so etwas wie eine Sprache nicht gibt, wenn Sprache das sein soll, was viele Philosophen und Linguisten sich als Sprache vorgestellt haben“. Davidson möchte allerdings nicht als Pragmatist bezeichnet werden, denn er setzt den Pragmatismus mit undurchführbaren Versuchen zur Reduktion der Wahrheit auf irgendeine Form von Behauptbarkeit gleich, wodurch er ihn zu einem erkenntnistheoretischen Begriff macht, statt nur zu einem semantischen. Anders als Peirce und Putnam meint Davidson, wir sollten ‚wahr‘ als einen Elementarausdruck auffassen, und sollten weder versuchen, die Korrespondenztheorie der Wahrheit wieder zu beleben, noch ihn durch eine bessere Theorie der Wahrheit zu ersetzen. Davidsons Strategie lässt sich in seiner Empfehlung zusammenfassen, nicht zu sagen, „dass Wahrheit Korrespondenz, Kohärenz, gesicherte Behauptbarkeit, ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit, das im Gespräch der richtigen Menschen Akzeptierte, das von der Wissenschaft Behauptete, die Erklärung des Zusammenfließens in einer einzigen wissenschaftlichen Theorie oder der Erfolg unserer Alltagsüberzeugungen“ sei. (‚The Structure and Content of Truth‘, 1990). Wir sollten, so meint er in demselben Aufsatz, keinerlei Analyse der Bedeutung von ‚wahr‘ anbieten, sondern uns stattdessen darauf beschränken, „die letzten Quellen sowohl der Objektivität, als auch der Kommunikation“ zu beschreiben, nämlich das „Dreieck, das durch die Beziehung zwischen Sprecher, Interpret und der Welt die Inhalte von Gedanken und Gesagtem bestimmt“. Die Schwierigkeit mit der Korrespondenztheorie liegt nach Davidsons Auffassung darin, dass sie die Interpretationsseite dieses Dreiecks ‚herausschneide‘ und die Wahrheit damit als eine Beziehung des ‚Passens‘ von Sprecher und Welt behandle. Wenn man Davidsons Rat folgt, kann man die pragmatistische Theorie der Wahrheit aufgeben, ohne den darwinistischen Naturalismus aufzugeben, den diese Theorie in einem paradox anmutenden Versuch zu artikulieren versuchte. Ein solcher Naturalismus bringt allerdings die Aufgabe vieler Probleme der zeitgenössischen Philosophie mit sich. Wenn ‚Wahrheit‘ niemals der Name einer Beziehung ist, wie sie in Ausdrücken wie ‚korrespondieren‘, ‚darstellen‘, ‚repräsentieren‘, ‚erfassen‘, ‚passen‘ etc. zum Ausdruck kommt, und die zwischen Sätzen und Nicht-Sätzen gelten soll, dann hat es keinen Sinn mehr zu fragen, ob diese Beziehung für irgendwelche wahren Sätze gilt, z.B. für Wahrnehmungsberichte oder wissenschaftliche Theorien, und für andere nicht, z.B. Sätze über Zahlen oder Werte. Über diesen letzteren Punkt sind sich Putnam und Davidson einig (siehe Wahrheit, Korrespondenztheorie der). Michael Dummett hat plausiblerweise vorgetragen, dass die Streitfrage von Realismus versus Antirealismus im Kern der abendländischen philosophischen Tradition liegt (siehe Realismus und Antirealismus). Wenn dies stimmt, und wenn Davidson mit seinem Gedanken Recht hat, dass wir diese Streitfrage nunmehr aufgeben sollten, dann schaut James’ und Deweys Vorschlag, wie man den althergebrachten und offenkundig sterilen Streit zwischen Materialisten und Idealisten, Positivisten und Metaphysikern, Theisten und Atheisten, Bewunderern der Naturwissenschaft und der Dichtung beenden könne, vielversprechend aus. Der Kern des Pragmatis1464
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mus beider Männer war keine bestimmte Lehre über das Wesen der Wahrheit, der Erkenntnis oder des Wertes, sondern vielmehr die Hoffnung, dass die Philosophie sich selbst erneuern könnte, wenn sie sich aus dem traditionellen Dualismus (Subjekt – Objekt, Geist – Welt, Theorie – Praxis, Moral – Klugheit etc.) herausbewegt, der, wie sie meinen, durch die Entwicklung der Wissenschaft und die sozialen Veränderungen hinfällig geworden sei. Die klassischen Pragmatisten sahen sich als Menschen an, die auf Darwin auf dieselbe Art und Weise antworteten, wie die großen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts auf Galileo und Newton geantwortet hatten. Philosophen wie Descartes, Locke und Kant versuchten die alte und wertvolle Moral und ihre geistigen Bestrebungen den neuen wissenschaftlichen Entwicklungen anzupassen. James und Dewey dachten, dass diese Versuche durch Darwins neue Darstellung des Ursprungs auch unserer Art hinfällig geworden seien, und dass ein neuer Anlauf unternommen werden müsse. Wenn man Quines und Davidsons Naturalisierung der Semantik als eine Fortsetzung der philosophischen Versuche versteht, mit Darwin zurechtzukommen, so kann man diese beiden Philosophen auch so lesen, dass sie das größere Unternehmen fortgesetzt haben, das James und Dewey ins Leben gerufen hatten. 4. Pragmatismus und das Selbstbild der Menschheit Geht man einen Schritt in der Beziehung des Pragmatismus zum traditionellen Empirismus einerseits und zum linguistic turn andererseits zurück, so kann man den Pragmatismus in einen größeren Zusammenhang stellen. Ein großer Teil der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde der Kritik der Auffassung gewidmet, die von Platon und Aristoteles geteilt wurde, dass eine Fähigkeit zur Erkenntnis von Dingen, wie sie wirklich gegeben sind, ein zentrales Merkmal des Menschen sei. Philosophen, die von Nietzsche beeinflusst waren, vor allem Heidegger, Sartre und Derrida, widersprachen der Idee, dass die Erkenntnis eine spezifisch menschliche Fähigkeit sei. Heideggers Behandlung der Untersuchung als einer Art von Bewältigung, die er anhand des Begriffs der ‚Vorhandenheit‘ in ‚Sein und Zeit‘ (1927) diskutiert, hat viel mit Deweys und Kuhns Versuch gemeinsam, den wissenschaftlichen Fortschritt als ein Problemlösen zu betrachten, d.h. als die Überwindung von Hindernissen bei der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, und nicht als ein Hinauslaufen auf eine besondere und spezifisch kognitive Beziehung zur Wirklichkeit. Sowohl Dewey, als auch Heidegger sahen das griechische Streben nach Gewissheit als etwas an, was sie schwächte. Keiner von ihnen wollte die traditionelle Annahme teilen, dass zusätzlich zu allen sonstigen menschlichen Bedürfnissen die Menschen auch noch ein Bedürfnis nach Erkenntnis von Wahrheit hätten. Heideggers Kritik dessen, was er die ‚Ontotheologie‘ nennt, und womit er eine abendländische Philosophie meint, die er als eine Reihe von Versuchen zur Erlangung von Trost und Unterstützung im Unzeitlichen versteht, hat viel mit Deweys Kritik dessen gemeinsam, was dieser ‚Intellektualismus‘ nannte. Beide Männer sahen die Tradition, die mit Platon beginnt, als den Selbsttäuschungsversuch an, dem Ewigen Vorrang über das Zeitliche zu geben. Dieser Ansicht schlossen sich auch Bergson und Whitehead an, die Begründer jener Tradition, die unter der Bezeichnung ‚Prozessphilosophie‘ bekannt wurde, und zu der James speziell in seinen ‚Essays in Radical Empiricism‘ wichtige Beiträge leistete (siehe Prozessphilosophie). Diese Herunterstufung des Ewigen ist typisch für einen großen Teil der Philosophie 1465
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des 20. Jahrhunderts. Es findet sich in James’ Kritik an Bradley, in Putnams Kritik an Bernard Williams’ Behauptung, dass wir eine ‚absolute Konzeption der Welt‘ als ein regulatives Ideal der Untersuchung verwenden könnten, in Heideggers Kritik an Husserl und in Derridas Kritik an Heidegger. Die Herunterstufung der Ewigkeit bedeutet die Herunterstufung sowohl der Idee der Wahrheit als etwas Ewigem, als auch der Annahme, dass die Erkenntnis der ewigen Wahrheit ein typische menschliche Tätigkeit sei. Vom Standpunkt eines Davidson und eines Dewey aus gesehen ist das einzige Relevante an der Lehre, dass die Wahrheit ewig sei, die Gegenüberstellung von Wahrheit und Rechtfertigung (denn letztere ist offenkundig weder ewig, noch absolut, weil sie relativ zur Zusammensetzung des Publikums ist, dem die jeweilige Rechtfertigung angeboten wird, und ist damit relativ zu historischen Umständen). Aber der Gegensatz kann auch formuliert werden, ohne ‚Wahrheit‘ als den Namen eines Ziels zu behandeln, das erreicht werden soll, oder als einen Gegensatz, der bewundert werden sollte. Davidsons Behandlung der Wahrheit verbietet uns, sich die philosophische Untersuchung als etwas vorzustellen, was einer Norm zum Erwerb wahrer Überzeugungen unterworfen ist, und zwar zusätzlich zu der Norm, wie eine angemessene Rechtfertigung auszusehen hat. Es gibt keine Möglichkeit einer Suche nach der Wahrheit neben der Suche nach einer Rechtfertigung für eine Auffassung. Die Rechtfertigung wird umso besser, je anspruchsvoller und komplexer die Gemeinschaft wird, der diese Rechtfertigung angeboten wird, d.h. je bewusster über mögliche Beweisquellen sie sich ist und damit stärker in der Lage, sich neue und einfallsreiche Hypothesen und Vorschläge auszudenken. Folglich versetzen die Pragmatisten die Fähigkeit zur Schaffung komplexer und einfallsreicher Gemeinschaften ins Zentrum ihres Bildes von der Menschheit und verdrängen damit die Fähigkeit zur Erkenntnis. Dewey und Putnam sind sich darin einig, dass das Ziel der philosophischen Untersuchung das ist, was Putnam das ‚Erblühen des Menschen‘ nennt, d.h. diejenige Art menschlichen Lebens, die in freien, demokratischen, toleranten und egalitären Gesellschaften möglich sei. Diese seien die Gesellschaften, in denen die Künste und die Wissenschaften sich ausbreiten und entwickeln, und innerhalb derer auch Eigenheiten geduldet werden. Der offenkundige Unterschied zwischen James, Dewey und Putnam einerseits, und Nietzsche, Heidegger und Foucault andererseits, also zwischen den beiden prominentesten Abteilungen der Revolte des 20. Jahrhunderts gegen das griechische Selbstbild der Menschheit, ist, dass die drei Europäer nicht die amerikanische Begeisterung und den Optimismus für die liberal-demokratische Gesellschaft teilen. Nietzsches und des frühen Heideggers Beharren auf der festen Autorität des einsamen Individuums, und ihre Überhöhung des Willens im Gegensatz zum Intellekt sind Dewey und Putnam gleichermaßen fremd, auch wenn sich ein gewisses Echo davon z.B. bei James findet. Statt den Intellekt in der Weise von Schopenhauer durch den Willen zu ersetzen, neigen die Pragmatisten dazu, die Erkenntnis durch die Liebe auf die Art und Weise, wie Kierkegaard dies im Gegensatz zu Sokrates und Christus tat, zu ersetzen (siehe Kierkegaard, S.A.). Für Dewey als den Pragmatisten, der am wagemutigsten spekulierte und die größte historische Bewusstheit zeigte, besteht der Ruhm des Menschen in ihrer Fähigkeit, Bürger einer liberal-demokratischen Gesellschaft zu werden, d.h. einer Gemeinschaft, die fortgesetzt danach strebt, über ihre eigenen Grenzen hinaus zu sehen, sowohl im Hinblick auf den Einschluss gegenwärtig ausgeschlossener oder an 1466
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den Rand gedrängter Menschen, als auch hinsichtlich innovativer intellektueller und künstlerischer Initiativen. Dies ist die Fähigkeit, die uns am deutlichsten von den Tieren unterscheidet. Sie setzt selbstverständlich die Fähigkeit voraus, Sprache zu verwenden. Für Dewey ist der Umstand, über Sprache zu verfügen, und damit über das Denken, jedoch nicht das, wodurch man durch die Erscheinungen hindurch zur wahren Natur der Wirklichkeit vordringt, sondern dies erlaube vielmehr die soziale Konstruktion neuer Wirklichkeiten. Für ihn war die Sprache kein Medium der Abbildung, sondern ein Weg zur Koordination menschlicher Tätigkeiten, um dadurch den Bereich menschlicher Möglichkeiten zu erweitern. Diese Prozesse der Koordination und Erweiterung, die die kulturelle Evolution ausmachen, haben keinen bestimmten Endzustand, den man das Gute oder das Wahre nennen könnte, und zwar genauso wenig wie die biologische Evolution ein bestimmtes Ziel hat, den man ‚die ideale Lebensform‘ nennen könnte. Deweys Vorstellungswelt ist immer eine der wuchernden Neuheit, als die einer Konvergenz von Bestehendem. Der naturalistische Zweig des Pragmatismus, d.h. der Versuch mit Darwin zurechtzukommen, ist von Deweys Standpunkt aus gesehen wichtig vor allem als eine weitergehende Strategie der Umlenkung philosophischer Aufmerksamkeit vom Problem der Metaphysik und Erkenntnistheorie auf die Bedürfnisse demokratischer Politik. Dewey sagte einmal, dass er Platon darin zustimme, dass die Politik ‚die Wissenschaft des Ganzen‘ sei. Dies ist eine Bemerkung, die den folgenden Gedankengang zusammenfasst. Herauszufinden, was es gibt, ist eine Frage danach, welche Beschreibungen der Dinge am besten unseren Bedürfnissen dienen. Herauszufinden, welche Bedürfnisse wir erfüllen sollten, ist eine Aufgabe des gemeinsamen Nachdenkens darüber, wohin sich die Menschen entwickeln sollten. Solche kooperativen Untersuchungen der Möglichkeiten der Selbsttranszendenz lassen sich am besten innerhalb einer demokratischen Gesellschaft durchführen. Deshalb sollten die Philosophen aufhören, nach dem Wesen der Wirklichkeit oder der Erkenntnis zu fragen, und stattdessen versuchen, die Institutionen solcher Gesellschaften zu stärken und zu verbessern, indem sie „die Ideen der Menschen hinsichtlich des sozialen und moralischen Strebens ihrer je eigenen Zeit“ klären. Siehe auch: Darwin, C.R.; Empirismus; Logischer Positivismus; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus; Zweifel Anmerkungen und weitere Lektüre: Murphy, J.P. (1990): ‚Pragmatismus: From Peirce to Davidson‘. Boulder, Colorado: Westview Press. (Ein einführendes Lehrbuch. Murphy sieht Quine und Davidson als Philosophen, die die pragmatistische Tradition fortsetzen. Der Band enthält eine gute Bibliographie.) Scheffler, I. (1974): ‚Four Pragmatists: A Critical Introduction to Peirce, James, Mead and Dewey‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Dieses Buch kombiniert eine einfühlende Darstellung mit einer detaillierten Kritik.) RICHARD RORTY
Prager Schule
Siehe: Strukturalismus in der Linguistik
Praktische Ethik
Siehe: angewandte Ethik; Berufsethik; Bevölkerung und Ethik; Bioethik; Familie und Ethik; Fortpflanzung und Ethik; Genetik und Ethik; Journalismus, 1467
Praktische Vernunft und Ethik
Ethik des; Leben und Tod; Marktes, Ethik des; Medizinische Ethik; Pornographie; Tierethik; Umweltethik; Wirtschaftsethik; Ziviler Ungehorsam
Praktische Vernunft
Siehe: Vernunft, Praktische
Praktische Vernunft und Ethik Einführung Die praktische Vernunft6 ist ein Denken, dass zur Handlungsorientierung verwendet wird, und die im Gegensatz zur theoretischen Vernunft steht, die zur Führung des Denkens angewandt wird. Manchmal bezieht sich der Ausdruck ‚praktische Vernunft‘ einfach auf eine Art und Weise der Ausarbeitung, wie man etwas tun sollte. Üblicherweise bezieht er sich auf die richtigen oder maßgeblichen und daher vernünftigen Weisen der Ausarbeitung dessen, was man tun sollte. Nach der Auffassung vieler Autoren ist die praktische Vernunft lediglich instrumentell: sie identifiziert Wege, wie sich gewisse Ziele oder Zwecke erreichen lassen, sagt aber nichts darüber, welche Ziele oder Zwecke verfolgt werden sollte, oder welche Arten von Handlungen gut oder schlecht, verpflichtend oder verboten sind. Instrumentelle Vernunft ist nicht nur für die Ethik und die Politik wichtig, sondern für alle Tätigkeiten, beispielsweise bei der Planung einer Reise, wie man ein gegebenes Ziel erreicht. Andere Darstellungen der praktischen Vernunft bestehen darauf, dass sie mehr als instrumentelles Denken ist: sie beschäftigt sich nicht nur mit der Ausarbeitung von Wegen, wie man gegebene Ziele erreicht, sondern auch mit der Bezeichnung der ethisch wichtigen Ziele menschlicher Tätigkeit oder der ethischen wichtigen Normen oder Prinzipien für das menschliche Leben, und liefert damit die Grundlage für alles ethische Urteil. Keine Darstellung der objektiven ethischen Werte ist möglich ohne eine Beschreibung des Weges, wie man sie erkennen kann, d.h. ohne den Aufweis, dass einige Formen des ethischen Kognitivismus (siehe Kognitivismus) wahr sind. Es ist allerdings nicht einfach, den Kognitivismus zu begründen. Entweder müssen wir zeigen, dass einige Formen der Intuition oder Wahrnehmung direkten Zugang zu einem Reich der Werte gewähren, oder wir müssen zeigen, dass die praktische Vernunft nur weniger direkte Methoden zur Verfügung stellt, durch die objektive ethische Behauptungen begründet werden können. So muss also jeder, der meint, 6 Das englische Nomen ‚reason‘ und das dazugehörige Verb ‚to reason‘ haben eine Mehrzahl von im Deutschen durchaus unterschiedlichen Bedeutungen, die gleichwohl begrifflich in Englisch zu einem Bedeutungskomplex zusammengefasst werden. ‚Reason‘ ist gleichermaßen ‚Vernunft‘, ‚(vernünftiges) Denken‘, ‚Schlussfolgerung‘ und ‚Grund‘ oder ‚Begründung‘ von etwas. Entsprechend muss man den Ausdruck in changierenden Satzzusammenhängen auch immer unterschiedlich übersetzen, weil tatsächlich ständig die eine oder andere Bedeutung gemeint ist, die sich im Deutschen keinesfalls durch die Verwendung immer desselben Ausdrucks wiedergeben lässt. Dasselbe gilt für das Wort ‚to reason‘. Die inhaltliche oder semantische Klammer von ‚reason‘ oder ‚to reason‘ ist tatsächlich der gesamte Zusammenhang oder das Bedeutungsfeld, dass von all den oben genannten Ausdrücken aufgespannt wird. Dieses Bedeutungsfeld ist auch – eingeschränkt durch den Vorsatz ‚praktische‘ in ‚Praktische Vernunft‘ – der Gegenstand dieses Beitrages. Die spezifische Bedeutung des Ausdrucks ‚praktische Vernunft‘ als terminus technicus der kantischen Moralphilosophie ist dagegen nur ein Teilbereich jenes Gegenstandes, um den es hier geht. [WS]
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dass es direkte, objektive Werte gebe, der aber gleichzeitig daran zweifelt, ob wir sie direkt spüren oder uns vorstellen können, eine plausible Darstellung der praktischen Vernunft als grundlegend für die philosophische Ethik betrachten. 1. Einführung 2. Zweckorientiertes Denken: Vernunft ist instrumentell 3. Zweckorientiertes Denken: Vernunft identifiziert objektive Zwecke 4. Handlungsorientiertes Denken: Vernunft beruft sich auf Normen 5. Handlungsorientiertes Denken: Vernunft beruft sich auf ‚die Welt im Großen‘ 6. Andere Aspekte der praktischen Vernunft 1. Einführung Die meisten ethischen Positionen oder Theorien stützen sich auf eine oder mehrere Konzeptionen der praktischen Vernunft, doch viele versagen bei der Erklärung, ganz zu schweigen von einer Rechtfertigung, der jeweiligen Konzeptionen, auf die sie sich verlassen. Die einzigen Positionen oder Theorien, die keine Darstellung der praktischen Vernunft anbieten, sind diejenigen, die ethische Behauptungen entweder als nichtkognitive Behauptungen konstruieren, oder die direkt auf einzelnen Erkenntnissen wie z.B. einer Wahrnehmung oder Intuition beruhen, die nicht mit irgendeinem Denkprozess verknüpft sein müssen (siehe Analytische Ethik; Emotivismus; Intuitionismus in der Ethik; Moralischer Realismus). Eine tiefgreifende Uneinigkeit unter den Verfechtern der unterschiedlicher Darstellungen der praktischen Vernunft ist jene, die zwischen jenen verläuft, die meinen, dass Formen praktischer Vernunft das Handeln sowohl rechtfertigen, als auch motivieren sollten, und andererseits jenen, die meinen, dass die praktische Vernunft das Handeln nur rechtfertigen soll, nicht aber auch motivieren müsse. Der Anspruch, dass Gründe bzw. Schlussfolgerungen sowohl rechtfertigen, als auch motivieren sollen, wird häufig ‚Internalismus‘ genannt, wobei man in diesem Denken davon ausgeht, dass alles, was motiviert (sei es ein Wunsch oder irgendeine Art von Überzeugung oder Glauben oder irgendein anderer innerer Zustand) dem Akteur innerlich sein müsse, der motiviert ist. Die Behauptung, dass Schlussfolgerungen ein Handeln rechtfertigen, dieses aber nicht motivieren müssen, wird entsprechend ‚Externalismus‘ genannt (siehe Moralische Motivation, §§ 1–2). Allgemein gesagt meinen die Internalisten dagegen, dass die Externalisten nicht zeigen könnten, wie vernünftiges Denken praktisch werden kann, weil sie die Motivationsfrage nicht auf eine angemessene Weise behandeln, und die Externalisten meinen, dass die Internalisten den Umstand aus den Augen verlören, dass die praktische Vernunft auch begründet sein müsse, weshalb sie, d.h. die Externalisten, ein Bild aus kontingenten Motivationen innerhalb ihrer Darstellung der Vernunft konstruieren. Es gibt viele Fassungen sowohl des Internalismus, als auch des Externalismus. Darstellungen der praktischen Vernunft können unter zwei sehr allgemeine Titel gruppiert werden. Viele Darstellungen der praktischen Vernunft sind zweckorientiert (und daher auch als teleologische oder konsequenzialistische Theorien bekannt); sie versuchen zu zeigen, wie die Vernunft Handlungen, Einstellungen oder Verhaltensregeln auswählen kann, die zu gewissen Zwecken oder Ergebnissen beitragen (siehe Konsequenzialismus; Teleologische Ethik). Viele Befürworter der zweckorientierten praktischen Vernunft denken, dass die praktische Vernunft nicht mehr leisten könne. Da sich keine objektive Darstellung der richtigen Zwecke des menschlichen 1469
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Lebens formulieren lässt, müssen wir mit den subjektiven Darstellungen der menschlichen Lebenszwecke Vorlieb nehmen. Wir müssen Hume darin zustimmen, dass die Vernunft „nur der Sklave der Leidenschaften ist und auch sein sollte“ (‚Traktat über die menschliche Natur‘, 1739–1740). Es gibt jedoch auch andere Darstellungen der zweckorientierten, praktischen Vernunft, die darauf bestehen, dass die Vernunft auch gewisse objektive Zwecke ausmachen könne und damit die doppelte Aufgabe habe, diese richtigen Handlungsziele auszumachen, und ferner die Handlungen auf diese Zwecke hin zu leiten. Wieder andere Konzeptionen der praktischen Vernunft sehen diese nicht nur auf Zwecke und die Mittel, wie man sie erreicht, verengt. Handlungsorientierte Darstellungen der praktischen Vernunft gehen davon aus, dass das Handeln (und ebenso die Einstellungen und die Verhaltensregeln) durch Normen oder Prinzipien geleitet wird, und dass es die Aufgabe der praktischen Vernunft sei, die geeigneten und begründeten Normen und Prinzipien zu finden. Einige Normen und Prinzipien formulieren sehr allgemeine Zwecke, andere weisen auf relativ spezifische Handlungen: die jesuitische Maxime: ‚Zum größeren Ruhme Gottes‘ definiert den Zweck eines ganzen Lebens; der gemütliche Rat: ‚Iss keine Austern, außer wenn der aktuelle Monatsname ein ‚r‘ enthält‘ bietet nur sehr beschränkte und spezifische Hilfe. Obwohl einige Normen und Prinzipien Zwecke definieren, kann doch das normen- und prinzipiengeleitete Denken dem zweckorientierten Denken nicht angeähnelt werden, weil Letzteres alle praktische Vernunft als etwas ansieht, das auf einem MittelZweck-Zusammenhang beruht. Handlungsorientiertes Denken sieht sich selbst als etwas an, was auf praktischen Aussagen (Normen, Regeln, Prinzipien) beruht, die die Handlung ohne Verweis entweder auf die angenommenen objektiven Zwecke, und auch nicht auf die subjektiven Zwecke irgendeines Akteurs leiten. Viele Darstellungen des handlungsorientierten Denkens (d.h. der handlungsorientierten Vernunft) sehen diese als normenbasiert; sie gehen davon aus, dass die grundlegenden ethischen Orientierungen (Normen, Kategorien, Verpflichtungen, Überzeugungen, Arten der Identität: diese alle werden nachfolgend Normen genannt), die von einer Gesellschaft, einer kulturellen Tradition oder auch in einem individuellen Leben akzeptiert werden, die grundlegenden Voraussetzungen für die praktische Vernunft schaffen. Nach solchen Darstellungen ist das vernünftige Denken ein inneres Merkmal von Gesellschaften; es beruft sich auf die Normen, die das Fundament bestimmter Leben oder Lebensformen ausmachen. Deshalb könne es nicht auf kohärente Weise von denen in Frage gestellt werden, die dieses Leben leben. Andere kritische Darstellungen des handlungsorientierten ethischen Denkens wenden ein, dass die unkritische Berufung auf akzeptierte Normen keine annehmbaren Prämissen der praktischen Vernunft liefern könne; eine Bezugnahme auf akzeptierte Normen sei vollkommen willkürlich und deshalb unvernünftig. Eine jede Schlussfolgerung, die man auf diesem Wege erreicht, wird relativ zu den vorausgesetzten Normen sein und könne deshalb nicht mehr leisten, als die eine oder andere Fassung dieser Normen zu stützen (siehe Moralischer Relativismus). Die Verfechter der kritischen Darstellungen der praktischen Vernunft meinen dagegen, dass ein angemessenes, handlungsorientiertes Denken Begründungen anbieten muss, die keinerlei spezifische Norm voraussetzen (und auch keine Traditionen oder Identitäten). Vielmehr meinen sie, dass ein solches Denken in dem Sinne öffentlich sein 1470
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müsse, dass die bezogenen Normen für eine unbeschränkte Zuhörerschaft maßgeblich sein müssten, oder, wie Kant es sehr lebendig in einer frühen Fassung dieses Gedankens formulierte, sie müssten sich „mit der Welt im Großen“ befassen (‚Eine Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung?‘, 1784). Die Möglichkeit der Rechtfertigung irgendeiner kritischen, universellen Konzeption der handlungsorientierten, praktischen Vernunft wird von Anhängern anderer Konzeptionen allerdings in Frage gestellt. Die Suche nach einer überzeugenden Darstellung der praktischen Vernunft wirft Fragen auf, die nicht nur in der Ethik und der Politik von grundlegender Bedeutung sind, sondern auch für einen weiten Kreis philosophischer Probleme. Diese umfassen die Frage, ob, und wenn wie, irgendeine Darstellung der praktischen Vernunft denkbar ist, die nicht-zirkulär begründet werden kann, oder die Frage der Verknüpfung von praktischer und theoretischer Vernunft, sowie das Problem, wie bzw. wie weit unterschiedliche Konzeptionen der praktischen Vernunft Handlungen, Einstellungen oder Verhaltensregeln leiten können. 2. Zweckorientiertes Denken: Vernunft ist instrumentell Hume äußerte sich sehr prägnant und skeptisch über die Idee, dass die Vernunft irgendwelche objektiven Zwecke an sich selbst habe. Er spöttelte: „Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger“ (‚Traktat über die menschliche Natur‘, 2. Buch, 3. Teil, 3. Abschnitt: ‚Von den Motiven des Willens‘). Er beharrte darauf, dass es vergeblich sei zu fordern, dass die Moral nur durch die Ableitung von der Vernunft entdeckt werde und schloss, dass das Sollen nicht aus dem Sein abgeleitet werden kann. Wenn die Moral keine Zwecke hat, die durch die Vernunft entdeckt werden können, dass sei es die einzige Aufgabe der praktischen Vernunft zu zeigen, wie die Verfolgung der Leidenschaften oder der subjektiven Zwecke wirksam und erfolgsorientiert organisiert werden könne. Die zentrale Aufgabe der praktischen Vernunft sei dann instrumenteller Art, d.h. die Anwendung unseres Wissens der Kausalbeziehungen zur Anleitung von Handlungen. Praktische Vernunft wäre dann einfach eine Ableitung und Anwendung von Aspekten der theoretischen Vernunft; sie bedürfte keiner gesonderten Begründung. Nach wie vor gäbe es aber auch dann noch viel über die Operationen der instrumentellen Vernunft im Einzelnen zu sagen. Insbesondere wenn ein Maß für die anzustrebenden Ziele benannt werden kann, wenn es beispielsweise ein Maß für die Befriedigung von Wünschen und Vorlieben gibt, und wenn die Wahrscheinlichkeiten einer Erreichung verschiedener Ziele quantifiziert werden kann, dann kann die instrumentelle Vernunft eingesetzt werden um zu zeigen, welche verfügbaren Handlungen die Befriedigung von Vorlieben maximieren, und folglich wie gegebene Ziele effizient angesteuert werden können. Sofern diese Metrik es zulässt, dass man Wünsche und Vorlieben unterschiedlicher Personen auf der Basis einer gemeinsamen Maßeinheit misst, könnte die praktische Vernunft in der Lage sein, sowohl die individuelle, als auch die soziale Entscheidungsfindung und Verhaltensplanung zu leiten. Die utilitaristische ethische Theorie, die Spieltheorie und eine weite Spanne wirtschaftlicher und sozialer Kalküle haben bereits zahlreiche Fassungen der subjektiven, zweckorientierten praktischen Vernunft diskutiert, die in unterschiedlichen
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Zusammenhängen für geeignet gehalten werden (siehe Rationalen Entscheidung, Theorie der; Utilitarismus). Rein instrumentelle Darstellungen der praktischen Vernunft wurden mindestens seit Kant kritisiert. Die Kritiken bezweifeln nicht, dass das instrumentelle Denken ein notwendiger Aspekt der praktischen Vernunft sei, sie bestehen jedoch darauf, dass man es dabei nicht belassen könne. Sie würde lediglich eine Darstellung der Verwendung empirischen und insbesondere kausalen Wissens zur Verfolgung an sich selbst willkürlicher Zwecke liefern. Instrumentelle Denker mögen zeigen, dass es notwendig sei, ein Ei aufzuschlagen, wenn man sich ein Omelett machen will, aber sie haben als Begründung für die Herstellung von Omelettes insgesamt nichts als subjektive Vorlieben zu bieten. Alle ihre Schlussfolgerungen sind durch subjektive Zwecke bedingt. Die instrumentelle Vernunft bei der Verfolgung individueller Vorlieben den Egoismus wirksam zu unterstützen, auch das strategische Denken oder gewisse beschränkte und spezifische moderne Konzeptionen der Klugheit; das sei aber auch schon alles, was sie tun könne (siehe Moralische Beweggründe, §§ 4–6). Die zeitgenössischen Bemühungen um die instrumentelle Vernunft greift diese Kritik in gewisser Weise auf, indem sie fordert, dass nicht nur die Wahlentscheidung zugunsten einer Handlung instrumentell schlüssig sein muss, sondern dass sie auch auf wohlgeordneten, beispielsweise miteinander verbundenen und transitiven Präferenzordnungen beruhen müsse. Weil diese Kohärenzbedingungen allerdings durch viele verschiedene Präferenzmengen erfüllt werden, liefert die Forderung der Wohlgeordnetheit nur wenig weiterführende vernünftige Orientierung. Sie fügt einer Darstellung der instrumentellen Rationalität nicht genug hinzu, um jene zu befriedigen, die meinen, dass eine Darstellung der praktischen Vernunft eine vollständigere Führung der vernünftigen Wahlentscheidung liefern sollte, oder um den Vorwurf zu entkräften, dass die instrumentelle Vernunft nicht weiter geht als zu zeigen, wie an sich selbst willkürliche, d.h. unbegründete Zwecke mit rationalen Mitteln verfolgt werden können. Einige Vertreter der subjektiv zweckorientierten praktischen Vernunft wandten ein, dass Wünsche und Vorlieben, auch wenn sie subjektiv seien, doch eine Näherung an eine objektive Darstellung des Guten liefern würden. Einige Utilitaristen meinten beispielsweise, dass die Glückseligkeit das einzige Lebensgut sei, das man durch die Befriedigung von Wünschen erlangen könne, und dass daher die optimale Befriedigung von Wünschen, die zur maximalen Glückseligkeit führen, auch das größte Lebensgut produzieren würde. Daran schließen sie die Behauptung an, dass das instrumentelle Denken eine ausreichende Darstellung der praktischen Vernunft sowohl für ethische, als auch für egoistische, strategische und lediglich kluge Zwecke liefern würde. Die Kritiker haben darauf entgegnet, dass die Glückseligkeit nicht das einzige Lebensgut sei, und darüber hinaus sei es nicht nur von einer einzigen Art und könne nicht einfach zusammengefasst werden, so dass das instrumentelle Denken allein nicht genug sein wird, um die ethische Wahlentscheidung anzuleiten. Andere wandten ein, dass einige Arten des Glücks, wie z.B. das Glücksgefühl bei der Befriedigung übler Wünsche, oder auch jenes infolge der Verletzung der Rechte anderer, überhaupt nicht zum Guten beitrage; sie schließen daraus, dass die instrumentell-rationale Verfolgung des Lebensglücks nicht das sein kann, was die Ethik fordert. 1472
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3. Zweckorientiertes Denken: Vernunft identifiziert objektive Zwecke Alle diese Schwierigkeiten würden überwunden werden, wenn die Vernunft objektive Ziele oder Zwecke benennen könnte. Das instrumentelle Denken ist nur ein Aspekt einer älteren und noch anspruchsvolleren Konzeption einer zweckorientierten praktischen Vernunft, die behauptet, dass die Vernunft sowohl die richtigen Ziele einer Handlung festlege – nämlich das Gute – und auch dafür verwendet werden kann, die Handlung auf diese Ziel hinzuleiten. Eine solche Position kann man Platon zuschreiben, nach dessen Darstellung die Vernunft nicht nur ihren richtigen Gegenstand erkennen kann, nämlich (die Idee des) Guten, sondern auch nach dem Guten strebt. Fern jeglicher Trägheit ist die Vernunft an sich selbst etwas Aktives und hat ihre eigenen Wünsche und ihre eigenen Zwecke. In diesem Bild der Vernunft gibt es keine Lücke zwischen der theoretischen Vernunft, die die richtige Erkenntnis leitet, und der praktischen Vernunft, die die richtige Handlung leitet. Menschliches Wissen und Wünschen ist gleichermaßen auf das Gute ausgerichtet; nous und eros Aspekte ein und derselben Fähigkeit, und das verbleibende praktische Problem ist es, das menschliche Leben dorthin auszurichten, wohin diese Fähigkeiten zeigen. Die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Behauptungen, derer man bedarf, um diese herkömmliche Fassung der praktischen Vernunft zu stützen, sind enorm anspruchsvoll. Denn trotz der Schwierigkeit einer Rechtfertigung objektiver Konzeptionen der zweckorientierten praktischen Vernunft ist diese doch weitgehend und in verschiedenen Formen akzeptiert. Aristoteles ließ sich beispielsweise mit Platon über dessen einheitliche Konzeption des Guten auf einen Streit ein, indem er darauf bestand, dass es viele Arten des Guten gebe, meinte aber auch, dass darunter die Lebensgüter der Menschen seien, die das eigentliche Ziel menschlichen Handelns seien (siehe Aristoteles, §§ 20–21; Eudaimonia). Er bietet eine komplexe Darstellung der komplementären Muster praktischer Vernunft an, die verwendet werden können, um Handlungen ausmachen zu können, die zum Guten des Menschen beitragen. Dies umfasst die Lehre vom Zweck, die vorgeblich eine nichtmechanistische Weise der Auswahl ‚vermittelnder‘ Handlungen anbietet und somit nicht hinnehmbare Extreme vermeidet, sowie die so genannten praktischen Syllogismen, durch die Schlussfolgerungen auf Handlungen (oder auch mögliche Handlungen) aus allgemeinen Prinzipien und Behauptungen über bestimmte Situationen erschlossen werden. Viele spätere Neuplatoniker und christliche Denker kombinieren auch die Idee, dass das Gute durch Vernunft erkannt werden kann, mit der Idee, dass dies das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens sei. Platons teleologische Sichtweise der Vernunft wurde weithin, wenn auch oft stillschweigend, von zahllosen weiteren Autoren übernommen, die weder seine metaphysische Position teilen, noch eine Alternative dazu liefern, die aber von gewissen Zielen als ‚vernünftigen‘ sprechen, ohne dies weiter erklären zu können, und oft mit noch weit geringeren Begründungen, als sie bereits von Platon aufgeboten worden waren. Selbstverständlich reicht ein Wissen um das Gute und damit um die wahren Ziele oder Zwecke des menschlichen Lebens niemals aus, um eine Handlung leiten zu können. Die wirksame Verfolgung dieser Ziele erfordert auch den Einsatz der Vernunft zur Berechnung, welche der verschiedenen verfügbaren Handlungen die Erreichung dieser Ziele am effektivsten befördert, sowie die Identifikation dieser Handlungsalternativen, Einstellungen oder Verhaltensnormen, die Bestandteile solcher Zwecke wären. Diese Berechnung als die vorherrschend instrumentelle Seite 1473
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der zweckorientierten praktischen Vernunft kann jedoch, für sich genommen und wie sie unter § 2 diskutiert wurde, die Handlungen nicht ohne eine Annahme auch subjektiver Zwecke leiten. 4. Handlungsorientiertes Denken: Vernunft beruft sich auf Normen Andere Darstellungen der praktischen Vernunft behaupten, dass sie das Handeln ohne Bezugnahme auf subjektive Zwecke leiten müssten, weil ihre Schlüsse ansonsten vollständig von irgendetwas gänzlich Willkürlichem abhängig wären, und auch nicht durch Verweis auf objektive Zwecke, weil es solche nämlich gar nicht gebe. Eine angemessene Darstellung der praktischen Vernunft müsse sich direkter auf das Handeln beziehen, und spezifischer auf die praktischen Aussagen (Normen, Regeln, Prinzipien), denen Akteure folgen oder sie durch ihr Leben verkörpern. So, wie die theoretische Vernunft Denkbewegungen zwischen abstrakten Elementen beschreibt, die eine syntaktische und semantische Struktur haben, müsse auch die praktische Vernunft in ihrem Reich verfahren. Das zentrale Problem bei der Verwendung einer jeglichen handlungsorientieren Konzeption der praktischen Vernunft für ethische Zwecke sei es zu zeigen, warum die einen, nicht aber andere Normen und Prinzipien, oder auch bestimmte Handlungs- und Zwecktypen, Arten von Einstellungen und Regelwerken als gut oder ethisch vorausgesetzt werden, andere hingegen nicht. Viele Formen der handlungsorientierten praktischen Vernunft behaupten, dass die Grundlage zur Unterscheidung bestimmter Handlungstypen in den Kategorien, Überzeugungen und Normen ermittelt werden kann, die die konstitutiven Elemente einer Gesellschaft oder einer Art von Identität bilden. Diese konstitutiven Normen können durch niemanden in Frage gestellt werden, für den sie den Horizont seines Lebens und Denkens darstellen, sondern liefern die grundlegenden Prämissen des Denkens über das Gute und das Schlechte, das Geforderte und das Verbotene. Sind einmal einige grundlegende Normen festgestellt, so kann die praktische Vernunft sowohl durch das instrumentelle Denken, als auch durch die Analyse der logischen Verknüpfungen und Implikationen zwischen unterschiedlichen Normen, beispielsweise zwischen Ansprüchen, Verboten und Erlaubnissen, erweitert werden, als auch durch die Struktur des Normensystems. Auf ihrer formalsten Ebene greift diese Art von Analyse auf die deontologische Logik zurück; weniger formale begriffliche Untersuchungen der Regeltypen und -systeme sind ebenfalls schon unternommen worden, insbesondere durch Rechtsphilosophen (siehe Deontische Logik). Weil jedoch die handlungsorientierte Vernunft keine Maßeinheit für Zwecke liefert, kann sich auch keine Maximierungsmuster der praktischen Vernunft liefern, was von einigen subjektiven Formen der zweckorientierten Vernunft besonders gern gesehen würde. Die normenbasierte praktische Vernunft ist unstreitig ein Teil und Stück des täglichen Lebens, aber das philosophische Argument, sie sei die Grundlage allen ethischen Denkens, ist sehr umstritten. Argumente, denen zufolge sich alles ethische Denken auf Normen berufe, findet man im Werk von Hegel, in historizistischen, kommunitaristischen und relativistischen Schriften aller Epochen, und in individuellerer Form in den Arbeiten der Wittgenstein- und Bernard-Williams-Anhänger. Hegels Auffassung, es gebe keine Lücke zwischen ist und sollte sein, drückt nicht etwa den unplausiblen Gedanken aus, das alles, was hingenommen wird, auch hinnehmbar sein sollte, d.h. dass – im Gegensatz zu Hume – das Sollen allgemein 1474
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vom Sein abgeleitet werden könne, sondern die tiefgründigere Auffassung, dass sich alles Denken und Handeln nicht aus abstrakten Theorien und Prinzipien heraus entwickelt, sondern aus den Tiefenstrukturen unserer wirklichen Situationen. Hegels Ausdruck hierfür ist ‚Sittlichkeit‘ (im Engl. oft als ‚ethical life‘ übersetzt) (siehe Hegel, G.W.F., § 8). Die tief liegenden Umstände unserer jeweiligen Geschichte und unseres Lebens sind so beschaffen, dass wir sie nicht hintergehen und in Frage stellen können. Vielmehr bilden sie die unausweichlichen Rahmenbedingungen unseres Handelns und konstituieren damit legitime und tatsächlich unvermeidliche Anfangspunkte aller praktischen, einschließlich der ethischen, Vernunft. Ähnliche Haltungen findet man bei Wittgenstein und einigen seiner Anhänger. In Wittgensteins Behauptung, dass es einer ‚Übereinstimmung in den Urteilen‘ bedürfe (‚Philosophische Untersuchungen‘, Nr. 242), sowie in der verbreiteten Auffassung, dass gewisse Fragen ‚keine Sache der Entscheidung‘ seien, sehen wir weitere Fassung des Gedankens, dass gewissen Kategorien und Normen ein unausweichliches Rahmenwerk des Lebens und Denkens bilden, und dass jene, die darin leben, über keinerlei externen Aussichtspunkt verfügen, von dem aus man diesen unterminieren oder in Frage stellen könne. Stärker individualistisch betonte Fassungen desselben Ansatzes findet man bei Bernard Williams Behauptung, dass gewisse, identitätsbildende und persönliche Vorhaben und Verpflichtungen Teil eines Rahmens seien, von denen die Vernunft aufgehen muss und sie deshalb nicht befragen kann (siehe Williams, B.A.O.). Die praktische Vernunft, die sich auf die konstitutiven Normen beruft, gekoppelt mit den gewohnten Mustern des instrumentellen Denkens, hält mächtige Ziele zur Führung der Handlung bereit. Die Kritiker fürchten jedoch, dass diese Macht zu teuer erkauft wurde. Zu den angeblichen Kosten gehöre, dass die normenbasierte praktische Vernunft vermutlich konservativ sei: sie wird immer schon zuvor bestehende (und normalerweise dem Establishment zuzurechnende) Kategorien, Normen, Identitäten und Verpflichtungen geltend machen und liefert keinen Betrachtungswinkel, von dem aus sie kritisierbar wäre. Dieser Kritik wird durch viele Verfechter der normenbasierten Vernunft widersprochen, die wie Hegel darauf hinweisen, dass jede konstitutive Norm, Identitätsform oder Ähnliches nicht mehr als ein Teil einer größeren Menge von Überzeugungen und Normen sein wird, deren Elemente dazu verwendet werden können, um sie gegeneinander herauszufordern, zu revidieren und zu erneuern. Sobald Normen und Identitäten in einem historischen Entwicklungskontext gesehen würden, gebe es keinen Grund mehr für die Annahme, dass die praktische Vernunft, die von einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit ausgeht, an sich selbst bereits konservativ sein müsse. Eine vielleicht noch quälendere Kritik der normenbasierten praktischen Vernunft lautet, dass selbst dann, wenn sie nicht an sich selbst bereits konservativ sei, sie dennoch unvermeidlich für jene entworfen sei, die eine bestimmte Perspektive mitsamt ihren Kategorien und Normen übernommen hätten: sie sei immer die Vernunft von Eingeweihten. Für deren ‚Außenseiter‘ entbehre eine Behandlung der von den Eingeweihten geteilten Kategorien und Normen und ihrer etablierten Praktiken und Identitäten, die sie unterstützen, als Fundament der praktischen Vernunft jeglicher Rechtfertigung, weil sie auf willkürlichen Prämissen beruhe. Wie schon das instrumentelle Denken kann auch das normenbasierte Denken bestenfalls bedingte Schlussfolgerungen ziehen. Seine Befürworter können hierauf nur erwidern, dass es 1475
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gar keinen verfügbaren äußeren Standpunkt gebe, von dem aus diese Anfangsbedingungen widerlegt oder in Frage gestellt werden könnten. 5. Handlungsorientiertes Denken: Vernunft beruft sich auf ‚die Welt im Großen‘ Wenn handlungsorientiertes Denken den Beschränkungen und den Kritiken entkommen soll, in denen es sich verfängt, und wenn man sozial bestimmte Kategorien und Normen als das Fundament des ethischen Denkens betrachtet, dann muss es einen Weg finden, ‚hinter‘ diese Kritiken und Annahmen zu gelangen. Die klassische Fassung einer kritischen Konzeption der handlungsorientierten praktischen Vernunft wurde von Immanuel Kant entwickelt, der behauptete, dass das Denken sich allein „mit der Welt insgesamt“ beschäftigen solle, und das heißt: mit allen Denkenden, statt nur mit einer beschränkten Gruppe, die bestimmte, aber an sich selbst willkürliche Normen und Praktiken teile (Kant: ‚Eine Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung?‘ und O’Neill, 1989, 1. Teil). Wenn die praktische Vernunft diesem Maßstab genügen soll, so muss ihre erste Forderung die Zurückweisung eines jeden Prinzips sein, das nicht von allen geteilt werden kann, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund, ihren akzeptierten Kategorien und Normen, ihrer etablierten Lebenspraxis und ihren Identitätsformen oder ihren Wünschen (siehe Universalismus in der Ethik). Kant fasste die Forderung mit den Worten zusammen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, Akademie-Ausgabe S. 421). Er behauptet, dass dieses Prinzip der praktischen Vernunft das oberste Prinzip der Moral liefere und deshalb ‚Kategorischer Imperativ‘ genannt werden sollte, weil es der einzige Weg des praktischen Denkens sei, der keine willkürlichen Annahmen zugrunde lege, und daher auch der einzige, der unbedingte, nämlich kategorische Schlüsse erlaube. Die darin eingehenden Normen der sozialen Traditionen und Identitätsformen können untersucht werden, indem man den Kategorischen Imperativ anwendet; wenn sie nicht als universeller Wille verstanden werden können, müssen sie als unvernünftig zurückgewiesen werden. Kants Versuch einer Rechtfertigung dieser kritischen Darstellung der praktischen Vernunft basiert auf dem Gedanken, dass alles, was eine Bezeichnung als ‚vernünftiges Denken‘ verdient, etwas sein muss, dass gegeben oder empfangen sein kann, ausgetauscht oder im Wege der Nachfolge erlangt, d.h. im weitesten Sinne ‚öffentlich‘ und damit universell ist, und entsprechend, dass alles, was sich auf die Normen und Überzeugungen einer eingeschränkten Gruppe bezieht, ganz zu schweigen von bevorzugten Vorhaben individueller Leben, eher nach Gründen ruft, als solche zu verschaffen. Die Autorität der Vernunft ist einfach die Forderung des Lebenden durch die fundamentalen Prinzipien, die universell anwendbar sind, mit anderen Worten, die ‚gesetzesartig‘ sind. Da wir keine spezifischen Quellen solcher maßgeblichen Standards kennen, und zwar aus dem Grunde, weil wir über kein objektives Gutes verfügen, ist die einzige dürre Autorität, die uns verbleibt, die Verfügung einer Zurückweisung aller Prinzipien, die keine Geltung für alle beanspruchen können. Hat man einmal die praktische Vernunft zur Bestimmung bestimmter ethischer Kernprinzipien oder Regeln eingesetzt, so kann die praktische Vernunft durch Denkbewegungen erweitert werden, die auch von der instrumentellen und der normenbasierten praktischen Vernunft in Anspruch genommen werden. Kant besteht darauf, dass die instrumentelle Vernunft unverzichtbar sei, obwohl er die Annahmen eines 1476
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Maßstabes oder eines Maximierungskalküls nicht wiederherstellen kann, die von jenen vertreten werden, bei denen die Vernunft von den subjektiven Zielen abhängt. Er spricht von der instrumentellen Vernunft als etwas, was durch das Prinzip des ‚hypothetischen Imperativs‘ geleitet wird, denn sie selbst kann sich nur bedingte Schlussfolgerungen erlauben. Seine vollständige Darstellung der praktischen Vernunft stützt sich auch auf die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Modalitäten erforderlicher Handlungen, z.B. zwischen Behauptungen über Pflichten, Erlaubnissen und Verboten, die im normenbasierten Denken verwendet werden. Es gibt viele Passagen, z.B. in der ‚Grundlegung der Metaphysik der Sitten‘, in denen Kant darauf hinweist, dass die Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft im Grunde dieselben sind. In seiner Theorie scheint dies jedoch weder das Ergebnis einer Ableitung der praktischen von der theoretischen Vernunft zu sein (wie im instrumentellen Denken), noch der Verschmelzung von Theorie und Praxis (wie im Platonismus), sondern seine Rechtfertigung der Vernunft vereint an sich selbst Theorie und Praxis (siehe O`Neill, 1989, 2. Teil). Kants Rechtfertigung der praktischen Vernunft ist strittig, und ihre Angemessenheit als ein Führer im Handeln noch mehr. Seit Hegel Kant kritisierte, schlossen viele Kommentatoren, dass seine nackte Darstellung der Konzeption der praktischen Vernunft einfach nicht ausreicht, um das Handeln anzuleiten, oder aber (alternativ), dass es das Handeln in die ‚falsche‘ Richtung leite. Einige wandten auch ein, dass praktisch jedes Prinzip universell angenommen werden könne, und dass diese Darstellung der praktischen Vernunft nicht robust genug sei, um das Handeln anzuleiten; andere wiederum wandten mit geringer Plausibilität ein, dass die Universalitätsforderung strikt einförmige Forderungen stellt und keinen Platz für die Differenzierung der Handlungen lässt, derer das menschliche Leben bedarf. Diese klassischen und miteinander unvereinbaren Einwände richten sich gegen den angeblich leeren ‚Formalismus‘ und den unsensiblen ‚Rigorismus‘ (siehe O’Neill, 1989, 2. Teil). Kantische Konzeptionen der praktischen Vernunft haben sich in letzter Zeit in zwei getrennten Textgruppen entwickelt. Einige kehrten zu Kant zurück, um nach plausibleren Interpretationen der Vorgehensweisen zu suchen, durch die seine Konzeption der praktischen Vernunft die Handlung anleiten könnte (siehe O’Neill, 1989, 2. Teil), und um seine sehr eigene Rechtfertigung der praktischen Vernunft auszuführen (siehe O’Neill, 1989, 1. Teil). Andere boten eine ganze Reihe zeitgenössischer Interpretationen der Idee an, dass das grundlegende Merkmal der praktischen Vernunft ihre Fähigkeit zur Öffentlichkeit sei (siehe Rawls, 1993). 6. Andere Aspekte der praktischen Vernunft Nur mehr sehr wenige Darstellungen der praktischen Vernunft behaupten, eine umfassen Anleitung für das Handeln bieten zu können. Eine Ausnahme hiervon mögen gewisse utilitaristische Fassungen der subjektiv-zweckorientierten Vernunft sein, die offenbar alles auf Berechnungen reduzieren. Die meisten Autoren bestehen dagegen darauf, dass gutes praktisches Denken mit sorgfältiger empirischer Vernunft verknüpft sein muss, und dass es auch eines Urteils bedarf, um die spezifische Art und Weise zu bestimmen, auf die ein Zweck verfolgt oder eine Norm oder ein Prinzip instantiiert werden sollte (siehe Moralisches Urteil). Es wird allgemein akzeptiert – und wurde sowohl von Kant, als auch von Wittgenstein betont –, dass Regeln keine Anweisungen ihrer eigenen Anwendung enthalten können, sondern durch ein Urteil ergänzt werden müssen. Das wirkliche Leben beruft sich auf die 1477
Primär-Sekundär-Unterscheidung (von Qualitäten)
instrumentelle Vernunft, auf sozial definierte Normen und auf abstrakte Prinzipien, die allesamt unvermeidlich in gewissem Umfange unbestimmt sind und durch das konkrete Urteil gestärkt werden müssen. Praktische Vernunft ist immer eine Aufgabe und kein automatischer Prozess, und es gibt deshalb viele Weisen, auf die sie scheitern kann. Einige dieser Fehler sind kognitiver Art, z.B. infolge fehlerhafter Auffassungen über kausale Verknüpfungen oder Risiken; andere wieder sind eng mit Fragen über Beweggründe verbunden. Einige zentrale Formen des Versagens in der praktischen Vernunft sind Gegenstand besonders ausgedehnter Untersuchungen gewesen, siehe Akrasie. Siehe auch: Guten, Theorien des Anmerkungen und weitere Lektüre: O’Neill, O. (1989): ‚Constructions of Reason: Explorations of Kant’s Practical Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Texte zu Kants Rechtfertigung der Vernunft und über Muster des ethischen Denkens, die vom Kategorischen Imperativ ausgehen.) Rawls, J. (1993): ‚Political Liberalism‘. New York: Columbia University Press. (Eine Neuformulierung seiner früheren politischen Philosophie, die auf einer Konzeption der öffentlichen Vernunft basiert.) ONORA O’Neill
Primär-Sekundär-Unterscheidung (von Qualitäten)
Die Ausdrücke ‚primäre‘ und ‚sekundäre‘ Qualitäten tauchen in den Schriften von John Locke auf. Sie drücken eine Haltung gegenüber dem Wesen der Sinnesqualitäten aus, die wir den physischen Gegenständen als Ergebnis der Wahrnehmungen zuschreiben, die sie hervorrufen, wenn sie richtig von uns aufgenommen werden. Da unsere Sinne durch die Wahrnehmungsart voneinander unterschieden werden können, die sie hervorrufen, sind die Sinnesqualitäten das, was Aristoteles als das ‚eigentlich Empfundene‘ bezeichnete, nämlich jene Wahrnehmungen, die jeweils nur durch ein Sinnesorgan wahrgenommen werden. Farben, Klänge, Düfte und Geschmäcker werden immer als den Sinnen eigen aufgefasst, von denen sie empfunden werden. Was das Eigentliche der Berührung ist, und ob es eine ähnliche Familie von Sinneswahrnehmungen gibt, denen sie zugehören, ist strittig. Aber zumindest die Temperatur wird normalerweise als eine eigene Sinnesqualität in diesem Sinne aufgefasst. Solche Sinnesqualitäten sind die Kandidaten für eine Einstufung als ‚sekundäre‘ Qualitäten. Sinnesqualitäten als sekundär aufzufassen heißt zu behaupten, dass ein Gegenstand, der eine solche Qualität besitzt, nur die Neigung (Disposition) aufweist, einen bestimmten Typ von Sinneswahrnehmung hervorzurufen, wenn er wahrgenommen wird. Der Gegenstand selbst besitzt keine sinnlichen Qualitäten. Die primären Qualitäten sind im Gegensatz dazu diejenigen, die das fundamentale Wesen der physischen Welt, wie sie an sich selbst beschaffen ist, wiedergeben. Dies umfasst die geometrischen Attribute der Gegenstände, und auch ihr Merkmal der Besetzung eines bestimmten Raumausschnitts. Lockes Hauptkandidat für die primäre Sinnesqualität war die Festigkeit von Gegenständen. Obwohl die Terminologie aus dem 17. Jahrhundert stammt, geht die zugrunde liegende Lehre doch bereits zurück bis auf den griechischen Atomismus. Siehe auch: Qualia A.D. SMITH 1478
Prior, Arthur Normann (1914-1969)
Prior, Arthur Norman (1914–1969)
Arthur Prior wird die Erfindung der Zeitlogik (engl.: tense logic) zugeschrieben. Die Zeitlogik untersucht Operatoren wie ‚Es wird der Fall sein, dass‘ auf die Art und Weise, wie die Modallogik Operatoren wie ‚Es muss der Fall sein, dass‘ untersucht. Sein erstes Buch befasste sich allerdings mit der Ethik, und seine Auffassungen über metaphysische Dinge wie z.B. den Determinismus, das Denken, die Intentionalität, die Veränderung, Ereignisse, das Wesen der Zeit, die Existenz, die Identität und die Wahrheit sind auch zentrale Fragen der Philosophie. Indem er Methoden anwendet, die denen von Russell in seiner Theorie der Beschreibungen ähneln, zeigte Prior, dass die Zeiten, Ereignisse, Tatsachen, Aussagen und möglichen Welten allesamt logische Konstruktionen sind. Beispielsweise brauchen wir nach seiner Auffassung nicht mehr von Ereignissen zu sprechen, wenn wir unter anderem anerkennen, dass die Rede, derzufolge das Ereignis der Überquerung des Rubicons durch Cäsar zeitlich nach dem Ereignis des Einmarschs Cäsars in Britannien stattfand, bedeutet, dass es sowohl der Fall sei, dass Cäsar den Rubicon überquert (Präsens), als auch der Fall gewesen sei, dass Cäsar in Britannien einmarschiert sei (Perfekt). Der Titel des posthum veröffentlichten Werks ‚Worlds, Times and Selves‘ (1977) zeigt die Breite und Tiefe seines Denkens. Prior starb im Alter von vierundfünfzig Jahre auf der Höhe seiner intellektuellen Kraft. Siehe auch: De re / de dicto, Zeitform und Zeitlogik C.J.F. WILLIAMS
Privatheit
Die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich ist nicht nur eine zentrale im rechtlichen und politischen Denken, sondern auch Gegenstand ernsthafter Infragestellung aus philosophischer, praktischer und politischer Perspektive durch Kritiker des status quo. Die Privatheit, d.h. der Zustand des Zurückgezogenseins von der Welt, die Abgeschirmtheit vor der öffentlichen Aufmerksamkeit und Störung, ist ein geschätzter sozialer Wert, der ständig größerer Schutz zuteil wird. Es ist in steigendem Umfange erforderlich, dass Menschen die Privatheit anderer Menschen respektieren; die Privatheit ist als ein Grundrecht in internationalen Abkommen und nationalen Verfassungen verankert, und die heutigen Gebräuche und sozialen Normen verbieten ein Eindringen darin, das vormals akzeptiert war. Der Begriff der Privatheit wird aber auch stark missbraucht. Er wurde zur Rechtfertigung privater Rassendiskriminierung und der staatlichen Ignoranz gegenüber häuslicher Gewalt verwendet, sowie zur Abdankung des sozialen Wohlfahrtssystems im Zuge einer laissez-faire-Politik in manchen modernen Industriestaaten durch die so genannte Privatisierung sozialer Einrichtungen. Die Kritik der Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre ist ein wichtiger Teil vieler gesellschaftskritischer Theorien, speziell des Feminismus und der kritischen Rechtstheorie. Diese Kritiken wenden ein, dass die Unterscheidung von privat und öffentlich übertrieben, manipulierbar und inkohärent sei. FRANCES OLSEN
Privat und öffentlich
Siehe: Privatheit; Private Zustände und Sprache; Privatsprache, Argument der
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Private Zustände und Sprache
Private Zustände und Sprache
Etwas ist ‚privat‘, wenn es nur einer einzigen Person bekannt sein kann. Viele behaupteten, dass die Wahrnehmungen und die körperlichen Empfindungen in diesem Sinne privat seien, weil sie nur durch die Person gewusst werden können, die sie erfahren hat. Wir mögen wissen, wird oft gesagt, dass wir beide dieselbe Sache ‚grün‘ nennen; ob sie für uns beide aber wirklich gleich ausschaut, ist nicht mitteilbar. Hinsichtlich der Beziehung zwischen privaten Zuständen und der Sprache ergaben sich hauptsächlich zwei Fragen: (1) Kann es eine ‚private Sprache‘ geben, d.h. eine Sprache, in der eine Person nur mit sich selbst kommuniziert, oder sich in ihr etwas nur für eigene Zwecke merkt, z.B. Informationen über ihre eigenen privaten Zustände? Eine solche Sprache wäre grundsätzlich für andere Menschen unverständlich, die nicht das Wesen der Ereignisse kennen, die durch sie erfasst werden. Diese Frage wird vor allem mit Ludwig Wittgenstein in Zusammenhang gebracht. (2) Kann das Wesen unserer privaten Zustände eine Wirkung auf die Bedeutung von Ausdrücken der öffentlichen Sprache haben, d.h. auf die Sprache, die wir zur Kommunikation untereinander verwenden? Oder muss alles, was die Bedeutung von Ausdrücken der öffentlichen Sprache berührt, etwas sein, was selbst öffentlich ist und damit grundsätzlich für jedermann erkennbar sein? Michael Dummett hat hierzu vorgetragen, dass wir die zweite der beiden Alternativen akzeptieren müssen, und dass dies weitreichende Konsequenzen für die Logik und die Metaphysik habe. Siehe auch: Intuitionistische Logik und Antirealismus; Privatsprache, Argument der
EDWARD CRAIG
Privatsprache, Argument der
Ludwig Wittgenstein argumentierte in seinem 1953 erschienenen Buch ‚Philosophische Untersuchungen‘ gegen die Möglichkeit einer privaten Sprache. Dort wird der Ausdruck in § 243 umrissen: „Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen.“ Die angegriffene Idee ist also jene einer Sprache, die grundsätzlich für nur eine einzige Person verständlich ist, weil die Dinge, die ihr Vokabular definieren, anderen Menschen notwendig unzugänglich sind. Fälle eines persönlichen Übersetzungscodes, wodurch dem öffentlichen Unverständnis abgeholfen werden könnte, sind somit irrelevant. Wittgensteins Angriff, der heute als das ‚Privatsprachenargument‘ bekannt ist (obwohl er nur eine von vielen Überlegungen zu diesem Punkte entwickelt), ist wichtig, weil die Möglichkeit einer privaten Sprache womöglich die unausgesprochene Voraussetzung der überwiegend vertretenen Erkenntnistheorie, Metaphysik und Philosophie des Geistes von Descartes an bis hinauf in die Kognitionswissenschaften des späten 20. Jahrhunderts ist. Das Wesen des Arguments ist einfach. Es besagt, dass eine Sprache, die im Prinzip niemandem bis auf ihren Verwender einsehbar ist, auch ihrem Verwender selbst uneinsehbar sein müsse, weil ihren Zeichen keine Bedeutung zugeordnet werden kann. Wegen der Schwierigkeit des Wittgensteinschen Texts und der Tendenz der Philosophen, in diese Texte ihre eigenen Belange und Annahmen hineinzulesen,
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Projektivismus
kam es aber zu einem fundamentalen Zwist über die Einzelheiten, die Bedeutsamkeit und sogar über die beabsichtigten Schlussfolgerungen dieses Arguments. Einige, die meinen, es sei offenkundig, dass die Empfindungen privat seien, gingen davon aus, dass das Argument zeigen solle, dass wir nicht über die Empfindungen reden können; andere meinten, dass es Wittgenstein dem Behaviorismus verpflichten würde; wieder andere dachten, dass das Argument, sich selbst widerlegend, auch den öffentlichen Diskurs verachte; und schließlich meinten einige, dass seine Schlussfolgerung dahin gehe, dass die Sprache notwendig und in einem starken Sinne sozial sei, d.h. nicht nur potenziell, sondern wirklich. Ein großer Teil der Sekundärliteratur, insbesondere der älteren, widmet sich Diskussionen über diese Fragen. Darüber hinaus hat eine Darstellung des Arguments durch den einflussreichen amerikanischen Philosophen Saul A. Kripke eine halb selbstständige Diskussion zum Thema hervorgerufen. Aber Kripkes Version setzt ein bedeutsames Abweichen vom Originaltext voraus und beruht auf unbewiesenen Voraussetzungen einer Art, die Wittgenstein in seiner eigenen Behandlung der Frage zurückgewiesen hat. Siehe auch: Bewusstsein; Kripke, S.A.; Kriterium; Wittgenstein, L.J.J. STEWART CANDLISH
Problem des Bösen
Siehe: Bösen, Problem des
Projektivismus
Der englische Ausdruck ‚projectivism‘, zu deutsch ‚Projektivismus‘, wird von angloamerikanischen philosophischen Schulen (und nur mit Verweis auf diese auch von deutschsprachigen Philosophen) verwendet, die sich auf Humes Ansicht beziehen, dass der Geist eine große Neigung dahingehend habe, sich über die Welt zu verbreiten, d.h. das, was in Wirklichkeit ein Aspekt unserer eigenen Erfahrung oder unserer eigenen mentalen Organisation ist, so zu behandeln, als sei es ein Merkmal der objektiven Ordnung der Dinge. Solche Philosophien unterscheiden zwischen der Natur, wie sie wirklich ist, und der Natur, wie wir sie als seiend erfahren. Die Art und Weise, wie wir sie als seiend erfahren, wird dabei als etwas beschrieben, was teilweise ein Reflex auf etwas oder eine Projektion unserer eigenen Natur ist. Die Projektivisten könnten als ihr Motto nennen: ‚Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters‘, und sie versuchen diese Idee zu kultivieren und ihre Folgerungen zu erforschen. Das Thema ist eine Konstante in den Argumenten der griechischen Skeptiker und wird in der Neuzeit fast zur orthodoxen Auffassung. Bei Hume ist es nicht nur die Schönheit, die im Auge (oder Geist) des Betrachters liegt, sondern auch die Tugend und die Vorstellung von der Verursachung. Bei Kant ist die gesamte raumzeitliche Ordnung nicht von der Natur abgelesen, sondern sie ist in die Natur als Reflex der Organisation unseres Geistes hineingelesen. Im 20. Jahrhundert waren es besonders die nicht-kognitivistischen und expressivistischen Theorien der Ethik, die diese Metapher in Anspruch nahmen, derzufolge es recht einfach sei zu sehen, wie wir zahlreiche Empfindungen und Einstellungen auf ihre auslösenden Gegenstände projizieren oder externalisieren. Und sogar die Begriffe der Verursachung, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit, die Haltungen, die wir gegenüber anderen als Personen einnehmen, ja sogar die zeitliche Ordnung von Ereignissen und die Ein-
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Prolēpsis
fachheit wissenschaftlicher Theorien wurden bereits als Kandidaten einer projektiven Behandlung ins Auge gefasst. Siehe auch: Relativismus SIMON BLACKBURN
Prolēpsis
In der voraristotelischen, griechischen Philosophie bezeichnet der Ausdruck prolēpsis (Plural: prolēpseis, von gr.: prolambanein = ‚vorwegnehmen‘) eine rhetorische Figur, bei der ein Einwand auf eine Behauptung in der nämlichen Rede vorweggenommen und entkräftet wird, noch bevor er vom Gegner angeführt wurde. In der nacharistotelischen, griechischen Philosophie wurde der Ausdruck prolēpsis zuerst von Epikur, und dann von den Stoikern verwendet, um damit auf grundlegende, d.h. vortheoretisch-allgemeine Vorstellungen zu verweisen. Diese proleptischen Vorstellungen wurden als die Vorbedingung des rationalen Denkens und der Sprache aufgefasst. Die Epikuräer und Stoiker waren überwiegend davon überzeugt, dass die prolēpsis aus dem Fundus der individuellen Erfahrung hervorgeht. Siehe auch: Angeborene, Das; Angeborene in der griechischen Philosophie, Das; Begriffe; Epikuräismus; Nativismus; Stoizismus DOMINIC SCOTT
Pronomen
Siehe: Anaphora
Propositionale7 Einstellungen
Beispiele der propositionalen Einstellungen umfassen die Überzeugung, dass Schnee weiß sei; die Hoffnung, dass der Mount Rosea (ein beliebter Fels für Klettersportler in Australien) 18 km hoch sein möge, um noch lustvoller auf ihm klettern zu können; den Wunsch, dass es zu Weihnachten Schnee geben sollte; die Absicht, Weihnachten im Schnee zu verbringen; und die Angst, dass man dort im Schnee von einer Lawine getötet wird. Wie diese Beispiele zeigen, können wir Arten von Einstellungen, z.B. Überzeugung, Wunsch, Absicht, Angst etc., vom Inhalt der Einstellung unterscheiden, dass nämlich Schnee weiß ist, dass es zu Weihnachten Schnee geben wird, in den Schnee gehen zu wollen etc. Der Ausdruck ‚propositionale Einstellungen‘ stammt von Bertrand Russell und leitet sich von der Tatsache ab, dass wir uns den Inhalt einer Einstellung als die Aussage denken, auf die sich die Einstellung richtet. Man erfasst sie typischerweise durch einen Satz mit der Einleitung ‚…, dass…‘, auch wenn dies manchmal zu Lasten einer gewissen sprachlichen LeichtigDer englische Ausdruck proposition bedarf einer einführenden Erläuterung, da er in diesem Beitrag eine prominente Rolle spielt und im Deutschen häufig gar nicht übersetzt wird. Rein lexikalisch wäre proposition mit ‚Aussage‘ zu übersetzen. Dies ist zwar nicht falsch, allerdings unter Umständen sehr ungenau, weil dadurch nicht der Unterschied von proposition zu Begriffen wie z.B. dem statement zum Ausdruck kommt. Herrn Prof. Dr. Hermann Schmitz, Kiel, verdanke ich die folgende Klärung der spezifisch sprachphilosophischen Rolle dieses Ausdrucks: „Proposition ist der Sinn eines Satzes ohne okkasionelle [umstandsbedingte] Ausdrücke, z.B. ‚Schnee ist weiß‘, und statement der Sinn eines Satzes mit solchen [Ausdrücken], z.B. ‚Heute ist schönes Wetter‘. Im ersteren Fall kann der Wahrheitswert den types, im zweiten muss er den token zugeordnet werden.“ [Brief an den Übersetzer v. 12.02.2005]. Die propositional attitude, zu deutsch ‚Propositionale Einstellung‘, geht über diese an sich schon komplizierte Begrifflichkeit noch hinaus, insofern zur Grundbedeutung der proposition noch die dazugehörige attitude hinzukommt. Diese Begriffskonstruktion ist also der Gegenstand des vorstehenden Beitrags. [WS] 7
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Propositionale Einstellungen
keit geht. Es ist z.B. selbstverständlicher, von der Absicht des Schneespaziergangs zu sprechen, als von der Absicht, dass jemand im Schnee läuft. Die am häufigsten diskutierten Arten propositionaler Einstellungen sind die Überzeugung, der Wunsch und die Absicht, aber es gibt noch zahllose weitere: Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Bedauern etc. Einige Sätze, die Verben propositionaler Einstellungen enthalten – meinen, glauben, wünschen, beabsichtigen etc. – schreiben gar keine propositionalen Einstellungen zu. Beispiele hierfür sind: ‚Johannes glaubt mir‘, ‚Maria fürchtet ihren Hund‘ und ‚Er beabsichtigt nichts Böses‘. Trotzdem, auch wenn diese Sätze in der genannten Gestalt keine propositionalen Einstellungen zuschreiben, wäre es doch vertretbar – auch wenn nicht alle Philosophen hier zustimmen würden – dass sie immer als propositionale Einstellungszuschreibungen aufgeschlüsselt werden können. So könnte man beispielsweise sagen: ‚Johannes schenkt mir genau in dem Falle Glauben, wenn es ein p gibt, und zwar dergestalt, dass Johannes glaubt, dass p, weil ich ihm erzähle, dass p.‘ Oder: ‚Maria fürchtet ihren Hund genau in dem Falle, dass ihr Hund x tut.‘ Und so fort. Diskussionen der propositionalen Einstellungen konzentrieren sich typischerweise auf die Überzeugung und den Wunsch, und manchmal auch auf die Absicht, weil diese Einstellungen eine zentrale Rolle bei der Erklärung des rationalen Verhaltens spielen: Marias Besuch im Supermarkt erklärt sich durch ihren Wunsch, ein paar Lebensmittel zu kaufen und ihre Überzeugung, dass sie Lebensmittel im Supermarkt kaufen kann. Heinrichs Betätigung des Lichtschalters erklärt sich durch seinen Wunsch, den Raum zu erleuchten und seine Überzeugung, dass er den Raum durch eine Betätigung des Schalters erleuchten kann, etc. Es ist plausibel, wenn auch nicht unstrittig, zu meinen, dass das rationale Verhalten immer als das Ergebnis einer geeigneten Überzeugung zusammen mit einem entsprechenden Wunsch aufgefasst werden kann. Einige Philosophen, z.B. Grice und Schiffer, haben den Ausdruck der ‚propositionalen Einstellung‘ zur Erklärung von Bedeutungstatsachen verwendet. Sie meinen, dass sich die Bedeutung eines Satzes irgendwie von den Inhalten der damit auf relevante Weise verbundenen Überzeugungen und Intentionen ableite. Grob gesagt erfasst man das, was ich mit dem Satz S sage, durch den Inhalt beispielsweise der Überzeugung, die ich dadurch ausdrücke, dass ich S sage. Eine fundamentale Frage, die die Philosophen entzweit, betrifft den ontologischen Status der propositionalen Einstellungen und ihrer Inhalte. Es ist klar, dass wir starken Gebrauch von Zuschreibungen propositionaler Einstellungen machen, wenn wir die unsrige und die Handlungen anderer Menschen erklären und interpretieren. Aber sollten wir auch denken, dass wir bei der Hervorbringung solcher Zuschreibungen versuchen, die Wahrheit zu sagen, d.h. sollten wir denken, dass propositionale Einstellungen wahrheitsfähig sind, oder sollten wir in ihrer Verwendung irgendeinen anderen Zweck sehen, z.B. eine inszenierte Projektion? Oder sollten wir, noch radikaler, denken, dass die Rede von der propositionalen Einstellung nichts als Irrtum und Verwirrung ist, wie sie sich auch in der modernen Wissenschaft und Neurophysiologie äußert? Siehe auch: Alltagspsychologie; Handlung; Intention; Kommunikation und Intention; Wunsch GRAHAM OPPY
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Prozesse
Prozesse
Ein Prozess ist der Verlauf einer Veränderung mit einer Richtung und einer inneren Ordnung, wobei jeweils eine Stufe zur nächsten führt. Prozesse können physischer (wie z.B. der atomare Zerfall), biologischer (wie z.B. das Wachstum eines lebendigen Wesens), künstlicher (wie z.B. der Bau eines Hauses) und sozialer Natur (wie z.B. die Durchführung einer strafrechtlichen Untersuchung) sein. Vieles von dem, was über Prozesse gesagt wurde, kann auch über Ereignisfolgen gesagt werden. Der Begriff des Ereignisses legt jedoch das gesonderte Auftreten von etwas nahe, während der Begriff des Prozesses sich auf etwas bezieht, was einfach im Gange ist. Es gibt Sachverhalte wie z.B. die Entwicklung von Organismen, wo die Wahrnehmung dessen, was als Teil eines Prozesses geschieht, vorteilhaft ist gegenüber der Auffassung davon als einem statischen Ereignis. Von Ursachen redet man allgemein als Ereignissen, aber der dynamischere Begriff des Kausalprozesses kommt vielleicht dem Übergang zwischen Ursache und Wirkung näher. Ferner kann die Erklärung von etwas als einer Stufe in einem Prozess nicht nur berücksichtigen, was in der Vergangenheit passiert ist, sondern auch was künftig noch geschehen wird. Dies kann, muss allerdings nicht, auch Zwecke beinhalten; bei den Organismen umfasst dies auch ihre Entwicklung im Wege funktional wechselseitig bezogener Tätigkeiten. In einigen sozialen Prozessen kann eine praktische und moralische Bedeutung in der Auffassung einer Situation als einer Stufe eines Prozesses liegen, denn dies kann uns ermutigen, auf eine weitere Stufe hin Ausschau zu halten, wenn dabei etwas Konstruktives entstehen kann, was ansonsten nur als ein widriges Ereignis oder gar als eine unglückselige Situation betrachtet würde. Anmerkungen und weitere Lektüre: Sohst, W. (2009): ‚Prozessontologie. Ein systematischer Entwurf der Entstehung von Existenz‘. Berlin: xenomoi Verlag. Siehe auch: Ereignisse; Prozessphilosophie; Prozesstheismus; Veränderung; Verursachung; Wandel DOROTHY EMMET
Prozessphilosophie
Im weiten Sinne des Ausdrucks ‚Prozessphilosophie‘ verweist dieser auf alle Weltsichten, die behaupten, dass der Prozess oder das Werden grundlegender sei als das unveränderliche Sein. Beispielsweise enthält eine Anthologie mit dem Titel ‚Philosophers of Process‘ aus dem Jahre 1965 eine Auswahl der Werke von Samuel Alexander, Henri Bergson, John Dewey, William James, Lloyd Morgan, Charles Sanders Peirce und Alfred North Whitehead, zusammen mit einer Einführung von Charles Hartshorne. Einige solcher Aufzählungen rechnen auch Hegel und Heraklit dazu. Der Ausdruck ‚Prozessphilosophie‘ wird inzwischen allerdings weitgehend zur Bezeichnungen einer Bewegung verwendet, die von Whitehead aus der Taufe gehoben und von Harthorne erweitert wurde. Innerhalb dieser Bewegung wird die Prozessphilosophie im engeren Sinne behandelt. Die Prozessphilosophen meinen, dass es die zentrale Aufgabe der Philosophie sei, eine metaphysische Kosmologie zu entwickeln, die in sich konsistent ist und allen erfahrenen Tatsachen entspricht. Um in dieser Weise angemessen zu sein, kann sie nicht allein auf die Naturwissenschaften beruhen, sondern muss gleiches Gewicht auch auf die ästhetischen, ethischen und religiösen Intuitionen legen. Die 1484
Prozesstheismus
hauptsächliche Bedeutung der Philosophie leitet sich in der Tat aus ihrer Integration von Wissenschaft und Religion in ein rationales Denkschema ab. Diese Integration ist jedoch unmöglich, solange nicht Übertreibungen auf beiden Seiten überwunden werden. Auf der Seite der Wissenschaft stellt sich die auffälligste Übertreibung in der Gestalt des ‚wissenschaftlichen Materialismus‘ und der ‚sensualistischen‘ Lehre der Wahrnehmung dar. Auf der Seite der Religion ist die auffälligste Übertreibung schon immer die Idee der göttlichen Allmacht und Allwissenheit gewesen. Die Prozessphilosophie ersetzt diese Ideen durch eine ‚allerfahrbare‘ Ontologie, d.h. eine Lehre der Wahrnehmung, in der das nichtsinnliche Erfassen (im Englischen durch den Neologismus ‚prehension‘ bezeichnet) grundlegend ist, sowie eine Lehre der göttlichen Macht, die eher durchdringend als zwingend sein soll. Siehe auch: Prozesstheismus; Prozess Anmerkungen und weitere Lektüre: Sohst, W. (2009): ‚Prozessontologie. Ein systematischer Entwurf der Entstehung von Existenz‘. Berlin: xenomoi Verlag. DAVID RAY GRIFFIN
Prozesstheismus
Der Prozesstheismus ist eine Schule des theologischen Denkens im 20. Jahrhundert, die ein nichtklassisches Verständnis der Beziehung zwischen Gott und der Welt anbietet. Die klassischen christlichen Theisten bestehen darauf, dass Gott die Welt aus dem Nichts schuf, und dass Gott nicht nur einseitig in irdische Affären eingreifen kann, sondern dies auch tut. Die Prozesstheisten glauben dagegen, dass Gott und das zugrunde liegende Materielle, aus dem der Rest der Wirklichkeit zusammengesetzt ist, gleichermaßen ewig seien. Darüber hinaus glauben die Prozesstheisten, dass alle aktuellen Entitäten immer über einen gewissen Grad von Selbstbestimmung verfügen. Gott, so meinen sie, biete jeder wirklichen Entität zu jedem Zeitpunkt den jeweils besten verfügbaren Handlungsverlauf an. Und jede Entität fühle einen gewissen Zwang, in Übereinstimmung mit diesem göttlichen Lockmittel zu handeln. Die Prozesstheisten bestreiten allerdings, dass Gott die Fähigkeit zur einseitigen Kontrolle der Tätigkeiten einer jeden Entität besäße. Daher sei das, was in Beziehung zu jedem Aspekt der Wirklichkeit geschehe, an dem eine Mehrheit von Entitäten beteiligt sei – beispielsweise was in Beziehung auf jeden irdischen Sachverhalt geschehe – immer eine kooperative Bemühung. Dieses Verständnis der Beziehung von Gott und der Welt hat bedeutsame theologische Auswirkungen. Zum Beispiel sieht sich die Prozesstheologie, während die ‚klassischen‘ Christen immer erklären müssen, warum Gott nicht häufiger einseitig einschreitet, um schreckliche Übel zu verhindern, keiner solchen Herausforderung ausgesetzt, denn der Gott des theologischen Prozessdenkens kann einseitig gar keine irdischen Sachverhalte kontrollieren. Während die ‚klassischen‘ Christen meinen, Gott greife von Zeit zu Zeit einseitig in unsere Welt vor allem deshalb ein, weil die göttliche Hilfe angefordert worden sei, bestreiten die Prozesstheisten auf der anderen Seite, dass Gott in diesem Sinne wirksam um Hilfe gebeten werden kann, denn sie glauben, dass Gott bereits alle Aspekte der Wirklichkeit im größtmöglichen Umfange beeinflusst, so dass ihm auch nach seiner flehentlichen Anrufung diesbezüglich leider nicht mehr möglich sei. Während die meisten christlichen Theisten glauben, dass Gott zu irgendeinem Zeitpunkt unsere aktuelle Existenzform been1485
Proudhon, Pierre-Joseph (1809–1865)
digen wird, meinen die Prozesstheisten darüber hinaus, dass derselbe ‚ko-kreative‘ Prozess, der gerade stattfindet, sich auf ewig fortsetzen bzw. wiederholen wird. Nicht jedermann findet die prozesstheologische Darstellung der Beziehung von Gott und Welt überzeugend oder gar anziehend. Aber nur wenige leugnen andererseits, dass der Prozesstheismus inzwischen zu einer bedeutenden Kraft in der modernen, vor allem amerikanischen Theologie geworden ist. Siehe auch: Naturtheologie; Prozessphilosophie DAVID BASINGER
Proudhon, Pierre-Joseph (1809–1865)
Pierre-Joseph Proudhon war ein französischer Sozialtheoretiker, politischer Aktivist und Journalist. Er beanspruchte für sich, die erste Person gewesen zu sein, die die Bezeichnung ‚Anarchist‘ auf sich anwandte. Er entwickelte die Vision einer kooperativen Gesellschaft, die ihre Angelegenheiten durch gerechten Tausch und ohne politische Autorität regelt. Während seiner Lebenszeit übte er bemerkenswerten Einfluss sowohl auf die militanten Kräfte, als auch auf die Theoretiker der europäischen Linken aus, und man erinnert sich seiner heute als einem der großen Exponenten des libertären Sozialismus. Seine letzten Schriften vertreten, auch wenn sie noch stark libertär geprägt sind, dennoch einen föderalen Staat mit minimalen Funktionen. Siehe auch: Anarchismus; Freiheit; Eigentum; Sozialismus RICHARD VERNON
Psychē
Konventionell wird das altgriechische Wort psychē mit ‚Seele‘ übersetzt. Es war im klassischen Griechenland der Standardausdruck zur Bezeichnung des Zentrums eines tierischen, und speziell auch eines menschlichen Seins und meint damit ‚Leben‘. In seiner frühesten Verwendung bei Homer ist psychē ein atemartiges Material, das über den Tod hinaus als reiner Geist besteht. Seine präzise Bedeutung als der Ort der Gedanken und Gefühle entwickelte sich unter dem Einfluss der Philosophie. Vom Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. an wurde es üblich, psychē in ein Wortpaar mit soma (dt.: ‚Körper‘) zu stellen und diesem als Gegensatz gegenüberzustellen. Diese Ausdrucksweise erzeugte komplizierte Diskussionen. Die dabei wichtigsten Fragen lauten unter anderem: Ist die psychē unsterblich? Ist sie körperlich oder unkörperlich? Was sind ihre Teile oder Funktionen? Siehe auch: Anaximenes; Demokrit; Neuplatonismus; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der; Thales A.A. LONG
Psychoanalyse, Methodische Fragen der
Die Philosophen haben die Psychoanalyse mit einem ungewöhnlichen methodischen Aufwand sehr genau untersucht, und zwar aus zahlreichen, untereinander verknüpften Gründen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Freudschen Texte offenbart eine sehr magere Beweislage: es gibt überhaupt nur elf ‚Fallgeschichten‘ einschließlich jener, die zusammen mit Breuer veröffentlicht wurden. Auf der anderen Seite beanspruchen die theoretischen Behauptungen eine sehr breite Geltung: alle Psychopathologien können angeblich auf die unterdrückte Sexualität zurückgeführt werden. Ferner verachteten Freud und seine Anhänger die ganz überwiegend akzep1486
Psychoanalyse, nach-freudianische
tierten Mittel bei der Aufstellung von Theorien, nämlich deren experimentelle Bestätigung, und erlaubten sich gleichzeitig die Berufung auf so offenkundig dubiose Quellen wie Trauminterpretationen, die Literatur und ‚den Alltag‘. Diese Faktoren ergeben zusammen genommen das Bild einer ‚Wissenschaft‘, die eine enorme Kluft zwischen Theorie und Beweis aufzeigt, und die bislang nicht mit soliden Daten gefüllt wurde und auch gar nicht gefüllt werden kann. Die zentrale methodische Frage zur Psychoanalyse lautet, ob es jetzt oder jemals Evidenzen zum Nachweis ihrer Wahrheit gab. Popper verwarf die Psychoanalyse als Wissenschaft, weil kein Beweis möglich sei, der ihre Wahrheit zu prüfen vermag. In jüngerer Zeit hat Grünbaum eingewandt, dass es ernsthafte logische Schwierigkeiten bei der Berufung auf Behandlungen als Beweis der Theoriewahrheit gibt. Grünbaum und andere haben sowohl die Traumdeutungstheorie, als auch die Verwendung von Trauminterpretationen als Beweis angegriffen. Sulloway und Kitcher wandten ein, dass zahlreiche Dogmen der Psychoanalyse im wissenschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts konstruiert seien, insbesondere gewisse Aspekte der Darwinschen Biologie, und dass diese Schlüsselargumente durch nachfolgende wissenschaftliche Entwicklungen überholt seien. Eysenck und Wilson haben die experimentellen Ergebnisse geprüft, die zur Unterstützung einer Reihe von Behauptungen der Psychoanalyse vorgelegt wurden, und wiesen diese als untauglich zurück, um irgendeine spezifische psychoanalytische Behauptung zu festigen. Im Gegensatz dazu haben Glymour und andere erklärt, wie selbst Einzelfallgeschichten einen Beweis zugunsten der Psychoanalyse darstellen können. Andere Philosophen wandten wiederum ein, dass die Psychoanalyse mit der ‚Alltagspsychologie‘ einhergehe und durch die fortgesetzte Bestätigung der wesentlichen Richtigkeit alltäglicher psychologischer Voraussagen und Erklärungen gestützt werde. Siehe auch: Freud, S.; Psychoanalyse, nach-freudianische; Unbewusste geistige Zustände PATRICIA KITCHER
Psychoanalyse, nach-freudianische
Die Grundbegriffe der Psychoanalyse gehen auf Sigmund Freud zurück. Nach der Formulierung der Psychoanalyse arbeitete Freud in Wien, bis er und andere Analytiker vor den Nazi-Besatzern flüchteten. Die nach-freudianische Psychoanalyse hat sich in unterschiedlichen Ländern auf jeweils bestimmte Weise entwickelt, oft als Reaktion auf einflussreiche Analytiker, die sich dort niederließen. Freuds Patienten waren hauptsächlich Erwachsene, die unter neurotischen, d.h. nicht unter psychotischen Störungen litten. Er meinte herausgefunden zu haben, dass die Wurzeln ihrer psychologischen Schwierigkeiten im Widerstreit von Hass und Liebe lägen, der von sehr ungleichartigen, oft fantastischen Bildern herrühre, die ihrerseits auf dieselbe Elternfigur zurückgingen. Diese Bilder würden die grundlegende Darstellung des Selbst und des Anderen liefern, geformt durch Projektionsvorgänge (Repräsentation des Anderen über ein Bild des Selbst) und durch Introjektion (Repräsentation des Selbst über Bilder des Anderen). Das verinnerlichte Bild eines Elternteils könne zur Darstellung des Selbst als etwas verwendet werden, das zu einer bestimmten Version des Anderen in Beziehung stehe, wie z.B. bei der Entstehung des strafenden Über-Ichs, oder beim Anderen durch die Identifikation dieses Anderen mit dem Elternteil desselben Geschlechts, wodurch der Ödipuskomplex aufgelöst werden solle. 1487
Pufendorf, Samuel (1632–1694)
Spätere Analytiker einschließlich Anna Freud und Melanie Klein beobachteten, dass das unbehinderte Kinderspiel als der Ausdruck der Fantasien, die mit diesen Bildern einhergehen, verstanden werden könne, und zwar oft mit verblüffender Klarheit. Dies machte es möglich, Kinder zu analysieren und zu sehen, dass ihre Darstellungen des Selbst normalerweise mit fantastischen Repräsentationen Anderer einhergehen, wobei beide innerhalb eines systematisch wechselwirkenden Systems von Gut und Böse eingebunden seien. Emotionale Störungen sind durch eine fantastische Welt gekennzeichnet, in der das Selbst und idealisierte gute Figuren im Kampf mit hassenswerten bösen Objekten verstrickt sind, ungemildert durch die Sinngebilde, die alle von demselben Selbst und den elterlichen Figuren abgeleitet werden. Solche Beobachtungen machten es möglich, die Freudschen Theorien zu bestätigen, zu überprüfen und auszuweiten. Klein sah, dass Symptome, Charaktere und die Persönlichkeit als Beziehungen zu internalisierten Fantasiefiguren verstanden werden können, die in der frühen Kindheit angelegt wurden. Diese weiten sich zu psychotischen Störungen aus, wie z.B. der Schizophrenie oder manisch-depressiven Störungen, die sich auf dasselbe spezifische Wesen der beteiligten Figuren rückbeziehen. Dies führte in der Psychoanalyse zu dem britischen Ansatz der Objektbeziehungen. Ferner hatte es Einfluss auf die Entwicklung der Ich-Psychologie und der Selbst-Psychologie in den USA durch Hartmann, Kohut und andere, sowie in Frankreich zu Lacans Versuch, die Psychoanalyse in Beziehung zur Sprache zu setzen. Siehe auch: Freud, S.; Psychoanalyse, Methodische Fragen der JAMES HOPKINS
Psychologie, Philosophie der Siehe: Geistes, Philosophie des
Pufendorf, Samuel (1632–1694)
Pufendorf war ab 1661 der erste Universitätsprofessor für Natur- und Völkerrecht (Universität Heidelberg). 1668 ging er nach Lund in Schweden, 1677 wechselte er nach Stockholm. Der schwedische König ernannte ihn zum Hofhistoriographen, zum Geheimen Rat und Staatssekretär. Zunehmend unzufrieden mit seinem Aufenthalt in Schweden ging er 1688 nach Berlin an den preußischen Hof, wo er gleichfalls Hofhistoriograph und Geheimer Rat wurde. Sein Buch ‚De iure naturae et gentium‘ (dt.: ‚Über das Natur- und Völkerrecht‘, 1672) und ‚De officio hominis et civis iuxta legem naturalem‘ (dt.: ‚Über die Pflicht des Menschen und Bürgers nach dem Naturrecht‘, 1673) hatte auf die weitere Entwicklung dieses Gegenstandes im 18. Jahrhundert großen Einfluss. Als ein Ergebnis davon erlangte Pufendorf große Anerkennung bei der Entwicklung von Konzeptionen des Internationalen Rechts als einem Normenkatalog, dessen Geltung unter souveränen Staaten allgemein anerkannt war. Er betrachtete sich selbst als einen Verfechter einer neuen moralischen Wissenschaft, die von Hugo Grotius begründet worden war, und die die naturrechtliche Tradition transformierte, indem sie von identifizierbaren Zügen der menschlichen Natur ausging, anstatt von Ideen darüber, wie der Mensch sein sollte. Siehe auch: Descartes, R.; Hobbes, T.; Hohfeld, W.N.; Rechtsphilosophie J.D. FORD
Purva Mīmāṃsā Siehe: Mīmāṃsā
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Putnam, Hilary (1926–)
Putnam, Hilary (1926–)
Putnams Werk überspannt ein weites Spektrum philosophischer Interessen, die dennoch in ihrer Beschäftigung mit der Frage nach der Wirklichkeit eine thematische Einheit aufweisen. Als Kritiker des logischen Positivismus widersprach Putnam dem Verifikationismus und dem Konventionalismus und argumentierte stattdessen für ein realistisches Verständnis der wissenschaftlichen Theorien. Er verwarf die traditionelle Konzeption der Bedeutung, derzufolge die geistigen Zustände der Sprecher die Bedeutung und damit die Referenz des Gesagten bestimmen sollen, und vertrat stattdessen eine Konzeption der Bedeutung, bei der die externe Wirklichkeit, d.h. worüber beispielsweise jemand redet, Wesentliches zur Bedeutung beiträgt. Betrachtet man ferner, was er die sprachliche Arbeitsteilung nannte, so sah Putnam die Übertragung von Bedeutung eher als ein soziales als ein individuelles Unternehmen an. Als Reaktion auf die relativistische Herausforderung, derzufolge die Inkommensurabilität unterschiedlicher Theorien eine jegliche Möglichkeit des intertheoretischen Dialogs ausschließe, berief sich Putnam auf eine kausale Referenztheorie, wobei die Referenz als relativ unempfindlich gegenüber theoretischen Änderungen dargestellt wird, so dass die Kontinuität und Rationalität der Wissenschaft und der Kommunikation aufrecht erhalten werden. Die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik stellte den Realismus aber vor noch ein weiteres Problem. Putnam sah die Quantenlogik als eine Alternative an, die mit dem Realismus vereinbar sei, und argumentierte, dass die Logik, wie die Geometrie, auf der Grundlage empirischer Überlegungen überarbeitet werden könne. In der Philosophie des Geistes schlug Putnam den Funktionalismus vor, d.h. die Auffassung, dass mentale Zustände eher durch Funktionen als durch ihre materielle Beschaffenheit gekennzeichnet seien. Putnam leistete ferner wesentliche Beiträge zur Mathematik durch seine Arbeit an der Unlösbarkeit von Hilberts zehntem Problem. Im Jahre 1976 griff Putnam die Kohärenz einer Sichtweise an, die er ‚metaphysischen Realismus‘ nannte. Indem er vorbrachte, dass der Relativismus und der Skeptizismus verkleidete Formen des metaphysischen Realismus und genauso wie dieser inkohärent seien, schlug er eine Alternative vor, die er als ‚internen Realismus‘ bezeichnete. Eine Klärung dieser Position und ihrer Durchführbarkeit als dritter Weg zwischen Realismus und Relativismus bilden den Schwerpunkt von Putnams späteren Schriften, und betreffen auch einen Großteil der Kritik, die sie ausgelöst haben. Siehe auch: Referenz YEMIMA BEN-MENAHEM
Pyrrhonismus
‚Pyrrhonismus‘ war der Name, den die Griechen einer bestimmten Art von Skeptizismus gaben, nämlich jener, die (wenn auch nur schwach) mit Pyrrho von Elis identifiziert wurde, von dem es von Seiten seines Schülers Timon von Philius hieß, er habe erklärt, alles sei unbestimmbar, und dass er deshalb jegliche Urteile über die Wirklichkeit der Dinge aufgehoben habe, insbesondere jene, ob es wirklich etwas Gutes oder Schlechtes gäbe. Nach dem Tode von Timon brach der Pyrrhonismus zusammen, bis er durch Aenesidemus wiederbe1489
Pythagoras (ca. 570 – ca. 497 v. Chr.)
lebt wurde. Aenesidemus meinte, dass es unzulässig sei, sowohl zu bestätigen als zu bestreiten, dass irgendetwas wirklich der Fall sei, und insbesondere und im Verein mit den akademischen Skeptikern, dass gewisse Dinge unbegreiflich seien. Stattdessen sollte der Skeptiker (mit dem hier ein pyrrhonistischer Skeptiker gemeint ist, weil diese den Ausdruck, der wörtlich ‚Untersuchender‘ heißt, als eine Bezeichnungen ihrer Schule annahmen) ausschließlich zugestehen, dass die Dinge nur so viel der Fall seien, als sie dies auch nicht seien, oder nur unter bestimmten Umständen der Fall seien, und unter anderen nicht. Der aenesidemische Skeptizismus betonte die Uneinigkeit sowohl zwischen den Laien und den Theoretikern über das Wesen der Dinge, als auch den Umstand, dass die Dinge unter verschiedenen Umständen verschieden erscheinen. Die unterschiedlichen Arten dieses skeptischen Einwandes wurden in Form der ‚Zehn Modi des Skeptizismus‘ systematisiert. Das Ergebnis davon sollte die Aufhebung des Urteils über die davon betroffenen Gegenstände sein, was umgekehrt zu einer Beruhigung des Geistes führen würde. Daher bezeichnet der Ausdruck ‚Skeptizismus‘ eine bestimmte philosophische Position, die nicht einfach, wie im modernen Sprachgebrauch, diejenige eines jeden Philosophen ist, der zum Zweifel neigt. Die späten Pyrrhonisten, vor allem Agrippa, verfeinerten die skeptische Methode und konzentrierten sich auf die Hinterfragung des dogmatischen, d.h. anti-skeptischen Begriffs des Kriteriums: es gäbe keinen grundsätzlichen Weg zur Entscheidung solcher Fragen, ohne in die reine Behauptung, den infiniten Regress oder die Zirkularität zu verfallen. Wir verdanken Sextus Empiricus die denkbar vollständigste Darstellung der pyrrhonischen Argumente und die klarste Darstellung der pyrrhonischen Einstellung. Werden die Skeptiker mit einem thematisch begrenzten Disput konfrontiert, behalten sie sich das Urteil vor. Dies machte ihnen Leben keineswegs schwer, denn sie werden immer noch auf die Dinge so reagieren, wie sie ihnen erscheinen, dabei aber in keinem irgendwie strengen Sinne überzeugt sein, dass die Dinge sich wirklich so verhalten, wie sie sie sehen. Darüber hinaus beschreiben die Pyrrhonisten ihre affektiven Zustände auf undogmatische Weise, und die skeptischen Losungen: ‚Ich lege nichts fest‘, ‚Nichts wird begriffen‘ etc. sind auf ähnliche Weise zu verstehen, d.h. lediglich als Berichte über einen geistigen Zustand, und keinerlei Ausdruck einer Verbindlichkeit. Daher sind diese Losungen auf sich selbst anwendbar, und wie kathartische Drogen werden sie unter dem Einfluss der giftigen Dämpfe des Dogmatismus geläutert. R.J. HANKINSON
Pythagoras (ca. 570 – ca. 497 v. Chr.)
Pythagoras von Samos war ein früher griechischer Weise und religiöser Erneuerer. Er lehrte die Verwandtschaft allen Lebens und die Unsterblichkeit der Seele sowie die Seelenwanderung. Pythagoras gründete eine religiöse Gemeinschaft aus Männern und Frauen in Süditalien, die auch bemerkenswerten politischen Einfluss ausübte. Seine Anhänger, die als Pythagoräer bekannt wurden, gingen über diese im Wesentlichen religiösen Glaubensinhalte des Meisters hinaus und entwickelten philosophische, mathematische, astronomische und musikalische Theorien, wobei sie dazu neigten, diese Pythagoras selbst zuzuschreiben. Die von den Pythagoräern ins Leben gerufene Tradition webte sich in große 1490
Pythagoreismus
Teile der griechischen Philosophie ein und hinterließ ihre Spuren insbesondere im Denken von Empedokles, Platon und den späteren Platonikern. Siehe auch: Vorsokratische Philosophie HERMANN S. SCHIBLI
Pythagoreismus
Der Pythagoreismus bezeichnet eine griechische religiös-philosophische Bewegung, die von Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. gegründet wurde. Obwohl der Pythagoreismus sich im Laufe seiner historischen Entwicklung mit einer Vielzahl von Themen aus der Politik, dem Mystizismus, der Musik, der Mathematik und der Astronomie beschäftigt hat, blieb der gemeinsame Nenner doch immer die allgemeine Anhängerschaft unter den Pythagoräern an den Namen ihres Gründers und seine religiösen Überzeugungen. Pythagoras lehrte die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung (Reinkarnation), und er empfahl eine Lebensweise, die vermittels asketischer Praktiken, über Diäten beim Essen bis zum ethischen Verhalten die Reinigung der Seele versprach, und dass diese damit in Harmonie zu ihrer Umwelt und dem Universum kommen würde. Dadurch würde die Seele gottähnlich werden; Pythagoras glaubte, dass der Kosmos aus der Sicht seiner geordneten und harmonischen Funktionsweise bzw. Struktur göttlich sei. Der Pythagoreismus hatte deshalb von Anbeginn an einen kosmologischen Kontext, der sich in den mathematischen Entwicklungsbahnen der folgenden Jahrhunderte weiter entwickelte. Pythagoreische Philosophen, die sich auf musikalische Theorien bezogen, die unter Umständen bis auf Pythagoras zurückgehen, drückten die Harmonie des Universums in Gestalt numerischer Beziehungen aus; vielleicht behaupteten sie sogar, dass die Dinge eine zahlartige Natur hätten. Ungeachtet einer gewissen Verwirrung in der pythagoreischen Zahlenphilosophie im Verhältnis zwischen Abstraktem und Konkretem, stellt der Pythagoreismus doch einen gültigen und herausragenden Versuch der Erklärung der Welt durch formale, strukturelle Prinzipien dar, der in der frühen griechischen Philosophie herausragt. Insgesamt betrachtet übte die Kombination religiöser, philosophischer und mathematischer Spekulationen, die den Pythagoreismus auszeichnen, einen bedeutsamen Einfluss auf die griechischen Denker aus, insbesondere auf Platon und seine unmittelbaren Nachfolger, sowie auch auf jene platonischen Philosophen, die als Neupythagoräer und Neuplatonisten bekannt wurden. Siehe auch: Vorsokratische Philosophie HERMANN S. SCHIBLI
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Q Qualia
Der Ausdruck ‚Quale‘ oder ‚Qualia‘ (Plural) wird meistens zur Bezeichnung der qualitativen, phänomenalen oder ‚gefühlten‘ Eigenschaften unserer geistigen Zustände verwendet, wie z.B. klopfender, aktueller Kopfschmerz, oder das merkwürdige Blau eines Nachbildes, dass ich gerade erfahre. Auch wenn man es offenbar nicht leugnen kann, dass zumindest einige unserer geistigen Zustände Qualia aufweisen, wirft doch ihre Existenz eine Reihe philosophischer Probleme auf. Das erste dieser Probleme betrifft das Wesen oder die Struktur der Qualia. Viele Theoretiker haben große Unterschiede zwischen unseren intuitiven Konzeptionen der Qualia und solchen der typisch physikalischen Eigenschaften wie Masse oder Länge festgestellt. Ein weiteres Problem betrifft unsere Erkenntnis der Qualia, insbesondere, ob unsere Überzeugungen von ihnen als unfehlbar gelten können, oder ob zumindest einigen von ihnen eine besondere Autorität zukommt. Siehe auch: Farbe und Qualia; Bewusstsein; Sinnesdaten JANET LEVIN
Quantenlogik
Der Begriff der Quantenlogik wurde durch Birkhoff und von Neumann im Jahre 1936 eingeführt und beschreibt die formalen Eigenschaften eines gewissen algebraischen Systems, dass im Zusammenhang mit der Quantentheorie steht. Um eine zirkuläre Fragestellung zu vermeiden ist es angebracht, den Ausdruck ‚Logik‘ in einem genügend weiten Sinne zu verwenden, um damit ein jegliches algebraisches System mit formalen Charakteristiken zu erfassen, die denjenigen der Satzlogik ähneln. In diesem Sinne ist es unstrittig, dass es eine Logik der experimentellen Fragen gibt (beispielsweise: ‚Befindet sich dieses Teilchen in der Region R?‘, oder: ‚Weisen diese Teilchen einen unterschiedlichen Spin auf?‘), die mit jedem physikalischen System zusammenhängen. Nachdem man diese Logik für die Quantentheorie eingeführt hat, kann man fragen, wie sie sich von der gewöhnlichen Satzlogik unterscheidet, d.h. der Logik für die experimentellen Fragen der klassischen Mechanik. Der bemerkenswerteste Unterschied ist, dass das Distributivgesetz nicht gilt, sondern durch ein schwächeres Gesetz ersetzt wird, das als ‚Orthomodularität‘ bezeichnet wird. All dies kann diskutiert werden, ohne zu entscheiden, ob die Quantenlogik eine echte Logik im Sinne eines deduktiven Systems ist. Putnam argumentierte, dass die Quantenlogik tatsächlich eine echte Logik sei, weil sie, an sich betrachtet, zahlreiche Probleme löse, vor allem jenes der Aussöhnung des wellenartigen Charakters z.B. eines Elektronenstrahls, wenn er durch zwei Spalten geschickt wird, mit der These, dass die Elektronen dieses Strahl durch einen oder den anderen der beiden Spalten gehen. Wenn Putnams Argument erfolgreich ist, würde dies einen bemerkenswerten Fall der empirischen Niederlage logischer Intuitionen darstellen. Die sich an seine Behauptung anschließenden Diskussionen scheinen diesen aber untergraben zu haben. PETER FORREST
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Quantenmechanik, Messprobleme in der
Quantenmechanik, Messprobleme in der
In der klassischen Mechanik kann ein Messvorgang im Prinzip als eine Wechselwirkung zwischen zwei Systemen dargestellt werden, nämlich ein Messinstrument M und ein gemessenes System S, innerhalb dessen sich die klassischen Zustände von M und S dynamisch entsprechend den Bewegungsgleichungen der Theorie entwickeln, und zwar auf eine Weise, dass der ‚Zeiger‘ oder die indizierte Quantität von M in eine Korrelation zu der gemessenen Quantität S gebracht wird. Wenn eine ähnliche Darstellung in der Quantenmechanik versucht wird, so kann gezeigt werden, dass in bestimmten anfänglichen Quantenzuständen von M und S die Wechselwirkung einen Quantenzustand für das kombinierte System ergeben wird, in dem weder die angezeigte Quantität von M, noch die gemessene Quantität von S einen bestimmten Wert aufweist. Nach der orthodoxen Interpretation der Theorie sind Aussagen, die diesen Quantitäten Wertebereiche zuweisen, weder wahr, noch falsch. Da wir fordern, dass die Zeigerablesungen von M nach der Messung determiniert sind, und vermutlich auch die Werte der korrelierten S-Quantitäten, die durch M gemessen wurden, sieht es so aus, dass die orthodoxe Interpretation sich nicht mit der dynamischen Darstellung des Messprozesses verträgt. Die Frage, wie man diese Vereinbarkeit herstellen könnte, ist das Quantenmessproblem. Siehe auch: Quantenmechanik, Interpretation der JEFFREY BUB
Quantenmechanik, Interpretation der
Die Quantenmechanik wurde im frühen 20. Jahrhundert als Antwort auf die Entdeckung entwickelt, dass die Energie als ganzzahliges Vielfaches kleinster Einheitsportionen oder in diskreten Einheiten, d.h. ‚gequantelt‘, auftritt. Auf der subatomaren Ebene führt dies zu seltsamen Phänomenen: Licht zeigt plötzlich teilchenartige Charakteristika, und Teile wie z.B. Elektronen produzieren wellenartige Interferenzmuster. Auf der Ebene der makroskopischen, d.h. mit gewöhnlichem Auge wahrnehmbaren Gegenstände sind solche gewöhnlichen Phänomene nicht zu bemerken, aber diese Verallgemeinerung ist verblüffenden Ausnahmen und rätselhaften Uneindeutigkeiten ausgesetzt. Das grundlegende quantenmechanische Rätsel ist die ‚Überlagerung von Zuständen‘. Quantenzustände können sich auf eine Weise miteinander aufaddieren, so dass die Überlagerung von Wellen ‚widerrufen‘ wird und sich die Wirkungen der Quantenüberlagerung nur noch wahrscheinlichkeitstheoretisch über die Statistik sehr vieler Messungen zeigen lässt. Die Einzelheiten legen nahe, dass die Welt auf seltsame Weise unbestimmt ist. Beispielsweise können Dinge eine nicht immer endgültig definierte räumliche Lage oder nicht endgültig definierte Energieimpulse aufweisen. Wenn wir diese Schlussfolgerung jedoch akzeptieren, so haben wir Schwierigkeiten, solche unmittelbaren Tatsachen wie jene zu erklären, dass Messungen ein ganz bestimmtes Ergebnis aufweisen. Die Interpretationen der Quantenmechanik sind auf die eine oder andere Weise Versuche, die Überlagerungen von Quantenzuständen zu verstehen. Der Interpretationsbereich erstreckt sich von metaphysischen Wagnissen bis zur offenkundigen Unverfänglichkeit. Aber bis jetzt hat keine Interpretation die allgemeine Zustimmung erlangen können. ALLEN STAIRS
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Quantoren
Quantoren
Die Quantoren ‚einige‘ und ‚alle‘ waren bereits Gegenstand der allerersten logischen Theorie, d.h. des aristotelischen Syllogismus. Ein Beispiel eines Syllogismus ist: ‚Jeder Spartaner ist ein Grieche; jeder Grieche ist Europäer; deshalb ist jeder Spartaner ein Europäer.‘ In solchen Schlüssen wird kein Quantor durch einen anderen gesteuert. Man stelle dies nun dem Satz ‚Jeder liebt jemanden‘ gegenüber. Von der modernen Logik wird oft angenommen, sie habe begonnen, als Frege zum ersten Male die Quantorenlogik systematisierte, einschließlich solcher abhängigen Quantoren. Im Allgemeinen ist vieles, was in den vergangenen Jahrhunderten als Logik aufgefasst wurde, in Wahrheit eine Untersuchung der Quantoren. Dies wird besonders klar in jenem Gebiet der Logik, der unter unterschiedlichen Bezeichnungen als Quantorentheorie, Einfache Prädikatenlogik oder Elementarlogik bekannt ist. Einige Philosophen haben sogar versucht, den Geltungsbereich der Logik auf ein solches Studium der Quantoren zu beschränken. Doch das Wesen der Quantoren ist eine delikate Angelegenheit, die von der durch Frege und Russell initiierten Logik nur unvollständig erfasst wird. Siehe auch: Logische Konstanten JAAKKO HINTIKKA, GABRIEL SANDU
Quantoren, Generalisierte
Generalisierte Quantoren sind logische Werkzeuge mit einem weiten Anwendungsbereich. Wie der Ausdruck bereits andeutet, generalisieren sie die gewöhnlichen universalen und die Existenzquantoren der Logik erster Ordnung mit den formalen Zeichen ‚∀x‘ und ‚∃x‘, was auf eine Formel A(x) anwendbar ist, und wodurch in ihr das freie Auftreten von x gebunden wird. ‚∀xA(x)‘ bedeutet, dass A(x) für alle Gegenstände des Universums gilt, und ‚∃xA(x)‘ sagt, dass A(x) für einige Gegenstände (mindestens einen) des Universums gilt, d.h. in jedem der beiden Fälle ist eine bestimmte Bedingung für A(x) erfüllt. Es ist selbstverständlich, nun noch weitere Bedingungen zu bedenken, wie z.B. ‚zumindest fünf‘, ‚höchstens zehn‘, ‚unendlich viele‘ und ‚die meisten‘. Ein Quantor Q steht also für eine Bedingung von A(x), oder genauer gesagt, für eine Eigenschaft der Menge, die durch diese Formel bezeichnet wird, wie z.B. die Eigenschaft, eine nicht-leere, eine infinite, oder eine Menge zu sein, die mehr als die Hälfte der Elemente des Universums enthält. Die Hinzufügung solcher Quantoren zur logischen Sprache kann ihre Ausdruckskraft erhöhen. Eine weitere Generalisierung erlaubt die Anwendung von Q auf mehr als eine Formel, so dass beispielsweise Qx(A(x), B(x)) aussagt, dass eine Beziehung zwischen den als A(x) und B(x) bezeichneten Mengen besteht, z.B. die Beziehung, dieselbe Anzahl Elemente zu besitzen, oder eine nicht-leere Schnittmenge zu haben. Es werden auch Quantoren bedacht, die mehr als nur eine Variable in einer Formel binden. Qxy,zu (R(x,y),S(z,u)) könnte beispielsweise ausdrücken, dass die Beziehung, die durch R(x,y) ausgedrückt wird, zweimal so viele Paare wie S(z,u) enthält, oder dass R(x,y) und S(z,u) isomorphe Graphen sind. Im Allgemeinen ist ein Quantor (wobei das Attribut ‚generalisierter‘ oft weggelassen wird) syntaktisch ein Variablen bindender Operator, der semantisch für eine Beziehung zwischen Beziehungen (zwischen Einzelgegenständen) steht, d.h. eine Beziehung zweiten Grades. Quantoren werden in der mathematischen Logik studiert und finden auch in anderen Gebieten eine Anwendung, vor allem in der Semantik der natürlichen Sprachen. DAG WESTERSTÅHL 1494
Quantoren, ersetzende und gegenständliche
Quantoren, ersetzende und gegenständliche
Versteht man die folgende Aussage als eine ersetzende, so ist ‚Etwas ist F‘ wahr, sofern eine der Ersetzungsinstanzen (d.h. ein Satz der Form ‚a ist F‘) wahr ist. Dies steht im Gegensatz zum gegenständlichen Verständnis dieser Formel, nach der sie wahr ist, sofern ‚ist F‘ von irgendeinem Gegenstand im Geltungsbereich des Quantors wahr ist. Die ersetzenden Quantifikationen haben vollkommen andere Wahrheitsbedingungen als die gegenständlichen. Beispielsweise ist der Satz ‚Etwas ist ein mythisches Tier‘ wahr, wenn es ersetzend verstanden wird, denn die Ersetzungsinstanz ‚Pegasus ist ein mythisches Tier‘ ist wahr. Versteht man den Satz dagegen gegenständlich, so ist der Satz nicht wahr, denn es gibt keine mythischen Geschöpfe, die einen Geltungsbereich für diesen Quantor aufspannen könnten. Da die ersetzenden Quantoren keine Geltungsbereiche benötigen, innerhalb derer sie gültig sind, ist es einfach, ersetzende Quantoren einzuführen, die Prädikate oder Satzvariablen binden, ja sogar Variablen innerhalb von Anführungszeichen. Ein Grund für das Interesse an der ersetzenden Quantifikation ist die Hoffnung, dass sie einen Weg zum Verständnis des Diskurses weist, der sich über die Zahlen, Eigenschaften, Aussagen und andere ‚schwierige‘ Arten von Entitäten entzündet hat; dieser Diskurs handelt davon, ob die betreffenden Entitäten frei von außerordentlichen ontologischen Bindungen sind. Ob die Quantifikation der natürlichen Sprache manchmal auf plausible Weise als eine ersetzende konstruiert ist, ist allerdings nicht klar. Siehe auch: Ontologische Verpflichtung MARK RICHARD
Quine, Willard van Orman (1908-2000) Einführung Quine ist der herausragendste Vertreter des Naturalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Sein Naturalismus besteht in einem Beharren auf einer engen Verbindung oder Allianz zwischen philosophischen Ansichten und jenen der Naturwissenschaften. Eine solcherart konstruierte Philosophie ist eine Tätigkeit innerhalb der Natur, bei der sich die Natur selbst untersucht. Dies steht im Gegensatz zu Ansichten, die die Philosophie von der Wissenschaft absetzen und sie in einer speziellen, transzendenten Lage zur Gewinnung eines besonderen Wissens ansiedeln. Die Methoden der Naturwissenschaft sind empirisch. Folglich ist Quine, der innerhalb einer naturwissenschaftlichen Perspektive operiert, ein Empirist, allerdings mit einem Unterschied. Der Traditionelle Empirismus eines Locke, Berkeley, Hume und einiger Formen des 20. Jahrhunderts verstehen die Eindrücke, Vorstellungen oder Sinnesdaten als die grundlegende Einheit des Denkens. Quines Empirismus beachtet dagegen sowohl die theoretischen, als auch die beobachtbaren Facetten der Naturwissenschaften. Die Grundeinheit der empirischen Bedeutung wird nicht durch die einfachen Eindrücke (Vorstellungen) geliefert, und nicht einmal durch isolierte individuelle Beobachtungssätze, sondern durch ganze Überzeugungssysteme. Die breiten theoretischen Einschränkungen bei der Wahl zwischen Theorien, wie z.B. die Erklärungsmacht, die Sparsamkeit, die Genauigkeit etc. stehen in einem solchen Empirismus im Vordergrund. Quine ist ein Fallibilist (siehe Popper, K.), da er meint, dass jede einzelne Überzeugung in einem System prinzipiell revidierbar sein 1495
Quine, Willard van Orman (1908-2000)
müsse. Quine schlägt eine neue Konzeption der Beobachtungssätze vor, und zwar eine naturalisierte Darstellung unseres Wissens der externen Welt, und er erweitert dieselbe empiristische und fallibilistische Darstellung auch auf unsere Erkenntnis in der Logik und Mathematik. Quine beschränkt sich auf die Logik erster Ordnung und grenzt sie klar von der Mengelehre und der Mathematik ab. Diese sind vielmehr empirische Subjekte, wenn man den Empirismus in der Quineschen Form versteht. Sie sind innerer Bestandteil unseres Überzeugungssystems, das die Naturwissenschaften ausmacht. Die Sprache der Logik erster Ordnung dient als kanonische Notation, in der sich unsere ontologischen Bindungen (engl: ontological commitments1) ausdrücken. Das Schlagwort ‚Das Sein ist der Wert einer Variablen‘ (‚From a logical Point of View‘, 1953) bringt dieses Projekt auf den Punkt. Die Entscheidung darüber, welche Ontologie angenommen werden soll, wird auch innerhalb der naturalistischen Einschränkungen der empirischen Wissenschaften getroffen: unsere ontologischen Bindungen sollten gegenüber jenen Gegenständen erfolgen, auf die uns die besten wissenschaftlichen Theorien festlegen. Auf dieser Grundlage legt sich Quine selbst auf die Existenz physischer Gegenstände und von Mengen fest. Quine ist ein Physikalist und ein Platonist, denn die ‚beste Wissenschaft‘ erfordert die Annahme physischer Gegenstände, und die Mathematik, die an den Naturwissenschaften beteiligt ist, erfordert die Annahme abstrakter Gegenstände, nämlich Mengen. Die Theorie der Referenz, die Vorstellungen wie jene der Referenz, der Wahrheit und der logischen Wahrheit voraussetzt, ist scharf getrennt von der Theorie der Bedeutung, die solche Vorstellungen wie jene der Bedeutung, des Synonyms, der Unterscheidung von analytisch und synthetisch und der Notwendigkeit mit sich bringt. Quine ist der führende Kritiker von Begriffen der Bedeutungstheorie, indem er vorbringt, dass Versuche zur Unterscheidung zwischen rein sprachlichen (analytischen) und substanzielleren (synthetischen) Wahrheiten fehlgeschlagen sei. Sie erfüllten nicht die Genauigkeitsstandards, an denen die wissenschaftlichen und philosophischen Theorien festhalten, und denen sich auch die Referenztheorie verpflichtet sieht. Er erforschte die Grenzen einer empirischen Sprachtheorie und legte in diesem Zusammenhang eine These der Unbestimmtheit von Übersetzungen als weitere Kritik der Bedeutungstheorie vor. 1. Leben 2. Naturalisierte Erkenntnistheorie; die Natur kennt sich selbst 3. Entthronung des Apriori 4. Logik als Logik erster Ordnung 5. Kanonische Notation und Ontologische Verpflichtung 1 Der Begriff des ontological commitment wurde von Quine quasi in den Rang eines Fachterminus erhoben und ist daher zum Verständnis seiner Philosophie sehr wichtig. Leider lässt er sich nicht sehr gut in der Kürze des englischen Ausdrucks ins Deutsche übersetzen; gleichwohl erfolgt die Übersetzung hier einheitlich als ‚Ontologische Verpflichtung‘. Gemeint ist damit die Summe aller ontologischen Voraussetzungen, die einer jeden logischen oder linguistischen Theorie ausdrücklich oder unausdrücklich zugrunde liegen, also insbesondere die Existenzbehauptung gewisser fundamentaler Entitäten, ohne die eine solche Theorie gänzlich sinnlos wäre. Quine besteht darauf, dass keine solche Theorie ohne derartige Behauptungen auskommt; es sei deshalb von größter Bedeutung, diese explizit zu machen, um die Theorie auf mögliche Inkonsistenzen untersuchen zu können. (siehe auch: Ontologische Verpflichtung) [WS]
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Quine, Willard van Orman (1908-2000)
6. Konkurrierende Ontologien 7. Unbestimmtheit der Referenz und globaler Strukturalismus 8. Die Bedeutungstheorie: ihre Mythen und Dogmen 9. Unbestimmtheit der Übersetzung 1. Leben Willard Van Orman Quine wurde am 25. Juni 1908 geboren und starb im Alter von 92 Jahren am 25. Dezember 2000. Er studierte am Oberlin College und nach dem ersten Examen weiter in Harvard, wo er zusammen mit A.N. Whitehead, C.I. Lewis und Sheffer lernte. In seiner Dissertation ‚The Logic of Sequences: A Generalization of Principia Mathematica‘ zeigt sich bereits ein prominentes Thema der Quineschen Philosophie, nämlich die Bemühung um ontologische Fragen. Im Jahre 1931 erlebte Quine das, was er selbst als seine ‚blendendste Begegnung mit [geistiger] Größe‘ beschrieb, und zwar als Bertrand Russell nach Harvard kam, um dort zu lesen. Russell ist eine der einflussreichsten Figuren in Quines Denken. Beiden ist eine Beschäftigung mit Fragen betreffend das, was es gibt, gemeinsam. Beispielsweise übernahm und verbesserte Quine Russells Sichtweise, wie wir ontologische Behauptungen ausdrücken. Noch bedeutsamer war, wie sich schon in der Dissertation offenbart, Russells Einfluss als der eines Rivalen, dessen Theorien Quine zur Schöpfung akzeptablerer Alternativen anspornten. Wo immer dies möglich war, versuchte Quine mit den geringsten und präzisesten Annahmen auszukommen, die getroffen werden mussten, um eine Aufgabe lösen zu können. Während die ‚Principia Mathematica‘ noch auf der Grundlage einer Ontologie konstruiert sind, die Aussagefunktionen umfasst, die Eigenschaften einer bestimmten Art sind, versuchte Quines Revision der Theorie dasselbe Ziel mit konkreten physischen Gegenständen und Mengen oder Klassen zu erreichen. Zusätzlich sind einige von Quines berühmtesten logischen und mengentheoretischen Systemen so gestaltet, dass sie dieselben Wirkungen wie die ‚Principia Mathematica‘ haben, dabei aber die Russellsche Typentheorie vermeiden (siehe Typentheorie). Eine Gastprofessur in Europa im Jahre 1932 brachte Quine in Kontakt mit den jüngsten Entwicklungen in der Logik und der Philosophie. In Wien nahm er an Treffen des Wiener Kreises teil und beschrieb die folgenden Wochen, die er in Prag und Warschau verbrachte, als ‚die intellektuell lohnendsten Monate, die ich erlebt habe‘ (siehe Wiener Kreis). In Prag traf Quine Rudolf Carnap, einen der sorgfältigsten Kommentatoren aktueller Themen der analytischen Philosophie, und insbesondere jener der logischen Empiristen, wie z.B. das Verifikationskriterium der empirischen Bedeutsamkeit von Sätzen, den sprachlichen (analytischen) Charakter der apriorischen Erkenntnis, sowie jener der Mathematik und der Logik, und auch der Trivialität oder Bedeutungslosigkeit der Ontologie als eine Art von Metaphysik. Quine unterwarf jedes dieser Themen einer strengen Kritik, was einige der bedeutendsten philosophischen Debatten des Jahrhunderts zur Folge hatte. In Warschau besuchte er die Vorlesungen von Lesniewski, Łukasiewicz und Tarski und übernahm für die folgenden Jahre Tarskis und Gödels klassische Formulierung der Logik bei der Niederschrift seiner berühmtesten Werke. Quine war dem extensionalistischen und nominalistischen Flügel der Warschauer Schule sehr zugetan. In Harvard, in der Periode vor dem 2. Weltkrieg, arbeitete Quine einige seiner unverwechselbarsten Positionen aus, nämlich seine Konzeption der ontologischen 1497
Quine, Willard van Orman (1908-2000)
Bindung (am bekanntesten in ihrer Fassung in seinem Essay von 1948 mit dem Titel ‚On What There Is‘), seine beiden ausgeprägtesten Systeme der Logik und der Mengenlehre in ‚New Foundations for Mathematical Logic‘ (1937), und seine ‚Mathematical Logic‘ (1940), ferner seine Kritik der Position, dass apriorische Erkenntnis, wie sie angeblich in der Logik und in der Mathematik existiere, lediglich sprachlicher Natur sei. Diese Kritiken erschienen ab 1934, als Quine über Carnaps Werk las. Einiges Material aus dieser Zeit findet sich in ‚Truth by Convention‘ (1936) und in dem sehr berühmten Text ‚Two Dogmas of Empiricism‘ (1951). Quine diente als Marineoffizier im 2. Weltkrieg, und danach setzte er seine Arbeit an den oben genannten Themen fort (siehe: ‚From a Logical Point of View‘, 1953). Vieles in seinem sehr originellen Werk seit dieser Zeit beschäftigte sich mit der Formulierung einer neuen, holistischen Variante des Empirismus und der Erforschung ihrer Konsequenzen: ‚Das Wesentliche des Holismus, der von Pierre Duhem betont wird […], ist, dass die beobachtbare Folge, mittels derer wir eine wissenschaftliche Hypothese überprüfen können, normalerweise nicht die Folge der Hypothese an sich ist; sie ist vielmehr die Folge eines ganzen Bündels von Sätzen […]‘ (‚Quiddities‘, 1987: 141). Beginnend mit den ‚Two Dogmas‘, und schließlich in ‚Word an Object‘ (1960) wandte Quine diesen neuen holistischen Empirismus bei der Kritik der Begriffe der Bedeutung, der Synonymie und der Analytizität an. In ‚Word an Object‘ legte er eine These über die Unbestimmtheit von Übersetzungen als eine weitere Kritik an diesen Begriffen vor. Später, in ‚Ontological Relativity‘ (1969), ‚The Roots of Reference‘ (1974), ‚Pursuit of Truth‘ (1992) und ‚From Stimulus to Science‘ (1995) nahm er eine ähnlich kritische Haltung gegenüber Begriffen der Bedeutungstheorie ein. In Aufsätzen aus der Zeit des Quineschen Naturalismus kam dies bereits ins Blickfeld. Obwohl das Thema der Kontinuität der Philosophie und der Wissenschaft sich auch in früheren Arbeiten findet, erforscht er es ausdrücklicher in ‚Epistemology Naturalized‘ (1969), ‚Theories and Things‘ (1981), ‚Pursuit of Truth‘ und ‚From Stimulus to Science‘. 2. Naturalisierte Erkenntnistheorie; die Natur kennt sich selbst Das Problem unseres Wissens der äußeren Welt wird traditionell so formuliert, wie ein Selbst mit privaten geistigen Zuständen Wissen von der äußeren Welt haben könne. Quines Neuformulierung dieser Frage ist auf markante Weise naturalistischer: „Ich bin ein physischer Gegenstand, der sich inmitten einer physischen Welt befindet. Einige der Kräfte dieser physischen Welt wirken auf meine [Körper- oder Haut-]Oberfläche ein. Lichtstrahlen treffen auf meiner Retina an; Moleküle bombardieren mein Trommelfell und meine Fingerspitzen. Ich schlage zurück, indem ich konzentrische Luftwellen aussende. Diese Wellen nehmen die Form einer Redeflut über Tische, Menschen, Moleküle, Lichtstrahlen, Retinas, Luftwellen, Primzahlen, infinite Klassen, Freude und Sorgen, Gut und Böse an.“ (‚The Ways of Paradox and Other Essays‘, 1966) In seiner traditionellen Formulierung liegt das Problem darin, wie man, ausgehend von ‚Erfahrung‘ in Form von unmittelbar gegebenen Eindrücken oder Sinnesdaten, Behauptungen über die Erkenntnis von Gegenständen wie z.B. Tische, Stühle oder Moleküle rechtfertigen könne. Dieser Standpunkt war der einer Ersten Philosophie, die eine grundlegende Gewissheit der Wissenschaften liefern sollte, indem 1498
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sie sich außerhalb von ihnen stellte und ihre Leistungen legitimieren sollte. Quine verwirft diese Formulierungen. Seine naturalisierte Erkenntnislehre reformuliert das Problem als die Frage, wie wir lernen, von Gegenständen zu reden oder uns auf sie zu beziehen, und zwar sowohl in der gewöhnlichen, als auch in der wissenschaftlichen Rede. Welche Bedingungen ergeben die Referenz? Wie ist ein wissenschaftlicher Diskurs möglich? Die traditionellen Darstellungen der Verknüpfung zwischen ‚Erfahrung‘ und unserer Erkenntnis reichen von mentalistischen Konzeptionen wie derjenigen von Hume, in der alle unsere Vorstellungen Kopien von Sinneseindrücken sind, zu neutraleren sprachlichen Formulierungen, in denen kognitive Behauptungen in Beobachtungssätze übersetzt werden. Nach Quines holistischer Darstellung kann man mit dem empirischen Gehalt von Sätzen nicht der Reihe nach umgehen, und noch viel weniger mit den Ausdrücken als den sprachlichen Korrelaten von Vorstellungen, weder durch Definitionen, noch mittels Übersetzung oder irgendeine andere Art von Verknüpfung. Zum Studium der Beziehung von Erkenntnis und Wissenschaft zu Beobachtungssätzen muss man die psychische und sprachliche Entwicklung des Erkennenden zurückverfolgen, d.h. jene des potenziellen Verwenders der wissenschaftlichen Sprache. Beobachtungssätze dienen dabei sowohl als Startpunkt des menschlichen Spracherwerbs, als auch als die empirische Grundlage der Wissenschaften. Das Problem der Erkenntnis ist nunmehr, wenn man mit den Beobachtungssätzen beginnt, wie wir dadurch zur Rede von Tischen, Stühlen, Molekülen, Neutrinos, Mengen und Zahlen kommen. Einer der Gründe für die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie durch das Studium der Wurzeln der Referenz ist einfach das Versagen der oben erwähnten, traditionell-empiristischen Programme. Ein weiterer ist, dass die Erkenntnistheorie uns in die Lage versetzt, nicht mehr von mentalistischen Vorstellungen wie ‚Erfahrung‘ oder ‚Beobachtung‘ zu reden. Man verlässt sich stattdessen auf zwei Bestandteile, die bereits Teil der naturalistischen Ontologie sind, nämlich das physische Ereignis an den Nervenenden, d.h. den neutralen Nervenreiz oder Stimulus, und die sprachliche Entität des Beobachtungssatzes. Diese beiden Bestandteile dienen als naturalistischer Ersatz für ‚Erfahrung‘ und ‚Beobachtung‘. Nach Quines empiristischer und behavioristischer Darstellung sind Beobachtungssätze solche, die unabhängig vom Erwerb anderer Sprachfähigkeiten erlernt werden können. Sie sind Sätze, die durch reine Erscheinungsunmittelbarkeit erlernt werden und sind als solche dem Stimulus (Nervenreiz) am nächsten. Diese Darstellung ist nicht durch Angriffe auf den Begriff der Beobachtung im Sinne der jeweils dazu vertretenen Theorie verletzlich, denn die Beobachtungssätze sind genau jene, die ohne jede Hintergrundinformation gelernt werden können. Eine weitere Unterscheidung von den Empiristen betrifft die angebliche Gewissheit oder Unkorrigierbarkeit der Beobachtung. Obwohl man Quines Beobachtungssätzen mit einem Minimum an Hintergrundinformation zustimmt, und die deshalb in die Gruppe der Sätze aufgenommen werden, die mit geringerer Wahrscheinlichkeit revidiert werden müssen, sind sie doch deshalb nicht prinzipiell gegen ihre Revision gefeit. Anders als die herkömmliche Erkenntnislehre ist die Quinesche damit naturalistisch: wir können unseren Platz als Teil der Natur nicht verlassen und dann philosophische Erklärungen abgeben (siehe Naturalisierte Erkenntnislehre). Dies ist wiederum eine Teil des Themas, dass die Philosophie mit der Wissenschaft einher
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geht, wobei die Wissenschaft selbst ein Teil der Natur ist, der höchst geeignet ist, um sich selbst zu erkennen. „Der naturalistische Philosoph beginnt mit seinem Denken innerhalb der ererbten Welttheorie als einer laufenden Geschichte. Provisorisch glaubt er alles davon, meint aber auch, dass einige noch nicht erkannte Teile daran falsch seien. Er versucht das System von innen heraus zu verbessern, zu klären und zu verstehen.“ (‚Theories and Things‘, 1981) Es gibt keinen Erkenntnisstandpunkt außerhalb der Natur; die Philosophie und insbesondere die Erkenntnistheorie machen hierin keine Ausnahme. Wir können uns aus unserer wissenschaftlichen Weltsicht nicht heraushalten und dann philosophische Urteile abgeben. Als Beispiel hierfür bedenke man das Problem der Induktion. Es wird häufig in skeptischer Form über die angebliche Erkenntnis geäußert, dass die Zukunft der Vergangenheit ähnele. Wenn dieser Skeptizismus als die Forderung nach einer Rechtfertigung der Induktion in dem Sinne formuliert wird, dass wir einen deduktiven oder einen induktiven Beweis dafür erbringen sollen, dass die Zukunft (in ihren relevanten Aspekten) der Vergangenheit ähnelt, dann müssten wir uns weigern, auf diese Forderung einzugehen. Es ist wohlbekannt, dass solche Beweise entweder zirkulär sind oder einen Standpunkt jenseits unserer natürlichen Erkenntnisfähigkeiten voraussetzen, für dessen Möglichkeit geringer Anlass besteht, diese anzunehmen. „Die Humesche Zwickmühle ist die Humesche Zwickmühle“ (‚Ontological Relativity and Other Essays‘, 1969). Wenn aber eine Rechtfertigung in dem obigen Sinne nicht in Frage kommt, was können und sollen wir dann tun? Quine behandelte dieses Problem, indem er den Standpunkt eines Wissenschaftlers einnahm, der die wissenschaftliche Praxis prüft. Die Psychogenese der Referenz besteht aus Hypothesen, wie wir dazu kommen, über Gegenstände zu sprechen. Dies führt zur Bildung von Hypothesen über unsere angeborene Fähigkeit zur Entdeckung von Ähnlichkeiten. Die Induktion in ihrer einfachsten Form ist von derselben Art wie die Anerkennung von Ähnlichkeiten. Wir verfügen über einen ‚eingebauten Mechanismus‘ der Erwartung von Ähnlichkeiten. Dies garantiert jedoch nicht, dass wir sie auch auffinden. „Wahrnehmungsähnlichkeit ist die Grundlage aller Erwartungen, allen Lernens, aller Gewohnheitsbildung. […] Dies ist die primitive [einfachste] Induktion. Weil das Lernen deshalb von der Wahrnehmungsähnlichkeit abhängt, kann diese nicht selbst gelernt werden, jedenfalls nicht alles davon. Einiges davon ist angeboren. Der Überlebenswert der primitiven Induktion ist die Vorwegnahme von etwas Essbarem, oder auch eines Geschöpfes, durch das man vielleicht gefressen wird. Deshalb hat uns die natürliche Selektion mit den Maßstäben der Wahrnehmungsähnlichkeit ausgestattet, die mit den natürlichen Tendenzen ziemlich gut zusammenspielen. Die Zukunft mag sein, wie sie will, wir aber bleiben hoffnungsvoll.“ (‚From Stimulus to Science‘, 1995) Auf diese Weise behandelt Quine das Humesche Problem, warum wir glauben, dass ähnliche Ursachen auch ähnliche Wirkungen haben. Er geht dieses Problem durch die Einbeziehung der Evolutionspsychologie an, während Hume damit im Wege einer assoziationistischen Psychologie seiner Zeit umgeht. Quine, wie Hume, versucht nicht die Induktion in dem Sinne zu rechtfertigen, dass er einen Beweis für etwas wie die Einheit der Natur liefert. Parallel zu Hume bietet Quine eine em1500
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pirische Darstellung an, d.h. eine Theorie innerhalb des Empirismus, warum wir glauben, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln wird. Beide gehen davon aus, dass die Quelle dieser Überzeugung ‚subjektiv‘ sei, d.h. sich innerhalb des menschlichen Subjekts findet. Sie unterscheiden sich darin, dass Hume meint, das Subjekt erwerbe diese Überzeugungen als das Ergebnis von Erfahrung und von Assoziationen, während Quine sagt, die Quelle der Überzeugung sei eine genetisch bestimmte Disposition zur Entdeckung von Ähnlichkeiten, wozu Quine eine Darstellung aus der Evolutionspsychologie beisteuert. 3. Entthronung des Apriori Ein behauptetes Hindernis für den Empirismus ist das apriorische Wissen in der Logik und der Mathematik, und jenes der angeblich begrifflichen Wahrheiten wie ‚Alle Junggesellen sind unverheiratet‘ und ‚Nichts ist größer als es selbst‘. Solche Dinge scheinen einer Rechtfertigung durch Beobachtung zu trotzen. J.S. Mills empiristisches Programm, das auf diesem Punkt aufbaute, und die verschiedenen Formen des Rationalismus sind für einen Empiristen unannehmbar. Eine vorgeschlagene Lösung, und zwar die herrschende, die von den analytischen Philosophen bevorzugt wird, bezieht die Unterscheidung des Analytischen vom Synthetischen mit ein: alles apriorische Wissen soll analytisch sein, und zwar in dem Sinne, dass die Wahrheit von Sätzen, von denen behauptet wird, dass sie unabhängig von der Erfahrung erkannt werden können, sind auf Gegenstände der Sprache reduzierbar, z.B. sprachliche Konventionen, Definitionen und Wahrheiten als die Bedeutung der beteiligten Ausdrücke. Quines Kritik ist hier die eines Empiristen, der den Empirismus reformiert, indem er den reduktionistisch-atomistischen Empirismus mit einem Holismus Duhemscher Prägung verdrängt. Der experimentelle Test ist ein Kreuzungspunkt, in den die Beobachtung (die ‚Erfahrung‘) als ein Entscheidungsfaktor eingeht, ob man eine Behauptung akzeptieren oder ablehnen soll. Ein zu stark vereinfachtes Modell, wie die Beobachtung beim Ausprobieren einbezogen wird, wäre es, wenn wir bei einer gegebenen Hypothese und der Aufstellung der Anfangsbedingungen logisch und / oder mathematisch einige Beobachtungssätze als beobachtbare Konsequenzen ableiten würden. Wenn die erwartete Beobachtung eintritt, nehmen wir dies als Beweis für die Hypothese. Tritt sie nicht ein, so nehmen wir dies als Beweis dafür, dass die Hypothese falsch ist. Ein solches Modell greift auf das Dogma des Reduktionismus zurück, indem es annimmt, dass die Beobachtungssätze als individuelle Sinneserfahrung eindeutig für oder gegen isolierte Satzhypothesen abgeglichen werden können. Pierre Duhem zeigte bereits, dass dieses Modell fehlerhaft ist, und Quine erweiterte Duhems Argumentation zu einer holistischen Sichtweise, die eine Kritik des Reduktionismus und der apriorischen Erkenntnis darstellt. Duhem hatte bereits darauf hingewiesen, dass dort, wo die Beobachtung nicht eintritt, man immer noch Spielraum im Umgang mit der Situation hat. Alles ernsthafte Ausprobieren setzt Hintergrundinformationen voraus, die von der Hypothese oder der Erklärung der Anfangsbedingungen impliziert werden. Eine Testsituation unterläuft die Frage, welcher Faktor revidiert werden sollte, und es gibt keine Möglichkeit der Vorauserkenntnis, wo die Revision ansetzen sollte. Quines Einsicht lag darin, sich aller Vorannahmen gewahr zu werden, die in einer Testsituation in Frage gestellt werden können. Die Unterbestimmung einer Theorie durch die Beobachtung 1501
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ist nicht dadurch beseitigt, dass man die Hintergrundinformationen im Verhältnis zur Hypothese und den Anfangsbedingungen überprüft. Beide, d.h. sowohl die vorgeblich nicht bestätigende Beobachtung, als auch die beteiligten Prinzipien bei der Ableitung der beobachtbaren Konsequenz können korrigiert werden. In Testsituationen kommen ganze Überzeugungssysteme auf den Prüfstand, und wir haben dann dahingehend Spielraum, wie wir jene die Konsistenz bewahrenden Korrekturen vornehmen wollen. Wir können die Beobachtung überarbeiten. Wir können sogar die angewandte Logik und / oder Mathematik in Frage stellen, die bei der Ableitung der beobachtbaren Schlussfolgerung zur Anwendung kam. Kein Satz ist grundsätzlich gegen seine Korrektur immun. In diesem Geiste ist alles Wissen empirisch. Es gibt keine apriorische Erkenntnis. Der Ruf nach Gewissheit wird durch einen Fallibilismus ersetzt, und die damit verbundenen Letztbegründungsprogramme werden aufgegeben, wie auch die Verifikabilitätstheorie der logischen Empiristen. Stattdessen sind die großen Beschränkungen dessen, was in einer Testsituation zu tun sei, die naturwissenschaftlichen Kriterien für die Bevorzugung einer Hypothese, eines Theorie- oder Überzeugungssystems vor einem anderen. Diese Kriterien umfassen auch die Erklärungskraft, die Einfachheit oder Sparsamkeit, den Konservatismus, die Bescheidenheit und die Genauigkeit. Der Konservatismus mahnt, wenn andere Dinge unerheblich sind, dass wir diejenige Hypothese bzw. Theorie akzeptieren sollten, die am geringsten mit unseren übrigen Überzeugungen kollidiert. Diese Maxime der ‚minimalen Verstümmelung‘ kommt bei der Erklärung ins Spiel, warum die Logik, die doch grundsätzlich korrigierbar ist (z.B. schlägt jemand vor, eine dreiwertige Logik zu wählen), derjenige Bereich ist, bei dem eine Korrektur am unwahrscheinlichsten ist. Würden wir dies tun, so hätte dies weit reichende Konsequenzen für unsere übrigen Überzeugungen. Die Bescheidenheit sagt uns, dass, wenn alle übrigen Dinge gleich bleiben, wir so wenige Hypothesen als für die anstehende Aufgabe notwendig aufstellen sollten. Das Gebot der Genauigkeit verlangt Maßstäbe bei der Einführung und Erklärung philosophischer oder wissenschaftlicher Begriffe. Es fordert, dass philosophische Ausführungen in annehmbare Ausdrücke gebracht werden, d.h. die extensionalen oder empirischen Begriffe der Logik, der Mengenlehre und der Naturwissenschaften. Beispielsweise sollten abstrakte Gegenstände nicht postuliert werden ohne eine präzise Darstellung, was sie darstellen sollen, d.h. in Quines Worten: ‚Keine Entität ohne Identität‘ (engl.: ‚No entity without identity‘) (siehe A priori; Analytizität; Fallibilismus). 4. Logik als Logik erster Ordnung Quine unterscheidet die Referenztheorie von der Bedeutungstheorie. Er ist skeptisch gegenüber Begriffen, die mit der Bedeutungstheorie zusammenhängen, wie z.B. jenen der Bedeutung, der Intension, der Synonymie, der Analytizität und der Notwendigkeit. Im Gegensatz dazu stützt er sich auf die Referenztheorie und leistete hier auch Beiträge, z.B. zum Verständnis der logischen Wahrheit, der Wahrheit an sich, der Referenz und der ontologischen Bindung. Für Quine liegt der Begriff der logischen Wahrheit im Zentrum der Referenztheorie. Seine für ihn besonders charakteristische Definition der logischen Wahrheit lautet, dass ein Satz eine logische Wahrheit ist, wenn er wahr ist, d.h. wenn er auch dann wahr bleibt, wenn man seine nichtlogischen Teile einheitlich ersetzt. Die logischen Teile sind die logischen Konstanten, Zeichen der Negation, Disjunktion, 1502
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Quantifikation und der Identität. ‚Brutus tötete Cäsar, oder es war nicht der Fall, dass Brutus Cäsar tötete‘ ist eine solche logische Wahrheit. In Quines Terminologie treten die logischen Konstanten ‚oder‘ und ‚es ist nicht der Fall, dass‘ wesentlich auf, d.h. sie sind nicht ersetzbar, während die nichtlogischen Teile ‚Brutus tötete Cäsar‘ einheitlich verändert werden können und der sich daraus ergebende Satz immer noch wahr ist. Anders gesagt, eine logische Wahrheit kann nicht in eine Falschheit umgekehrt werden, indem man ihre nichtlogischen Ausdrücke verändert, während dies bei einer gewöhnlichen Wahrheit durchaus der Fall ist. Derselbe Begriff der logischen Wahrheit findet sich bereits bei Bolzano und Ajdukiewicz. Einer seiner Vorzüge liegt in seiner Sparsamkeit, d.h. darin, was er nicht sagt. Logische Wahrheiten und damit zusammenhängende Ausdrücke werden oft als modale Wendungen ausgedrückt. Das heißt, logische Wahrheiten werden dahingehend unterschieden, ob sie ‚notwendig‘ oder ‚in allen möglichen Welten wahr‘ sind. Ein gültiger Schluss ist als einer definiert, in dem, wenn die Prämissen wahr sind, die Schlussfolgerung wahr sein muss. Diese Darstellungen implizieren, dass die Logik modale Begriffe voraussetzt. Quines Definition versteht die Logik in dieser Hinsicht als autonom. Tatsächlich ist Quine ein Kritiker der modalen Logik und stellt zahlreiche Versuche zur Erklärung des Begriffs der Notwendigkeit in Frage. Die logische Wahrheit, in der Definition von Quine, ist eine präzise erklärte Art von Wahrheit, die genau in die Theorie der Referenz passt. Quine stützt sich auf den Begriff der Wahrheit, den er nach der Tarskischen Theorie konstruiert (siehe Tarski). Wenn logische Wahrheiten jene sind, bei denen nur logische Konstanten als wesentliche Bestandteile auftreten, dann ist der Bereich der Logik wesentlich durch das determiniert, was wir als logische Konstanten auffassen. Quine zählt als logische Konstanten die wahrheitsfunktionalen Konnektive ‚nicht‘, ‚und‘, ‚oder‘ ‚wenn … dann‘, ‚wenn und nur wenn‘ auf; ferner die Quantoren ‚alle‘ und ‚einige‘; und schließlich die Identitätsprädikate ‚a = b‘. Die Sprache der Logik ist als eine konstruiert, dass sie aus Sätzen besteht, die ihrerseits aus wahrheitsfunktionalen Konnektiven, Quantoren, Identitätsbehauptungen, schematischen Prädikationsbuchstaben und individuellen Variablen bestehen. Eine auf diese Weise quantifizierende Logik ist auch als Logik erster Ordnung bekannt. Für Quine ist die Logik eine solche der ersten Ordnung, zuzüglich der Identitätsbehauptungen. Im Sinne dieser Konstruktion der Logik ist die modale Logik ausgeschlossen, weil ‚Notwendigkeit‘ hier nicht als eine logische Konstante verstanden wird. Ebenfalls ausgeschlossen ist eine jegliche Logik höherer Ordnung, die Quantoren für Prädikatspositionen zulässt; diese bezeichnet er als ‚Mengenlehre im Schafspelz‘ (‚Philosophy of Logic‘, 1986). Aus anderen Gründen sind andere Vorschläge, wie z.B. die intuitionistische Logik, ebenfalls untauglich. Die Mengenlehre, und mit ihr die gesamte Mathematik, sind kein Teil der Logik (siehe Logische Konstanten). Quine gehört damit zum Lager des logizistischen Programms, das behauptet, die Mathematik sei auf die Mengenlehre reduzierbar. Die Mengenlehre sei die Theorie des ‚… ist ein Element von…‘-Prädikats und wird in der Logik erster Ordnung formuliert. Auf der Grundlage der Theorie der Mitgliedschaft (von Elementen in einer Menge) und der Logik als Logik erster Ordnung plus Identitätsbehauptung führt Quine die mathematischen Ausdrücke als definitorische Abkürzungen ein: beispielsweise wird eine Zahl definiert als eine besondere Menge, die Addition als eine besondere Funktion über die Mengen etc. Er trägt vor, dass die Logik nicht die Men1503
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genlehre umfasse, weil die Eigenschaft der Mitgliedschaft nicht als eine logische Konstante betrachtet werden sollte, und zwar aus den folgenden Gründen: (1) Es besteht allgemeine Einigkeit über die elementare Logik, die in Anbetracht solcher Paradoxa wie z.B. des Russellschen, nicht greift. Alternative Mengenlehren haben den Status wie so viele provisorische Hypothesen. Dies verleiht Quines Auffassung Glaubwürdigkeit, dass eine Mathematik, deren Grundlage die Mengenlehre ist, sich nicht besonders von den anderen Wissenschaften unterscheide. (2) Die Unvollständigkeit der Mengenlehre steht in scharfem Gegensatz zur Vollständigkeit der Elementarlogik. (3) Die Ontologie der Mengelehre ist nicht so gegenstandsneutral wie die der Elementarlogik. Das zweite Relat in der Mitgliedschaftsrelation beschränkt sich dem Typ nach auf Mengen. Die Elementarlogik ist hinsichtlich dessen, was sie behandelt, die Allgemeinste, denn die Variablen der Logik sind nicht auf irgendeine Gegenstandskategorie beschränkt (siehe Logizismus). 5. Kanonische Notation und Ontologische Verpflichtung Seit Frege und Russell ist die existenzielle Quantifikation die bevorzugte Art, auf die die Existenzbehauptungen verstanden wurden. Die Idee ist hier, dass Existenzsätze der natürlichen Sprache in der Sprache der Logik umschrieben werden können, und dass ‚Existenz‘ durch den Existenzquantor der Prädikatenlogik expliziert werden kann. „Existenz ist das, was die existenzielle Quantifikation ausdrückt“ (‚Ontological Relativity‘). Die Funktionen, die das Prädikat ‚existiert‘ in den indogermanischen Sprachen erfüllt, kann durch den ‚∃x‘-Quantor erfüllt werden. Quines Version dieses Themas findet sich in seiner Darstellung der ontologischen Bindung. Die Sprache der Prädikatenlogik erster Ordnung, in der unsere ontologischen Bindungen erklärt werden, ist seine ‚kanonische Notation‘. „Verwendet man die kanonische Notation im strengen Sinne […], so erhalten wir genau diese grundlegende Konstruktion: Prädikation, Quantifikation […] und die Wahrheitsfunktionen […]. Was sich uns als ein Schema für Systeme der Welt präsentiert, ist damit jene Struktur, die von den heutigen Logikern so gut verstanden wird, d.h. die Logik der Quantifikation oder der Prädikatenkalkül. Das soll nicht heißen, dass die Sprachen, auf die man damit verzichtet, auf dem Marktplatz oder im Labor überflüssig seien […]. Die Lehre lautet lediglich, dass eine solche kanonische Sprache abstrahiert werden und in der Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie zur Anwendung kommen kann. Die Lehre lautet, dass alle Züge der Wirklichkeit, die diesen Namen verdienen, in einer Sprache dieser strengen Form abgebildet werden können, sofern sie überhaupt sprachlich abgebildet werden können. Dem Geiste nach ist dies eine philosophische Kategorienlehre, […] philosophisch in ihrem Atem, wenn auch in ihrer Motivation eine, die mit den Wissenschaften einhergeht.“ (‚Carnap on Logical Truth‘, 1960) Ein zentraler Grund dafür, diese Sprache als kanonisch zu betrachten, ist, dass der Gebrauch der Existenzquantoren in ihr ausdrücklich ist. Um die Existenzannahmen oder ontologischen Bindungen einer Theorie zu entdecken, sagen wir sie zunächst in der Sprache der wahrheitsfunktionalen Konnektive und Quantifikationen aus und schauen uns dann die existenziellen Quantifikationen an, die wir erklärt haben. Die Logik des ‚∃x‘ ist die Logik der Existenz, und eine Notation, die ‚∃x‘ explizit macht, macht also auch unsere Ontologische Verpflichtungen explizit. 1504
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Eine der berühmtesten Bemerkungen Quines, „das Sein ist der Wert einer Variablen“ (‚From a Logical Point of View‘, [1953] 1988) fasst dieses Kriterium der ontologischen Bindung zusammen. Das Schlagwort verkörpert auch eine von Quines Ausarbeitungen zu Russells Theorie der definiten Beschreibungen. Russell meinte, dass die Eigennamen in den meisten Sätzen getarnte definite Beschreibungen seien, die nach dessen Theorie als existenzielle Verallgemeinerungen aufgefasst werden. ‚Sokrates ist ein Mensch‘ wird damit zu ‚Der eine Ehemann von Xanthippe ist ein Mensch‘, was wiederum zu der existenziellen Verallgemeinerung wird: ‚Es gibt einen und nur einen (ausschließlich einen) Ehemann von Xanthippe, und dieser ist ein Mensch‘. Quines Ausführung dazu verzichtet vollkommen auf Namen. Wo immer ein Name im ursprünglichen Satz erscheint, kommt man stattdessen in der kanonischen Notation mit Variablen, Prädikaten und logischen Konstanten aus. Wenn wir keine definite Beschreibung zur Hand haben, um den Namen durch sie zu ersetzen, so können wir ein Prädikat bilden wie z.B. ‚sokratisiert‘, sodann das auf diese Weise geprägte Prädikat in einer definiten Beschreibung kapseln und die Beschreibungen über Russells Theorie dann wegdefinieren. So verschwinden die Namen und sind nicht mehr Teil der kanonischen Notation. Der Verzicht auf Namen hat nicht nur den Vorteil einer sparsameren Notation; dadurch wird auch klar, dass die Variablen die Träger der Referenz sind und als solche die Grundlagen der ontologischen Bindung. Der Wert einer Variablen zu sein ist das, wovon das Sein handelt (siehe Ontologische Verpflichtung). 6. Konkurrierende Ontologien Einige wichtige philosophische Unterschiede sind auf konkurrierende Ontologien zurückzuführen. Physikalisten behaupten beispielsweise, dass die grundlegenden Gegenstände physischer Natur seien, während die Phänomenalisten hierfür die Sinnesdaten anführen. Eine aktuelle Fassung der Problemdarstellung der Universalien impliziert einen Disput über die relativen Verdienste: (1) einer nominalistischen Ontologie, derzufolge nur konkrete Einzelgegenstände existieren, und (2) einer realistischen Ontologien wie jene der Platoniker, die die Existenz abstrakter Gegenstände behaupten. Die Frage des Nominalismus gegenüber dem Platonismus ergibt sich für Quine in Verbindung mit der Mathematik, die für die Naturwissenschaften erforderlich ist, sowie aus der Frage, ob es notwendig ist, die Existenz abstrakter Gegenstände wie z.B. jener von Mengen zu fordern. Ein weiteres Gebiet der ontologischen Kontroverse ist es, ob die platonische Annahme nur extensionale Gegenstände umfassen sollte, wie z.B. Mengen, oder auch intensionale, wie z.B. Eigenschaften oder Propositionen (siehe Abstrakte Gegenstände; Nominalismus). Wenn wir die existenziellen Verallgemeinerungen einer Theorie betrachten, die in der kanonischen Notation formuliert werden, um zu sehen, in welcher Hinsicht dort Ontologische Verpflichtungen eingegangen wurden, beantwortet dies jedoch nicht die Frage, welche ontologischen Bindungen wir eingehen sollten. Als ein naturalistischer und wissenschaftlicher Realist betrachtet Quine dies als eine Frage der Erkenntnistheorie. Es handelt sich dabei um die Frage, welche Theorie wir akzeptieren sollten. Sich für eine Theorie (sei es eine naturwissenschaftliche oder philosophische) und die damit einhergehende Ontologie zu entscheiden, findet bei ihm wiederum innerhalb einer naturwissenschaftlichen Perspektive statt. Er beruft sich hier auf dieselben theoretischen Kriterien, die bereits zuvor erwähnt wurden, 1505
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und zwar die explanatorische Kraft, die Sparsamkeit, den Konservatismus, die Präzision etc. Quines eigene Ontologische Verpflichtungen sind das Ergebnis genau solcher Überlegungen. Er ist ein Physikalist, der das phänomenalistische Programm nicht mehr ernst nimmt, teilweise aus Gründen, die mit dem Dogma des Reduktionismus verknüpft sind, und teilweise aus dem Grunde, dass Sinnesdaten in einer neutralisierten Erkenntnislehre nicht mehr gebraucht werden (die Funktionen, die die Sinnesdaten gespielt hatten, werden nun durch Nervenimpulse und Beobachtungssätze übernommen, die schon Teil der physikalistischen Ontologie sind). Aber er ist ein Platoniker, wenn auch widerstrebend, und zwar wegen der Mathematik, die in unseren besten naturwissenschaftlichen Theorien erforderlich ist. In der kanonischen Notation erfordert diese Mathematik eine Quantifizierung über mindestens ebenso viele extensionale, abstrakte Gegenstände, nämlich Mengen, wie es wirkliche Zahlen gibt. In einem frühen Aufsatz, den er gemeinsam mit Nelson Goodman schrieb, mit dem Titel ‚Steps Towards A Constructive Nominalism‘ (1947), werden die Möglichkeiten einer nominalistischen Position erkundet. Aber anders als Goodman kam Quine widerstrebend zu dem Schluss, dass das nominalistische Programm gescheitert sei. Er hat später weitere nominalistische Ansätze überdacht, z.B. durch Berufung auf die substituierende Quantifikation. Der Erfolg dieser Versuche hing davon ab, ob unvorhersehbare Begriffe infolge der in den Naturwissenschaften eingebetteten Mathematik erforderlich waren. Andere, wie z.B. Field, versuchten sich für den Nominalismus einzusetzen, indem sie einige von Quines Beschränkungen ertrugen und andere fallen ließen. Quine hat sich jedoch konsistent gegen Theorien ausgesprochen, die abstrakte Gegenstände intensionaler Art voraussetzen. Ein intensionaler Begriff kann provisorisch als einer beschrieben werden, zu dessen Erklärung Begriffe notwendig sind, die nicht zu bestimmten Annahmen der Logik erster Ordnung und den Standardtheorien der Mengenlehre passen. Intensionale Kontexte sind nicht wahrheitsfunktional, oder sie lassen keine Ersetzbarkeit koextensiver singulärer Terme oder Prädikate zu. Dasselbe gilt für modale Begriffe. ‚Notwendig P‘ ist kein wahrheitsfunktionaler Vorgang; wir können keine singulären Terme oder Prädikate in P, und auch nicht den ganzen Satz P, mit koextensiven Ausdrücken ersetzen und uns sicher sein, dass, wenn der Originalsatz wahr ist, das Ersetzungsergebnis ebenfalls wahr sein wird. In nicht-intensionalen Kontexten, d.h. in extensionalen Kontexten, sind solche Ersetzungsprozesse wahrheitswertbewahrend. Intensionale Gegenstände sind solche, die intensionale Begriffe erfordern, um sie darstellen zu können, wie z.B. Eigenschaften oder Propositionen. Extensionale Gegenstände sind solche, die keiner intensionalen Begriffe zu ihrer Darstellung bedürfen, wie z.B. Sätze oder Mengen. Daher sind Mengen identisch, wenn sie dieselben Elemente haben. Beispielsweise ist die Menge der Menschen dasselbe wie die Menge der federlosen Zweibeiner. Eigenschaften sind andererseits nur dann identisch, wenn sie notwendig zum selben Gegenstand gehören. So sind die Eigenschaften, ein Mensch zu sein und ein rationales Tier zu sein identisch, aber sie unterscheiden sich von der Eigenschaft, ein federloser Zweibeiner zu sein. Ausgehend von Quines Sichtweise der Genauigkeit von Begriffen der Logik erster Ordnung und der Mengenlehre ist es nicht überraschend, dass er den intensionalen Begriffen kritisch gegenüber steht, die nicht auf den Standard-Annahmen der Logik erster Ordnung und der Mengenlehre beruhen. Seine Argumente gegen 1506
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die hypothetische Behauptung intensionaler Gegenstände sind zahlreich und können umrissweise als Fälle aufgezählt werden, wo ihre explanatorische Kraft fraglich ist, wo es auf die Sparsamkeit ankommt, und wo präzise Darstellungen der Identitätsbedingungen solcher Ausdrücke nicht verfügbar sind (‚no entity without identity‘, dt.: ‚[Es gibt] keine Entität ohne Identität‘). Manchmal argumentiert er auch, dass extensionale Ersatzkonstruktionen dasselbe leisten können wie das, wofür wir die intensionalen Gegenstände eingeführt haben, beispielsweise ‚ewige Sätze‘ anstelle von Propositionen, Mengen anstelle von Eigenschaften, geordnete Paare anstelle von Relationen (intensional konstruiert), nichtmodale Ausdrücke anstelle von modalen etc. (siehe Intensionale Entitäten). 7. Unbestimmtheit der Referenz und globaler Strukturalismus Quines Ansicht über die Ontologie erfährt in seinen späteren Schriften eine Verfeinerung. Am wichtigsten ist die Anerkennung, dass der Empirismus nicht allein festlegt, welche Gegenstände als Werte unserer Variablen erforderlich sind. Es gibt eine Unbestimmtheit der Referenz, die mit den empiristischen Verengungen zu der entscheidenden Frage einhergeht, welche Ontologie zu wählen sei. Die These der ontologischen Relativität, die auch unter dem Titel der ‚Unerforschlichkeit‘ oder ‚Unbestimmtheit der Referenz‘ bekannt ist, steht im Einklang mit Quines naturalistischem Empirismus. Sie wurde von ihm zu einer Sichtweise verallgemeinert, auf die er sich unter der Bezeichnung ‚globaler Strukturalismus‘ bezieht. Da dieses System extern nur im Falle von holophrastisch (d.h. aus einem Wort bestehend) konstruierten Beobachtungssätzen, die unauflösliche Ganzheiten sind, eingeschränkt ist, gibt es unterschiedliche, aber gleichermaßen plausible Weisen, die gegebenen Beobachtungsbeschränkungen zu erfüllen, und diese können diverse Ontologien einbeziehen, wie z.B. eine Ontologie der Kaninchen oder eine der Teile von Kaninchen. Es sind die strukturellen Teile des Systems, die erhalten werden müssen, um die Beobachtungsbeschränkungen zu erfüllen. Dies kann aber auch mit ganz anderen Gegenständen als Werte von Variablen geleistet werden. Quine unterstützt eine solche global-strukturalistische Perspektive, indem er seine eigenen Fälle verallgemeinert, und indem er ein weniger global-strukuralistisches Argument aus der Philosophie der Mathematik anführt. Vollkommen unterschiedliche Gegenstände können als Werte der Variablen der Arithmetik angenommen werden, beispielsweise können Zahlen als Frege-Russell-Mengen oder als Von-NeumannMengen aufgefasst werden, ohne damit die Wahrheit der Arithmetik zu verändern. Für Quine ist die Frage sinnlos, ob wir an Kaninchen gebunden sind im Gegensatz zu einer Bindung an die Summe von Kaninchenteilen, oder an eine gegebene Zahl als die Menge aller Mengen, die gleichzahlig mit einer gegebenen Menge ist (wie in der Darstellung von Frege-Russell), oder aber an irgendeine davon unterschiedene Menge (entsprechend der Auffassung von Von Neumann). Sie ist insofern sinnlos, als es keine natürlich-empirische Art und Weise gibt, diese Frage zu stellen. Der globale Strukturalismus ist eine Konsequenz der Leugnung einer Ersten Philosophie, d.h. eines Standpunktes, der alle natürlichen Standpunkte transzendiert. Quines bekannteste Fälle, die als Beweis für seinen globalen Strukturalismus dienen, sind seine Kaninchen-Fälle und seine Stellvertreter-Funktionen, insbesondere jene der kosmischen Gegenstücke. Im Zusammenhang mit seiner Diskussion der sprachlichen Übersetzung des Ausdrucks ‚Gavagai‘ durch einen muttersprach1507
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lichen Sprecher in seinem Buch ‚Word and Object‘, weist Quine darauf hin, dass, wenn man diesen Ausdruck als einen referierenden konstruiert, kein empirischer Weg bliebe zu entscheiden, ob der Sprecher dieses Wort verwendete, um auf Kaninchen, auf Kaninchenteile, auf Kaninchenphasen etc. zu verweisen. In einem späteren Beispiel bittet er uns darüber nachzudenken, wie Sätze über konkrete Gegenstände im Sinne unterschiedlicher Ontologien, die als Werte der Variablen zugewiesen werden, neu interpretiert werden könnten, so dass es keine empirische Möglichkeit mehr gebe zu sagen, welche von ihnen die richtige sei. Tatsächlich ist die Botschaft des Strukturalismus, dass es ein Irrtum sei so zu sprechen, als ob es einen einzigartigen, richtigen Referenten gebe. Der Satz: ‚Dieses Kaninchen ist pelzig‘ ist wahr und wird normalerweise als eine Aussage über einzelne Kaninchen und einzelne pelzige Dinge interpretiert. Wenn wir jedoch die referierenden Anteile daran umgekehrt als die mereologischen, kosmischen Gegenstücke zu Kaninchen interpretieren, so bleibt der Satz wahr, und es gibt, sofern wir dies einheitlich tun, keinen empirischen Weg, zu sagen, welche Ontologie die korrekte ist. Man ordne also der Variablen ‚dieses Kaninchen‘ den gesamten Kosmos abzüglich der Kaninchen zu (man stelle sich ein kosmisch vollständiges Puzzle vor, in dem nur das Stück für ein Kaninchen entfernt wurde; die kosmische Ergänzung wäre dann das Puzzle ohne das Rabbit-Stück). Man ordne dem Prädikat ‚ist pelzig‘ alle jenen kosmischen Ergänzungen oder Gegenstücke von einzelnen pelzigen Gegenständen zu. Der Satz ‚Dieses Kaninchen ist pelzig‘ wäre unter einer solchen Interpretation wahr, weil der Kosmos abzüglich dieses Kaninchens das Element der Menge der kosmischen Gegenstücke einzelner pelziger Dinge ist (d.h. die Menge umfasst das kosmische Gegenstück dieses einzelnen Kaninchens). Man kann diese Behandlung singulärer Sätze nun auf die verbleibenden referenziellen Sätze ausdehnen. 8. Die Bedeutungstheorie: ihre Mythen und Dogmen Quines Reaktion in den 1930er Jahren auf Carnaps Arbeit war eine skeptische Kritik der vorherrschenden Sichtweise unter den analytischen Philosophen, dass die Logik und die Mathematik auf eine sprachlich ganz bestimmte Weise gerechtfertigt seien, d.h. dass sie auf rein analytisch-sprachlichen Wahrheiten beruhen würden, also auf Wahrheiten kraft Konvention. Quines Skeptizismus hier und später hinterfragte die vorgeschlagenen Darstellungen dieser Unterscheidung. Sprachliche Wahrheit oder Wahrheit kraft Konvention, im Gegensatz zu den nicht konventionell begründeten empirischen Wahrheiten, scheint am Ende auf einer mutmaßlichen Unterscheidung zu beruhen, der gar kein wirklicher Unterschied entspricht. Besonders wichtig ist hier der Fehler, nicht das Genauigkeitserfordernis bei der Erklärung dieses Unterschiedes zu erfüllen. In ‚Truth by Convention‘ (1936) und ‚Carnap on Logical Truth‘ (1960) unternimmt Quine verschiedene Versuche, um solche Wahrheiten zu beschreiben, und findet heraus, dass sie meistens entweder zu weit, d.h. nicht charakteristisch für die Logik oder die Mathematik seien, oder dass sie Wahrheiten voraussetzen, die nicht-sprachlicher Natur sind. Es gibt so viele dieser Beschreibungen, wie es unterschiedliche Bedeutungen von ‚Konvention‘ gibt. Quine betrachtet die Wahrheit kraft Bedeutung als etwas, was von Folgendem abhängt: dem Einfluss der Willkür in Axiomatisierungen; der Nichtinterpretation durch Formalisierung; dem Moment der Willkür bei der Hypothesenbildung; und schließlich der Definition. Aber weder die Logik, noch die Mathematik unterscheiden sich da1508
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durch, dass sie axiomatisiert oder formalisiert und deshalb nicht interpretiert werden. Dasselbe ließe sich für andere Disziplinen zeigen, wie z.B. die Physik und die Biologie. Die in gewisser Weise beliebige Wahl, welche Sätze als Axiome gewählt werden, so lange wir nur die richtigen Sätze beweisen können, ist ebenfalls nicht das an ihnen Bestimmende. Wenn die Wahrheit kraft Konvention als das gewissermaßen beliebige Moment bei der Abfassung von Hypothesen verstanden wird, dann ist dies nichts besonders Typisches für die Mathematik und die Logik. Und die beteiligten Formeln unterscheiden sich auch nicht dadurch, dass sie kraft einer Definition wahr sind. Wenn ‚p → p‘ definiert wird als ‚–p ∨ p‘, dann hängt folglich die Wahrheit der definierten Formel von der Wahrheit der definierenden Formel ab, und die Wahrheit dieser Formel ist dann keine Sache der Definition oder Konvention mehr. Für Quine können die Logik und die Mathematik präzise innerhalb der Referenztheorie beschrieben werden. Die Logik wird dort in Bezug auf die Wahrheit, die logischen Konstanten und den Austausch von außerlogischen Elementen beschrieben; die Mathematik lässt sich wiederum im Rahmen der Mengenlehre beschreiben. Aber keines dieser Gegenstandsgebiete unterscheidet sich durch eine besondere erkenntnistheoretische Grundlage, aus der sich ergibt, dass sie in irgendeinem interessanten Sinne ‚analytische‘ oder reine ‚sprachliche Wahrheiten‘ seien. Die ‚beiden Dogmen‘ in Quines Aufsatz von 1951 waren das Dogma der Reduktion (siehe oben § 3) und das Dogma der Unterscheidung von analytisch und synthetisch. Bei der Diskussion des Dogmas der Analytizität fragt Quine, wie er es bereits in ‚Truth by Convention‘ tat, ob diese Unterscheidung überhaupt ordentlich getroffen werden kann. Hier lehnt er fünf Wege zur Erklärung der Analytizität ab. Diese betreffen die Berufung auf: (1) Bedeutungen, (2) Definitionen, (3) Gegenseitige Austauschbarkeit, (4) semantische Regeln und (5) die Verifikabilitätstheorie der Bedeutung. Im Einzelnen: (1) ‚Junggesellen sind unverheiratete Männer‘ kann als analytisch betrachtet werden, wenn dieser Ausdruck als Wahrheit kraft der Bedeutung seiner Worte erklärt wird. Ein Vorschlag ist hier, dass die Bedeutung von ‚unverheirateter Mann‘ von der Bedeutung von ‚Junggeselle‘ umfasst wird. Ein weiterer Ansatz würde die Hypothese der Existenz von Bedeutungen aufstellen, um die Synonymie zu erklären und diese Synonymie einsetzen um zu zeigen, wie der obige Satz eine synonyme Instanz einer logischen Wahrheit ist. Der Erfolg solcher Erklärungen setzt jedoch die Annahme voraus, dass es solche Dinge als präzise beschreibbare Bedeutungen gibt. Quine steht dieser Annahme skeptisch gegenüber. Er verwirft drei Darstellungen der Bedeutung: (a) die Referenztheorien, d.h. Bedeutung als Referenz; (b) den Mentalismus, d.h. Bedeutungen als Ideen; und (c) den Intensionalismus, d.h. Bedeutungen als intensionale Entitäten. Bedeutung, verstanden als der Fregesche ‚Sinn‘, muss von der Referenz unterschieden werden. Der Begriff der Bedeutung, der die Synonymie und die Analytizität erklären soll, kann aber nicht einfach Referenz sein, weil koreferenzielle Ausdrücke synonym sein müssen und damit die analytischen Sätze nicht von den wahren, aber nicht-analytischen Sätzen unterschieden werden. Der Begriff der Wahrheit als Bedeutung, wobei die Bedeutung einfach die Referenz ist, ist zu weit, denn alle Wahrheiten wären dann analytisch. Was die Bedeutungen als Ideen betrifft, zeigt Quine empiristische und behavioristische Bedenken auf. Die Darstellung der Bedeutungen als abstrakte intensionale Entitäten findet sich bei Frege, Carnap und Church. Quine hält dagegen, dass solche intensionalen Gegenstände 1509
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weder als Postulate unserer Sprachtheorien erforderlich seien, noch dass sie genau nachgewiesen werden könnten. Der Versuch einer Erklärung der intensionalen Begriffe ist entweder zirkulär oder bringt uns nicht voran. Es gibt einen Zirkel der intensionalen Begriffe, der Bedeutung, der Synonymie, der Analytizität und der Notwendigkeit, und wir können jeden dieser Ausdrücke durch die jeweils anderen definieren. Quine kritisiert hier, dass die Darstellung, wenn wir aus diesem intensionalen Zirkel nicht ausbrechen, zur Klärung der Angelegenheit nichts beiträgt. Wenn beispielsweise die Bedeutung des Prädikats ‚ist menschlich‘ die Eigenschaft des Menschlichen ist, wie würde dann einer herausfinden, ob ‚ein rationales Tier sein‘ oder ‚ein federloser Zweibeiner sein‘ für dieselbe Eigenschaft steht oder dieselbe Bedeutung hat? Eine Antwort hierauf wäre, dass der Satz ‚Menschen sind rationale Tiere‘ analytisch sei, während der Satz ‚Menschen sind federlose Zweibeiner‘ dies nicht sei. Dies beruht aber auf dem Begriff der Analytizität, der noch gar nicht definiert wurde. Ein weiterer Ansatz zur Ermittlung einer Identitätsbedingung verwendet modale Begriffe und sagt, dass der erste Satz eine notwendige Wahrheit sei, während der zweite dies nicht sei. Dies wirft allerdings das Problem auf, eine präzise Darstellung der Modalbegriffe geben zu müssen. Die Erklärung modaler Behauptungen im Hinblick auf die Analytizität, beispielsweise durch die Behauptung: ‚Menschen sind notwendig rational‘ würde erklärt durch: ‚Der Satz Menschen sind rational ist analytisch‘, leistet dies jedoch nicht, denn wir haben ‚analytisch‘ noch gar nicht definiert. Quines Forderung ist hier, dass man aus diesem intensionalen Zirkel ausbricht und Begriffe aus der Bedeutungstheorie in akzeptableren Ausdrücken erklärt. (2) Als nächstes verwirft er Darstellungen der Analytizität als logische Wahrheit und Synonymie. Nach dieser Darstellung ist ein Satz analytisch, wenn er eine synonyme Instanz einer logischen Wahrheit ist, d.h. ‚Alle Junggesellen sind unverheiratet‘ ist analytisch, weil der Satz von der logischen Wahrheit erster Ordnung ‚Alle Junggesellen sind Junggesellen‘ ableitbar ist, indem man das Synonym für ‚unverheirateter Mann‘ für das zweite Erscheinen von ‚Junggeselle‘ einsetzt. Eine der Darstellungen versucht die Synonymie als Definitionen zu erklären. Die verschiedenen Formen setzen allerdings entweder die Synonymie bereits voraus oder setzen sie einfach fest; keine von ihnen erklärt sie jedoch. Quine ist skeptisch gegenüber den Definitionen, und auch gegenüber der philosophischen Analyse, wenn man sich diese als die Erfassung oder die Analyse eines Begriffs oder einer Bedeutung vorstellt. Stattdessen stellt er sich die philosophische Erklärung im Sinne einer Referenztheorie und der Aufstellung wissenschaftlicher Hypothesen vor, wodurch sie wiederum das naturalistische Thema der Kontinuität von Wissenschaft und Philosophie verkörpert. Man erfasst die Bedeutung eines Ausdrucks nicht; man expliziert eine Theorie der referenziellen Merkmale oder schlägt eine solche vor, und zwar für solche Theorien, an deren Erhaltung man interessiert ist. (3) Ein weiterer Versuch zur Definition der Synonymie behauptet, dass zwei Ausdrücke synonym sind, wenn sie untereinander austauschbar sind. Es genügt aber nicht zu sagen, Ausdrücke seien synonym, wenn der Austausch des einen durch den anderen innerhalb eines extensionalen Kontextes den Wahrheitswert des beteiligten Satzes nicht verändert. Dies hätte die nicht akzeptable Konsequenz, dass lediglich koextensive Ausdrücke synonym wären. Um dies besser zu lösen, muss man auch die Austauschbarkeit innerhalb intensionaler Kontexte fordern. Dies wirft jedoch das Problem des Ausbrechens aus dem Zirkel der intensionalen Begriffe auf. 1510
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(4) Der vierte Ansatz ist ein weiterer von Carnap. Er besteht in der Konstruktion einer künstlichen Sprache und der anschließenden Definition des Ausdrucks ‚analytisch‘ für diese Sprache. Es ist zwar möglich, eine Sprache zu konstruieren und zu spezifizieren, so dass relativ dazu die Logik, die Mathematik und solche Wahrheiten wie ‚Alle Junggesellen sind unverheiratete Männer‘ und ‚Nichts ist größer als es selbst‘ analytische Sätze sind; die sprachrelative Spezifikation der Analytizität klärt die Frage jedoch nicht. Es hilft nicht, wenn dies in einer Sprache erklärt wird, also beispielsweise der Sprache 1 (die eine künstliche oder sonstige Sprache ist), so dass wir über eine Liste 1 der analytischen Sätze verfügen, und in einer weiteren Sprache 2 hätten wir dann eine Liste 2 der analytischen Sätze, und so fort. Wir suchen stattdessen nach einer Erklärung der Analytizität, die besagt, was die Analytizität der Liste 1, 2 etc. gemeinsam haben. Eine Berufung auf die Künstlichkeit der jeweiligen Sprachen liefert eine solche Beschreibung nicht. Denn das Problem besteht doch genau darin, warum ‚Alle Junggesellen sind unverheiratete Männer‘ auf der Liste steht, und nicht ‚Keine Junggesellen sind sechsbeinig‘. Wenn man sagt, ein Satz sei analytisch, weil er auf der Liste steht (und zwar selbst noch auf der Liste einer künstlichen Sprache), liefert dies doch keine wirkliche Unterscheidung. (5) Der letzte Versuch zur Definition der Analytizität, den Quine betrachtet, beruft sich auf die Verifikationstheorie der Bedeutung. Nach dieser Theorie ist „die Bedeutung eines Satzes die Methode seiner empirischen Bestätigung oder Nicht-Bestätigung“; „Sätze sind ausschließlich synonym, wenn sie hinsichtlich ihrer Methode der empirischen Bestätigung oder Nicht-Bestätigung gleich sind“ ([1953] 1988). Obwohl er dieser Theorie wegen ihres empiristischen Vorstoßes zugeneigt ist, meint Quine doch nicht, dass sie die holistische Kritik des Dogmas des Reduktionismus übersteht. Quines Kritik der Bedeutungstheorie hat sich zu der Herausforderung entwickelt, präzise Darstellungen ihrer Begriffe zu liefern. Was als präzise gilt, könnte die Form einer Reduktion intensionaler Begriffe auf extensionale annehmen. Seine Kritik der modalen Begriffe hat eine ganze Generation zu Antworten angeregt, die heute als die Semantik der möglichen Welten bekannt ist, und die in einer ihrer Varianten als der Versuch betrachtet werden kann, eine Reduktion der intensional-modalen Begriffe mittels extensionaler, metasprachlicher Wahrheitsbedingungen für modale Aussagen zu liefern. Der Erfolg dieser Reduktion wird durch Quineaner immer noch in Frage gestellt. Mit der Quineschen Herausforderung zur Erklärung der Bedeutungstheorie hält Davidsons Arbeit, in der ihm eine Tarskische Wahrheitstheorie als Ersatz für eine Bedeutungstheorie dient, schon eher Schritt. Eine weitere Art, wie der Skeptizismus bezüglich der Bedeutungstheorie überwunden werden kann, könnte in der empirisch und behavioristisch beschränkten Darstellung solcher Begriffe liegen. Carnap nahm diese Herausforderung an und skizzierte ein Programm zur empirischen Identifikation von Bedeutungen, indem er Übersetzungshypothesen ausprobierte, beispielsweise die Hypothese eines Linguisten bei der Übersetzung des deutschen Wortes ‚Pferd‘ ins englische ‚horse‘. Quines Antwort hierauf war das Thema der radikalen Übersetzung und seine These der Übersetzungsunbestimmtheit.
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9. Unbestimmtheit der Übersetzung Welcher Teil der Sprache ist einer empirischen Analyse zugänglich? Wie Carnap fasst Quine den Fall der linguistischen Hypothesenbildung über die Übersetzung als eine Angelegenheit der empirischen Untersuchung auf. Beide entnehmen ihre Daten den intersubjektiv verfügbaren öffentlichen Phänomenen von Muttersprachlern, die auf geeignete Reize reagieren. Quine führt den Begriff der ‚Reizbedeutung‘ (engl.: stimulus meaning) eines Satzes für eine Person als jene Klasse von Reizen ein, die diese Person dazu bringen, dem entsprechenden Satz zuzustimmen (d.h. die eindeutige Abbildung eines Reizes und seiner sprachlichen Beschreibung). Quine arbeitet jedoch mit der Reizbedeutung ganzer Sätze wie z.B. ‚Dies ist ein Pferd‘, konstruiert als holophrastisch verschmolzene Ausdrücke wie z.B. ‚HierIstEinPferd‘, und nicht einfache Ausdrücke wie z.B. ‚Pferd‘. Der Quinesche Linguist bietet eine Hypothese an, die zwei solche verschmolzenen Sätze einander gegenüberstellt und prüft (einer vom ursprünglichen Muttersprachler und der andere vom ihn beobachtenden Liguisten), ob der Muttersprachler dem muttersprachlichen Satz in Gegenwart eines nonverbalen Reizes zustimmt oder nicht. Ein Grund zum Einsatz solcher holophrastischer Sätze ist, dass wir es hier mit dem ersten und entscheidenden Schritt des Spracherwerbs zu tun haben. In dem Schlüsselbeispiel einer Übersetzung ist Quines Feldlinguist in einer ähnlichen Situation wie ein Kind, das eine Sprache lernt, ohne vorausgehende sprachliche Fähigkeiten zu haben. Das heißt, wir haben es hier mit den öffentlichen Bedingungen des Lernens jener Teile einer Sprache zu tun (Ein-Wort-Sätze), die kein Wissen anderer Teile dieser Sprache voraussetzen, insbesondere nicht jener Teile, die von den Reizbedingungen weit ‚entfernt‘ sind. Diese Sätze, die als Anfangsschritt dienen, sind Quines Beobachtungssätze, und sie dienen auch als eine Beobachtungsgrundlage zur Prüfung wissenschaftlicher Theorien. Carnap betrachtete die Übersetzung für Sprachen wie das Deutsche und das Englische, von denen bekannt ist, dass sie vieles gemeinsam haben. Für Quine ist der kritische Fall aber jener der radikalen Übersetzung, d.h. einer Übersetzung zwischen Sprachen, die wenig oder gar nichts gemeinsam haben. Man denke sich einen Linguisten in einem radikal fremden Stamm. Der Linguist beobachtet eine gewisse Korrelation zwischen einer muttersprachlichen Äußerung von ‚Gavagai‘ und den Ein-Wort-Satz ‚Kaninchen‘, der die Abkürzung von ‚HierIstEinKaninchen‘ ist. Der Linguist könnte, wenn er lernt, wie er die Zustimmung oder die Ablehnung des Muttersprachlers erkennen kann, den Muttersprachler fragen, indem er ‚Gavagai‘ äußert, sobald ein Kaninchen auftaucht, und schauen, ob dieser zustimmt. Carnap würde dies vermutlich als Beweis gelten lassen wollen, dass die Ausdrücke in einem Satz ‚Gavagai‘ und ‚Kaninchen‘ dieselbe Bedeutung haben. Aber geht der Beweis wirklich so weit? Alles, was wir als Daten vorzuliegen haben, ist der Ausdruck des Muttersprachlers und den Kaninchen-Reiz. Quine behauptet, dass man den holophrastischen Satz ‚Gavagai‘ auf dieser Grundlage genauso gut als ‚HierIstEinKaninchen‘, ‚HierIstEineKaninchenPhase‘ oder ‚HierIstEinZeitlicherAbschnittEinesKaninchens‘, oder auch als noch etwas anderes übersetzen könnte. Denn immer, wenn Kaninchenreize vorliegen, sind auch Kaninchenphasenreize gegeben. Auf welcher Grundlage soll man aber nun zwischen den verschiedenen Übersetzungen entscheiden? Im Falle kulturell ähnlicher Sprachen geht man von einem Vorrat theoretischer Leitlinien für die Übersetzung aus und kann den Deutschen daher fragen, ob alle horses auch ‚Pferde‘ und alle ‚Pferde‘ auch ‚horses‘ sind. Solche theoretischen 1512
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Leitlinien (Quine bezeichnet sie als ‚analytische Hypothesen‘) erscheinen unter den entfernteren Teilen einer Sprache, auf die das Kind oder der Feldlinguist zu Beginn seines Spracherwerbs keinen Zugriff hat. Im Falle der radikalen Übersetzung ist der Linguist nicht in der Lage, überhaupt noch theoretische Fragen über die entfernteren Teile einer Sprache formulieren zu können. An diesem Punkte können Hypothesen durch den Linguisten eingeführt werden, die weniger direkt mit den Daten, d.h. den Reizbedingungen verbunden sind. Diese analytischen Hypothesen können so eingeordnet werden, dass sie auch noch sehr unterschiedlichen und miteinander unvereinbaren Überzeugungen gerecht werden. Daher liefert die radikale Übersetzung einen Beweis für die Vermutung der Unbestimmtheit der Übersetzung (siehe Fundamentale Übersetzung und Fundamentale Interpretation). Um diese Darstellung für den ‚Gavagai‘-Fall zu illustrieren, müssen wir zunächst feststellen, dass der Linguist, um fragen zu können: ‚Ist dieses Kaninchen dasselbe wie jenes?‘, sich bereits entschieden haben muss, wie man Artikel, Pronomen, Identitätsprädikate etc. übersetzt. Diese Sätze zu übersetzen heißt, weit über die Daten hinauszugehen, die durch Reize geliefert werden, und dies bringt die Notwendigkeit einer Auswahl unter unterschiedlichen Mengen analytischer Hypothesen mit sich, d.h. unterschiedliche mögliche ‚Gebrauchsanweisungen‘ für die Übersetzung. Nach einer solchen Anweisungsmenge übersetzen wir die Frage mit ‚Ist dies dasselbe Kaninchen wie jenes?‘, während wir sie nach einer anderen Anweisungsmenge als ‚Ist dies eine Kaninchenphase aus derselben Reihe wie jene Phase?‘ Jede dieser Übersetzungen ist gleich gut, und dennoch sind sie untereinander unvereinbar. Da keine von ihnen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem ‚Gavagai‘-Reiz steht, gibt es keine Möglichkeit, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Diese Unbestimmtheit liefert Quine weitere Gründe für die Diskreditierung des Begriffs der Bedeutung. Die Philosophen redeten so, als ob die Bedeutungen zu sprachlichen Ausdrücken ungefähr in so einer Beziehung stünden, wie die Bilder in einem Museum zu dem Titel stehen, der unter ihnen befestigt ist. Quine apostrophierte dies als den ‚Museumsmythos‘. Nach dieser Auffassung sind zwei Ausdrücke synonym, wenn sie eine Beziehung zu einer einzigen Bedeutung unterhalten, wie zwei Titel für dasselbe Bild. Im Falle der Übersetzung ist ein deutscher Ausdruck eine Übersetzung eines anderen Ausdrucks einer fremden Sprache, wenn die beiden in einer Eins-zu-eins-Beziehung zum selben intersprachlichen Gegenstand stehen, der ihre Bedeutung ist. Quine versucht dieses Modell des Denkens über die Sprache auszuhebeln und an seine Stelle eine mehr empirisch orientierte Konzeption zu stellen. Nach dem Museumsmodell hat ein Ausdruck seine Bedeutung, ganz schlicht und einfach, und zwei synonyme Ausdrücke stehen in einer eindeutigen Beziehung zu einer Bedeutung, die als intersprachliche, von den Sprachen abhängt, in denen sie ausgedrückt wird. Quine hat dagegen gezeigt, dass es keinen Sinn macht, von sprachunabhängigen Bedeutungen zu sprechen. Übersetzungen von einer Sprache in eine andere stehen relativ zu einer Menge analytischer Hypothesen. Es gibt keine unabhängige Bedeutung von ‚Gavagai‘, die der Linguist mit ‚HierIstEinKaninchen‘ und nicht mit ‚HierIstEineKaninchenPhase‘ verknüpfen kann. Die drei Sätze sind reizsynonym. Die öffentlichen Daten schaffen nicht das Ergebnis herbei, dass nur die ersten beiden als synonym im vollen Wortsinne angesehen werden können, d.h. im Sinne des Museumsmodells von Sätzen, die ein und dieselbe Proposition zum Gegenstand haben. Der Linguist ist bestenfalls in der Lage sagen zu können, dass 1513
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‚Gavagai‘ und ‚HierIstEinKaninchen‘ beide synonym sind relativ zur Annahme bestimmter analytischer Hypothesen. Wir müssen die Sprache im Hinblick auf das sprachliche Verhalten im Angesicht öffentlich zugänglicher Reizbedingungen studieren; im Gegenzug muss dieses Verhalten in Beziehung auf stärker theoretische Hintergrundannahmen interpretiert werden. Mit Ausnahme von Beobachtungssätzen verfügen wir damit bestenfalls über Bedeutungsbegriffe, nämlich jene der Synonymie und der Analytizität, und diese werden nicht das leisten, was die Philosophen nach dem Museumsmodell zu urteilen von ihnen erwarten. Wenn man nicht einmal hier die voll umfängliche Bedeutung bzw. Aussage empirisch eindeutig bestimmen kann, wo sie doch in einer Bedeutungstheorie für Sätze postuliert wird, die den Reizbedingungen so nahe steht, dann sind die Aussichten eher noch schlechter für den Rest der Sprache, der sich von diesen Bedingungen weit entfernt befindet, z.B. in Sätzen wie: ‚Franks Onkel ist übergewichtig‘, ‚Die Erblichkeit ist eine Sache der Gene‘ oder ‚2 + 2 = 4‘. Quine und der späte Wittgenstein sind zwei der strengsten Denker, die die Sprache in den öffentlichen Bedingungen verorten. Für Wittgenstein führt dies zur Leugnung der privaten Sprachen und zu Kripkes Rätsel betreffend den Erwerb bestimmter Regeln (siehe Kripke, S.A.). Für Quine führt das öffentliche Erlernen einer Sprache in der Referenztheorie zur These der Unbestimmtheit / Unerforschlichkeit der Referenz, und in der Bedeutungstheorie zur Vermutung der Unbestimmtheit der Bedeutung. Quine besteht auf dem Behaviorismus als der erforderlichen Methode zum Studium des Spracherwerbs. Er trägt vor, dass wir die Sprache durch Beobachtung des verbalen Verhaltens lernen, und dass unser Verbalverhalten durch andere verstärkt wird. Es gibt jedoch naturalistische Darstellungen des Spracherwerbs, die wissenschaftlich beachtlich und gleichwohl nicht behavioristisch sind (siehe Chomsky, N.). Doch obwohl Quine auf dem Behaviorismus als der Methode zum Studium und zur Aneignung von Sprachen besteht, ist er doch kein Behaviorist in der Psychologie oder der Philosophie des Geistes. Hinsichtlich des Geist-Körper-Problems unterstützt er Davidsons ‚Anomalen Monismus‘, d.h. die Ansicht, dass unsere Redeformen vom Geistigen, beispielsweise von Wahrnehmung und Überzeugungen, nicht nach Maßgabe von Naturgesetzen dargestellt werden können, die die zugrunde liegenden physiologischen Zustände steuern, selbst wenn unsere geistigen Zustände genau solche Zustände sind. Quine konstruiert diese Frage so, dass geistige Zuschreibungen eine Rolle im alltäglichen Leben und den Sozialwissenschaften spielen, die nicht ganz genau in rein physiologischen oder physikalistischen Ausdrücken bezeichnet werden kann.
Siehe auch: Analytische Philosophie; Behaviorismus, Methodischer Wissenschaftlicher
und
Anmerkungen und weitere Lektüre: Orenstein, A. (2002): ‚W.v.O. Quine‘. Chesham, Bucks: Acumen Press und Princeton: Princeton University Press. (Eine Darstellung von Quines Denken, seinem Denken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts und einige ihrer Herausforderungen.) Quine, W.v.O. (1964): ‚Word and Object‘. New York u. Boston, Massachusetts: MIT Press; dt.: ‚Wort und Gegenstand‘, Stuttgart 1980 (Reclam). (Eine reiche Quelle zum Studium der Quineschen Ansichten über die Bedeutung, die Übersetzung, die Referenz, die Modalität und die propositionalen Einstellungen.) 1514
Quine, Willard van Orman (1908-2000)
Quine, W.v.O. [1953] (1988): ‚From a Logical Point of View‘. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. (Eine Sammlung von einigen seiner berühmtesten Aufsätze, einschließlich der ‚New Foundations for Mathematical Logic‘, ‚On What There Is‘ und ‚Two Dogmas of Empiricism‘.) ALEX ORENSTEIN
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R Rabbinisches Gesetz Siehe: Halakhah
Rambam
Siehe: Maimonides, Moses
Ramée, Pierre de la Siehe: Ramus, Petrus
Ramsey, Frank Plumpton (1903–1930)
Bevor Ramsey bereits im Alter von sechsundzwanzig Jahren starb, leistete er in einem enormen Umfange Pionierarbeit auf den Gebieten der Ökonomie und der Mathematik, aber auch in der Logik und der Philosophie. Seine größten Beiträge zu letzteren Gebieten sind die folgenden: (1) Er fertigte eine abschließende Fassung von Bertrand Russells versuchter Reduktion der Mathematik auf die Logik an. (2) Er produzierte die erste quantitative Entscheidungstheorie, die beispielsweise auf die Frage antwortet, ob man zum Bahnhof gehen soll, um einen Zug zu nehmen. Seine Theorie zeigt, wie solche Entscheidungen von der Stärke unserer Überzeugungen abhängen (dass z.B. der Zug fahren wird), und von Wünschen (dass man ihn erwischt), und er verwendet diese Abhängigkeit zur Definition allgemeiner Maßstäbe der Überzeugung und des Wünschens. Diese Theorie liegt auch seiner Behauptung zugrunde, dass eine Induktion dadurch vernünftig wird, dass sie ein verlässlicher Weg zur Bildung wahrer Überzeugungen ist. Dies liegt wiederum seiner allgemeinen Gleichsetzung des Wissens mit den zuverlässig gebildeten wahren Überzeugungen zugrunde. (3) Er verwandte die Äquivalenz der Überzeugung von einer Aussage und der Überzeugung, dass sie wahr sei, zur Definition der Wahrheit im Sinne von Überzeugungen. Dies setzte er wiederum ein zur Definition, wie diese Überzeugungen auf unsere Handlungen einwirken, und ob diese Handlungen unsere Wünsche erfüllen können. (4) Er entwickelte zwei Theorien der Naturgesetze. Nach der ersten von ihnen sind Gesetze Verallgemeinerungen, die in der einfachsten wahren Theorie von allem Axiome und Theoreme wären. Nach der zweiten Theorie sind die Naturgesetze Verallgemeinerungen, die ausnahmslos gelten, und die, sofern sie bekannt sind, zur Unterstützung von Voraussagen verwendet werden (‚Ich werde verhungern, wenn ich nichts esse‘), und folglich auch zum Treffen von Entscheidungen (‚Ich werde essen‘). (5) Er zeigte, wie festgestellte Phänomene, z.B. der Optik, durch Theorien erklärt werden können, indem zuvor unbekannte Ausdrücke verwendet werden, wie z.B. ‚Photon‘, die mit diesen Theorien eingeführt werden. (6) Er zeigte, warum keine grammatische Unterscheidung zwischen Subjekten wie ‚Sokrates‘ und Prädikaten wie ‚ist weise‘ einen inneren Unterschied zwischen Einzeldingen und Universalien aufweist. Siehe auch: Überzeugung; Frege, G.; Geist, Identitätstheorie des; Universalien
D.H. MELLOR
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Ramus, Petrus (1515–1572)
Ramus, Petrus (1515–1572)
Petrus Ramus, der über viele Jahre Professor für Philosophie und Redegewandtheit an der Universität von Paris war, schrieb Lehrbücher und umstrittene Aufsätze über die Grammatik, Logik, Rhetorik, Mathematik, Physik und Philosophie. Er war auch ein Universitätsreformer. Seine Anhänger waren fleißige Kommentatoren, Verfasser von ramistischen Analysen klassischer Texte und eigenen Handbüchern. Seine logischen Arbeiten und die seiner Schüler übten großen Einfluss zwischen 1550 und 1650 aus. Seine Ausbildung war humanistisch insofern, als er die Scholastik angriff und das Studium sowie die logische Analyse klassischer Texte unterstützte, wie es schon Agricola, Sturm und Melanchthon getan hatten. Er war allerdings wesentlich freigeistiger gesonnen als die Vorgenannten, ein strenger Kritiker der Lehren von Aristoteles und Cicero sowie ein Bewunderer ihres Stils und Intellekts. Seine wichtigste Neuerung war eine methodische. Er verwendete eine Organisationstheorie zur Vereinfachung seiner Lehrbücher. Dem lag seine Betonung des Lernens zugrunde, weshalb die Bücher umfassend und nützlich sein sollten, und er betonte insbesondere die praktischen Aspekte der Mathematik. Seine Kritiker würden vielleicht sagen, er habe die Dinge übermäßig vereinfacht. Er studierte die gallische Pseudo-Antike und war ein wichtiger Verfechter der französischen Sprache. Seine ‚Dialectique‘ (1555) war das erste Buch über die Dialektik auf Französisch. Siehe auch: Platonismus in der Renaissance; Renaissance-Philosophie; Rhetorik PETER MACK
Randgruppen
Die traditionelle Definition von Randgruppen erfasst diejenigen, die in zwei Welten leben, sich aber in keiner von beiden richtig zu Hause fühlen, sowie jene, die in Gesellschaften leben, die sich in einem Anpassungsprozess an eine sich abzeichnende globale Gesellschaft befinden. Der Einfluss der angloamerikanischen und europäischen Kulturen hat diese Situation hervorgebracht. Ein erweitertes, etwas aktuelleres Verständnis der sozialen Randlage ist der Zustand oder das Gefühl, sich im Verhältnis zu einem sozialen ‚Zentrum‘ (wovon es unterschiedliche Vorstellungen gibt) am Rande zu fühlen. Dieser Zustand des Am-Rande-Seins erzeugt eine stigmatisierte Identität, die sich entweder nach Einschluss oder aber nach einer Angleichung ans jeweilige ‚Zentrum‘ sehnt, oder die eine Anerkennung bzw. Respekt für ihre gesonderte, aber gleichwertige Existenz verlangt. Dieser Zustand der sozialen Randlage kann in unterschiedlichem Grade von vielen Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen erfahren werden. Oft sind das Geschlecht, sexuelle Vorlieben, Alter, ethnische Herkunft, Geographie und Religion wichtige Faktoren, die die Wahrnehmung der Marginalität beeinflussen können. Jene, die sich selbst als Randpersonen wahrnehmen oder von anderen so wahrgenommen werden, sind oft weiblich, dunkler Hautfarbe, sehr jung oder älter, arm, behindert, nicht heterosexuell, heimatvertrieben, exiliert, immigriert, ländlich, eingeboren, ‚fremd‘, außenseiterisch, verfolgt oder auf andere Weise von jenen unterschieden, die privilegierte Positionen im jeweiligen sozialen ‚Zentrum‘ oder der Metropolis einnehmen. Kritiker des Ausdrucks ‚Randgruppe‘ meinen, dass er bis zu einem Punkt abgenutzt ist, wo er jede beschreibende Genauigkeit verloren hat, weil praktisch jeder an sich schon irgendeine Form von sozialer Randlage erfahren hat. In der Philosophie jedoch hat das Gefühls- oder Seinsphänomen, das
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Rationalen Wahl, Theorie der
als ‚peripher‘ oder ‚am Rande stehend‘ wahrgenommen wird, kritische Perspektiven hervorgebracht, die einen Diskurs über die soziale Integration und Schichtung, sowie über persönliches Leiden und wirtschaftliche, politische und kulturelle Ungleichheit entfacht haben. Darüber hinaus haben Randgruppenanalysen die Begriffe des ‚Universalen‘ und des ‚Objektiven‘ in Frage gestellt, die von vielen westlichen Philosophen in Anspruch genommen werden. Siehe auch: Andersheit und Identität, Postmoderne Theorien der AMY A. OLIVER
Rationalen Wahl, Theorie der
Die Theorie der rationalen Wahl ist ein Nachkomme der früheren philosophischen Disziplin der ‚Politischen Ökonomie‘. Ihr Kern ist die Bemühung um eine Erklärung und manchmal auch um die Rechtfertigung der kollektiven Ergebnisse mehrerer oder vieler Einzelpersonen, die von ihren eigenen Beweggründen ausgehend handeln, üblicherweise aus Eigeninteresse, manchmal aber auch nach sehr viel allgemeineren Maßstäben, als dass man diese Handlungen unter ‚Vorlieben‘ subsumieren könnte. Das entschlossene Ausgehen von der Annahme des Eigeninteresses in den sozialen Handlungen und Institutionen begann mit Hobbes und Machiavelli, die deshalb manchmal als jene Figuren betrachtet werden, die das neuzeitliche vom früheren politischen Denken trennen. Machiavelli empfahl dem Prinzen die Annahme des Eigeninteresses; Hobbes wandte diese Annahme auf jeden Menschen an. Ihre Sichtweise der menschlichen Motivation pflanzte sich fort und veränderte die Wirtschaftswissenschaften über die Arbeiten von Mandeville und Adam Smith. Diese Annahme war auch ein wichtiger Aspekt beim Niedergang der Tugendethik, die zuvor die Ethik über viele Jahrhunderte hinweg dominiert hatte. Die Spieltheorie wurde fast vollständig während des 2. Weltkrieges durch den Mathematiker von Neumann und den Wirtschaftswissenschaftler Morgenstern entwickelt. Ihre Theorie war weniger eine Voraussage des Entscheidungsverhaltens, noch gab sie Erklärungen für ein solches, sondern sie stellte einen Rahmen zur Betrachtung komplexer sozialer Interaktionen dar. Sie fand praktisch umgehend Anklang bei Mathematikern und Verteidigungsanalytikern, deutlich später auch bei den Sozialpsychologen, und noch später auch bei den Wirtschaftswissenschaftlern und den Philosophen. Es ist aber inzwischen praktisch notwendig, gewisse Probleme spieltheoretisch darzustellen, um sie überhaupt klären und zu anderen Analysen in Beziehung setzen zu können. Der Rahmen der Spieltheorie definiert Ergebnisbereiche, die Spieler durch ihre gleichzeitigen oder aufeinander folgenden Züge in Spielen, an denen sie teilnehmen, erreichen können. Spielzüge sind im Wesentlichen strategische Wahlentscheidungen, und die Ergebnisse sind Schnittmengen von Strategiewahlen. Wenn Sie und ich an einem Spiel teilnehmen, hängen wir hinsichtlich unseres Spielergebnisses beide typischerweise von unseren eigenen strategischen Wahlentscheidungen und denen des jeweils anderen Spielers ab. Der verblüffendste Fortschritt in der Ökonomie des 20. Jahrhunderts ist vermutlich der Wechsel von der Kardinalwert- zur Ordinalwerttheorie. Dieser Wechsel brachte große Vorteile bei der Lösung gewisser Problemklassen; andererseits wurden viele Aufgaben dadurch aber auch schwieriger. Beispielsweise könnte die zentrale Aufgabe der Gruppierung von Einzelpräferenzen zum Kollektivnutzen zumindest prinzipiell als eine Sache reiner Arithmetik im Kardinalsystem erledigt werden. In diesem System war der Utilitarismus Benthamscher Prägung die selbst1518
Rationalen Wahl, Theorie der
verständliche Theorie für eine Wohlfahrtsökonomie, allerdings gab es keinen offenkundigen Weg, die Einzelinteressen zu kollektiven Präferenzen zusammenzufassen. Wir können zwar tun, was Pareto (siehe Pareto-Prinzip) vorschlug, aber mehr war zunächst nicht möglich: wir könnten das System optimieren, indem wir Paretos Verbesserungsvorschläge anwenden, denen zufolge zumindest eine Person nach dem vorgeschlagenen Verfahren besser wegkommt, aber niemand schlechter. Wir können den Kollektivnutzen aber nicht maximieren. In seinem Unmöglichkeitstheorem zeigte Arrow, dass es unter vernünftigen Bedingungen keine allgemeine Methode zur Umformung einer individuellen Interessenshierarchie in eine kollektive gibt. Das Problem des rationalen Wählers kann man verallgemeinern. Angenommen, ich bin Mitglied einer Gruppe vieler Menschen, die ein gemeinsames Interesse am Besitz eines gewissen Wirtschaftsgutes haben, doch niemand von uns bewertet seine Versorgung mit diesem Gut so hoch, dass es ihm gerechtfertigt erschiene, es insgesamt alleine zu bezahlen. Man nehme ferner an, wenn jeder von uns einen proportionalen Anteil an den Kosten zahlt, dass dann jeder Einzelne davon mehr profitiert, als er bezahlt hat. Dummerweise ist der Nutzen aus meinem Beitrag allein, ohne Einzahlung der übrigen, jedoch geringer als der Wert meines Beitrages. Folglich werde ich, wenn die Beiträge streng freiwillig sind, es vielleicht vorziehen, nichts beizutragen und stattdessen schauen, das zu nutzen, was aus den Beiträgen der anderen folgt. Ich werde dadurch zum Trittbrettfahrer. Wenn wir uns alle rational zur Trittbrettfahrerei entschließen, versagt unsere Gruppe und niemand hat den erwünschten Vorteil. Eine möglicherweise beunruhigende Folge des spieltheoretischen Verständnisses der Rationalität in interaktiven Wahlentscheidungskontexten, aber auch die Folge aus dem Arrowschen Unmöglichkeitstheorem, aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Theorie der Demokratie und aus der Logik des kollektiven Handelns ist, dass vieles von der philosophischen Demokratietheorie, das normalerweise normativ gefasst ist, für unsere Möglichkeiten irrelevant ist. Die Dinge, die uns von diesen Theorien oft als jene erzählt werden, die wir tun sollten, können nicht getan werden. Siehe auch: Entscheidungs- und Spieltheorie; Sozialwahl, Theorie der RUSSELL HARDIN
Rationalismus
Mit ‚Rationalismus‘ wird die Auffassung bezeichnet, dass die Vernunft1, im Gegensatz z.B. zur Sinneserfahrung, der göttlichen Offenbarung oder dem Vertrauen auf institutionelle Autoritäten, eine herrschende Rolle in unserem Versuch eines Erkenntnisgewinns spielen soll. Unterschiedliche Formen des Rationalismus werden durch unterschiedliche Konzeptionen der Vernunft und ihrer Rolle als Erkenntnisquelle voneinander gesondert, aber auch durch unterschiedliche Beschreibungen der alternativen Darstellungen des Wesens der Erkenntnis, sowie durch eine unterschiedliche Auswahl der Gegenstände, z.B. der Ethik, der Physik, der MathemaIn diesem Beitrag wird die Fähigkeit zum rationalen Denken durchgängig als ‚reason‘ bezeichnet, was auf deutsch mit ‚Vernunft‘ zu übersetzen ist. Der Ausdruck ‚Verstand‘ wird im Englischen allerdings ebenfalls als ‚reason‘ bezeichnet, darüber hinaus jedoch auch noch mit vielen anderen Worten wie z.B. ‚intellect‘‚ ‚understandig‘, ‚mind‘, ‚apprehension‘ etc. Die hier nicht getroffene Unterscheidung von ‚Vernunft‘ und ‚Verstand‘ ist folglich bei der Lektüre des Beitrages zu beachten. [WS]
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Rationalismus
tik, der Metaphysik, relativ zu denen die Vernunft als eine bedeutende Quelle der Erkenntnis angesehen wird. Die übliche Anwendung des Ausdrucks ‚Rationalist‘ sagt sehr wenig darüber, ob oder was zwei Philosophen gegebenenfalls gemeinsam haben. Angenommen, wir meinen mit der Vernunft unsere intellektuellen Fähigkeiten im Allgemeinen, einschließlich der Sinneserfahrung. Die Vernunft anzuwenden heißt dann, unsere individuellen intellektuellen Fähigkeiten zum Aufsuchen von Beweisen für und gegen mögliche Überzeugungen einzusetzen. Bei der Anwendung der Vernunft zu versagen heißt, Überzeugungen auf der Grundlage von nicht-rationalen Prozessen zu bilden wie z.B. dem blinden Glauben, dem einfachen Meinen oder dem gedankenlosen Gehorsam gegenüber institutionellen Autoritäten. Nimmt man ferner an, dass wir uns die Erkenntnis als wahre, gesicherte Überzeugung vorstellen, wobei die Sicherung erfordert, dass eine Überzeugung über vernünftige Zweifel hinaus erhaben ist, wenn auch nicht über jegliche, d.h. noch die leisesten Zweifel. Damit erhalten wir die folgende Fassung des Rationalismus: die Vernunft ist die wichtigste Erkenntnisquelle der rationalen Wissenschaften. Dies ist eine schwache Fassung des Rationalismus, die lediglich behauptet, dass unsere individuellen, intellektuellen Fähigkeiten im Gegensatz zum blinden Glauben etc. die wichtigsten Erkenntnisquellen der Naturwissenschaften sind. Dies ist allerdings nicht besonders strittig, d.h. weitgehend akzeptiert. Angenommen nun, wir verstehen die Vernunft als eine spezifische Erkenntnisfähigkeit, die insbesondere von der Sinneserfahrung zu unterscheiden ist. Die Vernunft anzuwenden heißt, selbstevidente Wahrheiten zu begreifen oder weitere Schlussfolgerungen aus ihnen abzuleiten. Angenommen, wir betrachten die Erkenntnis als wahre, gesicherte Überzeugung, wobei die Gesichertheit nunmehr erfordert, dass eine Überzeugung sogar ohne den leisesten Zweifel gegeben ist. Wir weiten nunmehr unsere Aufmerksamkeit auf die Metaphysik und Fragen wie z.B. jene nach der Existenz Gottes, des freien menschlichen Willens und der Unsterblichkeit aus. Damit stoßen wir auf eine weit strengere Fassung des Rationalismus, die behauptet, dass die intellektuelle Erfassung selbstevidenter Wahrheiten und die Deduktion von weiteren Wahrheiten, die nicht selbstevident sind, die wichtigste Quelle wahrer Überzeugungen ist, und zwar noch ohne den leisesten Zweifel sowohl von Seiten der Naturwissenschaften, als auch von Seiten der Metaphysik. Diese Auffassung von Rationalität ist offenkundig sehr umstritten und nicht besonders weit verbreitet. Der Ausdruck ‚Rationalismus‘ wurde geschichtlich zur Bezeichnung eines ganzen Bereichs von Ansichten verwendet. Die Gelehrten der Aufklärung hatten dabei, wenn sie sich auf den rationalistischen Geist der Epoche und der Arbeiten solcher Philosophen wie z.B. Voltaire beziehen, allgemein so etwas wie das erste Beispiel im Kopf, also ein allgemeines Vertrauen in die Kräfte des menschlichen Intellekts als Erkenntnisquelle, im Gegensatz zum Glauben und der blinden Akzeptanz institutioneller Autorität. Am häufigsten wird der Ausdruck ‚Rationalismus‘ zur Bezeichnung von Ansichten wie der zweiten oben genannten verwendet, die die Vernunft als eine spezifische Erkenntnisfähigkeit im Gegensatz zur Sinneserfahrung ansehen. Der Rationalismus steht damit im Gegensatz zum Empirismus, d.h. der Auffassung, dass die Sinneserfahrung die primäre Erkenntnisquelle ist. Siehe auch: Empirismus; Aufklärung, kontinentaleuropäische PETER J. MARKIE 1520
Rationalität und kultureller Relativismus
Rationalität und kultureller Relativismus
Unter welchen Bedingungen können wir die Praxis oder die Überzeugungen in einer anderen Kultur dahingehend beurteilen, sie sei rational mangelhaft? Ist es möglich, dass Kulturen sich so radikal voneinander unterscheiden, dass sie unterschiedliche und sogar inkommensurable Weisen der Vernunft verkörpern? Sind Normen der Rationalität kulturrelativ, oder gibt es kulturunabhängige Normen der Rationalität, die zur Beurteilung von Überzeugungen und der Praxis aller menschlichen Kulturen eingesetzt werden können? Damit man über die Rationalität anderer Kulturen urteilen kann, muss man sie zunächst verstehen. Das Verständnis einer sehr andersartigen Kultur wirft an sich schon philosophische Probleme auf. Wie gelangen wir zu einer anfänglichen Übersetzung der Sprache dieser Kultur? (siehe auch Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation; Quine, W.v.O.). Können wir beispielsweise unsere Kategorien zum Verständnis der sozialen Praxis einer anderen Kultur verwenden, oder unsere Kategorien der Wissenschaftlichkeit, der Magie und der Religion? Oder würde die Übertragung unserer Kategorien auf die Praxis kulturell entfernter Gesellschaften zu einem verzerrten Bild führen, wie dort die soziale Praxis und ihre Institutionen konstruiert sind? Um diese Fragen hat sich schon seit den 1950er Jahren eine lebhafte Debatte entzündet. Ein Teil dieser Debatte bemüht sich um die Klärung der schwierigen Begriffe der Rationalität und des Relativismus. Welche Arten rationaler Urteile sind angemessen? Vielleicht Urteile darüber, wie gut die Handlungen und sozialen Praktiken eines Akteurs den Normen seiner Kultur entsprechen? Oder aber Urteile über die Normen der Rationalität einer Kultur als solchen? Kann der Relativismus in eine kohärente Formulierung gebracht werden, der die offenkundigen Unstimmigkeiten bewahrt, die er gerade darstellen soll? Kann es inkommensurable Kulturen geben, so dass eine Kultur eine andere in diesem Falle gar nicht verstehen kann? Nach Donald Davidsons Theorie der Interpretation (im Anschluss an die Theorie der Übersetzung von W.v.O. Quine) erfordert die radikale Übersetzung die Anwendung eines Prinzips des Wohlwollens, das im Prinzip die Möglichkeit inkommensurabler Kulturen ausschließt. Wenn dieses Ergebnis hingenommen wird, schließt man damit eine strenge Form des kulturellen Relativismus hinsichtlich der Rationalitätsnormen ebenfalls aus. Davidsons Theorie, so wenden manche ein, eliminiere nicht die Möglichkeit einer Zuschreibung irrationaler Überzeugungen und Praktiken zu Akteuren anderer Kulturen und ließe daher Raum für Debatten darüber, wie man solche Überzeugungen und Praktiken verstehen und bewerten solle. Drei Positionen bilden den Rahmen dieser Debatte. Die intellektualistische Position meint, dass Urteile über die Rationalität auch über Kulturgrenzen hinweg in Ordnung seien. Die symbolistische und funktionalistische Position, die hier als eine einzige betrachtet wird, versucht solche Urteile zu vermeiden, und zwar im Wege der Zuschreibung von Funktionen oder symbolischen Bedeutungen zu kulturellen Praktiken, die an sich selbst und allgemein durch den Akteur nicht verstanden werden. Die fideistische Position2, die Der Fideismus ist die Auffassung, derzufolge die Vernunft für den religiösen Glauben irrelevant ist. Nach einigen Versionen des Fideismus ist die Vernunft sogar der Gegensatz oder die Antithese des Glaubens; anderen fideistischen Auffassungen zufolge geht der Glaube der Vernunft lediglich
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Raum
sich dessen bewusst ist, dass sie leicht ins Ethnozentrische umschlägt, nimmt einen eher relativistischen Standpunkt hinsichtlich der kulturübergreifenden Beurteilung der Rationalität an. Siehe auch: Moralischer Relativismus; Relativismus; Sozialer Relativismus LAWRENCE H. SIMON
Raum
In einigen der Verwendungsformen des Wortes ‚Raum’ bezeichnet dieses Wort eine leere oder potenziell leere Ausdehnung zwischen Dingen, beispielsweise im Sinne von ‚Platz’, wenn ein Autofahrer einen freien Platz zum Parken seines Fahrzeuges findet, oder wenn ein Schriftsetzer den Raum zwischen zwei Worten auf einer Seite erweitert, indem er ein Leerzeichen einfügt. In anderen Verwendungsweisen meint das Wort ‚Raum’ eine grenzenlose Ausgedehntheit, die vermutlich alles umfasst, oder zumindest alles einer bestimmten Art. Die erstere dieser beiden Bedeutungen ist aus der Alltagserfahrung wohl bekannt und kann noch bis auf die Etymologie z.B. des englischen Wortes für Raum, space, auf das lateinische Wort spatium, dt.: ursprünglich ‚Rennstrecke’ oder allgemein ‚Abstand’, ‚Intervall’, auch ‚Gelände’, zurückverfolgt werden. Die letztere Bedeutung hat ihren Ursprung in akademischen Kreisen vermutlich nicht vor dem 14. Jahrhundert, und zwar infolge einer breiten Ausweitung der ersteren Bedeutung. Sie bezieht sich auf nichts, das in der Sinneswahrnehmung aufgezeigt werden könnte. Und doch, infolge des Einflusses der Newtonschen Wissenschaft auf die Alltagsauffassung der europäischamerikanischen Welt, ist diese Vorstellung in die gewöhnliche Verwendung des Wortes so tief eingegangen, die sie heute normalerweise als die vorrangige Bedeutung von ‚Raum’ verstanden wird, von der sich alle anderen ableiten. Nach Conford erfolgte die ‚Erfindung des Raumes’ als einem grenzenlosen, alles umfassenden Behälter im 5. Jahrhundert v. Chr. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass dies erst im Mittelalter geschah. Auf jeden Fall war diese Idee in Cambridge um 1660 stark verbreitet, als Newton sie zu einem fundamentalen Bestanteil seines gedanklichen Rahmens zur Beschreibung der Bewegungsphänomene machte. In einem posthum veröffentlichten Text betont Newton allerdings, dass der Raum sich einer traditionellen Klassifizierung der Entitäten in Substanzen und Attribute entzöge und seine eigene Existenzform aufwiese. Bis zur Veröffentlichung dieses Textes im Jahre 1962 hielten die Philosophen den Newtonschen Raum für eine Substanz, und die meisten von ihnen hielten dies für buchstäblich absurd. In Anbetracht der Rolle des allumfassenden Raumes in der Newtonschen Physik entschied sich Kant dafür, ihn als eine Vorbedingung allen menschlichen Wissens zu betrachten, der endgültig vom menschlichen Geist beigesteuert werde. Newton hatte geschrieben, dass die Raumpunkte ihre individuelle Identität dem relationalen System verdankten, in dem sie eingebunden seien. Die Mathematiker des 19. Jahrhunderts erweiterten diesen Raumbegriff enorm, indem sie viele solcher relationalen Systeme erfanden. Sie ebneten damit der Relativitätstheorie den Weg, die den Newtonschen Raum im Verein mit der raumzeitlichen Geometrie von Minkowski durch die vierdimensionale Raumzeit ersetzte, und ferner der gegenwärtigen Stringtheorie, die einen zehndivoran und ist daher keiner Beweisführung durch die Vernunft zugänglich. Ein prominenter Vertreter des Fideismus war z.B. Blaise Pascal. [WS]
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Rawls, John (1921–2002)
mensionalen physikalischen Raum ins Auge fasst. Diese Entwicklungen bestätigen die Produktivität, nicht dagegen die Fixierung des wissenden Geistes. ROBERTO TORRETTI
Raumzeit
Die Raumzeit ist die vierdimensionale Mannigfaltigkeit, die von der zeitgenössischen Physik als die Bühne des natürlichen Geschehens vorgeschlagen wird. Obwohl die Newtonsche Physik sehr gut in einer raumzeitlichen Umgebung reformuliert werden kann, wurde doch die Idee der Raumzeit erst im 20. Jahrhundert entwickelt, und zwar im Zusammenhang mit Einsteins Theorie der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Infolge des Erfolges der speziellen Relativitätstheorie in der Mikrophysik und der Allgemeinen Relativitätstheorie in der Astronomie und Kosmologie ist jede entwickelte physikalische Theorie inzwischen eine Theorie der Raumzeit. Der Ausdruck ‚Raumzeit’ ist sicherlich ein künstlicher Begriff, den unsere hominiden Vorfahren nicht kannten, doch dasselbe gilt auch für den Newtonschen Begriff des Raumes und der Zeit. ROBERTO TORRETTI
Rawls, John (1921–2002) Einführung Rawls Hauptwerk, ‚A Theory of Justice‘ (dt.: ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘) entwickelt eine liberale, egalitäre, moralische Begrifflichkeit, nämlich ‚Gerechtigkeit als Fairness‘, die dazu entworfen ist, die Institutionen einer konstitutionellen Demokratie zu erklären und zu rechtfertigen. Die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit, die in diesem Text umrissen werden, bejahen den Vorrang der gleichen, grundlegenden Rechte vor anderen politischen Interessen und fordern faire Chancen für alle Bürger, was darauf hinaus läuft, dass Ungleichheiten des Wohlstands und des sozialen Rangs den am wenigsten Bevorzugten nützen müssen. Rawls entwickelte die Idee eines neutralen Gesellschaftsvertrages zur Rechtfertigung dieser Prinzipien: freie Personen, die gleichartig situiert sind und ihre historischen Umstände nicht kennen, würden ihnen rational zustimmen, um ihren Gleichheitsstatus und ihre Unabhängigkeit zu sichern, und um ihren Vorstellungen des Guten frei nachgehen zu können. In ‚Political Liberalism’ (dt.: ‚Politischer Liberalismus‘), seinem anderen großen Buch, überprüft Rawls seine ursprüngliche Argumentation für die Gerechtigkeit als Fairness, um sie mit der Pluralität des Liberalismus vereinbarer zu machen. Hier trägt er vor, dass unter der Annahme der Unvermeidlichkeit unterschiedlicher philosophischer, religiöser und ethischer Auffassungen in einer liberalen Gesellschaft die vernünftigste Grundlage für eine soziale Einheit in einer öffentlichen Konzeption der Gerechtigkeit liege, die ihrerseits auf gemeinsamen moralischen Ideen beruhe, einschließlich der gemeinsamen Vorstellung der Bürger von sich selbst als moralisch freien und gleichen Personen. Die Stabilität dieser öffentlichen Konzeption der Gerechtigkeit wird durch einen ‚überschneidenden Konsens‘ erreicht; alle auf vernünftige Weise einsehbaren philosophischen, religiösen und ethischen Auffassungen können sich ihr anschließen, und zwar jede aus den für sie spezifischen Gründen. 1. Gerechtigkeit als Fairness 2. Demokratische Institutionen 1523
Rawls, John (1921–2002)
3. Stabilität 4. Politischer Liberalismus 1. Gerechtigkeit als Fairness Rawls’ überragendes Ziel ist es, „die sachgerechteste moralische Grundlage für eine demokratische Gesellschaft zu liefern“ (1971: viii). Trotz ihrer vielen Stärken sieht er die herrschende utilitaristische Tradition als eine, die nur unzureichende Grundlagen für die Demokratie liefert. Rawls beginnt mit einer normativen Konzeption der Personen, die er als freie, gleiche, rationale und mit einer moralischen Fähigkeit zum Gerechtigkeitsempfinden ausgestattet sieht. Infolge von Unterschieden des Wissens und der Situationen werden freie Personen allerdings unvermeidlich unterschiedliche Konzeptionen des Guten entwickeln. Um ihr jeweiliges Gutes zu verfolgen, werden sie einander widerstreitende Ansprüche auf knappe Ressourcen erheben. Gerechtigkeitsprinzipien regulieren die Aufteilung von Vorteilen und Nachteilen als Folge der sozialen Zusammenarbeit. Rawls behauptet, dass der sachgemäße Weg zur Entscheidung über Prinzipien für eine demokratische Gesellschaft jener ist, dass man darüber spekuliert, welchen Prinzipien freie Personen untereinander zustimmen würden, um die grundlegenden sozialen Institutionen, z.B. die politische Verfassung, das Eigentum, die Märkte und die Familie, zu regeln. Um aber sicherzustellen, dass diese Übereinkunft fair ist, müssen sie vom Wissen über ihre eigenen Situationen abstrahieren, ferner von ihren Talenten und sozialen Positionen, aber auch von ihrer Konzeption des Guten. Da diese Prinzipien bei der Bewertung der Gerechtigkeit bestehender Institutionen eingesetzt werden sollen, sowie zum Urteil über die Vernünftigkeit bestehender Wünsche und Ansprüche, fasst Rawls auch ins Auge, dass die den Gesellschaftsvertrag schließenden Parteien nicht nur vom Bewusstsein ihrer selbst abstrahieren, sondern auch von den historischen Umständen, Wünschen und Konzeptionen des Guten aller Beteiligten. All dies müsste hinter einem dicken ‚Schleier des Nichtwissens’ verstaut werden. Solcherart freie Individuen wissen lediglich um allgemein soziale, wirtschaftliche, psychologische und physische Theorien aller Arten Bescheid. Sie kennen auch bestimmte, für alle Zwecke taugliche Mittel, die für die Erreichung ihres Guten wesentlich sind, was auch immer dies sein mag. Diese ‚primären Lebensgüter‘ seien die Rechte und Freiheiten, die Kräfte und die Chancen, das Einkommen und der Wohlstand, und diese seien auch die Grundlage für die Selbstachtung. Die beabsichtigte Wirkung dieser Einschränkungen des Wissens ist es, dass die Rawlsschen Parteien strikt gleich sind. Dies befähigt Rawls, die intuitive Idee der demokratisch-gesellschaftsvertraglichen Tradition bis an ihre eigenen Grenzen zu bringen: Gerechtigkeit ist das, was unter freien Personen aus einer Position der Gleichheit heraus Zustimmung erlangen könnte oder würde (siehe Kontraktualismus). Rawls sieht seine starke Gleichheitsbedingung zusammen mit anderen moralischen Bedingungen einer Übereinkunft (dass die Prinzipien universell, allgemein, öffentlich bekannt, final etc. sein müssen) als vernünftige Beschränkungen von Schlussfolgerungen auf grundsätzliche Gerechtigkeitsprinzipien von Gesellschaft überhaupt. Diese Bedingungen definieren die ‚Ursprungsposition‘, d.h. die Perspektive, aus der heraus rationale Akteure einmütig zustimmen müssen. Parteien auf dem Stand der Ursprungsposition werden jeweils unter einer Liste aller bekannten und machbaren Gerechtigkeitskonzeptionen dargestellt und in paarweiser Gegenüber1524
Rawls, John (1921–2002)
stellung betrachtet. Die Parteien sind rational insofern, als sie alle wirksamen Mittel zur Sicherung ihrer Zwecke anwenden, und als sie durch ihre Interessen motiviert sind und damit gewogen sind, einen angemessenen Anteil an den primären sozialen Gütern zu erwerben, die sie zur Verfolgung ihrer Interessen benötigen. Von diesen Parteien wird ferner angenommen, dass sie rational klug handeln, keinen Zeitvorsprung haben und gegenseitig desinteressiert sind (mit beschränktem Altruismus), und keinen Neid aufeinander haben. Unter diesen Bedingungen argumentiert Rawls, dass die Parteien der Gerechtigkeit als Fairness einmütig vor dem klassischen Prinzip des mittleren Nutzens, vor den perfektionistischen und intuitionistischen Konzeptionen und auch vor dem rationalen Egoismus den Vorzug geben würden. Ihr Hauptprinzip besagt: (1) Jede Person hat das gleiche Recht auf ein vollständig angemessenes Programm gleicher grundlegender Rechte, die vereinbar sind mit einem ähnlichen Freiheitsprogramm für alle; und (2) soziale und wirtschaftliche Ungleichhheiten müssen an Ämter und Positionen geknüpft sein, die unter der Bedingung fairer Chancengleichheit allen zugänglich sind, und sie müssen zum größten Nutzen der am wenigsten begünstigen Mitglieder der Gesellschaft ausgeübt werden (das von ihm so genannte ‚Differenzprinzip‘). Die grundlegenden Freiheiten des ersten Prinzips sind die Freiheit des Gewissens, die Freiheit des Denkens, gleiche politische Rechte, Versammlungsfreiheit, spezifische Freiheiten zur Erhaltung der persönlichen Freiheit und Integrität der Personen (einschließlich der Rechte auf persönliches Eigentum), und die Rechte und Freiheiten, die vom Rechtsstaat selbst dargestellt werden. Diese Freiheiten sind insofern grundlegend, als sie Vorrang vor dem Differenzprinzip genießen; ihre Gleichheit darf nicht verletzt werden, selbst wenn Ungleichheiten die Chancen oder den Wohlstand der am wenigsten Begünstigten erhöhen. Ferner haben die Rechte, die durch beide Prinzipien impliziert werden, Priorität vor allen anderen sozialen Werten; sie können nicht um ihrer Wirksamkeit Willen, um der Vorlieben oder Abneigungen anderer Willen oder wegen der perfektionistischen Werte einer Kultur beeinträchtigt oder veräußert werden. Rawls Argument für diese Prinzipien ist, dass es im Zuge einer vollständigen Nichtbeachtung der individuellen Positionen irrational wäre, das Lebensgut von jemandem aufs Spiel zu setzen, nur um irgendeinen marginalen Vorteil zu gewinnen, der durch andere Alternativen zu erwarten sei. Denn die religiösen und philosophischen Überzeugungen, sowie die ethischen Lebensweisen, die der eigenen Existenz Sinn verleihen, sind Teil der jeweils eigenen Konzeption des Guten. Es sei fundamental irrational, meint Rawls, diese mit der angenommenen, vollständigen Nichtbeachtung von Risiken und Wahrscheinlichkeiten zu verspielen. In seiner späteren Arbeit meint Rawls, dass Parteien im Ursprungszustand auch durch ‚höher geartete Interessen‘ motiviert seien, um die ‚moralischen Kräfte‘ zu entwickeln und auszuüben, die sie dazu befähigen, sich an der sozialen Kooperation zu beteiligen, d.h. die Fähigkeit zur Aufstellung, Überarbeitung und rationalen Verfolgung einer Konzeption des Guten, und die Fähigkeit zum Verständnis, zur Anwendung und zum Handeln aus einem Sinn für Gerechtigkeit. Die Parteien stimmen den beiden Prinzipien, die der Gerechtigkeit als Fairness zugrunde liegen, zu, um diese Kräfte zu realisieren. Andere Alternativen gefährden diese Bedingungen. Ein Einwand gegen Rawls Theorie lautet, dass die ‚Maximierungs-Minimierungs-Strategie der Wahlentscheidung‘ der Parteien zu konservativ sei. Harsanyi 1525
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behauptet in ‚Morality and the Theory of Rational Behaviour‘ (1982), dass Rawls Parteien eine gleiche Wahrscheinlichkeit annehmen müssten, irgendein Mitglied der Gesellschaft zu sein. Geht man von einer mitfühlenden Identifikation mit den Interessen aller Personen aus, so sollten sie sich so verhalten, als würden sie dem Prinzip des mittleren Nutzens folgen (siehe Utilitarismus). Aber Harsanyis idealer, wählender Mensch, selbst wenn er seine eigene Identität gar nicht kennt, hat doch immer noch volle Kenntnis aller Wünsche und Situationen. Harsanyi sieht ein solches Wissen als notwendig für die einfühlende Identifikation an. Rawls Parteien verfügen aber über kein solches Wissen der Wünsche und Umstände anderer, und sie sind daher zur einfühlenden Identifikation außerstande, wie auch zu einem interpersonellen Nutzenvergleich. Rawls meint ferner, dass insbesondere unter den Bedingungen einer radikalen Ungewissheit die spielerische Freiheit beim Einsatz der eigenen, aufrichtigen Überzeugungen im Verhältnis zu einem Zugewinn an Reichtümern zu einem Fehlverständnis dessen führt, was es bedeutet, eine Konzeption des Guten zu haben. Aus diesen und anderen Gründen meint Rawls, dass es schwierig sei zu sehen, wie sich das Argument für den mittleren Nutzen aus der von ihm skizzierten Ursprungssituation ergeben könne. Und was noch wichtiger ist: Wenn man die Öffentlichkeit der grundlegenden Prinzipien annimmt, so wird eine utilitaristische Gesellschaft nicht die freiwillige Untertänigkeit aller Beteiligten anordnen (insbesondere nicht für die, die dabei am schlechtesten wegkommen), und wird damit keine Stabilität aufweisen (siehe § 3). Dass die grundlegenden politischen Prinzipien öffentlich bekannt sind, ist im Rahmen demokratischer Freiheit erforderlich; anderenfalls hegen die Bürger Fehlvorstellungen über die Grundlagen ihrer sozialen Beziehungen und werden durch Kräfte manipuliert, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Mit Rawls liberalen, egalitaristischen Prinzipien wird nichts und muss auch nichts der öffentlichen Betrachtung entzogen werden, nur um die soziale Stabilität zu erhalten. 2. Demokratische Institutionen Für Rawls besteht die Rolle der demokratischen Gesetzgebung nicht darin, die unbeschränkten Vorlieben der Bürger aufzugreifen und der Mehrheit den von ihnen bevorzugten Regeln Geltung zu verschaffen, sondern in der Förderung der Interessen aller Bürger, so dass jeder von ihnen den Status eines gleichen Bürgers hat, damit angemessen unabhängig ist und frei seinen Lebensgütern nachgehen kann, sofern diese mit der Gerechtigkeit vereinbar sind. Die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit als Fairness bezeichnen ein gemeinsames Gut, dass auch den Zweck der demokratischen Gesetzgebung liefert. Idealerweise sollten es nicht die individuellen oder Gruppeninteressen sein, die eine Wahlentscheidung treffen, sondern Bürger und Gesetzgeber, deren Urteile auf den Gesetzen basieren, die am besten das gemeinsame Gut der Gerechtigkeit verwirklichen, wie es durch die beiden Prinzipien definiert wird. Diese Prinzipien implizieren eine liberale Verfassung, die die grundlegenden Freiheiten bestimmt, die immun gegenüber einer Verletzung auch durch eine Mehrheit sind. Das erste Prinzip erfordert ferner die Aufrechterhaltung des angemessenen Wertes der politischen Rechte eines jeden Bürgers, wodurch der Ungleichheit im Wohlstand eine Grenze gesetzt wird, den das Differenzprinzip zulässt. Das zweite, von ihm so genannte ‚Differenzprinzip‘ bewahrt den angemessenen Wert der übrigen Grundfreiheiten. Es schlägt ein Kriterium zur Festlegung des 1526
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Minimums an Ressourcen vor, die jeder Bürger braucht, um auf angemessene und wirksame Weise seine grundlegenden Freiheit ausüben zu können: diese betreffen das Eigentum und die wirtschaftlichen Institutionen, die so beschaffen sein müssen, dass die am wenigsten Begünstigten über Ressourcen verfügen, die immer noch das übersteigen, was der am schlechtesten Gestellte unter den Bedingungen einer alternativen Wirtschaftsordnung erhalten würde (in Übereinstimmung mit dem ersten Prinzip). Dies impliziert – in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen – entweder eine eigentumsbasierte Demokratie mit breit gestreutem Privateigentum an den Produktionsmitteln, oder einen liberalen Sozialismus. In jedem Falle nimmt Rawls an, dass Märkte zur wirksamen Allokation von Produktionsfaktoren benötigt werden. Die Nutzung von Märkten zur Verteilung der Produktion sei allerdings durch das Differenzprinzip beschränkt. Welche Wirkungen die Umverteilungen auf den Märkten auf die Allokationseffizienz auch immer haben, ist für Rawls kein Problem, weil die Gerechtigkeit Vorrang vor der Effizienz hat. Das Ziel der Gerechtigkeit sei nicht die Maximierung des produktiven Ausstoßes zugunsten irgendwelcher Verteilungswirkungen, und auch nicht die Maximierung des kumulierten Nutzens (siehe Gerechtigkeit, § 5). 3. Stabilität Das Argument der Ursprungsposition zielt darauf ab zu zeigen, dass die Gerechtigkeit als Fairness relativ am besten mit den bereits betrachteten Gerechtigkeitsurteilen in Form eines ‚reflexiven Gleichgewichts‘ zusammenspielt. Warum aber sollten wir uns um die Gerechtigkeit in einem Maße kümmern, dass ihre Anforderungen unsere anderen Ziele bereits beiseite drängen? Der Begriff der Stabilität behandelt diese Frage der Motivation. Eine Konzeption der Gerechtigkeit ist ‚stabil‘, wenn Abweichungen davon auf gerechte Weise immer Kräfte auf den Plan rufen, deren Ziel es ist, die darauf aufbauende Ordnung wieder herzustellen. Unstabile Konzeptionen sind utopisch, aber keine realistischen Möglichkeiten. Hobbes argumentierte, dass die Stabilität einen praktisch absoluten Souverän erfordere. Dies ist mit Rawls demokratischem Ziel unvereinbar. Um zu beweisen, dass die Gerechtigkeit als Fairness stabil ist, beruft sich Rawls auf die Moralpsychologie, um zu zeigen, wie Bürger in einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘ eine gefestigte Neigung zum Handeln nach den Prinzipien der Gerechtigkeit erwerben können. Er fährt fort, dass die Gerechtigkeit als Fairness mit der Natur des Menschen vereinbar sei, und sogar ‚deckungsgleich‘ mit den Lebensgütern der Bürger in einer Gesellschaft, die in einem solchen Sinne wohlgeordnet ist. Das Lebensgut einer Person ist der Lebensplan, den sie rational wählen würde, und der auf ihren wohlüberlegten Interessen beruht, und der ferner von einer informierten Position ‚beratender Rationalität‘ ausgeht. Rawls Argument der Deckungsgleichheit besagt, dass es rational ist und damit Bestandteil des Lebensgutes einer Person, um ihrer selbst Willen in einer wohlgeordneten Gesellschaft gerecht und vernünftig zu sein. Angenommen, die Bürger haben in dieser Gesellschaft einen Gerechtigkeitssinn, so ist es aus ihrer Sicht instrumentell rational, diese Fähigkeit zu kultivieren, indem man Gerechtigkeit walten lässt, um dadurch den Nutzen sozialer Zusammenarbeit zu erfahren. Nach der kantischen Interpretation der FairnessGerechtigkeit befindet sich das Vermögen zur Gerechtigkeit unter den Kräften, die unser Wesen als rationale Akteure definieren. Indem die Bürger diese Kraft um ihrer 1527
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selbst Willen entwickeln und ausüben, realisieren sie ihr Wesen und erlangen moralische Autonomie. Dieses ursprünglich aristotelische Prinzip ist ein psychologisches Gesetz, das impliziert, dass es rational ist, die höheren Fähigkeiten des eigenen Wesens entwickeln zu wollen. Da die Umstände einer wohlgeordneten Gesellschaft die optimalen Bedingungen zur Ausübung des eigenen Gerechtigkeitssinns darstellen, ist es rational, die Tugend der Gerechtigkeit um ihrer selbst Willen zu entwickeln und dadurch moralische Autonomie zu erlangen. Gerechtigkeit und moralische Autonomie sind damit spezifische und oberste Lebensgüter innerhalb einer wohlgeordneten Gesellschaft, und sind damit ‚das Richtige‘ und ‚das Gute‘ in Deckung. Wenn dies der Fall ist, so ist es nicht rational, von der Gerechtigkeit abzuweichen, und eine wohlgeordnete Gesellschaft wird innere Stabilität zeigen. Hegel wandte ein, dass Rousseaus Gesellschaftsvertrag, wie jener von Hobbes, individualistisch und deshalb unvereinbar mit den Werten einer Gemeinschaft sei. Zeitgenössische Kommunitaristen wiederholen Hegels Kritik und behaupten, dass Rawls ‚Ursprungsposition‘ ebenfalls einen abstrakten Individualismus voraussetze, zusammen mit einer metaphysischen Konzeption der Personen als etwas, das im Wesentlichen frei von Endzwecken und Bindungen sei, die ihre Identität konstituieren (siehe Gemeinschaft und Kommunitarismus). In ‚Political Liberalism‘ ([1993] 1996) meint Rawls, dass dieser Einwand auf einem Irrtum beruhe. In ‚A Theory of Justice‘ setze er keine metaphysische Konzeption der Personen voraus, sondern liefere eine praktische Darstellung der Bedingungen politischen Handelns, das auf moralischen Kräften aufbaue. In Anbetracht der behaupteten Deckung des Guten und Richtigen sei die Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit und gerechter Institutionen ein gemeinsames Gut, dass die Werte der Gemeinschaft oder einer ‚sozialen Vereinigung‘ freier und gleicher moralischer Personen bestätige. Rawls kantisches Deckungs-Argument betrifft das klassische Ziel des Beweises, wie die Gerechtigkeit mit dem menschlich Guten vereinbar sein kann. Darin liegt einer von Rawls ursprünglichsten Beiträgen zur Moralphilosophie. Es birgt allerdings auch Folgen, die Rawls nachfolgend zu einer Korrektur seiner Auffassung führten. 4. Politischer Liberalismus Das Problem der Kongruenz von Richtigem und Gutem besteht darin, dass es mit dem ‚vernünftigen Pluralismus‘ liberaler Gesellschaften im Widerstreit liegt, die einen weiten Bereich religiöser, philosophischer und moralischer Auffassungen tolerieren sollten. Die ‚Last des Urteils‘ bringt gewisse Beschränkungen im Urteil mit sich, so dass wir unter freien Institutionen keine Übereinstimmung zu umfassenden metaphysischen, religiösen oder moralischen Lehren bzw. Konzeptionen des Guten erwarten können. Die behauptete Kongruenz impliziert als Bedingung der liberalen Stabilität jedoch die verbreitete Akzeptanz des spezifischen Guts der moralischen Autonomie. Hypothetisch betrachtet können die meisten Konzeptionen des Guten in einer wohlgeordneten Gesellschaft Rawls Gerechtigkeitsprinzipien bestätigen. Das Problem dabei ist, dass manche Menschen womöglich das spezifische Gutsein der moralischen Autonomie nicht akzeptieren. Teleologische Auffassungen, wie z.B. der liberale Thomismus oder ein vernünftiger Utilitarismus werden in einer wohlgeordneten Gesellschaft Anhänger finden, und für diese Auffassungen sind Gerechtigkeit und Autonomie bestenfalls Mittel zu dem einen rationalen und spezifischen Guten, 1528
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nämlich der Vision Gottes und die Anhäufung eines entsprechenden, auch mittleren Nutzens. Dies dürfte in Anbetracht der aktuellen Entwicklung in gleichem oder noch stärkerem Maße auch für Anhänger des islamischen Glaubens gelten. Die Unvereinbarkeit der ‚Deckung‘ mit einem vernünftigen Pluralismus untergräbt dann aber Rawls’ ursprüngliches Argument für die Stabilität. In ‚Political Liberalism‘ reformuliert Rawls die Rechtfertigung der Gerechtigkeit als Fairness als eine ‚freistehende‘ politische Konzeption. Sein Ziel ist es, eine öffentliche Rechtfertigung der Gerechtigkeit als Fairness zu liefern, die für alle Bürger einer wohlgeordneten Demokratie annehmbar ist. Dies macht jedoch einen Beweis notwendig, der sich nicht aus Kants oder irgendeines anderen Autors umfassender ethischer Lehre ableiten lässt, sondern vielmehr auf gewissen grundlegenden, intuitiven Ideen, die der demokratischen Kultur selbst innewohnen. Rawls argumentiert, dass die Merkmale der ‚Ursprungsposition‘ als eine ‚prozedurale Repräsentation‘ von Ideen der sozialen Zusammenarbeit unter freien und gleichen Bürgern konstruiert seien, die inneres Merkmal einer Demokratie seien. Die Prinzipien der Gerechtigkeit könnten dann als ‚Konstrukte‘ einer ‚Modellkonzeption‘ von demokratischen Bürgern als freien, gleichen und im Besitz der beiden moralischen Kräfte befindlichen Bürgern dargestellt werden, die aus diesem Grunde befähigt seien, an der sozialen Zusammenarbeit teilzunehmen. Diese Prinzipien seien politisch gerechtfertigt, nicht etwa weil sie als wahr dargestellt würden, sondern als am vernünftigsten; sie passen besser zu den betrachteten politischen Überzeugungen von Gerechtigkeit, die von demokratischen Bürgern geteilt werden, und zwar auf allen Ebenen der Allgemeinheit und in einem umfassenden reflexiven Gleichgewicht (siehe Liberalismus, § 5). Um diese ‚freistehende‘ politische Rechtfertigung zu einem Abschluss zu bringen, braucht Rawls jedoch einen alternativen Beweis für die Stabilität, der sich, anders als das Kongruenz-Argument, nicht auf Prämissen stützt, die ein spezifisches Merkmal der kantischen Moralphilosophie sind. Die Idee des ‚überschneidenden Konsens‘ sagt, dass die Konzeption der Gerechtigkeit, die politisch als vernünftig gerechtfertigt sei, weil sie auf der vom Einzelnen geteilten Auffassung von sich selbst als einem demokratischen Bürger beruhe, auch aus anderen Gründen als genauso vernünftig oder wahr beurteilt würde, und zwar aus allen solchen, die deshalb, weil sie ebenfalls vernünftigerweise umfassende Lehren seien, in einer wohlgeordneten Gesellschaft Anhänger fänden. Aus ihren jeweils spezifischen Gründen kann jede umfassende Auffassung (z.B. die kantische, die utilitaristische, die pluralistische, aber auch religiöse Auffassungen, die die Glaubensfreiheit akzeptieren) die Gerechtigkeit als Fairness als wahr oder vernünftig befürworten. Die Gerechtigkeit als Fairness hat dann eine öffentliche, daneben aber auch viele nichtöffentliche Rechtfertigungen innerhalb einer wohlgeordneten Gesellschaft. Geht man von der Existenz eines ‚überschneidenden Konsens‘ vernünftiger, umfassender Auffassungen aus, so erweist sich die Gerechtigkeit als Fairness als bereitwillige Zustimmung, und damit auch als Stabilität. Siehe auch: Gleichheit; Freiheit; Rechte Anmerkungen und weitere Lektüre: Freeman, Samuel (Hrg.) (2003): ‚The Cambridge Companion to Rawls’. Cambridge: Cambridge University Press. (Ein kritischer Kommentar der Rawlsschen Arbeit aus der Feder zahlreicher bedeutender politischer Philosophen.) 1529
Rawls, J. (1971): ‚A Theory of Justice’. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press; dt.: ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘, Frankfurt/M., Suhrkamp stw 1979. (Rawls bedeutendstes Werk.) Rawls, J. [1993], (1996): ‚Political Liberalism‘. New York: Columbia University Press; dt.: ‚Politischer Liberalismus‘, Frankfurt/M., Suhrkamp stw 2003. (Eine bedeutende Neuformulierung der Rawlsschen Position, die auch auf den Pluralismus eingeht.) SAMUEL FREEMAN
Realismus
Siehe: Moralischer Realismus; Realismus und Antirealismus; WissenschaftRealismus und Antirealismus
licher
Realismus und Antirealismus Einführung Die Grundidee des Realismus ist die, dass die Arten von Dingen, die existieren, und auch wie sie beschaffen sind, unabhängig von uns und der Art und Weise, wie wir sie erkennen, gegeben sind; der Antirealismus bestreitet dies. Die meisten Menschen finden es selbstverständlich, Realisten im Hinblick auf physische Tatsachen zu sein: wie viele Planeten sich in unserem Sonnensystem befinden, hängt nach ihnen nicht davon ab, was wir meinen, wie viele sich dort befänden, oder wie viele davon wir gerne hätten, und auch nicht davon, wie wir sie erforschen. Entsprechend hängt die Existenz von Elektronen von objektiven Tatsachen ab, und nicht davon, welche Theorie wir bevorzugen. Allerdings scheint es ebenfalls selbstverständlich, z.B. hinsichtlich des Humors kein Realist zu sein: ob jemand lustig ist, hängt sehr stark davon ab, ob wir ihn lustig finden, und die Vorstellung, dass etwas wirklich lustig ist, obwohl niemand bei dem jeweiligen Verhalten jemals das Bedürfnis hatte zu lachen, ist kaum nachvollziehbar. Zu sagen, die ‚Schönheit befindet sich im Auge des Betrachters‘, heißt, sich eines populären Ausdrucks für den Antirealismus in der Ästhetik zu bedienen. Ein offensichtlich strittiges Beispiel ist das der moralischen Werte; jemand meint, sie seien wirklich (oder ‚objektiv‘); andere sagen, dass sie nichts als menschliche Gefühle und Einstellungen seien. Diese traditionelle Form der Unterscheidung zwischen Realismus und seinem Gegenteil erfuhr während der 1970er und 1980er Jahre eine Veränderung, namentlich infolge des Vorschlags von Michael Dummett, dass der Realismus und der Antirealismus (der letztere Ausdruck ist seine eigene Wortschöpfung) eher schöpferisch als zwei einander entgegengesetzte Bedeutungstheorien zu verstehen seien. Der Realist wäre demzufolge jemand, der möchte, dass wir die Bedeutung von Sätzen nach Maßgabe ihrer Wahrheitsbedingungen verstehen, d.h. durch Angabe der Situationen, die gegeben sein müssen, damit diese Sätze wahr sind. Ein Antirealist meint dagegen, dass diese Bedeutungen durch Bezugnahme auf die Behauptbarkeitsbedingungen zu verstehen seien, d.h. auf die Umstände, unter denen wir es für gerechtfertigt halten, ihnen zuzustimmen. 1. Facetten der Debatte 2. Ontologischer Realismus / Antirealismus 3. Erkenntnistheoretische Fassungen 4. Logische und semantische Fassungen 1530
Realismus und Antirealismus
1. Facetten der Debatte Der Realismus wurde zu einem markanten Thema des Mittelalters, als er in der Debatte gegenüber dem Nominalismus darüber, ob die Universalien etwas seien, was von den Dingen, denen sie anhaften, unabhängig sei, oder ob ihre Klassifizierung nur Sache des Redens oder Denkens der Menschen sei (siehe Nominalismus). Der Anstoß zu dieser Debatte in neuerer Zeit geht auf Kants Lehre zurück, dass die vertraute Welt ‚empirisch wirklich‘ sei, aber ‚transzendental ideell‘, d.h. ein Produkt unserer Erfahrung der Dinge, und keine Sammlung von Gegenständen, wie sie an sich selbst oder unabhängig von uns seien. Kants ‚empirischer Realismus‘ ist verwirrenderweise deshalb eine Form des Antirealismus (siehe Kant, I., § 5). In enger Beziehung hierzu steht der ‚interne Realismus‘, wie er von Hilary Putnam vertreten wird, demzufolge etwas vom Standpunkt eines bestimmten theoretischen Rahmens aus gesehen wirklich sein kann, während der Versuch einer Frage, ob etwas in jedem Falle, d.h. ohne Bezugnahme auf irgendein solches Rahmenwerk wirklich sei, als unsinnig verworfen wird. Dies bestätigt erneut die These, die von Rudolf Carnap vertreten wurde, dass es ‚interne‘ und ‚externe‘ Fragen über die Existenz oder die Wirklichkeit gebe. Eine interne Frage wird durch jemanden gestellt, der eine Sprache mit einer bestimmten Struktur gewählt hat und seine Frage auf der Grundlage dieser Sprache stellt. Nur Philosophen versuchen externe Fragen zu stellen („Sind physische Gegenstände wirklich, d.h. unabhängig davon, wie wir von ihnen reden, existent?“). Diese Frage ist aber weder unsinnig, noch ist sie irreführend im Sinne einer Frage, ob unser sprachlicher Rahmen für unsere praktischen Zwecke richtig gefasst ist. ‚Interner Realismus‘, so sollte man anmerken, ist sicherlich keine Form von Realismus, denn er lässt nur sprach- und theorierelative Existenzbehauptungen zu. Mitte der 1980er Jahre, und weitgehend als Ergebnis der Arbeiten von Putnam und Dummett, wurde es üblich, die Unterscheidung zwischen Realismus und Antirealismus auf eine Vielzahl von Arten zu formulieren, die sich prima facie als vollkommen unterschiedlich darstellen. Ein Realist, so hieß es, halte die Wahrheit für eine Übereinstimmung (Korrespondenz) mit einer Tatsache, wogegen ein Antirealist die Wahrheit erkenntnistheoretisch definiere, beispielsweise als ‚die Überzeugung, zu der uns eine richtig geführte Untersuchung unter idealen Umständen führt‘. Ein Realist meint, dass es erkenntnistranszendente Tatsachen gebe oder geben könne, wogegen ein Antirealist dies bestreitet. Es wurde auch vorgeschlagen, dass ein Antirealist meine, es gäbe die Möglichkeit einer ‚reduktiven Analyse‘ (siehe § 2 unten) aller Gegenstände, auf die sich ihr Antirealismus bezieht, wogegen ein Realist eine solche Analyse für unmöglich halte. Offensichtlich noch weiter von den Ursprüngen der Unterscheidung entfernt wurde behauptet, die allgemeine Geltung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten würde typischerweise vom Realismus bestätigt und vom Antirealismus bestritten. Eine noch weitere Fassung macht den grundlegenden Unterschied in den betreffenden Bedeutungstheorien aus: ein Realist ermittele die Bedeutung eines Satzes durch die Bestimmung seiner Wahrheitsbedingungen, und ein Antirealist durch die Bestimmung der Bedingungen, unter denen er zu Recht ausgesagt werden kann. Um mit dieser Debatte zurecht zu kommen muss sich der Leser folglich über die gegenseitigen Beziehungen der vielen Definitionen der Realismus-Antirealismus-
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Unterscheidung im Klaren sein, und ferner über die mangelnde Passgenauigkeit, in der sie zueinander stehen. 2. Ontologischer Realismus / Antirealismus Die ursprüngliche Form der Definition handelt direkt davon, was wirklich existiert. Ein Realist hinsichtlich der Gegenstände X wird beispielsweise behaupten, dass X (oder Tatsachen oder Sachverhalte, die X mit sich bringen) unabhängig davon existieren, was irgendjemand darüber denkt oder fühlt, wogegen ein Antirealist behaupten wird, dass sie hiervon abhängen. Wir sprechen hier nicht von kausaler Abhängigkeit oder Wechselwirkung; die Tatsache, dass es keine Häuser geben würde, wenn die Menschen nicht gewisse Gedanken hätten, sollte uns nicht zu einem Antirealismus über Häuser zwingen. Der Kern der Definition wird daher klarer, wenn man sagt, was es an einem X ausmacht, dass es existiert, nichts mit solchen Faktoren wie dem Denken zu tun habe (was auch immer die Rolle solcher Faktoren bei der Produktion von X sein mag). Noch bringt diese Definition eine antirealistische Position gegenüber dem Geistigen mit sich. Der Realismus betreffend die geistigen Zustände ist eine prima facie plausible Option, die behauptet, dass unsere geistigen Zustände das sind, was immer wir von ihrer Existenz denken würden, sofern diese untersucht wird. Dort, wo sich die Philosophen für den Realismus betreffend eines bestimmten Gegenstandstyps ausgesprochen haben, z.B. hinsichtlich der Universalien, der ethischen Werte, der Entitäten einer wissenschaftlichen Theorie etc., findet sich wiederholt ein bestimmtes Argument. Für den fraglichen Gegenstandstyp wird behauptet, wir fänden, dass die Meinung aller Menschen dieselbe wäre oder zumindest auf dieselbe Meinung hin tendieren würde, wenn dieser Gegenstandstyp erforscht würde, oder dass sich die Theorie in der Wissenschaft auf eine gemeinsame Auffassung hinbewege, so dass spätere Theorien die Teilerfolge ihrer Vorgänger berücksichtigen würden. Wie sollte dies sein können, wenn es nicht die Wirkung einer Wirklichkeit ist, die unabhängig von uns, unseren Meinungen und unseren Theoriebildungen ist? (Siehe Universalien; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus.) Im Ergebnis gibt es zwei breite antirealistische Strategien, die beide häufig anzutreffen sind. Die eine argumentiert, dass die angenommene Übereinstimmung der Meinung, und zwar der wirklichen oder der potenziellen, gar nicht existiert. Dies schließen wir beispielsweise aus der Vielzahl ethischer oder ästhetischer Urteile, oder auch aus dem Umfang, in dem Farbbeschreibungen von den Sichtbedingungen und dem Zustand des Beobachters abhängen. Die zweite Strategie lautet, die Übereinstimmung gelten zu lassen, sie aber als etwas zu erklären, was sich auf der Einheitlichkeit unseres Wesens ergebe, und nicht aus der unabhängigen Natur der Dinge. So wird z.B. vorgebracht, dass die moralische ‚Objektivität‘ wirklich ‚Intersubjektivität‘ sei, d.h. das Ergebnis gemeinsamer menschlich-psychologischer Antworten, und nicht von unabhängigen moralischen Eigenschaften der Welt, oder dass die Ähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Sprachschemata der Klassifizierung sprachlicher Gegenstände das Produkt einer gemeinsamen Grundlage menschlicher Interessen sei, und nicht etwas, was uns durch ‚wirkliche‘ Universalien aufgedrängt würde.
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In jüngerer Zeit hat niemand einen radikaleren Gebrauch dieser Methode zur Erklärung der Einheitlichkeit des Urteils im Sinne einer Intersubjektivität gemacht als Kant. Er trug vor, dass sogar noch die Erfahrung unserer Umgebung, wie sie in Raum und Zeit erstreckt sei, eine menschliche Reaktion auf die Dinge sei, die an sich selbst nicht raumzeitlicher Natur seien, und auf die andere Wesen folglich ganz anders reagieren könnten. In Anbetracht dieses Arguments könnte man meinen, dass das Argument der Übereinstimmung besser eingesetzt wäre, wenn man es zur Behauptung eines sehr abstrakten Realismus verwendete, dass es nämlich etwas unabhängig von uns geben müsse, nicht aber, dass irgendeine bestimmte Eigenschaft oder irgendein Gegenstandstyp so sein müsse. Noch zwei weitere Einwände wurden gegen bestimmte Formen des Realismus vorgebracht. Der eine lautet, dass der Realist keine Darstellung liefern könne, wie die behaupteten wirklichen Dinge oder Eigenschaften tatsächlich eine Wirkung auf unsere Erfahrung haben können. Über welches Sinnesorgan verfügen wir, so wird hier gefragt, das durch ethische Eigenschaften z.B. eines moralischen Realisten angesprochen wird, oder auch durch die ‚wirklichen‘ Eigenschaften der Notwendigkeit und der Möglichkeit, die die modalen Realisten postulieren? Die in diesem Zusammenhang übliche realistische Redeweise von der ‚Intuition‘ wird zurückgewiesen, weil sie nur Worte biete, aber keine Antwort. Die zweite Art von Einwand (die von John Mackie mit dem Namen ‚Argument der Seltsamkeit‘ getauft wurde, und der es im moralischen Kontext verwendete) behauptet, dass die Dinge oder Eigenschaften, an die der Realist glaubt, zu seltsam sein müssten, um noch glaubwürdig zu sein (siehe Moralischer Realismus). Eine eng damit zusammenhängende Definition der Unterscheidung von Realismus und Antirealismus konzentriert sich nicht auf die Unabhängigkeit der Dinge, sondern auf die Wahrheit von Urteilen über sie: der Realismus versteht die Wahrheit als etwas, was mit der Tatsache korrespondiert, und unser Wissen von der Wahrheit als eine gesonderte Sache, während der Antirealismus die Wahrheit auf erkenntnistheoretische Weise definiert, d.h. als das, wovon Menschen nach bestmöglicher Anwendung ihrer Erkenntnisfähigkeiten überzeugt seien. Dies ist eher ein Wechsel der Perspektive als einer der Substanz. Es ist selbstverständlich zu denken, dass ein wahres Urteil, wenn irgendein Gegenstand unabhängig von uns existiert, darin besteht, dass man sein Urteil in Übereinstimmung mit dem bringt, was der Gegenstand ist; während das wahre Urteil, wenn der Gegenstand durch unsere Erkenntnis- oder affektiven Fähigkeiten bestimmt ist, oder vielleicht auch eine Projektion davon ist, nur bedeuten kann, dass man so urteilt, wie es uns diese Fähigkeiten vorgeben. In der Debatte schwerer zu bewerten ist die Position der reduktiven Analyse. Eine reduktive Analyse existiert dort, wo das, was Sätze über eine Gegenstandsart A wahr oder falsch macht, die Tatsachen einer anderen Art B sind; dann heißt es, dass A’s auf B’s reduzierbar sind. Typischerweise behauptet der Phänomenalismus, dass Sätze über physische Gegenstände auf diese Weise reduzierbar auf Sätze über Sinneserfahrungen sind; der Behaviorismus behauptet, dass Aussagen über geistige Zustände auf solche über Neigungen zu physischem Verhalten reduzierbar sind. Bedeutet die Akzeptanz einer solchen Reduktion auch die Akzeptanz des Antirealismus betreffend die A’s, während die Ablehnung der Reduktion von A-Sätzen die Akzeptanz des Realismus bedeutet? Einige Philosophen behaupten dies, und es gibt auch einen klaren Grund, dies zu tun: wenn eine Reduktion möglich ist, dann 1533
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bräuchte eine vollständige Aussage über alles, was es ‚wirklich gibt‘ nicht mehr von A’s zu reden, sie könnte stattdessen auch von B’s sprechen (weil sie eben von allem handelt). Nebenbei: die reduktiven Analysen werden üblicherweise als Widerspruch zu einer davon verschiedenen Konzeption dessen, was A’s sind, präsentiert, und in Beziehung zu dieser (abgelehnten) Konzeption von A sagt derjenige, der die Reduktion vornimmt, sicherlich, dass es keine A’s gebe. Damit ist aber nicht gesagt, dass A’s und Tatsachen, die von ihnen ausgesagt werden, von uns abhängig sind, sondern nur, dass es wirklich gewisse Arten von Tatsachen an B’s gibt. Unsere Einstellung gegenüber ihrer Unabhängigkeit ist daher eine Frage, was wir über die Letzteren denken (siehe Reduktion, Probleme der). 3. Erkenntnistheoretische Fassungen Man hört häufig, dass der Realismus nach Maßgabe der Erkenntnisgrenzen als die Überzeugung beschrieben wird, dass es ‚erkenntnistranszendente Tatsachen‘ geben oder geben könnte, wobei damit Tatsachen gemeint sind, die jenseits unserer Erkenntniskräfte liegen; es besteht jedoch nicht die Absicht, dem Realisten die Auffassung zu unterschieben, dass es Tatsachen geben könne, die überhaupt nicht erkannt werden können. Der Antirealismus werde damit allerdings zu der Auffassung, dass solche Tatsachen gar nicht möglich seien. Der Beweggrund für diese erkenntnistheoretische Fassung der Realismus-Antirealismus-Trennung ist nicht schwer zu erkennen. Wenn die Art und Weise, wie Dinge gegeben sind, unabhängig von der Art und Weise ist, wie wir beschaffen sind, was schließt dann die Möglichkeit aus, dass es Tatsachen an diesen Dingen geben kann, die jenseits unserer Erkenntniskräfte liegen? Umgekehrt gilt, wenn das gesamte Wesen der Dinge darauf zurückzuführen ist, wie wir sie mittels unseres Erfahrungsstils und der Forschung ‚konstruieren‘, wie soll es dann etwas daran geben, was unsere Erkenntnisfähigkeiten nicht entdecken könne? Obwohl diese Frage verständlich ist, ist dies doch etwas zu schnell geschossen und unpräzise. Man bedenke irgend jemand, der meint, die Natur der physischen Welt sei ausdrücklich unabhängig von dem, was Menschen über sie glauben; gleichzeitig weist er solche anthropozentrisch-theologischen Neigungen auf zu glauben, dass Gott uns Erkenntniskräfte gegeben haben muss, die ausreichen, um grundsätzlich alle Tatsachen der Welt entdecken zu können. Wenn wir einen solchen Philosophen einen Antirealisten nennen, dann haben wir sicherlich das Thema gewechselt und es nicht nur von einer anderen Perspektive aus betrachtet. Die bringt die Bedeutung einer Formulierung des erkenntnistheoretischen Kriteriums als eines der reinen Möglichkeit, im Gegensatz zur Wirklichkeit, ans Licht, d.h. der Behauptung, dass es erkenntnistranszendente Tatsachen geben könnte. Hierdurch ist es dem Philosophen, der aus welchen Gründen auch immer denkt, dass unsere Erkenntniskräfte tatsächlich in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit stehen, gestattet, immer noch ein Realist zu sein, und zwar kraft der Annahme, dass unsere Kräfte womöglich stärker beschränkt sein könnten, ohne dass die Wirklichkeit deshalb in irgendeiner Form anders sein müsste. Es ist eine Sache zu meinen, dass es Tatsachen jenseits unserer Erkenntniskräfte geben kann, und eine vollkommen andere zu behaupten, dass dies hinsichtlich gewisser Tatsachen wahr sei. Die erste Behauptung ist bescheiden hinsichtlich unserer Erkenntnisfähigkeiten, die letztere ein positiver Skeptizismus. Die Behaup1534
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tung einer inneren Beziehung zwischen dem Realismus und dem Skeptizismus, die manche vornehmen, ist deshalb scharf zu unterscheiden von einer Identifikation des Realismus mit einer Überzeugung betreffend die Möglichkeit von erkenntnistranszendenten Tatsachen. Es ist folglich plausibel, jenen Gedanken zu verfolgen, der den Realismus eng an den Skeptizismus knüpft. Wenn ein gewisser Tatsachentyp vollkommen unabhängig von uns ist, dann muss das Wissen von ihm von einer vermittelnden Instanz abhängen, nämlich von der Wirkung, die sie auf uns hat. Dann sehen wir uns aber dem skeptischen Argument ausgesetzt, dessen klassische Formulierung Descartes mit seiner Fiktion des bösartigen Dämons leistete: wie können wir jemals wissen, dass diese vermittelnde Wirkung von jener Art von Ding hervorgebracht wird, von der wir annehmen, dass es das tue, und nicht vielmehr von etwas völlig anderem? Daraus folgt, dass wir, wenn wir mit dem Realismus beginnen, schließlich beim Skeptizismus ankommen. Es scheint allerdings nicht besonders wünschenswert, den Skeptizismus (und auch seine Abwesenheit) zur Beschreibung der Unterscheidung von Realismus und Antirealismus einzusetzen. Der klassische Schluss vom Realismus im Sinne einer Ding-Unabhängigkeit auf den Skeptizismus mag eindrucksvoll sein, er setzt gleichwohl substanzielle Annahmen voraus, die sich hinterfragen lassen. Sich einer Terminologie zu bedienen, die diesen Schluss plausibel erscheinen lässt, nur weil seine Schlussfolgerung per definitionem wahr sei, lädt zur Verwirrung ein. Abgesehen davon ist der Skeptizismus an sich kein präziser Begriff, und es mag Auffassungen von ihm geben, die sich sogar noch unter gewissen antirealistischen Konzeptionen anwenden lassen. Beispielsweise kann auch noch jemand, der denkt, dass die Wahrheit als jene Meinung zu verstehen sei, die man unter idealen Bedingungen erlange, ein Skeptiker sein, denn er bleibt immer noch hinsichtlich unserer Fähigkeit zur Erkennung der idealen Bedingungen, oder wie dicht wir an sie herankommen müssen, ein Skeptiker. 4. Logische und semantische Fassungen Es heißt oft, dass der Realist und der Antirealist durch ihre Einstellung gegenüber dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten zu unterscheiden seien. Dies ist das logische Prinzip, demzufolge in Anbetracht zweier Aussagen, von denen die eine die Negation der anderen ist, eine von ihnen wahr sein muss. Der Realist, heißt es, akzeptiere dieses Prinzip, während der Antirealist dies nicht tue. Und wiederum können wir dies verstehen, wenn wir uns an die ursprüngliche Beschreibung der Unterscheidung nach Maßgabe dessen erinnern, was unabhängig von uns gegeben ist, und was wir ‚konstruieren‘, oder was an sich selbst ‚der Fall‘ ist, und was nur so ist, weil wir es so erfahren (siehe Intuitionistische Logik und Antirealismus). Nur zu Erklärungszwecken betrachte man die Welt der Romanliteratur. Die meisten Menschen werden mit der Idee glücklich sein, dass, soweit man über die Welt von Macbeth in irgendeiner Form sagen kann, sie sei wahr, genau die Dinge wahr seien, die Shakespeare in diese Welt hineingeschrieben habe. In diesem Falle jedoch ist jedoch weder ‚Lady Macbeth hatte zwei Kinder‘, noch ‚Lady Macbeth hatte nicht zwei Kinder‘ wahr, denn Shakespeares Text berührt diese Frage gar nicht; das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten versagt in dieser ‚konstruierten‘ Welt.
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Indem wir nun zu einem wirklich diskutierten Fall kommen, gibt es dort jene, die meinen, dass die Wahrheit einer mathematischen Aussage eine Sache sei, eine ganz andere jedoch, ob sie bewiesen werden könne; und dann gibt es diejenigen, die meinen, dass die Wahrheit der Mathematik nur als Beweisbarkeit ihrer Sätze verstanden werden kann. Für die Letzteren ist das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten unsicher. Denn aus der Tatsache, dass non-p nicht bewiesen werden kann, folgt noch lange nicht, dass p bewiesen werden kann; vielleicht ist keine von beiden Aussagen beweisbar und folglich, nach dieser Auffassung der mathematischen Wahrheit, auch keine von beiden wahr. Und jeder, der die Wahrheit, in welcher Sphäre auch immer, mit einer grundsätzlichen Verifizierbarkeit durch uns gleichsetzt, ist an die parallele Schlussfolgerung gebunden: nur für solche Aussagen p, wo die Unmöglichkeit der Widerlegung von p an sich selbst bereits die Verifikation von p bedeutet, können wir uns auf das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten verlassen. Wo die Verifikation von p und die Verifikation von non-p auf unterschiedlichen Prozeduren beruht, dort schlägt das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten fehl. Diese Prozeduren sind in der Regel verschieden, wenn die fragliche Aussage etwas über eine unendliche Totalität behauptet, und deswegen wird soviel über unendliche Totalitäten und das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten geredet. Dies erklärt, warum einige Autoren, insbesondere Michael Dummett, oft sagen, dass der Unterschied zwischen den Realisten und den Antirealisten in dem Unterschied zwischen ihren Wahrheitskonzeptionen liegt. Man kann damit auch sehen, warum es üblich geworden ist, den Gegensatz von Realismus und Antirealismus als einen solchen zwischen Bedeutungstheorien auszudrücken, und warum Philosophen über realistische und antirealistische Semantik sprechen. Eine jede Theorie, die die Bedeutung an die Verifikation bindet, und die das Verständnis eines Satzes mit dem Wissen jener Bedingungen gleichsetzt, die diesen Satz verifizieren oder uns bei seiner Behauptung rechtfertigen würden, unterstützt auch die Sichtweise, dass wir keine andere Vorstellung davon haben, was es heißt, dass etwas wahr ist, als eben jene, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Folglich zeigt sich die Debatte um den Realismus und Antirealismus oft in neo-verifikationistischer Manier. Manchmal, besonders bei Dummett, wird der Antirealismus als das Ergebnis Wittgensteinscher Ideen über die Bedeutung dargestellt, dann wieder, besonders bei Putnam, wird von der angeblichen Unmöglichkeit einer Erklärung geredet, wie sich unsere Sprache jemals aus geistunabhängigen Dingen berufen könne, die der Realist doch postuliere (siehe Bedeutung und Verifikation). Anmerkungen und weitere Lektüre: Dummett, M.A.E. (1963): ‚Realism‘, in: ‚Truth and Other Enigmas‘. London: Duckworth, 145–165. (Ein fruchtbarer und ziemlich schwieriger Text, der die Debatte von den in § 2 geschilderten Perspektiven auf jene, die oben in § 4 geschildert wurden, verschob.) James, W. (1907): ‚Pragmatism’s Conception of Truth‘, Lecture VI aus ‚Pragmatism in Pragmatism and the Meaning of Truth‘. Cambridge, Massachusetts, und London: Harvard University Press, 1978. (Eine populäre, polemische Darstellung der Lehre, dass ‚die Wahrheit gemacht‘ wird.) Putnam, H. (1981): ‚Two Philosophical Perspectives‘, in: ‚Reason, Truth and History‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Putnam verbindet die traditionelle Form der Debatte mit der Frage nach den rivalisierenden Darstellungen der Wahrheit und mit den Problemen der sprachlichen Referenz. Größtenteils keine 1536
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schwierige Lektüre. Dass volle Verständnis einiger Punkte erfordert jedoch einige Vertrautheit mit den beiden vorangehenden Kapiteln.) EDWARD CRAIG
Realismus und Antirealismus, wissenschaftlicher Siehe: Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Realismus, moralischer
Siehe: Moralischer Realismus
Recht und Moral Einführung Innerhalb der Tradition des naturrechtlichen Denkens, dessen Wurzeln in der Philosophie von Aristoteles und Thomas von Aquin liegen, wird die politische Gemeinschaft allgemein als ein fundamentales Ziel aufgefasst, und zwar dem der Förderung des ethisch Guten bei den Bürgern. Das Gesetz sollte seinen Bürgern nach dieser Konzeption ein gutes Verhalten angewöhnen und sollte eine soziale Atmosphäre unterstützen, die die Bürger in der Verfolgung positiv bewerteter Ziele und bei der Führung eines wertvollen Lebens bestärkt. Pragmatische Überlegungen können allerdings dazu führen es für weise zu erachten, die Verfolgung dieser Ziele einzuschränken, und die Bürger können sich deshalb bei entsprechenden Gelegenheiten an verdorbene Dinge gewöhnen oder auch auf andere Weise die akzeptierten Standards unterschreiten. Solche pragmatischen Argumente betreffend die Verbindung von Freiheit und Laster hinterfragen jedoch nicht die Legitimität des Staates, sich um die individuelle Moral seiner Bürger zu kümmern. Im Gegensatz dazu neigt die liberale Tradition zum Postulat von Beschränkungen des betreffenden Prinzips hinsichtlich seines Geltungsbereichs und der Ziele des Gesetzes. Der einflussreichste dieser Versuche wurde von J.S. Mill in Gestalt seines ‚Schadensprinzips‘ vertreten: das Gesetz sollte nur ein solches Verhalten verbieten, das geeignet ist, anderen Personen als dem Akteur selbst Schaden zuzufügen. Viele Schwierigkeiten umgeben dieses Prinzip und weitere, in jüngerer Zeit vorgetragene Vorschläge zur Formulierung und Verteidigung der genannten Beschränkung. Sollte man beispielsweise nur die unmittelbaren Wirkungen des Verhaltens in Rechnung stellen, oder auch die entfernteren und diffuseren? Es wird nämlich eingewandt, dass unmoralisches Verhalten, das auf kurze Sicht niemandem Schaden zufügt, gleichwohl auf längere Sicht zu einem moralischen Niedergang der Gesellschaft führen kann und durchaus auch sonst sehr schädlich sein kann. 1. Zwei Traditionen 2. Mills ‚Schadensprinzip’ 3. Die Hart/Devlin-Debatte 4. Dworkins Argument der‚externen Vorzüge‘ 1. Zwei Traditionen Der Versuch einer Begrenzung der Prinzipien, die den eigentlichen Geltungsbereich des gesetzlichen und öffentlich-administrativen Einflusses einschränken, ist nicht zu trennen von der liberalen Tradition. Man denke nur an Lockes Definitionsversuch einer solchen Legitimitätssphäre durch Bezugnahme auf eine Gesamtheit 1537
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natürlicher Rechte. Der Versuch einer Umrissskizze für solche Prinzipien stand jedoch nicht immer auf eine klare und wohlbeschriebene Weise im Brennpunkt des Interesses, was die spezifischen Probleme einer mutmaßlich privaten Moralsphäre betrifft. Wenn Locke beispielsweise in seinem ‚Letter Concerning Toleration‘ (1689) bestrebt ist, die religiöse Toleranz zu verteidigen, so tut er dies offenbar nicht durch Rückbezug auf seine Theorie der Naturrechte und des Gesellschaftsvertrages, sondern im Wege eines pragmatischen Arguments, das sich sehr gut mit den Voraussetzungen der thomistischen Naturrechtstradition vertragen hätte: Intoleranz ist für Locke vollkommen unwirksam, und nicht etwa eine Verletzung irgendeines bestimmten, einschränkenden politischen Prinzips (siehe Locke, J., § 1). Erst mit Beiträgen wie jenen von Wilhelm von Humboldts ‚Die Sphäre und Pflichten der Regierung‘ (posthum im Jahre 1852 veröffentlicht) und J.S. Mills ‚On Liberty‘ (1859) (siehe unten § 2) begann sich die Diskussion klar auf die Idee einer Beschränkung des Prinzips zu konzentrieren, demzufolge sich der Staat aus einer Einmischung in die private Unmoral herauszuhalten habe. Die letztere der beiden genannten Arbeiten hat in der englischsprachigen Welt einen grundlegenden Einfluss entwickelt. Bevor wir uns Mills Behauptungen näher anschauen, ist es jedoch sinnvoll, einige einleitende Dinge zu sagen. Insbesondere sollten wir die verschiedenen Motivationen betrachten, die der Zurückweisung der aristotelischen Tradition des politischen Denkens zugrunde lag und zur Suche nach Prinzipien führte, die das Recht der Gemeinschaft zur Durchsetzung ‚privater‘ moralischer Standards einschränken. Es heißt oft, dass der Liberale einem ‚subjektivistischen‘ oder nicht-kognitivistischen Verständnis des moralischen Urteils verpflichtet ist, und dass die liberale Sorge um Toleranz die einfache Konsequenz eines solchen Subjektivismus sei (siehe Moralisches Urteil, § 1). Eine solche Interpretation ist jedoch fehlerhaft; denn wenn das moralische Urteil nur der schlichte Ausdruck eines subjektiven Gefühls oder einer ebensolchen Einstellung wäre, müsste dies auch für moralische Urteile über die Bedeutung der Toleranz gelten. Eine genauere Lektüre des Liberalismus zeigt jedoch, dass letztere sich aus der Unfähigkeit zur Übereinkunft in moralischen Fragen ergibt, und nicht aus dem angeblich ‚subjektiven‘ Charakter moralischer Urteile. Eine solche Interpretation verfällt nicht in die sich selbst untergrabende Berufung auf den Subjektivismus, hat aber wiederum andere Schwierigkeiten zur Folge. In einigen Fassungen scheint sie beispielsweise zu implizieren, dass das Konsensbedürfnis unter denen, die uneins sind, die rationale Begründung zur Beschränkung der staatlichen Rolle auf diesem Gebiet sei. Dies scheint aber darauf hinauszulaufen, dass die Toleranz von der Existenz eines Kräftegleichgewichts zwischen einander widerstreitenden Meinungsfraktionen abhängt. Eine populäre Verteidigung lautet schließlich, dass der Liberalismus sich weder auf einen moralischen Subjektivismus, noch auf irgendeine unschlüssige Natur moralischer Argumente stützt, sondern auf den Wert der selbstbestimmten Wahl: es ist gut, wenn Menschen ihre eigenen Vorhaben und Lebensstile auswählen, selbst wenn sie sich für erniedrigende oder unwürdige Optionen entscheiden (siehe Autonomie, ethische). Das Problem, dass sich bei diesem Ansatz ergibt, kann man auf sehr fruchtbare Weise den entsprechenden Bemühungen der aristotelischen Tradition gegenüberstellen. Alles in allem wird der Aristoteliker behaupten, dass das freie Gewähltsein eine wesentliche Bedingung des guten Lebens ist, so dass die Sorge des Staates um eine Stärkung des guten Lebens selbst die Sorge um den Schutz der 1538
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Privatautonomie verlangt. Aus dieser Perspektive betrachtet scheint die Debatte mit dem Liberalismus auf ein pragmatisches Argument innerhalb der Parameter der aristotelischen Tradition hinauszulaufen. Eine solche begriffliche Neufassung des strittigen Terrains könnte von vielen Liberalen als für sie nachteilig angesehen werden. Denn viele der Kritiker von Mill und der jüngeren Liberalen richteten ihre Angriffe auf den Kern oder die Idee jenes abstrakten Prinzips selbst, demzufolge eine Beschränkung der legitimen öffentlichen Einmischung durch Respektierung eines Reichs angenommenermaßen ‚privater‘ Verhaltensweisen erfolgen sollte. Dabei störten sie sich weniger an dem Widerspruch gegen die konkreten Anwendungen dieses Prinzips, der von den Liberalen selbst vorgetragen wird. Ein typisches Beispiel hierfür ist James Fitzjames Stephen, der in seinem Buch ‚Liberty, Equality, Fraternity‘ schrieb: „Ich widerspreche eher Mills Theorie, als seinen praktischen Schlussfolgerungen […] Mein Einwand gegen die meisten seiner Erklärungen zum Thema ist, dass er statt einer praktischen Rechtfertigung dessen, was in engen und speziellen Grenzen gerechtfertigt werden muss, eine in sich selbst unrichtige Theorie entwickelt und zur Bestätigung von Sichtweisen neigt, die sich in der Praxis nachteilig auswirken können.“ 2. Mills ‚Schadensprinzip’ Mill schlägt etwas vor, was er als ein „sehr einfaches Prinzip“ beschreibt, indem es „berechtigt, den Umgang der Gesellschaft mit dem Individuum hinsichtlich der Zwangsausübung und Kontrolle absolut zu leiten“. Das behauptete Prinzip, demzufolge „der einzige Zweck, zu dem rechtmäßig Zwang gegenüber irgendeinem Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, derjenige der Schadensverhütung gegenüber anderen ist“ (‚On Liberty‘, 1859). Mills ‚Schadensprinzip‘ wurde manchmal so verstanden, als würde damit eine atomistische Sichtweise der Gesellschaft vertreten, derzufolge es einen Bereich des privaten Lebens gäbe, der sich überhaupt nicht auf andere auswirkt, und der deshalb aus dem eigentlichen gesetzlichen Anwendungsbereich herausfällt. Seine Kritiker wiesen aber rasch darauf hin, dass nur die allereinfachsten Handlungen keinerlei Auswirkung auf andere Menschen haben. Abgesehen von einigen Stellen in Mills Schriften, die eine solche Interpretation begünstigen, gab er allerdings ausdrücklich zu, dass eine „sich selbst betreffende Handlungen“ gleichwohl auch andere Menschen betreffen könne. Sein Prinzip soll keinen Handlungsbereich abgrenzen, der jenseits des Aufgabenbereichs des Gesetzes liegt, sondern vielmehr eine Art von Vernunft, auf die sich die Gemeinschaft selbst beschränken sollte: bei der Entscheidung, ob eine Handlung verboten werden solle, sollten nur einige ihrer Wirkungen in Betracht gezogen werden. Insbesondere sollten die für andere schädlichen Handlungswirkungen berücksichtigt werden, während die Wirkung auf den Handelnden selbst außer Betracht bleibe, ebenso wie die Missbilligung von nicht betroffenen Dritten, die die Handlung für unmoralisch halten (siehe Paternalismus). In anderer Hinsicht wiederum scheint die Annahme, dass Mill eine unpassende atomistische Sichtweise der Gesellschaft vertritt, einige Geltung beanspruchen zu können. Denn wenn man das Schadensprinzip so interpretiert, als schreibe es eine Konzentration auf relativ unmittelbare und individuierte Schäden vor, so kann dies zu einer Vernachlässigung der Bedeutung andauernder sozialer Institutionen füh1539
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ren, die auf eine unauffälligere Weise dadurch untergraben werden könnten, dass das Gesetz nicht mehr imstande ist, die konventionellen moralischen Standards aufrecht zu erhalten. Eine Antwort auf diese Art von Angriff könnte lauten, dass nichts an dem besagten Schadensprinzip zu einer solchen Blickverengung zwingt. Wenn die Erosion bestimmter sozialer Institutionen tatsächlich eine Konsequenz der Liberalisierung im Bereich des Handelns ist, und wenn sich diese Erosion schädlich auswirkt, so legitimiere das Schadensprinzip gerade deren Berücksichtigung. Diese Antwort ist allerdings problematisch, insofern ein Schadensprinzip, das uns dazu einlädt, auch solche Handlungen zu berücksichtigen, die recht entfernte und sehr diffuse Auswirkungen auf andere haben, in die bedrohliche Nähe völliger Leere und Unanwendbarkeit gerät. Mill selbst ist durchaus bereit zu akzeptieren, dass sehr diffuse Auswirkungen auf andere einen ‚Schaden‘ darstellen können (er steht deshalb beispielsweise kritisch einem unbeschränkten Recht zur Fortpflanzung gegenüber). Dieses Zugeständnis greift jedoch die Integrität des gesamten Prinzips an. Mit dem Schadensprinzip wird noch eine Reihe anderer ernsthafter Probleme assoziiert. Eine Frage betrifft z.B. die Vereinbarkeit des Prinzips mit Mills Bindung an den Utilitarismus (siehe Utilitarismus). Denn sollte ein utilitaristischer Gesetzgeber nicht alle Wirkungen einer Handlung in Rechnung stellen, bevor er sich für ihr Verbot entscheidet? Wenn einige Menschen nur bei dem Gedanken an Handlungen, die sie missbilligen, und die privat durchgeführt wurden, in tiefes Unglück verfallen, dann fragt sich, wie dieses Unglück von einem utilitaristischen Standpunkt aus betrachtet gerechtfertigt ignoriert werden kann. Es wurde vorgeschlagen, dass ein utilitaristischer Gesetzgeber ein solches Unglück nicht berücksichtigen sollte, insofern es die Folge der Annahme eines nicht-utilitaristischen moralischen Standpunktes ist. Doch selbst wenn man dieses Argument aufrechterhalten kann, würde es nicht weit genug reichen: Ich könnte empört durch den Gedanken an Handlungen sein, die ich einfach abstoßend, aber nicht unmoralisch finde; und ferner bleibt der Ausschluss eines Schadens auf den Handelnden selbst bei einem solchen Ansatz unerklärt. Es ist wahrscheinlich, dass Mill das Schadensprinzip als eine vermittelnde Maxime ansah, durch das die Utilitaristen ihr Handeln regulieren sollten, und das dem äußersten Zweck verpflichtet sei, das Glück aller auf lange Sicht voranzubringen. Ein solcher Standpunkt vermeidet allerdings die Inkonsistenz nur um den Preis, dass er die jeweilige Angelegenheit in die Abhängigkeit von weitgehend empirischen Behauptungen über die langfristigen Wirkungen der individuellen Freiheit bringt. Mills Verteidigung des Schadensprinzips könnte man auf diese Weise als die Behauptung eines unzulässigen und unbegründeten Optimismus betrachten. In Anbetracht der kumulativen Konzeption des gemeinschaftlichen Guten, das durch den Utilitarismus verfochten wird, wäre es schon ein bemerkenswerter Zufall, wenn der beste Weg zur Förderung der kollektiven Wohlfahrt unabänderlich im Schutz der individuellen Freiheit bestehen sollte. Ganz abgesehen von der Vereinbarkeit oder anderer Aspekte des Schadensprinzips mit dem Millschen Utilitarismus fragt sich im übrigen, was die Bedeutung des Ausdrucks ‚Schaden‘ ist. Es wurde nämlich wiederholt und gerechtfertigt darauf hingewiesen, dass die Frage, was überhaupt ein Schaden ist, wertender Natur ist, die im Endeffekt nicht von weiteren ethischen Überzeugungen losgelöst werden könne. Versuche wie jener von Joel Feinberg einer begrifflichen Analyse des Schadens als Verlust von Interessen reformuliert lediglich das Problem als eines, das das Wesen 1540
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und den Inhalt unserer Interessen betrifft. Ohne irgendeine neutrale Darstellung des Schadensbegriffs scheint das Millsche Prinzip aber wenig zu einem Ausschluss von kriminellen Verboten beizutragen, die lediglich auf einer moralischen Missbilligung der Akteurshandlung beruhen. Man betrachte beispielsweise das Schadensprinzip in seiner Anwendung auf die Debatte über die Pornographie. Eine Frage dabei betrifft die Auffassung, dass die Pornographie eine soziale Atmosphäre nährt, in der Gewaltverbrechen gegen Frauen wahrscheinlicher sind. Dieses Argument beruft sich auf ein unstrittiges Beispiel von Schaden, macht die Frage jedoch abhängig von höchst strittigen empirischen Thesen über die Wirkungen von Pornographie. Was wäre beispielsweise, wenn jemand vorschlüge, dass Frauen an sich durch die Pornographie Schaden zugefügt wird, und zwar in dem Sinne, dass alle Frauen geschädigt werden, wenn einige Frauen als Objekte dargestellt werden, die einer sexuellen Befriedigung zur Verfügung stehen? Dieser Vorschlag wendet einen Begriff des Schadens an, der vielleicht nicht allgemein akzeptiert wird, aber er fordert von uns, die Kriterien zu artikulieren, nach denen etwas als Schaden einzustufen sei (siehe Pornographie). Diesbezüglich wurde von Brian Barry ein relevanter Vorschlag gemacht. Er meinte (1995), dass man ‚Schaden‘ als das definieren könnte, was von einer großen Mehrheit von Menschen, die voneinander abweichende Vorstellungen vom Guten haben, dennoch als ‚schlecht‘ eingestuft wird. Dieser Vorschlag beruht auf der nachvollziehbaren Einsicht, dass auch die unterschiedlichen ethischen Konzeptionen von Menschen sich dennoch in einem ausgedehnten Bereich überlappen können. Aber indem Barrys Ansatz etwas voraussetzt, was knapp an eine vollständige Universalität und Einstimmigkeit heranreicht, scheint er in gefährliche Nähe einer Abhängigkeit einer Mehrheitspolitik von einer Art zu geraten, die Mill gerade einschränken wollte. Die vorstehenden Argumente gegen Mills Position mögen mehr oder weniger durchgreifend sein. Sie hinterlassen das Schadensprinzip aber nicht vollständig nutzlos, denn dieses Prinzip dient zumindest dazu, unsere Aufmerksamkeit auf die Auswirkung unserer Handlungen auf andere zu richten, und nicht nur auf jene auf den Handelnden selbst. Aber wenn dieses Argument schlüssig ist, dann schränkt es auf dramatische Weise den Wert des Prinzips zur Begrenzung des eigentlichen Geltungsbereichs staatlicher Zwangsmacht ein. Selbst die Bedingung, dass wir nur die Auswirkungen auf andere in Betracht ziehen sollten, könnte sich als unwesentlicher als erwartet erweisen, denn wir müssen daran denken, dass Mill auch die diffusen Auswirkungen als Schaden akzeptierte. Handlungen, die weithin als unmoralisch angesehen werden, können auf den ersten Blick nur den Handelnden selbst betreffen. Durch die Schaffung einer gemeinschaftlichen Atmosphäre, in der solche Handlungen toleriert werden, wird es allerdings schwerer, z.B. Kinder im Sinne entsprechender moralischer Verhaltensstandards zu erziehen. Kombiniert man dies mit der Unmöglichkeit einer moralisch neutralen Darstellung des Wesens von ‚Schaden‘, so scheinen solche diffusen Auswirkungen die Bedeutung des Millschen Prinzips praktisch zu Nichts zu reduzieren. 3. Die Hart/Devlin-Debatte Eine Sorge betreffend solche diffusen Auswirkungen unmoralischen Verhaltens ist der Kern eines Arguments, dass von Lord Devlin im Jahre 1959 in einer rechtswissenschaftlichen Maccabean-Vorlesung an der British Academy vorgestellt wurde. 1541
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Lord Devlin war zu dieser Zeit Richter an der Queen’s Bench Division of the High Court und wurde im Jahre 1961 Berufungsrichter. Seine Maccabean-Vorlesung entstand aus dem Wolfenden-Bericht über homosexuelle Zumutungen und Prostitution, der 1957 veröffentlicht wurde, und der das Prinzip postulierte, dass die ‚private Unmoral‘ kein Gegenstand der Strafgesetzgebung sein sollte. Devlin kritisierte diesen Ansatz mit dem Argument, dass die Gesellschaft hinsichtlich ihres Überlebens von der Existenz einer gemeinsamen Moral abhinge, und dass es deshalb grundsätzlich möglich sei, dass ein gröblich unmoralisches Verhalten den Fortbestand der Gesellschaft gefährde. Folglich habe die Gesellschaft das Recht zur Durchsetzung ihrer gemeinsamen Moral als einem Mittel ihres Selbstschutzes. Devlin befasste sich nicht etwa mit der Wahrheit oder der Falschheit der entsprechenden moralischen Sichtweisen, sondern allein mit der Tatsache, dass sie von großen Teilen der Bevölkerung geteilt würden, und dass dies grundlegend für die Stabilität einer Gesellschaft sei. H.L.A. Hart antwortete auf Devlins Angriff, indem er die Abwesenheit empirischer Beweise zugunsten Devlins Behauptung, dass die Unmoral zu einem sozialen Zusammenbruch führen könne, heraushob. In noch jüngerer Zeit (George, 1993) wurde jedoch eingewandt, dass Devlin keinen sozialen Zusammenbruch gemeint habe, sondern vielmehr den Verlust des sozialen Zusammenhanges, so dass die Menschen nurmehr in einer Beziehung des Selbstinteresses zueinander stehen würden, und nicht mehr auf der Grundlage moralischer Prinzipien. Wenn diese Auslegung richtig ist, dann wäre Devlins Anspruch sowohl plausibler, als auch weniger angreifbar gegenüber einer empirischen Verwerfung oder Bestätigung. Devlin war dem viktorianischen Richter und Juristen James Fitzjames Stephen sehr verbunden, dessen Buch ‚Liberty, Equality, Fraternity‘ (1873) einen kraftvollen Angriff gegen Mills Theorie führte. Stephens Ansatz war dem Typ nach utilitaristisch, aber er betrachtete Mill als jemanden, der sich vom konsistenten Utilitarismus eines Bentham und James Mill entfernt hatte. Hart beschrieb die Werke von Stephen und Devlin als solche, die ‚eine typische Anschauung der englischen Justiz‘ zeige. 4. Dworkins Argument der ‚externen Präferenz’ Der ‚zielbasierte‘ Ansatz des Utilitarismus wird von Ronald Dworkin zugunsten eines anderen Ansatzes verworfen, den er ‚rechtsbasiert‘ nennt. Tatsächchlich gibt es aber gute Gründe, seine Position als eine modifizierte Form des Utilitarismus anzusehen, und nicht als eine radikale Zurückweisung dieses Ansatzes. Dworkin vertritt die Auffassung, dass, insofern der Utilitarismus irgendeine echte moralische Anziehungskraft habe, diese die Folge des Umfanges sei, in dem er unseren Glauben an ein „Recht auf gleiche Berücksichtigung und Respekt“ ausdrückt. Er wendet jedoch ein, dass die Begriffe der gleichen Anteilnahme und des Respekts vom Utilitarismus in dem Umfange unangemessen behandelt würden, wie der Utilitarist nicht nur die persönlichen Präferenzen (d.h. meine Präferenzen betreffend das, was ich selbst tue oder erhalte) berücksichtige, sondern auch die sog. ‚externen Präferenzen‘ (d.h. meine Präferenzen betreffend das, was andere tun oder erhalten). Eine richtige Bemühung um Gleichheit würde den Einfluss der externen Präferenzen ausschließen, weil sie ein „Recht auf moralische Unabhängigkeit“ anerkenne, d.h. das Recht, keine Nachteile einfach deshalb zu erleiden, weil andere Menschen den eigenen Entwurf eines guten Lebens für unedel oder falsch halten. 1542
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Dworkin glaubt, dass man Rechte am besten als „Trümpfe“ gegenüber kollektiven Zielen verstehen sollte, und dass folglich ihre philosophische Rechtfertigung teilweise von den Zielen abhinge, die gewählt wurden. Das Problem einer Berücksichtigung der sog. ‚externen Präferenzen‘ (sofern ein utilitaristisches Ziel gewählt wurde) ist, dass die externen Präferenzen „vorgeben, denselben Platz einzunehmen“ wie die utilitaristische Theorie selbst: der Utilitarismus muss sich neutral zwischen dem Niedrigen wie dem Hochstehenden verhalten; er kann aber beispielsweise nicht neutral zwischen sich selbst und einer Nazi-Ideologie sein. Dworkin besteht darauf, dass dieses Argument auch dann noch gelte, wenn die externen Präferenzen nicht auf irgendeiner moralischen oder politischen Theorie aufbauen. Sie würden auch noch den „Raum besetzen, der vom neutralen Utilitarismus beansprucht wird“. Es ist allerdings schwierig, dieses Argument zu begründen. Man kann z.B. nicht vorbringen, dass eine Präferenz einfach deshalb in den Raum des Utilitarismus eindringt, weil sie, wenn sie vollständig befriedigt würde, eine Verteilung erzwingen würde, die vom Utilitarismus nicht empfohlen wird. Ein solcher Ansatz würde ein Entscheidungsverfahren vorschreiben, das auf viziöse Weise zirkulär ist. Denn man hätte über die Voraussetzungen des Nutzens zu entscheiden, bevor man sagen kann, ob irgendeine bestimmte Präferenz beim Bedenken dieser Voraussetzungen überhaupt berücksichtigt werden soll. Könnte man aber nicht auf jeden Fall sagen, dass Dworkins Ansatz nicht im gleichen Umfange die Interessen jener Menschen berücksichtige, deren Wohlergehen oder Nützlichkeit eine Funktion ihrer externen Präferenzen ist? Angenommen, meine einzige Sorge sei unser aller Wohlergehen, und mein Leben ist verfehlt, wenn unser Glück nicht gesichert ist. Wie kann die Gleichheit der Berücksichtigung diktieren, dass mein Wohlergehen (so definiert) unberücksichtigt bleiben soll? Einige werden meinen, dass das vorgeschlagene ‚Recht auf moralische Unabhängigkeit‘ attraktiver sei als die Rechtfertigung, die Dworkin dafür vorschlägt. Nun meinen aber nur noch wenige Theoretiker oder überhaupt keine mehr, dass die Menschen einfach wegen einer allgemein angenommenen Missbilligung ihrer Lebensstile benachteiligt werden sollten; das besagte ‚Recht‘ hat dann womöglich überhaupt keine Substanz mehr. Siehe auch: Liberalismus; Naturrecht; privatheit; Rechtsstaat; Toleranz Anmerkungen und weitere Lektüre: Barry, B. (1995): ‚Justice as Impartiality‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine intelligente Darstellung einiger jüngerer liberaler politischer Theorien.) George, R.P. (1993): ‚Making Men Moral‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine klare und zugängliche Diskussion, die gut als Einstiegspunkt für den Anfänger taugt, obwohl sie von einem Standpunkt aus geschrieben ist, die dem Liberalismus ziemlich kritisch gegenüber steht.) N.E. SIMMONDS
Recht, Rabbinisches Siehe: Halakhah
Recht, natürliches Siehe: Naturrecht
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Rechte3 Einführung Es besteht verbreitete Einigkeit darüber, dass Rechte Weisen des Handelns oder des Behandeltwerdens sind, die zum Vorteil des Rechtsinhabers sind. Die Kontroverse beginnt jedoch bereits, wenn man versucht, den Begriff der Rechte weitergehend zu bestimmen. (1) Es heißt manchmal, vielleicht zu lässig, dass alle Rechte ihnen entsprechende Pflichten mit sich bringen, d.h. Dinge, die andere Menschen tun oder unterlassen sollen, wenn eine bestimmte Person ein Recht auf etwas hat. Die Frage lautet hier: wie kann man am besten diese Beziehung zwischen Rechten und entsprechenden Verpflichtungen beschreiben? (2) Die meisten Menschen sind der Auffassung, dass bestehende Rechte in gewissem Sinne auch gerechtfertigt sind. Diese Auffassung ist keineswegs tautologisch. Es ist in erheblichem Umfange strittig, wo eigentlich der Schwerpunkt dieser Rechtfertigung liegt. Einige sagen, dass Rechte eigentlich Gepflogenheiten, d.h. bestimmten Formen des Handelns oder Behandeltwerdens, sind, die sich typischerweise sozial etabliert haben. Daher lautet die Frage für sie, ob die Tatsache der sozialen Anerkennung und Durchsetzung gerechtfertigt sei oder zumindest sein könnte. Andere sagen dagegen, dass Rechte an sich selbst Ansprüche sind; folglich ist ein Recht ein gerechtfertigter Anspruch oder ein bestimmtes Prinzip, ob z.B. die Gepflogenheit, die in diesem Anspruch steckt, existiert oder nicht. Dieser Streit um die Rechte als gerechtfertigte Gepflogenheiten und Rechte als gerechtfertigte Ansprüche bedarf einer Untersuchung und, wenn möglich, einer Lösung. Weitere Themen, die über die Frage der anfänglichen Charakterisierung der Rechte hinausgehen, müssen ebenfalls behandelt werden. Eines von ihnen ist die Frage, wie man am besten bestimmte Arten von Rechten rechtfertigen kann, wie z.B. die Menschenrechte und grundlegende Verfassungsrechte. Gibt es eine substanzielle und entscheidende Morallehre, die dies leisten kann? Viele Menschen fragen sich insbesondere, ob der Utilitarismus (eine der herrschenden ethischen Theorien in den heutigen westlichen Kulturen) dieser Aufgabe gewachsen ist. Abschließend verdient auch eine weitere Frage Erwähnung, über die in letzter Zeit viel geredet wurde: Bei dem hier folgenden Beitrag ist deutlicher als vielleicht irgend sonst in einem Beitrag dieser Enzyklopädie der unterschiedliche kulturelle Hintergrund des Ursprungstextes zu beachten. Der vorstehende Beitrag entspringt dem Geist des Common Law, also jener Rechtskultur, die ihren Ursprung im mittelalterlichen England hat. Diese Rechtskultur unterscheidet sich substanziell von der kontinentaleuropäischen, die stark römisch-rechtlich geprägt ist. Die besagte Verschiedenheit beschränkt sich dabei, wie man hier sieht, keineswegs auf den unterschiedlichen Umfang der Normenkodifizierung oder auf das Verhältnis zur Kodifizierung in den beiden Rechtskulturen. Das Common Law beruht vielmehr auf einem Rechtsdenken, das sich bis in bestimmte soziale Grundvorstellungen hinein von jenem der Kontinentaleuropäer unterscheidet, weshalb der nachstehende Beitrag vielleicht von besonderem Interesse sein dürfte. Für eine dem Kontinentaleuropäer wiederum vermutlich sehr vertraut klingende Darstellung des Rechtsbegriffs seiner eigenen Tradition siehe die entsprechende Darstellung in der Wikipedia Online-Enzyklopädie unter http://de.wikipedia.org/ wiki/Recht. Bemerkenswert ist, dass weder in dem hier übersetzten Beitrag, noch in dem besagten Wikipedia-Artikel auch nur mit einem Wort auf die Kulturrelativität des jeweils eigenen Rechtsbegriffs und damit auf die jeweils andere Rechtskultur eingegangen wird. Siehe allerdings den hiesigen Beitrag Römisches Recht, der auch diese Dualität behandelt. [WS]
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welche Arten von Wesen können Rechte besitzen, und unter welchen Besitz- und Enteignungsbedingungen können sie dies? 1. Vorabbeschreibung und Konsens in einigen Punkten 2. Normative Anweisung 3. Zustimmung 4. Funktionen von Rechten 5. Entscheidende Rechtfertigung 1. Vorabbeschreibung und Konsens in einigen Punkten Rechte sind ein wichtiges Thema der zeitgenössischen Sozial- und politischen Philosophie. Denn man geht weitgehend davon aus, dass Rechte, weil sie einen bedeutenden Schutz wichtiger Interessen von Personen gegenüber dem Staat und gegenüber anderen Personen gewähren, ja sogar gegen eine Mehrheit von diesen, für die Person etwas sind, worauf sie bestehen kann. Man wird nicht so weit gehen wollen zu sagen, dass Rechte eine Art von ‚Trümpfen‘ seien (was von einigen Seiten behauptet wurde), doch ist gleichwohl klar, dass Rechte wertvolle Dinge sind. So ist es also ganz selbstverständlich zu fragen, was denn eigentlich ein Recht sei. Rechte sind sozial festgestellte Handlungsweisen oder Weisen des Behandeltwerdens (oder alternativ auch solche, die festgestellt werden sollten). Genauer gesagt ist ein so verstandenes Recht ein Recht auf etwas, das (1) ausreichend bestimmt ist, und das (2) auf einer individuellen Grundlage auf ähnliche Weise an alle vergeben werden kann, und zwar an alle jene, von denen es heißt, sie seien Inhaber dieses Rechts. Ein Recht wird immer (3) sowohl vom Rechtsinhaber, als auch und noch allgemeiner von der Gesellschaft als eine begünstigende Handlungsweise oder eine Weise des Behandeltwerdens betrachtet. Daher (4) ist das Recht sozial akzeptiert oder sollte dies sein, d.h. es ist in bestehenden Gesellschaften anerkannt und geschützt. Eine solche Akzeptanz wird (5) als vernünftig angesehen, selbst von Nichtmitgliedern dieser Gesellschaft, sofern es erklärbar ist. Denn die fragliche Handlungsweise oder die Weise des Behandeltwerdens könnte man plausibel als ein Mittel zur Erfüllung eines bestimmten Interesses oder eines anderen Guts oder einer wünschenswerten Sache darstellen. Entsprechend können (6) andere, die diesbezüglich keine Rechtsinhaber sind, Anweisungen erteilt werden. Und (7) können daran anschließende Handlungen als ein Merkmal eines in dieser Weise erfolgreichen Anspruchs auf einen solchen Rechtsstatus gedeutet werden. Diese anfängliche Beschreibung bildet eine allgemein anerkannte Grundlage in den Argumenten, die Menschen über Rechte vortragen. Tatsächlich sind zahlreiche dieser Merkmale im Einzelnen überhaupt nicht strittig. Deshalb besteht heute weitgehende Einigkeit über die Idee, dass Recht Handlungsweisen oder Weisen des Behandeltwerdens sind, (1) die ausreichend bestimmt, (2) gleichartig auf individueller Grundlage verteilbar und (3) begünstigend sind. Sogar die zentrale Beschreibung betreffend die soziale Akzeptanz in (4) ist in der dargestellten Form nicht übermäßig strittig. Diskussionen heben dagegen an, sobald wir zu bestimmen versuchen, was betont werden sollte: die Rechte als etwas sozial Festgestelltes oder als etwas, was erst sozial festgestellt werden sollte. Schließlich sollte man meinen, dass auch die Vorstellung (6), dass Rechte immer eine gewisse normative Verhaltensanweisung
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betreffend das Verhalten der anderen beinhalten, allgemein akzeptiert sei. Doch gibt es in diesem speziellen Punkt Probleme mit dem vermuteten Konsens. 2. Normative Anweisung Die fragliche Auffassung in (6) wird oft formuliert, indem man sagt, dass Rechte mit Pflichten korrelieren, womit gemeint ist, dass ein Recht immer die Pflicht zumindest eines anderen impliziere oder eine solche mit sich führe, die ebenfalls bestimmt sei und in enger Beziehung dazu stehe. Wenn man sie präzise formuliert, ergeben sich aus dieser These jedoch ernsthafte Probleme. Die interessantesten Argumente gegen eine solche Korrelation stammen aus Wesley Hohfelds höchst einflussreicher Klassifikation der Rechte (siehe Hohfeld, W.N.). Nach seiner Ansicht kann gesetzliches Recht durch eine jede der folgenden vier Ursachen zustande kommen: einen Anspruch, eine Freiheit, eine Macht oder eine Immunität. Und jedem Rechtstyp entspricht eine eindeutige sekundäre Pflicht. Daher ist für einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf etwas das korrelative Element eine gesetzliche Pflicht irgendeiner anderen Partei. Analog korreliert der Immunität einer Person notwendig ein Mangel an Macht, d.h. ein gesetzliches Unvermögen auf der Seite des anderen, etwas Bestimmtes gegen diese Person zu unternehmen (z.B. das verfassungsrechtliche Unvermögen des US-Kongresses, die freie politische Rede eines Mitgliedes zu einzuschränken). Hohfelds Argument ist einfach, dass eine gesetzliche Pflicht und ein Mangel an Macht (ein gesetzliches Unvermögen) etwas auf bedeutende Weise Unterschiedliches sind. Entsprechend steht die Existenz der Immunität gegen die Auffassung, dass das Korrelat zu jedem Recht immer eine eng damit verbundene Pflicht einer Gegenpartei sein muss. Folglich ist die These, dass Rechte logisch immer bestimmten Pflichten gegenüberstehen, nicht schlüssig. Eine schwächere, aber besser vertretbare Sichtweise ist es, das jedes echte Recht auch immer irgendeine normative Verhaltensanweisung gegenüber Personen mit sich bringen muss, die nicht identisch mit dem Rechtsinhaber sind. Aber sogar diese schwächere These scheint an der Autorität von Hobbes (in seiner Darstellung der Rechte im Naturzustand) und von Hohfeld zu scheitern. Wir können dies sehr klar erkennen, wenn wir uns die Hohfeldschen Freiheitsrechte anschauen. Hier entspricht dem Freiheitsrecht, etwas zu tun – was sich durch die Abwesenheit jeglicher Pflicht auf Seiten des Handelnden auszeichnet, dies unterlassen zu müssen – das Unvermögen der anderen Menschen, einen Anspruch geltend zu machen, dass diese Handlung vom Akteur nicht unternommen wird. Dies ist nun allerdings die einzige ‚Anweisung‘ auf Seiten des Verhaltens der anderen Beteiligten im Falle der Freiheitsrechte. Sie können keinen Anspruch auf etwaige Pflichten eines Inhabers von Freiheitsrechten geltend machen, sich von seiner Freiheit zu enthalten; darüber hinaus ist ihr eigenes Handeln (in dieser Hinsicht) unbelastet von Pflichten. Ein Freiheitsrecht, so konzipiert, ist tatsächlich etwas seltsam. Denn es erfasst nicht die allgemein übliche Vorstellung, dass der Besitz eines Freiheitsrechts, irgendetwas tun zu dürfen, die davon betroffenen Anderen verpflichtet, sich in die erlaubte Handlung nicht einzumischen. Das Problem ist hier, dass buchstäblich gar keine normative Anweisung auf Seiten der Anderen (in Hobbes Fall), und keine erhebliche normative Pflicht zur Enthaltung von der Einmischung beteiligt ist (in Hohfelds Fall). 1546
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Wenn die allgemein übliche Vorstellung eines Freiheitsrechts richtig ist, sollte es immer irgendeine Art von starker Anweisung für die Nichteinmischung geben, die entweder explizit in unserer Formulierung eines gegebenen Freiheitsrechts statuiert wird, oder zumindest in jenem Kontext, in dem diese Freiheit normalerweise auftritt, gegenwärtig ist. Um den letzteren Fall aufzugreifen: Gewisse selbstverständliche Pflichten einer Gegenseite (wie z.B. die Pflicht, andere nicht anzugreifen oder zu bedrängen oder ihr Grundstück ohne Erlaubnis zu betreten), selbst wenn sie relativ unabhängig von einer gegebenen Freiheit sind (beispielsweise der Freiheit, die Scheune eines Nachbarn in grellem Lila streichen zu dürfen), erfordern trotz allem bei Ausübung dieser Freiheit ein erhebliches Maß an Schutz. Ohne eine solche recht robuste Anweisung gegen die fremde Einmischung (die entweder in enger Verbindung mit der fraglichen Freiheit steht oder ständig und unabhängig im Umfange ihrer normalen Ausübung vorhanden sein muss) wären wir wahrscheinlich geneigt, diese Freiheit nicht ein Recht zu nennen, sondern lediglich eine Freiheit oder ein Privileg. Die Konsequenz hieraus ist, dass wir unser Hauptargument so vorbringen sollten, dass wir eine erhebliche normative Anweisung hinsichtlich des Verhaltens der Gegenseite geltend machen. Dies ist der Schwerpunkt dessen, was sich als ein Konsens in der vorstehenden Frage abzeichnet. 3. Zustimmung Kein wirklicher Konsens zeigt sich jedoch an jener Stelle, der wir uns nunmehr zuwenden: ob nämlich die Rechte, um Rechte zu sein, einer sozialen Anerkennung bedürfen, und darüber hinaus ihrer sozialen Erhaltung. Bei der Betrachtung dieser Frage neigt die eine Denkschule – jene, die sowohl die klassischen Naturrechtstheoretiker, als auch die zeitgenössischen Vertreter der Menschenrechte willkommen heißen – dazu, dass Personen Rechte unabhängig von einer organisierten Gesellschaft oder von sozialen Organisationen haben können, und folglich auch ohne jegliche soziale Anerkennung und Erhaltung der Rechte. Die recht übliche Beschreibung, dass Rechte im Grund Ansprüche seien, kann als die Betonung der Auffassung verstanden werden, dass Rechte ohne Rücksicht darauf gelten, ob sie anerkannt wurden, weder in der Gesellschaft, noch und insbesondere nicht durch jene Person, gegen die sich dieser Anspruch richtet. Gegen diese Auffassung, dass Rechte im Grunde Ansprüche sind, hat sich eine Reihe von Philosophen gewandt. Bentham fällt einem hier als erster ein, und seine Polemik in diesem Punkte, d.h. gegen die Naturrechte als ‚Unsinn‘ gibt auch heute noch jeder Diskussion einige Würze. T.H. Green wäre ein weiteres Beispiel in seinem Beharren darauf, dass Rechte ihre soziale Anerkennung erfordern, und dass sie ohne eine solche weniger als Rechte sind. Und auch Lenin ist seltsamerweise ein Vertreter dieser Schule. Das von uns hier untersuchte Problem entsteht teilweise, weil das Verfahren zur Entscheidung, ob etwas ein Recht ist oder nicht, nicht ganz feststeht. Wir meinen, dass das Vokabular der Rechte, insbesondere der Menschenrechte, auf jeder von zahlreichen Stufen zur Anwendung kommen kann: bei den reinen Ansprüchen (engl.: claims), bei der Berechtigung [engl.: entitlement] (wo lediglich das Element des ‚Anspruch-auf-etwas‘ wirklich festgestellt ist), bei dem vollständig anerkannten Anspruch (wo wir sowohl eine Vorstellung von einem gerechtfertigten Anspruch auf 1547
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etwas, als auch den gerechtfertigten Anspruch gegen jemanden auf dieselbe Sache haben), und schließlich jenen eines erfüllten oder erzwungenen Anspruchs (wo die angemessenen Mittel zur Unterstützung oder Erfüllung des Anspruchs bereits wirksam ‚körperlich umgesetzt‘ wurden). Die gleichzeitige Gegenwart aller dieser möglichen Stufen führte dazu, dass die Behauptung, es existiere ein Recht, in gewissem Umfange mehrdeutig wurde. Entsprechend stehen wir vor einer erheblichen Vielzahl zeitgenössischer Meinungen, in welchem Umfange solche Behauptungen plausiblerweise als gültig aufgefasst werden können. Während einige einfach meinten, dass Rechte Ansprüche (engl: claims) seien, sagen andere, sie seien Berechtigungen (engl.: entitlements), und wieder andere, vor allem Feinberg (1973), sie seien gültige oder anerkannte Ansprüche (engl.: valid claims). Gegen jene sprachen sich Autoren wie z.B. Sumner (1987) aus, die betonen, dass Rechte, bis hin zu den Menschenrechten, im Grunde festgelegte Handlungsweisen oder Weisen des Behandeltwerdens seien. Und schließlich haben einige die Rechte als legitime Erwartungen behandelt und platzierten sich damit mehr oder weniger zwischen den beiden anderen Positionen (siehe Rawls, J.). Der wichtigste Hintergrundaspekt der Sichtweise, dass Rechte (anerkannte) Ansprüche seien, ist, so meine ich, die alltägliche Meinung (die z.B. von Dworkin, Raz, MacCormick und Held, neben anderen, vertreten wird), dass der Besitz eines Rechts eine Rechtfertigung für das Handeln auf eine gewisse Weise sei, oder auch eine Rechtfertigung für das Behandeltwerden auf eine gewisse Weise (siehe Dworkin, R.). Angenommen nun, dass etwas, was als Recht in Frage kommt, alle Merkmale aufweist, die ein Recht, wie z.B. in § 1 erwähnt, ausmachen; nur eines dieser Merkmale fehlt. Obwohl das Recht in dem gerechtfertigten Sinne glaubhaft gemacht wurde, ist es doch nicht errichtet. Es fehlt ihm die soziale Anerkennung, die es aufweisen sollte. Warum sollte das Fehlen einer solchen Anerkennung zur Aberkennung des Rechtsstatus führen? Denn würden wir den Rechtsstatus danach richten, was gerechtfertigt wurde, d.h. was in diesem Sinne gerechtfertigt wurde, so handelte es sich dabei bereits um ein Recht, noch bevor es sozial anerkannt wurde, ja noch bevor es überhaupt zur Anwendung kam. Und als es anerkannt wurde, so wurde es als Recht anerkannt (d.h. als etwas, das vollkommen gerechtfertigt war), und nicht als etwas, was erst durch seine Anerkennung zu einem Recht wurde. Die entgegengesetzte Auffassung, derzufolge Rechte sozial anerkannte Gepflogenheiten sind, beruht auf drei Hauptargumenten. Das erste ist, dass die Vorstellungen der maßgeblichen Anerkennung (wenn nicht explizit, so doch zumindest implizit, wie sie sich durch das Verhalten zeigen) und der amtlichen Unterstützung und Rechtserhaltung (üblicherweise in einer breiten Zahl von Fällen) selber schon Teil des Standardbegriffs eines gesetzlichen Rechts sind, zumindest dann, wenn es um substanzielle Rechte geht (Einwand der petitio principii). Daher liegt aus der Sicht der ‚Denkschule der sozialen Anerkennung‘ der schwere Fehler in der Theorie der Rechte als anerkannten Ansprüche in allen ihren Formulierungen in der Annahme, dass die Gepflogenheit der amtlichen Anerkennung und der zwangsweisen Rechtsdurchsetzung im Falle der gesetzlichen Rechte verzichtbar sei. Dies ist genau der Punkt, an dem sowohl Dworkin und Raz, die man sonst für Unterstützer der einen oder anderen Form der ‚These der Rechte als an1548
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erkannte Ansprüche‘ halten könnte, diese These zugunsten einer anderen aufgeben, die die institutionelle Notwendigkeit der Art und Weise betonen, wie das Handeln oder Behandeltwerden festgestellt wird, sofern dies als gesetzliches Recht gelten soll. Das zweite Argument, das aus der Sicht der ‚Denkschule der sozialen Anerkennung‘ vorgetragen wird, ist, dass es wünschenswert sei, sofern möglich, einen einzigen und eindeutigen Sinn des Begriffs der ‚Rechte‘ herzustellen, und zwar einen, der imstande ist, sowohl die gesetzlichen Rechte, als auch die Menschen- und sonstigen moralischen Rechte unter einem einzigen Titel zu erfassen. Wenn nun dieses gerade geschilderte Argument glaubhaft erscheinen soll, dann kann die Auffassung der Rechte als anerkannte Ansprüche keine angemessene, d.h. allgemeine Vorstellung der Rechte liefern, also keine, die auf bequeme Weise sowohl die gesetzlichen, als auch die Menschenrechte umfasst. Denn wir sahen bereits, dass die gesetzlichen Rechte nicht befriedigend als ‚anerkannte Ansprüche‘ dargestellt werden können. Dies bringt uns zu dem dritten Argument der Anhänger der ‚Denkschule der sozialen Anerkennung‘. Es besagt, dass alle moralischen Rechte so konstruiert werden können und auch sollten, dass sie festgestellte Gepflogenheiten der Anerkennung und Erhaltung von Handlungsweisen enthalten. Da die Menschenrechte als ein Spezialfall der moralischen Rechte als etwas verstanden werden, das sich insbesondere an Regierungen richtet, so müssen wir die Gepflogenheiten der regierungsamtlichen Anerkennung und Unterstützung als jene Form von Anerkennungen und Rechtserhaltungen betrachten, die auf diese Rechte Anwendung finden. Damit erhalten wir, ganz kurz gefasst, bereits eine Sichtweise der sozialen Anerkennung, die der Behauptung widerspricht, dass Rechte im Wesentlichen gerechtfertigt, oder aber gültige Ansprüche seien. 4. Funktionen von Rechten Rechte haben viele Funktionen. Insbesondere zwei von ihnen werden in der zeitgenössischen Literatur betont: die Gewährung von Freiheit oder Autonomie gegenüber den Rechtsinhabern, und der Schutz ihrer Interessen, insbesondere ihrer grundlegenden Interessen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Rechte weitgehend als etwas diskutiert, was lediglich die Freiheit betrifft, und damit als Handlungsweisen auf der Seite des Rechtsinhabers. Tatsächlich ist diese Tendenz tief in der Tradition des rechtlichen Diskurses verwurzelt. Es ist schwer zu sagen, wann von einem ‚Recht‘ das erste Mal auf eine Weise gesprochen wurde, die der heutigen Verwendung des Wortes entspricht. Viele Gelehrte verorten diese erste anerkannte Verwendung des Wortes bei Wilhelm von Ockham, als dieser von einem Recht (lat.: ius oder jus) als einer Macht oder Fähigkeit (lat.: potestas) zum Handeln in Übereinstimmung mit einem ‚Rechtsgrund‘ sprach, oder im speziellen Falle eines gesetzlichen Rechts (lat.: ius fori) auch von einer Vereinbarung. Ein solcher Gebrauch bürgerte sich dann im 17. Jahrhundert mit Hobbes und vielleicht auch mit Locke ein und hat sich seitdem weiter verbreitet. Diese Verwendung des Wortes stellt gleichwohl eine drastische Übervereinfachung dar, selbst dann noch, wenn die betreffenden Rechte sich, wie dies ebenfalls oft der Fall war, auf die klassischen Rechte der Proklamationen des 18. Jahrhunderts beziehen. Denn diese umfassen wichtige Rechte des Behandeltwerdens, und solche Rechte sind nicht Dinge, die der Rechtsinhaber tun oder lassen kann. Und selbst 1549
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wenn dies so wäre, so überwiegt doch die Übervereinfachung in der philosophischen Literatur (beispielsweise bei Rawls, 1993). So umfassen z.B. Rawls ‚gleiche Grundfreiheiten‘, denen er in seinem ersten Prinzip der Gerechtigkeit huldigt, sowohl Handlungsfreiheiten, als auch Weisen des Behandeltwerdens, die typischerweise keine Form der Beeinträchtigung durch andere darstellen (siehe Freiheit, § 3). Es ist offenkundig möglich, beide wichtige Funktionen, also die Übertragung der Freiheit auf Rechtsinhaber und der Schutz ihrer Interessen als Funktionen von Rechten aufzufassen, und zwar als Aspekte ein und desselben Rechts. Es erscheint daher willkürlich, wo doch beide Funktionen normalerweise durch praktisch alle Rechte bedient werden, nur eine dieser Funktionen herauszugreifen, und zwar typischerweise die Funktion der Übertragung der Autonomie, und ihr das Definitionsgewicht zu verleihen (siehe Sumner, 1987). Tatsächlich mag es in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Verständnis der Rechte, wie es sich beispielsweise in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 artikuliert, am besten sein, drei Hauptfunktionen der Rechte zu betonen. Der zentrale Inhalt einiger Rechte wird daher die Handlungsweise sein, beispielsweise eine Verhaltensfreiheit irgendeiner Art. Im Zentrum weiterer Rechte wird dann aber eine Weise des Behandeltwerdens stehen, nämlich die Nichtverletzung bestimmter Art, oder alternativ, die Bereitstellung eines Dienstes. Passend zu jedem Haupttitel oder jeder Klasse von Rechten, wie sie durch diese ‚Kerne‘ bestimmt werden, gibt es eine angemessene oder typische normative Antwort, die sich als eine Verhaltensanordnung an andere richtet. Doch das wesentliche Merkmal dieser normativen Verhaltensanweisung gegenüber der jeweiligen Gegenseite wechselt von Fall zu Fall. Ein bestimmtes Verhalten zu erlauben oder sogar dazu zu ermuntern ist das, worauf sich die Anweisung diesen Parteien gegenüber im Falle der Freiheit richtet; ihre Zufügung eines Schadens am Rechtsinhaber zu verbieten oder von ihnen einen Dienst an dem Rechtsinhaber zu verlangen ist die auferlegte Anweisung in den anderen beiden Fällen. 5. Entscheidende Rechtfertigung Rechte sind herausragend plausible Kandidaten einer Rechtfertigung ihrer eigenen Geltung. Diese Idee versuchte ich bereits mit der Darstellung zu erfassen, dass Rechte anerkannte Handlungsweisen oder Weisen des Behandeltwerdens sind. Dieser Abschnitt wird auf einige der voll entwickelten Theorien eingehen, die zur Rechtfertigung von Rechten vorgetragen wurden. Ein Vorbehalt dagegen ist lediglich, dass die wichtigsten Rechte allesamt universaler Natur sind, insbesondere die Menschenrechte und die verfassungsrechtlichen Grundrechte, die grundlegenden bürgerlichen Rechte aller Personen (oder aller Bürger) innerhalb einer gegebenen, politisch organisierten Gesellschaft sind. Meine Darstellung beschränkt sich also auf Theorien, die sich um die Rechtfertigung solcher universaler Rechte bemühen. Alle bürgerlichen Rechte sind wichtige Rechte, und alle von ihnen spiegeln ein hohes Maß an sozialer Verbindlichkeit. Aber nicht alle können als etwas gerechtfertigt werden, weil sie für individuierte, praktikable und universelle moralische Behauptungen stehen, die als die eigentlichen Schlussfolgerungen konsistenter Argumente, ausgehend von objektiven Prinzipien der grundlegenden Moral, dienen, oder zumindest von Prinzipien ausgehen sollten, die weitgehend als vernünftig betrachtet werden.
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Für einige Rechtstypen ist dies jedoch möglich. Tatsächlich sind die Menschenrechte in der ‚Denkschule der sozialen Anerkennung‘ (siehe oben § 3) einfach Verfassungsrechte, die genau solche moralisch gültigen Ansprüche verkörpern. Diese Ansprüche könnten dann, wenn sie für sich gesondert gesehen werden, als Menschenrechtsnormen betrachtet werden, was relativ unstrittig ist und das gebührende Gewicht auf beide der entgegengesetzten Ansichten verteilt, die oben in § 3 geschildert wurden. Wir können fragen: Was mag dann bei der Rechtfertigung der Menschenrechte bzw. ihrer Normen, sowie bei jenen konstitutionellen Rechten, die derselben Form von Rechtfertigung zugänglich sind, eine Rolle spielen? Eines scheint klar zu sein: die Normen, die die Menschenrechte bilden oder diese begründen, sind moralischer Natur. Daher können Menschenrechte nur Bestand haben, wenn substanzielle moralische Normen in irgendeinem Sinne existieren, oder können zumindest nur dann objektiv beschrieben und vertreten werden. Es kann aber moralische und daher auch Menschenrechte geben, selbst wenn sie nur konventioneller Art und kulturrelativ sind. Wenn aber die Menschenrechte oder die daran anschließenden Normen ihrer Rolle als internationale Standards der politischen Kritik gerecht werden sollen, dann müsste eine solche konventionelle Moral auch solche Normen umfassen, die weltweit akzeptiert sind. Noch wichtiger ist, dass, wenn solche Normen Gewicht haben und eine Richtung auch für künftige Menschen in Gesellschaften, die noch gar nicht existieren, angeben sollen (und dies scheint die Folge zu sein, wenn wir diese Normen in irgendeinem Sinne als universal bezeichnen wollen), dann können diese Normen nicht einfach konventioneller Natur sein. Deshalb könnte der Wunsch bestehen, sofern die Menschenrechte als moralische Rechte klassifiziert sind, zwischen einer realpolitischen und einer grundlegenden Moral zu unterscheiden. Für die Menschenrechte wäre dann speziell die Überzeugung bedeutsam, dass es objektiv richtige oder vernünftige, d.h. grundlegende moralische Prinzipien gibt. Oft lassen sich Menschenrechte oder deren Normen auf solche Grundideen zurückverfolgen wie z.B. die Menschenwürde, die moralische Persönlichkeit, das moralische Handeln oder die moralische Gemeinschaft. Aber die Erforschung solcher Möglichkeiten erlangte bisher keine verbreitete Zustimmung, vielleicht weil solche Begriffe wie das moralische Handeln sich selbst nicht ausreichend von den Normen oder Rechten unterscheiden, zu deren Rechtfertigung sie in Anspruch genommen werden. Oder vielleicht auch, weil solche Ausdrücke am Ende selbst einer noch fundamentaleren Begründung bedürfen. Deshalb sollten wir vielleicht noch über andere Grundprinzipien nachdenken, und zwar solche, die wirklich als Fundament und damit auch als objektiv vertretbar angesehen werden können. Eine sachgemäße Herangehensweise an diese Frage wäre es, uns jene substanziellen Theorien der grundlegenden Rechtfertigung anzuschauen, die im Zusammenhang mit einer ernsthaften Rede über Menschen- und verfassungsrechtliche Rechte entstanden sind. Drei wichtige zeitgenössische Theorien entsprechen dieser Beschreibung: der Utilitarismus (insbesondere die Theorie, die von J.S. Mill, § 10, vorgelegt und kürzlich unter der Bezeichnung ‚indirekter Utilitarismus‘ erneut vertreten wurde), die Theorie von John Rawls, und die ethische Theorie der rationalen Wahlentscheidung, vor allem jene in der Form von David Gauthier (siehe Kontraktualismus). Ich werde die Diskussion hier auf ein Beispiel beschränken.
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Rechte
Rawls Theorie (wie auch die von Dworkin) betont den geltenden Vorrang grundlegender Freiheiten und andere konstitutionelle Rechte vor solchen Dingen wie dem ‚allgemeinen Guten‘ oder den sog. ‚perfektionistischen Werten‘ wie z.B. dem religiösen Wert der Heiligkeit oder dem Wert des Nietzscheanischen Elitismus. In seinem Buch ‚Political Liberation‘ (1993) skizziert Rawls eine komplexe Theorie der Rechtfertigung, die zwei Teile umfasst. Er beginnt mit dem, was er eine ‚frei stehende‘ Rechtfertigung der politischen Konzeption der Gerechtigkeit nennt und bezieht sich hier auf gewisse fundamentale Ideen, die er für ein ‚implizites‘ Merkmal der zeitgenössischen demokratischen Tradition hält. Als nächstes behauptet er, dass diese politische Konzeption auch als der Schwerpunkt eines sich ‚überschneidenden Konsens‘ unter den Vertretern verschiedener umfassender Religionen und moralischer Lehren unterstützt würde, die es in der westlichen Welt heutzutage gebe. Der historische Utilitarismus wird als eine dieser Lehren erwähnt. Es ist jedoch zweifelhaft, dass das utilitaristische Prinzip der allgemeinen Glückseligkeit die Bestimmung grundlegender Rechte, d.h. verfassungsrechtlich garantierter Vorteile von Einzelpersonen zu stützen vermag, wenn solche Rechte den utilitaristischen Politiker an einer Wahrnehmung gemeinsamer oder kumulierter Interessen hindert und er damit womöglich Verfassungsrechte aufhebt oder verdrängt, nur weil diese Interessen als etwas angesehen werden, was einen noch größeren Nutzen mit sich bringt. In diesem Sinne ist der philosophische Utilitarismus unvereinbar mit dem Begriff der Grundrechte, wie er von Rawls, Dworkin und anderen entwickelt wurde. Denn der Utilitarismus kann möglicherweise keine entscheidende Rechtfertigung eines Schemas grundlegender Institutionen akzeptieren, in dem die konstitutionellen bürgerlichen Rechte einen gültigen Vorrang vor einer Politik haben, die letztlich beliebig das gemeinsame Gute oder die kumulierte Wohlfahrt zu bevorzugen vorgibt. Vieles hängt, scheint es, davon ab, wie die Diskussion der grundlegenden Rechtfertigung von Recht aufgezogen und geführt wird. Und wenn Fragen zur Verteilung von Rechten am besten nach einem erfolgreichen oder zumindest plausiblen Rechtfertigungsversuch aufgegriffen werden, dann sind solche Fragen wie jene, welche Arten von Wesen überhaupt Träger von Rechten sein können, ebenfalls beantwortbar. Gegenwärtig finden sehr erregte Diskussionen darüber statt, ob Föten oder Tiere Rechte haben, oder auch über die Grenzen des Rechts auf Leben (z.B. im Falle der Tötung aus Mitleid oder bei Fragen der Beihilfe zur Selbsttötung). Ernsthafte Versuche zur Beantwortung von Fragen wie dieser, Verteilungsfragen und solche des Geltungsbereichs und der Anfechtbarkeit von Rechten können nicht wirklich geklärt werden, solange sie nicht im Lichte einer angemessen Darstellung der Funktion von Rechten behandelt werden, und ferner unter Einbeziehung von einer oder mehreren substanziellen Theorien der grundlegenden Rechtfertigung von Rechten (siehe Tiere und Ethik; Fortpflanzung und Ethik). Anmerkungen und weitere Lektüre: Feinberg, Joel (1973): ‚Social Philosophy. Foundations of Philosophy Series‘. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall. (Auf dieses Buch wird in § 3 Bezug genommen. Feinberg gehört zu den führenden US-Autoren zum Begriff des Rechts. Seine Argumentation, dass Rechte gültige Ansprüche seien, ist sehr einflussreich
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gewesen. Dieses Buch soll eine Einführung für den studentischen Leser der Politikwissenschaften sein. Kap. 4–6 sind relevant hinsichtlich der Rechte.) Rawls, John (1993, 1996): ‚Political Liberalism‘. New York: Columbia University Press, 2. erw. Aufl.; dt.: ‚Politischer Liberalismus‘, Frankfurt/M., Suhrkamp stw 2003. (Obwohl Rawls hier eher einen dialogorientierten Stil anschlägt, ist dieses Buch doch letztlich nicht einfacher als jenes von 1971, die ‚Theorie der Gerechtigkeit‘. Hier versucht Rawls seine frühere Theorie der Gerechtigkeit zu einer politischen Theorie umzuarbeiten. Der Band enthält auch ohne weitere Überarbeitung seinen wichtigen Aufsatz aus dem Jahre 1982, ‚The Basic Liberties and Their Priority‘. Rawls Theorie der grundlegenden Rechtfertigung wird oben in § 5 beschrieben und kritisiert.) Sumner, L. Wayne (1987): ‚The Moral Foundation of Rights‘. Oxford University Press. (Dieses gut geschriebene Buch vertritt auch einen der wichtigsten Versuche einer grundlegenden Rechtfertigung von Rechten auf utilitaristischer Basis.) REX MARTIN
Rechtfertigung, erkenntnistheoretische Siehe: Begründung, erkenntnistheoretische
Rechtmäßigkeit (einer Regierung)
Der Begriff der Rechtmäßigkeit bezieht sich auf die Legitimität (Regelkonformität) eines Machthabers oder Regelsystems. Der Ausdruck hat seinen Ursprung in den Kontroversen über das Eigentum und die Eigentumsnachfolge und wurde zur Unterscheidung von Kindern, die ehelich geboren waren, von solchen, die ‚illegitim‘ geboren waren, zu unterscheiden. Von hier aus gelangte der Ausdruck über Kontroversen betreffend die rechtmäßige Nachfolge auf dem französischen Thron nach dem Ende der napoleonischen Epoche in den politischen Diskurs. Fragen darüber, was eine rechtmäßige Regierung kennzeichnet, waren jedoch schon seit der griechischen Antike eine zentrale Frage der philosophischen Debatte, und in diesem Sinne ist der Begriff ‚Rechtmäßigkeit‘, wenn auch nicht unbedingt unter diesem Ausdruck, so alt wie die politische Philosophie selbst. Seine Bedeutung liegt in den moralischen Gründen, im Gegensatz zu solchen der reinen Klugheit, für den Gehorsam, der für die Rechtsunterworfenen dort daraus folgt, wo die Macht rechtmäßig erworben wurde und ausgeübt wird, und in der Tiefe der Loyalität, auf die sich die politischen Autoritäten in schwierigen Zeiten berufen können. Was also macht eine Regierung zu einer rechtmäßigen? Die meisten Denker sind sich darin einig, dass eine notwendige Bedingung hierfür der Erwerb und die Ausübung von Macht nach festgelegten Regeln ist, seien diese den Bräuchen entsprechend oder gesetzlich definiert. Die gesetzliche Geltung allein kann jedoch keine ausreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit sein, denn sowohl die Regeln, als auch die auf ihrer Grundlage ausgeübte Macht müssen darüber hinaus auch moralisch gerechtfertigt sein. Zwei allgemeine Kriterien zur moralischen Rechtfertigung können hier unterschieden werden: (1) Die politische Macht sollte von einer rechtmäßigen Quelle der Autorität abgeleitet sein; (2) sie sollte ferner rechtmäßigen Zielen oder Zwecken der Regierung dienen. Die meisten philosophischen Debatten über die Rechtmäßigkeit betreffen entweder eines dieser beiden Kriterien oder spielen sich zwischen ihnen ab. Eine jede angemessene Darstellung der Rechtmäßigkeit muss sich in jedem Falle mit beiden befassen. DAVID BEETHAM 1553
Rechtsphilosophie
Rechtsphilosophie Einführung Das Recht ist seit den Anfängen der Philosophie ein wichtiges Thema ihrer Diskussionen. Versuche der Entdeckung der Prinzipien einer kosmischen Ordnung und der Entdeckung und Sicherung der Ordnungsprinzipien menschlicher Gemeinschaften waren dabei die Quellen der Untersuchung des Rechts. Solche Untersuchungen haben das Wesen des Rechts und seine Beschaffenheit erforscht, sei es, dass sie diese an sich selbst besitzen, sei es, dass sie von Gesetzgebern, Richtern oder engagierten Bürgern kultiviert werden sollten. Eine Dialektik der Vernunft und des Willens findet sich in der philosophischen Spekulation über die dem Recht zugrunde liegenden Prinzipien. Einerseits gab es die Vorstellung, dass der Kosmos selbst, und ebenso die menschliche Gesellschaft, immanente Prinzipien einer rationalen und vernünftigen Ordnung enthält, und dass diese Ordnung einer Entdeckung oder einem Begreifen durch rationale (oder ‚vernünftige‘) Wesen zugänglich sein müsse. Andererseits gab und gibt es die Auffassung, dass man eine Ordnung, speziell jene der Gesellschaft und des menschlichen Verhaltens nicht vorfindet, sondern selbst erzeugt, und dass man sie folglich nicht mittels der Vernunft enthüllen kann, sondern das sie durch Willenshandlungen behauptet werden muss. Entweder gibt es ein ‚Gesetz der Vernunft und andererseits die Natur‘, oder es gibt ein ‚Gesetz auf Befehl des Souveräns oder durch Gott‘. Eine dritte Möglichkeit in dieser Diskussion zur Grundlegung des Rechts könnte ferner durch Brauchtum und Sitte ins Spiel kommen. Der Widerspruch von Vernunft und Wille impliziert die Frage der praktischen Vernunft: Hat die Vernunft wirklich eine praktische Rolle in Bezug auf die letzten Zwecke und nicht mehr ableitbaren Handlungsprinzipien, oder ist sie der Zweckverfolgung oder Normenerfüllung, die vom Willen gesetzt werden, nur untergeordnet? Alternativ: Setzt die Vernunft die Gebräuche und ihre Anwendung bereits voraus und bringt sich nur durch eine Kritik der jeweiligen Bräuche und ihrer Anwendungen ins Spiel? In jedem Falle geht es hier um die Existenz der ‚praktischen Vernunft‘ selbst (siehe Praktische Vernunft und Ethik). Denn im Recht geht es um die menschliche Praxis, sowie um die gesellschaftliche Ordnung, die es durchsetzt und aufrechterhält. Wenn es ein Gesetz der Vernunft gibt, dann muss es jenes sein, dass die Vernunft sowohl ein praktisches, als auch spekulatives Vermögen ist. Die genau entgegengesetzte Alternative setzt den Willen über die Vernunft, wobei der Wille auf die Ziele gerichtet ist, die sich die Menschen setzen. Normen und eine normative Ordnung hängen dann davon ab, was in Form von Handlungsmustern gewillt ist. Die Vernunft spielt hier nur eine ergänzende Rolle bei der Anpassung der Mittel zur Erreichung der Zwecke. Ein weiterer, fundamentaler Fragenkreis betrifft die Verbindung der rechtlichen mit der politischen Sphäre. Wenn das Recht die gute Ordnung betrifft, und wenn die Politik ebenfalls auf eine gute, öffentliche Ordnung abzielt, so muss das Recht eine Schlüsselrolle in der Politik spielen. In diesem Falle käme ihm aber nur eine untergeordnete Rolle zu, denn die Politik bestimmt die Gesetze, nicht aber die Gesetze die Politik. Andererseits könnte man die Politik als etwas, das von den tatsächlichen 1554
Rechtsphilosophie
Machtstrukturen bestimmt wird, zumindest daraufhin befragen, inwiefern sie irgendeinem postulierten Guten wirklich nützt. In diesem Falle könnte man das Recht auch als etwas ansehen, was den Machtmissbrauch grundsätzlich beschränkt und diesen kontrolliert. In der Politik geht es um die Macht, im Recht um die Gestaltung und die Eingrenzung von Machtstrukturen. Die Frage ist dann, wie man das Recht zum Meister der Politik macht, statt zu ihrem Sklaven. 1. Recht als Vernunft 2. Recht als Wille 3. Recht als Brauchtum oder Sitte 4. Recht und Werte 5. Recht als Politik 1. Recht als Vernunft In seiner ‚Republik‘ lässt Platon Thrasymachos auftreten, der ein Vertreter der These ist, dass die Gerechtigkeit der Wille der Mächtigen ist, und welche von Sokrates umfassend widerlegt wird (siehe Platon, § 14). Diese Widerlegung postuliert eine menschliche Fähigkeit zur Unterscheidung von Prinzipien des richtigen sozialen Verhaltens unabhängig von jeglicher formaler Vorschrift oder gesetzlicher Entscheidung durch jemand Mächtigen. Diese Prinzipien sind ihrem Wesen nach normativ und nicht deskriptiv. Bei Aristoteles taucht dieselbe allgemeine Idee in der Form der Feststellung auf, dass selbst dort, wo man eine starke lokale Variation und Beliebigkeit des Rechts beobachten kann, doch immer noch grundlegend gemeinsame Prinzipien über verschiedene politische Ordnungen hinweg erkennbar seien. Einige Prinzipien können demzufolge schlicht ‚per Verordnung‘ rechtens sein, andere scheinen dies wiederum ‚von Natur aus‘ zu sein. Erkundungen des Wesens der Menschen als rationale und politische ‚Tiere‘ können wiederum die Idee des natürlich Richtigen unterstützen; aber diese Erkundung ist mehr die Leistung von Aristoteles‘ Nachfolgern der stoischen Tradition, als von ihm selbst (siehe Stoizismus). Die römischen Juristen passten einige der stoischen Ideen des Naturrechts an ihre Ausführungen des bürgerlichen Rechts an, und wurden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa Justinians Kompilation der Gesamtheit des römischen Rechts von vielen Denkern in weitem Umfange als die Verheißung eines Rechts im Sinne einer ‚schriftlichen Vernunft‘ aufgefasst (siehe Römisches Recht). Auf jeden Fall kam die aristotelische Idee im Zuge ihrer Verschmelzung mit der christlichen Tradition im Werk von Thomas von Aquin (§ 13) in ihre größte Blüte, was in den nachfolgenden Jahrhunderten einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der katholischen Moraltheologie hatte. Nach zumindest einem ganzen Jahrhundert relativer Vernachlässigung unter den Rechtswissenschaftlern, insbesondere in der englischsprachigen Welt, erlebte das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts ein starkes Wiederaufleben des thomistischen Ansatzes in der Rechtsphilosophie (siehe Naturrecht), wobei zeitgenössische Denker die Idee des grundsätzlich Guten als Teil des menschlichen Wesens weiter entwickelten und sowohl zeigten, wie dies zur Ausarbeitung moralischer Prinzipien führen kann, als auch, wie positiv verabschiedete Gesetze als Konkretisierung von grundlegenden Prinzipien verstanden werden können.
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Im 17. Jahrhundert hatten andere Stränge der im Wesentlichen selben Idee beispielsweise bei Hugo Grotius zu der Überzeugung geführt, dass grundlegende Prinzipien des richtigen Verhaltens und folglich auch der menschlichen Rechte durch die Intuition und die Vernunft erfassbar seien (vergleiche Pufendorf, S.). Kants Darstellung der Prinzipien der praktischen Vernunft ist die klassische Neufassung dieser Position in ihrer höchsten und strengsten philosophischen Form (siehe Kant, I., §§ 9–11; Kantische Ethik, § 1). In einem weiteren Sinne können alle diese Ansätze dem Rationalismus zugeschrieben werden, im Gegensatz zum Voluntarismus (siehe Rationalismus; Voluntarismus). Denn sie behandeln das Recht oder seine fundamentalen Prinzipien als etwas, das mit rationalen und diskursiven Mitteln entdeckt werden kann, unabhängig von dem Eingreifen irgendeines gesetzgeberischen Willens. Sie leugnen selbstverständlich nicht die Notwendigkeit eines legislativen, richterlichen oder exekutiven Willens. Selbst wenn der Vernunft grundlegende Prinzipien innewohnen, erfordert doch ihre detaillierte Umsetzung in wirklichen Gesellschaften Prozesse der Gesetzesverkündung, der Gesetzesanwendung und der Gesetzesdurchsetzung. Die Frage ist jedoch, ob diese grundsätzlich durch die Vernunft und die praktische Klugheit (prudentia) zu leisten sind oder nicht. In dem Umfange, wie man dies bejaht, besitzen wir einen Begriff eines gewissermaßen ‚höheren Gesetzes‘, also eines Gesetzes der Vernunft, mit dem man die wirkliche Praxis der menschlichen Rechtsinstitutionen rechtfertigen, messen und kritisieren kann. Wenn deren rationale Ableitung irgendwie von einem teleologischen Verständnis des menschlichen Wesens und seiner Beziehung zum Schöpfer und dem Rest des geschaffenen Universums abhängt, so kann man dies durchaus vernünftig als ein ‚Gesetz der Natur‘ oder ein ‚Naturrecht‘ bezeichnen. 2. Recht als Wille Es ist aber noch eine andere Darstellung des ‚höheren‘ Gesetzes möglich. Man kann sich dies als ein Gesetz vorstellen, dass von Gott selbst seiner Schöpfung zugrunde gelegt wurde. Der göttliche Wille, nicht die göttliche Vernunft, muss dann die Quelle des Gesetzes sein. Es kann in diesem Falle nicht angehen, dass die geschaffene Vernunft sich zum Richter über die Weisheit des Schöpfers aufschwingt. Die Allmacht des Schöpfers bringt es mit sich, dass das Gesetz jeweils das ist, was dem Willen des Schöpfers entspricht, und dass es auch nur kraft dieses Willens überhaupt ein Gesetz ist, und nicht etwa kraft irgendeiner unabhängigen Vernunft und der Natur der Dinge. Tatsächlich wird die Natur der Dinge genau das sein, was der Wille des Schöpfers von ihnen zu sein verlangt, und die Namen der Dinge werden eine Frage der Konvention sein, die sich aus dem menschlichen Gebrauch der Sprache ergibt. Begriffe sind keine Wesenheiten, die uns zu ihren wesentlichen Bedeutungen hinführen. Der Nominalismus und der Voluntarismus sind unvermeidlich Geschwister (siehe Nominalismus). Es ist deshalb nicht richtig anzunehmen, dass die Theorie des Naturrechts als eine Art von höherem Recht den Rationalismus voraussetzt. Es kann tatsächlich eine voluntaristische Art von ‚natürlichem Recht‘ geben, obwohl die voluntaristische Tradition wahrscheinlich hier eher von ‚göttlichem Recht‘ oder ‚Gottes Gesetz‘ anstelle von Naturrecht im einfachen Sinne des Wortes sprechen wird (siehe Austin, J.). Ferner war eines der Elemente in den religiösen Erhebungen im Zusammenhang mit 1556
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der Reformation das Beharren auf dem Bedürfnis nach einer unvermittelten Schau des (schriftlich offenbarten) göttlichen Gesetzes, und nicht etwa auf den Bräuchen oder Traditionen der sündigen menschlichen Institutionen wie z.B. der katholischen Kirche. Es steht der gefallenen menschlichen Vernunft nicht an, sich selbst über oder auch nur neben den offenbarten Willen Gottes zu setzen. Aber dieser offenbarte Wille muss als ein Gesetz aufgefasst werden, das uns über alles andere hinaus bindet. In diesem Zustand der Dinge wird es fraglich, ob der Mensch überhaupt irgendein Gesetz hinnehmen soll, und wie man nach der voluntaristischen Hypothese verstehen soll, dass überhaupt je ein Gesetz außer dem von Gott gegebenen irgendeine verbindliche Kraft entfaltet. Zur Rettung des menschlichen Rechts sind hier nur zwei mögliche Wege denkbar: entweder muss man zeigen, dass Gott tatsächlich unseren Gehorsam genau gegenüber den Königen und anderen übergeordneten Menschen will, die uns wirklich gegeben sind (wie dies in der Theorie des ‚göttlichen Rechts des Königs‘ geschieht), oder der Fall muss eintreten, dass der bindende Wille aus dem Konsens der menschlichen Wesen selbst heraus entsteht, ausgedrückt mittels irgendeines ursprünglichen Gesellschaftsvertrages. Der göttliche Wille berührt uns dann nur in dem Umfange, wie er die Erfüllung dieser freiwillig eingegangenen Vereinbarungen zu etwas Verbindlichem macht. Zu diesem Punkt bemerkte Hobbes grimmig, dass ‚Verträge ohne Schwert‘ nichts als Worte seien, woraus folgt, dass sich die wahre bindende Kraft der Verpflichtung gegenüber dem Gesetz aus der effektiven Macht der Gesetzgeber ableitet, die von dem Gesellschaftsvertrag in ihr Amt eingesetzt werden (siehe Hobbes, T, §§ 6–7). In dieser Hobbesschen Form hat sich das Naturrecht praktisch aufgelöst (obwohl Lockes Antwort hierauf den Naturzustand als einen solchen ins Auge fasst, der durch die Vernunft in der Form eines Naturgesetzes geleitet wird und dadurch vorgesellschaftliche Rechte der Menschen auf Leben, Freiheit und Staat begründet; siehe Locke, J., §§ 9–10). Der umfangreichste gesetzliche Ausdruck der Lockeschen Vision des Rechts, angewandt zur Darlegung des englischen common law, findet sich im Werk von Sir William Blackstone. Ihren Gnadenstoß erhielt diese Vision von Hume und Bentham, wobei letzterer insbesondere Blackstones Werk aufs Korn nahm. Sie brachten vor, dass der Gesellschaftsvertrag das fünfte Rad am Wagen sowohl von Hobbes, als auch von Locke sei, denn aus denselben Gründe, die diese zum Gehorsam gegenüber jenem Gesetz anführen würden, dem wir angeblich zugestimmt haben, wird doch auch Gewalt angewandt, wenn wir ihm nicht zustimmen, und es gäbe nicht das geringste historische Anzeichen für irgendeine solche Übereinkunft (siehe Bentham, J.). 3. Recht als Brauchtum oder Sitte Woher kommt nun das Recht? Hume schreibt es vor allem der menschlichen Konvention und den Bräuchen zu, gekoppelt mit einer Reflexion über die angenehmen Eigenschaften (den Nutzen) einer strengen Beachtung der sittlichen Normen (siehe Hume, D., § 3). Bentham und Austin beschränken die Rolle der Sitten und Bräuche (habit) auf die Frage des Gehorsams. Wem auch immer von vielen in einer großen Gesellschaft gehorcht wird, der ist in der Position, seine Befehle wirksam durchzusetzen, bis hin zu effektiven Zwangsmaßnahmen einschließlich jener des Todes. Auf diese Weise trennen Bentham und Austin das positive Gesetz von anderen Formen so genannter Gesetze wie z.B. dem naturwissenschaftlichen Gesetz, 1557
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dem Ehrengesetz oder den persönlichen Moralkodizes. Das betreffende Gesetz ist dies infolge des Befehls eines Souveräns, der derjenige ist, dem gewohnheitsmäßig gehorcht wird, und der selbst gewohnheitsmäßig niemandem sonst gehorcht (siehe Souveränität). Der Rechtspositivismus dieser Prägung assoziiert sich leicht dem politischen Utilitarismus und Programmen der Rechtsreform. Die Kodifizierung von Gesetzen gehört ebenfalls in diesen Bereich und wird utilitaristisch begründet (siehe Utilitarismus; Beccaria, C.B.; Bentham, J.). Die Kodifizierung ist ferner ein sehr distinktes Phänomen des frühen 19. Jahrhunderts, und zwar als Produkt der Kritik der Aufklärung an den alten Bräuchen des ancien régime, obwohl einige vorbereitende Arbeiten zur Darstellung des bürgerlichen Rechts teilweise bereits in der Epoche des späten Rechtsrationalismus geleistet wurden. Auf den Code Napoléon, der in Frankreich im Jahre 1804 verkündet wurde, folgte ein Jahrhundert der Kodifikation und der legislativen Modernisierung des Rechts an vielen Orten, und hiermit gingen typischerweise Ansätze der Rechtsphilosophie einher, die das wesentliche Entstehen von Recht aus dem Willen des Souveräns betonten, oder auch aus dem Willen des Staates als einer rationalen Assoziation (im Hegelschen Sinne, siehe Hegelianismus). Gleichwohl brachte diese Bewegung auch ihre eigene Gegenbewegung hervor, die die Bedeutung des Geistes der Menschen als der Grundlage des Rechts betonte, oder etwas prosaischer gesagt, indem sie dieses zunächst in den Bräuchen verortete, eine Sichtweise, die insbesondere im kulturellen Kontext des common law sehr populär ist. Die Kritiken des 20. Jahrhunderts am klassischen Rechtspositivismus beschuldigen dessen Autoren der Verwechslung von ‚Befehl‘ mit ‚bindendem Befehl‘ (siehe Kelsen, H.), oder auch der fehlerhaften Verortung der Wurzeln der legislativen Autorität im Rahmen der reinen Gewohnheit (habit), statt im Mittelpunkt der Anschauung jener, für die das System, innerhalb dessen die Autorität ausgeübt wird, eine normative Kraft entfaltet (siehe Hart, H.L.A.). Die diesbezügliche positivistische Auffassung von Kelsen gründet wiederum auf den notwendigen Voraussetzungen für eine wertfreie Rechtswissenschaft (science of law), und andere Denker haben die Frage nach einer ‚Gesetzeswissenschaft‘ (legal science) weiter verfolgt (siehe Bobbio, N.). Die entsprechende Auffassung von Hart gründet das Recht auf den Bräuchen mindestens der öffentlichen und politischen Klassen eines Staates, deren Praktiken der Anerkennung gewisser Kriterien für die Geltung gesetzlicher Regeln letztlich die ‚lebendige Verfassung‘ eines Staates definieren, sowie seine ‚Wiedererkennungs-‘ oder ‚Identifikationsregel‘ (siehe Rechtspositivismus). Ferner tauchten rivalisierende Varianten des Hartschen Positivismus in den letzten Jahrzehnten auf. Ein bemerkenswerter Spross oder eine solche Entwicklung aus dem Studium des Rechtspositivismus heraus waren die immer strengeren Ansätze einer begrifflichen Analyse und Kategorisierung, die nach einer Darstellung für den Gebrauch von Begriffen wie ‚Pflicht‘, ‚Recht‘, ‚Eigentum‘ etc. im Rahmen allgemeiner gesetzlicher Normen suchten. Hohfelds Analyse der ‚grundlegenden Rechtsbegriffe‘ (siehe Hohfeld, W.N.) hatte viele Anhänger und Kritiker, und Zeitgenossen anderer Traditionen gingen von einem etwas stärker psychologischen Ausgangspunkt an diese Frage heran. Überlegungen zu Rechtsbegriffen als Institutionen oder ‚institutionellen Tatsachen‘ führten zur Entwicklung einer ‚institutionellen‘ Rechtstheorie, die das, was ursprünglich naturalistisch konzipiert war, in eine positivistische Form bringt. 1558
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4. Recht und Werte Fast alle Ansätze des Rechtspositivismus, also sowohl die voluntaristischen Auffassungen, als auch jene, die mehr Gewicht auf die Bräuche oder institutionelle Aspekte des Rechts legen, bestanden auf der starken Relevanz der Werte für das positive Recht. Die Zweifel erwuchsen nicht aus der Frage: ‚Sollten Gesetze gerecht sein?‘, sondern daraus, ob ihre Gerechtigkeit eine Bedingung ihrer wirklichen Legalität ist. Der ‚wissenschaftliche‘ Charakter der reinen rechtlichen Analyse wurde in der Tat der Ausübung moralischer Urteile oder moralischer Empfindungen gegenübergestellt, oder der Beteiligung an ideologischen Diskussionen, zu denen es kommt, wenn man ein Gesetz als ungerecht oder auf andere Weise aus der Perspektive menschlicher Bedürfnisse oder Sehnsüchte als unbefriedigend kritisiert. Einige Autoren meinten jedoch, dass die Kritik selbst eine wissenschaftliche oder zumindest eine objektive Grundlage haben kann, wenn man sich auf die Grundlagen der menschlichen Natur bezieht. Der klassische Utilitarismus und die Rechtsreform des 19. Jahrhunderts wurden bereits in diesem Zusammenhang genannt. Sie hatten Nachfolger in der ‚Interessenjurisprudenz‘, und – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – in der ‚wirtschaftlichen Analyse des Rechts‘ des späten 20. Jahrhunderts. Die Notwendigkeit, das Recht einer Kritik zu unterziehen, ist aus vielen Perspektiven heraus offenkundig, wobei allerdings dies keiner dringender geltend macht als jene, die auf die drückende Last und Wirkung legaler Sanktionen auf das menschliche Glück und die menschliche Freiheit aufmerksam machen. Wenn Gesetze typischerweise mit Strafen oder der Zufügung von Schaden bei ihrer Missachtung androhen, so bedarf es einer Theorie der Rechtfertigung bestrafender und schadenskompensierender Maßnahmen und Einrichtungen (siehe Verbrechen und Strafe; Gerechtigkeit, Korrigierende). Eine weitere Debatte betrifft die Frage, ob es irgendeine abstrakt beschreibbare Grenze der Legitimität einer Einmischung in die Freiheit mittels gesetzlicher Interventionen gibt (siehe Recht und Moral). Im übrigen wurde die Behauptung der Positivisten, dass sie eine amoralische, begriffliche Analyse des Rechts und seiner Institutionen mit einer Bereitschaft zur Kritik des gegebenen Rechts auf der Grundlage von moralischen und politischen Gründen verbinden können, was äußerstenfalls, nämlich sofern es extrem ungerecht ist, sogar die Berechtigung zum Ungehorsam oder einem Widerstand gegenüber dem Gesetz mit sich bringt, wurde von einigen Autoren bezweifelt. Gustav Radbruch fühlte sich durch seine Erfahrungen während der Nazizeit (und vielleicht auch durch die Folgen des radikalen Voluntarismus von Carl Schmitt) gezwungen, diesen Anspruch aufzugeben und stattdessen auf einem begrifflichen Minimum der grundlegenden Gerechtigkeit in allem zu beharren, was man überhaupt als ‚Gesetz‘ bezeichnen kann. Die gegenseitige Durchdringung von Billigkeit und Recht und die miteinander verwobenen Ideen der Gerechtigkeit, der Billigkeit und des Gesetzes könne man so auffassen, dass sie im Grunde auf eine ähnliche Moral verweisen, und ein idealistischer Ansatz einer Rechtstheorie könnte die Begründung eines solchen Ansatzes vertiefen. 5. Recht als Politik Wie auch immer man das jeweilige Verhältnis von Wille und Vernunft oder des Naturrechts und dem Rechtspositivismus auffasst, geben die meisten theore1559
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tischen Ansätze, die hier angesprochen wurden, den einen oder anderen Anlass zur Annahme einer unabhängigen Existenz des Gesetzes als einem distinkten sozialen Phänomen. Die Unabhängigkeit des Rechts, zumindest wenn es durch eine unabhängige Judikative unterstützt wird, galt vielen als die Aussicht auf die Möglichkeit einer wirksamen Kontrolle über willkürliche staatliche Handlungen, während sie gleichzeitig zumindest die Gerechtigkeit einer formalen Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz garantiert und damit den Grad der Voraussehbarkeit steigert, der vermutlich von modernen rationalen Rechtssubjekten erwartet wird. Hier haben wir das Ideal des Rechtsstaates, das eine Regierung innerhalb der Formen und Grenzen des Rechts und der Gesetze in der Form klar identifizierbarer Regeln fordert (siehe Rechtsstaat). Allerdings ist die schiere Existenz irgendeiner Sammlung heiliger oder säkularer Texte, die gesetzliche Regeln verkörpern, kaum ausreichend für irgendeine sozial realistische Darstellung des Rechts, und auch nicht für irgendeine politisch überzeugende Vision des Rechtsstaates (siehe Sozialtheorie und Recht). Das Gesetzbuch wendet sich nicht selbst an und interpretiert sich auch nicht selbst. Zur Sicherung des Rechtsstaates bedarf es vorausschauender Regeln, die öffentlich zugänglich sind. L.L. Fuller weist aber darauf hin, dass es notwendig ist, sie auf eine nachvollziehbare und zweckmäßige Weise auszulegen, und dass sie gewissenhaft durch die Amtsträger desjenigen Staates umgesetzt werden, dessen Regeln sie sind. Wie aber kann dies sichergestellt werden? Viele Denkschulen, unter ihnen vor allem die so genannten ‚Rechtsrealisten‘ (legal realists) (siehe Rechtsrealismus) in Europa und den USA, betonen den großen Ermessensspielraum bei der Gesetzesinterpretation, und zwar sowohl hinsichtlich der allgemeinen gesetzlichen Regeln, als auch hinsichtlich der Subsumtion tatsächlicher Situationen unter das Gesetz für den jeweiligen Zweck. Bei näherer Betrachtung stellen sich aber auch die Tatsachen als ähnlich schwer fassbar dar wie die Gesetze, und das Studium rechtlicher Beweisverfahren wird somit dringend (was zählt als rechtsrelevante Tatsache?). Insgesamt betrachtet ist es eine ernste und schwierige Frage, was eine Entscheidung auf vernünftige Weise berechenbar macht, wenn man von einem weiten Ermessensspielraum desjenigen ausgeht, der das Gesetz auslegt. Eine Form von Antwort hierauf war die Auffassung, dass das Gesetz nicht auf der Grundlage der amtlichen Regeln und Standardlehren berechenbar ist, sondern vielmehr auf der Grundlage eines ‚Sinnes für die Situation‘ auf Seiten der Richterschaft, die über ein alltägliches oder gewöhnliches Verständnis der politischen und sittlichen Ziele verfügt, die dem Gesetz zugrunde liegen. Diese Einsichten der ‚Realisten‘ wurden sogar noch heftiger von der zeitgenössischen feministischen Rechtswissenschaft vorgetragen. Eine Richtung des Feminismus behauptet z.B. die Existenz sozialer Vorurteile, weil die Gesetzesauslegung von befangenen Richtern bestimmt wird. Eine andere feministische Richtung macht in den Regeln selbst eine Art innerer Maskulinität aus, und zwar auch und sogar gerade dann, wenn sie am abstraktesten sind. Die behaupteten Werte der Objektivität und persönlichen Neutralität werden schließlich fraglich, weil sie womöglich etwas voraussetzen, das gar nicht unbedingt wünschenswert ist. Innerhalb der etablierten Rechtswissenschaft ist die entwickelte Antwort auf den oben beschriebenen ‚Realismus‘ die Ausarbeitung ausgedehnter Theorien des Rechtsstaates, wobei anerkannt wird, dass Recht mehr ist als positive Regeln. Gleichzeitig wird die Existenz anderer Mechanismen innerhalb des Rechts geltend 1560
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gemacht, die die Rolle der wesentlichen Elemente der Entscheidungsfindung kontrollieren. Solche Antworten stehen in einer gewissen Kohärenz zum Recht selbst. Im Gegensatz dazu wenden die entwickelteren kritischen Ansätze (einschließlich der kritischen Feministen) jedoch ein, dass es zentrale Brüche und Verwerfungslinien im Recht gäbe, die letztlich die miteinander widerstreitenden politischen Visionen der menschlichen Gemeinschaft widerspiegeln, und die oft als der Konflikt zwischen dem Individualismus und den Gemeinschaftswerten geschildert werden. Ronald Dworkins Argument der Kohärenz und Integrität des Rechts führte zu der Idee einer Interpretationsgemeinschaft, ging aber wohl zu rasch davon aus, dass für eine jede wirkliche Gesetzesbestimmung ein ganz bestimmtes, einvernehmliches Interpretationsverfahren gefunden werden könne, und dies sogar grundsätzlich (siehe Dworkin, R.). Insgesamt besehen ist das Vorhaben einer Etablierung des Rechtsstaates als einer unabhängigen Grundlage zur Kritik und Kontrolle staatlicher Handlungen zum Gegenstand ernsthafter Zweifel geworden, weil die Gesetzesauslegung durch und durch politisch ist; und die Berufung auf den Rechtsstaat kann selbst nur ein Zug in einem politischen Spiel sein, d.h. Ausdruck einer Ideologie statt von höheren Werten. Am Ende kann es sein, dass die Rechtsphilosophie heute wie schon zur Zeit ihrer Entstehung vor dem Dilemma steht, dass dem rechtlichen und moralischen Argumentieren entweder jene Form innerer Objektivität eigen ist, die von der Naturrechtstheorie in ihren rationalistischen Fassungen behauptet wird, oder dass die ganze Inszenierung des Rechts schlicht ein Theater ist, das endlos das Machtspiel rivalisierender Willen und Visionen des Guten wiedergibt. Von vielen Philosophen wurde nach einem dritten Weg gesucht, aber keiner von ihnen hat bisher einen anerkannten Erfolg für sich verbuchen können. Siehe auch: Halakhah Anmerkungen und weitere Lektüre: Harris, J.W. (1980): ‚Legal Philosophies‘. London: Butterworth. (Eine geradlinige und gut geschriebene Einführung in Fragen und Denkschulen der Rechtsphilosophie.) Kelman, M. (1987): ‚A Guide to Critical Legal Studies‘. Cambridge, MA: Harvard University Press. (Eine gut lesbare und sympathische Darstellung und Bereicherung des ‚kritischen‘ Ansatzes, der alle gesetzlichen Aktivitäten als an sich selbst politisch und ideologisch betrachtet.) BEVERLEY BROWN, NEIL MACCORMICK
Rechtspositivismus
Der Rechtspositivismus ist ein Ansatz in der Rechtsphilosophie, bei dem es um das ‚positive Recht‘ geht, also um die in menschlichen Gesellschaften aufgrund menschlicher Entscheidungen geltenden Gesetze als einem bestimmten Phänomen, das einer Analyse und einer Beschreibung unabhängig von der Moral, von dem göttlichen Gesetz oder reiner, natürlicher Wirklichkeit zugänglich ist. Sie hat mit dem philosophischen Positivismus das Bestreben eines Umgangs mit den Tatsachen gemeinsam, wobei dies hier allerdings Tatsachen der Rechtmäßigkeit und des gesetzlichen Systems sind. Das Beharren auf der Bestimmtheit des positiven Rechts ist ein integraler Bestandteil des ‚Ideals des Rechtsstaates‘, und zwar infolge der Favorisierung eines klaren Rechts, das von neutralen Beamten des Justizapparates angewen1561
Rechtsrealismus
det wird. Die Diskussion über den Rechtspositivismus wurde jedoch in gewissem Umfange durch Begriffsverwirrungen beeinträchtigt: ‚Positivismus‘ scheint häufig etwas anderes für seine Unterstützer als für seine Gegner zu bedeuten, und viele Angriffe werden gegen Strohmänner geführt. Infolgedessen hängt viel von der Definition des Rechtspositivismus ab, die den jeweiligen Diskussionen zugrunde liegt. Es wurden aber auch Versuche unternommen, etwas Ordnung in die Diskussion zu bringen. Man bedenke beispielsweise H.L.A. Harts Liste der Bedeutungen des Ausdrucks ‚Rechtspositivismus‘ (die man als kumulative Aufzählung der Merkmale des Positivismus auffassen kann): (1) Gesetze als menschliche Befehle; (2) Abwesenheit einer jeglichen notwendigen Verbindung zwischen Gesetz und Moral; (3) das Studium des Gesetzes als Bedeutung, im Unterschied zur Soziologie, der Geschichte und Formen der Bewertung; (4) der Vorwurf, dass ein Rechtssystem ein geschlossenes System sei, selbstgenügsam bei der Rechtfertigung gesetzlicher Entscheidungen; (5) ein Art von Nicht-Kognitivismus in der Ethik. Norberto Bobbios Liste ist etwas kürzer und geordneter, aber auf den ersten Blick gar nicht so anders. Ihm zufolge wird der Rechtspositivismus aufgefasst als: (1) eine neutrale, wissenschaftliche Herangehensweise an das Recht; (2) eine Gruppe von Theorien, die das Gesetz als ein Produkt des modernen Staates darstellen, zusammen mit der Behauptung, dass das Recht eine Menge positiver (d.h. gegebener) Regeln menschlichen Ursprungs ist, bis hin zu einer Menge gesetzlicher Bestimmungen, die innerhalb von Rechtssystemen oder -ordnungen gehalten werden; (3) eine Ideologie des Rechts, die dem positiven Recht als solches einen Wert beimisst, wobei impliziert wird, dass es immer beachtet werden sollte. In dieser Liste kann die ‚Bedeutung‘ jedoch nicht, wie bei Hart, additiv zusammengesetzt werden, weil der erste und der letzte Eintrag in Bobbios Liste unvereinbar sind. Die Verbindung zwischen den drei Punkten ist bei ihm die folgende: Für die Positivisten gewähren die Theorien gemäß Bobbios zweiter Kategorie (‚Das Gesetz besteht aus Regeln, die vom Staat hervorgebracht werden‘) eine wissenschaftliche und wertfreie Herangehensweise an das Recht; für die Gegner des Rechtspositivismus produzieren sie nur Ideologie, d.h. verborgene Werturteile zugunsten der staatlichen Macht. Der kürzeste Weg zu einem Verständnis dessen, um was es in diesen abstrakten Diskussionen geht, ist es, wenn man den Rechtspositivismus der Herangehensweise seiner Gegner an das Recht gegenüberstellt. Es ist erwähnenswert, dass an diesem Punkte die Gesetzesrealisten und die Theoretiker des Rechtspositivismus, obwohl sie von verschiedenen Ausgangspunkten und sogar gegensätzlichen Standpunkten herkommen, doch schließlich darin übereinstimmen, dass dem Rechtspositivismus eine ideologische, verdeckt wertende These zugrunde liegt. Siehe auch: Bobbio, N.; Hart, H.L.A.; Rechtsphilosophie MARIO JORI
Rechtsrealismus
Der Ausdruck ‚Rechtsrealismus‘ wird gewöhnlich zur Beschreibung verschiedener Strömungen des rechtswissenschaftlichen Denkens im 20. Jahrhundert verwendet, die im Gegensatz zu idealistischen Ansätzen stehen. Daher sollte man den Ausdruck ‚Realismus‘ in diesem Zusammenhang nicht als eine gedankliche Gesamtheit verstehen, die im Gegensatz zum Nominalismus steht, sondern als eine Form von Nominalismus. In den skandinavischen Ländern wurde der Rechtsrealis1562
Rechtsstaat
mus von Axel Hägerströms Kritik der idealistischen Metaphysik geprägt und suchte daraufhin nach Wegen zur Darstellung gesetzlicher Rechte und Pflichten ohne die Voraussetzung oder das Postulat der Existenz ideeller Gegenstände oder Entitäten. In den USA entstand der Rechtsrealismus aus einer Kritik des Idealismus, der der Vision eines gemeinsamen Rechts zugrunde lag, und das von C.C. Langdell, dem ersten Dekan der Harvard Law School, gefördert wurde, sowie jener Laissez-faireIdeologie der Rechtsprechung des Supreme Court im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Das realistisch-rechtswissenschaftliche Empfinden, das sich vor allem in der so genannten Unbestimmtheitskritik äußert, hatte auch noch im späten 20. Jahrhundert Einfluss auf das kritische rechtswissenschaftliche Denken. Siehe auch: Rechtsphilosophie; Nominalismus; Realismus und Antirealismus; Sozialtheorie und Recht NEIL DUXBURY
Rechtsstaat
Der Rechtsstaat (engl.: rule of law) ist schlicht die Idee, dass jeder dem Gesetz unterworfen ist und ihm deshalb gehorchen sollte. Insbesondere haben Regierungen dem Gesetz zu gehorchen, d.h. sie haben gesetzlich oder im Einklang mit den Gesetzen zu regieren. Der Rechtsstaat erfordert daher eine verfassungsmäßig legitimierte Regierung und bildet ein Schild gegen die Tyrannei oder die Willkür: politischer Herrscher und ihrer Vollzugsorgane oder Handlungsgehilfen (die Polizei etc.) dürfen ihre Macht nur unter den gesetzlichen Beschränkungen ausüben, d.h. sie müssen die akzeptierten konstitutionellen Grenzen einhalten. Die britischen und USamerikanischen Konzeptionen dieses Ideals als rule of law haben eine Parallele in dem deutschen Begriff des ‚Rechtsstaates‘ [im Orig. auch deutsch, WS], wobei der Staat als eine organisierte Einheit durch die Gesetze und durch die grundlegenden Prinzipien der Legalität beschränkt gedacht wird und damit nicht nur einfach eine politische Organisation ist, die die Gesetze im Interesse ihrer Politik aufheben kann. Solche Begriffe spielen eine wesentliche Rolle in der politischen Philosophie des Liberalismus; doch, wie so häufig, ist ihre Darstellung im Einzelnen und tatsächlich auch ihr Wesen und ihre Bedeutung strittig. In einem weiteren Sinne artikuliert der Begriff des Rechtsstaats Werte der prozeduralen Fairness oder des ordentlichen Prozesses, die die Form der gesetzlichen Regel betreffen und die Art und Weise ihrer Anwendung leiten. Diese Werte erhöhen den Nutzen gesetzlicher Regulierung und stärken die zugrunde liegenden Ideen der Menschenwürde und der menschlichen Autonomie. In einem weiteren Sinne bezieht sich der Begriff des Rechtsstaats auf die vertrauensvolle Anwendung jener Regeln und Prinzipien, die das Recht eines bestimmten Rechtssystems ausmachen. Er drückt die Idee aus, dass die gesetzliche Pflicht in einzelnen Fällen immer auf der Grundlage von bestehendem Recht bestimmt werden sollte, im Gegensatz zur ad-hoc-Gesetzgebung z.B. durch Richter, selbst wenn es Uneinigkeit über die wahre Bedeutung oder den Inhalt eines Gesetzes gibt. Die Verbindung zwischen dem Rechtsstaat und der Gerechtigkeit ist kompliziert. Der Rechtsstaat kann selbst keine Gerechtigkeit garantieren, er ist aber formal ihre wesentliche Vorbedingung. Insofern, als er den erlassenen oder unter Zwang durchgesetzten Gesetze formale Beschränkungen auferlegt, was sicherstellt, dass sie in der Lage sind, den Gehorsam ihnen gegenüber herbeizuführen, und dass sie fair angewandt werden, geht der Rechtsstaat von einer pluralistischen Konzeption der 1563
Reduktion, Probleme der
moralischen Persönlichkeit aus: wie der Einzelne behandelt werden sollte, und zwar als verantwortlicher Mensch mit Gerechtigkeitssinn, was die Idee des Rechtsstaats mit den Werten der Freiheit, der Gleichheit und der Autonomie verknüpft. Siehe auch: Rechtsphilosophie; Sozialtheorie und Recht T.R.S. ALLAN
Regeln und Sprache
Siehe: Bedeutung und Regelfolgen
Rede, Freiheit der
Siehe: Meinungsfreiheit
Reduktion, Probleme der
Die Reduktion ist eine Vorgehensweise, bei der für einen gegebenen, begrifflich erfassten Gegenstandsbereich, z.B. physische Gegenstände, Eigenschaften, Begriffe, Gesetze, Tatsachen, Theorien Sprachen etc., gezeigt wird, dass er von einem anderen Gegenstandsbereich gänzlich aufgenommen und zugunsten des Letzten auf ihn gänzlich verzichtet werden kann. Wenn dies geschieht, heißt es von dem einen Geltungsbereich (der auch ein Wissensbereich ist), dass er auf den anderen ‚reduziert‘ wird. Beispielsweise wurde behauptet, dass Zahlen auf Mengen reduziert werden können, und folglich auf die Zahlentheorie auf die Mengenlehre; dass chemische Eigenschaften wie die Löslichkeit in Wasser oder die Bindungsfähigkeit auf Eigenschaften der Moleküle und Atome, und dass die Gesetze der Optik auf die Prinzipien der elektromagnetischen Theorie reduzierbar seien. Wenn jemand vom ‚Reduktionismus‘ spricht, dann hat er einen gewissen Anspruch vor Augen, demzufolge ein bestimmter Wissens- oder Geltungsbereich (z.B. das Geistige) auf einen anderen reduzierbar sei, beispielsweise auf den biologischen oder auf die Berechenbarkeit der geistigen Vorgänge. Der Ausdruck wird manchmal verwendet, um sich auf die globale These zu beziehen, dass alle Spezialwissenschaften, z.B. die Chemie, die Biologie, die Psychologie etc., letztlich auf die fundamentale Physik reduzierbar seien. Eine solche Auffassung ist auch als die Lehre von der ‚Einheit der Wissenschaften‘ bekannt. Siehe auch: Einfachheit (in wissenschaftlichen Theorien); Logischer Positivismus; Naturgesetze; Reduktionismus in der Philosophie des Geistes; Supervenienz JAEGWON KIM
Reduktionismus in der Philosophie des Geistes
Der Reduktionismus in der Philosophie des Geistes ist eine der verfügbaren Denkoptionen für jene, die meinen, dass die Menschen und der menschliche Geist Teil der natürlichen, physikalischen Welt seien. Die Reduktionisten versuchen, den Geist und die geistigen Phänomene, z.B. Angst, Schmerz, Wut und Ähnliches, in die natürliche Welt zu integrieren, indem sie zeigen, dass sie natürliche Phänomene seien. Ihre Anregung dazu erhalten sie aus der berühmten Reduktion der Wissenschaften: von der Hitze der Gase auf die Bewegung von Molekülen, vom Blitz auf die elektrische Entladung, von den Genen auf die DNA-Moleküle, und ähnliches. Die Reduktionisten hoffen zeigen zu können, dass eine ähnliche Beziehung zwischen geistigen und neurophysiologischen Gegenstandsarten besteht. Siehe auch: Reduktion, Probleme der KIM STERELNY
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Referenz
Referenz
Es ist üblich zu meinen, dass Referenzbeziehungen zwischen der Sprache und den Gedanken einerseits, und zwischen diesen und der Welt andererseits bestehen. Das plakativste Beispiel einer solchen Beziehung ist die Namensbeziehung, die z.B. zwischen dem Namen ‚Sokrates‘ und dem berühmten Philosophen ‚Sokrates‘ besteht. Tatsächlich beschränken einige Philosophen das unscharfe Wort ‚Referenz‘ auf die Namensbeziehung, oder auf etwas Ähnliches. Andere verwenden den Ausdruck ‚Referenz‘ im weiten Sinne (wie er auch in diesem Beitrag verwendet wird), um damit einen Bereich semantisch bedeutsamer Beziehungen abzudecken, die zwischen verschiedenen Arten von Ausdrücken und der Welt gelten sollen, z.B. zwischen ‚Philosoph‘ und allen Philosophen. Andere Worte, die wechselseitig für diese Beziehung verwendet werden, sind ‚Bezeichnung‘, ‚Denotation‘, ‚Bedeutung‘, ‚Anwendung‘, oder (bei Frege) ‚Sättigung‘. Philosophen haben an der Referenzbeziehung oft Interesse, weil sie sie als den Kern der Bedeutung auffassen. Somit ist die Tatsachen, dass ‚Sokrates‘ sich auf jenen berühmten Philosophen bezieht, der Kern der Bedeutung dieses Namens, und folglich auch sein Beitrag zur Bedeutung irgendeines Satzes, z.B. ‚Sokrates ist weise‘, der diesen Namen enthält. Der Referent des Namens trägt zur Bedeutung des Satzes bei, indem er zu seinen Wahrheitsbedingungen etwas beiträgt: ‚Sokrates ist weise‘ ist ausschließlich dann wahr, wenn der bezogene Gegenstand ‚Sokrates‘ weise ist. Die erste Frage, die sich hinsichtlich der Referenz eines Ausdrucks stellt, ist die folgende: auf was bezieht sich der Ausdruck? Manchmal scheint die Antwort einfach; beispielsweise bezieht sich ‚Sokrates‘ auf den berühmten Philosophen, obwohl selbst die offenkundigen Antworten gelegentlich schon bestritten wurden. In anderen Fällen ist die Antwort wiederum nicht so offensichtlich. Bezieht sich ‚weise‘ auf die Eigenschaft der Weisheit, die Menge der weisen Personen, oder auf jede einzelne weise Person? Klarerweise sollten Antworten hierauf durch die Ontologie des Antwortenden beeinflusst sein, d.h. von allgemeinen Auffassungen über das, was existiert. Daher würde ein Nominalist, der meint, dass Eigenschaften nicht wirklich existieren, und dass die Rede von ihnen lediglich eine Redeweise ist, den Ausdruck ‚weise‘ nicht so verstehen, dass er auf eine Eigenschaft der Weisheit verweist. Die zentrale Frage betreffend die Referenz ist: infolge von was hat ein Ausdruck seine Referenz? Eine Antwort hierauf erfordert eine Theorie, die die Beziehung dieses Ausdrucks zu seinem Referenten erklärt. Das vergangene Jahrhundert verzeichnete einen großen Anstieg des Interesses an Referenztheorien. Die bislang populärste Referenztheorie der Eigennamen war ein Ausfluss der Ansichten von Gottlob Frege und Bertrand Russell und wurde unter der Bezeichnung ‚Beschreibungstheorie‘ bekannt. Nach dieser Theorie erhält ein Name seine Bedeutung durch eine definite Beschreibung, d.h. einen Ausdruck der Form ‚das F‘, den kompetente Sprecher dann mit dem Namen assoziieren. So kann also dem Namen ‚Aristoteles‘ die Bedeutung ‚der letzte große Philosoph der Antike‘ gegeben werden. Die Antwort auf unsere zentrale Frage wäre dann, dass ein Name sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht, weil dieser Gegenstand durch die mit dem Namen verbundene Beschreibung ausgewählt wird. Um das Jahr 1970 wurden zahlreiche Kritiken an den Beschreibungstheorien geäußert, u.a. durch Saul Kripke und Keith Donnellan. Insbesondere wandten sie 1565
Referenz
ein, dass ein kompetenter Sprecher üblicherweise nicht über genügend Wissen bezüglich des Referenten verfügt, um eine die Referenz bestimmende Beschreibung assoziieren zu können. Unter deren Einfluss entschieden sich viele für die ‚historisch-kausale Theorie‘ der Namen. Nach dieser Theorie bezieht sich ein Name auf seinen Träger infolge einer geeigneten Kausalbeziehung zwischen Name und Träger. Die Beschreibungstheorien sind aber auch für andere Worte als Namen populär. Auch auf diese Theorien wurden in den 1970er Jahren ähnliche Antworten gegeben. Deshalb lehnten Kripke und Hilary Putnam die Beschreibungstheorien der Namen für natürliche Gegenstände wie ‚Gold‘ etc. ab und schlugen vor, sie durch historischkausale Theorien zu ersetzen. Viele andere Worte, z.B. Adjektive, Adverbien und Verben, scheinen ebenfalls referenziell zu sein. Wir dürfen jedoch nicht davon ausgehen, dass alle übrigen Wortarten dies auch sind. Man sollte stattdessen vorziehen, einige Worte als synkategorematisch aufzufassen, d.h. als solche, die strukturelle Elemente und keine Referenten zu den Wahrheitsbedingungen und Bedeutungen von Sätzen beisteuern. Vielleicht ist dies der richtige Weg, um Worte wie ‚nicht‘ und die Quantoren, wie z.B. ‚alle‘, ‚die meisten‘ und ‚wenige‘, zu verstehen. Die referenzielle Rolle von Anaphern (d.h. von bezugnehmenden Worten wie z.B. Pronomina, siehe Anapher) ist verwickelt. Diese Ausdrücke hängen bezüglich ihrer Referenz von anderen Ausdrücken innerhalb ihres sprachlichen Kontextes ab. Manchmal sind sie das, was Peter Geach die ‚Pronomen der Faulheit‘ nannte, indem sie als Stellvertreter anderer Ausdrücke in den Kontext eingehen; an anderen Stellen fungieren sie wie gebundene Variable in der Logik. Geachs Behauptung, dass jeder anaphorische Ausdruck auf eine dieser beiden Weisen behandelt werden könne, wurde durch Gareth Evans in Frage gestellt. Abschließend gab es auch ein Interesse an der ‚naturalisierenden‘ Referenz, indem sie auf eine wissenschaftlich akzeptable Art und Weise gelöst wurde. Die unternommenen Erklärungen berufen sich dabei auf eine oder mehrere von insgesamt drei Kausalbeziehungen zwischen Worten und der Welt, nämlich die historischen, die zuverlässigen und die teleologischen Beziehungen. Siehe auch: Semantik MICHAEL DEVITT
Referenziell / Attributiv
Siehe: Beschreibungen; Referenz
Reichenbach, Hans (1891–1953)
Die Wissenschaftsphilosophie blühte im 20. Jahrhundert, teilweise als Ergebnis eines außerordentlichen Fortschritts in den Wissenschaften selbst, aber hauptsächlich wegen der Bemühungen der Philosophen, die über wissenschaftliche Kenntnisse verfügten und die mit neuen wissenschaftlichen Ergebnissen Schritt hielten. Hans Reichenbach war ein Pionier dieser philosophischen Entwicklung; er studierte Physik und Mathematik an mehreren der großen deutschen naturwissenschaftlichen Universitäten und verbrachte später eine Reihe von Jahren am Einstein-Kolleg in Berlin. Schon früh in seiner Laufbahn folgte er Kant, später aber wandte er sich gegen dessen Philosophie, indem er argumentierte, dass sie mit der Physik des 20. Jahrhunderts nicht in Einklang zu bringen sei.
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Reid, Thomas (1710–1796)
Reichenbach war nicht nur ein Wissenschaftsphilosoph, sondern auch ein wissenschaftlicher Philosoph. Er bestand darauf, dass sich die Philosophie denselben Genauigkeitsstandards und derselben Strenge unterwerfen müsse wie die Naturwissenschaften. Er lehnte die spekulative Metaphysik und die Theologie bedingungslos ab, weil ihre Behauptungen weder a priori, noch auf logischer oder mathematischer Grundlage oder a posteriori, d.h. auf der Grundlage der Sinneserfahrung, substantiierbar seien. In dieser Hinsicht war er sich mit den logischen Positivisten des Wiener Kreises einig. Wegen anderer, grundlegender Unstimmigkeiten war er jedoch zu keiner Zeit wirklich ein Positivist. Stattdessen war er führendes Mitglied einer Gruppe logischer Empiristen in Berlin. Obwohl seine Schriften viele Gegenstände berühren, ist Reichenbach am bekanntesten für seine Arbeiten in zwei Hauptgebieten, nämlich der Induktion und der Wahrscheinlichkeit, und für seine Philosophie des Raumes und der Zeit. Auf ersterem Gebiet entwickelte er eine Theorie der Wahrscheinlichkeit und der Induktion, die seine Antwort auf Humes Problem der Rechtfertigung der Induktion enthielt. Wegen Reichenbachs Ansicht, dass all unser Wissen der Welt wahrscheinlichkeitsbehaftet sei, hat sein Werk fundamentale erkenntnistheoretische Bedeutung. In der Philosophie der Physik lieferte er epochale Beiträge zu den Grundlagen der Relativitätstheorie, wodurch die kantische Auffassung unterlaufen wird, dass Raum und Zeit synthetische Kategorien a priori seien. Siehe auch: Wissenschaftliche Methode WESLEY C. SALMON
Reid, Thomas (1710–1796)
Thomas Reid, der in Strachan, Aberdeen, geboren wurde, war der Gründer der schottischen Schule der Common-Sense-Philosophie (siehe Common-Sense-Schule). Er wurde am Marishal College, Aberdeen, ausgebildet und lehrte am King’s College in Aberdeen bis zu seiner Ernennung als Professor für Moralphilosophie in Glasgow. Er war Mitbegründer der Aberdeen Philosophical Society oder dem ‚Club der Weisen‘, zu dessen Mitgliedern auf George Campbell, John Stewart, Alexander Gerard und James Beattie gehörten. Sein herausragendstes frühes Werk ‚An Inquiry into the Human Mind: Or the Principles of Common Sense‘, erregte die Aufmerksamkeit von David Hume und sicherte ihm die Professur. Andere wichtige Werke von ihm sind ‚Essays on the Intellectual Powers of Man‘ (1785) und ‚Essays on the Active Powers of the Human Mind’ (1788). Reid war nicht der erste Philosoph, der sich auf den common sense (dt.: ‚gesunder Menschenverstand‘) berief. Berkeley und Butler sind ebenfalls in dieser Hinsicht bemerkenswerte britische Vorläufer, was die Diskussion der Wahrnehmung und des freien Willens angeht. Es war jedoch Reid, der die Überlieferungen der common-sense-Philosophie sammelte und systematisierte, d.h. die Prinzipien, von deren Akzeptanz alle erkenntnistheoretische Rechtfertigung abhängt, und der die angemessenen Kriterien hierfür lieferte. Reid bestand darauf, dass wir uns zu Recht auf unsere zugegebenermaßen fehlbaren Urteilsfähigkeiten verlassen, einschließlich unserer fünf Sinne, so wie auf die Erinnerung, die Vernunft, die Moral, den Geschmack, und zwar ohne uns dafür rechtfertigen zu müssen. Schließlich besäßen wir keine anderen Urteilsquellen, die als Rechtfertigung unseres Urteilsvertrauens aufgerufen werden können. Wir können nicht auf unsere Überzeugung verzichten, dass wir ständig existierende und manchmal voll verantwortliche Akteure seien, beein1567
Reid, Thomas (1710–1796)
flusst durch Beweggründe, und nicht nur überwältigt durch Leidenschaften oder Begierden. Nach Reids Auffassung kommt es zu größeren skeptischen Irrtümern in der Philosophie, wenn man die fünf Sinne zu reinen Eingangskanälen für die geistigen Bilder, d.h. Vorstellungen externer Gegenstände, herabstuft, oder wenn man andere Fähigkeiten darauf reduziert, dass sie lediglich solche Bilder oder die Gefühlserfahrung ermöglichen. Diese Vielgestaltigkeit des Skeptizismus reduziere letztlich alles auf einen Wirbel geistiger Bilder und Gefühle. Wir begreifen solche Bilder allerdings nicht in größerem Umfange, als wir sie wahrnehmen oder uns an sie erinnern, und unsere Rede, selbst im Falle fiktiver Redegegenstände, handelt ebenfalls nicht von ihnen. Namen bedeuten Einzelgegenstände oder fiktive Charaktere, aber nicht die Bilder von ihnen. Wenn ich einen Zentaur sehe, dann ist es ein Tier, das ich sehe, und nicht das Bild eines Tiers. Insbesondere liefert uns die Information unserer fünf Sinne eine direkte und nicht geschlussfolgerte Information, jedenfalls und zumindest im Falle der Berührung von Körpern im Raum. Reid verpflichtet sich damit der Position, dass unser individuelles Wahrnehmungsurteil auf ersten Prinzipien beruht, obwohl er zugibt, dass unsere Wahrnehmungsfähigkeiten fehlbar sind. Ferner können moralische und ästhetische Urteile nicht nur der Ausdruck von Gefühlen sein, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen; ein Mensch, der ein moralisches Werturteil fällt, bringt damit nicht nur seine Gefühle zum Ausdruck. Reid ist sich daher sicher, dass es Erste Prinzipien der Moral gibt; dies ist eine Sichtweise, die kaum zum Umfang und Maß der gegenwärtigen moralischen Uneinigkeit passt. Reid bietet alternative und direkte Darstellungen der Wahrnehmung, der Begriffsbildung, der Erinnerung und des moralischen und ästhetischen Urteils an. Er verteidigt tapfer unseren Status als fortgesetzt verantwortliche Akteure und behauptet, dass die einzige wirkliche Kausalität das Handeln sei, und dass, obwohl natürliche Regelmäßigkeiten für Ursachen gehalten würden, sie doch keine vollumfänglichen Ursachen sein könnten. Fortgesetzt bestehende Personen seien nicht auf materielle Entitäten reduzierbar, die den Naturgesetzen unterworfen sind (entgegen Priestley), noch falle das eigentliche Studium der verantwortlichen Akteure unter die Naturphilosophie. Die Moral sollte angemessen auf der Grundlage der menschlichen Rechte systematisiert werden, nach denen das Privateigentum nicht sakrosankt sei, sobald das moralische Urteil als etwas anerkannt sei, das auf Ersten Prinzipien der Moral beruhe. Die Urteile der Schönheit würden auf ähnliche Weise auf einer Reihe Erster Prinzipien beruhen, auch wenn Reid bereit ist zuzugestehen, dass es keine Eigenschaften gibt, die allen schönen Gegenständen gemeinsam sein müssen. Siehe auch: Alltagsphilosophie; Aufklärung, Schottische; Common-sense-Schule; Moralischen Empfindens, Theorien des; Primär-/Sekundär-Unterscheidung ROGER GALLIE
Reinhold, Karl Leonhard (1757–1823)
Reinhold wirkte beschleunigend beim Aufstieg des nachkantischen Idealismus; er popularisierte Kants kritische Philosophie, indem er sie in der Form einer Theorie des Bewusstseins systematisierte. Reinhold wechselte jedoch ständig die Position und behauptete jedes Mal, sein philosophisches Credo sei nunmehr endgültig. Aus diesem Grunde erschien er seinen berühmteren Zeitgenossen, einschließlich Fichte, Schelling und Hegel als eine lächerliche Figur, und seine historische Reputation litt
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Relativismus
entsprechend. Neuere Bewertungen legen jedoch nahe, dass seine philosophischen Wanderungen eine bemerkenswerte Kohärenz aufweisen. Nachdem er für kurze Zeit Priester gewesen war und dann zum Protestantismus konvertierte, setzte sich Reinhold, selbst aktiver Freimauerer und populärer Lehrer, für das politische Eingreifen zur Förderung der aufklärerischen Praxis ein. Er verteidigte unerschütterlich die Französische Revolution. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische; Deutscher Idealismus GEORGE DI GIOVANNI
Relativismus
Jemand, der meint, dass nichts einfach gut sei, sondern nur gut für etwas anderes oder aus einem bestimmten Blickwinkel gut, hat eine relativistische Auffassung vom Guten. Protagoras mit seinem Ausspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge, wird oft als früher Relativist genannt. Ganz üblich ist der Relativismus beim Urteil über ästhetische Werte, über die Wahrheit auf bestimmten Gebieten wie z.B. der Religion, und – aus einer anthropologischen Theorie heraus – auch über die Rationalität. Es gibt aber auch zahlreiche Möglichkeiten einer Antwort auf die Frage: ‚relativ zu was?‘ Demnach kann man von etwas sagen, es sei relativ zu den Einstellungen oder Fähigkeiten eines einzelnen Menschen oder einer kulturellen Gruppe oder einer Spezies. Der Relativismus kennt folglich viele Varianten; einige davon sind sehr plausibel, andere neigen zur Inkohärenz. Siehe auch: Anthropologie, Philosophie der; Moralischer Relativismus; Pluralismus; Rationalität und kultureller Relativismus; Sozialer Relativismus EDWARD CRAIG
Relativismus, moralischer
Siehe: Moralischer Relativismus
Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der
Es gibt zwei Teile der Einsteinschen Relativitätstheorie, nämlich die spezielle, die im Jahre 1905 veröffentlicht wurde, und die allgemeine, die in ihrer abschließenden mathematischen Form im Jahre 1915 veröffentlicht wurde. Die spezielle Relativitätstheorie ist eine direkte Weiterentwicklung des Galileischen Relativitätsprinzips innerhalb der klassischen Newtonschen Mechanik. Dieses Prinzip bestätigt, dass Newtons Bewegungsgesetz nicht nur gilt, wenn die Bewegung relativ zu einem Bezugsrahmen beschrieben wird, der sich unbewegt im absoluten Raum befindet, sondern auch relativ zu jedem Bezugsrahmen in geradlinig gleichförmiger Bewegung relativ zum absoluten Raum. Die Klasse der Rahmen, in Bezug auf die Newtons Bewegungsgesetz gültig ist, wird als träge Bezugsgröße beschrieben. Daraus folgt, dass kein mechanisches Experiment uns etwas darüber sagen kann, welcher Bezugsrahmen in absoluter Ruhe ist, denn nur die relative Bewegung der trägen Bezugsgröße ist beobachtbar. Das Galileische Relativitätsprinzip gilt jedoch nicht für die beschleunigte Bewegung, und es gilt auch nicht für elektromagnetische Phänomene, insbesondere nicht für die Ausbreitung von Lichtwellen, wie von Maxwells Gleichungen beschrieben wird. Einsteins spezielle Relativitätstheorie reformulierte die mathematischen Umformungen der Raum- und Zeitkoordinaten zwischen trägen Bezugsgrößen um und ersetzte die Galileischen Transformationen durch die so genannte Lorentz-Transformationen – die kurz zuvor, wenn auch auf grundlegend andere Weise, von H.A. Lorentz im Jahre 1904 entdeckt worden waren –, und zwar auf 1569
Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der
eine Weise, dass nun auch der Elektromagnetismus das Relativitätsprinzip erfüllte. Aber die klassischen Gesetze der Mechanik folgten dem nicht mehr. Einstein formulierte nun die Gesetze der Mechanik neuerlich, damit sie zu seinem neuen Relativitätsprinzip passten. Unter der Galileischen Relativität hingen die Raumabstände, und die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und die zeitlichen Dauern vom trägen Bezugssystem ab, obwohl natürlich die Geschwindigkeiten weiterhin rahmenabhängig waren. In der Einsteinschen Relativität werden die ersten drei der genannten Phänomene nunmehr rahmenabhängig oder ‚relativiert‘, wie wir es jetzt ausdrücken, während für das vierte, nämlich die Geschwindigkeit, eine besondere Geschwindigkeit gegeben ist, und zwar diejenige der Ausbreitung des Lichts in vacuo, deren Größe c invariant ist, d.h. dieselbe für alle trägen Bezugssysteme. Es lässt sich vertreten, dass c auch die Höchstgeschwindigkeit darstellt, mit der überhaupt ein jeglicher kausaler Prozess sich ausbreiten kann. Ferner wird in Einsteins neuer Mechanik die träge Masse m ein relativer Begriff und steht mit jeder Form von Energie E über die Gleichung m = E/c² in Beziehung. Umgekehrt kann die träge Masse als Äquivalent des korrespondierenden Produkts aus Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit verstanden werden, woraus die berühmte Formel E = mc² folgt. In der Allgemeinen Relativitätstheorie versuchte Einstein offenkundig, das Relativitätsprinzip auf beschleunigte Bewegungen des Bezugssystems auszudehnen, indem er ein Äquivalenzprinzip anwandte, das behauptet, dass es unmöglich sei, in der Beobachtung zwischen der Gegenwart eines Schwerefeldes und der Beschleunigung des Bezugssystems zu unterscheiden. Einstein erhob hiermit die bekannte, aber bislang zufällig erscheinende numerische Gleichheit der trägen und der schweren Masse eine Körpers zu einem Fundamentalgesetz; hieraus folgt, dass sich Körper mit derselben Beschleunigung in einem Schwerefeld bewegen, unabhängig von ihrer trägen Masse. Indem er die Diskussion auf die Schwerefelder ausdehnte, die lokal, aber nicht global durch einen Wechsel des Bezugssystems ‚wegtransformiert‘ werden können, stieß Einstein auf eine neue Theorie der Gravitation und modifizierte Newtons Schwerkrafttheorie, so dass er nunmehr eine Reihe beobachteter Phänomene zu erklären vermochte, für die die Newtonsche Theorie nicht ausreichte. Dies brachte ein Gesetz mit sich – die Einsteinsche Feldgleichung – die die Verteilung der Materie in der Raumzeit in ein Verhältnis zu geometrischen Merkmalen der Raumzeit setzt, die als ihre ‚Krümmung‘ bezeichnet wurde, und die man als eine vierdimensionale Mannigfaltigkeit ansah. Der Pfad eines ungeladenen und spin-losen Teilchens, das sich in der gekrümmten Raumzeit bewegt, war nunmehr eine Geodäte4, d.h. innerhalb einer gekrümmten Mannigfaltigkeit das allgemeine Analogon zu einer geraden Linie in einer flachen Mannigfaltigkeit. Einsteins Theorien haben wichtige Rückwirkungen auf philosophische Ansichten über das Wesen von Raum und Zeit und ihre Beziehungen zur Kausalität und zur Kosmologie, die bis in die Gegenwart Gegenstand der Debatte sind. Siehe auch: Kosmologie MICHAEL REDHAED
Eine Geodäte (Plural: Geodäten; Synonyme: Geodätische, geodätische Linie oder geodätischer Weg) ist die kürzeste lokale Verbindung zweier Punkte. [WS]
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Religion und Moral
Relevanzlogik und Folgebeziehung
Die Relevanzlogik wurde in den späten 1950er Jahren erfunden, inspiriert durch Wilhelm Ackermann, der bestimmte Formeln der Form A → B ablehnte, weil „die Wahrheit von A nichts mit der Frage zu tun hat, ob es eine logische Verbindung zwischen B und A gibt“. Die zentrale Idee der Relevanzlogik ist es, die logische Folgebeziehung darzustellen. Eine notwendige Bedingung dieser Folgebeziehung ist eine Relevanzbeziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion. In beiden Logiken, sowohl der klassischen, als auch der intuitionistischen, fehlt diese Bedingung, wie dies in den beiden bezeichneten Logiken durch die Geltung des sog. ‚Ausbreitungsgesetzes‘ hervorgehoben wird; ein Widerspruch ‚breitet sich‘ in jeder auf ihn aufbauenden Aussage ‚aus‘, und die einfache Inkonsistenz ist damit äquivalent mit der absoluten Inkonsistenz. In der Relevanzlogik trifft das Ausbreitungsgesetz nicht zu, und die einfache Inkonsistenz einer Theorie, wo eine Menge von Formeln einen Widerspruch zur Folge hat, ist zu unterscheiden von der absoluten Inkonsistenz oder Trivialität, wo eine Menge von Formeln eine beliebige Aussage zur Folge hat. Das Programm der Relevanzlogik ist die Beschreibung einer Logik oder eines Bereichs von Logiken, die die Relevanzbedingung erfüllen, und dabei das Studium von Theorien, die auf solchen Logiken aufbauen, wie z.B. die Relevanz-Arithmetik und die Relevanz-Mengenlehre. Siehe auch: Modallogik STEPHEN READ
Religion und Moral
Die Beziehung zwischen Religion und Moral ist für Philosophen von besonderem und lang anhaltendem Interesse. Hier überlappen sich nicht nur zwei Bereiche stark, sondern bereits die Frage, wie diese Beziehung richtig zu verstehen ist, hat viele Debatten angeregt. In philosophischen Diskussionen war dabei die Frage der göttlichen Autorität und des moralischen Lebens von besonderem Interesse. Wenn es einen Gott gibt, wie müssen wir dann den moralischen Status seiner Gebote verstehen? Gibt es moralische Vorschriften, denen selbst noch ein Gott gehorchen muss? Oder ist Gottes Befehl an sich selbst moralisch bindend? Säkulare Denker haben darauf bestanden, dass diese Fragen ein ernsthaftes Dilemma für jede religiöse fundierte Ethik darstellen: entweder sind die moralischen Gesetze unabhängig von Gottes Wille, was zum Ergebnis hat, dass die Autorität Gottes nicht die höchste ist, oder aber Gottes Wille ist willkürlich, und das bedeutet, dass das, was sich uns als Moral präsentiert, in Wirklichkeit nur die Anbetung roher Macht ist. Viele religiöse Ethiker haben sich geweigert, dieses Dilemma anzuerkennen, indem sie für ein Verständnis der göttlichen Moraldirektiven als Ausdruck der Komplexität und der Vorzüglichkeit ständiger Attribute Gottes eintraten. Der Einfluss der Religion auf das moralische Selbstsein wurde ebenfalls viel diskutiert. Säkularisten unterschiedlicher Überzeugungen bestanden darauf, dass die Religion der moralischen Reifung eines Menschen nicht förderlich ist. Religiöse Denker antworteten hierauf mit der Erforschung der Möglichkeiten, auf die die Vorstellung moralischer Reife durch den sich erweiternden Lebenshorizont eines Menschen geformt wird. Wenn wir glauben, dass es einen Gott gibt, der uns mit wichtiger moralischer Information ausgestattet hat, dann wird dies die Art und Weise unseres
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Religion und Wissenschaft
Verständnisses beeinflussen, was als eine ‚reife‘, und w as als eine ‚rationale‘ Herangehensweise an die moralische Entscheidungsfindung anzusehen ist. Die religiösen Ethiker hatten ein besonderes Interesse an den Weisen, wie Weltsichten unser Verständnis moralischer Fragen formen. Dieses Interesse wurde durch die Tatsache der Vielgestaltigkeit innerhalb der religiösen Gemeinschaften erzwungen. Im Christentum existierten beispielsweise unterschiedliche moralische Traditionen nebeneinander, und dies entsprach der reichen Vielgestaltigkeit theologischer Perspektiven und der Pluralität kultureller Milieus, in denen sich christliche Glaubensformen ausprägten. Diese Vielschichtigkeit stellte eine der Quellen für den Umgang der ‚postmodernen‘ Faszination mit dem moralischen Relativismus und dem moralischen Skeptizismus dar. Die Beziehung zwischen Religion und Moral ist aber auch für Fragen der praktischen moralischen Entscheidungen wichtig. Religiöse ethische Systeme wurden häufig mit einem Seitenblick auf die Möglichkeit entwickelt, sie predigen zu können. Das bedeutet, dass religiöse Ethiker eine lange Geschichte in ihren Versuchen aufzuweisen haben, die Theorie in eine Beziehung der moralischen Diskussion in die Praxis zu bringen. Die Fähigkeit eines moralischen Systems, praktische Führungshilfe zu leisten, ist insbesondere in Zeiten umfassender moralischer Verwirrung wichtig. Siehe auch: Halakhah RICHARD J. MOUW
Religion und Wissenschaft
Die philosophische Diskussion über die Beziehung zwischen der modernen Wissenschaft und der Religion neigt zu einer Fokussierung auf das Christentum, weil dieses im Westen dominant ist. Die Beziehungen zwischen der Wissenschaft und dem Christentum sind zu verwickelt, um allein durch das Bild eines ‚Krieges‘ beschrieben werden zu können, das von A.D. White und J.W. Draper populär wurde. Eine angemessene Darstellung der vergangenen zweihundert Jahre erfordert eine Unterscheidung zwischen konservativen und liberalen Positionen. Konservative Christen neigen dazu, die Theologie und die Wissenschaft als teilweise sich überschneidende Erkenntnisbereiche zu sehen. Gott wird durch die ‚beiden Bücher‘ offenbart: die Bibel und die Natur. Idealerweise sollte die Wissenschaft und die Theologie eine einzige und konsistente Darstellung der Wirklichkeit liefern; tatsächlich aber gibt es Fälle, wo die Ergebnisse der Wissenschaften offenkundig der Heiligen Schrift widersprachen, insbesondere im Hinblick auf das Alter des Universums und den Ursprung der menschlichen Spezies. Die Liberalen tendieren zu der Auffassung, dass Wissenschaft und Religion komplementär, aber nicht in Wechselwirkung zueinander stehen, weil sie sich beide um so unterschiedliche Dinge bemühen würden, dass ein Konflikt unmöglich sei. Dieser Ansatz kann bis zu Immanuel Kant zurückverfolgt werden, der scharf zwischen der reinen Vernunft (Wissenschaft) und der praktischen Vernunft (Moral) unterschied. Jüngere Fassungen stellen die Wissenschaft, die vom Was und Wie der natürlichen Welt handelt, in Gegensatz zur Religion, die von der Bedeutung handelt, oder stellen die Wissenschaft und die Religion als etwas dar, was unterschiedliche Sprachen verwendet. Seit den 1960er Jahren beginnt jedoch eine steigende Anzahl Gelehrter sich mit einer liberal-theologischen Tendenz für die Wissenschaft zu interessieren und bestreitet, dass die beiden Disziplinen voneinander getrennt werden 1572
Religionsphilosophie
können. Diskussionspunkte innerhalb der Wissenschaften, die für einen Dialog mit der Theologie fruchtbar gemacht werden können umfassen die Urknall-Kosmologie und ihre möglichen Implikationen für die Schöpfungslehre, das Rätsel der Feinabstimmung der kosmologischen Konstanten und die möglichen Implikationen davon für das Argument des (göttlichen) Entwurfs, sowie die Evolution und die Genetik mit ihren Folgen für ein neues Verständnis des Menschen. Von vielleicht noch größerer Bedeutung sind die indirekten Beziehungen zwischen der Wissenschaft und der Theologie. Die Newtonsche Physik förderte ein Verständnis der natürlichen Welt als einer, die streng durch die Naturgesetze determiniert sei. Dies hatte umgekehrt ernsthafte Konsequenzen für das Verständnis des göttlichen Handelns und der menschlichen Freiheit. Die wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, wie z.B. die Quantenmechanik und die Chaostheorie, verlangen alle nach einer neuen Sicht der Kausalität. Fortschritte der Wissenschaftsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferten deutliche fortgeschrittenere Darstellungen des Wissens als zu früheren Zeiten, und dies hatte auch wichtige Folgen für die Beweismethoden der Theologie. Siehe auch: Personalismus; Wittengenstein, L.J. NANCEY MURPHY
Religionsphilosophie Einführung Die Religionsphilosophie ist die philosophische Reflexion der Religion. Sie ist so alt wie die Religion selbst und ist ein regelmäßiger Teil der abendländischen Philosophie in allen ihren Epochen. In der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg das Interesse an diesem Thema stark an, und der Gegenstandsbereich, über den Religionsphilosophen nachdachten, hat sich ebenfalls erheblich ausgeweitet. Die Religionsphilosophie wird manchmal in die eigentliche Religionsphilosophie und die philosophische Theologie aufgeteilt. Diese Unterscheidung reflektiert das Unbehagen einer früheren Periode der Analytischen Philosophie, während die Philosophen spürten, dass die Reflexion der Religion philosophisch nur dann beachtlich sei, wenn sie sich auf den reinen Theismus beschränke und von allen konkreten Religionen abstrahiert würde. Alles andere wäre als Theologie zu verstehen, nicht als Philosophie. Doch die meisten Philosophen nehmen sich inzwischen die Freiheit, jeden Aspekt der Religion philosophisch zu überprüfen, einschließlich der Lehren oder Praktiken bestimmter Religionen. Solche Lehren und Praktiken sind nicht nur allgemein und an sich selbst philosophisch interessant, sondern werfen oft Fragen auf, die auch in anderen Bereichen der Philosophie hilfreich sind. Reflexionen über den christlichen Begriff der Heiligung werfen beispielsweise ein Licht auf bestimmte zeitgenössische Debatten über das Wesen der Willensfreiheit. 1. Philosophie und Gottesglaube 2. Philosophie und religiöse Lehren und Praktiken 1. Philosophie und Gottesglaube Im Sinne einer Untersuchung aus der Sicht des reinen Theismus, d.h. dem Kern des Glaubens, der für den westlichen Monotheismus typisch ist, wirft die Religionsphilosophie eine Reihe von Fragen auf und betrachtet diese. Wie muss etwas 1573
Religionsphilosophie
beschaffen sein, um als Gott zu gelten? Ist es den Menschen sogar möglich, Gottes Attribute zu kennen (siehe Gott, Begriffe von; Negative Theologie)? Und wenn dies möglich ist, welche sind diese Attribute? Traditionell wurde Gott als notwendiges Wesen aufgefasst, dessen Kennzeichen die Allwissenheit, die Allmacht, die vollkommene Güte, die Unwandelbarkeit und die Ewigkeit sind (siehe Allmacht, Allwissenheit), der aus freien Stücken die Welt geschaffen hat (siehe Freiheit, Göttliche), und der in einer irgendwie besonderen Beziehung zur Moral steht (siehe Religion und Moral). Diese Konzeption Gottes fasst Gott als einzigartig auf, als etwas anderes als alles sonst in der Welt. Daraus folgt die Frage, ob unsere Sprache in der Lage ist, Gott überhaupt darzustellen. Einige Denker, wie z.B. Moses Maimonides, meinten, dass sie dies nicht vermag, und dass Ausdrücke, die auf Gott und seine Geschöpfe gleichermaßen angewandt würden, mehrdeutig seien. Andere wandten ein, dass unsere Sprache so verwendet werden kann, dass sie auf Gott anwendbar ist, entweder weil einige Ausdrücke eindeutig für Gott und die Geschöpfe verwendet werden können, oder weil einige Ausdrücke, die auf Geschöpfe angewendet werden können, in einem analogen Sinne auch auf Gott anwendbar seien. Nicht jeder akzeptiert allerdings die traditionelle Beschreibung Gottes. Die Pantheisten lehnen beispielsweise die Unterscheidung zwischen Gott und der Schöpfung ab (siehe Pantheismus). Einige Philosophen sprachen sich gegen die traditionelle Konzeption aus, weil sie gewisse philosophische Probleme unlösbar mache, wie z.B. das Problem des Bösen (siehe Prozesstheismus). Und viele Feministen/ innen lehnen sie als patriarchalisch ab. Geht man von der traditionellen Konzeption Gottes aus, so fragt sich: können wir durch die Vernunft erkennen, dass Gott existiert? Es gibt gewisse Argumente, deren Autoren meinten, sie seien ein Beweis für die Existenz Gottes in diesem Sinne (siehe Gott, Beweise für die Existenz von; Naturtheologie) Der sog. ‚ontologische Beweis‘ versucht zu zeigen, dass ein vollkommenes Wesen existieren muss (siehe Anselm von Canterbury). Der sog. ‚kosmologische Beweis‘ argumentiert, dass die Existenz der Welt die Existenz einer transzendenten Ursache der Welt beweise. Und der sog. ‚teleologische Beweis‘ schließt vom Entwurf der Natur auf die Existenz eines Entwerfenden. Einige Philosophen meinten, dass die verbreiteten Phänomene der religiösen Erfahrung auch einen Beweis für die Existenz eines übernatürlichen Gegenstandes solcher Erfahrung seien. Die meisten zeitgenössischen Philosophen betrachten diese Argumente als unstrittig (siehe Atheismus; Agnostizismus). Wie ist nun aber die Beziehung zwischen der Vernunft und dem religiösen Glauben genau beschaffen? Brauchen wir überhaupt Beweise? Oder ist der Glaube auch ohne Beweise rational? Was ist Glauben? Steht er im Gegensatz zur Vernunft? Einige Philosophen machten geltend, dass eine jede Überzeugung, die nicht auf Evidenz im Sinne einer bewusst erlebten, vollkommen gewissen Einsicht beruhe (siehe Evidenz), mangelhaft oder sogar vorwerfbar sei. Diese Position wird aber nicht mehr sonderlich favorisiert. Andererseits haben einige zeitgenössische Philosophen vorgeschlagen, dass keinerlei Evidenz für den religiösen Glauben notwendig sei. Diese Position ist ebenfalls strittig (siehe Glauben; Religion und Wissenschaft). Einige Philosophen meinten, dass diese Fragen durch das Problem des Bösen unnötig werden (siehe Bösen, Problem des), das einen Beweis gegen die Existenz Gottes darstelle. Nach ihrer Ansicht können Gott und das Böse nicht nebeneinan1574
Religionsphilosophie
der existieren, oder zumindest ist die Existenz des Bösen in dieser Welt ein starker Hinweis darauf, dass Gott nicht existiert. Als Antwort auf diese Herausforderung des religiösen Glaubens behaupteten einige Philosophen, dass der religiöse Glaube nur durch eine Theodizee verteidigt werden könne, d.h. durch einen Versuch, die Erlaubnis Gottes für die Existenz des Bösen moralisch zu rechtfertigen. Andere meinten dagegen, dass der religiöse Glaube auch ohne eine Theodizee gerechtfertigt werden könne, indem sie die Schwächen in den verschiedenen Beweisfassungen des Schlusses vom Bösen auf die Nichtexistenz Gottes aufzeigten. Schließlich machten einige Denker geltend, dass nur ein praktischer und politischer Ansatz die richtige Antwort auf das Böse in der Welt sei. Jene, die die Existenz des Bösen einsetzen, um gegen die Existenz Gottes zu argumentieren, gehen davon aus, dass Gott, wenn er existierte, in die natürliche Ordnung der Welt eingreifen könnte und dies auch wollte. Nicht jeder akzeptiert diese Auffassung (siehe Deismus). Angenommen jedoch, sie wäre richtig, wie sollten wir dann Gottes Intervention verstehen? Greift er schicksalhaft ein, um die Welt gewissen Zielen näher zu bringen? Müsste ein Akt göttlicher Intervention als ein Wunder gelten? Was ist ein Wunder, und ist es jemals rational, an den Eintritt eines Wunders zu glauben (siehe Wunder)? Einige Philosophen meinten, dass ein Glaube an Wunder unvereinbar mit der Anerkennung der wissenschaftlichen Erfolge sei oder durch diese untergraben würde. Viele Menschen meinen ferner, dass gewisse verbreitete wissenschaftliche Ansichten auf bestimmte religiöse Glaubensüberzeugungen Zweifel werfen würden (siehe Religion und Wissenschaft). 2. Philosophie und religiöse Lehren und Praktiken Zusätzlich zu den Fragen, die durch die traditionelle Konzeption von Gott aufgeworfen werden, gibt es noch andere Fragen, die im Zusammenhang mit Lehren des westlichen Monotheismus entstehen. Dies betrifft die Auffassung, dass die Existenz eines Menschen nicht mit dem Tod des Körpers aufhöre, sondern sich in einem ‚Nachleben‘ fortsetze (siehe Seele, Wesen und Unsterblichkeit der). Obwohl es große Unterschiede im Glauben an das Wesen des Lebens nach dem Tod gibt, wird dieses typischerweise als etwas aufgefasst, was sich in Himmel oder Hölle abspiele. Für einige christliche Gruppen umfasst dies auch noch die Vorhölle und das Fegefeuer. Alle diese Lehren werfen eine ganze Palette philosophischer Fragen auf (siehe Fegefeuer; Himmel; Hölle, Vorhölle). Und es gibt ebenso viele Ansichten darüber, was es für einen Menschen heißt, im Himmel aufgenommen zu sein. Die Christen glauben im Allgemeinen, dass der Glaube eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung hierfür sei. Sie glauben aber auch, dass der Glaube in dieser Hinsicht wirksam sei, und zwar infolge des Leidens und des Todes von Jesus Christus (siehe Dreifaltigkeit). Die Christen halten die Sünde für ein Hindernis auf dem Wege zur Vereinigung mit Gott und auf dem Wege zum Leben im Himmel, und sie glauben, dass Christi Sühne die Lösung dieses Problems sei (siehe Sünde). Wegen der Sühne Christi kommt die göttliche Vergebung und Barmherzigkeit denjenigen Menschen zugute, die willens sind, dies anzunehmen. Die meisten Christen gingen davon aus, dass diese Bereitschaft selbst ein Geschenk Gottes sei, aber einige glauben auch, dass die Menschen, selbst wenn ihnen die Gnade Gottes nicht zu Hilfe komme, trotzdem in der Lage seien, das Gute zu wollen oder sogar zu tun (siehe Pelagianismus). Wie diese Lehren zu interpretie1575
Religionsphilosophie
ren seien, oder ob sie überhaupt konsistent interpretiert werden können, war und ist Gegenstand philosophischer Diskussionen. Das religiöse Leben ist nicht nur durch den religiösen Glauben und religiöse Erfahrung gekennzeichnet, sondern auch durch viele andere Dinge. Für viele Gläubige strukturieren das Ritual und das Gebet das religiöse Leben. Die Christen gehen auch davon aus, dass die Sakramente wichtig sind, obwohl die Protestanten und die Katholiken sich hinsichtlich des Wesens und der Anzahl der Sakramente unterscheiden. Für die Christen besteht das Zentrum des religiösen Lebens, dass durch die Sühne Christi und die Annahme der Gnade Gottes durch den Gläubigen möglich wird, in den theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Barmherzigkeit. Viele religiöse Gläubige gehen davon aus, sie wüssten, dass diese und andere Dinge für das religiöse Leben wesentlich seien, weil Gott ihnen dies offenbart habe (siehe Offenbarung). Diese Offenbarung umfasst oder verkörpert sich in einem Buch, nämlich dem Koran für die Moslems, der hebräischen Bibel für die Juden und dem Alten und Neuen Testament für die Christen. Wie die Texte dieser Bücher zu verstehen sind, und wie religiöse Texte allgemein zu verstehen sind, wirft eine große Anzahl philosophischer Fragen auf. Gewisse Denker, die selbst keine Philosophen sind, haben dennoch für die Religionsphilosophie Bedeutung. Dies gilt zum Beispiel für J. Calvin und Martin Luther, deren Auffassungen über solche Fragen wie die Rechtfertigung der Sühne Christi bedeutenden Einfluss auf das Verständnis dieser Begriffe hatte, und Jacques Maritain und Pierre Teilhard de Chardin, dessen Einfluss auf die zeitgenössische philosophische Theologie bedeutend gewesen ist. Siehe auch: Allgegenwart; Aquin, Thomas von; Augustinus; Böhme, J; Brahman; Buddhistische Philosophie, Chinesische; Buddhistische Philosophie, indische; Buddhistische Philosophie, Japanische; Buddhistische Philosophie, Koreanische; Edwards, J.; Gnostik; Indische und Tibetanische Philosophie; Islamische Philosophie; Jainistische Philosophie; Jüdische Philosophie; Manichäismus; Okkasionalismus; Personalismus; Prädestination; Shintō; Voluntarismus; Zoroastrismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Murray, M. und Stump, E. (Hrg.) (1999): ‚Philosophy of Religion: The Big Questions’. Oxford: Blackwell. (Eine breit angelegte und umfassende Anthologie von Texten zur Religionsphilosophie.) Quinn, P. und Taliaferro, C. (1997): ‚A Companion to Philosophy of Religion’. Oxford: Blackwell. (Ein hilfreiches und reichhaltiges Referenzhandbuch der Religionsphilosophie.) ELEONORE STUMP
Ren
Siehe: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Konfuzius
Renaissance-Philosophie Einführung Der Ausdruck ‚Renaissance‘ bedeutet ‚Wiedergeburt‘ und wurde ursprünglich verwendet, um die Wiedergeburt der Künste und der Literatur zu bezeichnen, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien anbrach (siehe Humanismus in der 1576
Renaissance-Philosophie
Renaissance). Erstmals wurde der Begriff (ital.: rinascita oder rinascimento = dt.: Wiedergeburt) 1550 von dem italienischen Künstler und Künstlerbiographen Giorgio Vasari, der am Hofe der Medici tätig war, verwendet, um die Überwindung der mittelalterlichen Kunst anzuzeigen. Er wurde seinerzeit recht willkürlich mit der propagandistischen Absicht einer Selbsterhöhung des Hofes der Medici geprägt und verwendet, verselbständigte sich mit der Zeit jedoch und wurde schließlich zur neutralen Epochenbezeichnung. Hier wird der Ausdruck einfach verwendet, um auf die Epoche von 1400 bis 1600 zu verweisen. Es gibt aber auch Betrachtungsweisen, in der die Renaissance-Philosophie als eine speziell philosophische Wiedergeburt gesehen werden kann, denn sie umfasst auch die Wiederentdeckung von Platon und dem Neuplatonismus (siehe Platonismus in der Renaissance), die Wiederbelebung so alter Systeme wie dem Stoizismus und dem Skeptizismus (siehe Stoizismus), und ein erneuertes Interesse an der Magie und dem Okkulten. Doch die Kontinuität zum Mittelalter ist ebenfalls wichtig. Trotz der Angriffe der Humanisten und der Platonisten herrschte der Aristotelismus durch die gesamte Renaissance vor, und viele Philosophen setzten auch ihre Arbeit innerhalb der scholastischen Tradition fort. 1. Historische und soziale Faktoren 2. Der Humanismus und die Wiedergewinnung der antiken Texte 3. Die Scholastik und Aristoteles 4. Philosophische Themen 1. Historische und soziale Faktoren Drei historische Ereignisse waren für das Aufblühen der Renaissance von herausragender Bedeutung. Zunächst das Vordringen der Türken, das in der Einnahme von Konstantinopel im Jahre 1453 seinen Höhepunkt fand. Dieses Vordringen erzeugte eine Migration griechischer Gelehrter (wie z.B. Georg von Trebizond) und mit ihnen griechischer Texte in den lateinisch sprechenden Westen (siehe Humanismus in der Renaissance; Platonismus in der Renaissance). Dies löste aber auch die Suche nach neuen Handelsrouten aus. Die europäische Entdeckung von Amerika und die ersten Reisen nach China und Japan erweiterten den intellektuellen Horizont mit dem Bekanntwerden neuer Sprachen, Religionen und Kulturen. Neue Fragen des Kolonialismus, der Sklaverei und der Rechte nichtchristlicher Menschen hatten Auswirkungen auf die Rechts- und die politische Philosophie (siehe Vitoria, F. de; Suárez, F.). Das Studium der Mathematik und der Wissenschaften, speziell der Astronomie, profitierte auch von den Entwicklungen der Seenavigation, des Handels und der Banken, von neuen Techniken wie dem Teleskop und anderen Instrumenten (siehe Kepler, J.; Galilei, Galileo), sowie durch die Wiederbeschaffung der griechischen Mathematik und der günstigen Einstellung von Platon bzw. der platonischen Philosophie gegenüber dem Studium der Mathematik. Das zweite, sehr wichtige Ereignis ist die Entwicklung der Drucktechnik in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Dies erlaubte die Veröffentlichung von Lehrbuchausgaben und damit die Ausweitung des Lernens über die Universitäten hinaus, und ermöglichte auch einen vermehrten Einsatz der örtlichen bzw. Landessprachen in geschriebenem Material (siehe Humanismus in der Renaissance). Diese Veränderungen betrafen insbesondere auch die Frauen, die oft nur in der Landessprache lesen konnten. Christine de Pizan, Paracelsus, Ramus, Montaigne, Bruno und
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Renaissance-Philosophie
Charron gehören zu denen, die zumindest in Teilen ihrer Werke ihre Muttersprache verwendeten. Ein dritter wichtiger Einflussfaktor ist die protestantische Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (siehe Luther, M.; Calvin, J.). Das protestantische Bestehen auf dem Lesen der Bibel in der jeweiligen Landessprache stärkte sowohl den Gebrauch der Landessprache, als auch die Verbreitung des Lesens überhaupt (siehe Melanchthon, P.). Die katholische Gegenreformation hatte ebenfalls Auswirkungen auf die Ausbildung, speziell durch Arbeit des Jesuitenordens, der 1540 gegründet wurde, und der in ganz Europa Ausbildungseinrichtungen gründete, einschließlich dem Collegio Romano in Rom, gegründet 1553, und der Höheren Schule von La Flèche, die auch Descartes besuchte. Die politische Philosophie schlug neue Wege ein (siehe Hooker, R. als Beispiel), und die theologischen Studien veränderten sich. Als die Protestanten die ‚Sentenzen‘ von Peter Lombard verwarfen und stattdessen die Kirchenväter betonten, ersetzten die Katholiken die ‚Sentenzen‘ durch die ‚Summa theologiae’ von Thomas von Aquin. Umgekehrt wirkten sich diese Änderungen auf die unteren Studiengänge aus, die, wenn auch gleichzeitig aus anderen Gründen, technisch weniger anspruchsvoll wurden, insbesondere hinsichtlich des Studiums der Logik. Die persönlichen Freiheiten waren ebenfalls von dieser Entwicklung betroffen. Sowohl die Katholiken, als auch die Protestanten zensierten unerwünschte Ansichten, und der erste römisch-katholische Index verbotener Bücher wurde im Jahre 1559 aufgestellt. Bruno wurde wegen angeblicher Häresie verbrannt, Campanella wurde eingesperrt, und der philosophische Atheismus von Vanini führte zu seiner Hinrichtung. Die Rufe nach Toleranz durch solche Männer wie Montaigne und Lipsius waren nicht immer willkommen. Die Bücher aller dieser Männer und anderer wie z.B. Erasmus, Machiavelli und Rabelais wurden ebenfalls auf den Index gesetzt, oder man verlangte ihre Überarbeitung im Sinne der Kirche. Zur selben Zeit verbot das calvinistische Genf den Druck von Thomas von Aquin und Rabelais. Soziale Faktoren wirkten sich auch philosophisch aus. Die Philosophie war als akademische Disziplin an die Universitäten gekoppelt. Diese nahmen weiterhin nur männliche Studenten an und lehrten ausschließlich auf lateinisch, das die universale Bildungssprache und jene der römisch-katholischen Kirche war. Doch kamen mehr Studenten aus den höheren sozialen Klassen als noch im Mittelalter. Sie erwarteten einen Lehrplan mit weniger Betonung auf der technischen Logik, dafür mit einer stärkeren Betonung der Naturwissenschaften und der Rhetorik, den modernen Sprachen, der Geschichte und anderer eher praktischer Disziplinen. Solchen Änderungen der Lehrpläne hat der Humanismus viel zu verdanken, wie auch der Verbreitung der neuen Höheren Schulen (siehe Humanismus in der Renaissance; Montaigne, M. de). Die Renaissance zeichnete sich vor dem Mittelalter auch durch eine Ausbreitung der Bildung außerhalb der Universitäten aus. Einige Männer lebten dabei weitgehend unter dem Patronat von Adligen, Prinzen und Päpsten (unter ihnen z.B. Valla, Ficino, Pico della Mirandola und Erasmus), einige waren praktizierende Ärzte (einschließlich Paracelsus und Cardano), einige hatten private Quellen (wie Montaigne). Und es waren auch nicht mehr ausschließlich Männer, die an der Bildung teilhatten: Christine de Pizan war beispielsweise eine Hofdichterin (siehe Feminismus, § 2).
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Renaissance-Philosophie
Auch die jüdischen Denker waren außerhalb der Universitäten aktiv (siehe JüPhilosophie, § 3). Yohanan ben Isaac Alemanno und Judah ben Isaac Abravanel (der als Leone Ebreo) bekannt wurde, sind besonders wichtige Figuren der italienischen Renaissance. 2. Der Humanismus und die Wiedergewinnung der antiken Texte Der Humanismus war primär ein Kultur- und Bildungsprogramm (siehe Humanismus in der Renaissance; Erasmus, D.; More, T.). Die Humanisten bemühten sich sehr um die klassische Bildung, speziell um das Studium des Griechischen, und damit auch um die Imitation klassischer Bildungsmodelle. Trotz ihrer häufigen Kritik des scholastischen Jargons und der entsprechenden Techniken waren sie doch keine direkten Konkurrenten der scholastischen Philosophen, außer vielleicht insofern, als die humanistischen Ideale Änderungen der universitären Lehrpläne hervorriefen, die die scholastischen Themen auflockerten oder an den Rand drängten. Es war auch der Humanismus, der zur Wiederentdeckung der klassischen Texte führte, sowie deren Verbreitung in gedruckter Form, und zwar in griechischer und lateinischer Übersetzung. Platon ist hierfür das herausragendste Beispiel, doch wurde er zusammen mit den Neuplatonisten wieder entdeckt und wurde folglich häufig aus einer neuplatonischen Perspektive gelesen (siehe Ficino, M; Platonismus in der Renaissance). Die so genannte antike Weisheit des ‚Hermetizismus‘, der auch als Hermetismus bekannt ist, wurde ebenfalls innerhalb eines neuplatonischen Bezugsrahmens neu gefasst (siehe Ficino, M.), und zusammen mit der Kabbalah (siehe Kabbalah) führte dies zu einem erneuerten Interesse an der Magie und dem Okkulten (siehe Alchemie; Agrippa von Nettesheim, H.C.; Bruno, G.; Paracelsus). Diese Strömungen unterstützten wiederum das Aufkommen einer neuen, vitalistischen Naturphilosophie bei solchen Denkern wie Paracelsus, Bruno, Campanella, Cardano und Telesio. Andere antike Denkschulen, die hierbei ebenfalls wieder entdeckt wurden, waren der Epikureismus und der Skeptizismus (siehe Agrippa von Nettesheim, H.C.; Erasmus, D.; Sanches, F.; Montaigne, M. de), wie auch der Stoizismus. Einige Humanisten schrieben wichtige Bücher über die Ausbildung, einschließlich der Ausbildung von Frauen (siehe Erasmus, D.). Der lutherische Aristoteliker Melanchthon war auch ein Ausbildungsreformer, und die Jesuiten stellten die Ratio Studiorum (‚Studienplan‘) auf, die die Texte für alle jesuitischen Institutionen enthielt. Der Humanismus hatte aber auch Auswirkungen auf das Bibelstudium (siehe Erasmus, D.; Luther, M.; Humanismus in der Renaissance) und auf den Aristotelismus selbst. 3. Die Scholastik und Aristoteles Die scholastische Philosophie war die Philosophie der Schulen, also jene Philosophie, die an den höheren Lehranstalten gelehrt wurde, und zwar sowohl an den säkularen Universitäten, als auch an den Institutionen der religiösen Orden. Die Verbindung der spätscholastischen Philosophie mit den höheren Lehranstalten brachte eine gewisse Aufbereitung des Lernstoffs mit sich, und zwar sowohl einen hoch organisierten, als auch beweisorientierten, zusammen mit einer klaren Darstellung der Ansichten jeweils für und gegen eine gegebene These. Dies brachte auch einen Schwerpunkt auf Aristoteles mit sich, denn er ist jener, der am meisten zu den universitären Lehrbüchern des 16. und sogar noch des 17. Jahrhunderts beisteuerte. Andererseits wurde das Studium des Aristotelismus nicht mehr notwendig auf die dische
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Renaissance-Philosophie
traditionelle Art und Weise durchgeführt, denn es hatten sich inzwischen viele unterschiedliche aristotelische Philosophien entwickelt. Ferner und insbesondere im jesuitischen Orden zeigte sich eine starke Neigung zur Aufnahme neuer Entwicklungen in der Mathematik und der Astronomie in den Rahmen der aristotelischen Naturphilosophie. Zu den Aristotelikern gehören Paul von Venedig, George von Trebizond, Vernia, Nifo, Pomponazzi, Melanchthon, Zabarella und die Thomisten (siehe unten). Zu den Anti-Aristotelikern gehörten Petrarch, Blasius von Parma, Valla, Ramus, Sanches, Telesio, Patrizi da Cherso und Campanella. Einige Philosophen versuchten den Platonismus und den Aristotelismus miteinander zu versöhnen (siehe Pico della Mirandola, G.; Platonismus in der Renaissance). Ein sehr wichtiges Merkmal der spätscholastischen Philosophie ist ihre Verwendung der mittelalterlichen Terminologie, zusammen mit ihrer weiterhin bestehenden und expliziten Bemühung sowohl um die Probleme, die noch aus der mittelalterlichen Philosophie stammten, als auch um die mittelalterlichen Philosophen selbst. Es gab hier und dort Modeströmungen. Der Albertismus nach dem Philosophen Albert der Grosse war im 15. Jahrhundert wichtig; der Nominalismus verschwand mehr oder weniger nach einem abschließenden Aufblühen im frühen 16. Jahrhundert. Der Scotismus nahm deutlich ab, war aber im 17. Jahrhundert noch zu spüren. Der Thomismus erlebte eine starke Wiederbelebung speziell durch die Arbeit der Dominikaner (Capreolus, Cajetan, Silvestri, Vitoria, Soto, Báñez, und Johann von St. Thomas), und die Jesuiten (Fonseca, Toletus, Suárez und Rubio; siehe auch Thomismus). 4. Philosophische Themen Es ist schwierig, die Interessen der Renaissance-Philosophen auf die Interessen zeitgenössischer Philosophen zu übertragen, insbesondere wo die vorherrschenden Formen des Schreibens der Kommentar war, sei es zu Aristoteles oder zu Thomas von Aquin. Suárez ist der erste bekannte Autor, der eine größere systematische Abhandlung über die Metaphysik schreibt, die kein Kommentar war, obwohl frühere Autoren, wie z.B. Nifo und Pomponazzi, bereits kürzere Texte zu speziellen Themen geschrieben hatten. Nichtsdestotrotz können bestimmte allgemeine Themen isoliert werden: 4.1 Logik und Sprache: Die Logik war grundlegend für die Lehrpläne aller Ausbildungseinrichtungen, und viele Renaissance-Philosophen schrieben über die Logik. Einzelne Humanisten, die auf diesem Gebiet gearbeitet hatten, waren Valla, Agricola, Vives; Melanchthon und Ramus; sowie einzelne Scholastiker wie Soto, Toletus und Fonseca. Logische Theorien und Sprache wurden in der Metaphysik und in der Philosophie des Geistes oft zusammen behandelt, ebenso wie auch die (Natur-)Wissenschaft. 4.2 Metaphysik und Philosophie des Geistes. Unter den Themen, die sich mit den Logischen und Sprachtheorien überschnitten, waren (i) die ‚mentale‘ Sprache (siehe Sprache des Denkens), (ii) die Analogie; (iii) objektive und formale Begriffe (siehe Suárez, F.); (iv) vernunftbegabte Wesen (siehe Johannes von St. Thomas). Ein spezifisch thomistisches Thema in der Metaphysik war die Beziehung zwischen Wesen und Existenz (siehe Aquin, Thomas von, § 9; Suárez, F.). Andere metaphysische Fragen betrafen: (i) die Universalien (siehe Suárez, F.); (ii) die Individuation 1580
Renaissance-Philosophie
(siehe Suárez, F.); und (iii) die ‚große Kette des Seins‘ (siehe Ficino, M., Pomponazzi, P.; Bruno, G.). Fragen zur Philosophie des Geistes umfassten die Existenz eines Handlungssinns und einer intelligiblen Spezies. 4.3 Unsterblichkeit. Die umfassendste Einzelfrage war jene nach dem Wesen der intellektuellen Seele, ob sie unsterblich sei, und wenn dies der Fall sei, ob ihre Unsterblichkeit beweisbar sei (siehe Ficino, M.; Pomponazzi, P.; Suárez, F.; Johann von St. Thomas; Seele, Wesen und Unsterblichkeit der). 4.4. Freier Wille. Der freie Wille war ein Thema, das in enger Beziehung zu religiösen Fragen der Gnade, der Prädestination und Gottes Vorsehung stand (siehe Pomponazzi, P.; Luther, M.; Erasmus, D.; Calvin, J.; Molina, L. de). 4.5 Wissenschaft und Philosophie der Natur. Die Diskussion der wissenschaftlichen Methode überschnitt sich auch mit der Logik. Die Themen umfassten: (i) die traditionelle aristotelische Diskussion über den Gegenstand der Naturphilosophie (siehe Johann von St. Thomas); (ii) den antiaristotelischen Materialismus; (iii) die neuen Naturphilosophien, die das Universum als durchgehend belebt ansahen (siehe Paracelsus; Bruno, G.; Campanella, T.) oder als erklärbar im Sinne einer LichtMetaphysik; (iv) ein zögerndes Herangehen an den Empirismus (siehe Ramus, P.; Sanches, F.). Schließlich gab es auch Denker, die die Wissenschaft auf einen neuen Pfad führten, indem sie eine Kombination mathematischer Beschreibungen und Experimente einsetzten, wie z.B. Kopernikus, Kepler und Galileo. 4.6 Moralphilosophie und politische Philosophie. Die Humanisten bemühten sich stark um die Moralphilosophie und die politische Philosophie (siehe Humanismus in der Renaissance; Erasmus, D.), wie auch die protestantischen Reformer (siehe Melanchthon, P.; Calvin, J.). Obwohl der Schwerpunkt weiterhin auf Aristoteles lag, wurde die epikureische Moralphilosophie von Valla aufgegriffen, und die stoische Moralphilosophie war ebenfalls einflussreich. Bedeutendere politische Denker waren hier Machiavelli, Vitoria und Bodin. Viele Diskussionen der Regierungsformen, des Status von Gesetzen und des Begriffs eines gerechten Krieges erwuchsen aus der aristotelisch-thomistischen Tradition; prominente Beitragende zu dieser Tradition waren Christine de Pizan, Vitoria, Soto, Toletus, Suárez, Molina und Hooker. Andere bedeutende Formen der politischen Renaissance-Philosophie waren: (i) der Konziliarismus (siehe Nikolaus von Cusa); (ii) der Utopismus (siehe Utopismus; More, T.; Campanella, T.); (iii) der Neostoizismus. (Siehe auch Politische Philosophie, Geschichte der; Naturrecht.) 4.7 Der Mensch. Themen in Beziehung zum Wesen des Menschen, die in der Renaissance hervorragten, waren: (i) die Unterscheidung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos (Nikolaus von Cusa; Pico della Mirandola, G.; Paracelsus; Campanella, T.); (ii) die Liebe (Ficino, M.; Pico della Mirandola, G); (iii) die Fähigkeit, sein eigenes Wesen zu formen (Pico della Mirandola, G.; Pomponazzi, P.). Anmerkungen und weitere Lektüre: Grendler, P.F. (Hrg.) (1999): ‚Encyclopedia of the Renaissance‘. New York: Scribner’sj, zusammen mit der Renaissance Society of America, 6 Bände. (Eine unschätzbar wertvolle Ressource für alle Aspekte der Renaissance, einschließlich der Philosophie und der Wissenschaft.) Kraye, J. (Hrg.) (1997): ‚The Cambridge Translations of Renaissance Philosophical Texts, Vol. I: Moral Philosophy, Vol. II: Political Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Vierzig neue Übersetzungen von Werken zur Moral1581
Republikanismus
und politischen Philosophie, mit Einführungen und Bibliographien. Gut verwendbar in Ergänzung zum vorgenannten Titel.) Schmitt, C.B., Skinner, Q.; Kessler, E. (Hrg.) (1988): ‚The Cambridge History of Renaissance Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Ein Monumentalwerk, nach Themen geordnet.) E.J. ASHWORTH
Renouvier, Charles Bernard (1815–1903)
Charles Renouvier war der Hauptvertreter des Französischen Neukantianismus im 19. Jahrhundert. In der Nachfolge Kants grenzte er die Bedingungen für die legitime Ausübung des Erkenntnisvermögens ein und verkündete die Täuschungen vergangener Metaphysik. Da er in dieser Richtung über Kant hinausgehen wollte, kritisierte er den Begriff der Substanz und den der Aktualendlichkeit. Ihm zufolge ist die Beziehung die Grundlage aller unserer Repräsentationen; die Wirklichkeit sei endlich, und die Gewissheit beruhe auf der Freiheit. In der Ethik berücksichtigte er über das Ideal der Pflicht hinaus die Gegebenheit der Wünsche und Interessen, wie dies die Geschichte bestätige. Siehe auch: Neukantianismus; Personalismus LAURENT FEDI
Repräsentation, politische Siehe: Vertretung, politische
Reproduktion
Siehe: Fortpflanzung und Ethik
Republikanismus
In allen Gesellschaften und Gemeinschaften gab und gibt es bedeutende Strömungen jeder Größenordnung. Der Republikanismus (lat.: res publica = ‚öffentliche Sache‘ oder ‚Gemeinwesen‘) als eine von ihnen ist eine aus der Staatstheorie hervorgegangene politische oder auch soziale Bewegung. Die politischen Parteien, die sich für den Republikanismus einsetzen, verfolgen die Absicht, eine Volkssouveränität, geschichtlich häufig im Zusammenhang mit einer Verfassungsbewegung, zu sichern, und Demokratie und Liberalismus zu verbreiten. Das Kennzeichen republikanischer Politik ist die Unterordnung unterschiedlicher Interessen unter das gemeinsame Wohl oder unter das, was als das gemeinsame Interesse aller Bürger verstanden wird. Um dieses Ergebnis zu sichern, kann sich die Regierung in einer Republik niemals nur um die ausschließliche Wahrung eines Interesses oder einer sozialen Ordnung kümmern. Sie muss immer gemeinsam von Vertretern aller größeren Gruppen einer Gesellschaft kontrolliert werden. Das Maß der Kontrolle durch die Vertreter unterschiedlicher sozialer Elemente wird vielleicht nicht gleich sein, und mit den republikanischen Zielen sind auch unterschiedliche Regierungsstile vereinbar. Dennoch bringt eine jede republikanische Regierung auf irgendeine Weise eine Machtaufteilung mit sich. Selbst in einer demokratischen Republik müssen die politischen Mehrheiten ihre Macht mit den Minderheiten zum gemeinsamen Wohl teilen. Die Erhaltung des geeigneten Gleichgewichts politischer Macht ist das Hauptproblem der Republikaner. Die eine oder andere Fraktion mag die Kontrolle über die Regierung erlangen und sie im Sinne ihrer Interessen statt für das Gemeinwohl einsetzen. Um dies zu vermeiden, haben die Republikaner eine Vielzahl von Stra1582
Revolution
tegien entwickelt. Einige stützen sich auf die verfassungsrechtliche Formel von ‚checks and balances‘ (dt.: ‚Kontrollen und Gleichgewicht‘), um den Ungeist des Parteigeistes zu vertreiben. Andere suchen die Parteilichkeit selbst zu minimieren, indem sie die Ursachen der Parteibildung regulieren, beispielsweise die Verteilung von Land und anderen Eigentumsformen. Wieder andere fördern die bürgerlichen Religionen, um die unterschiedlichen Menschen aneinander zu binden. Alle diese Methoden akzeptieren die Unvermeidlichkeit der konflingierenden Interessen und sehen die Notwendigkeit, sie politisch auszugleichen. Folglich ist das bürgerliche Leben das Herz des Republikanismus. RUSSELL L. HANSON
Revolution
Es gab Revolutionen in der Politik, der Wissenschaft, der Philosophie, sowie in den meisten anderen Sphären des menschlichen Lebens. Hier diskutieren wir den Begriff der Revolution hauptsächlich im Zusammenhang mit Begriffen, die vor allem der politischen Sphäre entspringen. Versuche zur Definition der politischen Revolution sind strittig. Als Folge hiervon gibt es einen Disput darüber, ob bestimmte geschichtliche Erscheinungen als Revolution, als Rebellion, als coups d’etat (dt.: Staatsstreich) oder als Reformen einzustufen sind. Wenn wir die Revolution als die illegale Einführung einer radikal neuen politischen Situation zwecks Erreichung oder Vergrößerung der individuellen oder gemeinschaftlichen Freiheit definieren, so listen wir diejenigen Merkmale auf, die der Revolution meistens zugeschrieben wird. Diese Merkmale unterscheiden den Begriff von seiner früheren Bedeutung, wo sich ‚Revolution‘ auf die Wiederkehr eines ursprünglichen Zustands bezog, wie z.B. in der Astronomie die Umlaufbahnen der Planeten. Dies erlaubt auch die Unterscheidung von ähnlichen Begriffen wie dem der Reform. Zumindest auf einer oberflächlichen Ebene wird diese Definition den frühneuzeitlichen (16. und 17. Jahrhundert), als auch den spätneuzeitlichen bzw. frühmodernen Revolutionen (19. und 20. Jahrhundert) gerecht. Über diese Epochen hinweg gab es allerdings genügend begriffliche Änderungen, die in engem Zusammenhang mit der Revolution standen, um dem Begriff jene Offenheit für Feinheiten zu geben, durch die er auf beide Epochen anwendbar ist. Es ist aber unklar, ob selbst eine solche nuancierte Definition noch für das postmoderne Denken tauglich ist. PETER A. SCHOULS
Rhetorik
Die Rhetorik ist die Fähigkeit, durch die Rede zu überzeugen, insbesondere in politischen oder öffentlichen Angelegenheiten. Manchmal hat die Philosophie sich selbst im Gegensatz zur Rhetorik definiert; Platon erfand den Ausdruck ‚Rhetorik‘, damit die Philosophie sich im Gegensatz dazu definieren könne, und Unterscheidungen wie jene zwischen Überreden und Erkennen sind seitdem populär. Manchmal hat die Philosophie rhetorische Techniken oder Materialen zur Förderung ihrer eigenen Projekte eingesetzt. Einige dieser Techniken, speziell jene zu neuen Themen, der Klassifizierung von Fragen und die Redefiguren werden von Philosophen gelegentlich verwendet. Die philosophische Frage lautet hier, ob diese Techniken über ihre Wirksamkeit hinaus irgendein Interesse aufweisen. Welche Beziehung besteht zwischen wirksamen Techniken zur Überredung anderer und anderen Methoden der Herbeiführung von Entscheidungen? Gibt es irgendeine Verbindung zwi1583
Richtige, Das, und Das Gute
schen dem stärksten Fall von Überredung und dem der besten Entscheidung? Gibt es eine Beziehung einerseits zwischen den angemessenen Urteilen und dem äußeren Anstand, die von einem Rhetoriker angewandt werden, und den angemessenen Urteilen, die von einer Person im Besitz praktischer Weisheit getroffen werden? Streben die Urteile über die Wahrscheinlichkeit, die Uneindeutigkeit und Ungewissheit, und Urteile unter Zeit- oder Entscheidungsdruck das Ideal vollkommener Rationalität an, das nicht zu erreichen sie doch verurteilt sind, oder weisen solche Urteile eine Integrität sui generis auf? Abgesehen von der Bereitstellung nützlicher Techniken kann eine Kunst der Überredung auch philosophische Fragen über die Beziehung zwischen Rhetorik und Logik, Rhetorik und Ethik und Rhetorik und Dichtung aufwerfen. Siehe auch: Aristoteles, § 29; Cicero, M.T.; Melanchthon, P.; Ramus, P. EUGENE GARVER
Richtige, Das, und Das Gute
‚Richtig‘ und ‚gut‘ sind zwei grundlegende Ausdrücke der moralischen Bewertung. Allgemein ist etwas ‚richtig‘, wenn es moralisch verbindlich ist, während etwas ‚gut‘ ist, wenn etwas es wert ist, es zu haben oder zu tun oder das Leben derjenigen Person aufwertet, die dies besitzt. Handlungen werden oft in Ansehung der durchgeführten Handlung selbst als moralisch richtig oder falsch angesehen, moralisch gut oder schlecht dagegen in Ansehung ihrer Motive: es ist richtig, einer Person in Not zu helfen, jedoch gut, dies aus einem Pflicht- oder Sympathiegefühl zu tun, denn niemand kann verpflichtet werden etwas zu tun (wie z.B. aus einem gewissen Motiv heraus zu handeln), das nicht willentlich getan werden kann. Henry Sidgwick unterschied zwischen zwei grundlegenden Moralbegriffen. Der ‚Anziehungsbegriff‘, der von den antiken Griechen bevorzugt wird, sieht das Gute als grundlegend an und begründet den Anspruch auf moralisches Verhalten mit der Selbstvervollkommnung, nach der wir selbstverständlich streben. Der ‚Befehlsbegriff‘, der in der Neuzeit bevorzugt wird, sieht das Recht als grundlegend an und meint, dass wir gewissen Verpflichtungen unterworfen sind, unabhängig von unserem Wünschen und Wollen. Grundsätzlich hat sich die bereits in der Antike formulierte und noch bis zum Ende des Mittelalters gültige, gemeinsame ethische Fundierung des Richtigen und des Guten seit der Aufklärung nicht mehr aufrechterhalten lassen. Als Schlüsselwerk für diese Trennung des guten vom richtigen Verhalten ließe sich die kantische ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ ausmachen: Kant erklärt bereits im ersten Satz seines bahnbrechenden Werks, dass er als wirklich Gutes nur noch den Guten Willen gelten lassen könne; dieser tauge jedoch nicht, um mit allgemeiner Verbindlichkeit inhaltlich konkretisiert zu werden. Fortan haben sich alle daran anschließenden ethischen Systeme, genau besehen, eher auf die Richtigkeit ihrer Verhaltensempfehlungen (vor allem im Sinne sozialer Verträglichkeit) gestützt, statt auf die Behauptung deren absoluter Gutheit, selbst wenn sie äußerlich nach wie vor vom Guten reden. Die utilitaristische Maxime des allgemeinen Glücks benennt z.B. ein absolut Gutes; ihre theoretische Durchführung mündet aber letztlich wieder in Verfahrensanweisungen, die vor allem richtig zu erfüllen sind. Gleichwohl bemühen sich nach wie vor die Ethiker bis auf den heutigen Tag, auch den Begriff des Guten zu erneuern, so dass er auch unter den zeitgenössischen Bedingungen 1584
Ricoeur, Paul (1913–2005)
noch mit allgemeiner Verbindlichkeit verwendbar ist; solche Bemühungen werden z.B. in der neuerlichen Betrachtung des antiken Begriffs der Tugendethik sichtbar. Entsprechende Projekte dürften in Anbetracht der inzwischen zu beachtenden interkulturellen Vereinbarkeit ethischer Theorien jedoch eher vor noch stärkeren Schwierigkeiten stehen als zur Zeit der Aufklärung. Siehe auch: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Guten, Theorien des CHARLES LARMORE
Rickert, H. (1863–1936) Siehe: Neukantianismus
Ricoeur, Paul (1913–2005)
Paul Ricoeur ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der führenden französischen Philosophen. Zusammen mit dem deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer ist Ricoeur ferner einer der führenden zeitgenössischen Vertreter der philosophischen Hermeneutik, d.h. einer philosophischen Orientierung, die besondere Betonung auf das Wesen und die Rolle der Interpretation legt. Während sein Frühwerk stark durch die Phänomenologie Husserls beeinflusst war, bemühte er sich später immer stärker um Probleme der Interpretation und entwickelte, teilweise infolge detaillierter Untersuchungen zur Psychoanalyse und zum Strukturalismus, eine ganz eigene hermeneutische Theorie. In seinen späteren Schriften erforscht Ricoeur das Wesen der Metapher und der Erzählung, die er als Weisen der Erzeugung neuer sprachlicher Bedeutung ansieht. Siehe auch: Hermeneutik JOHN B. THOMPSON
Risikobewertung
Die probabilistische (wahrscheinlichkeitsbasierte) oder quantitative Risikobewertung zielt darauf ab, eine Reihe von Bedrohungen für die menschliche Gesundheit und Sicherheit zu schätzen und auszuwerten. Diese Bedrohungen ergeben sich vor allem aus besonderen Technologien, wie z.B. der kommerziellen Kernspaltung, oder aus Umweltfolgen, wie z.B. der Entwaldung. Definiert man ‚Risiko‘ als die Wahrscheinlichkeit, dass eine Ereignisfolge eintritt, so wird ein so verstandenes Risiko üblicherweise als die durchschnittliche jährliche Todesfallwahrscheinlichkeit ausgedrückt, die eine bestimmte Aktivität für einen Einzelmenschen mit sich bringt. Beispielsweise liegt die Wahrscheinlichkeit eines durchschnittlichen Publikumsmitgliedes infolge eines normalen, lebenslangen Kontaktes mit dem Stoff Methylenchlorid, einem Vielzweck-Lösungsmittel, dadurch an Krebs zu sterben, bei 0,0000041% oder 4,1 · 10-6. Anders gesagt, für jeweils eine Million Menschen, die Methylenchlorid während ihres ganzen Lebens ausgesetzt sind, wird dies für ca. 4 Personen einen Tod durch Krebs bedeuten. Obwohl Risiken individuell sein können, wie z.B. bei jenen, die gesättigte Fettsäuren konsumieren, oder auch gesellschaftlich bedingt, wie bei jenen, die Flüssiggasgeräte benutzen, werden von den Regierungen typischerweise doch nur die gesellschaftlich bedingten Risiken reguliert. Der Definition zufolge werden sie dem Einzelnen weitgehend unfreiwillig auferlegt, während die individuellen Risiken nur diejenigen Personen treffen, die sich ihnen freiwillig aussetzen. Die meisten probabilistischen Risikobewertungen fallen unter drei Haupttypen: die Bewertung einzelner Risiken, die Kritik bestehender Bewertungen und die Klärung der Bedeutung 1585
Römisches Recht
von Bewertungsbegriffen, -methoden oder -theorien. Solche Beiträge konzentrieren sich üblicherweise entweder auf die Erkenntnistheorie (einschließlich der Wissenschaftsphilosophie) oder die Ethik. Die erkenntnistheoretische Analyse richtet sich beispielsweise auf die Angemessenheit und Eignung bestimmter wissenschaftlicher, probabilistischer oder politischer Techniken, die in der Risikobewertung eingesetzt werden, ferner auf den Status einer bestimmten Kausalhypothese bezüglich des Risikos oder die Rationalität alternativer Entscheidungsregeln zur Risikobewertung. Ethische Analysen erforschen z.B. die Gerechtigkeit der Risikoverteilungen, die in bestimmten Risikobewertungen oder deren Methodik zugrunde gelegt werden, ferner den Umfang, in dem eine bestimmte Methode der Risikobewertung die sozialen Schlüsselwerte berücksichtigt, wie z.B. jene der freien Zustimmung und des ordnungsgemäßen Prozesses, und schließlich den Umfang, in dem eine gegebene Risikobewertungstechnik, wie z.B. die Nichtberücksichtigung der Zukunft, wichtige ethische Fragen aufwirft, z.B. jene der Rechte künftiger Generationen. Siehe auch: Bestätigungstheorie; Umweltethik; Beobachtung; Wissenschaftliche Methode KRISTIN SHRADER-FRECHETTE
Römisches Recht
Das römische Recht war das größte Geschenk Roms an den Intellekt des neuzeitlichen Europas. Noch heute leben die Sammlung des römischen Rechts und die Leistungen der Juristen, die es aufbauten, im Recht der kontinentaleuropäischen Rechtsprechung und in anderen und ferneren Ländern fort. Es ist zwar wahr, dass die Kodifizierungen der vergangenen zwei Jahrhunderte die lange Tradition des direkten Rückgriffs auf die römische Rechtsmaterie weitgehend unterbrochen hat, doch die Begrifflichkeiten des Zivilrechts und die Kategorien des Rechtsdenkens, die immer noch verwendet werden, sind in weitem Umfange jene des römischen Rechts. In England, vielleicht aus keinem anderen Grunde als jenem, dass vom frühen 13. Jahrhundert an die Richter der King’s Bench und Common Pleas (zwei damals in England entstandenen Gerichtsformen) einem sozialen Hintergrund entstammten, der sie von ihrer klerikalen Ausbildung abschnitt, die ihren Vorgängern Zutritt zu den römischen Rechtssammlungen verschafft hatte, wurde das römische Recht nicht rezipiert. Das post-normannische England wurde damit zur zweiten westlichen Gesellschaft, die sich ihre eigene, ausgereifte Rechtssammlung von Grund auf selbst aufbaute. Das common law (dt.: ‚Gemeinschaftsrecht‘, das seinen Namen daher hat, dass es für ganz England gilt) und das kontinentaleuropäische ‚Zivilrecht‘ (lat.: ‚ius civile’, d.h. jenes Recht, das für den Bürger, lat.: civis, galt, die ursprünglich selbstverständlich römische Bürger waren) sind daher die beiden hauptsächlichen Traditionslinien innerhalb der westlichen Rechtstradition. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die Entwicklung des common law fortgesetzt isoliert stattfand. Im Gegenteil, es gab wichtige Begegnungspunkte zu praktisch allen Zeiten. Ein Ergebnis hiervon ist, dass die Kategorien des englischen Rechtsdenkens in Wirklichkeit denjenigen des kontinentalen Europas nicht so fern sind. Das Studium des römischen Rechts hat auch in England unschätzbar zur Idee der rationalen normativen Ordnung beigetragen, d.h. zu einer Idee, die für die Rechtsphilosophie fundamental ist, wie im Grunde für alle praktische Philosophie. Siehe auch: Rechte, Rechtsphilosophie P.B.H. BIRKS
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Rorty, Richard McKay (1931–)
Römischer Stoizismus Siehe: Stoizismus
Rorty, Richard McKay (1931–)
Richard Rorty ist einer der führenden US-Philosophen und öffentlichen Intellektuellen, und er ist der bekannteste zeitgenössische Vertreter des Pragmatismus. Als ausgebildeter Philosoph sowohl in der analytischen, als auch in der traditionellen Philosophie folgte er Dewey in seinen Angriffen auf die Auffassung vom Wissen, dem Geist, der Sprache und der Kultur, die die Anziehungskraft beider Herangehensweisen ausmachten, indem er sich auf Argumente und Sichtweisen der Philosophiegeschichte bezog, die er aus Quellen bezog, die von Heidegger und Derrida bis zu Quine und Wilfrid Sellars reichten. Er fasst den Pragmatismus als etwas auf, was inzwischen über Dewey hinausgeht. Er selbst vollzog dies, indem er von der analytischen Philosophie ihren berühmten ‚linguistic turn’ (dt.: ‚linguistische Wende‘) abschaute, und von Thomas Kuhn die Behauptung, dass es so etwas wie eine ‚wissenschaftliche Methode‘ gar nicht gebe. Sprache und Denken seien lediglich Werkzeuge, um mit der Wirklichkeit fertig zu werden, nicht um sie abzubilden oder wiederzuspiegeln. Rortys typische philosophische Positionen könnte man jeweils als ‚Anti-..ismus‘ bezeichnen, d.h. als Positionen, die hauptsächlich von dem leben, was sie bestreiten. In der Erkenntnistheorie befürwortet er eine Anti-Letztbegründungsphilosophie, in der Sprachphilosophie einen Anti-Repräsentationalismus, in der Metaphysik einen Anti-Essentialismus und eine Anti-Haltung sowohl gegenüber dem Realismus, als auch gegenüber dem Antirealismus, und in der Metaethik eine Art von Ironismus. Er preist den Pragmatismus als die Philosophie, die am besten den Weg zu neuen Formen des Denkens ebnen könne, was wiederum das Leiden mindern helfe und uns helfen könne herauszufinden, was wir wollen und wie wir es erlangen. In der öffentlichen Diskussion ist er ein führender Vertreter des Liberalismus und ein Kritiker sowohl der Linken, als auch der Rechten. Siehe auch: Liberalismus; Pragmatismus MICHAEL DAVID ROHR
Rosenkranz, Karl Siehe: Hegelianismus
Rosmini-Serbati, Antonio (1797–1855)
Im reaktionären, antiaufklärerischen und spiritualistischen Klima Italiens und Europas in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machte sich der italienische Philosoph Rosmini an die Ausarbeitung eines christlichen, katholischen Systems der Philosophie im augustinisch-thomistischen Denkstil, wobei er auch die seinerzeit neuen philosophischen Entwicklungen, insbesondere den Kantianismus, berücksichtigte, sowie die neuen liberalen politischen Trends in der Kultur seiner Zeit. Sein Ziel war die Wiederherstellung des Prinzips der Objektivität auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, sowie der Ethik, dem Rechts- und dem politischen Denken. GUIDO VERUCCI
Ross, William David (1877–1971)
W.D. Ross war ein britischer Philosoph für antike Philosophie und Ethik. Hinsichtlich seiner Moralphilosophie war er ein Pluralist, der meinte, dass es mehrere und unterschiedliche moralische Betrachtungsweisen gibt, die die Richtigkeit einer Handlung begründen können. Unter den Dingen, die wir berücksichtigen müssten, 1587
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
seien die von uns abgegebenen Versprechen, die Pflicht einer Vermeidung der Schädigung anderer, Dankbarkeit gegenüber Wohltätern, sowie das Maß des Guten, das unser Handeln hervorbringt. Dass diese Überlegungen moralisch relevant sind, sei etwas, was wir wissen können, aber welche Handlung die richtige sei, bleibe eine Frage des fehlbaren Urteils, denn dies hänge davon ab, wie diese Überlegungen im konkreten Einzelfall zueinander stünden. Ross’ Beitrag zum Studium der antiken Philosophie betrifft hauptsächlich Aristoteles. Er ist jedoch auch für seine Moralphilosophie bekannt geworden. Siehe auch: Intuitionismus in der Ethik DAVID MCNAUGHTON
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) Einführung Rousseau wurde in Genf geboren. Er war der zweite Sohn von Isaac Rousseau, einem Uhrmacher. Seine Mutter starb einige Tage nach seiner Geburt. Aus diesem dunklen Ursprung heraus wuchs er auf und wurde zu einer der bekanntesten intellektuellen Figuren der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und nahm damit einen Platz neben Diderot, Voltaire und anderen als eine Symbolfigur seiner Epoche ein, trotz aller und sehr heftiger Differenzen, die ihn von den Vorgenannten unterscheiden. Er starb 1778; im Jahre 1794 wurden seine sterblichen Überreste in den Panthéon von Paris überführt. Rousseau behauptete immer, dass er es bedauert habe, die Gelehrtenlaufbahn eingeschlagen zu haben. Seine erste Liebe galt der Musik, und er komponierte in den 1740er Jahren mit einigem Erfolg eine Reihe von Opern. Der Wendepunkt seines Lebens ereignete sich im Juli 1749. Er war gerade auf dem Wege zu seinem Freund Diderot, der in Vincennes eingekerkert war. Er las in der Zeitung von einer Preisfrage mit dem Thema, ob die Fortschritte der Wissenschaften und Künste die Moral gehoben hätten. Hierzu wurde er derartig von Ideen überflutet, die diese Frage in ihm hervorriefen, dass er seine Reise abbrechen musste. Der Rest seines Lebenswerks, so behauptete er, war damit thematisch fixiert. Rousseaus hauptsächlicher Anspruch auf Ruhm gründet sich auf seine Ideen über die Moral, die Politik und die Gesellschaft. Seine bekannteste Bemerkung ist vielleicht: „Der Mensch ist frei geboren, doch überall ist er in Ketten.“ Darin offenbart sich seine Bemühung um Fragen der Freiheit im Staate. In seiner Antwort auf die Preisfrage argumentierte Rousseau, dass der Mensch und die Moral verdorben und durch die Fortschritte der höheren Gelehrsamkeit geschwächt seien. Das Ziel der verdienstvollen Hervorhebung vor den anderen habe sich an die Stelle jenes, nützlichen Arbeit zum Wohle aller zu leisten, gestellt. Dieses Thema, nämlich dass die Menschen auf gehässige Weise die Überlegenheit über andere suchen, indem sie diese schlecht machen, verstanden als eine Folge der erbitterten Selbstliebe, durchzieht ganz allgemein Rousseaus Sozialtheorie. Sein Aufsatz ‚Diskurs über die Wissenschaften und die Künste‘ von 1750 erhielt den Preis. Darauf bezogene Fragen stehen auch im Mittelpunkt des tiefgründigeren ‚Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit‘ von 1755. In seinem berühmtesten Werk zur politischen Theorie mit dem Titel ‚Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts‘ (1762) präsentiert Rousseau einen alternativen Ansatz, wie man ei1588
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
ne gerechte und legitimierte zivile Ordnung erreichen könne. Alle Mitglieder der Gesellschaft sollten einen gleichen Platz als Mitglieder der souveränen Autorität einnehmen, und gesellschaftliche Rechte sollten sich aus dem allgemeinen Willen ergeben, durch den die Menschen sich selbst ihre Regeln geben. Nur in einem solchen System, behauptet Rousseau, wird die Menschheit im Sinne der Gleichheit und durch brüderliche Bande gehalten leben und damit sich so vieler Freiheiten und Rechte der Selbstbestimmung erfreuen, wie dies in einer stabilen Gemeinschaft nur irgend möglich sei. Indem er auf diese Weise frei weg für die politische Gleichheit aller eintrat, unabhängig von ihrer Geburt und ihrem Reichtum, wies Rousseau den Weg zur Auflösung des ancien régime und zum Aufstieg einer stärker demokratisch legitimierten Politik. Welchen Einfluss seine Ideen genau auf die Französische Revolution hatten, ist allerdings schwer zu sagen, obwohl sein Name oft genannt wurde. Rousseau schrieb ausgedehnt über die Erziehung. In seinem Buch ‚Émile‘ (Untertitel: ‚Über die Erziehung‘, 1762) versucht er zu zeigen, wie ein Kind frei von aggressiven Wünschen zur Beherrschung anderer aufwachsen könnte. Stattdessen könne ein Kind veranlasst werden, mit anderen auf der Basis gegenseitigen Respekts zusammenzuarbeiten. Er hoffte, hierdurch zeigen zu können, dass seine sozialen Vorschläge kein unrealisierbarer Traum seien. In seinem Werk äußert er auch Kritik an religiösen Dogmen und Kirchengepflogenheiten, die ihm strenge Verurteilungen von dieser Seite einbrachten. Er musste 1762 aus Paris fliehen, um seiner Gefangennahme zu entgehen. Diese und weitere damit zusammenhängende Erfahrungen stürzten ihn in eine langwierige Phase geistigen Elends, in der er ständig meinte, Gegenstand der Verschwörungen anderer zu sein. Diese anderen umfassten auch David Hume, mit dem Rousseau 1766 gehofft hatte, eine Zuflucht in England zu finden. Geistig noch sehr in Aufruhr kehrte Rousseau im darauf folgenden Jahr nach Frankreich zurück, und während seines letzten Lebensjahrzehnts schrieb er zahlreiche Arbeiten der Selbsterklärung und der Selbstrechtfertigung. Deren größte ist seine Autobiographie, die ‚Bekenntnisse‘ (geschrieben zwischen 1764 und 1775 und posthum veröffentlicht), doch es gibt noch weitere recht weitschweifige Arbeiten. Nach einem Unfall im Jahre 1776 scheint sich der schlimmste Teil von Rousseaus geistigen Turbulenzen gelegt zu haben, und sein letztes gehaltvolles Werk, ein Album vermischter Reflexionen über sein Leben, seine Ideen und Erfahrungen (‚Träumereien eines einsamen Spaziergängers‘, 1776–1778) zeigt wieder eine Klarheit und Balance, die ihm für lange Zeit abhanden gekommen war. 1. Leben und Schriften 2. Arbeiten, die zum ‚Gesellschaftsvertrag‘ führten 3. Der ‚Gesellschaftsvertrag’ 4. ‚Émile‘ (oder ‚Über die Erziehung)‘ 5. Umstrittene Werke 6. ‚Die neue Héloïse‘ 7. Autobiographie und andere persönliche Werke 1. Leben und Schriften Rousseau wurde die ersten zehn Jahre seines Leben und nach dem Tode seiner Mutter von seinem Vater groß gezogen. Rousseau folgte bereits in dieser Zeit seiner
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Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
Liebe zum republikanischen Rom durch die Lektüre von Plutarch, die er und sein Vater übten. Diese Liebe, zusammen mit der Vergötterung seiner Geburtsstadt Genf lieferten die Inspiration für zahlreiche seiner politischen Ideen. Nachdem Rousseaus Vater in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt worden war, musste er 1722 aus Genf fliehen, und sein Sohn wurde für einige Jahre zu seiner Cousine geschickt, die nicht weit von Genf entfernt lebte. Diese Phase seiner Jugend wird sehr feinsinnig von Rousseau im 1. Buch seiner ‚Bekenntnisse‘ (1764–1765) wieder wachgerufen. Als er nach Genf zurückkehrte, wurde seine eher niedrige soziale Stellung offenbar, und er wurde einem Graveur namens Abel Ducommun in die Dienste gegeben, einem brutalen und schlecht erzogenen Menschen. Ruhelos und unbefriedigt war Rousseau mehr als glücklich, als er zufällig eines Sonntags im Jahre 1728 vor den Toren der Stadt ausgeschlossen blieb. Er ließ dieses Leben hinter sich und suchte die Hilfe einer katholischen Priesterin namens Baronne de Warens, die ihn zu Françoise-Louise de la Tour weiterschickte, die wiederum über das Geld verfügte, um auch das Leben weiterer Konvertiten zum Katholizismus zu finanzieren. Sie sandte ihn hierzu und zur religiösen Instruktion nach Turin, wo er an der Kirche im April 1728 angenommen wurde. Es ist zweifelhaft, dass Rousseau sich von diesem Prozess geistig sehr vereinnahmt fühlte; er war eher ängstlich darum bemüht, das Interesse anderer an seiner Person zu erhalten. Er nahm eine Reihe von Arbeiten mit jeweils kurzer Dauer in Turin an. Bei einer von diesen log er hinsichtlich des Diebstahls eines Bandes und schob die Schuld einem Dienstmädchen zu. Diese bösartige Tat rumorte für den Rest seines gesamten Lebens in seinem Kopf. Im nächsten Jahr ging er zurück zu Madame de Warens. Er erlernte die Grundlagen der Musik, und seine Leidenschaft für die Musik war fortan einer der beherrschenden Kräfte in dieser Phase seines Lebens. Im Herbst 1731 zog er dauerhaft zu Madame de Warens um. Sie lebten in unschuldigem Vergnügen für einige Jahre zusammen; sie nannte ihn ‚Kleiner‘, und er sie ‚Mama‘. Im Jahre 1733 wurde er ihr Liebhaber, obwohl er diese beinahe inzestuöse Beziehung offenbar niemals genossen hat. Er las gierig während dieser Zeit und schaffte damit die Grundlagen für viele seiner späteren Schriften. Diese Idylle hielt jedoch nicht lange an. Rousseau verlor Madame de Warens Leidenschaft im Jahre 1738. Schwer gekränkt nahm er 1740 den Posten eines Lehrers der beiden Söhne von Jean Bonnot de Mably in Lyon an. Als nicht sehr geschickter Lehrer gab er diese Stellung bereits nach einem Jahr wieder auf, entschlossen, seinen Weg in der großen, weiten Pariser Welt zu machen, wohin er im Jahre 1742 umzog (zwei kurze Aufsätze über die Erziehung datieren aus dieser Zeit). Dort angelangt reichte er bei der Akademie der Wissenschaften eine Arbeit über die musikalische Notation ein; diese wurde im Jahre 1743 unter dem Titel ‚Dissertation über die Moderne Musik‘ veröffentlicht. In diesem Jahr ging Rousseau auch als Sekretär des Französischen Botschafters nach Venedig. Sie stritten sich, und Rousseau kehrte nach Paris zurück, um seine musikalischen Kompositionen wieder aufzunehmen. Um diese Zeit gründete er zusammen mit Thérèse Levasseur, die seine lebenslange Gefährtin blieb, einen Haushalt. Sie schenkte ihm einige Kinder, die er, zu seiner späteren Schande, im Stich ließ. Inzwischen verkehrte Rousseau auch in den aufstrebenden Kreisen der ebenfalls aufstrebenden Pariser Intelligenz. Diderot war sein persönlicher Freund, und es geschah auf dem Wege zu dessen Besuch 1590
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
anlässlich von einer von Diderots gelegentlicher Gefangennahmen, wo Rousseau eine Erfahrung machte, die den Verlauf seines restlichen Lebens bestimmte. Die Akademie von Dijon hatte die Preisfrage ausgeschrieben, ob die Fortschritte der Wissenschaften und Künste auch die Moral vorangebracht hätten. Als Rousseau dies sah, war er so überwältigt von einer Flut von Einsichten, die diese Frage in ihm hervorrief, dass er (nach eigener Aussage) den Rest seines Lebens damit verbrachte, in Worte zu fassen, was er dort in einer Stunde erlebt hatte. Rousseau, der die Frage mit einem festen ‚Nein‘ beantwortete, gewann den Preis, und sein Aufsatz wurde 1750 unter dem Titel ‚Diskurs über die Wissenschaften und die Kunst‘ veröffentlicht. Er war nunmehr bereit, eine neue Laufbahn als Gesellschaftskritiker, Moralist und Philosoph zu beginnen, doch seine letzten Triumphe als Komponist und Musiktheoretiker datieren auch aus dieser Zeit. Seine Oper ‚Le Devin du Village‘ (dt.: ‚Der Wahrsager des Dorfes‘) wurde in Gegenwart des Königs in Fontainebleau im Jahre 1752 aufgeführt, und sein ‚Brief über die französische Musik‘ (1753) rief große Aufregung hervor, indem sie Teil eines groß angelegten Streits über die relativen Verdienste des französischen und des italienischen Musikstils wurden. Rousseau sollte der Pariser Gesellschaft jedoch bald den Rücken kehren. Er schrieb einen weiteren und sehr originellen Aufsatz über soziale Fragen unter dem Titel ‚Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit‘ (1755), zog sich dann aufs Land zurück, um besser über seine neuen Interessensgebiete meditieren und schreiben zu können, was ihm die Verachtung vieler seiner vormaligen Freunde zuzog. Um diese Zeit kehrte er auch zum protestantischen Glauben seiner Kindheit zurück und forderte wieder seine Bürgerrechte in Genf ein. Der ‚Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit‘ enthält eine leidenschaftliche Widmung an Genf. Während der nächsten sechs Jahre schrieb Rousseau den größten Teil seiner besten Werke: sein Meisterwerk über die Erziehungstheorie, ‚Émile‘ (1762), zur politischen Theorie ‚Der Gesellschaftsvertrag‘ (1762), aber auch den sich sehr gut verkaufenden Roman ‚Die neue Héloïse‘ (1761) und eine Menge kleinerer Werke: den ‚Brief an M. D’Alembert über das Theater‘ (1758), den ‚Brief an Voltaire über die Vorsehung‘ (1756), die ‚Moralischen Briefe‘ (1757–1758) an Sophie d’Houdetot, die Rousseau zu dieser Zeit verzweifelt liebte. Die Katastrophe brach über Rousseau im Jahre 1762 nach der Veröffentlichung von ‚Émile‘ herein. Ein Abschnitt davon, das so genannte ‚Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars‘, wurde seitens der religiösen Autoritäten als unakzeptabel verurteilt, und außer sich vor Angst, inhaftiert zu werden, floh Rousseau im Juni 1762 aus Paris. Unstete Jahre folgten hierauf, von denen er die meisten in unterschiedlichen Teilen der Schweiz verbrachte. Rousseau schrieb in dieser Zeit ausführlich zu seiner Verteidigung und der seines Werks, einschließlich des ‚Briefes an Christophe de Beaumont, Erzbischof von Paris‘ (1763), den er als Antwort auf die Verdammung für das ‚Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars‘ verfasste, sowie seine ‚Briefe, aus den Bergen geschrieben‘ (1764) als Antwort auf die Kritik an ihm seitens des Genfer Generalstaatsanwaltes. Von Januar 1766 an verbrachte Rousseau mehr als ein Jahr in England, und zwar auf Einladung und in Begleitung von David Hume. Rousseau, eine beinahe immer überempfindliche und abergläubische Person, wurde zu dieser Zeit von einem ernsthaften paranoiden Zusammenbruch überwältigt und geriet in den Bann der Überzeugung, dass Hume sich gegen ihn verschworen hatte, um ihn zu demütigen. Eine Darstellung dieser traurigen Episode stammt von 1591
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
Hume (‚A Concise Account‘, 1766). Erschöpft und krank kehrte Rousseau im Frühjahr 1767 nach Frankreich zurück und suchte Zuflucht in sicherer Entfernung vor dem Blick der Öffentlichkeit in der Nähe von Grenoble, wo er Thérèse heiratete. Die öffentliche Meinung drehte sich allmählich, und im Jahre 1770 kehrte er nach Paris als eine gefeierte Figur und Gegenstand der Neugierde zurück, obwohl er immer noch nicht schreiben oder über strittige Gegenstände öffentlich sprechen durfte. Trotz seines geistigen Elends hatte Rousseau seit 1764 an seiner großen Autobiographie, den ‚Bekenntnissen‘ gearbeitet. Er vollendete den ersten Teil um 1770. Einiges davon las er privat vor; dies wurde daraufhin ebenfalls verboten. Andere persönliche Werke nahmen den Großteil seines letzten Lebensjahrzehnts ein. Es gibt einen ausführlichen Aufsatz zur Selbstverteidigung und Rechtfertigung unter dem Titel ‚Rousseau, Richter von Jean-Jacques: Dialoge‘ (1772–1776). Seine Fertigstellung markiert einen weiteren Höhepunkt verzweifelter geistiger Schmerzen, als er versuchte, das Manuskript auf dem Altar von Nôtre Dame abzulegen. Später im Jahre 1776, auf dem Rückweg von einem Spaziergang nach Hause, wurde Rousseau durch einen Hund niedergerissen. Dieser Unfall scheint seinen Geist auf wunderbare Weise geklärt zu haben, und seine letzte Arbeit, die (‚Träumereien eines einsamen Spaziergängers‘ (1776–1778) zeigt eine Einfachheit und Klarheit, die vielen der Werke seiner vorangehenden Jahre fehlt. Nicht alle seiner Werke waren indessen der Selbstrechtfertigung gewidmet. Er schrieb ausführlich über die politischen Probleme Polens (‚Betrachtungen über die Regierung von Polen‘, 1769–1770), bereitete ein ‚Wörterbuch der Musik‘ (1767) vor und botanisierte eifrig, wobei er auch einige kurze Arbeiten zu diesem Thema schrieb (‚Einführende Briefe zur Botanik‘ und ‚Wörterbuch botanischer Ausdrücke‘ [unvollendet]). Er starb in Ermenonville im Juni 1778; Thérèse überlebte ihn um zweiundzwanzig Jahre. Bei Rousseau ist es sinnvoll, stärker über sein Leben zu informieren, als dies sonst für die meisten Philosophen oder politischen Theoretiker üblich ist, da sich ein so großer Teil seines Werks aus Ereignissen seines Lebens ergibt oder direkt von ihm selbst handelt. Dies gilt allerdings nicht für seine Hauptwerke der sozialen und politischen Theorie, und zwar genau deshalb nicht, weil sie rein theoretische Werke sind. Sie liefern eine sehr solide Grundlage für Rousseaus Ansehen. Diese werden nun folgend dargestellt. 2. Arbeiten, die zum ‚Gesellschaftsvertrag‘ führten Vom Jahre 1750 an entwickelt Rousseau immer tiefer führende und ausgefeiltere Ideen über den Ursprung und das Wesen der conditio humana in der Gesellschaft, sowie darüber, was getan werden könnte und sollte, um diese Situation zu verbessern. Seine Diskussionen dieser Themen in seinem ersten ernsthaften Werk, dem ‚Diskurs über die Wissenschaften und die Kunst‘, sind noch ziemlich flach. Er macht geltend, dass das zunehmende wissenschaftliche Wissen und die Verfeinerung der Künste und der Gelehrsamkeit keineswegs eine Verbesserung der Moral mit sich bringe, weder beim Einzelnen, noch bei der Gesellschaft als Ganzer. Im Gegenteil, eine solche Verfeinerung sei nur der Anstoß zu Luxus und Müßiggang und habe hauptsächlich zum Erblühen der Eitelkeit der Menschen und zu ihrem Wunsch nach öffentlicher und aggressiver Selbstdarstellung beigetragen. Alle diese Merkmale würden gegen die moralischen Tugenden der Loyalität gegenüber dem 1592
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
eigenen Land, dem Mut zu seiner Verteidigung und der Hingabe an nützliche Berufungen arbeiten. Rousseau gibt zu, dass es einige wenige sehr begabte Menschen gebe, die wirklich die Menschheit durch ihre Ideen bereicherten. Aber die Mehrheit der Menschen habe sich nicht verbessert, sondern ihr Zugang zur ‚höheren Bildung‘ habe ihr geschadet. Dieser Aufsatz zog erhebliche Aufmerksamkeit auf sich und gab Anlass zu einer Reihe von Erwiderungen, auf die Rousseau wiederum bedachtsam antwortete. Er setzte seine sozialkritischen Arbeiten aber nicht sogleich fort. Seine musischen Interessen kamen dazwischen, doch einige seiner sozialen und moralischen Ideen verflochten sich sogar damit. In seinem ‚Brief über die französische Musik‘ (1753) kritisierte Rousseau die französische Musik als monoton, dünn und ohne Farbe, weil die gesprochene Sprache (auf die alle Musik nach seiner Auffassung zurückgehe), ebenso sei. Dies verhielte sich so, erklärt Rousseau in seinem ‚Aufsatz über den Ursprung der Sprachen‘ (1755–1760, unvollendet), weil die französische Sprache durch die Kommandos des Rufens nach Hilfe und der Kontrolle über andere Menschen geformt sei, was vor allem Härte und Klarheit verlange. In wärmeren südlichen Klimata sei es der süße Akzent der Liebe und der Leidenschaft, welcher die Sprache koloriere; daher komme die Überlegenheit der italienischen Oper. Die sozialen und politischen Umstände prägen also nach Rousseau sogar noch das Wesen der Musik einer Kultur. Eine wirksame Regierung verlangt auch nach einer scharfen, eindrucksvollen Ausdrucksweise, behauptet er, und es ist der Ursprung und die Funktion der Regierung, denen sich Rousseau in seinem so genannten zweiten Diskurs, dem ‚Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen‘ zuwendet, und die diesem Werk seinen Titel gaben. Dies ist ein sehr gehaltvoller Essay und eines von Rousseaus wichtigsten Werken. Im ‚Diskurs über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit‘ stellt Rousseau den ‚Fall‘ der natürlichen Menschheit, ihre Degeneration und Verderbtheit dar, sobald sich die Menschen mit anderen zu Stämmen, Gesellschaften und schließlich Staaten zusammentun. Der natürliche Mensch (der ‚edle Wilde‘) ist, wenn man ihn seiner natürlichen Umgebung überlässt, selbstgenügsam, weitgehend von gegenwärtigen Empfindungen eingenommen, ohne Vorausschau noch Erinnerung, einsam, friedliebend; außerdem schlafe er tatsächlich meistens. (Rousseau hat hier vielleicht den Orang-Utan im Kopf gehabt.) Widrige Umstände und eine zahlenmäßige Zunahme der Menschen als Folge hastiger Paarung in einem Wald, der bar aller künstlichen Fälle der romantischen Liebe sei, zwängen den Menschen zum Zusammenleben. Sexueller Neid, Herrschsucht und Verteidigungsgefühle wüchsen, wenn die Menschen voneinander Wertschätzung und Ehrerbietung verlangten. Die amour propre, eine ängstliche Sorge als Tribut, den man für seinen sozialen Status zahle, ersetze die amour de soi, die eine gesunde Sorge um das eigene natürliche Wohlergehen sei. Die Menschen begännen um den Vorrang zu konkurrieren, und das Leben sei getränkt von Aggression und Bösartigkeit. Diejenigen, die die Vorherrschaft erlangt hätten, würden sich darauf verschwören, um ihre Position zu sichern. Sie geben vor, dass jedermann sich eine friedlichere und stabilere Gesellschaft wünsche, was man nur durch einen Regierungsapparat erreichen könnte, sowie durch Gesetze und Bestrafung. Damit aber konsolidierten sie nur den status quo ohne Rechte und Gerechtigkeit, und handelten nur zur Erhaltung ihrer ungerechtfertigten Privilegien und zur Unterdrückung der Schwachen. 1593
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
Dieser außerordentlich umstürzlerische Essay scheint keine offizielle Zensur ausgelöst zu haben. Dies kam erst später im Zusammenhang mit anderen Werken. Rousseaus weiterer bedeutender Essay zu politischen Themen aus dieser Zeit ist der so genannte ‚Diskurs über die politische Ökonomie‘ (1755, das erste Mal separat im Jahre 1758 veröffentlicht), der anfangs als Beitrag für Diderot und D’Alemberts ‚Enzyklopädie‘ (1751–1772) veröffentlicht wurde. Dies ist ein sehr eloquent geschriebener Text; er zeigt klar Momente einer Vorstudie zum ‚Gesellschaftsvertrag‘. Es geht viel um die Idee der Souveränität aller Menschen über sich selbst, die ihre legislative Absicht durch die volonté générale, den Gemeinwillen, äußern. Er betont die Notwendigkeit des kultivierten, patriotischen, republikanisch-loyalen Bürgers, wenn eine gerechte Gesellschaft von Gleichen, vereint durch die gemeinsame Sorge und den gegenseitigen Respekt, jemals entstehen und überleben soll. Der Aufsatz endet mit einer Diskussion der Besteuerung und fiskalischer Fragen, aber die grundsätzliche Kraft der Argumentation liegt in der Diskussion der Quelle legitimen Rechts, nämlich ‚dem Volk‘. Es ist diese Frage, die Rousseau zum Kern seines heute berühmtesten Werks macht, dem ‚Gesellschaftsvertrag‘. 3. Der Gesellschaftsvertrag Dieses Werk wird allgemein als ein wesentlicher Beitrag zum Kanon der klassischen Werke der politischen Theorie und als Rousseaus Meisterwerk betrachtet. Viele Menschen lesen nichts weiter von ihm. Dies ist jedoch schade, denn viele der dort besprochenen Themen sind unnötig schwer zu verstehen, wenn sie isoliert rezipiert werden. Der Text ist in gewisser Weise auch etwas dürftig konzipiert und verwendet Ideen aus verschiedenen Epochen in Rousseaus Entwicklung. Wie er in der Einführung zu dem Werk selbst sagt, sei dies das einzige Überbleibsel eines Projektes, das er schon viele Jahre zuvor begonnen habe. Wir müssen diese Arbeit jedoch so nehmen, wie sie ist. Das gegenwärtige Ansehen des Textes wird zeitgenössische Leser vielleicht überraschen. Der ‚Émile‘ war als ein aufwieglerisches Werk gedacht, und ‚Die neue Héloïse‘ wird als die vollkommenste Darstellung des Rousseauschen Genies betrachtet. Hume betrachtete Rousseaus eigene Auffassung im ‚Gesellschaftsvertrag‘ sicherlich als ziemlich absurd. Der ‚Gesellschaftsvertrag‘ ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Das 1. Buch handelt von der richtigen Grundlage zur Herstellung einer legitimen politischen Ordnung. Das 2. Buch behandelt den Ursprung und die Funktionen des Souveräns innerhalb dieser Ordnung. Das 3. Buch betrachtet die Rolle der Regierung, die Rousseau als Stellvertreter im Staate betrachtet, die ihre Macht vom Souverän ableitet. Und das 4. Buch handelt mehr von Fragen der gerechten Gesellschaft, schildert die römische Republik recht ausführlich, sowie die Funktionen der bürgerlichen Religion. Es ist wichtig, immer im Auge zu behalten, dass das Buch den Untertitel ‚Die Prinzipien des politischen Rechts‘ trägt. Rousseaus umfassendes Interesse ist normativer Art, auf einer Grundlage aus Legitimität, Gerechtigkeit und Rechten, und nicht nur aus de facto politischen Strukturen. Eine nützliche kurze Zusammenfassung der grundlegenden Themen des Werks enthält das 5. Buch des ‚Émile’ als Darstellung von Émiles politischer Erziehung. Rousseau macht geltend, dass es der Mangel an individueller Selbstgenügsamkeit sei, der uns dazu dränge, uns mit anderen zur Gesellschaft zusammenzuschließen. Wenn wir dies aber tun, so täten wir dies nicht mit dem Einverständnis in unsere 1594
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
Versklavung als Preis des Überlebens. Freiheit ist ein wesentliches menschliches Bedürfnis und das Kennzeichen der Menschlichkeit. Reines Überleben ohne Freiheit ist kein menschliches Leben. Rousseau behauptet, dass die Freiheit und die Vereinigung von Menschen nur dann zusammenpassen, wenn alle Personen der Vereinigung den Souverän für diese Vereinigung bilden, d.h. den letzten und maßgeblichen Rechtskörper, der das Gesetz für verbindlich erklärt, durch das die Menschen sich selbst zu binden wünschen. Dieses Gesetz ist eine Erklärung des Gemeinwillens. Der Begriff des Gemeinwillens ist ganz zentral in Rousseaus Theorie der politischen Legitimation (siehe Gemeinwille). Leider ist er jedoch ein undurchsichtiger und umstrittener Begriff. Einige Kommentatoren sehen in ihm nicht viel mehr als die Diktatur des Proletariats oder die Tyrannei der Armen in den Städten (so wurde der Begriff vielleicht in der Französischen Revolution verstanden). Das ist aber nicht die Bedeutung, die Rousseau ihm beilegen wollte. Dies ergibt sich aus dem ‚Diskurs über die politische Ökonomie‘, wo Rousseau betont, dass der Gemeinwille zum Schutz des Einzelnen gegen die Masse existiert; er fordert nicht etwa, dass der Einzelne der Masse geopfert wird. Er ist sich natürlich scharf darüber bewusst, dass die Menschen selbstsüchtige und unterschiedliche Interessen haben, was sie dazu bringt, andere zu unterdrücken. Aus diesem Grunde muss die Loyalität gegenüber dem für alle gemeinsamen Guten die oberste Verpflichtung (wenn auch nicht die einzige) von jedermann sein, und zwar nicht nur, wenn ein wirklicher Gemeinwille beachtet werden soll, sondern auch, wenn er erfolgreich vor allem anderen formuliert werden soll. Dieses Thema wird im 2. Buch aufgegriffen. Hier beruft sich Rousseau auf das Charisma eines quasigöttlichen Gesetzgebers, um die Menschen zu inspirieren, das Gute über ihre eigenen beschränkten und selbstsüchtigen Interessen zu stellen und dadurch ein größeres Gut für sich selbst zu gewinnen. Im Verlauf dieses Buches spielt Rousseau auf die Korsen als ein Volk an, das die Gefühle und die Fähigkeiten zum Erlass gerechter Gesetze habe und damit zu einem guten Staat (2. Buch, 10. Kap.). Seine Nebenbemerkung, „ich habe das Gefühl, dass dieses kleine Eiland eines Tages Europa in Erstaunen versetzen wird“, hat einige phantasievolle Menschen zu der Annahme veranlasst, er habe den Aufstieg Napoleons vorausgesehen. Das 3. Buch des Gesellschaftsvertrages handelt von der Rolle der Regierung. Rousseau weiß, dass Regierende oft in ihrem eigenen Interesse herrschen, und nicht im Interesse ihrer Gemeinschaft. Aus diesem Grunde macht er geltend, dass Regierungsfunktionen gründlich dem souveränen Urteil des Volkes unterworfen sein müssten, und dass es wesentlich sei, die Form und Macht der Regierung an die Umstände unterschiedlicher Staaten anzupassen, z.B. ihre Größe, ihre Verteilung etc. Es überrascht immer noch die Leser, dass Rousseau keine besondere Begeisterung für die demokratische Regierung zeigt. Natürlich handelt es sich bei der Verfassung und den Funktionen des Volkssouveräns um etwas anderes. Das 4. Buch hat einen etwas zerstückten Charakter. Rousseau diskutiert die römische Republik recht ausführlich, hauptsächlich um sie als Modell zu präsentieren, von dem aus gesehen nach seiner Auffassung ein furchtbarer Niedergang stattgefunden hat. Er diskutiert aber auch die bürgerliche Religion und bringt vor, dass die göttlichen Sanktionen den Zivilgesetzen angefügt werden sollen, um den Gehorsam ihnen gegenüber damit zu sichern, und zwar auch hinsichtlich der Loyalität der Menschen gegenüber dem gemeinsamen Guten aller in ihrer Nation. 1595
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
Rousseau stellte in das Zentrum seiner Vision des politischen Rechts die Union der freien und gleichen Menschen, die sich selbst die Gesetze geben, unter denen sie dann ihr Leben als Bürger miteinander in ihrem eigenen Staate führen. Damit schilderte er eine Form der politischen Gemeinschaft, die in der Folge eine große Anziehung und einen ebensolchen Einfluss auf die moderne politische Vorstellungswelt ausübte. Wir lernen immer noch, mit den Folgen dieser Attraktion zu leben. Rousseaus politisches Interesse beschränkte sich nicht auf die Theorie allein. Bei zwei Gelegenheiten trat man an ihn zwecks Hilfeleistung in politischen Angelegenheiten und verfassungsrechtlichen Problemen von Ländern heran. Im Jahre 1764 schrieb er ein unvollendetes Fragment, den ‚Entwurf einer Verfassung für Korsika‘, als Antwort auf ein Hilfeersuchen seitens der korsischen Rebellen und deren Beratung. In den Jahren 1769–1770 schrieb dann Rousseau nochmals ausführlich über die konstitutionellen und legislativen Probleme, dieses Mal in Polen (‚Betrachtungen über die Regierung von Polen‘), und zwar als Antwort auf eine Anfrage von Personen, die sich der russischen Vorherrschaft widersetzten. Dieses Werk, das zu Rousseaus Lebzeiten nicht vollständig veröffentlicht wurde, ist ein wesentlicher Aufsatz, der ein starkes Licht darauf wirft, wie sich Rousseau zu seinen theoretischen Begriffen stellt, wenn er sie in historisch spezifischen Situationen anwandte. Er offenbart hier viele gewitzte und nüchterne, praktische Einsichten. 4. ‚Émile‘ (oder ‚Über die Erziehung‘) Es deutet einiges darauf hin, dass Rousseau den ‚Émile‘ als sein reifstes und am besten gelungenes Werk betrachtete. In seinem sich selbst bewertenden ‚Rousseau, Richter von Jean-Jacques: Dialoge‘ (1772–1776) bezeichnet er es als das Buch, in dem jemand, der ihn wirklich verstehen will, seine Ideen am tiefsten und umfassendsten ausgedrückt findet. Die Nachwelt hat diese Bewertung, vielleicht zu Unrecht, nicht allgemein bestätigt. Wann genau er mit der Arbeit am ‚Émile‘ begann, ist unklar, aber es muss um das Jahr 1759 herum gewesen sein, als Rousseau auf der Höhe seiner schöpferischen Kräfte war. Der unmittelbare Anlass hierzu scheint eine Anfrage aus dem Kreise einer seiner weiblichen Bekannten gewesen zu sein, um ihr Rat zu geben über die Erziehung ihrer Kinder; und tatsächlich lautet der Untertitel des Buches auch ‚Über die Erziehung‘. Innerhalb dieses Rahmens teilt uns Rousseau jedoch seine tiefsten Vorstellungen über die Ursprünge des menschlichen Bösen und die Boshaftigkeit mit, sowie die Aussichten auf ein erfülltes und glückliches Leben. Der ‚Émile‘ ist als ein Roman über die Erziehung eines jungen Mannes namens Émile strukturiert, dem der Schmerz und der Verlust durch menschliche Verderbtheit erspart bleibt und sich stattdessen vollkommen entwickelt, indem er den Lehren der ‚Natur‘ folgt. Das Werk enthält darüber hinaus in seinem 4. Buch einen langen und mehr oder weniger für sich selbst stehenden Aufsatz über die Grundlage und das Wesen des religiösen Glaubens, der als ‚Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars‘ betitelt ist. Rousseau legt seine religiösen Ideen in den Mund eines fiktiven Priesters, wenn auch auf der Grundlage von Priestern, die er zuvor kennen gelernt hatte. Dieser Abschnitt verursachte die Verdammung durch die katholischen Autoritäten und führte zur Verbrennung des Buches im Juni 1762. Rousseau floh daraufhin aus Paris und war für beinahe zehn Jahre zu Elend und Exil verdammt. Er schrieb
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1763 zur Verteidigung dieser religiösen Ideen recht ausführlich seinen ‚Brief an Christophe de Beaumont, Erzbischof von Paris‘ (siehe § 5). Rousseau meinte, dass infolge des Wesens und der Grundlage ihrer sozialen Beziehungen und der gegebenen bürgerlichen Ordnung die meisten Männer und Frauen der Gesellschaft seiner Zeit verdorben seien und ihr Leben deformiert (siehe § 2). Dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur durch die Gesellschaft pervertiert, ist vielleicht das beherrschende Thema des ‚Émile‘. Wenn also eine Person ein erfülltes und lohnendes Leben führen soll, müsse sie zunächst vor schädlichen Einflüssen geschützt und dann mit den persönlichen Ressourcen sowie den emotionalen und moralischen Dispositionen ausgestattet werden, die sie in die Lage versetze, sich auf eine schöpferische, harmonische und glückliche Weise zu entwickeln, sobald sie in die Gesellschaft eintrete. Die Hauptdiskussionen im ‚Émile‘ sind dem Studium der tiefsten Ursachen der Gesundheit bzw. der Krankheit in der menschlichen Entwicklung gewidmet, und zwar auf jeder Stufe des Wachstums und der Reifung einer Person von der Kindheit bis zum Erwachsensein, d.h. sowohl die dem Einzelmenschen inneren Ursachen, als auch jene, die auf äußere Einflüsse zurückgeht. In der frühen Kindheit sind es die Neigung zu tyrannischer Wut und launischen Forderungen nach unmittelbarer Erfüllung der eigenen Wünsche durch andere, die gebremst werden müssen. Kinder dürften sicherlich nicht gequält werden, aber man dürfe ihnen gegenüber auch nicht einfach nachsichtig sein, denn dies ließe nur falsche Erwartungen entstehen und führe womöglich dazu, dass sie mit Rückschlägen noch schlechter fertig werden. Kinder sollten auf eine regelmäßige, vorhersehbare und methodische Weise behandelt werden, auch wenn sie zunächst noch nicht mit anderen Menschen in Kontakt kämen. So lernten sie auf eine praktische und wirkungsvolle Weise mit konkreten Fragen umzugehen, und sich nicht in Willensstreitigkeiten und Diskussionen um die Vorherrschaft zu verwickeln. Das Romanmotiv eines Lebens nach der Natur, d.h. nach unseren verfügbaren Kräften und den wirklichen Umständen, setzt sich mit der Reifung von Émile fort. Als er seinen Platz in der Gesellschaft finden muss, versucht er nicht, alle Menschen um sich herum zu kontrollieren und ist folglich auch nicht traurig, wenn dies nicht gelingt, als wäre er ein Despot. Stattdessen versucht er Beziehungen aufzubauen, die auf Freundschaft, gegenseitigem Respekt und dem Willen zur Zusammenarbeit gegründet sind, wie sie für endliche und bedürftige Wesen normal sind. Unsere Fähigkeit zum gegenseitigen Mitgefühl und unsere dankbare Reaktion auf bezeigtes Mitgefühl ist, nach Rousseau, die Grundlage der menschlichen Vereinigung und die wahre Erklärung der ‚Goldenen Regel‘. Wirkliche moralische Forderungen würden uns nicht von außen auferlegt, noch handele es sich dabei um Vorschriften, die durch die Vernunft entdeckt werden (womit Rousseau ein klarer Opponent der kantischen Grundlegung der Moral ist, siehe Kant, I.). Stattdessen sind sie Ausdruck der Forderungen, durch die ein Band des schöpferischen Respekts zwischen Gleichen aufrechterhalten werden kann. Dieselbe Frage einer Aufrechterhaltung der Selbstbeherrschung und der gegenseitige Respekt formt Rousseaus Behandlung der Ehe und der sexuellen Beziehungen im 5. Buch. Eine solche intime Einheit halte die größte Hoffnung des menschlichen Glücks bereit, könne aber auch zur Versklavung gegenüber den Launen der oder des Geliebten führen. Feministische KritikerInnen fanden Rousseaus Schilderung von Sophies Charakter und Rolle (Émiles Auserko-
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rene) insofern fragwürdig, als sie stereotyp weitgehend passiv und den traditionellen Hausarbeiten hingegeben dargestellt wird. In den strittigen Fragen zum religiösen Glauben wendet Rousseau ein, dass wir Gott nicht durch die Vernunft kennen lernten, sondern durch einfache Gefühle und Überzeugungen, die viel tiefer und dauerhafter seien als jedes Theorem der Vernunft. Solche Gefühle lehrten uns, dass die Welt durch eine liebevolle und mächtige Intelligenz belebt sei, nämlich Gott. Rousseau verwendet einige Mühe zur Deunzierung religiöser Parteilichkeit und Intoleranz, die er für vollkommen unvereinbar mit der Aufforderung Christi zur Liebe und zum Vergeben hält. Es besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass dies Rousseaus eigene Gedanken sind. Die rhetorische Distanz durch die Figur des Vikars ist nur geringfügig. In seinen tiefen und psychologisch subtilen Einsichten über den Schaden durch Aggression zeigt Rousseau im Émile nicht nur hinsichtlich der Opfer von Aggression, sondern auch auf komplexere und verborgene Weise hinsichtlich der Aggressoren selbst die Größe seines Geistes. 5. Umstrittene Werke Rousseau nahm die Verdammung des ‚Glaubensbekenntnisses eines savoyischen Vikars‘ nicht auf die leichte Schulter. Praktisch sofort, nachdem er sich nach seiner Flucht aus Paris wieder niedergelassen hatte, schrieb er eine langatmige Antwort auf die Kritik an seiner Arbeit durch den Erzbischof von Paris, Christophe de Beaumont. Verfasst in der Form eines Briefes verteidigt Rousseau die Grundpositionen seines Werks. Er habe immer geltend gemacht, so sagt er, dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur von der Gesellschaft verdorben würde. Es sei deshalb ein Rätsel, warum sein Werk plötzlich der Verdammung preisgegeben worden sei. Hieran schließt sich eine Antwort, Punkt für Punkt, auf die Kritik des Erzbischofs an, in der er vorbringt, dass die Religion der Priester und die Dogmen der Kirche niemals mit dem Evangelium der wahren Barmherzigkeit und der von Christus gelehrten Liebe verwechselt werden dürften. Dieser ‚Brief an Christophe de Beaumont, Erzbischof von Paris‘ wurde im Jahre 1763 veröffentlicht. Er endet mit einer Feststellung der Selbsterhöhung. Statt also beschimpft zu werden, meint Rousseau, solle man eher Statuen von ihm in ganz Europa errichten. Genau ein Jahr später veröffentlichte Rousseau seine ausführlichen ‚Briefe, aus den Bergen geschrieben‘. Im Jahre 1763 hatte sich der Generalstaatsanwalt von Genf, Jean-Robert Tronchin, im Sinne der Kirchenautorität ausgesprochen und deren Verdammung von Rousseaus Texten in seinen ‚Briefen, vom Lande aus geschrieben‘ bestätigt (daher Rousseaus gegensätzlicher Titel in den späteren Briefen). Und wieder antwortete Rousseau ausführlich, indem er einwandte, dass das Genfer politische System sehr verdorben sei, und indem er erneut die Grundsätze und Prinzipien seines Denkens vorbrachte. Diese beiden Arbeiten datieren aus der Periode direkt nach der Verdammung von Rousseaus berühmtesten Werken. Aber schon vorher war er an einigen strittigen Fällen beteiligt. Im Jahre 1758 schrieb er den ‚Brief an M. d’Alembert über das Theater‘, in dem er geltend machte, dass die Schaffung eines Theaters in Genf die Ehrenmoral und die bürgerliche Integrität dieses Stadtstaates verderben würde. Dies stand im Gegensatz zu d’Alemberts Argument, das in einem Artikel über Genf für die ‚Enzyklopädie‘ veröffentlicht wurde und besagte, dass ein Theater das kulturelle Leben dieser Stadt befördern würde. Eine solche 1598
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Verfeinerung ist aus Rousseaus Sicht jedoch kein Vorteil. Sie ginge einher mit allerhand Schwindelei und einer Aufgabe der moralisch zu empfehlenden Tätigkeiten. Rousseau schreibt hier mit großer Leidenschaft und greift auf einige seiner Themen im ersten Diskurs, dem ‚Diskurs über die Wissenschaften und die Künste‘, zurück. Zu einem ähnlichen Zusammenstoß zwischen der städtischen Zivilisation und dem, was Rousseau gerne als seine eigene Klarheit und Einfachheit des Herzens gesehen hätte, kommt es auch in dem Briefwechsel mit Voltaire über die göttliche Vorsehung (geschrieben 1756; Voltaire hat vielleicht auch Einfluss auf d’Alembert ausgeübt). Voltaire hatte sich in seinem Gedicht über das Erdbeben von Lissabon verächtlich über Leibniz‘ Optimismus geäußert, dass alles nur zum Besten in der besten aller möglichen Welten geschehe. Rousseau kontert hierauf, dass man seine Gewissheit in die Vorsehung Gottes auf das Gefühl stellen müsse, nicht auf die Subtilitäten der philosophischen Vernunft. Und für sich persönlich sagt er, dass es überraschend sei, den wohlhabenden und erfolgreichen Voltaire als jemanden zu finden, der sich gegenüber Gott beklagt, und er, Rousseau, der in Armut und Verborgenheit lebe, nur die Gnade der Existenz sehe. Dieser ‚Brief an Voltaire über die Vorsehung‘ enthält auch einige sehr scharfe Argumente gegen die religiöse Intoleranz, die die Ideen des ‚Glaubensbekenntnisses eines savoyischen Vikars‘ vorwegnehmen. Rousseaus umstrittene Schriften gehören zu seinen eloquentesten, auch wenn sie im Allgemeinen nicht viel zu unserer Wertschätzung seiner intellektuellen Gesamtleistung beigetragen haben. 6. ‚Die neue Héloïse‘ Außerhalb des engen Kreises der Intelligenz und ihrer aristokratischen Schutzherren war Rousseau vielleicht zu Lebzeiten am bekanntesten für seine Novelle über die verbotene Leidenschaft, die Versöhnung und die Erhabenheit über sich selbst, ‚Julie oder die neue Héloïse‘. Zu einer Zeit, als Arbeiten an unterschiedlichen Sachgebieten noch nicht so scharf bestimmten Disziplinen zugewiesen waren, sah beispielsweise David Hume in dieser Novelle den vollkommensten Ausdruck von Rousseaus Genie und konnte nicht verstehen, warum Rousseau den ‚Gesellschaftsvertrag‘ offenbar höher schätzte. Rousseau äußerte sich überrascht und bestürzt, dass er ein solches Werk geschrieben hatte. Im Jahre 1756 hatte er dem Gewächshaus der modischen Pariser society den Rücken gekehrt und wollte sich für den Rest seines Lebens der Arbeit für das Gute der Menschheit widmen. Als er jedoch einsame Spaziergänge im Wald von Montmorency unternahm, wurde er von einer vorgestellten Welt der Leidenschaften und der verbotenen Liebe eingenommen. In einem Fieber erotischer Ekstase schrieb er den ersten der Briefe zwischen Julie, ihrem Lehrer-Liebhaber Saint-Preux und ihrer Freundin und Cousine Claire. Saint-Preux gesteht seine Liebe zu Julie, eine Liebe, die sie mittels intimer Gespräche abzuwenden sucht, in denen sie ihn anweist, tugendhaft und rein zu bleiben. Natürlich klappt dies nicht, und am Ende ergibt sie sich ihm in Leidenschaft. Aber ihr Vater hat anderes mit ihr vor. Sie wird mit dem Baron de Wolmar verlobt; Saint-Preux verlässt sie, und kehrt kurz darauf zurück, um erneut ihr Lehrer zu werden, diesmal jedoch von Julies beiden jungen Söhnen. Wolmar, der inzwischen von ihrer früheren Intimität erfahren hat, lässt Julie und Saint-Preux auf seinem Muster-Gutshof in Clarens allein. Saint-Preux gesteht, dass er niemals aufgehört habe Julie zu lieben. Doch die Novelle endet tragisch mit dem 1599
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Tod von Julie, die sich eine Lungenentzündung zugezogen hat, nachdem sie eines ihrer beiden Kinder vor dem Ertrinken rettete. Als Rousseau dieses Werk schrieb, schien die Natur die Kunst nachzuäffen. Sophie d’Houdetot, die Schwägerin von Madame d’Épinay, in deren Haus Rousseau zu dieser Zeit lebte, besuchte ihn, und Rousseau verliebte sich in sie. Er sah in ihr die Inkarnation seiner vorgestellten Julie. Die Beziehung hatte jedoch keinen Bestand. Rousseau wurde krankhaft misstrauisch, dass seine Liebe als der eines Mannes mittleren Alters durch seine früheren Freunde hinter seinem Rücken verspottet würde. ‚Die neue Héloïse‘ wurde im Jahre 1761 veröffentlicht und avancierte zum Verkaufsschlager. Sie wird heute nur noch selten gelesen, außer um sich mit Ideen zu versorgen, die Rousseaus soziale und politische Philosophie stärker erhellen könnten. Wolmars Muster-Gutshof wird manchmal als das bezeichnet, was Rousseau als seine eigene Vision einer idealen Gemeinschaft vor Augen hatte, d.h. mit einer rigiden und paternalistischen Kontrolle und einer durchdringenden Manipulation seiner Bewohner durch einen alles sehenden, alles wissenden Wolmar. Es ist jedoch kaum klar, ob dies Rousseaus Absicht war. Die Tatsache, dass Julie stirbt, obwohl sie in Clarens lebt, könnte so gedeutet werden, dass dieser Ort keine für Menschen angemessene Heimstatt sei. Der Rest von Rousseaus literarischer Produktion hat geringen Umfang. Er umfasst eine Reihe meist kurzer Gedichte, die aus den 1740er Jahren datieren und einige ebenfalls zum größten Teil frühe Theaterstücke, von denen wiederum eines, ‚Narcissus’ im Jahre 1752 sogar zur Aufführung kam, und für das Rousseau ein gehaltvolles Vorwort schrieb, in dem er erklärt, wie diese Theaterstück zu seiner politischen und sozialen Polemik gegen die bürgerliche Gelehrsamkeit passe. 7. Autobiographie und andere persönliche Werke Ungefähr die letzten zehn Jahre widmete Rousseau vor allem dem Schreiben seiner Autobiographie und anderen wichtigen Essays der Selbsterklärung und -rechtfertigung. Einige Vorahnung hiervon findet sich bereits in seinen vier ‚Briefen an Malesherbes‘, geschrieben im Jahre 1762, genau vor der Katastrophe der Verdammung des ‚Émile‘ und des ‚Gesellschaftsvertrages‘. Malesherbes, obwohl er amtlicher Zensor war und damit wahrscheinlich Rousseaus subversiven Ideen misstrauisch gegenüber stand, zeigte tatsächlich jedoch ein hoch intelligentes und sympathisches Interesse an dessen Werk. Rousseau bekam Angst, dass der Druck des ‚Émile‘ durch eine jesuitische ‚Verschwörung‘ aufgehalten werden könne. Über Madame de Luxembourg nahm er Kontakt zu Malesherbes auf; dieser beruhigte Rousseau wieder. Rousseau drückte seine Dankbarkeit darüber aus, indem er Malesherbes vier beichtartige Briefe schrieb, in denen er die hauptsächlichen Ereignisse seines Lebens schilderte und seine Motive und seinen Charakter gegenüber Malesherbes zu verdeutlichen versuchte. Rousseau schrieb, dass er kein Menschenverächter sei; er suche das Landleben nur deshalb, weil er hier freier und mehr als er selbst leben könne. Er wolle tatsächlich nichts lieber, als der Menschheit dienen, aber er könne dies am besten nur dadurch, dass er sich von ihr fernhalte und in keine Streitigkeiten und Hinterhältigkeiten verwickelt werde. Um diese Zeit begann Rousseau Material zur Abfassung seiner Autobiographie zu sammeln. Er arbeitete ab und an bis 1767 daran, als der erste Teil davon, der uns heute als die ‚Bekenntnisse‘ vorliegt, fertiggestellt war. Dieses immer noch außer1600
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778)
ordentliche Werk der Selbstenthüllung und Aufrichtigkeit ist eines der bemerkenswertesten Bücher, die je geschrieben wurden. Es enthält einige schöne Abschnitte über die Kindheit und über seine Reisen, aber auch Offenbarungen der intimsten und beschämendsten Art. Der 1. Teil umfasst die Periode von 1741–1742, als Rousseau Madame de Warens verließ, um sein Glück in Paris zu suchen. Der 2. Teil (1769–1770) ist weniger geglückt. Rousseaus krankhaften Ängste kommen hier teilweise zum Vorschein, wenn er die Ereignisse der Jahre 1742–1765 beschreibt, einschließlich seiner verrückten Leidenschaft für Sophie d’Houdetot und der Verfassung und Veröffentlichung von ‚Émile’ etc. Das Buch bricht im Jahre 1765 ab, gerade als Rousseau dabei ist, in Begleitung von Hume nach England zu gehen, wo er meinte, in weitere Verwicklungen hineingezogen zu werden. Als die Offenbarung der Qualität des Seins einer menschlichen Seele sind die ‚Bekenntnisse‘ praktisch ohne Beispiel. Eine weitere und sehr ausführliche Selbsterklärung ist die Schrift ‚Rousseau, Richter von Jean-Jacques: Dialog‘ (wie die ‚Bekenntnisse‘ erst posthum veröffentlicht). Dieses Buch ist in drei Teile unterteilt und in der Form eines Dialoges zwischen ‚Rousseau‘ und ‚einem Franzosen‘ gefasst, die gemeinsam unter die Oberfläche dringen, um etwas über das wahre Wesen von ‚Jean-Jacques‘, den wirklichen Rousseau herauszufinden. Die zahllosen Lügen, die über Jean-Jacques in Umlauf gesetzt wurden, werden betrachtet und im ersten Teil dargestellt. Im zweiten Teil wird ihm ein Besuch abgestattet und sein wahrer Charakter enthüllt. Im dritten Teil findet eine sorgfältige Lektüre seines Werks statt, und ihre wahre Bedeutung wird erklärt. Obwohl die Darstellung manchmal obsessiv detailliert ausfällt und sich stark wiederholt, ist diese Arbeit doch von beträchtlichem Interesse hinsichtlich des Lichts, das es auf Rousseaus eigene Einschätzung seiner Leistungen wirft. Der allgemeine Stil ist, so die überwiegende Meinung, verdorben durch langatmige Selbstrechtfertigungen. Rousseaus letzte Arbeit der Selbstdarstellung sind die ‚Träumereien eines einsamen Spaziergängers‘ (1776–1778), die er bei seinem Tod unvollendet hinterließ. Geschrieben in der Form von ‚Spaziergängen‘, umfassen sie eine Reihe von Reflexionen, Ideen und Meditationen, die Rousseau vermutlich einfielen, als er seine Ausflüge in und um Paris unternahm. Rousseau kehrt zu speziellen Momenten seines Lebens zurück: seine Liebe zu Mme. de Warens; die Episode des gestohlenen Bandes; seine ‚Erleuchtung‘ auf dem Weg zu Diderot. Aber er reflektiert auch ein letztes Mal einige seiner bedeutenderen intellektuellen Beschäftigungen: die amour propre, die Quelle des Bösartigen, und das Wesen des Glücks. Hier zeigt sich eine klare Beständigkeit in der Vision, die sein Werk durchdringt und in markantem Kontrast zu den oft gequälten und quälenden Schriften der vorangehenden fünf Jahre steht. Nach seinem Tode wurde Rousseaus Grab auf der Île des Peupliers in Ermenonville ein Pilgerort für Pariser, und Rousseau wurde als einer der großen Söhne Frankreichs in die Arme geschlossen. Sein Einfluss ist nach wie vor sehr groß, nicht nur wegen seiner politischen Schriften, die in den dauerhaften Kanon von Arbeiten zur politischen Theorie eingingen, sondern auch wegen seiner schwer abzuschätzenden Wirkung auf die Sensibilität und die Einstellungen seiner Leser. Seine Liebe zur Natur und die Betonung des Werts des einfachen Lebens, sowie seine weit reichenden Erkundungen in seinen eigenen Charakter und seine Gefühle machen ihn 1601
Royce, Josiah (1855–1916)
zu einer zentralen Figur in der Entwicklung der Romantik. Die in seinen Schriften zur Erziehung wiederkehrende Betonung einer Abkehr der Ausübung von Zwang gegenüber Kindern zu Aufgaben, die offenkundig keinen Sinn haben, beeinflussten die Arbeit von Montessori und A.S. Neill. Sogar Rousseaus musikalische Schriften und Kompositionen, die heutzutage nur noch selten studiert werden, hatten deutliche Wirkungen, insbesondere in der Geschichte der Oper. Sein Platz als eine der großen Figuren der westlichen Zivilisation ist sicher, selbst wenn er immer noch leidenschaftlich unterschiedliche Meinungen auf sich zieht. Siehe auch: Aufklärung, kontinentaleuropäische; Gesellschaft, Begriff der; Kontraktualismus; Politischen Philosophie, Geschichte der Anmerkungen und weitere Lektüre: Cole, G.D.H. (Hrg. und Übers.) (1973): ‚The Social Contract und Discourses‘. London: Dent. (Überarbeitet und erweitert von J.H. Brumfitt und J.C. Hall; dieses Buch enthält grundlegende Schriften zur politischen Theorie; eine exzellente Auswahl auf Englisch.) Dent, N.J.H. (1988): ‚Rousseau‘. Oxford: Blackwell. (Dieses Buch geht auf die meisten psychologischen und politischen Werke Rousseaus kommentierend ein.) Grimsley, R. (Hrg.) (1970): ‚Rousseau: Religious Writings‘. Oxford: Clarendon Press. (Ausgewählte Werke auf Französisch.) NICHOLAS DENT
Royce, Josiah (1855–1916)
Josiah Royce wuchs unter bescheidenen Verhältnissen in Kalifornien während des Goldrauschs auf und wurde schließlich Professor für die Geschichte der Philosophie an der Harvard University und zu einem der einflussreichsten amerikanischen Philosophen der so genannten ‚Periode der klassischen amerikanischen Philosophie‘ vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Er war zusammen mit F.H. Bradley auch einer der beiden wichtigsten englischsprachigen Philosophen jener Epoche, die den philosophischen Idealismus verteidigten, d.h. die Lehre, dass in einem bestimmten Sinne alle Dinge entweder selbst Geist sind oder Inhalte des Geistes. Royce bliebt seinen eigenen idealistischen Bindungen während seines ganzen Lebens treu, trotz der Tatsache, dass sein Freund und Harvard-Kollege, William James, dem Idealismus extrem feindselig gegenüber stand, und Royce intellektuelle Umgebung mehr und mehr vom sog. ‚Pragmatismus‘ dominiert wurde, von dem James ein ausgesprochener Verfechter war. In späteren Jahren jedoch, und unter dem Einfluss eines weiteren Pragmatisten, nämlich Charles S. Peirce, gab Royce den Themen seines idealistischen Denkens eine naturalistisch-soziale Begründung, statt jener abstrakt-metaphysischen in seinen früheren Schriften. Royces gesamten Textkorpus versteht man vielleicht am besten als eine Brücke zwischen der deutschen Welt des Neukantianismus und unterschiedlichen Varianten des philosophischen Idealismus der amerikanischen Welt des Pragmatismus und des philosophischen Naturalismus. Siehe auch: Absolute, Das; Hegelianismus; Pragmatismus ROBERT W. BURCH
Russell, Bertrand Arthur William (1872–1970)
Bertrand Russell verteilte seine Kräfte auf die Philosophie und das politische Engagement, letzteres mit einigen fundamentalen Gründen. Er leistete seine wichtigste philosophische Arbeit auf dem Gebiet der Logik und der Philosophie der 1602
Russell, Bertrand Arthur William (1872–1970)
Mathematik zwischen 1900 und 1913, obwohl er auch noch später Wichtiges zur Erkenntnistheorie, zur Metaphysik und zur Philosophie des Geistes beitrug, und er schrieb noch bis in die späten 1950er Jahre philosophische Texte. Er schrieb relativ wenig über die Ethik. Seine politische Arbeit setzte er bis zu seinem Tode im Jahre 1970 fort. In der Philosophie der Mathematik vertrat Russell einen logizistischen Standpunkt, d.h. die Auffassung, dass sämtliche Mathematik aus logischen Prämissen abgeleitet werden könne, was er auch im Detail durch wirkliche Ableitungen darzulegen versuchte. Dabei schuf er das, was heute im Wesentlichen als die Standardformulierung der klassischen Logik bekannt ist. Schon früh in seiner Arbeit entdeckte er die selbstreferenziellen Paradoxa, die die Hauptschwierigkeit für den Logizismus bedeuteten, und die er schließlich durch die verzweigte sog. Typentheorie löste. Die Logik stand für Russells Philosophie vom Jahre 1900 an im Mittelpunkt, und vieles seiner Fruchtbarkeit und Bedeutung als Philosoph verdankt sich der Anwendung der neuen Logik auf alte Probleme. Unter den wichtigsten logischen Neuerungen waren die moderne Relationentheorie und die Theorie der Beschreibungen. Letztere versetzte ihn in die Lage, Sätze neuerlich zu interpretieren, die eine Wendung der Art ‚das So-und-So‘ enthielten, indem er sie in eine Form übersetzte, in der diese Wendung nicht mehr auftauchte. Die Wichtigkeit dieser Theorie für die nachfolgende Philosophie bestand darin, dass sie es ermöglichte, Sätze neu zu fassen, die einen offenkundig auf die Existenz eines So-und-So festlegen, und zwar indem man sie in die Form von Sätzen bringt, in der eine solche Existenzbindung nicht mehr besteht. Dies legte die Fundamente für eine neue Methode in der Metaphysik, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Russell und anderen viel angewendet wurde, in der Theorien über Gegenstände einer bestimmten Art neu formuliert werden, so dass sie eine Referenz auf Gegenstände dieser Art vermeiden. Der Logizismus selbst bietet genau eine solche Behandlung der Mathematik an, und in seinen späteren Arbeiten verwendete Russell diese Methode auch wiederholt, obwohl die von ihm vorgeschlagenen Reformulierungen nur selten so eindeutig waren wie jene, die er für die Mathematik angeboten hatte. 1914 schlug er eine Lösung des ‚Problems der externen Welt‘ vor, indem er die Materie begrifflich aus den Empfindungsdaten konstruierte. Nach 1918 schlug er vor, sowohl den Geist, als auch die Materie aus Ereignissen heraus zu konstruieren (siehe Monismus). Nach 1940 behandelte er alle Einzelgegenstände als Eigenschaftsbündel. In jedem dieser Fälle war sein Beweggrund, alles zu meiden, was auch begrifflich konstruiert werden könne, um hierdurch ontologischen Bindungen (siehe Quine, W.v.O.; Ontologische Verpflichtung) aus dem Wege zu gehen, die durch keine Evidenz gestützt sind. Außerhalb der Mathematik war sein Ausgangspunkt das empirisch Gegebene, und er wollte seine begrifflichen Konstruktionen so wenig wie möglich von Dingen abhängig machen, die nicht in der Erfahrung gegeben sind. Er war jedoch kein Empirist im strengen Sinne, weil er nicht dachte, dass die empirische Evidenz allein für die begriffliche Konstruktion ausreichen würde, und er war immer bereit, sie zu ergänzen, wenn es die Konstruktion verlangte. Er wollte zwar nicht jene Dinge begrifflich konstruieren, die empirisch unterlegt sind, aber jene, die für die relevanten wissenschaftlichen Theorien erforderlich sind, denn er betrachtete die Wissenschaft als die beste verfügbare, wenn auch keineswegs unfehlbare Quelle der Wahrheit. Die Aufgabe sei in jedem Falle, einen möglichst kleinen technischen Apparat aufzu1603
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bauen, der zusätzlich zu den empirischen Daten notwendig sei, um die begrifflichen Konstruktionen leisten zu können, die die Wissenschaft erfordere. Diese Methodik, der er durch seine ganz berufliche Laufbahn treu blieb, verleiht dem eine innere Einheit, was, oberflächlich gesehen, wie eine Reihe abrupter Wechsel der Standpunkte aussieht. Siehe auch: Analytische Philosophie; Idealismus, §§ 5–7; Logizismus; Monismus; Moore, G.E. NICHOLAS GRIFFIN
Russische Philosophie Einführung Dem russischen Denken nähert man sich am besten ohne vorgefasste Meinungen über das Wesen und die eigentlichen Grenzen der Philosophie. Die extreme politische Unterdrückung und wirtschaftliche Rückständigkeit trugen nicht zur Blüte der Philosophie als einer rein theoretischen Disziplin bei. Die akademische Philosophie war in der russischen intellektuellen Szene deshalb ein Nachzügler, und jene, wie die Neukantianer am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich der ontologischen und erkenntnistheoretischen Fragen widmeten, wurden weitgehend für ihr Versagen verdammt, sich nicht um die drückenden sozialen Probleme des Landes zu kümmern. Seit dem Projekt der Westorientierung durch Peter den Großen bestand die russische Philosophie hauptsächlich in der Hervorbringung von Autoren und Kritikern, die ihre Ideale und Werte aus abendländischen Quellen ableiteten und sich auf die Ethik, die Sozialtheorie und die Geschichtsphilosophie konzentrierten, wobei sie glaubten, dass – wie Marx in seiner ersten ‚Feuerbach-These‘ – die Philosophen bislang die Welt lediglich interpretiert hätten; es käme jedoch darauf an, sie zu verändern. Dieses leidenschaftliche soziale Engagement erzeugte eine Menge doktrinären Fanatismus, inspirierte aber auch die bilderstürmerische Tendenz, durch die die Philosophie aus der Sicht von Nietzsche Respekt verdient: die Umwertung der Werte aus der ironischen Perspektive eines Außenseiters. Der Hauptbeitrag russischer Denker zur Weltkultur besteht daher nicht in Systemen, sondern in theoretischen und praktischen Experimenten zur menschlichen Emanzipation. Einige dieser Experimente führten zur russischen Revolution, während andere eine bemerkenswerte präzise Vorhersage zum Wesen von Utopien lieferten, die an die Macht kommen. Wie Dostojewskijs Romanfigur Schigalew, der mit dem Ideal absoluter Freiheit startet und schließlich, im Wege strikt logischen Fortschritts, bei der Notwendigkeit des absoluten Despotismus landet, so haben sich die russischen Philosophen auf das Durchdenken – und manchmal auch auf das reale Ausprobieren – der praktischen Folgen der verführerischsten Freiheitsvisionen spezialisiert, die Europa in den letzten zweihundert Jahren hervorgebracht hat. 1. Die Entwicklung der russischen Philosophie 2. Die großen Themen der russischen Philosophie 1. Die Entwicklung der russischen Philosophie Was Berdjajew die ‚Russische Idee‘ nannte – die eschatologische Frage ist das bestimmteste Merkmal der russischen Philosophie – kann man mit der russischen Geschichte erklären. Das mongolische Joch vom 12. bis zum 14. Jahrhundert schnitt 1604
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Russland von Byzanz ab, von wo es das Christentum erhalten hatte, und ferner von ganz Westeuropa. Russland nahm an dem Fermentierungsprozess der Renaissance nicht teil. Russland wuchs als ein einheitlicher Staat unter dem Moskauer Zarentum, das auf den Fall des orthodoxen byzantinischen Reiches rasch folgte. Der sich entwickelnde Sinn für die russische nationale Identität hatte dabei ein messianisches Element, das sich in der Form der Theorie des Mönchs Philotheus von Moskau als dem ‚Dritten Rom‘ niederschlug, das Rom und Konstantinopel als Wächter der christlichen Wahrheit in ihrer Reinheit beerben sollte. „Es wird kein viertes geben“, so lautete die Prophetie, und meinte: das russische Reich würde bis zum Ende der Welt bestehen. Das russische Denken war bis ins 19. Jahrhundert beherrscht von der griechischen patristischen Tradition, als schließlich der Kiewer Denker Skovoroda, der manchmal als Russlands erster Philosoph bezeichnet wird, eine religiöse Vision, die auf einer Synthese des antiken und des patristischen Denkens basiert, entwickelte. Er hatte jedoch keine Nachfolger. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das intellektuelle Zentrum Russland St. Petersburg, wo Katharina die Große, die auf den Leistungen ihres Vorgängers Peter aufbaute, sich mit Hilfe der Ideen der französischen Aufklärung um die Förderung einer westlich-säkularen Kultur innerhalb der gebildeten Eliten bemühte. Aber die Vertreter der ‚Russischen Aufklärung‘ wurden streng bestraft, als sie es wagten, die Begriffe der französischen Aufklärer zur Rationalität und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit einer Kritik des politischen status quo zu zitieren. Die Verfolgung fortschrittlicher Ideen, die dazu dienten, das Selbstbild der aufkommenden Intelligenz als kulturelle und moralische Avantgarde ihrer Gesellschaft zu festigen, erreichte unter Nikolas I. (1825–1855) ihren Höhepunkt, als die philosophischen Institute an den Universitäten geschlossen wurden und das Denken in den Untergrund ging. Westliche Ideen waren nunmehr Gegenstand heftiger Debatten in kleinen, informellen Zirkeln aus Studenten, Schriftstellern und Kritikern, von denen die berühmtesten in Moskau und St. Petersburg die philosophische Ausbildung solcher intellektueller Führer wie der künftigen Sozialisten Herzen und Bakunin, des Romanciers und Liberalen Ivan Turgenjew, des Literaturkritikers Belinskij (von dessen sog. ‚soziale Kritik‘ der sowjetische Realsozialismus abzustammen behauptete), und der künftigen slawophilen und religiösen Philosophen Kirejewskij und Komjakow leisteten. Ein Kritiker schrieb hierzu: „Im Westen gibt es die Theologie und die Philosophie; das russische Denken ist jedoch ein Drittes“, und zwar eines, das im zaristischen intellektuellen Untergrund ebenso wie in seinem sowjetischen Nachfolgestaat Romanciers, Dichter, Kritiker, religiöse und politische Denker willkommen hieß. Diese waren alle miteinander durch ihr Engagement für die Ziele der Freiheit und der Gerechtigkeit verbunden. In den 1830er Jahren entdeckten diese bedrängten Menschen den deutschen Idealismus; dies war ein entscheidendes Ereignis für die künftige Entwicklung des russischen Denkens. Die teleologischen Strukturen des idealistischen Denkens lieferten den russischen Intellektuellen eine erlösende Interpretation in ihren Konflikten und Kämpfen als einer notwendigen Etappe in der dialektischen Bewegung der Geschichte auf einen transzendenten Zustand der Harmonie hin. Der Idealismus, insbesondere in seiner Hegelschen Form, hinterließ seine Spuren im Vokabular der nachfolgenden russischen Philosophie, doch sein hauptsächliches Vermächtnis war der Glaube, der von der großen Mehrheit der russischen Denker geteilt wurde, dass 1605
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eine ‚integrale Weltanschauung‘, d.h. eine kohärente und vereinheitlichte Sichtweise des historischen Prozesses und seiner Ziele, der wesentliche Rahmen sowohl für die persönliche moralische Entwicklung, als auch für die soziale Theoriebildung sei. Die Frage des Ziels der Geschichte wurde mit dem Erscheinen von Tschadews ‚Philosophischer Brief‘ im Jahre 1836, der die Beziehung Russlands zum Westen zum zentralen philosophischen Problem erhob, zum Gegenstand intensiver Debatten innerhalb der Intelligenz, wobei er behauptete, dass Russland durch seine historische Trennung von der Kultur des westlichen Christentums von der Teilnahme an der Bewegung der Geschichte auf die Errichtung einer universalen christlichen Gesellschaften hin ausgeschlossen sei. Tschadews Fassung vom Gang des Fortschritts verdankte vieles dem französischen katholischen Konservatismus, während der nationalistische Gegenschlag wider diese Ideen sich stark auf die Kritik der Romantiker am ‚Zeitalter der Vernunft‘ und Schellings organische Konzeption der Nation stützten: die Slawophilen meinten, die westliche Kultur sei in einem Zustand des endgültigen moralischen und sozialen Niedergangs und leide an einem rationalen Exzess, was zu einer sozialen Atomisierung und der Zersplitterung der individuellen Psyche geführt habe. Diese Zerteilungen könnten nur durch den religiösen Glauben in seiner reinsten Form, nämlich der russischen Orthodoxie, geheilt werden, durch dessen Geist des organischen ‚Zusammenseins‘, und unbehelligt durch den westlichen Rationalismus. Diese Vision priesen sie als ein Modell für die russische Gesellschaft und als Leuchtturm für die Menschheit. Sie legten damit die Fundamente einer dezidierten russischen Tradition des kulturellen und religiösen Messianismus, der auch Dostojewskijs politische Schriften, die panslawistischen und die eurasischen Bewegungen umfasst (siehe Dostojewskij, F.M.), sowie die apokalyptische Vision von Berdjajew, dessen Philosophie unter den Mitgliedern des sowjetischen Untergrunds sehr populär war. Die säkularen und die westlich orientierten Denker zeigten kaum weniger messianische Begeisterung in ihrer Reaktion auf Tschadews Pessimismus. Die ersten Philosophen des russischen Liberalismus interpretierten die vergangene und künftige Entwicklung ihres Landes im Lichte von Hegels Lehre der notwendigen Bewegung aller menschlichen Gesellschaften in Richtung einer Verkörperung der Vernunft im modernen Verfassungsstaat, während die russische radikale Tradition nacheinander von eschatologischen Visionen der französischen utopischen Sozialisten, der Junghegelianer und von Karl Marx geprägt waren. Herzen definierte die Typik des russischen radikalen Denkens als den „unerbittlichen Geist der Negation“, der sich, ungebremst durch die Ehrerbietung der Europäer für die Vergangenheit, auf die Aufgabe einer Befreiung der Menschheit von den überweltlichen Autoritäten, die von der Religion und der Philosophie erfunden worden sei, stürze. Und die radikal populistische Tradition, die er selbst begründete, argumentierte, dass das „Privileg der Rückständigkeit“, indem es Russland erlaube, sowohl von den Leistungen, als auch von den Fehlern des Westens zu lernen, dieses Land an die Spitze der Bewegung der Menschheit zur Freiheit gesetzt habe. Die russischen religiösen Philosophen neigten dazu, sich selbst als Propheten zu sehen, die den Weg zur Regeneration der menschlichen Gesellschaften mittels spiritueller Transformation des Einzelnen aufzeigten. Vladimir Solowjew, der von vielen Russen als ihr größter Philosoph betrachtet wird, glaubte, dass es die Mission seines Landes wäre, das Königreich auf Erden in der Form einer liberalen Theokratie her1606
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beizuführen, wodurch Wissen und soziale Praxis integriert und die menschlichen Rassen unter dem spirituellen Gesetz des Papstes und der säkularen Herrschaft des russischen Zaren vereint würden. Seine Metaphysik der ‚Alleinheit‘ war eine herrschende Kraft im Wiederaufleben einer religiösen und idealistischen Philosophie im Russland des frühen 20. Jahrhunderts und inspirierte eine ganze Generation von Denkern, die sich bemühten, das christliche Dogma auf eine Weise neu zu interpretieren, dass die Verbindungen der spirituellen Kultur und des religiösen Glaubens mit institutionellen und sozialen Reformen, sowie einem Fortschritt in allen anderen Bereichen der menschlichen Aufgaben verband. Unter diesen befanden sich führende russische, nach 1917 emigrierte Philosophen wie z.B. S. Frank, Bulgakov (der eine neue Kultur erschaffen wollte, in der die orthodoxe Christenheit jeden Bereich des russischen Lebens durchdringen sollte), Berdjajew (der stark von den messianischen Motiven bei Solowjew beeinflusst war) und Hessen, der einen Neukantianismus und eine westlich orientierte Interpretation der Vorstellung der ‚Alleinheit‘ anbot. Eine Reihe emigirierter Philosophen (vor allem Iljin und Wischeslawtschew) interpretierten den Bolschewismus als den Ausdruck einer spirituellen Krise der modernen Industriekulturen. Viele beschuldigten die russische Revolution, sie sei vom kulturell bankrotten Westen infiziert, den sie – quasi als Echo der Slawophilen Dostojewskij und Leontew – als durch den Rationalismus, den Positivismus, den Atheismus und den selbstbezogenen Individualismus verdorben ansahen. Nur wenige gingen jedoch so weit wie der wütend polemische Losew, der bis zu seinem Tod in der Sowjetunion im Jahre 1988 darauf beharrte, dass das elektrische Licht die spirituelle Lehre des ‚Amerikanismus und der Maschinenproduktion‘ widerspiegele. Die meisten von ihnen vertraten einen historisch-philosophischen Optimismus noch über die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg, die Berdjajew als Vorbedingung für die messianische Erholung ansah, während Hessen glaubte, dass religiöse und kulturelle Werte in einer dialektischen ‚Aufhebung‘ triumphierend aus dem Gemetzel dieser Epoche hervorgehen würden. 2. Die großen Themen der russischen Philosophie Die hauptsächliche Stoßkraft der russischen Philosophie richtete sich immer auf die Zukunft, und ihre Vertreter strengten sich immer an, die Merkmale des ‚neuen Menschen‘ (ein Ausdruck, der von der Linken seit den 1860er Jahren bevorzugt verwendet wurde, und dem die kommunistischen Machthaber nach 1917 noch das Adjektiv ‚sowjetisch‘ voranstellten) oder der ‚integralen Persönlichkeit‘ zu erkennen, wie die Slawophilen und Neoidealisten sich lieber ausdrückten, um den einzelnen Menschen zu beschreiben, der eines Tages von den kognitiven und moralischen Fehlern geheilt würde, die die Menschheit bisher an der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten hinderten. Das Wesen dieser Fehler und die Merkmale des regenerierten Menschen waren Gegenstand heftiger Dispute zwischen rivalisierenden Bewegungen. Selbst innerhalb der Linken gab es die unterschiedlichen Fassungen des ‚neuen Menschen‘, angefangen bei engen rationalistischen Konzeptionen, die das Ideal der ‚Nihilisten‘ der 1860er Jahre und nachfolgend von Lenin und Plechanow gewesen waren, bis hin zu Bakunins ‚ewiger Rebellion‘, die den spontanen Geist der Freiheit im Trotz gegenüber allen etablierten Autoritäten und Ordnungen verkörperte. Am Ende des 19. Jahrhunderts, d.h. in dem kulturellen Gärungsprozess, der durch neue philosophische und künstlerische Bewegungen aus dem We1607
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sten hervorgerufen wurde, begannen radikale Denker in großer Zahl auf ihre bis dato vorherrschend rationalistischen Modelle des Individuums und der Gesellschaft zu verzichten. Nietzsches ‚Übermensch‘ hatte einen durchdringenden Einfluss auf die anschließende ‚Umwertung aller Werte‘, die mit dem Ziel angestrebt wurde, moralische und soziale Ideale zu formulieren, die sich mit der Vielgestaltigkeit menschlicher Kreativität vertragen würden. Einige radikale Philosophen wie z.B. Berdjajew und Frank versuchten ihrer Bewegung vom Marxismus zum Neoidealismus Nietzsches ästhetischen Immoralismus mit der christlichen Ethik zu versöhnen, während die ‚empiriokritizistische‘ Gruppe von Bolschewiken versuchte, der russischen marxistischen Philosophie Elemente des heroischen Voluntarismus einzuhauchen, indem sie ihn mit der Nietzscheanischen Selbstaffirmation und dem Pragmatismus von Ernst Mach verschmolzen. Nietzscheanische Einflüsse, kombiniert mit dem mechanistischen Szientismus des Sowjetmarxismus im sowjetischen Modell des ‚neuen Menschen‘ (dessen Qualitäten, so suggerierte es zumindest die Genetik von Lysenko, auf nachfolgende Generationen vererbt werden könne). Im poststalinistischen Tauwetter begannen einige Sowjetphilosophen, einschließlich Iljenkow und Mamardaschwili, mit einer kritischen Neuinterpretation der Marxschen Texte aus einer anthropozentrischen Perspektive, die das unvorhersehbare und unbeschränkte Potential des menschlichen Bewusstseins betonte (siehe Marxistische Philosophie, Russische und Sowjetische). Dieser als offen betrachtete Entwicklungsprozess (unter Gorbatschow offiziell unterstützt) ist in der russischen Philosophie ungewöhnlich, wo der erkenntnistheoretische Skeptizismus häufiger in beklemmenden Kombinationen mit dem eschatologischen Glauben anzutreffen ist. Wie auch andere wurzellose Gruppen wurden die russischen Intellektuellen in kompensatorische ‚Gewissheiten‘ gedrängt, die in der Lage zu sein schienen, ihre scharfe Kritik auszuhalten. Der radikale Humanismus in großen Teilen des russischen Denkens stellte diese Gewissheiten bei der Entwicklung des kritischen Beharrens auf der kontextabhängigen Natur der Wahrheit in den Vordergrund. Aber viele Denker, die die Ansprüche des Systems und die Dogmen, die die Erfahrung und die schöpferischen Bedürfnisse lebender Menschen in bestimmen historischen Zusammenhängen zu erfassen und zu erklären meinten, angriffen, behielten letztlich doch einen Glauben an einen finalen, idealen Seinszustand bei, in dem die Zersplitterung des Wissens überwunden und alle menschlichen Zwecke zu einem zusammenfließen würden; dies war ein gedachter Zustand, um dessen Prinzipien willen einige auf die Wissenschaften schauten, andere auf die religiöse Offenbarung. Die Nihilisten, die die Metaphysik mitsamt allem verwarfen, was nicht durch rationale und empirische Methoden bewiesen werden konnte, glaubten leidenschaftlich, dass der Fortschritt unvermeidlich zur Wiederherstellung des Naturzustandes einer Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft führen würde. Die empiriokritizistische Bewegung innerhalb des russischen Marxismus widersetzte sich der Vergötterung von Formeln mit der Behauptung, dass die Erfahrung und die Praxis die einzigen Kriterien der Wahrheit seien, doch der führende Philosoph dieser Gruppe, Bogdanow, freute sich bereits auf eine ‚Metawissenschaft‘, die die zerstückelte Welt des Wissens vereinigen würde, indem sie „alle Diskontinuitäten unserer Erfahrung auf ein Prinzip der Kontinuität reduzieren“ würde, womit sie voraussagten, dass es unter der Herrschaft des Kommunismus, wenn alle dieselben Organisationserfahrungen teilen würden, das Phänomen von 1608
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Individuen mit getrennten geistigen Welten nicht mehr geben würde. Solowjews durchdringender Einfluss auf den nachfolgenden russisch-religiösen Idealismus verdankte viel dem Charme seiner Vision des ‚integralen Wissens‘ und des ‚integralen Lebens‘ in einer ‚integralen Gesellschaft‘. Er kombinierte religiöse und sozialistische Motive in einer Vorstellung von einem irdischen Paradies, ähnlich dem ‚christlichen Sozialismus‘ von Bulgakov oder Gorkis und Lunarcharskis Bekenntnis zur ‚Erbauung von Gott‘, was ein Ruf nach Verehrung der kollektiven Menschheit in einer sozialistischen Zukunft war. In den revolutionären Wirren der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sahen sich viele religiöse und radikal denkende Philosophen, zusammen mit den symbolistischen Autoren und Dichtern, vor einem Sprung in eine harmonische Zukunft der apokalyptischen Art: der Novellist und Kritiker Mereschkowskij prophezeite das Heraufziehen eines ‚Neuen Christentums‘, das den christlichen Glauben mit der heidnischen Selbstbejahung in einer Moral jenseits des Guten und des Bösen vereinigen würde. In den Zeiten nach 1917 fanden einige Denker, insbesondere Berdjajew und Mitlieder der eurasischen Bewegung, Trost in den apokalyptischen Phantasien eines ‚neuen Lichts‘, das vom Osten aus auf die Ruinen der europäischen Kultur scheinen möge. Herzen schrieb einen solchen doktrinären Utopismus denkwürdigerweise der russischen Tendenz zum Marschieren „in unerschrockenen Reihen bis an die letzten Grenzen und noch darüber hinaus, im Gleichschritt mit der Dialektik, aber leider nicht mehr mit der Wahrheit“ zu. Als der originellste und subversivste russische Denker war er der erste einer bedeutenden Minderheit, die ihren ikonoklastischen Angriff der russischen Philosophie ausnahmslos gegen alle Formen des messianischen Glaubens richteten. Indem er vorbrachte, dass es in der Erfahrung keine Grundlage für den Glauben an ein zweckvolles Universum gebe, auf dem die großen optimistischen Systeme des 19. Jahrhunderts errichtet worden waren, drängte er seine Zeitgenossen, ihre Kategorien an den Fluss des Lebens anzupassen, d.h. die beherrschende Rolle des Zufalls in der menschlichen Existenz zu akzeptieren und sogar zu begrüßen, denn die individuelle Freiheit und Verantwortung seien nur in einer unprogrammierten Welt möglich. Herzens Kritik der Behauptungen der metaphysischen Systeme, den Verlauf der Geschichte vorhersagen oder gar regulieren zu können, fand ihre Echo in der ‚subjektiven Soziologie‘ von Mikailowskij und Lawrow und stand im Gegensatz zu dem deterministischen Szientismus der herrschenden russisch-radikalen Tradition. Tolstoi wies bereits auf die Zufälligkeit des Lebens und der Geschichte hin, um die Unangemessenheit aller Versuche zur Formulierung allgemeiner Regeln für menschliche Gesellschaften zu beweisen; Dostojewskij konfrontierte die Systemerbauer mit der gelebten Erfahrung menschlicher Freiheit als der Fähigkeit zum Unvorhergesehen. Auf ihrem Symposium im Jahre 1909, das im Westen häufig als eine pionierartige Erforschung der Psychologie des politischen Utopismus angesehen wird, erforschten die Neoidealisten der ‚Wegweiser‘-Bewegung die Wege, auf denen die Besessenheit von einer idealen Zukunft die Wahrnehmung der historischen Gegenwart verarmt und verzerrt. Unter dem Sowjetsystem entkamen einige wenige Vertreter dieses Antiutopismus auf erfinderische Weise dem Druck auf die Philosophen (gestützt durch die Lehre der ‚Parteilichkeit‘ der Wahrheit), den offiziellen Mythen der Utopie an der Macht beizupflichten. Die ‚Geschichte der neuartigen Form‘ war das Vehikel für Bakhtins Reflexionen über die ‚Unvollendbarkeit‘ der menschlichen Existenz (siehe Bakhtin, 1609
Ryle, Gilbert (1900–1976) M.M.). Ähnliche Einsichten drückten die kulturhistorisch-psychologischen Schulen aus, die von Wigotskij eingerichtet worden waren, der sich auf Marx bezog, um den mechanistischen Determinismus der sowjet-marxistischen Philosophie mit einer Sichtweise des Bewusstseins als einem kulturellen Artefakt zu kontern, das in der Lage sei, sich selbst zu transzendieren und sich selbst zu erneuern. In den 1960er Jahren halfen sowjetische Psychologen und Philosophen wie Iljenkow bei der Wiederbelebung des Interesses an der Ethik, mit einer Betonung auf dem Individuum als dem Zentrum des moralischen Handelns, und die Moskau-Tartu-Schule verfolgte in ihren historischen Kulturstudien als semiotischen Zeichensystemen eine reich dokumentierte und undoktrinäre Herangehensweise an wichtige moralische und politische Themen. Die Einsichten einiger dieser Menschen und ihrer Bewegungen in die Anziehungskräfte und Enttäuschungen des utopischen Denkens sind das schließliche Ergebnis ihrer oft spektakulär erfolglosen Bemühungen zur Überwindung dessen, was Nietzsche „das Verlangen nach metaphysischer Behaglichkeit“ nannte. Tolstoi war sein ganzes Leben lang zerrissen zwischen seiner pluralistischen Vision und seinem Bedürfnis nach dogmatischen, moralischen Gewissheiten, während Dostojewskij in seinen letzten Jahren eine überraschend grobe Variante des religiös-politischen Messianismus predigte. Der Humanismus einiger später religiöser Philosophen, einschließlich der ‚Wegweiser‘-Autoren Berdjajew und Bulgakow, ist schwer mit ihrer eschatologischen Ungeduld zu versöhnen. Anmerkungen und weitere Lektüre: Edie, J.M., Scanlan, J.P. und Zeldin, M.B. (Hrg.) (1966): ‚Russian Philosophy‘. Chicago, Illionois: Quadrangle Books, 3 Bde. (Eine Auswahl von Texten, gut kommentiert und eingeführt, vom Beginn der russischen Philosophie bis in die Sowjetzeit.) Masaryk, T.G. (1955): ‚Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. Soziologische Skizzen. Band I und II‘. (Einer der wenigen deutschen Titel zu diesem Thema, die auch ins Englische übersetzt wurden. Eine immer noch hervorragende Einführung in die russische Philosophie.) Walicki, A. (1980): ‚Russian Thought from the Enlightenment to Marxism‘. Oxford: Clarendon Press. (Dieses Buch deckt die Bewegungen des russischen Denkens vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert ab.) AILEEN KELLY
Ryle, Gilbert (1900–1976)
Zusammen mit Wittgenstein und Austin war Ryle eine der beherrschenden Figuren in der mittleren Periode der englischsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die als ‚linguistische Analyse‘ bekannt wurde. Seine Auffassungen in der Philosophie des Geistes führten dazu, dass er als ‚logischer Behaviorist‘ bezeichnet wurde, und sein größtes Werk auf diesem Gebiet, ‚The Concept of Mind‘ (1949), wurde sowohl wegen seines Stils, als auch wegen seines Inhalts zu einem modernen Klassiker der Philosophie. Darin greift Ryle das an, was er den ‚Kartesischen Dualismus‘ oder den Mythos des ‚Geistes in der Maschine‘ nennt und macht geltend, dass die philosophischen Schwierigkeiten mit dem Wesen des Geistes und seiner Beziehung zum Körper das Ergebnis einer ‚kategorialen Verwechslung‘ seien, die irrtümlicherweise dazu geführt habe, Sätze über geistige Phänomene auf dieselbe 1610
Ryle, Gilbert (1900–1976) Weise zu behandeln wie Sätze über physische Phänomene. Für Ryle war das Handeln nicht der Vollzug auf zwei verschiedenen Ebenen, nämlich der geistigen und der physischen, sondern ein gewisses Verhalten. Viel von Ryles Arbeit bezog sich auf ähnliche Themen: philosophische Verwirrung ergebe sich durch die Angleichung oder Fehlanwendung kategorial unterschiedlicher Ausdrücke; diese könnten nur im Wege einer sorgfältigen Analyse der Logik und des Gebrauchs von Sprache geklärt werden. Später bemühte er sich um das Wesen des reflektierenden Denkens, denn dies sah er als Beispiel einer Tätigkeit, die der behavioristischen Analyse zu entkommen schien, die er selbst empfohlen hatte. Ryle war auch ein bedeutender Platon-Gelehrter, obwohl sein Werk auf diesem Gebiet weniger einflussreich war.
WILLIAM LYONS
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S Saint-Simon, Claude-Henri de Rouvroy, Comte de (1760-1825)
Saint-Simon war ein einflussreichreicher französischer Sozialtheoretiker, der eine eigene Geschichtsphilosophie entwarf und eine Darstellung der künftigen Organisation der Industriegesellschaften vorlegte. Er sah ein ‚Goldenes Zeitalter‘ voraus, wo die Harmonie zwischen den individuellen Fähigkeiten und den sozialen Strukturen, die sich in einer Neuordnung von ‚zeitlicher‘ und ‚geistiger‘ Macht äußern würde, die gegenwärtige Unordnung überwinden und den Müßiggang verbannen würde. Er wurde verschiedentlich als ein utopischer Sozialist, als der Begründer der Soziologie und sogar als ein hellsichtiger Geisteskranker dargestellt. Siehe auch: Geschichte, Philosophie der; Positivismus in der den Sozialwissenschaften; Sozialismus; Utopismus DAVID LEOPOLD
Sāmkhya
Siehe: Sankhya
Sanches, Francisco (1551-1623)
Francisco Sanchez war im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert ein skeptischer Philosoph und Professor für Medizin an der Universität von Toulouse im Süden Frankreichs. Er wurde in Spanien in eine Familie mit jüdischen Vorfahren geboren, die gewaltsam zum Katholizismus konvertiert wurde. Er wuchs jedoch in Frankreich auf. Obwohl er ein entfernter Cousin des Skeptikers Michel de Montaigne war, entwickelte er doch unabhängig von jenem die vielleicht stärkste skeptische Kritik am Aristotelismus und am Platonismus. Darüber hinaus formulierte eine skeptische Theorie über mathematische Erkenntnisansprüche. Zur selben Zeit lieferte er die erste Form eines konstruktiven Skeptizismus, d.h. eine Art und Weise der Lösung intellektueller Probleme, ohne zuvor die skeptischen Herausforderungen an die traditionellen Erkenntnisarten zu überwinden. Damit präsentierte er die Wissenschaft als einen Weg des Umgangs mit Erfahrung, statt als eine Form der Wissensgewinnung, und in dieser Auffassung antizipierte er einiges der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sanches war ferner ein wichtiger empirischer Mediziner, der die jeweils neuesten medizinischen Erkenntnisse in seinen Kursen in Toulouse vorlegte. Seine skeptisch-kritischen Ansichten waren einflussreich bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts und wurden noch zu Leibniz‘ Zeiten studiert. Siehe auch: Montaigne, M. de; Renaissance-Philosophie; Skeptizismus; Wissenschaftliche Methode RICHARD H. POPKIN
Sān˙khya
Die Sān˙khya-Schule wird in der indischen Tradition als einer der ältesten klassischen Hinduschulen angesehen. Sie ist in der indischen Philosophie sehr berühmt für ihren Atheismus, ihr dualistisches Modell der purusa (‚passives, individuelles Bewusstsein‘) und des prakrti (nicht-bewusster, erkennend-fühlender Körper), sowie für ihre Theorie, dass Wirkungen in ihren Ursachen bereits vorexistieren. In ihrer klassischen Formulierung ist das purusa-prakrti-Modell in fünfundzwanzig Komponenten gegliedert (die sog. tattva), die als etwas gedacht werden, was sämt1612
Sān˙khya
liche metaphysische, kognitive, psychologische, ethische und physische Welten im Sinne ihrer Verkörperung als individuelle Bestandteile umfasst, und die kreative und interpretierende Projektion dieser Welten als Erfahrung durch und für Individuen. Sowohl die Welt, als auch der Einzelmensch werden also, mit anderen Worten, als eine phänomenologische Brechung und Projektion des zugrunde liegenden und konstitutiven Bestandteile des bewussten Körpers gedacht. Indem sie sich fälschlicherweise mit den erkennenden und wahrnehmenden Bestandteilen des prakrti identifizieren (das nach der orthodoxen Sān˙khya-Lehre erkennende und empfindende Operationen ausführt; allein purusa ist aber bewusst), glauben die Sān˙khya-Anhänger, dass sie selbst die Akteure ihres Handelns seien, statt anzuerkennen, dass Handlungen Prozesse sind, denen es an jeglicher Selbstheit mangelt. Sān˙khya-Anhänger behaupten, dass die Befreiung vom Leiden der Wiedergeburten nur erreicht werden kann durch ein gründliches Verständnis der Unterscheidung zwischen purusa und prakrti. Letzteres wird nach der Befreiung nicht aufgegeben, sondern ist weiter wirksam und wird aus einer gewissen Distanz vom purusa beobachtet. Nach einigen Glaubensvarianten der Sān˙khya-Lehre wird prakrti schließlich inaktiv. Purusa und prakrti werden beide als ewig gedacht und haben deshalb keinen Anfang. Weil die Befreiung durch Erkenntnis erreicht wird, betont die Sān˙khya-Lehre die Bedeutung und Wirksamkeit der Erkenntnis über das Ritual und andere religiöse Erlebnisformen. Der Ausdruck ‚Sān˙khya‘ ist verwandt mit ‚san˙khyā‘, was so viel wie ‚zählen‘ oder ‚aufzählen‘ bedeutet. Daher versucht die Sān˙khya-Lehre die grundlegenden Tatsachen der Wirklichkeit aufzuzählen, so dass die Menschen sie verstehen können und die Befreiung finden. Die grundlegenden Sān˙khya-Modelle und -Ausdrücke erscheinen in einigen Upanişaden und liegen wichtigen Teilen des Epos ‚Mahābhārata‘ zugrunde, speziell der Bhagavad Gītā und der Moksadharma. Kein bestimmter Sān˙khya-Text ragt vor Iśvarakrsnas Sān˙khyakārikā heraus (ca. 350-ca. 450). Sie zählt die fünfundzwanzig Bestandteile und eine ergänzende Liste von sechzig Punkten (sastitantra) auf und erklärt sie. Diese werden daraufhin in weitere aufzählende Listen aufgeteilt. Der größte Teil der nachfolgenden Sān˙khya-Literatur besteht aus Kommentaren und Ausführungen zur Sān˙khyakārikā und ihren Ideen, die ohne größere Veränderungen bis ins 18. Jahrhundert hinein verfeinert wurden. Die Sān˙khya-Modelle beeinflussten stark zahlreiche anderen indische Schulen, einschließlich des Yoga, der Vedānta, des Kashmir-Shaivismus und des Buddhismus. Siehe auch: Dualismus DAN LUSTHAUS
Santayana, George (1863-1952)
George Santayana war ein Philosoph, Essayist, Romancier und Dichter. Er wurde in Spanien geboren, zog jedoch bereits als Kind nach Amerika um und studierte schließlich in Harvard bei William James und Josiah Royce. Die philosophische Welt nahm das erste Mal Notiz von Santayana als Folge seiner ästhetischen Arbeiten. ‚The Sense of Beauty‘ (1896), sein Versuch einer naturalistischen Darstellung des Schönen ist bis heute einflussreich. Er schrieb technisch hervorragende Aufsätze über die Literatur und die Religion, in denen er beide als Ausdruck wichtiger symbolischer Wahrheiten über die conditio humana ansah. Sein reifes philosophisches System ist ein klassisches Gebäude, konstruiert auf Grundpositionen, die er von Platon und Aristoteles übernommen hatte, die er im Lichte der naturalistischen Ein1613
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
sichten des von ihm geliebten Lukrez und Spinoza modifizierte und sie in einen Pessimismus tauchte, die an Schopenhauer erinnern. Obwohl er in engem Kontakt zur philosophischen Entwicklung seiner Zeit stand, sah er das menschliche Leben und seine Probleme doch immer aus einer ruhigen, kosmischen Perspektive. JOHN LACHS
Sapir, Edward
Siehe: Sapir-Whorf-Hypothese
Sapir-Whorf-Hypothese
Der Ausdruck ‚Sapir-Whorf-Hypothese‘ wird verbreitet als Bezeichnung für eine linguistische Relativitäts-Hypothese verwendet, und zwar für den Vorschlag, dass eine bestimmte Sprache, die wir sprechen, die Art und Weise formt, wie wir über die Welt denken. Die Bezeichnung leitet sich von den Namen der amerikanischen anthropologischen Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf ab, die während der 1930er und 1940er Jahre eindringlich für diese Idee warben, obwohl sie ihre Ideen nie als Hypothese bezeichneten. Im Gegensatz zu früheren europäischen Gelehrtenmeinungen, die die linguistische Relativität betrafen, unterscheidet sich ihr Ansatz durch ihre Erfahrung aus erster Hand mit eingeborenen amerikanischen Sprachen und der Ablehnung von Behauptungen betreffend die Überlegenheit der europäischen Sprachen. Siehe auch: Austin, J.L.; Cassirer, E.; Condillac, E.B. de; Determinismus und Indeterminismus; Diderot, D.; Putnam, H.; Quine, W.v.O.; Übersetzung, fundamentale und fundamentale Interpretation; Relativismus; Searle, J.; Sprache, Philosophie der; Wittgenstein, L.J.J. JOHN A. LUCY
Sartre, Jean-Paul (1905-1980) Einführung Sartre war der Philosoph des Paradox: ein Existenzialist, der ein Versöhnung mit dem Marxismus versuchte, ein Theoretiker der Freiheit, der den Begriff der Vorherbestimmung erforschte. Ab Mitte der 1930er Jahre bis in die späten 1940er Jahre befand sich Sartre in seiner ‚klassischen‘ Periode. Er erforschte die Geschichte der Theorien der Vorstellungskraft, die ihn bis zur Theorie von Husserl führte, und entwickelt seine eigene phänomenologische Darstellung der Vorstellungskraft als den Schlüssel zur Freiheit des Bewusstseins. Er analysierte die menschlichen Gefühle und meinte, dass das Gefühl eine frei gewählte Weise der Beziehung zur äußeren Welt sei. In seinem größten philosophischen Werk, ‚L’Être et le Néant‘ (dt.: ‚Das Sein und das Nichts‘, 1943), unterschied Sartre zwischen Bewusstsein und allen anderen Seinsformen: das Bewusstsein sei sich immer, zumindest stillschweigend, seiner selbst bewusst, daher wesentlich für sich selbst (fr.: pour-soi), und das heißt: frei, beweglich und spontan. Alles andere, das nicht über dieses Bewusstseins seiner selbst verfügt, sei nur, was es in sich selbst ist (fr.: en-soi); es sei ‚fest‘ und ermangele deshalb der Freiheit. Das Bewusstsein nehme immer Teil an der Welt, derer es sich bewusst sei, und stehe immer mit anderen Bewusstseins-Entitäten in Beziehung. Diese Beziehungen seien konfliktreich; sie brächten einen Kampf um die Erhaltung der Subjektposition mit sich, die andere zu Objekten machen möchte. Dieser Kampf sei unausweichlich. 1614
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
Obwohl Sartre tatsächlich ein Philosoph der Freiheit war, wird seine Konzeption der Freiheit doch oft missverstanden. Schon in ‚Das Sein und das Nichts‘ operiert die Freiheit auf einem Hintergrund von Faktizität und Situation. Meine Faktizität besteht aus allen Tatsachen über mich selbst, die nicht verändert werden können, z.B. mein Alter, mein Geschlecht, meine soziale Herkunftsklasse, meine Rasse etc. Meine Situation mag sich ändern, aber sie bildet doch immer den Ausgangspunkt für jeden Wandel und verwurzelt das Bewusstsein fest in der Welt. Die Freiheit wird von Sartre nicht idealisiert. Sie spielt sich immer innerhalb einer gegebenen Menge von Umständen ab, ferner nach einer bestimmten Vergangenheit und vor den Erwartungen sowohl meiner selbst, als auch anderer, dass ich meine Wahlentscheidungen frei treffe. Meine persönliche Geschichte bedingt den Berech meiner Entscheidungsmöglichkeiten. Von den 1950er Jahren an politisierte sich Sartre immer stärker und versuchte sich schließlich an einer Versöhnung zwischen dem Existenzialismus und dem Marxismus. Dies war das Ziel seiner ‚Critique de la raison dialectique‘ (dt.: ‚Kritik der dialektischen Vernunft‘, 1960), die stärker als zuvor die Wirkung der historischen und materiellen Bedingungen der individuellen und kollektive Wahlentscheidung anerkannte. Ein Versuch zu Erkundung dieses Wechselspiels in praxi liegt sowohl seiner Biographie von Flaubert, als auch seiner eigenen Autobiographie zugrunde. 1. Hintergrund 2. Frühe Philosophie 3. ‚Das Sein und das Nichts‘ 4. Literarische Werke 5. Späte Philosophie 1. Hintergrund Sartres Prestige als ein Philosoph war, zumindest in Frankreich, in den späten 1940er Jahren in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg auf seinem Höhepunkt, als die Philosophie der Freiheit und der Selbstbestimmung zur Stimmung eines Landes passte, das kürzlich von seiner Besetzung befreit worden war. Sein Prestige erreichte seinen Tiefpunkt in den späten 1960er und 1970er Jahren, als der Strukturalismus zeitweise sowohl den Humanismus, als auch den Existenzialismus in Misskredit brachte und verkündete, ‚der Mensch‘ sei nicht mehr als der Ort von Kräften, die von sozialen und linguistischen Strukturen aufgespannt und tatsächlich hervorgebracht würden (siehe Strukturalismus). Die britische analytische Tradition hatte niemals Zeit, sich wirklich mit den literarischen und dramatischen Aspekten des Existenzialismus und der Phänomenologie zu beschäftigen, wenn auch einige jüngere Kritiken, sie die von Phyllis Morris und Gregory McCulloch sich bemühten, Sartre als Philosophen ernst zu nehmen und seinen Beitrag auf eine Weise zu bewerten, die analytisch trainierten Geistern zugänglicher war. Die emotionalen Reaktionen auf Sartre tendieren dazu, auf unterschiedliche Weisen Sartres Gedankengang zu verzerren und sich z.B. auf einen der Pole der vielen Paradoxa festzulegen, die seine Philosophie mit sich bringt. Denn Sartre ist tatsächlich ein Philosoph der Paradoxa; er konfrontiert seine Leser willentlich mit logisch ‚unmöglichen‘ oder selbstwidersprüchlichen Behauptungen, um ihn dadurch zu zwingen, über die Beschränkungen der binären Gegensätzlichkeit hinaus
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Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
zu denken, an die ihn der ‚gemeine Menschenverstand‘ und die analytische Vernunft gewöhnt haben. Beispielsweise zwingt der Satz: ‚Der Mensch ist, was er nicht ist, und nicht, was er ist‘ (1943: 97) provokativ den Leser, der darin verharrt, sich mit den diffizilen Fragen der Beziehung von Wesen, Existenz und Negation auseinanderzusetzen. ‚Der Mensch ist, was er nicht ist‘, d.h. der Mensch ist ein Seiendes ohne Wesen, ein Sein, das durch die Negation agiert, das nicht mit seiner Vergangenheit identifiziert werden kann, und nicht einmal mit seinem gegenwärtigen Selbst, und das somit das ist, ‚was es nicht ist‘. Das Paris der 1940er Jahre überschätzte Sartres Glauben an die menschliche Freiheit und lobte ihn dafür. Das Paris der 1960er Jahre machte denselben Fehler und verwarf ihn zusammen mit allen anderen Relikten des Humanismus aus der Mitte des Jahrhunderts. Keine dieser Epochen las Sartre sorgfältig genug, um die Beschränkungen und Grenzen zu erkennen, innerhalb derer, so meinte man, sich die Freiheit von Anfang an zu bewegen hätte. 2. Frühe Philosophie Sartres erste veröffentliche philosophische Werke waren ‚L’Imagination‘ (dt.: ‚Die Vorstellung‘, 1936), eine Geschichte der Theorien der Vorstellungskraft bis zur Theorie von Edmund Husserl, und ‚La Transcendance de l‘ego‘ (dt.: ‚Die Transzendenz des Ego‘, 1937). ‚Die Transzendenz des Ego‘ gibt sich feindselig gegenüber jeder Art von Essentialismus des Selbst. Darin argumentiert Sartre gegen Husserl, dass das Ego nicht transzendental, sondern transzendent sei, d.h. es sei kein innerer Kern des Seins, keine Quelle meiner Handlungen, Gefühle und meines Charakters, sondern vielmehr ein Konstrukt, ein Produkt meines Selbstbildes und meines Bildes in den Augen der Anderen und im Spiegel meines vergangenen Verhaltens und Fühlens. Sartre behauptet, dass das Bewusstsein nicht wesentlich die Erste Person ausmache, sondern unpersönlich sei, oder bestenfalls präpersonal, und dass es durch Intentionalität gekennzeichnet sei, d.h. es sei immer auf etwas anderen als sich selbst gerichtet (in diesem Punkte mit Husserl). In diesem Zusammenhang positioniert sich Sartre in der Beziehung auf die kantische ‚Einheit der Apperzeption‘, indem er meint, dass das ‚ich denke‘, obwohl es in der Lage sein muss, alle meine Repräsentationen der Welt zu begleiten, dies doch nicht immer tut, jedenfalls nicht ausdrücklich. Ich kann meine Aufmerksamkeit in jedem Augenblick von dem abwenden, was ich gerade tue und sie auf mich selbst als den Handelnden richten, aber diese Reflexivität ist kein dauerhaftes, frei gesetztes Merkmal des Bewusstseins. Später, in ‚Das Sein und das Nichts‘ (1943), behauptet Sartre, dass es genau diese Reflexivität sei, d.h. das sich seiner selbst bewusste Sein des Bewusstseins, dass das Bewusstsein personalisiere und den Menschen ausmache; doch in ‚Die Transzendenz des Ego‘ ist eine solche Vorstellung noch abwesend, und Sartre bemüht sich mehr um die Identifikation des Bewusstseins mit dem Selbstsein, als die Art und Weise zu erforschen, in der sich das Bewusstsein zum Begriff des Subjekts in Beziehung setzt. In seiner ‚Esquisse d’un théorie des émotions‘ (dt.: ‚Skizze einer Theorie der Gefühle‘, 1939) wendet sich Sartre einem weiteren Bereich menschlicher Erfahrung zu um zu zeigen, dass dieser andererseits auch nicht mit Vorstellungen der Wesentlichkeit beschrieben werden kann. Gefühle werden nach Sartres Auffassung eher gewählt als verursacht: das Gefühl bringt einen ‚magischen‘ Versuch zu Umformung der Wirklichkeit durch das mit sich, was verändert werden kann, nämlich 1616
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
meine eigenen Gefühle, und nicht durch etwas, was weniger formbar ist, d.h. die äußere Welt. Im Angesicht extremer Gefahr werde ich vielleicht ohnmächtig vor Angst; die Gefahr ist nicht verschwunden, aber ich bin mir ihr nicht länger bewusst. Sartre nimmt hier eine radikale Position ein, die er auf veränderte Weise auch in späteren Jahren beibehielt, als ihm immer stärker gewahr wurde, bis zu welchem Grade wir durch äußere Bedingungen geformt werden. Er achtet auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Bereichen, die mit der Empfindungsbewegung in Beziehung stehen, z.B. der Leidenschaft, dem Gefühl etc. Diese Empfindungsbewegung ist nicht kontinuierlich über die Zeit hinweg aufrecht zu erhalten. sondern ist Intenstitätsfluktuationen ausgesetzt und wird vielleicht von Zeit zu Zeit von alternativen Gefühlen ersetzt. In diesem Sinne lehnt Sartre den Essentialismus ebenfalls ab. Wie Proust glaubt er an die ‚Unterbrechungen des Herzens‘; die Liebe sei beispielsweise kein kontinuierlicher emotionaler Zustand, sondern ein Gemisch auf Affekt, Wunsch, Leidenschaft, sowie vielleicht der Eifersucht, der Verärgerung, manchmal bis hin zum Hass. Die Liebe sei kein permanent zwingender Zustand, den wir uns vorstellen mögen; sie sei vielmehr die Folge einer Entscheidung und einer Verbindlichkeit (siehe Gefühle, Wesen der; Gefühle, Philosophie der). Diese beiden Arbeiten stellen die Grundlage dar für Sartres frühe Theorie der menschlichen Freiheit, zusammen mit einer zweiten Arbeit über die Vorstellungskraft. In ‚L’Imaginaire, psychologie phénoménologique de l‘imagination‘ (dt.: ‚Die Psychologie der Vorstellung‘, 1940) greift Sartre die Stränge von Husserls Theorie der Vorstellung auf und entwickelt sie weiter, indem er zeigt, wie die phänomenologische Psychologie in der Praxis arbeitet. Anders als die traditionelle empirische Psychologie basiert sie nicht auf einer positivistischen Methodik, bei der die Evidenz von der Anhäufung von Beispielen abhängt. Die phänomenologische Methode operiert mit einem bestimmten Typ der Introspektion oder der Intuition, durch die der Phänomenologie ein einziges Beispiel oder eine Reihe von Beispielen des zu analysierenden Phänomens prüft, hier der Vorstellung, und leitet von diesem Beispiel die allgemeinen Prinzipien und Merkmal des Phänomens ab. Auf diese Weise beschreibt Sartre das, was er die ‚Armut‘ der Vorstellung nennt, d.h. die Tatsache, dass man darin niemals mehr finden kann, als ich selbst bereits hineingetan habe. Wenn ich z.B. die Anzahl der Säulen des Parthenon nicht kennen, so kann ich sie zählen, wenn ich den Tempel in Wirklichkeit anschaue. Wenn ich mir den Tempel nur vorstelle, so hängt die Zahl seiner Säulen nicht vom wirklichen Gebäude, sondern lediglich von meiner eigenen, impliziten Schätzung ab. Ich kann aus der Vorstellung nichts lernen, was ich aus der Anschauung lernen kann. Aber das Gegenteil dieser ‚Armut‘ der Vorstellung ist die Freiheit: in der Vorstellung bin ich nicht so beschränkt wie ich dies in der Wahrnehmung durch die materielle Welt um mich herum bin. Tatsächlich ist die Vorstellung nicht nur die Erzeugung eines Bildes von der Wirklichkeit, sondern sie ist nach Sartres Auffassung selbst konstitutiv für die Freiheit des Bewusstseins. Ohne die Vorstellungskraft würden wir ‚am Wirklichen kleben‘, unfähig, aus dem gegenwärtigen Augenblick der Zeit und unserer unmittelbaren Umgebung zu entkommen. Es ist die Vorstellungskraft, die uns erlaubt, vor unserer materiellen Umgebung zurückzutreten und eine imaginäre Distanz dazu einzunehmen; in Sartres Worten: diese Umgebung zu ‚totalisieren‘, sie als eine ‚Welt‘ mit Ordnung und Mustern zu sehen. In ‚Das Sein und das Nichts‘ behauptet Sartre denn auch, dass die Vorstellungskraft die Quelle der Zwecke und der Finalität sei, 1617
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
die wir in der Welt sehen, doch in ‚Die Psychologie der Vorstellung‘ konzentriert er sich eher auf die unterschiedlichen Funktionen der Vorstellung und der Bildung von Vorstellungen im engeren Sinne (siehe Einbildungskraft). 3. ‚Das Sein und das Nichts‘ ‚Das Sein und das Nichts‘ stellt die hauptsächlichen philosophischen Standpunkte des ‚klassischen‘ Sartre dar. Das Sein ist gewissermaßen in zwei große Regionen unterteilt, nämlich in das Sein-für-sich (fr.: ‚l’être pour-soi‘) oder das Bewusstsein, und das Sein-in-sich (fr.: ‚l’être en-soi‘), das alles andere als das Bewusstsein ist, einschließlich der materiellen Welt, der Vergangenheit, des Körpers als Organismus etc. Dem Sein-in-sich widmet Sartre nicht mehr als 60 von 660 Seiten (der englischen Ausgabe); er sagt darüber wenig mehr als das es sei, was es ist, und dass es ‚in sich selbst‘ sei. Nur durch das ‚für-sich‘ des Bewusstseins wird das ‚in-sich‘ eine Welt, von der man reden kann. Tatsächlich, so meint Sartre, können wir gar nichts über das Sein wissen, wie es ist, sondern nur darüber, wie es uns erscheint. Erst durch das Bewusstsein wird die Welt mit Zeitlichkeit, Räumlichkeit und anderen Qualitäten wie z.B. der Nützlichkeit von Dingen zu einem Zweck ausgestattet. Infolgedessen lässt sich die Vorstellung im weitesten Sinne des Wortes als primär betrachten: „Die Vorstellung ist das Ganze des Bewusstseins, wie es seine Freiheit realisiert.“ (‚Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Vorstellung‘, 1940: 236). Die Vorstellung erzeugt eine Welt des ‚in-sich‘, sie totalisiert und ‚nihiliert‘ sie. Die Nihilation (fr.: ‚néantir‘) ist ein für Sartre typischer Ausdruck; er meint nicht die Annihilation, sondern eher eine besondere Art von Negation, die das Bewusstsein durchführt, wenn es einen Gegenstand ‚intendiert‘: es unterscheidet dann den Gegenstand von seiner Umgebung und weiß von sich, dass es nicht dieser Gegenstand ist. Aber das Bewusstsein ist nicht allein in der Welt, die sie aus dem rohen ‚in-sich‘ erzeugt hat. Tatsächlich hat es die Welt gar nicht für sich allein erzeugt, sondern als Teil einer intersubjektiven Gemeinschaft. Und andere Menschen oder auch ihr Bewusstsein sind für Sartre nicht nur ein nachträglicher Einfall. Wie Heidegger sieht er die Menschen als immer schon in Beziehungen mit anderen eingewoben; anders jedoch als Heidegger sieht er diese nicht in der Form des ‚Mitseins‘, sondern im Sinne eines Konfliktes, dessen Typik an die Darstellung erinnert, die Hegel von der Beziehung zwischen Herr und Knecht gibt. Der Andere ist in permanentem Wettbewerb mit mir. Ich möchte ein Subjekt sein und den anderen zum Objekt machen, während sie oder er umgekehrt versuchen, mich zu ihrem Objekt zu machen. Nach Sartres Darstellung ist dieser Kampf der Schlüssel zu allen menschlichen Beziehungen, und nicht etwa nur zu denen, die womöglich konfliktgeladen sind, sondern auch zu jenen des sexuellen Verlangens und selbst noch der Liebe. Das Bewusstsein befindet sich in einem permanenten Kampf zur Erhaltung seiner Freiheit im Angesicht von Angriffen von allen Seiten. Diese Aspekte von Sartres Frühphilosophie sind wahrscheinlich die bekanntesten. Weniger vertraut, aber nicht weniger bedeutsam sind jedoch seine Darstellungen der Grenzen, innerhalb derer die menschliche Freiheit wirksam ist. Der Kampf des Bewusstseins ist nicht körperlos, und mein eigener Körper stellt nicht nur die Bedingung der Möglichkeit dar, sondern ist auch eine der großen Einschränkungen meiner Freiheit. Das Bewusstsein und die Vorstellung sind frei, dies jedoch vor einem Hintergrund der Faktizität und der jeweiligen Situation. Insbesondere der Faktizität 1618
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
(Tatsächlichkeit) wird von den Exegeten von Sartres Philosophie zu wenig Gewicht beigemessen. Meine Tatsächlichkeit besteht aus all jenen Tatsachen über mich, die ich nicht verändern kann: Alter, Geschlecht, Körpergröße, soziale Herkunft, Rasse, Nationalität etc. Der spätere Sartre wird zu dieser Faktizität auch noch eher psychologische Elemente zu dem genetischen oder umweltbedingten Ursprung hinzuzählen. Die Situation eines Menschen kann sich ändern, aber sie stellt immer den Ausgangspunkt für jeden Wandel dar und verwurzelt das Bewusstsein fest in der Welt um sich herum. All dies bedeutet, dass die Sartresche Philosophie der Freiheit weniger idealistische Aspekte hat, als dies auf den ersten Blick scheinen möchte. Ich bin nicht frei, eine große Mehrzahl meiner Lebensumstände zu ändern, und diejenigen zu ändern, die das zulassen, mag bereits schwierig sein. Wenn ich lebe, so erzeuge ich ein Selbst, dass mich nicht bindet, sondern dass gewiss einige Handlungsverläufe leichter und attraktiver erscheinen lässt als andere. Mein eigenes Selbstbild und das Bild der Anderen von mir bedingen ebenfalls den Bereich der Möglichkeit, die mir offen stehen. Ich bilde mit den Jahren einen Charakter aus, und obwohl es mir jederzeit frei steht, mich ‚außerhalb meines Charakters‘ zu verhalten – schließlich ist es ein Selbst, dass ich selbst erzeugt habe, und kein Wesen, mit dem ich geboren bin – ist eine solche Entscheidung in der Regel nicht einfach. Sartre beschreibt diese Verfassung des Selbst als etwas, das weniger bestimmte Merkmale habe, als eher ein ‚Projekt‘ sei, und zwar in dem Sinne, dass jede Person ein grundlegendes Seinsprojekt habe, das nicht notwendigerweise das Ergebnis einer bewussten Entscheidung und möglicherweise mit der Zeit erarbeitet worden sei. Dieses Projekt bildet den Kern des gesamten Flechtwerks von Wahlentscheidungen und Verhaltensentscheidungen, die die Gesamtheit meines Selbst ausmachen. Meine Handlungen bilden eine bedeutungsvolle Gesamtheit, wobei sich jede Handlung zu anderen in Beziehung davor und danach setzt, und so steht die zu treffende Entscheidung über bedeutsame Änderungen immer einem Widerstand aus schon existieren Mustern und Strukturen gegenüber. Als Sartre beispielsweise die Geschichte eines Mannes diskutiert, der einen langen Fußmarsch aufgibt, weil der ‚zu müde‘ sei, um weiterzugehen, so diskutiert Sartre die Aufgabe des Fußmarsches als ein Projekt, dem kein Beharren mehr innewohnt angesichts von Rückschlägen ohne Aussicht auf Belohnung. „Natürlich hätte er sich anders verhalten können“, kommentiert Sartre, „aber um welchen Preis?“ (1943: 531). Unsere persönliche Geschichte rottet nicht unsere Freiheit aus, aber in der Praxis ist es oft einfacher unsere Freiheit zu verleugnen, als sie anzuwenden. Wir verstecken uns hinter dem Selbst, das wir uns konstruiert haben, fürchten den Wandel und reden uns ein, dass unsere Wahlmöglichkeiten beschränkt seien. Die Freiheit bedroht uns, sie eröffnet einen Bereich an Möglichkeiten, der uns einschüchtert, und wir fliehen davor in das, was Sartre den „schlechten Glauben“ nennt. Idealerweise mögen wir den positiven Aspekt der Freiheit, d.h. die freie Wahl, die Abwesenheit von Beschränkungen, zusammen mit der Sicherheit und der Bequemlichkeit eines fixierten Charakters oder eines ebensolchen Wesens. Beides ist aber unvereinbar miteinander, und unser Wunsch, sie zu kombinieren, bezeichnet Sartre als „nutzlose Passion“ (siehe Selbsttäuschung, Ethik der). 1943 schildert Sartre die Freiheit schon fest vor einem Hintergrund aus Beschränkungen, die sich aus den Merkmalen der materiellen Welt ergeben oder durch andere Menschen, deren Projekte zu dem meinigen nicht passen mögen, aber auch aus der körperlichen Existenz, aus der Faktizität und aus der Angst vor der Freiheit 1619
Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
selbst. Die Freiheit ist immer innerhalb einer Situation gegeben und nimmt von hier ihren Ausgang, und sie ist selbst eine der Determinanten und bedingenden Kräfte der Situation, die Sartre in seinen späteren Schriften immer stärker ins Zentrum seines Denkens rückt. 4. Literarische Werke Die 1940er Jahre waren Sartres literarisch produktivste Zeit. Von ‚La Nausée‘ (dt.: ‚Der Ekel‘, 1938) an, der die Beziehung von Zufall und Notwendigkeit im Leben und in der Kunst durch Erfahrungen von Roquentin erforscht, schreitet Sartre in den Kriegjahren fort zu der Trilogie ‚Les Chemins de la liberté‘ (dt.: ‚Die Straße zur Freiheit‘, 1945-1949). Diese Trilogie (oder unvollendete Quadrologie?) porträtiert die Leben einer wechselnden Gruppe Pariser Intellektueller bei Ausbruch des Krieges, und speziell die Weisen, auf die sie ihre Freiheit vor sich selbst verstecken, während sie sich überzeugen, dass dies letztlich ihr Ziel sei. Mathieu, ein Universitätsgelehrter, steht im Zentrum dieser Ambivalenz, als er versucht, Geld für die Abtreibung seiner Langzeit-Geliebten Marcelle aufzutreiben. Sartre schrieb auch zahlreiche sehr erfolgreiche Theaterstücke in dieser Zeit: ‚Les Mouches‘ (dt.: ‚Die Fliegen‘, 1943), eine Allegorie auf die résistance gegen die deutsche Besatzung, die den Mythos des Orest zur Erforschung der Kraft menschlicher Freiheit im Anblick der Unterdrückung verwendet. In ‚Huis Clos‘ (dt.: ‚Geschlossene Gesellschaft‘, 1944) zeigt er die tödlichen Konseqenzen konfliktgeladener menschlicher Beziehungen und die Selbsttäuschung in einer Hölle, die drei Figuren erfasst, die zum ewigen Zusammenbleiben in einem Wohnzimmer des second empire (d.h. der Zeit des imperialen bonapartistischen Regimes von Napoleon III. zwischen 1852 und 1870) verurteilt sind. ‚Les Main Sales‘ (dt.: ‚Die schmutzigen Hände‘, 1948) diskutiert Fragen des Realismus und des Idealismus, der Mittel und der Zwecke, der Wahrheit, der Lügen und der politischen Verpflichtung in Illyria, einem imaginären kommunistischen Land in Osteuropa. Dieses fein ausbalancierte und komplexe Stück wurde unerwartet positiv von der bürgerlichen Presse aufgenommen, die es entgegen Sartres Intention als vor allem antikommunistisch interpretierte. In der Folge davon fühlte sich Sartre gezwungen, seine Produktion für ungefähr zehn Jahre einzustellen. 5. Späte Philosophie Die zunehmende Politisierung in Sartres Nachkriegsschriften bedeutete, dass er sowohl die Literatur, als auch die Philosophie in den 1950er Jahren in dem Umfange zur Seite legte, wie er als Autor, Lehrbeauftragter und Person des öffentlichen Lebens in konkreten politischen Fragen und Bemühungen in Erscheinung trat. Sein nächstes, größeres philosophischen Werk, die ‚Critique de la raison dialectique‘ (dt.: ‚Kritik der dialektischen Vernunft‘) erschien nicht vor 1960 und ist deutlich gekennzeichnet von seinem wachsenden Interesse für Marx. Die ‚Kritik‘ ist ein Versuch des Unmöglichen: den Existenzialismus und den Marxismus zu versöhnen; den Marxismus wieder zu beleben, von dem Sartre meinte, dass er bereits verknöchert sei; das erneute Erwachen seiner Wahrnehmung für die individuelle und kollektive Subjektivität; und schließlich der Versuch, den Existenzialismus in engeren Kontakt mit den materiellen Bedingungen der historischen Existenz zu bringen. Sartre prüft soziale und politische Fragen wie z.B. das Gruppenhandeln, den historischen Wandel, die Revolution und das Verhalten angesichts der materiellen Knappheit der 1620
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Ressourcen. Er ändert seine radikale Position hinsichtlich der menschlichen Freiheit, indem er umfänglicher als zuvor die Wirkung der historischen und materiellen Bedingungen der individuellen und kollektiven Wahl anerkennt. Er schließt sich der berühmten politischen Parole von Engels an: „Die Menschen machen Geschichte auf der Grundlage dessen, was die Geschichte aus ihnen gemacht hat.“ Wir sind keine Spielfiguren oder Zahnräder im Getriebe, noch nehmen wir einfach an Prozessen der Internalisierung und Externalisierung teil, sondern wir sind freie Akteure, die grundlegend und unentrinnbar in bestimmte soziale und materielle Situationen versetzt sind. Tatsächlich verwendet Sartre später den jansenistischen1 Ausdruck ‚Prädestination‘, um zu erklären, wie seine Auffassungen sich von den positivistischen Theorien zum menschlichen Determinismus unterscheiden. Die materiellen Bedingungen bestimmten die Umgebung, in der wir handeln. Sie determinieren nicht kausal unser Verhalten, aber sie schreiben den beschränkten Bereich von Handlungsoptionen vor, der uns offen steht. Ein weißer, bürgerlicher Mann in einem wohlhabenden Vorort hat einen enorm viel größeren Handlungshorizont, innerhalb dessen er seine Freiheit ausüben kann, als eine ältere farbige Frau, die in der Armut eines innerstädtischen Ghettos lebt. Beide sind im ontologischen Sinne frei, aber ihre Möglichkeiten, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, sind nicht vergleichbar. Und in den 1960er Jahren bemüht sich Sartre um die Beschränkungen, die der Freiheit durch die materielle Welt und auch durch die menschliche Freiheit selbst auferlegt werden. Es ist diese Beschäftigung mit dem Absoluten und dem schon beschriebenen Wesen der menschlichen Freiheit, die Sartres letzten beiden großen Werken zugrunde liegt, nämlich seine Autobiographie ‚Les Mots‘ (dt.: ‚Die Worte‘, 1963), ein kurzes und fein gewobenes literarisches Meisterwerk, sowie ‚L’Idiot de la famille, Gustave Flaubert 1821-1857‘ (dt.: ‚Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 18211857‘, 1971-1972), eine 3.000 Seiten starke Biographie über Flaubert, die einen großen Bereich unterschiedlicher Disziplinen einbezieht. ‚Was kann man heute vom Menschen wissen?‘ war die Frage, die Sartre in seiner Darstellung von Flaubert stellte. In diesem Buch fasst er nicht nur den Existenzialismus, die Phänomenologie und die marxistische Theorie und ihre Methoden zusammen, sondern auch die Psychoanalyse, die Soziologie, die Literaturgeschichte, die Ästhetik und die Anthropologie. Was machte Flaubert mit dem, was aus ihm gemacht worden war? Als jemand, der in einer Familie groß wurde, die die historischen Konflikte seines Zeitalters widerspiegelte, als zweiter Sohn eines Arztes, von dem man erwartete, dass er Rechtsanwalt würde, schlug der junge Gustave Flaubert ein deutlich abweichende Laufbahn ein. Als Widerstand gegen den erwachsenen Druck, den man auf ihn ausübte, lernte er erst spät lesen (daher das Wort ‚Idiot‘ im Titel), lebte im Schatten seines älteren Bruders und meldete sich von der rechtswissenschaftlichen Schule im Verlauf einer hysterisch-epileptischen Krise ab (in Sartres AusdrucksDer Jansenismus, benannt nach dem Bischof Cornelius Jansen (1585-1638), war im 17. und 18. Jahrhundert eine Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche, die sich auf die Gnadenlehre des Augustinus gründete. Die Reformation hatte sich im Anschluss an Luther theologisch an der Frage entzündet, wie die Erlösung des Menschen zu erlangen sei. Die Jansenisten schlossen sich in diesem Punkte, wie die meisten Protestanten, der altkirchlichen Sicht Augustinus’ an, derzufolge der Mensch keinen Einfluss auf seine Erlösung hat, auch nicht durch von ihm geleistete gute Taten, wie noch die mittelalterliche Theologie lehrte; vielmehr sei er allein dem göttlichen Gnadenwillen überantwortet. [WS]
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Sartre, Jean-Paul (1905-1980)
weise ‚intentional‘, aber nicht ‚überlegt‘), wodurch er zu einem Invaliden wurde, dem ‚Eremiten von Croisset‘, was ihm wiederum erlaubte, zu Hause in der Familie zu leben und Schriftsteller zu werden. Sartres Darstellung seiner eigenen Wahl derselben Laufbahn ist prägnanter und ironischer: die Familien Sartre und Schweitzer (als Großvater mütterlicherseits) bleiben von bissigen und witzigen Beschreibungen der ‚Familienkomödie‘ nicht verschont; sie machten aus dem jungen Jean-Paul einen altklugen Scharlatan, der den Erwachsenen zum Gefallen und für den künftigen Ruhm schrieb: ein Supermann-Schriftsteller, und der schließlich zu einem professionellen Schriftsteller wurde. Die Diskrepanz zwischen der Wahlentscheidung und dem Schicksal zeigt sich als einer sehr schmale, die gleichwohl nicht ganz geschlossen ist. Selbst wenn er mit grausamem Scharfsinn seine eigene Ausbildung analysiert, hält sich Sartre innerhalb des Rahmens, den er dreißig Jahre zuvor entworfen hatte: es gibt eine Freiheit innerhalb der Situation, selbst wenn die Situation nur wenig Platz zum Manövrieren lässt. Die Subjektivität wird nun als die décaloge oder der Unterschied zwischen dem Prozess der Internalisierung und der Externalisierung definiert. Die Freiheit mag nicht mehr als ein ‚Spielraum‘ im Getriebe sein, aber die permanente Dialektik zwischen den Polen der Freiheit und der Konditionierung entzieht sich der Totalisierung. ty,
Siehe auch: Beauvoir, S. de; Camus, A.; Existenzialismus; Merleau-PonM.; Phänomenologische Bewegung
Anmerkungen und weitere Lektüre: Cohen-Solal, A. (1987): ‚Sartre: A Life‘. New York: Pantheon, und London: Heinemann (Die mit Abstand beste englische Biographie von Sartre; sehr gut informiert und nicht unkritisch.) Howells, Christiana (Hrg.) (1992): ‚The Cambridge Companion to Sartre‘. Cambridge: Cambridge University Press (Eine interessante und abwechslungsreiche Sammlung philosophischer Aufsätze von einigen der herausragendsten Interpreten von Sartre in den USA und Europa.) Sartre, J.-P. (1952): ‚Das Sein und das Nichts. Essay zur phänomenlogischen Ontologie‘, Reinbek bei Hamburg 1952 und in zahlreichen weiteren und anderen Auflagen. (Erste deutsche Ausgabe von Sartres philosophischem Hauptwerk: Eine Studie der Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt, sowie zwischen eigenem und fremdem Bewusstsein.) CHRISTINA HOWELLS
Saussure, Ferdinand de (1857-1913)
Obwohl er einen großen Beitrag zu vergleichenden und historischen Studien leistete, die die Linguistik des 19. Jahrhunderts beherrschten, ist Saussure heute wohl am bekanntesten für die Entwicklung einer grundlegend anderen Konzeption der Sprache und der linguistischen Methodik, die im 20. Jahrhundert durch die strukturalistische Linguistik in den Mittelpunkt rückte. Saussure wird häufig und leider zu Unrecht als Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus betrachtet. In den nach Saussures Tod unter seinem Namen erschienenen ‚Cours de linguistique générale‘ (dt.: ‚Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft‘, 1916/dt. 1967) wird eine allgemeine Theorie der Sprache als Zeichensystem entwickelt.
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Saussure, Ferdinand de (1857-1913)
Dieses Werk, das als der Gründungsakt des Strukturalismus gilt, ist jedoch nach inzwischen gesicherter Erkenntnis nicht von de Saussure selbst verfasst worden, sondern von zweien seiner Kollegen namens Charles Bally und Albert Sechehaye, die anhand ihrer Vorlesungsmitschriften versuchten, die Auffassung Saussures von der Sprache zu rekonstruieren. Bally und Sechehaye hatten Saussures Vorlesungen allerdings gar nicht persönlich besucht. Quellenkritische Untersuchungen ergaben inzwischen, dass die zentralen Thesen der ‚Grundfragen‘ gerade nicht von Saussure stammen, sondern von den beiden genannten Kollegen. Dies gilt auch für den oft zitierten Satz, Sprache sei „eine Form, keine Substanz“. Erst in den 1950er Jahren begann langsam eine quellenkritische Rezeption, die sich um die authentische Sprachidee Saussures aus seiner fragmentarischen Hinterlassenschaft bemüht. Die Rezeptionsgeschichte Saussures ist mithin durch eine Kluft zwischen der Rezeption der ‚Grundfragen‘ und der Saussure-Rezeption gezeichnet. Die inzwischen erfolgte Rekonstruktion des authentischen Sprachdenkens Saussures und die Richtigstellung der Urheberschaft der ‚Grundfragen‘, die sich inzwischen auch interdisziplinär durchgesetzt hat, kann und soll die ideengeschichtliche Bedeutung der ‚Grundfragen‘, deren Rezeption den strukturalistischen und poststrukturalistischen Diskurs maßgeblich geprägt und unzählige Anschlussdiskurse hervorgebracht hat, nicht rückgängig machen. Der ‚Cours de linguistique générale‘ bleibt damit das bedeutendste Buch des Strukturalismus, auch wenn Ferdinand de Saussure es gar nicht geschrieben hat. Dieses Werk stellt die Sprache als ein abstraktes und überindividuelles System von Zeichen (fr.: ‚langue‘) dar und behauptet, diese Perspektive sei die einzig relevante zum Verständnis der Sprache. Sprache wird damit vom Sprechen, der parole, abgelöst und kann dadurch auch vom Sprechen unabhängig erforscht werden. Dieses Zeichensystem ist nach dieser Auffassung jedoch fundamental beliebig, so dass seine Bedeutungen nur durch die historisch konstituierten Systeme der Konvention zustande kommen, zu denen sie gehören. Diese Systeme sind es, die in den ‚Grundfragen‘ die ‚langue‘ bilden. Daraus folgt, dass ein linguistisches Studium zunächst und vor allem eines der langue ist, d.h der zu einem Zeitpunkt gegebenen konventionellen Beziehungen zwischen Zeichen, die zum selben System gehören, und nicht eines der linguistischen Formen über die Zeit, wie dies die Komparativisten behauptet haben. Siehe auch: Semiotik; Strukturalismus in den Sozialwissenschaften DAVID HOLDCROFT
Scham
Siehe: Moralisches Empfinden
Scheler, Max Ferdinand (1874-1928)
Max Scheler, der normalerweise zu den Phänomenologen gerechnet wird, war der wahrscheinlich bekannteste deutsche Philosoph der 1920er Jahre. Er war immer ein eklektischer Denker. Als Schüler des neoidealistischen Rudolph Eucken war er aber auch stark von den Lebensphilosophien Diltheys und Bergsons beeinflusst. Während er an der Universität Jena lehrte, traf er regelmäßig Husserl, den Gründer der phänomenologischen Bewegung, und seine reifen Schriften sind auch sehr phänomenologisch sowie katholisch geprägt. Später wandte er sich der Metaphysik und
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1775-1854)
den philosophischen Problemen zu, die durch die moderne Wissenschaft aufgeworfen wurden. Schelers Interessen waren sehr breit gefächert. Er versuchte allen Aspekten der Erfahrung gerecht zu werden, also den ethischen, religiösen, sozialen, wissenschaftlichen, historischen etc., ohne den spezifischen Charakter eines jeden Erfahrungstyps dabei zu übergehen. Vor allem nahm er den emotionalen Charakter des Denkens sehr ernst. Viele seiner Einsichten sind schlagend und sehr tief gehend, und manchmal sind seine Argumente sehr erzählerisch; aber seine Kraft zur konsistenten Organisation seines Stoffs und zur gewissenhaften Begründung seiner Thesen ist schwach entwickelt. Scheler wurde für seine antikantianische Ethik bekannt, die von einem apriorisch-emotionalen Erfassen der Hierarchie objektiver Werte ausgeht, die allen Wahlentscheidungen von Gütern und Zwecken vorausgeht. Er selbst beschreibt seine Ethik als personalistisch und hebt die persönlichen Werte als die obersten heraus, indem er scharf zwischen ‚Person‘ und ‚Ego‘ unterscheidet und dies mit seiner Analyse unterschiedlicher Typen sozialer Interaktionen verbindet. In der Erkenntnistheorie verteidigt er ein pragmatisches Herangehen an die Wissenschaften und an die Wahrnehmung. Daher erfordert die Philosophie als die Intuitionn der Wesenheiten nach seiner Auffassung eine vorbereitende asketische Disziplin. Seine Religionsphilosophie stellt den Versuch dar, den augustinischen Ansatz der Liebe mit dem thomistischen Ansatz der Vernunft zu verbinden. In seinen späteren Arbeiten, zu denen seine wichtige Arbeit über die Sympathie den Übergang bereitete, vertritt er eine dualistische philosophische Anthropologie und Metaphysik und interpretiert letztere als etwas Aktives im Sinne einer Lösung der Spannungen zwischen der geistigen Liebe und dem vitalen Impuls. FRANCIS DUNLOP
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1775-1854)
Wie auch viele andere deutsche Idealisten begann Schelling seine philosophische Laufbahn mit der Anerkennung der fundamentalen Bedeutung von Kants Begründung der Erkenntnis in der synthetisierenden Tätigkeit des Subjekts, wobei er gleichzeitig die Kantische Behauptung eines Dualismus zwischen den Erscheinungen und den Dingen an sich in Frage stellte. Die anderen Haupteinflüsse in Schellings Frühwerk gehen auf Leibniz, Spinoza, J.G. Fichte und F.H. Jacobi zurück. Während er sowohl Spinozas Konzeption eines absoluten Grundes übernahm, aus der die endliche Welt folgt, als auch Fichtes Betonung der Rolle des Ich bei der Konstitution der Welt, suchte Schelling sowohl den Fatalismus zu überwinden, der sich aus Spinozas Monismus ergibt, als auch die Fichtesche Intuition, dass die Natur nur existiert, um dem Ich untergeordnet zu werden. Nachdem er zwischen 1794 und 1796 eine Position eingenommen hatte, die Fichte sehr nahe stand, versuchte Schelling in seinen unterschiedlichen Varianten der ‚Naturphilosophie‘ von 1797 an neue Wege einer Darstellung der Identität zwischen Denken und dem Naturprozess zu gehen, indem er behauptete, dass in seiner Philosophie die Natur der ‚unsichtbare Geist, und der Geist die unsichtbare Natur‘ sei. In seinem ‚System des transzendentalen Idealismus‘ (1800) entwickelte er die Idee, dass die Kunst als das ‚Organ der Philosophie‘ die Identität dessen aufzeige, was er die ‚bewusste‘ Produktivität (d.h. Geist) und die ‚unbewusste‘ Produktivität (d.h. Natur) nannte, denn sie offenbare mehr, als man über die bewussten Intentionen verstehen könne, die zu ihrer Produktion führten. Schellings Identitätsphilosophie, die 1624
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1775-1854)
eine weitere Fassung seiner Naturphilosophie ist, beginnt im Jahre 1801 und lässt sich in der Behauptung zusammenfassen, dass die „Existenz die Verbindung eines Wesens als Eines mit sich selbst als Mehrheit“ sei. Die materielle Natur und der sie erkennende Geist seien unterschiedliche Aspekte desselben Absoluten oder derselben absoluten Identität, in der sich beide begründet lägen. Im Jahre 1804 beschäftigt sich Schelling mit den Übergängen zwischen dem Absoluten und der manifesten Welt, in der Notwendigkeit und Freiheit miteinander im Konflikt stehen. Wenn die Freiheit nicht unerklärlich sein soll, so macht er geltend, sei Spinozas Annahme eines logisch notwendigen Überganges von Gott auf die Welt nicht hinnehmbar. Die ‚Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände‘ (1809) versucht zu erklären, wie Gott die Welt unter Beteiligung des Bösen erschaffen konnte, wobei er nahe legte, dass die Natur zu Gott in einer Beziehung stünde, in der später Freud das sog. ‚Es‘ gegenüber dem entwickelten und autonomen ‚Ich‘ sieht, das die Triebe transzendiert, von denen es bewegt wird. Die Philosophie in dem Werk ‚Die Weltalter‘, an der Schelling in den 1810er und 1820er Jahren arbeitete, interpretiert die intelligible Welt, einschließlich uns selbst, als das Ergebnis eines fortgesetzten Konfliktes zwischen expansiven und kontraktiven Kräften. Er gewinnt die Überzeugung, dass die Philosophie letztlich keine Begründung für die Existenz der manifesten Welt geben kann, die das Ergebnis dieses Konflikts ist. Dies führt in den 1820er Jahren zu seinem Widerstand gegen Hegels philosophisches System und zu einer zunehmenden Beschäftigung mit der Theologie. Hegels System behauptet, voraussetzungslos zu sein und daher selbstbegründend. Während Schelling akzeptiert, dass die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Aspekten der Erkenntnis in einem dynamischen System artikuliert werden können, meint er gleichzeitig, dass dies nur zu einer ‚negativen‘ Philosophie tauge, in der die Tatsache des Seins im Denken eingeschlossen sein müsse. Die von ihm so betitelte ‚positive‘ Philosophie versucht mit der Tatsächlichkeit eines „Seins, das absolut unabhängig von allem Denken“ sei, zurechtzukommen. In seiner ‚Philosophie der Mythologie‘ und der ‚Philosophie der Offenbarung‘ aus den 1830er und 1840er Jahren unternimmt es Schelling schließlich, ein vollständiges philosophisches System zu entwerfen, indem er „mit dem, was einfach existiert“ beginnt, „um zu sehen, ob ich von hier aus zur Göttlichkeit zu gelangen vermag“. Dies führt ihn zu einer historischen Darstellung der Mythologie und der jüdisch-christlichen Offenbarung. Dieses System überwindet jedoch nicht das Problem der sog. ‚Andersheit‘ des Seins, seine Irreduzibilität auf ein philosophisches System, was doch der Kern seiner Kritik an Hegel ist. Der direkte und indirekte Einfluss seiner Kritik auf Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Rosenzweig, Levinas, Derrida und andere ist offenkundig. Schelling muss deshalb als eine der Schlüssel-Übergangsfiguren zwischen Hegel und den Ansätzen des ‚postmetaphysischen‘ Denkens betrachtet werden. Siehe auch: Deutscher Idealismus ANDREW BOWIE
Schiller, Johann Christoph Friedrich (1759-1805)
Schiller was in erster Linie ein Künstler, ein großer Dichter und der führende Dramatiker im Deutschland des 18. Jahrhunderts, und erst an zweiter Stelle ein ästhetischer Denker. Auf dem Höhepunkt seiner Beschäftigung mit der Ästhetik nennt er den Philosophen ‚eine Karikatur‘ neben dem ‚Dichter als dem einzigen 1625
Schlegel, Friedrich von (1772-1829)
menschlichen Wesen‘. Aber die philosophische Reflexion hatte tiefe Wurzeln in ihm, bis hin zu dem Punkt, wo er fühlte, dass sie seine künstlerische Kreativität behinderte und gleichzeitig auch das Mittel sei, um diese Kreativität wieder herzustellen. Schließlich kam er mit diesem Paradox zurecht, indem er eine Typologie der ‚naiven‘ und der ‚reflektierenden‘ Künstler aufstellte, die sein Problem erklärte, und zufällig damit auch die Evolution der modernen europäischen Literatur (‚Über naive und sentimentalische Dichtung‘, 1795). Schiller war ferner von dem leidenschaftlichen Glauben an die Humanisierung und die soziale Funktion der Kunst getrieben. Seine frühe Rede ‚Die Wirkung des Theaters auf das Volk‘ (1784; späterer Titel: ‚Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet‘) feierte den einen Treffpunkt oder Platz, wo unsere volle Menschlichkeit wieder hergestellt werden könne. In den reifen Aufsätzen der 1790er Jahre kann auch eine sehr viel komplexere Argumentation nicht die letztendliche Einfachheit seines Glaubens an die Kunst verbergen, selbst und insbesondere nicht inmitten einer historischen Krise: der Höhepunkt seiner Erklärungen zur Schönheit, ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ (1795) ist gleichzeitig eine wohlüberlegte Antwort auf die Ereignisse in Frankreich, wo eine ‚rationale‘ Revolution sich in eine Terrorherrschaft verwandelt hatte. Schiller schlägt eine Erziehung zum menschlichen Gleichgewicht als die einzige ausreichend gründliche Antwort auf die gewaltsamen Exzesse vor und macht geltend, dass die Kunst ihr einziger möglicher Vermittler sei. Schillers Ideen sind vorstellungsstark, großzügig und intuitiv anziehend in ihrer Darstellung dessen, was Kunst sei und was sie tun solle. Mit seiner poetischen Autorität und der großen Beredsamkeit seiner Prosa sind sie mächtige Kulturkritiken. Wahrscheinlich hätten sie sogar noch wirksamer sein können und auch weniger angreifbar, wenn er nicht versucht hätte, sie in eine systematisch, quasi-kantische Form zu bringen, wodurch er von den philosophischen Kommentatoren gefördert und vom gewöhnlichen Leser oft als abschreckend empfunden wurde. Siehe auch: Ästhetik und Ethik; Burke, E.; Cassirer, E.; Goethe, J.W. von; Sublime, Das T.J. REED
Schlegel, Friedrich von (1772-1829)
Schlegel war der bedeutendste Ästhetiker der romantischen Bewegung Deutschland während ihrer Entstehungszeit (1797-1802). In diesen Jahren entwickelte er seine einflussreichen Begriffe der romantischen Dichtung und Ironie, schuf einen originellen Ansatz in der Literaturkritik und gab die Zeitschrift des frühromantischen Zirkels mit dem Titel ‚Athenäum‘ heraus. Zusammen mit F. von Hardenberg (Novalis), F.W.J. Schelling und F.D.E. Schleiermacher war er einer der führenden Geister in der Entwicklung einer romantischen Metaphysik, Ethik und Politik. Seine Metaphysik versuchte Fichtes Idealismus und Spinozas Naturalismus zu vereinen. Seine Ethik predigte den radikalen Individualismus und die Liebe gegenüber dem abstrakten Formalismus der kantischen Ethik. In seinen frühen politischen Ansichten war Schlegel sehr radikal und verteidigte die Rechte der Revolution und der Demokratie gegen Kant. In seinen späteren Jahren wurde er jedoch deutlich konservativer. Seine abschließenden Arbeiten sind eine Verteidigung seines neokatholischen Mystizismus. FREDERICK BEISER
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Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768-1834)
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768-1834)
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher war der herausragendste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts. Er gab einen bedeutenden Anstoß zur Neuorientierung der Theologie nach dem Zeitalter der Aufklärung (siehe seine Reden ‚Über die Religion‘, 1790, und auch die ‚Kurze Darstellung des theologischen Studiums‘, 1811) und erfreute sich einer großen Zuhörerschaft in Berlin sowohl als Prediger, als auch als Professor der Theologie und der Philosophie. Sein ganzes Leben hindurch war er ein glühender Verfechter der Einheit zwischen der Lutherischen und der Reformierten Kirche in der so genannten ‚Alten Preußischen Union‘, und sein Handbuch ‚Der christliche Glaube‘ (1821, 1822) gilt als die erste Überschreitung der konfessionellen Grenzen zwischen den Reformierten Kirchen. Seine Übersetzung von Platon hat klassischen Status. In seinen universitären Vorlesungen und akademischen Reden über die Philosophie machte er einen gründlichen und nachhaltigen Eindruck auf seine Zuhörer, und zwar sowohl in seinem historischen, als auch in seinem systematischen Denken. Er hatte ferner wichtigen Anteil an der deutschen Universitätsreform. In der Theologie und der Philosophie strebte er danach, eine unabhängige vermittelnde Position zwischen der Aufklärung, dem deutschen Idealismus und der Romantik zu finden. Siehe auch: Hermeneutik; Deutscher Idealismus; Schlegel, F. von GÜNTER MECKENSTOCK
Schlick, Friedrich Albert Moritz (1882-1936)
An Moritz Schlick erinnert man sich gewöhnlich als die führende Figur des Wiener Kreises, einer Gruppe, die von den späten 1920er Jahren bis in die Mitte der 1930er Jahre blühte und wichtige Beiträge zu jener philosophischen Bewegung leistete, die als ‚logischer Empirismus‘ bekannt wurde. Doch viele von Schlicks originiellsten Beiträgen zur Philosophie gehen diesem Höhepunkt des Wiener Kreises voraus und lieferten schon die Grundlagen eines bedeutenden Teils ihrer späteren Entwicklung. Er begann seine akademische Karriere als Arzt, und seine frühen Beiträge zur Philosophie umfassen eine einflussreiche und konventionalistische Interpretation der Allgemeinen Relativitätstheorie, sowie eine neue Darstellung der Definitionen grundlegender Ausdrücke der theoretischen Wissenschaften. In den Debatten, die innerhalb des Wiener Kreises blühten, war er berühmt für seine Bindung an das Verifikationsprinzip und seine Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Hinzu kommt, dass seine Werke während der letzten Jahre des Wiener Kreises einige der nüchternsten Reflexionen über die Probleme darstellen, die den frühen logischen Empirismus irritierten. Obwohl nur wenige der Auffassungen des logischen Empirismus unter heutigen Philosophen noch Anhänger finden, übt doch ihr Herangehen an die Philosophie, insbesondere die Bestimmung ihrer zentralen Verwirrungspunkte, immer noch einen enormen Einfluss auf die zeitgenössischen Denker aus. Da Schlick Bedeutendes zu der Form beisteuerte, die der logische Empirismus in der Epoche seiner philosophischen Vorherrschaft annahm, besteht kein Zweifel, dass sein Denken auch weiterhin vieles im heutigen Denken anregen wird. Schlick wurde 1936 von einem ehemaligen Studenten mit einem faschistischen Tatmotiv in der Universität Wien erschossen. Siehe auch: Bedeutung und Verifikation; Logischer Positivismus; Wiener Kreis THOMAS OBERDAN
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Schopenhauer, Arthur (1788-1860)
Schopenhauer, Arthur (1788-1860)
Schopenhauer, einer der größten Prosaautoren unter den deutschen Philosophen, arbeitete fernab des Establishments der akademischen Philosophie. Er schrieb hauptsächlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und veröffentlichte im Jahre 1818 den ersten Band von ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘, sowie den zweiten Band im Jahre 1844, doch seine Ideen wurden erst ab 1850 in weiteren Kreisen bekannt. Die Wirkung von Schopenhauers Philosophie kann man in der Arbeit vieler Künstler dieser Epoche sehen, vor allem bei Wagner, und auch in einigen Themen der Psychoanalyse. Der am stärksten von ihm beeinflusste Philosoph war Nietzsche, der ursprünglich viele seiner Ideen akzeptierte, diese später jedoch wieder verwarf. Schopenhauer betrachtete sich selbst als einen Nachfolger von Kant, und dieser Einfluss zeigt sich in Schopenhauers Verteidigung des Idealismus, sowie in vielen seiner zentralen Begriffe. Er hebt sich jedoch auch radikal von Kant ab. Seine vorherrschende Idee ist die des Willens: er behauptet, dass die ganze Welt Wille sei, ein Streben und weitgehend eine unbewusste Kraft in einer Vielzahl von Verkörperungen und Äußerungen. Schopenhauer entwickelt diesen Gedanken als eine metaphysische Darstellung der Welt, wie sie an sich selbst ist, glaubte aber auch, dass dies durch empirische Evidenz gedeckt sei. Menschen als Teil der Welt sind nach ihm grundlegend wollende Wesen, und ihr Verhalten ist durch ein unfreiwilliges Streben nach Leben geprägt, das sich in allen Organismen manifestiert. Seine Darstellung des Wechselspiels zwischen dem Willen und dem Intellekt wurde als Prototyp für spätere Theorien des Unbewussten gesehen. Schopenhauer war ein Pessimist; er glaubte, dass unsere Natur als wollende Wesen unvermeidlich zum Leiden führe, und dass ein Leben im Leiden schlechter sei als die Nichtexistenz. Diese Lehren, die in einem literarischen Stil vorgetragen werden, der oft tief gehend und sehr bewegend ist, gehören zu seinen einflussreichsten. Gleichermaßen wichtig sind seine Auffassungen betreffend die Erlösung aus der menschlichen Zwangslage, die er in der Leugnung des Willens ausmacht bzw. in der Umwendung des Willens gegen sich selbst. Obwohl seine Philosophie atheistisch ist, durchsuchte Schopenhauer viele der Weltreligionen nach Beispielen der Askese und des Selbstverzichts. Sein Denken war auf einer frühen Stufe teilweise durch den Hinduismus beeinflusst, und stand später freundlich zum Buddhismus. Die ästhetische Erfahrung nimmt einen hohen Rang in Schopenhauers Werk ein. Er meint, dass diese eine Art der willenlosen Wahrnehmung sei, in der man seine Anhänglichkeit an die Gegenstände der Welt aufhebe und damit eine Ablösung von der Qual des Willens (Wünschen und Leiden) erreiche und die Natur der Dinge objektiver verstehe. Das künstlerische Genie sei eine Person, die mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur objektiven, willensfreien Wahrnehmung begabt sei, die entsprechende Erfahrungen auch in anderen Menschen anstoße. Hier greift Schopenhauer die Vorstellung der platonischen Ideen auf, die er als ewig existierende Aspekte der Wirklichkeit begreift: das Genie unterscheide solche Ideen, und ganz allgemein mögen sie uns durch ästhetische Erfahrung begreiflich werden. Der Musik widmet er eine besondere Behandlung; sie manifestiere direkt die Natur des Willens, die der gesamten Welt zugrunde liege. In der Ethik übt Schopenhauer gründliche Kritik an Kants Theorie. Er baut seine eigene ethische Auffassung auf dem Begriff des Mitgefühls oder der Sympathie auf, die er als eine relativ seltene Eigenschaft schildert, weil die Menschen als or1628
Schlüsselexperimente
ganische, wollende Wesen von Natur aus egoistisch seien. Gleichwohl ist für Schopenhauer das Mitgefühl, dessen zugrunde liegende Weltsicht die Unterschiedenheit dessen minimiert, was wir als getrennte Individuen begreifen, der einzig wahre moralische Impuls. Siehe auch: Kunst, Wert der; Sexualität, Philosophie der CHRISTOPHER JANAWAY
Schlüsselexperimente
Ein ‚Schlüsselexperiment‘ soll angeblich die Wahrheit einer in einer Gruppe miteinander konkurrierender Theorien ermitteln. Francis Bacon meinte, dass solche Experimente in den empirischen Wissenschaften häufig und von spezieller Bedeutung für den Abschluss von Forschungen seien. Diese Ansprüche wurden von Pierre Duhem bestritten, der meinte, dass Schlüsselexperimente in den physikalischen Wissenschaften unmöglich seien, weil sie eine vollständige Aufzählung aller möglichen Theorien zur Erklärung eines Phänomens verlangen, was nicht erreichbar ist. Trotz Duhem betrachten Wissenschaftler bestimmte Experimente als entscheidend in dem Sinne, dass das Schlüsselergebnis dabei hilft, eine Theorie in einer Gruppe rivalisierender Theorien sehr wahrscheinlich zu machen, und die anderen nach geltendem Wissen folglich sehr unwahrscheinlich. Siehe auch: Duhem, Pierre Maurice Marie (1861-1916); Quine, Willard van Orman; Unterbestimmung PETER ACHINSTEIN
Schluss auf die beste Erklärung, Der
Der Schluss auf die beste Erklärung ist der Prozess des Wählens jener Hypothese oder Theorie, die die verfügbaren Daten am besten erklären. Die Faktoren, die eine Erklärung besser sein lassen als eine andere, umfassen die Erklärungstiefe, den Erklärungsumfang, die Einfachheit und die Vereinheitlichungskraft. Nach einigen Autoren spielt der erklärende Schluss eine zentrale Rolle sowohl im alltäglichen, als auch im wissenschaftlichen Denken. Im Alltag mag eine Person z.B. schließen, dass eine Sicherung durchgebrannt ist, um zu erklären, warum zahlreiche Küchengeräte plötzlich gleichzeitig nicht mehr arbeiten. Auch die Wissenschaftler scheinen sich des Schlusses auf die beste Erklärung zu bedienen. Beispielsweise schlossen die Astronomen, dass ein weiterer Planet existieren müsste, um die Umlaufungenauigkeiten des Uranus erklären zu können. Dennoch ist trotz der Suggesitivität solcher Fälle der Umfang, in dem wir Schlüsse auf die beste Erklärung ziehen und uns auf sie verlassen sollten, ein sehr umstrittenes Thema. Siehe auch: Skeptzismus JONATHAN VOGEL
Schönheit
Über den Gegenstand der Schönheit stimmen die Theoretiker nur in wenigen, rudimentären Aspekten des Ausdrucks überein: dass er in den Bereich der Ästhetik gehört, dass er absolute und vergleichende Formen hat etc. Darüber hinaus überwiegt der Disput. Die Realisten behaupten, dass Urteile über die Schönheit ihren Subjekten entweder eine nichtrelationale Eigenschaft zuschreiben, die den Dingen inhärent ist, oder eine Fähigkeit zur Affizierung derer, die sich anspricht, auf eine Weise, die sich objektiv gibt. In beiden Fällen kommt es zu akuten Problemen, wenn man diese Eigenschaft definiert, und wenn man erklären will, wie man sie 1629
Searle, John (1932 -)
wissen kann. Die klassischen Platoniker behaupten, dass die Schönheit als eine ideale, jenseits der Wahrnehmung bestehende Form existiert, während die Theoretiker des 18. Jahrhunderts sie als eine quasisensorische Eigenschaft betrachteten. Kants transzendentale Philosophie verortet die Erfahrung der Schönheit bei den grundlegenden Voraussetzungen der Erkenntnis und verleiht ihr ‚subjektive Universalität und Notwendigkeit‘. Die Skeptiker wenden dagegen ein, dass die angenommenen Eigenschaften lediglich ein Reflex ästhetischen Vergnügens seien und es ihnen deshalb an Objektivität ermangele. Teilweise wegen ihrer Bemühungen um gewichtigere Angelegenheiten hat die philosophische Tradition niemals irgendeine Theorie der Schönheit in der Tiefe und Vollständigkeit entwickelt, wie sie dies beispielsweise auf dem Gebiet der Moral unternahm. Die vergleichsweise Vernachlässigung des Gegenstandes wurde durch die allgemein subjektivistische und relativistische Neigung der Sozial- und Geisteswissenschaften noch verstärkt, und auch durch die künstlerische Avantgarde. Allerdings haben eine Reihe jüngerer und anspruchsvoller Studien der Theoriebildung über die Schönheit neuen Schwung verliehen. Siehe auch: Ästhetische Einstellung; Ästhetische Begriffe; Hume, D. §§ 3, 4; Kant, I. § 12; Plotin JOHN H. BROWN
Schrödingers Katze
Siehe: Quantenmechanik, Messprobleme in der
Schuld
Siehe: Moralische Empfindungen
Scientia media
Siehe: Allwissenheit; Molina, Luis de
Scotus, Johannes Duns
Siehe: Duns Scotus, Johannes
Searle, John (1932 -)
John Searle war in den 1950er Jahren Schüler von J.L. Austin in Oxford. Er ist Mills Professor for Mind and Language an der Universität von Kalifornien in Berkeley, wo er seit 1959 Philosophie lehrt. Nach Searle sind die primären Gegenstände der Analyse in der Philosophie der Sprache nicht die (einzelnen) Ausdrücke, sondern die Produktionsvorgänge dieser Ausdrücke, d.h. der Sprechakte, und zwar im Einklang mit Regeln. Das Erlernen einer Sprache bringt, oft unbewusst, die Verinnerlichung von Regeln mit sich, die die Durchführung des Sprechaktes in dieser Sprache leiten. Der Theorie der Sprechakte geht es um die Entdeckung dieser Regeln; sie ist selbst Teil der Handlungstheorie, die sich um intentionale Zustände bemüht, die auf etwas gerichtet sind. Daraus folgt, dass die Theorie der Sprechakte Teil einer umfassenderen Theorie der Intentionalität ist. Siehe auch: Analytische Philosophie; Alltagssprache, philosophische Schule der; Intentionalität; Sprechakte ERNIE LEPORE
Second-Order-Logik
Siehe: Logik zweiter Ordnung, Philosophie Fragen der
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Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
Für die Griechen ist die Seele das, was dem Körper das Leben gibt. Platon stellte sie sich als eine Sache vor, die gesondert vom Körper existiert. Ein menschliches Leben auf der Erde besteht dieser Vorstellung zufolge in zwei Teilen, nämlich der Seele und dem Körper. Die Seele ist der wesentliche Teil des Menschen, also das, was aus einer Person diese Person macht. Sie ist der Teil, dem das geistige Leben der Menschen zugehört, d.h. es ist die Seele, die denkt, fühlt und wählt. Seele und Körper wechselwirken miteinander. Körperliche Zustände verursachen oft Seelenzustände, und Seelenzustände verursachen oft körperliche Zustände. Diese Auffassung ist unter der Bezeichnung ‚Substanzdualismus‘ bekannt. Sie umfasst normalerweise die Auffassung, dass die Seele einfach ist, d.h. dass sie nicht aus Teilen zusammengesetzt ist. Wenn ein Gegenstand Teile hat, dann kann einer dieser Teile Eigenschaften haben, die der andere nicht aufweist. Für jede meiner Erfahrungen gilt jedoch, sei es eine akustische, visuelle oder sonstige oder auch ein Gedanke, dass sie sich für mich als Ganzes ereignet. Platon meinte auch, dass im Moment des Todes die Seele und der Körper sich wieder trennen; der Körper zerfällt, während die Seele in ein anderes Leben aufbricht. Aristoteles dagegen stellte sich die Seele einfach als eine ‚Form‘ vor, d.h. als eine Verhaltens- und Denkweise; ein Mensch, der eine Seele hat, besteht lediglich aus seinem Verhalten, indem er z.B. seine Körperteile bewegt, und seinem menschlichen Denken, was er beides auf die für seine Art charakteristische Weise tut. Und so, wie es auch keinen Tanz ohne Menschen geben kann, die tanzen, so könne es nach ihm auch keine Verhaltensweisen ohne verkörperte Menschen geben, die sich auf diese Weise verhalten. Folglich existiert für Aristoteles die Seele nicht ohne den Körper. Die christliche Theologie, die an das Leben nach dem Tode glaubt, fand es selbstverständlich, Platons Konzeption der Seele zu übernehmen. Doch im 13. Jahrhundert versuchte Thomas von Aquin eine aristotelische Konzeption der Seele zu entwickelt, die so abgeändert war, dass sie zur christlichen Lehre passen sollte. Die Seele, so lehrte Thomas, sei tatsächlich eine Form, aber eine besondere Art von Form, die auch vorübergehend ohne den Körper existieren könne, in den sie natürlicherweise eingebettet sei. Es war allerdings schon immer schwierig, diese Ansicht auf eine kohärente Weise so zu artikulieren, dass sie sich von der platonischen unterscheidet. Descartes formulierte Platons Ansicht neu. In jüngerer Zeit wurde die Auffassung, dass Menschen eine Seele haben, immer als die Ansicht verstanden, dass die Menschen einen wesentlichen Teil haben, der vom Körper abgesondert werden kann, wie es bereits von Platon und Thomas von Aquin geschildert wurde. Die rein aristotelische Auffassung wird etwas bescheidener als die Ansicht formuliert, dass Menschen keine Seelen haben, sondern dass die Menschen allein aus Materie bestehen, auch wenn sie auf sehr komplizierte Weise organisiert ist und Eigenschaften aufweist, die unbelebte Dinge nicht besitzen. Mit anderen Worten, der Aristotelismus ist eine frühe Art von Materialismus. Wenn man die Seele jedoch für etwas hält, was sich vom Körper absondern lässt, könnte sie auch unter dieser Bedingung immer noch aufhören zu existieren, sobald der Körper stirbt. Platon machte eine Reihe von Argumenten geltend, die zeigen sollten, dass die Seele selbstverständlich unsterblich sei. Kraft ihrer eigenen Natur, d.h. kraft dessen, was sie ist, würde sie für immer existieren. Spätere Philosophen haben einige dieser Argumente weiterentwickelt und neue hinzugefügt. 1631
Sehvermögen
Doch selbst, wenn diese Argumente nicht beweisen, was sie zu beweisen trachten – und die meisten Philosophen gehen davon aus, dass dies der Fall ist – so kann die Seele dennoch natürlicherweise unsterblich sein; oder sie ist einfach unsterblich, weil Gott oder irgendeine andere Kraft sie für immer im Zustand des Seins erhält, entweder für sich selbst, oder zusammen in oder mit einem neuen Körper. Wenn es einen allmmächtigen Gott gibt, so kann er sie auch für immer im Zustandes der Existenz erhalten. Und er kann uns schließlich auch offenbart haben, der er dies tut bzw. tun wird. Siehe auch: Mendelssohn, M.; Psychē RICHARD SWINBURNE
Sehvermögen
Das Sehvermögen ist der am meisten untersuchte Wahrnehmungssinn. Er ist unsere reichhaltigste Informationsquelle über die externe Welt, versorgt uns mit Wissen der Form, der Größe, der Entfernung, der Farbe und der Leuchtkraft von Gegenständen um uns. Das Sehvermögen ist schnell und arbeitet ohne unser bewusstes Zutun ganz von selbst. Die offenkundige Leichtigkeit, mit der wir sehen, ist jedoch täuschend. Seit Kepler die Erzeugung des Netzhautbildes im frühen 17. Jahrhundert beschrieb, wissen die Theoretiker des Sehvermögens, dass Gegenstände nicht so aussehen, wie sie auf unserer Netzhaut erscheinen. Das Netzhautbild ist zweidimensional, doch wir sehen dreidimensional; die Größe und die Form des Bilden, das ein Gegenstand auf die Netzhaut projiziert, verändert sich mit der Entfernung und der Perspektive des Beobachters, doch wir erfahren die Gegenstände als etwas, das eine konstante Größe und Form hat. Die erste Aufgabe einer Theorie des Sehvermögens ist es deshalb zu erklären, wie nützliche Information über die externe Welt aus den wechselnden Netzhautbildern erzeugt werden kann. Theorien des Sehvermögens lassen sich grob in zwei Klassen einteilen. Die indirekten Theorien beschreiben die Prozesse, die der visuellen Wahrnehmung zugrunde liegen, auf psychologische Weise, beispielsweise als Schluss von vorangehenden Daten oder als Konstruktionen komplexer Perzeptionen aus grundlegenden Wahrnehmungsbestandteilen. Direkte Theorien neigen zu einer Betonung des Reichtums der durch das Netzhautbild verfügbaren Information, und was noch wichtiger ist, sie bestreiten, dass der visuelle Prozess auf irgendeine richtige Weise psychologisch oder mental beschrieben werden kann. Während sie nicht bestreiten, dass die Prozesse, die dem Sehvermögen zugrunde liegen, sehr komplex sein mögen, behaupten die ‚direkten Theoretiker‘, dass die Komplexität nur durch Bezugnahme auf nichtpsychologische, neuronale Prozesse erklärt werden kann, die im Gehirn ablaufen. Die einflussreichste jüngere Arbeit über das Sehvermögen behandelt dieses als eine informationsverarbeitende Aufgabe, folglich aus indirekter Perspektive. Berechnungsmodelle beschreiben den Sehprozess als die Produktion und die Entzifferung einer Reihe von zunehmend nützlichen internen Repräsentationen einer entfernten Handlung. Diese Vorgänge werden in Darstellungen, die auf Berechnungen aufbauen, als präzise Algorithmen beschrieben. Der Einsatz von Computern bei der Erforschung möglicher Strategien, die vom Sehvermögen angewandt werden, trägt zu unserem Verständnis von Problemen bei, die den komplexen visuellen Aufgaben anhaften, wie z.B. die Erkennung von Kanten und Formen, und ermöglichen eine strenge Überprüfung von vorgeschlagenen Lösungen.
1632
Sein
Siehe auch: Bewusstsein; Farbe und Qualia; Molyneux-Problem, Das; Wahrnehmung
FRANCES EGAN
Sein
Obwohl ‚Sein‘ häufig als ein Name für eine Eigenschaft oder eine spezielle Sorte von Entität behandelt wird, ist es doch allgemein anerkannt, dass sie keines von beiden ist. Daher sollten Fragen betreffend das Sein nicht als solche nach der Natur irgendeines Gegenstandes oder der Beschaffenheit irgendeiner Eigenschaft verstanden werden. Vielmehr wirft eine solche Frage eine Reihe von Problemen auf, welche Arten von Entitäten es gibt, oder was jemand sagt, wenn er behauptet, dass irgendeine Entität sei, und über die notwendigen Bedingungen des Denkens einer Entität als einer, der Sein zukommt. Zumindest vier unterschiedliche Fragen betreffend das Sein zeigten sich in der Geschichte der Philosophie: (1) Welche Dinge gibt es? (2) Was heißt, das etwas ist? (3) Ist es jemals angebracht, das Wort ‚ist‘ als ein Prädikat zu behandeln, und wenn nicht, wie sollte es verstanden werden? (Alternativ: ist Existenz eine Eigenschaft?) und (4) Wie ist es möglich zu beabsichtigen, dass etwas ist? Die Diskussionen über das Sein in der analytischen Tradition im 20. Jahrhundert haben sich auf die erste und die dritte Frage fokussiert. Die Arbeit in der deutschen Tradition, speziell jene von Martin Heidegger, hat die vierte Frage betont. Siehe auch: Existenz; Ontologie MARK OKRENT
Selbstmords, Ethik des
Siehe: Selbsttötung, Ethik der
Selbsttäuschung, Ethik der
Die Selbsttäuschung oder auch der Selbstbetrug sind komplizierte und verblüffende Phänomene, weil sie alle wesentlichen Aspekte der menschlichen Natur, einschließlich des Bewusstseins, der Rationalität, der Motivation, der Freiheit, des Glücks und der Wertbindung, betreffen. In einem weiten Sinne bezieht sich ‚Selbsttäuschung‘ auf intentionale Tätigkeiten und motivierte Prozesse zur Vermeidung unangenehmer Wahrheiten oder von Dingen und deren sich daraus ergebenden geistigen Zuständen der Unwissenheit bis hin zur Dummheit, der falschen Überzeugung, der ungesicherten Einstellungen und der unangemessenen Gefühle. Sich selbst zu täuschen wirft wie die Täuschung anderer Menschen eine Menge Fragen über die Unmoralität solchen Verhaltens auf. Diese erstrecken sich darauf, ob die Selbsttäuschung immer unmoralisch ist, oder nur, wenn sie ein Fehlverhalten verbergen helfen oder unterstützen soll; ferner, ob die Selbsttäuschung über ein Fehlverhalten oder den eigenen Charakter dieses verschlimmert oder die Schuld an der Verursachung von Schaden zu mildern versucht; wie wichtig der Wert der Authentizität ist, und ob sie geopfert werden kann bei dem Versuch, mit der Wirklichkeit fertig zu werden; welche Beziehung zwischen Selbsttäuschung und Verantwortlichkeit besteht; und ob sich auch ganze Gruppen selber täuschen können. Letztlich hängt der moralische Status eines jeden Falles von Selbsttäuschung von den Umständen des Einzelfalls ab. MIKE W. MARTIN
1633
Selbsttötung, Ethik der
Selbsttötung, Ethik der
Die Selbsttötung wurde seitens der meisten westlichen Religionen und auch seitens vieler Philosophen als notwendig unmoralisch verdammt. Es wurde geltend gemacht, dass die Selbsttötung dem Willen Gottes trotzt, dass sie sozial schädlich ist, und dass sie der Natur zuwiderläuft. Nach Kant entwürdigen diejenigen, die sich selbst töten, die Menschheit, indem sie sich selbst als Dinge, und nicht als Personen behandeln. Darüber hinaus entwurzeln sie als Subjekte des moralischen Handelns die Moral, indem sie sich selbst aus dieser Handlung entfernen. Im Gegensatz zu dieser Tradition machten die Stoiker und die Philosophen der Aufklärung geltend, dass die Selbsttötung nicht notwendig unmoralisch ist. Sie mag manchmal unklug sein und unnötiges Leiden verursachen, aber häufig ist sie vollkommen rational, und gelegentlich sogar heroisch. Geht man von den gesetzlichen Reformen im Hinblick auf die Selbsttötung aus, und von den Selbsttötungen prominenter Personen in den letzten Jahrzehnten, so scheint die Position der Aufklärung allgemein akzeptiert worden zu sein. Siehe auch: Bioethik; Leben und Tod; Medizinische Ethik; Tod PAUL EDWARDS
Selbstüberwindung Siehe: Askese
Sellars, Wilfrid Stalker (1912-1989)
Wilfrid Sellars gehörte zu den systematischsten und innovativsten US-amerikanischen Nachkriegsphilosophen. Seine kritische Destruktion des ‚Mythos des Gegebenen‘ machte ihn zu einer führenden Stimme der angloamerikanischen Kritik des ‚kartesischen Begriffs des Geistes‘, und auch in der entsprechenden Umwendung der Aufmerksamkeit von den Kategorien des Denkens zur öffentlichen Sprache. Seine eigenen positiven Ansichten waren naturalistisch, wobei er einen robusten wissenschaftlichen Realismus mit einem tiefgründigen Nominalismus kombinierte, der sowohl die traditionellen abstrakten Entitäten, als auch die ontologisch einfachen Bedeutungen ablehnte. An ihrer Stelle verdeutlichte Sellars die linguistische Bedeutung und den Inhalt des Denkens als eine ausgefeilte Theorie der begrifflichen Rollen (siehe Semantik der Begriffsrollen), die sich im Sprachverhalten von Sprechern realisieren und als Formen des kulturellen Erbes übertragen werden. Er kombinierte seine Theorie mit einer Form des ‚verbalen Behaviorismus‘ und brachte damit die erste Fassung des Funktionalismus in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes hervor. Darüber hinaus brachten ihm seine gründlichen und originellen philosophischen Beiträge, sowie seine lange Berufslaufbahn als ein hervorragender Lehrer und einflussreicher Herausgeber den gerechtfertigten Ruf als einer der bestimmenden Figuren der Nachkriegsepoche ein. Siehe auch: Kategorien; Begriffe; Intentionalität; Letztbegründungsphilosophie; Nominalismus; Ontologie JAY F. ROSENBERG
Semantik
Die Semantik ist das systematische Studium der Bedeutung. Zeitgenössische Arbeiten auf diesem Gebiet bauen auf dem Werk von Logikern und Linguisten, aber auch von Philosophen auf. Philosophen interessieren sich für Letztbegründungsfragen in der Semantik, weil es hier um das Wesen der Bedeutung selbst geht, wie sie 1634
Semantik der Begriffsrollen
in unserem Denken und in unseren Beziehungen zueinander und zur Welt eingebettet ist. Von besonderem Interesse sind hier Fragen darüber, wie eine semantische Theorie die Verbindungen der Bedeutung zur Wahrheit und zum Verstehen berücksichtigen soll. Hinzu kommen zahlreiche semantische Probleme betreffend spezielle sprachliche Konstruktionen, die ebenfalls von philosophischem Interesse sind, manchmal deshalb, weil diese Probleme zur Lösung von semantischen Letztbegründungsfragen wichtig sind, und manchmal, weil philosophisch unabhängige Fragen unter Verwendung solcher Konstruktionen ausgedrückt werden, und dann wieder, weil die Klarheit der semantischen Funktion einer Konstruktion auch Klarheit in die gesamte Entwicklung philosophischer Theorien und Analysen bringt. Siehe auch: Analytizität; Emotive Bedeutung; Intuitionistische Logik und Antirealismus; Logische Konstanten; Masseausdrücke; Ontologische Verpflichtung; Semiotik; Strukturalismus in der der Linguistik; Uneindeutigkeit MARK CRIMMINS
Semantik der Begriffsrollen
Nach der Semantik der Begriffsrollen ist die Bedeutung einer Darstellung die Rolle dieser Darstellung im kognitiven Leben des Handelnden, beispielsweise in der Wahrnehmung, im Denken und in der Entscheidungsfindung. Diese Semantik ist eine Erweiterung der bekannten ‚Bedeutungstheorie der Verwendung‘, nach der die Bedeutung eines Wortes seine Verwendung in der Kommunikation und allgemeiner in der sozialen Interaktion ist. Die Semantik der Begriffsrollen ergänzt die externe Verwendung durch die Einbeziehung der Rolle eines Symbols innerhalb eines Gehirns (oder Computers). Die Verwendungen, auf die hier Bezug genommen wird, sind nicht nur faktischer, sondern auch kontrafaktischer Natur. Es geht nicht nur um die Wirkungen, die ein Gedanke hat, sondern auch um die Wirkungen, die er haben würde, wenn die Reize oder andere Zustände anders ausgefallen wären. Definiert man sie auf diese Weise, umfasst die funktionale Rolle eines Gedankens allerdings auch alle Arten von Ursachen und Wirkungen, die nichtsemantischer Natur sind. Zum Beispiel werden glückliche Gedanken vielleicht das eigene Immunsystem stärken und damit auch die Gesundheit. Begriffsrollen sind funktionale Rollen abzüglich solcher nichtsemantischer Ursachen und Wirkungen. Diese Auffassung entstand unabhängig voneinander in der Philosophie, wo sie manchmal auch ‚schließende‘ oder ‚funktionale Rollensemantik‘ heißt, und in den Kognitionswissenschaften, wo sie manchmal als ‚prozedurale Semantik‘ bezeichnet wird. Siehe auch: Begriffe; Situationssemantik NED BLOCK
Semantik der möglichen Welten Siehe: Mögliche-Welten-Semantik
Semantik, spieltheoretische
Die spieltheoretische Semantik verwendet Begriffe der Spieltheorie zur Untersuchung, wie die Wahrheit und die Falschheit von Sätzen einer Sprache von der Wahrheit und Falschheit der atomaren Sätze dieser Sprache abhängen, oder von ihren Ausdrücken und Wendungen unterhalb der Satzebene. Anders als die Tarskische Methode, die Rekursionsanweisungen zur Bestimmung von Erfüllungsbedingungen für nicht-atomare Sätze nach Maßgabe der Erfüllungsbedingungen ihrer Satzbe1635
Semiotik
standteile verwendet und dann die Wahrheit im Umfange der resultierenden Erfüllung dieser Bedingungen definiert, assoziiert die spieltheoretische Semantik mit jedem Satz ihr eigenes semantisches Spiel, das mit den Sätzen der Sprache gespielt wird. Dieses Spiel definiert die Wahrheit im Sinne des Vorhandenseins einer Siegesstrategie für einen der beteiligten Spieler. Die Struktur des Spiels wird durch die Satzstruktur bestimmt. Daher können die semantischen Eigenschaften des fraglichen Satzes durch eine Untersuchung der Eigenschaften seines Spiels bestimmt werden. Siehe auch: Entscheidungs- und Spieltheorie; Semantik MICHAEL HAND
Semiotik
Wie schon das Studium der Bedeutung versteht auch die Semiotik als ihre zentrale Aufgabe die Beschreibung, wie etwas eigentlich etwas anderes meinen kann. Alternativ könnte man sagen, da dieses philosophische Problem auch ein psychologisches ist, ihre Aufgabe sei jene der Beschreibung, wie eine Sache eine andere vergegenwärtigen kann, oder wie das Sehen von x jemanden dazu bringen kann, y zu denken, obwohl y gar nicht anwesend ist. Eine Person, in deren Kopf y vorstellungshalber gegenwärtig ist, kann auf das x, das jemand anderer ihr mit der Absicht zu Bewusstsein gebracht hat, dass es y bedeuten soll, antworten. Oder sie kann auf ein x antworten, dass ihr jemand in der arglosen Erwartung zu Bewusstsein gebracht hat, es bedeute irgendein z. Oder, was oft geschieht, sie antwortet auf ein x, das ihr zu Bewusstsein kommt, ohne dass dies überhaupt von jemandem beabsichtigt wurde. Worte bedeuten z.B. in der Regel etwas, weil jemand dies mit ihnen beabsichtigt, und idealerweise, wenn auch nicht zwingend, bedeuten sie tatsächlich, was mit ihnen beabsichtigt war, während z.B. Wolken etwas bedeuten – beispielsweise einen nahenden Sturm oder etwas Figürliches – nur weil wir sie so interpretieren, und nicht, weil sie absichtlich so geformt wurden, um diese Bedeutung zu überbringen. Offenkundig bildet das Studium der Bedeutung einen integralen Bestandteil des Studiums des allgemeinen Denkens, denn kein Gegenstand kommt an sich selbst in die Vorstellungszusammenhänge des Gehirns hinein; deshalb muss er durch etwas Geistiges (vielleicht auch eine neuronale Entität) vertreten werden, die diesen Gegenstand bedeutet. Solche Signifikate sind bereits für Geschöpfe weit unterhalb der menschlichen Entwicklungsstufe sehr wichtig: wenn ein chemisches Signal x durch ein Bakterium ausgesandt wird, so bedeutet dies für seine ‚Kollegen‘ ein y mit dem ungefähren Inhalt: ‚Hier herrscht Nahrungsmangel‘. Es gibt zahlreiche Wege, auf denen ein x irgendein y bedeuten kann, doch für Menschen sind diese Bedeutungsweisen hauptsächlich: durch physische Assoziation, durch physische Ähnlichkeit und/oder durch beliebige Konvention. Wenn wir ein x als etwas auffassen, das y bedeutet, so vermuten wir oft. Unser Vermuten ist Gegenstand von Prüfungen der interpretierenden Bewertung. Siehe auch: Sprache, Philosophie der W.C. WATT
Senghor, Leopold
Siehe: Afrikanische Philosophie, Englischsprachige; Afrikanische PhilosoFranzösischsprachige
phie,
1636
Sextus Empiricus (um ca. 200 n. Chr.)
Sequenzen / Sequenzkalkül
Siehe: Natürliche Deduktion, Tableau- und Sequenzkalküle
Sextus Empiricus (um ca. 200 n. Chr.)
Die Schriften von Sextus Empiricus sind die umfangreichste noch erhaltene Quelle für den griechischen Skeptizismus. Drei Werke vom ihm sind überliefert: ein allgemeines skeptisches Handbuch mit den Titeln ‚Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis‘, ‚Gegen die Wissenschaftler‘ und ‚Gegen die Philosophen‘, eine teilweise verloren gegangene Reihe von Abhandlungen zum Skeptizismus, sowie eine Reihe von abgeschlossenen Aufsätzen zu Fragen des Nutzens der individuellen freien Künste. R.J. HANKINSON
Sexualität, Philosophie der
Die Philosophie der Sexualität befasst sich, wie die Wissenschafts-, Kunst- oder Rechtsphilosophie, mit dem Studium der Begriffe und Aussagen zu einem spezifisch relevanten gesellschaftlichen Thema, in diesem Falle der Sexualität. Die hiermit beschäftigten Fachleute konzentrieren sich auf begriffliche, metaphysische und normative Fragen. Die begriffliche Philosophie der Sexualität analysiert die Vorstellungen des sexuellen Begehrens, der sexuellen Tätigkeit und der sexuellen Lust. Was macht ein Gefühl zu einer sexuellen Empfindung? Eine Manipulation der Genitalien oder Empfindungen in diesen Organen sind hierfür nicht notwendig, denn auch andere Körperteile können sexuelle Lust vermitteln. Was macht eine Handlung zur sexuellen Handlung? Die Berührung eines Armes kann ein freundlicher Klaps sein, eine aggressive oder auch eine sexuelle Geste. Physische Eigenschaften alleine unterscheiden sie nicht. Welcher Art ist die begriffliche Verknüpfung zwischen sexueller Lust und sexueller Handlung? Weder die Absicht zur Erzeugung sexueller Lust, noch die wirkliche Lusterfahrung scheint notwendig zu sein, damit eine Handlung zu einer sexuellen wird. Andere begriffliche Fragen handeln nicht davon, was eine Handlung zu einer sexuellen macht, aber durch was eine sexuelle Handlung zu einem bestimmten sexuellen Handlungstyp wird. Wie definiert man ‚Vergewaltigung‘? Und auch die begrifflichen Unterschiede, wenn es solche überhaupt hier gibt, die zwischen der Sexualität mittels körperlicher Gewalt und der Sexualität gegen Bezahlung bestehen, ist eine interessante und wichtige Frage. Die metaphysische Philosophie der Sexualität diskutiert ontologische und erkenntnistheoretische Fragen, z.B. die Stellung der Sexualität in der Natur des Menschen, die Beziehungen zwischen Sexualität, Gefühl und Erkennen, die Bedeutung der Sexualität für den Einzelnen, die biologische Art, gar den Kosmos. Worum geht es bei der Sexualität überhaupt? Der sexuelle Wunsch kann einesteils ein hormongetriebener Instinkt sein, der uns von Gott oder der Natur im Dienste der Arterhaltung eingepflanzt wurde, und er hat eventuell auch eine grundlegend spirituelle Dimension; dies sind zwei unterschiedliche und nicht notwendig unvereinbare Auffassungen. Hinzu kommt, dass sexuelles Verlangen keineswegs nur körperlicher Triebinstinkt ist, sondern auch psychisches, soziales und kommunikatives Bedürfnis. Vielleicht ist dies sogar ein wesentlicher Punkt, in dem wir uns von den Tieren unterscheiden. Und selbst wenn man die Sexualität als rein körperlich motivierte Handlung betrachtet, ist fraglich, welcher Unterschied ihrer Bedeutung überhaupt 1637
Sexualität, Philosophie der
zum Essen, Atmen und der Darmentleerung besteht. Ferner fragt sich, wie wichtig die Sexualität für die Konstitution der moralischen Persönlichkeit ist. Die normative Philosophie der Sexualität erkundet die immer wiederkehrenden Fragen der Sexualethik. Unter welchen Umständen ist es moralisch zulässig, sich auf eine sexuelle Handlung oder die Erfahrung sexueller Lust einzulassen? Mit wem? Zu welchem Zweck? Mit welchen Körperteilen? Wie lange? Die historisch zentralen Antworten hierauf entstammen dem thomistischen Naturrecht, der kantischen Deontologie und dem Utilitarismus. Die normative Philosophie der Sexualität bemühte sich auch um rechtliche, soziale und politische Fragen. Sollte die Gesellschaft ihre Mitglieder in die Richtung der Heterosexualität, der Ehe und Familie drängen? Darf das Gesetz sexuelles Verhalten durch das Verbot von Prostitution oder Homosexualität regeln? Die normative Philosophie der Sexualität befasst sich darüber hinaus auch mit nichtethischen Wertfragen. Was ist ‚gute‘ Sexualität? Welchen Beitrag leistet die Sexualität zu einem guten Leben? Der Umfang der Philosophie der Sexualität zeigt sich durch die Vielzahl von Themen, die sie erforscht: Abtreibung, Verhütung, Vergewaltigung im Freundeskreis und in der Ehe, Pornographie, sexuelle Belästigung und Verdinglichung des Gegenübers sind nur einige hiervon. Die Philosophie der Sexualität beginnt mit einem Bild der konventionell bevorzugten Beziehungsmuster, in denen zwei erwachsene Heterosexuelle einander lieben, einander treu sind, gar formal heiraten und sich auf ihre Fortpflanzung durch Gründung einer Familie freuen. Diese und ähnliche Vorstellungen sind auch von alten, ideologiebefrachteten Zwängen durchsetzt, die es zu verstehen gilt. Die Philosophie der Sexualität im Sinne einer ‚sokratischen Befragung‘ unserer sexuellen Praktiken, Überzeugungen und Begriffe hinterfragt solche privilegierten Muster, indem sie nicht nur die Laster, sondern auch die Tugenden des Ehebruchs, der Prostitution, der Homosexualität, des Gruppensex, der tierischen Sexualität, der Onanie, des Sadomasochismus, des Inzest, der Pädophilie und der Gelegenheitssexualität mit unbekannten Fremden erforscht. Dies zu unternehmen verschafft uns dieselben Einblicke in die Sexualität, die man in der Wissenschafts-, Rechts- und Kunstphilosophie erhält, wenn man dort die jeweils privilegierten Bilder ihrer eigenen Bereiche auf den Prüfstand stellt. Siehe auch: Familie, Ethik und die; Freundschaft; Kantische Ethik; Liebe; Moral und Gefühle; Reprodukton und Ethik ALAN SOBLE
Shintō
Shintōbedeutet ‚Weg der Götter‘ (‚Götter‘ = jap.: ‚kami‘, wobei kami genauer ein Sammelausdruck für alle im Shintō verehrten Wesenheiten ist; diese umfassen dem bekannten japanischen Philosophen Motoori Norinaga zufolge nicht nur Menschen, sondern auch „Vögel und Tiere, Gras und Bäume, Meere und Berge – und alles sonst, was überragende und außergewöhnliche Macht besitzt und Ehrfurcht auslöst […]“) und ist ein Ausdruck, der sich im späten 6. oder frühen 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entwickelt hat, als Japan in eine ausgedehnte Epoche der kulturellen Anlehnung an China und Korea eintrat. Damit wird ein Gemisch aus nativen kulturellen Bräuchen vom Buddhismus unterschieden, der vom Kontinent importiert wurde. Shint drückt eine positive Haltung zu den ältesten und grundlegendsten sozialen und religiösen Werten Japans aus. Er ist ausschließlich japanisch und zeigt keinerlei Regung, sich über Japan hinaus zu verbreiten. Die Ausbreitung des Shint 1638
Sidgwick, Henry (1838-1900)
wäre allerdings ohnehin sehr schwierig, weil die dahinter stehende Mythologie ganz eng an die Erschaffung von Japan und des japanischen Volks gebunden ist, und weil viele seiner Gottheiten ihre Wohnstätten in den Bergen, Flüssen, Bäumen, Felsen und anderen natürlichen Merkmalen der typisch japanischen Inseln haben sollen. Das Shintō umfasst sowohl großartige, als auch unbedeutende Traditionen. Eine der großartigen Traditionen, die in der Mythologie dargestellt wird und die in zwei von Japans ältesten und herausragendsten Schriften enthalten sind, nämlich die Kojiki (dt.: ‚Bericht über Alte Angelegenheiten‘) und Nihon Shoki (dt.: ‚Geschichte Japans‘), die wiederum beide aus dem frühen 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammen, handeln von Fragen der imperialen Institutionen. Nach der Mythologie wurde das Kaisertum von der Sonnengottheit Amaterasu angeordnet, die ihren Enkelsohn vom Himmel auf die Erde (Japan) sandte, um eine Dynastie ‚der ewigen Herrschaft‘ zu begründen. Der gegenwärtige Kaiser ist der 125. in einer Linie der Souveränen, die seit Japans Niederlage im 2. Weltkrieg offiziell als direkte Nachkommen von Amaterasu betrachtet werden. Shintōs unbedeutendere Traditionen sind eine Mischung aus polytheistischen Überzeugungen über kami, die sich in der Naturanbetung (Animismus), der Verehrung von Ahnen, landwirtschaftlichen Kulten, Fruchtbarkeitsritualen, schamanistischen Praktiken etc. manifestieren. Da das Shintōüber keine wirkliche schriftliche Grundlage verfügt, leitet es sich vom Glauben der Menschen ab, und von frühesten Zeiten an wurzelt es daher fest in partikularen, lokalen Praktiken. Deswegen war das Shintō auch immer im Zusammenhang mit solchen Einheiten wie Familien, Dörfern und Orten am stärksten (z.B. meinte man häufig von Bergen, sie seien die Wohnstatt gewisser kami, oder sogar selbst kami). Siehe: Buddhistische Philosophie, Japanische; Japanische Philosophie; Religion, Philosophie der PAUL VARLEY
Sidgwick, Henry (1838-1900)
Henry Sidgwick war ein Philosoph in Cambridge, ferner ein Forscher der Psychologie und ein Erziehungsreformer, dessen Werk in der praktischen Philosophie, insbesondere ‚The Methods of Ethic‘ (1874) den klassischen Utilitarismus auf den Höhepunkt seiner theoretischen Ausarbeitung brachte. Er legte die tiefen Konflikte innerhalb dieser Tradition offen, die vielleicht die Probleme des britischen Imperialismus selbst waren. Sidgwick war tief von J.S. Mill beeinflusst, aber seine Fassung des Utilitarismus, d.h. die Auffassung, dass solche sozialen und individuellen Handlungen richtig seien, die das Gesamtglück maximieren, belebten auch erneut gewisse Benthamsche Lehren, wenn auch mit einer zwingenderen Darstellung der Lust als dem äußersten Guten im Sinne einer Gesamtlust, d.h. im Gegensatz zu einer maximierten Durchschnittslust einer Gesellschaft, und auch der analytischen oder deduktiven Methode. Doch Sidgwick war ein Kognitivist in der Ethik, der versuchte, den Utilitarismus sowohl auf grundlegenden Intuitionen zu gründen, als auch in ihm die Prinzipien einer Ethik des gesunden Menschenverstandes (Aufrichtigkeit, Treue, Gerechtigkeit etc.) zu erfassen. Seine sehr eklektische praktische Philosophie nahm viel vom Rationalismus, vom Sozialkonservatismus und der historischen Methode konkurrierender Auffassungen an, worin sich daher Einflüsse von Butler, Clarke, Aristoteles, Bagehot, Green, Whewell und Kant finden. Letztlich versagten Sidgwicks sorgfältige akademische Untersuchungen in dem Beweis, dass 1639
Simmel, Georg (1858-1918)
ein Mensch sich immer um die Förderung des Glücks aller anderen bemühen sollte, statt nur um das eigene. Dieser Dualismus der praktischen Vernunft, zusammen mit seinem Zweifel über die Durchführbarkeit der Religion, führte ihn schließlich zu der Auffassung, dass seine eigenen Ergebnisse weitgehend destruktiv und potenziell in ihrem Einfluss verderblich seien. Siehe auch: Alltagsphilosophie; Common Sense Schule; Moralischer Skeptizismus; Moral und Ethik; Teleologische Ethik; Universalismus in der Ethik BART SCHULTZ
Simmel, Georg (1858-1918)
Georg Simmel war ein zu seiner Zeit viel beachteter deutscher Philosoph und Soziologe und einer der Hauptbegründer der Soziologie in Deutschland. Seine Philosophie und Sozialtheorie hatte große Wirkung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und zwar sowohl unter professionellen Philosophen, als auch Soziologen, bis hin in die kulturelle und künstlerische Szene. Dies gilt für seine Grundlegung der Soziologie, seine Philosophie der Kunst und Kultur, seine Lebensphilosophie und seine Philosophie des Geldes. Sein Denken umfasste wesentliche Themen der philosophischen Tradition bis hin zur Befassung mit der Alltagswelt und ihren Gegenständen DAVID FRISBY
Simulationstheorie
Die geistige Simulation ist die Vorspiegelung, Nachbildung oder Wiederholung von Denkinhalten, Entscheidungen, emotionalen Erwiderungen oder anderen Aspekten des geistigen Lebens einer jeweils anderen Person, üblicherweise in der Vorstellung. Nach der Simulationstheorie spielen geistige Simulationen in der Vorstellung eine Schlüsselrolle in unserem alltäglichen psychologischen Verständnis anderer Menschen. Dieselben geistigen Ressourcen, die wir in unserem eigenen Denken verwenden, sowie das Treffen von Entscheidungen oder emotionalen Erwiderungen werden in der Vorstellung verlagert oder umgruppiert, um damit die Gedanken, Entscheidungen oder Emotionen anderer zu verstehen. Die Simulationstheorie steht im Gegensatz zur ‚Theorie-Theorie‘ der Alltagspsychologie. Nach der ‚Theorie-Theorie‘ hängt alles psychologische Verständnis von der Aufstellung einer empirischen Theorie oder eine Menge von Informationen über psychologische Fakten ab, wie z.B. jene, was die Menschen normalerweise denken, welche Entscheidungen sie treffen oder wie sie emotionell reagieren werden. Die Simulationstheorie bestreitet nicht rundheraus die psychologische Erkenntnis oder die Vorhersagen, Interpretationen und Erklärungen Dritter. Sie behauptet jedoch, dass uns in einer großen Zahl von Fällen die Erste-Person-Methodik der geistigen Simulation erlaubt, nicht auf Einzelheiten von vorangehendem Wissen darüber, wie psychische Prozesse typischerweise vonstatten gehen, eingehen zu müssen. Siehe auch: Alltagspsychologie MARTIN DAVIES, TONY STONE
Simultaneität
der;
Siehe: Konventionalismus; Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung Zeit; Zeitreise
1640
Sinn und Bedeutung
Sinn und Bedeutung
Die Bedeutung (engl.: reference) eines Ausdrucks ist diejenige Entität, die der Ausdruck bezeichnet oder auf die er verweist oder auf die er anwendbar ist. Der Sinn (engl.: sense) eines Ausdrucks ist die Art und Weise, in der der Ausdruck diesen Verweis darstellt. Beispielsweise benutzt man in der Antike die Ausdrücke ‚der Morgenstern‘ und ‚der Abendstern‘ als Bezeichnung dessen, was sich schließlich als derselbe Himmelkörper herausstellte, nämlich der Planet Venus. Diese beiden Ausdrücke haben dieselbe Bedeutung, aber sie unterscheiden sich deutlich darin, dass jeder von ihnen diese Bedeutung auf eine andere Weise darstellt. So ist also jeder der beiden Ausdrücke, obwohl sie ‚koreferentiell‘ sind, mit einem anderen Sinn verbunden. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung geht auf Gottlob Frege und seinen berühmten, gleichlautenden Aufsatz ‚Über Sinn und Bedeutung‘ zurück. Sie hilft bei der Erklärung des Erkenntnisrätsels, das durch Identitätssätze entsteht. Die Sätze ‚Der Morgenstern ist der Abendstern‘ und ‚Der Morgenstern ist der Morgenstern‘ sind beide wahr, obwohl sich doch beide Sätze in ihrer kognitiven Bedeutsamkeit2 unterscheiden, weil der erste informativ ist, während der letzte dies definitiv nicht ist. Dieser Unterschied der kognitiven Bedeutsamkeit kann nicht durch einfache Berufung auf die Bedeutungen der Ausdrücke erklärt werden, denn diese sind jeweils dieselben. Sie kann allerdings ganz selbstverständlich durch die Berufung auf einen Unterschied des Sinns erklärt werden. Die Ausdrücke ‚der Morgenstern‘ und ‚der Abendstern‘, wie sie im ersten Satz verwendet wurden und dort einen jeweils unterschiedlichen Sinn repräsentieren, stellen und den Referenten auf unterschiedliche Weise vor, während ein solcher Unterschied in dem zweiten Satz nicht auftritt. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung gilt für alle wohl geformten Sätze einer Sprache. Sie ist Teil einer allgemeinen Bedeutungstheorie, die eine mittlere Ebene des Sinns zwischen sprachlichen Ausdrücken einerseits und den Entitäten, für die diese Ausdrücke stehen, andererseits postulieren. Der Sinn gibt einem Ausdruck Bedeutsamkeit, die ansonsten oder an und für sich nur Geräusch oder Zeichen auf einer Oberfläche wären, und verbindet sie damit mit der Welt. Gerade weil sprachliche Ausdrücke einen Sinn haben, können sie zum Ausdruck von Urteilen oder zur Übertragung von Information und allgemein zum Sprechen über die Wirklichkeit verwendet werden.
Siehe auch: Intensionale Entitäten GENOVEVA MARTÍ
Sinn und Kraft Siehe: Pragmatik
‚Bedeutsamkeit‘ heißt im Englischen ‚significance‘. Leider ist die deutsche Übersetzung von significance (‚Bedeutsamkeit‘) der Übersetzung von reference (‚Bedeutung‘) sehr ähnlich, so dass hier intuitiv die Frage nach dem Unterschied zwischen ‚Bedeutsamkeit‘ und ‚Bedeutung‘ entsteht. Diese Frage stellt sich im Englischen wegen der Verschiedenheit der Worte nicht. Gleichwohl lässt sie sich leicht beantworten: ‚Bedeutsamkeit‘ ist die vorstellungsinterne Beschaffenheit oder Qualität dessen, was der Sinn eines Ausdrucks in uns auslöst, während die ‚Bedeutung‘ der vorstellungsexterne Verweis eines Ausdrucks ist. Somit bezeichnet die Bedeutsamkeit die erlebte Darstellungsqualität des Sinns, ist also gerade eng mit dem Sinn, und nicht mit der Bedeutung eines Ausdrucks verbunden. [WS]
2
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Sinnesdaten
Sinnesdaten
Eine philosophische Theorie der Wahrnehmung muss die folgenden, offensichtlichen Tatsachen miteinander vereinbaren können: wenn jemand etwas wahrnimmt und etwas wahrzunehmen scheint, so können ihr/ihm die Dinge anders erscheinen, als sie in Wirklichkeit beschaffen sind. Eine geneigte runde Münze wird elliptisch ausschauen. Ein Stock, der teilweise in Wasser getaucht ist, wird geknickt ausschauen. Nachdem Philosophen bemerkten, dass die Erscheinung von Dingen nicht immer mit deren wirklichem Zustand übereinstimmen, stellten sie Theorien zum Unterschied zwischen beiden auf die folgende Weise auf. Angenommen, jemand scheint ein Buch mit einem roten Deckel zu sehen. Ob es wirklich ein Buch gibt, das man sehen kann, mag dahin gestellt sein; jedenfalls sieht diese Person irgendetwas Rotes. Das Phänomen, dessen sich diese Person bewusst ist, nennt man ein Sinnesdatum. Nach der Sinnesdatentheorie bringt jede Wahrnehmungserfahrung das Bewusstsein von Sinnesdaten mit sich, unabhängig davon, ob es sich dabei um die Erfahrung eines physischen Gegenstandes handelt oder nicht. Einige Philosophen verknüpfen die Sinnesdatentheorie mit gewissen Ansichten über die Erkenntnis bzw. das Wissen. Nach den Letztbegründungstheoretikern muss alles Wissen über die externe Welt auf einer Überzeugungsgrundlage beruhen, die frei von jeglichem Zweifel ist. Wir können uns immer darüber irren, wie physische Gegenstände beschaffen sind. Auf der anderen Seite können wir uns nicht darüber irren, wie Sinnesdaten beschaffen sind. Also beruht alles Wissen über die externe Welt auf Überzeugungen von Sinnesdaten. Auf diese Weise scheint die Sinnesdatentheorie ihre Erklärungslast zu verdoppeln, indem sie auch zu einer Darstellung der Wahrnehmung wird und nicht mehr nur eine Darstellung der Erkenntnis auf der Grundlage von Wahrnehmung ist. Siehe auch: Letztbegründungsphilosophie ANDRÉ GALLOIS
Sinneswahrnehmung, Indische Auffassungen der
Die Sinneswahrnehmung wird im klassischen indischen Denken im Kontext von erkenntnistheoretischen Fragen, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen zur Wahrnehmung als Quelle der Erkenntnis, und im Kontext psychologischer und metaphysischer Fragen, beispielsweise zu den Beziehungen der Sinneserfahrungen zu Gegenständen, zur Sprache und zur Wahrnehmung des Selbst betrachtet. Das Sanskrit-Wort, das in indischen philosophischen Untersuchungen üblicherweise zur Sinneswahrnehmung verwendet wird, ist pratyaksa, ein Kompositum aus prati, dt.: ‚vor‘, und aksa, dt.: ‚Auge‘ bzw. jedes ‚Organ der Sinne‘. Daher sollte dieses Kompositum als ‚vor den Augen befindlich‘ oder ‚erfahrungsevident‘ in der adjektivischen Form, und im Sinne von ‚unmittelbare Erfahrung‘ oder ‚Sinneserfahrung‘ als Nomen verstanden werden. Die Bedeutung als ‚Sinneswahrnehmung‘ ist innerhalb philosophischer Untersuchungen die normale. Wie viele Sinnesmodalitäten es aber genau gibt, ist damit keineswegs klar. Zuzüglich zu den fünf Arten der Sinneserfahrung, die normalerweise unterschieden werden (sehen, hören, riechen, schmecken, berührt werden), werden manchmal auch die ‚geistige‘ Wahrnehmung wie z.B. bei der Lustempfindung, den Schmerzen und den Wünschen, die Apperzeption als das Bewusstsein des Bewusstseins und außerordentliche oder Yogierfahrungen zu den pratyaksa gerechnet.
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Sinneswahrnehmung, Indische Auffassungen der
Auffassungen zur Psychologie der Wahrnehmung, oder allgemeiner gesagt, über die Wahrnehmung als Teil der Welt, werden in Indien bereits in der religiösen und soterologischen Literatur, d.h. in Schriften über die Erleuchtung und die Erlösung, verbreitet, die noch älter sind als die klassischen philosophischen Diskussionen. In den Upanişaden, in buddhistischen und jainistischen Texten, die schon mehr als zweitausend Jahre alt sind, wird die Wahrnehmung in groben Zügen innerhalb spiritueller Theorien des Selbst und der Welt dargestellt, die Ideen des überragenden Wertes einer mystischen Erfahrung ausmalen. Die Sinneswahrnehmung wird im Vergleich üblicherweise abgewertet. Später entwickelt sich die Wahrnehmungspsychologie stark und wird in einigen Regionen unabhängig von den soterologischen Lehren behandelt. Die klassische indische Philosophie zeichnet sich durch eine dichte Argumentation und eine bewusste Bemühung um die Evidenz aus. Der rechtfertigende Wert der Wahrnehmung wird von vornherein anerkannt, insofern überhaupt alle Quellen der Rechtfertigung oder des Wissens bzw. der Erkenntnis zugelassen werden. Nāgārjuna und andere hinterfragen die erkenntnistheoretischen Projekte des Nyāya, sowie auch andere positive Ansätze gegenüber der Erkenntnis, indem sie tiefe Untersuchungen zur erkenntnistheoretischen Rolle der Wahrnehmung auslösen. Auffassungen über die Wahrhaftigkeit, die Fehlbarkeit und den bedeutsamen Zweifel werden umfassend ausgeführt. Was nehmen wir wahr? Durch das ganze klassische Denken hindurch zeigt sich hier eine scharfe Uneinigkeit hinsichtlich der Wahrnehmbarkeit von Universalien, Beziehungen, Abwesenheiten oder negativen Tatsachen wie z.B. Devadattas Nichtzu-Hause-Sein, aber auch bezüglich des Verhältnisses von Teilen zum Ganzen und dem Selbst bzw. dem Bewusstsein. Fragen zu den Wahrnehmungsmedien wie z.B. das Licht und der Äther (Sanskrit: a‾ka‾śa) als dem angeblichen Medium des Klanges, über verborgene oder spirituelle Erkennbarkeiten, sowie über die Existenz von Gegenständen unabhängig vom Bewusstsein wurden heißt diskutiert. Eine Form des buddhistischen Phänomenalismus wird polemisch von realistischen Varianten des Mīmāmsā und des Nyāya in einer ganzen Reihe von Punkten angegriffen. Wahrscheinlich infolge mystischer Einflüsse gerät die Verbalisierung der Erfahrung, so einfach und direkt sie auch sein mag, im Vergleich mit der Erfahrung selbst in ein negatives Licht. Der dahinter stehende Argwohn wird offenkundig in Fragen zum Wert dieser Verbalisierung bei der Darstellung der Wirklichkeit, sowie auch auf andere und manchmal recht unbestimmte Weise. Es herrscht die Auffassung vor, dass das, was eine Person an einem Leben in Erleuchtung oder in einem befreiten Zustand hindert, das Denken sei, d.h. die verbalisierte Erfahrung, das Berechnen, Planen etc., weil sie dadurch nicht die reine Erfahrung habe, sei sie eine wahrgenommene oder sonstwie geartete, und deshalb mit einem ‚schweigenden Geist‘ lebe. Diese Einstellung entsteht bei der Behandlung von Sinneserfahrung, indem sie etwas verstärkt, wozu unter Philosophen vielleicht ohnehin eine natürliche Neigung besteht, nämlich die Ansicht, derzufolge die Beziehungen zwischen Erfahrung und Sprache problematisch seien. Selbst in den Stammtexten des Nyāya, wo der Einfluss des Yoga und des Mystizismus nicht so stark ist, heißt es von der Wahrnehmung, sie sei eine Form des Erkennens, die nonverbal sei (Sanskrit: avyapadeśa), obwohl es einen bemerkenswerten Streit darum gab, was dies genau heißen soll. Die Beziehungen zwischen verschiedenen Erfahrungsweisen und der Sprache, die in Bezug 1643
Situation
auf sie verwendet wird, bliebt ein Thema noch bis in die letzten und komplexesten Texte der klassischen indischen Philosophie. Siehe auch: Mīmāmsā; Wahrnehmung
STEPHEN H. PHILLIPS
Situation
Die Situation (von lat.: situs = ‚Ort‘) beschreibt vorphilosophisch die Verhältnisse an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitabschnitt. Mit ‚Ort‘ ist dabei kein geometrischer Punkt in einer abstrakt-räumlichen Ausdehnungsmannigfaltigkeit gemeint, sondern ein Ausschnitt, Bereich oder Bezirk innerhalb einer lebendigen Ganzheit. Die Feststellung der situativen Verhältnisse bzw. dessen, was in einer Situation der Fall ist, macht die jeweilige konkrete Bedeutung dessen aus, was die sprachliche Bezugnahme auf eine gewisse Situation meint. Gleichwohl ist eine Situation keineswegs nur aus Bestimmtheiten zusammengesetzt. Vielmehr erlaubt der Begriff der Situation auch alltagssprachlich die Zusammenfassung von Mannigfaltigkeiten verschiedener Art, z.B. emotionaler, sozialer, wirtschaftlicher und sogar physikalischer Verhältnisse, zu einer Gesamtheit, die nicht bis in alle Einzelheiten bestimmbar sein muss. So sagt man beispielsweise in diesem teilweise unbestimmten und dennoch verständlichen Sinne: ‚In dieser [sonderbaren, unüberschaubaren, verwirrenden etc.] Situation fühlte ich mich nicht wohl.‘ Dieser Satz ist sinnvoll, auch wenn nicht alle Merkmale an der bezogenen Situation explizierbar sind. Der Situationsbegriff ist erst in der Philosophie des späten 19. Jahrhunderts bei Kierkegaard, und dann noch deutlicher im 20. Jahrhunderts entwickelt worden, und zwar nunmehr in zwei sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. In der kontinentaleuropäischen Philosophie wurde er vor allem in Deutschland auf Seiten der Existenzialisten von Heidegger, Jaspers und Sartre in Anspruch genommen und fasst hier die subjektiv-konkrete Gegebenheit des Menschen in seiner jeweiligen Lage in einem einzigen Wort zusammen. Besonders pointiert zeigt sich die Situationsgebundenheit als Sekundärmerkmal menschlicher Befindlichkeit z.B. in den Heideggerschen Begriffen des ‚In-der-Welt-Seins‘, des ‚Daseins‘, der ‚Entbergung‘, der ‚Zuhandenheit‘ etc., die alle situativ rückgebunden sind, genauso wie in der ‚Geworfenheit‘ bei Sartre, die keine unmittelbare Konfrontation des Individuums mit der ganzen Welt meint, sondern die zwingende Eingebundenheit in eine existenziell hoch bedeutsame Teilwelt, nämlich die persönliche Situation. Ein solcher Situationsbegriff ist weitgehend und intuitiv sehr gut mit unserer alltäglichen Verwendung des Situationsbegriffs vereinbar und bezieht daraus seine Erklärungskraft. Mit dem Stichwort ‚Teilwelt‘ kommen wir zu einer in vieler Hinsicht anderen Bedeutung des Situationsbegriffs in der jüngeren analytischen Tradition der angloamerikanischen Logik und Sprachphilosophie. Von Jon Barwise und John Perry wurde kürzlich eine einflussreiche Arbeit mit dem Titel ‚Situations and Attitudes‘ (1999) vorgelegt, die auf einem logischen Situationsbegriff aufbauend eine neue Bedeutungstheorie entfaltet. Barwise und Perry unterscheiden zwischen konkreten und abstrakten Situationen einerseits, sowie zwischen statischen Situationen, die sie ‚Sachverhalte‘ nennen, und dynamischen Situationen, die sie als ‚Ereignisse‘ bezeichnen. Die Bedeutung sprachlicher Äußerungen wird hiervon ausgehend streng logisch-analytisch als eine situationsbezogene entfaltet.
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Situation
An diesen Situationsbegriff schließt auf dem Gebiet der Logik auch Edwin D. Mares an. In seiner erst kürzlich veröffentlichten Arbeit ‚Relevant Logic‘ zeigt er, dass sich die Ungereimtheiten der klassischen Aussagenlogik, derzufolge in der sog. materialen Implikationsbeziehung A → B im Falle einer falschen Prämisse, also ⌐A, eine beliebige Schlussfolgerung gezogen werden kann (z.B.: ‚2 + 2 ≠ 5, also scheint morgen die Sonne‘), bei Einführung weiterer Schlussbedingungen vermeiden lassen. Die betreffenden, schon seit den Anfängen der modernen Aussagenlogik bekannten Unsinnigkeiten im Verhältnis von Aussagenlogik zu realer Welt versucht Mares aufzulösen, indem er einen Situationsbezug der logischen Variablen von Implikationsbeziehungen zur notwendigen Voraussetzung der Geltung von Schlüssen aus solchen Beziehungen macht. Der darin verwendete Situationsbegriff ist aber nicht subjektiv geprägt, sondern eine Ableitung aus dem älteren Begriff der ‚möglichen Welt(en)‘, der inzwischen zum Grundvokabular der bekanntesten Modallogiken unserer Zeit gehört. ‚Mögliche Welten‘ sind in der Begrifflichkeit der modalen Logik allerdings Totalitäten, in denen vollständige Bestimmtheit hinsichtlich aller möglichen Merkmale einer solchen möglichen Welt herrschen muss. Dies macht die Semantik ‚möglicher Welten‘ zur Lösung der Widersprüchlichkeiten logischer Implikations- und Folgebeziehungen ungeeignet. Der logische Situationsbegriff bei Mares ist dagegen eine (mögliche) Teilwelt, die weder durchgängige Bestimmtheit, noch Widerspruchsfreiheit zu anderen solchen Teilwelten oder Situationen aufweisen muss. An den beiden vorstehend beschriebenen Situationsbegriffen fällt eine gewisse Konvergenz in der Entwicklung ihrer Bedeutungen auf, vor allem hinsichtlich des Merkmals der möglichen Unbestimmtheit im Rahmen eingeschränkter Ganzheitlichkeit. Womöglich wird sich hieraus künftig ein Begegnungspunkt zweier ansonsten denkbar verschiedener philosophischer Diskurse entwickeln. Siehe auch: Existenzialismus; Relevanzlogik und Folgebeziehung; Situationssemantik
GEORG SULTAN
Situationsethik
Der Ausdruck ‚Situationsethik‘ legt moralisch entscheidendes Gewicht auf bestimmte situative Umstände bei der Beurteilung, ob eine Handlung richtig oder falsch ist. Wir sollten nach dieser Auffassung daher kritisch alle traditionellen Regeln überprüfen, die bestimmte Arten von Handlungen verbieten. Verfechter dieser Ansicht übten ihren größten Einfluss im 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika aus, obwohl ihr Einfluss bereits um 1980 schwand. Entsprechende Ansichten wurden besonders von christlichen Gemeinschaften untersucht. Dabei wurden drei vollkommen verschiedene Berechtigungen entwickelt, um bestimmte Situationen moralisch zu bevorzugen. Erstens sollten wir in unserer Einstellung offen gegenüber Gottes unmittelbarem Gebot zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort sein (sog. ‚theologischer Kontextualismus‘). Zweitens sollten sie die wirklichen Konsequenzen bestimmter Handlungen als moralisch entscheidend auffassen (sog. ‚empirischer Situationismus‘). Und drittens sollten wir zu einem Handeln bereit sein, das von moralischen Idealen gefordert wird, wenn ein solches Handeln die Dinge verbessert, wodurch sie unter ihren spezifischen Beschränkungen wieder erträglich werden (sog. ‚trauriger Realismus‘).
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Situationssemantik des;
Siehe auch: Intuitionismus in der Ethik; Moralischen Empfindens, Theorien Moralischer Realismus; Moralisches Urteil GENE OUTKA
Situationssemantik
Die Situationssemantik versucht eine systematische und philosophisch kohärente Darstellung der Bedeutungen unterschiedlicher Konstruktionen zu geben, denen Philosophen und Linguisten Bedeutung zumessen. Sie beruht auf der alten Idee, dass Sätze für Tatsachen oder etwas ihnen Ähnlichem stehen. Insofern ist sie eine Alternative zu extensionalen Semantiken, die davon ausgehen, dass Sätze für Wahrheitswerte stehen, und auch zur Mögliche-Welten-Semantik (siehe MöglicheWelten-Semantik), die einen Satz als etwas auffasst, das für Mengen möglicher Welten steht. Situationen sind beschränkte Teile oder Aspekte der Wirklichkeit, während Sachverhalte (oder infons3) Verbindungen von Eigenschaften und Gegenständen der Art sind, die zur Bildung von Tatsachen geeignet sind. Man betrachte beispielsweise die Frage, ob sich unsere Hauskatze im Zeitpunkt T ihr eines Bein gebrochen hat. Es gibt hier zwei Sachverhalte oder Möglichkeiten: entweder sie hat sich ihr Bein gebrochen oder nicht. Die Situation im Zeitpunkt T und an dem Ort, wo sich unsere Hauskatze gerade dann befand, bestimmt, welcher dieser beiden Sachverhalte (infons) zur Tatsache wird oder der Fall ist. Die Situationstheorie, d.h. die formale Theorie, die der Situationssemantik zugrunde liegt, konzentriert sich auf das Wesen der Tatsächlichkeits-Beziehung. Die Situationssemantik betrachtet die Bedeutung als eine Beziehung zwischen Typen und Situationen. Die Bedeutung von ‚Ich sitze neben David‘ ist beispielsweise eine Beziehung zwischen Typen von Situationen, in denen jemand, genannt A, diesen Satz äußert und sich mit dem Namen ‚David‘ auf eine gewisse Person B bezieht, und eine weitere Situation, in der A neben B sitzt. Mit dieser Relationentheorie der Bedeutung eignet sich die Situationssemantik gut zur Behandlung der Indexikalität (siehe Demonstrative und indexikalische Zeichen), der Zeitlichkeit von Aussagen und anderen, ähnlichen Phänomenen. Sie regte ferner relationale Darstellung der Information und der Handlung an.
Siehe auch: Mögliche-Welten-Semantik, Situation JOHN R. PERRY
Skeptizismus Einführung Formuliert man es einfach, so ist der Skeptizismus die Auffassung, dass wir überhaupt nichts wissen können. Allgemeiner gesagt bezieht sich der Ausdruck ‚Skeptizismus‘ auf eine sog. ‚Familie‘ von Auffassungen, von denen jede bestreitet, dass irgendein positives erkenntnistheoretisches Urteil auf unsere Überzeugungen anwendbar ist. So können skeptische Lehren meinen, dass keine unserer Überzeugungen gewiss sei, dass keine unserer Überzeugungen gerechtfertigt sei, dass keine unserer Überzeugungen vernünftig sei, dass keine unserer Überzeugungen vernünftiger sei als das Bestreiten dieser Überzeugung etc. pp. Skeptische Lehren können sich auch im Hinblick Zur Bedeutung des Begriffs der Proposition siehe die Anmerkung zum Beitrag Propositionale Einstellung. [WS]
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Skeptizismus
auf die Art von Überzeugung unterscheiden, die sie angreifen. Der Skeptizismus kann auf Überzeugungen beschränkt werden, die unter gewissen Umständen entstehen, beispielsweise der Skeptizismus betreffend die Überzeugungen, die auf der Erinnerung beruhen, oder auf dem induktiven Schließen, oder überhaupt auf irgendeiner Art von Schlussfolgerung. Und skeptische Auffassungen können auf Auffassungen über bestimmte Gegenstände beschränkt werden, beispielsweise auf solche über die externe Welt, über das Fremdgeistige, über Werte etc. Der Solipsismus, d.h. die Auffassung, dass alles, was existiert, das Selbst und seine Zustände ist, kann als eine Form von Skeptizismus gesehen werden, der auf der Behauptung aufbaut, dass es keine überzeugenden Argumente für die Existenz von irgendetwas über das Selbst hinaus gibt. Das philosophische Problem des Skeptizismus leitet sich von Argumenten für skeptische Schlussfolgerungen ab, die sehr stark erscheinen. Da die meisten Philosophen nicht gewillt sind, diese Schlussfolgerungen hinzunehmen, entsteht das Problem, wie man auf die entsprechenden Argumente eingehen kann. Beispielsweise versucht eine Art skeptischer Argumente zu zeigen, dass wir kein Wissen über die Welt um uns haben. Das Argument hängt jedoch an der Behauptung, dass wir nicht die Möglichkeit ausschließen können, dass wir ‚Gehirne-in-der-Schale‘ sind, die nur künstlich stimuliert werden, um genau diejenigen Empfindungserfahrung zu erleben, die wir tatsächlich erleben. Wir können diese Möglichkeit nicht ausschließen, denn wenn dies wirklich der Fall wäre, würde sich unsere Erfahrung in nichts ändern. Der Skeptiker behauptet nun, dass wir Gehirne-in-einer-Schale sind, denn wir können nichts über die Welt um uns herum wissen. Reaktionen auf dieses Argument fallen oft in zwei Kategorien. Einige Philosophen meinen, dass wir diese Möglichkeit ausschließen können. Andere behaupten wieder, dass wir sie gar nicht auszuschließen brauchen, um Wissen über die Welt um uns zu erlangen. 1. Das philosophische Problem des Skeptizismus 2. Antworten auf den Skeptizismus 3. Relevante Alternativen des Fallibilismus 4. Der fallibistische ‚modus ponens‘ 5. Die Rolle der Intuitionen 1. Das philosophische Problem des Skeptizismus Die meisten zeitgenössischen Diskussionen des Skeptizismus konzentrieren sich auf den Skeptizismus betreffend die externe Welt. Wir können diese Art von Skeptizismus verwenden, um das allgemeinere philosophische Problem dahinter zu illustrieren, so wie auch viele der Argumente, die wir überdenken, mutatis mutandis auf andere Typen des Skeptizismus angewandt werden können. Eine Art von Skeptizismus bestreitet, dass wir irgendetwas über die externe Welt wissen. Diese Auffassung sagt dabei nicht etwa, dass man beispielsweise durch das Sammeln von mehr empirischer Evidenz auch mehr wissen würde. Vielmehr besagt diese Auffassung, dass wir gar nicht in der Lage sind, Wissen zu erwerben. Nach der plausiblen Annahme, dass Wissen gerechtfertige Überzeugung ist, folgt der Skeptizismus betreffend das Wissen aus dem Skeptizismus über die gerechtfertigte Überzeugung, d.h. aus der Auffassung, dass eine gerechtfertigte Überzeugung über die externe Welt nicht zu erlangen ist.
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Skeptizismus
Der Skeptizismus ist von philosophischem Interesse, weil es sehr starke Argumente gibt, die ihn stützen. Damit stehen wir vor der Notwendigkeit, auf diese Argumente antworten zu müssen. Eine Möglichkeit hierzu besteht darin, die skeptische Schlussfolgerung zu akzeptieren. Natürlich sind nur sehr wenige Philosophen gewillt, dies zu tun. Es gibt nur sehr wenige wirkliche Skeptiker. So besteht das Problem des Skeptizismus darin, wie man ihn irgendwie neutralisieren oder entschärfen kann. In der Geschichte der Philosophie gründeten sich einige skeptische Argumente auf die Unverlässlichkeit oder die Relativität unserer Sinne (siehe Pyrrhonismus), oder auch auf die Unfähigkeit unserer Vernunft zur Hervorbringung von Argumenten, die keine petitio principii unserer Überzeugungen sind (siehe Hume, D.). Praktisch alle skeptischen Argumente nutzen skeptische Hypothesen oder Alternativen. Skeptische Alternativen gehen davon aus, dass die Welt sich sehr von dem unterscheidet, was wir normalerweise auf der Grundlage unserer Empfindungserfahrung annehmen. Hieraus folgt jedoch die Annahme, dass unsere Wahrnehmungsevidenz radikal irreführend ist. Angenommen, wir behaupten eine Proposition4 q auf der Grundlage der Evidenz e. Die Proposition h sei nun eine Alternative genau in dem Falle zu q, wo h unvereinbar mit q ist, d.h. q und h können nicht beide wahr sein. Dann ist h ein skeptische Alternative zu q, vorausgesetzt h ist als Alternative zu q ebenfalls mit e vereinbar. Eine Alternative dieser Art hat skeptische Kraft eben deshalb, weil sie mit der Evidenz vereinbar ist, von der wir behaupten, dass sie uns das Wissen von q vermittelt. Beispielsweise würde ich normalerweise auf der Grundlage meiner visuellen Erfahrungsevidenz behaupten zu wissen, dass ich gerade auf meinen Computermonitor schaue. Eine skeptische Alternative, die von Descartes eingeführt wurde, besagt, dass die Welt der uns vertrauten Gegenstände nicht existiert, und dass ich durch einen mächtigen Dämon dazu gebracht werde, diese Täuschung zu glauben. Dieser Dämon macht es, dass ich genau die Wahrnehmungserfahrungen habe, die ich auch hätte, wenn die Welt der mir vertrauten Gegenstände wirklich existierte (siehe Descartes, R., § 4). Einer modernen Fassung dieser Alternativ zufolge bin ich ein Gehirn-in-der-Schale, das künstlich stimuliert wird, um all jene Erfahrungen zu haben, die ich hätte, wenn ich einen Körper hätte und auf normale Weise mit der Welt der mir vertrauten Gegenstände umginge. Diese Alternativen sind unvereinbar mit dem, was ich über die mir vertraute Welt zu wissen meine, denn nach diesen Alternativen existiert diese Welt gar nicht. Ferner sind, weil es diese Alternativen mit sich bringen, dass ich den Eindruck habe, als existierte diese Welt, sie auch mit meiner Erfahrung vereinbar. Skeptische Alternativen liefern die Grundlage für jedes kraftvolle skeptische Argument. Wie sie genau wirken, ist im Einzelnen strittig. Der einfachste Weg zum Skeptizismus führt über das, was ich das Schlussfolgerungsprinzip nenne: S weiß q auf der Grundlage der Evidenz von e nur, wenn e q zur Folge hat. Da eine skeptische Alternative per definitionem eine Proposition ist, die unvereinbar mit q, jedoch vereinbar mit e ist, folgt aus der schieren Existenz einer skeptischen Alternative der Art, wie wir sie bereits bedacht haben, dass wir jene empirischen Propositionen nicht wissen, deren Wissen wir normalerweise behaupten. Dieses Argument Zur Bedeutung des Begriffs der Proposition siehe die Anmerkung zum Beitrag Propositionale Einstellung [WS]
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Skeptizismus
ist aber nur so gut wie das Schlussfolgerungsprinzip. Sollen wir dieses Prinzip akzeptieren? Tatsächlich sagt das Prinzip, dass ich p nur wissen kann, wenn meine Evidenz die Möglichkeit eines Irrtums ausschließt. Obwohl viele Philosophen zugestehen, dass dieses Prinzip eine beachtliche intuitive Kraft hat, haben die meisten schließlich gedacht, dass man es ablehnen müsse. Diese Haltung wird manchmal als ‚Fallibilismus‘ bezeichnet (siehe Alltagsphilosophie; Fallibilismus). Natürlich glauben nur wenige Philosophen, dass der Skeptizismus ohne jegliche Rücksicht auf andere Dinge vermieden werden sollte. Wenn man aber die Wahl zwischen dem Skeptizismus und dem Fallibilismus hat, so entscheiden sich die meisten Philosophen für den Fallibilismus, wenn auch auf Kosten des Schlussfolgerungsprinzips. Liegt dem Fallibilismus eine zirkuläre Fragestellung gegenüber dem Skeptizismus zugrunde? Was der Skeptiker behauptet, ist schließlich genau, dass die Existenz von Alternativen, die mit unserer Evidenz vereinbar sind, unseren Wissensanspruch untergräbt. Die Fallibilisten antworten darauf lediglich, dass die Alternativen, auf die sich der Skeptiker beruft, nicht unseren Wissensanspruch unterlaufen, d.h. dass wir selbst dann noch etwas wissen können, wenn es solche Alternativen gibt. Da dies die entscheidende Frage ist, scheinen die Fallibilisten ein Argument zur Unterstützung dieser zentralen Behauptung zu brauchen. Leider jedoch ist der Skeptizismus nicht so leicht abzufertigen. Der Skeptiker kann sich nämlich dann auf unsere gewöhnlichen Intuitionen gegen den Fallibilismus berufen. Denn einige dieser Intuitionen liefern die Grundlage für ein weiteres skeptisches Argument. Dieses Argument beginnt mit der Behauptung, die auch recht plausibel ist, dass nach allem, was wir noch über die Bedeutung der skeptischen Alternativen sagen werden, wir doch nie plausibel behaupten können, sie seien falsch. Beispielsweise können wir nicht plausibel behaupten zu wissen, dass wir keine Gehirne-in-der-Schale sind, die künstlich stimuliert werden und deshalb genau dieselben Erfahrungen machen, die wir hätten, wenn wir normale menschliche Wesen wären. Nichts in unserer Evidenz lässt sich gegen diese Hypothese in Anschlag bringen, denn wenn sie wahr wäre, dann hätten wir genau diese Evidenz. Wie aber genau kommt der Skeptiker hierdurch zu dem Schluss, dass wir gar nicht die Proposition wissen, die wir gewöhnlich zu wissen behaupten? An diesem Punkte beruft sich der Skeptiker auf ein sehr intuitives Prinzip, das schwächer ist als das Schlussfolgerungsprinzip. Dieses Prinzip besagt, dass die Menge der durch S gewussten Propositionen unter der durch S gewussten Schlussfolgerung abgeschlossen ist (das sog. ‚Abgeschlossenheitsprinzip‘): Wenn S weiß, dass q nicht-h mit sich bringt, dann weiß S nicht-h. Auch wenn man an den Details dieses Prinzips herumdeuteln mag, erscheint es in dieser oder einer anderen Form, die diesem Prinzip sehr nahe kommt, doch zwingend (siehe Deduktiven Geschlossenheit, Prinzip der). Aus diesem Prinzip und der Behauptung, dass wir nicht wissen, dass die skeptischen Alternativen falsch sind, folgt, dass wir nicht die Propositionen wissen, die wir normalerweise zu wissen behaupten, denn wir wissen, dass diese Propositionen die Falschheit der skeptischen Alternativen mit sich brächten. 2. Antworten auf den Skeptizismus Das vorgenannte Argument bringt ein Problem für den Fallibilismus mit sich, wie ich es bereits geschildert habe, denn dieses Argument setzt an keiner Stelle das 1649
Skeptizismus
Schlussfolgerungsprinzip voraus. Das skeptische Argument, das wir gerade betrachten, beutet lediglich die fallibilistische Position aus, die die Existenz von Alternativen zu den bekannten Propositionen behauptet. Die fallibilistischen Antworten erscheinen in zwei Formen, von denen jede auf die Ablehnung von einer der beiden Prämissen des skeptischen Arguments reagiert. Die eine Antwort bestreitet das Abgeschlossenheitsprinzip. Beispielsweise hat Dretske eingewandt, der Umstand, dass wir nicht die Falschheit unserer skeptischen Alternativen kennen, zeige, dass das Abgeschlossenheitsprinzip falsch sei, denn wir wissen um die Wahrheit der vielen empirischen Propositionen, von denen wir wissen, dass aus ihnen die Falschheit skeptischer Alternativen folgt. Nach dieser Auffassung sind bestimmte Alternativen nicht relevant dafür, ob jemand eine Proposition weiß; jemand muss nicht wissen, dass eine solche Alternative zu q falsch ist, um q zu wissen. So kann beispielsweise jemand wissen, dass er ein Zebra sieht, ohne zu wissen, dass die Alternative – dass er nämlich nur ein schlau verkleidetes Maultier sieht – falsch ist, weil diese Alternative irrelevant ist. Diese Fassung des Fallibilismus wird manchmal die ‚Auffassung der relevanten Alternativen‘ genannt. Die andere fallibilistische Antwort auf das skeptische Argument ist sich mit dem Skeptiker darin einig, dass das Abgeschlossenheitsprinzip wahr ist. Aber im Gegensatz zum Skeptiker bestreiten diese Fallibilisten die Behauptung, dass wir nicht die Falschheit der skeptischen Alternativen wüssten. Eine der Fassungen dieser fallibilistischen Antwort verwendet das Abgeschlossenheitsprinzip zusammen mit der Behauptung, dass wir über Wissen verfügen, um die Behauptung abzulehnen, dass wir nicht die Falschheit der skeptischen Alternativen erkennen. Sie gehen von der Prämisse aus, dass wir irgendeine Proposition q sowie die Prämisse wissen, derzufolge wir, wenn wir q wissen, wir auch jede Proposition wissen, von der wir wissen, dass sie aus q folgt (das Abgeschlossenheitsprinzip), und schließen daraus, dass wir wissen, dass wir kein schlau verkleidetes Maultier sehen. Diese Auffassung nennen wir den ‚fallibilistischen modus ponens‘. 3. Relevante Alternativen des Fallibilismus Wie wir bereits feststellten, versucht der Skeptiker unsere Wissensbehauptungen zu unterlaufen, indem er unsere Aufmerksamkeit auf skeptische Alternativen lenkt. Die ‚Entgegnung der relevanten Alternativen‘ auf dieses skeptische Manöver geht dahin zu bestreiten, dass diese Alternativen relevant seien. Eine Alternative h zur Proposition q ist genau in dem Falle relevant, wenn wir die Falschheit von h kennen müssen, um q wissen zu können. Wenn also h keine relevante Alternative ist, können wir immer noch q wissen, selbst wenn wir nicht wissen, dass h falsch ist. Aus dieser Auffassung folgt, dass das Abgeschlossenheitsprinzip falsch ist. Es gibt zwei Möglichkeiten, für diese Auffassung einzutreten. Der direkte Weg ist es, Gegenbeispiele zum Prinzip der deduktiven Geschlossenheit zu bringen. Einige Philosophen haben dies getan, indem sie sich sowohl auf unsere Intuition berufen, derzufolge wir viele Propositionen über die externe Welt wissen, sowie auf unsere Intuition, dass wir nicht die Falschheit der skeptischen Alternativen wissen. So bildet also meine starke Intuition zu wissen, dass ich gerade auf meinen Computer-Bildschirm schaue, und meine starke Intuition nicht zu wissen, dass ich kein Gehirn-in-der-Schale bin, die Grundlage für ein solches Gegenbeispiel.
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Eine indirektere Art und Weise des Eintretens für diese Auffassung ist die Konstruktion einer Erkenntnistheorie, deren Konsequenz die Falschheit des Abgeschlossenheitsprinzips ist, wie Nozick dies tut. Die Grundidee dieser Art von Theorien ist es, dass das Wissen die Wahrheit bestimmter konjunktiver Konditionale erfordert. In einer etwas vereinfachten Fassung erfordert meine Kenntnis von q, dass: (S) Wenn q falsch wäre, dann würde ich q nicht glauben. Diese Wissensvoraussetzung schließt meine Kenntnis der Tatsache aus, dass ich kein ‚Gehirn-in-der-Schale‘ bin. Denn ich würde immer noch glauben, dass ich kein ‚Gehirn-in-der-Schale‘ bin, selbst wenn ich es tatsächlich wäre. Aber diese Voraussetzung erlaubt mir das Wissen, dass ich gerade meinen Computer-Bildschirm sehe. Denn es erscheint plausibel zu behaupten, dass ich nicht glauben würde, den Computer-Bildschirm zu sehen, wenn ich ihn nicht wirklich sehen würde. Ein bedeutende Schwierigkeit dieser direkten Argumentation für die ‚Auffassung der relevanten Alternativen‘, d.h. für die Berufung auf Gegenbeispiele zum Abgeschlossenheitsprinzip, ist es, dass die Intuitionen, die die Gegenbeispiele stützten, nicht zwingender wirken als die Intuitionen zugunsten des Abgeschlossenheitsprinzips. Viele meinen, dass das Abgeschlossenheitsprinzip eine fundamentale Wahrheit über unseren Wissensbegriff ausdrücke, und zwar dergestalt, dass bei einer bestimmten Erkenntnistheorie, wenn aus ihr die Falschheit des Abgeschlossenheitsprinzips folgte, einige Philosophen geneigt wären, diese Tatsache als eine reductio ad absurdum dieser Theorie aufzufassen. Dies bringt jedoch Probleme für die indirekte Argumentation zugunsten der ‚Auffassung der relevanten Alternativen‘ mit sich: einige Philosophen lehnen Theorien ab, die die Bedingung (S) zugrunde legen, und zwar genau aus dem Grunde, dass aus ihr die Falschheit des Abgeschlossenheitsprinzips folgt. Darüber hinaus gibt es noch andere Schwierigkeiten bei Theorien, die Bedingungen wie (S) setzen. Ein Problem dieser Theorien ist es, dass sie große Teile unseres induktiven Wissens auszuschließen scheinen. Man betrachte ein Beispiel, wo jemand an einem sehr warmen Tag ein Glas mit Eiswürfeln auf der Terrasse hinterlässt. Einige Stunden später, während man sich im Haus noch vor der Hitze schützt, erinnert sich die Person an das draußen vergessene Glas. Sie muss schließen, dass das Eis inzwischen geschmolzen ist. Hier haben wir einen gewöhnlichen Fall des Wissens durch induktiven Schluss. Nach den Theorien, die wir gerade betrachten, erfordert mein Wissen, dass die Eiswürfel in einem solchen Falle geschmolzen sind, die Wahrheit des folgenden konjunktiven Konditionals: (S‘) Wenn die Eiswürfel nicht geschmolzen wären, würde ich auch nicht glauben, dass dies geschehen ist. Doch (S‘) scheint falsch zu sein. Es scheint, wenn die Eiswürfel nicht geschmolzen sind, plausibel zu sein zu behaupten, dass dies irgendeinen anderen Grund haben muss, z.B. weil jemand das Glas in eine Kühlbox gestellt hat, und ich gleichwohl weiterhin glaubte, sie wären geschmolzen. Es sieht also so aus, dass Theorien, diese Bedingungen voraussetzen, zu stark sind. Ist dies richtig, dann begünstigen die antiskeptischen Ergebnisse, die durch die Bedingung (S‘) erreicht wurden, einen Skeptizismus über bestimmte Arten des induktiven Wissens. Wir sollten jedoch anmerken, dass es einige Kontroversen über die Bewertung der konjunktiven Konditionale wie (S‘) gibt. Fairerweise muss man aber sagen, dass 1651
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(S‘) in der Standardsemantik für konjunktive Konditionale ungültig, d.h. falsch ist. (siehe Deduktive Geschlossenheit, Prinzip der). 4. Der fallibistische ‚modus ponens‘ Der fallibilistische modus ponens akzepiert im Einklang mit dem Skeptiker das Prinzip der deduktiven Geschlossenheit. Die Vertreter dieser Methode versuchen jedoch, dieses Prinzip gegen den Skeptiker zu wenden. Wie schon bei den ‚Fallibilisten der relevanten Alternativen‘ ist ihr Ausgangspunkt die intuitiv starke Behauptung, dass wir viel über die Welt wissen. Sie stellen daraufhin fest, dass bei Zugrundelegung des Prinzips der deduktiven Geschlossenheit daraus die Falschheit der skeptischen Alternativen folgt. Beispielsweise weiß ich jetzt, dass ich gerade auf meinen Computer-Bildschirm schaue. Ich weiß ferner, dass mein Blick auf den Computer-Bildschirm ausschließt, dass ich nur ein Gehirn-in-der-Schale bin. Zusammen mit dem Prinzip der deduktiven Geschlossenheit folgt daraus, dass ich weiß, dass ich kein Gehirn-in-der-Schale bin. Ist diese Schlussfolgerung legitim? Man könnte jene, die auf diese Weise argumentieren, auffordern zu erklären, wie wir dazu kommen zu wissen, dass die skeptischen Alternativen falsch sind. Wie weiß ich z.B., dass ich kein Gehirn-inder-Schale bin? Das skeptische Problem entsteht schließlich, weil wir offenkundig keinen Grund zu der Annahme haben, dass die skeptischen Alternativen falsch sind. Diese Alternativen sind so konstruiert, dass sie es unserer sinnesbasierten Evidenz unmöglich machen, dagegen anzukommen. Vermutlich erklärt unsere Anerkennung dieses Fakts zumindest in Teilen unsere Intuition, dass wir die Falschheit der skeptischen Alternativen nicht wissen können. Eine Möglichkeit für den Fallibilisten des modus ponens, mit dieser Herausforderung fertig zu werden, ist die folgende Wissensbehauptung: nicht-h: Ich bin kein Gehirn-in-der-Schale durch Schlussfolgerung aus: q: Ich schaue auf meinen Computer-Bildschirm Aus dieser Vorgehensweise ergibt sich nicht, dass ich keinen Grund zu der Annahme von nicht-h hätte, obwohl keine meiner Evidenzen für q für nicht-h spricht. Denn q kann selbst dieser Grund sein. Da ich q auf der Grundlage meiner visuellen Evidenz weiß, und ich ferner weiß, dass aus q nicht-h folgt, kann ich nicht-h aus q erschließen und damit das Wissen von nicht-h erlagen. Ist eine solche Schlussfolgerung legitim? Um dies zu entscheiden, werden wir sie mit einem anderen Fall vergleich. Angenommen, ich parke mein Auto vor einem Supermarkt und gehe in dieses Geschäft. Obwohl ich gerade nicht durch das Schaufenster auf die Straße schaue, kann ich doch immer noch wissen: p: Mein Auto ist vor dem Geschäft geparkt. Kann ich hieraus schließen: r: Mein Auto wurde nicht abgeschleppt. indem ich dies einfach aus p schließe? Man beachte, dass aus p r folgt. Gleichwohl sieht es so aus, als ob ich schon über genügend Evidenz für das Wisse von r verfügte, bevor ich p schloss. Und wenn meine anfängliche Evidenz für mein Wissen von r
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Skeptizismus
unzureichend ist, dann kann ich eben auch nicht auf p schließen und folglich auch nicht von p von r. Die Schlussweise des fallibilistischen modus ponens in Bezug auf die skeptischen Alternativen sieht verdächtig aus, weil sie der Schlussfolgerung aus dem Beispiel mit dem geparkten Auto ähnelt. Intuitiv muss ich einen Grund für die Annahme von nicht-h haben, bevor ich auf q schließen und dies damit wissen kann. Deshalb kann ich nicht zuerst q schließen und dann mit dem Schluss auf nicht-h, sowie mit dem Wissen davon fortfahren. Eine weitere Fassung des Fallibilismus behauptet unter Berufung auf das Prinzip des Induktionsschlusses, dass wir die Falschheit der skeptischen Alternativen wüssten. Eine Version dieser Auffassung macht geltend, dass die Hypothese, derzufolge die uns vertraute Welt der Gegenstände existiere, die beste Erklärung unserer Wahrnehmungsevidenz sei und damit eine bessere Erklärung als die skeptischen Alternativen. Dies ermöglicht den Schluss von unserer Wahrnehmungsevidenz auf die ‚Hypothese der vertrauten Welt‘ (siehe Schluss auf die beste Erklärung). Wir können deshalb wissen, dass diese vertraute Welt existiert. Und weil wir wissen, dass die Hypothese der vertrauten Welt die skeptischen Alternativen ausschließt, folgt hieraus über das Abgeschlossenheitsprinzip, dass wir die Falschheit der skeptischen Alternativen wissen. Die Last dieser Auffassung liegt in der Erklärung, warum die Hypothese der vertrauten Welt eine bessere Erklärung unserer Wahrnehmungsevidenz ist als irgendeine skeptische Alternative. Dies ist nicht leicht zu sagen, denn die skeptischen Alternativen sind so entworfen, dass sie unsere Wahrnehmungsevidenz erklären. Die Anhänger der Auffassung, dass skeptische Alternativen schlechtere Erklärungen liefern, berufen sich oft auf pragmatische Überlegungen wie die Einfachheit und den Konservatismus. Eine solche Herangehensweise hat jedoch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Doch warum sollten wir, selbst wenn wir feststellen könnten, dass die Hypothese der vertrauten Welt zum Beispiel einfacher ist als jede skeptische Alternative, denken, dass dies die Wahrheit einer solchen Hypothese stützt? Solange man diese entscheidende Verbindung nicht herstellen kann, ist nicht klar, wie die Antwort auf den Skeptiker Erfolg haben kann (siehe Tugendepistemologie). Darüber hinaus sind Argumente, die besagen, dass die Hypothese der vertrauten Welt die beste Erklärung unserer Wahrnehmungsdaten sei, häufig sehr ausgeklügelt und komplex. Dies lässt fürchten, dass nur diejenigen, die ebenfalls philosophisch entsprechend fortgeschritten sind, um solchen Argumenten folgen zu können, Wissen von der externen Welt haben können. 5. Die Rolle der Intuitionen Viele fallibilistische Erwiderungen auf den Skeptizismus wählen als Ausgangspunkt unsere gewöhnlichen Intuitionen über das Wissen, oder auch das Muster unserer alltäglichen Wissenszuschreibungen. Wie genau kann aber unser Muster alltäglichen Wissenszuschreibungen seine Kraft gegen die skeptischen Argumente entfalten, wenn doch der Skeptiker genau diese Zuschreibungen in Frage stellt? Der Grund dafür, dass unsere gewöhnlichen Intuitionen über das Wissen Geltung gegenüber dem Skeptiker beanspruchen können, ist, dass diese Intuition selbst noch im Angesicht der skeptischen Argumente fortbesteht. Wenn wir uns einem skeptischen Argument ausgesetzt sehen, und selbst wenn wir nicht in der Lage sind 1653
Skeptizismus
zu sagen, an welcher Stelle das Argument fehlgeht, haben wir doch erhebliche Widerstände, unsere Zuschreibungen aufgrund von Alltagswissen zurückzuziehen. Dies ist die Grundlage für G.E. Moores berühmte Erwiderung auf die skeptischen Argumente. Moore behauptete, sich sicherer zu sein, dass er etwas wüsste, beispielsweise dass er eine Hand habe, als er sich sicher sei, dass das skeptische Argument schlüssig sei. Also selbst obwohl er nicht wissen könne, wo das skeptische Argument fehlgehe, meinte er doch, dass es vernünftiger sei anzunehmen, dass das skeptische Argument fehlerhaft sein müsse, anstatt anzunehmen, dass die Schlussfolgerung dieses Arguments, dass wir nämlich gar nichts wüssten, wahr sei (siehe Moore, G.E.; Alltagsphilosophie). Der Skeptiker könnte versuchen, die Bedeutsamkeit unseres Widerstrebens, unsere Zuschreibungen von Alltagswissen zurückzuziehen, als etwas abzutun, das nicht mehr sei als das Fortbestehen alter Gewohnheiten. Diese Beharrlichkeit unserer Denkgewohnheiten über das Wissen selbst dann noch, wenn wir mit skeptischen Argumenten konfrontiert werden, wurde von Descartes und Hume bemerkt. Im Gegensatz dazu können wir jedoch feststellen, dass wir unsere alltäglichen Wissensmuster selbst dann noch zwingend finden, wenn wir uns schon mitten in aufrichtigen philosophischen Reflexionen befinden. Wenn wir über skeptische Argumente nachdenken, so ist es eine Tatsache, dass wir uns häufig in zwei Richtungen gezogen fühlen. Wir spüren den Zug des skeptischen Arguments und sträuben uns doch dagegen, unsere Wissensansprüche aufzugeben. Dieses Phänomen kann nicht einfach als eine unreflektierte Gewohnheit abgetan werden. Der Fallibilist kann somit darauf bestehen, dass unsere Zuschreibungen von Alltagswissen tief sitzende Intuitionen über unseren Begriff des Wissens widerspiegeln. Da unsere Intuitionen eine Art von Datum sind, dass eine jegliche Erkenntnistheorie erklären muss, stellen sie eine erhebliche Herausforderung der skeptischen Position dar. Gleichwohl hat die Ablehnung des Skeptizismus etwas Unbefriedigendes genau deshalb, weil sie im Konflikt mit unseren Intuitionen über das Wissen liegt. Denn es ist, wie bereits gesagt, schwer, der Kraft des skeptischen Arguments zu entkommen. Und genau weil unsere Intuitionen über die Zuschreibungen unseres Alltagswissens ein Problem für den Skeptizismus sind, sind unsere skeptischen Intuitionen umgekehrt auch eine Herausforderung der Zuschreibungen unseres Alltagswissens. Wenn der Skeptizismus wirklich eine so stark kontraintuitive Auffassung ist, warum haben dann die skeptischen Argumente überhaupt eine so starke Wirkung auf uns alle? Warum reagieren wir nicht unmittelbar auf die skeptischen Argumente, indem wir beispielsweise einwenden, dass die skeptischen Hypothesen zu abgelegen und phantasievoll seien, um unsere Wissensansprüche in Gefahr zu bringen? (Entweder können wir wissen, dass die skeptischen Alternativen falsch sind, oder wir müssen gar nicht wissen, dass sie falsch sind, um dennoch etwas über die externe Welt wissen zu können.) Manchmal sind wir geneigt, genau dies zu tun. Das skeptische Problem entsteht jedoch genau deshalb, weil wir diese Einstellung nicht immer aufrechterhalten können. Manchmal, wenn wir skeptische Argumente bedenken, beginnen wir uns Sorgen zu machen, dass die skeptischen Alternativen womöglich wirklich unsere Wissensansprüche bedrohen. Wir stehen hier somit vor einem Paradox, d.h. einer Menge miteinander unvereinbarer Propositionen, von denen jede, unabhängig voneinander betrachtet, eine bemerkenswerte Plausibilität aufweist: 1654
Skeptizismus
(1) Wir wissen einige alltägliche, empirische Propositionen. (2) Wir wissen nicht, dass skeptische Alternativen falsch sind. (3) Wenn S weiß, dass q, und S auch weiß, dass aus q nicht-h folgt, dann weiß S auch, dass q und dass q nicht-h. Angenommen wir wissen, dass q nicht-h zur Folge hat, so muss eine dieser Propositionen falsch sein. Es ist aber bei jeder einzelnen von ihnen sehr schwer, sie zu bestreiten. Dies ist es, was unser Zaudern gegenüber dem Skeptizismus ausmacht. Die Argumente für den Skeptizismus und für den Fallibilismus versuchen, jeweils die ihnen günstigen Intuitionen auszubeuten. Der Skeptiker beruft sich auf (2) und (3) und schließt daraus, dass (1) falsch sei. Der Fallibilismus der relevanten Alternativen beruft sich auf (1) und (2) und schließt daraus, dass (3) falsch sei. Der fallibilistische modus ponens beruft sich auf (1) und (3) und schließt daraus, dass (2) falsch sei. Weil jedes Mitglied der Gruppe eine von den anderen Mitgliedern unabhängige Plausibilität aufweist, scheint es willkürlich und unbefriedigend, sich auf irgendwelche zwei Mitglieder dieser Triade jeweils als Argument gegen das dritte zu berufen. Eine solche Strategie leistet nicht das, was irgendeine erfolgreiche Lösung eines Paradoxons leisten sollte, nämlich eine Erklärung, warum das Paradox überhaupt entsteht. Eine jede befriedigende Lösung des Paradox, dass unseren Wissensanspruch gegen den Skeptiker verteidigt, muss die Berufung auf skeptische Argumente erklären. Denn das ist es doch, was das Paradox überhaupt erst entstehen lässt. An dieser Stelle geht Moores Erwiderung auf den Skeptiker fehl. Viele Philosophen meinen, dass Moore gegenüber dem Skeptizismus einer petitio principii verfiel. Vielleicht tat er dies, dann aber auch nicht mehr als der Skeptiker selbst ihm gegenüber. Dennoch hat Moores Behandlung des skeptischen Arguments etwas philosophisch vollkommen Unbefriedigendes an sich. Aber das Problem dabei ist nicht, dass es im Verhältnis zum Skeptizismus eine petitio principii darstellt. Das Problem ist vielmehr, dass es nicht die dialektische Kraft des skeptischen Arguments zu erklären vermag. Obwohl es möglich ist, dass sich der offenkundige Zwang des skeptischen Arguments durch irgendeinen sehr subtilen Irrtum in unserem Denken erklären lässt, legt die Einfachheit dieser Argumente doch nahe, dass ihre Berufung etwas sehr Tiefes und Wichtiges an unserem Begriff des Wissens offenbart. Dies ist der Grund, warum wir viel über das Wesen des Wissens lernen können, indem wir uns mit dem Problem des Skeptizismus auseinandersetzen. Siehe auch: Begründung, Erkenntnistheoretische; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Internalismus und Externalismus in der Erkenntnistheorie; Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der; Solipsismus; Wissens, Begriff des Anmerkungen und weitere Lektüre: Cornman, J. (1980): ‚Scepticism, Justification, and Explanation‘. Dordrecht: Reidel (Cornman verteidigt den Schluss auf die beste Erklärung als Erwiderung auf den Skeptizismus, siehe § 4). Unger, P. (1975): ‚Ignorance‘. New York: Oxford University Press. (Eine einflussreiche Verteidigung des Skeptizismus.) STEWART COHEN
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Smith, Adam (1723-1790)
Skeptizismus, moralischer
Siehe: Moralischer Skeptizismus
Sklaverei
Der moralische, wirtschaftliche und politische Wert der Sklaverei wurde auf Seiten der Philosophen seit alter Zeit heiß diskutiert. Er wurde als Institution durch Platon und Aristoteles verteidigt, geriet aber in der Neuzeit zunehmend in die Kritik, bis sie schließlich in der westlichen Welt im 19. Jahrhundert vollständig abgeschafft wurde. Im 20. Jahrhundert wurde unsere Überzeugung, dass die Sklaverei grundlegend ungerecht sei, zu einem Maßstab, an dem moralische und politische Philosophie überprüft werden konnten. Sowohl die Utilitaristen, als auch die Kontraktualisten unter den Philosophen sprachen sich allgemein gegen die Sklaverei aus, und insbesondere gegen die Durchsetzbarkeit der Sklavenverträge, obwohl aus sehr unterschiedlichen moralischen Gründen. Andere wieder traten dafür ein, dass man die Sklaverei nur verstehen könne, wenn man sie aus der Perspektive des Sklaven betrachte. STEPHEN L. ESQUITH, NICHOLAS D. SMITH
Smith, Adam (1723-1790)
Trotz seiner Anerkennung als der Begründer der politischen Ökonomie war Adam Smith ein Philosoph, der ein rein allgemeines Moralsystem konstruierte, in dem die politische Ökonomie nicht mehr als ein Teil war. Die philosophische Grundlegung seines Systems war eine Humesche Theorie der Vorstellung, die ferner eine spezifische Idee des Mitgefühls umfasste. Smith sah das Mitgefühl als unsere Fähigkeit zu Verständnis der Situation einer anderen Person, d.h. als eine Form von Wissen, das die Grundlage für alle Bewertungen des Verhaltens anderer bildet. Unsere spontane Tendenz zur Beobachtung anderer richtet sich unvermeidlich gegen uns selbst, und hier liegt für Smith der Schlüssel für das Verständnis der moralischen Identität des Individuums als Folge sozialer Interaktion. Auf dieser Grundlage entwickelte er eine Theorie des moralischen Urteils und der moralischen Tugend, in der die Gerechtigkeit der Schlüssel zur Rechtswissenschaft ist. Smith entwickelte eine originelle Rechtstheorie als Kern einer ‚negativen‘ Gerechtigkeit, sowie eine Theorie des Regierens zwecks Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit. Er bestand jedoch auf der politischen Bedeutung der ‚positiven‘ Tugenden innerhalb der öffentlichen Sphäre. Innerhalb dieses Rahmens sah er eine Marktwirtschaft als etwas an, das sich als Ausdruck des klugen menschlichen Eigeninteresses entwickelt. Ein solches Eigeninteresse war nach seiner Auffassung ein Grundmerkmal des menschlichen Wesens und sei daher in jeder Form von Gesellschaft aktiv. Die gewerblich orientierte Gesellschaft sei jedoch etwas Spezielles, weil sie die Verfolgung des Eigeninteresses mit der individuellen Freiheit vereinbar mache. Auf dem Markt ist der Arme nicht persönlich vom Reichen abhängig. Gleichzeitig erkannte er die Gefahren einer kommerziell orientierten Gesellschaft, die deshalb einer sorgfältigen institutionellen und politischen Verwaltung bedürfe. Smith’ philosophische Grundlage wird in seinem Buch ‚The Theory of Moral Sentiments‘ (1759) dargestellt, doch ein größerer Teil betreffend das Recht und die Regierung darin wurde von Smith nie zu seiner Zufriedenheit fertig gestellt, und schließlich verbrannte er das Manuskript, bevor er starb. Entsprechend kann die Verbindung zu dem Buch ‚The Wealth of Nations‘ 1656
Sokrates (469‑399 v.Chr.)
(1776) nur teilweise aus zwei Bündeln von studentischen Mitschriften (1762-1763 und 1763-1764) aus seinen Vorlesungen ‚Lectures on Jurisprudence‘ in Glasgow rekonstruiert werden. Diese Schriften werden ergänzt durch einen Band mit Aufsätzen und studentischen Mitschriften aus Vorlesungen über die Rhetorik und die schöngeistige Literatur. Obwohl er ein Philosoph des öffentlichen Lebens und in gewisser Weise sogar eine öffentliche Figur war, vertrat Adam Smith das aufgeklärte Ideal der Privatheit des Individuums in einem Umfange, das von seinen Zeitgenossen selten erreicht wurde. Er hinterließ keine autobiographischen Berichte, und in Anbetracht seines nationalen und internationalen Ruhmes ist die überlieferte Korrespondenz eher mager. Die zahlreichen persönlichen Berichte über ihn beziehen sich größtenteils auf private Episoden und individuelle Charakterzüge. Genauso, wie es nur wenige Portraits seiner Erscheinung gibt, sind auch keine ausführlichen Darstellungen seiner Persönlichkeit überliefert, mit Ausnahme jener von Dugald Stewarts ‚Life of Adam Smith‘ (1793), das nach Smith‘ Tod geschrieben wurde und als Ergänzung der eklektischen Common-sense-Philosophie von Stewart selbst gedacht war. Während Smith ein sozial umgänglicher Mensch war, hatte er doch wenige Freunde und unterhielt enge Freundschaften nur mit Menschen, die sein Bedürfnis nach Privatheit respektierten. Unter diesen ragt David Hume heraus. Siehe auch: Arbeit, Philosophie der; Gerechtigkeit; Marktes, Ethik des; Moralischen Empfindens, Theorien des; Eigentum; Wirtschaft und Ethik KNUD HAAKONSSEN
Smith, John
Siehe: Cambridge Platonismus
Sokrates (469-399 v. Chr.) Einführung Sokrates, ein athenischer Grieche der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr., schrieb selbst keine philosophischen Werke, übte aber dennoch einen einzigartigen Einfluss auf die spätere Geschichte der Philosophie aus. Seine philosophischen Interessen beschränkten sich auf die Ethik und Fragen zur Lebensführung, d.h. auf Fragen, die daraufhin ins Zentrum der Philosophie rückten. Er diskutierte diese auf öffentlichen Plätzen in Athen, manchmal mit anderen anwesenden, prominenten Intellektuellen oder politischen Führern, manchmal auch mit jungen Männern, die ihn in großer Zahl umlagerten, sowie weiteren Bewunderern. Unter diesen jungen Männern war auch Platon. Sokrates‘ philosophische Ideen und, was ebenso wichtig ist zum Verständnis seines philosophischen Einflusses, seine Persönlichkeit und seine Methoden als Lehrer wurden in den Dialogen, die viele seiner Freunde nach seinem Tode schrieben, und in denen solche Diskussionen geschildert werden, der Nachwelt übermittelt. Nur jene von Xenophon (‚Erinnerungen‘, ‚Apologie‘ und ‚Symposion‘), sowie die frühen Dialoge von Platon sind noch erhalten, beispielsweise der ‚Euthyphron‘, die ‚Apologie‘ und der ‚Kriton‘. Die späteren platonischen Dialoge wie z.B. der ‚Phaidon‘, das ‚Symposion‘ und der ‚Staat‘ repräsentieren nicht die Ideen des historischen Sokrates. Der Sokrates, der in diesen Dialogen auftritt, ist nurmehr Sprecher für Platons eigene Ideen.
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Sokrates (469‑399 v.Chr.)
Sokrates Diskussionen fanden als unmittelbare Befragung einer anderen Person, die ihm gegenüber stand, statt. Meistens betrafen diese Fragen das Wesen einer moralischen Tugend, wie z.B. des Mutes oder der Gerechtigkeit. Sokrates befragte sein Gegenüber darauf, was er von diesen geistigen und charakterlichen Qualitäten halte, welchen Wert er ihnen zugestehe und wie man sie erwerbe. Er prüfte daraufhin deren Ideen auf ihre logische Konsistenz im Verhältnis zu anderen höchst plausiblen, allgemeinen Ansichten über die Moral und die Güte, deren Geltung sein Gegenüber ebenfalls bestätigte, sobald Sokrates sie ihm vorgestellt hatte. Er war häufig darin erfolgreich, dass er zu seiner eigenen Befriedigung und der des Befragten sowie der Umstehenden zeigte, dass die Vorstellungen des Gegenübers nicht konsistent waren. Durch seine Methode des elenchos (dt.: Widerlegung) war er in der Lage zu beweisen, dass die Politiker und andere, die behaupteten, Weisheit in menschlichen Angelegenheiten zu besitzen, diese tatsächlich nicht besaßen, und lenkte somit die Aufmerksamkeit auf offensichtliche Mängel ihres Denkens. Er wollte sie und andere stärken, gründlicher nachzudenken und ihre Vorstellungen über die Tugenden und darüber, wie man ein gutes Leben führen könne, zu verbessern. Er verteidigte niemals direkt seine eigenen Ideen, sondern hinterfragte immer diejenigen der anderen. Gleichwohl kann man aus den Fragen und seiner Einstellung zu den erhaltenen Antworten auf seine eigenen Ansichten schließen. Sokrates war überzeugt, dass unsere Seelen, d.h. der Ort, wo sich unsere Tugenden und Laster befinden, für unser Leben enorm viel wichtiger seien als unsere Körper oder die äußeren Lebensumstände. Die Qualität unserer Seelen bestimme den Charakter unserer Leben sowohl zum Besseren, als auch zum Schlechteren, und zwar viel stärker als die körperliche Gesundheit oder Krankheit, und auch als materieller Reichtum und Armut. Wenn wir gut und glücklich leben wollen – und er ging davon aus, dass wir dies mehr als alles andere wünschen –, dann müssen wir der Sorge um unsere Seele den höchsten Vorrang einräumen. Dies bedeutet, dass wir uns vor allem um die Erlangung der Tugenden bemühen müssen, denn sie vervollkommnen unsere Seelen und ermöglichen es uns, unser Leben zum Besseren auszurichten. Wir müssen nur wissen, welche die einzelnen Tugenden sind, um uns bemühen zu können, sie zu erreichen. Was das Wesen der Tugenden angeht, scheint Sokrates ziemlich strikte und, aus populärer Sicht betrachtet, auch paradoxe Auffassungen gehabt zu haben. Jede Tugend besteht vollkommen aus Wissen und sagt uns, wie man am besten in bestimmten Lebensbereichen handelt und warum; weitere emotionale Aspekte der Tugend, wie z.B. die Disziplinierung unserer Gefühle und Wünsche, verwarf er als unwichtig. Die Willensschwäche ist psychologisch unmöglich; wenn man falsch oder schlecht handelt, dann geschieht dies aufgrund von Nichtwissen darüber, wie man handeln sollte und warum. Er dachte, dass jede der offenkundig gesonderten Tugenden ein Teil derselben einheitlichen Wissensgesamtheit ist, nämlich das umfassende Wissen dessen, was für einen Menschen gut ist. Daher lautete seine Frage, wie man dieses einzigartige Wissen erwirbt; daraus würden sich die einzelnen Tugenden von selbst ergeben. Im Alter von siebzig Jahren wurde Sokrates vor einem Athener Volksgericht der Unfrömmigkeit angeklagt, d.h. man warf ihm vor, dass er nicht an die Olympischen Götter glaube und junge Männer durch sein fortgesetztes Hinterfragen von allem verderbe. Er wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Platons ‚Apologie‘, wo Sokrates eine leidenschaftliche Verteidigungsrede seines Lebens und seiner 1658
Sokrates (469‑399 v.Chr.)
Philosophie hält, ist einer der Klassiker der abendländischen Literatur. Er war damit für unterschiedliche Gruppen späterer griechischer Philosophen das Vorbild sowohl als skeptischer Forscher, der niemals behauptet, selbst die Wahrheit zu kennen, als auch als Weiser, der die gesamte Wahrheit über das menschlichen Leben und die menschliche Güte kennt. Unter den modernen Philosophen sind die Interpretationen seiner innersten Gedanken von Montaigne, Hegel, Kierkegaard und Nietzsche besonders hervorzuheben. 1.-2. Leben und Quellen 3. Sokratischer ‚elenchos‘ oder die Widerlegung 4. Elenchos und moralischer Fortschritt 5. Die Einheit der Tugend 6. Die Leugnung der Willensschwäche 7. Sokrates‘ Persönlichkeit 8. Sokrates in der Geschichte der Philosophie 1. Leben und Quellen (1. Teil) Sokrates, ein athenischer Bürger, der stolz af seine Hingabe an Athen war, lebte sein gesamtes erwachsenes Leben hindurch in der Abhaltung öffentlicher philosophischer Diskussionen und Debatten zu fundamentalen Fragen der Ethik, Politik, Religion und Erziehung. Indem er gegen die traditionelle Erziehung und Ausbildung anging, bestand er darauf, dass die persönliche Forschung und das vernünftig begründete Argument anstelle der überlieferten Sitte oder der Berufung auf die Autorität Homers, Hesiods und anderer respektierter Dichter die einzig richtige Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen sei. Seine Betonung des Beweises und der Logik, sowie sein Widerspruch gegen die unhinterfragte Akzeptanz der Tradition machten ihn zu einem Verbündeten der schon eine Generation älteren Sophisten wie z.B. Protagoras, Gorgias und Prodicus, die alle keine Athener waren und dennoch alle einige Zeit mit Vorträgen und Lehrtätigkeit in Athen verbracht hatten (siehe Sophisten). Anders als diese Sophisten bot Sokrates seine Tätigkeit nicht als bezahlter Lehrer an. Doch viele der jungen Athener der dortigen Oberschicht umlagerten ihn, um ihn zu hören und an seinen Diskussionen teilzunehmen, und er hatte eine inspirierende und erzieherische Wirkung auf sie, stärkte ihr kritisches Denkvermögen und ermunterte sie, ihre individuelle Verantwortung ernster zu nehmen darüber nachzudenken, wie sie ihr Leben führen sollten. Viele dieser Zeitgenossen nahmen seine Ausbildungstätigkeit aber auch als moralisch und sozial destruktiv wahr. Sicherlich liefen diese Lehren auch anerkannten Überzeugungen zuwider. Aus diesem Grunde wurde er im Jahre 399 v. Chr. vor einem Athenischen Volksgericht aufgrund einer Anklage wegen ‚Unfrömmigkeit‘ zum Tode verurteilt. Man warf ihm vor, dass er nicht an die Olympischen Götter glaube, sondern an irgendwelche neuen Götter, und dass er die jungen Männer Athens verderbe. Unter Gelehrten werden manchmal auch spezifisch politische Rachemotive erwähnt, deren Schuldvorwurf auf einer Assoziation beruhte: eine Reihe prominenter Athener, die als junge Männer oft bei Sokrates zugehört oder sogar enge Freunde von ihm gewesen waren, wandten sich gegen die athenische Demokratie und kollaborierten mit den Spartanern bei deren Sieg über Athen im Peloponnesischen Krieg. Doch eine Amnestie, die von der wieder hergestellten Demokratie im Jahre 403 v. Chr. beschlossen worden war, verbot die
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Sokrates (469‑399 v.Chr.)
Verfolgung wegen politischer Straftaten, die vor diesem Zeitpunkt begangen worden waren. Der Rhetoriker Polycrates befand auch Sokrates dieser politischen Straftaten in seiner ‚Anklage des Sokrates‘ (siehe Xenophon, ‚Memorabilia‘ 1. Kap., 2.12) für schuldig, eine rhetorische Übung, die erst und mindestens fünf Jahre nach Sokrates‘ Tod geschrieben wurde. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass Sokrates’ wirkliche Ankläger unter Verstoß gegen die Amnestie ihn verdeckt angriffen, oder dass seine Richter ihn aus diesem Grunde verurteilten. Die Verteidigungsreden, die Platon und Xenophon für Sokrates schrieben, jeder in seiner jeweiligen ‚Apologie‘, legen nahe, dass der Grund hierfür in seiner eigenen, hinterfragenden Art lag, und dass das, was als schlechter moralischer Einfluss auf die jungen Männer wahrgenommen wurde, auch zu der Gerichtsverhandlung und der Verurteilung führte. Sokrates hinterließ keine philosophischen Werke, und offenkundig hat er auch nie solche geschrieben. Seine Philosophie und Persönlichkeit wurde den folgenden Generationen durch die Dialoge bekannt, die zahlreiche seiner Genossen mit ihm als Protagonisten schrieben. Nur Fragmente von diesen sind von Aischines von Sphettos und Antisthenes, beide Athener, sowie Phaidon von Elis (nach dem der platonische Dialog ‚Phaidon‘ benannt ist). Unser eigenes Wissen von Sokrates hängt vor allem von den platonischen Dialogen und den sokratischen Arbeiten des Feldherrn und Historikers Xenophon ab. Platon war ein junger Begleiter von Sokrates, vermutlich in dessen letzter Lebensdekade, und Xenophon kannte ihn zur selben Zeit, obwohl er im Zeitpunkt von Sokrates‘ Tod nicht in Athen war und auch einige Jahre zuvor und viele Jahre danach abwesend. Wir verfügen ferner noch über einen sekundären Beweis von dem Komödienschreiber Aristophanes und von Aristoteles. Aristoteles hatte, obwohl er erst fünfzehn Jahre nach Sokrates‘ Tod geboren wurde, durch Platon und andere Quellen aus erster Hand zu Informationen über den Mann und seine Philosophie Zugang. Aristophanes kannte Sokrates persönlich; seine ‚Wolken‘ (uraufgeführt ca. 423 v. Chr.) prangerte die ‚neue‘ Erziehung an, die von den Sophisten und Philosophen angeboten würde, indem er Sokrates bei der ‚Denkarbeit‘ zeigt, wie er jungen Männern seltsame physikalische Theorien und Lehren vorstellte, mit denen sie auf schlaue Weise ihr ungebührliches Verhalten rechtfertigen konnten. Es ist bedeutsam, dass Sokrates im Jahre 423, als er ungefähr 45 Jahre alt war, offenbar als ein führender Vertreter einer ‚neuen‘ Erziehung in Athen aufgefasst wurde. Man kann jedoch nicht erwarten, dass eine Komödie sich aus einer ganzen intellektuellen Bewegung einen Spaß macht und dabei eine authentische Darstellung der spezifisch philosophischen Positionen des Sokrates liefert. Das literarische Genre, zu dem Platons und Xenophons sokratische Werke gehören (zusammen mit weiteren, verlorenen Dialogen), gibt dem Autor jedoch auch viel Spielraum. In seiner ‚Poetik‘ reiht Aristoteles solche Werke unter die Fiktionen eines bestimmten Typs ein, zusammen mit epischen Gedichten und Tragödien. Es handelt sich bei ihnen keineswegs um Berichte wirklicher Diskussionen (trotz des Fakts, dass Xenophon dies ausdrücklich behauptet). Jeder Autor war frei darin, seine eigenen Ideen hinter der Maske des Sokrates zu entwickeln, zumindest innerhalb der Grenzen der Überzeugung über die grundlegenden philosophischen und moralischen Perspektiven des Sokrates, zu denen er aufgrund persönlicher Erfahrung gekommen war. Speziell aus der Perspektive der vielen Inkonsistenzen zwischen Platons und Xenophons Darstellung des Sokrates (siehe unten § 7) ist es eine schwierige Fra1660
Sokrates (469‑399 v.Chr.)
ge der historisch-philosophischen Interpretation, ob die philosophischen und moralischen Ansichten, die ihr Sokrates in jedem ihrer Dialoge vorträgt, zu Recht dem historischen Philosophen zugerechnet werden können. Das Problem der Interpretation wird aber noch schwieriger durch die Tatsache, dass Sokrates in vielen der platonischen Dialoge – von denen einige zu seiner mittlere und seinen späten Perioden gehören (siehe Platon, §§ 10-16) – Ansichten ausführen und diskutieren, bezüglich derer guter Grund zu der Annahme besteht, dass sie das Ergebnis der eigenen philosophischen Forschungen des Platon zu metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen sind, und zwar solchen, die der historische Sokrates überhaupt nicht behandelt hatte. Um dieses Problem zu lösen, dass von den Gelehrten als das ‚sokratische Problem‘ bezeichnet wird, bevorzugen nunmehr die meisten von ihnen Platon vor Xenophon als Zeugen des historischen Sokrates. Von Xenophon heißt es, er sei nicht in genügendem Umfange Philosoph gewesen, um Sokrates richtig verstanden zu haben, oder auch nur um die Tiefe seiner Anschauungen und seiner Persönlichkeit begriffen zuhaben. Was Platon betrifft, akzeptieren die meisten Gelehrten nur die philosophischen Interessen und Verfahrensweisen, sowie die moralischen und philosophischen Anschauungen des Sokrates der frühen platonischen Dialoge, und mit einer gewissen Vorsicht auch den Sokrates in der Übergangsperiode, wie z.B. im ‚Menon‘ und im ‚Gorgias‘, als legitime Repräsentanten der historischen Figur. Diese Dialoge sind es, die die Dringlichkeit der besagten metaphysischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen erhöhen. Aber selbst Platons frühe Dialoge sind als philosophische Werke geschrieben worden, um Platons eigene philosophische Interessen voranzubringen. Dies kann Verzerrungen zur Folge haben, und Xenophons relative philosophische Unschuld könnte sein Portrait des Sokrates deshalb etwas verlässlicher machen. Ferner ist es möglich und sogar wahrscheinlich, dass Sokrates in seinen Bemühungen um die Entwicklung junger Männer auf unterschiedliche Weise mit den philosophisch aussichtsreicheren Kandidaten unter ihnen, einschließlich Platon, sprach als mit den anderen, z.B. Xenophon. Beide Portraits könnten also wahr sein, aber jeweils nur Teile wiedergeben und daher einer kombinierten Betrachtung bedürfen (siehe § 7). Die nachstehende Darstellung von Sokrates‘ Philosophie folgt vorsichtig Platon und legt davon unabhängiges Gewicht auch auf Xenophon und Aristoteles. 2. Leben und Quellen (2. Teil) Xenophons ‚Apologie‘ des Sokrates, sein ‚Symposion‘ und die ‚Memorabilia‘ können durchaus dessen Kenntnis von Platons eigener ‚Apologie‘ und darüber hinaus einiges von dessen früher und mittlerer Schaffensperiode widerspiegeln, und ferner die verlorenen Dialoge von Antisthenes und weiteren. Xenophon schrieb die ‚Memorabilia‘ über viele Jahre hinweg und begann damit ca. zehn Jahre nach Sokrates‘ Tod, wobei er schwor, Sokrates‘ Ruf als guter Mensch, als echter athenischer Ehrenmann und als ein positiver Einfluss auf die athenische männliche Jugend verteidigen zu wollen. Dieselbe Absicht stand auch hinter seiner ‚Apologie‘ und dem ‚Symposion‘. Alles, was diese Werke über Sokrates‘ philosophische Auffassungen und Gesprächstechniken enthalten, ist als Ergänzung zu diesem apologetischen Zweck zu verstehen. Platons ‚Apologie‘ ist selbstverständlich ähnlich apologetisch, doch diese und seine anderen frühen Dialoge sind sorgfältig konstruierte Diskussionen, die sich stark auf Fragen mit philosophischer Substanz konzentrieren. Platon 1661
Sokrates (469‑399 v.Chr.)
meinte offensichtlich, dass Sokrates’ philosophische Ideen und Methoden im Zentrum seines Lebens und seiner ‚Mission‘ standen. Xenophons und Platons Zeugnis stimmen darin überein, dass sich Sokrates’ Diskussionen konsistent mit den aretai, d.h. mit den anerkannten Tugenden oder Charakterstärken (siehe Aretē) beschäftigten, wie z.B. der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, der Selbstkontrolle oder Selbstbeherrschung (sōphrosynē), dem Mut und der Weisheit; ferner damit, was diese einzelnen Tugenden auszeichnet und wie man sie erwirbt, ob z.B. durch die Lehre oder auf irgendeine andere Weise. In seiner ‚Apologie‘ und an anderer Stelle lässt Platon seinen Sokrates darauf bestehen, dass diese Diskussionen immer Untersuchungen seien, d.h. Bemühungen, die seine Mitdiskutanten dazu bringen sollten, gemeinsam zu einem angemessenen Verständnis der untersuchten Fragen zu kommen. Er sieht sich selbst nicht als den Wissenden und kann daher auch niemanden etwas lehren, weder durch diese Diskussionen, noch auf andere Weise, sei es betreffend die Frage, wie man Tugend erwirbt, oder was die Tugend im Allgemeinen oder irgendeine bestimmte Tugend ist. Betrachtet man ferner seine allgemeine Beschreibung der Tugend (siehe §§ 4-5), besteht Platons Sokrates auf der prinzipiellen Unmöglichkeit, überhaupt Tugenden lehren zu können, im Gegensatz zu den Sophisten, die erklärten, sie verstünden dies. Die Tugend war keine Frage der Information über irgendwelche lebendigen oder routinierten Techniken, die von einem Lehrer an einen Schüler weitergegeben werden können, sondern sie erforderten ein nicht endendes persönlichen Verständnis von ihnen, das Menschen nur für sich selbst erlangen können. Xenophon berichtete ebenfalls, dass Sokrates bestritt, er sei ein Lehrer der aretē, aber er achtete nicht auf prinzipielle philosophische Fragen. Er zögert dagegen nicht zu zeigen, wie Sokrates von sich selbst als Lehrer spricht (siehe ‚Apologie‘ 26, ‚Memorabilia‘ I 6.13-14), und beschreibt ihn als jemanden, der junge Männer von ihren Vätern als seine Schüler übernimmt, wenn auch nicht für Geld, und ihnen die Tugenden beibringt, indem er ihnen seine eigenen Tugenden vormacht, damit sie sie nachahmen, und er beschreibt seine Gespräche und Vorschriften. Vielleicht bestand aber Sokrates auch gar nicht auf strikten philosophischen Prinzipien, wenn er mit Menschen umging, bei denen das, worauf es ihm eigentlich ankam, ohnehin nicht verstanden worden wäre. In seiner ‚Apologie‘ führt Platons Sokrates seine Gewohnheit, seine Zeit mit Diskussionen und Untersuchungen über die Tugend zu verbringen, auf ein Orakel zurück, das ihm am Schrein des Apoll in Delphi verlautbart wurde. Xenophon erwähnt ebenfalls dieses Orakel in seiner ‚Apologie‘. Ein Freund von Sokrates, Chairephon, hatte den Gott befragt, ob überhaupt jemand weiser sei als Sokrates. Die Priesterin antwortete, dass es niemanden gäbe. Weil er allerdings meinte, dass er überhaupt nicht weise sei, sondern nur die Götter wirklich wissen könnten, wie ein menschliches Leben zu führen sei, nahm Sokrates andere Menschen in Athen ins Kreuzverhör, die jeweils für ihre Art von Weisheit anerkannt waren. Er wollte zeigen, dass es Menschen gebe, die weiser als er seien und daher die wahre Bedeutung des Orakels entschlüsseln könnten. In solchen Ereignissen zeigte es sich allerdings, dass die Menschen, die er prüfte, gar nicht weise waren, denn sie verstanden es nicht einmal, eine in sich konsistente Menge von Antworten auf seine Fragen zu geben: offensichtlich erfordere wahren Wissen zumindest, dass man konsistent von den Dingen denkt und spricht, die man zu kennen vorgibt. So schloss er, dass die Antwort der Priesterin meinte, dass von allen diesen als weise anerkannten Men1662
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schen nur er allein in Nähe dessen kam, diese Bezeichnung verdient zu haben. Er behauptete klugerweise nicht, Dinge zu wissen, die nur Götter wissen könnten, und das sei Weisheit genug für einen Menschen. Weil aber nur er wusste, dass er nichts wusste, war er auch der einzige, der wirklich ernsthaft die Untersuchung der Tugend und der anderen Bestandteilen des Guten im Menschen betrieb, und zwar um daraus zu lernen. Er verstand daher, dass es Apolls wahre Absicht in jenem Orakel gewesen war, ihn darin zu bestärken, seine Untersuchungen fortzusetzen, anderen dabei zu helfen zu begreifen, dass es die menschlichen Kräfte übersteige wirklich zu wissen, wie man zu leben habe – denn das sei das Vorrecht der Götter – und sein Bestes zu geben, um so weit, wie dies dem Menschen überhaupt möglich ist, zu verstehen, wie man leben sollte. Das philosophische Leben, so wie es von ihm geführt wurde, war daher etwas, was in Wirklichkeit von Apoll so angeordnet worden war. Wir müssen uns daran erinnern, dass Sokrates wegen Gottlosigkeit angeklagt war. Verfolgt man seine philosophische Berufung zurück bis zu Apolls Orakel und verbindet sie mit einer demütigen Anerkennung der menschlichen Schwächen und göttlichen Vollkommenheit, so brachte er in der Tat eine kraftvolle Widerlegung der gegen ihn erhobenen Anklage vor. Es kann aber nicht buchstäblich wahr sein – wenn es dies war, was er wirklich sagen wollte –, dass Sokrates seine Untersuchungen über die Tugend begann, erst nachdem er das Orakel vernommen hatte. Chairephons Frage nach Apoll zeigt, dass Sokrates schon zuvor großes Ansehen als Weiser von Athen genoss. Dieses Ansehen kann nicht auf philosophischen Untersuchungen anderer Art beruht haben. In Platons ‚Phaidon‘ sagt Sokrates, er sei bereits als junger Man an philosophischen Spekulationen über die Struktur und die Ursachen der natürlichen Welt interessiert gewesen, aber er sei diesen Interessen nicht weiter gefolgt; und in jedem Falle besaß er dieses Ansehen nicht für diese Art von Weisheit, sondern für seine Weisheit, wie man als Mensch sein Leben zu führen habe. Tatsächlich hören wir bei Xenophon nichts von einer Pflicht gegenüber Apoll, und auch in anderen platonischen Dialogen nicht, wo man mit so etwas rechnen müsste, wenn Sokrates von Anfang an wirklich gemeint hätte, dass Apoll sein philosophierendes Leben angeordnet habe. Wir müssen deshalb allerdings nicht denken, dass Sokrates sich über das Wesen und den Antrieb hinter der Philosophie, wie er sie praktiziert hatte, irrte, nur weil er sich bei einer Rückschau in seinem Leben unter der Bedrohung einer Verurteilung wegen Gottlosigkeit unkorrekterweise dafür entschied, dies als etwas darzustellen, was ihm von Anfang an durch Apolls Orakel aufgetragen worden sei. Trotz ihren großen Eindrucks auf die Zuhörer schaffte Sokrates‘ Rede es nicht, seine Richterschaft aus 501 männlichen Mitbürgern zu überzeugen, und er starb im öffentlichen Gefängnis durch Trinken von Schierlingssaft, wie das Gesetz dies forderte. Seine Rede beleidigte offensichtlich die Mehrheit der Richter wegen der Missachtung der Vorwürfe und des Verfahrens; Xenophon erklärt sein vornehmens, vielleicht auch hochmütiges Verhalten, von dem er meint, dass es unter anderen Umständen eher irrsinnig gewirkt hätte – und damit für sein Ansehen schädlich –, indem er berichtet, dass er Freunden zuvor mitgeteilt habe, dass es für ihn als Siebzigjährigen, der immer noch gesund und bei Kräften sei, es ohnehin Zeit sei zu sterben, bevor ihn die Senilität einhole. Darüber hinaus hätte ihn das ‚göttliche Zeichen‘ – jene Stimme, die er manchmal warnend zu seinem eigenen Vorteil entgegen einem bereits angedachten Handlungsverlauf vernahm – an einer Verwendung seiner Zeit zur 1663
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Vorbereitung einer Verteidigungsrede gehindert. (Diese Stimme scheint die Grundlage des Vorwurfs zu sein, er habe versucht, ‚neue‘ Götter einzuführen.) So wollte er offenbar gar nichts unternehmen, um seine Verhaltensweise zu verändern und damit seine Freiheit wieder zu gewinnen. Und selbst wenn diese Geschichte wahr ist, könnte Platon immer noch recht damit haben, dass Sokrates eine sehr geistreiche, tiefernste Verteidigung seines Lebens und seiner Überzeugungen vortrug, und zwar eine, von der er meinte, dass sie die Richter von seiner Unschuld überzeugt haben sollte, sofern sie klug und fair über ihn geurteilt hätten. 3. Sokratischer ‚elenchos‘ oder die Widerlegung Indem er wegen ihrer Weisheit angesehene Menschen zu menschlichen Angelegenheiten ins Verhör nimmt und ihnen zeigt, dass es ihnen an eben dieser Weisheit mangelt, wandte Sokrates eine besondere Methode des dialektischen Beweises an, die er selbst vervollkommnet hatte, nämlich die Methode des elenchos, was die griechische Bezeichnung für ‚einer Prüfung unterziehen‘ oder ‚Widerlegung‘ ist. Er gibt selbst ein Beispiel während seines Gerichtsprozesses, wenn er Meletos ins Verhör nimmt, einen seiner Ankläger (Platon, ‚Apologie‘ 24d-27e). Sein Gegenüber behauptet eine These als etwas, das er selbst als wahr wisse, weil er zu dem fraglichen Thema ein Kundiger sei. Sokrates stellt ihm daraufhin Fragen, entlockt ihm Klarstellungen, Einschränkungen und Erweiterungen der These, und sucht nach weiteren Meinungen seines Gegenübers zu den betreffenden Fragen. Er macht sodann geltend – und sein Gegenüber sieht keine Möglichkeit, ihm dies streitig zu machen –, dass die ursprünglich vorgetragene These logisch im Verhältnis zu einigen Dingen, die sein Gegenüber später zugestanden habe, inkonsistent sei. Für Sokrates folgt daraus sofort, dass sein Gegenüber nicht wusste, worüber er redete, als er seine ursprüngliche These vortrug: wahren Wissen hätte ihn von einem solchen Selbstwiderspruch abgehalten. Damit erfährt sein Gegenspieler eine persönliche Zurücksetzung; er ist widerlegt, d.h. als inkompetent entlarvt. Meletos hat beispielsweise keine konsistenten Vorstellungen von den Göttern, oder was es heißt, nicht an sie zu glauben, und er hat ebenfalls keine konsistenten Vorstellungen davon, wer die Jugend verdirbt, und wie dies angeblich geschieht. Also weiß er nicht, worüber er redet, und niemand kann seine Worte für den Vorwurf verwenden, Sokrates glaube nicht an die Götter oder verderbe seine jungen Männer. In vielen seiner frühen Dialoge präsentiert Platon Sokrates beim Einsatz dieser Methode, um die Meinungen von Personen zu prüfen, die behaupten, in irgendeiner Angelegenheit weise zu sein: den religiösen Experte Eutyphron, den General Laches und Nicias über den Mut (‚Laches‘), den Sophisten Protagoras über die Unterschiede der Tugenden und ob die Tugend gelehrt werden kann (‚Protagoras‘), den Rhapsoden Ion über das, was das Wissen der Dichtkunst ausmacht (‚Ion‘), den angehenden Politiker Alkibiades über Gerechtigkeit und andere politische Werte (‚Alkibiades‘), den Sophisten Hippias darüber, wer der bessere Menschn sei: Odysseus oder Achilles (‚Hippias der Kleinere‘) und über das Wesen der moralischen und ästhetischen Schönheit (‚Hippias der Größere‘). Sie werden alle widerlegt, indem Sokrates ihnen beweist, dass sie untereinander inkonsistente Vorstellungen vom Gegenstand der Diskussion haben (siehe Platon, §§ 4, 6, 8-9). Sokrates ist aber nicht damit zufrieden, nur den Mangel an Weisheit oder Wissen seiner Gesprächspartner gezeigt zu haben. Dies mag ihn womöglich demütigen und 1664
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dadurch auffordern, weiter nach dem Wissen zu suchen, dessen Mangel er gerade unter Beweis gestellt hat, statt in aufgeblasener Verblendung von dannen zu gehen. Das wäre eine gute Sache. Aber Sokrates zeigt auch oft und klar, dass seine Befragung ihn und den Gesprächspartner im Zuge der Zurückweisung der ursprünglichen These des Gesprächspartners rechtfertigt. Logisch ist dies offenkundig falsch: wenn der Gesprächspartner sich selbst widerspricht, muss mindestens eine der Behauptungen, die er vorträgt, falsch sein, und es können auch alle dieser Behauptungen falsch sein. Die Tatsache des Widerspruchs zeigt aber noch nicht, wo eigentlich der Fehler liegt. Wenn Sokrates beispielsweise Euthyphron dazu bringt, Vorstellungen zu akzeptieren, die seinen eigenen Definitionen der Frommheit widersprechen, nach der all das fromm ist, was den Göttern gefällt, so schließt Sokrates daraus, dass diese Definition sich als falsch erwiesen hätte (‚Euthyphron‘, 10d-11a) und bittet Euthyphron, eine neue vorzutragen. Üblicherweise bedenkt er hierbei nicht, dass sich die weiteren Vorstellungen bei weiterem Nachdenken ebenfalls als fehlerhaft erweisen könnten und erneut abgelehnt zu werden verdienten, womit die Möglichkeit eröffnet wäre, die alte Definition doch beizubehalten. Sokrates verwendet seine elenktische Methode auch in Diskussionen mit Menschen, die nicht von falschem Stolz verblendet sind, sondern sehr willig, ihr Nichtwissen zuzugeben und über die Wahrheit dieser wichtigen Angelegenheiten nachzudenken. Beispiele hierfür sind seine Diskussionen mit seinem langjährigen Freund Kriton darüber, ob er aus dem Gefängnis entfliehen und das Todesurteil des Gerichts missachten sollte (Platon, ‚Kriton‘), und auch mit dem jungen Mann Charmides über die Selbstbeherrschung (‚Charmides‘), und Lysis und Menexenos über das Wesen der Freundschaft (‚Lysis‘). Sokrates prüft Kritons Vorschlag einer Flucht auf der Grundlage von Prinzipien, die er diesem zur Annahme vorstellt, und er selbst und Kriton (dieser allerdings halbherzig), verwerfen diesen Vorschlag, weil er nicht konsistent zu diesen Prinzipien steht. Er prüft aber auch die sich daran anschließenden Ideen des jungen Mannes über diese Tugenden, verwirft einige von ihnen und verfeinert andere, indem er sich auf dessen eigene Akzeptanz weiterer Vorstellungen verlässt, die er ihnen hinzufügt. Und auch hier ist er wieder voller Vertrauen, dass die Inkonsistenzen, die in den Ideen seiner Gesprächspartner zutage treten, die Unangemessenheit ihrer nachfolgenden Vorschläge hinsichtlich der fraglichen Tugend beweist. In vielen seiner Diskussionen sowohl mit jungen Männern, als auch mit den angeblich weisen, versucht Sokrates zu erkennen, worin eine moralisch wertvolle Eigenschaft besteht, beispielsweise die Frömmigkeit, der Mut, die Selbstbeherrschung oder die Freundschaft (siehe § 4). Indem er die Idee ablehnt, dass jemand dies einfach durch die Beobachtung von Beispielen lernen könnte, besteht er auf einer artikulierten ‚Definition‘ des fraglichen Gegenstandes, d.h. einer einheitlichen Darstellung, die alle der angenommenen gemeinsamen Merkmale erfasst, die irgendein Verhalten berechtigen, und die dadurch als legitime Instanz dieser moralischen Eigenschaft zu gelten. Eine solche Definition, die das Wesen der definierten Sache enthält, würde uns ein ‚Modell‘ oder ein ‚Paradigma‘ für das Urteil verschaffen, ob irgendeine vorgestellte Handlung oder Person den auf diese Weise definierten, moralischen Wert besitzt (‚Euthypron‘ 6d-e). Aristoteles sagt in der ‚Metaphysik‘ I, 6, dass Sokrates der Erste war, der sich für solche ‚universalen Definitionen‘ interessierte, und führt auf sein Interesse daran Platons ersten Vorstoß zur Theorie 1665
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der Formen (bzw. der sog. ‚Ideenlehre‘) oder der ‚gesonderten‘ Universalien zurück (siehe Platon, § 10). In keiner dieser Diskussionen in Platon Frühwerk behauptet Sokrates, er habe bereits ein angemessenes und abschließendes Ergebnis erreicht, z.B. über das Wesen der Freundschaft oder die Selbstbeherrschung oder die Frömmigkeit, oder welche Dinge auch sonst immer er erforscht. Tatsächlich und im Gegenteil enden diese Dialoge immer mit dem Bekenntnis einer profunden Unkenntnis bezüglich des Untersuchungsgegenstandes. Nie wird Wissen erreicht, und weitere Befragungen müssen ins Auge gefasst werden. Doch Sokrates denkt einfach, dass der Fortschritt in Richtung eines abschließenden Verständnisses zumindest begonnen habe, und sei es auch, dass nur ein Gott und kein menschliches Wesen es jemals erreichen könne. Immerhin habe man nicht nur einige Dinge entdeckt, deren Behauptung definitiv falsch sei, sondern man habe auch einige positive Einsichten erlangt, deren Aufbewahrung wichtig sei, um später und weiter im systematischen Verständnis vordringen zu können. In Anbetracht der durchgängig elenktischen Methode des Sokrates fragt sich, was diesen Optimismus rechtfertigt. Per Saldo legen die vorgetragenen Sachverhalte nahe, dass Sokrates keine elaborierte Idee ausgearbeitet hatte, die hier zu seiner Unterstützung angeführt werden könnte. Die Ideen, zu deren Verkündung er sich infolge der elenktischen Prüfung angeregt fühlte, weil sich diese gegen irgendeine ursprüngliche These wendete, erschienen ihm und gewöhnlich auch den übrigen Anwesenden als so plausibel und damit so gut beweisbar durch weiteres Überlegen, dass er und das Publikum sich damit zufrieden gaben, die ursprüngliche These zurückzuweisen. Solange niemand erschien und ihre Kraft zerstreute, schien es, dass die These verloren war, weil sie im Widerspruch zur Vernunft selbst stand. Gelegentlich äußert sich Sokrates selbst in genau diesem Sinne: wie unangebracht diese Möglichkeit auch erschiene, stünde es doch jedermann offen, die Gründe in Frage zu stellen, auf denen seine Schlussfolgerungen beruhten (siehe ‚Euthyphron‘ 15c, ‚Gorgias‘ 461d-462a, 509a, ‚Kriton‘ 54d). Aber solange sie dies nicht tun, gibt er sich damit zufrieden, das Einverständnis zwischen ihm und seinem Gesprächspartner als eine feste Grundlage für das Denken und Handeln zu betrachten. Später, als Platon selbst sich für Fragen der philosophischen Methodik in seinem ‚Menon‘ zu interessieren begann, erwies sich diese Einstellung als unbefriedigend. Platons Forderung nach einer Rechtfertigung der eigenen Überzeugungen, unabhängig davon, was einem selbst nach entsprechendem Nachdenken als weitgehend plausibel vorkommen, führten ihn zu erkenntnistheoretischen und metaphysischen Untersuchungen, die weit über diese der von sokratischen Philosophie sich selbst auferlegten Beschränkungen hinausführten, und zwar zu einem ethischen Denken im weitesten Sinne des Wortes. Sokrates aber warf diese Fragen noch nicht auf. In dieser Hinsicht war er mehr den traditionellen Ansichten verhaftet als Platon, und er hatte offenbar ein großes implizites Vertrauen in die Fähigkeit seiner selbst und seiner Gesprächspartner, dass man nach einer disziplinierten dialektischen Prüfung aller dieser Fragen festen Grund zur Konstruktion positiver Vorstellungen über die Tugenden erreichen würde, sowie darüber, wie das menschliche Leben am besten zu führen sei, selbst wenn diese Ideen niemals die endgültige Form von Bestätigung erfahren würden, die ein Gott ihnen geben könnte, weil er die ganze Wahrheit des menschlichen Lebens versteht.
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4. Elenchos und moralischer Fortschritt Die Diskussionsgegenstände des Sokrates waren immer ethischer Natur und umfassten niemals Fragen der physikalischen Theorie oder der Metaphysik oder anderer Zweige des philosophischen Studiums. Darüber hinaus führte er die Diskussionen nicht als theoretische Untersuchungen, sondern als zutiefst persönliche moralische Prüfungen. Der Fragende und der Gesprächspartner unterwarfen gleichermaßen ihre Lebensweisen demjenigen Test, den Sokrates als den wichtigsten von allen ansah, nämlich ihre Fähigkeit zur genauen Untersuchung in Form einer rationalen Beweisführung darüber, wie man leben sollte. Indem er über das menschliche Leben sprach, wollte er seinem Gegenüber zeigen, was sie in Wirklichkeit glaubten, und als Fragender war er bereit, dasselbe zu tun, zumindest an den Schlüsselstellen des jeweiligen Gesprächs. Diese Überzeugungen, so nahm man an, sollten keine theoretischen Ideen ausdrücken, sondern genau jene, nach denen sie selbst ihre Leben ausrichten würden. Indem man in der Beweisführung gegen Sokrates verlor, zeigte man nicht nur ein logisches oder argumentatives Defizit, sondern stellte damit die gesamte Grundlage des eigenen Lebens in Frage. Deine Lebensform mag sich letztlich als vertretbar erweisen; wenn du sie aber nicht erfolgreich verteidigen kannst, dann führst du dein Leben in dieser Form nur noch ohne Berechtigung. In diesem Falle ist dein Leben in der Auffassung des Sokrates moralisch mangelhaft. Wenn daher Menexenos, Lysis und Sokrates bekennen, dass die Freundschaft zu den wichtigsten Dingen im Leben gehört, und gleichzeitig bekennen, dass sie Freunde seien, jedoch unter dem Druck der elenktischen Untersuchung nicht zufrieden stellen erklären können, was ein Freund überhaupt ist, dann wirft dies ernste Zweifel auf die Qualität einer jeden ‚Freundschaft‘, die sie unterhalten (Platon, ‚Lysis‘ 212a, 223b). Moralische Konsistenz und persönliche Integrität, und nicht nur das Vergnügen am Argumentieren und logischen Denken sollten daher zur einer wiederholten elenktischen Überprüfung unserer Ansichten führen, und zwar in dem Bemühen um ihre Kohärenz und Vertretbarkeit aus jeder Perspektive durch Berufung auf plausible Argumente. Wenn sich aber eine unserer Ansichten als falsch erweisen sollte, weil sie mit extrem plausiblen, allgemeinen Prinzipien kollidiert, ziemt es sich, sie fallen zu lassen – und damit eine Lebensweise aufzugeben, die in gewisser Weise davon abhing, dass man der falschen Ansicht anhing. Auf diese Weise ist die philosophische Untersuchung über den elenchos eine grundlegende, persönliche Befragung. Sie ist dies nicht nur, um angemessen die Grundlage zu verstehen, auf der man wirklich lebt, und der persönlichen und moralischen Verbindlichkeiten, die man damit eingeht; sie ist vielmehr auch eine Befragung zur Veränderung der Lebensweise, die man als Ergebnis eines Beweises annehmen sollte, so dass auf der logischen Grenze der Befragung die Lebensweise eine Person dann vollständig gerechtfertigt wäre. Dem entspricht, dass Sokrates in Platons Dialogen normalerweise auf den persönlichen und individuellen Charakter der Gespräche hinweist. Er möchte die Ansichten genau jener Person hören, mit der er spricht. Er verwirft es als ohne Interesse, was Außenstehende oder die übrigen Menschen denken, vorausgesetzt, dass es nicht genau dies ist, worauf sich sein Gesprächspartner in seinen persönlichen Überzeugungen bezieht. Die Ansichten ‚der Vielen‘ müssen überhaupt nicht auf Nachdenken oder Argumenten beruhen. Sokrates besteht darauf, dass sein Gegenüber die Verantwortung auf sich nimmt, die von ihm vertretenen Ansichten rational
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zu erklären und zu verteidigen, und dass er dem vernünftigen Beweis folgt, wohin auch immer er führen mag. Wir lernen sowohl von Platon, als auch von Xenophon viel über Sokrates‘ eigene Prinzipien. Diese waren immerhin ein ganzes Leben lang häufig in elenktischen Diskussionen eingesetzt worden und wiesen, wie Sokrates meinte, eine Menge plausibler Argumente auf, die für sie sprachen. An vorderster Stelle steht hier seine Überzeugung, dass die Tugenden – die Selbstbeherrschung , der Mut, die Gerechtigkeit, die Frömmigkeit, die Weisheit und damit verwandte Qualitäten des Geistes und der Seele – wesentlich für jeden sind, der ein gutes und glückliches Leben führen will. Sie sind an sich selbst für den Menschen gut, und sie garantieren ein glückliches Leben (gr.: eudaimonia), d.h. etwas, von dem Sokrates meinte, dass sich alle Menschen dies wünschen, und zwar mehr als alles andere. Die Tugenden gehören zur Seele; sie sind eine Bedingung derjenigen Seele, die richtig gepflegt und in ihren besten Zustand gebracht wurde. Die Seele ist enorm viel wichtiger für das Glück als die Gesundheit und die körperliche Stärke oder die soziale bzw. politische Macht, der Wohlstand und andere äußerliche Lebensumstände. Die Güter der Seele, und unter ihnen vor allem die Tugenden, sind viel mehr wert als jede sonstige körperliche Qualität oder externe Güter. Sokrates scheint sich vorgestellt zu haben, dass diese anderen Güter wirklich gut seien, doch wirken sie bloß gut auf die Menschen und tragen daher sie zu ihrem Glück nur bei, wenn sie im Einklang mit den Tugenden ausgewählt und eingesetzt werden, die ihren Seelen innewohnen (siehe Platon, ‚Apologie‘ 30b, ‚Euthydemos‘ 280d-282d, ‚Menon‘ 87d-89a). Und noch weitere und bestimmtere Prinzipien folgten. Sich selbst ungerecht zu verhalten sei für den Betreffenden schlimmer, als ihr als Opfer ausgesetzt zu sein (‚Gorgias‘ 469c-522e); indem man ungerecht handele, verderbe man seine Seele, und dies habe Folgen für das Ganze Leben des Betreffenden, während wenn man ungerecht behandelt werde, so werde schlimmstenfalls dem Körper oder dem Vermögen des Opfers Schaden zugefügt, doch ihre Seele bleibe unberührt (was leider von der modernen, psychologischen Erkenntnissen nicht bestätigt wird: Opfer starker Ungerechtigkeit, vor allem Kinder, können durchaus auch selbst einen starken seelisch-moralischen Schaden erleiden). Aus demselben Grunde lehnte Sokrates auch stark das tief verwurzelte griechische Hilfegebot gegenüber Freunden und das Gebot der Schädigung von Feinden ab, und die damit verbundenen Prinzipien der Vergeltung, die er mit der Erwiderung von Falschem, das einem selbst oder den eigenen Freunden angetan wurde, durch Falsches gleichsetzte (‚Kriton‘ 49a-d). Sokrates Lebensalltag bezeugte diese Prinzipien. Er war arm, schäbig angezogen und barfuß und aß, was immer ihm an gewöhnlichem Essen angeboten wurde; solche Dinge zählten für ihn wenig. Wohlstand, Aufputz und Delikatessen des Geschmacks seien es nicht, dass man ihnen nachlaufe und dass sie in einem Freude hervorrufen. Gleichwohl war Sokrates vollständig in der Lage, sowohl feine, als auch gemeine Freuden, die sich bei Gelegenheit ergaben, zu genießen (siehe § 7). 5. Die Einheit der Tugend Die Griechen identifizierten eine Reihe besonders hoch geschätzter geistiger und charakterlicher Qualitäten als aretai oder Tugenden. Jede von ihnen wurde als eine bestimmte, gesonderte Eigenschaft anerkannt: die Gerechtigkeit war eine Sache, die sich mit der fairen Behandlung anderer Menschen befasste, der Mut wieder 1668
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etwas anderes, das sich als kraftvolles, korrektes Verhalten unter Umständen bewies, die Menschen normalerweise Angst einflößt, und die Selbstbeherrschung oder Mäßigung, die Frömmigkeit und die Weisheit waren wieder davon verschiedene. Jede dieser Tugenden stellte sicher, dass ihr Besitzer auf eine bestimmte Weise handeln würde, normalerweise und auch verlässlich währen ihres ganzes Lebens, weil sie die gerechtfertigte Überzeugung hegten, dass dies die Weisen seien , wie man handeln sollte, d.h. es gibt Handlungsweisen, die agathon (dt.: gut) und kalon (dt.: fein, edel, bewundernswert oder auch schön) sind. Aber alle diese Typen tugendhafter Personen handeln nicht nur normalerweise wiederkehrend richtig und gut, sondern auch unter ungewöhnlichen und unangekündigten Umständen. Die Tugend bringt es mit sich, dass man immer und in jeder Situation den richtigen Weg eines guten menschlichen Lebens einschlagen kann. Sokrates meinte, dass diese Tugenden wesentlich seien, wenn jemand glücklich leben will (siehe § 4). Was aber genau waren diese Tugenden? Was genau machte jemanden gerecht oder mutig oder weise? Wenn man dies nicht weiß, so weiß man auch nicht, was man tun muss, um diese Qualitäten zu erwerben. Nimmt man ferner an, dass man eine Tugend besitzt, so muss man in der Lage sein, die daraus folgende Lebensweise mit Beweisen erklären und verteidigen zu können; andernfalls wäre die Überzeugung, dass diese Lebensweisen jene sind, nach denen man sich richten sollte, flach und unbegründet. Um dies nun zu tun, muss man wissen, was für einen Geisteszustand die Tugend voraussetzt, denn dieser ist für sie von zentraler Bedeutung (‚Charmides‘ 158e-159a). Folgerichtig fragt Sokrates in seinen Diskussionen ständig nach Definitionen verschiedener Tugenden: was ist Mut (‚Laches‘), was ist Freundschaft (‚Lysis‘), und was ist Frömmigkeit (‚Euthyphron‘) etc. Wie diese Kontexte zeigen, fragt er nicht nach einer ‚Wörterbuchdefinition‘, d.h. nach einer Darstellung des akzeptierten sprachlichen Verständnisses eines Ausdrucks, sondern nach einer ethisch vertretbaren Darstellung eines wirklichen Geistes- oder Charakterzustandes, auf den das Wort in üblicher Bedeutung korrekt angewandt werden kann. In späterer Terminologie könnte man sagen, er suchte eine ‚reale‘ und keine ‚nominale‘ Definition (siehe Definition; Platon, §§ 6-9). Sokrates widersprach Definitionen, die eine Tugend zu einem externen Aspekt einer tugendhaften Handlung machen, – was der Art und Weise entspräche, auf die diese Handlung durchgeführt wird –, z.B. ihre äußerliche Eigenschaft als ruhig oder maßvoll im Falle einer Mäßigung (‚Charmides‘ 160b-d). Er wandte sich aber auch gegen das einfache Tun einer bestimmten Handlung als tugendhaft, sofern dieses Tun nur nach Maßgabe seiner externen Umstände beschrieben wird, z.B. im Falle des Mutes eines Mannes auf dem Schlachtfeld (‚Laches‘, 190e-191d). Ferner widersprach er den eher psychologischen Definitionen, die die Tugend in irgendeinem nichtrationalen und nichtkognitiven Aspekt der Seele verorteten, z.B. im Falle des Mutes in der Beharrlichkeit oder Widerstandskraft der Seele (‚Laches‘ 192d-193e). Was ihn selbst betraf, so zeigte sich Sokrates in der Regel bereit, nur solche Definitionen zu akzeptieren, die eine Tugend gleichzeitig mit einer Art von Wissen oder Weisheit über das, was für einen Menschen wertvoll ist, verbanden. Diese ‚intellektualistische‘ Erwartung an das Wesen der Tugend ist in Sokrates‘ Philosophie zentral, auch wenn sie in den platonischen Dialogen an keiner Stelle zur Zufriedenheit von Sokrates durchgearbeitet wird. In Anbetracht des Umstandes, dass Sokrates in seinen Diskussionen immer der Fragesteller ist, der die Meinung seines Gegenübers auf die Probe stellt und keine 1669
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eigenen Auffassung vertritt, finden wir nirgends einen Sokrates, der klar sagt, was ihn zu diesem Intellektualismus brachte. Wahrscheinlich bezog er sich in seinen Überlegungen jedoch auf die allgemein anerkannte Prämisse, dass jede Tugend eine Bedingung ist, die Anlass zu bestimmten gewillkürten Handlungen gibt, die gewählt wurden, weil sie gut oder fein oder edel sind. Nach seiner Auffassung war das, was hinter einer jeden freiwilligen Handlung liegt und diese hervorbringt, diejenige Idee, unter der die Handlung vollzogen wird, d.h. die Konzeption der Handlung im Geist des Handelnden, aus der der Handlungsentschluss genau zu dieser Handlung hervorgeht. Wenn dies so ist, muss jede Tugend irgendein Geisteszustand sein, von dem der jeweilige Besitzer fortgesetzt eine gewisse und bestimmte allgemeine Idee hat, wie sie in die Tat umzusetzen sei. Ferner sind diese Ideen wahr, weil die Tugenden sagen, wie man etwas richtig macht. Und weil sich eine tugendhafte Person in vollkommen verlässlicher Weise gut und korrekt verhält, müssen die Tugenden so tief im Geist verankert sein, dass sie förmlich unausrottbar und ohne zu wanken gegenwärtig sind. Der einzige Geisteszustand, der diese Bedingungen erfüllt, ist das Wissen: eine Sache zu wissen heißt nicht nur, von ihr gründlich überzeugt zu sein, sondern ein tiefes, vollständig artikuliertes Verständnis von ihr zu haben und damit jederzeit auch Erklärungen parat zu haben, um Einwände und offenkundige Schwierigkeiten abzuwenden und neue Situationen unter alte Prinzipien zu subsumieren, und um darauf vorbereitet zu sein, mit dem vollen Gewicht der Vernunft zu zeigen, warum eine Situation zwingend unter ein bestimmtes Prinzip fällt. Jede Tugend muss also auch Wissen darüber beinhalten, wie man sich in den jeweiligen Lebensbereichen zu verhalten habe, und warum. Das bedeutet, dass es sich hier um ein so tiefes und rational sicheres Wissen handeln muss, dass jene, die des besitzen, vermutlich niemals mehr ihre Einstellung ändern werden, niemals widerlegt werden oder auf andere Weise von einer anderen Einstellung überzeugt werden oder schwanken können, was die Überzeugtheit von ihrem Handeln betrifft. In Platons ‚Protagoras‘ geht Sokrates noch weiter und identifiziert sich selbst mit der Einstellung, die von Protagoras in ihrer Diskussion zurückgewiesen wurde, dass die offenkundig gesonderten Tugenden der Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Selbstbeherrschung, Mut und Weisheit in gewisser Weise ein und dieselbe Sache seien, nämlich ein einziges Wissen (361a-b). Xenophon bestätigt ebenfalls, dass Sokrates dieser Auffassung war (‚Memorabilia‘ III 9.5). Protagoras verteidigt die Position, dass jede der Tugenden nicht nur eine bestimmte sei, die sich von den anderen unterscheide, sondern so verschieden in ihrer Art sei, dass eine Person, die eine von ihnen besäße, nicht unbedingt auch die anderen besitzen müsse (329d-e). In seinem Widerspruch gegen diese Auffassung spricht Sokrates manchmal rundheraus von den angeblich verschiedenen Tugenden, die letztlich ‚eine‘ seien (333b). Geht man von einer solchen Einheit der Tugenden aus, so würde daraus folgen, dass eine Person nicht die eine Tugend besitzen könnte, ohne auch alle anderen zu besitzen. Und speziell hinsichtlich der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit scheint Sokrates noch weiter zu gehen, indem er impliziert, dass jede Handlung, die auf tugendhafte Weise durchgeführt werde, gleichzeitig eine Instanz aller allgemein anerkannten Tugenden sei, d.h. sowohl fromm als auch gut, gerecht, weise, selbstbeherrscht und mutig. Unter diesen frühen Dialogen zeigen sich Platons eigene philosophische Interessen allerdings mit besonderem Gewicht im ‚Protagoras‘, so dass zweifelhaft ist, wie weit die Details seiner Beweisführung überhaupt dem historischen Sokrates zugeschrie1670
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ben werden können. Die Fragen, die von Sokrates im ‚Protagoras‘ aufgeworfen werden, werden gleichwohl eifrig durch die nachfolgenden ‚sokratischen‘ Philosophen weitergetragen, wie beispielsweise Plutarchs Bericht ‚Über die moralischen Tugenden‘ II beweist. Und die Positionen, die von Platons Sokrates offenkundig eingenommen wurden, nahm auch der Stoiker Chrysippus (siehe Stoizismus) auf und verteidigte sie sehr geschickt. Wie auch sonst ist es allerdings schwierig, die Gründe von Sokrates als demjenigen, der die Fragen stellt, für die Einheit der Tugend zu erkunden; und es ist schwierig zu sagen, ob – und wenn wie – er es zulassen konnte, dass trotz dieser behaupteten Einheit immer noch gewisse reale Unterschiede z.B. zwischen der Gerechtigkeit und der Selbstbeherrschung oder dem Mut und der Frömmigkeit beständen. Offenkundig dachte er, dasselbe Gesamtwissen, d.h. das Wissen der Gesamtheit dessen, was für einen Menschen gut oder nicht gut sei (und warum dies so sei), müsse den angeblich gesonderten Tugenden auf irgendeine Weise zugrunde liegen. Hätte man nicht dieses enorm umfassende Wissen, so könnte man geistig nicht in dem Zustand sein, der den Mut oder die Gerechtigkeit etc. auszeichnet. Und wenn man dieses Wissen habe, so sei man wiederum auch notwendig in dem entsprechenden Geisteszustand. Es ist allerdings zweifelhaft, ob Sokrates selbst über diesen Punkt hinauskam. Entsprechende Bemühungen wurden von Chrysippus und den anderen Philosophen unternommen, auf die bereits verwiesen wurde. Und trotz der Ablehnung, dass alle Tugenden auf Wissen aufbauen, folgen Platon im ‚Staat‘ und Aristoteles in der ‚Nikomachischen Ethik‘ VI Sokrates darin, dass sie auf unterschiedliche Weise ebenfalls meinen, man müssen alle Tugenden aufweisen, um auch nur eine einzige zu haben. 6. Die Leugnung der Willensschwäche In Platons ‚Protagoras‘ bestreitet Sokrates auch die Möglichkeit einer Willensschwäche, d.h. das Risiko, von irgendeinem Wunsch derartig beherrscht zu werden, dass man freiwillig auf eine Weise handelt, von der man weiß, dass sie falsch oder schlecht ist (siehe Xenophon, ‚Memorabilia‘ III 9.4, IV 5.6). Alles freiwillige Fehlverhalten bzw. schlechte Handeln beruht auf Nichtwissen darüber, wie und warum man handeln sollte, und auf sonst nichts. Dies wäre leicht zu verstehen, wenn man die sokratische Verwendungsweise des Ausdrucks ‚wissen‘ im strengen Sinne versteht, um auf die erhabene und anspruchsvolle Art von Erkenntnis zu verweisen, die bereits in § 6 beschrieben wurde, und die manchmal auch ‚sokratisches Wissen‘ genannt wird. Jemand könnte auf der Grundlage eines solchen Wissens nur dann im vollen Bewusstsein des sokratischen Wissens erkennen, dass eine Handlung falsch oder schlecht war, wenn er ihm Moment des Handelns nicht vollständig von seinem Wissen überzeugt war, aber ein tiefes, vollkommen artikuliertes Verständnis davon hatte und mit Erklärungen bereit stand, die Einwände und offenbaren Schwierigkeiten abzuwehren und damit nicht genau zu zeigen imstande war, warum dieses Wissen so gegeben sei. Dies würde bedeuten, dass diese Ideen so tief im Geist verankert sind, dass sie nicht mehr auszurotten und ohne zu schwanken gegenwärtig sind. Folglich könnte eine solche Person mit ‚sokratischem Wissen‘ nicht einmal für einen Augenblick meinen, dass die fragliche falsche Handlung geraten sei, und folglich könnte sie sie auch niemals freiwillig ausführen, und die Annahme einer falschen Handlung lediglich aus Willensschwäche ohne Wissensmangel wäre widersprüchlich. 1671
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Platons Sokrates geht jedoch noch weiter. Er erklärt seine Leugnung der Möglichkeit einer Handlung aufgrund eines schwachen Willens, indem er sagt, dass eine Person nicht freiwillig handeln könne, wenn sie von dem, was sie tut, sogar glaube, dass die falsch oder schlecht sei (‚Protagoras‘ 358c-e). Er liefert einen viel diskutierten und sehr durchdachten Beweis zur Erhärtung dieser strengeren Schlussfolgerungen, indem er von der Annahme ausgeht, dass das Angenehme mit dem Guten identisch sei (352a-357e). Diese Annahme schreibt er jedoch nur dem Alltagsmenschen zu, d.h. denjenigen, die sagen, sie glauben an die Möglichkeit der willensschwachen Handlung. Er macht dem aufmerksamen Leser klar, wenn nicht auch Protagoras, dass seine eigene Anschauung einfach die sei, dass Vergnügen einfach eine gute Sache sei, nicht jedoch ‚das Gute‘ an sich selbst (351c-3; siehe auch 354b-d). Auch wenn einige Gelehrte dies anders auffassen, ergreift Sokrates selbst doch weder im ‚Protagoras‘, noch an irgendeiner anderen Stelle im Werk von Platon oder Xenophon eine hedonistische Perspektive des Guten. Tatsächlich spricht er sich auch nirgends gegen hedonistische Auffassungen aus (siehe Hedonismus). Das fundamentale Prinzip, dass diesem Beweis zugrunde liegt – ein Prinzip, von der er meint, dass der Alltagsmensch dies akzeptieren werde – lautet, dass die freiwillige Handlung in dem Sinne ‚subjektiv‘ rational sei, als ein Handelnder, der zur Erreichung irgendeines privaten Gutes handelt, dies immer unter der Vorstellung tue, dass das, was er gerade tue, diese Zwecke in einem größeren Umfange realisiere als mögliche und verfügbare Handlungsalternativen. Wenn jemand eine durch und durch schlechte Handlung unternehme, weil er der Meinung sei, dass der dadurch für sich irgendein geringeres Gut realisiere, so könne er dies nicht in dem Bewusstsein tun, dass diese Handlung durch und durch schlecht sei. Das würde nämlich bedeuten, dass er davon ausgehen müsste, er würde mehr von diesem Gut für sich realisieren, wenn er von der Handlung Abstand nähme, und seine Handlung würde damit das gerade genannte Prinzip verletzen. Stattdessen glaubten sie zum Zeitpunkt der Handlung – unabhängig davon, was sie davor oder danach dächten – unwissenderoder unrichtigerweise, dass diese Handlung für sie rundherum gut wäre. Daher sei nur und ausschließlich das Nichtwissen für den willentlichen Irrtum verantwortlich. Eine Willensschwäche, d.h. wissentlich das falsche Ergebnis herbeizuführen, sei psychologisch unmöglich: ‚Niemand unternimmt willentlich das Falsche‘. Die Einzelheiten dieses Beweises mögen nicht unbedingt für den historischen Sokrates verbindlich sein. Gleichwohl war seine Leugnung der Willensschwäche, wenn man sie im Zusammenhang des platonischen ‚Protagoras‘ versteht, der Mittelpunkt einer langgezogenen Debatte späterer Zeiten. Zunächst erhoben bereits Platon in seinem ‚Staat‘ IV, und dann Aristoteles in der ‚Nikomachischen Ethik‘ VII Einwände gegen Sokrates’ Schlussfolgerung, er habe den Fakt übersehen, dass der Mensch auch andere Beweggründe des Handelns neben seinen Vorstellungen vom Guten oder Schlechten oder Richtigen oder Falschen haben könne, die ihn zum willentlichen Handeln treiben. Die ‚Begierden‘ und das ‚geistige Verlangen‘ existierten ebenfalls und könnten eine Person zum Handeln zwecks ihrer Erfüllung treiben, ohne dass sie sich der Vorstellung oder ihrer Überzeugung annähmen, was die beste Handlung sei (siehe Platon, § 14; Aristoteles, § 20, 22-23). Die Stoiker und insbesondere Chrysippos argumentierten jedoch leidenschaftlich und sehr geschickt zugunsten von Sokrates’ Analyse und gegen die platonisch-aristotelische Annahme alternativer Quellen von Beweggründen, die willentliche Handlungen selbständig 1672
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hervorzubringen vermöchten (siehe Stoizismus). Tatsächlich war es die sokratischeinheitliche Psychologie des Handelns in der hellenistischen Zeit, die den Sieg davontrug; die platonisch-aristotelische Alternative, die im common sense und in der Psychologie seit der Neuzeit vorherrscht, war nur eine Mindermeinung. Die Fragen, die Sokrates damit über die Willensschwäche aufwarf, werden noch bis auf den heutigen Tag debattiert. 7. Sokrates‘ Persönlichkeit Sokrates gewann viele der hellsten und prominentesten Menschen Athens seiner Zeit und sicherte sich deren faszinierte Aufmerksamkeit und ihre leidenschaftliche Freundschaft und Unterstützung. Seine Wirksamkeit als Philosoph und auch die ‚sokratische Legende‘ selbst sind gleichermaßen eine Folge der Stärke und des Interesses an seiner Persönlichkeit, als auch seiner Geisteskraft. Platons und Xenophons Portraits der Persönlichkeit des Sokrates unterscheiden sich jedoch beträchtlich. Platons Sokrates ist reserviert und redet oft ironisch, wenn auch mit ungewöhnlich und tief verinnerlichten moralischen Überzeugungen. Paradoxerweise kann die Tiefe und Klarheit seiner Überzeugungen, mit der er ein jegliches Wissens über die Wahrheit bestritt, als ein umso strengeres Zeugnis ihrer Wahrheit erscheinen und wurden sogar noch stärker als eine Zurückweisung der Oberflächlichkeit der eigenen Lebensweise empfunden. Bei Xenophon ist Sokrates zwar auch manchmal ironisch und scherzhaft aufgelegt, speziell im ‚Symposion‘, aber seine Konversation ist ansonsten meistens direkt, sogar didaktisch und etwas kumpelhaft im Tonfall; seine Einstellungen sind hier meistens konventionell, wenn auch ernsthaft, und es gibt nichts daran, was jemanden beunruhigen könnte oder den Eindruck verborgener Tiefe vermittelt. Es ist viel einfacher zu glauben, dass der Sokrates in den platonischen Dialogen einen solchen tiefen Eindruck auf die hellsten seiner Zeitgenossen machen konnte, als der sokratische Charakter bei Xenophon. Dies ist einer der Gründe, Platons Portrait des historischen Sokrates mehr zu vertrauen. Vielleicht verhielt sich Sokrates aber auch freundlicher, entgegenkommender und konventioneller, so wie er von Xenophon geschildert wird, um das Beste aus einigen seiner jungen Männer und seiner Freunde herauszuholen, d.h. aus denjenigen, die von den platonischen Feinheiten womöglich verschreckt worden wären. Und der historische Sokrates könnte sogar noch eine komplexere Persönlichkeit als diejenige gewesen sein, die Platon schildert. Platon und Xenophon stellen beide Sokrates als jemanden dar, der sich stark von gut aussehenden jungen Männern in der Blüte ihres zweiten Lebensjahrzehnts angezogen fühlte, also genau in jenem Lebensabschnitt, wenn sie in das Alter moralischer und intellektueller Kompetenz eintraten. Bei beiden spricht er von sich selbst als jemandem, der aufgrund seines Temperaments ungewöhnlich ‚erotisch‘ fühle und ständig ‚verliebt‘ sei. Er erklärt seine ‚erotische‘ Anhänglichkeit jedoch als seinen Wunsch, sich mit geistig hellen und ernsthaften jungen Männern unterhalten zu wollen, d.h. sie über die Tugenden und darüber, wie man am besten ein menschliches Leben zu habe, zu befragen, um dabei das jeweils Beste ihres Geistes und ihrer Charaktere herauszuholen. Bei Xenophon beschreibt er seine Liebe als eine zu den Seelen dieser jungen Männer, nicht zu ihren Körpern, und er verdammt nachdrücklich die sexuellen Beziehungen mit jungen Männern; ginge man so mit ihnen um, würde man Schande über sie bringen und ihnen schaden, weil man sie 1673
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in einer losen Einstellung im Hinblick auf die körperlichen Lüste bestärken würde (‚Symposion‘ 8). Die überhitzte Sexualität in den Darstellungen des erōs bei Platon (‚Symposion‘ und ‚Phaidros‘), die sexuell motivierte Liebe zur Schönheit junger Männer als Beweggrund für einen erwachsenen Mann, nach philosophischen Wahrheiten in einem ewigen Reich der Formen (den sog. ‚platonischen Ideen‘) zu suchen, muss scharf von Sokrates‘ Ideen unterschieden werden, wie sie aus Xenophons und den frühen platonischen Dialogen auf uns kommen. Xenophon betont Sokrates’ Freiheit von starken Begierden nach Essen, Trinken, Sexualität und physischer Bequemlichkeit, von denen andere Menschen beherrscht sind; seine enkrateia (dt.: Selbstbeherrschung) ist die erste der Tugenden, die Xenophon für ihn in Anspruch nimmt (‚Memorabilia‘ I 2.1). Man wusste von ihm, dass er selbst noch im Winter barfuß lief und sich immer sich mit einem einfachen Umhang kleidete. Sokrates’ Selbstbeherrschung stand im Mittelpunkt von Antisthenes Portrait und sie spiegelt sich auch in zahlreichen Ereignissen, die bei Platon berichtet werden, wie z.B. seine gelassene Abweisung der Bemühungen des jungen Alkibiades, ihn sexuell zu verführen (Platon, ‚Symposion‘ 217b-219e), oder vielleicht auch, wenn er von seinem philosophischen Problem vereinnahmt war, wie er in einer Kampfpause während der Ableistung seines Militärdienstes einfach unter freiem Himmel von morgens bis abends dastand und auf nichts um sich herum mehr reagierte (‚Symposion‘ 220c-d). Dieser ‚asketische‘ Sokrates, insbesondere wie er von Antisthenes dargstellt wird, der alle übliche Bequemlichkeit und konventionelles Verhalten ablehnte, wurde zu einer Inspiration für die ‚Zyniker‘ der späteren Jahrhunderte. 8. Sokrates in der Geschichte der Philosophie Schaut man in die Frühzeit der Philosophie zurück, so führten fiele Philosophen einen größeren Entwicklungsschub in ihrer eigenen Entwicklung auf Sokrates zurück. Cicero fasste dies in die folgenden Worte: „Sokrates war der erste, der die Philosophie aus dem Himmel herunter holte […] und sie zwang, Fragen über das Leben und die Moral zu stellen“ (‚Disputationes tusculae‘ V 10-11). Davor war die Philosophie mit den Ursprüngen und dem Wesen der physischen Welt und der Erklärung himmlischer und anderer natürlicher Phänomene beschäftigt. Die moderne Wissenschaft folgte der Vorgabe der Alten, die sich standardmäßig auf Philosophen vor Sokrates als die ‚Vorsokratiker‘ beziehen (siehe Vorsokratische Philosophie). Hierunter fällt auch Demokrit, der in der Tat ein nur wenig jüngerer Zeitgenosse von Sokrates war. Ciceros Urteil bedarf insofern einer Richtigstellung, als Demokrit unabhängig von Sokrates ebenfalls Fragen über die Ethik und Moral untersuchte. Mit der alleinigen Ausnahme des Epikureismus, der sich gesondert von den demokritischen Quellen entwickelte, haben alle größeren Bewegungen der griechischen Philosophie nach Sokrates ihre Wurzeln in seiner Lehre und seinem Beispiel. Dies gilt offensichtlich für Platon, dessen philosophische Entwicklung mit einer gründlichen Durcharbeitung und Anpassung der sokratischen Moraluntersuchung begann, und über ihn hinaus auch für Aristoteles und seine Kollegen in Platons Akademie, Speusippos und Xenokrates und andere, sowie auch für die späteren Platoniker. Im inneren Kreis des Sokrates befand sich auch Aristippos von Kyrene, von dem gemeinhin angenommen wird, dass er der Gründer der hedonistischen kyrenischen Schule war, sowie Antisthenes, einem alten Konkurrenten von Platons älterem Leh1674
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rer für philosophische Dialektik in Athen. Beide treten in Xenophons ‚Memorabilia‘ auf, und Antisthenes auch in seinem ‚Symposion‘, wo sie sehr lebendig im Gespräch mit Sokrates geschildert werden. Ein weiterer Sokratiker, Euklid, gründete die megarische Schule. Diese ‚sokratische Schulen‘ entwickelten unterschiedliche Themen, die bereits in Sokrates eigenen Forschungen herausragten, und konkurrierten in ihrem Anspruch, seine wahren philosophischen Erben zu sein. Zwischen dem 3. und dem 1. Jahrhundert v.Chr. behaupteten sowohl die Stoiker, als auch die skeptischen Akademiker als ihre Rivalen, dass jeweils nur sie die sokratische Tradition fortsetzen würden. In beiden Fällen beruhte dies auf einer bestimmten Lesart von Platons Dialogen, und vielleicht auch anderen Rekonstruktionen der sokratischen Philosophie durch Augenzeugen. Der Akademiker Arcesilaus interpretierte den platonischen Sokrates als einen skeptischer Forscher, der begierig suchte, aber nie darin befriedigt wurde, die ganze Wahrheit auch nur einer der von ihm diskutierten Fragen zu entdecken. Hierzu konnte er auf viele Äußerungen des platonischen Sokrates verweisen, was ihn bestätigte: seine bescheidene, aber feste Leugnung, dass er über Wissen verfüge, und seine konstante Gewohnheit einer Untersuchung der Wahrheit, indem er die Meinungen anderer auf der Grundlage von Vorstellungen überprüft, die sie selbst akzeptieren, ohne sich selbst formal an diese Vorstellungen zu binden, selbst wenn er selbst sie als erster in das Gespräch eingebracht hatte. Arcesilaus wandte seine skeptische sokratische Dialektik auf mehr als nur die Fragen der Ethik und des menschlichen Lebens an, um die sich Sokrates bemüht hatte, sondern erweiterte sie auf den gesamten Kreis philosophischer Fragen, die zu seiner Zeit bearbeitet wurden. Die Stoiker lasen die Dialoge, speziell den ‚Euthydemos‘ und den ‚Protagoras‘, dagegen ganz anders. Sie meinten, Sokrates würde dort eine vollständige ethische Lehre und eine Psychologie des menschlichen Handelns entfalten. Er habe seine Fragen auf der Grundlage dieser seiner Lehre gestellt, meinten sie, und habe damit sein Gegenüber (und die Leser) aufgefordert, für sich selbst die philosophischen Überlegungen freizulegen, die diesen Fragen zugrunde lägen. Daher betonten sie die Konzeptionen der Tugend als Wissen bzw. der Tugend als etwas, was im Wissen vereinheitlicht werde, und der freiwilligen Handlung als etwas, was immer durch die Überzeugungen des Handelnden betreffend die jeweils beste Handlung motiviert würde; so zeige sie sich in der sokratischen Prüfung des Protagoras (siehe §§ 6-7). Sie meinten, hieraus ergebe sich eine positive, sokratische Moralphilosophie, und in ihrer eigenen Moraltheorie bemühten sie sich, diese neu zu beleben und mit systematischen Argumenten und mit einer zusätzlichen metaphysischen und physikalischen Spekulation zu stärken. Die späteren Stoiker bezogen sich üblicherweise auf Sokrates als einen echten Weisen, vielleicht sogar den einzigen, der jemals gelebt habe. Sie meinten, er habe sein Wissen zu einer abschließenden, systematischen Vollkommenheit gebracht, und zwar im stoischen Sinne dessen, was gut und was schlecht für die Menschen sei, und habe deshalb alle Tugenden und keine Laster besessen und ohne zu schwanken das beste, glückliche Leben gelebt, frei von Gefühlen und allen anderen Irrtümern über das menschliche Leben. Es sei ein Verdienst der Komplexität und des rätselhaften Charakters von Sokrates, dass er gleichzeitig als Vorbild sowohl der skeptischen, sich nicht bindenden Untersuchung und einem entsprechenden Leben taugt, als auch der dogmatischen Erkenntnis der endgültigen Wahrheit in allen menschlichen Angelegenheiten.
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Die Figur des Sokrates fasziniert weiterhin die Menschen und inspiriert sie zu immer neuen Interpretationen ihrer tiefsten Bedeutung. Für Montaigne bewies Sokrates, dass die Menschen auf überzeugende und attraktive Weise ihr eigenes Leben auf der Grundlage ihrer eigenen geistigen Ressourcen ordnen können, ohne sich auf Gott oder die Religion oder die Tradition berufen zu müssen. Im 19. Jahrhundert offerierten Kierkegaard und Nietzsche umfängliche Interpretationen von Sokrates, die sich beide stark auf Hegels absolut-idealistische Analyse stützen. Hegel interpretierte Sokrates als einen letztlich negativen Denker, der es darauf abgesehen hatte, die Menschen in ihren oberflächlichen moralischen Überzeugungen ins Schwanken zu bringen und keine dieser Überzeugungen aus ganzem Herzen zu bejahen, wodurch er andeute, dass die Wahrheit, auch wenn sie universell und objektiv sei, doch tief innerhalb der Freiheit ihrer eigenen Subjektivität verankert sei. Für Kierkegaard ist Sokrates dagegen die Möglichkeit, mit ganzem Herzen dadurch zu leben, dass man eine unartikulierte Position irgendwie jenseits der negativen Ablehnung einnehme, diese Position aber gleichwohl durch diese Ablehnung einnehme: „unendliche absolute Negativität“. In der ‚Geburt der Tragödie‘ behandelt Nietzsche Sokrates grundsätzlich als jemanden, der die „tragische Einstellung“ vergiftet habe, die doch die großen Leistungen der klassischen Kultur erst ermöglicht habe, indem er darauf bestand, dass das Leben auf rationale Grundlage aufgebaut und durch Wissen gerechtfertigt werden sollte. Aber seine Faszination durch Sokrates führte Nietzsche in seinen Schriften doch immer wieder auf den antiken Denker zurück. Sokrates war ein paradigmatischer Philosoph, dessen Denken, wie sehr man es auch immer aus logischen und abstrakten Perspektiven betrachtet, nicht zu trennen sei von der Suche nach dem Verständnis der eigenen Person und einer tief empfundenen Hinwendung zur den Fragen des menschlichen Lebens. Seine Kraft zur Faszination und Inspiration ist gewiss noch nicht erschöpft. Siehe auch: Platon; Aristoteles Anmerkungen und weitere Lektüre: Grote, G (1875): ‚Plato and the Other Companions of Socrates‘. London: Murray, 3 Bde. (Eine sehr kluge und tief blickende ältere Darstellung des Sokrates in Platons Werk und dem der anderen Sokratiker; immer noch eine wertvolle Arbeit.) Reevem C.D.C. (1989): ‚Socrates in the Apology‘. Indianapolis, Indiana: Hackett. (Ein Kommentar von Platons ‚Apologie‘ im Lichte von Sokrates allgemeiner Philosophie; auch für den allgemeinen Leser ein sehr zugänglicher Text.) JOHN M. COOPER
Solidarität
Von der Solidarität spricht man innerhalb einer Gruppe von Menschen, wenn sie sich verpflichtet fühlen, das Ergebnis eines Vorganges der kollektiven Entscheidungsfindung zu ertragen, oder das Wohlergehen eines anderen Mitgliedes dieser Gruppe auch noch unter bedeutenden Opfern für die übrigen Mitglieder zu fördern. Viele betrachten die Solidarität als ein wichtiges politisches Ideal, auf dem die Gemeinschaft im Sinne der Brüderlichkeit gegründet ist, und das entscheidend ist für den sozialen Zusammenhang und die Stabilität der Gemeinschaft. Einige Individualisten meinen allerdings, dass sie unvereinbar sei mit der Autonomie des Menschen, weil die volle Autonomie voraussetze, dass man immer selbst die letzte Entscheidung darüber treffe, was man zu tun habe. 1676
Solipsismus
Siehe auch: Familie, Ethik und die; Freundschaft ANDREW MASON
Solipsismus
Der Solipsismus (von lat.: solus ipse = man selbst allein) ist die Lehre, dass nur man selbst existiert. Diese Formulierung deckt zwei Lehren ab, die beide Solipsismus genannt werden, nämlich (1) dass man das einzige Selbst sei, d.h. das einzige Zentrum des Bewusstseins, und noch radikaler (2) dass überhaupt nichts existiere außer dem eigenen Geist und den eigenen geistigen Zuständen. Diese werden nicht immer von der entsprechenden erkenntnistheoretischen Auffassung unterschieden, denn was wir auch immer wissen: (1) oder (2) kann wahr sein. Eine etwas jüngere Wortschöpfung ist der Ausdruck ‚methodischer Solipsismus‘, der eine ganz andere Bedeutung hat, dass nämlich der Inhalt des individuellen Denkens vollständig durch tatsächliche Eigenschaften dieses Denkens bestimmt und damit unabhängig von Tatsachen außerhalb dieses Denkens ist. EDWARD CRAIG
Solowjew, Wladimir Sergejewitsch (1853-1900)
Es ist allgemein anerkannt, dass Wladimir Solowjew der größte russische Philosoph des 19. Jahrhunderts war. Seine Bedeutung für die russische Philosophie wird oft mit der Bedeutung von Alexander Puschkin für die Russische Dichtung verglichen. Seine ersten Arbeiten markieren den Beginn der Revolte gegen den Positivismus im russischen Denken, dem eine Wiederbelebung des metaphysischen Idealismus folgte, der wiederum in der so genannten religiös-philosophischen Renaissance des frühen 20. Jahrhunderts kulminierte. Anders als die russischen Idealisten der romantischen Epoche war Solowjew ein professioneller, systematischer Philosoph. Er schuf das erste allumfassende philosophische System in Russland und läutete damit den Übergang zur Systemkonstruktion im russischen philosophischen Denken ein. Zur selben Zeit blieb er der russischen intellektuellen Tradition in seiner Abneigung treu, sich mit rein theoretischen Problemen zu beschäftigen; sein Ideal der ‚Integrität‘ besagte, dass die theoretische Philosophie organisch mit der Religion und den sozialen Gewohnheiten gekoppelt sein müsse. Er betrachtete sich selbst nicht als einen akademischen Philosophen, sondern eher als einen Propheten, der Wege zur universellen Erholung und Regeneration entdeckt. Eines der Hauptthemen in Solowjews Geschichtsphilosophie war Russlands Auftrag in der universalen Geschichte. Diesbezüglich interessierte er sich für die Ideen der Slawophilen, und in der ersten Phase seiner intellektuellen Evolution entwickelte er eine starke Beziehung zum dem slawophilen und panslawistischen Kreis um Iwan Aksakow. Er stand auch Dostojewski nahe, der von ihm sehr beeindruck war. Zu Beginn der 1880er Jahre löste er sich von den Epigonen des Slawophilismus; sein letztlicher Bruch mit ihnen ergab sich im Jahre 1883, als er für die liberale und westlich orientierte Zeitschrift Vestnik Evropy (‚Europäischer Kurier‘) zu schreiben begann. Der Hauptgrund hierfür war die prokatholische Tendenz seines Denkens, die ihn zu dem Glauben bewegte, Russland habe die Vorherrschaft des Papstes anzuerkennen. Nach seiner Auffassung war dies eine notwendige Bedingung zur Erfüllung der universalen russischen Mission, die er als die Vereinigung der christlichen Kirchen und die Einrichtung eines theokratischen Königreichs Gottes auf Erden definierte. 1677
Sophisten
In den frühen 1890er Jahren gab Solowjew diese utopische Vision auf und konzentrierte sich auf die Ausarbeitung einer autonomen Ethik und einer liberalen Rechtsphilosophie. Darin spiegelte sich sein optimistischer Glaube an den liberalen Fortschritt und sein Vertrauen, dass sogar die Säkularisierung seiner Ethik im Kern noch Teil des göttlich-menschlichen Erlösungsprozesses sei. Im letzten Jahr seines Lebens ließ sein historisch-philosophischer Optimismus zugunsten eines pessimistischen Apokalyptizismus nach, wie er ihm in seinem philosophischen Dialog ‚Tri razgovora‘ (dt.: ‚Drei Gespräche‘, 1900) Ausdruck verlieh, und insbesondere ‚Das Märchen vom Antichrist‘ hing dieser Auffassung an. ANDREZEJ WALICKI
Sophisten
Die Sophisten waren umherziehende Lehrer oder Erzieher, die ersten Professoren für die höhere Ausbildung, die im Griechenland des mittleren und späten 5. Jahrhunderts v.Chr. auftauchten. Der erste von ihnen scheint Protagoras gewesen zu sein, der persönlich mit dem Staatsmann Perikles verbunden war. Der nächste große Sophist war Gorgias, ein einflussreicher Autor und Prosaschriftsteller. Die Sophisten erhielten für ihre Lehranweisungen sehr hohe Honorare. Sie erteilten Unterricht zu vielen Gegenständen, einschließlich der neuen Naturphilsoophie; doch ihre wichtigste Lehre war die Rhetorik, d.h. die Kunst der Beeinflussung. Ihretwegen begegnete man dem Einfluss der Sophisten feindselig, weil sie angeblich die Jugend verdarben. CHARLES H.KAHN
Sorel, Georges (1847-1922)
Der französische Sozialtheoretiker Georges Sorel ist vor allem für sein umstrittenes Werk ‚Réflexions sur la violence‘ (‚Reflexionen über die Gewalt‘) bekannt, das erstmals im Jahre 1908 publiziert wurde. Dort argumentiert er, dass die Welt vor der ‚Barbarei‘ durch den Einsatz proletarischer Gewalt gerettet werden könne, insbesondere durch Generalstreiks. Dies, so glaubte er, würde nicht nur zur Errichtung einer Ethik auf Seiten des Produzenten führen, sondern würde auch dazu dienen, die wirtschaftlichen Grundlagen des Sozialismus zu sichern. Ferner meinte er, dass sich die Inspiration zu solchen heroischen Zielen von einer Reihe von ‚Mythen‘ ableiten lasse, die die höchsten Sehnsüchte der Arbeiterklasse verkörpern. In etwas weiterem Sinne kann man Sorel als einen Erneuerer der marxistischen Theorie und der Methodik der Sozialwissenschaften einordnen. Siehe auch: Revolution; Sozialismus JEREMY JENNINGS
Sortale Ausdrücke
Siehe: Anm. 1 zu Dreifaltigkeit
Souveränität
In der Rechts- und politischen Philosophie ist die Souveränität jenes Attribut, durch das eine Person oder Institution die letzte oder endgültige Autorität über jede andere Person oder Institution in ihrem Herrschaftsbereich ausübt. Traditionell heißt es, dass die Existenz eines endgültigen Gebieters oder Gesetzgebers notwendig sei, wenn Menschen in Frieden und Sicherheit zusammen leben wollen. Das Beispiel, dass einem sofort vor Augen steht, wenn man an das Wort ‚Souverän‘ denkt, ist der einzelne König, und die Theorie der Souveränität war zur Zeit des Absolutismus eng mit der Verteidigung der Monarchie verknüpft. Doch führende Theoretiker der Sou1678
Souveränität
veränität, wie z.B. Jean Bodin und Thomas Hobbes, erkannten, dass diese Autorität auch von souveränen Volkskörpern ausgeübt werden kann. Spätere Autoren wie z.B. Rousseau und Austin verlegen die Souveränität in das Volk, denen die Amtsinhaber von demokratischen Institutionen letztlich verantwortlich sind. Früher wurde vom Wesen des Staates oder des Rechts abgeleitet, dass die Autorität des Souveräns absolut, frei von jeglichen Bedingungen, ewig und nicht nur für eine Zeitlang gewährt und unteilbar, d.h. nicht auf verschiedene Personen oder Institutionen verteilt, sein müsse. Ferner wurde geschlossen, dass der Souverän von äußerer Beherrschung unabhängig und in seinem Herrschaftsbereich der Oberste sein müsse. Alle diese Schlussfolgerungen verfielen jedoch der Kritik, nicht zuletzt deshalb, weil sie schwer mit der wirklichen Praxis von Staaten und Rechtssystemen zu vereinbaren sind. Siehe auch: Absolutismus; Autorität; Konstitutionalismus; Rechtsphilosophie; Rechtsstaat; Shintō ; Staat, der J.D: FORD
Sozialdarwinismus
Siehe: Darwin, Charles Robert
Sozialdemokratie
Die Idee der Sozialdemokratie wird heute zur Beschreibung einer Gesellschaft verwendet, deren Wirtschaft vorherrschend kapitalistischer Natur ist, wo aber der Staat regulierend in die Wirtschaft zum Wohl der Allgemeinheit eingreift, Wohlfahrtsdienste neben dieser Wirtschaftsordnung einrichtet und versucht, die Verteilung des Einkommens und des Wohlstandes im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu regulieren. Ursprünglich, d.h. zum Ende des 19. Jahrhunderts, war die Bezeichnung ‚Sozialdemokratie‘ praktisch gleichbedeutend mit ‚Sozialismus‘. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind diejenigen, die sich selbst für Sozialdemokraten halten, zu der Überzeugung gelangt, dass der alte Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht mehr angebracht ist. Viele der Werte, die von den frühen Sozialisten betont werden, können auch durch einen reformierten Kapitalismus gefördert werden, und nicht nur durch seine Abschaffung. Obwohl die Sozialdemokratie auf Werte wie der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit aufbaut, kann sie nicht wirklich als eine politische Philosophie angesehen werden: es gibt keine systematische Darstellung oder einen begründenden Text, auf den man sich als definitive Beschreibung der sozialdemokratischen Ideale berufen kann. In der praktischen Politik waren sozialdemokratische Ideale sehr einflussreich, indem sie die Politik der meisten westlichen Staaten seit dem 2. Weltkrieg leiteten. Siehe auch: Demokratie; Gerechtigkeit DAVID MILLER
Soziale Erkenntnislehre
Die soziale Erkenntnislehre beschäftigt sich mit dem begrifflichen und normativen Studium der Erheblichkeit von Wissen für die sozialen Beziehungen, Interessen und Institutionen. Sie ist daher von der Soziologie des Wissens zu unterscheiden, die sich mit dem empirischen Studium der kontingenten sozialen Bedingungen oder Ursachen dessen beschäftigt, was üblicherweise als Erkenntnis oder Wissen verstan-
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Soziale Erkenntnislehre
den wird. Die soziale Erkenntnislehre bemüht sich im Kern um die Frage, ob Wissen individuell oder sozial aufzufassen ist. Die Erkenntnistheorie gesteht traditionell den Überzeugungen, die den sozialen Beziehungen wie z.B. dem persönlichen Zeugnis, der Expertenautorität, dem sozialen Konsens, dem Alltagsverstand und der offenbarten Weisheit etc. angehören, nur einen zweitrangigen Status zu. Solche Überzeugungen könnten den Status von Erkenntnis nur, wenn überhaupt, durch ihre Fundierung auf Wissen aus erster Hand erreichen, d.h. durch Erkenntnis, die durch die Erfahrung oder die Vernunft jeweils einzelner Erkennender gerechtfertigt ist. Seit der Arbeit des schottischen common-sense-Philosophen Thomas Reid in der Mitte des 18. Jahrhunderts haben die Erkenntnistheoretiker immer wieder die Idee ernst genommen, dass Überzeugungen, die aus sozialen Beziehungen hervorgehen, einen primären und nicht nur einen sekundären Erkenntnisstatus haben. Ein enormer Schritt in der Arbeit der sozialen Erkenntnislehre wurde jedoch durch Thomas S. Kuhn und seine Anhänger getan, indem sie die sog. ‚wissenschaftlichen Revolutionen‘ als etwas darstellten, was mit einem sozialen Wandel in den Wissenschaften einhergeht. Die weitere Arbeit an diesem Thema wurde seit den 1980er Jahren auch durch ein ‚starkes Programm‘ der Wissenschaftssoziologie angeregt, ferner durch die feministische Erkenntnislehre und durch die naturalistische Erkenntnistheorie von W.v.O. Quine. Diese Einflüsse inspirierten die Erkenntnistheoretiker im Sinne eines Überdenkens der Rolle der sozialen Beziehungen im Wissen, insbesondere des Zeugnisses. Der Gegenstand, der dadurch entstand, lässt sich in drei Bereiche aufteilen: den Ort der sozialen Faktoren im Wissen von Individuen, der Organisation der Erkenntnisarbeit des Einzelnen und das Wesen des kollektiven Wissens, einschließlich des common sense, des sozialen Konsens sowie des gemeinsamen, gruppenweisen, gemeinschaftlichen und interpersonellen Wissens. Siehe auch: Feministische Erkenntnistheorie; Naturalisierte Erkenntnislehre FREDERICK F. SCHMITT
Sozialer Relativismus
Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften haben sehr unterschiedliche Überzeugungen und leben in entsprechend verschiedenen Überzeugungssystemen. Diese Vielgestaltigkeit zu verstehen ist die herausragende Aufgabe derjenigen, die die Gesellschaft studieren. Diese Aufgabe ist insbesondere dann dringend, wenn fremde Überzeugungen ‚offensichtlich‘ irregeleitet, unvernünftig oder auf andere Weise sonderbar zu sein scheinen. Eine populäre Antwort auf diese Phänomene ist der soziale Relativismus. Vielleicht sind ja die Überzeugungen, die aus unserer Perspektive irrig, unvernünftig oder sonderbar zu sein scheinen, keineswegs so geartet, wenn man sie aus der Perspektive jener Gesellschaft betrachtet, in der sie auftreten. Unterschiedliche Dinge werden damit nicht einfach in verschiedenen Gesellschaften als wahr (oder auch als vernünftig oder natürlich) angesehen, sondern sie sind in unterschiedlichen Gesellschaften wahr (bzw. vernünftig, natürlich). Der Relativismus erkennt die Vielgestaltigkeit an und versucht sie abgewogen zu behandeln. Der Relativismus hat allerdings auch absurde Resultate. Angenommen, jemand vertritt die Auffassung, dass Dinge, die in Gesellschaft A wahr sind, nicht in Gesellschaft B wahr sein müssen. Wenn also die Menschen in A an Hexen glauben, während die Menschen in B dies nicht tun, dann gibt es Hexen in A, nicht aber in B. Der Relativismus hinsichtlich der Wahrheit treibt uns in unterschiedliche ‚Welten‘, 1680
Sozialismus
wobei es in einer Hexen gibt, und in der anderen nicht. Dies scheint absurd: Menschen, die in unterschiedlichen Gesellschaften leben, existieren deshalb noch nicht auf nachvollziehbare Weise in verschiedenen Welten. Die Herausforderung ist hier, der sozialen Vielgestaltigkeit Rechnung zu tragen, ohne in die dabei drohenden Absurditäten zu fallen. Siehe auch: Moralischer Relativismus; Rationalität und kultureller Relativismus; Relativismus ALAN MUSGRAVE
Sozialer Konstruktivismus Siehe: Konstruktivismus
Sozialismus
Während man die sozialistischen Ideen rückschauend in vielen früheren Formen des Protests und der Rebellion gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung entdecken kann, entspringt der Sozialismus sowohl als eine relativ kohärente theoretische Lehre, als auch als eine organisierte politische Bewegung erst im frühen 19. Jahrhundert in Europa, insbesondere in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Diese Bewegung war vor allem eine kritische Antwort auf den frühindustriellen Kapitalismus, d.h. auf eine ungeregelte Marktwirtschaft, in der die Produktionsmittel privat gehalten wurden und die eigentumslosen Arbeiter gezwungen waren, ihre Arbeitskraft, oft für einen Hungerlohn, an Kapitalisten zu verkaufen. Die bösen Seiten dieses Systems schienen in der sozialistischen Kritik ein manifestes Merkmal des Kapitalismus zu sein. Nicht nur war die Beziehung zwischen Arbeitern und Kapitalisten an sich bereits ausbeuterisch und der Warencharakter der Arbeit ein Angriff auf die Menschenwürde, sondern dieses System erzeugte auch verbreitete Armut und wiederkehrende Arbeitslosigkeit, massive und ungerechte Ungleichheiten im Wohlstand und der wirtschaftlichen Macht, eine demütigende und seelenzerstörende Arbeit, und es atomisierte zusehends eine sich immer mehr individualisierende Gesellschaft. Die Sozialisten waren in ihrer Kritik von einigen dieser Merkmale des industriellen Kapitalismus und der ihn begleitenden Ideologie des wirtschaftlichen Liberalismus nicht allein. Insbesondere hegten auch die konservativ denkenden Kreise eine tiefe Antipathie gegenüber dem Individualismus. Während aber die Konservativen ihre Inspiration in den hierarchisch strukturierten Gemeinschaften der Vergangenheit fanden und deshalb zutiefst feindselig dem Radikalismus der Französischen Revolution gegenüber standen, freuten sich die Sozialisten auf neue Formen der Gemeinschaft, die zu ihren Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit passen würden. Für sie war eine Überwindung des Bösen in Gestalt des Kapitalismus nur im Wege einer Ersetzung des privaten durch öffentliches oder gemeinsames Eigentum an den Produktionsmitteln denkbar, womit die Lohnarbeit ein Ende haben und eine klassenlose Gesellschaft entstehen sollte, wo die Produktion, die bislang nur dem Profit des Kapitalisten diente, nunmehr einer sozialistisch organisierten Produktion zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse Platz machen würde. In einer solchen Gesellschaft würde das menschliche Potenzial zum Aufbau eines echt ‚sozialen‘ Existenzmodus in gegenseitiger Sorge um das gemeinsame Wohlergehen anstelle der Verfolgung eines ungezügelten Eigeninteresses erschlossen werden, und zwar in Gestalt von Zusammenarbeit zu gemeinsamen Zielen statt der Konkur1681
Sozialphilosophie
renz der individuellen Zwecke, wodurch Großzügigkeit und das Teilen von Gütern statt Gier und das Erwerbsstreben in den Vordergrund träten – also eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft. Für die meisten Sozialtheoretiker des 19. Jahrhunderts fiel die historische Aufgabe der Schaffung einer solchen Gesellschaft der zu organisierenden Masse der Industriearbeiter zu, dies vor allem bei Marx, der herausragenden Figur in der Geschichte des Sozialismus. Es war Marx, der zusammen mit Engels der sozialistischen Bewegung nicht nur eine sehr entwickelte wirtschaftliche Analyse des Kapitalismus und eine beißende Kritik ihrer sozialen Konsequenzen lieferte, sondern der sie auch durch seine wissenschaftliche, materialistische Theorie der historischen Entwicklung mit dem unerschütterlichen Glauben versorgte, dass die inneren Widersprüche und Klassenantagonismen des Kapitalismus schließlich zur Entstehung der sozialistischen Gesellschaft führen würden. Im markanten Gegensatz zu einem solchen früheren Optimismus sehen sich die zeitgenössischen Sozialisten mit einer andauernden Belastbarkeit der kapitalistischen Gesellschaften und obendrein dem Kollaps des zumindest nominell sozialistischen Regimes in der früheren UdSSR und anderswo konfrontiert, wobei dies Regime sind, in denen das Staatseigentum und die zentrale Wirtschaftsplanung von politischer Repression und wirtschaftlichen Fehlern begleitet waren. Für diejenigen, die die Idee ablehnen, dass eine auf geeignete Weise geregelte Form des Wohlfahrtskapitalismus das höchste ist, worauf man hoffen kann, besteht die Aufgabe nunmehr darin, irgendein alternatives Modell einer sozialistischen Wirtschaft zu konstruieren, das dem alten vorzuziehen ist und gleichzeitig die Mängel des alten, zentralisierten Staatssozialismus vermeidet. Siehe auch: Bakunin, M.A.; Engels, F.; Marktes, Ethik des; Marx, K.; Marxismus, Westlicher; Marxistische Philosophie, Russische und sowjetische; Politische Philosophie, Geschichte des; Proudhon, P.-J. RUSSELL KEAT, JOHN O´NEILL
Sozialphilosophie Einführung Obwohl einige der Themen und Fragen, die in der Sozialphilosophie behandelt werden, so alt sind wie die Philosophie selbst (beispielsweise der Gegensatz zwischen Natur und Konvention und die Idee der Rationalität, wie sie von Aristoteles behandelt wird), ist doch das Auftauchen einer Unterdisziplin der Philosophie mit diesem Namen ein sehr jungen Phänomen, das umgekehrt seinerseits Anregungen zu einer größeren philosophischen Aktivität auf diesem Gebiet angeregt haben mag. Es ist klar, dass das Entstehen dieser Unterdisziplin an die Entwicklung und das Wachsen der Sozialwissenschaften selbst gebunden ist. 1. Historischer Ansatz 2. Probleme 3. Zeitgenössische Bewegungen 4. Besonderheiten der Sozialwissenschaften
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Sozialphilosophie
1. Historischer Ansatz Es gibt vielleicht vier bestimmte Wege, auf denen man sich einem Verständnis dieser Unterdisziplin der Philosophie nähern kann. Diese Wege ergänzen einander natürlich. Zunächst, wie auch in den meisten anderen Gebieten der Philosophie, muss man sich der Sozialphilosophie historisch nähern, indem man die großen Schulen oder Philosophen früherer Epochen studiert. Dieser Ansatz ist sehr zu empfehlen. Es gibt eine Reihe klassischer Texte, beispielsweise von Weber und Durkheim, die jeder interessierte Student der Sozialphilosophie kennen sollte, wie auch in der Erkenntnistheorie und der Ethik. Hierdurch erhält man einen interessanten Gegensatz zur Wissenschaftsphilosophie. Zur letzteren bekommt man auf diesem Wege dagegen einen weniger guten Zugang. Im Vergleich mit anderen Gebieten der Philosophie ist die Geschichte der Sozialphilosophie in gewisser Weise abgeschnitten, denn sie konnte erst richtig im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entstehen, und zwar zunächst in der Schottischen Aufklärung, und daraufhin in Deutschland. Vor dieser Epoche gab es zwar Spekulationen über das Wesen der Gesellschaft, von denen einige auch sehr reichhaltig und lohnend zu lesen sind (Hobbes und Vico sind hierfür zwei Beispiele), doch geschah es zuerst in der Schottischen Aufklärung, dass Autoren die ersten systematischen Versuche eines Studiums und Verständnisses der Gesellschaft unternahmen. Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen Sozialphilosophen und Gesellschaftsphilosophen auf der einen Seite und Sozialtheoretikern auf der anderen, insbesondere nicht in dieser frühen Zeit. Gewöhnlich werden, um nur einige Beispiele zu nennen, G.W.F. Hegel, Wilhelm Dilthey, F.H. Bradley und T.H. Green als Mitglieder der ersteren Gruppe betrachtet, und Adam Smith, Karl Marx, Émile Durkheim und Max Weber als Mitglieder der letzteren; doch diese Zuordnung ist in gewissem Umfange beliebig. 2. Probleme Ein zweiter Weg, auf dem man ein Verständnis der Sozialphilosophie gewinnen kann, geht über das Studium zu Fragen und Problemen, die diese Autoren, und ihre zeitgenössischen Kollegen, behandeln (siehe Sozialwissenschaften, Methodik der). Viele dieser Probleme entstehen sowohl in alltäglichen, als auch in eher wissenschaftlichen Diskussionen, sowie beim Nachdenken über das Reich des Sozialen. Es sind nicht nur die Sozialwissenschaftler, die über die soziale Welt nachdenken; alle von uns tun dies, und zwar in einem beträchtlichen zeitlichen Umfange. Selbst in jenen Fällen, in denen der Sozialwissenschaftler Neologismen einführt, z.B. ‚Nachfragekurve‘ oder ‚Anomie‘, scheinen diese noch eng mit Begriffen verbunden zu sein und sind tatsächlich oft nur Verfeinerungen von Begriffen, die auch der Laie versteht. Diese nichtwissenschaftliche Reflexion ergibt sich vollkommen abseits von der spezialisierten wissenschaftlichen Arbeit. Bis zu einem gewissen Grade ist es irreführend, von diesem Gebiet zu meinen, es handele sich dabei nur um die Philosophie der Sozialwissenschaften5. Da ein so großer Teil der Motivation zur kritischen 5 Der engl. Ausdruck für ‚Sozialphilosophie‘ lautet ‚philosophy of social sciences‘, wörtlich übersetzt also: ‚Philosophie der Sozialwissenschaften‘. Daher erklärt sich hier der Hinweis des Autors, dass man in Anbetracht der englischen Bezeichnung dieses Gebietes leicht glauben könnte, es ginge dabei nur um eine Beschäftigung mit wissenschaftlicher Materie. Durch den erweiterten deutschen Begriff für dieselbe Sache ist dieser Irrtum im Deutschen eher unwahrscheinlich. [WS]
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Diskussion der Probleme dieses Gebietes der philosophischen Reflexion dieser vollkommen gewöhnlichen Denk- und Verständnisweisen entstammt, sollte man die Unterdisziplin der Sozialphilosophie vielleicht besser ‚Gesellschaftsphilosophie‘ nennen, um jenes vorwissenschaftliche, wie auch wissenschaftliche Interesse an diesen Problemen zu erfassen. Die meisten Dinge, von denen die Sozialwissenschaften handeln, z.B. soziale Strukturen wie Familien oder die Gesellschaft selbst, ferner Normen und Verhaltensregeln, Konventionen, bestimmte menschliche Handlungsformen etc. sind Gegenstände, die auch ihren Platz im Diskurs desjenigen gewöhnlichen Laien haben, der eine gute Auffassung für die allgemeine Rede über soziale Klassen und das Kaufen, über Wahlen und Banken etc. hat, genau wie der Sozialwissenschaftler. Sind diese sozialen Strukturen in irgendeiner Hinsicht mehr als nur die Individuen und ihre Beziehungen zueinander? Viele Philosophen meinten aus ihrem Verständnis des Ideals der Einheit der Wissenschaften heraus, die Sozialwissenschaft könne aus der Psychologie abgeleitet werden oder sei auf sie reduzierbar, wobei die letztere wiederum womöglich auf die Neurologie, und am Ende gar auf die Chemie und die Physik zurückführbar sein soll. Für solche Denker ist die Welt letztlich ein einfacher Ort, wo es nur viele und unterschiedliche Weisen gibt, über sie zu sprechen. Andere Autoren waren wiederum von der Wirklichkeit und Integrität der sozialen Phänomene überwältigt, und wie sie sich dem individuellen volens-nolens einprägen (siehe Gesellschaft, Begriff der; Holismus und Individualismus in der Geschichte und der Sozialwissenschaft). Was ist eine Handlung, und wie unterscheidet sie sich von der reinen Körperbewegung? Es scheint schwer zu sagen zu sein, worin der Unterschied besteht, jedenfalls auf eine Weise, die bei allen Handlungen plausibel und wahr bleibt. Was aber auch immer eine Handlung sein mag, so fragt sich ferner, was bestimmte Handlungen zu sozialen Handlungen macht. Man könnte meinen, dass eine Handlung zu einer sozialen wird kraft der kausalen Konsequenzen, die sie für andere herbeiführt. Ein anderer Gedankengang meint, dass eine Handlung sozial sei kraft ihres bestimmten Charakters, der vollkommen gesondert von der Frage nach ihren Wirkungen zu beurteilen sei. Ein guter Teil der philosophischen Diskussion der Handlung entstand in der Geschichtsphilosophie im Zuge der Erklärung historisch wichtiger Handlungen, wurde inzwischen aber zu einem eigenen philosophischen Gebiet, nämlich der philosophischen Handlungstheorie (siehe Geschichtsphilosophie; Handlung; Sozialer Konstruktivismus). Der angebliche Gegensatz zwischen Natur und Konvention schwebt jenen vor, die über die Menschheit und ihre Entwicklung nachdenken und nicht genau wissen, ob sie dabei nun Wissenschaftler bzw. Philosophen sind oder nicht. Jemand, der viel gereist ist und dabei die sozialen Unterschiede zwischen Menschen und Kulturen bemerkt hat, wird sich vielleicht fragen, ob all die erlebten, sozialen Praktiken auf ihre je eigene Weise als rational zu betrachten sind, unabhängig davon, wo sie sich abspielen und wie offenbar seltsam sie uns nach unseren eigenen, hausbackenen Maßstäben erscheinen. Oder vielleicht gibt es auch gewisse universelle Maßstäbe der Rationalität, in deren Licht man die sozialen Gewohnheiten und die Kritik an ihnen messen kann (siehe Konvention und Natur; Rationalität und kultureller Relativismus; Sozialer Relativismus).
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Sozialphilosophie
Die Beziehung zwischen wissenschaftlicher Theorie und gewöhnlichen, d.h. nicht-wissenschaftlichen Denkweisen ist natürlich eine wechselseitige, da viele der Begriffe oder Fragen, die zu einem Teil des überlieferten Wissens geworden sind, ihren Ursprung in früheren wissenschaftlichen Theorien haben; unser moderner und nach den meisten Analysen verworrener Begriff der Rasse ist ein Beispiel hierfür. Eine weitere Problemgruppe ergibt sich beim Durchdenken des Wesens des sozialwissenschaftlichen Unternehmens selbst. Welchen Maßstäben muss eine vollständige Erklärung in den Sozialwissenschaften genügen? Die kausale Erklärung ist eine Erklärungsweise der Naturwissenschaften, die relativ gut verstanden wird. Erklärungen eines Ritus oder einer gesellschaftlichen Praxis scheinen kausalen Erklärungen nicht zugänglich zu sein, und auch das menschliche Handeln nicht. Erstere sind häufig funktionale Erklärungen, beispielsweise der Art, dass ein gewisses Ritual existiert, weil es dies oder jenes bewirkt, und dies ist nun allerdings eine Erklärung durch die beobachtete Wirkung, und eben nicht im Wege einer Feststellung der Ursache. Erklärungen menschlichen Handelns sind häufig intentionaler Art, wobei eine Handlung dabei durch das Ziel oder den Zweck erklärt wird, auf dessen Erreichung sie sich richtet. Auch dies ist keine kausale Erklärung. Aber vielleicht täuschen uns die Erscheinungen nur und könnten durchaus am Ende als kausale Erklärungen aufgefasst werden (siehe Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften). Viele Naturwissenschaftler meinen, ihre Arbeit sei ethisch neutral. Selbstverständlich wissen sie, dass ihre Arbeit in gutem oder schlechtem Sinne verwendet werden kann, aber dies trifft ethisch nur den Anwender solcher Ergebnisse, uns nicht den Inhalt wissenschaftlicher Erkenntnis selbst. Die Beziehung zwischen Sozialwissenschaft und den Werten des Sozialwissenschaftlers scheint eine viel unmittelbarere und direktere zu sein als die geschilderte Beziehung zwischen wissenschaftlichem Ergebnis und seiner Anwendung, und dieser offenbare Gegensatz ist Gegenstand fortgesetzter Diskussionen und Debatten. Ähnelt die Sozialwissenschaft der Naturwissenschaft in wichtiger Hinsicht? In den entwickelten Naturwissenschaften gibt es kontrollierte Experimente und Voraussagen. Keines von beiden scheint dem Sozialwissenschaftler zur Verfügung zu stehen. Die Naturwissenschaftler versuchen, die Gesetze zu formulieren, die die Phänomene leiten, die sie studieren. Ist dies ein vernünftiges Ziel auch für den Sozialwissenschaftler? Gewiss, es gibt nicht viele Gesetzeskandidaten, die für die Sozialwissenschaftler in Frage kommen. Verwendet der Sozialwissenschaftler statistische Beweise auf dieselbe Art und Weise wie der Naturwissenschaftler? (Siehe Statistik und Sozialwissenschaft). Und schließlich unterscheiden wir in der Naturwissenschaft relativ scharf zwischen Theorie und Beobachtung, und wir sind davon überzeugt, dass eine vernünftige Person jene Theorie akzeptieren sollte, die am besten durch die Beobachtung bestätigt ist. Es ist jedoch nicht klar, dass wir diese Aussage auch für die Sozialwissenschaften machen können, und noch nicht einmal, dass die Erhärtung einer Theorie durch die Beobachtung auf dieselbe Art und Weise geschieht. Unsere Beobachtungen der sozialen Welt scheinen durch die Anwendung von Theorien noch bunter und vielfältiger zu werden, als dies in den Naturwissenschaften der Fall ist.
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Sozialphilosophie
3. Zeitgenössische Bewegungen Ein dritter Weg, auf dem man sich dem Gegenstand nähern kann, läuft über das Studium entweder zeitgenössischer Bewegungen und philosophischer Schulen, oder auch bestimmter Philosophen, die eine eigene Perspektive in dieses Gebiet einbringen. Sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften sind von Kontroversen geprägt, aber Beobachtern fiel auf, dass der Konsens in den letzteren noch geringer zu sein scheint, und zwar selbst noch hinsichtlich der zu irgendeinem Zeitpunkt zugrunde zu legenden Paradigmen. Die kritische Reflexion über die Gesellschaft oder über die Sozialwissenschaft ist in Frankreich und Deutschland eine gänzlich andere als in der englischsprachigen Welt. Die Probleme sind zwar dieselben, aber die Traditionen und die Art und Weise, in der Diskussionen ausgetragen werden, sind deutlich verschieden. Hier kann man nur hoffen, dass jede Tradition etwas von der anderen lernen möge (siehe Kritischer Realismus; MacIntyre, A.; Naturalismus in der Sozialwissenschaft; Positivismus in der Sozialwissenschaft; Sozialwissenschaft, Zeitgenössische Philosophie der; Strukturalismus in der Sozialwissenschaft; Wissenssoziologie). 4. Besonderheiten der Sozialwissenschaften Viertens und letztens kann man sich der Sozialphilosophie durch das Studium der philosophischen Probleme nähern, die auf spezifische Weise innerhalb jeder einzelnen der Sozialwissenschaften entstehen. Einige, wenn auch nicht alle der Sozialwissenschaften habe philosophische Projekte eigener Art auf den Weg gebracht. Die Wirtschaftswissenschaft6 ist hierfür das deutlichste Beispiel. In vieler Hinsicht ist sie die entwickeltste aller sozialwissenschaftlichen Disziplinen, und dies ist vielleicht auch der Grund dafür, warum einige der konturiertesten Kontroversen der gesamten Sozialwissenschaften genau dort stattfinden. Fragen über die philosophische Grundlegung der Wirtschaftswissenschaft berühren die philosophisch zentrale Frage der Rationalität, der Wahlentscheidung und der Wünsche oder Bedürfnisse, sowie ihre Verbindung mit dem menschlichen Handeln (siehe Sozialwahl, Theorie der; Rationale Wahl, Theorie der). Aber andere geistes- bzw. sozialwissenschaftliche Disziplinen erzeugten ebenfalls spezifische Probleme, einschließlich der Geschichte, der Psychologie, der Soziologie und der Anthropologie (siehe Anthropologie, philosophie der). Anmerkungen und weitere Lektüre: Martin, M. und McIntyre, L. (Hrg.) (1994): ‚Readings in the Philosophy of Social Science‘. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. (Eine nützliche Sammlung junger und damit zeitgenössischer Aufsätze, die sich um einige der Hauptfragen der modernen Sozialphilosophie gruppieren.) Root, M. (1993): ‚Philosophy of Social Science‘. Oxford: Blackwell. (Hier wird die Auffassung vertreten, dass einige der berühmtesten Forschungsprogramme der Sozialwissenschaften alle Ideale der Moral- und politischen Philosophie missachten.) Ruben, D.-H. (1998): ‚The Philosophy of Social Sciences‘, in A. Grayling (Hrg.): ‚Philosophy 2: Further Through the Subject‘. Oxford: Oxford University Die Wirtschaftswissenschaft und auch die Geschichtswissenschaft werden im angloamerikanischen Kulturraum häufig den Sozialwissenschaften zugerechnet. [WS]
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Sozialtheorie und Recht
Press, Bd. 2 (Eine Diskussion der Hauptprobleme der Sozialphilosophie, die für den Studenten des Fachs geschrieben ist. Einiges philosophisches Vorwissen wird vorausgesetzt.) DAVID-HILLEL RUBEN
Sozialtheorie und Recht
Im Zentrum der Sozialtheorie steht die Behauptung, dass philosophische Analysen, Reflexionen über bestimmte historische Erfahrungen und systematische empirische Beobachtungen sozialer Bedingungen zur Konstruktion theoretischer Erklärungen des Wesens von Gesellschaft zusammengeführt werden können, d.h. zu Mustern sozialer Assoziation im Allgemeinen und zur Beschreibung der Bedingungen, die diese Assoziation möglich machen und ihre Typik definieren. Die Sozialtheorie kann in diesem weiten Sinne als eine Theorie definiert werden, die nach einer systematischen Erklärung der Struktur und Organisation der Gesellschaft und der allgemeinen Bedingungen der sozialen Ordnung oder Stabilität, sowie des sozialen Wandels sucht. Da das Recht (im Sinne eines Rechtssystems) als ein System von Ideen oder Sollvorstellungen auch vorgestellt werden kann als der Versuch einer Spezifizierung, Reflexion und Systematisierung grundlegender normativer Strukturen der Gesellschaft, stand es sowohl im Zentrum des Interesses der Sozialtheorie, und war auch in gewisser Weise eine Quelle des Wettbewerbs mit der Sozialtheorie im Ringen um die Erklärung der Typik sozialer Existenz. Die Beziehung des Rechtsdenkens zur Sozialtheorie ist daher in wichtigen Punkten eine Gegenüberstellung zwischen miteinander konkurrierenden, allgemeinen Weisen des Verständnisses sozialer Beziehungen und der Beziehungen der sozialen Ordnung. In bestimmtem Sinne ist diese Konfrontation so alt wie die Philosophie selbst. Aber als ein Element im modernen philosophischen Bewusstsein steht sie für ein stufenweises Durcharbeiten der Implikationen verschiedener ‚wissenschaftlicher‘ Interpretationsformen sozialer Erfahrung im westlichen Denken der vergangenen beiden Jahrhunderte, die alle auf die eine oder andere Weise aus dem Vermächtnis der Ideen der Aufklärung hervorgegangen sind. Im Verlauf der sich entwickelnden Sozialwissenschaft vom späten 18. Jahrhundert an und durch das 19. Jahrhundert hindurch wurden die Kriterien der ‚wissenschaftlichen‘ Rationalität in die Interpretation sozialer Phänomene hineingetragen. Diese Kriterien beeinflussten auch auf bedeutende Weise die Entwicklung des modernen Rechtsdenkens. Die klassische Sozialtheorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ein noch immer gültiges Vokabular von Begriffen zur Interpretation sozialer Phänomene schuf, behandelte das Recht als einen Gegenstand der sozialen Untersuchung innerhalb ihres eigenen, sozialtheoretischen Rahmens. Sie suchte nach einem wissenschaftlichen Verständnis des Wesens rechtlicher Phänomene, und zwar nach Maßgabe weit gefasster Erklärungssysteme im Sinne des allgemeinen Wesens sozialer Beziehungen, Strukturen und Institutionen. Im späten 20. Jahrhundert war die Beziehung zwischen Sozialtheorie und Recht von fundamentalen Veränderungen sowohl hinsichtlich der Perspektive der Sozialtheorie, als auch in den zeitgenössischen Formen der Regulation beeinflusst. Auf der einen Seite wurde die Sozialtheorie weit reichenden Herausforderungen in Betreff ihrer wissenschaftlichen Ansprüche unterworfen. Sie musste auf den Skeptizismus hinsichtlich ihrer Behauptungen eingehen, dass das soziale Leben auf sinnvolle Weise als etwas analysiert werden kann, was sich als historische Gesetzlichkeit dar1687
Sozialwahl, Theorie der
stellen oder mit entsprechenden Geltungsansprüchen in Gestalt von grundlegenden, theoretischen Prinzipien interpretieren und erklären lässt. Auf der anderen Seite erscheint die unglaubliche Ausbreitung des regulativen Geltungsbereichs westlicher Rechtssystematik und rechtlicher Details soziologisch als ein von moralischen Systemen weitgehend unkontrolliertes und von philosophischen Prinzipien ebenfalls kaum geleitetes Phänomen. Daher wird in manchen postmodernen Interpretationen die gegenwärtige, westlich geprägte Rechtssystematik und -auffassung als ein Wissenssystem und als eine Interpretation des sozialen Lebens von größter Bedeutung dargestellt, allerdings als eines, das sich letztlich dem aufgeklärten Anspruch zur systematischen Durchsetzung der Vernunft und entsprechender Handlungsprinzipien, die theoretisch kodifiziert sein sollten, auf der Handlungsebene politischer und sozialer Macht weitgehend entzieht. Siehe auch: Rechtsphilosophie ROGER COTTERRELL
Sozialvertrag
Siehe: Kontraktualismus
Sozialwahl, Theorie der
Die Theorie der Sozialwahl (engl.: ‚social choice theory‘) ist ein Zweig der Wirtschaftswissenschaft, der sich mit den Beziehungen zwischen individuellen Werten, Vorlieben und Rechten, sowie der kollektiven Entscheidungsfindung und -bewertung beschäftigt. Die Theorie der Sozialwahl stellt daher die Verbindungen zwischen der formalen Analyse rationaler Wahlentscheidung, der Debatte über politische Prozesse und der Ethik her. Ein zentrales Thema ist die Zusammenfassung individueller Präferenz entweder in einer sozialen Entscheidungsregel oder in einer sozialen Bewertungsregel. Das berühmteste Ergebnis der Theorie der Sozialwahl, Arrows ‚Unmöglichkeitstheorem‘, lautet, dass eine solche Zusammenfassung unmöglich ist, wenn individuelle Präferenzen im Wesentlichen als eine ordinale Reihung verstanden werden, und wenn diese Zusammenfassung bestimmte, offenkundig vernünftige Bedingungen erfüllen soll. Dieses Ergebnis impliziert, dass weder ein Wahlsystem, noch ein System der moralischen Bewertung existiert, das alle gegebenen Bedingungen erfüllt. Ein weiteres Unmöglichkeitstheorem ergibt sich aus Versuchen, die Rolle der individuellen Rechte zu modellieren. Große Teile der Theorie der Sozialwahl beschäftigen sich mit der Interpretation, der Ausdehnung und der Hinterfragung dieser Unmöglichkeitstheoreme in einer Vielzahl von Kontexten. Diese Diskussion hat einen extensiven Austausch auf der Grenze zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ethik zu Fragen wie z.B. der Kommensurabilität von Werten und der Beziehungen zwischen Moral und Rationalität hervorgebracht. Siehe auch: Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Rationalen Wahlentscheidung, Theorie der; Rechte, Utilitarismus; Wohlfahrt ALAN HAMLIN
Sozialwissenschaft, Philosophie der zeitgenössischen
Einige Philosophen meinen, dass das Studium sozialer Phänomene unter Einsatz von Methoden zu erfolgen habe, die von den Naturwissenschaften entliehen seien. Forscher sollten nach kausalen Regelmäßigkeiten suchen (der Art: ‚immer wenn C eintritt, ereignet sich E‘) und diese in systematische Theorien einfügen. 1688
Sozialwissenschaft, Philosophie der zeitgenössischen
Einige Philosophen meinen, dass soziale Phänomene jedoch nach einer gänzlich anderen Behandlung rufen, in der die Forscher nach einer vollständigen Interpretation der Bedeutung menschlichen Handelns suchen, einschließlich ihrer Bemühungen um Kommunikation und Kooperation. Nach dieser Auffassung ist die größte ‚Nähe‘, die Forscher zu sozialen Regelmäßigkeiten herstellen können, die Entdeckung von Regeln der Art: ‚Wann immer die Situation S gegeben ist, muss jeder daran Beteiligte A tun‘. Die größte Nähe zur systematischen Theoriebildung wird durch die systematische Darstellung von sozial immanenten Regeln erreicht, wie z.B. der Regeln eines Freundschaftssystems. Neben der naturalistischen und der interpretativen Schule beherbergt die Sozialwissenschaft auch eine kritische Schule. Diese geht davon aus, dass Forschungen, die von der einen oder anderen der beiden anderen Schulen gestützt werden, immer befangen sind. Sie neigt dazu, der interpretativen Schule in ihrem Widerstand gegen die naturalistischen Methoden zuzustimmen. Ihre Vorwürfe gegen die naturalistischen Forscher erstrecken sich allerdings auch auf die interpretativen Sozialwissenschaftler. Denn diese entwerfen ganz sorglos Bilder der Gesellschaft, die den Interessen derjenigen Menschen nützen, die von diesen Ansichten profitieren, beispielsweise wenn man bei einer Untersuchung von Arbeitsbedingungen die geltenden kündigungsschutzrechtlichen Regeln unhinterfragt lässt. Hier kann die kritische Schule selbst naturalistische Methoden anwenden. Wenn sie beklagt, dass die unausgesprochene Zuweisung von Macht in Beschäftigungsfragen die Chancen der Privatwirtschaft auf eine Erhaltung genau dieser Macht erhöht, so spricht die kritische Schule von einer Kausalverbindung. Es gibt keine Regel, die besagt, dass irgendjemand diese Chancen erhöhen müsste. Doch die Forscher, die von diesen drei Schulen unterstützt werden, ergänzen sich in dem Umfange, wie Forschungen zu Regelmäßigkeiten und Regeln sich ebenfalls ergänzen. Etablierte soziale Regeln bringen Entsprechungen in kausalen Regelmäßigkeiten hervor, die sich auf ähnliche Weise ausdrücken lassen, obwohl die Evidenz dieser Regelmäßigkeiten nicht unbedingt von einer (an sich angenommenen) sozialen Zustimmung ausgehen. Einige Regelmäßigkeiten sind keine solchen Entsprechungen von Regeln, bringen aber nichtsdestotrotz Regeln mit sich: Wenn das Verhältnis der Eheschlüsse in Bayern, die mit einer Scheidung enden, in der Regel bei einem Drittel liegt, dann liegt das nicht, wie häufig angenommen, daran, dass ein Drittel der Bewohner Bayerns sich scheiden lassen müssen. Dennoch sind Hochzeit und Scheidung Handlungen, die unter Regeln fallen. Die drei Schulen leisten allerdings mehr als nur die Durchführung von Studien zu sozialen Regeln oder Regelmäßigkeiten. Die kritische Schule bestreitet, dass irgendeine Studie sozialer Phänomene wertfrei sein kann, insbesondere an Punkten, wo es um die Emanzipation der Menschen von den Bedrückungen der gegenwärtigen Gesellschaft geht. Entweder arbeiten Forscher mit der kritischen Schule zusammen, um Unterdrückungen in der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen, oder sie arbeiten für die Unterdrücker, so lautet ihre Auffassung. Die interpretative Schule arbeitet wiederum an subjektiven Merkmalen menschlicher Handlungen und Erfahrungen, die das Studium der Regeln förmlich überfluten. Diese Merkmale können ebenfalls als etwas beschrieben werden, was korrekt und falsch zugeschrieben wird. Die Wahrheit über sie wird aber vielleicht am besten in weniger formal ausgearbeiteten, d.h. eher narrativen Texten geschildert werden können. 1689
Sozialwissenschaft, Methodik der
Der Postmodernismus hat diese Themen in einer skeptischen Richtung verallgemeinert. Jeder Text kann auf vielfache, oft einander widersprechende Weise gelesen werden, so dass es häufig vielfältige und einander widersprechende Interpretationen dessen gibt, was überhaupt der Fall ist. Jede Interpretation dient einem Streben nach Macht, egal ob sie genau einer unterdrückenden sozialen Klasse dient oder nicht. Solche Einwände untergraben die Annahmen, von denen die drei Schulen in ihrer Suche nach der Wahrheit hinsichtlich der sozialen Phänomene ausgehen. Sie untergraben noch mehr jegliche Annahme, dass die gefundene Wahrheit universell gilt. Die Annahme über die Universalität ist allerdings ein Erbe der positivistischen Auffassung über die Naturwissenschaft. Der Positivismus hat der modelltheoretischen oder semantischen Auffassung Platz gemacht, dass die Wissenschaft dadurch voranschreitet, dass sie Vergleichsmodelle mit der Wirklichkeit konstruiert. Ein Modell, d.h. in den Sozialwissenschaften ein Modell der Regelmäßigkeiten oder der Regeln sozialer Zusammenhänge, dass in jedes reale Systeme für eine gewisse Zeit hineinpasst, ist eine wissenschaftliche Leistung, die empirisch gerechtfertigt sein muss. Mit dem Verzicht auf die Forderung nach Universalität kann die Sozialwissenschaft eine feste Haltung gegenüber den Fragen einnehmen, die ihr der Postmodernismus stellt. Sie kann vom Postmodernismus die Haltung akzeptieren, dass sich der wissenschaftliche Erfolg in lokalen Kontexten und nur für eine gewisse Zeit ereignet, sich aber dafür jedem weiter gehenden Skeptizismus entgegen stellen. Siehe auch: Erklärung in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Naturalismus in den Sozialwissenschaften; Strukturalismus in den Sozialwissenschaften
DAVID BRAYBROOKE
Sozialwissenschaft, Methodik der
Jede wissenschaftliche Disziplin, z.B. die Physik, die Biologie, die Sozialund Verhaltenswissenschaften (Psychologie) erhoben sich aus der Philosophie in einem Prozess, der ungefähr in der Epoche von Euklid und Platon begann. Diese Wissenschaften hinterließen der Philosophie ein Vermächtnis an Problemen, mit denen sie selbst nicht fertig wurden, weder als gerade entstandene, noch als reife wissenschaftliche Disziplinen. Einige dieser Probleme haften allen Wissenschaften gemeinsam an, andere wiederum sind auf eine der vier allgemeinen, oben genannten Abteilungen beschränkt, und einige dieser philosophischen Probleme betreffen nur die eine oder andere Einzelwissenschaft. Wenn die Naturwissenschaften für die Philosophen länger als die Sozialwissenschaften von Interesse waren, dann nur einfach deshalb, weil die Ersteren älter sind. Erst im 19. Jahrhundert entstanden die Sozialwissenschaften als einzelne Forschungsgegenstände in ihrer heutigen Form. Einige der Probleme in der Sozialphilosophie sind älter als diese Disziplinen, teilweise deshalb, weil diese Probleme ihren Ursprung bereits in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts haben. Das volle Erblühen der Wissenschaftsphilosophie geht allerdings einher mit dem Aufstieg des logischen Positivismus in den 1920er Jahren. Obwohl der Philosophie des logischen Positivismus oft vorgeworfen wurde, dass sie sich mit einer einseitigen Zuwendung zur Physik zufrieden gab, war doch ihr tatsächlicher Einfluss in den Sozialwissenschaften mindestens ebenso groß wie ihr Interesse an den Naturwissenschaften. Tatsächlich behauptete die Sozialwissenschaft als die herausragende 1690
Sozialwissenschaft, Methodik der
Arena zur Anwendung der Erkenntnisse aus dem Studium der Physik immer eine besondere Aufmerksamkeit für die Wissenschaftsphilosophen. Selbst jene, die die Vorschreibungen von Seiten der Philosophie der Physik ablehnen, können doch nicht die Relevanz der Erkenntnistheorie und Metaphysik für die Sozialwissenschaften leugnen. Der wissenschaftliche Wandel kann das Ergebnis vieler Faktoren sein, von denen nur einige kognitiver Natur sind. Der wissenschaftliche Fortschritt lebt allerdings von der Wechselwirkung von Daten und Empirie. Daten kontrollieren die Theorien, derer wir uns bedienen, und die Richtung, in der wir sie verfeinern. Theorien leiten und beschränken sowohl die experimentellen Formen zur Datensammlung, als auch den Apparat, mit dem sie unternommen werden. Die Ausgestaltung der Forschung wird von der Theorie geleitet, und entsprechend verhalten sich die methodischen Vorgaben. Was aber leitet die Gestaltung von Forschungsprogrammen in Disziplinen, die selbst noch in den Kinderschuhen stecken, oder bei denen es aus einem anderen Grunde ein theoretisches Vakuum gibt? Wie entscheidet der Wissenschaftler bei Abwesenheit von Theorie, was die Disziplin überhaupt erklären soll, welche ihre Standards der explanatorischen Eignung sind, und welche Daten zugelassen werden, um zwischen verschiedenen Theorieansätzen zu entscheiden? In solchen Fällen gibt es nur zwei Wege, die Wissenschaftler einschlagen können: zum einen erfolgreiche Theorien und Methoden anderer Disziplinen, von denen man meint, sie seien relevant für die neu entstehende Disziplin, und ferner eine Erkenntnislehre und Metaphysik, die die Bedeutsamkeit dieser Theorien und Methoden unterstreicht. Dies gibt der Philosophie ihre besondere Bedeutung in den Sozialwissenschaften. Die Rolle der Philosophie in der Begleitung der Forschung, wo sie sich in einem theoretischen Vakuum befindet, bildet gleichzeitig die grundlegendste Frage der Wissenschaftsphilosophie, ob die Sozialwissenschaften in mehr oder weniger großem Umfange die Methoden der Naturwissenschaften anwenden können, dies dürfen oder gar sollten. Man beachte, dass diese Frage voraussetzt, dass wir bereits präzise die Methoden der Naturwissenschaften identifiziert haben. Wenn wir dies noch nicht erledigt haben, so wird die vorangehende Frage lediglich zu einem akademischen Streitpunkt. Für viele Philosophen der Sozialwissenschaften wurde die Frage, welcher Methoden sich die Naturwissenschaft bedienen sollte, über lange Zeit von der Philosophie des logischen Positivismus und ihrer Nähe zur Physik beantwortet. Doch die zunehmende Annahme solcher Methoden durch empirische, mathematisch und experimentierende Sozialwissenschaftler war für die Philosophen eine weitere, zentrale Frage auf: Warum waren diese Methoden, die doch offensichtlich so erfolgreich in den Naturwissenschaften waren, so deutlich weniger erfolgreich, wenn sie ganz bewusst auf die Forschungsprogramme der verschiedenen Sozialwissenschaften angewandt wird? Eine traditionelle Antwort hierauf beginnt mit der Annahme, dass das menschliche Verhalten oder Handeln und seine Konsequenzen dem naturwissenschaftlichen Studium einfach nicht zugänglich sind, weil sie das Ergebnis des freien Willens, oder weniger radikal gesagt, weil die wichtigen Arten oder Kategorien, unter die die sozialen Ereignisse subsumiert werden müssen, auf eine Weise einzigartig sind, die nicht-triviale Theorien über sie unmöglich macht. Diese Antworten werfen umgehend einige der schwierigsten Probleme der Erkenntnistheorie und der Metaphysik auf, nämlich jene betreffend das Wesen des Geistes, die These des Determinismus, und die Analyse der Kausalität. Selbst weniger radikale Erklärungen für die Un1691
Sozinianismus
terschiede zwischen Sozial- und Naturwissenschaften werfen diese fundamentalen Fragen der Philosophie auf. Nachdem der allgemeine Konsens über die Angemessenheit der positivistischen Philosophie der Naturwissenschaften in den späten 1960er Jahren aufgehoben worden war, wurde die Beantwortung dieser Fragen noch viel schwieriger. Es war damit nämlich nicht nur der Maßstab verloren gegangen, was überhaupt als Wissenschaft zu gelten hat, sondern auf das Maß des Fortschritts wurde so undurchsichtig, dass es nicht einmal mehr unstrittig war zu behaupten, dass der Fortschritt der Sozialwissenschaften sich überhaupt noch von dem der Naturwissenschaften unterschied. ALEX ROSENBERG
Sozinianismus
Der Ausdruck ‚Sozinianismus‘ war sowohl der Name einer theologischen Bewegung des 16. und 17. Jahrhunderts, die ein Vorläufer des modernen Unitarismus war, als auch – und dies weniger präzise – ein polemischer Schmähausdruck für sympathisierende Einstellungen zu dieser ‚häretischen‘ Bewegung. Der Sozinianismus war explizit undogmatisch und konzentrierte sich auf das Bestreiten der Dreifaltigkeit, der Erbsünde, der Erlösung und der natürlichen Unsterblichkeit der Seele und somit wichtiger Kerne aller christlichen Lehren. Die Bewegung hat ihren Namen von ihrem bedeutendsten Vertreter, dem italienischen Antitrinitarier Fausto Sozini (1539-1604). Seine Anhänger wurden mitunter auch als ‚Polnische Brüder‘ bezeichnet, weil das Zentrum des Sozinianismus in der polnischen Stadt Raków lag und sich von dort aus nach Westen ausbreitete. Einige Sozinianer waren Materialisten. Die Sozinianer betonten die Moralität und die prophetische Rolle Christi, die Aufwertung der Vernunft bei der Auslegung der Heiligen Schrift gegenüber dem Glaubensbekenntnis, der Tradition und der kirchlichen Autorität, und die Unterstützung der religiösen Toleranz. Der Ausdruck wurde polemisch gegen viele Theoretiker verwandt, einschließlich Hugo Grotius, William Chillingworth, die Latitudinarier und John Locke, der den freien Willen, den Moralismus, die Rolle und Macht der Vernunft hervorhob, und dass das Christentum nur einige wenige und fundamentale Lehren behalten sollte, die zur Erlösung notwendig sein. Siehe auch: Deismus; Naturrecht JOHN MARSHALL
Soziobiologie
In der Nachfolge von Darwin haben sich Biologien und Sozialwissenschaftler immer wieder auf die Theorie der natürlichen Auslese als Quelle erklärender Einsichten über das menschliche Verhalten und die sozialen Institutionen berufen. Die Kombination der Mendelschen Genetik und der Darwinschen Theorie, die beide substanziell zur Evolutionstheorie der Biologie und der ihr verwandten Wissenschaften7 7 Der engl. Originalausdruck life sciences wird durch dt. ‚Lebenswissenschaften‘ nicht korrekt übersetzt. Es handelt sich neben solchen Ausdrücken wie humanities (am ehesten noch mit ‚Geisteswissenschaften‘ vergleichbar, nicht dagegen mit ‚Humanwissenschaften‘) und den social sciences (zu denen u.a. auch die Wirtschaftswissenschaften und die Geschichtswissenschaft gehören) um einen weiteren klassifizierenden Ausdruck der angloamerikanisch-akademischen Disziplinen, die sich von der im deutschen Sprachraum vorherrschenden Einteilung sehr unterscheidet (das gesamte Einteilungsschema ist bis auf den Bereich der Naturwissenschaften, engl.: natural sciences, verschieden). Zu den life sciences gehört neben der Soziobiologie und der Verhaltensforschung beispielsweise auch die Medizin). Weder die angloamerikanische Klassifizierung, noch die im deutschen Sprach-
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Spencer, Herbert (1820-1903)
beitrugen, hat sich jedoch bereits wiederholt einer biologische Herangehensweise an sozialwissenschaftliche Fragen bedient, die umstritten ist. Exzesse und Irrtümer des Sozialdarwinismus, die Eugenik und Gehirntests haben wiederholt evolutionäre Ansätze der Humanwissenschaften in die Kritik geführt. Die Soziobiologie ist jene Fassung des Darwinismus in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit geriet. Philosophische Probleme der Soziobiologie umfassen Fragen zur Erklärungskraft der Darwinschen Theorie für das menschliche Verhalten und die sozialen Institutionen, Kontroversen darüber, ob die natürliche Auslese auf organisatorischen Ebenen oberhalb oder unterhalb des Individuums wirkt, über die Bedeutung des Unterschiedes zwischen angeborenen und anerzogenen Faktoren, und Debatten über die Folgen des Darwinismus für die Moralphilosophie. Siehe auch: Arten; Einheit der Wissenschaft; Methodischer Individualismus; Natur des Menschen; Reduktion, Probleme der
ALEX ROSENBERG
Soziologie der Erkenntnis / des Wissens Siehe: Wissenssoziologie
Spencer, Herbert (1820-1903)
An Herber Spencer erinnert man sich vor allem wegen seiner Theorien des klassischen Liberalismus und der Evolution. Er genoss beachtlichen Ruhm in der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den USA, die er im Jahre 1882 besuchte und dort von der New Yorker society als der prophetische Philosoph des Kapitalismus vergöttert wurde. In England erlitt Spencers Ansehen zum Ende seines Lebens hin jedoch zwei fatale Niederlagen. Erstens wurden kollektivistische Gesetze (die eine Gruppe von Menschen und nicht das Individuum mit einer Rechtsfolge konfrontieren) eingeführt, um die Bürger vor den Verheerungen der Industriellen Revolution zu schützen, und Spencers feurige Verteidigung des wirtschaftlichen laissez-faire geriet in Misskredit. Zweitens wurde seine Evolutionstheorie, die weitgehend auf dem Lamarckschen Prinzip der Vererbung organischer Mutationen, die durch Gebrauch und Nichtgebrauch hervorgebracht werden, aufbaute, durch Darwins Theorie der natürlichen Selektion in den Schatten gestellt. Beinahe einhundert Jahre nach seinem Tod zeigt sich jedoch neuerliches Interesse an seinen Ideen, teilweise weil die Welt sich wieder mit mehr Sympathie den Marktphilosophien zugewandt hat, und teilweise weil die Anwendung evolutionärer Prinzipien auf die menschliche Gesellschaft erneut in Mode gekommen ist. Siehe auch: Darwin, C.R.; Evolutionstheorie; Freiheit; Holismus und Individualismus in der Geschichte und den Sozialwissenschaften; Religion und Wissenschaft
TIM S.GRAY
Spezies
Siehe: Arten
raum übliche Einteilung ist allerdings amtlich geregelt, und auch nicht logisch zwingend. Beiden Begriffssystemen haftet vielmehr eine vermutlich pragmatisch bedingte Unschärfe an. [WS]
1693
Spinoza, Benedict de (1632-1677)
Spieltheorie
Siehe: Entscheidungs- und Spieltheorie; Rationalen Wahl, Theorie der ; SeSpieltheorie
mantik der
Spinoza, Benedict de (1632-1677) Einführung Spinoza war ein holländischer Philosoph jüdischer Abstammung. Er wurde als Baruch de Spinoza in Amsterdam geboren. Anfänglich erhielt er eine traditionell talmudische Ausbildung, wurde dann aber von einigen seiner Lehrer ermuntert, auch weltliche Gegenstände zu studieren, einschließlich der lateinischen Sprache und der neuzeitlichen Philosophie. Vielleicht als Ergebnis dieser Studien gab er die jüdischen Sitten und auch den jüdischen Glauben auf und wurde nach ernsthaften Ermahnungen im Jahre 1656 aus der Synagoge exkommuniziert. Nunmehr allein und ohne Lebensunterhalt lateinisierte er seinen Namen und begann mit der Linsenschleiferei seinen Erwerb zu verdienen, in der Absicht, sein Leben der Philosophie zu widmen. Er blieb bis 1660 in Amsterdam, lebte das nächste Jahrzehnt in benachbarten Orten und von 1670 an bis zu seinem Tode durch Schwindsucht im Jahre 1677 in Den Haag. Während dieser Jahre arbeitete er ununterbrochen an seiner Philosophie und diskutierte sie innerhalb eines kleinen Freundes- und Korrespondentenkreises. Sein Meisterwerk, die ‚Ethica Ordine Geometrico Demonstrata‘ (dt.: ‚Ethik, nach der geometrischen Methode dargestellt‘) stellte er 1675 fertig; wegen seiner radikalen Lehren wurde sie jedoch erst nach seinem Tode veröffentlicht. Der gesamte Bereich von Spinozas ‚Ethik‘ wird durch den Titel nicht bezeichnet. Sie beginnt mit einer höchst abstrakten Darstellung des Wesens der Substanz, die mit Gott identifiziert wird, und kulminiert in einer Analyse der Menschen, ihres Wesens und ihres Ortes im Universum, sowie der Bedingungen ihrer wahren Glückseligkeit. Sie ist in ‚geometrischer‘ Form nach dem euklidischen Vorbild geschrieben, d.h. jede ihrer fünf Teile enthält eine Reihe von Definitionen, Axiomen und Aussagen, denen ihre jeweiligen Beweise, und häufig auch gelehrte Erläuterungen folgen. Das bestimmende Merkmal des spinozistischen Denkens ist sein kompromissloser Rationalismus. Wie auch andere Philosophen dieser Zeit ist Spinoza auf mindestens drei verschiedene Weisen ein Rationalist: in metaphysischer, erkenntnistheoretischer und ethischer Hinsicht. Dies heißt, dass er behauptet, das Universum verkörpere eine notwendig rationale Ordnung, diese Ordnung sei im Prinzip durch den menschlichen Geist erkennbar, und das wahre Gute für die Menschen bestehe im Wissen dieser Ordnung bzw. sei ein Leben nach Maßgabe dieses Wissens. Das Auffallende an Spinozas Form des Rationalismus ist jedoch, dass es bei ihm keinen Platz für einen unerschöpflichen Schöpfergott gibt, der sich von seiner Schöpfung unterscheidet, sondern dass letztere sich vielmehr verborgenen Absichten gemäß verhalte. Stattdessen identifiziert Spinoza Gott verwegen mit der Natur, wenn auch mit einer Natur, die er als diese notwendig rationale Ordnung betrachtet, und nicht als eine Gesamtsumme von Einzeldingen. In ihrer Identifikation von Gott mit der Natur ist Spinozas Philosophie auch gründlich naturalistisch und deterministisch. Weil die Natur als unendliche und ewige auch allumfassend und allmächtig ist, folgt daraus, dass nichts getrennt von ihr 1694
Spinoza, Benedict de (1632-1677)
sein oder auch nur als solches gedacht werden kann. Dies bedeutet, dass alles, einschließlich der menschlichen Handlungen und Gefühle, nach Maßgabe der universellen und notwendigen Gesetze erklärbar sein muss. Geht man von einer solchen Identifikation aus, folgt daraus ferner, dass ein Wissen der natürlichen Ordnung im Wege einer Kenntnis dieser Gesetze gleichbedeutend ist mit dem Wissen von Gott. Folglich behauptet Spinoza in scharfem Gegensatz zur gesamten jüdisch-christlichen Tradition, dass der menschliche Geist in der Lage sei, Gott auf angemessene Weise zu erkennen. Die Erlangung eines solchen Wissens hängt nach seiner Auffassung jedoch von der Anwendung der richtigen Methode ab. Im Einklang mit Descartes und Thomas Hobbes, den beiden neuzeitlichen Philosophen, die den größten Einfluss auf sein Denken ausübten, und ganz vom Geist der wissenschaftlichen Revolution durchdrungen, meinte Spinoza, dass der Schlüssel zu seiner Methode in der Mathematik läge. Diese Überzeugung spiegelt sich offenkundig in der geometrischen Anlage der ‚Ethik‘. Sie reicht aber noch viel tiefer, indem sie bestimmt, was für Spinoza als echtes Wissen gilt, im Gegensatz zur eher störenden Meinung. Genauer gesagt bedeutet dies, dass ein adäquates Verständnis von jeglicher Sache darin besteht, dass man sie als die logische Konsequenz ihrer Ursache sieht, so wie die Eigenschaften einer geometrischen Figur als die Konsequenz ihrer Definition zu verstehen sind. Dies wiederum führte ihn direkt zur vollständigen Ablehnung der Finalursachen, d.h. der Idee, dass die Dinge in der Natur oder die Natur als Ganzes einem Zweck dienen oder einen solchen in sich tragen, und dass deren Verständnis die Erkenntnis ihres Zieles oder Zwecks mit sich bringe. Spinoza lehnte nicht nur die Finalursachen als unwissenschaftlich ab, wobei er diese Ansicht mit den meisten Vertretern der neuen Wissenschaften teilte, sondern er betrachtete sie auch als eine Quelle des Aberglaubens und als ein größeres Hindernis auf dem Wege zur Erlangung echten Wissens. Derselbe Geist liegt auch Spinozas praktischer Philosophie zugrunde, die von einer gefühlskalten, leidenschaftslosen Analyse des menschlichen Wesens und Verhaltens gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu den traditionellen Moralisten, und zwar sowohl den religiösen, als auch den säkularen, lehnt er jegliche Berufung auf eine Menge absoluter Werte ab, die unabhängig vom menschlichen Begehren sein sollen. Das der grundlegende Wunsch eines jeden Wesens seine Selbsterhaltung sei, identifiziert er die Tugend mit der Fähigkeit zur Selbsterhaltung und das Gute mit dem, was in dieser Hinsicht wirklich nützlich sei, bzw. das Schlechte als das, was der Selbsterhaltung wirklich schade. Im Falle der Menschen sei das in diesem Sinne wirklich Nützliche das Wissen; damit bestehe die Tugend im Wesentlichen im Wissen. Dies sei so, weil das Wissen sowohl die beste Waffe gegen die Leidenschaften und die die Hauptquelle menschlichen Elends seien, als auch insofern sich die Erkenntnis auf Gott bzw. auf die notwendige Ordnung der Natur richte, weil sie damit zur Quelle höchster Befriedigung werde. Abgesehen von der ‚Ethik‘ ist Spinoza für seine Beiträge zur Entwicklung eines historischen Ansatzes zum Verständnis der Bibel und einer liberalen politischen Theorie bekannt. Ersterer findet sich in seinem ‚Tractatus Theologico-politicus‘ (dt.: ‚Theologisch-politische Abhandlung‘), der anonym im Jahre 1670 als ein Plädoyer für die religiöse Toleranz und Freiheit des Denkens veröffentlicht wurde. Letzterer findet sich auch in dieser Arbeit, sowie im unvollendeten ‚Tractatus Politicus‘ (dt.: 1695
Spinoza, Benedict de (1632-1677)
‚Politische Abhandlung‘) von 1677, in dem Spinoza versucht, seinen wissenschaftlichen Ansatz auf Fragen der politischen Philosophie auszuweiten. 1. Die geometrische Methode 2. Substanz-Monismus, 1. Teil 3. Substanz-Monismus, 2. Teil 4. Gott und die Welt 5. Der menschliche Geist, 1. Teil 6. Der menschliche Geist, 2. Teil 7. Erkenntnistheorie, 1. Teil 8. Erkenntnistheorie, 2. Teil 9. Die Ergriffenheit 10. Moraltheorie, 1. Teil 11. Moraltheorie, 2. Teil 12. Die Liebe Gottes und die menschliche Glückseligkeit 13. Politik 14. Die Heilige Schrift 1. Die geometrische Methode Obwohl Spinoza die geometrische Methode in seiner ‚Ethica Ordine Geometrico Demonstrata‘ (dt.: ‚Ethik, nach der geometrischen Methode dargestellt‘, 1677) anwendet, unternimmt er doch nichts, diese zu rechtfertigen oder gar zu erklären. Dies ließ viele Leser seine Beweisführung als eine verwickelte und faszinierende Kette von Gedanken auf der Grundlage willkürlicher Voraussetzungen sehen, die für sich betrachtet niemals mit der Wirklichkeit in Berührung kommen. Spinoza war sich dieses Problems allerdings sehr bewusst und geht darauf sowohl in einer wichtigen, frühen und unvollendeten Arbeit über die Methode ein, nämlich dem ‚Tractatus de Intellectus Emendatione‘ (dt.: ‚Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes‘, 1677), und auch in einigen seiner Briefe. Im Kern des Problems steht das Wesen der Definitionen, und in geringerem Umfange das der Axiome. Auf dieser Grundlage versucht Spinoza die Behauptungen der Ethik zu beweisen. In einem Brief von 1663 an einen jungen Freund namens Simon De Vries, der ihn genau auf dieses Problem ansprach, bot Spinoza ihm seine Fassung der traditionellen Unterscheidung zwischen Nominal- und Realdefinitionen an. Die erstere Art legt fest, was mit einem Wort oder einem Gedanken in Form eines Begriffs gemeint ist. Eine solche Definition kann nachvollziehbar oder nicht sein, ferner klar oder unklar; weil sie aber willkürlich erfunden ist, kann sie streng genommen weder wahr noch falsch sein. Im Gegensatz dazu definieren die Realdefinitionen, die „eine Sache, wie sie außerhalb des Verstandes existiert“ erklären sollen, eben einen Gegenstand und keinen Ausdruck (siehe hierzu den 9. Brief an Hugo Ginsberg in: ‚Der Briefwechsel des Spinoza im Urtexte‘. Verlag E. Koschny, Leipzig 1876). Folglich kann sie auch wahr oder falsch sein. Weil die Definitionen in der ‚Ethik‘ typischerweise durch Ausdrücke wie ‚Mit … meine ich, dass …‘ oder ‚Ein Gegenstand wird … genannt‘ eingeführt werden, könnte man den Eindruck haben, es handele sich dabei um den nominalen Typ, was wiederum Anlass zum Vorwurf der Beliebigkeit sein kann. Aus ihrer weiteren Verwendung ergibt sich jedoch, dass Spinoza sie als Realdefinitionen betrachtet. Wie
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Spinoza, Benedict de (1632-1677)
die Definitionen der geometrischen Figuren bei Euklid sollen sie nicht die verwendeten Namen definieren, sondern die benannten Gegenstände selbst. Die Frage ist nun, wie man wissen kann, dass jemand eine wahre Definition aufgestellt hat. Spinozas Antwort offenbart die Tiefe seiner Bindung an die geometrische Denkweise, insbesondere an die Methode der analytischen Geometrie, wie sie von Descartes entwickelt wurde. Er beruft sich auf das Beispiel des Mathematikers, der weiß, dass jemand über eine Realdefinition einer Figur verfügt, wenn er in der Lage ist, sie zu konstruieren. Die Definition einer geometrischen Figur ist daher ihre Konstruktionsregel. Diese ist dann ihre sog. ‚genetische Definition‘. Spinoza entwickelt diesen Punkt in seiner ‚Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes‘ (1677), indem er die Nominaldefinition eines Kreises als „einer Figur, in der die Linien, die man vom Mittelpunkt zum Kreisumfang zieht, alle gleich sind“ seiner genetischen Definition als „die Figur, die durch eine Linie beschrieben wird, bei der das eine Ende fixiert und das andere Ende beweglich ist“ gegenüberstellt. Nur die letztere Definition, nicht aber die erstere, sage uns, wie eine solche Figur konstruiert werden könne, und aus dieser Konstruktionsregel könnten wir alle ihre wesentlichen Eigenschaften ableiten. Spinozas Behauptung lautet damit, dass die Prinzipien, die für die mathematischen Gegenstände und vielleicht auch für andere abstrakte Gegenstände gelten, ebenfalls auf die gegenständliche Wirklich anwendbar seien. Somit verfügten wir über eine Realdefinition, d.h. eine adäquate, wahre oder klare und bestimmte Vorstellung einer Sache (wobei alle diese Ausdrücke praktisch austauschbar sind), wenn wir ihre ‚nächste Ursache‘ kennen und ihre Eigenschaften erkennen können, die sich notwendig aus dieser Ursache ergeben. Wenn aber das Wissen über eine Sache sich auf das Wissen ihrer ‚nächsten Ursache‘ reduziert, dann geraten wir entweder in einen unendlichen Regress, der uns dem hoffnungslosen Skeptizismus überantwortet, oder die Kette der Begründungen muss auf einem einzigen und ersten Prinzip aufbauen. Ferner muss dieses erste Prinzip einen einzigartigen Status haben: wenn es die letztliche Grundlage sei, aus der heraus sich alles andere erklären lässt, so muss diese in irgendeiner Weise selbstbegründend oder die Gründe für ihre Existenz in sich selbst tragen. In scholastischer Terminologie, derer sich Spinoza hier bedient, muss sie eine causa sui, ein ‚Selbstverursachtes‘, sein. So führt Spinozas rationalistische Methode also notwendig auf den Begriff von Gott, den er als das ‚absolute unendliche Sein‘ definiert, „d.h. als eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt.“ (‚Ethik‘ I, 6. Def.). Von diesen Begriffen ausgehend, die zusammen mit anderen wesentlichen Begriffen wie dem der Substanz, des Attributs und des Modus alle in den Definitionen des 1. Teils behandelt werden, schreitet die Beweisführung der ‚Ethik‘ auf deduktivem Wege fort. Ihr Ziel ist es, uns in die Lage zu versetzen, die Wirklichkeit als ein Ganzes im Lichte dieser Begriffe auf genau dieselbe Weise zu verstehen, wie die Mathematiker all die wesentlichen Eigenschaften einer geometrischen Figur nach Maßgabe ihres Begriffs oder ihrer genetischen Definition verstehen. Zumindest ist dies die Aufgabe des ersten Teils der ‚Ethik‘ (Titel: ‚Von Gott‘). Der verbleibende Teil des Werks ist dem Beweis der wichtigsten Konsequenzen dieses Ergebnisses insofern gewidmet, als sie die conditio humana betreffen.
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Spinoza, Benedict de (1632-1677)
2. Substanz-Monismus, 1. Teil Die ersten vierzehn Lehrsätze der ‚Ethik‘ sind ein Beweis dafür, dass es „außer Gott […] keine Substanz geben […] und […] keine gedacht werden“ kann. Weil aus einer Analyse des Begriffs der Substanz folge, dass alles, was nicht selbst Substanz sei, eine Abwandlung von ihr sein müsse, schließt Spinoza im nächsten Lehrsatz: „Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein, noch begriffen werden.“ Zusammen genommen drücken diese Lehrsätze Spinozas Substanz-Monismus aus, den man als die komplexe These verstehen kann, dass diese Substanz mit Gott eins ist, und dass alle Dinge als Weisen oder modi dieser einen Substanz in gewissem Sinne ‚in Gott‘ sind. Der Beweis für diese These ruht weitgehend auf der Analyse des Begriffs der Substanz, die wie folgt definiert wird: ‚Unter Substanz verstehe ich dasjenige, was in sich ist und durch sich gedacht wird: das heißt dasjenige, dessen Begriff keines Begriffes eines anderen Dinges bedarf, um daraus gebildet zu werden“ (‚Ethik‘ I, 3. Def.). Diese Definition kommt jener von Descartes sehr nahe, der ganz ähnliche die Fähigkeit zur unabhängigen Existenz zum Kriterium der Substanz erklärte. Doch die beiden Philosophen zogen diametral entgegengesetzte Schüssel aus ihren ähnlichen Definitionen. Obwohl Descartes meinte, dass Gott in herausragendem Sinne Substanz sei, meinte er doch gleichzeitig, dass es zwei Arten geschaffener Substanzen gebe, nämlich die denkende oder den Geist, und die ausgedehnte, und dass beide in ihrer Existenz von Gott abhingen, nicht jedoch voneinander. Für Spinoza gibt es dagegen nur eine einzige Substanz, nämlich Gott, und das Denken und die körperliche Ausdehnung sind einige ihrer Attribute. Spinoza argumentierte indirekt für seinen Monismus, indem er die beiden Hauptalternativen kritisierte, die eine substanzbasierte Metaphysik liefern kann: a) dass es eine Mehrheit von Substanzen derselben Natur oder Attribute gibt, und b) dass es eine Mehrheit von Substanzen mit unterschiedlichen Naturen und Attributen gibt. Descartes ist beiden Formen des Pluralismus verpflichtet, und beide Teile des Beweises von Spinoza sollen seine Ansichten widerlegen. Bei der Betrachtung von Spinozas Position sollte man jedoch immer im Auge behalten, dass sein Ziel nicht allein Descartes war, sondern die gesamte philosophische und theologische Tradition, die sich das Universum als eine Komposition aus einer endlichen Zahl von Substanzen vorstellte, die alle von Gott geschaffen worden seien (siehe Mittelalterliche Philosophie). Trotz seiner radikalen Kritik der scholastischen Denkweisen und seiner Berufung auf die Mathematik als dem Ideal aller Erkenntnis bleibt Descartes in vieler Hinsicht ein Teil dieser Tradition. Der Beweis gegen die erste Form von Pluralismus bemüht sich um die Behauptung: „In der Natur der Dinge kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen von derselben Natur oder demselben Attribute geben“ (‚Ethik‘ I, 5. Lehrsatz). Dies ist gleichzeitig einer der wichtigen und auch strittigsten Lehrsätze in der gesamten ‚Ethik‘. Er ist wichtig, weil er eine Schlüsselrolle in dem übergeordneten Beweis des Monismus spielt, und er ist strittig, weil die zu seiner Unterstützung angebotene Demonstration auf der Überlegung beruht, dass zwei oder mehr Substanzen unterschieden werden könnten. Dies könnte entweder auf der Grundlage ihrer Attribute erfolgen, wenn sie Substanzen verschiedener Art wären, beispielsweise Descartes‘ denkende und ausgedehnte Substanzen, oder auf der Grundlage ihrer Abwandlungen, wenn sie verschiedene Substanzen derselben Art wären, beispielsweise bestimmte 1698
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Geister oder Körper. Die Behauptung lautet also, dass man durch keinerlei Verfahren zwei oder mehr Substanzen mit denselben Attributen unterscheiden könne; und weil dies die einzige Möglichkeit einer Unterscheidung von Substanzen sei, folge daraus, dass solche Substanzen gar nicht voneinander unterschieden werden könnten. Die Ungeeignetheit der ersten Alternative scheint offensichtlich und würde durch Descartes ohne weiteres anerkannt. Weil ein Substanztyp bei Descartes nach Maßgabe seiner Attribute bestimmt ist, folgt daraus, dass zwei oder mehr Substanzen derselben Art (d.h. mit denselben Attributen) im Hinblick auf diese Attribute nicht unterschieden werden könnten. So offenkundig, wie dies erscheint, wurde es dennoch von Leibniz kritisiert, der meinte, dass zwei Substanzen einige Attribute gemeinsam und andere nicht gemeinsam haben könnten. Beispielsweise könnte A die die Attribute x und y haben und B die Attribute y und z. Obwohl ein Kartesianer diese Analyse mit der Begründung ablehnen würde, dass eine Substanz nicht mehr als ein Attribut haben kann, würde Spinoza, für den Gott eine Substanz mit unendlich vielen Attributen ist, diese kartesische Prinzip kaum akzeptieren können. Wir sehen also, dass es für den Beweis des Monismus ganz allgemein sehr wesentlich ist, die von Leibniz vorgeschlagene Möglichkeit zu eliminieren (siehe Leibniz, G.W., §§ 4-7). In der Literatur wurden verschiedene Strategien zum Umgang mit diesem Problem vorgeschlagen, wobei die vielleicht plausibelste unter ihnen jene ist, die darauf abstellt, dass zwei oder mehr Substanzen, wenn sie ein einziges gemeinsames Attribut aufweisen, auch alle sonstigen Attribute gemeinsam haben müssten und daher numerisch identisch wären. Obwohl Spinoza niemals selbst explizit auf diese Weise argumentiert, scheint dies doch ein vernünftiger Schluss aus seiner Konzeption des Attributs als demjenigen zu sein, „was der Verstand an der Substanz als deren Wesen ausmachend erkennt“ (‚Ethik‘ I, 4. Def.). Dies hat zur Folge, dass das Attribut y der Substanz A mit dem Attribut y der Substanz B genau in dem Falle identisch ist, wenn sie dieselbe Natur oder dasselbe Wesen ausdrücken, d.h. wenn sie Beschreibungen derselben Art von Ding sind. Wenn sie aber Dinge derselben Art sind, wird jedes Attribut, das A besitzt, auch von B besessen werden. Gegen die zweite Alternative wendet Spinoza ein: Definitionsgemäß komme die Substanz vor ihren Abwandlungen; wenn wir die Substanz an sich selbst betrachten, dann können wir eine Substanz nicht von der anderen unterscheiden. Obwohl diese Behauptung sicherlich richtig ist, scheint doch der Vorschlag, von den Ausprägungen einer und derselben Substanz abzusehen, eine petitio principii gegenüber Descartes zu sein. Schließlich weisen zwei kartesische denkende Substanzen dieselbe Natur oder dieselben Attribute auf und unterscheiden sich genau infolge ihrer verschiedenen Ausprägungen, d.h. ihrer verschiedenen Gedanken. Spinozas Überlegungen sind an diesem Punkte unklar, aber man könnte erwidern, dass man aufgrund der betrachteten Hypothese hinsichtlich der Substanzen davon ausgehen müsse, dass ihre Ununterscheidbarkeit Vorrang vor der Bestimmung von Ausprägungen habe. Ferner folge hieraus, dass die Bestimmung von Ausprägungen nicht der Unterscheidung von ansonsten ununterscheidbaren Substanzen dienen könne, solange man nicht schon vorher davon ausgehe, dass sie numerisch unterschieden seien. Mit anderen Worten, während wir zwei kartesische Substanzen aufgrund ihrer Ausprägungen unterscheiden können, ist dies doch nur möglich, wenn man davon ausgeht, dass die unterschiedlichen Ausprägungen bereits zu nu1699
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merisch unterschiedlichen Substanzen gehören. Es ist aber genau diese Annahme, zu denen die Kartesianer nicht berechtigt sind. 3. Substanz-Monismus, 2. Teil Dies ist allerdings erst der erste Schritt im Beweis des Monismus. Ebenso notwendig ist es, die Möglichkeit einer Mehrheit von Substanzen mit unterschiedlichen Attributen auszuschließen. Für dieses Projekt ist der Beweis wesentlich, dass die Substanz nicht nur „in ihren eigenen Attributen“ unendlich ist, d.h. unbeschränkt durch ein Jegliches mit denselben Attributen, sondern dass sie „absolut unendlich“ ist. d.h. allumfassend oder im Besitz der gesamten Wirklichkeit, was für Spinoza die Unendlichkeit der Attribute bedeutet. Beispielsweise ist Descartes’ ausgedehnte Substanz im ersten Sinne unendlich, weil sie durch nichts beschränkt oder bestimmt ist, was außerhalb ihrer selbst ist, z.B. durch den leeren Raum. Sie ist aber nicht unendlich im zweiten und entscheiden Sinne, weil sie nicht die gesamte Wirklichkeit darstellt. Es ist jedoch genau dieser Punkt, warum die erste Form von Unendlichkeit nicht ausreicht, um eine Mehrheit von Substanzen auszuschließen. Die Grundlage des Beweises für die absolute Unendlichkeit der Substanz ist die Behauptung: „Je mehr Realität oder Sein ein jedes Ding hat, umso mehr Attribute kommen ihm zu“ (‚Ethik‘ I, 9. Lehrsatz). Dies ist eine direkte Infragestellung der kartesischen Konzeption der Substanz, die nach Maßgabe eines einzigen Attributs definiert ist; die spinozistische beruht dagegen auf der dualen Annahme, dass manche Dinge mehr Wirklichkeit besitzen können als andere, und dass dieser überlegene Grad an Wirklichkeit sich in einer größeren Anzahl von Attributen äußert. Leider bezieht sich Spinoza zur Verteidigung dieser Behauptung lediglich auf die Definition des Attributs im Sinne einer wesentlichen Eigenschaft als das, „was der Verstand an der Substanz als deren Wesen ausmachend erkennt“ (‚Ethik‘ I, 4. Def.). Dennoch scheint es möglich zu sein, Spinozas Argument zu verstehen, wenn wir den Begriff des Attributs als so etwas wie unterschiedliche Beschreibungen interpretieren, nach denen eine Substanz oder die Wirklichkeit aufgefasst werden kann. Man bedenke beispielsweise eine einfache menschliche Handlung wie das Heben eines Arms. Obwohl es möglich ist, eine vollständige neurophysiologische Beschreibung einer solchen Handlung zu liefern, z.B. als die Summe und Abfolge von Nervenimpulsen, die ans Gehirn gesandt werden, der Kontraktion von Muskeln etc., könnte man doch immer noch einwenden, und zwar unabhängig davon, wie detailliert diese Beschreibung ausfällt, dass keine Beschreibung dieser Art angemessen sei um zu verstehen, was eine Handlung überhaupt ist. Dies erfordere vielmehr eine Bezugnahme auf psychologische Faktoren wie Überzeugungen und Intentionen eines Akteurs, was in Spinozas Metaphysik zu den Attributen des Denkens gehört. Wir können daher sowohl sagen, dass es mehr Wirklichkeit an einer Handlung gibt, als sich dies aus einer rein neurophysiologischen Beschreibung ablesen lässt, und dass diese größere Wirklichkeit als der Besitz einer größeren Anzahl von Attributen verstanden werden kann. Hieraus folgt, dass ein Wesen, dass alle Wirklichkeit auf sich vereinigt, d.h. Gott oder das ens realissimum bzw. das allerwirklichste Wesen, als etwas beschrieben werden kann, was unendlich viele Attribute besitzt. Hieraus folgt ferner, dass die Kartesianer entweder die Möglichkeit einer Substanz mit unendlich vielen Attributen
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akzeptieren oder aber die Möglichkeit Gottes bestreiten müssen. Und da ein orthodoxer Kartesianer Letzteres kaum tun kann, muss er das Erstere zugeben. Aber selbst, wenn man dies zugesteht, gibt es doch immer noch mindestens zwei weitere Probleme. Das eine lautet, wie man die Unendlichkeit von Attributen verstehen soll. Dies könnte entweder bedeuten, dass die Substanz unendlich viele Attribute besitzt, von denen der menschliche Geist nur zwei kennt, nämlich das Denken und die Ausdehnung, oder dass sie alle möglichen Attribute besitzt, was damit vereinbar wäre, dass es nur zwei Substanzen gibt. Obwohl die Fachwelt sich hierüber uneinig ist und es Hinweise aus Spinozas Korrespondenz darauf gibt, dass er der ersten der beiden Auffassungen folgte, ist es doch wichtig zu erkennen, dass der Beweis für den Monismus nur die letztere Auffassung voraussetzt. Dieses Argument stützt sich auf die Behauptung, dass Gott eine Substanz sei, die alle Attribute besitze, die es gibt, und dass es deshalb keine weiteren für irgendeine denkbare andere Substanz mehr gebe. Kombiniert man dies mit dem Lehrsatz, dass sich zwei Substanzen nicht ein Attribut teilen können, so folgt daraus, dass es keine Substanz neben Gott geben kann. Das zweite Problem ist, dass der Beweis bis zu diesem Punkt vollkommen hypothetisch ist. Er zeigt: wenn wir von der Existenz Gottes ausgehen, die definiert ist als eine Substanz mit unendlich vielen Attributen, dann folgt daraus, dass keine andere Substanz als Gott möglich ist. Bislang wurde aber noch nicht die Existenz einer Substanz dieser Art festgestellt. Spinoza legte aber bereits in der ‚Ethik‘ I, 7. Lehrsatz, den Grundstein für diese Behauptung mit der Demonstration, dass die Existenz zur Natur der Substanz selbst gehört; also muss man dieses Ergebnis nur noch auf Gott anwenden. Dies ist die Aufgabe, die sich der 11. Lehrsatz stellt, der Spinozas Argument für die Existenz Gottes enthält. Spinoza bietet hierfür drei gesonderte Beweise an, wobei der umfangreichste von ihn seine Fassung des ontologischen Gottesbeweises ist, wie er zuerst von Anselm von Canterbury entwickelt und später von Descartes neu formuliert wurde (siehe Descartes, § 6). Wie seine Vorgänger versucht Spinoza die Existenz Gottes vom reinen Gottesbegriff abzuleiten; aber anders als sie bezieht er sich dabei nicht auf die Vollkommenheit Gottes. Stattdessen beruft er sich lediglich auf die Definition Gottes als einer Substanz, woraus folgt – siehe 7. Lehrsatz – dass Gott notwendig existiert. Der zentrale Punkt des gesamten Beweises ist daher der Lehrsatz, dass die Existenz zur Natur der Substanz selbst gehört, oder, was gleichwertig ist, dass aus ihrer Essenz (Wesenhaftigkeit) notwendig ihre Existenz (Gegebenheit) folgt. Darüber hinaus offenbart sich in Spinozas Beweis für diese Behauptung der Umfang seines Rationalismus. Aus der Prämisse, dass die Substanz nicht durch irgendetwas ihr selbst Äußerliches hervorgebracht werden könne – weil eine solche Ursache eine andere Substanz derselben Natur sein müsste, was bereits ausgeschlossen wurde –, schließt er, dass sie die Ursache ihrer selbst sein müsse, was dasselbe ist wie die Aussage, dass ihre Existenz notwendig aus ihrer Essenz folge. Diesem Gedankengang liegt das zugrunde, was zumindest seit Leibniz gewöhnlich als das Prinzip des hinreichenden Grundes bezeichnet wird, d.h. das Prinzip, dass alles einen Grund oder eine Ursache haben muss (wobei die beiden letzteren Ausdrücke häufig untereinander austauschbar verwendet werden), warum es so und nicht anders ist. Obwohl die Anhänger von Leibniz wie z.B. Christian Wolff versuchten, dieses Prinzip zu beweisen, scheint
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Spinoza es wie die meisten Rationalisten vor Kant, einschließlich Leibniz selbst, offenbar als selbstevident betrachtet zu haben. Diese Beschreibung der Substanz als ein selbsterzeugendes oder selbstgenügsames Sein antizipiert seine Identifikation mit Gott. Vollkommen gesondert von der Frage seiner Gültigkeit ist jedoch das vielleicht interessanteste Merkmal des spinozistischen Beweises für die notwendige Existenz seiner Gott-Substanz, dass er gleichzeitig ein Beweis für die Nicht-Existenz von Gott als Schöpfer ist. Hieraus sollte man jedoch nicht schließen, dass das Ergebnis rein negativ ist, oder dass es Spinoza nur um ein Bestreiten der Existenz von Gott in jedem Sinne ging. Im Gegenteil, seine wirkliche Sorge in dem Eingangslehrsatz der ‚Ethik‘ ist es, genau diese notwendige Existenz zu zeigen, und daher wird die Eigenschaft der in sich selbst enthaltenen, sich selbst erklärenden Wirklichkeit von der natürlichen Ordnung als einem Ganzen ausgesagt, statt von irgendeinem bestimmten oder undurchschaubaren Grund dieser Ordnung. Und hier zeigt sich auch die tiefste Bedeutung seines Monismus. 4. Gott und die Welt Spinozas Monismus bedeutet allerdings nicht das Ende aller Dualitäten. Tatsächlich führt die Identifikation von Gott mit der Natur unmittelbar zu der Unterscheidung zwischen zwei Aspekten der Natur, die er ‚natura naturans‘ (dt.: ‚aktive‘ oder ‚erzeugende Natur‘) und ‚natura naturata‘ (dt.: ‚passive‘ oder ‚erzeugte Natur‘) nennt. Ersterer Aspekt bezieht sich auf Gott als durch sich selbst erzeugt, d.h. als Substanz mit unendlich vielen Attributen, und der letztere Aspekt bezieht sich auf das Modalsystem, dass sich aus diesen Attributen ergibt (was die Gesamtheit der Einzeldinge umfasst, aber nicht identisch mit ihnen ist). Folglich lautet die Aufgabe, die Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten der Natur zu erklären, was eine Aufgabe ist, die das spinozistische Analogon zum traditionellen Problem der Erklärung der Beziehung zwischen Gott und Schöpfung darstellt. Wie die Theologen, deren Verfahren er selbst dann noch übernimmt, wenn er ihre Behauptungen zersetzt, teilt Spinoza seine Analyse in zwei Teile auf: eine Betrachtung der göttlichen Kausalität an und in sich selbst oder als ‚natura naturans‘, sowie eine Betrachtung von ihr in der Form, wie sie sich im modalen System oder als ‚natura naturata‘ ausdrückt. Nimmt man als gegeben, was wir bereits gesehen haben, so enthält die erstere Analyse wenig Überraschungen. Die grundlegende Behauptung ist hier: „Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muss unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen (das ist: alles, was von einer unendlichen Erkenntnis erfasst werden kann) folgen“ (‚Ethik‘ I, 16. Lehrsatz). Spinoza schildert hier sowohl die Natur, als auch den Umfang der göttlichen Kausalität oder Macht. Indem er diese Macht in der Notwendigkeit der göttlichen Natur verortet, statt im kreativen Willen, und indem er ihren Umfang mit „allem, was unter einen unendlichen Intellekt fallen kann“ identifiziert, d.h. mit allem Denkbaren, scheint Spinoza Gott die Freiheit streitig zu machen. Mit Sicherheit bestreitet er alles, was auf eine Freiheit der Wahlentscheidung hinausläuft. Auf dieser Grundlage zu argumentieren hieße jedoch die Konzeption der Freiheit zu ignorieren, die Spinoza positiv bestätigt, und sich auf die sehr anthropomorphe Konzeption der Gottheit zu berufen, gegen die sich seine gesamte Analyse richtet. Frei zu sein heißt für Spinoza, nicht unterbestimmt, sondern selbstbestimmt zu sein (‚Ethik‘ I, 7. Def.). Gott, genau weil er aus 1702
Spinoza, Benedict de (1632-1677)
der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus handelt, ist vollkommen selbstbestimmt und deshalb vollkommen frei. Die Frage der Beziehung zwischen Gott, der auf diese Weise ‚konstruiert‘ ist, und den unendlich vielen Dingen oder Modi, die angeblich aus Gott auf unendlich viele Weisen folgen, und die vielleicht die zentrale Frage in Spinozas gesamter Metaphysik ist, wird sehr stark durch den Umstand kompliziert, dass Spinoza zwischen zwei radikal unterschiedlichen modalen Typen unterscheidet. Als Ausprägungen der einen Substanz sind beide Typen von Gott abhängig und folgen in gewissem Sinne aus ihm; sie tun dies jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Erstens gibt es jene Modi (Ausprägungen), die entweder direkt aus einem Attribut einer Substanz folgen, oder die aus einem Attribut folgen, das selbst eine direkte Folge ist. Diese werden als ‚unmittelbar‘ und als ‚mittelbare ewige und unendliche Modi‘ bezeichnet. Sie sind ewig und unendlich, weil sie (logisch) aus einem Attribut einer Substanz folgen, aber sie sind nicht ewig und unendlich auf dieselbe Weise wie die Substanz und ihre Attribute. Obwohl Spinoza uns sehr wenig über diese Modi in der ‚Ethik‘ mitteilt, wissen wir aus seiner Korrespondenz und der ‚Kurzen Abhandlung über Gott, den Menschen und sein Wohlergehen‘ (ca. 1660-1665), das die frühesten Erklärungen zu seinem System enthält, dass er ‚Bewegung‘ oder ‚Bewegung und Ruhe‘ und ‚Intellekt‘ oder ‚unendlicher Intellekt‘ als unmittelbar ewige und unendliche Modi in den Attributen der Ausdehnung und des Denkens betrachtete. Als ein Beispiel eines mittelbaren ewigen und unendlichen Modus erwähnt er nur das ‚Gesicht des gesamten Universums‘ (lat.: ‚facies totius universi‘), das er der Ausdehnung zurechnet. In Anbetracht der hochgradig schematischen und fragmentarischen Natur der überlieferten Darstellung dieser ewigen und unendlichen Modi ist jede Interpretation dieser Hinweise gewagt. Gleichwohl legen sowohl ihre systematische Funktion als Vermittler zwischen Gott oder der Substanz und den einzelnen Dingen in der Natur (die sog. ‚endlichen Modi‘) einerseits, als auch andererseits die Namen, die er für die ausgedehnten Modi wählte, nahe, dass er mit Letzteren am ehesten so etwas wie die fundamentalen Gesetze der Physik meinte. Tatsächlich kann man Spinozas Beschreibung der Bewegung und der Ruhe als einem jeweils ewigen und unendlichen Modus als seine Bemühung um Überwindung einer grundlegenden Schwierigkeit in der kartesischen Physik verstehen. Indem er die Materie mit der Ausdehnung identifizierte, konnte Descartes weder die Bewegung, noch die Teilung der Materie in unterschiedliche Körper ohne eine Berufung auf die göttliche Intervention erklären. Nach Spinozas Auffassung ist dies jedoch nicht notwendig, weil die ausgedehnte Substanz ihre Prinzipien in sich selbst trägt. Anders gesagt heißt dies, die Materie ist inhärent dynamisch, was eine Eigenschaft ist, die nicht innerhalb der kartesischen, rein geometrischen Physik erklärt werden kann. Das ‚Gesicht des gesamten Universums‘, das Spinoza mit der materiellen Natur insgesamt identifiziert, kann man auf ähnliche Weise nachvollziehen. Indem er behauptet, dass dies ein vermittelnder ewiger und unendlicher Modus der Ausdehnung ist, der direkt aus der Bewegung und der Ruhe folgt, impliziert Spinoza, dass das Verhältnis der Bewegung und der Ruhe in der körperlichen Natur insgesamt konstant bleibt, selbst wenn es eine kontinuierliche Bewegung in jeder gegeben Region des Raumes gibt. Dies ist ferner ein Äquivalent zu der Behauptung des Prinzips der Bewegungserhaltung, die ebenfalls ein grundlegendes Prinzip der kartesischen Physik 1703
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ist. Betrachtet man Spinozas Darstellung im Lichte der Physik des 17. Jahrhunderts, so hilft dies auch beim Verständnis seiner Lehre der endlichen Modi oder der Reihe der Einzeldinge, die üblicherweise als einer der problematischeren Aspekte seiner Metaphysik betrachtet wird. Das Problem ist hier, wie man sich die Beziehung zwischen der Reihe dieser Modi und Gott vorstellen soll. Wenn jemand davon ausgeht, dass diese wie die vermittelnden ewigen und unendlichen Modi indirekt aus den Attributen Gottes folgen, dann werden sie dadurch ebenfalls ewig und unendlich. Dies ist jedoch absurd, weil es das Wesen dieser Modi ist, vorübergehend zu sein. Wenn jemand allerdings bestreitet, dass sie aus Gott folgen, dann negiert man damit die Abhängigkeit aller Dinge von Gott, und damit auch Spinozas Monismus. Dann muss man jedoch erklären, wie die Einzeldinge und -erscheinungen, trotz ihrer Endlichkeit, von Gott abhängen und an der göttlichen Notwendigkeit teilhaben können. Spinozas Lösung dieses Dilemmas ist die Behauptung, dass die Reihe der endlichen Modi eine unendliche kausale Kette hervorbringt, wobei jeder endliche Modus sowohl Ursache, als auch Wirkung auf andere Einzeldinge ist, und zwar ad infinitum, während die gesamte Reihe, wenn man sie als Totalität betrachtet, von den Attributen Gottes und den ewigen und unendlichen Modi abhängt. In eine wissenschaftliche Terminologie gebracht heißt dies, dass jedes Sich-Ereignen in der Natur als der Schnittpunkt zweier sich kreuzender Erklärungslinien zu verstehen ist. Auf der einen gibt es eine Menge allgemeiner Gesetze, die für Spinoza logisch notwendig sind, weil sie aus den göttlichen Attributen folgen; auf der anderen Seite muss es eine Reihe von Vorbedingungen geben. Beide werden benötigt, um ein gegebenes Phänomen zu erklären, z.B. das Krachen eines Donners. Es ist klar, dass keine solche Erklärung ohne die Berufung auf die maßgeblichen physikalischen Gesetze zur Verfügung steht. Aber für sich selbst betrachtet sind diese Gesetze nicht ausreichend, um irgendetwas zu erklären. Es ist darüber hinaus notwendig, sich auf die jeweiligen vorausgehenden Bedingungen zu beziehen, im Falle unseres Beispiels auf den Zustand der Atmosphäre. Nimmt man aber diese Gesetze und den atmosphärischen Zustand zum Zeitpunkt t1 als gegeben, so ist es möglich, das Ereignis eines weiteren Donners zum Zeitpunkt t2 vorauszusagen. Und dies bedeutet, dass die Natur als ein durchgehend deterministisches System eingerichtet ist. Spinoza schließt hieraus: „In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges; sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur heraus bestimmt, auf eine gewisse Weise zu existieren und zu wirken“ (‚Ethik‘ I, 29. Lehrsatz). Doch infolge dieser Leugnung der Kontingenz wirft man ihm manchmal vor, den Determinismus mit der stärkeren These, die üblicherweise als ‚Notwendigkeitslehre‘ bezeichnet wird, zu verschmelzen, nach der die gesamte Naturordnung, d.h. die unendliche Reihe der endlichen Modi, nicht anders hätte angeordnet sein oder verlaufen können. Das Bedeutsame hieran ist, dass der Determinismus lediglich zur Folge hat, dass bei gegebenen Naturgesetzen und der Menge der entsprechenden Vorbedingungen jedes bestimmte Ereignis notwendig ist; dies lässt jedoch Bewegungsspielraum für die Kontingenz, denn es lässt die Möglichkeit einer jeweils abweichenden Menge von Vorbedingungen zu. Als Erwiderung hieraus könnte man zwischen einer Betrachtung einzelner endlicher Modi oder einer endlichen Menge von ihnen einerseits und der Gesamtheit solcher Modi andererseits unterscheiden. Erstere eliminieren die Kontingenz nicht, weil jeder einzelne Modus oder auch jede endliche Menge von Modi, wenn man 1704
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sie von der Gesamtheit abstrahiert, leicht als etwas gedacht oder vorgestellt werden kann, dass sich auch anders verhält. Dies kann man jedoch nicht von der Gesamtheit aller Reihen sagen. Da diese Reihen, wenn man sie als Gesamtheit auffasst, von Gott abhängen, könnten sie nicht anders verlaufen, ohne dass auch Gott anders wäre, was unmöglich ist. Das Problem ergibt sich hier aus der Idee, dass die Menge der Modi als einer Gesamtheit nach einer Erklärung oder Begründung ruft, die sich von der ihrer Bestandteile unterscheidet. Eine solche gedankliche Bewegung, d.h. die Behandlung einer Menge, als wäre sie ein Einzelgegenstand höherer Ordnung, wird normalerweise als ‚kategoriale Verwechslung‘ verworfen. Wenn dies aber ein Fehler ist, dann deshalb, weil Spinoza hierzu infolge seines Rationalismus neigt. Denn nichts könnte weniger spinozistisch sein als die Vorstellung, dass zwar Einzelereignisse erklärbar sind, die Naturordnung als Ganze jedoch nicht. Und weil für Spinoza der Nachweis der Einsehbarkeit von etwas bedeutet, dass man seine Notwendigkeit beweist, verpflichtet ihn diese Haltung zur Notwendigkeitslehre. 5. Der menschliche Geist, 1. Teil So wie das Ziel bzw. der Gegenstand des ersten Teils der ‚Ethik‘ der Dualismus Gottes und der geschaffenen Natur ist, so ist jenes des zweiten Teils der Dualismus von Geist und Körper. Statt jedoch mit Descartes zu behaupten, dass der Geist und der Körper zwei unterschiedliche Substanzen seien, die irgendwie zur Bildung eines Menschen zusammenkommen, behauptet Spinoza, dass sie ein einzelnes Individuum begründen, dass sich in den Attributen des Denkens und der Ausdehnung äußert. Weil die fundamentalen Ausprägungen des Denkens die Vorstellungen bzw. Ideen sind (andere Ausprägungen, wie z.B. die Wünsche und die Willensakte, setzen die Vorstellung als ihren Gegenstand voraus), während die Ausprägungen der Ausdehnung die Körper sind, bedeutet dies, dass der menschliche Geist eine Vorstellungsoder Ideengesamtheit ziemlich komplexer Art ist, und er zusammen mit seinem Korrelat oder Gegenstand in der Ausdehnung, dem Körper, ein einziges Ding bzw. einen Menschen begründet. Die große Attraktion dieser Ansicht ist, insbesondere wenn man sie sowohl dem Descartesschen Dualismus, als auch dem Hobbesschen reduktiven Materialismus gegenüberstellt, dass sie die Konzeption der Person als ein vereinheitliches Wesen mit korrelativen und irreduziblen geistigen und physischen Aspekten erlaubt (siehe Hobbes, T.). Leider mindert sich diese Attraktion beträchtlich infolge der ihr anhaftenden Undurchsichtigkeit. Wie kann der Geist mit einer Vorstellung oder Idee identifiziert werden, und sei es auch eine sehr komplexe? Und wie kann eine solche Vorstellung zusammen mit ihrem körperlichen Korrelat einen einzigen Gegenstand bilden? Der Ort, von wo aus mit der Überlegung zur Frage dieses schwer fassbaren Begriffs der spinozistischen Idee beginnen sollte, ist seine Definition der Idee als „ein Begriff des Geistes, den der Geist bildet, weil er ein denkendes (bewusstes) Ding ist“ (‚Ethik‘ II, 3. Def.). Wie er in seiner Ausführung dieser Definition durch die Unterscheidung zwischen Begriff und Wahrnehmung verdeutlicht, liegt die Betonung auf der Tätigkeit des Denkens. Zu sagen, der Geist habe die Idee von x, heißt zu sagen, dass er mit der Tätigkeit des Denkens von x befasst ist und nicht nur passiv dessen geistiges Bild sieht. Tatsächlich ist eine Idee für Spinoza in einem möglichen Sinne des Wortes genau die Denkhandlung. Dies hilft ferner, zumindest einen Teil des Mysteriums der Identifikation des Geistes mit einer Idee zu erhellen. Nach spi1705
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nozistischer Ansicht bedeutet dies, dass der Geist mit der für ihn typischen Tätigkeit des Denkens identisch ist, d.h. die Einheit des Geistes ist die Einheit seiner Tätigkeit. Als Denkakte können Ideen mit Überzeugungen identifiziert werden. Doch dies gibt nur eine Dimension von Spinozas Begriff der Idee wieder. Denn Überzeugungen haben einen Aussagegehalt, und dieser ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt jeder Idee. Kurz gesagt: Ideen haben sowohl psychologische, als auch logische oder erkenntnistheoretische Eigenschaften. Darüber hinaus wird Spinoza oft vorgeworfen, dass er diese beiden Aspekte durcheinander wirft. Doch war er sich dieses Unterschiedes und der Notwendigkeit, sie auseinander zu halten, wohl bewusst. Dies wird deutlich durch seine Berufung auf die scholastische Unterscheidung zwischen der ‚formalen‘ und der ‚objektiven Wirklichkeit‘ der Vorstellungen, die auch von Descartes in Anspruch genommen wurde. Erstere beziehen sich auf die psychologische Seite der Ideen als Denkhandlungen oder mentale Ereignisse, während sich die Letzteren auf ihre logische Seite oder ihren Aussageninhalt beziehen. Konstruiert man sie auf die erstere Weise, so haben die Ideen Ursachen, die aus der Sicht der sich selbst enthaltenden Natur eines jeden Attributs ebenfalls immer weitere Ideen sind. Konstruiert man sie auf die letztere Weise, so haben sie rationale Gründe, die auf ähnliche Weise immer andere Ideen sind. Spinoza unterscheidet sich jedoch von Descartes in seinem Verständnis der objektiven Wirklichkeit der Ideen. Für Descartes bezieht sich die Rede von der objektiven Wirklichkeit einer Idee, wie sie im Geist einer Person gegeben sind, auf diese Idee als intentionalen Gegenstand, dem ein ‚wirklicher‘ (d.h. geist-externer) Gegenstand entsprechen kann oder auch nicht. Für Spinoza dagegen ist die objektiv aufgefasste Idee genau ihr Gegenstand, d.h. ein der Ausdehnung korrespondierender Modus als Existenz im Denken. Dies folgt direkt aus Spinozas Geist-KörperMonismus, und wir werden sehen, dass diese bedeutsame Auswirkungen auf seine Erkenntnistheorie hat. 6. Der menschliche Geist, 2. Teil Unsere unmittelbare Sorge gilt nunmehr den Folgen dieser Konzeption der Ideen für Spinozas Beschreibung der Geist-Körper-Beziehung. Es besteht keine Frage, dass das Schlüsselmerkmal dieser Darstellung das folgende Prinzip ist: „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“ (‚Ethik‘ II, 7. Lehrsatz). Nimmt man diesen Satz für sich, so könnte man ihn als die Behauptung einer Parallele oder einer Isomorphie zwischen den beiden Ordnungen verstehen, wodurch die Möglichkeit erhalten bliebe, dass die Elemente, die in diesen Ordnungen enthalten sind, ontologisch verschieden sind, wie z.B. in der Leibnizschen ‚prästabilierten Harmonie‘ (siehe Leibniz, G.W., §§ 4-7). In den Erläuterungen im Anschluss an diesen Lehrsatz weist Spinoza jedoch darauf hin, dass seine Schlussfolgerung hieraus weiter reicht. Er erklärt nämlich, dass „das Denken und die ausgedehnte Substanz zu einer einzigen Substanz gehören, und folglich, dass die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, welche bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefasst werden“ (‚Ethik‘ II, Erl. zum 7. Lehrsatz). Mit anderen Worten, es gibt nicht zwei Reihen, nämlich eine der ausgedehnten Dinge und eine weitere der Ideen, sondern nur eine einzige Reihe oder endliche Modi, die man aus zwei Perspektiven betrachten oder auf zwei verschiedene Weisen beschreiben kann. Dies erhellt auch den Sinn, in dem 1706
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Spinoza eine Identität zwischen Geist und Körper behauptet. Mit der Behauptung, dass Geist und Körper dasselbe Ding bilden, sagt er nicht, dass es letztlich nur eine Eigenschaftsmenge gebe – wodurch er zu einem Reduktionisten á la Hobbes würde; vielmehr bestreitet er, dass die beiden Eigenschaftsmengen, oder besser gesagt die beiden Beschreibungen, zwei ontologisch unterschiedlichen Dingen zugeordnet werden können, wie Descartes dies tut. Obwohl der betreffende 7. Lehrsatz eine vollkommen allgemeine Behauptung über die Beziehung zwischen den Attributen des Denkens und der Ausdehnung, und auch über ihre entsprechenden Ausprägungen aufstellt, liefert er gleichwohl die metaphysische Grundlegung für Spinoza Fortgang von den Attributen des Denkens zu ihren interessantesten endlichen Ausprägungen, nämlich dem menschlichen Geist. Dieser Fortgang ist in gewisser Weise allerdings zirkulär, weil Spinoza in den nachfolgenden Lehrsätzen bei einigen anderen Themen verweilt, die dazu nicht recht passen wollen, wie z.B. beim Status der Ideen nicht-existenter Dinge. Aber die Hauptlinie der Gedankenführung ist dennoch klar. Als ein endlicher Modus des Denkens muss die Essenz des Geistes aus einer Idee bestehen. Weil der Geist selbst etwas Wirkliches ist, d.h. eine wirkliche Denkkraft, muss diese Idee die eines wirklich existierenden Dinges sein. Und weil dieses wirklich existierende Ding nur eine entsprechende Ausprägung der Ausdehnung, d.h. ein Körper, sein kann, so schließt Spinoza: „Der Gegenstand der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper, oder eine gewisse, tatsächlich existierende Daseinsform der Ausdehnung, und nichts anderes“ (‚Ethik‘ II, 13. Lehrsatz). Selbst wenn man Spinozas Prämissen akzeptiert und die Schlusskette damit zu der besagten Folge führt, wirft diese ‚Deduktion‘ des menschlichen Geistes als der Idee des Körpers zumindest zwei größere Fragen auf. Die eine ist die, wie man die Identifikation des Körpers als dem einzigen Gegenstand des Geistes mit der Fähigkeit des Geistes zur Erkenntnis und damit offenkundig von Vorstellungen von Dingen versöhnen kann, die etwas ganz anderes als das sind, mit dem sie identifiziert werden. Dies werden wir im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit Spinozas Erkenntnistheorie diskutieren. Die andere Frage lautet, wie wir auf dieser Grundlage die Bestimmtheit bzw. Besonderheit des menschlichen Geistes verstehen können. Wie Spinoza selbst in den Erläuterungen zum 13. Lehrsatz bemerkt, ist dieses Ergebnis ein vollkommen allgemeines, das genauso für Menschen wie für andere Einzelgegenstände gilt. Und indem er nebenbei hierauf eingeht, fügt er hinzu, dass diese anderen Einzelgegenstände alle belebt (lat.: animatus) seien, wenn auch in unterschiedlichem Grade. Legt man nunmehr die Prinzipien der spinozistischen Metaphysik zugrunde, so folgt daraus gewiss, dass es „in Gott“ eine Idee geben muss, die jedem Ausdehnungsmodus auf dieselbe Weise entsprechen muss, wie eine Idee des menschlichen Körpers diesem Körper entspricht. Deshalb dient die Behauptung, dass der menschliche Geist die Idee des Körpers ist, zur Bestimmung eines ontologischen Status. Daraufhin sind wir aber noch nicht in der Lage, seine spezifische Natur und seine spezifische Tätigkeit zu verstehen. Solange Spinozas Deduktion des Geistes dieses Ergebnis noch nicht herbeigeführt hat, kann auch nach seinen eigenen Maßstäben noch über den Erfolg des Unternehmens geurteilt werden. Darüber hinaus bringt er noch ein weiteres paradoxes Element ins Spiel, indem er nahe legt, dass alle Einzelgegenstände in der Natur in gewissem Umfange belebt seien. Dies ist insbesondere dann paradox, wenn man Spinoza so versteht, als behaupte er, dass 1707
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so etwas wie die Seele oder ein rudimentärer Geist allen Einzelgegenständen zugeschrieben werden müsse. Wenn man das lateinische Wort ‚animatus‘ im Sinne des deutschen Wortes ‚angeregt‘ versteht, kann die betreffende Paradoxie vielleicht etwas gemildert werden, wenn man die Bedeutung der Behauptung dahingehend versteht, dass alle Einzelgegenstände zumindest ‚physikalisch lebendig‘ seien. Wenn auch dies etwas bizarr anmutet, so wird es doch etwas plausibler, wenn man sich Spinozas Konzeption des Lebens vor Augen führt, die er im Anhang zu seinem früheren Werk ‚Descartes Prinzipien der Philosophie‘ darlegt. Dort definiert er das Leben als „die Kraft, durch die die Dinge in ihrem Sein beharren“. Da, wie wir noch sehen werden, Spinozas Lehre des Strebens auf der Behauptung aufbaut, dass jedes Ding, soweit es kann, nach Erhaltung seines Seins strebt, folgt hieraus, dass jedes Ding in diesem Sinne lebendig sei. Und von hier aus ist es vielleicht kein allzu großer Schritt mehr zu der Schlussfolgerung, dass jedes Ding eine Seele habe, und zwar im Sinne eines Prinzips der Belebtheit. Hieraus folgt nun allerdings keineswegs, dass alles ein geistiges Leben habe, das auch nur im entfernten Sinne dem ähnlich wäre, dessen sich der menschliche Geist erfreut. Damit obliegt es der spinozistischen Darstellung, die unterschiedlichen Belebtheitsgrade darzulegen und im Anschluss daran die Überlegenheit des menschlichen Geistes über den ‚Geist‘ anderer Dinge in der Naturordnung zu erklären. Und tatsächlich tut er dies auch, indem er sich auf die Natur des Körpers konzentriert. Im Wesentlichen lautet Spinozas Ansicht, dass die ‚Geisthaltigkeit‘ eine Funktion der organischen Komplexität sei; je größer die Fähigkeit eines Körpers durch das Vorhandensein eines Gehirns und eines zentralen Nervensystems sei, um mit seiner Umwelt wechselzuwirken, umso größer sei auch die Fähigkeit des Geistes, diese Umwelt zu erfassen. In einer Art spekulativer Biophysik versucht Spinoza also zu zeigen, dass ein menschlicher Körper tatsächlich ein höchst komplexer Einzelgegenstand ist, der in einem komplexen und reziproken Verhältnis mit seiner Umwelt steht. Obwohl diese Darstellung extrem rätselhaft ist, hat sie doch auch sehr suggestive Momente und weist in die Richtung einer Analyse der Phänomene des Lebens, die weit über das rohe mechanistische Denken der Kartesianer hinausgeht, für die der Körper lediglich eine Maschine ist. Und was vielleicht noch wichtiger ist: diese Darstellung liefert die theoretische Grundlage zur Lokalisierung des Bewusstseins und der rationalen Einsicht in einem Kontinuum geistiger Kräfte, die alle in einer strengen Korrelation zu physischen Fähigkeiten stehen, statt sie, wie Descartes, als einzigartige Eigenschaften einer gesonderten geistigen Substanz zu deuten. 7. Erkenntnistheorie, 1. Teil Obwohl Spinoza den erkenntnistheoretischen Fragen nicht jenen Vorrang zuweist, wie dies Descartes und die britischen Empiristen tun, vernachlässigt er sie doch keineswegs. Tatsächlich kann man seine Analyse der menschlichen Erkenntnis, die unmittelbar seiner Darstellung des Geistes folgt, als den Versuch des Beweises betrachten, wie der beschriebene menschliche Geist zu jener Art von Erkenntnis in der Lage ist, wie sie von der geometrischen Methode der ‚Ethik‘ vorausgesetzt wird. In Spinozas eigenen Worten bedeutet dies, dass der Gegenstand des Beweises nichts weniger als jener ist, dass der menschliche Geist zu adäquatem Wissen der ewigen und unendlichen Wesenheit von Gott imstande ist. 1708
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Da adäquates Wissen auf adäquaten Ideen aufbaut, muss Spinoza demonstrieren, dass der menschliche Geist solche Ideen besitzt. Er definiert die ‚adäquate Idee‘ folgendermaßen: „Unter einer vollentsprechenden (adäquaten) Idee verstehe ich eine Idee, die, an sich und ohne Beziehung zum Objekt betrachtet, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat“ (‚Ethik‘ II, 4. Def.). Der Ausdruck ‚inneres (Merkmal)‘ hat hier die Funktion, die äußeren Merkmale einer wahren Idee auszuschließen, nämlich ihre Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand. Spinozas Ansicht ist daher, dass ‚wahr‘ und ‚adäquat‘ wechselseitig bedingende Begriffe sind: alle adäquaten Ideen sind auch wahr, d.h. stimmen mit ihrem Gegenstand überein, und alle wahren Ideen sind auch adäquat, d.h. hinreichend zur Auffassung des Gegenstandes. Ferner versetzt ihn dies in die Lage, den radikalen Zweifel betreffend unsere evidentesten Begriffe zu verwerfen, wie er von Descartes aufgeworfen wurde, den dieser bekanntlich nur durch die ausdrückliche und zirkuläre Berufung auf Gott als den Garanten der Wahrheit überwinden kann. Da die Adäquatheit ein inneres Merkmal aller wahren Ideen ist, dient sie als das Kriterium der Wahrheit. Jemand, der eine wahre Idee hat, erkennt diese folglich unmittelbar als solche, und der kartesische Zweifel ist damit ausgeräumt. Spinoza sagt dies selbst in für ihn ungewöhnlicher Eleganz: „Fürwahr, wie das Licht sich selbst und auch die Finsternis offenbart, so ist die Wahrheit das Kennzeichen ihrer selbst und des Falschen“ (‚Ethik‘ II, Erl. zum 43. Lehrsatz). Die innere Eigenschaft, durch die die Wahrheit sich selbst offenbart, ist ihre explanatorische Vollständigkeit. Eine Idee von x ist daher adäquat und folglich auch wahr genau dann, wenn sie zur Bestimmung aller anderen wesentlichen Eigenschaften von x ausreicht. Beispielsweise ist die Idee eines Mathematikers von einem Dreieck adäquat, weil alle mathematisch relevanten Eigenschaften der Figur von ihr abgeleitet werden können. Umgekehrt ist die Konzeption eines Dreiecks durch jemanden, der von Mathematik nichts versteht, inadäquat, weil er nicht in der Lage ist, solche Konsequenzen zu ziehen. Hieraus folgt jedoch nicht, dass inadäquate Ideen einfach falsch seien. Im Gegenteil, da jede Idee mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, muss jede Idee in gewissem Sinne auch wahr sein: „Alle Ideen sind wahr, sofern sie auf Gott bezogen werden“ (‚Ethik‘ II, 32. Lehrsatz). Irrtum oder Falschheit entstehen, weil nicht jede Idee, die ein menschlicher Intellekt besitzt, durch diesen Intellekt mit Gott in Verbindung steht, d.h. als ein bestimmtes Mitglied eines ideellen Gesamtsystems zu verstehen ist. Mit anderen Worten, Irrtum oder Falschheit sind eine Funktion der unvollständigen Auffassung oder der partiellen Wahrheit, die irrtümlich für vollständig genommen wird. Spinoza illustriert diesen Punkt durch ein Beispiel, das schon von Descartes verwendet wurde, nämlich der eingebildeten, nicht-wissenschaftlichen Idee der Sonne als eine Scheibe, die einige hundert Meter über uns am Himmel befestigt sei. Diese Idee ist in dem Umfange ‚wahr‘, als sie als eine präzise Repräsentation dessen erscheint, wie uns die unter bestimmten Bedingungen erscheint. Weil sie auf diese Weise aber nur von jemandem missverstanden werden kann, der von Optik und Astronomie nichts versteht, ist die Idee dieser Person falsch in dem Sinne, dass sie unzureichend oder unvollständig ist. Sie ist jedoch nicht im kartesischen Sinne ‚materiell‘ falsch, dass es nichts im Reich der Ausgedehntheiten gäbe, war ihr entspräche.
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Dieser Unterscheidung zwischen inadäquaten und adäquaten Ideen entspricht ihr Gegensatz zwischen zwei gegenseitig ausschließlichen Arten, auf die Ideen im Geist miteinander verbunden sein können: entweder im Wege der ‚allgemeinen Naturordnung‘, oder im Wege der ‚Ordnung des Intellekts‘. Erstere bezieht sich auf die Ordnung, in der der menschliche Geist die Ideen in seiner Sinneswahrnehmung oder durch vorgestellte Verbindungen davon empfängt. Da diese exakt der Ordnung entsprechen, in der der Körper von den Gegenständen dieser Ideen affiziert wird, spiegeln sich in ihr die Bedingungen des Körpers zu Interaktion mit seiner Umgebung, und nicht die wahre Natur einer unabhängigen Wirklichkeit. Und hieraus schließt Spinoza, dass alle diese Ideen inadäquat seien. Tatsächlich, so macht er geltend, sei der Geist, insofern seine Ideen diese Ordnung widerspiegeln oder, was auf dasselbe hinausläuft, auf der Sinneswahrnehmung oder der Vorstellungskraft beruhen, zu adäquatem Wissen weder der äußeren Gegenstände in der Natur, noch seines eigenen Körpers, und nicht einmal von sich selbst in der Lage. Spinoza behauptet jedoch auch, dass adäquates Wissen von allen dreien dieser Gegenstandsarten insofern möglich sei, wie der Geist die Dinge entsprechend der Ordnung des Intellekts erfasse, d.h. in der wahren Ordnung der logischen und kausalen Bedingtheit, die wiederum genau der Grund dafür sei, warum die richtige Methode so wesentlich sei. 8. Erkenntnistheorie, 2. Teil Das zentrale Problem der spinozistischen Erkenntnistheorie ist es daher zu erklären, wie die Begriffsbildung entsprechend der Ordnung des Intellekts dem menschlichen Geist überhaupt möglich ist. Dies ist ein Problem, weil die Möglichkeit einer solchen Konzeption schon durch den ontologischen Status des Geistes als der Idee des Körpers ausgeschlossen zu sein scheint. Denn wie kann ein Geist, so betrachtet, irgendwelche Ideen haben, die nicht die Bedingungen seines Körpers wiedergeben? Der Kern von Spinozas Antwort hierauf lautet, dass es gewisse Ideen gebe, die der menschliche Geist vollständig besitze, und die er daher adäquat denken könne, weil sie, anders als die Ideen, die der Sinneswahrnehmung oder der Vorstellungskraft entspringen, nicht von Ideen einzelner Ausprägungen des Körpers abhängen oder diese erfordern. Spinozas Lehre ist an diesem Punkte besonders dunkel. Vielleicht nähert man sich ihr am besten durch ihren Vergleich mit der Lehre der angeborenen Ideen, auf die sich bereits Descartes und später auch Leibniz gerne bezogen, um mit ähnlichen Problemen fertig zu werden. Wie Spinoza meinten sie, dass die sinnliche Erfahrung nicht die Möglichkeit der Erkenntnis notwendiger und universaler Wahrheit hervorbringen kann. Stattdessen behaupteten sie, dass die Quelle solcher Erkenntnis im Geist liegen und dessen eigentliche Struktur wiedergeben muss. Dies sollte man allerdings nicht im naiv-psychologischen Sinne missverstehen, so als würde schon ein Baby mit dem Wissen der grundlegenden Prinzipien der Mathematik geboren. Stattdessen wurden die angeborenen Ideen eher als Dispositionen betrachtet, die wesentlich zum menschlichen Geist gehören, derer sich die Menschen aber nicht notwendig bewusst sind. Obwohl Spinozas Darstellung des Geistes als der Idee des Körpers die Unterscheidung ausschließt, die Descartes zwischen angeborenen und zufällig erworbenen Ideen zieht, d.h. zwischen denen, die vom Geist selbst abstammen und jenen, die aus der Sinneserfahrung in ihn dringen, steht ihm doch eine analoge Unterscheidung 1710
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zur Verfügung, die in gewisser Weise zum gleichen Ergebnis führt. Dies betrifft die Unterscheidung zwischen Ideen, die mit bestimmten Merkmalen körperlicher Einzelgegenstände korreliert sind, und denen, deren Korrelate allen Körpern oder zumindest einem großen Teil von ihnen gemein sind. Letztere Gruppe zerfällt wiederum in zwei Klassen, entsprechend den beiden Ebenen der Allgemeinheit, die Spinoza als ‚allgemeine Begriffe‘ und ‚adäquate Ideen der allgemeinen Eigenschaften von Dingen‘ bezeichnet. Ihr auszeichnendes Merkmal ist es, dass sie nicht aus dem Zusammentreffen mit einem bestimmten Gegenstand resultieren. Dies wiederum versetzt Spinoza in die Lage zu behaupten, dass der Geist sie in ihrer Gesamtheit besäße und sie folglich adäquat begreife. Leider liefert er jedoch keine Beispiele auch nur von einer der beiden Klassen adäquater Ideen. Es scheint jedoch vernünftig anzunehmen, dass die gemeinsamen Begriffe sich auf die Axiome der Geometrie und die ersten Prinzipien der Physik beziehen, die in der Tat allen Körpern gemeinsam sind. Weil die adäquaten Ideen der gemeinsamen Eigenschaften von Dingen denjenigen Eigenschaften entsprechen, die auch auf den menschlichen und andere Körper zutreffen, von denen sie affiziert werden (‚Ethik‘ II, 39. Lehrsatz), ist es wahrscheinlich, dass Spinoza sich hierbei auf die grundlegenden Prinzipien der Biologie oder vielleicht auch der Physiologie bezieht. In jedem Falle ist der entscheidende Punkt hier, dass die Gemeinsamkeit aller dieser Ideen den menschlichen Geist in die Lage versetzt, sie vollständig zu erfassen, womit er die Voraussetzung für ihre adäquate Erkenntnis erfüllt. Die erkenntnistheoretischen Lehren der ‚Ethik‘ erreichen ihren Höhepunkt in der Unterscheidung zwischen drei Arten von Erkenntnis (‚Ethik‘ II, 40. Lehrsatz, 2. Erl.). Die erste ist eine empirisch bestimmte Erkenntnis, die entweder auf der Wahrnehmung von Einzeldingen oder auf Zeichen beruhen kann, was für Spinoza sowohl sinnliche, als auch erinnerte Bilder einschließt. Die zweite ist die Erkenntnis durch die Vernunft, die auf den allgemeinen Begriffen und Ideen der gemeinsamen Eigenschaften der Dinge aufbaut. Da die erste Erkenntnisform inadäquate Ideen zur Folge hat und die zweite adäquate, ist dies genau der Gegensatz, den wir bereits erwartet haben. An diesem Punkte führt Spinoza jedoch gänzlich unerwartet eine dritte Art von Erkenntnis ein, die er als ‚intuitive Erkenntnis‘ (lat.: ‚scientia intuitiva‘) bezeichnet, und die angeblich aus einer adäquaten Idee der formalen Wesenheit gewisser Attribute Gottes hin zu einer adäquaten Erkenntnis des Wesen der Dinge‘ folgt. Er versucht auch, den Unterschied zwischen allen drei Erkenntnisformen zu erhellen, indem er ihre jeweilige Behandlung des Problems, eine Dreisatzaufgabe zu lösen, vergleicht. Jemand mit der ersten Art von Wissen wird so verfahren, dass er mit Daumenregeln vorgeht, dabei die zweite mit der dritten Variablen der Dreisatzaufgabe multipliziert und das Produkt dann durch die erste Variable dividiert, wodurch er zu einer korrekten Antwort gelangt, ohne das zugrunde liegende Prinzip wirklich verstanden zu haben. Jemand mit der zweiten Wissensart versteht das Prinzip und ist daher in der Lage, das Ergebnis aus der gemeinsamen Eigenschaft von Verhältniszahlen abzuleiten, wie dies bereits durch Euklid erkannt wurde. Jemand, der die dritte Art von Wissen hat, wird jedoch sofort das Ergebnis erfassen, ohne eine Regel anwenden zu müssen oder sich auf einen Prozess des Schlussfolgerns verlassen zu müssen. Obgleich sowohl die Vernunft, als auch die Intuition Quellen des adäquaten Wissens sind, erkennt Spinoza doch an, dass die Intuition in zweierlei Hinsicht über1711
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legen ist. Erstens: Während die Region der Vernunft die allgemeinen Wahrheiten betrifft, die auf gemeinsamen Begriffen beruhen und daher abstrakt und generell sind, betrifft die Intuition den Einzelfall und ist folglich konkret und spezifisch. Dieser Unterschied ist kein zentrales Element der spinozistischen Erkenntnislehre, sie spielt jedoch eine bedeutende Rolle in seiner praktischen Philosophie. Zweitens: Eine bedeutendere Rolle spielt der Umstand, dass das Wissen auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien letztlich unbegründet ist. Entsprechend ist der Status eines solchen Prinzips selbst fraglich, wie man auch an Spinozas Beispiel sieht, selbst wenn die Schlussfolgerung korrekt aus dem Prinzip abgeleitet wird. Innerhalb des Rahmens von Spinozas Metaphysik kann diese Frage deshalb nur gelöst werden, wenn man sie auf dem Prinzip der Natur Gottes aufbauend beantwortet, und dies ist es vermutlich, was das intuitive Wissen leisten soll. Wenn unser Wissen von den Dingen auf der ewigen und unendlichen Wesenheit Gottes aufbaut, so setzt dies offenkundig ein Wissen dieser Essenz voraus. Doch selbst für einen Rationalisten wie Descartes übersteigt eine solche Einsicht bei weitem die Fähigkeiten des menschlichen Intellekts. Dies gilt jedoch nicht für Spinoza, wenn man seine einzigartige Konzeption Gottes betrachtet. Weil es „in der Natur der Vernunft liegt, die Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten“ (‚Ethik‘ II, 44. Lehrsatz), und weil die Betrachtung der Dinge auf diese Weise heißt, sie in Beziehung auf Gott zu denken, schließt Spinoza letztlich, dass in dem Umfange, wie der Geist eine adäquate Idee überhaupt von irgendetwas habe, dies eine adäquate Idee von Gott sein müsse. Und weil es vermutlich der Fall ist, dass der menschliche Geist irgendetwas weiß, d.h. irgendeine adäquate Idee hat, folgt daraus ferner, dass der Geist eine adäquate Idee von Gott hat. Obwohl dies ursprünglich extrem paradox erscheint, verliert sich dieser Eindruck etwas, wenn man sich die Konzeption Gottes bei Spinoza vor Augen führt. 9. Die Ergriffenheit Nirgends wird Spinozas einzigartige Kombination von Rationalismus und Naturalismus deutlicher als in seiner Lehre von den Gefühlen, die der Gegenstand des dritten Teils der ‚Ethik‘ ist. Indem er sich hier auf die Konzeption des Geistes als die Idee des Körpers beruft, definiert er die Ergriffenheit bzw. die Affekte (lat.: ‚affectiones‘, beide Ausdrücke werden hier synonym gebraucht) folgendermaßen: „Unter Affekt verstehe ich die Erregungen unseres Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen eben dieses Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Erregungen“ (‚Ethik‘ III, 3. Def.). Die Affekte stehen daher in direktem Zusammenhang mit der Handlungsfähigkeit des Körpers oder dem Vitalitätsniveau, und sie haben sowohl eine psychologische, als auch eine physiologische Seite. In Anbetracht der Identität von Geist und Körper werden diese Aspekte als Ausdruck derselben Sache gesehen. Daher sind der bewusste Wunsch nach einem Gegenstand und eine entsprechende körperliche Begierde derselbe Zustand, bloß jeweils aus der Sicht als Denkattribut und als Ausdehnungsattribut betrachtet. Neben anderen Dingen schließt Spinozas Konzeption des Geistes die Annahme einer davon verschiedenen Willenskraft aus, durch die der Geist die Kontrolle über die körperlichen Begierden ausüben kann. Genau genommen gibt es gar nichts, was außer den Ideen zum Geist gehört, d.h. dort gibt es nur Denkakte. Aber diese Ideen 1712
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haben sowohl eine konative oder willentliche und affektive, als auch eine kognitive Dimension. Mit anderen Worten, ein Idee von x zu haben heißt nicht nur, eine Überzeugung oder Aussageeinstellung (siehe Propositionale Einstellungen) im Hinblick auf x zu haben, sondern auch eine Art von Bewertungseinstellung, nämlich dafür oder dagegen zu sein. Darüber hinaus kann Spinoza durch das Bestreiten des Willens die Schlussfolgerung vermeiden, dass der Geist machtlos ist, was ihn zu einem passiven Beobachter der körperlichen Begierden machen würde. Der Geist ist für Spinoza insofern aktiv, als er die ‚adäquate‘, d.h. hinreichende Ursache seiner Zustände ist; und dies ist wiederum der Fall in dem Umfange, wie er adäquate Ideen besitzt, d.h. insofern seine Wünsche und folglich seine Entscheidungen auf rationalen Überlegungen gegründet sind, beispielsweise, wenn er Appetit auf bestimmtes Essen hat, weil er weiß (und das ist die adäquate Idee), dass dies nahrhaft ist. Umgekehrt ist er passiv, wenn seine Wünsche inadäquate Ideen widerspiegeln, die mit der Sinneswahrnehmung und den Vorstellungen verbunden sind. Aber abgesehen davon, ob der Geist nun aktiv oder passiv ist, ist seine Bewertungseinstellung immer ein Ausdruck seines Strebens, was identisch ist mit der ‚Anstrengung‘ einer jeden Sache, ihr eigenes Sein aufrecht zu erhalten. Diese Anstrengung gehört zur Natur eines jeden endlichen Modus. Aber beim Menschen, der sich dieser Bemühung bewusst ist, wird sie zum Wunsch nach Selbsterhaltung. Spinoza ist sich daher mit Hobbes hinsichtlich des Begehrens als der grundlegenden Bewegkraft des menschlichen Verhaltens einig. Aber statt dies aus der Beobachtung zu schließen, leitet er diese Überzeugung aus dem ontologischen Status der Menschen als endliche Modi ab. Dies erlaubt ihm nicht nur zu bestätigen, dass dieser Wunsch tatsächlich grundlegend für die Menschen ist, sondern auch, dass er ihren eigentlichen Wesenskern darstellt. Daraus folgt, dass man genauso wenig dagegen tun kann, dass jemand nach seiner Selbsterhaltung strebt, wie man etwas dagegen tun kann, dass ein Stein hinunterfällt, wenn man ihn hochhält und loslässt. Vielleicht unter dem Einfluss von Hobbes identifiziert Spinoza auch diese Bemühung um Selbsterhaltung seiner Existenz mit dem Streben nach größerer Vollkommenheit, sofern man sie als erhöhte Handlungsfähigkeit versteht. So wie schon Hobbes darauf bestand, dass der einzelne Menschen ständig um eine Erhöhung seiner Macht besorgt ist, weil er sich nie sicher sein kann, dass sie zur Selbsterhaltung bereits ausreicht, so behauptet auch Spinoza, dass die Bemühung eines Organismus zur Erhaltung seiner Existenz identisch sei mit seiner Anstrengung zur Erhöhung seiner Handlungsmacht oder des Niveaus seiner Lebenskraft. Dies sei so, weil alles, was die Lebenskraft eines Organismus schwäche, auch seine Fähigkeit zur Selbsterhaltung verringere, während alles, was diese Kraft erhöhe, auch diese Fähigkeit stärke. Die so genannten ‚primären Affekte‘ (Lust, Schmerz und Begehren) entsprechen dem Übergang von einem Vollkommenheitszustand oder Niveau an Lebenskraft zu einem anderen. Daher definiert er die Lust oder die Freude (lat.: ‚laetitia‘) als den Affekt, durch den der Geist zu einem Zustand größerer Vollkommenheit aufsteigt, und Schmerz und Sorge (lat.: ‚tristitia‘) als jene Affekte, durch die man auf dieser Skala hinabsteigt. Beide sind Ausdruck der Veränderungen, die im Organismus durch die Wechselwirkung mit seiner Umgebung zustande kommen. Obwohl ein spezielles Begehren direkt mit der Lust verbunden ist, ist das Begehren doch noch ein von der Lust gesonderter, primärer Affekt, weil das Begehren nach einem 1713
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bestimmten Gegenstand, der als Quelle der Lust gesehen wird, etwas anderes als die Lust selbst ist. Der größte Teil des dritten Teils der ‚Ethik‘ ist dem Beweis gewidmet, wie die anderen Affekte von den primären mittels Kombination und Assoziation mit anderen Ideen abgeleitet werden können. Im Zentrum dieses Vorhabens steht die These, dass die Lust, der Schmerz und das Begehren in einem Verhältnis zu gegenwärtigen Gegenständen stehen, die diese Affekte des Körpers hervorrufen, und denen damit auch die entsprechenden Affekte als Ideen entsprechen. Folglich sind die abgeleiteten Affekte allesamt Arten oder Kombinationen der Lust, des Schmerzes oder des Begehrens, die sich auf verschiedene Weise entweder auf Gegenstände richten, die nicht gegenwärtig affektiv auf den Körper einwirken, oder auf solche Gegenstände, die nicht selbst direkte Ursache solcher Affekte sind. Beispielsweise werden Liebe und Hass entsprechend als Lust und Schmerz definiert, die mit der Idee einer äußeren Ursache einhergehen. Ganz ähnlich ergeben sich Hoffnung und Angst hieraus als Lust und Schmerz, die unter Bedingungen der Ungewissheit entstehen, wenn das Bild irgendeines vergangenen oder künftigen Gegenstandes mit einem Ergebnis verknüpft ist, das fraglich ist. Diese Analyse wird von Spinoza mit bemerkenswerter Raffinesse durchgeführt. Unter anderem beweist er, wie die Uneindeutigkeit möglich ist, und wie der Geist im Wege verschiedener Assoziationsformen zur Empfindung von Liebe, Hass, Hoffnung oder Angst gegenüber Dingen kommen kann, hinsichtlich derer er gar keinen direkten Wunsch und auch keine Abneigung hegt. Der springende Punkt ist jedoch, dass diese Affekte ähnlich allen anderen Dingen in der Natur nicht willkürlich entstehen, sondern im Einklang mit den universalen und notwendigen Gesetzen. Doch diese Gesetze betreffen den Geist nur insofern, als er passiv ist, d.h. insofern seine Ideen inadäquat und damit nur eine partielle und damit inadäquate Ursache seiner Affekte sind. Nach dieser etwas langatmigen Darstellung der passiven Affekte oder Leidenschaften (Passionen) wendet sich Spinoza folglich kurz den aktiven Affekten zu, die mit den adäquaten Ideen verknüpft sind. Von den drei primären Affekten haben nur das Begehren und die Lust eine aktive Form, weil nur sie auf adäquaten Ideen aufbauen. Das aktive Begehren wurde bereits beschrieben; dies ist einfach der rationale Wunsch. Die aktive Lust ist eine Begleiterscheinung aller adäquaten Erkenntnis; denn wenn der Geist etwas adäquat erkennt, so ist er sich dessen notwendig bewusst, und damit auch seiner eigenen Kraft oder Tätigkeit. Und es ist das Bewusstsein seiner Aktivität und nicht die Natur des erkannten Gegenstandes, das die Quelle der Lust ist. Und weil der Schmerz oder die Sorge eine Verringerung der geistigen Handlungskraft (und damit der adäquaten Ideen) anzeigen, schließt Spinoza abschließend, dass dies niemals das Ergebnis dieser Tätigkeit sein kann, sondern immer das Resultat des inadäquaten Wissens und der Bestimmung des Geistes durch äußere Kräfte sein muss. 10. Moraltheorie, 1. Teil Spinozas Moraltheorie geruht auf seiner Analyse der Affekte und ist mit derselben gefühlskalten Abgehobenheit formuliert wie schon die übrige ‚Ethik‘. In scharfem Kontrast zu den jüdisch-christlichen Moralisten und ihren säkularen Gegenfiguren schlägt er weder eine Menge von Verpflichtungen vor, noch eine Liste von Handlungen, mit deren Vornahme jemand moralisch als gut zu bezeichnen wä1714
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re und ihre Unterlassung folglich als moralisch schlecht. Alle solche moralischen Systeme und Begriffe beruhen nach seiner Auffassung auf inadäquaten Ideen, insbesondere der Idee des freien Willens und der Finalursachen. Stattdessen geht es ihm um die Bestimmung der Mittel und den Umfang ihres Einsatzes, mit denen Menschen als endliche Modi in der Lage sind, die Freiheit zu erreichen, wobei mit Freiheit die Fähigkeit zum Handeln im Gegensatz zur reinen Lenkung durch die Passionen gemeint ist. Die Moral im traditionellen Sinne wird damit durch eine Art von Therapie ersetzt, die ein Grund dafür ist, warum Spinoza häufig mit Freud verglichen wird. Am Begriff der Tugend hält er fest, gibt ihm jedoch seine ursprüngliche Bedeutung als Kraft oder Macht (lat.: potentia) wieder, die ihrerseits im Lichte der Konatus-Lehre als die Kraft zur Erhaltung des eigenen Seins verstanden wird. Im selben Geiste identifiziert er das Gute mit dem, was in dieser Hinsicht wirklich nützlich ist, und als das Schlechte, was ihr wirklich schadet. Trotz seines Amoralismus setzt Spinoza nicht die Tugend mit der Fähigkeit zum Überleben oder das Gute mit dem, was im engeren Sinne das Eigeninteresse einer Person ausmacht, gleich. Es geht ihm nicht nur um das reine Leben, sondern um das gute Leben. Und dies verlangt, dass man aktiv ist, d.h. dass man im weitestgehend möglichen Sinne die adäquate Ursache seines eigenen Zustandes ist. Und weil die adäquate Ursache eine Funktion der adäquaten Ideen ist, entspricht die Tugend direkt dem Wissen. Das Wissen spielt in diesem Schema Spinozas jedoch eine doppelte Rolle. Sie ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen die Leidenschaften, weil wir nur durch das Verständnis unserer Leidenschaften und ihrer Ursachen verstehen, dass wir in der Lage sind, in gewissem Umfange die Kontrolle über sie zu erlangen. Das Wissen trägt aber auch selbst zum guten Leben bei, weil sich unsere Freiheit wesentlich durch den Gebrauch der Vernunft zeigt. Andererseits macht sich Spinoza keine Illusionen über den Umfang der Kräfte der Vernunft. Die menschliche Tugend oder Vollkommenheit sind nur relativ, und ihre Erreichung ist eine seltene und schwierige Heldentat. Deshalb beschäftigen sich die ersten achtzehn Lehrsätze des vierten Teils der ‚Ethik‘, der bedeutsamerweise den Titel ‚Von der menschlichen Knechtschaft oder von der Macht der Affekte‘ trägt, mit den Grenzen der Macht der Vernunft in ihren Konflikten mit den Leidenschaften. Grundlegend ist hier, dass die Kraft als endlicher Modus, durch die die Menschen sich um die Erhaltung ihres Seins bemühen, in unendlichem Umfange durch andere Kräfte der Natur überboten wird und sie deshalb, zumindest in gewissem Maße, immer auch Leidenschaften mit sich bringen. Darüber hinaus hat das Wissen an sich selbst keine Motivationskraft, sondern nur, insofern es auch Affekte produziert. Nun ist Wissen für Spinoza tatsächlich ein Affekt, denn alle Ideen haben bei ihm eine affektive Komponente, d.h. sie besitzen eine gewisse Bewegkraft. Er versucht jedoch mittels einer komplizierten Psychodynamik zu zeigen, dass sogar noch die affektive Komponente einer adäquaten Idee streng begrenzt ist und leicht durch andere, inadäquate Ideen überwunden werden kann, was der Grund dafür ist, warum rationale Wünsche, die auf einem Wissen wirklicher Vorteilhaftigkeit beruhen, oft genug durch irrationales Verlangen verdrängt werden. Nach dieser Analyse der menschlichen Schwäche wendet sich Spinoza der Frage zu, was die Vernunft mit ihrer beschränkten Macht überhaupt vorschreiben kann. Die grundlegende Antwort hierauf lautet natürlich, dass dies das Wissen ist, und in Anbetracht von Spinozas Metaphysik und Erkenntnislehre bedeutet dies letztlich 1715
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das Wissen von Gott. Daher schließt er: „Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend des Geistes: Gott zu erkennen“ (‚Ethik‘ IV, 28. Lehrsatz). An diesem Punkte nimmt die Diskussion jedoch eine überraschende Wende, durch die sowohl die Komplexität von Spinozas Denken, als auch die innere Spannung darin sichtbar wird. Denn während sein dürrer Intellektualismus das Bild eines isolierten, sozial desintegrierten Denkers zeichnet, der sich ausschließlich dem Leben des Geistes hingibt, wird hier nun plötzlich der wesentlich soziale Charakter der menschlichen Existenz betont. Für Spinoza, für schon für Aristoteles, sind Menschen soziale Tiere; und das Leben, das man unter der Führung der Vernunft verbringt, ist zumindest in gewissem Umfange ein soziales Leben (siehe Aristoteles, § 22). Dies sei nicht etwa deshalb der Fall, weil Menschen innerlich altruistisch gesonnen seien, sondern weil sie als relativ beschränkte und schwache endliche Modi unvermeidlich voneinander abhängen. So argumentiert Spinoza also, dass jene, die unter der Führung der Vernunft leben, nicht für sich begehren, was sie nicht auch für andere begehren (‚Ethik‘ IV, 37. Lehrsatz). Damit erweist er sich zweifellos als einer von jenen zur Idealisierung neigenden Menschen, die ihr Leben dem Geist widmen. Insofern diese Hingabe rein ist – was aber niemals vollständig der Fall sein kann –, werden solche Menschen nicht mit anderen in Konflikt geraten, weil das Lebensgut, das sie suchen, nämlich das Wissen, gemeinsam besessen werden kann. Tatsächlich werden die echten Wahrheitssucher nicht nur nicht miteinander konkurrieren, sondern sie werden sogar kooperieren. Denn durch die Hilfe gegenüber anderen beim Wissenserwerb und der Kontrolle der Leidenschaften, die damit einhergeht, hilft man sich auch selbst. Und obwohl nur Wenige in gewissem Umfange zu einem Leben unter der Führung der Vernunft und zu einem adäquaten Begreifen dieser Wahrheit und ihrer Verinnerlichung imstande sind, ist doch der Bedarf an Kooperation bei allen vorhanden. Denn alle sind Mitglieder derselben menschlichen Gemeinschaft voneinander abhängiger Wesen. 11. Moraltheorie, 2. Teil Spinozas Darstellung der spezifischen Tugenden spiegelt seine allgemeinen Prinzipien wieder. Diese Tugenden identifiziert er mit gewissen Affekten oder emotionalen Zuständen, und ihren Wert betrachtet er als Funktion ihrer Fähigkeit zur Förderung des Konatus (Strebens) beim einzelnen Menschen. Zu diesem Zweck teilt er die Affekte in drei Klassen ein: jene, die an sich selbst gut sind und niemals übertrieben werden können (die Tugenden); jene, die an sich selbst schlecht sind; und eine große Gruppe, die in gemäßigter Form gut ist, doch schlecht, wenn sie exzessiv zur Anwendung kommt. Durch die Identifikation der Tugenden mit den Affekten, die niemals zu stark auftreten können, unterscheidet sich Spinoza von Aristoteles, für den die Tugenden das Mittel zwischen zwei Extrema sind. Aus der Gruppe der tugendhaften Affekte ragen die Lust oder das Vergnügen heraus. Weil dies im Attribut des Denkens eine Erhöhung der körperlichen Aktionskräfte zur Folge hat, kann dieser Affekt niemals schädlich sein. Dies gibt Spinozas Denken eine stark anti-asketischen Färbung, die in scharfem Gegensatz zur calvinistischen Enthaltsamkeit vieler seiner Landleute steht. Dennoch ist es sehr wichtig, zwischen echtem Vergnügen, das ein Ausdruck des Wohlergehens des betroffenen Organismus als Ganzem ist, und dem ‚Kitzeln‘ (lat.: ‚titillatio‘) oder der örtlichen Lust zu unterscheiden, die nur für die Lust eines Körperteils steht. Obwohl auch 1716
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Letzteres gut sein kann, kann es doch genauso gut auch schädlich sein. Andere Affekte in dieser gemischten Kategorie umfassen die Fröhlichkeit und das Selbstwertgefühl. Im letzteren Falle ist die Schlüsselfrage, ob der Affekt vernünftig begründet ist oder nicht. Der Stolz oder das Selbstwertgefühl ohne jede rationale Grundlage ist offenkundig schädlich und muss unter allen Umständen vermieden werden. Insofern das Selbstwertgefühl aber das Ergebnis einer adäquaten Idee der eigenen Kräfte ist, stellt sie das Höchste dar, worauf wir nur hoffen können, denn dann ist es schließlich das Bewusstsein der eigenen Tugend. Vielleicht zeigt dies noch mehr als seine Antiaskese, wie viel näher Spinoza dem klassischen Ideal des tugendhaften Lebens näher ist als der traditionellen religiös begründeten Moral. Neben dem Schmerz weist Spinoza dem Hass einen ersten Platz unter den an sich selbst schädlichen Affekten zu. Eng verbunden mit dem Hass und von ihm ähnlich abwertend qualifiziert sind die Affekte wie z.B. der Neid, der Hohn, die Verachtung, der Zorn und die Rachegefühle. Diese könnte man als die sozialen Laster bezeichnen, denn sie dienen der Entfremdung der Menschen voneinander. Es ist ferner bemerkenswert, dass Spinoza hier auch viele der traditionellen religiösen Tugenden einordnet: die Hoffnung, die Angst, die Demut, das Reuegefühl und das Schuldgefühl. Weil sie alle das Nichtwissen und den Kraftmangel widerspiegeln, können sie nicht als nützlich betrachtet werden, und man kann ihnen auch keinerlei Platz im Leben unter der Führung der Vernunft zuweisen. In einem Zugeständnis an die menschliche Schwäche erkennt Spinoza jedoch an, dass diese Leidenschaften, weil die Menschen nur selten in diesem Zustand (der Führung durch die Vernunft) leben, einen gewissen praktischen Wert haben, indem sie eine Hemmung unserer mehr aggressiven Tendenzen darstellen. Die Affekte, die entweder gut oder schlecht sein können, umfassen, abgesehen von dem sog. ‚Kitzel‘, das Begehren und die Liebe. Wenn diese sich auf einen Gegenstand richten, der einen Teil des Organismus oder eine seiner Begierden auf Kosten des ganzen Körpers anregt oder belohnt, so können sie ausarten und damit schädlich werden. Und dies geschieht genau in den krankhaften Zuständen wie z.B. der Habgier oder des Geizes, des Ehrgeizes, der Unersättlichkeit, und vor allem der Fleischeslust. Trotz seiner allgemein antiasketischen Einstellung neigt Spinoza dazu, sexuelle Wünsche als ein durch und durch Schlechtes zu betrachten. In scharfem Gegensatz hierzu steht wiederum die eine Art von Liebe, die niemals im Übermaß auftreten kann, nämlich die Liebe zu Gott. 12. Die Liebe Gottes und die menschliche Glückseligkeit Obwohl er dies nicht mehr im Zusammenhang mit der Tugend erwähnt, spielt die Liebe zu Gott eine zentrale Rolle im Schlussteil der Ethik. Die Situation ist jedoch kompliziert infolge des Umstands, dass dieser Teil von zwei verschiedenen Gegenständen handelt, die man als geistige Gesundheit und Glückseligkeit beschreiben könnte. Die Liebe zu Gott für beide sehr wichtig. Die Frage der Gesundheit ist der Gegenstand der ersten zwanzig Lehrsätze, die sich mit dem unermüdlichen Kampf der Vernunft mit den Leidenschaften beschäftigen. Hier tritt Spinoza ausdrücklich als Therapeut auf, indem er nicht nur eine Alternative zur religiösen Tradition vorstellt, sondern auch das Willenstraining der Stoiker und Descartes‘ unterstützt (siehe Stoizismus). Da das Wichtigste hieran ist, dass man so weit als möglich von lustvollen Gedanken bewegt wird, und nicht durch reaktive, negative Gedanken, 1717
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läuft Spinozas Darstellung auf eine Beschreibung der Macht des positiven Denkens hinaus. Und weil der äußerste positive Gedanke die Liebe zu Gott ist, dient diese Liebe als das Hauptmittel gegen die Leidenschaften. Trotz der religiösen Sprache, in der er dies ausdrückt, muss man seine Behauptungen doch innerhalb der ihm eigenen Terminologie verstehen. Da mit ‚Liebe‘ einfach die Lust im Verein mit der Idee ihrer Ursache gemeint ist, ist jede Lust, die von Gott als ihrer Ursache begleitet ist, eine Liebe zu Gott. Aber alle adäquate Erkenntnis ist sowohl an sich selbst lustvoll, weil sie die Tätigkeit des Geistes ausdrückt, als auch durch die Idee Gottes verursacht, weil sie aus einer Idee von Gegenständen besteht, die aus Gott folgen (der dritten Art von Wissen, s.o. § 8). Daher bringt das adäquate Wissen von jeglicher Sache die Liebe zu Gott als ihre affektive Dimension mit sich. Da es ferner zumindest grundsätzlich möglich ist, eine adäquate Idee einer jeder Ausprägung der Substanz zu erlangen, kann diese Liebe durch praktisch alles verursacht werden. Folglich ist es ihre potenzielle Allgegenwart zusammen mit ihrer überlegenen affektiven Kraft als Ausdruck der reinen Tätigkeit, die diese Liebe, die gleichzeitig Wissen von Gott ist, als das höchste Mittel gegen die Leidenschaften qualifiziert. In der zweiten Hälfte des fünften Teils wird die Liebe zu Gott nunmehr ausdrücklich als ‚intellektuell‘ beschrieben und paradoxerweise mit der Liebe identifiziert, mit der Gott sich selbst liebt. Und als ob dies nicht bereits rätselhaft genug wäre, führt Spinoza diese neue Diskussion auch noch mit den Worten ein: „Hiermit habe ich alles erledigt, was dieses gegenwärtige (zeitlich begrenzte) Leben angeht. […] Es ist nun an der Zeit, zu dem überzugehen, was die Dauer des Geistes ohne Rücksicht auf den Körper angeht“ (‚Ethik‘ V, Erl. zum 23. Lehrsatz). Damit ist die Tagesordnung für die abschließenden Lehrsätze bestimmt, deren Grundanliegen lautet: „Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht völlig (absolut) zerstört werden, sondern es bleibt von ihm etwas, was ewig ist“ (‚Ethik‘ V, 23. Lehrsatz). Innerhalb dieses Kontextes bezieht sich Spinoza auf die intellektuelle Liebe zu Gott. Wegen ihrer offenkundigen Unvereinbarkeit mit den zentralen Lehren der ‚Ethik‘ sind diese abschließenden Lehrsätze eine Quelle fortgesetzter Verblüffung. Es ist allerdings möglich, dem Denken Spinozas hier einen Sinn zu geben, wenn wir es im Kontext einer Bewegung des Schwerpunktes von der Bemühung um die Vernunft (einschließlich der Liebe zu Gott) in ihrem Kampf mit den Leidenschaften hin zu einer Bemühung um das Leben in Vernunft als dem höchsten Zustand, zu dem Menschen fähig sind, und folglich als konstituierendes Merkmal der menschlichen Glückseligkeit. So konstruiert ist der abrupte Wechsel des Tonfalls einfach Spinozas Art und Weise der Anzeige dieser Denkbewegung, und kein Hinweis auf ein Ausgleiten in den Mystizismus, der in vollständigem Widerspruch zum Geist seiner Philosophie steht. Eine solche Lesart führt zu einer im Kern erkenntnistheoretischen, und nicht zu einer metaphysischen Auffassung seiner Ewigkeitslehre des Geistes. Nach dieser Lesart ist der menschliche Geist ‚ewig‘ in dem Umfange, wie er in der Lage ist, die ewige Wahrheit zu erfassen und sich durch die dritte Art von Erkenntnis abschließend selbst zu verstehen. Dies führt wiederum zu intellektuellen Liebe von Gott. Damit meint er selbstverständlich nicht das ewige Leben, dass durch die christliche Religion versprochen wird; es geht ihm aber um einen Zustand der Glückseligkeit oder Vollkommenheit im Sinne einer vollkommenen Verwirklichung unserer Fähigkeiten. Ferner ist dies genau die Lebensweise, in deren Richtung die gesamte ‚Ethik‘ weist. 1718
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Eine solche Lesart wird auch durch den abschließenden Lehrsatz unterstützt, wo Spinoza nochmals auf das Thema der Tugend zurückkommt, und er verbindet es sowohl mit der Gesundheit und der Glückseligkeit. Er selbst sagt: „Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns ihrer nicht deshalb, weil wir die Lüste hemmen, sondern umgekehrt, weil wir uns jener erfreuen, darum sind wir imstande, die Lüste zu hemmen“ (‚Ethik‘ V, 42. Lehrsatz). Hier gibt es nicht die Spur von Mystizismus, sondern nur die gewohnte spinozistische Betonung der Verbindung zwischen Glückseligkeit und Wissen auf der einen Seite, und zwischen Wissen und Kraft oder Macht auf der anderen. Entsprechend ist der springende Punkt hier, dass wir dieses Wissen nicht dadurch erreichen, dass wir zuerst unsere Gelüste kontrollieren, sondern dass wir die Kraft haben, sie zu kontrollieren (was Tugend ausmacht), und zwar nur in dem Umfange, in dem wir bereits über adäquates Wissen verfügen. Und es ist dieses Wissen, das er auch als Frieden des Geistes beschreibt, der die Glückseligkeit ausmacht. 13. Politik Spinozas Bemühung um die politische Theorie wurzelt philosophisch in seiner Konzeption des Menschen als sozialem Tier, was wiederum die Notwendigkeit eines Lebens in einem Staat und unter einem Rechtssystem mit sich bringt. Er war aber auch durch die politische Situation seiner eigenen Zeit getrieben. In den Niederlanden war die monarchistische Partei dabei, die republikanische Form der Regierung zu stürzen, und ihre Alliierten, der reformierte Klerus, wollte sogar einen Kirchenstaat errichten. Trotz seiner Bindung an ein Leben der philosophischen Kontemplation war sich Spinoza doch scharf dieser Situation und der Gefahren bewusst, die daraus für die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung erwuchsen, die er als wesentlich betrachtete. Seine philosophische Antwort auf diese Bedrohung, wie auch die Darstellung seiner eigenen Ansichten über das Wesen und die Funktion des Staates finden sich im ‚Tractatus Theologico-politicus‘ (dt.: ‚Theologisch-politische Abhandlung‘) und im ‚Tractatus Politicus‘ (dt.: ‚Politische Abhandlung‘). Erstere ist eine polemische Arbeit, die zumindest teilweise als Antwort auf den reformierten Klerus gedacht war, während letztere ein leidenschaftsloser Aufsatz zur politischen Wissenschaft ist. Aber trotz dieses Unterschiedes im Ton und in einigen Unterschieden zu substanziellen Fragen, treten beide Texte für die Freiheit als den höchsten politischen Wert ein, und beide erforschen die Bedingungen, unter denen dieser realisiert und bewahrt werden kann. Spinozas politischem Denken nähert man sich am besten durch einen Vergleich mit Hobbes. Beide Denker sehen die Menschen als Teile der Natur, die durch sie und durch ihr Streben nach Selbsterhaltung grundlegend determiniert sind. Beide sind Moralisten in dem Sinne, dass sie meinen, jeder Menschen habe ein ‚natürliches Recht‘ das zu tun, was immer von ihm zur Selbsterhaltung für notwendig gehalten wird. Als direkte Konsequenz dieser Auffassung von Naturrecht sehen beide den Naturzustand, d.h. die vorpolitischen Situation, als etwas notwendig konfliktreiches und unsicheres; und schließlich meinen beide, dass Friede und Sicherheit nur erreicht werden kann, wenn jeder alle seine natürlichen Rechte einer souveränen Macht übergibt, was in der Form einen Gesellschaftsvertrages stattfindet. Während aber Hobbes aus dieser Darstellung die Notwendigkeit einer absolut souveränen Macht schließt, die vorzugsweise als Monarchie organisiert sein sollte, schließt Spi1719
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noza aus den substanziell gleichen Prämissen, dass das wahre Ziel des Staates die Freiheit sei, und zumindest in der ‚Theologisch-politischen Abhandlung‘, dass die Demokratie die ‚natürlichste Staatsform‘ sei. In gewissem Umfange kann man diese Unterschiede als Folge des Unterschieds zwischen den sozialen und politischen Bedingungen verstehen, unter denen die beiden Denker lebten. Doch es gibt auch bedeutende philosophische Unterschiede, von denen einer in der zugrunde liegenden Konzeption der menschlichen Vernunft liegt. Für Hobbes hat die Vernunft nur einen instrumentellen Wert, nämlich als Mittel zur Erreichung der Zwecke, die von den Begierden diktiert werden. Wir sahen jedoch, dass Spinoza als Ziel die Umformung der Begierde durch die Vernunft ist, was ihn ganz von selbst dazu führt, sich den Bedingungen zuzuwenden, unter den das Leben in Vernunft am besten zu führen ist. Ferner scheint Spinoza zu diesen Schlussfolgerungen im Wege einer Art innerer Kritik von Hobbes gekommen zu sein. An einen Briefkorrespondenten schrieb er im Jahre 1674: „Hinsichtlich der Politik besteht der Unterschied zwischen mir und Hobbes darin, dass ich das Naturrecht weiterhin aufrechterhalte, so dass die oberste Macht in einem Staate nicht mehr Recht über eine Person hat, als sich dies aus dem Verhältnis der Überlegenheit dieser Macht dieser Person gegenüber ergibt. Dies findet nämlich auch im Naturzustand statt.“ (‚Die Korrespondenz von Spinoza‘, 1966, 50. Brief) Indem er davon ausgeht, dass Hobbes das Naturrecht nicht unangetastet ließ, impliziert Spinoza, dass Hobbes damit das Recht und die Macht in keine konsistente Austauschbarkeitsbeziehung brachte. Dies ist in der Tat wahr; es erklärt aber nicht, wie die Identifikation von Macht und Recht Spinoza in die Lage versetzen sollte, zu seinen eigenen Schlussfolgerungen zu kommen. Der Kern der Antwort, wie sie durch diese Passage nahe gelegt wird, lautet, dass jene Identifikation auch für die souveräne Macht gelte. Mit anderen Worten: Statt ein absolutes Recht über seine Untertanen zu gewinnen, wie Hobbes meinte, ist das Recht des Souveräns durch seine Macht beschränkt; und weil diese Macht unvermeidlich beschränkt ist, sind dies auch die Dinge, die ein Souverän ‚legitimerweise‘ von seinen Untertanen verlangen kann. Unter den Dingen, die ein Souverän nicht verlangen kann, sind Handlungen, die so entgegen aller menschlichen Natur sind, dass keine Drohung und kein Versprechen eine Person dazu bringen könnte, sie auszuführen. Dies umfasst Dinge wie den Zwang, gegen sich selbst auszusagen oder nichts zu unternehmen, um dem eigenen Tod zu entkommen. Spinoza macht aber nicht bei solchen offensichtlichen Fällen Halt. Er betont auch die Beschränkung der legislativen Macht im Hinblick auf die private Moral, und er findet ein Argument für Gedankenfreiheit im dem Umstand, dass eine Regierung machtlos ist, diese zu verhindern. Noch wichtiger ist, wenn er darauf hinweist, dass es Dinge gibt, die eine Regierung mit roher Gewalt erzwingen kann; doch wenn sie dies tut, untergräbt sie damit unvermeidlich ihre eigene Autorität. Und weil eine Regierung so etwas nicht straflos tun kann, hat sich auch nicht das Recht, es überhaupt zu tun. So argumentiert er also aus gänzlich praktischen Gründen für eine Beschränkung der Regierungsmacht durch die Macht der öffentlichen Meinung. Spinozas Hauptinteresse als politischer Theoretiker war es jedoch nicht zu bestimmen, was der Staat nicht tun darf, sondern vielmehr, was wir tun sollten um zu erkennen, weshalb er überhaupt eingerichtet wurde. Während er mit Hobbes hinsicht1720
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lich der Konstruktion dieses Ziels im Sinne eines Gewinns an Frieden und Sicherheit ganz einig ist, versteht Spinoza diese Ziele jedoch in einem wesentlich weiteren Sinne. Folglich ist der Friede nicht lediglich die Abwesenheit von Krieg oder der Kriegdrohung, sondern ein positiver Zustand, in dem die Menschen ihre Tugenden ausüben können. Daher sei das Ziel des Staates die Schaffung dieses Zustandes, der damit auch die notwendige soziale Bedingung für das Leben in Vernunft ist, wie es in der ‚Ethik‘ geschildert wird. Aber das Leben in Vernunft ist nur für die Wenigen, und die politische Ordnung betrifft die Vielen. Und weil es die Vielen sind, die die öffentliche Meinung bestimmen, und auf die die Regierung hören muss, wenn sie effektiv regieren will, folgt daraus, dass es gültige Gesetze nur geben kann, wenn diese zumindest stillschweigend durch eine Mehrheit gebilligt werden, und die gleichwohl entgegen aller wahren Tugend beschaffen sein können. Spinoza war sich dieses Problems sehr scharf bewusst; aber sein Umgang damit zeigt die Spannung zwischen seinen demokratischen Neigungen und seinem Elitismus, die sich durch seine ganze Theorie zieht. Deshalb besteht er auf der einen Seite auf dem Recht der freien Meinungsäußerung, einschließlich des Rechts zum Protest gegen die Gesetze, die als ungerecht beurteilt werden, während er auf der anderen Seite die Notwendigkeit des totalen Gehorsams gegenüber einem existierenden Gesetz betont, wie widersinnig und gegen alle Vernunft es auch beschaffen sein mag. Der Grund für diese konservative Wende, die sich auch in seiner vollständigen Ablehnung der Revolution als einem politischen Mittel zeigt, liegt in seinem tiefen Sinn für die Irrationalität der Menge. In Anbetracht dieser Irrationalität, die eine konstante Gefahr für die Macht der Vernunft darstellt, schließt Spinoza mit Hobbes, dass selbst noch unter einem tyrannischen Regime der Gehorsam gegenüber einer etablierten Autorität das geringere Übel sei. 14. Die Heilige Schrift Spinozas revolutionäre Behandlung der Bibel in der ‚Theologisch-politischen Abhandlung‘ muss man ebenfalls innerhalb des Rahmens seines politischen Denkens verstehen. Auf einer Linie mit seiner Bemühung um eine Sicherung der Freiheit des Philosophierens greift er systematisch die Autorität der Heiligen Schrift an, nämlich ihren Anspruch, das offenbart Wort Gottes zu sein. Statt aber eine externe philosophische Kritik in der Art der ‚Ethik‘ zu formulieren, versucht er hier auf irgendwie paradoxe Art und Weise, aus der Heiligen Schrift selbst heraus zu beweisen, dass sie gar keinen Anspruch auf eine solche Autorität erhebt. Diese Strategie beruht wiederum auf einer neuen Methode der Bibelexegese, die von dem kartesischen Prinzip ausgeht, dass in einen Text nichts hineingedeutet werden sollte, was nicht klar und deutlich wahrnehmbar in ihm enthalten sei. Im Lichte dieses Prinzips verwirft er sowohl die calvinistische Lehre, dass eine übernatürliche Macht zur Interpretation der Bibel notwendig sei, als auch den älteren jüdischen Rationalismus des Maimonides, der meinte, dass die buchstäbliche Lektüre einer Bibelpassage in gewisser Weise metaphorisch zu interpretieren sei, wenn sie mit der Vernunft in Konflikt gerade (siehe Maimonides, M.). Beide Ansätze betrachtet Spinoza als nicht nur nutzlos zur Interpretation der Bibel, sondern auch als politisch gefährlich, denn sie führten zur Errichtung spiritueller Autoritäten. Indem er diese Methode anwendet, beweist Spinoza, dass weder Prophezeiungen, noch Wunder, die beiden Pfeiler der biblischen Autorität, geeignet sind, diese 1721
Sprache des Denkens
orthodoxen Behauptungen zu unterstützen. Er stellt die Propheten als Personen dar, die sich von anderen Personen durch ihre höhere Vorstellungskraft unterscheiden, nicht durch ihre Intelligenz. Auf ähnliche Weise werden biblische Wunder als natürliche Escheinungen behandelt, die den biblischen Autoren nur deshalb mysteriös erschienen, weil sie einen eingeschränkten Verständnishorizont hatten. Deshalb haben diese Ereignisse keinen Beweiswert. Allgemeiner gesagt wird die Bibel von Spinoza als ein Dokument betrachtet, das die beschränkten Verständnismöglichkeiten eines rauen Volks widerspiegelt, und nicht die Weisungen einer allmächtigen Gottheit. Indem er die Heilige Schrift aus dieser Weise betrachtet, legt Spinoza die Fundamente für die nachfolgenden historischen Bibelstudien (die sog. ‚höhere Kritik‘), die es sich zur Aufgabe macht, die Bibel mit denselben Methoden zu interpretieren, mit denen man sich auch anderen antiken Texten nähert. Spinozas Kritik der Bibel richtet sich jedoch weitgehend gegen ihren spekulativen Gehalt und ihren Anspruch, die Quelle theoretischer Wahrheit zu sein. Deshalb betont er andererseits auch, dass die Bibel in moralischen Fragen eine konsistente und wahre Lehre bietet, die sich im Wesentlichen auf die Notwendigkeit der Liebe seines Nächsten reduzieren lässt. Gerade weil sie sich aber auf die Vorstellung beruft und nicht auf den Intellekt, hat sie den großen Vorzug, die Moral in einer Form vorzustellen, die von einem großen Teil des Publikums erfasst werden kann. Eine solche Auffassung der ‚Religion als Massenmoral‘ ist aber kaum die Erfindung Spinozas. Sie wurde bereits im 12. Jahrhundert von Averroes (siehe Ibn Rushd) formuliert und fand sich auch bei vielen nachfolgenden, politisch gesonnenen Denkern, einschließlich Machiavelli. Auch wenn sie aber keine Erfindung von Spinoza ist, so ist sie doch immer noch ein integraler Bestandteil seines politischen Denkens, denn sie ermöglicht ihm die ‚Rettung‘ der Religion, während sie gleichzeitig die Autonomie der Philosophie schützt. Und die letztere ist selbstverständlich notwendig für ein Leben in der Vernunft, wie es in der ‚Ethik‘ geschildert wird. Siehe auch: Aretē; Eudaimonia; Gott, Begriffe von; Monismus; Substanz; Wille, der Anmerkungen und weitere Lektüre: Donagan, A. (1989): ‚Spinoza‘. Chicago, Illinois: University of Chicago Press. (Eine gute und lehrbuchartige Einführung in Spinozas Denken.) Spinoza, B. de (1677): ‚Die Ethik‘, inkl. Auszügen aus der ‚Abhandlung über die Läuterung des Verstandes‘ sowie Teilen des Briefwechsels. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart. (Dieser Band in der Übersetzung von Carl Vogl enthäl das Hauptwerk Spinozas und einige ergänzende Schriften.) HENRY E. ALLISON
Sprache des Denkens
Die ‚Sprache des Denkens‘ ist eine formale Sprache, die als Code postuliert wurde, und die in den Gehirnen intelligenter Lebewesen als Vehikel ihres Denkens verankert sein soll. Es ist eine offene Frage, ob diese Sprache irgendeiner natürlichen Sprache ähnelt, die von jemandem gesprochen wird. Tatsächlich könnte diese Sprache in den Gehirnen von Menschen codiert sein, die behaupten, nicht ‚in Worten zu sprechen‘, oder sogar von intelligenten Kreaturen (z.B. Schimpansen), die überhaupt nicht sprechen können. Ihre hauptsächliche Funktion ist die eines Mediums der Repräsentation, durch das die Berechnungen, die von den Koginitions1722
Sprache, Angeborensein der
psychologen behauptet werden, definiert werden. Ihre sprachartige Struktur soll die beste Erklärung z.B. solcher Tatsachen wie der Produktivität, der Systematizität und der (Über-)intensionalität des Denkens von Tieren, der Vermischtheit ihrer Einstellungen und ihrer Fähigkeit zum Schlussfolgern auf vertraute deduktive, induktive und praktische Weisen liefern. Siehe auch: Geist, Berechnungstheorien des GEORGES REY
Sprache, Angeborensein der
Gibt es irgendein angeborenes Wissen? Was heißt es, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen? Dies sind alten Fragen, aber erst Noam Chomsky, ein Linguist des 20. Jahrhunderts, schmiedete eine Verbindung zwischen ihnen, indem er behauptete, dass die Beherrschung einer Sprache teilweise eine Sache der Kenntnis ihrer Grammatik ist, und dass viel von unserem Wissen der Grammatik angeboren ist. Indem er den Empirismus ablehnte, der die angloamerikanische Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht hatte, argumentierte Chomsky, dass die Aufgabe des Spracherwerbs so schwierig sei und die verfügbare linguistische Evidenz so dürr, dass der Spracherwerb unmöglich wäre, wenn nicht ein Teil des Wissens, dass man sich irgendwann aneignet, bereits als angeborenes angelegt ist. Er schlug vor, dass die Lernenden zur Bewältigung ihrer Aufgabe eine ‚Universale Grammatik‘ mitbringen, die strukturelle Merkmale beschreibt, die allen Sprachen gemeinsam sind, und dass es dieses Wissen ist, das uns in die Lage versetzt, unsere Muttersprache zu meistern. Chomskys Position ist nativistisch8, weil sie behauptet, dass das angeborene Wissen, das die Lernfähigkeit ermöglicht, bereichsspezifisch ist. Aus empiristischer Perspektive ist unsere angeborene Fähigkeit zum Lernen aus Erfahrung (z.B. eine Assoziation zwischen Ideen zu bilden) alle Aufgabenbereiche gleichermaßen betrifft und auf sie anwendbar ist. Im Gegensatz dazu sind wir nach der nativistischen Auffassung mit zweckspezifischen Lernstrategien ausgestattet, wobei jede auf ihren eigenen Gegenstandsbereich angepasst ist. Chomskys Nativismus stieß auf starkes Interesse, in dessen Folge die betroffenen Theoretiker sich um eine Erforschung der begrifflichen und empirischen Konsequenzen bemühten. Als Folge dieser Arbeiten ist der Spracherwerb heute ein zentrales Thema der kognitionswissenschaftlichen Forschungsprogramme. Siehe auch: Chomsky, N.; Sprache, Philosophie der; Semantik FIONA COWIE
Sprache, Philosophie der Einführung Das philosophische Interesse an der Sprache ist, obwohl schon sehr alt und andauernd, im vergangenen Jahrhundert neu erblüht. Es gibt drei historische Hauptursachen für das aktuelle Interesse und drei intellektuelle Anliegen, die für deren Fortbestehen sorgen. 8 Als ‚Nativismus‘ wird in der Philosophie und Entwicklungspsychologie die ursprünglich auf Platon und Descartes zurückgehende Auffas-sung bezeichnet, der Mensch würde sein Wissen, seine Vorstellungen und seine Fähigkeiten in erster Linie nicht durch Auseinandersetzung mit seiner Umwelt erlernen, sondern im Wesentlichen bereits mit ihnen geboren werden. [WS] 1723
Sprache, Philosophie der
Heutzutage streben Sprachphilosophen oft eine systematische, wenn nicht mathematisch strenge Darstellung der Sprache an; diese Philosophen sind auf die eine oder andere Weise Erben von Gottlob Frege, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein und den logischen Positivisten, die ebenfalls rigorose Interpretationen der Logik und der Bedeutung in ihren Versuchen zur Durchdringung, und in machen Fällen sogar der Verbannung von überkommenen philosophischen Fragen anstrebten (siehe Logischer Positivismus). Zeitgenössische Philosophen sind auch sehr achtsam, was die Rollen betrifft, die philosophisch interessante Worte (wie ‚wissen‘, ‚erkennen‘, ‚wahr‘, ‚gut‘ und ‚frei‘) im gewöhnlichen Sprachgebrauch spielen. Diese Philosophen erbten von den ‚Philosophen der Alltagssprache‘, einschließlich G.E. Moore, J.L. Austin und wiederum Wittgenstein die Strategie zum Auffinden von Hinweisen zur Beantwortung tiefer philosophischer Fragen mittels genauer Prüfung der umgangssprachlichen Verwendung dieser Worte, in denen die philosophischen Fragen behandelt werden. Das philosophische Interesse an der Sprache wird aufrecht erhalten durch letztbegründende und begriffliche Fragen der Linguistik, philosophische Schlüsselprobleme betreffend die Verbindung zwischen Geist, Sprache und der Welt, und Fragen zur philosophischen Methodenlehre. Diese Quellen speisen ein reiches und faszinierendes philosophisches Betätigungsfeld, das sich um die Repräsentation, die Kommunikation, die Bedeutung und die Wahrheit dreht. 1. Philosophie der Linguistik 2. Bedeutung: Sprache, Geist und Welt 3. Sprachphilosophie 1. Philosophie der Linguistik Die Sprache ist eine eindrucksvolle und faszinierende menschliche Fähigkeit, und die menschlichen Sprachen sind verblüffend mächtige und komplexe Systeme. Die Wissenschaft von dieser Fähigkeit und von diesen Systemen ist die Linguistik. Wie auch andere Wissenschaften, wenn auch vielleicht in ungewöhnlichem Maße, ist die Linguistik schwierigen grundlegenden, methodologischen und begrifflichen Fragen ausgesetzt. Wenn die Linguistik eine menschliche Sprache untersucht, bemüht sie sich um eine systematische Darstellung ihrer Syntax (d.i. der Organisation von richtigen Ausdrücken dieser Sprache, wie z.B. Satzteile und Sätze; siehe Syntax), ihrer Semantik (d.i. die Art und Weise, auf die Ausdrücke bedeutsam sind und dies zeigen; siehe Semantik), sowie ihrer Pragmatik (d.i. die Praxis der Kommunikation, in der die Ausdrücke Verwendung finden; siehe Pragmatik). Das Studium der Syntax stand seit den 1960er Jahren unter dem Einfluss des Werks von Noam Chomsky, der als Reaktion auf die ihm vorangehenden Behavioristen und die strukturalistische Bewegung in der Linguistik (siehe Behaviorismus, Analytischer; Behaviorismus, methodologischer und wissenschaftlicher; Strukturalismus in der Linguistik; Saussure, F. de) einen nicht rechtfertigenden, kognitivistischen Ansatz vertritt. Die menschlich-sprachlichen Fähigkeiten, so meint er, beruhen auf einem dazu bestimmten, kognitiven Vermögen, dessen Struktur der eigentliche Gegenstand der Linguistik ist. Tatsächlich konstruierte Chomsky zumindest einen Entwurf einer Syntax und größere Teile einer Semantik als Versuche zur Freilegung der kognitiven Strukturen. Indem er eindrucksvolle Gemeinsamkeiten 1724
Sprache, Philosophie der
zwischen allen bekannten natürlichen Sprachen aufzeigte, und in Anbetracht der Knappheit an Erfahrung und Einweisung der Kinder beim Erlernen einer Sprache, meinte Chomsky, dass überraschend viele Merkmale der natürlichen Sprachen aus angeborenen Charakteristika des Sprachvermögens stammen müssen (siehe Chomsky, N.; Sprache, Angeborensein der). Während die zeitgenössischen Philosophen dazu tendierten, die Arbeit an der Syntax zu übergehen und stattdessen nur darüber diskutierten, war dies ganz anders mit der Semantik. Hier wurden viele der großen Fortschritte durch Philosophen wie Gottlob Frege, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, Rudolf Carnap, Richard Montague und Saul Kripke erzielt. (Allerdings haben eine große Zahl von Linguisten und Logikern, die sich nicht Philosophen nennen, ebenfalls stark zur Erforschung der Semantik beigetragen.) Ein größerer Forschungsstrang in der Semantik des vergangenen Jahrhunderts bestand in der Entwicklung und sorgfältigen Anwendung von formalen, mathematischen Modellen zur Beschreibung linguistischer Formen und Bedeutungen (siehe Semantik, Spieltheoretische; Mögliche-Welten-Semantik; Situationssemantik). Die Pragmatik hat wiederum mindestens so stark wie die Semantik von den Beiträgen der Philosophen profitiert. Das philosophische Interesse an der Pragmatik hat seinen Ursprung typischerweise in dem Wunsch, die konkrete Praxis der sprachlichen Kommunikation zu verstehen. Der späte Wittgenstein erinnert uns beispielsweise an die riesige Vielfalt von Verwendungen, an denen sprachliche Ausdrücke teilhaben, und er warnt uns vor der Gefahr der Annahme, dass es etwas gibt, was passenderweise ihre ‚Bedeutung‘ genannt werden kann, und das wir in der Philosophie entdecken könnten. J.L. Austin erforschte die Feinheiten des Gebrauchs, die auf die Bedeutung von philosophisch interessanten Ausdrücken wie ‚intentional‘ und ‚wahr‘ hinweisen. Austin ist sehr wachsam im Hinblick auf zahlreiche unterschiedliche Dinge, die man gleichzeitig tut, wenn man einen ‚Sprechakt‘ ausführt (z.B. einen Klang erzeugen, indem man den Satz sagt: ‚J‘ai faim‘; damit sagen, dass man Hunger hat; damit einen Hinweis darauf geben, dass man gerne ein Essen mit jemand anderes teilen möchte und ihn dazu zu bringen, dass er dies tut etc.). Seine Taxonomie lieferte die Grundlage vieler nachfolgender Arbeiten (siehe Sprechakte; Performative). H.P. Grice, der zwar einigen von Austins Methoden kritisch gegenüber stand, teilte mit ihm jedoch das Ziel, die Bedeutung von Ausdrücken aus dem trüben Wasser ihrer Verwendung herausdestillieren zu wollen. Grice beschreibt Gespräche als eine rationale, kooperative Angelegenheit, und in seiner Beschreibung zeigen sich eine Reihe von Konzeptionen der Bedeutung als zentrale Strategien und Werkzeuge zur Erreichung kommunikativer Zwecke. Grices Hauptinteresse lag bei der philosophischen Methodenlehre (siehe § 3), aber seine Vorschläge erwiesen sich unter Linguisten, die an der Pragmatik interessiert waren, als sehr beliebt (siehe Kommunikation und Intention). In jüngerer Zeit haben sich Philosophen und Linguisten in steigendem Maße davon überzeugt, dass pragmatische Belange, die im übrigen keineswegs nur reine Ergänzungen der Semantik sind, entscheidend sind für die Frage, woher die Bedeutung stammt, worin sie besteht, und wie die vielen Unvollständigkeiten und Biegsamkeiten der sprachlichen Bedeutung überwunden und auf etwas fixiert werden können, was ein Sprecher bei einer bestimmten Gelegenheit mit seinen Worten meint (siehe Pragmatik; Implikatur; Metapher).
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Sprache, Philosophie der
Unser Blick auf die Sprache sollte uns nicht ein Forschungsgebiet mit einem noch viel größeren Geltungsbereich übersehen lassen, nämlich die Semiotik, die sich mit dem Studium der Zeichen und der Bedeutung im Allgemeinen beschäftigt, unabhängig davon, ob sie sprachlich geformt ist oder nicht. In der Auffassung der Gelehrten dieses Gebietes sollte das Studium der sprachlichen Bedeutung in ein größeres Unternehmen eingefügt werden, dass die gestische Kommunikation, den künstlerischen Ausdruck, die Signalsprachen der Tiere und andere Varianten der Informationsübertragung umfasst (siehe Semiotik; Tiersprache und Denken). 2. Bedeutung: Sprache, Geist und Welt Der Philosophie geht es um intellektuell nachvollziehbare Beschreibungen der grundlegendsten und allgemeinsten Aspekte der Wirklichkeit. Ein Teil dessen, was es heißt, eine intellektuell nachvollziehbare Beschreibung zu liefern, ist es natürlich, uns darüber Klarheit zu verschaffen, was unser Platz in der Wirklichkeit als – unter anderem – Lebewesen, die sich Beschreibungen und Erklärungen dieser Welt ausdenken und formulieren, ist. Im Gestalten von Fragen über unsere Rollen als Beschreiber und Erklärer ziehen Philosophen üblicherweise ein Dreieck, dessen Linien die Worte ‚Sprache‘, ‚Geist‘ und ‚Welt‘ miteinander verbinden. Diese drei Linien repräsentieren die Beziehungen, die der Schlüssel zum Verständnis unseres Platzes in der Wirklichkeit sind. Diese Beziehungen konstituieren auf die eine oder andere Weise die Bedeutsamkeit der Sprache. Geist ↔ Welt. Zwischen Geist und Welt gibt es eine Reihe entscheidender Beziehungen, die von der Philosophie des Geistes studiert werden. Zu diesen gehört die Wahrnehmung, die Handlung, die körperliche Beschaffenheit des Geistes und die Intentionalität (die Fähigkeit des Geistes, über etwas nachzudenken, das es in der Welt gibt) (siehe Geist, Philosophie des). Geist ↔ Sprache. Die Verwendung und das Verstehen von Sprache ist eine stark mentale Aktivität. Ferner scheint diese Aktivität das zu sein, was die wirkliche Existenz der bedeutungsvollen Sprache ausmacht. Kurz gesagt, der Geist verleiht der Sprache Bedeutung. Sprachtheoretiker konzentrieren sich auf die Verbindung von Geist und Sprache, wenn sie meinen, dass das Verstehen der Grundbegriff ist. Dann meinen sie z.B., dass eine Beschreibung der Bedeutung bei einer gegebenen Sprache einfach eine Darstellung dessen ist, was die Fähigkeit sie zu verstehen ausmacht. Viele Philosophen wurden von der Auffassung angezogen, dass das Verstehen eine Sache der Assoziation korrekter Vorstellungen oder Begriffe mit Worten sei (siehe z.B. Locke, J; Frege, G.; Sprache des Denkens). Andere setzten das Verstehen mit dem Wissen um die Erfordernisse für eine genaue oder passende Verwendung von Worten und Sätzen gleich (siehe z.B. Davidson, D,; Dummett, M.A.E.). Wieder andere sehen den Schlüssel des Verstehens in den kommunikativen Zielen von Sprechern und Schreibern (siehe z.B. Grice, H.P.), oder noch direkter in der Fähigkeit eines Menschen, sprachlich ohne Zensur ‚durchzukommen‘ (siehe z.B. Wittgenstein, L.). Sicherlich schließen diese Ansätze einander nicht aus. Einige Philosophen fokussieren sich stärker auf die Produktion als auch den Konsum, also auf die Seite des Sprechers, und analysieren die sprachliche Bedeutung in
1726
Sprache, Philosophie der
Ansehung der Ziele und Praktiken von Sprechern, sowie als Beziehungen zwischen Sprechergemeinschaften (siehe Grice, H.P.; Kommunikation und Intention). Viele der Philosophen, die das Verstehen und die Verwendung von Sprache als Schlüssel zur sprachlichen Bedeutung sehen, meinten, dass die Bedeutsamkeit von Sprache in gewissem Sinne ein Derivat des geistigen Inhalts ist, vielleicht einschließlich der Überzeugungsinhalte, Gedanken und Begriffe. Dies erhöht das Interesse an der kognitiven Semantik, die ein florierendes Forschungsgebiet ist (siehe Semantik; Semantik der Begriffsrollen). Es blieb nicht unhinterfragt, ob der Geist der Sprache tatsächlich Bedeutung zuweisen kann, und tatsächlich hat sich der Skeptizismus zu dieser Frage als prominente Figur in der philosophischen Diskussion der Sprache erwiesen. Wittgenstein wurde so verstanden, dass er zumindest mit dem Skeptizismus geliebäugelt habe, d.h. dass es nichts gibt, was unser Geist dafür tun kann, das die Bedeutung einer Sache diese und nicht eine andere ist (siehe Wittgenstein, L., §§ 10-12; Bedeutung und Regelfolgen; Private Zustände und Sprache). W.V. Quine, der von dem Gedanken ausging, dass die Bedeutung das ist, was auch immer eine gute Übersetzung erfasst, und der argumentierte, dass eine gute Übersetzung nicht das ist, was einfach direkt durch die realen Fakten diktiert wird, kommt zu dem Schluss, dass die Bedeutung hochgradig unbestimmt ist. Quine steht mit dieser Auffassung nicht alleine, dass sprachliche und mentale Bedeutung eher nicht als etwas verstanden werden sollte, was ‚da draußen‘ nur entdeckt werden muss, sondern was durch unsere Praxis der Interpretation und Übersetzung zum Teil gebildet oder konstruiert wird (siehe Quine, W.V.O.; Davidson, D.; Dennet, D.C.; Lewis, D.K.; Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation). Sprache ↔ Geist. Wenn der Geist der Sprache Bedeutung verleiht, so befähigt die Sprache auch hierzu und lenkt ihn. Eine Sprache zu erwerben und mit ihr umzugehen bringt dem Verwender Begriffe, Gedanken und Denkgewohnheiten, was viele Konsequenzen hat (siehe Sapir-Whorf-Hypothese). Tatsächlich ist der Besitz von Sprache so entscheidend für unsere Fähigkeit zur Zusammensetzung jener entwickelten Gedanken, die für die Sprachverwendung und ihr Verständnis wesentlich erscheinen, dass viele daran zweifeln, ob der Geist der Sprache überhaupt in irgendeinem interessanten Sinne vorausgeht (siehe Davidson, D.). Sprache ↔ Welt. Weil die Sprache das Vehikel unserer Beschreibungen und Erklärungen der Wirklichkeit ist, bemühen sich die Philosophen darum, was die Beschreibungen der Wirklichkeit zu wahren oder geeigneten macht – wenn sie dies überhaupt leisten. Philosophen kümmern sich hierum aus philosophisch-methodischen Gründen (auf die wir gleich zu sprechen kommen werden), aber auch wegen der Selbstverständlichkeit und Plausibilität eines gewissen Bildes von der Bedeutung. Diesem Bild zufolge ist der Schlüssel zur Bedeutung der Begriff der Wahrheitsbedingung. Die Bedeutung einer Aussage determiniert eine Bedingung, die erfüllt sein muss, wenn diese Aussage wahr sein soll. Beispielsweise ist meine Aussage ‚Irland ist größer als Manhattan‘ wahr, wenn man es als Tatsache ansieht, was sie besagt, und zwar genau dann, wenn gewisse Sachverhalte zutreffen (nämlich dass eine gewisse Insel größer ist als eine gewisse andere Halbinsel). Nach dem Bild von der Wahrheitsbedingung der Bedeutung besteht der Kern einer Aussage darin, dass die Wahrheitsbedingung die Bedeutung einer Aussage ist (was uns bei der Bestimmung 1727
Sprache, Philosophie der
davon hilft, auf welche Weise die Wirklichkeit in der Aussage gegeben sein soll), und der Kern der Bedeutung eines Wortes ist der Beitrag, den es zu der Aussage beiträgt (vielleicht ist dies bei bestimmten Arten von Worten das, worauf sich diese Worte beziehen) (siehe Semantik; Bedeutung und Wahrheit; Referenz). Während das Bild der Bedeutung als Wahrheitsbedingungen die Semantik beherrschte, wurde eine ernste Herausforderung dagegen durch Philosophen vorgebracht, einschließlich Michael Dummett, die darauf drängten, dass der Schlüssel zur Bedeutung eine Sache der korrekten Verwendung sei. Diesem Alternativbild zufolge ist der Kern der Bedeutung eines Satzes die Regel für seine sachgerechte Äußerung. Natürlich konvergieren die beiden Bilden genau dann, wenn Sätze korrekt verwendet werden und wahr sind. Das Interesse an einer Unterscheidung entsteht nur, wenn eine ‚realistische‘ Konzeption der Wahrheit aus ihrer Funktion an dieser Stelle verdrängt wird, sei es wegen einer skeptischen Haltung über die Wahrheit an sich, oder sei es, weil die Wahrheit als zu entfernt von den Brennpunkten der sozialen Praxis angesehen wird, um ein bedeutungsrelevantes Kriterium für die korrekte Verwendung sein zu können (siehe Bedeutung und Verifikation; Dummett, M.; Intuitionistische Logik und Antirealismus; Realismus und Antirealismus; Wahrheit, Deflationäre Theorien der; Wahrheit, Kohärenztheorien der; Wahrheit, Korrespondenztheorien der; Wahrheit, Pragmatische Theorie der). Diese Herausforderung illustriert eine Art und Weise, in der die Verbindungen von Geist und Sprache bzw. von Sprache und Welt eine Spannung in die Vorstellung der Bedeutung bringen können (Bedeutung ist das, was auch immer wir kognitiv erfassen, während die Bedeutung von Sprache ihre Stellung zur Welt ist). 3. Sprachphilosophie Abgesehen von dem Interesse an der Sprache als Ziel der Wissenschaft und ihre zentrale Rolle bei unserer Selbstkonzeption als Beschreibende der Wirklichkeit, spielt Sprache eine methodologische Schlüsselrolle in der Philosophie. Vielleicht ist es genau diese Rolle, die mehr als alles andere die fortgesetzte große Aufmerksamkeit erklärt, die der Sprache im vergangenen Jahrhundert durch Philosophen gezollt wurde, die auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Erkenntnistheorie, der Ästhetik, der Ethik, der Metaphysik, der Wissenschaftsphilosophie und der Philosophie des Geistes arbeiteten. Die methodologische Rolle der Sprache in der Philosophie lässt sich am einfachsten durch ein Beispiel erklären. Die Philosophen interessieren sich für das Wesen der Werte. Sie wollen wissen, was das Gute ist. Die Sprache kommt dabei ins Spiel, wenn sie beobachten, dass das Gute der Gegenstand der Zuschreibung ist, wenn wir von etwas sagen, es sei ‚gut‘. So konzentriert sich der Philosoph auf bestimmte Aussagen und versucht zu verstehen, was solche Aussagen bedeuten und wie sie ganz allgemein funktionieren. Sie erforschen, ob solche Aussagen jemals objektiv wahr oder falsch sind, ob ihre Wahrheit oder Angemessenheit von Sprecher zu Sprecher variiert, ob es ihre befriedigende Erklärung mit sich bringt, dass das Wort ‚gut‘ sich auf eine echte Eigenschaft bezieht oder diese ausdrückt (z.B. von Handlungen, Sachverhalten, Personen etc.), und in welcher Beziehung ihre Bedeutung zu den unterschiedlichen Arten von Bestätigung steht, die solche Aussagen normalerweise mit transportieren (siehe Emotive Bedeutung).
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Sprechakte
Das in diesem Werte-Beispiel aufgezeigte Muster zieht sich durch die gesamte Philosophie. Wir interessieren uns für Erkenntnis, Fiktionen, Notwendigkeit, Kausalität oder Empfindung, also studieren wir Aussagen über das, was uns interessiert: Aussagen, die Erkenntnis zuschreiben, Fiktionen beschreiben, Notwendigkeiten behaupten, Ursachen zuweisen und Empfindungen mitteilen. Die Werkzeuge der Sprachphilosophie verschaffen uns den Zugang zu einer großen Anzahl von Sichtweisen darüber, was diese Aussagen bedeuten, und im Allgemeinen darüber, wie sie ihre expressive und kommunikative Arbeit verrichten. Und diese Sichtweisen gestalten und unterstützen philosophische Positionen gegenüber wirklichen Gegenständen des philosophischen Interesses. Es gab dramatische und zweifellos auch übertriebene Ansprüche an solche Techniken, beispielsweise dass die Philosophie sich überhaupt auf diese Art von Sprachstudien beschränken sollte. Es ist gleichwohl eher eine Untertreibung, wenn man sagt, dass die linguistische Erfahrenheit das philosophische Verstehen vertieft und die Debatte auf praktisch allen Gebieten der Philosophie vorangetrieben hat. Siehe auch: Analytizität; Anapher; Beschreibungen; Dekonstruktion; Demonstrative und Indexikalische Zeichen; Eigennamen; Geltungsbereich; Indirekte Rede; Kompositionalität; Logik, Philosophie der; Logischer Positivismus; Masseausdrücke; Moore, G.E.; Russell, B.; Semantik; Semiotik; Sinn und Bedeutung; Uneindeutigkeit; Undurchsichtigkeit Anmerkungen und weitere Lektüre: Lycan, William (1999): ‚Philosophy of Language: A Contemporary Introduction‘. London, Routledge. (Eine klar strukturierte Einführung mit Betonung auf der systematischen Semantik und Pragmatik.) Taylor, Kenneth (1998): ‚Truth and Meaning: An Introduction to the Philosophy of Language. Oxford: Blackwell. (Fortgeschrittene Lektüre, erfordert aber dennoch kein Vorwissen.) Wright, Crispin and Hale, Bob (Hrg.) (1999): ‚A Companion to the Philosophy of Language‘. Oxford: Blackwell. (Eine Sammlung von Aufsätzen, die den Stand der gegenwärtigen Debatte über zentrale Fragen referieren. Für fortgeschrittene Leser.) MARK CRIMMINS
Sprechakte
Einen Satz zu sprechen kann sich als paradigmatische Verwendung von Sprache äußern, aber es gibt noch viele andere Dinge, die wir mit Sprache anstellen können. Wir können Bitten formulieren, Fragen stellen, Befehle erteilen, Versprechen geben, Dank sagen, um Verzeihung bitten etc. Ferner ist praktisch jeder Sprechakt in Wirklichkeit die Durchführung von mehreren Sprechhandlungen zur selben Zeit, die sich durch unterschiedliche Aspekte der Sprecherintention unterscheiden. Da ist die Sprechhandlung, etwas zu sagen, das jemand tut, indem er dies sagt, wie z.B. um etwas bitten oder ein Versprechen geben, oder wie jemand sein Publikum affektiv zu berühren versucht. Die Theorie der Sprechakte ist zum Teil taxonomischer und teilweise explanatorischer Natur. Sie muss systematisch Typen von Sprechakten und die Weisen, auf die sie erfolgreich sein oder versagen können, einteilen. Sie muss mit der Tatsache rechnen, dass die Beziehung zwischen den Worten, die im Sprechakt verwendet werden, 1729
Staat, Der
sowie die Kraft ihrer Äußerung oft indirekt oder versteckt gegeben sind. Beispielsweise kann der Satz: ‚Dies ist ein Schweinestall‘ im nichtwörtlichen Sinne verwandt werden um zu sagen, dass ein Raum sehr unordentlich ausschaut und damit gleichzeitig die Forderung kommunizieren, dass er aufgeräumt wird. Doch selbst wenn dieser Satz wortwörtlich und direkt ausgesprochen wird, z.B. um einen bestimmten Bereich eines Bauernhofs zu beschreiben, ist der Inhalt dieser Äußerung nicht vollständig durch seine linguistische Bedeutung bestimmt. Insbesondere bestimmt die Bedeutung des Wortes ‚Dies‘ nicht, welcher Bereich genau gemeint ist. Eine große Aufgabe für die Theorie der Sprechakte ist es folglich darzustellen, wie Sprecher mit ihren Sprechakten erfolgreich sein können, obwohl die linguistische Bedeutung doch auf vielfältige Art und Weise unterbestimmt ist. Im Allgemeinen sind Sprechakte Kommunikationshandlungen. Zu kommunizieren heißt, eine bestimmte Einstellung auszudrücken, und der Typ des Sprechaktes, der durchgeführt wird, entspricht dem Haltungs- oder Einstellungstyp, der ausgedrückt wird. Beispielsweise drückt eine Aussage eine Überzeugung, eine Bitte einen Wunsch und eine Entschuldigung ein Bedauern aus. Als kommunikative Handlung ist ein Sprechakt erfolgreich, wenn die Zuhörerschaft in Übereinstimmung mit der Absicht des Sprechers die Einstellung, die ausgedrückt wird, identifiziert. Einige Sprechakte sind nicht in erster Linie Kommunikationshandlungen, sondern haben die Funktion, institutionelle Zustände zu beeinflussen oder auf sie einzuwirken. Sie können dies auf zwei verschiedene Weisen tun. Einige urteilen z.B. offiziell, dass etwas der Fall sei, und andere stellen es selbst her, dass etwas ab der Äußerung der Fall ist. Unter Äußerungen der ersten Art fallen z.B. die richterlichen (zivilrechtlichen) Urteile, die Sachverständigenurteile und die Beratereinschätzungen, und unter die Letzteren fallen die strafrechtliche Verurteilung, das Vermächtnis und die Ernennung. Handlungen beider Arten können nur auf bestimmte Weisen und unter bestimmten Umständen durch jene vorgenommen werden, die Mitglieder bestimmter institutioneller oder sozialer Einrichtungen sind bzw. dort Positionen bekleiden. Siehe auch: Grice, H.P.; Pragmatik; Semantik; Sprache, Philosophie der KENT BACH
Sprecherintention
Siehe: Kommunikation und Intention
Staat, Der
Staaten sind mächtig und von grundlegender Bedeutung in der modernen Welt. Der Einzelne kann ihnen nicht entrinnen. Sie steuern einen wesentlichen Anteil zum Wohlstand ihrer Mitglieder bei. Sie besteuern, beschlagnahmen oder enteignen privates Eigentum. Sie berufen zum Wehrdienst ein. Sie verhängen Strafen, in einigen Ländern bis hin zur Todesstrafe. Sie nehmen ihre Mitglieder gegen Aggression in Schutz und verteidigen ihre Rechte. Und sie leisten Ausbildungs-, Gesundheits- und andere, wesentliche soziale Dienste. Staaten stehen auch im Mittelpunkt der modernen politischen Philosophie und sind eines ihrer Hauptthemen. Beispielsweise betreffen die unterschiedlichen Theorien der sozialen Gerechtigkeit Fragen, welchem Prinzip oder welchen Prinzipien der Gerechtigkeit Staaten folgen sollten. Wiederum setzten Diskussionen der Rechte Einzelner oder von Gruppen Staaten voraus, um die gewährten Rechte durchsetzen 1730
Staatsbürgerschaft
zu können. Die Antworten auf traditionelle Fragen wie z.B. jener, ob man moralisch verpflichtet ist, den Gesetzen eines Staates zu gehorchen, oder ob die Freiheit durch einen Staat eingeschränkt oder durch ihn erst möglich wird, muss teilweise davon abhängen, was man überhaupt unter einem Staat versteht. Über die Hauptmerkmale des modernen Staates besteht weitgehend Einigkeit; dies sind die Bevölkerung, das Territorium, die wirksame und legitime Regierung und die Unabhängigkeit. Es gibt jedoch dem zugrunde liegenden Annahmen, die es zu bemerken gilt, und viele Fragen über den Staat, insbesondere jene betreffend seine eigenen Tätigkeiten, sind strittig. Ferner kann man die Bedeutung des Staates in Frage stellen, und dies wird auch künftig geschehen, insbesondere im Licht einer zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Globalisierung und des damit einhergehenden moralischen Kosmopolitismus. PETER P. NICHOLSON
Staatsbürgerschaft
In der politischen Philosophie bezieht sich der Ausdruck ‚Staatsbürgerschaft‘ nicht nur auf einen Rechtsstatus, sondern auch auf ein normatives Ideal, nämlich jenes, dass die Regierten volle und gleichberechtigte Teilnehmer des politischen Prozesses sein sollten. Als solches ist es ein ausgesprochen demokratisches Ideal. Menschen, die von Monarchen oder Militärdiktatoren regiert werden, sind Untergebene, keine Bürger. Die meisten Philosophen sehen daher die Staatsbürgerschaft als eine Erweiterung der Demokratie-Theorie. Die Demokratie-Theorie hat die politischen Institutionen und Prozeduren zum Gegenstand; die Staatsbürgerschaftstheorie konzentriert sich auf die Attribute einzelner Beteiligter. Ein wichtiger Punkt in der Staatsbürgerschaftstheorie betrifft das Bedürfnis der Bürger nach aktiver Beteiligung am politischen Leben. In den meisten Ländern ist die Beteiligung an der Politik nicht obligatorisch, und die Menschen sind frei darin, sich privat zu einem politischen Engagement zu verpflichten. Wenn jedoch zu viele Bürger untätig sind, kollabieren die demokratischen Institutionen. Ein weiterer Punkt betrifft die Identität der Staatsbürger. Die Staatsbürgerschaft soll einen gemeinsamen Status und eine ebensolche Identität zur Verfügung stellen, die den Mitgliedern der Gesellschaft hilft, sich zu integrieren. Einige Theoretiker stellen jedoch die Frage, ob sich die übliche Institution der Staatsbürgerschaft dem wachsenden sozialen und kulturellen Pluralismus moderner Gesellschaften anzupassen vermag. Sieh auch: Demokratie, Republikanismus WILL KYMLICKA
Statistik
Die Disziplin der Statistik umfasst eine extrem breite und heterogene Menge von Problemen und Techniken. Diese beziehen sich auf Probleme der statistischen Schlussfolgerung, was mit Schlussfolgerungen aus einer abgeschlossenen Beispieldatenmenge zu tun hat (z.B. den beobachteten Ergebnissen des Werfens einer Münze oder der zufälligen Ziehung einer Anzahl Kugeln auf einem Vorratsbehälter, der Kugeln verschiedener Farbe enthält) oder den Merkmalen einer zugrunde liegenden Verteilung, aus der die Probe entnommen wird (beispielsweise die Wahrscheinlichkeit der oben liegenden ‚Zahl‘ nach dem Münzwurf, oder der relative Anteil roter Kugeln in dem Vorratsbehälter).
1731
Statistik und Sozialwissenschaft
Es gibt zwei miteinander im Widerstreit liegende Ansätze zur Begründung des statistischen Schlusses. Die klassische Tradition leitet sich von Ideen von Ronald Fisher, Jerzy Neyman und Egon Pearson ab und verkörpert die Standardbehandlung der Hypothesenprüfung, des Konfidenzintervalls9 und der Schätzung, die sich in vielen statistischen Lehrbüchern findet. Die ‚Klassiker‘ gehen von einer Konzeption der Wahrscheinlichkeit als relativer Häufigkeit aus und weichen, bis auf Sonderfälle, der Zuweisung von Wahrscheinlichkeiten zu Hypothesen aus und suchen stattdessen nach einem Grundprinzip für den statistischen Schluss auf der Grundlage von Tatsachen über die Irrtumsmerkmale der Testvorrichtung. Im Gegensatz dazu geht die Bayessche Tradition, die so heißt, weil sie Bayes’ Theorem10 eine zentrale Rolle zuweist, von einer subjektiven Konzeption des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aus, wo der Überzeugungsgrad im Mittelpunkt steht, und stellt das Ergebnis eines statistischen Schlusses als eine Behauptung darüber dar, wie wahrscheinlich eine statistische Hypothese im Lichte der vorgelegten Beweise ist. Siehe auch: Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Induktionsschluss, Statistik und Sozialwissenschaft
JAMES WOODWARD
Statistik und Sozialwissenschaft
Es gibt eine Reihe spezifischer Anwendung für die Statistik in den Sozialwissenschaften. Eine besteht z.B. darin, einfach eine summarische Beschreibung komplizierter Merkmale innerhalb einer Population zu beschreiben. Eine zweite Verwendung der Statistik ist die Voraussage einiger Merkmale bei einer Einheit oder einer Gruppe innerhalb einer Population, bei der weitere Merkmale der Einheit oder der Gruppe vorliegen. Beispielsweise kann eine Versicherungsgesellschaft ihre Krankenversicherungsbeiträge für Menschen senken, die nicht rauchen, weil Raucher ein geringeres Lungenkrebsrisiko mit sich bringen. Einige Versicherungsgesellschaften könnten auch niedrigere Krankenversicherungsbeiträge bei Menschen einfordern, die keinen schweren Husten haben, weil das LungenkrebsriAls ‚Konfidenzintervall‘ bezeichnet man in der Statistik einen Unsicherheitsbereich bei der Schätzung eines relevanten Parameters (z.B. des Mittelwerts, des Medians (d.h. der sog. Zentralwert im Sinne einer Grenze zwischen zwei Hälften; statistisch die Halbierung einer Stichprobe), der Differenz zweier Mittelwerte, des Regressionskoeffizienten, der Differenz zweier Wahrscheinlichkeiten, der sog. Risk Ratio oder Odds Ratio etc.) aus einer Stichprobe. Das Ergebnis einer solchen Schätzung ist abhängig von der gezogenen Stichprobe und weist damit eine Zufallsschwankung auf. Zur Berechnung eines Konfidenzintervalls muss man die gewünschte Überdeckungswahrscheinlichkeit festlegen (häufig 95%). Ein 95%-Konfidenzintervall ist beispielsweise ein Bereich, der den theoretischen, d.h. noch unbekannten Wert des interessierenden Parameters mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% beinhaltet. [WS] 10 Das Bayessche Theorem ist eine Methode zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit, ob eine Stichprobe zur Gruppe der Gegenstände mit dem gesuchten Merkmal gehört. Bedingung ist lediglich, dass das gesuchte Merkmal zuvor bestimmt wird und die Stichprobe willkürlich aus der Population herausgegriffen wird. Unter Anwendung dieser Methode lassen sich beispielsweise folgende Aussagen formulieren: ‚Von den TBC-Kranken einer untersuchten Gruppe werden 90% durch Röntgenaufnahmen entdeckt; 10% bleiben unentdeckt. Von den TBC-Erregerfreien werden 99% als solche erkannt und 1% falsch verdächtigt. Die TBC-Rate der gesamten, untersuchten Population beträgt 0,001%.‘ Solche komplexen statistischen Aussagen sind innerhalb der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre nicht ohne weiteres möglich. [WS] 9
1732
Stewart, Dugald (1753-1828)
siko ebenfalls bei ihnen geringer ist. Voraussagen können auf der Grundlage eines Wahrscheinlichkeitsmodells beim Zusammentreffen von Rauchen, Lungenkrebs und schwerem Husten in der Versichertenpopulation entwickelt werden. Eine dritte Anwendung der Statistik besteht darin, bei der Voraussage wahrscheinlicher Wirkungen infolge unterschiedlicher politischer Maßnahmen Hilfestellung zu leisten. Beispielsweise könnte eine Regierung über eine Reihe von alternativen Maßnahmen zur Verringerung der Lungenkrebsrate nachdenken. Eine denkbare Maßnahme wäre das Rauchverbot im öffentlichen Raum. Eine weitere Maßnahme könnte sein, jeden, der schweren Husten hat, zur Einnahme einer bestimmten Medizin zu verpflichten. Sowohl Rauchen, als auch schweres Hust sind Indikatoren von Lungenkrebs. Weil aber das Rauchen eine Ursache von Lungenkrebs ist, scheint die erste Maßnahme, als würde sie die gewünschte Wirkung herbeiführen, während die zweite dafür nicht tauglich erscheint. Um solche politischen Fragen beantworten zu können, müssen wir nicht nur wissen, wie die Merkmalsvariablen in der wirklichen Bevölkerung verteilt sind, sondern auch, wie sie kausal miteinander in Beziehung stehen. Ein Kausalmodell bestimmt die Kausalbeziehungen zwischen Merkmalen einer Population und legt auch die Wahrscheinlichkeitsverteilung dieser Merkmale fest. Die statistische Information kann zusammen mit Kausalinformationen zur Voraussage von Wirkungen bei Ergreifung verschiedener Maßnahmen verwendet werden. Eine vierte Verwendung der Statistik ist ihre Rolle als Entscheidungshilfe, welche Maßnahme ergriffen werden sollte, um bestimmte Ziele zu erreichen. Solche Entscheidungen beruhen nicht nur auf den wahrscheinlichen Wirkungen einer jeder möglichen Maßnahme, sondern auch auf der Zuweisung unterschiedlicher Nützlichkeitsgrade zu jedem der Ergebnisse. Dieser Einsatz der Statistik ist ein Teilbereich der Entscheidungs- und Spieltheorie. Siehe auch: Entscheidungs- und Spieltheorie; Statistik PETER SPIRTES
Stewart, Dugald (1753-1828)
Dugald Stewart war nach Thomas Reid die einflussreichste Figur in der schottischen Common-sense-Schule. Er übte großen Einfluss auf Victor Cousin und Théodore Louffroy in Frankreich, sowie auf die meisten akadmischen Philosophen der USA aus. Zusammen mit Reid und Cousin macht Stewart die schottische Tradition für ein halbes Jahrhundert zur dominanten Philosophie Amerikas. Seine ‚Elements of the Philosophy of the Human Mind‘ und die ‚Philosophy of the Active and Moral Powers of Man‘ waren seine wichtigsten Werke und erlebten mehrere Auflagen. Eine gekürzte Fassung seiner ‚Active and Moral Powers‘ wurde zwischen 1849 und 1868 zehn Mal gedruckt. Stewart folgte Reid in der Behauptung, dass jede Philosophie, die dem Prinzip des common sense zuwiderläuft, falsch sein müsse, und das Problem sei die Entdeckung und Beseitigung der Prämissen, die zu solchen unerwünschten Resultaten führe. Er fügte die Forderung hinzu, dass die philosophischen Aussagen die alltäglichen Bedeutungen von Begriffen nicht verändern dürften, und er fügte auch der Handlungstheorie von Reid eine neue Dimension hinzu. Mehr als jeder andere Autor betonte er zu Recht die erkenntnistheoretischen Ähnlichkeiten zwischen Reid und Immanuel Kant, folgte aber Reid in der Vermeidung von Kants Unterscheidung zwischen Phänomenen und Noumena. 1733
Stirner, Max (1806-1856)
Stewart war sich mit Reid über die Vermeidung der Wendung ‚Prinzipien des common sense‘ nicht einig, weil er sie als irreführend empfand. Er lehnte auch die realistische Interpretation der Universalien seines Mentors ab und lieferte stattdessen seine eigene, nominalistische Alternative. Er veränderte in gewissem Umfange, wenn auch sehr sorgsam, Reids starren Induktivismus und kam ihm in seiner realistischen Interpretation seiner wissenschaftlichen Hypothesen entgegen. Stewart war zur Diskussion von Fragen der Wissenschaftsphilosophie imstande, weil er in der Mathematik und der Physik versiert war, denn er war in Edinburgh zehn Jahre lang Professor für Mathematik gewesen, bevor er zum Professor für Moralphilosophie ernannt wurde. Stewart war wahrscheinlich der erste und beste Wissenschaftsphilosoph der schottischen Tradition. Sieh auch: Common-Sense-Schule; Alltagsphilosophie; Theorie, Wissenschaftliche
EDWARD H. MADDEN
Stillingfleet, E.
Siehe: Cambridge-Platonismus; Locke, John
Stirner, Max (1806-1856)
Max Stirner ist der Autor des Buches ‚Der Einzige und sein Eigentum‘, das erstmals im Jahre 1844 in Deutschland veröffentlicht wurde und für die Eigenheiten seiner Argumente und seiner Sprache bekannt wurde. Stirner verdammt die Moderne als eine Zeit, die fest den religiösen Denkweisen verhaftet sei; er sah eine positive egoistische Zukunft voraus, in der die Menschen von der Tyrannei dieser Ideen und von sozialen Einrichtungen, die die Autonomie einschränken, befreit würden. ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ war einer der Anstöße, die den Niedergang der Helgelschen Linken als einer kohärenten intellektuellen Bewegung einleiteten, und das Buch spielte auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Marxismus. Stirner wird vielfach auch als ein Vorläufer von Nietzsche gesehen, als ein individualistischer Anarchist und als Vorbote des Existenzialismus. Siehe auch: Anarchismus; Egoismus und Altruismus DAVID LEOPOLD
Stoizismus
Der Stoizismus ist ein antikes, griechisches, philosophisches System, das durch Zenon von Citium um das Jahr 300 v. Chr. begründet und durch ihn und seine Nachfolger zu einer der einflussreichsten Philosophien der hellenistischen Epoche entwickelt wurde. Der Stoizismus betrachtet die Welt als etwas, was von Rationalität durchdrungen und von Seiten der Götter als die beste aller möglichen Organisationen der Materie geplant wurde. Die moralische Güte und das Glück erreicht man, wenn überhaupt, indem man diese vollkommene Rationalität in sich selbst wiederholt, und indem man die einem im kosmischen Schema der Dinge zugeordnete Rolle herausfindet und erfüllt. Die führenden Figuren des klassischen oder frühen Stoizismus sind die ersten drei Leiter der Stoa: Zenon von Citium, Kleanthes und Chrysippos. Es ist vor allem der brillante und unermüdliche Chrysippos, dem der Aufbau des Stoizismus zu einem wirklich umfassenden System zu verdanken ist. Der ‚frühe Stoizismus‘, der hier diskutiert wird, ist tatsächlich weitgehend identisch mit seiner Philosophie.
1734
Stoizismus
Keine der formalen philosophischen Schriften der frühen Stoiker sind unversehrt erhalten geblieben. Unsere Kenntnisse hängen weitgehend von einzelnen Zitaten und sekundären Berichten ab, von denen viele feindselig sind. Gleichwohl wurde das System bis in die Einzelheiten rekonstruiert, und trotz aller Lücken und Ungewissheit lebt es doch in seiner Selbstbeschreibung als ein vereinheitlichtes Ganzes. Der Stoizismus ist in drei Hauptteile eingeteilt: die Physik, die Logik und die Ethik. Die Welt ist dieser Lehre zufolge ein ideal guter Organismus, dessen eigene, rationale Seele ihn selbst zu seinem Besten leitet. Jeder Eindruck von Unvollkommenheit kommt von der irrtümlicherweise isolierten Betrachtung seiner Teile (einschließlich von uns selbst), so als wollte jemand die Interessen des Fußes gesondert von den Bedürfnissen des gesamten Körpers betrachten. Die gesamte Folge der kosmischen Ereignisse ist im Vorhinein bis ins Detail angeordnet. Da sie die bestmögliche Ereignisfolge ist, wird sie identisch von einer Weltphase zur nächsten wiederholt, wobei jede Phase mit einem Weltbrand endet, dem die kosmische Erneuerung folgt. Die kausale Bindung an das ‚Schicksal‘ überdeckt jedoch nicht unsere Verantwortung für unsere Handlungen. Diese bleiben im Bereich unserer Macht, weil wir selbst, und nicht die äußeren Umstände, ihre grundlegenden Ursachen sind, und in einem gewissen, geeigneten Sinne ist es uns möglich, uns auch anders zu verhalten, selbst wenn es vorherbestimmt ist, dass wir es letztlich nicht tun. Auf der untersten Ebene der physikalischen Analyse beruhen die Welt und ihre Inhalte auf zwei koextensiven Prinzipien: der passiven Materie und dem aktiven Gott. Auf der untersten beobachtbaren Ebene sind diese beiden Prinzipien allerdings bereits in die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer unterteilt. Luft und Feuer bilden eine aktive und alles durchdringende Lebenskraft, die als pneuma, zu Deutsch ‚Atem‘, bezeichnet wird, und die die Eigenschaften aller Körper bildet, und die darüber hinaus in einer besonders verdünnten Form als die Seele der lebenden Dinge dient. Das Sein ist eine Eigenschaft allein von Körpern, doch die meisten Dinge erweisen sich als Körper, sogar die moralischen Qualitäten, die Klänge, die Jahreszeiten etc., denn nur die Körper können kausal miteinander wechselwirken. Beispielsweise ist die Gerechtigkeit ein bestimmter Seelenzustand, wobei die Seele selbst pneuma ist und damit ein Körper. Ein Schema der vier ontologischen Kategorien hilft bei dieser Art von Gliederung. Zusätzlich erkennt der Stoizismus aber auch vier unkörperliche Kategorien an: den Ort, die Leere, die Zeit und das lekton, was grob gesagt den ausgedrückten Inhalt eines Satzes oder Prädikates bezeichnet. Die Universalien werden als fiktionale, wenn auch nützliche Gedankenkonstrukte beiseite geschoben. Die Welt ist aus der Sicht der Stoa ein physikalisches Kontinuum, das unendlich teilbar und ohne jegliche Leere ist, dafür allerdings von einer unendlichen Leere umgeben. Ihre vollkommene Rationalität und damit die Existenz eines immanenten Gottes wird mit verschiedenen Fassungen des teleologischen Gottesbeweises verteidigt, wobei offenkundige Unvollkommenheiten z.B. als verborgene Wohltaten oder unvermeidliche Zugeständnisse an die bestmögliche Struktur wegerklärt werden. Die Logik umfasst im Stoizismus nicht nur die Dialektik, die die ‚Wissenschaft von den Beweisen‘ und damit das meint, was der Ausdruck ‚Logik‘ auch im modernen Sinne bedeutet, sondern auch die Erkenntnistheorie und vor allem die linguistischen Disziplinen. Die stoische Schlusslogik geht nicht von den einzelnen Ausdrü1735
Stoizismus
cken als den Grundeinheiten aus, wie dies in der aristotelischen Logik der Fall ist, sondern von ganzen Aussagen. Einfache Aussagen werden in Typen gruppiert und in Form komplexer Aussagen organisiert, z.B. als Konditionalsätze, und schließlich als vollständige Argumente bzw. Beweise. Alle Argumente entsprechen oder sind reduzierbar auf fünf grundlegende und ‚nicht demonstrierbare‘ Argumentformate. Das Studium logischer Rätsel ist ein weiteres zentrales Gebiet der stoischen Forschung. Die Stoiker verteidigten verbissen und gegen Angriffe der skeptischen Akademie die Überzeugung, dass die Erkenntnisgewissheit mittels gewöhnlicher Wahrnehmungserfahrung erreicht wird, vorausgesetzt, man hat Zugang zu vollkommen klaren Eindrücken (gr.: phantasia). Dieses ‚kognitive Erfassen‘ (gr.: ‚phantasia katalēptikē) ist von solcher Art, dass die Information, die es mit sich bringt, nicht falsch sein kann. Solche sich selbst vergewissernden Eindrücke, zusammen mit der natürlichen ‚Vorbegrifflichkeit‘ (gr.: prolēpsis), die die menschliche Vernunft bilden, sind Kriterien der Wahrheit, aus der sich schließlich das vollkommen wissenschaftliche Wissen (gr.: epistēmē) konstruieren lässt, das nur der Weise besitzt. Die stoische Ethik beginnt mit der oikeis, unserer natürlichen ‚Aneignung‘ zunächst von uns selbst, und später von denen, die um uns herum sind, wodurch die Sorge um den Anderen zum integralen Bestandteil des menschlichen Wesens wird. Gewisse konventionell geschätzte Dinge, wie die Ehre oder die Gesundheit, werden von der Natur anempfohlen und sollten auch gesucht werden, aber nicht um ihrer selbst Willen. Sie sind als Mittel zum Zweck zu bevorzugen, denn wenn man lernt, rational zwischen ihnen zu wählen, so ist dies ein Schritt vorwärts hin zur schließlichen Erreichung des Ziels eines ‚Lebens im Einklang mit der Natur‘. Es ist die Kohärenz der eigenen Wahlentscheidungen, nicht die Erreichung von gegenständlichen Zielen, um die es geht. Die Handlungsmuster, die ein solches Leben fördern, wurden systematisch als kathēkonta kodizifiziert, d.h. als ‚richtig eingetretene Funktionen‘. Tugend und Laster sind intellektuelle Zustände. Das Laster gründet auf den ‚Leidenschaften‘; diese sind im Grunde falsche Werturteile, in denen wir die rationale Kontrolle durch die Überbewertung von Dingen verlieren, die in Wirklichkeit nicht eine solche Bedeutung haben. Die Tugend im Sinne einer Reihe von Wissenschaften, die die moralische Wahlentscheidung leiten, ist die einzige Sache mit Wert an sich und daher im eigentlichen Sinne ‚gut‘. Der Weise ist nicht nur der einzige, der im Besitz der Tugend und des Glücks ist, sondern auch und paradoxerweise der Einzige, der die Dinge besitzt, denen die Menschen konventionellen Wert beimessen: der Schönheit, der Freiheit, der Macht etc. Wie stark sie auch geographisch verstreut sein mögen, die Weisen bilden eine wahre Gemeinschaft oder ‚Stadt‘, die durch das Naturgesetz geleitet wird. Die späteren Epochen der Schulen sind der ‚mittlere Stoizismus‘ des Panaetius und des Posidonius (vom 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr.) und die ‚römische‘ Epoche (1. und 2. Jahrhundert n. Chr.), die durch die hauptsächlich ethischen Schriften von Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius gekennzeichnet sind. Siehe auch: Prolēpsis DAVID SEDLEY
Strafe
Siehe: Verbrechen und Strafe
1736
Strawson, Peter Frederick (1919 – 2006)
Strawson, Peter Frederick (1919 – 2006)
Strawson lehrte ab 1947 an der Universität von Oxford, wurde dort im Jahre 1968 Waynflete Professor of Metaphysical Philosophy und wurde im Jahre 1987 emeritiert. Eine Reihe einflussreicher Bücher und Artikel machten ihn zu dieser Zeit zu einem der führenden Philosophen in Oxford. Er spielte eine Schlüsselrolle im dortigen Übergang von der vorherrschenden Philosophie Austins und der Sprachphilosophie in den 1950er Jahren hin zu den liberaleren und metaphysischen Ansätzen in den 1960er Jahren und später. Die Hauptgebiete, zu denen er schrieb, sind die Sprachphilosophie, die Metaphysik, die Erkenntnistheorie und die Geschichte der Philosophie. Strawson wurde im Jahre 1950 mit dem Buch ‚On Referring‘ (dt.: ‚Über die Referenz‘) bekannt, in dem er Russell wegen dessen fehlerhafter Rekonstruktion unserer gewöhnlichen Verwendung definiter Beschreibungen kritisierte. Strawson vertrat die Losung: ‚Die Alltagssprache hat keine exakte Logik‘. Diese Sichtweise wird in seiner ‚Introduction to Logical Theory‘ (dt.: ‚Einführung in die logische Theorie‘, 1952) erforscht. Hier trägt er vor, dass der Nutzen der formalen Logik bei ihrer Anwendung auf die Alltagssprache nicht impliziere, dass die Bedeutung der Alltagssprache durch die Semantik der formalen Standardsysteme abgebildet werde. In ‚Individuals‘ (dt.: ‚Einzeldinge‘, 1959), Strawsons am meisten diskutiertem Werk, beschäftigt er sich mit der deskriptiven Metaphysik. Er versucht hier die referentiell grundlegenden Gegenstände unseres Denkens auszumachen. Dies sind relativ dauerhafte, wahrnehmbare und erneut identifizierbare Körper. Das andere Element im dem hier geschilderten, fundamentalen Rahmen ist das, was Strawson ‚Personen‘ nennt, d.h. dauerhafte Entitäten, die sowohl materielle, als auch psychologische Merkmale aufweisen. In ‚The Bounds of Sense‘ (dt.: ‚Die Grenzen des Sinns‘, 1966) setzt Strawson die Entwicklung seiner metaphysischen und erkenntnistheoretischen Ideen fort, indem er eine kritische Studie von Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ mit der Verteidigung einiger transzendentaler Behauptungen kombiniert, die den kantischen ähneln. Sich selbst als ein dauerhaftes Erfahrungssubjekt zu denken erfordert, dass man Gegenstände anerkennt, die von einem selbst unabhängig sind. Damit kann das größte erkenntnistheoretische Problem der empiristischen Tradition, nämlich der Aufbau einer externen Welt aus der privaten Erfahrung, nicht entstehen. ‚Skepticism and Naturalism; Some Varieties‘ (dt.: ‚Skeptizismus und Naturalismus‘, 1985) untersucht die Konflikte zwischen fundamentalen Meinungen, die uns selbstverständlich erscheinen, wie z.B. jene, dass wir Dinge wissen, im Gegensatz zu philosophischen Behauptungen, dass diese Meinungen irrig seien. Strawson macht geltend, dass man dem Skeptizismus gegenüber diesen natürlichen Auffassungen widerstehen sollte und dies auch könne. Während seiner ganzen beruflichen Laufbahn hat Strawson versucht, den grundlegenden Inhalt unserer Gedanken und Erfahrungen zu beschreiben, um dem Skeptizismus oder der Revision solcher Gedanken etwas entgegensetzen zu können, um sie durch die Herstellung einer analytischen Verbindung zwischen ihren grundlegenden Elementen zu erhellen, sowie um die Sprache zu erforschen, die unser Vehikel zum Ausdruck dieser Gedanken ist. Er hat seine Erkundungen mit den Einsichten von vergangenen Philosophen verbunden, während er sich gleichzeitig in kritischen Debatten mit den jeweils führenden anderen Philosophen seiner Epoche, wie z.B. Austin, Quine, Davidson und Dummett, auseinandersetzte. PAUL F. SNOWDON 1737
Strukturalismus
Strukturalismus
Der Ausdruck ‚Strukturalismus‘ kann zur Bezeichnung einer jeden Betrachtung verwendet werden, die Strukturen und Beziehungen betont; er wird allerdings üblicherweise zur Bezeichnung einer europäischen, speziell französischen Denkschule des 20. Jahrhunderts verwendet, die die Methoden der strukturalen Linguistik auf das Studium sozialer und kultureller Phänomene anwendet. Indem sie auf der Einsicht aufbauen, dass soziale und kulturelle Phänomene keine physikalischen Gegenstände und Ereignisse sind, sondern Gegenstände und Ereignisse mit Bedeutung, und dass ihre Bedeutung folglich im Zentrum der Analyse stehen müsse, lehnen die Strukturalisten die Kausalanalyse und jeden Versuch zur Erklärung sozialer und kultureller Phänomene in unmittelbarer Gegenüberstellung von Tatsache und Analyse ab. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die interne Struktur kultureller Gegenstände, und was noch wichtiger ist, auf die zugrunde liegenden Strukturen, die solche Strukturen überhaupt erst ermöglichen. Um beispielsweise Krawatten zu erforschen, würde der Strukturalismus versuchen (1) die interne Struktur von Krawatten zu ermitteln (d.h. den Gegensatz von weiten/engen, bunten/gedeckten etc. Krawatten, die die unterschiedlichen Krawattenarten ermöglichen, die damit auch unterschiedliche Bedeutungen für die Mitglieder einer Kultur ausdrücken), und (2) die zugrunde liegenden Bekleidungsstrukturen oder -systeme einer gegebenen Kultur (d.h. die Frage, wie sich Krawatten zu anderen Arten von Kleidungsstücken verhalten, und in welchem Verhältnis das Tragen von Krawatten zu anderen sozial kodierten Handlungen steht). Ferdinand de Saussure, der nicht ganz zu Recht als Gründer der strukturalen Linguistik gilt (s. Saussure, Ferdinand de), bestand darauf, dass beim Studium der Sprache der Untersuchende ein linguistisches System beschreiben müsse, das aus Strukturen, und nicht aus Substanzen besteht. Der physikalische Klang eines Wortes oder Zeichens ist für seine sprachliche Funktion nicht relevant; was zählt, seien die Beziehungen, d.h. die Gegensätze, die die Zeichen differenzieren. Deshalb kann in Morses Zeichensystem der ‚Punkt‘ eines Anfängers länger sein als der ‚Strich‘ eines Experten: die strukturale Beziehung, d.h. die bestehende Unterscheidung zwischen Punkt und Strich, sei alles, was zähle. Für die Strukturalisten ist entscheidend, dass der Gegenstand der Analyse nicht die Gesamtheit der Äußerungen ist, die Linguisten sammeln mögen, also nicht das, was Saussure als parole (dt.: ‚gesprochener Satz‘) identifiziert, sondern das zugrunde liegende Sprachsystem der langue (dt.: ‚Sprache‘), d.h. eine Reihe formaler Elemente, die in ihrer Beziehung zueinander definiert werden, und die auf unterschiedliche Weise zur Bildung von Sätzen kombiniert werden können. Indem die Strukturalisten geltend machten, dass die Analyse von Beziehungssystemen der richtige Weg zum Studium menschlicher Phänomene sei, und dass unsere Welt nicht aus Dingen, sondern aus Beziehungen bestünden, behaupteten sie oft, sie würden ein neues Paradigma für die Wissenschaften liefern. In Frankreich verdrängte der Strukturalismus in den 1960er Jahren den Existenzialismus als öffentliche philosophische Bewegung. Die Vertreter des Strukturalismus waren innerhalb der Philosophie ferner darum bemüht, die Denkschule von jener der Phänomenologie abzugrenzen. Siehe auch: Strukturalismus in der Linguistik; Strukturalismus in den Sozialwissenschaften
JONATHAN CULLER
1738
Strukturalismus in der Linguistik
Strukturalismus in der Linguistik
Der Ausdruck ‚strukturalistische Linguistik‘ kann zur Bezeichnung zweier Bewegungen verwendet werden, die sich unabhängig voneinander entwickelten. Die erste ist europäischen Ursprungs und kann als ‚postsaussursche‘ Linguistik beschrieben werden, denn Saussure wird üblicherweise als ihr Gründer betrachtet. Die zentrale Behauptung dieser Bewegung ist es, dass Ausdrücke aller Art einer Sprache (Klänge, Worte, Bedeutungen) sich Saussures Ausdrucksweise zufolge ‚als ein System‘ darstellen und nur dadurch identifiziert werden können, dass man ihre Beziehungen mit jeweils anderen Ausdrücken derselben Sprache beschreibt. Man kann dagegen nicht erst die Ausdrücke einer Sprache identifizieren und dann danach fragen, zu welchem System sie gehören. Weil eine Sprache ein Zeichensystem ist, kann man ferner keine Ausdruckselemente (Klänge, Worte) unabhängig von den Inhaltselementen (Bedeutungen) bestimmen, so dass sich ein Studium der Sprache nicht von jenem der Bedeutung trennen lässt. Die zweite Bewegung, die als ‚Strukturalismus‘ bezeichnet wird, ist amerikanischen Ursprungs, die sich aus dem Werk von Leonard Bloomfield entwickelte und die amerikanische Linguistik der 1940er und 1950er Jahre dominierte. Dieser Strukturalismus maß der methodischen Strenge große Bedeutung bei und stand infolge des Einflusses der behavioristischen Psychologie feindselig zum Mentalismus, womit jede Theorie gemeint war, die eine unabhängige Kategorie geistiger Ereignisse und Prozesse behauptete. Als Ergebnis hiervon erschloss sie, anders als der französische Strukturalismus, das Studium der Bedeutung durch das Studium der Grammatik und versuchte eine Methodik zu entwickeln, durch die man eine jede Satzgesamtheit nach Maßgabe der relativen Verteilung ihrer Ausdruckselemente zu beschreiben versuchte. Während die erstgenannte Bewegung als Modell des strukturalistischen Denkens im Allgemeinen diente und eine bemerkenswerte Wirkung auf solche Denker wie Barthes, Lacan und Lévi-Strauss hatte, leistete die letztgenannte einen größeren Beitrag zur Entwicklung formaler Modelle der Sprache, auch wenn diese inzwischen im Lichte der Chomskyschen Kritik nicht mehr als angemessen erscheinen. Siehe auch: Strukturalismus; Syntax DAVID HOLDCROFT
Strukturalismus in den Sozialwissenschaften
Jede Denkschule der Sozialwissenschaften, die den Vorrang der Ordnung vor der Handlung betont, ist ‚struktural‘. Im 20. Jahrhundert wurde der Ausdruck ‚Strukturalismus‘ jedoch zur Bezeichnung einer europäischen, weitgehend französischsprachigen Denkschule verwendet, die Methoden und Konzeptionen der Ordnung, die in der strukturalen Linguistik entwickelt worden waren, auf eine große Vielzahl kultureller und sozialen Phänomene anwandte. Dieser Strukturalismus beanspruchte, ein wissenschaftlicher Ansatz gegenüber der Sprache und sozialer Phänomene zu sein, der, indem er sie als von autonomen Gesetzen gesteuerte Strukturen auffasste, die Bedeutung des sozialhistorischen Kontextes, aber auch des individuellen und des kollektiven Handelns minimierte. Die strukturale Linguistik wurde im frühen 20. Jahrhundert von dem Schweizer Linguisten Ferdinand des Saussure entwickelt.11 Nach dem 2. Weltkrieg führte dies zu ungefähr drei Phasen der strukturellen HeranZu den neueren Erkenntnissen betreffend die komplizierte Autorensituation bei den Saussurschen Schlüsseltexten siehe Saussure, Ferdinand. [WS]
11
1739
Suárez, Francisco (1548-1617)
gehensweise an soziale Phänomene. Unter der Führung vor allem des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss wandte der klassische Strukturalismus strukturale linguistische Strukturbegriffe mit relativ geringen Änderungen auf solche sozialen Phänomene wie Verwandtschaftsstrukturen, Mythen, Kochgewohnheiten, die Religion und die Ideologie an. Zur selben Zeit eignete sich der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan den Saussureschen Begriffsapparat zur theoretischen Neuinterpretation des Freudschen Unbewussten an. In den 1960er Jahren erweiterte eine zweite Phase des strukturalistischen Denkens, ‚Neostrukturalismus‘ genannt, die strukturlinguistischen Ordnungsbegriffe auf ein noch umfassenderes Spektrum soziale Phänomene an, einschließlich der Erkenntnis, der Politik und der Gesellschaft als Ganzer. Viele der typischen Saussureschen Konzeptionen wurden in dieser Phase jedoch aufgegeben. Seit den 1970er Jahren hat eine dritte Phase des Strukturalismus, die auch als ‚Poststrukturalismus‘ bezeichnet wird, die allgemeinen Theorien des Soziallebens weiter entwickelt und sich darauf konzentriert, wie Strukturen Handlungen leiten. Indem sie die strukturale Theorie auf diese Weise neu justierten, brachen die neuen Strukturalisten allerdings mit jener Konzeption der Struktur, die bis dahin das strukturale Denken beherrscht hatte. THEODORE R. SCHATZKI
Suárez, Francisco (1548-1617)
Francisco Suárez stand im Mittelpunkt derjenigen Personen, durch die die mittelalterliche Philosophie in die Neuzeit vermittelt wurde. Er erhielt zunächst eine rechtswissenschaftliche Ausbildung, und nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden auch in der Philosophie und Theologie. Er schrieb auf allen drei Gebieten. Seine philosophischen Schriften betrafen hauptsächlich die Metaphysik, die Psychologie und die Rechtsphilosophie, doch sowohl in seinen philosophischen, als auch in seinen theologischen Arbeiten behandelte er viele damit zusammenhängende erkenntnistheoretische, kosmologische und ethische Fragen. Während seine grundlegende Perspektive die eines sehr unabhängigen Thomisten ist, folgt seine Metaphysik eher dem früheren Denkansatz von Avicenna (siehe Ibn Sina, Abu ‘Ali Al-Husayn, 980-1937) und Duns Scotus (1266-1308), indem er als Gegenstand der Metaphysik ‚das Sein, insofern es wirkliches Sein ist‘ auffasste. Durch Hinzufügung des Wortes ‚wirklich‘ zu der ursprünglich aristotelischen Formel betonte Suárez Aristoteles’ Aufteilung des Seins in das kategoriale Sein und das ‚Sein als wahres Sein‘, sowie Aristoteles’ Ausschluss des Letzteren aus den Gegenständen der Metaphysik. Suárez’ Metaphysik, die sich in einen allgemeinen Teil aufteilt, der mit dem Begriff des Seins als solchem umgeht, sowie mit dessen Eigenschaften und Ursachen, und einen zweiten Teil, der bestimmte Seinsformen (Gott und die Geschöpfe) zusätzlich zu den Kategorien des Seins untersucht, endet mit einer bemerkenswerten Behandlung der geistabhängigen Wesen bzw. des ‚Seins der Vernunft‘. Letztere umfassen auch die Negationen, die Privationen und die Vernunftbeziehungen, doch Suárez’ Behandlung konzentriert sich auf jene Negationen, die ‚unmöglich‘ oder selbstwidersprüchlich sind. Insoweit das Sein der Vernunft nicht außerhalb des Geistes existieren kann, ist es vom Gegenstand der Metaphysik ausgeschlossen und wird auf den Status als ‚Sein als wahres Sein‘ zurückgesetzt. In der Rechtsphilosophie war er ein Verfechter des Naturrechts und einer Theorie der Regierung, in der die Macht durch das Volk von Gott kommt. Er war für die frühe Entwicklung des modernen internationalen Rechts und der Lehre des gerechten Krieges wichtig. Während seine 1740
Substanz
Auffassung des Thomismus im Gegensatz zu jener seiner Zeit stand, und später auch einiger dominikanischer Scholastiker, erlangte er doch große Autorität bei seinen jesuitischen Kollegen, sowie bei anderen katholischen und protestantischen Autoren. Außerhalb der Scholastik hat er eine Vielzahl neuzeitlicher Denker beeinflusst. Siehe auch: Absolutismus; Krieges und des Friedens, Philosophie des; Molina, L.; Naturrecht; Renaissance-Philosophie; Thomas von Aquin JOHN P. DOYLE
Subjektivismus / Subjektivität Siehe: Objektivität
Sublime, Das
Siehe: Erhabene, Das
Substanz
Für Aristoteles sind Substanzen Dinge, die selbständig existieren, und zwar sowohl als logisch grundlegendste Gegenstände der Prädikation, als auch als letzte Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung. Sie sind ihm zufolge einheitlich materielle Gegenstände, als auch natürliche Stoffe, die durch die Sinneserfahrung bestimmt werden können, von denen jede das Mitglied einer natürlichen Art sind und damit deren jeweilige Form als das funktionale Wesen dieser Art annehmen. Entitäten anderer Kategorien, also der Qualitäten, Handlungen, Beziehungen etc., werden als etwas behandelt, was von diesen unabhängigen Wirklichkeiten abhängig oder ein abstrakter Aspekt von ihnen ist. Mit dem Aufkommen der mechanistischen Physik im 17. Jahrhundert wurde die aristotelische Vielzahl der Substanzen auf die universale Materie reduziert und diese mechanisch differenziert. Diese Bewegung verschärfte die Frage nach der Beziehung des Geistes zur physikalischen Welt. Die nachfolgende Vielfalt der Weisen, auf die der Substanzbegriff durch die Materialisten, die Dualisten, die Immaterialisten und die Antidogmatiker beeinflusst wurde, ermutigte den späteren Skeptizismus zu einer Unterscheidung zwischen unabhängigen Wirklichkeiten und menschlichen Abstraktionen, und damit letztlich zum Idealismus. Der Konzeptualismus des 20. Jahrhunderts lehnte, wie bereits einige frühere Fassungen des Idealismus, diese Unterscheidung rundherum ab und schrieb gemeinhin den logischen Vorrang der materiellen Dinge in der natürlichen Sprache der Nützlichkeit einer Alltagsphysik zu, als handele es sich dabei um die theoretischen Entitäten des Alltagslebens. Damit bestimmt sich ihre Identität und Existenz nur durch die Anwendung einer Theorie, die durch die moderne Wissenschaft bereits überholt ist. Doch diese von oben herab konstruierte, holistische Sprachphilosophie wird durch die detaillierten Einsichten der traditionellen Logik widerlegt, weil diese klar ganz klar auf eine Darstellung der Klassifizierung und Identität ‚von unten nach oben‘ verweist, d.h. auf eine Darstellung, die die Möglichkeit anerkennt, dass man wahrnehmungsseitig materielle Gegenstände heraussucht, noch bevor sie hinsichtlich ihrer Art oder Natur erkannt werden, und sie dann erst klassifiziert. Die Idee, dass materielle Dinge theoretische Entitäten seien, und dass ihre Individuation entsprechend artabhängig ist, stellt sich als Restdenken einer atomistischen Herangehensweise an die Wahrnehmung dar, die nach einer Theorie ruft, durch die die Sinneserfahrung zusammengestückt wird. Ein präziseres Verständnis der Wahrnehmung als die bereits gegenständlich integrierte Darstellung von Körpern in räum1741
Sünde
lichen Beziehungen zueinander und gegenüber dem Wahrnehmenden passt zu jener Möglichkeit, die von den Idealisten geleugnet wird, dass nämlich die Sprache und das Denken hinsichtlich ihrer primitiven Referenten an die Wirklichkeit angepasst geformt sind, wobei unabhängige Gegenstände in der Sinneserfahrung gegeben sind. Dass die Kohärenz oder die diskrete Einheit materieller Gegenstände eine physikalische Erklärung haben, bedeutet nicht, dass die Physik sie damit wegerklärt hat. Siehe auch: Fortbestehende Dinge; Identität; Materie; Ontologie; Phänomenologische Bewegung; Realismus und Antirealismus; Sein; Theorien, Wissenschaftliche; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus MICHAEL AYERS
Sufismus
Siehe: Al-Ghazhali, Abu Hamid
Südamerika, Philosophie in
Siehe: Lateinamerika, Philosophie in
Suizid
siehe: Selbstmord, Ethik des
Sünde
Die archaischste Konzeption menschlicher Fehlerhaftigkeit findet sich vielleicht im Begriff der Befleckung oder Entehrung oder Verunreinigung, d.h. in jenem des Makels oder Schandflecks, der eine Person von außen infiziert oder ansteckt. Alle großen Religionen bieten Darstellungen der menschlichen Fehler an, sowie Vorschriften, wie mit ihnen umzugehen sei. Allerdings nur, wenn man sich solche Fehler im Zusammenhang einer Beziehung zu einer persönlichen Gottheit vorstellt, macht es Sinn, von ihnen als einer Beleidigung gegen den göttlichen Willen zu sprechen. Der Begriff der Sünde ist der Begriff eines menschlichen Fehlers, der einen guten Gott beleidigt und damit die menschliche Schuld begründet. In dieser Form finden sich die entsprechenden Begriff in den großen theistischen Religionen des Judaismus, des Christentums und des Islam. Diese religiösen Traditionen haben die Idee gemeinsam, dass wirkliche oder persönliche Sünden individuelle Handlungen sind, die dem Willen Gottes zuwider laufen. In der hebräischen Bibel wird die Sünde im Zusammenhang mit der Vertragsbeziehung zwischen Jahwe und seinem auserwählten Volk verstanden. In einem Bund mit Jahwe zu stehen heißt, in der Heiligkeit zu existieren, und somit ist die Sünde eine Abweichung von den Normen der Heiligkeit. Im christlichen Neuen Testament lehrt Jesus, dass menschliches Fehlverhalten den Einen beleidigt, den er Vater nennt. Der Koran schildert die Sünde als einen Widerspruch gegen Allah, die ihre Wurzeln im menschlichen Stolz hat. In der christlichen Tradition unterscheidet man zwischen der wirklichen Sünde und der ‚Ursprungs-‘ oder ‚Erbsünde‘. Der Beleg in der Heiligen Schrift für die Lehre von der Erbsünde findet sich in den Briefen des Paulus, und die Interpretationen der paulinischen Briefe durch Augustinus im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit dem Pelagianismus hatten enormen Einfluss auf das westliche Christentum. In der augustinischen Auffassung, die von Anselm von Canterbury und anderen mittelalterlichen Denkern mit bemerkenswerter philosophischer Raffinesse weiterentwickelt wurden, hatte der Sündenfalls Adams und Evas katastrophische Konsequenzen für ihre Nachkommen. All die Abkommen der ersten Menschen, mit Ausnahme von 1742
Supervenienz
Jesus und seiner Mutter, erbten von ihnen die Schuld für ihre erste Sünde. Damit werden nach christlicher Lehre alle bis auf zwei Menschen mit einer enormen Sündenlast geboren. Die augustinische Lehre der Erbsünde ist moralisch problematisch, weil sie den Menschen eine angeborene Schuld zuschreibt. Sie wurde unter anderem von John Locke und Immanuel Kant kritisiert. Siehe auch: Hölle; Fegefeuer PHILIP L. QUINN
Supererogation
Siehe: Übererfüllung
Supervenienz
Die Supervenienz kann von der Beziehung zwischen zwei Arten von Eigenschaften, die Dinge aufweisen, ausgesagt werden. Sie bezieht sich auf die Art und Weise, in der eine Art von Eigenschaft unter Umständen nur kraft der Anwesenheit einer anderen Eigenschaftsart gegeben ist; ein Ding kann eine Eigenschaft der ersten, supervenierenden Art nur besitzen, weil es die Eigenschaften der zugrunde liegenden Art aufweist. Sobald aber die zugrunde liegende Art festgelegt ist, sind auch die Eigenschaften der ersteren (supervenierenden) Art ebenfalls festgelegt. Das supervernierende Merkmal existiert also nur wegen der zugrunde liegenden Eigenschaft, und diese genügen für die Bestimmung, wie die supervenierenden Merkmale zutage treten. Beispielsweise kann eine Person nur gut sein kraft der Tugend der Freundlichkeit oder der Großzügigkeit, oder weil sie irgendeine andere persönliche Qualität dieser Art aufweist, und ein Tier kann nur lebendig sein kraft einer fortgeschrittenen physischen Organisation. Ebenso kann ein Bild einen Gegenstand nur kraft der geometrischen Anordnung seiner das Licht reflektierenden Oberflächenformen wiedergeben, und seine Darstellungskraft superveniert diese Anordnung. Eine Melodie superveniert eine Folge von Noten, und die Dispositionen und Kräfte eines Gegenstandes supervenieren in der Regel seine physikalische Beschaffenheit. Obwohl das Wort ‚Supervenienz‘ erstmals in der Philosophie des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, erschien der Begriff bereits zuvor in der Diskussion des Begriffs der ‚Emergenz‘ des Lebens aus der zugrunde liegenden physikalischen Komplexität. Das zentrale philosophische Problem liegt in dem Verständnis der Beziehung zwischen den beiden Ebenen. Wir wollen nicht, dass die Beziehungen eine vollkommen rätselhafte ist, als sei es nur ein metaphysischer Unfall, dass Eigenschaften der oberen Ebene erscheinen, wenn die Dinge auf der unteren Ebene entsprechend organisiert sind. Wenn auf der anderen Seite die Beziehung zu eng wird, so dass im Fall der logischen Wahrheit, dass nach dem Eintreten der Eigenschaften auf der unteren Ebene auch diejenigen der oberen auftauchen, schon die Idee problematisch zu werden beginnt, ob es sich dabei überhaupt um zwei unterschiedliche Ebenen handelt, stellt sich die Frage, ob die Eigenschaften der oberen Ebene nicht einfach und ohnehin nur diejenigen der unteren Ebene sind, die nur anders beschrieben wurden. Schaut man sich dieses Problem an, dann bleiben immer noch einige Schwierigkeiten beim Gedanken an die Eigenschaften der oberen Ebene. Kann man beispielsweise sagen, dass Dinge verursacht oder erklärt werden, oder müssen diese Ausdrücke für die Eigenschaften der unteren Ebene vorbehalten bleiben? Wenn man annimmt, dass nur die Eigenschaften der unteren Ebene die eigentlich metaphy1743
Syntax
sischen Arbeit verrichten, führt dies zum Epiphänomenalismus, d.h. der Idee, dass die Eigenschaften der oberen Ebene in Wirklichkeit gar keine Rolle in der Bestimmung des Ganges der Dinge spielen. Dies verträgt sich jedoch nicht gut mit der Alltagsauffassung über die Kausalkräfte zahlreicher Eigenschaften, die zweifellos andere supervenieren, und dies führt wiederum zu einer schwierigen Suche nach irgendeiner Konzeption der endgültigen, grundlegenden oder tiefsten Tatsachenebene, zu der alle anderen in einem supervenienten Verhältnis stehen. Siehe auch: Kausalität SIMON BLACKBURN
Śvetāmbara-Jainismus
Siehe: Jainistische Philosophie
Swineshead, Richard
Siehe: Oxford Calculators
Syntax
Die Syntax (im weiteren Sinne auch ‚Grammatik‘) ist das Studium der Eigenschaften von Ausdrücken, die sie als Mitglieder verschiedener sprachlicher Kategorien tragen, sowie die ‚Wohlgeformtheit‘, d.h. die Weisen, auf die Ausdrücke, die zu diesen Kategorien gehören, zu größeren Einzeiten kombiniert werden können. Typische syntaktische Kategorien sind das Nomen, das Verb und der Satz. Syntaktische Eigenschaften spielten eine wichtige Rolle nicht nur im Studium der ‚natürlichen‘ Sprachen (wie z.B. dem Englischen oder dem Urdu), sondern auch im Studium der Logik und der maschinengesteuerten Berechnung. Beispielsweise werden Klassen von wohlgeformten Formeln in der symbolischen Logik bestimmt, ohne dass gesagt würde, was die Formeln (oder ihre Teile) bedeuten, oder ob sie wahr oder falsch sind. Auf ähnliche Weise können die Operationen eines Computers sinnvoll bestimmt werden, indem man nur syntaktische Eigenschaften verwendet, was wiederum einen Rückschluss auf die Machbarkeit von Berechnungstheorien des Geistes zulässt. Das Studium der Syntax einer natürlichen Sprache wurde für die Philosophie des 20. Jahrhunderts bedeutsam, teilweise aufgrund des Verdachts, der von Russell, Wittgenstein und den logischen Positivisten ausgesprochen wurde, dass philosophische Probleme oft durch syntaktische Missverständnisse (oder solche im Bereich des damit eng verbundenen Begriffs der ‚logischen Form‘) entstünden. Eine weitere Idee, die sich seit der Pionierleistung von Frege fruchtbar entwickelt hat, lautet ferner, dass das richtige Verständnis der Syntax eine wichtige Grundlage für ein jedes Verständnis der Semantik ist, denn die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ist eine zusammengesetzte, d.h. sie ist aus den Bedeutungen ihrer Teile in der Form zusammengesetzt, wie dies von der Syntax bestimmt wird. In der Mitte des 20. Jahrhunderts erreichte das philosophische Interesse am systematischen Studium der Syntax natürlicher Sprachen durch Noam Chomskys Arbeit über das Wesen der syntaktischen Regeln und über die Angeborenheit der geistigen Strukturen, die für den Erwerb oder das Wachstum grammatischen Wissen typisch sind, einen Höhepunkt. Dieses Werk formalisierte die traditionelle Arbeit über die grammatischen Kategorien innerhalb eines Ansatzes der Theorie der Berechenbarkeit und erneuerte auch Vorschläge der herkömmlichen philosophischen Rationalisten, den von den Empiristen des 20. Jahrhunderts schon der intellektuelle 1744
Syntax
Bankrott verkündet worden war. Die Chomskyschen Theorien der Grammatik wurden damit zum Mittelpunkt der meisten zeitgenössischen Arbeiten zur Syntax. Siehe auch: Analytische Philosophie; Chomsky, N.; Geistes, Berechnungstheorien des; Geltungsbereich; Sprache des Denkens STEPHEN NEALE
1745
T Tableau-Systeme
Siehe: Natürliche Deduktion, Sequenzen / Sequenzkalkül
Tanabe Hajime (1885-1962)
Tanabe Hajime war eine zentrale Figur der so genannten japanischen Kyoto Schule. Er ist allgemein als einer der wichtigsten Philosophen des modernen Japan anerkannt. Er schätzte Kant über alles und verwendete in seinen frühen erkenntnistheoretischen Studien eine neukantianische kritische Methodik. In den 1920er Jahren wurde er hauptsächlich durch Nishida Kitarōs originelles kosmologisches System beeinflusst. Er adaptierte Nishidas Idee des ‚absoluten Nichts‘ an politische Situationen, und dadurch trug er Wesentliches zur Bestimmung der Grundlagen dessen bei, was sich zur einflussreichsten philosophischen Schule Japans bis zum Ende des 2. Weltkrieges entwickeln sollte. Siehe auch: Japanische Philosophie HIMI KIYOSHI
Taoistische Philosophie
Siehe: Daoistische Philosophie
Tarski, Alfred (1901-1983)
Alfred Tarski (ursprünglicher Name: Alfred Teitelbaum) war ein polnischer Mathematiker und Logiker. Er arbeitete auf den Gebieten der Metamathematik und der Semantik, der Mengenlehre, der Algebra und den Grundlagen der Geometrie. Einige seiner logischen Werke, insbesondere seine Definition der Wahrheit, waren auch wertvolle Beiträge zur Philosophie. Er war ein erfolgreicher Lehrer und ein Meister des einfachen Schreibens und der klaren Darstellung komplizierter Sachverhalte. Bereits im Jahre 1930 entwickelte Tarski eine Formel, die ungefähr dem Unvollständigkeitssatz Kurt Gödels aus dem Jahr 1931 entsprach. Seine Arbeiten wirken bis heute insbesondere in der Modelltheorie und in der analytischen Sprachphilosophie nach. Besonders eng schloss Donald Davidson an Tarskis Konzeption der Wahrheit an. Tarskis wichtigste Werke sind: ‚Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen‘. In: Studia Philosophica 1 (1936), S. 261–404; ‚The Semantic Conception of Truth and the Foundations of Semantics.‘ In: Philosophy and Phenomenological Research IV, 3 (1944), S. 341-375, dt. Übersetzung in: Gunnar Skirbekk Hrg.: ‚Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert‘ (1977), S. 140-188.); ‚Einführung in die mathematische Logik‘ (überarbeitete Ausgabe auf der Grundlage der engl. u. franz. Ausgabe u. der Ergänzungen des Verfassers, 1966). ROMAN MURAWSKI
Tatsache
Das Bestehen und das Wesen von Tatsachen sind strittig. In der Umgangssprache sprechen wir oft von Tatsachen (‚das ist eine Tatsache‘). Es ist aber schwer, eine solche Redeweise philosophisch ernst zu nehmen, da sie durch Umschreibungen umgangen werden kann. Für die Existenz von Tatsachen kann man besser auf der Grundlage von drei miteinander verbundenen theoretischen Rollen der Tatsachen 1746
Tatsache und Wert, Unterscheidung von
eintreten. Erstens kann man Tatsachen als die Bezugsgegenstände von wahren Sätzen verstehen: Wenn der Satz ‚Die Katze saß auf der Matte‘ wahr ist, dann bezieht er sich auf die Tatsache, dass die Katze auf der Matte saß. Zweitens kann eine Tatsache das Wahrheitskriterium von wahren Sätzen sein: die Tatsache, dass die Katze auf der Matte saß, ist das, was den Satz ‚Die Katze saß auf der Matte‘ wahr macht. Dritten kann man Tatsachen als die Relata von Kausalbeziehungen verstehen, die über Sätze wie ‚Cäsar starb, weil Brutus ihn erstach‘ zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das sog. slingshot-Argument (dt.: ‚Steinschleuder‘-Argument) versucht zu zeigen, dass diese Rollen falsch dargestellt werden.1 Siehe auch: Ereignisse; Ontologische Verpflichtung ALEX OLIVER
Tatsache und Wert, Unterscheidung von
Den Anhängern einer Unterscheidung von Tatsache und Wert zufolge kann man von keinem Sachverhalt der Welt sagen, er sei ein Wert, und wertzuweisende Urteile verstehe man am besten, wenn man davon ausgeht, dass sie keine reinen Tatsachenfeststellungen sind. Diese Unterscheidung war in der ethischen Diskussion des 20. Jahrhunderts wichtig, und die Debatte über den metaphysischen Status und die Erkenntnistheorie der Werte, sowie jene über die beste Beschreibung von Werturteilen, ist noch nicht beendet. ROGER CRISP
Taxonomie
Die grundlegenden Elemente einer jeder Klassifizierung sind ihre theoretischen Bestimmungen, ihre fundamentalen Einheiten und die Kriterien zur Anordnung dieser fundamentalen Einheiten zu einer Klassifikation. Zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Klassifizierungen sind jene, die eine strukturelle Organisation abbilden und jene, die in einer systematischen Beziehung zur historischen Entwicklung stehen. In der biologischen Klassifizierung liefert die Evolution die theoretische Orientierung. Das Ziel ist hier die Bestimmung einer fundamentalen Klassifizierungseinheit, d.h. der ‚taxonomischen Spezies‘, die mit den Grundeinheiten der biologischen Evolution, als der ‚evolutionären Spezies‘, übereinstimmt. Das Ordnungsprinzip wird hier durch die Phylogenese (= ‚Stammesentwicklung‘, d.h. die stammesgeschichtliche Entwicklung von Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte) geliefert. Arten, die sich mit der Zeit differenzieren, bilden einen phylogenetischen Stammbaum. Das erste Ziel der Taxonomie seit Darwin ist es, diese aufeinander folgenden Aufteilungen in einer hierarchischen Klassifizierung abzubilden, die aus Arten, Gattungen, Familien etc. besteht. Der größte Streitpunkt in der Taxonomie ist erkenntnistheoretischer Natur. Eine immer wieder erhobene Klage gegen die bestehenden Klassifizierungen, die die Phylogenese abzubilden versuchen, ist, dass die Phylogenese nicht mit genügender Sicherheit ‚erkannt‘ werden könne, um eine Verwendung als Gegenstand der Klassifizierung zu sichern. Andererseits hat eine kleine, aber beharrliche Gruppe von Taxonomen darauf bestanden, dass die Klassifizierungen ‚handhabbarer‘ sein müssten. Statt nach Schwierigkeiten bei der Erkennung von Gegenständen als Elemente der 1 Siehe hierzu die Darstellung des sog. slingshot-Arguments im Internet unter http://de.wikipedia. org/wiki/slingshot_Argument [WS].
1747
Taylor, Charles (1931 – )
Phylogenese zu suchen, so beklagen die Vertreter dieser Position, sollten die Systematiker sich mehr an die beobachtbare Wirklichkeit halten. Siehe auch: Theorien, Wissenschaftliche DAVID L. HULL
Taylor, Charles (1931 – )
Als einer der einflussreichsten Philosophen des späten 20. Jahrhunderts schrieb Taylor über das menschliche Handeln, die Identität und das Selbst, ferner über die Sprache, die Grenzen der Erkenntnislehre, die Interpretation und Erklärung in den Sozialwissenschaften, die Ethik und die demokratische Politik. Sein Werk ist infolge seiner innovativen Behandlung von alten philosophischen Problemen sehr profiliert, insbesondere hinsichtlich des Anschlusses der aufgeklärten Erkenntnislehre an die Sprachphilosophie, das Selbst und das politische Handeln, aber auch wegen seiner gründlichen Integration der analytischen und der kontinentaleuropäischen philosophischen Bemühungen und Ansätze. Taylors Werk ist geformt durch die Auffassung, dass ein angemessenes Verständnis der philosophischen Argumente eine Wertschätzung und Beurteilung ihrer Ursprünge, ihrer sich wandelnden Kontexte und transformierten Bedeutungen voraussetzt. Es nimmt daher oft die Form einer historischen Rekonstruktion an, die sich um die Bestimmung von Pfaden bemüht, auf denen bestimmte Theorien und Sprachen des Verstehens oder der Bewertung entwickelt wurden. Hierin zeigt sich sowohl Taylors nachhaltiges Engagement für Hegels Philosophie, als auch sein Widerstand gegen erkenntnistheoretische Dichotomien wie z.B. ‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ zugunsten eines Begriffs des ‚erkenntnistheoretischen Gewinns‘, der von H.G. Gadamer beeinflusst ist. Seine wichtigsten, auch ins Deutsche übersetzten Werke sind: ‚Hegel‘ (1978), ‚Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus‘ (1988), ‚Das Unbehagen an der Moderne‘ (1995)‚ ‚Quellen des Selbst‘ (1996), ‚Die Formen des Religiösen in der Gegenwart‘ (2001) und ‚Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Politische Aufsätze‘ (2002). In der Gesellschaftstheorie wird Taylor den Kommunitaristen (siehe Kommunitarismus) zugeordnet. CRAIG CALHOUN
Technē
Der Ausdruck ‚technē‘ (Pl.: technai) ist das altgriechische Wort zur allgemeinen Bezeichnung einer Kunstfertigkeit oder eines Handwerks. Beispiels hierfür umfassen das Zimmermannshandwerk, die Bildhauerei und die Medizin. Das philosophische Interesse an den technai leitet sich von der Verwendung dieser Beispiele als Modelle und Metaphern für alle Aspekte der praktischen Rationalität ab, einschließlich ihrer Vollkommenheit in der Philosophie in Gestalt einer ‚Lebenskunst‘. Von Sokrates an wird der Ausdruck ‚technē‘ für das Nachdenken über die Verbindung zwischen der Vernunft, den Zwecken einer Handlung und der Handlung selbst verwendet. Technai wird der Besitz erkenntnistheoretisch positiver Eigenschaften zugeschrieben, wie z.B. die Kohärenz und die Erklärungskraft, sowie praktische Vorzüge wie z.B. ihre Bereitstellung detaillierter Handlungsanweisungen, auf deren Grundlage andere Überzeugungseinheiten oder praktische Systeme studiert und bewertet werden können. TAD BRENNAN 1748
Technologie und Ethik
Technologie und Ethik
Erst seit der Neuzeit haben Philosophen mit dem direkten und nachhaltigen Studium der Ethik und der Technologie begonnen. Ihre Bemühungen folgen zwei philosophischen Traditionen, von denen jede durch einen bestimmten Stil gekennzeichnet ist, nämlich die kontinentaleuropäische oder phänomenologische Tradition, und die angloamerikanische oder analytische Tradition. Hans Jonas artikulierte eine der grundlegenden Prämissen der kontinentaleuropäischen Ansätze, als er sich für die Technologie als einen speziellen Gegenstand der Ethik aussprach: Weil die Technologie die conditio humana auf fundamentale Weise verändert habe und Probleme von globalem Ausmaß erzeuge, die sich in eine unabsehbare Zukunft erstrecken, rufe sie nach einem neuen Ansatz in der Ethik. Jonas’ grundlegende Prämisse wird bereits auf verschiedene Weise in den Werken von Karl Marx, Max Scheler, José Ortega y Gasset, Martin Heidegger und anderen angedeutet. Arbeiten im Rahmen der angloamerikanischen Tradition neigen dazu, sich nicht mit der Technologie als einem Ganzen auseinanderzusetzen, sondern sich um einzelne Technologien zu gruppieren, wie z.B. der Computerwissenschaft, dem Ingenieurswesen und den medizinischen bzw. biologischen Wissenschaften. Sie beziehen sich dabei auf den Begriff und die Prinzipien der traditionellen ethischen Theorie, die ihnen zumindest als Ausgangspunkt ihrer Analysen dienen. Obwohl jede dieser Technologien einen einzigartigen Problemhorizont aufwirft, sind ihnen allen doch gewisse Themen wie z.B. die Verantwortung, das Risiko, die Gleichheit und die Autonomie gemeinsam. Auch die Sozialwissenschaftler haben wichtige Fragen auf dem Gebiet der Ethik und der Technologie gestellt. Ihre Arbeiten führten zur Bildung zwei herrschender Denkschulen, nämlich jener des technologischen Determinismus und jener des sozialen Konstruktivismus. Siehe auch: Determinismus und Indeterminismus; Konstruktivismus CARL MITCHAM, HELEN NISSENBAUM
Technologie, Philosophie der
Die Philosophie der Technologie handelt vom Wesen der Technologie und ihren Auswirkungen auf das menschliche Leben und die menschliche Gesellschaft. Der wachsende Einfluss der modernen Technologie auf die menschliche Existenz hat zu einem steigenden Interesse an einer philosophischen Analyse des Technischen geführt. Dennoch existiert die Philosophie der Technologie bis heute nicht als ein kohärentes Forschungsgebiet. Sie umfasst in losem Zusammenhang Studien zu praktisch allen Denkbereichen der Philosophie und handelt von einer großen Vielzahl von Themen, weil es keine Übereinstimmung dazu gibt, welche die vorrangige Bedeutung des Ausdrucks ‚Technologie‘ ist, der sich, unter anderem, auf eine Sammlung von Artefakten, auf eine Form des menschlichen Handelns, auf eine Form des Wissen und auf soziale Prozesse beziehen kann. Unter den grundlegendsten Fragen befinden sich zwei Abgrenzungsprobleme, die in direkter Beziehung zur Definition der Technologie stehen. Die erste dieser Fragen betrifft die Unterscheidung zwischen technologischen (künstlichen) und natürlichen Gegenständen. Sie berührt auch die Beziehung zwischen dem Menschen, der Natur und der Kultur. Die zweite dieser Fragen betrifft die Unterscheidung zwi-
1749
Teleologie
schen Wissenschaft und Technologie als Wissenstypen. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie wurde besonders wichtig infolge der verbreiteten Annahme, dass das Unterscheidungsmerkmal der modernen Technologie im Vergleich zu traditionellen Technologieformen jenes ist, dass sie wissenschaftsbasiert ist. Eine weitere, viel diskutierte Frage ist die Autonomie der Technologie. Sie handelt von der Frage, ob die Technologie ihren eigenen und unabänderlichen Entwicklungsregeln gemäß fortschreitet, d.h. ohne Rücksicht auf ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext. Siehe auch: Funktionale Erklärung; Risikobewertung PETER KROES
Teleologie Einführung Die Teleologie ist die Lehre von den Zwecken, Zielen und den zielgerichteten Funktionen. Die innere oder immanente Teleologie beschäftigt sich mit Fällen, wo ein Streben hin zur Erreichung von Zielen gegeben ist. Die extrinsische oder äußere Teleologie umfasst Fälle, wo ein Gegenstand, Ereignis oder Merkmal als funktionales Ziel von etwas dient. Teleologische Erklärungen versuchen X zu erklären, indem sie sagen, dass X wegen Y oder um Y Willen existiert oder auftritt. Da die Frage ‚Zu welchem Zweck…?‘ entweder intrinsisch oder extrinsisch konstruiert sein kann, spaltet sich eine solche Erklärung in zwei große Stränge oder Typen: jenen, der die Ziele eines Akteurs behandelt, und jenen, der die Funktionen behandelt. Die Geschichte der westlichen Philosophie und Wissenschaft ist durch große Debatten über die Logik, die Legitimität und die richtigen Anwendungsbereiche dieser Erklärungstypen gekennzeichnet. Beide werfen immer noch Probleme in der zeitgenössischen Biologie und Psychologie auf. Die modernen Debatten haben sich im Vergleich zu den früheren bedeutend weiter entwickelt, auch wenn in dieser Entwicklung einige Fragen fortbestehen. 1. Ziele 2. Funktionen 1. Ziele Aristoteles’ Auffassung über den Geltungsbereich des Strebens, wie es in der Natur gegeben sei, wurde in der Renaissance in Frage stellt. Aristoteles meinte, dass ein Ziel eine ‚Finalursache‘ (lat.: causa finalis) sei, und dass unbelebte Dinge ihrem natürlichen Platz oder Zustand zustreben, wie er ihrer Art richtigerweise zukäme, und dass Wachstum und Entwicklung von lebenden Dingen sich auf die Erreichung eines Reifezustandes richten. Der Ausdruck ‚Finalursache‘ führte einige Kommentatoren in die Irre, die davon ausgingen, dass eine Finalursache eine Wirkursache (lat.: causa efficiens) sei, die nach der Wirkung eintrete. Dies konnte jedoch nicht Aristoteles’ Auffassung sein. Aristoteles glaubte, dass Bäume Blätter hervorbringen, um ihre Früchte zu schützen (‚Physik‘: 199a, 26-29), doch er erkannte auch, dass die Früchte nicht immer erfolgreich geschützt werden. Wenn Vögel die Früchte essen und die Finalursache damit scheitere, untergrabe diese Tatsache damit keineswegs die teleologische 1750
Teleologie
Erklärung. Wenn er gemeint hätte, der Schutz der Frucht sei eine Wirkursache, die zeitlich rückwärtsgerichtet arbeite, so würde das Versagen in dieser Hinsicht auch die Wirkursache abschneiden. Eine Finalursache ist für Aristoteles vielmehr ‚dasjenige, um dessentwillen‘ etwas geschieht (siehe Aristoteles, § 9). Es gibt jedoch noch weitere Einwände gegen seine Erklärung der Bewegungen anorganischer Körper durch Zuschreibung von Zielen. Francis Bacon, Galileo und Newton vermieden solche Erklärungen, weil sie vollkommen spekulativ waren und ihnen deshalb als nutzlos erschienen. Erstens konnte das angebliche Streben nicht unabhängig von den Änderungen ausgemacht werden, die sich wirklich an dem Körper ereignen, noch konnten seine Ziele bestimmt werden; die Hypothese war folglich unüberprüfbar. Zweitens war die Hypothese zumindest auf den Gebieten der Mechanik und der Dynamik unnötig, weil eine vollständige Erklärung auch nach Maßgabe der vorangehenden Ursachen und der Bewegungsgesetze geliefert werden konnte. Bacon fasste dies in die Worte: „Die Untersuchung der Finalursachen ist steril und führt wie eine gottgeweihte Jungfrau zu gar nichts“ (‚De Augmentis Scientiarum‘, 1623). Die moderne Wissenschaft schließt sich ebenfalls nicht der Zuschreibung von Zielen oder dem Streben unbelebter Gegenstände an, außer möglicherweise bei solchen Artefakten wie programmierten Raketen oder Projektilen, autonomen Robotern und mechanischen Suchapparaten, die zum ersten Male bereits in den 1940er Jahren entworfen wurden. Aber hier ist von den Zielen vielleicht mehr im Sinne eines ‚als ob‘ die Rede, d.h. ‚als ob das Gerät ein Ziel hat‘, zu verstehen (Woodfield 1976, 11. Kap.). In der Biologie und den ihr verwandten Wissenschaften ist es jedoch anerkannt, dass Menschen und Tiere in der Tat nach der Erreichung von Zielen streben. Die Überzeugung, wir seien intentionale Akteure, steht im Mittelpunkt unseres Selbstbildes und jenes der Gesellschaft. Ferner können tierische und menschliche Ziele noch vor dem Eintritt des Verhaltens bestimmt werden, das sie erklären. Die Hypothese, dass ein Tier nach Nahrung strebt, kann z.B. experimentell überprüft werden. Damit ist es also auch nicht wahr, dass die Zielstrebigkeit prinzipiell gegenstandslos ist. Ob Pflanzen bereits nach etwas streben, ist offenbar unklar. Obwohl wir von ihnen so sprechen, als würden sie dies tun (‚Die Blume wandte sich der Sonne zu‘ etc.), sind doch solche Äußerungen vielleicht nur eine Altlast der aristotelischen Tradition oder ein Anthropomorphismus der Alltagssprache. Sie überleben, weil wir sie bildhaft oder bequem finden. In der Biologie des späten 20. Jahrhunderts wurden vitalistisch-teleologische Theorien des Wachstums und der Entwicklung nicht mehr als beachtenswert angesehen, selbst wenn solche Prozesse nicht vollständig in physiko-chemischen Termini erklärt werden können (siehe Vitalismus). Sind Zielerklärungen damit auf den Geltungsbereich des intentionalen Verhaltens intelligenter Organismen beschränkt? Der zentrale Beispielsfall ist hier sicher jener des belebten Akteurs, der sich seiner Wünsche bewusst ist, für Informationen über seine Umwelt empfänglich und in der Lage, sich selbst alternative Handlungsverläufe vorzustellen. Wenn Ziele immer Wünsche, Überzeugungen und weitere geistige Zustände mit sich bringen, dann sind intrinsische teleologische Erklärungen eine Art von mentalistischer Erklärung. Das Hauptproblem, dass sich daraus ergibt,
1751
Teleologie
ist die Beschaffung einer befriedigenden Darstellung der Intentionalität (siehe Intentionalität). Zahlreiche Philosophen des 20. Jahrhunderts haben sich bemüht, für eine bestimmte Form der Zielerreichung begrifflichen Raum zu schaffen, der nicht notwendig mentalistisch sein sollte (siehe z.B. Wright 1976). Solche Theorien kann man als in dem Sinne aristotelisch ansehen, wie sie das Streben in eine Tätigkeit verlegen, das ein bestimmtes Muster oder eine bestimmte Kausalstruktur aufweist. 2. Funktionen Aristoteles behauptete, dass ein Gegenstand X, wenn er Teil eines Systems S ist, in dem X eine bestimmte Tätigkeit ausführt, die S nützt, dieses X für S existiert bzw. arbeitet. S kann ein lebender Organismus oder etwas Größeres sein, z.B. ein Bienenvolk, ein Ökosystem oder sogar die Welt als Ganzes. Die Tatsache, dass X als eine Funktion von S fungiert, soll erklären, warum X in S anwesend ist. Aristoteles’ Lehre war naturalistisch in dem Sinne, dass sie keinen übernatürlichen Schöpfer postulierte; sie war allerdings nicht gänzlich naturalistisch, denn sie verwandte den Begriff der Nützlichkeit. Das Hauptproblem der extrinsisch-teleologischen Erklärungen in der Biologie ist es zu verstehen, wie die Zusammenhänge genau ausschauen. Selbst wenn man annimmt, es sei eine Tatsache, dass X einem größeren System S etwas Gutes tut, ist doch diese Tatsache allein unzureichend, um die Existenz von X zu erklären. Einige zusätzliche Prämissen oder Prinzipien scheinen hier erforderlich zu sein. Wenn die Natur beispielsweise durch einen wohlwollenden und allmächtigen Gott geschaffen worden wäre, so wäre die Existenz von X in S im Rahmen von Gottes Wünschen, Überzeugungen und schöpferischen Handlungen erklärbar. Diese Form der funktionalen Erklärung hat eine vertraute Logik: wir verwenden solche Erklärungen auch um zu verstehen, warum Menschen nützliche Artefakte entwerfen und herstellen. Wenn wir die Erklärung auf diese Weise ergänzen, so stellen wir uns die extrinsische Teleologie als etwas von der intrinsischen Teleologie des Schöpfers Abgeleitetes vor (siehe Gott, Argumente für die Existenz von, § 4). Diese Lösung ist jedoch unbefriedigend, denn weder die Biologen, noch die biologischen Laien haben den Eindruck, dass die Geltung von Erklärungen einer ‚natürlichen Funktion‘ von irgendeiner theologischen Annahme abhängt. Entweder haben die Erklärungen irgendeine andere Form, oder sie sind überhaupt keine Erklärungen. Im Jahre 1859 zeigte Darwins Evolutionstheorie der natürlichen Auslese, wie harmonische Systeme natürlich entstehen können, ohne dass man hierzu auf einen Schöpfer zurückgreifen muss. Darwins Theorie erklärt die Existenz von X in S als das Ergebnis eines stufenweisen Prozesses. Die Vorfahren von S, die ähnliche Teile wie X besaßen, überlebten und reproduzierten sich erfolgreicher als ihre Verwandten, denen solche Teile, die X ähnlich waren, fehlten. Erstere Vorfahren reproduzierten sich aufgrund dieser Form besser; ihre Nachkommen wiesen dem X ähnliche Organe auf, einschließlich S, das ebenfalls X aufweist. Darwin machte die Schöpfer-Hypothese überflüssig. War seine Theorie damit antiteleologisch? Darwin verstand es als Gegebenheit, dass die biologischen Teile und Merkmale, die den Ausleseprozess überlebt hatten, im Normalfall für ihre Eigner nützlich sind. Seine Theorie behauptet, dass sie Bestand hatten, weil diese Teile nützlich waren. Dies schaut wie eine Rechtfertigung der aristotelisch-extrinsischen 1752
Teleologische Ethik
Teleologie aus. Bei weiterem Nachdenken läuft dies jedoch kaum auf eine starke Unterstützung der aristotelischen Theorie hinaus, denn Darwins Theorie kann ohne Verwendung des Ausdrucks ‚Ziel‘ oder ‚Funktion‘, und überhaupt ohne jegliche teleologische Ausdrucksweise formuliert werden (siehe Darwin, C.R.; Evolutionstheorie). Zeitgenössische Philosophen teilen sich bei der logischen Frage einer funktionalen Erklärung in der Biologie in zwei Lager. Die ‚naturalistischen Revisionisten‘ definieren erneut den Begriff der Funktion im Sinne der kausal-historischen, darwinschen Auslesehypothese. Sie bewahren zwar die alte teleologische Redeweise, ‚reinigen‘ sie aber (siehe Wright 1976). Das andere Lager besteht aus ‚semantischen Konservatoren‘, die behaupten, dass die natürliche Funktionalität nicht im Sinne der Darwinschen Theorie definiert werden kann (Woodfield 1976). Nach letzterer Auffassung ist die Rede von den natürlichen Funktionen an Annahmen über den Nutzen, die Harmonie und die Güte gebunden, die der Wissenschaft fremd und wahrscheinlich perspektivenabhängig sind. Diese Auffassung impliziert, dass funktionale Erklärungen immer noch potenziell problematisch sind. Es ist möglich zu behaupten, dass funktionale Erklärungen nicht künstlich entworfener Phänomene wissenschaftlich verdienstvoll sind, selbst wenn sie nicht vollkommen objektiv sind. Kant machte geltend, dass die Zuschreibung natürlicher Funktionen zu Organen heuristisch sei: sie helfe bei der Systematisierung unseres Wissens über die Organismen und erzeuge weitere ‚Wie?‘-Fragen. Kants ausgeklügelte Verteidigung lässt keine ungezügelten Zuschreibungen guter Konsequenzen zu allem in der Natur zu; dies ist vielmehr eine Neigung, die schon zuvor von Voltaire lächerlich gemacht wurde (siehe Kant, I., § 13). In den 1980er Jahren begannen die ‚naturalistischen Revisionisten‘, unter ihnen vor allem Millikan, mit einer Ausbeutung der darwinistischen Darstellung der Funktionalität als einem Werkzeug zur Lösung des Problem der Intentionalität. Im Mittelpunkt stand dabei ihre Einsicht, dass Wünsche, Intentionen und andere mentale Zustände mit intentionalem Gehalt selbst als biologisch angepasste Zustände angesehen werden können, oder auch als Produkt von Mechanismen, die sich evolutionär angepasst haben. Man hofft hier, eine naturalistische Reduktion der Intentionalität leisten zu können. Dieses anspruchsvolle Forschungsprogramm würde, wenn es erfolgreich ist, die extrinsische Teleologie zu einem fundamentaleren Ansatz als die intrinsische machen. Nach mehr als zweitausend Jahren der Debatten seit Aristoteles bleibt die Teleologie ein anregender Streitpunkt unter den analytischen Philosophen. Siehe auch: Funktionale Erklärung Anmerkungen und weitere Lektüre: Woodfield, A. (1976): ‚Teleology‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Monographie, die eine einheitliche Analyse der teleologischen Redeweise verteidigt.) Wright, L. (1976): ‚Teleological Explanations‘ Berkeley, California: University of California Press. (Eine Monographie, die dafür eintritt, dass teleologische Erklärungen eine besondere Art von Kausalerklärung seien.) ANDREW WOODFIELD
Teleologische Ethik
Das altgriechische Wort telos hat vorphilosophisch ein Bedeutungsfeld, das von ‚Ende‘, ‚Grenze‘ bis zu ‚Vollendung‘, ‚Ausgang‘ und schließlich ‚Ziel‘, ‚Er1753
Telos
füllung‘ reicht. Im engeren philosophischen Sinne bedeutet es ‚Ziel‘ oder ‚Endzweck‘. Eine teleologische ethische Theorie erklärt und rechtfertigt ethische Werte durch Bezugnahme auf gewisse Endzwecke oder Güter. Zwei ganz unterschiedliche Arten ethischer Theorien wurden jedoch als teleologisch bezeichnet. Die altgriechischen Theorien sind teleologisch, weil sie die Tugend mit der Vollkommenheit des menschlichen Wesens identifizieren. Der moderne Utilitarismus ist wiederum teleologisch, weil er das richtige Verhalten als jenes definiert, das die besten Konsequenzen fördert. Siehe auch: Intuitionismus in der Ethik; Kantische Ethik; Stoizismus; Telos; Utilitarismus CHRISTINE M. KORSGAARD
Teleologische Semantik
Siehe: Semantik der Begriffsrollen
Teleologischer Gottesbeweis
Siehe: Gott, Beweise für die Existenz von
Telos
Das altgriechische Wort telos bedeutet ‚Ende‘, ‚Grenze‘, ‚Vollendung‘, ‚Ausgang‘ und schließlich auch ‚Ziel‘, ‚Erfüllung‘, ‚Endzweck‘. Es ist die etymologische Wurzel des modernen Fachterminus ‚Teleologie‘, also der Lehre von Zielen. In der griechischen Philosophie spielte der Ausdruck in zweifacher und aufeinander bezogener Hinsicht eine wichtige Rolle, nämlich in der Ethik und in der Naturwissenschaft. Beide Rollen sind mit dem alltäglichen Verständnis von telos verbunden, nach der der telos das ist, um dessentwillen etwas getan wird oder sich ereignet. In der Ethik wird jede menschliche Handlung als etwas verstanden, was auf irgendeinen telos, d.h. auf irgendein Ziel gerichtet ist, und praktische Überlegungen bringen es mit sich, dass man konkrete Schritte bestimmt, die notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Das Leben eines Akteurs als Ganzes kann ebenfalls als etwas verstanden werden, was auf die Erreichung eines alles überragenden telos des jeweiligen Menschen gerichtet ist, hier im Sinne als das letzte oder endgütige Ziel im Sinne eines summum bonum (dt.: ‚höchstes Gut‘), das in der Antike allgemein als die eudaimonia (dt.: ‚Glück‘) ausgemacht wurde. Konkurrierende ethische Theorien der Antike unterschieden sich vor allem durch ihre konkurrierenden Bestimmungen dieses letzten Ziels; die Epikureer bestimmten als das telos des Lebens die Lust, die Stoiker das Leben gemäß der Natur etc. Im natürlichen Sinne von Aristoteles ist der telos eines Mitgliedes einer natürlichen Art der vollständige und vollkommene Zustand dieser Entität, in dem sie sich reproduzieren können. Damit erreichen beispielsweise Insekten ihren telos, wenn sie fortpflanzungsfähig sind. Der telos eines Organs oder einer Fähigkeit ist die Funktion, die es oder sie in dem Gesamtorganismus spielt, oder die Aufgabe, um derentwillen es oder sie besteht. Der telos eines Auges ist das Sehen. Indem er die Tradition von Anaxagoras und Platon weiterführt, konzentriert Aristoteles seine wissenschaftliche Methodik auf die Behauptung, dass es Zwecke in der Natur gibt, d.h. dass einige natürliche Phänomene sich um die Erreichung eines anderen Zustandes Willen ereignen. Galen und die Stoiker pflichteten dieser Auffassung begeistert bei; die Epikureer lehnten sie ab. 1754
Tertullian, Quintus Septimus Florens (ca. 160-220)
Siehe auch: Funktionale Erklärungen; Teleologie; Teleologische Ethik TAD BRENNAN
Temporale Logik
Siehe: Zeitform und Zeitlogik
Tertullian, Quintus Septimus Florens (ca. 160-220)
Tertullian war der erste christliche theologische Autor, der auf Lateinisch schrieb, und ihm ist die Einführung des lateinischen Vokabulars in die christliche Theologie zu verdanken, einschließlich solcher wichtiger Ausdrücke wie persona und substantia. Seine Frühwerke, einschließlich des Apologeticum, widerlegen die heidnischen Fehlkonzeptionen des Christentums und argumentieren auf philosophischer und juristischer Grundlage für die religiöse Freiheit. Seine späteren theologischen Abhandlungen wie z.B. ‚De anima‘ (dt.: ‚Über die Seele‘) und ‚Adversus Marcionem‘ (dt.: ‚Gegen Marcion‘) bezeugen ungefähr im Jahre 205-206 Tertullians Anschluss an den Montanismus, eine christliche Sekte, die die Askese, die Apokalytik und die Prophetie betonte. Dieses umfangreiche Werk bemüht sich um den Widerspruch gegen solche Formen des Christentums, die sich mit dem Platonismus anzufreunden versuchten, wie z.B. dem Gnostizismus. Nach dieser Verteidigung des apokalyptischen Christentums verblasst die historische Spur von Tertullian um das Jahr 220. Doch hinterließ er ein Vermächtnis charismatischer Wildheit. Siehe auch: Gnostizismus; Gott, Begriffe von; Neuplatonismus; Patristische Philosophie; Stoizismus; Dreifaltigkeit JOHN PETER KENNEY
Thales (624-546 v. Chr.)
Thales von Milet ist der erste bekannte griechische Philosoph. Er führte eine Weise des Verstehens der Welt ein, die auf der Vernunft und der Natur aufbaute, statt auf Tradition und Mythologie. Er behauptete, dass das Wasser in gewissem Sinne der Grundstoff sei, dass alle Dinge von Gutem erfüllt seien, und dass (angeblich) alle Dinge eine Seele besäßen. Er sah zum großen Erstaunen seiner Zeitgenossen eine Sonnenfinsternis voraus und wird als der Begründer der griechischen Astronomie und Mathematik betrachtet. RICHARD MCKIRAHAN
Theoretische Entitäten
Siehe: Beobachtungen; Wissenschaftlicher Realismus Theorien, wissenschaftliche
und
Theoretische (erkenntnistheoretische) Tugenden
Antirealismus;
Wenn zwei miteinander konkurrierende Theorien oder Hypothesen genau dieselben Gegebenheiten erklären oder betrachten, und beide unwiderlegt sind: welche von beiden soll man dann bevorzugen? Nach der klassischen, rein formalen Bestätigungstheorie keine von beiden, denn jede von beiden ist im selben Umfange bestätigt, und somit haben die beiden Hypothesen genau denselben erkenntnistheoretischen Status bzw. dieselbe Glaubwürdigkeit. Im tatsächlichen Leben mag die eine von beiden jedoch stark vor der anderen bevorzugt werden, und zwar aus jedem der folgenden pragmatischen Gründe: sie ist einfacher aufgebaut, leichter zu überprüfen, fruchtbarer oder weniger im Widerspruch zu dem, was wir bereits glauben. Die philosophische Frage lautet damit, ob solche pragmatischen Tugenden auch
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Theorien, Wissenschaftliche
einen spezifisch erkenntnistheoretischen, wahrheitsrelevanten Wert haben, oder ob sie echte Gründe zu der Annahme sind, dass eine Theorie tatsächlich mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr ist als ihr Rivale, der nicht diese Eigenschaften aufweist. Siehe auch: Rechtfertigung, erkenntnistheoretische; Skeptizismus WILLIAM G. LYCAN
Theorien, Wissenschaftliche
Der Ausdruck ‚Theorie‘ wird in der Wissenschaft verschiedentlich verwendet, um sich auf eine unbewiesene Vermutung oder ein wissenschaftliches Forschungsgebiet zu beziehen (wie bei der ‚elektromagnetischen Theorie‘), oder auch zur Bezeichnung einer konzeptionelle Einheit zur systematischen Beschreibung des Systemverhaltens bei Zustandswechseln. Wissenschaftsphilosophen neigen zu der Auffassung, Letzteres für das Fundamentalste zu halten, und die meisten Betrachtungen von Theorien konzentrieren sich auf diesen Aspekt. Die Einsteinsche Revolution brachte aus experimentellen Gründen die Ablehnung des chemischen Äthers mit sich. Sie veranlasste dadurch sowohl Philosophen, als auch Wissenschaftler, sehr genau das Wesen wissenschaftlicher Theorien und ihre Verbindung zu Beobachtung zu prüfen. Viele taten dies im Wege normativer Analysen, die die Einführung ‚fiktiver‘ theoretischer Entitäten wie z.B. den Äther ausschlossen. Solche Analysen liefen auf die Schaffung von Kriterien zur Abgrenzung wissenschaftlicher oder für die Erkenntnis bedeutsamer Behauptungen von unwissenschaftlichen oder metaphysischen Behauptungen hinaus. Der logische Positivismus versuchte eine ideale Sprache für die Wissenschaft zu entwickeln, die die Erkenntnisrelevanz sicherstellen sollte. Diese Sprache war die symbolische Logik zusammen mit dem nichtlogischen Vokabular, das sich in Beobachtungs- und theoretische Subvokabulare aufteilte. Beobachtungsausdrücke bezeichneten direkt beobachtbare Entitäten und Attribute, und die Wahrheit von Sätzen, in denen diese Ausdrücke verwendet wurden, war unproblematisch. Um die Behauptung fiktiver, unbeobachtbarer Entitäten zu vermeiden, waren theoretische Ausdrücke nur im Zusammenhang einer Theorie erlaubt, die die Erkenntnisrelevanz theoretischer Behauptungen garantierte. Theorien waren wiederum notwendig, weil sie die Korrespondenzregeln enthielten, die theoretische Ausdrücke interpretieren, indem sie sie auf irgendeine Art und Weise mit Beobachtungsbedingungen koordinieren. In den 1960er Jahren wurde diese akzeptierte Auffassung angegriffen, weil die Unterscheidung von Beobachtung und Theorie nicht mehr haltbar war; ferner erwiesen sich die Korrespondenzregeln als ein heterogenes und unordentliches Gemisch aus Bedeutungsbeziehungen, experimentellen Entwürfen, Mess- und Kausalbeziehungen, und der Begriff der partiellen Interpretation zusammen mit lockereren Anforderungen an die Korrespondenzregeln waren inkohärent. Hinzu kam, dass Theorien keine axiomatischen Systeme sind, dass die symbolische Logik ein häufig ungeeigneter Formalismus ist, und dass Theorien keine sprachlichen Entitäten sind. Daraufhin wurden alternative Auffassungen von Theorien vorgeschlagen, z.B. die Konstruktion von Theorien als Antworten auf wissenschaftliche Probleme, als Paradigmen oder als begrifflicher Bezugsrahmen. Stufenweise Analysen, die Theorien als außersprachliche, mengentheoretische Strukturen konstruieren, beherrschten schließlich das nachpositivistische Denken. Die semantische Konzeption identifiziert Theorien mit abstrakten Theoriestrukturen, die man als gestaltete Zu1756
Thermodynamik
standsräume betrachten kann. Diese stehen in Abbildungsrelationen zu Phänomenen und sind die Referenten von sprachlichen Theorieformulierungen. Je nach Art der Abbildungsrelation, die für die theoretische Angemessenheit erforderlich ist, erhält man realistische, quasirealistische oder antirealistische Fassungen. Damit vermeidet man Korrespondenzregeln, und einige Fassungen kommen sogar gänzlich ohne die Unterscheidung von Beobachtbarem zu Nicht-Beobachtbarem aus. Die Entwicklung der semantischen Konzeption neigte zu einer Konzentration auf die Vermittlung von Theorien und Phänomenen durch Beobachtung oder Experiment, auf die Beziehungen zwischen Modellen und Theorien, auf die Bestätigung von Theorien und ihre ontologischen Bindungen, sowie auf die semantischen Beziehungen zwischen Theorien, Phänomenen und sprachlichen Formulierungen. Der strukturalistische Ansatz analysierte Theorien auch mengentheoretisch als etwas, was unter einer einheitlichen Struktur und einer Menge intendierter Anwendungen erfasst wird; dieser Ansatz ist aber im Geiste und in seinem Vertrauen auf eine relativierte Unterscheidung von theoretischen / nichttheoretischen Ausdrücken wiederum neopositivistisch. Er wurde verwendet, um die Theorieartigkeit und die Dynamik von Theorien zu erforschen, wenn sie Entwicklungen erfahren, sowie zur Erforschung von Vorstellungen der Inkommensurabilität. Die jeweilige Auffassung von Theorien tendiert dazu, starken Einfluss auf die Haltung zu nehmen, die man in Fragen wie z.B. der Beobachtung, der Bestätigung und der Prüfung einnimmt, und auch in der Debatte um den Realismus gegenüber dem Instrumentalismus bzw. gegenüber dem Antirealismus. Siehe auch: Experiment; Idealisierungen; Logischer Positivismus; Modelle; Beobachtung; Operationalismus; Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus FREDERICK SUPPE
Thermodynamik
Die Thermodynamik entwickelte sich als die Wissenschaft, die Licht in die gesetzesartige Ordnung brachte, die sich im Verhalten heißer Stoffe und in der Umformung von Hitze in mechanische Arbeit und umgekehrt zeigt. Sie wurde für Wissenschaftsphilosophen interessant, als man entdeckte, dass Hitze die verborgene Bewegungsenergie der mikroskopischen Bestandteile der Materie ist. Versuche einer Beschreibung der phänomenologischen Gesetze der Hitze, die die Thermodynamik auf der Grundlage der so genannten ‚kinetischen Theorie der Hitze‘ konzipierte, führten zur ersten und grundlegenden Einführung von wahrscheinlichkeitstheoretischen Begriffen und entsprechenden Erklärungen in die Physik. Dies führte wiederum zur so genannten ‚statistischen Mechanik‘. Einige der Fragen der Thermodynamik, die auch für Philosophen wichtig sind, betreffen die Bedeutung wahrscheinlichkeitstheoretischer Behauptungen für die statistische Mechanik, das Wesen der wahrscheinlichkeitstheoretischen Erklärungen von beobachteten makroskopischen Phänomenen, die Struktur der angeblichen Reduktion der thermodynamischen Theorie auf die Theorie der Dynamik der zugrunde liegenden mikroskopischen Bestandteile der Materie, der Ort der kosmologischen Postulate in der Erklärung des Verhaltens lokaler Systeme, und die mutmaßliche Reduzierbarkeit unseres Begriffs der Asymmetrie der Zeit auf die thermodynamischen Asymmetrien von Systemen in der Zeit. Zu der letzten Frage hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
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Thomas von Aquin (1225‑1274)
hunderts insbesondere der russisch-belgische Physikochemiker und Chaostheoretiker Ilya Prigogine bedeutende Beiträge geliefert. Siehe auch: Duhem, P.M.M.; Maxwell, J.C. LAWRENCE SKLAR
Thomas von Aquin (1225‑1274) Einführung Thomas von Aquin lebte ein aktives, in akademischer und kirchlicher Hinsicht forderndes Leben, das bereits in seinem vierten Jahrzehnt endete. Er brachte dennoch viele Werke hervor, deren Umfang von einigen wenigen Seiten bis zu mehreren Bänden starken Büchern reicht. Weil seine Schriften seinen Tätigkeiten als Lehrer des Dominikanischen Ordens und als Mitglied der Theologischen Fakultät der Pariser Universität entsprangen, beschäftigen sich die meisten von ihnen mit dem, was er und seine Zeitgenossen als Theologie erachteten. Große Bereiche der akademischen Theologie des Mittelalters bestanden allerdings aus rationalen Untersuchungen der grundlegendsten Aspekte der Wirklichkeit im Allgemeinen und der Natur und dem Verhalten des Menschen im Speziellen. Dieser enorme Gegenstandsbereich umfasst offenkundig größere Teile dessen, was heute als Philosophie betrachtet wird, und dies schlägt sich in der Breite der theologischen Schriften des Aquinaten nieder. Die Spannweite und der philosophische Charakter der mittelalterlichen Theologie in der Form, wie sie von Thomas betrieben wurde, kann man leicht an zwei seiner wichtigsten Werke ersehen, der ‚Summa contra gentiles‘ (‚Zusammenfassung [der christlichen Lehre], gegen die Ungläubigen gerichtet‘) und die ‚Summa theologiae‘ (‚Zusammenfassung der Theologie‘). Allerdings erforschte er viele der Hunderte von Fragen in diesen beiden großen Werken auch detaillierter in den kleineren Arbeiten, die infolge seiner zahlreichen akademischen Dispute entstanden (die manchmal wie eine Kreuzung zwischen einer formalen Debatte und Mitschriften aus studentischen Seminaren des 20. Jahrhunderts wirken), und die er auf seinen verschiedenen akademischen Positionen unterhielt. Einige dieser Themen werden auf andere Weise wieder in seinen Kommentaren zu den aristotelischen und anderen Werken aufgegriffen. Obwohl Thomas’ Beiträge in den zahlreichen Diskussionen bemerkenswert konsistent sind, ist die parallele Prüfung anderer Passagen seiner Schriften oft hilfreich, wenn man seinen Standpunkt zu einer Frage vollständig beurteilen will. Thomas von Aquins offensichtlich engste philosophische Verbindung ist jene zu Aristoteles. Neben dem Schreiben von Kommentaren zu dessen Werken zitiert er oft Aristoteles zur Unterstützung der von ihm verteidigten Thesen, selbst in den Bibelkommentaren. Aber auch in den aquinatischen Schriften gibt es viele implizit aristotelische Elemente, die er gründlich in sein eigenes Gedankengut übernommen hatte. Als ein überzeugter Aristoteliker nimmt er häufig Aristoteles’ kritische Haltung gegenüber den mit Platon verbundenen Theorien an, insbesondere bezüglich der Darstellung der regulären Formen der Substanz als selbständig existierenden Entitäten. Obwohl Thomas, wie auch andere mittelalterliche Gelehrte in Westeuropa, praktisch keinen Zugang zu Platons Werken hatte, war er gleichwohl von den Schriften des Augustinus und dem Pseudo-Dionysos beeinflusst. Über diese nahm
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Thomas von Aquin (1225‑1274)
er schließlich dennoch große Teile des Platonismus auf, vielleicht mehr, als er selbst bemerken konnte. Auf der anderen Seite ist Thomas von Aquin der paradigmatische christliche Philosophen-Theologe, der sich seiner intellektuellen Verpflichtung gegenüber der religiösen Lehre vollauf bewusst war. Er war jedoch überzeugt, dass christliche Denker dazu bereit sein sollten, über jede Frage rational zu diskutieren, speziell zu theologischen Themen, und zwar nicht nur unter ihresgleichen, sondern auch mit jedem Nichtchristen jeglicher Art. Weil aus seiner Sicht die Juden das Alte Testament akzeptierten und die Häretiker das Neue Testament, so ging er davon aus, dass die Christen einige Fragen mit beiden Gruppen auf der Grundlage der gemeinsam anerkannten religiösen Autorität diskutieren konnten. Weil jedoch andere Nichtchristen, „beispielsweise die Mohamedaner und die Heiden mit uns hinsichtlich der Autorität keiner einzigen Heiligen Schrift auf einer Grundlage, auf der sie überzeugt werden könnten, übereinstimmen, […] ist es notwendig auf die natürliche Vernunft zurückzugreifen, der jeder zwingend zustimmen muss – obwohl, sobald theologische Fragestellungen betroffen sind, damit nicht alles erledigt werden kann“, denn einige der theologischen Daten sind von Anfang an nur über die Bibel zugänglich (‚Summa contra gentiles‘ 1.2.11). Darüber hinaus wich Thomas von Aquin von der Mehrzahl seiner christlichen Kollegen des 13. Jahrhunderts hinsichtlich der Breite und Tiefe seines Respekts für die islamischen und jüdischen Philosophen-Theologen ab, speziell gegenüber Avicenna und Maimonides. Er sah sie als wertvolle Mitarbeiter in dem riesigen Projekt einer philosophischen Theologie, die die christliche Lehre im Wege einer philosophischen Analyse und Argumentation klären und unterstützen sollte. Seine eigene Bindung an dieses Projekt brachte ihn dazu, zu praktisch allen Bereichen der seit der Antike anerkannten Philosophie beizutragen, wobei er lediglich die Naturphilosophie überging (den Vorläufer der Naturwissenschaften). Eine Gedankenfolge mit solchen starken Verbindungen zu starken Vorgängern könnte auch zu nicht mehr als einem frommen Amalgam geführt haben. Die Philosophie des Aquinaten vermeidet jedoch jeglichen Eklektizismus durch seinen ihm eigenen, neuartigen Ansatz der Organisation und Begründung in allen Sachfragen, die unter dem Bogen der mittelalterlichen Konzeption einer philosophischen christlichen Theologie zusammengefasst waren, aber auch durch sein spezielles Talent zur systematischen Synthese und zur Herausarbeitung und geschickten Verteidigung der jeweils denkbar sensibelsten Position praktisch zu sämtlichen von ihm bearbeiteten Fragen. 1. Frühe Jahre 2. Erster Pariser Aufenthalt 3. Neapel und Orvieto: ‚Summa contra gentiles‘ und Biblischer Kommentar 4. Rom: ‚Diskutierte Fragen‘, ‚Dionysos‘ und das ‚Compendium‘ 5. Rom: Aristoteles-Kommentar 6. Rom: ‚Summa theologiae‘ 7. Zweiter Pariser Aufenthalt 8. Letzte Tage 9. Metaphysik 10. Philosophie des Geistes 11. Erkenntnistheorie 1759
Thomas von Aquin (1225‑1274)
12. Wille und Handlung 13. Ethik, Gesetz und Politik 14. Natürliche, offenbarte und philosophische Theologie 1. Frühe Jahre Thomas von Aquin wurde in Roccasecca nahe Neapel als jüngster Sohn einer großen, aristokratischen, italienischen Familie geboren. Wie auch bei anderen, ähnlich prominenten mittelalterlichen Persönlichkeiten ist nur schwer zu bestimmen, wann genau er geboren wurde; plausible Argumente wurden für die Jahre 1224, 1225 und 1226 vorgetragen. Er begann mit seiner Schulausbildung in der großen Benediktinischen Abtei von Monte Cassino (1231-1239), und von 1239-1244 studierte er an der Universität von Neapel. 1244 trat er der Dominikanischen Bruderschaft bei, einem damals relativ neuen religiösen Orden, der sich dem Studium und dem Gebet widmete; indem er dies tat, brachte er seine Familie gegen sich auf, die offenbar damit rechnete, dass er Abt von Monte Cassino würde. Als die Dominikaner ihn anwiesen, zwecks weiterer Studien nach Paris zu gehen, entführte ihn seine Familie auf dem Wege und brachte ihn nach Hause, wo er für beinahe zwei Jahre festgehalten wurde. Gegen Ende dieser Zeit warb sein Bruder eine Hure an, die ihn verführen sollte, aber Thomas jagte sie wütend aus seinem Raum. Nachdem er seine Familie durch seine hochgeistige Bestimmtheit beeindruckt hatte, erlaubte sie ihm im Jahre 1245 die Rückkehr zu den Dominikanern, die ihn erneut nach Paris sandten. Dieses Mal verlief die Reise erfolgreich. An der Universität von Paris traf der Aquinate zunächst auf Albert den Groszen, der rasch sein einflussreichster Lehrer und schließlich auch sein Freund und Förderer wurde. Als Albert 1248 an die Universität zu Köln wechselte, folgte ihm Thomas dorthin, nachdem er das außerordentliche Angebot des Papstes Innocent IV. zu seiner Ernennung als Abt von Monte Cassino bei gleichzeitiger Erlaubnis, weiter Dominikaner bleiben zu dürfen, abgelehnt hatte. Thomas von Aquin scheint körperlich ungewöhnlich groß und äußerst bescheiden und ruhig gewesen zu sein. Als sich während seiner Kölner Jahre seine besonderen Begabungen zu zeigen begannen, wies Albert dem noch widerstrebenden Aquinaten trotz seiner Zurückhaltung und Ergebenheit seine erste aktive Rolle in einem akademischen Disput zu. Nachdem er mit seinen Bemühungen zur Widerlegung der besten Argumente seiner Studenten in dieser Sache gescheitert war, erklärte Albert, ‚Wir nennen ihn einen stummen Ochsen, aber im Laufe seiner Lehrtätigkeit wird er eines Tages noch derartig brüllen, dass man es durch die ganze Welt hören wird.‘ 1252 kehrte Thomas nach Paris für einen Studienkurs zurück, der zu dem Titel des Meisters der Theologie führen sollte, was ungefähr dem doctor philosophiae des 20. Jahrhunderts entspricht. Während seines ersten akademischen Jahres studierte und las er über die Bibel; die abschließenden drei Jahre waren der Kommentierung in Vorlesungsform seines Kommentars zu Peter Lombards ‚Sentenzen‘ gewidmet, einer Standardaufgabe für den Studienabschluss zu dieser Zeit (siehe Lombard, P.). Der von Thomas in den Jahren 1253-1256 produzierte umfangreiche Kommentar (oft zitiert als das ‚Scriptum super libros Sententiarum‘ (‚Kommentar über das Buch der Sentenzen‘) ist das erste seiner vier theologischen Synthesen. Es enthält eine Menge wertvollen Materials; weil es aber in vieler Hinsicht von seiner großen ‚Summa contra gentiles‘ (‚Synopse [der christlichen Lehre], 1760
Thomas von Aquin (1225‑1274)
gerichtet gegen die Ungläubigen‘) und der ‚Summa theologiae‘ (‚Synopse der Theologie‘) in den Schatten gestellt wird, wurde das ‚Scriptum‘ noch nicht in der Tiefe studiert, die hier angebracht wäre. In derselben vierjährigen Zeitspanne erarbeitete der Thomas von Aquin ‚De ente et essentia‘ (Über das Sein und das Wesen), einer kurzen philosophischen Abhandlung, die er für seine dominikanischen Brüder in Paris schrieb. Obwohl in mancher Hinsicht Avicennas ‚Metaphysik‘ verbunden, ist ‚De ente et essentia‘ doch deutlich Thomas’ eigenes Werk, das viele jener Begriffe und Thesen ausführt, die für sein Denken durch seine ganze intellektuelle Laufbahn grundlegend blieben (siehe unten § 9). 2. Erster Pariser Aufenthalt Im Frühling 1256 wurde Thomas von Aquin zum Professor der Theologie in Paris ernannt, und diese Position behielt er bis zum Ende des akademischen Jahres 1258/1259 inne. Die ‚Quaestiones disputatae de veritate‘ (‚Diskutierte Fragen über die Wahrheit‘) ist die erste Gruppe der von ihm diskutierten Fragen und die wichtigste Arbeit, die er in diesen drei Jahren schrieb. Sie entstand im Zuge seiner Tätigkeit als Professor, die ihn zur Abhaltung einer Reihe von formalen öffentlichen Disputationen in jedem Jahr verpflichtete. ‚Quaestiones disputatae de veritate‘ besteht aus neunundzwanzig weit gespannten Fragestellungen, von der jede einem allgemeinen Thema, wie z.B. dem Bewusstsein, Gottes Wissen, dem Glauben, dem Guten, dem freien Willen, den menschlichen Gefühlen und der Wahrheit gewidmet waren (wobei letztere die erste Frage war, von der die Abhandlung ihren Namen erhielt). Jede Frage ist in zahlreiche Artikel unterteilt, und diese 253 Artikel stellen folglich die themenspezifischen Einheiten dar, beispielsweise lautet ‚q.1, a.9‘: ‚Gibt es Wahrheit in der sinnlichen Anschauung?‘ Die elaborierte Struktur eines jeden dieser Artikel, wie so viele der thomistischen Schriften, spiegelt die scholastische Methode wieder, die, wie auch die mittelalterlichen Disputationen im Klassenzimmer, ihre letzte Quelle in Aristoteles’ Empfehlungen in seinen Topoi betreffend die kooperativ-dialektische Untersuchung hatten. Thomas’ philosophische Diskussionen in dieser Form beginnen typischerweise mit einer Ja-Nein-Frage. Jeder Artikel entwickelt dann eine Art Debatte. Sie beginnt mit Argumenten für eine Antwort, die der eigenen Position von Thomas entgegengesetzt ist. Diese werden üblicherweise, wenn auch etwas irreführend, ‚Einwände‘ genannt. Als nächstes kommen die Argumente sed contra (‚aber andererseits‘), die in späteren Arbeiten häufig auf ein einzelnes Zitat irgend einer allgemein anerkannten Autorität zum Thema auf Seiten des Aquinaten abgekürzt werden. Dem sed contra folgt die von Thomas begründete Darstellung und Verteidigung seiner eigenen Position. Dies ist die ‚Bestimmung‘ der Frage durch den Meister, die manchmal auch der ‚Körper‘ des Artikels genannt wird (bezeichnet durch ein ‚c‘ in der Referenz). Ein Artikel schließt normalerweise mit Thomas‘ Erwiderung auf jeden einzelnen der Einwände (bezeichnet durch ‚ad 1‘ usw. in der Referenz). Die Abhaltung von ‚disputierten Fragen‘ war eine der Pflichten eines Professors der Theologie, aber die Theologische Fakultät sorgte regelmäßig auch für die Diskussion ‚beliebiger Fragen‘ (quaestiones de quodlibet). Bei diesen Gelegenheiten konnte der Professor, wenn er wollte, Antworten auf jegliche Art von Fragen vorstellen, die von den Mitgliedern der akademischen Hörerschaft vorgetragen wurden. 1761
Thomas von Aquin (1225‑1274)
Diese Veranstaltungen wurden zum Wohle des Professors während der zwei Fastenmonate des Kirchenjahres ausgerichtet. Thomas von Aquin scheint diese Herausforderung in mindestens fünf von sechs solchen Zeitspannen während seiner ersten Professur in Paris angenommen zu haben, wobei er das Werk ‚Quaestiones quodlibetales‘ (Beliebige Fragen) schrieb, in dem er ein überlegtes Urteil zu Themen, die von der Frage, ob die Seele mit ihren Kräften identisch ist, bis zu jener, ob die Verdammten die Heiligen in Ehren halten, reichte. Thomas von Aquins Kommentar zu Boethius ‚De trinitate‘ (‚Über die Dreieinigkeit‘) und ‚De hebdomadibus‘ (der manchmal auch ‚Wie die Substanzen Gott sind‘ bezeichnet wird) sind die beiden anderen wichtigen Schriften aus dieser Periode der ersten Professur. Obwohl bereits viele Philosophen diese beiden Abhandlungen von Boethius im 12. Jahrhundert kommentiert hatten, blieben sie doch infolge des nachfolgenden Einflusses der aristotelischen Werke praktisch allgemein unbeachtet, als Thomas seine Kommentare schrieb (siehe Boethius, A.M.S.). Niemand vermag mehr zu sagen, warum oder für wen er sie schrieb, aber vielleicht nutzte er sie zur eigenen Vorbereitung von Themen, die für sein Denken noch wichtig wurden. Der ‚De trinitate‘-Kommentar (‚Expositio super librum Boethii De trinitate‘) stellt Thomas’ Standpunkt zu der Beziehung zwischen Gottvertrauen und Vernunft und zu den Methoden und gegenseitigen Beziehungen aller anerkannten Textkörper des organisierten Wissens, d.h. also der Wissenschaften, dar. Boethius’ ‚De hebdomadibus‘ ist der locus classicus für die mittelalterliche Betrachtung der Beziehung zwischen Sein und Gottheit. Indem er sich mit diesem Thema in seinem Kommentar zu dieser Abhandlung beschäftigt, brachte Thomas auch seine erste systematische Darstellung der metaphysischen Partizipation hervor, die eines der wichtigen platonischen Elemente in seinem Denken ist. Die Partizipation, so behauptete er, ist gegeben, wenn die metaphysische Zusammensetzung von etwas ein X als Teil dieser Zusammensetzung enthält, das auch zu etwas anderem gehört, das dieses X aus eigener Kraft auf eine Art und Weise ist, die von dem ersten Gegenstand vorausgesetzt wird, der X enthält. In dieser Hinsicht partizipiert ein laufender Mann am Laufen, ein menschliches Wesen partizipiert am Tier, und eine Wirkung partizipiert an ihrer Ursache (siehe auch unten § 9). 3. Neapel und Orvieto: ‚Summa contra gentiles‘ und Biblischer Kommentar Thomas von Aquins Aktivitäten zwischen 1259 und 1265 sind nicht gut dokumentiert, er scheint aber definitiv seine Professur in Paris am Ende des akademischen Jahres 1258/1259 aufgegeben zu haben. Wahrscheinlich verbrachte er die beiden folgenden Jahre in einem dominikanischen Priorat in Neapel und arbeitete an der ‚Summa contra gentiles‘, die er bereits in Paris begonnen hatte, und die er schließlich in Orvieto abschloss, wo er als Lektor für die Studien des dominikanischen Priorats bis 1265 verantwortlich war. Die ‚Summa contra gentiles‘ unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von Thomas‘ anderen drei theologischen Synthesen. Stilistisch unterscheidet es sich von dem früheren ‚Scriptum‘ und der späteren ‚Summa theologiae‘ darin, dass sie nicht der scholastischen Methode folgt; stattdessen ist sie in gewöhnlicher Prosa geschrieben und wie sein ‚Compendium theologiae‘ (‚Handbuch der Theologie‘) in Kapitel unterteilt, welches letzteres er unmittelbar danach (1265/1267) geschrieben zu haben scheint. Wichtiger noch ist, dass ‚Scriptum‘, ‚Summa theologiae‘ und das ‚Com1762
Thomas von Aquin (1225‑1274)
pendium‘ alles Beiträge zur Offenbarungstheologie sind, die als wesentlichen Teil die Tatsache der Offenbarung als eine der Grundbedingungen seines theoretischen Denkens enthalten. In der ‚Summa contra gentiles‘ stellt Thomas andererseits die Offenbarungstheologie in das letzte, d.h. vierte der Bücher, in denen er von den ‚Mysterien‘ spricht, also den wenigen Lehrmeinungen, die nicht durch die natürliche Vernunft allein erschlossen werden können, und die ihre Quelle folglich nur in der Offenbarung haben. Er greift dies mit dem Ziel auf zu zeigen, dass selbst diese Behauptungen „nicht gegen die natürliche Vernunft sind“ (‚Summa contra gentiles‘ IV.1.3348). Er widmet das erste der drei Bücher der vollständigen Entwicklung einer natürlichen Theologie, die selbstverständlich von der natürlichen Vernunft abhängig ist, jedoch unabhängig von der Offenbarung. Den Ausführungen in den Büchern I – III zufolge ist diese natürliche Theologie imstande, einen sehr großen Teil der Aufgaben der Theologie zu erfüllen, beginnend mit der Setzung der Existenz Gottes bis zur Ausarbeitung von Einzelheiten der menschlichen Moral (siehe auch unten § 13). Die Diskussionen zum Verständnis der thomistischen Positionen auf vielen Gebieten der Philosophie sind auch, und nicht immer voraussehbar, zwischen den Texten seiner Bibelkommentare verstreut. Während Thomas’ Aufenthalt in Orvieto bzw. zu dieser Zeit schrieb er am III. Buch der ‚Summa contra gentiles‘, und zwar über die Vorsehung und Gottes Beziehung zu den Menschen. Ferner produzierte er seine ‚Expositio super Iob ad litteram‘ (Wörtlicher Kommentar zu Hiob), die einer seiner am vollständigsten entwickelten und philosophischsten Bibelkommentare ist, und der in dieser Hinsicht nur mit seinem späteren Kommentar über die Römer verglichen werden kann. Der Textkörper des Buches Hiob besteht hauptsächlich aus den Reden Hiobs und seiner ‚Tröster‘. Thomas interpretiert diese Reden so, als würden sie eine echte Debatte darstellen, beinahe eine mittelalterliche akademische Disputation (die am Ende von Gott selbst entschieden wird), in der die Gedanken sich subtil entwickeln und von Argumenten voran getragen werden. Seine Konstruktion der Argumentation ist genial, umso mehr, als die Leser des 20. Jahrhunderts dazu neigten, die Reden als langweilige Wiederholungen falscher Anschuldigungen zu entwerten, denen Hiobs abwechslungsarme Variationen des Themas seiner Unschuld entgegen gestellt werden. Thomas‘ Interpretationen des Gegenstandes dieses Buches unterscheidet sich ebenfalls von der modernen Sichtweise, derzufolge es sich dabei um die biblische Darstellung des Problems des Bösen handelt, das dadurch entsteht, dass Gott schreckliches Leiden zulässt, das unschuldigen Personen zugefügt wird. Thomas scheint kaum anzuerkennen, dass die Geschichte von Hiob Zweifel an der Güte Gottes aufkommen lässt. Er interpretiert sie so, dass das Buch die Natur und die Abläufe der göttlichen Vorsehung erklärt, die er so versteht, dass sie mit dem Erlauben von schlechten Ereignissen gegenüber guten Menschen vereinbar ist. Thomas sagt dazu: „Wenn in diesem Leben Menschen von Gott für gute Taten belohnt und für schlechte bestraft werden, wie Eliphaz [einer der Tröster] dies verstehen wollte, dann folgt daraus offensichtlich, dass das letzte Ziel menschlicher Wesen in diesem ihrem Leben liegt. Aber Hiob meint diese Auffassung zu widerlegen, und er will zeigen, dass das gegenwärtige Leben menschlicher Wesen nicht das letzte Ziel enthält, aber zu ihm in einer Beziehung steht wie die Bewegung zur Ruhe und die Straße zu ihrem Bestimmungsort.“ (‚Expositio super Iob ad litteram‘ 7:1-4)
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Die Dinge, die einer Person in diesem Leben zustoßen, können als göttliche Vorsehung nur durch Bezug auf die Möglichkeit erklärt werden, derzufolge die Menschen das letzte Ziel des vollständigen Glücks erreichen können, die Freude der Einheit mit Gott im Leben nach dem Tode. In der Diskussion der Klagen Hiobs, dass Gott seine Gebete nicht erhöre, sagt Thomas, dass Hiob diesen Eindruck habe, weil Gott manchmal „die Bitten einer Person nicht erhört, die nicht zu seinem Vorteil gereichen. Ein Arzt erhört nicht die Bitten eines Lahmen, der fragt, ob ihm nicht die bittere Medizin weggenommen werden kann (unter der Annahme, dass der Arzt sie nicht wegnimmt, weil er weiß, dass sie zu seiner Heilung beiträgt). Stattdessen achtet er auf den Vorteil des Patienten. Indem er dies tut, fördert er die Gesundheit, die sich die kranke Person am meisten von allem wünscht.“ Auf dieselbe Weise lasse Gott es manchmal zu, dass eine Person trotz ihrer Gebete um Vergebung leide, denn er wisse, dass diese Leiden dieser Person helfen werden das zu erreichen, was sie sich am meisten wünsche (‚Expositio super Iob ad litteram‘ 9:16). 4. Rom: ‚Diskutierte Fragen‘, ‚Dionysos‘ und das ‚Compendium‘ 1265 ging Thomas von Aquin von Orvieto nach Rom, nachdem er dazu ernannt worden war, ein dominikanisches studium einzurichten (was ungefähr wie eine Hochschule des 20. Jahrhunderts zu verstehen ist) und als Professor dort zu dienen. Diese römische Periode seiner Laufbahn, die bis 1268 dauerte, war besonders produktiv. Einige seiner größeren Werke aus der Zeit zwischen 1265-1268 waren genau das, was von einem Professor der Theologie erwartet wurde, und speziell drei Sammlungen disputierter Fragen, ‚Quaestiones disputatae de potentia‘ (Disputierte Fragen über [Gottes] Macht), ‚Quaestio disputata de anima‘ (Disputierter Frage über die Seele) und ‚Quaestio disputata de spiritualibus creaturis‘ (Disputierte Frage über die geistigen Wesen). Die älteste von ihnen, ‚De potentia‘, besteht aus dreiundachtzig Artikeln, die zu zehn Fragen gruppiert sind; die ersten sechs Fragen handeln von der göttlichen Macht, während die abschließenden vier Fragen von Problemen bezüglich der Kombination der Dreifaltigkeitslehre mit Gottes absoluter Einfachheit handeln. Das viel kürzere ‚De anima‘ beschäftigt sich hauptsächlich mit metaphysischen Aspekten der Seele und schließt mit einigen speziellen Problemen im Zusammenhang mit der Natur und den Fähigkeiten der Seelen, die von ihrem Körper getrennt sind (Art. 14-21). Die elf Artikel von ‚De spiritualibus creaturis‘ behandeln erneut viele derselben Fragen, schreiten aber auch fort zu einigen Betrachtungen über die Engel als eine andere Ordnung der geistigen Geschöpfe neben den menschlichen Wesen, deren Natur nur zum Teil geistig ist. In demselben Zeitraum, oder vielleicht während er sich noch in Orvieto aufhielt, schrieb Thomas einen Kommentar zu der pseudo-dionysischen Abhandlung ‚De divinis nominibus‘ (Über die göttlichen Attribute), einer zutiefst neuplatonistischen Darstellung der christlichen Theologie, die wahrscheinlich in das 6. Jahrhundert datiert. Thomas glaubte, wie alle anderen zu dieser Zeit auch, dass sie in der apostolischen Periode durch Dionysios geschrieben worden sei, der von Paulus bekehrt worden war. Aus diesem Grunde, und vielleicht auch, weil er dieses Buch das erste Mal unter Albert in Köln studiert hatte, hatte es einen mächtigen Einfluss auf das Denken des Aquinaten. Schon sehr früh in seiner Laufbahn, währen er am ‚Scriptum‘ schrieb, glaubte er, Dionysos sei ein Aristoteliker gewesen (‚Scriptum‘ 1764
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II, d.14, q.1, a.2), aber während er den Kommentar zu diesem Text schrieb, wurde ihm klar, dass der Autor ein Platoniker gewesen sein muss (‚Expositio super librum Dionysii de divinis nominibus‘, prooemium; ‚Quaestiones disputatae de malo‘ 16.1, ad 3). Sein Kommentar, der einem Text einen klaren Sinn gibt, der ansonsten häufig dunkel ist, wurde vielleicht, wie auch seine Boethius-Komentare, für eigene Zwecke geschrieben, statt aus einer Folge von Vorlesungen heraus zu entstehen. Wie dem auch sei, sein Studium des Dionysos ist einer der wichtigsten Wege, auf denen der Platonismus ein wesentlicher Bestandteil seines eigenen Denkens wurde. Von dem ‚Compendium theologiae‘ (‚Handbuch der Theologie‘) das bereits in Verbindung mit der ‚Summa contra gentiles‘ Erwähnung fand, meinte man zunächst, es sei viel später geschrieben worden und infolge des Todes des Aquinaten unvollendet geblieben. Seine Ähnlichkeit zur ‚Summa contra gentiles‘, und zwar nicht nur im Stil, sondern auch inhaltlich, hat die Gelehrten schließlich dazu gebracht, es den Jahren 1265-1267 zuzuordnen. Unter Thomas’ vier theologischen Synthesen ist das ‚Compendium theologiae‘ einzigartig in seiner Kürze der Diskussionen und in seiner Organisation rund um das Thema der ‚theologischen Tugenden‘ des Glaubens, der Hoffnung und der Barmherzigkeit. Wäre es vollendet worden, so wäre von ihm vielleicht eine Erneuerung der Orientierung in dem riesigen Gegenstandsgebiet der mittelalterlichen Theologie ausgegangen. Thomas schrieb aber nur zehn kurze Kapitel des zweiten Abschnitts über die Hoffnung, und gar nichts innerhalb des dritten Abschnitts über die Barmherzigkeit. Er vollendete den ersten Abschnitt über den Glauben, weil aber die meisten der 246 Kapitel dieses Abschnitts nur einfach kürzere Behandlungen praktisch aller theologischer Themen enthielten, die Thomas bereits zuvor in der ‚Summa contra gentiles‘ behandelt hatte, erscheint das ‚Compendium‘ in der von ihm hinterlassenen Form hauptsächlich als eine Zusammenfassung des Materials, das vollständiger in anderen Werken entwickelt wurde (vor allem in der ‚Summa theologiae‘). 5. Rom: Aristoteles-Kommentar Während einiges von Thomas’ gewaltiger Produktion in Rom von 1265-1268 im weiteren Sinne Werken ähnelt, die er bereits zuvor geschrieben hatte, enthält es auch zwei wichtige Neuerungen, von denen die eine die erste von zwölf Kommentaren zu Werken von Aristoteles ist. Zu Beginn seines Kommentars zu ‚De anima‘ (‚Sententia super de anima‘) ist sein Vorgehen noch etwas tastend und für ihn ungewöhnlich stark mit technischen Details befasst. Diese Merkmale des Werkes führte Gelehrte seinerzeit dazu, den Kommentar über das erste Buch von ‚De anima‘ als eine reportatio (d.h. eine unüberarbeitete Sammlung von Notizen zu seinen Vorlesungen) zu betrachten, oder sogar zu einer Zuschreibung dieses ersten Drittels der aquinatischen Kommentare zu einem gänzlich anderen Autor. Gauthier hat jedoch überzeugend dargelegt, dass der Unterschied zwischen der Behandlung des Buches I und des Buches II und III von ‚De anima‘ in diesem Kommentar sich durch Unterschiede zwischen diesen Büchern selbst erklärt, und dass tatsächlich keiner der thomistischen Kommentare zu Aristoteles aus Vorlesungen über diese Bücher hervorging. Diskrepanzen innerhalb dieser Arbeit, also dem ersten der thomistischen Aristoteles-Kommentare, sind vermutlich zumindest teilweise eine Folge des Umstandes, dass er erst seinen Weg in diese neue Art von Unternehmung finden musste, in die er bald sehr geschickt wurde. In einem kürzlich erschienenen Buch 1765
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mit Aufsätzen über Aristoteles’ ‚De anima‘ beschreibt Martha Nussbaum die Arbeit des Aquinaten als „einen der wirklich großartigsten Kommentare über das Werk“ und als „sehr einsichtsvoll“. T.H. Irwin, ein führender Interpret des Aristoteles, gibt zu, dass Thomas an einem Punkte der ‚Sententia libri Ethicorum‘ (Kommentar zu Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘) „die Absicht des Aristoteles tatsächlich klarer wiedergibt als Aristoteles sie selbst erklärt“. Solche Beurteilungen erfahren die thomistischen Kommentare zu Aristoteles durchaus im Allgemeinen, weil sie sich alle durch seine außerordentliche Fähigkeit zur philosophischen Kommentierung auszeichnen, zur Unterscheidung logischer Strukturen in praktisch jeder Passage, die er prüft, und dies in jeder Textsorte: nicht nur bei Aristoteles, sondern auch in jenen der anderen, von Boethius bis zu Paulus. Da das Kommentieren von Aristoteles zwar eine übliche Aufgabe im Leben eines Mitgliedes der mittelalterlichen Fakultät der Künste war, aber niemals Teil der Pflichten eines akademischen Theologen, so waren die zahlreichen AristotelesKommentare von Thomas, technisch gesehen, Arbeiten außerhalb der Curricula und deshalb eine besonders beeindruckende Leistung für jemanden, der ohnehin schon sehr beschäftigt war. Einige Gelehrte, die Thomas‘ Leistungen allgemein sehr bewunderten, sich aber auf die Tatsache konzentrierten, dass seine berufliche Laufbahn gänzlich in der Theologischen Fakultät stattfand, haben deshalb darauf bestanden, nur seine Aristoteles-Kommentare als philosophische Arbeiten einzustufen. Sicherlich sind diese Kommentare philosophischer Natur, und zwar so rein philosophisch wie das aristotelische Werk, das sie beleuchten. Thomas schrieb diese Werke aber nicht nur, um den sehr schwierigen Texten des Aristoteles einen guten Sinn zu verleihen, sondern wichtiger war ihm, sein eigenes Verständnis der Themen zu vertiefen, die Aristoteles behandelt hatte. So bemerkt er in seinem Kommentar zu ‚De caelo‘: „Das Studium der Philosophie hat nicht zum Zweck zu wissen, was die Menschen gedacht haben, sondern vielmehr die Wahrheit darüber, wie die Dinge beschaffen sind.“ (‚Sententia super libros de caelo et mundo‘ I.22.228), und er glaubte, dass die Versuche des Theologen, Gott und alle sonstigen Dinge in ihrer Beziehung zu Gott zu verstehen, die unterste Wirklichkeit des universellen menschlichen Antriebs zum Wissen der Wahrheit darüber seien, was die Dinge sind. Darüber hinaus ähnelt seine Sichtweise der Erzielung eines allgemeinen intellektuellen Fortschritts stark der uralten Methode der Philosophie: „Wenn aber irgendwelche Leute etwas dagegen schreiben wollen, was ich zuvor gesagt habe, so bin ich dafür sehr dankbar, denn es gibt keinen besseren Weg zur Entdeckung der Wahrheit und der fortgesetzten Überprüfung des Falschen, als die Diskussion mit Leuten, die nicht deiner Meinung sind.“ (‚De perfectione spiritualis vitae‘ 26) (siehe Aristoteles). 6. Rom: ‚Summa theologiae‘ Die andere wichtige Neuerung in Thomas‘ dreijähriger Professur in Rom ist die ‚Summa theologiae‘, seine größte und für ihn typischste Arbeit, die er in Rom begann und für den gesamten Rest seines Lebens fortsetzte. Die ‚Summa theologiae‘, die bei seinem Tode unvollendet blieb, besteht aus drei großen Teilen. Der erste Teil (Ia) beschäftigt sich mit der Existenz und Natur Gottes (Fragen 1-43), der Schöpfung (44-49), den Engeln (50-64), den sechs Tagen der Schöpfung (65-74), der menschlichen Natur (75-102) und der göttlichen Fügung (103-119). Der zweite Teil handelt von der Moral, und zwar so bis ins Einzelne, dass dieser Teil selbst nochmals in 1766
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zwei Teile zerlegt ist. Der erste Teil des Zweiten Teils (IaIIae) greift das menschliche Glück auf (Fragen 1-5), das menschliche Handeln (6-17), das Gute und die Schlechtigkeit menschlicher Handlungen (18-21), die Leidenschaften (22-48) und die Quellen der menschlichen Handlungen: intrinsische (49-89) und extrinsische (90-114). Der zweite Teil des Zweiten Teils (IIaIIae) beginnt mit drei theologischen Tugenden und den entsprechenden Lastern (Fragen 1-46), fährt fort mit den vier ‚Kardinaltugenden‘ und deren entsprechenden Lastern (47-170), und endet mit speziellen Fragen im Zusammenhang mit dem religiösen Leben (171-189). Im Dritten Teil behandelt Thomas die Inkarnation (Fragen 1-59) und der Sakramente (60-90), und bricht mitten in der Diskussion der Buße ab. Thomas betrachtete die ‚Summa theologiae‘ als eine neue Art von Textbuch der Theologie, und seine wichtigste pädagogische Neuerung war aus seiner Sicht dessen innere Organisation. Er sagte, dass er bemerkt hätte, wie neue Studenten der Theologie von ihren Studien durch zahlreiche Merkmale des üblichen Lehrmaterials abgehalten worden seien, insbesondere „weil die Dinge, die sie wissen müssen, nicht in einer Reihenfolge angeboten werden, die sich für eine Lehrmethode eignet.“ Diese Ordnung schlägt er zur Einführung vor. Es mag vielleicht seine Begeisterung für diesen neuen Ansatz gewesen sein, der ihn dazu brachte, die Arbeit an dem ganz anders organisierten ‚Compendium theologiae‘ abzubrechen, und sein natürliches Interesse daran während dieser Zeit des Schreibens der ‚Summa theologiae‘ Ia erklärt auch den Umstand, dass seine sonstige Arbeit zu dieser Zeit eine besondere Hinwendung zur Natur und Funktionsweise der menschlichen Seele, die Gegenstand der Fragen 75-89 von Ia ist, zeigt (siehe unten § 13). 7. Zweiter Pariser Aufenthalt Im Jahre 1268 entsandte der Dominikanerorden Thomas erneut an die Universität von Paris, wo er für eine zweite Zeit Professor wurde, bis im Frühling 1272 alle Vorlesungen infolge eines Disputs mit dem Bischof von Paris gestrichen wurden. Die Dominikaner ordneten daraufhin die Rückkehr von Thomas nach Italien an. Unter der erstaunlichen Anzahl von Arbeiten, die Thomas in diesen vier Jahren schrieb, ist der riesige Zweite Teil der ‚Summa theologiae‘ (IaIIae und IIaIIae), neun aristotelische Kommentare, ein Kommentar über das pseudo-aristotelische ‚Liber de causis‘ (das, wie Thomas als erster bemerkte, in Wirklichkeit eine Kompilation neuplatonischen Materials von Proclus) ist, sechzehn biblische Kommentare und sieben Sammlungen disputierter Fragen (einschließlich der Sammlung von sechzehn ‚Quaestiones disputatae de malo‘ (‚Disputierte Fragen über das Böse‘), wobei er in der sechsten die vollständigste Diskussion der freien Wahl liefert. Seine literarische Produktivität während dieser zweiten Amtszeit ist umso erstaunlicher, als er zur selben Zeit in mehrere Kontroversen verwickelt war. Die erneute Entsendung von Thomas nach Paris im Jahre 1268 scheint zumindest teilweise die Antwort seines Ordens auf die besorgniserregende Bewegung des ‚Lateinischen Averroeismus‘ oder ‚radikalen Aristotelismus‘ gewesen zu sein, die damals unter den Mitglieder der Fakultät der Künste um sich griff, weil sie sich von der Interpretation des Aristoteles angezogen fühlten, auf die sie in den Kommentaren Averroes‘ stießen. Allerdings scheinen nur zwei seiner zahlreichen Schriften aus diesen Jahren eine offensichtliche Verbindung mit der averroeistischen Kontroverse zu haben. Eine von ihnen, seine Abhandlung ‚De unitate intellectus, con1767
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tra Averroistas‘ (‚Über [eine Theorie der] Einheit des Intellekts, gegen die Averroeisten‘) ist eine ausdrückliche Kritik und Zurückweisung der spezifischen Lehre dieser Bewegung; diese Theorie, wie Thomas sie beschreibt, sagt, dass jener Aspekt des menschlichen Geistes, „den Aristoteles den möglichen Intellekt nennt […], eine Art vom Körper gesonderter Substanz und in keiner Weise mit ihm als seine Form verbunden ist; und darüber hinaus, dass dieser mögliche Intellekt ein und derselbe für alle menschlichen Wesen ist.“ (‚De unitate intellectus‘, prooemium). Nach einer kurzen Bemerkung, dass die Unvereinbarkeit dieser Sichtweise mit der christlichen Lehre für eine jegliche rechtfertigende Diskussion zu offensichtlich ist, egal welcher Länge, widmet Thomas die gesamte Untersuchung dem Nachweis, dass „diese Position in nicht geringerem Maße den Prinzipien der Philosophie widerspricht sowie der Glaubenslehre, und dass sie sogar mit den Worten und Auffassungen von Aristoteles selbst vollkommen unvereinbar ist.“ (‚De unitate intellectus‘, prooemium) Neben der Einheit des Intellekts ist die andere kontroverse Theorie, die am häufigsten mit dem Averroeismus des 13. Jahrhunderts assoziiert wird, jene des anfangslosen Universums. In vielen seiner Werke hatte Thomas bereits die Möglichkeit überdacht, dass die Welt schon immer existierte, wobei er geschickt die stabile Position entwickelte und verteidigte, dass die Offenbarung allein die Grundlage dafür liefere, dass die Welt zu existieren begann, dass ferner niemand beweisen könne, weder dass die Welt irgendwann beginnen musste, noch dass sie nicht begonnen haben kann, und dass sowohl eine anfangslose, als auch eine geschaffene Welt möglich ist (wenn auch selbstverständlich nicht wirklich). Die zweite von Thomas’ Pariser Abhandlungen, die klar auf den Averroeismus gerichtet waren, ist ‚De aeternitate mundi, contra murmurantes‘ (‚Über die Ewigkeit der Welt, gegen die Nörgler‘), eine sehr kurze und für ihn untypisch empörte Zusammenfassung seiner Position. Thomas konnte sich nicht beklagen, dass Aristoteles hinsichtlich der Ewigkeit der Welt fehlinterpretiert worden sei. Nach der einleitenden Annahme, dass dies der Fall sei, überzeugt er sich, dass Aristoteles wirklich glaubte bewiesen zu haben, dass die Welt für immer existiert haben muss. Thomas’ Position zu dieser Frage setzt ihn aus Sicht der zeitgenössischen ‚augustinianischen‘ Widersacher nicht genügend von den Averroeisten ab, unter denen insbesondere die Franziskaner Bonaventura und Pecham waren. Tatsächlich waren die ‚Nörgler‘, gegen die Thomas seine Abhandlung richtete, wahrscheinlich weniger die Averroeisten der Fakultät der Künste, als vielmehr jene franziskanischen Theologen, die dabei blieben, dass sie die Unmöglichkeit einer anfangslosen Welt bewiesen hätten. Thomas’ grundsätzliche Entzweiung mit zwei wichtigen Franziskanern an diesem Punkte muss dazu beigetragen haben, dass sein zweiter Aufenthalt in Paris wesentlich schwieriger war als sein erster. In den Disputationen, die 1266-1267 in Paris abgehalten wurden, bezog der franziskanische Professor William von Baglione die Auffassungen von Thomas in die Positionen ein, die er angriff, und behauptete, dass das von Thomas Gesagte die beiden averroeistisch-häretischen Thesen unterstützen würde, die von Bonaventura denunziert worden waren, nämlich die Ewigkeit der Welt und die Einheit des Intellekts. Es wurde auch überzeugend vorgebracht, dass Thomas’ ‚De aeternitate mundi‘ speziell gegen seinen Franziskanerkollegen der Theologie, John Pecham, gerichtet war. Es scheint, als ob Thomas’ Entwicklung einer ausgesprochen philosophischen Theologie, die wie diejenige Alberts mehr dem Aristoteles als dem Augustinus nahe stand, ihn während dieser Jahre von seinen 1768
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Kollegen in der Pariser Theologischen Fakultät entfernte. Dies mag ihn auch näher an die Philosophen der Fakultät der Künste herangerückt haben. 8. Letzte Tage Im Juni 1272 ordneten die Dominikaner an, dass Thomas Paris zu verlassen und nach Neapel zu gehen habe, wo er ein weiteres studium für den Orden einrichten und als ihr leitender Professor dienen sollte. Außer einigen interessanten Sammlungen von Moralpredigten (die ursprünglich in seinem italienischen Geburtsdialekt gepredigt wurden), blieben die Arbeiten dieser Periode – zwei Aristotelische Kommentare und der Dritte Teil der ‚Summa theologiae‘ – unvollendet. An oder um den 6. Dezember 1273, während er die Messe las, stieß Thomas etwas zu, was ihn so schwach machte, dass er nicht mehr schreiben oder diktieren konnte. Er selbst sah diesen Vorfall als eine besondere Offenbarung. Als Reginald von Piperno, sein Erster Sekretär und langjähriger Freund, ihn zu überzeugen versuchte, zu seiner Arbeit am Dritten Teil der ‚Summa theologiae‘ zurückzukehren, sagte er: ‚Reginald, ich kann nicht.‘ Und als Reginald darauf bestand, sagte Thomas schließlich: „Alles, dass ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe und was mir offenbart wurde.“ Er glaubte, dass er zum Schluss dasjenige klar gesehen habe, dem er seines ganzen Lebens gewidmet habe, und dass im Vergleich dazu alles, was er geschrieben habe, blass und trocken sei. Nun, da er nicht länger schreiben konnte, so sagte er Reginald, wolle er sterben. Kurz darauf, am 7. März 1274, starb er in Fossanuova, Italien, auf dem Wege zum Konzil von Lyons, an dem teilzunehmen er beordert worden war. 9. Metaphysik Jeder Teil der thomistischen Philosophie ist erfüllt von metaphysischen Prinzipien, von denen man in vielen ihre aristotelische Herkunft erkennt. Infolgedessen sollten Begriffe wie Potenzialität und Aktualität, Stoff und Form, Substanz, Wesen, Akzidenz und die vier Ursachen – die sämtlichst fundamental in der Metaphysik des Aquinaten sind – in ihrem ursprünglichen aristotelischen Kontext betrachtet werden (siehe Aristoteles § 11). Er beruft sich oft auf solche Prinzipien, und er wendet sie noch häufiger implizit an. Zwei seiner frühesten Schriften, ‚De principiis naturae‘ (‚Über die Prinzipien der Natur‘), und speziell ‚De ente et essentia‘ (‚Über das Sein und das Wesen‘) umreißen viel seiner Metaphysik, beinahe als wären sie geschrieben worden, um ihm als Führer zur Entwicklung seiner Philosophie zu dienen. Vielleicht ist die wichtigste These in ‚De ente‘ jene, die als die ‚Realunterscheidung‘ bekannt wurde, d.h. die Auffassung Thomas’, dass das Wesen einer jeden geschaffenen Sache wirklich, und nicht nur begrifflich, von ihrer Existenz geschieden ist. Metaphysisch gesprochen ist körperlich Seiendes aus Stoff und Form zusammengesetzt, aber alle Wesen, sogar die unkörperlichen, sind Zusammensetzungen aus Wesen und Existenz. Nur die erste und ungeschaffene Ursache, Gott selbst, dessen Wesen Existenz ist, ist absolut einfach. Außer seinem Kommentar zu Aristoteles‘ Metaphysik widmete Thomas keine seiner reifen Schriften mehr der Metaphysik selbst. Weil er jedoch die Metaphysik als eine Wissenschaft des Seins im Allgemeinen (ens commune) betrachtete, und weil er der Auffassung war, dass das Sein an sich zuallererst Gott selbst sei und folglich alles Sein von Gott abhänge, so beginnt seine Philosophie mit der Metaphysik, insofern die systematischste Darstellung seines Denkens (in der ‚Summa contra 1769
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gentiles‘ und der ‚Summa theologiae‘) mit der Erforschung von Gott-in-sich-selbst als Begründung der Natur und Existenz von allem beginnen (siehe z.B. ‚Summa contra gentiles‘ III.25; ‚Expositio super librum Boethii de trinitate‘ V.4; unten § 14). Das Sein, so sagt Thomas, ist die fundamentalste Vorstellung des Intellekts, sie ist „der ihm innewohnende, am meisten einsehbare Gegenstand und jene, in der sich die Grundlage aller Begriffe findet […]. Infolgedessen müssen alle anderen Vorstellungen des Intellekts dadurch erschlossen werden, dass man dem Sein etwas hinzufügt […], insofern sie etwas als eine Art des Seins ausdrücken, das nicht mit dem Ausdruck ‚sein‘ selbst bereits gesagt ist.“ (‚Quaestiones disputatae de veritate‘ 1.1c) Es gibt, so behauptet er, genau zwei legitime Wege, eine solche Hinzufügung durchzuführen. Der erste folgt aus den zehn aristotelischen Kategorien, von denen jede eine „spezifische Art des Seins ist“, d.h. Substanz, Quantität, Qualität und so fort. Die Ergebnisse des ‚Hinzufügens zum Sein‘ auf die zweite Weise sind weniger vertraut. Thomas fasst sie als die fünf Modi des Seins auf, die vollkommen allgemeiner Natur sind und absolut jedes Sein charakterisieren. Das heißt, das Sein, wo und wie auch immer es instantiiert ist, weist diese fünf Modi auf, die die Kategorien transzendieren, denn sie sind notwendige Modi allen bestimmten Seins, als das sind: Sache (res), eins, etwas (aliquid), gut, wahr. Diese fünf, zusammen mit dem Sein selbst, sind die ‚Transzendentalien‘, die richtig (wenn auch manchmal etwas seltsam) von absolut allem, was ist, ausgesagt werden können. ‚Gut‘ und ‚wahr‘ sind daran die philosophisch interessanten Fälle, denn einiges Seiendes ist offensichtlich nicht gut, und ‚wahr‘ scheint nur auf Aussagen anwendbar zu sein. Die Behauptung, alles Seiende sei wahr, hängt vom Verständnis des Wortes ‚wahr‘ im Sinne von ‚echt‘ ab, wie beispielsweise in dem Ausdruck ‚ein wahrer Freund‘. Dieser Sinn des Wortes ‚wahr‘ wurde sehr im Einzelnen von Anselm von Canterbury erforscht. Nach Anselms Auffassung ist jedes Sein in diesem Sinne wahr, und zwar in dem Umfange, wie es mit der göttlichen Idee eines solchen Dinges übereinstimmt (und ist umgekehrt im entsprechenden Sinne falsch). Absolut alles, das ist, stimmt in gewissem Umfang mit der göttlichen Idee, die ein Bestandteil seiner kausalen Erklärung ist, überein. Aussagen sind wahr, wenn sie mit den Dingen, wie sie wirklich in der Welt sind, korrespondieren; die Dinge der Welt sind wahr, wenn sie mit dem Geist, d.h. zunächst Gottes Geist, und abgeleitet davon dem unsrigen, korrespondieren. Folglich sagt Thomas, dass „es in der Seele eine verstehende [kognitive] und eine begehrende [appetitive] Kraft gibt. Das Wort ‚gut‘ drückt dann die Übereinstimmung eines Seins mit diesem Begehren aus (wie es zu Beginn der ‚Ethik‘ heißt: „Das Gute ist, was sich alle wünschen“). Das Wort ‚wahr‘ drückt jedoch die Übereinstimmung eines Seins mit dem Intellekt aus.“ (‚Quaestiones disputatae de veritate‘ 1.1c). Die zentrale These der thomistischen Metaethik erwächst aus dieser Theorie der Transzendentalien. Die These ist das metaphysische Prinzip, dass die Ausdrücke ‚sein‘ und ‚gut‘ denselben Bezug geltend machen und sich nur im Sinn unterscheiden (‚Summa theologiae‘ Ia.5.1). Was sich alle wünschen, ist das, was sie für gut halten, und was gewünscht ist, wird zumindest als wünschenswert angesehen (siehe z.B. ‚Summa contra gentiles‘ I.37; III.3). Die Wünschbarkeit ist somit ein wesentlicher Aspekt des Guten. Wenn ein Ding bestimmter Art wirklich als Ding dieser Art wünschenswert ist, dann ist es in dem Umfange wünschenswert, in dem es seiner Art nach perfekt ist: ein vollendetes Exemplar, frei von relevanten Fehlern. 1770
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Ein Ding ist aber in dem Umfange vollendet in seiner Art, wie es seine artprägenden Möglichkeiten (Potenzen) verwirklicht hat, nämlich jene Möglichkeiten, die diese Art von anderen Arten derselben Gattung unterscheiden. Folglich, so sagt Thomas, ist ein Ding wünschenswert als Ding seiner Art und folglich gut in seiner Art in dem Umfange, in dem es im Sein verwirklicht ist (‚Summa theologiae‘ Ia.5.1). Dann aber referieren ‚Sein‘ und ‚das Gute‘ auf dasselbe, nämlich auf die Verwirklichung (Aktualisierung) der artprägenden Möglichkeiten. Die Verwirklichung der artprägenden Möglichkeiten (Potenzen) einer Sache in zumindest einem gewissen Umfange ist einerseits ihre Existenz als dieses Ding; und genau in diesem Sinn sagt man, dass es ein Sein hat. Andererseits jedoch ist die Aktualisierung der artprägenden Potenzen im Umfange ihrer Aktualisierung die Vollständigkeit, Ganzheit, Fehlerfreiheit dieser Sache; dies ist der Zustand, auf den alle Dinge natürlicherweise hinstreben. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass von dem Ding gesagt wird, es sei im Besitz des Guten (siehe z.B. ‚Summa theologiae‘ IaIIae.1.5; 94.2; ‚Summa contra gentiles‘ III.3; ‚Quaestiones disputatae de veritate‘ 21.1-2.). Thomas’ Begriff der Analogie ist wichtig für sein Denken, obwohl vielleicht nicht so wichtig, wie es manchmal angenommen wurde. Er wurde häufig und richtig im Sinne einer analogen Prädikation dargestellt. Sein Begriff der Analogie kann aber auch grundlegender in Verbindung mit der Verursachung erklärt werden. Abgesehen von der ‚zufälligen‘ Verursachung, wenn z.B. ein Gärtner einen vergrabenen Schatz findet, denkt Thomas, dass an einer Wirkursache (causa efficiens) immer ein Handelndes (A), ein Erduldendes (P) und eine Form (f) beteiligt sind. Bei der nicht-zufälligen Wirkursache besitzt A bereits im Voraus irgendwie die Form f. Die ursächlichen Kräfte, die A auf P ausübt, bringen f in P hervor, ebenfalls irgendwie. Folglich ist die Wirkursache das Einwirken von A (oder das Ausüben seiner Kräfte) auf P, und die Wirkung ist, dass P daraufhin f aufweist. Die Tatsache, dass A und P die Form f auf viele unterschiedliche Weisen haben können, zeigt sich in jenem irgendwie. Das Paradigma, nämlich die unmittelbare Wirkverursachung, ist das, was Thomas univok (eindeutig, gleichsinnig) nennt: Fälle, in denen zuerst A und dann P die Form f auf genau dieselbe Weise haben, und wo f daher wahr von jedem der beiden in genau demselben Sinne ausgesagt werden kann. Die metallene Herdplatte, und der metallene Kesselboden, der darauf ruht, werden beide univok heiß genannt: die Form ‚Hitze‘ in diesen beiden kausal miteinander verbundenen Gegenstände ist von derselben Art und unterscheidet sich nur numerisch. Thomas erkennt allerdings zwei verschiedene Arten der nicht-univoken Wirkverursachung an. Die erste von ihnen, die äquivoke Verursachung, kennzeichnet Fälle, in denen man auf keine offensichtliche Weise sagen kann, dass das in P verursachte f zuvor bereits in A anzutreffen war, obwohl es eine natürliche Kausalverbindung zwischen ihnen gibt (so wie es beispielsweise eine etymologische Standarderklärung für die äquivoke Prädikation gibt). Wenn A die Sonnenenergie ist und ihre Wirkung die Aushärtung (f) von etwas Lehm (P) ist, dann ist offenkundig nicht die Sonnenenergie selbst hart, so wie es der Lehm ist. Zu sagen, was an der Sonnenergie bewirkt, dass der Lehm hart wird, wird nicht so einfach sein wie die Erklärung der Erhitzung des Kessels, und trotzdem muss die Erhärtung des Lehms auf irgendeine Weise von dieser Kraft hervorgebracht werden. In einem solchen Falle hat A die Form f nur in dem Sinne, dass A die Kraft hat, f in P hervorzubringen.
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Zweitens ereignet sich die analoge Verursachung, wenn z.B. eine Blutprobe (P) korrekt als ‚anämisch‘ (blutarm) bezeichnet wird, obwohl natürlich das Blut selbst keine Anämie hat und deshalb, wörtlich genommen, nicht anämisch sein kann. Die Physiologie des Spenders der Blutprobe (A) bringt eine Bedingung (f) in der Probe hervor, die ein unmissverständliches Zeichen für Anämie in A enthält und es deshalb diese (analoge) Bezeichnung der Probe rechtfertigt. Für theologische Zwecke interessiert sich Thomas nicht für die natürliche analoge Verursachung, sondern vielmehr für ihre künstliche Art, nämlich jene Art, die Vorstellungen und Willensakte mit sich bringt, also die Art des Handwerkers. „Bei anderen Akteuren [ereignet sich die hervorzubringende Form zuvor, indem sie] im intelligiblen Sein vorgehalten wird, wie bei jenen Akteuren, die durch ihren Intellekt handeln, d.h. auf die Art und Weise, wie die Ähnlichkeit eines Hauses bereits zuvor im Geiste des Erbauers existiert.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.15.1c) Weil der Status der vollständig univoken Verursachung davon abhängt, dass ihr Sein eine lediglich numerische Differenz zwischen f in A und f in P aufweist, so ist ein verstandesmäßig handelnder Akteur, der seine Ideen bewirkt, offenkundig keine univoke Ursache. Aber dieser Unterschied zwischen dem Antezendenten f und der Konsequenz f ist auch nicht so groß, dass er eine äquivoke Ursache begründen könnte. Tatsächlich ist die der Verbindung zwischen der Idee und ihrer externen Manifestation enger als jene Art, die man in der natürlichen analogen Verursachung findet; und weil nach Thomas’ Auffassung „die Welt nicht durch Zufall hervorgebracht wurde, sondern durch Gott, der durch den Verstand handelte, […] so ist es notwendig, dass es eine Form innerhalb des göttlichen Geistes gibt, eine Form der Gestalt, nach der die Welt erschaffen wurde.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.15.1c). Gott ist demzufolge die nicht-univoke, nicht-äquivoke, verstandesmäßig analoge Wirkursache der Welt (siehe Verursachung, Begriff der). 10. Philosophie des Geistes Die thomistische Philosophie des Geistes ist Teil seiner allgemeineren Theorie der Seele, die selbstverständlich Gebrauch von seiner Metaphysik macht. Offensichtlich ist er kein Materalist – am offensichtlichsten deshalb, weil Gott, das absolut fundamentale Element seiner Metaphysik, in keiner Weise materiell ist. Thomas klassifiziert alles andere als Gott als entweder körperlich oder unkörperlich (geistig); manchmal nennt er rein geistige Geschöpfe, wie z.B. die Engel, ‚getrennte Substanzen‘, weil sie wesentlich vom Körper jeglicher Art abgesondert sind. Diese erschöpfende Aufteilung ist jedoch nicht vollkommen, denn menschliche Wesen müssen einfach kraft ihrer menschlichen Seele nicht als einfach körperlich, sondern auch in gewisser Hinsicht als geistige Wesen eingestuft werden. Nur ‚irgendwie‘ eine Seele zu haben genügt jedoch nicht, um einem Geschöpf eine geistige Komponente zuzugestehen. Jede lebende Kreatur hat eine Seele (anima): „Seele ist das, was wir das erste Prinzip des Lebens in Sachen nennen, die zwischen uns leben.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.75.1c). Aber weder die Pflanzen, noch die nichtmenschlichen Tiere sind in irgendeiner Hinsicht geistig. Thomas ist der Auffassung, dass sogar die lediglich genährte Seele einer Pflanze, oder die genährte und wahrnehmende Seele eines wilden Tieres insofern wie die Seele eines Menschen ist, als sie die Form eines Körpers sind. Keine Seele, kein erstes Prinzip des Lebens kann Materie sein. Andererseits hat jedes Gemüse oder jeder tierische Körper sein Leben nur deshalb, weil er ein Körper ist, dessen besondere Organisation 1772
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ihm natürliche Möglichkeiten verleiht, d.h. kraft der substanziellen Form, die aus ihm tatsächlich gerade diesen Körper macht. Daher ist das erste Prinzip des Lebens in einem lebenden, nicht-menschlichen Körper, d.h. seine Seele, kein körperlicher Teil dieses Körpers, sondern vielmehr seine Form, d.h. eine der beiden metaphysischen Bestandteile in der Zusammensetzung von Materie und Form, aus der jeder Körper besteht. Für Pflanzen und Tiere gibt die Form, die die Seele ist, anders als bei den Menschen, ihre Existenz auf, wenn die Zusammensetzung stirbt, und genau in diesem Sinne sind die Pflanzen und die Tiere nicht geistig. Nur die Seele eines menschlichen Wesens wird als Nahrung aufnehmend und wahrnehmend und rational analysiert. Thomas stellt sich diese Seele aber nicht als drei ineinander verschachtelte, kooperierende Formen vor, sondern als eine einzige substanzielle Form, die dem Menschen seine spezifisch menschliche Art der Existenz. (Bei der Verteidigung dieser These der ‚Einheit der substanziellen Form‘ wich Thomas von den meisten seiner Zeitgenossen ab.) Er kennzeichnet diese vollständige substanzielle Form häufig durch den unterscheidenden menschlichen Aspekt der Rationalität. Er denkt ferner, dass die menschliche Seele, anders als die Seelen der Pflanzen und Tiere, selbst lebt, d.h. dass sie fortbesteht, nachdem sie sich vom Körper im Tode getrennt hat. Er sagt beispielsweise: „Es ist notwendig zu sagen, dass das, was das Prinzip der verstandesmäßigen Aktivität ausmacht, d.h. was wir die Seele eines Menschen nennen, ein unkörperliches, selbständig bestehendes Prinzip ist.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.75.2c). Die menschliche Seele, gerade deshalb, weil sie Geist ist (das Prinzip der verstandesmäßigen Tätigkeit), muss deshalb nicht nur als unkörperlich, sondern auch als selbständig bestehend beschrieben werden. Die Behauptung, dass die Seele fortbesteht und sich an mentalen Akten nach dem Tode des Körpers beteiligt, scheint in Thomas’ Darstellung unmöglich unterzubringen zu sein. Wenn die abgelöste Seele eine Form ist, welcher Art von Form ist sie dann? Thomas ist kein universeller Hylomorphist2. Abweichend von einigen seiner Zeitgenossen denkt er nicht, dass es einen ‚geistigen Stoff‘ gibt, den Engel oder entkörperte Seelen als einen ihrer Bestandteile aufweisen, sondern er meint vielmehr, dass sie gesonderte Formen sind, an denen überhaupt kein Stoff beteiligt ist. Wenn er also behauptet, das die Seele gesondert vom Körper existiert, so scheint er damit die Auffassung zu äußern, dass es eine Form geben kann, die von nichts die Form ist. Mehr noch, Thomas denkt, dass ein Engel oder die vom Körper gelöste Seele sich an mentalen Tätigkeiten beteiligt. Eine Form scheint aber nicht von der Art von Dingen zu sein, die überhaupt an irgendwelchen Tätigkeiten teilnimmt, und so ergibt sich, dass selbst, wenn es einen Weg zur Erklärung der Seelenexistenz unabhängig vom Körper gäbe, doch ihre Tätigkeit nicht erklärt werden könnte. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, Thomas’ breitere Sichtweise der Form zu untersuchen. Die Welt ist metaphysisch dergestalt geordnet, dass an der Spitze der universellen Hierarchie die Formen stehen – Gott und die Engel – die keinerlei Form von etwas sind. Am unteren Ende der Hierarchie stehen die Formen, die den Stoff bilden, aber nicht aus eigener Kraft existieren können, d.h. gesondert von der körperlichen Zusammensetzung, denen sie ihre Form verleihen. Die Formen der unbelebten und der belebten Dinge, d.h. der nicht-rationalen Sachen sind von dieser Der Hylomorphismus ist die auf Aristoteles zurückgehende Lehre, derzufolge alles, was es gibt, im dualistischen Sinne aus Stoff und Form besteht. [WS]
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Art. Diese Formen ‚informieren‘ den Stoff, aber wenn die sich daraus ergebenen Zusammensetzungen zu existieren aufhören, endet ebenfalls die Existenz dieser Form. In der Mitte, d.h. „auf der Grenze zwischen körperlichen und gesonderten [d.h. rein geistigen] Substanzen“ (‚Quaestio disputata de anima‘ 1c), sind die menschlichen Seelen sozusagen metaphysische Amphibien. Wie die Engel bestehen die menschlichen Seelen fort, d.h. sie sind aus eigener Kraft existenzfähig; aber wie die Formen der unbelebten Dinge geben die menschlichen Seelen dem Stoff Form. Sieht man die Seele in diesem Lichte, so hilft dies einiges zu erklären, was in Thomas’ Darstellung zunächst verwirrend ist. Die menschliche Seele hat einen doppelten Charakter. Auf der einen Seite und unähnlich den Formen der anderen materiellen Gegenstände ist sie von Gott als eine individuelle Entität aus eigener Kraft geschaffen worden, die für sich selbst zu existieren imstande ist, so wie es die rein immateriellen Engel tun. Andererseits existiert sie wie die Formen aller anderen körperlichen Gegenstände in der Zusammensetzung, die sie bildet, und sie weist ihre Existenz nur solange auf, wie diese Zusammensetzung besteht, und nicht davor (siehe Seele, Natur und Unsterblichkeit der). 11. Erkenntnistheorie Thomas denkt, die Natur müsse so eingerichtet sein, dass sie die Menschen allgemein in die Lage versetzt, ihren natürlichen Wunsch nach Wissen zu befriedigen (‚Sententia super Metaphysicam‘ 1.1.3-4). Seine Sichtweise der tatsächlichen Beschaffenheit dieser Einrichtung scheint auf den ersten Blick zu eng, um wahr sein zu können, denn sie bringt eine gewisse formale Identität zwischen den extramentalen Objekten (O) und der Verstandesfähigkeit (F) mit sich. Thomas meint jedoch, dass der (aristotelische) Identitätsanspruch nur bedeutet, dass die Form von O irgendwie in F enthalten ist (‚Summa theologiae‘ Ia.85.2, ad 1). O‘s Form entsteht in F, wenn F die arttypischen Merkmale von O empfängt, und zwar entweder durch die Wahrnehmung oder verstandesmäßig. Diese Art kann man sich als eine Verschlüsselung von O‘s Form vorstellen. Wenn O ein einzelner körperlicher Gegenstand ist, z.B. ein eiserner Ring, dann gibt in O selbst O‘s Form dem Stoff seine Gestalt zur Bildung eines Eisenringes genau dieser Ausdehnung an genau diesem raumzeitlichen Punkte. (In Thomas‘ Darstellung der Individuation ist es der Stoff, der ‚ernannt‘ oder dazu ‚bestimmt‘ ist, O‘s Form zu individuieren (siehe beispielsweise ‚De ente et essentia‘ 2). Wenn aber die auf geeignete Weise verschlüsselte Form in einem äußeren Sinnesorgan die Fähigkeit F empfängt (die einem körperlichen Organ zur Verfügung steht), dann wird diese, selbst wenn sie stofflich in F‘s Stoff empfangen wird, gleichwohl auf andere Weise empfangen als in dem Falle des Empfanges durch den Stoff des Eisenringes. Die Einführung der Form im Stoff des Sinnesorgans stellt einen ‚intentionalen‘ oder ‚geistigen‘ Empfang dieser Form dar, die zum Begreifen des Eisenringes beiträgt und metaphysisch keine neue, individuierte Stoff-FormZusammensetzung bildet. Die Wahrnehmungsarten, die von den äußeren Sinnesorganen empfangen wurden, werden regelmäßig an ‚innere Sinne‘ übermittelt, d.h. an die Organe, von denen Thomas meinte, sie müssten im Gehirn belegen sein. Unter den wichtigsten dieser Sinne zum Zwecke des Erkennens sind die Phantasie und die Vorstellungskraft (obwohl Thomas die Vorstellungskraft gewöhnlich als einen Teil der Phantasie behandelt). Phantasie und Vorstellungskraft bringen die sog. ‚Phantasmen‘, 1774
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d.h. Vorstellungsbilder hervor und bewahren sie, d.h. jene Wahrnehmungsdaten, die notwendige Vorbedingung zum intellektuellen Erkennen sind. Die Vorstellungskraft und die Phantasie sind ebenfalls unverzichtbar für das bewusste Erkennen der Wahrnehmung. Nach Auffassung von Thomas sind die Arten der Wahrnehmung selbst keine Gegenstände des Erkennens, und was er über die Phantasie sagt, legt nahe, dass der Besitz von Wahrnehmungsarten zur wahrnehmenden Erkenntnis nicht ausreicht. O selbst, das gerade eine natürliche Wirkung auf die äußeren Sinne hat, wird bewusst wahrgenommen, weil die Phantasie O‘s Wahrnehmungsart in Vorstellungsbilder übersetzt. Die Form, die sich in einem Vorstellungsbild zeigt, hat selbstverständlich ihren ursprünglichen, individuierenden Stoff abgelegt, aber ein Vorstellungsbild von O bleibt dennoch ein Einzelnes in einem anderen Stoff des Organs der Phantasie, während die Form von O infolge der Details von O wiedererkennbar bleibt, die darin bewahrt wurden. Das Erkennen von O als einem Eisenring ist jedoch begriffliche, intellektuelle Erkenntnis, für die das Vorstellungsbild nur das Rohmaterial ist. Im Intellekt selbst unterscheidet Thomas zwischen zwei aristotelischen ‚Kräften‘. Die erste ist der intellektuelle Akteur, d.h. der wesentlich aktive oder produktive Aspekt des Intellekts, der auf die Vorstellungsbilder dergestalt einwirkt, dass sie ‚intelligible Arten‘ produzieren. Diese bilden die primären Inhalte des Intellekts, die im möglichen Intellekt abgelegt werden, d.h. in dem wesentlichen Empfangsaspekt des Intellekts. „Durch den Intellekt ist es für uns natürlich, die Natur zu erkennen. Selbstverständlich haben die Naturen [als Universalien] keine Existenz außer im individuierenden Stoff. Es ist für uns dennoch natürlich, sie zu erkennen, aber nicht, weil sie im individuierten Stoff sind, sondern weil sie von ihm durch die Überlegung des Intellekts abstrahiert wurden“, d.h. die Arbeit des intellektuellen Akteurs ist die Herstellung intelligibler Arten (Summa theologiae Ia.12.4c). Die intelligiblen Spezies von O sind den sinnlichen Arten von O unähnlich darin, dass sie nur Universalien sind, was als solches nur im möglichen Intellekt auftritt, z.B. als runder, metallischer Eisenring. Diese ‚universalen Naturen‘ werden nicht nur durch die intellektuelle Fähigkeit F, d.h. den möglichen Intellekt, empfangen, sondern werden selbstverständlich normalerweise auch als die unverzichtbaren Einrichtungen zur verstandesmäßigen Erkenntnis der körperlichen Wirklichkeit verwendet: „Unser Intellekt abstrahiert sowohl die intelligiblen Arten von den Vorstellungsbildern, insofern er die Naturen dieser Dinge universell bedenkt, und hat aber auch eine intellektuelle Erkenntnis von den Dingen in den Vorstellungsbildern, denn ohne Hinwendung zu den Vorstellungsbildern kann er keine verstandesmäßige Erkenntnis haben, nicht einmal von jenen Dingen, deren [intelligible] Art er abstrahiert.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.85.1, ad 5) Genau auf diese Weise können wir „in der Intellektion eine Erkenntnis solcher [einzelner, körperlicher und zusammengesetzter] Gegenstände in ihrer Universalität haben […], was über die Fähigkeit der Sinne hinausgeht.“ (‚Summa theologiae‘ Ia12.4c) Folglich haben sowohl die Sinne, als auch der Intellekt eine Erkenntnis von O, d.h. einem einzelnen, körperlichen Ding. Allerdings erkennen die Sinne O nur in seiner Einzelheit (‚Sententia super Posteriora analytica‘ II.20.14). Und mehr noch, ein individueller Intellekt, der zufällig den Begriff ‚eiserner Ring‘ hat, würde die Erkenntnis davon nur von einer universalen Natur haben, die in O instantiiert wurde, und darüber hinaus nicht von irgendeiner anderen Instanz dieser Natur, solange bis 1775
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dieser Intellekt sich ebenfalls zu dem Vorstellungsbild von O hinwendet. Als Ergebnis dieser Hinwendung erkennt der Intellekt auch O selbst, aber als Exemplifizierung einer Universalie, d.h. beispielsweise als einen Eisenring (‚Summa theologiae‘ Ia.85.5c; ‚Sententia super de anima‘ II.12.377). Obwohl der Intellekt normalerweise die körperliche Einzelheit auf die beschriebene Weise erkennt, ist sein eigentlicher Gegenstand, wie Thomas sagt, die universale Natur dieses Gegenstands, d.h. seine ‚Washeit‘ (quidditas). Die ‚erste Operation‘ des Intellekts ist demzufolge die Erkenntnis einer Universalie, ihres eigentlichen Gegenstands (obwohl, wie wir sahen, die Abstraktion des intellektuellen Akteurs von den intelligiblen Arten ein notwendiger Schritt auf dem Wege zur Erkenntnis der Washeiten der Dinge ist). Thomas nennt seine erste Operation ‚verstehen‘. Die Wissenschaft, scientia, die jedoch eine der letzten Arbeitsweisen des Intellekts, d.h. ein Gipfelpunkt der intellektuellen Erkenntnis ist, hat ebenfalls die Naturen der Dinge zu ihrem Gegenstand. Universale Naturen, die eigentlichen Gegenstände der ersten Operation des Intellekts und die Gegenstände des kulminierenden Wissens über die Natur, müssen dann als die eigentlichen Gegenstände sowohl des Anfangs, als auch der höchsten Spitze des verstandesmäßigen Erkennens gedacht werden. Was in der ersten Operation des Intellekts auf unanalysierte Weise erkannt wird, z.B. Tier, wird in einer wissenschaftlichen Erkenntnis in die wesentlichen Teile seiner Natur zerlegt, nämlich sensible, belebte Körperlichkeit, welche selbst wiederum nach Maßgabe aller ihrer Merkmale und Fähigkeiten verstanden werden. In der Theorie, d.h. in der Potenzialität, ist der Höhepunkt des Erkenntniszustandes alles, worauf man hoffen kann: „Wenn der menschliche Verstand die Substanz von einem jeglichen Ding begreift, z.B. von einem Stein oder einem Dreieck, dann kann keines der intelligiblen Merkmale dieses Dinges über die Fähigkeit der menschlichen Vernunft hinausgehen.“ (Summa contra gentiles I.3.16). Die ‚zweite Operation‘ des Intellekts ist die Produktion von Urteilen, und zwar den bejahenden durch gegenseitige propositionale ‚Verstärkung‘ der Begriffe, die zuvor in der ersten Operation gewonnen wurden, oder den verneinenden durch ihre ‚Teilung‘. Auf jeder Stufe nach dem initialen Erwerb hängt die Erkenntnis von der Washeit (quidditas) teilweise von dieser zweiten Operation ab, und darüber hinaus vom vernünftigen Nachdenken: „Der menschliche Intellekt erlangt nicht sofort, d.h. in seiner ersten Auffassung, eine vollständige Erkenntnis des Dinges. Stattdessen erlangt er zunächst etwas davon, d.h. seine Washeit, die der erste und eigentliche Gegenstand des Intellekts ist. Erst dann erlangt er die verstandesmäßige Erkenntnis der akzidentiellen Eigenschaften und der Fähigkeiten, die das Wesen des Dinges ausmachen. Indem er so verfährt, muss er ein begriffenes Merkmal durch die anderen verstärken, oder sie voneinander trennen, und hat so von einer Verstärkung oder Teilung zur nächsten fortzufahren, und dies macht das vernünftige Denken aus.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.85.5c) Dies wird manchmal die dritte Operation des Intellekts genannt. Die Formulierung von Aussagen und die Konstruktion von Schlüssen, die daran beteiligt sind, bilden notwendige Vorbedingungen für den Höhepunkt der verstandesmäßigen Erkenntnis. Thomas erkennt als scientia an, was er bis in die letzten Einzelheiten in seiner Sententia super Posteriora analytica (Kommentar zu Aristoteles’ ‚Posterior Analytica‘) diskutiert. Die Interpretation seiner Darstellung von scientia wird kontrovers diskutiert, aber ein hilfreicher Weg zu ihrem Verständnis 1776
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ist der folgende. Eine Aussage mit scientia zu erkennen heißt, genau genommen, sie als Schlussfolgerung einer ‚Demonstration‘ zu akzeptieren. Natürlich können viele Prämissen in Demonstrationen ihrerseits selbst Schlüsse anderer Demonstrationen sein; einige jedoch müssen nicht auf der Basis von Demonstrationen, sondern per se akzeptiert werden (‚Sententia super Posteriora analytica‘ 1.7.5-8). Solche Aussagen, die per se gewusst werden können (wenn auch nicht immer für uns wissbar sind), bilden die ersten thomistischen Prinzipien. Wie Aristoteles nennt er sie ‚unmittelbare Aussagen‘, d.h. sie können selbst nicht die Schlussfolgerungen von Demonstrationen sein, und ihre Wahrheit ist jedem evident, der den Ausdruck vollständig versteht und nicht nur ihre gewöhnliche Bedeutung begreift, sondern auch die wirkliche Natur ihrer Bezugsobjekte. Das Prädikat einer unmittelbaren Aussage gehört zur ratio des Aussagegegenstandes, und diese Ratio ist die Formulierung der wirklichen Natur des Gegenstandes (‚Sententia super Posteriora analytica‘ I.10; 33). Deshalb meint Thomas beispielsweise, dass die Aussage ‚Gott existiert‘ selbstevident ist, denn nach der Lehre von der Einfachheit ist Gottes Natur auch Gottes Existenz. ‚Gott existiert‘ ist ein gutes Beispiel für eine wissbare Aussage per se, aber diese ist, und insofern besteht Thomas auf der Zurückweisung des ontologischen Arguments von Anselm, nicht per se durch uns wissbar. Dies ist der Grund, warum er eine Reihe von aposteriorischen Argumenten für Gottes Existenz entwickelt, unter denen die wichtigsten die sog. ‚Fünf Wege‘ sind, nachzulesen in der ‚Summa theologiae‘ Ia.2.3c) (siehe auch Gott, Argumente für die Existenz von). Jeder, der einen Begriff von der wirklichen Natur eines solchen Gegenstandes entwickelt hat, ist sich der Wahrheit einer entsprechenden unmittelbaren Aussage gewiss, „aber es gibt einige unmittelbare Aussagen, deren Ausdrücke nicht jeder kennt. Dies ist der Grund dafür, dass, obwohl das Prädikat solcher Aussagen zur Ratio ihres Gegenstandes gehört, diese Proposition nicht von jedem als wahr zugestanden werden muss, einfach weil die [metaphysische] Definition des Gegenstandes nicht jedem bekannt ist.“ (‚Sententia super Posteriora analytica‘ I.5.7). Weil die eigentlichen Demonstrationen in einem isomorphen Verhältnis zur metaphysischen Wirklichkeit stehen, müssen die Tatsachen, die in ihren Prämissen ausgedrückt sind, normalerweise als Ursachen der Tatsachen in ihren Schlussfolgerungen konstruiert werden (‚Sententia super Posteriora analytica‘ I.2.9), obwohl das demonstrativ vernünftige Vorgehen in einigen Fällen genau umgekehrt, also von den Wirkungen zu den Ursachen, verläuft. So ist also der Besitz der scientia hinsichtlich einer Aussage die weitestgehende menschliche Erkenntnis, durch die jemand die durch eine Schlussfolgerung ausgedrückte Tatsache in einer erklärenden Theorie unterbringt, die ganz genau deren metaphysische oder physische Realität verzeichnet. Eine Demonstration ist demzufolge nach Thomas nicht in dem Umfange Wissen, wie dies von den Letztbegründungstheoretikern [engl. foundationalists], wie z.B. Descartes, verstanden wurde, sondern vielmehr Tiefe des Verstehens und erklärende Einsicht. Im Allgemeinen beginnt Thomas nicht mit selbstevidenten Prinzipien und leitet dann aus ihnen deduktiv Schlussfolgerungen ab; „vielmehr [beginnt er] mit einer Behauptung, die es zu rechtfertigen gilt (und aus der einfach durch die formale Wiederbehauptung des Arguments dann die ‚Schlussfolgerung‘ wird) und ‚reduziert‘ sie auf ihre äußerten explanatorischen Prinzipien.“ (siehe Durbin, St. Thomas Aquinas, 1968, S. 82). Wenn Thomas selbst seine Vorhaben allgemein beschreibt, so sagt er, dass es zwei unterschiedliche Prozesse gibt, an denen die 1777
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menschliche Vernunft beteiligt ist: die Entdeckung (oder Erfindung) und das Ur‑ teil. Wenn wir an Entdeckungen beteiligt sind, gehen wir von ersten Prinzipien aus, schreiten vernünftig argumentierend von ihnen zu weiteren Dingen fort; beim Urteil gelangen wir zu den ersten Prinzipien auf der Grundlage einer Art von Analyse. Nach seiner Auffassung ist es der vernünftige Denkprozess des Urteilens, nicht jener der Entdeckung, der uns zur scientia führt, und das Urteil ist der Gegenstand der ‚Posterior Analytica‘: „Das Urteil geht mit der Gewissheit der scientia einher. Und weil wir uns kein bestimmtes Urteil über Wirkungen bilden können außer durch eine Analyse, die zu den ersten Prinzipien führen, heißt dieser Teil der menschlichen Vernunft die ‚Analyse‘.“ (‚Sententia super Posteriora analytica‘, prooemimum). Skeptische Sorgen stören selten die verstreute thomistische Entwicklung seiner systematisch vereinheitlichten Theorie des Wissens, vor allem deshalb, weil sie auf einer Metaphysik beruht, in der das erste Existenzprinzip ein allwissender, omnipotenter, vollkommen guter Gott ist, dessen rationale Schöpfungen nicht so gemacht sein können, dass sie über die übrige Schöpfung normalerweise immer im Irrtum sind (siehe Gott, Begriff von; Erkenntnis, Begriff der). 12. Wille und Handlung Die Philosophie des Geistes ist für eine Erkenntnistheorie offensichtlich relevant bei der Darstellung der Mechanismen des Erkennens, insbesondere des Intellekts. In ihrer Darstellung des Willens ist es ebenso offenkundig relevant für die Handlungstheorie und für die Ethik. Thomas’ Beschäftigung mit moralischen Fragen ist sogar umfangreicher als sein bemerkenswertes Interesse an wissenschaftstheoretischen Problemen, und seine Ethik ist so vollständig entwickelt, dass er seine systematische Behandlung der Willensakte eher dort als in die Behandlung der Philosophie des Geistes integriert. So, wie der Intellekt die kognitive Fähigkeit speziell der rationalen menschlichen Seele ist, so ist der Wille ihre begehrende Fähigkeit. Die metaphysische Herkunft des Willens ist einfacher als jene des Intellekts; sie liegt einfach in der äußerst subtilen irdischen Instantiierung eines vollkommen universellen Aspekts der Schöpfung. Nicht nur jede Art von Seele, sondern absolut jede Form, so meint Thomas, hat eine gewisse Neigung, die ihr wesentlich zugehört. Und so hat jedes hylomorphe Ding, selbst das unbelebte, zumindest eine natürliche Neigung: „Auf der Grundlage ihrer Form ist beispielsweise das Feuer zu einem höheren Platz hingezogen, und zur Erzeugung seinesgleichen.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.80.1c). ‚Neigung‘ ist die Gattung des Begehrens, und das Begehren ist die Gattung des Willens. Die menschliche Seele bedingt selbstverständlich auch natürliches Begehren, z.B. nach Essen, aber ihre sensorischen und verstandesmäßigen Weisen des Erkennens bringen sen‑ sorisches Begehren, oder Leidenschaften, mit sich, z.B. für Meeresfrüchte, und als rationales Begehren oder Willensakt z.B. für ein fettarmes Essen. In den Menschen ist das sensorische Begehren oder die ‚Sensualität‘ ein Bündel von Neigungen (Leidenschaften), denen wir (passiv) unterworfen sind infolge unserer tierischen Natur. Indem er der aristotelischen Denkbewegung folgt, sieht Thomas die Sensualität in zwei komplementäre Kräfte geordnet: die concupiscibi‑ les, d.h. die Verfolgungs- bzw. Vermeidungsinstinkte, und irascibiles, d.h. die aggressiven / konkurrierenden / verteidigenden Instinkte. Mit den ersteren sind die Gefühle der Freude und der Trauer, der Liebe und des Hasses, des Sehnens und der 1778
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Widerwärtigkeit verbunden, mit den letzteren der Mut und die Angst, Hoffnung und Verzweiflung, und die Wut. Für die Philosophie des Geistes und für die Ethik ist die Art und Weise und der Umfang der Kontrolle der Sensualität durch die rationalen Fähigkeiten ein wichtiger Punkt, denn ohne diese Kontrolle wäre die Harmonie der menschlichen Seele bedroht und jegliche Moral gänzlich unmöglich, speziell in Thomas’ vernunftzentrierter Ethik mit ihrem Fokus auf den Tugenden und den Lastern. Ein menschliches Wesen, das sich nicht abnorm wie ein nichtrationales Tier verhält, „ist nicht unmittelbar vom irasziblen und concupisziblen Begehren bewegt, sondern wartet auf den Willensbefehl, der das höhere Begehren ist.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.81.3c). Die Art von Kontrolle aber, die durch eine kognitiv-rationale Fähigkeit (die standardmäßig in dieser Rolle als ‚praktische Vernunft‘ identifiziert wird, und weniger als der breitere Ausdruck ‚Intellekt‘) ausgeübt wird, ist weniger offensichtlich, und sie ist speziell interessant im Rahmen der thomistischen Darstellung der verstandesmäßigen Erkenntnis. Die rationalen Fähigkeiten können ihre Aufmerksamkeit auf die äußeren Sinne richten und bis zu einem gewissen Grade deren Fehlfunktionen kompensieren. Sie können aber keine direkte Kontrolle darüber ausüben, was die äußeren Sinne anfangs bei irgendeiner Gelegenheit wahrnehmen. Andererseits stehen die Sensualität und die inneren Sinne in keiner direkten Beziehung zu geistunabhängigen externen Dingen, und so sind sie in gewissem Umfange „dem Vernunftbefehl unterworfen“, obwohl sie auch gegen die Vernunftgewalt ankämpfen können (‚Summa theologiae‘ Ia.81.3, ad 3). Bei der Ausarbeitung eines aristotelischen Themas (‚Politik‘ I, 2) bemerkt Thomas, dass die Befehlsgewalt der Seele über den Körper ‚despotisch‘ ist: in einem normalen Körper wird jedes Körperteil, das durch einen Willensakt bewegt werden kann, sofort bewegt, wenn und wie der Wille dies befiehlt. Aber die rationalen Fähigkeiten kommandieren die Sensualität ‚politisch‘, weil die Kräfte und Leidenschaften, die der intendierte Gegenstand dieser rationalen Führung sind, auch durch die Vorstellung und die Sinne bewegt werden und deshalb nicht einfach Sklaven der Vernunft sind. ‚Der Grund, warum wir die irasziblen oder die concupisziblen Kämpfe gegen die Vernunft erleben, liegt darin, dass wir etwas Angenehmes wahrnehmen oder uns dies vorstellen, was die Vernunft verbietet, oder etwas Unangenehmes, das die Vernunft befiehlt.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.81.3, ad 2). Thomas zufolge ist der Wille zum Glück im Allgemeinen ein unausweichlicher Teil der menschlichen Natur (siehe unten § 13). Gleichwohl „ist die Bewegung des Willens einer Kreatur nicht dazu bestimmt, das Glück speziell da oder dort aufzusuchen.“ (‚Quaestiones disputatae de veritate‘ 24.7, ad 6). Diese Art der Willensfreiheit ist eine Freiheit der Spezifizierung oder eine „Freiheit im Hinblick auf den Gegenstand“, d.h. eine Freiheit in bestimmender Hinsicht auf den Willen. Sie ist zu unterscheiden von einer Freiheit der Ausübung oder der „Freiheit hinsichtlich der Handlung selbst“, also einer Freiheit, die mit der ausführenden Fähigkeit des Willens verbunden ist, d.h. entweder zu handeln oder nicht um etwas zu erreichen, was als gut aufgefasst wird. Die Interpretation der thomistischen Darstellung der Willensfreiheit ist strittig. Schon der Ausdruck ‚Willensfreiheit‘ ist Teil der Schwierigkeit, weil er einen Begriff aus einer späteren Tradition einführt. Thomas begreift die Freiheit als liberum arbitrium (freie Entscheidung oder freies Urteil), die nicht allein dem Willen zugeordnet werden kann. Sie ist eine Eigenschaft, die dem System des Intellekts und des 1779
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Willens als Ganzem innewohnt, und sie entsteht aus deren Wechselwirkung. Es ist jedoch unstrittig, dass Thomas nachdrücklich leugnet, dass irgendein Willensakt, der durch irgendetwas dem Akteur Äußeres verursacht wurde, frei sein kann. Seine Darstellung der Willensfreiheit ist also keine Variante des sog. Kompatibilismus (siehe z.B. ‚Summa theologiae‘ IaIIae.6.4). Eine offenkundige Ausnahme davon hat mit Gottes Einwirken auf den menschlichen Willen zu tun. Thomas ist der Auffassung, dass unter den extrinsischen Kräften Gott allein direkt auf den Willen einer anderen einwirken kann, ohne die Natur des Willens zu verletzen, d.h. ohne seine Freiheit zu untergraben (siehe z.B. ‚Summa theologiae‘ Ia.IIae.9.6). Auf dieser Grundlage charakterisieren einige Interpreten Thomas als einen theologischen Kompatibilisten. Die subtile Komplexität seiner Darstellung von Gottes Einwirkung auf den menschlichen Willen führt andere jedoch dazu zu behaupten, dass eine vollständige Inrechnungstellung dieser Komplexität zeigen würde, dass Thomas in keinem Sinne ein Kompatibilist ist (siehe Determinismus und Indeterminismus; Freier Wille). Thomas’ Analyse der menschlichen Handlung, die auf seiner Darstellung des Willens und Intellekts aufbaut, ist kompliziert und einfach zusammenzufassen. Allgemein gesagt macht er ausgearbeitete und geordnete mentale Bestandteile selbst noch in den einfachsten Handlungen aus. Im Falle des Erhebens einer Hand beispielsweise, um Aufmerksamkeit zu erregen, werden wir wahrscheinlich annehmen, dass die mentalen Vorgänger der körperlichen Bewegung genau die kombinierten Überzeugungen und Wünsche des Akteurs sind, unabhängig davon, ob dieser sich dessen voll bewusst ist. Thomas würde natürlich zustimmen, dass sich der Akteur notwendig der offenkundigen mentalen Antezedentien bewusst sein muss, aber er meint, dass sie eine komplexe, hierarchische Struktur aufweisen. Seiner Analyse zufolge beginnt die Handlung, wenn (I1) der Intellekt des Akteurs ein bestimmtes Ergebnis, d.h. die ihn anziehende Aufmerksamkeit, als etwas Gutes und daher unter diesen speziellen Umständen als etwas Erstrebenswertes erachtet. (I1) löst einen zweiten Bestandteil aus: (W1) der Wille des Akteurs bildet zu diesem Zweck einen einfachen Willensakt. Dann, (I2) überlegt der Intellekt des Akteurs, ob dieses Ziel zu dieser Zeit erreicht werden kann. Wenn das Ergebnis von (I2) positiv ist, dann bildet der Wille des Akteurs auf dieser Basis (W2) eine Absicht zur Erreichung dieses Ziel unter Einsatz irgendwelcher Mittel. Als nächstes folgt, dass der Intellekt des Akteurs (I3) die verfügbaren Mittel einschätzt und das eine oder andere als zur Erreichung des Zieles geeignet und für den Akteur akzeptabel bestimmt, und (W3) der Wille des Akteurs akzeptiert diese Mittel. Sofern der Intellekt mehr als ein geeignetes und annehmbares Mittel ausgemacht hat, dann (I4) vergleicht der Intellekt sie und bestimmt, welches von ihnen unter den gegebenen Umständen das Beste ist, und (W4) der Wille entscheidet sich für diese Mittel. Dieser Prozess kommt zu einem natürlichen Ende, wenn (W5) der Wille des Akteurs seine Kontrolle über den Arm des Akteurs ausübt und der Arm sich hebt. Diese geordnete Serie sieht deterministisch aus; Thomas sieht aber das Zusammenwirken von Intellekt und Willen so, dass der Prozess praktisch an jedem Punkte auch anders verlaufen könnte, denn der Wille könnte den Intellekt dahingehend anweisen, den jeweiligen Punkt nochmals zu überdenken oder seine Aufmerksamkeit in irgendeiner anderen Weise zu richten, oder auch einfach mit dem Denken über diese Sache aufzuhören. (‚Summa theologiae‘ IaIIae.6-17).
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Thomas von Aquin (1225‑1274)
13. Ethik, Gesetz und Politik Thomas hat seine Moraltheorie äußerst ausführlich und systematisch im Zweiten Teil der ‚Summa theologiae‘ entwickelt. (Im Großen und Ganzen findet sich die allgemeine Theorie in IaIIae, und die Detailbetrachtungen einzelner Fragen in IIaIIae.) Wie fast alle seiner antiken und mittelalterlichen Vorgänger sieht Thomas die Ethik als etwas an, dass grundsätzlich zwei Themenbereiche hat: zunächst das äußerste Ziel der menschlichen Existenz, und zweitens, wie dieses Ziel erreicht oder verfehlt werden kann. Von den 303 Fragen (‚Quaestiones‘), die den Zweiten Teil der ‚Summa theologiae‘ bilden, widmen sich 298 auf die eine oder andere Weise dem zweiten Themenbereich, und nur die ersten 5 beschäftigen sich direkt mit dem ersten (obwohl in der ‚Summa contra gentiles‘ III noch die Kapitel 25-40 einer detaillierten Prüfung dieses Themas gewidmet sind). Der Abschnitt ‚Summa theologiae‘ IaIIae.1-5, der manchmal die ‚Abhandlung über das Glück‘ genannt wird, entwickelt ein Argument zur Festlegung der Existenz und Natur eines einzigen und äußersten Zieles für alle menschlichen Handlungen, oder genauer genommen, der Art des Verhaltens, über die eine Person die ‚Kontrolle‘ hat. Zunächst heißt es: „Alle Handlungen, die von einer Kraft ihren Ausgang nehmen, werden durch diese Kraft in Übereinstimmung mit der Natur ihres Gegenstandes verursacht. Der Gegenstand des Willens ist aber ein Ziel und ein Gutes“, d.h. ein durch den Intellekt des Wollenden als gut wahrgenommenes Ziel (‚Summa theologiae‘ IaIIae.1.1c). Von diesem Anfangspunkt aus entwickelt Thomas ein Argument, das infolge seiner Beschaffenheit zeigt, dass ein menschliches Wesen notwendig (obwohl nicht immer bewusst) alles, was es zu erreichen sucht, dies um des äußerstes Zieles der Glückseligkeit wegen sucht. Thomas macht geltend, dass dieses oft unerkannte, echte, äußerste Ziel, für das die Menschen existieren (ihr ‚Gegenstand‘), Gott ist, d.h. das personifizierte Gute; und das vollkommene Glück, dieses äußerste Ziel, unter dem sie existieren (ihr ‚Gebrauch‘ des Gegenstandes) ist das Erfreuen an diesem Ziel, für das sie existieren. Dieses Vergnügen ist nur im Erschauen der Glückseligkeit vollständig erreicht, die Thomas als eine Tätigkeit darstellt. Denn weil das Erschauen der Glückseligkeit eine Kontemplation der äußersten (ersten) Ursache von allem mit sich bringt, so ist es, was auch immer es sein mag, auch die Vollkommenheit allen Wissens und Verstehens (‚Summa theologiae‘ IaIIae.1.8; 3.8). Thomas widmet genau vier Fragen der ‚Summa theologiae‘ (IaIIae (18-21) „dem Guten und dem Schlechten menschlicher Handlungen im Allgemeinen“. Obwohl Überlegungen zur Richtigkeit und Falschheit nur wenig mehr als 10 Prozent der Diskussionen in den Fragen 18-21 einnehmen, scheint Thomas dennoch die Richtigkeit und Falschheit als die praktischen, unverwechselbaren moralischen Bewertungen von Handlungen zu halten. Seine Betonung der breiteren Begriffe des Guten und Schlechten bringen die Wurzel seiner moralischen Bewertung der Handlungen in seiner metaphysischen Identifikation von Sein und Gutsein zum Vorschein (siehe oben § 9). Was eine Handlung moralisch schlecht macht, ist die Bewegung ihres Akteurs nicht hin zum letzten Ziel des Akteurs, sondern weg davon. Eine solche Abweichung ist offensichtlich irrational, und Thomas’ Analyse des moralisch Schlechten an der menschlichen Handlung identifiziert sie als grundlegende Irrationalität, denn Irrationalität ist eines der Hindernisse zur Verwirklichung (actualitas) der spezifisch 1781
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menschlichen Fähigkeiten (potentialitates), nämlich jener, die die Differenzen der menschlichen Spezies zu rationalen machen. In dieser wie in jeder anderen Hinsicht ist Thomas Ethik vernunftzentriert: „In Verbindung mit den menschlichen Handlungen werden die Worte ‚gut‘ und ‚schlecht‘ auf der Grundlage eines Vergleichs mit der Vernunft angewandt, weil […] das Gutsein eines menschlichen Wesens sein Existieren in Übereinstimmung mit der Vernunft ist, während das Schlechte für menschliche Wesen das ist, was der Vernunft entgegen steht. Denn was für irgendeine Sache gut ist, ist das, was mit ihm in der Erhaltung seiner Form übereinstimmt, und schlecht ist das für sie, was immer im Gegensatz zur Ordnung steht, die dieser Form zugeordnet ist.“ (‚Summa theologiae‘ IaIIae.18.5.c) Es wäre jedoch ein Fehler anzunehmen, Thomas fasste das moralisch Böse so auf, als ob es in einem verstandesmäßigen Irrtum bestünde. Wegen der sehr engen Beziehung, die er zwischen dem Intellekt und dem Willen sieht, ist die Irrationalität eines moralischen Fehlverhaltens ebenfalls eine Funktion des Willens, und nicht etwa des Intellekts. In Thomas’ Sicht hängt die moralische Bewertung einer menschlichen Handlung zu allererst an der ‚internen Handlung‘, d.h. an dem Willensakt, von dem aus die externen Handlungen abgeleitet werden. Denn weil „der Wille sich infolge des Weses der Willenskraft selbst zum vernünftig Guten hinneigt [wobei das Gute dem Willen durch den Intellekt vorgelegt wird], stammt der schlechte Willensakt von einer fehlerhaften Überlegung ab.“ (‚Summa theologiae‘ IaIIae.50.5, ad 3). Da sich der Intellekt und der Wille ständig gegenseitig beeinflussen, kann also die schlechte Überlegung auch die Wirkung eines schlechten Willensaktes sein. Und darüber hinaus können die Quellen der Fehler des praktischen Intellekts bei der Identifikation des besten verfügbaren Handlungsverlaufs auch die Leidenschaften der sensorischen Seele sein. Und mehr noch. „Weil das Gute [das sich durch den Intellekt zeigt] auf viele verschiedene Weisen variiert wird, ist es notwendig, dass der Wille infolge irgendeiner Gewohnheit sich einem bestimmten Guten zuneigt, das ihm durch die Vernunft gegeben wird, so dass die [vom Willen bestimmte] Tätigkeit unmittelbarer folgen kann.“ (‚Summa theologiae‘ IaIIae.50.5, ad 3) Willensgewohnheiten sind notwendige Gewohnheiten zur Durchführung unserer Willensakte auf spezifisch gute oder spezifisch schlechte Weise, und zwar sowohl hinsichtlich der ‚exekutiven‘, als auch der ‚determinierenden‘ Aspekte des Willensaktes; und die Gewohnheiten, die diese zentrale Rolle in Thomas Moraltheorie spielen, sind die Leidenschaften und die Laster. Die vier ‚Kardinaltugenden‘ können als Gewohnheiten dieser Art verstanden werden. Die Gewohnheit der Vernunft zur guten Leitung ist im Allgemeinen ‚Besonnenheit‘ (prudentia); die Beschränkung der Vernunft auf ein sich selbst dienendes Begehren ist ‚Mäßigung‘ (temperantia); die Beharrlichkeit der Vernunft trotz sich selbst dienender ‚iraszibler‘ Leidenschaften wie beispielsweise der Angst ist ‚Mut‘ (animus); die Unterhaltung von Beziehungen zu anderen trotz der Neigungen des einen zur Selbstsucht ist ‚Gerechtigkeit‘ (justitia). Thomas’ normative Ethik basiert nicht auf Regeln, sondern auf Tugenden; sie beschäftigt sich mit Dispositionen erst und nur im Zusammenhang mit Handlungen. Zusätzlich zu den moralischen Tugenden in allen ihren verschiedenen Erscheinungen erkennt Thomas auch intellektuelle Tugenden an, die wie die moralischen Tugenden durch menschliches Bemühen erworben werden können. Andererseits können die obersten theologischen 1782
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Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Barmherzigkeit nicht erworben werden, sondern müssen direkt durch Gott ‚eingeflößt‘ werden. Thomas führt diese Tugenden und andere in der ‚Summa theologiae‘ IaIIae (49-88) ein und prüft sie bis ins Detail durch ganz IaIIae hindurch (siehe Tugendethik). Leidenschaften, Tugenden und Laster sind alle innere Prinzipien oder Quellen der menschlichen Handlungen. Sie sind jedoch genauso äußere Prinzipien, zwischen denen Gesetze aller Art herrschen. Infolgedessen macht sich Thomas in der ‚Summa theologiae‘ IaIIae.90-108 an seine Abhandlung über das Gesetz, eine berühmte und originelle Behandlung dieses Gegenstandes. Das bekannteste Merkmal dieser Abhandlung ist Thomas’ Begriff des Naturrechts. Im Allgemeinen ist das Gesetz „eine Art von rationaler Ordnung für das gemeinsame Gute, verkündet durch denjenigen, der die Sorge für die Gemeinschaft trägt“ (‚Summa theologiae‘ IaIIae.90.4c), und „die Vorschriften des Naturrechts sind für die praktische Vernunft, was die ersten Prinzipien von Demonstrationen für die theoretische Vernunft sind […]. Alle Dinge, die getan oder vermieden werden sollen, betreffen die Vorschriften des Naturrechts, die die praktische Vernunft natürlich als menschliche Güter versteht.“ (IaIIae.94.2c). Menschliche Gesetze aller Art sind oder sollten vom Naturrecht abgeleitet sein, das als die natürlicherweise wissbaren, rationalen Prinzipien gedeutet werden kann, die der Moral im Allgemeinen zugrunde liegen: „Es ist notwendig, dass die menschliche Vernunft von den Vorschriften des Naturrecht, wie auch von den allgemeinen, unbeweisbaren Prinzipien, zur Herstellung mehr in Einzelne gehender Einrichtungen fortschreitet […, die] alle menschliche Gesetze genannt werden, vorausgesetzt sie betreffen die Definition (rationem) des bereits aufgestellten Gesetzes.“ (IaIIae.91.3c). Als Folge dieser Hierarchie der Gesetze weist Thomas ohne zu zögern einige Arten und einige konkrete Fälle menschlicher Gesetze zurück, beispielsweise: „Ein tyrannisches Gesetz ist, weil es nicht mit der Vernunft zusammen geht, nicht unbedingt ein Gesetz, sondern ist vielmehr die Perversion des Gesetzes.“ (IaIIae.92.1, ad 4). Sogar das Naturrecht ruht auf den noch grundlegenderen ‚ewigen Gesetzen‘, die Thomas mit der göttlichen Vorsehung identifiziert, die also „das eigentliche Wesen der Führung der Dinge auf der Seite Gottes als dem Herrscher des Universums“ sind (IaIIae.91.1c) (siehe Naturrecht). In ‚De regimine principium‘ (‚Über die Regierung der Herrscher‘), seiner wichtigsten politischen Arbeit, beginnt Thomas mit einer Einstimmung auf das gewohnte mittelalterliche Thema: die Monarchie sei die beste Form der Regierung. Er bemerkt jedoch, dass ein einziger Herrscher leicht korrumpiert werden könne, und dass die Monarchie folglich eine Tendenz zur Tyrannei habe. Er scheint eine Revolution gegen einen legitimen Herrscher, der tyrannisch geworden ist, nicht zu unterstützen (‚De regimine principium‘ 6), aber er besteht darauf, dass radikale Mittel, einschließlich der Tyrannei, eventuell gegenüber einem Usurpator, d.h. einem unrechtmäßigen Machthaber, gerechtfertigt sein können. Vielleicht weil er die Gefahren der Monarchie einzuschätzen wusste, arbeitet er allmählich republikanische Elemente in seine Theorie der guten Regierung ein. Sein späterer Kommentar zu Aristoteles’ ‚Politik‘ scheint das herrschende monarchische Modell bei der Behandlung der Vorstellungen vom Gemeinwohl (res publica) und der Bürger weiter in dem Sinne zu zersetzen, dass es herrscht und im Gegenzug beherrscht wird (siehe Politische Philosophie, Geschichte der).
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14. Theologie: natürliche, offenbarte und philosophische Weil Thomas einen Großteil seines Denkens innerhalb der formalen Beschränkungen der Theologie des 13. Jahrhunderts entwickelte, und weil dies sich umgekehrt seinen Platz auf seinen Platz in der Geschichte der Philosophie und auf die Bewertung seines Werks auswirkte, müssen wir etwas Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richten, in der vieles, was wir als Philosophie ansehen, ein wesentlicher Bestandteil dessen war, was er selbst für Theologie hielt. Thomas widmete die ersten drei Bücher der ‚Summa contra gentiles‘ einer systematischen Entwicklung der Naturtheologie, die er als Teil der Philosophie ansah (‚Summa theologiae‘ Ia.1.1, ad 2) (siehe Naturtheologie). Als ein Teil der Philosophie muss die Naturtheologie natürlich gänzlich auf „Prinzipien gegründet sein, die durch das natürliche Licht des Intellekts bekannt sind.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.1.2c), also Prinzipien von der Art, die auch der aristotelischen Metaphysik zugrunde liegen, von der Aristoteles selbst meinte, sie fände ihren Höhepunkt in der ‚Theologie‘ (siehe hierzu Thomas’ Interpretation dieses Gedankens im Prooemium zu seiner ‚Sententia super Metaphysicam‘ (‚Kommentar zur Aristoteles’ Metaphysik‘). Tatsächlich legt die Art und Weise, in der Thomas in der ‚Summa contra gentiles‘ I-III arbeitet, stark nahe, dass er die Naturtheologie als Wissenschaft, die der Metaphysik untergeordnet ist, angesehen haben mag, so wie er die Optik der Geometrie untergeordnet verstanden hätte. Allerdings ist etwas an diesem seinem Projekt merkwürdig. Zu Thomas’ Zeiten hatten die Kirchenmänner, die die Universitäten leiteten, einen Großteil ihrer anfänglichen Missgunst gegenüber den erst kurz zuvor wieder entdeckten Werken des Heiden Aristoteles überwunden und hatten offiziell zugegeben, dass das Studium der aristotelischen Physik und Metaphysik (mit ihrem kleineren integralen Bestandteil einer Naturtheologie) mit der universell anerkannten Verfügbarkeit der offenbarten Wahrheiten über Gott vereinbar sei. Die mittelalterlichen Christen hatten die antiken Versuche der Philosophen zur Entdeckung der Wahrheiten über Gott, die allein auf der Grundlage von Beobachtungen und Nachdenken gerechtfertigt sein sollten, schätzen gelernt, ja sogar als lobenswert, trotz ihrer vollständigen Ignoranz der Offenbarung. Allerdings hätte kein Philosoph in Thomas’ Umständen gerechtfertigtermaßen eine neues Projekt einer heuristischen Naturtheologie in Angriff nehmen können. Einer Naturtheologie, die nur erläuternd vorgenommen wird, würde allerdings nichts Schändliches anhaften. Das Ziel einer solchen Unternehmung wäre es nicht, von Grund auf eine neue Theologie zu entwickeln, sondern vielmehr im Sinne von Römer 1:20 den Umfang aufzuzeigen, in dem das, was übernatürlich offenbart worden war, zumindest in der Theorie auch natürlich entdeckt werden kann. Ein solches Unternehmen scheint das zu sein, was die ‚Summa contra gentiles‘ I-III darstellt. Einige Evidenz aus einer Chronik, die ungefähr siebzig Jahre nach dem Beginn der Arbeit von Thomas an der ‚Summa contra gentiles‘ geschrieben wurde, ließ die Gelehrten seinerzeit annehmen, dass er sie als Anleitung zur Verwendung durch dominikanische Missionare gegenüber Moslems und Juden geschrieben hatte. Wenn dies so wäre, so wäre die Darstellung der natürlichen anstatt der offenbarten Theologie in ihren ersten drei Büchern von dem praktischen Zweck bestimmt worden, die Wahrheit über Gott rational abzuleiten und die Darstellung von Gottes Beziehung zu allem anderen, und zwar für Menschen, die noch nicht die offenbarten Texte anerkannt hatten. Thomas wäre anderenfalls als die Quelle dieser Wahrheit zitiert 1784
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worden. Aber niemand, und sicherlich nicht Thomas, konnte angenommen haben, dass Muslime oder Juden von einem vollkommenen Monotheismus überzeugt werden mussten der Art, wie er in diesen ersten drei Büchern entwickelt wurde, und die nichts enthalten, dass er als einen Gegensatz zum Judaismus oder dem Islam hätte verstehen können. Wenn Thomas die ‚Summa contra gentiles‘ als ein Handbuch für Missionare gegenüber gebildeten Moslems, Juden oder häretischen Christen verfasst hätte, so hätte er seine enormen Bemühungen verschwendet, die er in die 366 und mit zahlreichen Argumenten versehenen Kapitel der Bücher I-III investiert hatte. Was Thomas selbst über seine Absicht beim Schreiben der ‚Summa contra gentiles‘ sagt, lässt annehmen, dass die formale Ursache dessen, was er schrieb, nicht in einem Versuch zur Hilfe bei missionarischen Aktivitäten lag, sondern stattdessen in seiner Auffassung der Beziehung zwischen Philosophie und Christentum. Er beginnt, indem er über die Beschäftigungen einer weisen Person schreibt, einer von jenen, „die den Dingen eine geeignete Ordnung und Richtung geben und sie gut führen“ (‚Summa contra gentiles‘ I.1.2). Offensichtlich muss sich eine solche Person mit Zielen und mit Quellen beschäftigen, und so wird die weiseste Person diejenige sein, „deren Aufmerksamkeit auf das universelle Ziel gerichtet ist, das ebenfalls die universelle Quelle ist“, und von der Thomas meint, dass dies Gott sei (I.1.3). Weil diese Naturtheologie so orientiert ist, „muss sie die größte Weisheit überhaupt genannt werden, insofern man sie als die absolut höchste Ursache von allem ansieht.“ (II.4.874). Folglich muss die höchste und am allgemeinsten erklärende Wahrheit das sein, was die Weisheit betrifft. Jeder, der nach der Weisheit strebt, wird sich der Metaphysik zuwenden, denn, so berichtet Thomas, Aristoteles identifiziere korrekt die Metaphysik als „die Wissenschaft von der Wahrheit – nicht von jeder Wahrheit, aber von jener Wahrheit, die der Ursprung aller Wahrheit ist, jener Wahrheit, die die ersten Prinzipien des Seins für alle Dinge betrifft.“ (I.1.5) Und, wie er bei einer Beobachtung sagt, die zu seinem eigenen Unternehmen passt, „manchmal beginnt die göttliche Weisheit mit dem Anfangspunkt der menschlichen Philosophie“ (II.4.875). Da es jedoch das Geschäft ein und derselben Wissenschaft sei, „einen von zwei Gegensätzen zu verfolgen und den anderen zurückzuweisen […], so ist die Rolle der weisen Person jene, die Wahrheit zu vermitteln, insbesondere die Wahrheit betreffend das erste Prinzip, und es mit anderen zu diskutieren, aber auch gegen die Falschheit ihres Gegenteils zu kämpfen.“ (I.1.6) Die Wahrheit betreffend das erste Prinzip wird die Wahrheit über Gott sein, wenn man annimmt, dass die Naturtheologie zeigen kann, dass Gott existiert; und also ist die hier mit der Metaphysik verbundene erklärende Wahrheit auch jene Wahrheit, die mit der Theologie verknüpft ist. Niemand weiß, welchen Titel Thomas selbst diesem Werk gab, wenn er ihm überhaupt einen gab. In einigen seiner mittelalterlichen Manuskripte wird es als ‚Liber de veritate catholicae fidei contra errores‘ (‚Buch über die Wahrheit des katholischen Glauben, gegen die Irrtümer gerichtet‘) bezeichnet, ein Titel, der einer präzisen Wiedergabe der Ziele und Inhalte des Buches näher kam als die streitlustige, traditionelle Bezeichnung ‚Summa contra gentiles‘ (‚Zusammenfassung [der christlichen Lehre], gerichtet gegen die Ungläubigen‘). Während des 19. Jahrhunderts, als die ‚Summa theologiae‘ (‚Zusammenfassung der Theologie‘) normalerweise fälschlich als ‚Summa theologica‘ (‚Theologische Zusammenfassung‘) zitiert wurde, veröffentlichte man die Summa contra gentiles manchmal unter dem absichtlich gegensätzlichen Titel ‚Summa philosophica‘ (‚Philosophische Zusammenfassung‘). 1785
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Dieser Gegensatz, obwohl er potentiell irreführend ist, hat doch einige Wahrheit in sich, wie man an Thomas’ Plan für die ‚Summa contra gentiles‘ I-III sieht: „Weil wir beabsichtigen, auf dem Wege der Vernunft die Dinge über Gott zu verfolgen, soweit die menschliche Vernunft sie erforschen kann, so erfolgt die erste Betrachtung über Gegenstände, die mit Gott an sich selbst gedacht verbunden sind [Buch I]; zweitens, über das Entstehend der geschaffenen Dinge durch ihn [Buch II]; drittens, von der Ordnung und Richtung der geschaffenen Dinge hin zu ihm als ihrem Ziel [Buch III].“ (I.9.57) In diesem Streben auf dem Wege der Vernunft muss Thomas ‚autoritative‘ Argumente jeglicher Art meiden – und er tut dies auch –, aber er erweist sich als feinfühlig, wenn er sich andererseits nicht auf die ‚demonstrativen Argumente‘ bei der Entwicklung der natürlichen Theologie beschränkt. Er verwendet natürlich demonstrative Argumente, wenn er meint sie zu haben, aber wie praktisch alle Philosophen einer jeden Epoche erkennt er ebenso das Bedürfnis des Philosophen nach ‚wahrscheinlichen Argumenten‘. Ein demonstratives Argument nimmt als seine Prämissen Aussagen, die die Tatsachen in der Konklusion des Arguments erklären, indem sie ihre Ursachen erklären (oder manchmal ihre Wirkungen), und so produziert das Argument wissenschaftliches Verständnis. Ein wahrscheinliches Argument von der Art, die schon immer in der Philosophie besonders herausragte und am meisten geeignet war, ist eines, das auf Prämissen beliebiger Art aufbaut, die allgemein oder durch Experten des betreffenden Bereichs akzeptiert sind, und so mag eine Gruppe durch ein wahrscheinliches Argument überzeugt werden, das eine andere Gruppe zurückweist. Natürlich muss Thomas von autoritativen Argumenten im vierten und letzten Buch Gebrauch machen, wo er von der natürlichen zur offenbarten Theologie übergeht, und seine Toleranz diesen Argumenten gegenüber ist ein Teil dessen, was die Argumentation von Buch IV von den Büchern I-III unterscheidet. In der ‚Summa contra gentiles‘ IV greift Thomas auf, was seitdem die philosophische Theologie genannt wird, d.h. die Anwendung der Vernunft auf die Offenbarung. Die philosophische Theologie teilt sich im Großen und Ganzen in die Methoden der Natürlichen Theologie, d.h. übernimmt die Analyse und Argumente aller Art, die in der Philosophie anerkannt sind, aber sie lockert die Beschränkungen der Natürlichen Theologie auf die Prämissen, in dem sie als Vorannahmen auch Offenbarungsaussagen zulässt. Das schließt solche Aussagen ein, die der Vernunft ohne fremde Hilfe zunächst unzugänglich sind, wie beispielsweise die ‚Mysterien‘ der christlichen Lehre. In seinen zahlreichen Werken der philosophischen Theologie probiert Thomas die Kohärenz der Lehraussagen (einschließlich der Mysterien) aus, versucht sie zu erklären, legt ihre logischen Verbindungen mit anderen Lehraussagen offen etc., um seine Überzeugungen zu bestätigen, dass die Lehren selbst in jeder Hinsicht verständlich und annehmbar sind, und dass die offenkundige Inkohärenz von einigen von ihnen nur ein Merkmal unserer anfänglichen, oberflächlichen Sicht von ihr sind. Die ‚Summa theologiae‘ ist das Grundbeispiel der philosophischen Theologie. Gleich der erste Artikel der allerersten Frage stellt sofort klar, dass die ‚Summa theologieae‘ keine Zusammenschau der Naturtheologie ist, denn sie beginnt mit der Frage, ob wir noch irgendeine „andere Lehrtätigkeit neben den philosophischen Studien“ bräuchten. Dies bedeutet in Thomas’ Wortgebrauch einen Hinweis auf die Studien, die mittelalterliche Anfänger der Theologie gerade in der Fakultät der Künste hinter sich 1786
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gebracht hatten. Die Frage stellt sich, weil philosophische Studien so charakterisiert werden, dass sie nicht nur mit „den Dingen, die Gegenstand der Vernunft sind“ zu tun haben, sondern auch, dass sie „alles Sein, einschließlich Gott“ als Folge dessen umfassen, dass „ein Teil der Philosophie Theologie genannt wird“. Obwohl Thomas diese Charakterisierung der Gegenstände der Philosophie akzeptiert, demzufolge sie universell sind und einen Teil enthalten, der eigentlich Theologie genannt wird, bietet er doch zahlreiche Argumente zur Unterstützung seiner Behauptung an, dass die offenbarte Theologie dennoch nicht überflüssig sei. In einem dieser Argumente behauptet er, dass „die Fähigkeit eines Gegenstandes, auf verschiedene Weisen erkannt zu werden, verschiedene Wissenschaften hervorbringt“. Damit meint er, dass unterschiedliche Wissenschaften auf der Basis unterschiedlicher Prämissen oder Evidenzen in gewissem Umfange dieselben Schlussfolgerungen hervorbringen können. In seinem Beispiel weist er darauf hin, dass der Naturalist zur Unterstützung der Behauptung, die Erde sei rund, die empirische Beobachtung einsetze, während der Kosmologe zu derselben Schlussfolgerung vielleicht auf einer strikt formalen Grundlage komme. „Und aus diesem Grunde“, so schließt er, „hindert uns nichts daran, dieselben Dinge auch in den philosophischen Studien zu betrachten, insofern sie im Lichte der natürlichen Vernunft erkannt werden können, und ferner auch durch eine andere Wissenschaft, insofern sie durch das Licht der göttlichen Offenbarung erkannt werden. Dies ist der Grund, warum die Theologie, die die sacra doctrina betrifft [mit anderen Worten: die offenbarte Theologie], der Art nach von derjenigen Theologie abweicht, die als ein Teil der Philosophie betrachtet wird.“ (ad 2). In diesem Argument scheint Thomas gewillt zu sein zuzugeben, dass die offenbarte und die natürliche Theologie sich nur in dieser methodischen Hinsicht unterscheiden, d.h. dass sie einfach zwei radikal unterschiedliche Ansätze genau derselben Aussagen über Gott und alles sonst darstellen. Dies würde er jedoch nicht wirklich zugeben. Es gibt Aussagen, die einzig zum Gegenstandsbereich der offenbarten Theologie gehören, einfach deshalb, weil die unterschiedlichen Prämissen, mit denen die offenbarte Theologie beginnt, auch zu Schlussfolgerungen führen kann, die der in dieser Hinsicht nicht unterstützten Vernunft nicht verfügbar sind. Und natürlich kann keine Lehraussage, die den Menschen von vornherein nur kraft ihrer Offenbarung durch Gott verfügbar ist, Teil des Gegenstandsgebietes der Naturtheologie sein. Auf der anderen Seite ist keine zur Naturtheologie passende Aussage aus dem Gegenstandsbereich der ‚Summa theologiae‘ ausgeschlossen. Diejenigen Aussagen, die zur Naturtheologie gehören, bilden eine eigene Untermenge jener, die zur Offenbarungstheologie gehören: „Es war notwendig, dass die Menschen durch die göttliche Offenbarung belehrt wurden, und zwar selbst hinsichtlich solcher Dinge über Gott, die die menschliche Vernunft [selbst] erforschen kann. Denn die Wahrheit über Gott, die durch einige wenige auf der Grundlage der Vernunft erforscht wird [d.h. ohne sich auf die Offenbarung zu stützen], würde sich den Menschen [erst] nach langer Zeit ergeben und wäre befleckt mit vielen Irrtümern. Und deshalb hängt alles menschliche Wohlergehen, das mit Gott zu tun hat, von der Erkenntnis dieser Wahrheit ab. Deshalb was es für die Menschen notwendig, über die göttlichen Angelegenheiten durch die göttliche Offenbarung belehrt zu werden, so dass [die Natur des menschlichen] Wohlergehens sich den Menschen bequemer und mit größerer Gewissheit zeigt.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.1.1c) 1787
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Wenn er seine Prüfung der sacra doctrina oder offenbarten Theologie zusammenfasst, sagt Thomas, dass es ihr „Hauptziel […] ist, die Erkenntnis von Gott zu übermitteln, und zwar nicht nur, wie er an sich selbst ist, sondern auch darüber, dass er die Quelle aller Dinge und ihr Ziel ist, insbesondere der rationalen Kreatur.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.2, intro.) Folglich umfasst der Gegenstandsbereich der sacra doctrina, d.h. die Theologie in der in dieser Zusammenfassung der Theologie dargestellten Form, die grundlegendsten Wahrheiten von allem, unter zwei Vorkehrungen: erstens, sie handelt von Gott und von den Dingen, die nicht Gott sind, wie sie sich auf Gott als ihre Quelle und Ziel beziehen; zweitens, unter den Dingen, die nicht Gott sind, beschäftigt sie sich hauptsächlich mit den Menschen, deren Studium der Theologie durch die Tatsache motiviert sein sollte, dass ihr Wohlergehen insbesondere davon abhängt, dass sie gewisse theologische Wahrheiten begreifen. Und der universelle Rahmen, darauf besteht Thomas, ist genau das, was man in einer rationalen Untersuchung der Wahrheit über Gott erwarten sollte: „Alle Dinge werden in der sacra doctrina unter dem Begriff von Gott betrachtet, entweder weil sie Gott sind, oder weil sie in einer geordneten Beziehung zu Gott als ihrer Quelle und ihrem Ziel stehen. Daraus folgt, dass der Gegenstand dieser Wissenschaft wirklich Gott ist“, selbst wenn der beabsichtigte Erklärungsrahmen der Wissenschaft universell ist (‚Summa theologiae‘ Ia.1.7c). Indem er sich auf die sacra doctrina als ‚Wissenschaft‘ beruft, meint Thomas sie als eine systematische, vernünftige Darstellung eines organisierten Wissenskörpers darzustellen, der allgemein aus Wahrheiten über irgendeinen auf vernünftige Weise vereinheitlichten Gegenstandsbereich besteht. In diesem weiten aristotelischen Sinne ist es nicht offenkundig falsch, die Theologie für eine Wissenschaft zu halten (wie dies im engeren Sinne des 20. Jahrhunderts für eine Auffassung des Begriffes ‚Wissenschaft‘ der Fall wäre). Genau in diesem Sinne wäre die Wissenschaft der Theologie, so wie Thomas sie in der ‚Summa theologiae‘ entwickelt, als philosophische Theologie zu bezeichnen, d.h. als ein Unternehmen der Anwendung von Techniken und Vorkehrungen der Philosophie bei der Klärung, Unterstützung und Erweiterung jener Aussagen, von denen angenommen wird, dass sie als Beginn der Theologie offenbart wurden. Folglich ist ein Teil der Arbeit der philosophischen Theologie ein Versuch zur Erklärung offenbarter Aussagen und die systematische Ausarbeitung ihrer Implikationen. Wie die Naturtheologie, die der Metaphysik untergeordnet ist, so ist die philosophische Theologie eine untergeordnete Wissenschaft. Weil sie ihre Arbeit jedoch bei den göttlich offenbarten Aussagen beginnt, identifiziert Thomas die ‚Wissenschaft‘, der sie untergeordnet ist, als Gottes Wissen von sich selbst und allem sonst, das den Menschen direkt nur in dem Leben nach dem Tode zugänglich ist (‚Summa theologiae‘ Ia.1.2c). Wie er bereits früher sagt: „Für uns ist das Ziel des Glauben, zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was wir glauben – [was sich verhält,] als wenn der Ausübende einer untergeordneten Wissenschaft zusätzlich das Wissen erwerben soll, das ein Ausübender der höheren Wissenschaft besitzt. In diesem Falle würden die Dinge, die zuvor nur geglaubt wurden, nunmehr gewusst oder verstanden werden.“ (‚Expositio super librum Boethii de trinitate‘ 2.2, ad 7). Nicht einmal die Mysterien der Lehre sind für die rationale Erkundung undurchdringlich, obwohl die nicht unterstützte Vernunft sie niemals entdeckt hätte. Hinsichtlich des zentralen Mysteriums z.B. sagt Thomas: „Es ist unmöglich, zur Er1788
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kenntnis der Dreifaltigkeit der göttlichen Personen mit Mitteln der natürlichen Vernunft zu gelangen.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.32.1c). Jedoch sagt er dies in der zweiundzwanzigsten in einer Reihe von siebenundsiebzig Artikeln der ‚Summa theologi‑ ae‘, die der Analyse und Begründung von Einzelheiten der Dreifaltigkeit gewidmet sind. Mit anderen Worten, mitten in der Unterwerfung dieses Mysteriums unter die philosophische Theologie. Und er führ genau in diesem Artikel weiter aus, wo er die Möglichkeit einer rationalen Entdeckung der Existenz dreier göttlicher Personen ausschließt: „Es gibt zwei Weisen, auf die die Vernunft auf jeden Stoff angewandt wird […]: einmal, um einen ausreichenden Beweis von etwas Fundamentalem zu erbringen, und zum anderen, um zu zeigen, dass die eintretenden Wirkungen zu etwas Fundamentalem geeignet sind, dass bereits gesetzt wurde […]. Es ist also die erste Weise, auf die die Vernunft zum Beweise angewendet werden kann, dass Gott einer ist und dergleichen Dinge. Es ist aber die zweite Weise, auf die die Vernunft zu Klärung der Dreifaltigkeit angewandt wird. Denn ist die Dreifaltigkeit erst einmal gesetzt, sind Überlegungen solcher Art angebracht, wenn auch nicht dazu, um einen ausreichenden Beweis für die Dreifaltigkeit der [göttlichen] Personen durch diese Überlegungen zu liefern.“ (‚Summa theologiae‘ Ia.32.1c) Thomas ist ebenfalls sorgfältig in dem Hinweis, dass es nicht die reine intellektuelle Neugier oder gar eine Verteidigung des Glaubens ist, der durch eine rationale Klärung der Dreifaltigkeit gedient wird. Nach seiner Auffassung ist die Anwendung der philosophischen Theologie – d.h. die Bestätigung des Glaubens durch die Vernunft, ferner zu zeigen, dass die Dreifaltigkeit keineswegs irrational ist, und die Herausarbeitung der verwickelten Beziehungen zwischen diesen und anderen Lehraussagen – eine Hilfe zum Verständnis der Schöpfung und der Erlösung (siehe Dreifaltigkeit). Siehe auch: Albert der Grosse; Duns Scotus, J.; Gott, Begriffe von; Mittelalterliche Philosophie; Naturtheologie; Thomismus; Erkenntnis, Begriff der Anmerkungen und weitere Lektüre: Thomas von Aquin (1258-1273) Opera omnia (Gesammelte Werke): S. Thomae Aquinatis Doctoris Angelici. Opera Omnia. Iussu Leonis XIII, P.M. edita, Rom: Vatikan Polyglott Verlag, 1882. (Viele der Ausgaben dieser Reihe wurden erneut in der Marietti Ausgabe aufgelegt.). Die ‚Summa theologiae‘ ist ferner ist verschiedenen, lateinisch-deutschen und lateinisch-englischen Ausgaben auch gesondert ediert worden. Kretzmann, N. und Stump, E. (Hrg.) (1993) The Cambridge Companion to Aquinas, Cambridge: Cambridge University Press. (Zehn Studien speziell zur Einführung in alle wichtigen Aspekte des Denkens von Thomas; einschließlich Bibliographie.) Stump, E. (2003) Aquinas, London: Routledge. NORMANN KRETZMANN, ELEONORE STUMP
Thomismus
Der Thomismus ist eine Denkschule des 13. Jahrhunderts, die auf den bedeutenden christlichen Philosophen Thomas von Aquin zurückgeht. Der Thomismus ist eine Gesamtheit philosophischer und theologischer Ideen, die sich um eine Artikulation des intellektuellen Gehalts des katholischen Christentums bemüht. Im Zuge seiner Wiederbelebung im 19. und 20. Jahrhundert hat sich der Thomismus oft selbst 1789
Thomismus
als ‚dauerhafte Philosophie‘ beschrieben. Diese Beschreibung hat mehrere Aspekte: erstens die Vorstellung, dass es eine Menge zentraler und daher dauerhafter philosophischer Fragen über die Wirklichkeit, die Erkenntnis und die Werte gibt; zweitens, dass der Thomismus eine fortgesetzt bedeutsame Menge von Antworten auf diese Fragen liefert; und drittens, dass diese Antworten ein integrales philosophisches System bilden. In seiner allgemeinen Ausrichtung beschäftigt sich der Thomismus tatsächlich mit einer antiken philosophischen Themenliste und behauptet, eine umfassende, nicht-skeptische und realistische Antwort hierauf zu liefern, die auf einer Zusammenschau des griechischen Denkens, insbesondere auf jenem von Aristoteles, und der jüdisch-christlichen Religionslehren beruht. In ihrem Bemühen um eine Betonung der Kontinuität ihrer Tradition haben die Thomisten allerdings manchmal den Umfang übersehen, in dem sie selbst ihre früheren Ideen überarbeitet und neu interpretiert haben. Die Zeitspanne seit Abfassung der ursprünglichen Schriften des Thomas von Aquin bis zur Neoscholastik und dem ‚analytischen‘ Thomismus des späten 20. Jahrhunderts umfasst acht Jahrhunderte und erstreckt sich damit über eine intellektuelle Geschichte, die in ihrem Verlauf abwechslungsreicher ist als jede vergleichbare Periode. Einige der selbsternannten Thomisten haben nicht nur Positionen ergriffen, die von Thomas vermutlich angegriffen hätte, sondern sie trieben ihre Behauptungen teilweise so weit, dass dieser sie vermutlich nicht einmal mehr verstanden hätte. Beispiele für den ersten Vorwurf finden sich in der neukantianischen Behandlung der Ethik und der Erkenntnistheorie, die von einigen Thomisten des 20. Jahrhunderts favorisiert wurde. Beispiele für den zweiten Vorwurf finden sich unter den Versuchen, die Naturphilosophie des Aquinaten mit der modernen Physik, oder auch seine informelle aristotelische Logik mit der Quantorenlogik und einer Mögliche-WeltenSemantik zu versöhnen. Der Ausdruck ‚Thomismus‘ wird manchmal im engen Sinne verwendet, um sich auf das Denken von Thomas zu beziehen, und damit auch auf seine Interpretation und Ausarbeitung durch die Kommentatoren des 16. und 17. Jahrhunderts wie z.B. Cajetan, Sylvester von Ferrara, Domingo Bañez und Johann von St. Thomas. Zu anderen Zeiten wird der Ausdruck im Zusammenhang mit jeder Sichtweise verwendet, die ihre zentralen Ideen von Thomas bezieht, die sich aber von anderen seiner Ideen abhebt, oder die seine Ideen mit jenen anderer Philosophen oder Philosophien verbindet. Auffällige Beispiele von Thomisten in diesem weiteren Sinne sind Francisco Suárez (1548-1617), der sich auch auf die Erkenntnistheorie und die Metaphysik des anderen großen, mittelalterlicher Denkers Duns Scotus bezieht, und in jüngerer Zeit Joseph Marechal (1878-1944), dessen ‚Transzendentaler Thomismus‘ als Ausgangspunkt die kantische Annahme akzeptierte, dass die Erfahrung die Phänomene und nicht die Wirklichkeit an sich betrifft. Ein Beispiel aus den Kreisen der zeitgenössischen analytischen Philosophie ist Peter Geach, der in gleichem Maße auf Thomas von Aquin, Frege und Wittgenstein zurückgreift. Im 20. Jahrhundert gab es zwei größere Verfechter der Philosophie von Thomas von Aquin, nämlich Jacques Maritain und Etienne Gilson, die beide in bedeutendem Maße zur Entwicklung des Neothomismus in Nordamerika beitrugen. Interessanterweise waren beide Franzosen, die nicht in der thomistischen Tradition ausgebildet waren und beide zur Philosophie kamen, indem sie die Vorlesungen von Henri 1790
Thoreau, Henry David (1817-1862)
Bergson am Collège de France in Paris besuchten. Der Neothomismus, den sie anregten, verlor jedoch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wieder an Schwung, weil sich die Katholiken nach anderen philosophischen Bewegungen umschauten, einschließlich des Existenzialismus und der Phänomenologie, oder sich gänzlich von der Philosophie wegbewegten. Die heutigen Thomisten neigen dazu, getreue Nachfolger und Interpreten der Schriften des Aquinaten zu sein, doch gibt es auch ein wachsendes Interesse unter den etablierten englischsprachigen Philosophen an einigen seiner zentralen Ideen. Dies ist zwar keine eigene Bewegung, doch wurde der entsprechende Ansatz bereits als ‚analytischer‘ Thomismus bezeichnet. Siehe auch: Religionsphilosophie; Thomas von Aquin JOHN J. HALDANE
Thoreau, Henry David (1817-1862)
Thoreau war einer der Gründer jener neuen Literatur, die im Zuge der sich entfaltenden Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstand. Er erhielt eine Ausbildung in klassischer Philosophie und im Transzendentalismus seines älteren Freundes Ralph Waldo Emerson. Thoreau erfand eine Schreibweise, die sich dem Festhalten einzelner Ereignisse in all ihrer Vergänglichkeit widmete, dabei aber gleichzeitig die dauerhaften Gesetze der Natur und des Gewissens aufzeichnete. Seine Einarbeitung sowohl des Selbstvertrauens, als auch der Selbsthinterfragung in das Gewebe seiner Texte bilden den Hintergrund seines Standpunktes als einem Beobachter des menschlichen Leben und naturkundlicher Ereignisse. Thoreaus Beziehung zur Philosophie geht über seine Erbe von Platon, Kant, Emerson und das östliche Denken hinaus. Vor allem sein Streben nach Philosophie wird in der Art und Weise sichtbar, wie seine Schriften nach ihrer eigenen Begründung suchen. Im Schreibakt selbst verortet Thoreau die Perspektiven, innerhalb derer er die Menschlichkeit des Lebens zur Darstellung bringt. Sein Unternehmen ist es, aufrichtig ohne zu zögern ein Leben in Leidenschaft und Einfachheit zu beschreiben, wobei er sich selbst als einen Vertreter grundlegender menschlicher Bedürfnisse und Vorhaben einbringt. Unter dem Einfluss von Platons ‚Staat‘ beschreibt Thoreau einige grundlegende menschliche Bedürfnisse wie jenes nach Essen, Schutz und Gesellschaft. Er zeigt aber auch, wie schon Platon, dass die einzelnen Institutionen, durch die die menschlichen Bedürfnisse gestillt werden, von jeglicher Notwendigkeit weit entfernt sind. Die Rückverfolgung dieser Beziehung zwischen Bedürfnis und Notwendig ist eines der primären Ziele in Thoreaus Werk. TIMOTHY GOULD
Tiefenökologie
Siehe: Ökologische Philosophie; Næss, Arne
Tiere und Ethik Einführung Ist es moralisch erforderlich, dass wir die Leben und Interessen nichtmenschlicher Tiere respektieren? Die traditionelle Lehre lautete, dass Tiere zur Verwendung durch den Menschen geschaffen wurden und wir deshalb über sie verfügen dürfen, wie es uns gefällt. Dagegen wurde jedoch eingewandt, dass dies lediglich ein artenarrogantes Vorurteil ist, und dass Tiere mehr oder weniger in moralischer Hinsicht 1791
Tiere und Ethik
wie Menschen zu betrachten seien. Wenn dies richtig ist, wären wir moralisch dazu verpflichtet, uns vegetarisch zu ernähren; und es könnte sich zeigen, dass Laborversuche mit Tieren und viele andere solcher Praktiken problematischer sind, als wir uns dies bislang klar machten. 1. Die traditionelle Sichtweise 2. Herausforderungen der traditionellen Sichtweise 3. Die zeitgenössische Debatte 1. Die traditionelle Sichtweise In einigen östlichen Denkkulturen werden Tiere mit großem Respekt bedacht. Die indischen Jainisten sind der Auffassung, dass alles Leben heilig ist und unterscheiden nicht scharf zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben. Folglich sind sie Vegetarier, wie auch die Buddhisten, deren heilige Schriften jegliche Form nutzlosen Tötens verbieten. Im Westen glaubt man jedoch traditionell, dass Tiere zur Verwendung durch den Menschen geschaffen wurden. Diese Vorstellung, die uns aus dem Buch Genesis des Alten Testaments geläufig ist und durch eine lange Folge jüdischer und christlicher Denker ausgearbeitet wurde, bildet auch einen Teil des aristotelischen Weltbildes. Aristoteles lehrte, dass „die Natur alles zu einem Zwecke eingerichtet habe“, und dass genauso, wie die Pflanzen dazu da seien, um den Tieren Nahrung zu geben, die Tiere selbst existieren, um den Menschen Essen und andere Lebenshilfen zu verschaffen. Dies stellte eine Kosmologie mit einem moralischen Aspekt dar. Thomas von Aquins, der betonte, dass Gott selbst die Tiere für den Gebrauch durch Menschen geschaffen habe, brachte dies ausdrücklich auf den Punkt: „Deshalb,“ so sagte er, „ist es nicht falsch, wenn der Mensch sie gebraucht, indem er sie tötet oder auf welche Weise auch immer verwendet.“ (‚Summa contra gentiles‘, II, 89). Gibt es also gar keine Grenzen, wie Tiere behandelt werden können? Man könnte denken, dass wir die Pflicht zum Wohlwollen ihnen gegenüber haben, und zwar über die einfache Barmherzigkeit hinaus. Aber Thomas von Aquin bestand darauf, dass dies nicht der Fall sei. „Barmherzigkeit,“ so sagte er, „erstreckt sich nicht auf die nicht vernunftbegabten Kreaturen.“ Es gab jedoch einen Weg, auf dem auch Tieren in einem gewissen Umfange Schutz zustand. Sie können nämlich die zufällig Begünstigten von Pflichten sein, die eigentlich Menschen geschuldet sind. Wenn jemand versprochen hat, auf den Hund seines Nachbarn aufzupassen, dann ist er/sie auch verpflichtet, sich um dessen Hund zu kümmern. Diese Verpflichtung besteht aber nur gegenüber dem Nachbarn, nicht gegenüber dem Hund. Es mag ferner eine allgemeine Pflicht bestehen, Tiere nicht zu quälen, denn, wie bereits Kant sagte, „ein Mensch, der gegen Tiere grausam ist, wird auch gegen Menschen grausam handeln.“ (‚Vorlesungen über Ethik‘, 1780 1781). Aber auch hier ging es um den Schutz der Menschen, nicht der Tiere. (Dies nannte man gelegentlich den ‚Standpunkt der indirekten Pflicht‘ – d.h. wir können zwar Pflichten gegenüber Tieren haben, jedoch nur indirekte.) Diese Auffassung mag man in ihrer beinahe totalen Missachtung des nichtmenschlichen Lebens als extrem empfinden. Trotzdem wurde die Vorstellung, dass Tiere im Wesentlichen ein Vorrat zum menschlichen Gebrauch seien, praktisch von allen wichtigen Denkern der westlichen Tradition akzeptiert, einschließlich solcher
1792
Tiere und Ethik
Persönlichkeiten wie des Hl. Franziskus, von dem populärerweise, jedoch fälschlich angenommen wird, er habe sich für eine etwas barmherzigere Einstellung gegenüber den Tieren eingesetzt. Damit die traditionelle Auffassung vertretbar ist, muss es irgendeinen Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen geben, aus dem sich ergibt, dass Menschen einen privilegierten moralischen Status haben. Das traditionelle Denken nennt zwei solcher Unterschiede. Für Aristoteles bestand einer von ihnen darin, dass allein die Menschen vernunftbegabt sind. Religiöse Persönlichkeiten fügten dem hinzu, dass allein der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen worden sei. Diese Erklärungen schienen bis 1859 auszureichen, als plötzlich Darwins ‚Über den Ursprung der Arten‘ (1859) unser Verständnis der Beziehung des Menschen zu der übrigen Natur durchgreifend veränderte (siehe Darwin, C.R.). 2. Herausforderungen der traditionellen Sichtweise Darwin zeigte, dass Menschen nicht von den anderen Tieren biologisch abgesondert sind, sondern zu ihnen in einer evolutionär absteigenden Beziehung stehen (siehe Evolutionstheorie). Es ist kein Zufall, dass wir eine so verblüffende Ähnlichkeit mit dem Affen aufweisen. Unsere Knochen und Muskeln sind nicht mehr als modifizierte Formen der Affenknochen und -muskeln – sie sind einander ähnlich, weil wir sie von unseren gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Dasselbe gilt für unsere rationalen Fähigkeiten. Der Mensch ist nicht das rationale Tier, denn andere Tiere besitzen ebenfalls ein gewisses Maß an Rationalität. Wie könnte es auch anders sein, wenn sich unsere Gehirne aus einer gemeinsamen Wurzel entwickelten? Darwin ging so weit zu erklären, dass „es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschen und den höheren Säugern hinsichtlich ihrer mentalen Fähigkeiten gibt.“ (‚Über den Ursprung der Arten‘). Die bestehenden Unterschiede, so sagte er, seien gradueller und nicht wesentlicher Natur. Heutzutage ist weithin anerkannt, dass Darwin Recht hatte, zumindest in den Grundzügen seiner Auffassung. Dies bringt uns offensichtlich in ein ethisches Dilemma: wenn Menschen in so vieler Hinsicht anderen Tieren ähneln und Menschen moralischen Schutz verdienen, warum sollten dann die Tiere nicht ebenfalls Schutz verdienen? Wie Asa Gray, Darwins Freund in Amerika, sagt: „Menschliche Wesen werden vielleicht noch menschlicher sein, wenn sie sich klar machen, dass in dem Umfange, wie die mit ihnen in Abhängigkeit vereinten [Tiere] auf eine Weise leben, an denen der Mensch Teil hat, sie auch Rechte haben, die der Mensch zu respektieren hat.“ (‚Natural Science and Religion‘, 1880). Darwin selbst betrachtete die Grausamkeit gegenüber Tieren, zusammen mit der Sklaverei, als die beiden größten menschlichen Verfehlungen. Eine weitere Entwicklung des 19. Jahrhunderts zog ebenfalls den traditionellen Ausschluss der Tiere aus der Reichweite der Moral in Zweifel. Die Utilitaristen, unter der Führung von Jeremy Bentham und John Stuart Mill, brachten vor, dass der Gegenstand der Moral grundsätzlich die Suche nach der Verbreitung des Glücks und der Verhinderung des Leidens sei (siehe Utilitarismus). Bentham sah aber keinerlei Grund, dieses moralische Anliegen auf das menschliche Leiden zu beschränken. Tatsächlich meinte er in seinem Buch ‚An Introduction to the Principle of Morals and Legislation‘, die Rücksichtslosigkeit gegenüber Tieren sei eine Form der Diskriminierung analog dem Rassismus: „Der Tag wird kommen, wo den übrigen tierischen Geschöpfen die Rechte zukommen werden, die ihnen zu keiner Zeit außer 1793
Tiere und Ethik
im Wege der Tyrannei vorenthalten werden konnten. Die Franzosen haben bereits entdeckt, dass die Schwärze der Haut keinen Anlass dazu gibt, ein menschliches Wesen seinem Schicksal zu überlassen, will man nicht zu einem willkürlichen Peiniger werden. Eines Tages wird man anerkennen, dass die Zahl der Beine, die Behaarung der Haut oder das Ende des os sacrum (Kreuzbein) allesamt ebenfalls unzureichende Gründe sind, ein sensibles Wesen demselben Schicksal zu überlassen. […] Die Frage ist nicht: Können sie denken? Noch: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?“ (1789, im Original hervorgehoben.) Hierzu ist allerdings anzumerken, dass für den größten Teil der westlichen Geschichte der moralische Status der Tiere kein besonderes Anliegen war, und die Philosophen äußerten sich nicht gerade ausführlich dazu (Benthams Diskussion beschränkt sich beispielsweise auf eine Fußnote). Das Thema führte unter Philosophen erst nach der Veröffentlichung von Peter Singers Buch ‚Animal Liberation‘ (1975, dt.: ‚Die Befreiung der Tiere‘, München 1976) zu größeren Diskussionen. 3. Die zeitgenössische Debatte Einer der auffallendsten Aspekte der Debatte über die Tiere ist es, dass man zu radikalen ethischen Schlussfolgerungen gelangen kann, indem man sich schlicht auf die gewöhnlichsten moralischen Prinzipien beruft. Die Vorstellung, dass es falsch sei, Leiden zu verursachen, solange es dafür keine ausreichende Rechtfertigung gibt, stellt eines der grundlegendsten moralischen Prinzipien dar, die praktisch jeder anerkennt. Nun scheint aber eine konsistente Anwendung dieses Prinzips stracks zum Vegetarismus, oder zumindest zu einer Vermeidung von industriell gezüchtetem Fleisch zu führen. Das Argument ist entwaffnend einfach. In modernen, industriellen Zuchtfarmen leiden Tiere, die zur Nahrungsgewinnung aufgezogen und geschlachtet werden, erheblich. Da wir uns aber leicht ernähren könnten, auch ohne sie zu essen, scheint der einzige Grund, sie dennoch zu essen, darin zu liegen, dass wir uns an ihrem Geschmack erfreuen. Solange man also nicht der Meinung ist, dass die Gaumenfreude ein ausreichender Grund für die Verursachung von Qualen ist, folgt daraus offenkundig, dass es ein Fehler von uns ist, solche Produkte herzustellen und zu konsumieren. Andere Argumente berufen sich auf weniger anerkannte Vorstellungen. Das englische Wort speciesism (zu dt. etwa: ‚Artenarroganz‘) wurde von Richard Ryder geprägt, einem britischen Psychologen, der aufhörte, mit Tieren Experimente anzustellen, nachdem er zu der Überzeugung gekommen war, dass dies unmoralisch sei. Seine Ansicht wurde durch Singers ‚Animal Liberation‘ populär. Die Artenarroganz wird dort als ein Analogon des Rassismus genannt. Genauso wie die Rassisten ungerechtfertigt die Interessen ihrer eigenen Rasse bevorzugen, stellen die Anhänger der Artenarroganz ungerechtfertigt die Interessen der Mitglieder ihrer eigenen Art über diejenigen aller anderen (siehe Diskriminierung). Man bedenke beispielsweise die sehr unterschiedlichen Standards, die wir auf Menschen und Nicht-Menschen bei Laborversuchen anwenden. Wie kommen wir dazu zu denken, es sei zulässig, ein schmerzliches und zerstörerisches Experiment z.B. an einem Rhesusaffen durchzuführen, wenn wir dasselbe Experiment nicht auch an einem Menschen durchführen würden? Jemand könnte hierauf vielleicht erwidern, dass Menschen intelligenter seien als Tiere, oder dass ihre sozialen Beziehungen komplexer seien. Man denke aber an geistig zurückgebliebene Personen, deren ko1794
Tiere und Ethik
gnitive und soziale Kapazitäten nicht größer sind als jene des betreffenden Tieres. Wäre es zulässig, an ihnen ein solches Experiment durchzuführen? Viele Menschen denken, dass so etwas einfach deshalb, weil sie Menschen sind, nicht zulässig ist. Da liegt die Artenarroganz nun klar vor uns: es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen und Nichtmenschen in ihren Fähigkeiten zu denken, zu fühlen oder zu leiden, und dennoch stellen die Menschen ihr Wohlergehen über das der anderen. Dieser Gedanke führt dazu, dass Tiere dann – und nur dann – anders als Menschen behandelt werden dürfen, wenn es wirklich ethisch relevante Unterschiede zwischen ihnen gibt. Es wird zulässig sein, nur Menschen, aber keine anderen Tiere an Universitäten zuzulassen, weil Menschen lesen können und andere Tiere nicht. Aber in Fällen, wo es keine relevanten Unterschiede zwischen ihnen gibt, müssen sie gleich behandelt werden. Dies ist der Sinn, in dem man sagen könnte, dass Menschen und Nichtmenschen moralisch ‚gleich‘ behandelt werden müssen: die bare Tatsache, dass einer von beiden ein Mensch ist, besagt für sich allein noch gar nichts, ebenso wenig wie die bare Tatsache, dass einer eine diese oder jene Hautfarbe hat, zählt. So sollen wir auch ein Tier auf keine Art behandeln, auf die wir nicht auch einen Menschen mit denselben intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten behandeln würden. Solche Argumente haben natürlich heftigen Widerstand erregt. Viele Philosophen erachten es für schwierig zu glauben, dass einfache Tiere solche mächtigen Ansprüche uns gegenüber haben könnten. Die Moral, so sagen sie, ist eine fundamental menschliche Einrichtung, die geschaffen wurde, um menschliche Rechte und Interessen zu schützen (siehe Moral und Ethik). Die moderne Lehre vom Sozialkontrakt (engl.: contractarianism), die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der grundlegende Rivale zum Utilitarismus entstand, bringt dies ganz klar an den Tag. Nach dieser Anschauung beruht die Moral auf Übereinkünften zum gegenseitigen Nutzen. Die Moralität entsteht innerhalb einer Gemeinschaft, wenn jede Person damit einverstanden ist, ‚das soziale Spiel zu spielen‘, d.h. die Rechte und Interessen anderer Menschen zu respektieren, sofern diese dies ebenfalls tun. Diese Übereinkunft ermöglicht das soziale Leben, und jeder profitiert davon. Tiere sind jedoch nicht in der Lage, an solchen Übereinkünften teilzunehmen, und deshalb gehören sie auch nicht in die Sphäre des moralischen Schutzes. Über die Anfachung einer philosophischen Debatte hinaus ist Peter Singers Buch vielleicht ein sehr auffallendes Beispiel einer philosophischen Arbeit, die eine soziale Bewegung auslöst. Die Bewegung für die Rechte der Tiere mit ihrem grundsätzlichen Widerspruch gegen solche Praktiken wie industrielle Tierzucht, den Einsatz von Tieren in der kommerziellen und wissenschaftlichen Forschung und der Fellhandel sind ein wohl bekannter Teil unseres gegenwärtigen Lebens geworden. Selten, wenn überhaupt, waren philosophisches Denken und sozialer Aktivismus so eng miteinander verbunden. Siehe auch: Umweltethik; Evolution und Ethik; Recht Anmerkungen und weitere Lektüre: Regan, T. (1983) The Case for Animal Rights, Berkeley, CA: University of California Press (Dieses Buch verteidigt die Auffassung, dass nichtmenschliche Tiere moralische Rechte besitzen, die denen der Menschen vergleichbar sind. Es ist eine der wichtigsten Verteidigungsreden für die Tiere.) JAMES RACHELS 1795
Tierische Sprache und tierisches Denken
Tierische Sprache und tierisches Denken
Die Frage betreffend eine tierische Sprache und tierisches Denken wird bereits seit der Antike diskutiert. Einige behaupteten, die Menschen seien außergewöhnlich in dieser Hinsicht, andere meinten, dass Menschen und Tiere in Betreff der Sprache und des Denkens in einem kontinuierlichen Entwicklungsverhältnis stehen. Die Frage ist wichtig, weil unser Selbstbild als biologische Art hier auf dem Spiele steht. Argumente für die menschliche Außerordentlichkeit können in kartesische, wittgensteinsche und behaviouristische eingeteilt werden. Allen diesen Argumenten ist die Sichtweise gemein, dass die Sprache und das Denken eng miteinander verbunden sind, und dass Tiere über keine Sprache verfügen. Die Sprachexperimente mit Affen der 1960er und 1970er Jahre waren vor diesem Hintergrund von besonderer Bedeutung: wenn Affen Sprachen erlernen könnten, dann hätten sogar die Vertreter der menschlichen Außerordentlichkeit zuzugeben, dass sie auch Gedanken haben. Man nimmt nunmehr allgemein an, dass sämtliche linguistischen Fähigkeiten, die Affen gezeigt haben, nur ziemlich rudimentär ausgeprägt sind. Gleichwohl sind viele Skeptiker gewillt zuzugeben, dass Affen im einen oder anderen Falle in gewissem Umfange sprachliche Fähigkeiten entwickelten, und dass sie ganz klar Gedankentätigkeit zeigten. Untersuchungen anderer Tiere der Wildnis erbrachten ferner Beweise eines sehr raffinierten kommunikativen Verhaltens. Es entstanden die kognitive Ethologie und die vergleichende Psychologie als Forschungsgebiete zum Studium des tierischen Denkens. Während aber noch begriffliche Schwierigkeiten bei der Grundlegung dieser Felder bestehen, scheint es bereits plausibel, dass viele Tiere Gedanken haben. Diese können wissenschaftlich erforscht werden. DALE JAMIESON
Tillotson, J.
Siehe: Cambridge Platonismus
Tod
Beim Nachdenken über den Tod kommt eine Vielzahl philosophischer Fragen auf. Eine der tiefsten ist die Frage über das Wesen des Todes. Normalerweise interpretieren Philosophen diese Frage als einen Ruf nach einer Analyse oder Definition des Todesbegriffs. Platon beispielsweise schlug vor, den Tod als die Trennung der Seele vom Körper zu definieren. Diese Definition ist jedoch für diejenigen nicht annehmbar, die meinen, dass es gar keine Seele gibt. Sie ist ferner auch unannehmbar für alle, die denken, dass Pflanzen und niedere Tiere keine Seelen haben, aber dennoch sterben können. Andere haben den Tod einfach als das Aufhören des Lebens definiert. Dies ist aber ebenfalls problematisch, weil ein Organismus, der in einen scheintoten Zustand versetzt wird, aufhört zu leben, ohne doch wirklich tot zu sein. Der Tod wird als mysteriös beschrieben, aber es ist nicht klar, was damit gemeint ist. Angenommen, wir können keine befriedigende Analyse des Begriffs des Todes formulieren; in dieser Hinsicht wäre der Tod mysteriös, aber auch nicht mehr als jeder andere Begriff, der sich der Analyse entzieht. Es wurde eingewandt, dass das, was den Tod besonders mysteriös und Angst erregend mache, der Umstand sei, dass wir nicht wissen können, wie er ist. Der Tod wird typischerweise als ein großes Unheil betrachtet, speziell wenn er jemanden früh ereilt. Epikur und andere haben jedoch vorgebracht, dass der Tod denjenigen keinen Schaden zufügen kann, die sterben, denn die Menschen können nicht zu einem Zeitpunkt geschädigt werden, wenn 1796
Toleranz
sie gar nicht mehr existieren. Andere haben dagegen erwidert, dass das Unheil des Todes in der Tatsache liegen mag, dass der Tod uns die Güter nimmt, an denen wir uns sonst erfreuen würden, wenn wir noch lebten. Nach dieser Auffassung mag der Tod ein großes Unheil für eine Person sein, selbst wenn sie im Moment des Todes aufhört zu existieren. Philosophen haben sich auch mit der Frage beschäftigt, ob Menschen ihren eigenen Tod überleben können. Hierzu gibt es zahlreiche Interpretationen, die davon anhängen, was wir unter ‚Menschen‘ verstehen, und was wir mit ‚überleben‘ meinen. Herkömmliche Materialisten fassen jeden Menschen als ein rein physisches Objekt auf – eben als den menschlichen Körper. Weil menschliche Körper im Allgemeinen nach dem Tod eines Menschen – zumindest eine Weile – noch weiter bestehen, so müssten solche Materialisten vermutlich zugeben, dass wir unseren Tod überleben. Ein solches Überleben hat für den Verstorbenen jedoch nur geringen Wert, denn die überlebende Entität wäre nur ein lebloser Körper. Dualisten meinen, dass jede Person sowohl einen Körper, als auch eine Seele hat. Ein Dualist mag bei der Meinung bleiben, dass sich die Seele im Todeszeitpunkt vom Körper trenne und dadurch auch noch weitere Erfahrungen nach dem körperlichen Tod machen könne. Einige jener, die an das Überleben glauben, meinen, dass das ewige Leben der Seele nach dem körperlichen Tod ein unvergleichliches Gut sein könne. Aber Bernard Williams wandte hiergegen ein, dass das ewige Leben gründlich uninteressant wäre. Wenn wir uns vorstellen, fortgesetzt in ein und demselben Alter zu verharren, so haben wir vernünftigen Anlass zu der Sorge, dass ein solches Leben schließlich ziemlich langweilig wird. Auf der anderen Seite ist fraglich, wenn wir uns vorstellen, dass wir eine endlose Folge von verschiedenen ‚Leben‘ erfahren, die alle voneinander entkoppelt sind, ob es denn überhaupt noch ‚eine Person‘ ist, die dort ewig lebt. Ferner stellen sich Fragen über den Tod und den Sinn des Lebens. Angenommen, der Tod bezeichnet das Ende aller bewussten Erfahrung, wäre unser Leben dann der Sinnlosigkeit überlassen? Oder hilft uns die Tatsache des bevorstehenden Todes, den Wert unseres Lebens mehr anzuerkennen und unserem Leben gerade dadurch einen tieferen Sinn verleihen? Siehe auch: Leben und Tod; Lebens, Sinn des; Seele, Natur und Unsterblichkeit der
FRED FELDMAN
Token
Siehe: Type/Token-Unterscheidung
Toleranz
Der Begriff der Toleranz (von lat.: tolerare = aushalten, erdulden, ertragen) entstand als eine wichtige politische Idee im 17. Jahrhundert; er erhielt umfängliche Unterstützung in John Lockes ‚A Letter Concerning Toleration‘ (dt.: ‚Brief über die Toleranz‘, 1689). Ursprünglich wurde er im Zusammenhang von Versuchen zur Wiederherstellung des Friedens in einem Europa entwickelt, das durch Religionskonflikte geschüttelt war; im 19. und 20. Jahrhundert dehnte sich seine Bedeutung auf die Dispute über rassische, sexuelle und soziale Unterschiede aus. Die Toleranz wird weithin als ein wesentliches Element einer freien Gesellschaft betrachtet, insbesondere von Gesellschaften, die durch moralischen und kulturellen Pluralismus
1797
Tolstoi, Graf Lev Nikolajewitsch (1828-1910)
gekennzeichnet sind, und er spielt eine herausragende Rolle in der politischen Theorie des Liberalismus. Das paradigmatische Beispiel der Toleranz ist die freiwillige Entscheidung, sich von einem Verbot, der Behinderung oder anderweitiger Zwangsanwendung im Hinblick auf ein Verhalten oder auf Merkmale zu enthalten, die man selbst ablehnt, obwohl man die Macht zu solchen Zwangsmitteln hätte. Die wichtigsten Bestandteile des Begriffs der Toleranz sind: ein tolerierenden Subjekt und ein toleriertes Subjekt (beide können Einzelpersonen, Gruppen, Organisationen oder Institutionen sein); eine Handlung, biologische oder kulturelle Prägung, eine Überzeugung oder Lebenspraxis, die Gegenstand der Toleranz sind; eine negative Einstellung (Abneigung oder Missbilligung) auf Seiten des Tolerierenden gegenüber dem Gegenstand der Toleranz; und schließlich eine beachtliches Maß an Zurückhaltung beim Vorgehen gegen dieses Gegenstand der Toleranz. Philosophische Argumente richteten sich vor allem auf den Geltungsbereich der Toleranz: Welche Dinge sollten oder sollten nicht toleriert werden? Das Maß der Beschränkung, das die Toleranz fordert: Welche Formen des Widerspruchs sind mit der Toleranz vereinbar? Und, vielleicht am wichtigsten, die Rechtfertigung der Toleranz: Warum sollten Dinge überhaupt toleriert werden? Siehe auch: Liberalismus; Meinungsfreiheit; Multikulturalismus JOHN HORTON
Tolstoi, Graf Lev Nikolajewitsch (1828-1910)
Tolstoi formulierte in seinen Romanen ‚Krieg und Frieden‘ (1865-1869) und ‚Anna Karenina‘ (1875-1877) philosophische Ideen, die oft als der Höhepunkt des Realismus angesehen werden. Dies gilt auch für seine kürzeren Erzählungen wie z.B. ‚Der Tod des Iwan Illich‘ (1866), die oft als die feinste Novelle der europäischen Literatur gepriesen wird. Des weiteren schrieb er zahlreiche Aufsätze und Abhandlungen über religiöse, moralische, soziale, erzieherische und ästhetische Fragen, von denen die bekanntesten sind: ‚Was ist Kunst?‘ (1898), ‚Das Himmelreich in euch‘ (1893) und seine autobiographische Meditation ‚Meine Beichte‘ (1884). Tolstoi verwandte seine Aufsätze, Briefe und Tagebücher offenkundig, um Ideen zu erkunden, indem man sie in der extremsten Form formuliert, während er sie in seinen Erzählungen mit bedeutend größerer Feinheit entwickelte. Kritiker machten einen scharfen Bruch in seinem Werk aus; demzufolge gab es eine frühe Periode, in der Tolstoi seine beiden großartigen Romane schrieb, und die von einem tiefen Skeptizismus beherrscht ist, und dann eine späte Periode, die auf das existenzielle Trauma und die anschließende Konversion folgte, die in ‚Meine Beichte‘ beschrieben wird (Kriegserfahrungen und das Erlebnis maßlosen Elends in der russischen Gesellschaft). Tolstoi betonte die radikale Zufälligkeit der Ereignisse, bewertete die praktische über die theoretische Vernunft und verspottete alle ‚allumfassenden‘ Systeme. Nach 1880 nahm er die Rolle eines Propheten an und behauptete, die wahre Bedeutung des Christentums gefunden zu haben. Er ‚lektorierte‘ die Evangelien und ließ nur diejenigen Passagen gelten, die die Kernaussagen der christlichen Lehren enthielten, und verwarf damit den Rest als etwas, das zu viele Schichten der Fälschung von Seiten der Kirche enthalte. Tolstoi predigte den Pazifismus, den Anarchismus, den Vegetarismus, den passiven Widerstand gegen das Böse (eine Lehre, von der noch Gandhi beeinflusst wurde), eine radikale Askese, die die Sexualität sogar noch innerhalb der Ehe verbot, und eine Kunsttheorie, die die meisten klas1798
Totalitarismus
sischen Autoren ablehnte, einschließlich der Dramen Shakespeares und Tolstois eigener früherer Romane. Siehe auch: Krieges und Friedens, Philosophie des GARY SAUL MORSON
Totalitarismus
Der Ausdruck ‚Totalitarismus‘ wurde in den 1920er Jahren von dem italienischen Philosophen Giovanni Gentile eingeführt, um den ‚idealen‘ faschistischen Staat zu beschreiben. In der Folge davon erwarb der Ausdruck rasch negative Konnotationen, als er auf die Regime in Deutschland unter Hitler und der UdSSR unter Stalin angewandt wurde. Innerhalb der Politikwissenschaft wird er allgemein als Bezeichnung einer ganz bestimmten und modernen Form der Diktatur verwendet, die nicht nur auf Terror aufbaut, sondern auch auf einer Unterstützung durch ein Massenpublikum, dass im Wege einer Ideologie mobilisiert wird, die radikale soziale Veränderungen vorschreibt. Der konkrete Inhalt der Ideologie wird dagegen, wann auch nicht unstrittig, als weniger bedeutsam erachtet als die Absicht des jeweiligen Regimes zur Einwirkung auf die Gesinnung der Menschen durch die Kontrolle aller Kommunikationswege. Der Totalitarismus hat gleichermaßen die Aufmerksamkeit der Philosophen, wie auch jene der Politikwissenschaftler auf sich gezogen, weil eine Reihe klassischer philosophischer Systeme in den Verdacht geriet, totalitäre Hoffnungen zu decken, aber auch, weil das Modell der totalen, d.h. allumfassenden Machtausübung durch bestimmte Diskursformen von kritischen Theoretikern aufgegriffen wurde, um einen Angriff auf die Moderne im Allgemeinen zu formulieren. MARGARET CANOVAN
Träume
Wir denken ganz selbstverständlich über Träume als Erfahrungen ähnlich unseren Wahrnehmungen oder Vorstellungen, außer dass sie während des Schlafs eintreten. Im vorwissenschaftlichen Denken spielte die Interpretation von Träumen eine Rolle beim Erraten der Zukunft, und sie spielt immer noch eine, wenn auch deutlich beschränktere, Rolle in der modernen Psychologie (allerdings wurden die Träume in der freudianischen Psychoanalyse als ein Zugangsweg zu den verborgenen Operationen des Geistes betrachtet). Das Träumen ist in mancher Hinsicht rätselhaft. Wir verfügen über kein praktikables Kriterium zur Überprüfung von Traumberichten, ja nicht einmal unserer eigenen. Bewusste oder Wachträume sind eher die Ausnahme als die Regel. Und dann ist da das Rätsel, wie wir die Wacherfahrung von einem sehr lebensnahen Traum unterscheiden können. Darüber hinaus ist die Natur von Träumen sehr zweifelhaft; manche bestritten sogar, dass das Träumen eine Form der Erfahrung im Schlaf ist: Träume müssten nach dieser Auffassung nach Maßgabe dessen verstanden werden, was wir erleben, wenn wir sie uns wieder ins Gedächtnis rufen. Siehe auch: Skeptizismus ROBERTO CASATI
Tradition und Traditionalismus
Die Tradition ist jene Gesamtheit von Verhaltensformen, Lebenseinstellungen und sozialen Gewohnheiten, die gesellschaftlich über die Generationen hinweg weitergereicht werden. Sie wird als etwas betrachtet, was seine Autorität in der Gegen1799
Tragödie
wart einfach daraus ableitet, dass es aus der Vergangenheit übermittelt wurde und mutmaßliche Weisheit und Erfahrung der Vergangenheit enthält. Für einige Menschen ist schon die Idee der Tradition ein Fluch. Es ist ein typisches Merkmal der Moderne, die Autorität der Vergangenheit abzulehnen und stattdessen die gegenwartsbezogene Anwendung von Vernunft zu favorisieren, die unbelastet durch die Tradition und Vorurteile sein soll. Während die Tradition bis in das 17. Jahrhundert hinein als Quelle des Wissens weitgehend unhinterfragt war und deshalb auch nicht gerechtfertigt werden musste, wurde sie seit der Aufklärung von Traditionalisten wie z.B. Burke und in jüngerer Zeit auch von Hayek verteidigt. Schaut man genauer hin, so zeigt sich jedoch, dass der Traditionalismus, wenn er nicht gänzlich irrational ist, selbst eine leicht zu übersehende Form der Rationalität sein kann, die sich in den einzelnen Traditionen verbirgt. Traditionen erweisen sich bei genauerer Betrachtung nämlich häufig weniger als irrational, sondern vielmehr als subtile und flexible Entwicklungen der Vernunft in bestimmten gesellschaftlichen Sphären. Siehe auch: Konservatismus ANTHONY O‘HEAR
Tragödie
Die Tragödie ist in der primären Bedeutung des Wortes eine Form des Theaters, auch wenn einige nichtdramatische Dichtungen (‚lyrische Tragödie‘) und einige Romane, z.B. ‚Moby Dick‘, als solche bezeichnet wurden. Als Genre entstand die Tragödie im antiken Griechenland und bildet seitdem einen Teil der westeuropäischen Tradition. Historisch hat sie sich durch die ihr zugeordneten Dramen und die darin auftretenden Schauspieler Ansehen erworben, weil sie von Personen – im Allgemeinen Männern – von ‚hoher‘ oder ‚edler‘ Abstammung handelt, die infolge ihrer Situation und Statur die tiefgründigsten Leiden und Konflikte der Menschheit verkörpern, und zwar sowohl im moralischen, wie auch im metaphysischen Sinne. Die Geschichte dieses Genres ist Teil der Geschichte, wie die Kunst und Kultur Auffassungen über die sozialen Klassen und Geschlechter wiedergibt. Die Theorie der Tragödie konzentrierte sich vor allem darauf, wie man das Genre definieren kann. Ein beharrliches Merkmal ist beispielsweise der tragische Held, der zu Beginn eine Macht- oder Adelsposition einnimmt, im Verlauf der Geschichte aber auf ein katastrophisches Ende infolge von Handlungen zusteuert, die er selbst zu verantworten hat. Nach der aristotelischen Tradition soll das Publikum als Antwort auf das Leiden des tragischen Helden Mitleid und Angst empfinden, und vielleicht auch Lust aus der kathartischen Wirkung dieser Erfahrung. Hegel leitete eine paradigmatische Entwicklung in der Theorie der Tragödie ein, indem er vorschlug, dass tragische Handlungen im Kern Konflikte miteinander widerstreitender Pflichten seien, und nicht das Leiden. Die griechischen und die Shakespearschen Tragödien liefern zwei verschiedene Beispiele des Genres. Die Tradition, die von der griechischen Tragödie inspiriert war, betonte eine starr definierte Form dramatischer Dichtung; die französische neoklassische Tragödie ist Teil dieser Tradition. Shakespearsche Tragödien sind dagegen teilweise in Prosa geschrieben und umfassen auch komische Elemente und Charaktere, die nicht adliger Abstammung sind. Lessing und Ibsen wehrten sich ebenfalls gegen Einschränkungen, die dem Genre im Hinblick auf die Darstellung der sozialen Klassen und der Geschlechter aufgezwungen wurden, und zwar zugunsten eines Dramas, das realistischer und relevanter für das 1800
Transzendentale Argumente
bürgerliche Publikum war. Die Kritik des 20. Jahrhunderts hat die Sinnhaftigkeit des gesamten Genres in der Moderne wiederum gänzlich in Frage gestellt. Siehe auch: Dichtung; Hegel, G.W.F., § 8; Katharsis; Komödie; Gefühle als Antwort auf Kunst; Lessing, G.E.; Mimēsis; Nietzsche, F. SUSAN L. FEAGIN
Transzendentale Argumente Einführung Transzendentale Argumente versuchen eine Antwort auf den Skeptizismus zu geben, indem sie zeigen, dass die durch einen Skeptiker bezweifelten Dinge in Wahrheit die Vorbedingung dafür sind, dass der Skeptiker sich überhaupt so äußern kann. Folglich ist der Skeptizismus diesem Ansatz zufolge entweder bedeutungslos oder falsch. Ein transzendentales Argument arbeitet mit Befunden über die Vorbedingungen sinnvollen Denkens oder Urteilens. Beispielsweise geht der Skeptizismus betreffend den Geist davon aus, dass vielleicht nur der Denkende selbst Empfindungen hat. Ein transzendentales Argument, das auf diesen skeptischen Einwand eingeht, würde zeigen, dass es eine Vorbedingung des Denkens von sich selbst als jemand, der Empfindungen hat, sei, dass andere dies auch tun. Diesen skeptischen Einwand zu äußern impliziert zu denken, dass man Empfindungen habe; so zeigt das Argument, dass, wenn dieses Denken ausgedrückt werden kann, der dahinter stehende Gedanke falsch sein muss. Argumente mit solchen mächtigen Konsequenzen wurden, was nicht überraschen wird, umfangreich kritisiert. Eine Kritik daran lautet, dass es nicht möglich sei, die notwendigen Bedingungen eines Urteils zu entdecken. Eine weitere lautet, dass transzendentale Argumente uns nur zeigen können, wie wir zu denken haben, während ein Besiegen des Skeptizismus stattdessen den Nachweis erfordere, wie die Dinge wirklich beschaffen seien. 1. Natur des Beweises 2. Probleme 3. Weitere Kritiken 1. Natur des Beweises Die Bezeichnung ‚transzendentales Argument‘ stammt ursprünglich von Kant, der den schwierigsten Teil seines schwierigsten Buches, der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, mit ‚transzendentale Deduktion‘ betitelte (siehe Kant, I., § 6). Im 20. Jahrhundert wurde der Ausdruck sowohl von seinen Befürwortern, als auch von seinen Kritikern für eine im lockeren Sinne ähnliche Menge von Beweisen gebraucht, die manchmal direkt von Kant inspiriert waren, manchmal aber auch nicht. Die zentrale Figur bei der Wiedereinführung solcher Argumente war P.F. Strawson in seinem Werk zur Metaphysik namens ‚Individuals‘ (dt.: ‚Einzelding und logisches Subjekt‘, im Orig. 1959), sowie seine Kant-Rekonstruktion ‚The Bound of Sense‘ (dt.: ‚Die Grenzen des Sinns‘, im Orig. 1966). Die nachfolgenden Werke von Davidson, Putnam und Searle über die Beziehungen zwischen Sprache und Welt wurden ebenfalls als ‚transzendentale Argumente‘ bezeichnet, und zwar sowohl von den Autoren selbst, als auch von anderen. Richard Rorty nennte Davidsons Text ein „transzendentales Argument, um alle transzendentale Argumente zu beendigen“. 1801
Transzendentale Argumente
Ein Beispiel des transzendentalen Arguments ist Strawsons Angriff auf den Skeptizismus betreffend das Fremdgeistige. Er behauptet, dass die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände zu anderen eine Vorbedingungen für die Selbstzuschreibungen mentaler Zustände ist. Wenn der Skeptizismus daher in seiner gewöhnlichen Form vorgetragen wird, dass man sich fragt, ob irgendjemand außer dem Denkenden selbst noch existiere, der Gedanken und Gefühle habe, gibt es auf diese Frage folglich eine Antwort. Denn das Argument zeigt, dass es eine Vorbedingung für eine jede solche Fragestellung ist, dass wir solche Zustände auch anderen zuschreiben. Wenn der Skeptizismus daher überhaupt irgendeinen Sinn haben soll, so ist dieser verfehlt; die geäußerte Skepsis reduziert sich daher entweder auf einen Irrtum, oder auf Schweigen. Dieses spezielle Beispiel ist eine Art des sog. Privatsprachenarguments (siehe Privatsprache, Argument der). Wittgenstein wurde rückwirkend als jemand verstanden, der solche Arten von Argumenten vorgetragen habe, wie dies offenkundiger und auch in noch jüngerer Zeit Donald Davidson tat. Die engste Analogie zu solchen Argumenten bei Kant ist nicht etwa die ‚Transzendentale Deduktion‘, sondern vielmehr die ‚Widerlegung des Idealismus‘, wo Kant vorträgt, dass die Erkenntnis äußerer Zustände eine Vorbedingung für die Erkenntnis innerer Zustände sei; folglich behauptete er, dass sich „das Spiel, welches der Idealismus trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird“ (‚Kritik der reinen Vernunft‘, B 276). Wie auch bei Strawson bedeutet hier bereits die Art und Weise, wie das skeptische Argument (hier: der Idealismus) vorgetragen wird, dass es widerlegt werden kann. Die hier nur kurz skizzierte Gruppe von Argumenten illustriert eine Reihe von Aspekten der modernen transzendentalen Argumente. Sie sind Argumente hinsichtlich der Vorbedingungen des Denkens oder des Urteilens. Sie beginnen mit einer Annahme über unser Denken, wie z.B. jene, dass wir Gedanken einer bestimmten Art haben. Daraufhin wird eine notwendige Bedingung für das Hegen solcher Gedanken abgeleitet, worauf die Formulierung einer notwendigen Bedingung für diese notwendige Bedingung folgt etc. Geht man davon aus, dass die erste Annahme richtig ist, so müssen auch alle daran anschließenden, notwendigen Bedingungen gültig sein. 2. Probleme Als Antwort auf den Skeptizismus ist ein transzendentales Argument nur genau so stark wie seine zugrunde liegenden Annahmen. Im obigen Beispiel unter § 1 lautete die Annahme, dass wir von uns selbst meinen, geistige Zustände aufzuweisen. Ein Skeptiker könnte hierauf jedoch eingehen und behaupten, dass wir uns über den Inhalt unserer Gedanken irren. Auf ähnliche Weise ließe sich auf Putnams transzendentales Argument widerlegen, dass wir nicht einmal in der Lage wären zu denken, dass wir einen Apfel sehen, solange dieser Zustand nicht durch einen wirklichen Apfel verursacht wird (und der externe Skeptizismus folglich falsch sein muss), wenn man zusätzlich bezweifelt, ob ich richtig meine Gedanken als solche identifiziert habe, dass es dabei überhaupt um Äpfel geht. Wenn jedoch die ursprüngliche Annahme gar nicht von den Denkinhalten handelt, sondern nur besagt, dass es Denken (oder Sprache) gibt, könnte man diesen skeptischen Einwand widerlegen. Denn dies ist etwas, was niemand, und folglich auch nicht der Skeptiker, mit Recht bezweifeln kann. Daher betreffen die stabilsten 1802
Transzendentale Argumente
transzendentalen Argumente nur die Vorbedingungen dafür, dass es überhaupt Gedanken oder Sprache gibt. Beispiele hierfür sind wieder das Wittgensteinsche Privatsprachenargument oder Davidsons Argument, dass es nur ein begriffliches Schema gebe. Der nächste mögliche Schwachpunkt nach dieser anfänglichen Annahme ist die Entdeckung ihrer notwendigen Bedingungen. Das Argument, dass Menschen nicht ohne Gehirne denken könnten (wir denken; folglich haben wir Gehirne; folglich existiert die externe Welt) stellt keine wirksame Antwort auf den Skeptizismus dar. Also müssen die Argumente (zumindest relativ) apriorischer Natur sein. Einige Menschen haben deshalb eingewandt, dass sich transzendentale Argumente nur auf die rein begrifflichen oder analytischen Konsequenzen ihrer ursprünglichen Annahmen stützen können. Dies sichert sie stärker gegen den Skeptizismus, lässt aber ihre Aussichten auf das Erreichen einer interessanten Lösung ziemlich schrumpfen. Andere wiederum machten schon etwas anspruchsvoller geltend, dass die Verbindung zwischen Vorannahmen und Schlussfolgerungen nicht in zu engem Sinne analytischer Natur sein müssten. Transzendentale Argumente zeigen die notwendigen Bedingungen dafür, dass jemand Gedanken hat. Daher wird, wenn der Besitz einer Art von Gedanken eine notwendige Vorbedingung dafür ist, dass man auch andere Arten von Gedanken hat, dies ausreichen, selbst wenn die Gedankeninhalte selbst nicht untereinander analytisch verknüpft sind. 3. Weitere Kritiken In transzendentalen Argumenten werden notwendige Bedingungen oft durch die Entdeckung der einzigartigen Bedingungen bewiesen, die irgendeine bestimmte Art von Denken ermöglicht. So wurde beispielsweise insbesondere von Stefan Körner (1969) behauptet, dass die Einzigartigkeit einer begrifflichen Struktur nicht festgestellt werden kann. Einzigartigkeit, so meint er, könnte nur durch die Eliminierung aller möglichen Konkurrenten demonstriert werden. Doch obwohl wir vielleicht alle Konkurrenten eliminieren, die uns einfallen, ist doch immer noch die Möglichkeit gegeben, dass wir einen übersehen haben oder nicht imstande waren, ihn zu erkennen. Andere Beteiligte habe auf ähnliche Weise eingewandt, dass wir bestenfalls beschreiben können, wie wir gerade denken, oder auch die Grenzen der uns gerade vorstellbaren Alternativen. Doch keine dieser Vorstellungen kann zeigen, wie wir denken müssten; sie können nicht die notwendigen Bedingungen des Denkens aufzeigen. Eine weitere Kritik lautet, dass selbst dann, wenn man zeigen kann, was wir denken müssen, dies den Skeptizismus nicht überwinden wird. Die Überwindung des Skeptizismus erfordere vielmehr die Rechtfertigung des Gedankens, dass unsere Überzeugungen zeigen, wie sich die Dinge wirklich verhalten. Wenn man allerdings zeigt, dass wir etwas denken müssen, so beweist dies nicht, dass ein solcher Gedanke richtig ist: eine notwendige Illusion ist immer noch eine Illusion. Die Kraft dieser Kritik hängt von den Arten notwendiger Bedingungen ab, die aus transzendentalen Argumenten abgeleitet werden. Wenn irgendeine Tatsache als eine notwendige Vorbedingung für den Besitz von Gedanken bewiesen wird, dann sticht diese Kritik nicht. In modernen transzendentalen Argumenten sind die notwendigen Vorbedingungen, die für den Besitz einer bestimmten Art von Gedanken abgeleitet werden, häufig andere Arten von Gedanken. Beispielsweise ist es in dem Argument von Strawson, dass oben in § 1 diskutiert wurde, die Überzeugung vom Schmerz anderer 1803
Transzendentale Argumente
Menschen, die als Vorbedingung gefordert wird. Hier ließe sich einwenden, dass dies nicht genügt, um dem Skeptizismus (in diesem Falle über das Fremdgeistige) entgegen zu treten, denn der entscheidende Punkt ist nicht, ob wir glauben müssen, dass die anderen Schmerzen haben, sondern vielmehr, ob diese Überzeugung richtig ist. Eine andere Fassung dieses Einwands ist jene, die Stroud gegen Strawson und andere in seinem einflussreichen Aufsatz von 1968 über die transzendentalen Argumente in Anschlag bringt. Dort äußert er die Behauptung, dass transzendentale Argumente einer Version des Verifikationsprinzips bedürfen, um wirksam zu werden (siehe Bedeutung und Verifikation). Stroud fährt jedoch fort, dass wir, wenn wir zur Voraussetzung des Verifikationsprinzips berechtigt sind, die transzendentalen Argumente gar nicht mehr brauchen, weil das Verifikationsprinzip selbst bereits die antiskeptische Arbeit leistet. Das Prinzip zeigt, dass es keinen Sinn hat anzunehmen, unsere am besten verifizierten Überzeugungen seien womöglich gar nicht wahr. Auf analoge Weise lässt sich zeigen, dass es keinen Sinn hat anzunehmen, dass Überzeugungen, die wir haben müssen, gar nicht wahr seien. Hier ist es jedoch die verifikationistische Vorannahme, die den tödlichen Streich gegen den Skeptizismus führt, und nicht das transzendentale Argument, das uns von der Überzeugung zur notwendigen Überzeugung führt. Daher ist der Umweg über die notwendige Überzeugung überflüssig; transzendentale Argumente seien folglich entweder redundant oder ungültig. Alternativ kann der Übergang von dem, was wir glauben (müssen), zu dem Wissen, wie die Dingen wirklich beschaffen sind, bewerkstelligt werden, indem man die Distanz zwischen ihnen verringert. Eine Vorannahme des Idealismus würde dies leisten; am Ende müssen wir dann gar nicht mehr zwischen der Denkstruktur und einer unabhängigen, realen Welt unterscheiden, die auf ihre Beschreibung wartet. In Kants Denken war eine gewisse Art von Idealismus erforderlich, um sein transzendentales Argument wirksam werden zu lassen. Von Bernard Williams (1973) und anderen wurde vorgeschlagen, dass die auch für die modernen Anwender transzendentaler Argumente gelte. Einige dieser modernen Anwender verstehen dies jedoch nicht als eine Kritik (siehe Idealismus; Realismus und Antirealismus). Siehe auch: Skeptizismus Anmerkungen und weitere Lektüre: Körner, S. (1969): ‚Fundamental Questions in Philosophy‘. Harmondsworth: Allen Lane, The Penguin Press. (Das 12. Kapitel dieses Buches enthält den Einwand, der oben in § 2 erwähnt wurde; ein Werk mittleren Schwierigkeitsgrades.) Stroud, B. (1968): ‚Transcendental Arguments‘. ‚Journal of Philosophy‘ 65 (9), S. 241-256. (Dieser Aufsatz wird in § 3 erwähnt; es handelt sich hier um einen häufig zitierten Artikel, der nicht schwer zu verstehen ist.) Williams, B. (1973): ‚Problems of the Self‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Das Argument, das oben in § 3 erwähnt wird, ist hier in Aufsatz Nr. 8 enthalten; eine eher schwierig zu verstehende Arbeit.) ROSS HARRISON
Trinität
Siehe: Dreifaltigkeit
Trugschluss, absichtlicher Siehe: Künstlers, Absicht des
1804
Tugenden und Laster
Tugend, Indische Konzeptionen der
Siehe: Pflicht und Tugend, Indische Konzeption der
Tugenden und Laster Einführung Der Begriff der Tugend kann einen bedeutenden Beitrag zur philosophischen Darstellung der Ethik leisten, aber die Tugendtheorie sollte nicht als etwas gesehen werden, was sich parallel zu anderen ‚ethischen Theorien‘ um die Bereitstellung einer Anleitung zum Handeln bemüht. Modere Darstellungen der Tugenden beginnen typischerweise mit Aristoteles, doch müssen sie ihre Ansichten substanziell im Hinblick auf die Grundlegung der Tugenden im menschlichen Wesen anpassen, aber auch hinsichtlich der Frage, was Tugenden sind, hinsichtlich ihrer Einheit, und hinsichtlich ihrer psychologischen Identität als Neigungen eines Akteurs. Insbesondere muss man die historischen Veränderungen in dem anerkennen, was bereits als Tugend gegolten hat. Aristoteles sah die Laster als Verfehlungen, aber die moderne Meinung muss auch radikalere Formen des Lasters oder des Bösen erkennen. Sie wird womöglich auch akzeptieren müssen, dass das Gut enger mit seinen Feinden verknüpft ist, als die traditionellen Standpunkte dies zugaben. Die Tugendtheorie hilft in den Diskussionen solcher Fragen durch das Angebot umfangreicherer Quellen eines psychologischen Realismus, als ihn andere Ansätze bieten könnten. 1. Tugenden und Theorie 2. Jenseits von Aristoteles: Grund und Inhalt 3. Jenseits von Aristoteles (Forts.): Einheit und Wirklichkeit 4. Laster, Verfehlungen und das Böse 5. Verknüpfungen von Tugend und Laster 1. Tugenden und Theorie Ethische Theorien werden gewöhnlich als etwas präsentiert, dass sich in drei grundlegende Typen aufteilen lässt, die sich jeweils auf die Konsequenzen, die Rechte bzw. die Tugenden konzentrieren (siehe Konsequenzialismus; Deontologische Ethik; Rechte; Tugendethik). Ein Weg zum Verständnis dieser Aufteilung orientiert sich daran, was jede Theorie auf der untersten Ebene als Träger ethischer Werte ansieht. Für den ersten Theorietyp sind es die guten Sachverhalte; für den zweiten sind es die richtigen Handlungen, während die Tugendethik die Betonung auf die Idee der guten Person legt, was jemanden bezeichnet, der auch als eine ethisch bewundernswerte Person beschrieben werden kann. Letzteres ist wichtig zu betonen, und der Begriff einer Tugend ist in der Ethik wichtig. Aber seine Wichtigkeit lässt sich nicht auf diese Weise erfassen, d.h. nicht nur als der Brennpunkt einer Theorie, die mit anderen Theorietypen einhergeht. Die Konsequenzialisten und die moralische Rechtstheorie haben es auf die Systematisierung unserer Prinzipien oder Handlungsregeln auf eine Weise abgesehen, die uns angeblich helfen soll zu sehen, was in bestimmten Fällen zu tun oder zu empfehlen sei. Eine Theorie der Tugenden kann nicht behaupten, das folgende zu leisten: die Theorie selbst sagt, dass das, was man braucht, um die richtigen Dinge zu tun und zu empfehlen, Tugenden seien, und keine Theorie über Tugenden. Darüber hinaus bestehen die Gedanken einer tu1805
Tugenden und Laster
gendhaften Person nicht vollständig, oder nicht einmal hauptsächlich, aus Gedanken über Tugenden oder über Beispiele tugendhafter Menschen. Tatsächlich werden sie manchmal Gedanken über Rechte oder gute Konsequenzen sein, und dies macht deutlich, dass Gedanken über die guten Personen nicht jene anderen ethischen Begriffe verdrängen können, denn eine gute Person wird einige dieser Begriffe verwenden müssen. ‚Tugendtheorie‘ kann nicht auf derselben Ebene wie andere Theorietypen getrieben werden. Eine Betonung der Tugenden ist noch aus anderen Gründen wichtig für die Moralphilosophie. Obwohl sie den Kognitivismus nicht ausschließen muss, verschiebt sich doch die Aufmerksamkeit von der Moral als einem System von Aussagen oder Wahrheiten auf ihre psychologische (und damit schließlich soziale) Verkörperung in den individuellen Neigungen zu Handlungs-, Denk- und Gefühlsreaktionen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vielzahl von Gründen für das Handeln und Urteilen, die im Leben jenseits der Bevorzugung von Pflicht und Nutzen eines Theoretikers eine ethische Rolle spielen können (siehe Moralische Beweggründe, §§ 1-3; Moral und Gefühle). Solche Gründe werden typischerweise nicht die Tugendbegriffe selbst verkörpern, oder nicht einmal eine Reflexion der eigenen Tugenden des Akteurs mit sich bringen. Aber die Tugendtheorie kann bei der Erklärung helfen, wie Überlegungen wie z.B. ‚Sie benötigt dies‘ oder ‚Er verlässt sich darauf, was du sagst‘ als Gründe für einen Akteur fungieren können. Ein Ansatz über die Tugenden schafft auch Raum für die wichtige Einsicht, dass ethisch korrektes Handeln womöglich nur teilweise kodifizierbar ist und vielleicht eine wesentliche Berufung auf das Urteil mit sich bringt (siehe Moralisches Urteil, § 4; Universalismus in der Ethik). 2. Jenseits von Aristoteles: Grund und Inhalt Die erste systematische Untersuchung der Tugenden wurde von Platon in solchen Dialogen wie dem ‚Gorgias‘ oder dem ‚Staat‘ unternommen, und hierbei war die Formulierung des Problems der Einheit der Tugenden von herausragender Bedeutung (siehe § 3). Platon stellte auch auf besonders herausfordernde Weise Fragen zum Wert der Tugenden für ihren Besitzer. Die klassische Darstellung der Tugenden, auf die sich alle modernen Abhandlungen beziehen, ist jene von Aristoteles, nämlich die ‚Nikomachische Ethik‘ (siehe Aristoteles, § 22-25). Gerade wegen der Kraft und dem Einfluss dieser Darstellung kann man leicht unterschätzen, in welchem Umfange eine moderne Theorie einer Distanzierung von Aristoteles bedarf. Eine moderne Darstellung wird wahrscheinlich mit Aristoteles dahingehend übereinstimmen, dass Tugenden Neigungen des Charakters sind, die durch ethische Übung erworben werden, und die sich nicht einfach in Handlungen, sondern in emotionalen Gefühlsmustern zeigen. Sie wird auch damit einverstanden sein, dass die Tugenden keine starren Gewohnheiten sind, sondern im Rahmen einer Anwendung der praktischen Vernunft flexibel. Es gibt aber mindestens vier Punkte, bei denen es wahrscheinlich ist, dass man nicht mit Aristoteles übereinstimmt; diese könnte man unter den Titeln Grundlegung, Inhalt, Einheit, und Wirklichkeit zusammenfassen. Grundlegung. Aristoteles meinte, dass die Tugenden (für die das Wort in seiner Sprache, dem Altgriechischen, einfach ‚Vortrefflichkeit‘ war, siehe Aretē) einen teleologischen Grund hätten, und zwar in dem Sinne, dass sie für die vollständigste Entwicklung einer gewissen Art natürlicher Schöpfung stehen, d.h. für einen feh1806
Tugenden und Laster
lerlosen Mann. Heute wird niemand mehr Aristoteles darin zustimmen, dass es Geschöpfe gibt, die biologisch Menschen sind, und die als Frauen oder als ‚natürliche Sklaven‘ dennoch von dieser vollen Entwicklung ihrer Natur ausgeschlossen sind. Nachdem sie seine Ansichten über Frauen und Sklaven aufgegeben haben, stehen moderne Denker vor der schwierigeren Frage, wir weit sie mit Aristoteles hinsichtlich der natürlichen Grundlage der Tugenden übereinstimmen. Die wirft auf der anderen Seite die Frage auf, wie sicher man sich hinsichtlich der aristotelischen Teleologie ist. Eine Interpretation lautet, dass er über eine umfassende praktische Konzeption der Inhalte des Universums verfügte, bei der jene Art von Geschöpf in ein allgemeines, zu entdeckendes Muster passt. Nach einer solchen Konzeption können wesentliche Teile der Tugendtheorie im Wege einer systematischen Untersuchung vom Speziellen zum Allgemeinen entdeckt werden, wodurch wir erfahren, welche Art von Geschöpf der Mensch ist, und folglich auch, welches das beste Leben für sie sein wird (siehe Teleologische Ethik). Andere Interpreten stellen das aristotelische Unternehmen etwas bescheidener dar, derzufolge seine Absichten durch eine hermeneutische Untersuchung dessen belohnt werden, was wir heute als die grundlegendsten und wertvollsten Aspekte des menschlichen Lebens ansehen. Inhalt. Was dem aristotelischen Denken, wie auch anderen antiken Denkern unbestreitbar fehlt, ist die historische Dimension. Einige moderne Tugendtheoretiker teilen leider diese Schwäche. Aristoteles’ Darstellung unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der Darstellung der Tugenden, die man heute entwerfen könnte, und zwar sowohl hinsichtlich dessen, was sie behauptet, als auch dessen, was sie auslässt. Er räumt einer Qualität, die er ‚megalopsychia‘ (dt.: ‚Größe der Seele‘) nennt, eine besonders hohe Stellung ein, die viel mit ‚großartigem‘ Sozialverhalten zu tun hat, und die zur zeitgenössischen Ethik in noch geringerer Beziehung steht, als ihr Titel an sich bereits vermuten ließe. Eine moderne Person, die nach den hauptsächlichen Tugenden befragt wird, könnte durchaus die Freundlichkeit und Fairness benennen. Die Fairness steht in Beziehung zur wichtigen aristotelischen Tugend der Gerechtigkeit, doch diese definiert sich in weitem Umfange nach politischen und bürgerlichrechtlichen Maßstäben und berücksichtigt nur sehr eingeschränkt die Fairness als ein persönliches Charaktermerkmal. Die Freundlichkeit ist überhaupt keine aristotelische Tugend. Er berücksichtigt noch nicht einmal die wichtige moderne Tugend der Wahrhaftigkeit. Was Aristoteles die ‚Tugend der Wahrheit‘ nennt, beschäftigt sich – für uns überraschenderweise – ausschließlich mit der Prahlerei bzw. der Bescheidenheit. Es fand historisch offenkundig eine Veränderung in dem statt, was als der Inhalt von Tugenden gesehen wird. Thomas von Aquin, der auf bedeutende Weise die aristotelische Darstellung weiter entwickelte, modifizierte sie natürlich zwecks Anpassung an das Christentum, vor allem durch seine Behauptung, dass neben den moralischen Tugenden auch noch ‚theologische‘ Tugenden bestünden, die Gott selbst zum unmittelbaren Gegenstand haben. Die Heiden seien noch nicht in der Lage gewesen, dies darzustellen, aber sofern es die moralischen Tugenden betreffe, konnten sie im Lichte der natürlichen Vernunft durchaus wahrhaft tugendhaft sein. Dennoch sei ihre Tugendhaftigkeit, selbst auf dieser Ebene, immer noch auf gewisse Weise unvollkommen, weil die Gesamtheit des ethischen Lebens, so Thomas, nur richtig auf einer Tugend gegründet sein kann, die er Barmherzigkeit nannte, und die göttlichen Ursprungs sei. 1807
Tugenden und Laster
Bei Hume dienen Aristoteles’ Darstellung und andere heidnische Quellen der Unterstützung einer Tugendethik, die exakt so beschaffen war, dass sie das Christentum diskreditierte und ausschloss (siehe Hume, D., § 6). Die historische Entwicklung, sowohl in der philosophischen Formulierung und in der kulturellen Umsetzung der Tugenden, wirft weitere Fragen zum Verständnis der Tugendtheorien auf. Die Konzeptionen des menschlichen Wesens und der conditio humana, die solchen Theorien zugrunde liegt, sind in Anbetracht sich ändernder Werte einer ausgedehnten Neuinterpretation ausgesetzt, und die aristotelische Annahme, dass ein Verständnis des menschlichen Wesens auch zu einer bestimmten Vorstellung seiner Tugenden führen könnte, scheint unrealistisch, selbst wenn man diese Idee recht anspruchslos interpretiert. Es gibt natürlich psychologische und sonstige umständebedingte Konstanten des Menschen, die zu gewissen Tugenden führen, und in der einen oder anderen Fassung sind sie deshalb allgegenwärtig; in jeder Gesellschaft brauchen Menschen so etwas wie Mut, Selbstkontrolle im Hinblick auf ihren Zorn und ihre sexuellen Begierden, und auch irgendeine Form der Klugheit. Solche Plattitüden, die von jenen betont werden, die nach einer substanziell universellen Tugendtheorie Ausschau halten, leiden unter einer ernsthaften Unterbestimmtheit des Inhalts einer solchen Theorie. Dies lässt sich durch die sehr einfache Überlegung zeigen, dass die konstanten Merkmale des menschlichen Lebens tatsächlich an sich selbst gleich bleiben, die Tugenden aber, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kulturen anerkannt wurden, doch einem beträchtlichen Wandel ausgesetzt sind. 3. Jenseits von Aristoteles (Forts.): Einheit und Wirklichkeit Einheit. Aristoteles erbte von Platon und damit letztlich von Sokrates das Interesse an der Einheit der Tugenden (siehe Sokrates, § 5). Sokrates scheint behauptet zu haben, dass es im Grunde nur eine Tugend gebe, die er Weisheit oder Wissen nannte. Die konventionelle Unterscheidung zwischen den verschiedenen Tugenden der Gerechtigkeit, der Selbstkontrolle, des Mutes usw. bezeichnet bei ihm nur unterschiedliche Anwendungsgebiete dieser Macht. Aristoteles dachte dagegen schon, dass es verschiedene Tugenden gibt, doch lief seine Auffassung gleichwohl ungefähr auf dieselbe wie die von Sokrates hinaus, weil er dachte, dass man nicht eine Tugend besitzen kann, ohne gleichzeitig alle zu besitzen. Jemand könnte nicht wirklich eine der Tugenden allein besitzen, solange er nicht auch im Besitz der intellektuellen Tugend sei, die in der aristotelischen Sprache phronēsis (oft als ‚praktische Weisheit‘ übersetzt) heißt. Aristoteles meinte allerdings, dass jemand, der im Besitz dieser Qualität sei, auch alle übrigen Tugenden aufweise. Es ist nicht schwierig, die allgemeine Idee zu sehen, die dieser Position zugrunde liegt. Die Großzügigkeit ist mit der Gerechtigkeit verknüpft: jemand, der nur das hergibt, was die Gerechtigkeit von ihm verlangt, ist nicht großzügig. Entsprechendes lässt sich über die Beziehungen einiger anderer Tugenden sagen. Es ist für die Tugendtheorie jedoch wichtig, dass sie die psychologischen genauso wie die normativen Erklärungen liefert, und aus einem psychologisch realistischen Gesichtspunkt ist es schwer zu bestreiten (was auch viele antike Griechen neben Sokrates und Aristoteles bestätigt haben), dass jemand einige Tugenden aufweisen kann, während ihm andere fehlen. Insbesondere können die so genannten ‚vollziehenden‘ Tugenden des Mutes und der Selbstkontrolle auch ohne andere Tugenden gegenwärtig sein; tatsächlich können sie sicherlich sogar noch in der Verfolgung von niederträchtigen 1808
Tugenden und Laster
Vorhaben Anwendung finden (der ‚mutige‘ Räuber). Eine Weigerung, dies anzuerkennen, beruht vielleicht nur auf der ethischen Abneigung, ‚schlechten‘ Menschen moralische Rückendeckung zu geben. Der Umstand, dass die Tugenden in gewissem Umfange voneinander getrennt werden können, lässt die Tugendtheorie noch sinnvoller erscheinen. Einige moderne ethische Theorien implizieren, dass es im Grunde nur eine einzige moralische Neigung gebe. Der Utilitarismus, zumindest in seiner direkten Form, ordnet alles ethische Verhalten unter dem unparteiischen Wohlwollen ein (siehe Utilitarismus; Unparteilichkeit). Und obwohl Kant selbst seine eigene Tugendtheorie aufstellte, besteht der Kantianismus auf dem Vorrang des Pflichtgefühls (siehe Kant, I., §§ 9-11); Kantische Ethik). Ein Vorteil der Tugendtheorie ist es, dass sie eine komplexere und realistischere Darstellung der ethischen Beweggründe erlaubt. Diesbezüglich kann sie auch psychologische Verbindungen zwischen den ethischen und anderen Aspekten des Charakters anerkennen, ferner akzeptieren, dass das Temperament der Menschen etwas damit zu tun hat, wie sie sich selbst ethisch verhalten. Aus demselben Grunde steht die Tugendtheorie implizit im Widerspruch zu einer scharfen Abgrenzung zwischen dem moralischen und dem unmoralischen Bereich, und er neigt zur Anerkennung, dass es ein Spektrum wünschenswerter Charaktermerkmale gibt, und dass man keine feste oder hilfreiche Linie um diejenigen ziehen kann, die von besonderer moralischer Bedeutung sind. Aristoteles versuchte nicht einmal, eine solche Linie zu ziehen; seine eigene Terminologie unterscheidet nur zwischen den Vorzüglichkeiten des Charakters und den Vorzüglichkeiten des Intellekts, und eine der letzteren, die phronēsis, ist selbst notwendige Voraussetzung einer charakterlichen Vorzüglichkeit. Hume, der anders als Aristoteles von Moralisten umgeben war, die eine solche Linie ziehen wollten, macht extra einen Umweg, um diejenigen zu verspotten, die versuchen eine solche Linie zu ziehen, und seine wohlüberlegt anzügliche Behandlung des Thema ist immer noch sehr instruktiv. Wirklichkeit. Aristoteles konzipierte die Tugenden als ein objektives Neigungsmerkmal von Menschen, die sie mindestens in einem so robusten Sinne aufweisen, wie ein Magnet die Kraft zur Anziehung von Metall aufweist, selbst wenn Menschen, anders als Magneten, sich diese Neigung durch Gewöhnung natürlich erworben haben. Moderne Skeptiker jedoch, die in gewissem Umfang von Sozial- und Kognitionspsychologen unterstützt werden, hinterfragen, ob wir eine solch naive Ansicht darüber vertreten können, was es heißen soll, dass jemand eine Tugend aufweist. Dieser Zweifel hat mindestens zwei Quellen. Die eine ist der Umfang, in dem die menschlichen Reaktionen von Situationen abhängen: es wird behauptet, dass eine gegebene Tugend nur innerhalb eines relativ engen Kreises anerkannter Handlungskontexte zum Ausdruck kommt, und wenn die diesbezüglich üblichen Erwartungen aufgehoben oder in einigen Fällen sogar nur leicht verschoben werden, diese Anerkennung bereits versagt wird. Der andere Zweifel betrifft die Zuschreibungen von Tugendhaftigkeit. Wenn wir das Verhalten der Menschen im Sinne von Tugenden oder Lastern oder tatsächlich noch anderen Charakterbegriffen verstehen, so wählen wir eine stark interpretierte Weise ihres Verhalten aus, nämlich diejenige, wie wir es verstehen, und die Art und Weise, wie wir dies tun (und wie wir tatsächlich auch viele anderen Dinge verstehen) erfolgt nach Maßgabe von Stereotypen, Rollenvorschriften oder Standardbildern, die von groben ‚Charakteren‘ bis hin zu hoch entwickelten und eher indivi1809
Tugenden und Laster
duierten Entwürfen reichen, die mit Hilfe von Typen konstruiert werden, die häufig fiktiv sind. Der verfügbare Bereich solcher Bilder macht einen Teil der beweglichen Geschichte der Tugenden aus. Zu unterschiedlichen Zeiten gab es ‚Musterbücher‘ der Tugenden und Laster, und eines der ersten war jenes mit dem Titel ‚Charaktere‘ von Theophrast, einem Schüler von Aristoteles. Selbst wenn man davon ausgeht, dass solche Ideen richtig sind, ist es doch nicht ganz klar, in welchem Umfange sich dies negativ auf die Tugendtheorie auswirkt. Jeder weiß, dass die Tugenden nicht unter allen Umständen zur Geltung kommen, sowie dass Akteure in ihrer Fähigkeit zum Verständnis sehr steif sein können, wie eine Situation im Hinblick auf ihre Tugendhaftigkeit zu beurteilen sei. Wenn es richtig ist, dass wir unsere Interpretationen des Charakters einer anderen Person nach Maßgabe eines Bildervorrates konstruieren, so ist es, wie gesagt, im Hinblick auf die Zuschreibung sehr wichtig, dass andere Personen dies ebenfalls tun. Worauf es hier ankommt, ist nicht so sehr, dass es eine Lücke zwischen dem Interpreten und der interpretierten Person gibt, sondern vielmehr, dass wir alle als Interpreten von uns selbst, wie von anderen, ein gemeinsames Vorratsmaterial nutzen, das eine Geschichte hat. Es gibt an diesen Ideen für die Ethik im Allgemeinen und für die Tugendtheorie etwas zu lernen, doch müssen diese Lektionen nicht unbedingt in die Skepsis führen. Der situative Charakter der Tugenden und ihre zuschreibende Einordnung dient dazu uns daran zu erinnern, dass die Tugenden eines Akteurs auf viele und unterschiedliche Weisen von ihren Beziehungen zur Gesellschaft abhängen; nicht nur, dass sie schlicht von der Gesellschaft erworben und durch soziale Kräfte gestärkt oder geschwächt werden, sondern auch, wie sie aus sozial gemeinsam genutzten Vorräten an Vorstellungen, Bildern, Interpretationsmustern etc. konstruiert werden. 4. Laster, Verfehlungen und das Böse Aristoteles benannte eine Vielzahl von Lastern, von denen jede im Grunde aus der Abwesenheit des begrenzenden oder Gestalt gebenden Einflusses der Tugend resultiert, zusammen mit dem Wirken irgendeines natürlichen, auf sich selbst bezogenen Beweggrundes. So war die Feigheit für ihn die Neigung, sich unter Abwesenheit des Mutes der Angst zu ergeben, die Zügellosigkeit und der Jähzorn die Neigung, sich der körperlichen Lust und der Raserei zu ergeben. Im Bereich dessen, was man ‚Verfehlungen‘ nennen könnte, haben Handlungen, die Ausdruck von Lastern sind, ganz bestimmte Beweggründe, doch diese sind an sich selbst nicht unbedingt schlechte Beweggründe; es ist vielmehr so, dass natürliche Beweggründe auf eine Art und Weise zum Ausdruck kommen, wie dies bei einer tugendhaften Person nicht der Fall wäre. Es gibt noch andere Verfehlungen, in denen der Beweggrund des Akteurs sehr bedauerlich sein kann, weil sie auf der Übertreibung, der Parodierung oder der Perversion einer Tugend beruhen, z.B. eine offenkundige Neigung zur Verteilung von Geschenken oder Vorteilen anstelle von Großzügigkeit, oder – als modernes Beispiel – die Sentimentalität anstelle von Freundlichkeit. Aristoteles vermerkt einige Verfehlungen dieser Art, aber im Sinne seiner ‚Lehre vom Bösen‘ übervereinfacht er ihre Psychologie unter einer ungeprüften Kategorie des Exzesses. Ein spezieller Fall in Aristoteles’ Behandlung der Tugenden ist die Gerechtigkeit. Zumindest auf der Handlungsebene könnte man meinen, dass es keine bestimmten Beweggründe für die Ungerechtigkeit geben. Eine Person kann aus einer 1810
Tugenden und Laster
Vielzahl von Beweggründen ungerecht handeln, und tatsächlich erwähnt Aristoteles die Möglichkeit, dass ein feiger Mensch andere ungerecht behandelt, um damit ein ungerechtes Maß an Sicherheit zu erlangen. Verallgemeinert man dies, so kann man eine ungerechte Person als jemanden verstehen, die nicht etwa typische Motive hat, sondern vielmehr als jemanden, der einfach unempfänglich ist für Überlegungen der Gerechtigkeit. Allerdings führt Aristoteles einen ganz bestimmten Beweggrund für die Ungerechtigkeit ein, und zwar die ‚Gier‘, oder den Wunsch, mehr als andere zu haben. Eine ungerechte Person, im Gegensatz zu jemandem, der irgendein anderes Laster aufweist, in dessen Folge er ungerecht handelt, ist für Aristoteles insbesondere ein gieriger Charakter, d.h. jemand, den man in moderner Ausdrucksweise grob als Schlitzohr bezeichnen könnte. Aristoteles vermerkt ferner eine weitere Art von Verfehlung oder Mangel, nämlich einen Mangel an Wahrnehmung von oder Gefühl für andere, doch wird diese Verfehlung bei ihm üblicherweise als eine extreme Charaktereigenschaft angesehen, die nicht auf der Skala des Ethischen liegt; dies ist eine Form der Brutalität oder Tierhaftigkeit, die buchstäblich aus der Kategorie des Menschlichen herausfällt. Die Tatsache, dass er nichts weiter über die etwas ‚domestizierteren‘ Formen solcher Verfehlungen zu sagen hat, die uns sehr vertraut sind, entspricht seiner mangelnden Anerkennung der Freundlichkeit als Tugend. Aus der ganzheitlichen und teleologischen Konzeption der Tugenden als der Erfüllung der höchsten menschlichen Fähigkeiten bei Aristoteles folgt, dass die Laster grundsätzlich als Verfehlungen betrachtet werden sollten, d.h. als Fälle eines Mangels oder einer Abwesenheit von etwas. Dies lässt jedoch wenig Raum für einen Begriff des Lasterhaften; am nächsten kommt Aristoteles einer solchen Idee mit der Figur des besessenen und rücksichtslosen Hedonisten. Wir besitzen leider nur zu deutlich Vorstellungen von der Lasterhaftigkeit, die tiefer gehen und bedrohlicher sind als die aristotelische. Sie weisen auf einen Begriff, der bei Aristoteles auffallend fehlt (wenn auch vielleicht in geringerem Umfange bei Platon), nämlich dem Begriff des Bösen. Dies führt deutlich über eine Konzeption der Laster als Verfehlungen hinaus, und zwar auch über eine der sehr ernsten Verfehlungen. Unter den bösen oder lasterhaften Beweggründen ist ein Grundtypus die Grausamkeit, d.h. der Wunsch zur Erzeugung von Leiden, was eine Neigung ist, die sich, worauf schon Nietzsche hinwies, auf markante Weise von der Brutalität unterscheidet: ihr fehlt es nicht etwa an der Empfindlichkeit für das Leiden anderer, sondern weist diese gerade genauso wie die Freundlichkeit auf. In den typischsten Erscheinungsformen der Grausamkeit leiten Akteure ihre Lust aus dem Empfinden ab, dass sie selbst den Schmerz oder die Frustration anderer produzieren, und ihr grausames Verhalten ist unmittelbar der versuchte Ausdruck von Macht und deren Genuss. Gänzlich anders steht es mit der Bösartigkeit, auch wenn sie der Grausamkeit nahe steht. Die Bösartigkeit umfasst einen Beweggrund in der Art des Neids, wo der Wunsch lediglich darin besteht, dass andere Menschen nicht glücklich sind. Personen in diesem geistigen Zustand können Lust empfinden, wenn andere trauern, selbst wenn sie dies nicht selbst verursacht haben. Alberich sagt in Wagners ‚Götterdämmerung‘: ‚Hagen, mein Sohn! Hasse die Frohen!‘. Ein solcher Hass kann sich auf vielerlei Art ausdrücken, von denen nur einige die spezifisch aktive Lust an der Grausamkeit mit sich bringen.
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Tugenden und Laster
Manchmal mag die Grausamkeit mit der Freundlichkeit nicht nur die entsprechenden Wahrnehmungen teilen, sondern sich selbst sogar als eine ‚negative Freundlichkeit‘ darstellen, indem sie berechnet, was eine freundliche Person wohl unternehmen würde, um dies dann zu parodieren oder zu unterlaufen. Dies nimmt dann bereits einen perversen Charakter an. Diese Art von Umkehrung kann auch auf andere Tugenden als nur die Freundlichkeit angewandt werden. Es gibt eine ‚Gegengerechtigkeit‘ im Sinne einer Neigung, die Ziele der Gerechtigkeit zu vereiteln, und zwar nicht einfach im eigenen Interesse oder um eine bestimmte Person zu schädigen oder zu entmutigen, die man hasst oder beneidet, sondern einfach zur Lustgewinnung aus der Verhinderung der Gerechtigkeit an sich und aus den Enttäuschungen derjenigen mit einem guten Willen. Als Grenzfall ist dies wie eine beinahe selbstlose Ästhetik des Schreckens denkbar, d.h. eine der weniger auffälligen Formen, derer sich vielleicht Miltons Satan annehmen würde mit seinem Vorsatz, das Böse einfach als sein persönliches Gutes aufzufassen. 5. Verknüpfungen von Tugend und Laster Anders als die Verfehlungen, die von Aristoteles als solche anerkannt wurde, sind diese bösen Beweggründe mehr als reine Verneinungen. Es ist jedoch wichtig, dass dies nicht als metaphysische Behauptung gesehen wird: man muss sich diesbezüglich nicht einem manichäischen Weltbild oder den sehr unterschiedlichen Kompromissen mit einer solchen Sichtweise, die durch das orthodoxe Christentum vermittelt wurden, verbunden fühlen um zu meinen, dass die Welt selbst einige sehr destruktive Prinzipien aufweist. Man kann beispielsweise meinen, wie dies wohl einige optimistische psychotherapeutische Programme tun, dass lasterhafte und grausame Beweggründe tatsächlich Perversionen sind, die durch eine Liebesstörung oder einen anderen Mangel im individuellen Aufwachsen verursacht wurden. Dies ist eine ermutigende Position, insofern sie die Hoffnung auf eine Welt aufrechterhält, die von solchen Beweggründen frei ist, doch sie meint nicht, dass solche Beweggründe, solange sie existieren, nur als ein Mangel an formendem oder einschränkendem Einfluss zu verstehen seien. Unter dieser Position würde man akzeptieren, dass lasterhafte Beweggründe etwas Besonderen und erfinderisch aktiv sind. Andere psychologische und soziale Sichtweisen sind weniger hoffnungsvoll. Es ist nicht nur einfach so, dass sie keinen Grund für utopische Hoffnungen sehen, nach denen die Welt jemals von bösen Beweggründen befreit werden wird. Einige dieser Auffassungen entdecken tiefere Arten und Weisen, auf denen die Tugend, und im Allgemeinen das Gute, von seinem jeweiligen Gegenteil abhängt. Auf der oberflächlichsten Ebene gibt es zeitgenössische Fassungen dieses Einwandes, der bereits in Mandevilles ‚Fable of the Bees‘ (dt.: ‚Die Bienenfabel‘, 1714) (siehe Mandeville, B.) erhoben wurde: viele Vorteile, einschließlich ethischer, ergaben sich aus der Entwicklung der kommerziellen Gesellschaft, doch ist kein Weg bekannt, wie man die Habgier als Mittel zur Erhaltung einer solchen Gesellschaft ersetzen kann. Auf einer weiteren Ebene besteht kein Zweifel, dass wertvolle menschliche Leistungen z.B. in der Kunst und den Wissenschaften nur deshalb hervorgebracht wurden, weil eine gewisse Indifferenz gegenüber den Werten der Gerechtigkeit und des Wohlwollens bestand, und zwar sowohl auf institutioneller Ebene, als auch in den Leben jener, die diese Leistungen bewirkt haben. (Hier, wie so oft, sehen sich die Moralisten der Fra-
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Tugendepistemologie
ge ausgesetzt, ob sie erleichtert sind, dass die Werte, denen sie Vorrang zusprechen, nicht immer diesen Vorrang genossen.) Auf der tiefsten Ebene besteht nicht nur einfach die Frage, ob nichtethische Werte womöglich die Vernachlässigung oder die Leugnung der Moral erfordern, sondern ob die Moral selbst nicht dies voraussetzt. Eine der Illusionen des Metaphysikers, sagte Nietzsche 1886, sei der Glaube an einander entgegengesetzte Werte. Tatsächlich glaubte er, dass moralische Werte sich immer als etwas erweisen, was sein Gegenteil impliziert, und zwar historisch als die Art und Weise, wie neue moralische Werte entstehen, sozial als die Art und Weise, wie sie sich selbst erhalten, und psychologisch als die Art und Weise, wie sie erlernt werden und woher sie ihre Energie beziehen. Selbst wenn wir die Kraft des Nietzscheschen Verdachts akzeptieren, muss dies das Projekt eines Denkens über die Moral auf eine Weise, die den Tugenden und Lastern einen wichtigen Platz einräumt, nicht beschädigen, sondern kann dies sogar stärken. Eine Theorie der Tugenden, die auf wahrhaftige Weise behandelt wird, offeriert uns eine größere Hoffnung darauf, dass sie psychologisch realistischer ist, als andere markante Bilder des ethischen Lebens. Wenn diese Theorie ferner ihren Realismus auch auf die Beweggründe zur Unmoral erstreckt und diese nicht nur als reine Negationen moralischer Neigungen behandeln, so wird man auch die Moral selbst besser verstehen. Eine solche Theorie wird dann erfolgreicher sein als andere Moraltheorien, die üblicherweise in ein Verschweigen jener Kräfte verfallen, die ihnen entgegenstehen, oder sie werden sie einfach als Gegenstände moralischen Missfallens registrieren, oder aber sie schlicht als Produkte einer (typischerweise unerklärten) kognitiven Verfehlung behandeln. Siehe auch: Menschliche Natur; Gerechtigkeit; Mencius; Moralisches Urteil, § 4; Nietzsche, F.; Wahrhaftigkeit Anmerkungen und weitere Lektüre: French, P.A., Uehling, T.E. und Wettstein, H.K. (Hrg.) (1988): ‚Ethical Theory: Character and Virtue‘. Midwest Studies in Philosophy, Bd. 13. Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press. (Eine nützliche Sammung von Aufsätzen zur zeitgenössischen Tugendtheorie.) Sherman, N. (1989): ‚The Fabric of Character: Aristotle’s Theoriy of Virtue‘. Oxford: Clarendon Press. (Eine nützliche philosophische Diskussion unterschiedlicher Interpretationen der aristotelischen Tugendethik.) BERNARD WILLIAMS
Tugendepistemologie
Der Name ‚Tugendepistemologie‘ (auch ‚Tugenderkenntnislehre‘ genannt) bezeichnet eine Klasse von Theorien, die grundlegende erkenntnistheoretische Begriffe wie z.B. jenen der Rechtfertigung oder des Wissens, als Eigenschaften von Personen, und nicht als Eigenschaften von Überzeugungen betrachten. Einige dieser Theorien erklären einen überzeugungsbildenden Prozess zum grundlegenden Begriff, der die Rechtfertigung oder das Wissen zur Folge hat, oder auch eine Fähigkeit zur Bildung von Überzeugungen, oder alternativ eine andere, entsprechend funktionierende Fähigkeit. Für andere ist der grundlegende Begriff jener einer erkenntnistheoretischen oder intellektuellen Tugend im Sinne eines Tugendbegriffs, wie er in der Ethik verwendet wird. In allen diesen Theorien beruht die erkenntnistheoretische Bewertung auf einigen tugendhaften Eigenschaften der Person, durch die sie 1813
Tugendethik
in die Lage versetzt wird, auf eine kognitiv wirksame und empfehlenswerte Weise zu handeln, auch wenn nicht alle hierfür den Ausdruck ‚Tugend‘ verwenden. Die früheren, einfacheren Formen der Prozesszuverlässigkeit versteht man am besten als Vorgänger der Tugendepistemologie, denn letztere entstand auf dem Boden der früheren und hat ihr Erkenntnisvoraussetzungen hinzugefügt, die die Idee eines epistemischen Verhaltens erfassen sollten, das subjektiv verantwortlich und auch objektiv zuverlässig ist. Die Verfechter der Tugendepistemologie behaupten eine Anzahl von Vorteilen dieser Theorie. Sie soll Diskussionen zwischen Letztbegründungstheoretikern und Kohärenztheoretikern über die richtige kognitive Struktur umgehen, skeptische Einwände und auch die ausweglose Situation zwischen Internalismus und Externalismus vermeiden, sowie den Bereich der erkenntnistheoretischen Untersuchung auf eine Weise erweitern, die die Wiedergewinnung solcher vernachlässigter erkenntnistheoretischer Werte wie das Verstehen und die Weisheit erlaubt. Siehe auch: Konfuzianische Philosophie, Chinesische; Rechtfertigung, Erkenntnistheoretische
LINDA ZAGZEBSKI
Tugendethik Einführung Die Tugendethik hat ihren Ursprung in der Antike, insbesondere in den Schriften von Platon und Aristoteles. Sie erfuhr eine Wiederbelebung durch einen kritischen Aufsatz von G.E.M. Anscombe zur modernen Ethik, der dort eine Rückkehr zur Tugendethik vorschlug. Einige Autoren meinten, dass die Tugendethik eine dritte Option in der Moraltheorie neben dem Utilitarismus und dem Kantianismus sei. Die Utilitaristen und die Kantianer haben darauf energisch geantwortet und plausiblerweise behauptet, dass ihre Ansichten bereits viele der Thesen enthalten, die angeblich typisch für die Tugendethik seien. Die Theorie der Tugenden, d.h. das Studium solcher Begriffe wie ‚Charakter‘, die mit den Tugenden in Verbindung stehen, führte zur Wiederaufforstung bereits als unfruchtbar abgetaner Gebiete. Dies bezieht sich auf Fragen wie: Was ist ein gutes Leben, und welche Rolle spielen die Tugenden in ihr? Wie streng sind die moralischen Anforderungen zu verstehen? Sie moralische Gründe unabhängig von den spezifischen Interessen des Handelnden? Ist die moralische Vernunft universell? Erfasst man die Moral durch eine Menge von Regeln, oder steht die Sensibilität einer tugendhaften Person im Mittelpunkt der Ethik? Aus der Tugendethik und der Theorie der Tugenden, von der sie ein Teil ist, ergaben sich Antworten auf diese Fragen, die gleichzeitig in antiken Ansichten wurzeln und doch auch spezifisch modern sind. 1. Aristoteles und die antike Tugendethik 2. Moderne Tugendtheorie 3. Das Gute des Handelnden und die Anforderungen der Moral 4. Tätigkeit und Motivation 5. Universalität und Tradition 6. Praktische Vernunft 1814
Tugendethik
1. Aristoteles und die antike Tugendethik Moderne Tugendethiker beanspruchen oft, dass Aristoteles ihr Vorfahr sei. Aristoteles arbeitete sich wiederum durch eine Themenliste, die von Platon und Sokrates vorgegeben worden war. Sokrates stellt die Kernfrage der griechischen Ethik: ‚Wie sollte man leben?‘ Alle drei Philosophen glaubten, dass die Antwort auf diese Frage laute: ‚Tugendhaft.‘ (siehe Tugenden und Laster, §§ 1-3). Die antike philosophische Aufgabe war es zu zeigen, wie ein tugendhaftes Leben am besten für die tugendhafte Person sei. Platons ‚Staat‘ versucht auf die Herausforderung des Thrasymachos zu antworten, dass vernünftige Menschen das Ziel haben werden, die meiste Lust, Ehre und Macht für sich selbst zu erlangen. Sein Argument hierfür ist, dass Gerechtigkeit, grob gesagt, mit der vernünftigen Seelenordnung zu identifizieren sei. Wenn man dahin gelangt, dass man sich mit seiner Vernunft identifiziert, so wird man auch einsehen, dass gerecht zu sein tatsächlich ebenfalls das Beste für einen selbst ist. Thrasymachos könnte hierauf natürlich antworten, dass er sich mit seinen Wünschen identifiziert. Aristoteles setzt dasselbe Unternehmen fort, indem er zu zeigen versucht, dass die menschliche eudaimonia, das Glück, in der Ausübung (und nicht nur dem reinen Besitz) von Tugenden liegt (siehe Eudaimonia; Glück). Der Dreh- und Angelpunkt seiner Position ist sein ‚funktionales‘ Argument, demzufolge das menschliche Wesen durch die Tugend vollkommen ist. Hierauf wird regelmäßig eingewandt, dass dahinter eine Verwechslung der Begriffe des guten Menschen und des Guten für den Menschen stehe. Letztlich ähnelt Aristoteles’ Methode derjenigen von Platon. Große Teile der ‚Nikomachischen Ethik‘ schildern tugendhafte Menschen, die versuchen, uns zu einem Leben wie dem ihrigen zu bewegen. Für Aristoteles besitzt die wahrhaft tugendhafte Person alle ‚praktischen‘ Tugenden, und diese ist damit ein Mensch der ‚praktischen Weisheit‘ (dies ist Aristoteles’ zentrale ‚intellektuelle‘ Tugend). Sokrates glaubte, dass die Tugend eine Einheit sei, die allein aus Wissen bestehe. Aristoteles’ Position ist dagegen eine der Wechselseitigkeit: der Besitz einer Tugend impliziert den Besitz aller Tugenden. An diesem Punkte gesellt er sich zu Sokrates und Platon in ihrem Widerspruch gegen den griechischen Alltagsverstand. Dieser Widerspruch gegen den Alltagsverstand findet sich nicht in der modernen Tugendethik. 2. Moderne Tugendtheorie Die Theorie der Tugenden ist jener allgemeine Bereich philosophischer Untersuchung, der sich mit den Tugenden beschäftigt oder zu ihnen in Beziehung steht. Sie umfasst die Tugendethik als eine Theorie darüber, wie wir handeln oder leben sollten. Diese Bestimmung ist vielleicht etwas grob, doch ist sie wichtig um zu verstehen, dass vieles der modernen Tugendtheorie von Autoren stammt, die selbst gar keine Befürworter der Tugendethik sind. Die Tugendtheorie hat seit der Veröffentlichung von G.E.M. Anscombes Aufsatz ‚Moderne Moralphilosophie‘ (1958) eine Wiederauferstehung erfahren (siehe Anscombe, G.E.M.). Anscombe glaubte, dass es ein Fehler sei, ein Fundament der Moral zu suchen, das auf legalistischen Begriffen wie ‚Verpflichtung‘ oder ‚Pflicht‘ im Zusammenhang mit einem allgemeinen Unglauben an die Existenz eines göttlichen Gesetzgebers als Quelle einer solchen Verpflichtung zu suchen. Sie empfahl der Philosophie der Psychologie, den Platz der Moralphilosophie einzunehmen, bis 1815
Tugendethik
angemessene Darstellungen solcher zentraler Begriffe wie ‚Handlung‘ und ‚Absicht‘ verfügbar seien. Dann, so schlug sie vor, könnten die Philosophen zur Moralphilosophie im Wege einer Tugendethik zurückkehren. Was aber ist Tugendethik? Man ist versucht, sie als eine Theorie zu beschreiben, die sich für ein tugendhaftes Handeln einsetzt, aber dies ist zu ungenau. Die Tugendethik wird üblicherweise als eine Alternative zum Utilitarismus oder ganz allgemein zum Konsequenzialismus betrachtet (siehe Konsequenzialismus; Utilitarismus). Einfach gesagt behauptet der Utilitarismus, dass wir den menschlichen Nutzen oder sein Wohlergehen maximieren sollten. Ein Utilitarist wird jedoch vielleicht für ein tugendhaftes Handeln lediglich aus utilitaristischen Gründen eintreten. Die ethischen Theorien versteht man am besten nicht nach Maßgabe dessen, welche Handlungen sie verlangen, sondern in Ansehung der Gründe, die für das Handeln angeboten werden, das, auf welche Weise auch immer, gefordert wird. Welche Handlungseigenschaften sind nun nach der Tugendethik ein Grund, sie vorzunehmen? Nun, die Eigenschaften der Freundlichkeit, des Mutes etc. Hier muss allerdings bemerkt werden, dass es einen Unterschied zwischen dem tugendhaften Handeln und der Ausführung einer tugendhaften Handlung gibt. Die Ausführung einer tugendhaften Handlung kann unter gewissen Umständen als das tugendhafte Handeln einer Person angesehen werden, selbst wenn diese Person gar nicht tugendhaft ist. Die Tugendethik beschäftigt sich deshalb nicht nur mit isolierten Handlungen, sondern mit dem Charakter oder der Gesinnung des Handelnden. Es gibt Gründe für das Tun bestimmter Dinge, wie z.B. weil sie freundlich sind, und auch dafür, eine bestimmte Art von Person zu sein, z.B. eine freundliche Person. Diese Darstellung der Tugendethik versetzt uns in die Lage, sie von ihrem anderen Hauptwidersacher zu unterscheiden, der Deontologie oder dem Kantianismus (siehe Deontologische Ethik; Kant, I., §§ 9-10; Kantische Ethik). Ein Kantianer könnte beispielsweise behaupten, dass mein Grund dafür, die Wahrheit zu erzählen, sei, dass er mit dem kategorischen Imperativ im Einklang steht. Dies ist eine Eigenschaft der Handlung, die Wahrheit zu sagen, und ist damit etwas ganz anderes als ihre Aufrichtigkeit. 3. Das Gute des Handelnden und die Anforderungen der Moral Eine reine Form der Tugendethik wird vorschlagen, dass tugendhafte Eigenschaften, also ‚reichhaltige‘ Eigenschaften von Handlungen im Gegensatz zu ‚mageren‘ Eigenschaften wie der (einfachen) Richtigkeit oder der Güte, unsere einzigen Gründe zu ihrer Vornahme sind. Aristoteles kam dieser Haltung nahe; vielleicht ist es aber plausibler, ihn so zu interpretieren, dass die Rationalität der Tugend in ihrer Förderung der größten eudaimonia (dt.: Glückseligkeit) des Handelnden liegt. Aristoteles’ Sichtweise ist gleichwohl radikal. Da meine eudaimonia nur in der Ausübung meiner Tugenden liegt, habe ich (Aristoteles zufolge) keinen Anlasse für ein nicht tugendhaftes Leben. Etwas üblicher als die Reinform der Tugendethik sind pluralistische Ansichten, nach denen es auch andere vernünftige Eigenschaften gibt, von einige vielleicht von der Art sind, die von den Utilitaristen und den Kantianern befürwortet wurden. Die geistige Offenheit der Tugendethik steht an diesem Punkte in scharfem Gegensatz mit dem, was Bernard Williams als die besondere Blickverengung der modernen Ethik ausgemacht hat. Es gibt auch noch andere als moralische Überlegungen, die 1816
Tugendethik
für die Frage relevant sind, wie man leben sollte. Moderne Tugendethiker können daher eine Position hinsichtlich der Ansprüche der Moral einnehmen, die zwischen den Extremen von Aristoteles und ihren modernen Opponenten liegt. Denn sie müssen weder behaupten, dass das Eigeninteresse lediglich durch moralisches Verhalten zustande kommt, noch, dass die Moral vollständig das Eigeninteresse überholt. Ein großer Teil der Tugendtheorie hat sich um die Entwicklung von Williams Kritik des Utilitarismus und des Kantianismus bemüht, derzufolge beide infolge ihrer Unpersönlichkeit und ihrer Unparteilichkeit die Integrität der moralischen Akteure verletzen. Philippa Foot hat diese kritischen Argumente in einer Richtung weiter entwickelt, die der Tugendethik zugute kommen. Nach beiden Autoren ist sowohl das Nützlichkeitsprinzip, als auch der kantische kategorische Imperativ eine Form der moralischen Vernunft, die trotz ihrer Universalität von den Wünschen des Akteurs unabhängig sind. Foot, die von der Rationalität der Erfüllung der eigenen Wünsche beeindruckt war, machte geltend, dass moralische Gründe durchaus von den Wünschen des Akteurs abhängen, so dass eine Person, die auf konsistente Weise kleinlich handelt, zwar als kleinlich beschrieben werden kann, nicht aber notwendig auch als jemand, der einen Grund zur Großzügigkeit hat, solange sie nicht den Wunsch dazu haben, der damit auch nur in dieser Form zu erfüllen wäre. Foot drückt hier ihre Zweifel ähnlich wie Anscombe wegen der Möglichkeit unbegründeter ‚Sollte‘-Urteile aus. 4. Tätigkeit und Motivation Man stelle sich vor, dass man einer Freundin dafür dankt, die einen im Krankenhaus besucht hat. Sie antwortet darauf: ‚Oh, das ist doch nicht so wichtig. Es ist doch klar, dass die Moral von mir forderte, dass ich dies tue.‘ Dieser Fall, der einem einflussreichen Aufsatz von Michael Stocker aus dem Jahre 1976 entnommen ist und in Beziehung zu der Diskussion des vorangehenden Abschnitts über die Ansprüche der Moral und das Druchdringen moralischer Standpunkten steht, dient zur Illustration eines Handlungsideals, dass ein impliziter Teil vieler moderner ethischer Theorien ist (siehe Moralische Beweggründe; Moralischer Realismus). Die Unattraktivität dieses Ideals kann man als Utilitarist vermeiden, wenn man geltend macht, dass ein Denken über die Moral in der Art meiner fiktiven Freundin sich aus utilitaristischer Sicht wahrscheinlich selbst erledigt. Selbst den Utilitaristen kann man jedoch vorwerfen, dass sie das Wesentliche verfehlen. Was die Freundin falsch macht ist nicht etwa, dass moralisches Denken wie das ihrige nicht den Nutzen maximiert. Gleichwohl stellt dieser Fall ein noch viel ernsteres Problem für die Kantianer dar, bedenkt man Kants Beharren auf dem expliziten Ausprobieren von Handlungsverläufen unter Einsatz des kategorischen Imperativs, sowie in seiner Anschauung, dass der moralische Wert einer Handlung ausschließlich darin liegt, dass sie aus Pflichtgefühl unternommen wird. Moderne Tugendethiker wie z.B. Lawrence Blum unternahmen es, diese Konzeption der moralischen Handlung durch ein tugendzentriertes Ideal zu ersetzen, das den Akteuren erlaubt, direkt von der emotionalen Sorge um andere bewegt zu sein. Dieses Ideal kann wiederum als eines gesehen werden, das sich aus Anscombes Angriff auf den Begriff der Pflicht ergibt. Von der Pflichtmoral heißt es, dass sie unzureichende Aufmerksamkeit auf das innere Leben verwende: der pflichtgemäß handelnde Akteur tue oder fühle nicht genug. Diese Kritik ist ein interessanter Kon1817
Tugendethik
trapunkt zu der Anschuldigung, dass der Kantianismus übertrieben anspruchsvoll sei. Der Vorwurf lautet somit nicht etwa, dass die moderne Moraltheorie keine plausiblen Rechtfertigungsgründe für das Handeln liefere, sondern dass sich die motivationale Struktur dessen, was offenkundig moralisches Handeln ist, vollkommen von dem unterscheide, was die Theorie uns diesbezüglich erwarten lässt. Moralisches Handeln bestehe zumindest teilweise in einem Handeln und Fühlen auf eine Weise, die durch Bindungen der Parteilichkeit veranlasst seien, wodurch keine weitere Rückendeckung von Seiten der unpersönlichen ethischen Theorie erforderlich sei (siehe Freundschaft). 5. Universalität und Tradition Wir sahen bereits, wie einige Tugendtheoretiker moralische Gründe mit der Motivation verbinden. Dies ist einer der Wege zur Blickverengung in Bezug auf moralische Gründe. Ohne jeglichen (subjektiven) Beweggrund gibt es gar keinen Grund, um z.B. den Nutzen zu maximieren oder die Moralgesetze zu respektieren. Ein anderer Weg wird von Autoren wie Alasdair MacIntyre eingeschlagen, der die moralische Rationalität auf den Traditionen gründet. MacIntyres Kritik der modernen ethischen Theorie, die er in ‚After Virtue‘ (1981) umreißt, ist die schlagendste innerhalb der Tugendtheorie. Er behauptet, dass die gegenwärtige moralische Diskussion buchstäblicher Unsinn sei; wir würden auf unreflektierter Weise eine Mischung aus Begriffen verwenden, die aus todgeweihten Traditionen stammen. Weil diese Traditionen inkommensurabel sind, lassen sich auch Argumente, die Begriffe aus rivalisierenden Traditionen verwenden, weder auflösen noch abschließen. MacIntyre verfällt im Verlauf dieser Kritik jedoch nicht in den Nietzscheanischen Moralskeptizismus, sondern befürwortet stattdessen eine Rückkehr zur aristotelischen Tugendethik (siehe Nietzsche, F.). Die Frage, wie er dies zustande bringt, ist ein Beispiel für das Rätsel der Tugendtheorie, das seit Anscombes ursprünglichem Aufsatz gegenwärtig ist: Ist der verbleibende begriffliche Apparat nach der anhaltenden Kritik an der modernen ethischen Theorie durch die Tugendtheoretiker stark genug, um eine alternative, präskriptive Ethik zu stützen? Die Beziehung zwischen modernen Tugendethikern und Aristoteles ist komplex. Die meisten Tugendethiker, einschließlich Foot und MacIntyre, kombinieren eine aristotelische Betonung der Tugenden mit einem modernen Skeptizismus hinsichtlich der Möglichkeit einer objektiven Theorie des für einen einzelnen Menschen Guten. Entsprechend ist MacIntyres Betonung der Wichtigkeit des Kontextes recht aristotelisch, aber der Relativismus, zu dem ihn diese Haltung führt, wäre für Aristoteles ein Gräuel (siehe Moralischer Relativismus). MacIntyre behauptet, dass das Gute der Praxis immanent ist und nicht von irgendeinem äußeren Punkt aus zu bewerten ist, während Aristoteles glaubte, dass theologische Reflexionen über das universale menschliche Wesen einen dazu befähigen, sich mit diesen Gepflogenheiten zu identifizieren, die haplōos gut seien, d.h. ‚schlicht‘ gut. Der Relativismus der modernen Tugendethik tauchte auch in der politischen Theorie im Zuge der Debatte zwischen den Kommunitaristen wie z.B. MacIntyre und den Liberalen auf (siehe Gemeinschaft und Kommunitarismus). Mit der Vorliebe für eine tugendzentrierte im Gegensatz zu einer regelzentrierten Ethik einher geht die Bevorzugung des Lokalen und Einzelnen gegenüber dem Universalen, des Bestimmten vor dem Allgemeinen, des Eingebetteten vor dem Abstrakten, des Ge1818
Tugendethik
meinschaftlichen vor dem Individuellen, des Unausgesprochenen vor dem Ausgesprochenen, des Traditionellen vor dem Überarbeiteten, des Parteiischen vor dem Unparteiischen. In MacIntyres Arbeiten ist der Begriff des Guten, der den diachronischen Gewohnten innewohnt und auf Traditionen gründet, an eine Kritik des frei flottierenden, liberalen Selbst gebunden, dass sich seine Güter von irgendeinem archimedischen Standpunkt aus auszusuchen meint. MacIntyres narrative Konzeption eines Selbst öffnet eine weitere Tür, durch die der Begriff des Charakters wieder in die Moralphilosophie eingelassen wird. Das ernsthafteste Problem für den Relativismus muss aber in der modernen Tugendethik erst noch gelöst werden: Was sollen wir von Handlungs- und Lebensgewohnheiten sagen, die eine in sich selbst kohärente Tradition bilden und doch unleugbar böse Bestandteile enthalten? 6. Praktische Vernunft Ein Grund für das Verblassen des Begriffs des Charakters in der ethischen Theorie ist, dass der Utilitarismus und der Kantianismus gemeinsam als Ethiken mit Regeln zur Lösung von Dilemmata entwickelt wurden. Ein Argument gegen die regelbasierte Ethik findet sich in Aristoteles’ Diskussion der Rechtstugend der epieikeia, d.h. der ‚Gleichheit‘. Regeln laufen immer auf Härten hinaus, und es bedarf immer einiger Sensibilität auf Seiten des Richters, um die Kluft zwischen dem Gesetz und der Welt zu überbrücken. Entsprechend besitzt der tugendhafte Mensch bei Aristoteles phronēsis, d.h. ‚praktische Weisheit‘, und damit eine Sensibilität für die moralisch ins Auge springenden Merkmale bestimmter Situationen, die über die Fähigkeit allein zur Anwendung ausdrücklicher Regeln hinausgeht. Diese Sichtweise wurden in der Tugendethik unter anderem von Iris Murdoch und John McDowell in ihrem Aufsatz von 1979 mit dem Titel ‚Tugend und Vernunft‘ wieder belebt. McDowell macht hier geltend, dass wir keine Welt postulieren können, wie sie sowohl vom Tugendhaften, als auch vom Untugendhaften gesehen wird, und dann das moralische Handeln des Tugendhaften durch seinen Besitz einiger spezieller Wünsche erklären. Weil die moralischen Regeln am Ende seien, könne kein Gegenstand von Wünschen mehr explizit benannt werden. McDowell beruft sich auf Wittgenstein zur Unterstützung ihrer Behauptung, dass die rationale Handlung nicht regelgeleitet sein müsse (siehe Wittgenstein, L.J.J., § 10-12). Dies hat offenkundig Folgen für die moralische Erziehung: sie sollte darin bestehen, den Zögling zu einem sensibel Sehenden zu machen, und nicht (oder zumindest nicht nur) in der Eintrichterung steifer und absoluter Prinzipien. Dies ist auch einer der Stränge der feministischen Kritik an der modernen ethischen Theorie, die ihrerseits eng an die Tugendtheorie gebunden ist. Autoren wie z.B. Carol Gilligan machen geltend, dass die moralische Sensibilität von Frauen weniger regelgeleitet sei als diejenige der Männer, und dass dies die ‚Sorgeethik‘ z.B. von Nel Noddings beeinflusst habe. Die Betonung der Tugendethik von nicht-rationalen Faktoren unter den moralischen Beweggründen passt gut zum Begriff der moralischen Sensibilität. Und dieser letztere Begriff liefert wiederum das Material für einen Standpunkt, von dem aus man die Grundlegung der Moral auf dem kategorischen Imperativ kritisieren kann. Wie wir bereits sahen, behauptet Foot, dass die Unmoral nicht notwendig irrational sei, denn moralische Gründe hingen von den Wünschen des Akteurs ab. Autoren wie 1819
Turing, Alan Mathison (1912-1954)
z.B. McDowell, die die praktische Vernunft als eine wahrnehmende Vernunft darstellen, können ebenfalls bestreiten, dass die Unmoral irrational sei. Dem Untugendhaften mangele es nicht etwa an der Fähigkeit des theoretischen und berechnenden Intellekts, sondern an moralischer Sensibilität. Anders als Foot würde McDowell jedoch einwenden, dass dies tatsächlich ein Versagen in der Wahrnehmung der echten Handlungsgründe sei, unabhängig von den Beweggründen des Akteurs. Und wieder sehen wir in McDowell die Mischung aus antikem und modernem Gedankengut, die für die Tugendethik typisch ist: die Rationalität wird als etwas dargestellt, was von sozialen Gepflogenheiten abhängt, und dennoch erweisen sich die Tugenden, wie bereits Sokrates dachte, als eine Art von Wissen. Siehe auch: Unparteilichkeit; Leben, Bedeutung des; Mencius; Moralisches Urteil Anmerkungen und weitere Lektüre: Crisp, R. und Slote, M. (1997): ‚Virtue Ethics‘. Oxford: Oxford University Press. (Eine Sammlung bekannter Aufsätze über die Tugenden mit einem Einführungstext. Einschließlich Bibliographie zu verschiedenen Themen.) Darwall, S. (Hrg.) (2003): ‚Virtue Ethics‘. Malden, Massachusetts: Blackwell. (Eine nützliche Sammlung von Auszügen klassischer Texte, zusammen mit bedeutenden modernen Aufsätzen.) MacIntyre, A. (1981): ‚After Virtue‘. London: Duckworth. (Eine einflussreiche Kritik der modernen Ethik, und eine Fürsprache für die thomistische Tugendethik.) ROGER CRISP
Turing, Alan Mathison (1912-1954)
Alan Turing war ein mathematischer Logiker, der grundlegende Beiträge zur Theorie der Berechenbarkeit leistete. Er entwickelte den Begriff eines abstrakten Berechnungsapparates, der sog. ‚Turing-Maschine‘, die den Begriff der Berechnung genau beschreibt, und lieferte zu Beginn der 1940er Jahre die Grundlage für die praktische Entwicklung des elektronischen Digitalcomputers. Er demonstrierte sowohl den Geltungsbereich und die Grenzen der Berechenbarkeit und bewies, dass einige mathematische Funktionen grundsätzlich durch solche Maschinen nicht berechenbar sind. Turing glaubte, dass menschliches Verhalten nach den Grundsätzen der Berechenbarkeit verstanden werden könnte, und seine Auffassungen inspirierten zeitgenössische Berechenbarkeitstheorien des Geistes. Er schlug einen vergleichenden Test für die Maschinenintelligenz vor, den sog. ‚Turing-Test‘, in dem ein menschlicher Fragesteller versucht, einen Computer von einem Menschen zu unterscheiden, indem er mit beiden nur über elektronische Schreibvorrichtungen kommuniziert. Obwohl die Geltung des Turing-Tests umstritten ist, bleibt doch die Idee dieses Test mitsamt den daran vorgenommenen Änderungen ein einflussreicher Maßstab für die Bewertung von Ergebnissen der künstlichen Intelligenz. Siehe auch: Turing-Maschinen JAMES H. MOOR
Turing-Maschinen
Turing-Maschinen sind abstrakte Berechnungsvorrichtungen, die nach ihrem Erfinder Alan Mathison Turing benannt sind. Eine Turing-Maschine arbeitet entlang einem im Prinzip unendlichen Band, das fortlaufend in Quadrate (Felder) eingeteilt 1820
Type/Token-Unterscheidung
ist, und das eine endliche Anzahl unterschiedlicher interner Maschinenzustände in dieser Maschine hervorruft. Jedes Quadrat kann z.B. ein Symbol aus einem endlichen Alphabet solcher Symbole enthalten, von denen jedes einen Maschinenzustand repräsentiert. Die Maschine kann genau ein Quadrat zu je einem Zeitpunkt ablesen und je nach gelesenem Symbol und seiner eigenen, internen Zustände eine der folgenden Operationen ausführen: ein Symbol auf dem eingelesenen Quadrat ausdrucken oder löschen, oder sich weiter bewegen, um das unmittelbar folgende Symbol einzulesen oder auch nicht einzulesen. Die elementaren Operationen sind möglicherweise von einer entsprechenden Änderung der internen Zustände begleitet. Die Turingmaschine führt also eine Berechnung aus, indem sie schrittweise eine Eingabe in eine Ausgabe umwandelt, wobei die Ausgabe sich nicht unbedingt von der Eingabe unterscheiden muss. Eingaben, Ausgaben und Zwischenergebnisse werden auf dem unendlich langen Band gespeichert. Turing behauptete, dass die Klasse der im Wege einer algorithmischen Struktur kalkulierbaren Funktionen (hier: eine mechanisch-schrittweise, deterministische Struktur) identisch sei mit der Klasse der durch die Turing-Maschine berechenbaren Funktionen. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Turing-Maschinen und der darauf bezogenen mathematischen Ergebnisse hängt von dieser Identifikation ab, die späterhin als ‚Turing-These‘ bekannt wurde. Eine äquivalente Behauptung, die ‚Church-These‘, wurde davon unabhängig von dem Mathematiker Alonzo Church entwickelt. Der Kernpunkt dieser Thesen ist, dass mathematische Ergebnisse, die besagen, das gewisse Funktionen nicht durch eine Turing-Maschine berechnet werden können, aus der Sicht der Turing-These so interpretiert werden, dass sie den berechnenden Akteuren absolute Grenzen setzen. Siehe auch: Turing, Alan Mathison GUGLIELMO TAMBURRINI
Type/Token-Unterscheidung
Die Unterscheidung von types und token3 bezieht sich auf diejenige zwischen Universalien und Einzeldingen. C.S. Peirce führte die Bezeichnen ‚type‘ und ‚token‘ zur Illustration der Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen des Wortes ‚Wort‘: in der einen gibt es z.B. nur einmal das Wort ‚die‘ in der deutschen Sprache, während es in der anderen dieses Wort so oft gibt, wie es z.B. auf der gedruckten Seite erscheint, die man gerade liest. Letztere sind raumzeitliche Gegenstände, die aus Druckerschwärze zusammengesetzt und auf einem Träger, dem Papier, aufgetragen sind. Von diesen heißt es, sie seien Wort-token der ersteren Wortbedeutung, die damit der abstrakte Wort-type ist. Phoneme, Buchstaben und Sätze sind daher auch sowohl als types, als auch als token gegeben. Hierzu ein Anwendungsbeispiel: Der Satz ‚Ein Lügner bleibt ein Lügner, auch wenn er noch so treu dreinschaut‘ weist zwei token ‚Lügner‘, aber nur einen type ‚Lügner‘ auf. Damit wird die Unterscheidung zwischen universaler und konkreter Perspektive, bzw. in den Worten Saussures zwischen langue und parole möglich. DiBeide Ausdrücke werden bei Gebrauch im deutschen Sprachraum fachsprachlich nicht übersetzt. Wörtlich wäre token in diesem Zusammenhang als ‚Zeichen‘ oder ‚Stellvertreter‘ bzw. ‚Platzhalter‘ oder auch ‚Vorkommnis‘ zu übersetzen, und type am ehesten als ‚Typus‘ oder ‚Type‘, was etymologisch auf eine Bedeutung als ‚Prägeform’ zurückgeht. Da die Ausdrücke type und token jedoch fachsprachlich nur in einem sehr spezifischen, linguistischen Zusammenhang verwendet werden, ist eine Übersetzung gar nicht sinnvoll, da sie nur neue Unschärfen jenen hinzufügen würde, die sich evtl. bereits im englischen Sprachzusammenhang ergeben. [WS]
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Typentheorie
ese Unterscheidung ist auch in weiteren Bereich der Linguistik aufgegriffen worden, wird dort allerdings teilweise anders bezeichnet: auf der Ebene der Laute spricht man z.B. von ‚Phonen‘ bzw. ‚Phonemen‘ und in der linguistischen Morphologie von ‚Morphen‘ bzw. ‚Morphemen‘. Das Begriffspaar ‚Lexem‘ und ‚Wortform‘ beschreibt hingegen eine andere Unterscheidung. Siehe auch: Abstrakte Gegenstände; Universalien LINDA WETZEL
Typentheorie
Die Typentheorie wurde erstmals von Bertrand Russell im Jahre 1908 beschrieben. Russell suchte nach einer logischen Theorie, die als Bezugsrahmen für die Mathematik dienen könnte, und insbesondere nach einer Theorie, die die so genannten Zirkelschluss-Antinomien vermeiden, wie z.B. sein eigenes Paradox seiner Eigenschaft jener Eigenschaften, die nicht Eigenschaften von sich selbst sind, oder auch der Klasse jener Klassen, die nicht Mitglieder ihrer selbst sind. Solche Paradoxa entstehen offenbar, wenn keine logischen Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Typen von Entitäten getroffen werden, und speziell zwischen unterschiedlichen Typen von Eigenschaften und Beziehungen, die von Entitäten ausgesagt werden können, wie z.B. die Unterscheidung zwischen konkreten Gegenständen und ihren Eigenschaften einerseits und den Eigenschaften dieser Eigenschaften andererseits etc. In der ‚verzweigten‘ Typentheorie ist die Hierarchie von Eigenschaften und Beziehungen gewissermaßen zweidimensional, wobei die Eigenschaften und Beziehungen zunächst durch ihre Anordnung, und dann durch ihre Ebene innerhalb ihrer Anordnung unterschieden werden. In der ‚einfachen‘ Typentheorie werden Eigenschaften und Beziehungen nur durch ihre Anordnung unterschieden. Siehe auch: Intensionale Logik NINO B. COCCHIARELLA
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U Übererfüllung
Übererfüllende Handlungen (kirchensprachlich: ‚Supererogationen‘) werden oft als Handlungen beschrieben, die über den ‚Ruf der Pflicht hinaus‘ gehen. Historisch gesehen verteidigten katholische Denker die Lehre der Übererfüllung, indem sie das, was Gott befiehlt, von dem unterschieden, was er lediglich bevorzugt, während die Denker der Reformation behaupteten, dass alle Handlungen, die von Gott gewollt seien, auch verpflichtend seien. In der zeitgenössischen Philosophie wird oft geltend gemacht, dass die Moral, wenn sie uns erlauben soll, unseren persönlichen Interessen nachzugehen, auch anerkennen muss, dass viele aufopferungsvolle, altruistische Handlungen übererfüllend, und nicht einfach verpflichtend sind. Das Bedürfnis nach einer Kategorie der Übererfüllung ist besonders dringend, wenn moralische Verpflichtungen als rational vorrangig betrachtet werden. Es gibt drei zeitgenössische Hauptansätze zur Definition der Übererfüllung. Der erste verortet die Unterscheidung von verpflichtenden / übererfüllenden Handlungen innerhalb der positiven sozialen Moral, indem er sagt, dass erstere Handlungen sind, durch die wir schuldig werden, wenn wir es unterlassen sie vorzunehmen, während die letzteren Handlungen sind, von denen wir Abstand nehmen können, ohne dadurch schuldig zu werden. Der zweite sagt, dass verpflichtende Handlungen von moralisch schlüssigen Gründen gestützt werden, während dies für übererfüllende Handlungen nicht gilt. Nach diesem Ansatz ist das persönliche Opfer, das manchmal mit dem altruistischen Handeln verbunden ist, mit der Pflicht aufzurechnen, wodurch einige altruistische Handlungen zur Übererfüllung werden und (in ihrer konkreten Gestalt) keine Pflichten mehr sind. Der dritte Ansatz beruft sich auf die Tugenden und die Laster, indem er geltend macht, dass unter den nicht ausgeführten die verpflichtenden Handlungen jene sind, bei denen irgendein Fehler im Charakter des Handelnden der Grund für die Nichtvornahme ist, während die übererfüllenden Handlungen jene sind, die ohne einen solchen Charakterfehler unterlassen werden können. GREGORY VELAZCO Y TRIANOSKY
Übersetzung, Fundamentale, und fundamentale Interpretation
Fundamentale Übersetzung ist die Beschreibung eines Gedankenexperiments, dass sich W.v.O. Quine in den spätern 1950er Jahren ausdachte. In diesem Experiment unternimmt es ein Linguist, einige Ausdrücke einer bislang unbekannten Sprache ins Englische zu übersetzen, und zwar aus einer Sprache, die weder historisch noch kulturell mit irgendeiner bekannten Sprache verknüpft ist. Ferner sei angenommen, dass der Linguist keinen Zugang zu Menschen hat, die in beiden Sprachen, also in Englisch und jener Sprache, die Quine ‚Dschungel‘ nennt, bewandert sind. Daher sind die einzigen empirischen Daten, auf die der Linguist zum Aufbau einer ‚Dschungel-Englisch Übersetzungsanleitung‘ verwenden kann, die Verhaltensbeispiele des Dschungel-Muttersprachlers unter öffentlich erkennbaren Umständen. Indem er das fragmentarische Wesen dieser Daten überdenkt, zieht Quine die folgenden Schlüsse: (1) Es ist sehr wahrscheinlich, dass bestimmte theoretische Sätze auf ‚Dschungel‘ auf unterschiedliche Weise als Ganze ins Englische übersetzt werden können, 1823
Übersetzung, Fundamentale, und fundamentale Interpretation
und zwar auf gegenseitig unvereinbare und doch gleichermaßen akzeptable Art und Weise. Mit anderen Worten, die Übersetzung theoretischer Sätze ist unbestimmt. Ausgehend von der Annahme, dass ein Satz und seine Übersetzung dieselbe Bedeutung haben, ist die Folge der Unbestimmtheit der Übersetzung eine Unbestimmtheit der Bedeutung: die Bedeutungen theoretischer Sätze natürlicher Sprachen sind nicht durch empirische Daten fixiert. Tatsache ist vielmehr, dass der ‚fundamentale Übersetzer‘ daran gebunden ist, soviel Bedeutung, als er nur entdecken kann, anzunehmen. Dieses Ergebnis, zusammen mit dem Quineschen Diktum ‚No entity without identity‘ (dt.: ‚[Es gibt] keine Entität ohne Identität‘) untergräbt die Idee, dass Propositionen die Bedeutungen von Sätzen sind. (2) Keine der Fragen, welche Dschungel-Ausdrücke als Begriffe zu gelten haben, noch die Frage, auf welche Gegenstände, wenn überhaupt, sich DschungelBegriffe beziehen, kann dadurch beantwortet werden, dass man sich allein auf empirische Daten beruft. Kurz gesagt, die empirischen Daten fixieren nicht die Referenz. Die Idee der fundamentalen Interpretation wurde von Donald Davidson in den 1960er und 1970er Jahren als eine Modifikation und Erweiterung der Quineschen Idee der radikalen Übersetzung entwickelt. Quine beschäftigte sich mit dem Umfang, in dem empirische Daten die Bedeutungen von Sätzen einer natürlichen Sprache bestimmten. In der Fassung der ‚fundamentalen Interpretation‘ beschäftigt sich Davidson mit einer davon verschiedenen Frage, nämlich jener, was eine Person wissen müsste, damit sie imstande wäre, eine andere Sprache zu interpretieren (auzulegen). Was müsste beispielsweise jemand wissen, damit er imstande ist, den englischen Satz ‚It is raining‘ in der Bedeutung von ‚Es regnet‘ zu verstehen? Das erforderliche Wissen für eine Interpretation unterscheidet sich von dem Wissen, das für eine Übersetzung erforderlich ist, denn jemand könnte wissen, dass ‚It is raining‘ als ‚Il pleut‘ ins Französische übersetzt wird, ohne die Bedeutung auch nur eines der beiden Sätze zu kennen. Beginnt man mit dem Wissen, dass der Muttersprachler gewisse Sätze für wahr hält, wenn er sich in bestimmten, öffentlich erkennbaren Umständen befindet, so strebt Davidsons fundamentaler Interpret nach einem Verständnis der Bedeutung dieser Sätze. Davidson trägt vor, dieses Szenario offenbare, dass sich die Interpretationen auf das Wissen einer Person konzentrierten, das mit einer empirisch verifizierten, endlich basierten und rekursiven Bestimmung der Wahrheitsbedingungen für eine unendliche Vielzahl von Sätzen vergleichbar sei. Dies offenbare eine Theorie ähnlich der Tarskischen Wahrheitstheorie. Deshalb sollten Quines fundamentale Übersetzung und Davidsons fundamentale Interpretation nicht als Konkurrenten betrachtet werden, denn obwohl die in den beiden Zusammenhängen angewandten Methoden ähnlich sind, wurden diese beiden Zusammenhänge doch entworfen, um unterschiedliche Fragen zu beantworten. Ferner ist die Interpretation ein weiter gefasstes Unternehmen als die Übersetzung; Sätze, die nicht übersetzt werden können, kann man dennoch immer noch interpretieren. Siehe auch: Davidson, D.; Hermeneutik; Bedeutung und Wahrheit; Quine, W.v.O.; Referenz ROGER F. GIBSON
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Überzeugung und Glaube
Überzeugung und Glaube1 Einführung Wie meinen, dass dort Kaffee steht; wir sind von der Speziellen Relativitätstheorie überzeugt; wir schenken dem/r BundeskanzlerIn Glauben, und manche von uns glauben an Gott. Aber nachvollziehbarerweise ist das Fundamentale am Glauben oder Überzeugtsein-von-Etwas, dass etwas der Fall ist, d.h. die Überzeugung von einer Aussage (engl: proposition), jedenfalls wird dies üblicherweise so beschrieben. Einer Theorie zu glauben heißt die Aussagen zu glauben, die diese Theorie ausmachen; einer Person zu glauben heißt einige Aussagen zu glauben, die diese vorgetragen hat; und an Gott zu glauben heißt die Aussage zu glauben, dass Gott existiert. Deshalb sagt man von einer Überzeugung, sie sei eine propositionale Einstellung oder ein intentionaler Zustand: etwas zu meinen bzw. von etwas überzeugt zu sein (engl.: to believe) heißt, eine Einstellung der Überzeugtheit hinsichtlich einer Aussage einzunehmen. Diese Aussage handelt von dem, worum es bei dem Gegenstand dieser Aussage geht (von Gott, dem Kaffe, oder was auch immer). Wir können uns den propositionalen Gegenstand einer Überzeugung als die Art und Weise denken, wie die Überzeugung Dinge als seiend repräsentiert, d.h. ihren Gehalt (engl.: content), wie es oft heißt. Wir stellen unsere Überzeugungen durch indikativische Sätze in ‚dass‘-Sätzen fest, wie z.B. in ‚Maria glaubt, dass die Sozialisten die nächste Wahl gewinnen werden.‘ Auch in Abwesenheit von Sprache ist Überzeugung denkbar. Ein Hund mag glauben, dass sich dort in der Schale vor ihm gutes Essen befindet. Infolgedessen haben die Philosophen nach einer Darstellung der Überzeugung gesucht, die den Sätzen eine zentrale Rolle hierin zuweist; es kann kein Zufall sein, dass das Auffinden des richtigen Satzes der hauptsächliche Weg zum Erfassen dessen ist, was jemand glaubt, wobei Überzeugungen bei Geschöpfen ohne Sprachvermögen dennoch zugelassen sind. Eine Möglichkeit, dies zu realisieren, ist die Konstruktion von Überzeugungen als Beziehungen zu inneren Sätzen, die irgendwie dem Gehirn eingeschrieben sind. Nach dieser Ansicht haben Hunde, obwohl sie keine öffentliche Sprache haben, dennoch in dem Umfange Überzeugungen, als sie etwas Satzartiges in ihren Köpfen haben. Eine alternative Tradition konzentriert sich auf die Art und Weise, wie die Überzeugung, wenn sie mit einem Wunsch kombiniert wird, zu einem Verhalten führt, 1 Der Titel des originalen englischen Beitrages lautet schlicht: Belief. Es ist deshalb ein kurzer Hinweis zu zweien der zentralen hier verwendeten Begriffe notwendig, nämlich belief und proposition. (1) Das englische Wort belief (zu dt.: Glaube, Meinung, Überzeugung) ist im Englischen ein Sammelausdruck, der in dieser Form im Deutschen nicht existiert. Aus diesem Grunde werden hier die Ausdrücke ‚Glaube‘, ‚Überzeugung‘ und ‚Meinung‘, sofern sie als Übersetzung von belief verwendet werden, synonym gebraucht, aber eben nicht synonym nach deutscher Lexik, sondern als synonyme Übersetzungen des Wortes belief. (2) Das englische Wort proposition bedeutet im Deutschen ‚Aussage‘. Es unterscheidet sich fachsprachlich von der Bedeutung des Wortes statement (zu dt.: ‚Behauptung‘) dadurch, dass die proposition den Sinn eines Satzes bezeichnet, der keine okkasionellen Bestandteile enthält (z.B. ‚Schnee ist weiß‘), während ein statement den Sinn eines Satzes mit solchen Bestandteilen bezeichnet (z.B. ‚Heute ist schönes Wetter‘). Im ersten Fall kann der Wahrheitswert den types, im zweiten Falle muss er den token zugeordnet werden. [Dank an Herrn Prof. Dr. Hermann Schmitz für diesen Hinweis; WS]
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Überzeugung und Glaube
und analysiert die Überzeugung als Verhaltsdispositionen, oder in noch jüngeren Darstellungen als inneren Zustand, der in Kombination mit anderen mentalen Zuständen verantwortlich ist für die angemessenen Verhaltensdispositionen. Eine ältere Tradition, die mit dem britischen Empirismus assoziiert war, sieht die Überzeugung als eine Art von blasser Imitation von Wahrnehmungserfahrung. Aber kürzliche Arbeiten über die Überzeugung halten eine scharfe Unterscheidung zwischen der Überzeugung und den zahlreichen mentalen Bildern, die damit einhergehen oder auch nicht, nunmehr weitgehend für erwiesen. 1. Überzeugungen als Sätze in ‚mentalesisch‘: die Sprache der Gedanken 2. Zwei Probleme für LOTH 3. Überzeugung als eine Landkarte, nach der wir lenken 1. Überzeugungen als Sätze in ‚mentalesisch‘: die Sprache der Gedanken Franz‘ Glaube an den Teufel kann nicht wörtlich eine Beziehung zwischen Franz und dem Teufel sein. Sonst könnte er keine Überzeugung haben, solange kein Teufel existiert. Unsere Antwort darauf ist, die Überzeugung als eine Beziehung von Sätzen zu behandeln. Von etwas überzeugt zu sein heißt, einen Satz für ‚wahr-zumeinen‘: Franz hält den Satz ‚Der Teufel existiert‘ für wahr. Aber auch Tiere, die über keine Sprache verfügen, haben Überzeugungen. Mein Hund mag glauben, dass sein Herr zu Hause ist, oder dass Zeit für einen Spaziergang ist. Und weiter noch können sich monolingual Französisch sprechende und monolingual Englisch sprechende Menschen darin einig sein, von was sie überzeugt sind, beispielsweise darüber, dass es gut für sie wäre, mehr als eine Sprache zu beherrschen. Dennoch können sie uneins darüber sein, welchen Satz sie für wahr halten. Schließlich mag jemand den Satz ‚Der Teufel existiert‘ für wahr halten, und dennoch nicht glauben, dass der Teufel existiert, weil er fälschlich davon ausgeht, dass ‚Teufel‘ ‚Gott‘ bedeutet. In diesem Falle glaubt die betreffende Person, dass Gott existiert, während sie fälschlicherweise davon überzeugt ist, dass der Satz ‚Der Teufel existiert‘ ein geeigneter Satz sei, um diese Überzeugung auszudrücken (was nicht der Fall ist). Aus diesen und anderen Gründen wird die Überzeugung üblicherweise als eine Beziehung zu einer Aussage aufgefasst. Eine Aussage ist das, was durch einen Satz ausgedrückt wird; sie ist das, was Sätze auf Englisch und auf Französisch gemeinsam haben, die dasselbe bedeuten; die ausgedrückte Aussage ist das, was man begreift, wenn man einen Satz versteht. Monolinguale Sprecher sind auf ähnliche Weise von etwas überzeugt, wenn sie von derselben Aussage überzeugt sind; Hunde haben Überzeugungen aufgrund von Überzeugungsaussagen, obwohl sie keine Sprache haben, diese auszudrücken; jemand, der meint, dass der Satz ‚Der Teufel existiert‘ sei wahr, während er denkt, dass ‚Teufel‘ ‚Gott‘ bedeutet, glaubt deshalb nicht, dass der Teufel existiert, denn er irrt darüber, was die Aussage ‚Der Teufel existiert‘ ausdrückt. Diese Bemerkungen skizzieren eine lebendige Kontroverse über den ontologischen Status von Propositionen (Aussagen). Unmittelbar werden wir uns hier mit einer populären Sichtweise beschäftigen, die Sätzen eine prominente Rolle in der Darstellung der Überzeugung zuweist, jedoch auf eine Art und Weise, die die Probleme vermeidet, die wir gerade ansprachen. Nach der ‚Gedankensprache-Hypothese‘ (engl.: language of thought hypothesis, abekürzt: LOTH) dienen bestimmte Sätze nicht nur der Bereitstellung der
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Überzeugung und Glaube
propositionalen Gegenstände von Überzeugungen (und allgemein von Gedanken), sondern zusätzlich sind Überzeugungen selbst satzartig. Ein Satz kann so aufgefasst werden, dass er aus bedeutsamen Teilen besteht, die nach gewissen Regeln zusammengesetzt werden. Auf dieselbe allgemeine Weise bestehen Überzeugungen, LOTH zufolge, aus Teilen, die auf bestimmte Weise zusammengesetzt sind (siehe Sprache der Gedanken). Wie passt LOTH zu der Idee, dass Überzeugungen Beziehungen zu Propositionen sind? Die Idee besagt, dass der propositionale Gegenstand einer Überzeugung dadurch bestimmt ist, wie es aus Teilen zusammengesetzt ist, die stellvertretende oder semantische Eigenschaften haben, d.h. die Teile stehen für Dinge, Eigenschaften und Beziehungen ungefähr wie dies auch die Teile eines naturalsprachlichen Satzes tun (siehe Semantik). Auf Deutsch repräsentiert das Wort ‚Keks‘ gewisse Dinge, und ‚knusprig‘ repräsentiert eine bestimmte Eigenschaft, und wenn wir diese beiden Worte zu dem Satz ‚Kekse sind knusprig‘ kombinieren, so erhalten wir einen Satz, der den Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit erhebt, je nachdem, ob gewisse Dinge diese Eigenschaft haben oder nicht. Auf diese Weise drückt der Satz jene Aussage, dass Kekse knusprig sind, aus (siehe Kompositionalität). Auf dieselbe Weise gibt es Gehirnstrukturen, die Dinge und Eigenschaften repräsentieren, und wenn diese Gehirnstrukturen auf die richtige Weise zusammengestellt werden, so erhalten wir, LOTH zufolge, eine komplexere Struktur, nämlich einen Satz auf ‚mentalesisch‘, der die Dinge so repräsentiert, dass sie Eigenschaften haben – wie dies auch tatsächlich der Fall sein mag; so sagt der mentalesische Satz, dass Kekse knusprig seien, was diese Proposition ausdrückt, und was uns dadurch mit einem token2 unserer Überzeugung versorgt, dass Kekse knusprig sind. Diese Theorie lässt es zu, dass Hunde Überzeugungen haben. Hunde mögen eine Gedankensprache sogar dann haben, wenn sie über gar keine öffentliche Sprache verfügen. Die Theorie kann erklären, wie monolinguale Sprecher unterschiedlicher Sprachen in ihren Überzeugungen übereinstimmen können: ihre Sätze auf Mentalesisch können dieselbe Proposition ausdrücken. Sie liefert ferner eine Erklärung der Anzahl von Phänomen, die mit einer Überzeugung assoziiert sind. Zunächst erklärt sie, wie das, was eine Person glaubt, ursächlich sein kann für das, was sie darüber hinaus noch glaubt, und was sie tut. Wenn jemand meint, dass Maria auf einer Party ist und dann erfährt, dass Maria auf Parties immer von Thomas begleitet wird, so wird man typischerweise zu der Überzeugung gelangen, dass Thomas auch auf der Party ist. Eine Überzeugung in Kombination mit dem, was man erfährt, führt zu einer neuen Überzeugung. LOTH erklärt diese kausalen Transaktionen als Transaktionen zwischen den Strukturen, als die sich die verschiedenen Überzeugungen darstellen. Ungefähr so, wie ein Computer Informationen verarbeitet, indem er elektronische Zeichenstrukturen manipuliert, so kommen wir kraft unserer Gehirne zu neuen Überzeugungen, die die Symbole des Mentalesischen manipulieren. Auf ähnliche Weise trägt dass, was wir glauben, zu den Erklärungen dessen bei, was wir tun. Meine Überzeugung, dass dort Kaffee steht, mag im Zusammenspiel mit geeigneten Wünschen dazu führen, dass ich mich dorthin begebe, und zwar kraft der Überzeugung, dass es dort Kaffee gibt. LOTH stellt diese Tatsache als die kauZur Bedeutung des in der deutschen Fachsprache üblicherweise nicht übersetzten Begriffs des token siehe Anm. 2 zum Beitrag Type/Token-Unterscheidung. [WS]
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Überzeugung und Glaube
sale Einflussnahme von mentalesischen Sätzen auf den kausalen Pfad körperlicher Bewegung dar. Zweitens erklärt LOTH den Umstand, dass typischerweise jemand, der glauben kann, dass Johannes Maria liebt, umgekehrt auch glauben kann, dass Maria Johannes liebt, und dass man allgemein, wenn man meinen kann, dass bRa, auch meinen kann, dass aRb (was sich formulieren lässt als: ‚b steht in einer Beziehung zu a‘ bzw. ‚ a steht in einer Beziehung zu b ‘; dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung ‚Systematizität‘ bekannt). Die Tatsache, derzufolge man im Falle aRb von auch glauben kann, dass bRa, wird durch die Tatsache erklärt, dass der Zustand, den der erstere Ausdruck kodiert, eine andere Zusammenstellung der Bestandteile des Zustands ist, den der letztere kodiert. Und natürlich lässt sich diese Erklärung zur weiteren Erklärung noch komplexerer Fälle verallgemeinern. Abschließend kann LOTH unsere Fähigkeit zur Bildung recht neuer Auffassungen erklären (wobei diese Eigenschaft als ‚Produktivität‘ bezeichnet wird). Genauso wie wir neue Sätze durch neue Kombinationen der relevanten Worte einer öffentlichen Sprache bilden können, so kann das Gehirn neue Überzeugungen mittels neuartiger Kombinationen der relevanten mentalesischen Worte bilden. LOTH erklärt folglich eine Menge dessen, was an dieser Stelle überhaupt zu erklären ist. Gleichwohl gibt es zwei ernsthafte Probleme bei dieser Sichtweise, wenn sie auf die Überzeugungen angewandt wird. 2. Zwei Probleme für LOTH Zunächst: Solange die Behauptung, es gäbe Mentalesisch, nicht trivialisiert wird – d.h. unanhängig davon, was die Neurowissenschaften über die Informationsverarbeitung des Gehirns herausfinden, wird alles, was sie herausfinden so gedeutet, als enthielte das Gehirn Mentalesisch – bringt LOTH eine riskante Spekulation darüber mit sich, wie unser Gehirn arbeitet. Die Theorie nimmt dabei den Zufall in Beschlag. Einigen kommt dies sehr gelegen. Wenn die Neurowissenschaft behauptet, dass es kein Mentalesisch gebe und wir Informationen nicht satzartig verarbeiten, so müssten wir sagen, dass wir gar keine Überzeugungen haben und würde damit einer Eliminierung der Überzeugung in die Hände arbeiten (siehe Eliminativismus). Dies ist allerdings die Auffassung einer Minderheit. Zweitens bleibt bei LOTH die innige Verbindung zwischen Überzeugung und Verhalten im Dunkeln. Angesichts dessen wären Voraussagen über das Verhalten hoch komplexer Organismen, wie wir selbst dies sind, enorm schwierig. Bäume wiegen sich im Wind, während wir Schalter betätigen, in Häuser hineingehen, uns gegen den Wind lehnen, unser Tennismatch absagen oder was auch immer. Anders als Bäume und einfache Maschinen antworten wir auf Reize auf eine enorm vielfältige Weise. Nichtsdestotrotz sind wir recht gut bei der Voraussage menschlichen Verhaltens. Wir alle machen viele erfolgreiche Voraussagen der folgenden Art: jemand, der das Wort ‚ja‘ ausgesprochen hat, als er den Satz hörte: ‚Möchten Sie um 19.30 in die Schlossstraße zum Essen kommen?‘, wird um 19.30 in der Schlossstraße im Hause jener Person erscheinen, die diesen letzten Satz aussprach. Natürlich machen wir Gebrauch von dem, was Menschen glauben, wünschen und voraussagen, und zwar in Form von Regeln, was für Verhaltenstendenzen Menschen zur Erreichung dessen zeigen, was sie sich wünschen, wenn ihre Überzeugung wahr ist. Das ‚ja‘ unserer Person sagt uns, was sie sich wünscht; was wir voraussagen, nämlich ihr 1828
Überzeugung und Glaube
Erscheinen zur benannten Zeit, ist folglich ein Verhalten, das den Wunsch dieser Person auf ein Abendessen erfüllen wird. Nun stellten wir oben fest, wie LOTH sich den Beitrag der Überzeugung zur Verursachung von Verhalten erklärt. Auf dieselbe allgemeine Weise erklärt diese Theorie, wie eine Überzeugung zusammen mit Wünschen ein Verhalten ergibt. Denn LOTH behandelt Wünsche wie Überzeugungen als eine Form interner Sätze auf mentalesisch. Der Unterschied ist, wie oft bemerkt wird, dass Wünsche in einem ‚Fach für Wünsche‘ abgespeichert werden, und Überzeugungen in einem ‚Fach für Überzeugungen‘. Die Metapher unterschiedlicher Aufbewahrungsorte verdeutlicht die Tatsache, dass Überzeugungen und Wünsche sich in ihrer Beziehung zur Welt unterscheiden. Das Überzeugtsein ist ein Zustand, der Übereinstimmung mit der Beschaffenheit der Dinge sucht: das Sehen des Kaffees neigt zur Löschung meiner Überzeugung, dass es dort gar keinen Kaffee gibt, wogegen der Wunsch ein Zustand ist, der danach strebt, die Dinge mit ihm selbst, dem Wunsch, in Übereinstimmung zu bringen: der Wunsch nach Kaffee tendiert dazu, eine entsprechend disponierte Person in die Nähe von Kaffee zu bringen. Die gespeicherten Sätze, die die erste Aufgabe erledigen, gelten als diejenigen, die sich im ‚Fach für Überzeugungen‘ finden. Die gespeicherten Sätze auf mentalesisch, die die zweite Aufgabe erledigen, gelten als diejenigen, die sich im ‚Fach für Wünsche‘ befinden. Auf diese Weise ist die Art und Weise, wie Überzeugung und Wunsch zusammenspielen, um ein Verhalten hervorzubringen, kein Problem für die LOTH. Die beiden ‚an unterschiedlichen Orten untergebrachten‘ Sätze gehen zusammen und produzieren auf diese Weise das Verhalten. Das Problem entsteht jedoch durch den Umstand, dass die Verbindung zwischen Verhalten und dem, was Subjekte meinen und wünschen, am unmittelbarsten eines zwischen Verhalten und einem reichhaltigen System von Überzeugungen und Wünschen ist. Durch individuelle Überzeugungen und Wünsche ist das Verhalten grob unterbestimmt. Es gibt kein Verhalten, auf das die Überzeugung, dort liege eine Landmine neben dem Baum vergraben, zusammen mit dem Wunsch zu überleben, hinweist. Vielmehr ist es ein reichhaltiges System von Überzeugungen, beispielsweise mit der Wirkung, dass sich dort eine Landmine in der Nähe des Baumes befindet, die wahrscheinlich ausgelöst wird, wenn man näher an sie herantritt, ferner dass eine Bewegung der Beine auf eine bestimmte Art uns nicht in die Nähe dieses Baumes bringen wird, und weiter, dass das Auslösen von Landminen eventuell den Tod der betreffenden Person bedeuten kann etc., die zusammen mit einem Wunsch zu überleben, der größer ist als der Wunsch, den Zündmechanismus der Mine auszuprobieren, auf ein Verhalten hinweisen. Wenn wir die Verbindung zwischen den Überzeugungen und Wünschen eines Subjekts und dem, was es tut, nur schwach illustrieren, so nehmen wir einen großen Teil dessen, was sie meinen und wünschen, als selbstverständlich vorweg. Dies ist in Ordnung. Dies ist im üblichen Sinne gemeinsames Wissen. Es bleibt aber die Frage, dass nur ein reichhaltiges System von Überzeugungen und Wünschen jene enge Verbindung mit dem Verhalten hervorbringt. Derselbe Einwand könnte bei der Geschichte von der Einladung zum Abendessen erhoben werden. Die Voraussage des Verhaltens unseres Subjekts nahm einen großen Teil von Überzeugungen und Wünschen vorweg. Wir unterstellten Überzeugungen darüber, was die verwendeten Worte bedeuten, darüber, wer sie aussprach,
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Überzeugung und Glaube
darüber, welcher Monat gemeint war etc., und wir nahmen an, dass keine entgegen stehenden Wünsche bestanden, die den Wunsch, zum Essen zu gehen, überwogen. Das Problem für LOTH ist, dass ihr Ausgangspunkt individuelle Überzeugungen und Wünsche sind. Dadurch bleibt ernsthaft unklar, was die Theorie einerseits über Überzeugungen und Wünsche zu sagen hat, und andererseits über Verhalten. Es gibt kein Verhalten, auf das die individuelle Überzeugung, dass p, und der individuelle Wunsch, dass q, zeigen. Es ist ein reichhaltiges System sowohl von Überzeugungen, als auch von Wünschen, das auf eine gewisse, einigermaßen bestimmte Weise auf ein Verhalten weist. Die Herausforderung von LOTH besteht darin, irgendeine Garantie dafür herauszufinden, dass die Darstellung der individuellen Überzeugungen und Wünsche, die sie anbietet, so geartet ist, dass, sofern Subjekte über genügend reichhaltige Mengen dieser individuellen Überzeugungen und Wünsche verfügen, diese ein einigermaßen bestimmtes Verhalten verursachen werden, das dazu neigt, ihre Wünsche zu befriedigen, sofern ihre Überzeugungen richtig sind. 3. Überzeugung als eine Landkarte, nach der wir uns lenken Offensichtlich an Überzeugungen ist die Art und Weise, wie wir Sätze verwenden um zu verlautbaren, was wir meinen. Ebenso offensichtlich ist jene oben diskutierte Verbindung zwischen Überzeugung und Verhalten vermittels des Wunsches. F.P. Ramsey (1931) erfasst diese Idee auf berühmte Weise, in dem er die Überzeugung als eine Landkarte beschrieb, nach der wir unser Verhalten steuern. Die Alternative zu LOTH ist eine Darstellung der Überzeugung dergestalt, dass sie die Überzeugung landkartenartig sieht. Für LOTH sind individuelle Überzeugungen fundamental, während auf der Karte Betrachtungssysteme von Überzeugungen fundamental sind. In uns gibt es eine riesige, komplexe Struktur, die auf reichhaltige und im Wesentlichen holistische Weise darstellt, wie die Dinge um uns herum beschaffen sind. Wenn jemand meint, irgendeine Bankfiliale sei größer als irgendeine Postfiliale, dann gibt es keine Struktur, keinen mentalesischen Satz in seinem Kopf, der die Überzeugung darstellt, dass die Bankfiliale größer als die Postfiliale ist. Vielmehr glaubt er, dass die Bankfiliale größer als die Postfiliale ist, indem er ein Überzeugungssystem unterhält, demzufolge – neben einer großen Zahl anderer Dinge – die Bankfiliale größer als die Postfiliale ist. Der springende Punkt lässt sich anhand des Kartenbeispiels verdeutlichen. Eine Karte der Erde repräsentiert vielleicht die Tatsache, dass die größeren Berge meistens neben den tieferen Ozeanen belegen sind, aber es gibt keinen Teil der Karte, der das genau auf die Weise sagt, wie das ein Satz tun würde, der dies sagt, beispielsweise durch genau den Satz: ‚Die höheren Berge befinden sich meisten neben den tieferen Ozeanen‘. Oder man bedenke ein Hologramm. Hologramme sind ‚Laserphotographien‘. Wenn Laserlicht durch das Negativ geworfen wird, so erscheint das wohlbekannte, dreidimensionale farbige Muster. Das Negativ kann man sich alsso so vorstellen, dass es Gegenstände auf eine Art und Weise repräsentiert, derzufolge sie so beschaffen sind, wie das farbige Muster sie abbildet. Jedoch trägt kein Teil des Negativs die Verantwortung für spezielle Teile des Musters. Jeder Teil enthält die Information über das gesamte abgebildete Feld. Wenn man einen Teil des Hologramms beschädigt, geht infolgedessen etwas von der Detailgenauigkeit verloren, ein Verwischen des dreidimensionalen Musters tritt ein, und nicht der Verlust eines bestimmtes Teiles davon. 1830
Überzeugung und Glaube
Viele der Phänomene, die von LOTH erklärt werden, können genauso gut durch die Landkartentheorie erklärt werden. Wir sagten bereits, wie LOTH die Evolution der Überzeugung über die Zeit im Wege kausaler Interaktionen interner Sätze miteinander erklären kann, und wie Überzeugungen ein Verhalten auf eine Weise hervorbringen, wie die gespeicherten Sätze sich in den Kausalpfad zum Verhalten einbringen. Aber interne Landkarten leiten Raketen zu ihren Zielen und entwickeln sich ebenfalls mit der Zeit. Dasselbe gilt für die Landkarten, die wir tagtäglich benutzen: sie leiten unser Verhalten und entwickeln sich mit der Zeit. Wir stellten fest, dass LOTH den Umstand zu erklären vermag, dass Wesen mit der Fähigkeit zu eine Überzeugung über die relative Größen einer Buchhandlung und einer Postfiliale auch in der Lage sind zu glauben, dass die Post größer als die Buchhandlung ist. Aber Landkarten (und Hologramme), die zu repräsentieren vermögen, dass die Buchhandlung größer als die Post ist, können ebenfalls darstellen, dass die Post größer als die Buchhandlung ist. Es wurde kürzlich eingewandt, dass es einen empirischen Beweis dafür gibt, dass unsere Gehirne dergestalt repräsentieren, wie die Dinge um uns herum beschaffen sind, ähnlich wie interne Landkarten oder Hologramme dies tun würden. Dies hat zu einem erneuten Interesse an der Landkartentheorie der Überzeugung geführt (siehe Konnektionismus). Die größte Frage der Landkartentheorie ist, ob das Überzeugtsein notwendig in einem Zusammenhang abgeschlossener Folgebeziehungen steht. Von p überzeugt zu sein heißt nach der Landkartentheorie, dass ein System von Überzeugungen gegeben ist, demzufolge p der Fall ist, d.h. ein System zu besitzen, das nicht wahr sein kann, solange nicht p. Wenn p aber q mit sich bringt, so muss ein System, dass nicht wahr sein kann, solange nicht p, auch ein System sein, dass nicht wahr sein kann, solange nicht q. Das bedeutet, dass die Landkartenauffassung eine Abgeschlossenheit der Folgebeziehungen annehmen muss, d.h. das Prinzip, dass, wenn p auch q mit sich bringt, jeder auch q glauben muss, der p glaubt. Aber ist es nicht möglich zu glauben, dass ein Dreieck gleichwinklig ist, ohne zu glauben, dass es auch gleichseitig ist, wie viele beginnende Geometriestudenten nur zu gut wissen? Die gewöhnliche Antwort seitens der Landkartentheoretiker hierauf ist es, darauf zu bestehen, dass jemand, der meint, ein Dreieck sei gleichwinklig, auch meint, es sei gleichseitig; was ihnen fehle, sei das Wissen über die richtigen Worte zum Erfassen desjenigen, was sie meinen. Dies ist aber Gegenstand einer noch laufenden Debatte. Siehe auch: Behaviorismus, analytischer; De re / de dicto; Funktionalismus; Intentionalität; Propositionale Einstellungen DAVID BRADDON-MITCHELL, FRANK JACKSON
Umasvati
Siehe: Jainistische Philosophie
Umweltethik
Ethische Theorie versuchen die Frage ‚Wie sollten wir leben?‘ zu beantworten. Ein Umweltethiker bezieht sich in seiner Antwort auf diese Frage auf unsere natürliche Umgebung. Diese Antwort kann behaupten, dass alle natürlichen Dinge und Systeme einen Eigenwert besitzen und deshalb moralischen Respekt verdienen. Eine etwas schwächere Position wäre die biozentrische, die meint, dass lebendige Dinge moralische Rücksicht erheischen. Aber auch eine Ethik, die den Besitz 1831
Umweltphilosophie
moralischer Werte auf Menschen allein beschränkt, kann noch unter den Begriff der Umweltethik fallen. Eine solche Sichtweise könnte die Existenz bestimmter natürlicher Werte als notwendig für das Gedeihen der gegenwärtigen und künftigen menschlichen Generationen schildern. Moralischer Respekt gegenüber den Tieren wird schon seit vorsokratischen Zeiten diskutiert, während die Bedeutung für unser Wohlergehen seit Kant und Rousseau zugenommen hat. Die Beziehung der natürlichen zur menschlich geschaffenen Umwelt, und die Bedeutung des Ortes ist ein zentrales Merkmal der Philosophie von Heidegger. Unter dem Eindruck eines zunehmenden Artenverlustes und eines fortschreitenden Verlustes an natürlichen Flächen hat sich die Arbeit der Umweltethik seit den 1970er Jahren überwiegend auf einen spezifischen Aspekt der Umwelt konzentriert, nämlich die Natur als Wildnis. Siehe auch: Umweltphilosophie; Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber; Nachhaltigkeit
Umweltphilosophie
In den frühen 1970er Jahren begann eine kleine Zahl akademischer Philosophen der englischsprachigen Welt ihre Aufmerksamkeit auf Fragen im Zusammenhang mit der natürlichen Umwelt zu richten. Umweltphilosophie umfasste anfänglich unterschiedliche Untersuchungsansätze, einschließlich jenen der Angewandten Ethik, der sich mit Fragen wie der atomaren Bewaffnung und der Emission giftiger Chemikalien befasste, aber auch mit abstrakteren Weiterentwicklungen der traditionellen ethischen Theorien, wie z.B. des Kantianismus und des Utilitarismus, in einen umweltbezogenen Kontext, und schließlich auch ein weitaus radikaleres Projekt, bei dem eine Neubewertung der Grundannahmen des westlichen Denkens im Lichte ihrer Konsequenzen für unsere Beziehung zur Natur vorgenommen wurde. Die ersten beiden Unternehmungen waren im Grunde Erweiterungen bereits bestehender philosophischer Forschungsgebiete, und es ist wohl das dritte Projekt, und das oft als ‚Umweltphilosophie‘ (engl: ecological philosophy oder ecophilosophy) bezeichnet wird, das eine deutlich neue Richtung der Philosophie eröffnet hat. Obwohl das Projekt der Umweltphilosophie explizit normativ ausgerichtet war, zeigte sich doch bald, dass daraus weit reichende Untersuchungen über das grundlegende Wesen der Welt folgen würden. Tatsächlich sahen viele bereits die Notwendigkeit einer Suche nach einem vollständig neuen ökologischen Paradigma, d.h. einer Weltsicht, die auf dem Prinzip der allseitigen Verbundenheit aufbaute, was transformierende Implikationen für die Metaphysik, die Erkenntnistheorie, die Geistphilosophie und die politische Philosophie hätte, genauso wie für die Ethik. Darüber hinaus zeigte sich, dass der Prozess einer Ausarbeitung einer neuen Sicht auf die natürliche Umwelt auch die Umrisse einer bereits tief verankerten anderen Weltsicht freigab, nämlich jenes, dass auf dem Prinzip der Trennung oder Teilung aufbaute, und das den überkommenen Strömungen des gesamten westlichen Denkens zugrunde liegt. Siehe auch: Umweltethik; Politische Philosophie; Monismus; Naturphilosophie; Pantheismus FREYA MATHEWS
Umweltpolitik, Philosophie der
Alle größeren politischen Philosophien wurden aus einer Krise geboren. Die Philosophie der Umweltpolitik stellt keine Ausnahme dieser Regel dar. Sie entstand 1832
Umweltpolitik, Philosophie der
aus einer untereinander verbundenen Reihe von Krisen, die oft insgesamt als ‚Umweltkrise‘ bezeichnet wird. Indem wir in das dritte Jahrtausend bzw. das 21. Jahrhundert eintreten, wird immer klarer, dass das Maß und der Grad der Umweltabwertung und -zerstörung so nicht lange weitergehen kann, ohne ernsthafte Konsequenzen für Menschen und andere Lebewesen, und auch für das gesamte Ökosystem, von dem wir alle abhängen, nach sich zu ziehen. Eine veritable Explosion der menschlichen Bevölkerung, die Vergiftung der Luft und des Wassers, das Überfischen der Ozeane, die Zerstörung der tropischen und subtropischen Regenwälder, die Ausrottung ganzer Arten, die Ausraubung der Ozonschicht, der Aufbau der Treibhausgase, die globale Erwärmung, Wüstenausbreitung, Wind- und Wassererosion wertvollen Oberflächenbodens, das Verschwinden wertvoller Anbauflächen und Wildflächen zugunsten von ‚Flächenentwicklung‘ – diese und viele andere untereinander zusammenhängende Phänomene liefern den Hintergrund und die Rechtfertigung für die ‚Ökologisierung‘ des modernen politischen Denkens. Die Aufgabe eines Grundrisses und einer Zusammenfassung des Standes der umweltpolitischen Philosophie ist schwieriger geworden, weil es bis jetzt keine Übereinstimmung zwischen den umweltpolitischen Denkern gibt. Tatsächlich gibt es bislang gar keine umweltpolitische Philosophie als solche. Die Öko- oder Umweltbewegung ist vielgestaltig und verstreut, und sie erscheint in unterschiedlichen ‚Grüntönen‘. Diese reichen von ‚leicht grünen‘ Erhaltungsdenkern bis zu den ‚dunkelgrünen‘ Ökologen, von den Ökofeministinnen zu den Sozialökologen, von den militanten sog. ‚Ökoteuren‘ der Bewegung Earth First! bis zu den einfacheren Mitgliedern des Sierra Club und den Naturschützern. Diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Strategie und ihrer Taktik, sondern auch in ihrer fundamentalen Philosophie. Während es keine einheitliche, systematisch artikulierte und abgestimmte umweltpolitische Philosophie gibt, zeigen sich doch nichtsdestotrotz wiederkehrende Punkte, Themen, Kategorien und Begriffe, die sicherlich zentral für eine solche politische Philosophie sind. Diese schließen die Idee ein, dass Menschen Teil der Natur sind und Mitglieder einer größeren und umfassenderen ‚biotischen Gemeinschaft‘, der gegenüber sie Verpflichtungen haben. Diese Gemeinschaft umfasst sowohl Menschen, als auch nicht-menschliche Tiere, und ebenfalls die für ihr Überleben und Wohlergehen förderlichen Bedingungen. Eine solche Gemeinschaft besteht ferner nicht nur aus Mitgliedern, die leben, sondern auch aus jenen, die noch nicht geboren sind. Eine umweltpolitische Philosophie bewertet sowohl die biologische, als auch die kulturelle Vielgestaltigkeit, und betrachtet die Nachhaltigkeit als ein Maß, nach dem die Richtigkeit menschlicher Handlungen und Praxis beurteilt wird. Wie diese Themen zum Zwecke eines größeren, systematischen und kohärenten Ganzen genau zusammenpassen mögen, ist Gegenstand aktueller Arbeiten. Siehe auch: Umweltethik TERENCE BALL
Unbestimmtheit der Bedeutung und Übersetzung
Siehe: Fundamentale Übersetzung und fundamentale Interpretation
Unbewusste geistige Zustände
Unbewusste Phänomene sind jene geistigen Phänomene, die ihren Besitzern nicht durch Introspektion zugänglich sind, und zwar nicht nur nicht in dem Augen1833
Unbewusste geistige Zustände
blick, wenn sich diese Phänomene ereignen, sondern auch dann nicht, wenn man sie (später) darauf anspricht: ‚Denkst Du, dass…?‘ oder ‚Willst Du …?‘ Es gibt schon seit der Antike bis Freud eine Vielzahl von Hinweisen auf zahlreiche Arten unbewusster Phänomene. An einer sehr bekannten Stelle verteidigt Platon in seinem ‚Menon‘ eine Lehre der anamnesis (dt.: ‚Nichterinnern‘), nach der z.B. apriorischgeometrisches Wissen aus einem früheren Leben bzw. aus dem unsterblichen Wissensfundus der ewigen Seele wiedergewonnen wird. Doch die Vorstellung eines reichen, unbewussten geistigen Lebens entwickelt sich erst im 19. Jahrhundert bei Autoren wie Herder, Hegel, Helmholtz und Schopenhauer. Teilweise in dieser Tradition entstand Freuds berühmtes Postulat des Unbewussten als ‚verdrängte‘ Wünsche und Erinnerungen. Zum Teil als Reaktion auf die übertriebene Bedeutung der Introspektion, zum Teil aber auch wegen des Aufkommens der Berechnungsmodelle geistiger Prozesse, wurde die Psychologie des 20. Jahrhunderts oft durch jene von Lashley formulierte Annahme verführt, dass ‚keine Tätigkeit des Geistes je bewusst‘ sei. Ein weiter Bereich in jüngerer Zeit durchgeführter Experimente legt dagegen nahe, dass die Menschen sich einer Vielzahl sinnlicher und kognitiver Faktoren nicht bewusst sein können, beispielsweise der Pupillenweitung, kognitiver Unstimmigkeiten, unterschwelliger Reize oder Hinweise auf Problemlösungen etc., die nachweislich ihr Verhalten beeinflussen. Und Weiskrantz hat Fälle von ‚Blindsicht‘ dokumentiert, wo Patienten mit Schäden an ihrem visuellen Kortex nachweislich für visuelle Reize empfänglich sind, von denen sie aufrichtig behaupten, dass sie sie nicht sehen. Die strittigsten Fälle der unbewussten Phänomene sind jene, die den Akteuren vermutlich nicht, und zwar grundsätzlich nicht durch Introspektion zugänglich sind. Chomsky schreibt Erwachsenen und sogar schon neugeborenen Kindern unbewusstes Wissen ziemlich abstrakter grammatischer Prinzipien in einem Umfange zu, den nur ein Linguist zu erschließen vermag. Viele Philosophen sind zu der Auffassung gelangt, dass diese Behauptungen über das Unbewusste nicht überzeugend und sogar inkohärent sind. Sie müssten allerdings zeigen, wie die oben genannten Beweise auf andere Weise erklärt werden könnten, und warum Berufungen auf das Unbewusste durch die gesamte Geschichte hindurch so plausibel wirkten. Siehe auch: Bewusstsein; Psychoanalyse, Methodische Fragen der GEORGES REY
Undurchsichtigkeit
Siehe: Indirekte Rede; Intensionale Logik; Mögliche-Welten-Semantik
Uneindeutigkeit
Ein Wort, eine Redewendung oder ein Satz ist uneindeutig, wenn er mehr als eine Bedeutung hat. Das Wort ‚Feder‘ kann die Vogelfeder oder die Uhrfeder bedeuten. Worte wie beispielsweise ‚Feder‘, ‚Mutter‘, ‚Flügel‘, ‚kosten‘, ‚wagen‘, ‚links‘ oder ‚rechts‘ etc. sind lexikalisch uneindeutig. Sie bringen eine Mehrdeutigkeit in die Wendungen oder Sätze, in denen sie auftauchen, wie z.B. ‚In jenem Flügel liegen die Noten‘ (Gebäude oder Instrument?) oder ‚Er steht links von ihr‘ (politisch oder räumlich?). Redewendungen und Sätze können allerdings selbst dann noch mehrdeutig sein, wenn es ihre Bestandteile nicht sind. Der Satz ‚Die Polizei schoss auf die Aufständischen mit Gewehren‘ ist strukturell mehrdeutig, genauso wie die Wen1834
Uneindeutigkeit
dung ‚der wilde Junge‘. Uneindeutigkeit kann sowohl eine lexikalische, als auch eine strukturelle Grundlage haben, wie z.B. in dem Satz ‚Einer der Frösche sprang ihm in die Augen‘. Der Begriff der Uneindeutigkeit ist philosophisch anwendbar. Das Aufzeigen einer Uneindeutigkeit kann beispielsweise bei der Lösung eines philosophischen Problems helfen. Angenommen jemand fragt sich, wie zwei Menschen dieselbe Idee z.B. von einem Einhorn haben können. Dies kann verwirrend sein, solange bis jemand das Wort ‚Idee‘ im Sinne eines individuellen psychologischen Ereignisses, also eine mentale Abbildung, von der Bezeichnung ‚Idee‘ für einen abstrakten, intersubjektiven Begriff unterscheidet. Auf der anderen Seite können grundlose Behauptungen der Uneindeutigkeit zu übermäßig vereinfachten Lösungen führen. Entsprechend stellt sich die Frage, wie wirkliche Uneindeutigen von falschen unterschieden werden können. Ein Teil der Antwort ergibt sich aus der Identifikation von Phänomenen, die mit der Uneindeutigkeit verwechselt werden können, wie z.B. Undeutlichkeit, Unklarheit, Unausgesprochenheit und Indexikalität. Siehe auch: Sprache, Philosophie der; Semantik Anmerkungen und weitere Lektüre: Quine, W.v.O. (1960) Word and Object, Cambridge, MA: MIT Press (dt.: ‚Wort und Gegenstand‘, Reclam, Stuttgart 1980). (Eine detallierte, einfühlende Diskussion, ob man sich eine Überzeugung als ‚wahr-glauben‘ irgendeines linguistischen Terms vorstellen soll. Dies steht in Beziehung zur Diskussion der Unterscheidung zwischen Überzeugung de dicto und der Überzeugung de re, die in diesem Beitrag nicht besprochen wurde.) Ramsey, F.P. (1931) The Foundation of Mathematics, London: Kegan Paul. (Eine klassische Quelle der Sichtweise von Überzeugungen als eine Art von Landkarte, nach der wir uns richten, sowie der abgestuften Behandlung von Überzeugungen im Sinne einer Teilnahme an Wettspielen.) DAVID BRADDON-MITCHELL, FRANK JACKSON
Unendlichkeit Einführung Das Unendliche wird üblicherweise als das gedacht, was endlos, unbeschränkt und unmessbar ist. Es besitzt auch theologische Konnotationen der Absolutheit und Vollkommenheit. Vom Anbeginn der Zivilisation an ging von ihm eine besondere Faszination aus: die Menschen fühlten sich von der Grenzenlosigkeit von Raum und Zeit ergriffen, vom Mysterium der Zahlen, die immer weiter laufen, von den Paradoxa der unendlichen Teilbarkeit und von den Rätseln der göttlichen Vollkommenheit. Das Unendliche ist von grundlegender Bedeutung für die Mathematik. Dessen ungeachtet war deren Beziehung zueinander eine seltsam ambivalente. Es ist klar, dass die Mathematik in gewissem Sinne das Unendliche voraussetzt, beispielsweise in dem Umstand, dass es keine größte ganze Zahl gibt. Aber die Vorstellung, dass das Unendliche selbst ein Gegenstand der mathematischen Untersuchung sein könnte, ist immer wieder der Lächerlichkeit ausgesetzt gewesen. Die mathematische Orthodoxie lautete lange, dass es keine formale Theorie des Unendlichen geben kann. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Lehrmeinung mit dem Aufkommen der ‚transfiniten Arithmetik‘ schließlich widersprochen. Viele Mathematiker blieben 1835
Unendlichkeit
jedoch skeptisch und glaubten, dass das Unendliche an sich selbst außerhalb unseres Fassungsvermögens liegt. Vielleicht sollte sich ihr Skeptizismus am Unendlichen selbst üben: womöglich ist der Begriff letztlich inkohärent. Auf jeden Fall ist er durch Paradoxa verrätselt. Wir können ihn aber nicht einfach über Bord werfen. Dies ist der Grund, warum die betreffenden Paradoxa so scharf sind. Ihre Wurzeln liegen in unserer eigenen Endlichkeit; es ist die selbstbewusste Aufmerksamkeit dieser Endlichkeit, die uns unser anfängliches Gefühl des Gegensatzes zum Unendlichen gibt und uns gleichzeitig daran verzweifeln lässt, dass wir nichts darüber wissen oder es nicht begreifen können. Dies erzeugt eine Spannung. Wir fühlen einen Druck zur Anerkennung des Unendlichen, und wir fühlen einen ebensolchen Druck, dies nicht zu tun. In dem Versuch, mit dem Unendlichen ins Reine zu kommen, versuchen wir mit einem grundlegenden Konflikt in uns selbst ins Reine zu kommen. 1. Das antike griechische Denken 2. Aristoteles 3. Die Rationalisten und die Empiristen 4. Kant 5. Post-kantische Metaphysiken des Unendlichen 6. Die moderne Mathematik des Unendlichen 7. Menschliche Endlichkeit 1. Das antike griechische Denken Das griechische Wort peras wird üblicherweise mit ‚Grenze‘, auch ‚das Äußerste‘, ‚Ende‘ oder ‚Ziel‘ übersetzt. To apeiron bezeichnet das, was keine peras hat, also das Unbegrenzte oder Unbeschränkte: das Unendliche. To apeiron wurde im antiken griechischen Denken mit Anaximander von Milet im 6. Jahrhundert v. Chr. das erste Mal bedeutsam (siehe Anaximander). Er stellte sich dies als eine grenzenlose, unzerstörbare und letzte Quelle von allem, was es gibt, vor. Er dachte es aber auch als jenes, in das schließlich alles zurückkehren muss, um Sühne zu leisten für das Unrecht und die Zwietracht, die aus ihrer vorübergehenden Existenz resultiert. Anaximander war in gewisser Weise allerdings eine Ausnahme. Im Ganzen gesehen fürchteten die Griechen das Unendliche (wie dies von alten Sprichwörtern bezeugt wird). Für diese Ära sind die Pythagoräer (siehe Pythagoreismus) typischer. Sie glaubten an zwei grundlegende kosmologische Prinzipien, nämlich peras und apeiron, wobei unter Ersteres all das fällt, was gut ist, und unter das Letztere alles Schlechte. Sie meinten ferner, dass die Gesamtheit der Schöpfung als Ausdruck der positiven ganzen Zahlen 1, 2, 3 … zu verstehen ist und letztlich aus diesen Zahlen besteht. Dies sollte möglich sein, weil peras ununterbrochen apeiron unterjochte (d.h. die ganzen Zahlen selbst sollten dies leisten, weil jede von ihnen endlich ist). Platon folgte in gewissem Umfange diesem Glauben der Pythagoräer, der ebenfalls meinte, dass es die Auferlegung von Grenzen gegenüber dem Unbegrenzten sei, die für alle numerisch definierbaren Phänomene verantwortlich sind, die uns umgeben. Die Pythagoräer stellten jedoch schon bald zu ihrem Entsetzen fest, dass man dem Unendlichen nicht einfach die Rolle des kosmischen Schurken zuschreiben konnte. Pythagoras selbst entdeckte nämlich, dass das Quadrat der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich der Summe der Quadrate der anderen beiden Seiten ist. Anerkennt man dieses Theorem, so ist das Verhältnis der Diagonale eines 1836
Unendlichkeit
Quadrats zu jeder ihrer Seiten √2 : 1. Es gibt einige gute Näherungen an dieses Verhältnis; z.B. ist es etwas mehr als 7 : 5 und etwas weniger als 17 : 12. Tatsächlich gibt es Näherungen in jedem gewünschten Genauigkeitsgrad. In Anbetracht der pythagoreischen Grundüberzeugungen sollte dieses Verhältnis allerdings genau p : q betragen, wobei sowohl p, als auch q für positive ganze Zahlen stehen. Das Problem ergab sich nun daraus, dass sie einen Beweis entdeckten, demzufolge dies hier nicht der Fall ist. Dies betrachteten sie schlichtweg als eine Katastrophe. Einer Legende zufolge erlitt einer der Pythagoräer auf hoher See Schiffbruch, weil er diese Entdeckung ihren Feinden verraten wollte. Die Pythagoräer waren über das ‚Irrationale‘ in der Mathematik gestolpert. Sie sahen dadurch die Begrenztheit der positiven ganzen Zahlen und fühlten sich in der Folge gezwungen, das Unendliche genau in ihrem Zentrum anzuerkennen. Ungefähr zu selben Zeit formulierte Zenon von Elea eine Reihe seither berühmter Paradoxa, die mit dem Unendlichen zusammenhänge. Das Bekannteste von ihnen ist das Paradox des Achilles und der Schildkröte: Achilles, der viel schneller als die Schildkröte läuft, kann sie in einem Wettlauf dennoch nicht überholen, sofern er sie in einem bestimmten Abstand vor sich starten lässt. Denn um sie zu überholen, muss er zunächst den Punkt erreichen, von dem aus die Schildkröte loslief. Zu diesem Zeitpunkt wird die Schuldkröte jedoch schon einen Bruchteil des anfänglichen Abstandes zwischen beiden weiter gelaufen sein. Nun muss Achilles neuerlich diesen Abstand überwinden, in welcher Zeit die Schildkröte sich wiederum ein kleines Stück weiter bewegt, und so weiter ad infinitum. Solche Paradoxa hatten nicht nur eine tiefgreifende Wirkung auf die Geschichte des Denkens der Unendlichkeit, sondern sie bestärkten auch die Feindseligkeit des frühen griechischen Denkens gegenüber diesem Begriff. 2. Aristoteles Aristoteles’ Verständnis des Unendlichen war ein sehr modernes, insofern er es als ein Unüberschreitbares oder Nie-Endendes definierte. Gleichzeitig war er sich eines grundlegenden Dilemmas bewusst. Auf der einen Seite ergaben Zenons Paradoxa zusammen mit einer Fülle weiterer Überlegungen, dass sich der Begriff der Unendlichkeit tatsächlich einer bestimmten Art der Anwendung auf die Wirklichkeit widersetzt. Auf der anderen Seite scheint es keine Möglichkeit zu geben, auf diesen Begriff zu verzichten, was bereits die Pythagoräer realisiert hatten. Genauso wie √2 scheint die Zeit unendlich zu sein: die Zahlen scheinen sich ad infinitum fortsetzen zu lassen, und der Raum, die Zeit und die Materie schienen ihm allesamt unendlich teilbar zu sein. Aristoteles’ Lösung dieses Dilemmas ist meisterlich. Sie beherrschte alles nachfolgende Denken über das Unendliche, und bis in die jüngste Vergangenheit wurde sie von fast allen übernommen, die über dieses Thema nachdachten. Aristoteles unterschied zwischen dem ‚Aktual-Unendlichen‘ und dem ‚Potenziell-Unendlichen‘. Das Aktual-Unendliche ist das, dessen Unendlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt existiert oder gegeben ist. Das Potenziell-Unendliche ist das, dessen Unendlichkeit zu allen Zeiten existiert oder gegeben ist. Alle Einwände gegen das Unendliche, darauf beharrte Aristoteles, sind Einwände gegen das Aktual-Unendliche. Das PotenziellUnendliche ist ein grundlegendes Merkmal der Wirklichkeit. Es muss in jeglichem Prozess anerkannt werden, der nicht enden kann, beispielsweise im Prozess des Zäh1837
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lens, in verschiedenen Prozessen des Teilens oder im Lauf der Zeit selbst. Der Grund dafür, dass solche Paradoxa wie die Zenonschen auftauchen, liege darin, dass wir diese Unterscheidung nicht ausreichend beachten. Habe man beispielsweise einmal eingesehen, dass der Prozess des Teilens einer gegebenen Rennstrecke nicht endlich sein kann, stellen wir uns vor, dass all die künftigen Teilungen bereits wirklich gegeben sind. Wir denken daraufhin, dass die Rennstrecke bereits in unendlich viele Teile geteilt ist, und dann nimmt es nicht Wunder, wenn dies in ein Paradox mündet. Selbst spätere Denker, die Aristoteles’ Vorbehalt gegen das Aktual-Unendliche nicht teilten, neigten dazu, die Bedeutung seiner Unterscheidung anzuerkennen. Oftmals wurde Aristoteles’ Bezugnahme auf die Zeit jedoch als eine Metapher für irgendetwas Tieferes oder Abstrakteres verstanden. Dies erwies sich wiederum gewöhnlich als ein grammatisches Problem. Deshalb unterschieden einige mittelalterliche Denker zwischen kategorematischen oder synkategorematischen Verwendungen des Wortes ‚unendlich‘. Kurz gesagt bedeutet der Gebrauch des Wortes ‚kategorematisch‘ im Zusammenhang mit dem Unendlichen, dass irgendeine Eigenschaft so beschaffen ist, dass sie ein jegliches endliches Maß überschreitet. Der Gebrauch des Wortes ‚synkategorematisch‘ im Zusammenhang mit dem Unendlichen bedeutet dagegen, dass bei einer Eigenschaft nur irgendein Maß gegeben sein muss, das die Endlichkeit übersteigt. Im ersteren Falle muss das Unendliche ‚umfassend und sofort‘ instantiiert sein, im letzteren Falle nicht. Die Unterscheidung des Kategorematischen vom Synkategorematischen führt zu einer weiteren Unterscheidung, deren Bedeutung für das Unendliche kaum noch schwer zu übertreffen ist. Dies ist die Unterscheidung zwischen der Aussage, dass es etwas der Art X gibt, zu dem jedes Ding von der Art Y in der Beziehung R steht, und der Aussage, dass jedes Ding der Art Y in der Beziehung R zu einem Ding der Art X steht (was nicht notwendig zu jeder Zeit dasselbe Ding sein muss). Hierauf wird nachfolgend unter der Bezeichnung ‚Unterscheidung des Geltungsbereichs‘ Bezug genommen (siehe Geltungsbereich). Aristoteles dachte aber noch nicht in diesen sehr abstrakten Kategorien. Er nahm die Bezugnahme auf die Zeit in seiner eigenen Darstellung der Unterscheidung des Aktual- vom Potenziell-Unendlichen recht wörtlich. Dies führt allerdings in eine sehr ernste Schwierigkeit. Er meinte nämlich, dass die Zeit – anders als der Raum – unendlich sei. Ferner meinte er, dass die Zeit ständige Aktivität mit sich bringe, wie sich dies im Umlauf der himmlischen Sphären zeige. Wenn sich unsere Aufmerksamkeit auf die Zukunft richtet, zeigt sich hier kein offenkundiges Problem. Vergangenen Umläufen des Himmels scheint jedoch, eben weil sie vergangen sind, eine Unendlichkeit zu eignen, dies uns jetzt vollständig gegeben ist, und die folglich wirklich ist. Diese Schwierigkeit war in allerhand Erscheinungsformen ein ständiges Ärgernis für jene Philosophen, die das Unendliche im Großen und Ganzen auf die aristotelische Art und Weise abhandeln wollten. 3. Die Rationalisten und die Empiristen Über einen Zeitraum von 2.000 Jahren wurde die aristotelische Konzeption des Unendlichen als der orthodoxe Standpunkt betrachtet. Häufig wurde diese Konzeption auch mit einer Art von Empirismus begründet: das Aktual-Unendliche wurde verschmäht, weil wir es in der Erfahrung niemals antreffen. Aber geht es uns mit dem Potenziell-Unendlichen in dieser Hinsicht besser? Ist die Erfahrung einer Un1838
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endlichkeit, die zu allen Zeiten gegeben ist, in irgendeiner Hinsicht weniger problematisch als die Erfahrung einer Unendlichkeit, die mit einem Schlage gegeben ist? Die extremeren der britischen Empiristen standen dem Unendlichen in allen seinen Gestalten feindselig gegenüber. Wo Aristoteles noch bereit war zu akzeptieren, dass Raum und Zeit unendlich teilbar sind, bestritten Berkeley und Hume sogar dies. Sie meinten, dass der Begriff des Unendlichen einer sei, auf den wir verzichten könnten und dies auch sollten (siehe Empirismus). Dies stellt teilweise auch eine Gegenreaktion im Verhältnis zu ihren rationalistischen Vorgängern dar. Die Rationalisten hatten vorgebracht, dass wir eine Idee des Unendlichen selbst dann hervorzubringen vermögen, wenn wir es weder erfahren, noch uns vorstellen können. Sie dachten, dass diese Idee eine angeborene sei, und dass sie uns bei der Bildung einer lebendigen Einsicht der Wirklichkeit hülfe. Sie sahen keinerlei Schwierigkeit in dieser Auffassung. Descartes drückte dies so aus, dass die Tatsache unserer Unfähigkeit, das Unendliche zu fassen, nicht ausschlösse, sie mit unseren Gedanken zu berühren, genauso wenig wie die Tatsache, dass wir einen Berg nicht begreifen können, seine gedankliche Berührung ausschließt (siehe Rationalismus). Descartes glaubte, dass unsere Idee des Unendlichen in unserem Geist durch Gott eingepflanzt worden sei (siehe Descartes, R., § 6). Tatsächlich war dies die Grundlage des einen seiner Gottesbeweise. Nur ein wahrhaft unendlichen Wesen, so wandte Descartes ein, kann überhaupt eine solche Idee in unserem Geist eingepflanzt haben. Man beachte hier die Angleichung des Unendlichen an das Göttliche; dies war ein Vermächtnis des mittelalterlichen Denkens, was heute etwas abgedroschen klingt. Als diese Angleichung aber am Ende der Antike das erste Mal behauptet wurde, am berühmtesten durch den Neuplatonisten Plotin, markierte sie einen Wendepunkt in der Geschichte des Denkens über das Unendliche. Bis dahin gab es eine Tendenz, ‚unendlich‘ als einen abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen. Demgegenüber war das neue Verständnis das glatte Gegenteil. Die Empiristen mussten unterdessen ihre Zurückweisung des Unendlichen gegen den Vorwurf verteidigen, dass sie dadurch in Widerspruch zum aktuellen Stand der Mathematik gerieten. Sie taten dies auf mehr oder weniger ausgetüftelte Weise; im Falle der Geometrie jedoch, wo dieses Problem am schärfsten war, tat Hume den recht ungenierten Schritt, einfach bestimmte zentrale Prinzipien zu leugnen, die die Mathematiker bereits als gültig ansahen. (Berkeleys Hauptsorge galt der Anwendung von unendlich kleinen Werten in der kurz zuvor erfundenen Infinitesimalrechnung. Tatsächlich waren seine Einwände sehr gerechtfertigt; es bedurfte eines ganzen Jahrhunderts, bis sie angemessen entkräftet werden konnten.) 4. Kant Kant spielte seine charakteristische Rolle als Versöhner im Streit um das Unendliche (siehe Kant, §§ 2, 5, 8). Er unterhielt einen empiristischen Skeptizismus gegenüber dem Unendlichen, der auf der Tatsache aufbaute, dass wir es nicht unmittelbar wahrnehmen können. Gleichwohl stellte er sich an die Seite der Rationalisten, indem er darauf beharrte, dass unsere Erfahrung gewisse formale oder strukturelle Merkmale aufweise, die a priori zugänglich seien, und die das Unendliche mit sich brächten. Deshalb dachte er, dass Raum und Zeit unendlich seien (und zwar in dem doppelten Sinn der unendlichen Ausdehnung und der unendlichen Teilbar1839
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keit). Es sei in die Form einer jeden menschlichen Erfahrung eingeschrieben, dass es immer auch die Erfahrung davon geben kann, wie die Dinge über etwas hinaus oder diesseits von etwas sind, oder früher oder später. Dies seien, so meinte Kant, die mathematischen Wahrheiten, die a priori gegeben und daher unangreifbar seien. Es ist aber fraglich, wie die Topologie von Raum und Zeit überhaupt a priori sein kann. Kants berühmte Antwort lautete, dass Raum und Zeit keine Merkmale der ‚Dinge an sich‘ seien; sie seien vielmehr Teil eines apriorischen Rahmens, der unserer Erfahrung der Dinge zugrunde liege. Was ist aber mit den Inhalten von Raum und Zeit, dem physischen Universum als Ganzem? Das sei etwas Anderes. Kant meinte nicht, dass das Physische a priori konstruiert sei. Noch meinte er umgekehrt, dass es letztlich in dem Sinne wirklich sei, dass es einen jeglichen Zugang transzendiere, den wir dazu haben. In Kants Sichtweise hat es keine Eigenschaften, die jenseits dessen liegen, was zu erfahren wir imstande sind. Hier also widersetzt sich der Begriff des Unendlichen seiner Anwendung. Kant ließ aber immer noch das zu, was er als einen legitimen regulativen Gebrauch ansah. Damit meinte er, dass wir uns so verhalten könnten, als ob das physische Universum als Ganzes unendlich sei, wodurch wir uns selbst ermutigen würden, unsere Forschungen niemals aufzugeben. Letztlich haben wir aber keine Möglichkeit, diese Unendlichkeit zu erfahren. Kant war gezwungen, eine extrem empiristische Haltung einzunehmen, indem er bestritt, dass das physische Universum als Ganzes unendlich groß, dass es unendlich teilbar, und dass es unendlich alt sei. In dieser Hinsicht geht er sogar noch über Aristoteles hinaus, wodurch er die Schwierigkeit umging, die jenen bedrängt hatte. Dennoch ergab sich hier ein Dilemma. Kant war nämlich auch gezwungen zu bestreiten, dass das physische Universum in irgendeinem dieser Sinne endlich sei. Davon abgesehen bedeutet das Postulat des unendlichen, leeren Raumes oder einer solchen Zeit über die Beschränkungen des physischen Universums hinaus gleichzeitig das Postulat dessen, was über das von uns durch die Erfahrung Begreifliche hinausgeht. Dieses Dilemma ist heftig. Kant selbst präsentierte es in der Form von Paaren von ‚Antinomien‘. Diese Antinomien bestanden aus den Haupteinwänden gegen die Unendlichkeit des Universums in jeder der genannten Hinsichten, sowie den Hauptargumenten gegen dessen ebensolche Endlichkeit. Er glaubte jedoch, dass das Dilemma den Keim seiner eigenen Lösung enthielte. Wenn das Physische letztlich nicht wirklich ist, d.h. wenn es nicht mehr daran gibt, als wir imstande sind davon zu erfahren, dann besitzen wir die Freiheit zu bestreiten, dass es überhaupt irgend so etwas wie ein physisches Universum als Ganzes gibt. Es gibt lediglich endliche physische Dinge, die uns durch die Erfahrung zugänglich sind. Das physische Universum als Ganzes ist weder unendlich noch endlich. Es existiert gar nicht. Kants Lösung führte ihn zu einer direkten Anwendung der Unterscheidung des Geltungsbereichs (siehe oben § 2). Auf der einen Seite bestätigte er, dass alle endlichen physischen Dinge innerhalb von etwas Physischem enthalten sind (z.B. ist die Erde Teil des Sonnensystems). Auf der anderen Seite bestritt er, dass es etwas Physisches gibt, d.h. eine physische Gesamtheit, nämlich das Universum, innerhalb dessen ein jedes physisches Ding enthalten ist. Diese beiden Behauptungen, also die Bestätigung und die Leugnung, gründeten sich auf der Tatsache, dass es nichts gibt, das wir in Raum und Zeit ausmachen können, dass wir davon nicht noch mehr ausmachen können. Dies ist eine fundamentale Tatsache über uns selbst, nämlich die 1840
Unendlichkeit
Tatsache, dass wir endlich sind. Unsere Identifikationen sind immer unvollständig. Kant fügte dem in idealistischer Laune hinzu, dass alles, was wir nicht ausmachen können, auch gar nicht existiert. Hier, wie an so vielen anderen Stellen, sehen wir, wie tief Kants Philosophie mit menschlicher Endlichkeit verwoben war, und wie ernst er diesen Aspekt nahm. 5. Post-kantische Metaphysiken des Unendlichen Das metaphysische Denken über die Unendlichkeit ist seit Kant weiterhin tief mit der menschlichen Endlichkeit verbunden geblieben. Insbesondere die Existenzialisten haben sich darin geübt, speziell in ihrer Auffassung der Sterblichkeit. Andererseits anerkannten sie über weite Strecken auch Elemente des Unendlichen in uns. Diese Figur ist ebenfalls kantisch. Kant glaubte, dass wir freie und rationale Akteure sind, und dass unser Handeln, wenn wir es angemessen ausüben, eine unbedingte Autonomie aufweist, die alle Kennzeichen des wahrhaft Unendlichen in sich trägt. Für Kant war dies ein Moment, das uns erhöht. Für viele der Existenzialisten, die noch mit der fundamentalen Tatsache der menschlichen Endlichkeit beschäftigt waren, stellt sich dies jedoch als etwas dar, das verantwortlich für sehr tiefe Spannungen in uns, und damit für die Absurdität der menschlichen Existenz (siehe Existenzialismus § 2). Hegel war sich mit Kant darin einig, dass das wahrhaft Unendliche in der Ausübung der Vernunft zu suchen sei (siehe Hegel, G.W.F., § 8). Er ging darin aber noch über Kant hinaus. Er wandte ein, dass die Vernunft der unendliche Grund von überhaupt Allem sei. Alles, was geschieht, kann nach Hegels Auffassung als eine Tätigkeit einer Art von Weltgeist aufgefasst werden, und dieser Weltgeist ist die Vernunft. Dies führte Hegel zu einer sehr unaristotelischen Konzeption der Unendlichkeit. Für Hegel ist das Unendliche das vollständige, das Ganze, das Einheitliche. Aristoteles’ Konzeption des Unendlichen als dem Niemals-Endenden war nach Hegels Auffassung ein großer Fehler. Er erklärt diese Konzeption als etwas, das aus unseren endlichen Versuchen einer Annäherung an das wahrhaft Unendliche herrührt. Und er beschreibt die aristotelische Unendlichkeit als eine ‚störende‘ oder ‚schlechte‘ Unendlichkeit, d.h. als eine bloße Folge endlicher Elemente, von denen jedes einzelne vom nächsten begrenzt wird, aber niemals vollständig ist und niemals wirklich zur Einheit zusammen geht. Eine solche ‚Unendlichkeit‘ schien Hegel abwechselnd albtraumartig, bizarr, dann wieder einfach langweilig, aber immer nur ein blasser, unangemessener Widerschein des wahrhaft Unendlichen. 6. Die moderne Mathematik des Unendlichen Trotz Kants Einfluss auf Hegel, und trotz seiner eigenen Bindung an die unendliche Vernunft (wie auch an den unendlichen Raum), half Kant dennoch gewiss bei der Verbreitung der aristotelischen Tradition einer Behandlung des Aktual-Unendlichen als etwas Feindlichem und Verdächtigem. In dem Umfange, wie diese Tradition vorherrschte, wurde das Aktual-Unendliche in steigendem Maße auf die allgemeinere, nicht-zeitliche Weise verstanden, wie dies oben in § 2 beschrieben wurde. Schließlich nahm man hiervon jedoch jede kategorematische Verwendung des Wortes ‚unendlich‘ aus. Die ernsthafteste Herausforderung dieser Überlieferung, zumindest im mathematischen Zusammenhang, wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert durch Cantor formuliert, dessen mathematischer Beitrag zu diesem Thema unübertroffen ist. 1841
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Einwände gegen das Aktual-Unendliche nehmen üblicherweise zwei Formen an. Die erste haben wir bereits kennen gelernt: Einwände, die darauf aufbauen, dass wir das Aktual-Unendliche niemals in der Erfahrung kennen lernen. Einwände der zweiten Art stützten sich auf die Paradoxa, die das Aktual-Unendliche hervorrufen. Diese Paradoxa teilen sich wiederum in zwei Gruppen. Die erste Gruppe besteht aus den Zenonschen Paradoxa und ihren Varianten. Nachdem Cantor seine Texte veröffentlicht hatte, verlor das Problem, nachdem die Mengenlehre ihre volle Reife erreicht hatte, einen großen Teil seiner Schärfe. Bedeutsamer waren nun die Paradoxa der zweiten Gruppe, die bereits seit dem Mittelalter bekannt waren. Dies waren die Widersprüche der Gleichzahligkeit. Sie leiten sich aus dem folgenden Prinzip ab: wenn (und nur wenn) es möglich ist, aus allen Elementen zweier Mengen jeweils Paare zu bilden, so müssen beide Mengen die gleiche Anzahl Elemente haben. Beispielsweise muss eine nicht-polygame Gesellschaft, auf die dies hinsichtlich der in ihr lebenden Männer und Frauen dies zutrifft, ebenso viele Männer wie Frauen haben. Das Prinzip scheint folglich ganz klar zu sein. Wendet man es jedoch auf unendliche Mengen an, scheint es sich jedoch über Euklids Vorstellung hinwegzusetzen, derzufolge das Ganze größer ist als die Teile. Beispielsweise ist es möglich, Paare aus allen positiven ganzen Zahlen mit den geraden Zahlen zu bilden, die sich jeweils aus ihrer Verdoppelung ergeben: 1 mit 2, 2 mit 4, 3 mit 6 etc. Cantor akzeptierte dieses Prinzip. Und konsistenterweise akzeptierte er damit auch, dass es genau so viele gerade positive ganze Zahlen gibt wie positive ganze Zahlen insgesamt. Ohne darüber im Geringsten beunruhigt zu sein, definierte er genau, was in solchen Fällen geschieht, und brachte seine Definitionen in eine kohärente, systematische und strenge Theorie des Aktual-Unendlichen ein, die jedem skeptischen Blick standhielt. Man könnte erwarten, dass nach diesem Verständnis alle unendlichen Mengen dieselbe Mächtigkeit aufweisen. (Wenn dies so sein sollte, so wäre es nicht ungebührlich widersprüchlich.) Aber die revolutionäre Wirkung des Cantorschen Arbeit bestand gerade in dem Beweis, dass die entgegen gesetzte Auffassung nicht widersprüchlich ist. Unendliche Mengen besitzen unterschiedliche unendliche Mächtigkeiten. Dies ist eine der Konsequenzen der so genannten Cantorschen Theoreme: keine Menge, und insbesondere keine unendliche Menge, hat so viele Elemente, wie sie Untermengen hat. Mit anderen Worten, keine Menge ist so mächtig wie die Menge ihrer Untermengen. Wäre dies anders, so wäre es möglich, alle ihre Elemente mit allen ihren Untermengen zu paaren. Dies ist jedoch nicht möglich. Angenommen, man nähme eine solche Paarung vor und betrachtet nun die Menge der Elemente, die mit solchen Untermengen gepaart sind, die nicht diese Elemente enthalten. Wird irgendein Element nun mit einer solchen Untermenge gepaart, so enthält ein solches Paar das betreffende Element nur dann, wenn es dieses Element nicht enthält (siehe Cantors Theorem). Im Verlauf der Entwicklung dieser Ideen konstruierte Cantor einige der grundlegenden Prinzipien der Mengenlehre. Er zeigte genaue Methoden auf, um die Mächtigkeit unendlicher Mengen zu bestimmen, und er formulierte Art und Weisen des rechnerischen Umgangs mit diesen Maßen. Kurz gesagt, er begründete die transfinite Arithmetik. Das Aktual-Unendliche, so schien es, muss keine Quelle des Schreckens mehr sein. Aber war dies wirklich so?
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Unendlichkeit
Cantor operierte mit etwas, was häufig die ‚iterative‘ Konzeption einer Menge genannt wird. Nach dieser Konzeption ist eine Menge etwas, dessen Existenz parasitär an der Existenz ihrer Elemente hängt: die Elemente existieren ‚zuerst‘. Deshalb gibt es alle diese Dinge, die keine Mengen sind (Planeten, Menschen, positiven ganze Zahlen usw.). Und dann gibt es Mengen dieser Dinge. Und dann gibt es Mengen dieser Dinge, also wiederum der Mengen, und so weiter ohne Ende. Jedes Ding, und insbesondere jede Menge, gehört zu unzählbaren weiteren Mengen. Wir stoßen aber niemals auf eine Menge, zu der alle Mengen gehören (eine weitere Illustration der sog. ‚Unterscheidung des Geltungsbereichs‘). Die Sammlung aller Mengen ist nicht selbst eine Menge. Sie ist vielmehr eine Ansammlung, die nach Cantor zu groß ist, um als Menge betrachtet zu werden. Ihre Elemente können nicht alle zugleich oder auf einen Schlag gegeben sein. Diese Konzeption ist sehr selbstverständlich. Aber ihr haftet auch etwas sehr Aristotelisches an. Man beachte die zeitliche Metapher, die in dieser Konzeption steckt. Mengen werden hier als etwas dargestellt, was ‚nach‘ seinen Elementen ins Sein tritt, und zwar auf eine Weise, dass immer noch mehr ins Sein treten können. Ihre kollektive Unendlichkeit, im Gegensatz zur Unendlichkeit einer jeden Einzelnen von ihnen, ist potenziell, nicht aktuell. Ferner ist diese kollektive Unendlichkeit jene, die am ehesten diesen Titel beanspruchen könnte. Denn die Eigenschaften, die ich eingangs als charakteristisch für die Standardkonzeption des Unendlichen aufzählte – die Endlosigkeit, die Unbegrenztheit, die Unermesslichkeit – ist besser anwendbar auf die gesamte Sammlung von Mengen, als auch jede einzelne Menge. Teilweise ist dies so, weil Cantor die Mengen selbst mit großem Erfolg einer sorgfältigen mathematischen Prüfung unterwarf. Man betrachte die Menge der positiven ganzen Zahlen. Cantor zeigte genau bezüglich dieser Menge, dass sie eine beschränkte Mächtigkeit aufweist. (Die Menge der Mengen positiver ganzer Zahlen hat mehr Elemente.) Tatsächlich zeigte er, dass wir der Mächtigkeit dieser Menge einen präzisen mathematischen Wert zuweisen können. Es hat sogar einen Sinn, wenn er sagt, dass die Menge aller natürlichen Zahlen ‚wirklich‘ endlich ist, und dass das ‚wirklich‘ Unendliche von einer ganz anderen Art ist. (Er selbst hatte keine Scheu, sich solcher Ausdrücke zu bedienen.) Es kann gut sein, dass Cantors Arbeit schlussendlich dabei half, die aristotelische Orthodoxie zu bekräftigen, derzufolge die ‚wirkliche‘ Unendlichkeit niemals aktuell sein kann. Brouwer glaubte allerdings, dass Cantor nicht den gebührenden Respekt gegenüber dem ersten Einwand gegen das Aktual-Unendliche gezeigt hatte, demzufolge wir dies nicht in der Erfahrung antreffen können. Aus Brouwers Perspektive hatte Cantor nichts weiter getan als gewisse Tricks aufzuzeigen, die man mit (endlichen) Symbolen ausspielen kann, ohne jedoch zu sagen, wie diese Tricks sich zur Erfahrung verhalten. Die hierbei relevante Erfahrung, nämlich jene, auf die sich nach der Auffassung Brouwers und der anderen Mitgliedern seiner intuitionistischen Schule jede bedeutungstragende mathematische Aussage beziehen muss, ist unsere Erfahrung der Zeit. Es ist die Anerkennung der Möglichkeit, die Zeit in Teile zerlegen zu können, und diese Operation dann unendliche viele Male über die Zeit wiederholen zu können, durch die wir zu Vorstellung des Unendlichen gelangen. Und eine solche Unendlichkeit ist wiederum potenziell, nicht aktuell, und zwar im ganz wörtlichen Sinne (siehe Intuitionismus). In Wittgensteins Werk zeigt sich noch eine weitere und sehr anders lautende Kritik an Cantors Ideen, obwohl er am Ende zu ähnlichen Schlussfolgerungen ge1843
Unendlichkeit
langt (siehe Wittgenstein, § 15). Wittgenstein glaubte, dass – zumindest seitens derjenigen, die Cantors Werk interpretierten, und vielleicht auch durch Cantor selbst – zu wenig Aufmerksamkeit auf das verwandt wurde, was er die ‚Grammatik‘ des Unendlichen nannte, d.h. gewisse Beschränkungen dessen, was als sinnvoller Gebrauch von Vokabeln bezeichnet werden kann, die mit dem Unendlichen assoziiert werden. Tatsächlich argumentierte Wittgenstein, dass das Wort ‚unendlich‘ nicht kategorematisch verwendet werden kann. 7. Menschliche Endlichkeit Die Probleme mit den Unendlichen, so sahen wir, haben ihren Grund in unserer eigenen Endlichkeit. Auf der anderen Seite schützt uns unsere Endlichkeit davor, irgendetwas als wahrhaft unendlich denken zu können, einschließlich des Ganzen der Wirklichkeit. Auf der anderen Seite schützt sie uns vor der Möglichkeit, irgendetwas Endliches, also irgendetwas dessen, was wir zu begreifen vermögen, als die Gesamtheit der Wirklichkeit aufzufassen. Eine Art und Weise der Versöhnung dieser beiden Unmöglichkeiten wäre es zu bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie die Gesamtheit der Wirklichkeit gibt, und stattdessen zu behaupten, dass es nur Stücke oder Teile der Wirklichkeit gibt, wobei jeder Teil gleichzeitig Teil eines anderes Teils ist. Und wiederum sehen wir hier eine weitere Anwendung der ‚Unterscheidung der Geltungsbereiche‘: jedes Stück der Wirklichkeit ist ein Teil von etwas, aber dennoch gibt es nichts, von dem jedes Stück der Wirklichkeit ein Teil ist. Aristoteles, Kant und bis zu einem gewissen Grade sogar Cantor spielten ihre Variationen dieses Themas aus. Eine der dringendsten Fragen der Philosophie ist jedoch nach wie vor ungelöst: aus was besteht eigentlich unsere Endlichkeit? Einige der auffälligsten Merkmale dieser Endlichkeit hängen von unserer Zeitlichkeit ab. Insbesondere gibt es da natürlich die Tatsache unseres Todes. Als was haben wir den Tod zu betrachten? Unter den vielen untergeordneten Fragen, die von dieser Frage aufgeworfen werden, ragen zwei heraus, die oberflächlich gesehen äquivalent sind, tatsächlich aber auf jeden Fall unterschieden werden müssen. Auf die einfachste Art und Weise formuliert (ihre Verfeinerung wäre bereits die Arbeit ihrer Beantwortung) lauten sie: (1) Ist der Tod etwas ‚Schlechtes‘? und (2) Ist die Unsterblichkeit der Sterblichkeit vorzuziehen? Man könnte leicht meinen, dass diese Fragen doch irgendwie beantwortbar sein müssten. Tatsache ist jedoch, dass, sobald jemand sich daran macht, sie genauer auszuarbeiten, sich sofort allerhand Wege zeigen, wie sich eine vollständige und qualifizierte Antwort auf eine der beiden von einer ebensolchen Antwort auf die andere unterscheiden kann. In jedem Falle ist es selbst auf dieser recht groben Ebene wichtig zu sehen, wie sich der Horizont für ein ‚ja‘ oder ‚nein‘ auf diese Fragen ergibt. Sehr verkürzt kann man sagen, der Tod sei eine schlechte Sache, weil er Möglichkeiten ausschließt, aber die Unsterblichkeit ist dem gegenüber auch nicht vorzuziehen, weil die Sterblichkeit dasjenige ist, was dem Leben seine grundlegendste Struktur verleiht und daher die Bedingung der Möglichkeit eines Lebenssinns ist. Auf die Frage (1) daraufhin mit ‚ja‘ und auf (2) mit ‚nein‘ zu antworten, bringt ein weiteres Mal die Unterscheidung des Geltungsbereiches ins Spiel. Diesmal bedeutet es die Bestätigung, dass es zu jeder Zeit einen Grund gibt, das Leben noch weiter zu leben, und gleichzeitig zu bestreiten, dass es einen Grund gibt, das Leben für immer fortzusetzen. Lebenssinn kann sich für ihrer selbst bewusste Lebewesen 1844
Universalien
wie uns über jede gegebene Grenze hinweg erstrecken. Er kann sich aber nicht weiter als alle diese Grenzen gemeinsam erstrecken. Wenn es richtig ist, dass unter Beachtung der ganzen Unzahl von Aspekten, die hier aufgerufen werden, die Antwort auf (1) ‚ja‘, und die Antwort auf (2) ‚nein‘ lautet, dann zeigt sich hier, und dies auf kohärente Weise, ein grundlegender Konflikt in uns: obwohl es nicht gut wäre, niemals zu sterben, ist doch auch niemals gut zu sterben. In diesem Konflikt offenbar sich eine der Tragödien menschlicher Existenz. Dies ist gleichzeitig eine Fassung jenes ursprünglichen Konflikts, der allen unseren Versuchen, mit dem Unendlichen zurecht zu kommen, zugrunde liegt. Beim Nachdenken über das Unendliche denken wir eben auf einer sehr tiefen Ebene über uns selbst nach. Siehe auch: Cantor, G.; Cantors Theorem; Kontinuum-Hypthese; Tod Anmerkungen und weitere Lektüre: Maor, E. (1987): ‚To Infinity and Beyond: A Cultural History of the Indinite‘. Stuttgart: Birkhäuser. (Eine unterhaltsame Untersuchung der Rolle des Unendlichen in der Mathematik und seine kulturelle Wirkung auf die Künste und die Wissenschaften.) Moore, A.W. (2001): ‚The Infinite‘. London: Routledge, 2. Aufl. (Eine einführende und teilweise historische Studie aller Aspekte des Unendlichen.) Rucker, R. (1982): ‚Infinity and the Mind: The Science and Philosophy of the Infinite‘. Sussex: Harvester Wheatsheaf. (Eine lebendige und fanzinierende Darstellung vor allem der mathematischen Aspekte des Unendlichen. Rucker vertritt eine etwas mystische Position.) A.W. MOORE
Universalien Einführung In der Metaphysik wird der Ausdruck ‚Universalie‘ auf zwei Arten von Dingen angewandt: auf Eigenschaften, wie z.B. die Röte oder die Rundheit, und auf Beziehungen, wie z.B. die Verwandtschaftsbeziehung der Geschwister oder die Kausalbeziehungen, oder auch auf räumliche und zeitliche Beziehungen. Universalien stehen im Gegensatz zu Einzeldingen (engl.: particulars). Wenige Universalien, wenn überhaupt, sind wirklich ‚universell‘ in dem Sinne, dass alle Einzeldingen sie aufweisen. Eine Universalie ist typischerweise etwas, das manchen Einzeldingen gemeinsam eigen ist und anderen fehlt. Universalien wurden als etwas vorgestellt, dass uns in die Lage versetzt, eine permanente und zugrunde liegende Ordnung hinter dem ständigen Wandel der Erfahrung zu begreifen. Einige der Götter der antiken Mythologien entsprechen im Großen und Ganzen den verschiedenen wichtigen und zugrunde liegenden Universalien, beispielsweise die sozialen Beziehungen der Hera, wenn es von ihr heißt, dass sie die Göttin der Hochzeit sei, oder Ares (bzw. der römische Mars), der der Kriegsgott war. Viele Traditionen des Westens und des Ostens beschäftigten sich mit dem zugrunde liegenden Problem, das zur Erzeugung von Theorien der Universalien führt. Gleichwohl ist der Ausdruck ‚Universalien‘ eng mit der abendländischen Tradition verbunden, und die Tagesordnung zu diesem Thema wurde weitgehend bereits von Platon und Aristoteles festgelegt. 1845
Universalien
Der Ausdruck, der häufig im Zusammenhang mit Platon verwendet wird, lautet allerdings nicht ‚Universalien‘, sondern hier ist von ‚Ideen‘ (im kontinentaleuropäischen Sprachgebrauch, der auf die Unterscheidung von ideeller und realer Sphäre abziehlt) bzw. von ‚Formen‘ (die im englischen Spachgebrauch übliche Bezeichnung dessen, was bei Platon Ausgangspunkt oder Vorbild der realen Gegenstände ist) die Rede. Der Ausdruck ‚Universalie‘ taucht dagegen schon häufiger bei Aristoteles auf. Andere, mit diesem Wort verwandte Ausdrücke beziehen sich nicht nur auf Eigenschaften und Beziehungen, sondern auch auf Qualitäten, Attribute, Charakteristika, Wesenheiten und Akzidentien (im Sinne von Qualitäten, die eine Sache nicht notwendig aufweist, sondern nur bei Gelegenheit oder zufällig), Gattungen und Arten und natürliche Arten. Verschiedene Argumente wurden vorgetragen, um die Existenz der Universalien festzustellen, von denen das denkwürdigste dasjenige ist, das als das ‚Eine-vordem-Vielen‘-Argument bezeichnet wird. Es gibt aber auch zahlreiche Argumente gegen die Existenz der Universalien. Beispielsweise gibt es viele Einwände des unendlichen Regresses, die sich von Aristoteles’ so genanntem ‚Dritter-Mann‘-Argument ableiten, das ursprünglich gegen Platon gerichtet war. Eine weitere Gruppe von Argumenten greift das auf, dass als ‚Ockhams Rasiermesser‘ bezeichnet wird: hier wird geltend gemacht, dass wir alles sagen können, was wir sagen wollen, ohne uns auf Universalien berufen zu müssen; und wenn wir dies können und diese Ausdrucksweise rational vertretbar ist, dann sollten wir dies auch tun, d.h. auf den Gebrauch von Universalien verzichten. Diejenigen, die an die Existenz von Universalien glauben, heißen seit dem Mittelalter Realisten, und diejenigen, die diese Existenz bestreiten, heißen Nominalisten. 1. Quellen in der antiken Mathematik und Biologie 2. Gleichheiten und Unterschiede 3. Argumente dafür und dagegen 4. Nominalismus und Realismus 5. Die Neuentdeckung der Universalien durch Frege 1. Quellen in der antiken Mathematik und Biologie Platon betrachtete die Mathematik als ein Modell zum Auffinden idealer ‚Formen‘ oder der ‚Ideen‘ hinter den Dingen, die durch den Intellekt erfasst werden können, und die sich in der Welt der Sinne nur unvollkommen wiederfinden. Moralische und politische Ideale werden ebenfalls, so meinte Platon, nur sehr unvollkommen in der Welt der Erscheinungen gespiegelt. Aristoteles entwarf seine Konzeption der Universalien nicht, um die Mathematik zur Wirklichkeit in Beziehung zu setzen, sondern als Grundlage seiner Biologie. Einzelne Tiere und Pflanzen fallen unter die natürlichen Arten oder Spezies, wie z.B. Schweine oder Kohlköpfe. Und unterschiedliche Spezies fallen wiederum unter eine Gattung. Die Universalien legen eine Taxonomie über die Vielheit der unterschiedlichen Einzeldinge in der Welt. Regelmäßigkeiten in der Welt können dann unter Berufung auf die Universalien oder Spezies verstanden werden, unter die die Individuen fallen, und damit erklären, warum Schweine z.B. niemals Kätzchen gebären, und allgemein, warum jedes Lebewesen andere Lebewesen seiner Art hervorbringt.
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Universalien
Platon stellte sich die Unversalien als transzendente Wesen vor, was man auf lateinisch als ante rem (dt.: ‚vor der Sache‘) beschrieb: die Existenz der Universalien hänge nicht von der Existenz von Einzeldingen ab, die sie konkretisieren oder instantiieren. Dies ist ein nahe liegender Gedanke, wenn das Vorbild solcher Universalien der Mathematik entstammt; geometrische Wahrheiten über Kreise hängen beispielsweise nicht von der Existenz irgendwelcher Einzeldinge ab, die wirklich und vollkommen rund sind. Aristoteles entwickelte dagegen eine Theorie der Universalien im Sinne immanenter Wesen, lat.: in rebus (dt.: ‚in den Dingen‘): es könne keine Universalien geben, solange es nicht Einzeldinge gebe, in denen diese Universalien konkretisiert seien. Dies ist ebenfalls ein nahe liegender Gedanke, wenn das Vorbild einer so verstandenen Universalie in der Biologie zu finden ist; eine Spezies kann beispielsweise nicht existieren, wenn es kein Tier dieser Spezies gibt. Daher ist einer der Schlüsselunterschiede zwischen Platons transzendentem und Aristoteles’ immanentem Realismus, dass der Platonismus die Existenz uninstantiierter Universalien theoretisch erlaubt, während Aristoteles dies nicht erlaubt (siehe Aristoteles, § 15; Platon). 2. Gleichheiten und Unterschiede Wenn eine Eigenschaft in zwei Einzeldingen gegeben ist, dann gibt es etwas, was beide dieser Einzeldinge an sich haben oder aufweisen. Es hat jedoch einen vollkommen anderen Sinn, wenn man von einer Universalie sagt, sie sei ‚in‘ zwei verschiedenen Einzeldingen gegeben. Eine Einzelperson kann sich beispielsweise an zwei Orten gleichzeitig befinden, wenn ihre Hand gerade in einer Keksdose steckt, während sich der übrige Körper in einer Badewanne befindet. Aber eine Universalie ist an oder in verschiedenen Einzeldingen auf eine Weise gegeben, die nicht besagt, dass es dort einen Teil der Universalie gibt, die in dem einen Gegenstand steckt, und einen davon verschiedenen Teil derselben Universalie, die in dem anderen Einzelding steckt. Deshalb heißt es von einer Universalie, dass sie eine Art von Sache ist, die vollständig in verschiedenen Einzeldingen zur selben Zeit gegeben sein kann. Während eine Person sich nicht vollständig und gleichzeitig in zwei verschiedenen Räumen aufhalten kann, ist dies z.B. für die Gerechtigkeit allerdings möglich. Einige Autoren machen einen Unterschied zwischen gewissen besonderen Eigenschaften und Beziehungen, die für ihre Bezeichnung als Universalien geeignet sind, und anderen Eigenschaften und Beziehungen, bei denen dies nicht der Fall ist. Es wurde vorgeschlagen, dass immer dann, wenn eine Beschreibung von einem Einzelding als wahr ausgesagt werden kann, es auch immer eine Eigenschaft gibt, von der man sagen kann, dass sie in diesem Einzelding gegeben ist. Nach dieser Auffassung ist eine Eigenschaft wie der Schatten eine Prädikats anzusehen, während die echte Universalie etwas ist, was darüber hinausgeht. Eine echte Universalie muss demzufolge etwas sein, das buchstäblich in jeder ihrer Instanzen identisch ist. Alternativ werden die Arten von Eigenschaften, die nur ‚Schatten‘ von Prädikaten sind, manchmal als mengentheoretische Konstruktionen unterschiedlicher Art betrachtet, so als wenn man etwa sagt, dass die Eigenschaft der Röte die Menge der tatsächlich roten Dinge sei, oder auch der wirklichen und möglichen roten Dinge. In diesem Geiste ist es inzwischen in der Mathematik zur allgemeinen Gewohntheit geworden, den Ausdruck ‚Relation‘ so zu verwenden, dass er auf irgendeine Menge geordneter Paare verweist. Mengentheoretische Konstruktionen sind jedoch keine Universali1847
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en, oder sie dürfen zumindest nicht mit denjenigen Universalien verwechselt werden, die der Gegenstand der traditionellen Diskussionen hierüber sind. 3. Argumente dafür und dagegen Zur Feststellung der Existenz von Universalien wurden verschiedentliche Argumente vorgetragen, von denen das denkwürdigste das ‚Eine-vor-dem-Vielen‘Argument ist. Doch obwohl es sich solcher Prominenz erfreut, herrscht doch wenig Einigkeit darüber, wie dieses Argument überhaupt zu verstehen ist. Grob gesagt beginnt es mit einer Berufung auf die offenkundige Tatsache der Wiederholung, d.h. in den Worten des biblischen Texten Salomon 1:9 mit der Tatsache: ‚Was geschehen ist, wird wieder geschehen, und was man getan hat, wird man wieder tun, und es gibt nichts Neues unter der Sonne‘. Es gibt viele Dinge, und doch sind sie in gewissem Sinne alle genau dasselbe (in dem Sinne, dass alles Gegebene und alles, was geschieht, ein Fall von etwas Allgemeinerem ist, und somit auch sein Wesen unter eine Allgemeinheit fällt), und zwar immer und immer wieder. Von dieser offenkundigen Tatsache der Wiederkehr behauptet das Argument den Schluss ableiten zu können, dass es Universalien genauso wie Einzeldinge gibt. Es gibt auch zahlreiche Argumente gegen die Existenz der Universalien. Eine Gruppe solcher Argumente leitet sich von Aristoteles’ so genanntem ‚Dritter-Mann‘Argument ab und soll beweisen, dass Platons Ideenlehre einen inakzeptablen, weil unendlichen Regress mit sich bringt. Kurz gesagt ist Platons Problem, dass er irgendeine Relation behaupten muss, die zwischen der Idee z.B. des Menschen und einem einzelnen Menschen bestehen muss, damit die Idee des Menschen etwas zu der Erklärung beitragen kann, was alle einzelnen Menschen womöglich gemeinsam haben. Die Theorie scheint also eine weitere Idee aufzurufen, nämlich einen ‚dritten Menschen‘, der nunmehr das ist, was die ursprüngliche Idee des Menschen und die einzelnen Menschen gemeinsam haben. Dies führt jedoch in einen unendlichen Regress, weil nunmehr die Beziehung zwischen der ursprünglichen Idee des Menschen, der ‚Zwischenidee‘ von ihm und den konkreten Einzelmenschen durch einen ‚vierten Menschen‘ hergestellt werden müsste, um endlich die Gemeinsamkeit zwischen allen diesen Entitäten bezeichnen zu können, und so fort ad infinitum. Weil Platons Theorie in einen unendlichen Regress führt, ist sie inakzeptabel. Selbstverständlich wollte Aristoteles nur die Nichtexistenz der platonischen Ideen beweisen, und nicht jene der Universalien im Allgemeinen. Aber die Feinde der Universalien machen häufig darauf bezogene Argumente des infiniten Regresses auch gegen die Existenz der Universalien aller Art geltend. Wie auch immer man die Instantiierungsbeziehung zwischen Einzeldingen und Universalien bezeichnet: wenn man sie sich als eine weitere Universalie vorstellt, dann befindet man sich bereits auf dem Wege in einen Regress, und dies scheint gegen die Theorie der Universalien zu sprechen. Ein weiteres Argument gegen die Existenz der Universalien handelt von dem, was man ‚Ockhams Rasiermesser‘ nennt, d.h. von dem Prinzip, dass man im ontologischen Diskurs nicht mehr Entitäten postulieren sollte, wenn alles, was man erklären will, sich auch mit weniger Entitäten erklärten lässt (siehe Wilhelm von Ockham). Es wird manchmal vorgetragen, dass alles, was man mit Universalien erklären kann, genauso gut auch ohne sie erklären könne. Dinge, die sich oberflächlich auf Universalien zu beziehen scheinen, können – so wird behauptet – im Allgemei1848
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nen auf andere Weise ausgedrückt werden, so dass keine Bezugnahme auf Universalien mehr darin enthalten ist. Wenn wir jedoch ohne Universalien auskommen, dann sollten wir dies auch tun. Ergänzen wir nun dieses Argument von Ockham mit den Hinweisen auf die endlosen und unlösbaren und gegenseitig sich vernichtenden Konflikte innerhalb des realistischen Lagers über zahlreiche Details ihrer Position, so stärkt dies sogar noch die Position gegen die Existenz der Universalien. 4. Nominalismus und Realismus Während des Mittelalters spielten die Universalien in Europa eine zentrale Rolle in der intellektuellen Ökonomie. Viele Fragen drehten sich darum, was heute unter dem Titel des Universalienproblems zusammengefasst wird. Berühmt ist ein Kommentar von Boethius zu Porphyrs ‚Isagōgē‘, die ihrerseits als Einführung in die aristotelischen Kategorien gedacht war. Hier stellt Boethius auf sehr konzise, lebendige und eindringliche Art die in den späteren mittelalterlichen Studiengängen als zwingend empfundene Frage, ob Gattungen und Arten Substanzen seien, oder ob sie nur im Geiste existieren; ob sie körperliche oder unkörperliche Substanzen seien; und ob sie etwas von den sinnlich wahrgenommenen Dingen Gesondertes seien, oder etwas, was wir in sie hineinsehen (Boethius, ca. 510; Spade 1994). Das Ausgangsproblem war für viele nicht jenes der Entscheidung, ob es Universalien gibt, sondern eines der Wahl zwischen Platon und Aristoteles, um daraufhin die Feinabstimmung weiterer Details vorzunehmen. Später im Mittelalter ließ sich jedoch eine steigende Zahl von Philosophen und Theologen von den Argumenten gegen die Existenz der Universalien beeindrucken. Sie nahmen sich einer Position an, die ‚Nominalismus‘ genannt wurde und all den verschiedenen Formen des platonischen oder aristotelischen Realismus widersprach. Nach den Nominalisten wie Abälard und Ockham ist das Einzige, was Einzeldinge gemeinsam haben, der Name oder die Bezeichnung, die wir wählen, um sie gleichermaßen auf jeden einzelnen dieser Gegenstände und auch nichts sonst anzuwenden. Die nominalistischen Behauptungen wurden von vielen der Meister der modernen Wissenschaften aufgegriffen. Es sei klar, so hieß es, dass alle Dinge, die Existenz beanspruchen könnten, lediglich Einzeldinge wären. Man nahm dies allerseits als gegeben an, so dass es gar nicht zur Debatte stand, und damit verlor sich das Universalienproblem in dieser expliziten Formulierung im grauen Hintergrund der naturwissenschaftlichen philosophischen Diskussion. Beispielsweise könnte ein Archäologe der abendländischen Ideengeschichte geltend machen, dass das Universalienproblem bei Kant noch ganz lebendig sei und er im Hintergrund wirklich hart daran arbeite; es spielt in praktischer jeder Frage, die aufkommt, eine Rolle. Gleichwohl ist das Universalienproblem, entweder unter diesem oder irgendeinem äquivalenten Namen, kein Punkt seines expliziten Themenkataloges. Kant spricht von den Intuitionen und Begriffen auf eine Art und Weise, die in gewisser Beziehung zum alten Problem der Einzeldinge und der Universalien stehen. Doch hat sich inzwischen bereits mehr bewegt als nur die Bezeichnungen. In der Folge hat das Universalienproblem über eine große historische Zeitspanne nurmehr eine geringe Aufmerksamkeit erfahren, und zwar bis in die deutsche und französische Philosophie des 20. Jahrhunderts (siehe Nominalismus; Realismus und Antirealismus).
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5. Die Neuentdeckung der Universalien durch Frege Im 20. Jahrhundert ist das Universalienproblem unter seinem vertrauten Namen wieder aufgetaucht, begleitet von den mehr oder weniger selben leitenden Bebilderungen, wie sie schon von Platon und Aristoteles verwendet wurden. Diese Wiedergeburt ereignete sich im Bereich der analytischen Philosophie, vor allem im Werk von Frege, Russell, Wittgenstein, Quine und Armstrong. Eine neue Wendung der Universalientheorie kann bis auf die bahnbrechende Arbeit von Frege über das Wesen der natürlichen Zahlen in seinen ‚Grundlagen der Arithmetik‘ (1884) zurückverfolgt werden. Wie schon für Platon, so gilt auch für Frege, Russell und andere der jüngeren Zeit, dass Fortschritte in der Mathematik die Quelle einer philosophischen Konzentration auf das Universalienproblem waren. Freges Analyse der natürlichen Zahlen (d.h. der Reihe der positiven, ganzen Zahlen, beginnend mit 1, 2, 3 …) erfolgt in drei sehr verschiedenen Stufen (siehe Frege, G., § 9). Auf der ersten Stufe seiner Analyse der Zahlen führte Frege die Idee ein, dass eine Nummerierung von Einzeldingen im Wesentlichen nicht durch die Zuschreibung von Eigenschaften zu Einzeldingen erfolgt, sondern vielmehr durch die Zuschreibung von Eigenschaften zu Eigenschaften. Zur Illustration: Wenn man fragt ‚Wie viele Karten liegen da auf dem Tisch?‘, so meint Frege, dass es hier viele verschiedene Antworten gibt, beispielsweise (1) ‚2 Päckchen Spielkarten‘ oder (2) ‚104 Spielkarten‘. Die metaphysischen Wahrheitskriterien, die Frege für diese beiden Beispielantworten ausmacht, sind (1), dass die Eigenschaft, ein Päckchen Spielkarten auf dem Tisch zu sein, eine Eigenschaft sei, die die weitere Eigenschaft besitze, in zwei Instanzen vorzuliegen, und (2), dass die Eigenschaft, eine Spielkarte auf dem Tisch zu sein, eine Eigenschaft sei, die ihrerseits die weitere Eigenschaft aufweise, in 104 Instanzen vorzuliegen. Allgemein nummerieren Zahlen die Einzeldinge nur mittels ihres Beitrages zu Eigenschaften zweiter Ordnung oder Eigenschaften von Eigenschaften der betreffenden Gegenstände, nämlich in Gestalt von Eigenschaften der Form ‚… hat n Instanzen…‘ Wie schon Kant spricht Frege von Begriffen statt von Universalien. Doch Freges Begriffe sind definitiv keine ‚privaten‘ geistigen Ereignisse, sondern auf gründliche Weise geistunabhängig, d.h. mehr im Sinne platonischer Ideen, und weniger der aristotelischen Universalien. Auf der zweiten Stufe seiner Analyse der Zahlen gibt Frege der Universalientheorie eine vollkommen neue Wendung. Er trägt vor, dass die Natur der Universalien oder, wie er sie nennt, der Begriffe so beschaffen ist, dass es grundsätzlich unmöglich sei, sich überhaupt jemals auf eine Universalie mit irgendeinem Namen oder irgendeiner Beschreibung zu beziehen. Daher sei beispielsweise in dem Ausdruck ‚Sokrates ist weise‘ die Universalie ‚weise‘, die durch Sokrates instantiiert wird, etwas, was durch die gesamte Zusammenstellung von Symbolen zu dem, worin auch ‚Sokrates‘ eingebettet ist, schließlich den Satz ‚Sokrates ist weise‘ ergebe. Angenommen, man versuchte, diese Universalie durch den Namen ‚Weisheit‘ zu benennen. Man vergleiche nun den Satz ‚Sokrates ist weise‘ mit den Verkettung von Namen in ‚Sokrates’ Weisheit‘. Dem schieren Namen ‚Weisheit‘ mangelt es aber offenkundig an etwas, was in der vorangehenden Zuschreibung von Weisheit zu Sokrates noch vorhanden war. Deshalb könne man sich auf eine Universalie nicht durch einen Namen beziehen. Daher könne eine Eigenschaft nur durch ein Prädikat ausgedrückt werden, und niemals durch einen Namen oder irgendeine logische Vorkehrung, die sie auf die 1850
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Einzeldinge bezieht. Wenn wir den Universalien eine Existenz zuschreiben wollen, erreichen wir dies tatsächlich nicht dadurch, dass wir dieselbe Art von Vorkehrung treffen, um den zugrunde liegenden Einzeldingen ihre Existenz zuzusprechen, nämlich einen Quantor erster Ordnung zu verwenden. Oder anders gesagt: die Zuweisung der Existenz zu Einzeldingen ist möglich, nicht jedoch mit den gleichen logischen Mitteln wie die Zuweisung der Existenz zu Universalien. Daher können wir beispielsweise von ‚Sokrates ist weise‘ schließen: ‚Es gibt etwas, das weise ist‘, sowie ‚Es existiert etwas, das ist Sokrates‘: (∃)(weise(x)), und (∃)(x = Sokrates). Doch können wir daraus nicht schließen: ‚Es gibt etwas, was Sokrates besitzt‘, und auch nicht: ‚Es existiert etwas, was Weisheit ist‘: (∃)(hat(Sokrates, x)), und (∃)(x = Weisheit) ist ungültig. Frege erlaubt uns jedoch, der Existenz von Universalien eine Existenz zuzuweisen, indem wir logische Anweisungen verwenden, die man ‚Quantoren höherer Ordnung‘ nennen könnte, und die er in seiner ‚Begriffsschrift‘ (1879) einführt. Das heißt, wir können von ‚Sokrates ist weise‘ auf ‚Es gibt etwas, von dem gilt: [Sokrates ist dieses Etwas]‘: (∃f)(f(Sokrates)). Aber obwohl es etwas gibt, das Sokrates zukommt, folgt hieraus nicht, dass es etwas gibt, das (unabhängig von Sokrates) dieses Etwas ist, das Sokrates zukommt: Universalien bzw. Begriffe können nur eine Existenz zweiter Ordnung haben, nicht dagegen eine Existenz erster Ordnung. Für Frege bedeutet die Nummerierung von Dingen wesentlich die Zuschreibung von Eigenschaften zu Eigenschaften. Also seien die Arten von Entitäten, die zugeschrieben werden, nicht die Art von Entitäten, die mit Namen versehen werden können. Allerdings meinte Frege durchaus, dass Zahlen benannt werden können; Zahlen seien folglich abstrakte Einzeldinge und keine Begriffe. Hieraus ergibt sich wiederum die dritte Stufe seiner Analyse der Zahlen; sie stellt den Versuch dar, Einzeldinge – d.h. Gegenstände – auszumachen, die als Zahlen identifiziert werden können. Diese Stufe seiner Analyse mündete in die Entstehung der modernen Mengenlehre. Für jede Eigenschaft, so behauptete Frege, gibt es ein entsprechendes Einzelding, nämlich die Extension dieser Universalie, d.h. die Menge aller Dinge – oder auch aller wirklichen und möglichen Dinge – die diese Universalie instantiieren. Daher gibt es beispielsweise entsprechend der Eigenschaft, die ‚zwei Instanzen zu haben‘ darstellt, eine Menge von Mengen, die zwei Elemente haben. Moderne Mathematiker haben unterschiedliche Kandidaten zur Identifikation mit den natürlichen Zahlen ausgemacht, aber sie folgte Frege doch voll und ganz hinsichtlich der allgemeinen Strategie, die Zahlen, Funktionen und Relationen als Mengen zu betrachten. Freges Vermächtnis hat die Themenliste für jede Universalientheorie deutlich verändert, die, wie schon bei Platon, den mathematischen Anforderungen gerecht werden will. Hieraus ergeben sich drei Wege der weiteren Forschung. Einer davon ist jener, den Quine einschlug: er lässt die Existenz von Mengen zu, doch von keiner 1851
Universalismus in der Ethik
der anderen benennungsfähigen Entitäten, die man Universalien nennen könnte, und auch keine von Freges unbenennbaren Universalien höherer Ordnung. Eine weitere Strategie ist es, die Existenz von benennungsfähigen Entitäten zuzulassen, die keine Mengen sind; dies ist die Route, die beispielsweise von Armstrong (1978) eingeschlagen wurde. Und ein dritter Weg erlaubt darüber hinaus die irreduzible Bedeutung einer Quantifikation höherer Ordnung. Siehe auch: Abstrakte Gegenstände Anmerkungen und weitere Lektüre: Armstrong, D.M. (2005): ‚Sachverhalte, Sachverhalte‘ (engl. Originaltitel: ‚A World of States of Affairs‘, 1997), Berlin: xenomoi Verlag. (Dieses Werk ist in gewisser Weise eine Aktualisierung des bahnbrechenden Vorgängerwerkes ‚Universals and Scientific Realism‘ von 1978 und geht bereits auf zahlreiche Kritiken daran ein. Armstrong entwickelt hier eine gut begründete Fassung des aristotelischen Realismus über die Universalien als gesonderte Gegenstände im Sinne von Frege.) Spade, P.V. (Übers. und Hrg.) (1994): ‚Five Texts on the Medieval Problem of the Universals‘. Indianapolis, Indiana: Hackett. (Eine Zusammenstellung großartiger Werke aus der Blütezeit des Universalienproblems, einschließlich jener, die zu Beginn von § 4 erwähnt wurden. Die Texte erfordern keine formallogischen Kenntnisse, sind allerdings sowohl historisch, als auch begrifflich schwierig.) JOHN C. BIGELOW
Universalismus in der Ethik
Die Behauptung, dass ethische Maßstäbe oder Prinzipien universell seien, ist ein sehr alter Gemeinplatz vieler ethischer Traditionen und auch des zeitgenössischen politischen Lebens, insbesondere bei Berufungen auf die universellen Menschenrechte. Dennoch ist diese Behauptung strittig. Diese Kontroverse hat viele Quellen. Der Universalismus in der Ethik kann mit Behauptungen über die Form, den Geltungsbereich oder den Inhalt ethischer Prinzipien identifiziert werden, oder auch mit der Idee selbst, dass sich ein ethisches Urteil auf Prinzipien beruft, und nicht auf Einzelfälle. Oder man identifiziert ihn mit verschiedenen Behauptungen über die Identität eines einzigen, grundlegenden Universalprinzips, von dem sich alle anderen ethischen Prinzipien und Urteile ableiten. Diese Uneinigkeit kann aufgeklärt und vielleicht sogar teilweise gelöst werden, indem man eine Reihe unterschiedlicher Konzeptionen des Universalismus in der Ethik unterscheidet. Siehe auch: Kritische Theorie; Intuitionismus in der Ethik ONORA O‘NEILL
Unparteilichkeit
Auf der einen Seite fühlen die meisten von uns, dass wir es uns erlauben oder es gar notwendig ist, dass wir unsere eigenen Interessen oder die unserer engsten Mitmenschen bevorzugen; auf der anderen Seite erkennen wir auch die höher stehende Perspektive an, die von uns die gleiche Beachtung der Interessen der anderen fordert. Unter den Autoren der utilitaristischen Tradition bestehen manche darauf, dass die streng unparteiliche Perspektive als ein Mittel zur Maximierung des Wohlergehens dargestellt werden kann. Eine alternative Tradition, die von Kant abstammt, leitet die Forderung nach Unparteilichkeit von der Bedeutung der Fairness und dem gleichen Respekt gegenüber allen Personen ab, neigt aber dazu, den Grad der erlaubten Parteilichkeit offen zu lassen. Und schließlich bietet uns die aristotelische 1852
Unterbestimmtheit
Konzeption der Ethik eine Rechtfertigung der Parteilichkeit an, die auf der Struktur jener tugendhaften Charakterdispositionen aufbaut (wie beispielsweise jene, die an der Freundschaft und dem Selbstwertgefühl beteiligt sind), die notwendig sind für die Entwicklung unserer typisch menschlichen Möglichkeiten. Siehe auch: Gleichheit JOHN COTTINGHAM
Unsterblichkeit der Seele
Siehe: Seele, Wesen und Unsterblichkeit der
Unterbestimmtheit
Der Ausdruck ‚Unterbestimmtheit‘ bezieht sich auf eine ausgedehnte Gruppe von Argumenten über die Beziehungen zwischen Theorie und Beweis. Allen gemeinsam ist die Schlussfolgerung, dass ein Beweis praktisch kaum in der Lage ist, eine Wahlentscheidung zwischen konkurrierenden Theorien oder Hypothesen zu leiten. In der einen oder anderen seiner Fassungen war der Begriff der Unterbestimmtheit wahrscheinlich eine der mächtigsten und durchdringendsten Ideen, die als Antrieb hinter den verschiedenen Formen des Skeptizismus und des erkenntnistheoretischen Relativismus im 20. Jahrhunderts standen. Er spielt eine prominente Rolle in den Schriften diverser einflussreicher Philosophen. Hinter diesem Begriff verbirgt eine komplizierte Gruppe von Lehren, von denen jede eine andere argumentative Struktur aufweist. Die meisten gehen jedoch davon aus, dass nur die logische Konsequenzen einer Hypothese für die empirische Beweisfrage relevant sind. Diese Annahme ist jedoch fraglich. Siehe auch: Bestätigungstheorie; Schlüsselexperimente; Induktionsschluss; Wissenschaftliche Methode LARRY LAUDAN
Ursachen und Gründe
Man stelle sich vor, dass uns mitgeteilt wird, jemand tue etwas aus diesem und jenem Grunde. Vielleicht lesen Sie gerade einen Spionageroman, und Ihnen wird dort mitgeteilt, der Grund für das Verhalten der dort vorkommenden Agenten sei, dass sie wünschten, etwas Aufregendes zu lesen, und dass sie meinten, Spionageromane seien wirklich aufregend. Wir haben dann eine Erklärung für die Handlung des Agenten im Sinne eines persönlichen Handlungsmotivs. Jene, die glauben, dass Gründe Ursachen sind, werden denken, dass solche Erklärungen zwei wichtige Merkmale aufweisen. Erstens versetzen sie uns in die Lage, uns einen Reim darauf zu machen, was passiert, d.h. einen Sinn in diesem Geschehen zu erblicken. Einen Spionageroman zu lesen ist eine rationale Angelegenheit für einen Agenten, wenn sie diesen speziellen Wunsch und die entsprechende Überzeugung hegen. Zweitens sagen uns solche Erklärungen etwas über die kausalen Ursprünge dessen, was geschieht. Sie sagen uns, dass die Wünsche und Überzeugungen, aus denen sich uns der Sinn von Handlungen erschließt, ebenfalls die betreffenden Handlungen hervorrufen. Die Idee, dass Gründe Ursachen seien, ist offenkundig attraktiv. Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass unsere Gründe etwas anderes sind als das, was wir tun. In dem eben beschriebenen Falle gehen wir beispielsweise gewöhnlich davon aus, dass der Agent, wenn er die entsprechenden Wünsche und Überzeugungen gehegt hätte, sich auch anders verhalten hätte. Hätte die Person sich gewünscht, etwas Roman1853
Utilitarismus
tisches zu lesen anstelle von etwas Aufregendem, oder hätte die Person geglaubt, dass Spionageromane gar nicht aufregend seien, so hätte sie keine Spionageromane gewählt. Wenn aber das, was sie wünschen und glauben, sich von dem unterschiedet, was sie tun, dann müssen die Wünsche und Überzeugungen, die diese Gründe ausmachen, offenbar auch die Ursachen des Handelns dieser Person sein. Trotz der offenkundigen Attraktion ist jedoch die Auffassung, dass Gründe auch Ursachen sind, nicht frei von Schwierigkeiten. Diese entstehen wegen der ebenfalls offenkundigen Unterschiede zwischen Erklärungen als Gründen und kausalen Erklärungen. Siehe auch: Akrasie; Handlung; Geistige Verursachung; Intention MICHAEL SMITH
Urteil, moralisches
Siehe: Moralisches Urteil
Utilitarismus Einführung Der Utilitarismus in eine Theorie über die ethische Richtigkeit, nach der das einzig Gute das Wohlergehen oder der Nutzen ist. Das Wohlergehen sollte auf irgendeine Weise maximiert werden, und Akteure sollen sich hinsichtlich ihres eigenen Wohlergehens und demjenigen anderer Menschen und auch anderer empfindender Wesen neutral verhalten, d.h. ihr eigenes Wohlergehen nicht bevorzugen. Die Wurzeln des Utilitarismus liegen im antiken Denken. Traditionell wurde das Wohlergehen als der größte Überschuss der Lust gegenüber dem Schmerz angesehen; diese Auffassung wird bereits bei Platon diskutiert. Der Begriff der Unparteilichkeit wurzelt ebenfalls in den Texten von Platon, sowie in denen des Stoizismus und den Christentums. In der Neuzeit erwuchs der Utilitarismus aus der Aufklärung, wobei seine beiden wichtigsten Verfechter Jeremy Bentham und John Stuart Mill sind. Die Hedonisten, die davon überzeugt sind, dass die Lust das höchste Gut ist, wurden über lange Zeit für ihren Sensualismus kritisiert. Diesem Vorwurf versuchte Mill zu begegnen, indem er zwischen höheren und niedrigeren Lüsten unterschied. Er behauptete, dass das Wohlergehen in der Erfahrung von lustvollen geistigen Zuständen besteht und schlug im Gegensatz zu Bentham vor, dass die Qualität und nicht nur die Quantität einer Lust das sei, worauf es ankomme. Andere bezweifelten diese Konzeption und entwickelten Darstellungen des Wünschens, nach denen das Wohlergehen in der Befriedigung von Wünschen liegt. Theorien des Idealzustandes schlagen vor, dass bestimmte Dinge schlicht gut oder schlecht für die Menschen sind, unabhängig von der Lust darauf und dem Wunsch danach. Der Utilitarismus hat sich üblicherweise auf Handlungen konzentriert. Die üblichste Form ist der Akt-Utilitarismus, nach dem das, was eine Handlung zur richtigen Handlung macht, die Maximierung des gesamten oder durchschnittlichen Nutzens ist. Einige machten allerdings geltend, dass der ständige Versuch, den Utilitarismus in die Praxis umzusetzen, sich gegen ihn selbst richten kann, insofern der Nutzen nicht dadurch maximiert wird, dass man dies ständig versucht. Viele Utilitaristen haben sich deshalb für nicht-utilitaristische Entscheidungsprozeduren eingesetzt, die häufig auf einer Alltagsmoral aufbauten. Einige meinten die Anzie1854
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hungskraft der moralischen Alltagsprinzipien direkt zu spüren und versuchten, den Utilitarismus mit ihnen zu versöhnen. Nach dem Regel-Utilitarismus ist jene Handlung richtig, die mit den Regeln im Einklang steht, die den Nutzen maximiert, sofern diese Regeln von allen akzeptiert sind. Es wurde viele Argumente für den Utilitarismus geltend gemacht, wobei man sich üblicherweise auf eine reflektierende Überzeugung oder ‚Intuition‘ der Argumente berief. Eines der interessantesten ist jenes von Henry Sidgwick, der letztlich ein Intuitionist ist, und resultiert aus der nachhaltigen Reflexion der Alltagsmoral. Das berühmteste Argument ist Mills ‚Beweis‘. In jüngerer Zeit hat R.M. Hare ein logisches Argument für den Utilitarismus vorgelegt. Die Hauptprobleme der Utilitaristen ergeben sich aus ihren Konflikten mit der Alltagsmoral, insbesondere mit der Gerechtigkeit, und einer unparteiischen Konzeption der praktischen Vernunft. 1. Einführung und Geschichte 2. Konzeptionen des Nutzens 3. Typen des Utilitarismus 4. Argumente zugunsten der Utilitaristen 5. Probleme der Utilitaristen 1. Einführung und Geschichte Es ist schwierig, den Utilitarismus zu definieren, teilweise deshalb, weil es so viele Variationen und komplexe Fragen dazu gibt, aber auch deshalb, weil die utilitaristische Tradition sich immer selbst als eine sehr weite und offene Bewegung gesehen hat. Bevor wir aber einen geschichtlichen Verlauf entwickeln, müssen wir zunächst eine Definition im Sinne einer Arbeitshypothese aufstellen. Am ehesten ist der Utilitarismus gewöhnlich eine Theorie des Wohlergehens, und zwar unter der Annahme, dass das einzige Gut das Wohlergehen ist (siehe Wohlfahrt). Zweitens geht er davon aus, dass wir das Wohlergehen im Leben verschiedener Menschen miteinander vergleichen können (siehe Wirtschaft und Ethik). Drittens ist er eine Fassung es Konsequenzialismus (siehe Konsequenzialismus). Die Konsequenzialisten setzen sich für die unparteiische Maximierung gewisser Werte ein, unter denen sich z.B. die Gleichheit befinden kann. Der Utilitarismus ist beispielsweise in seiner klassischen Form ein Konsequenzialismus des Wohlergehens, der erfordert, dass jede Handlung das jeweils größte Glück hervorbringen sollte (siehe Glück). Die Sorge um das Wohlergehen, seine Messung und seine Maximierung findet sich schon früh in Platons ‚Protagoras‘. Im dem Versuch zu beweisen, dass alle Tugenden auf eine zurückzuführen sind, vertritt Sokrates den Hedonismus, d.h. die Wohlergehensperspektive, dass nur lustvolle Geisteszustände wertvoll seien, und dass sie wertvoll allein infolge ihrer Eigenschaft als lustvoll seien (siehe Platon, § 9; Sokrates; Hedonismus). Die Debatte im ‚Protagoras‘ ist nur eine von vielen Diskussionsbeispielen des Wohlergehens in der antiken Ethik (siehe Eudaimonia). Einige betrachteten die griechische Ethik als in erster Linie egoistisch und fragten, was ein Individuum eigentlich noch tun solle, außer sich um sein Wohlergehen zu bemühen (siehe Egoismus und Altruismus, § 4). Der Utilitarismus ist jedoch im oben beschriebenen Sinne unparteiisch.
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Utilitarismus
Die Stoiker, insofern sie Platon und Aristoteles folgten, begannen mit der Entwicklung eines Begriffs der Unparteilichkeit, nach dem die Bemühung um sich selbst sich vernünftigerweise auch auf die anderen erstreckt, und schließlich auf die ganze Welt (siehe Stoizismus). Diese Lehre, die sich zur christlichen Konzeption der Selbstaufopferung hinzugesellt, sowie Konzeptionen der Rationalität, die auf Platon zurückgehen und den überindividuellen Standpunkt betonen, können mit einer gewissen Stichhaltigkeit als die Quelle der utilitaristischen Unparteilichkeit betrachtet werden (siehe Unparteilichkeit). In der Neuzeit wird der Utilitarismus seit der Aufklärung wieder aufgegriffen. Die Idee der unparteiischen Maximierung findet sich im 18. Jahrhundert im Werk des schottischen Philosophen Francis Hutcheson. Das Werk seines Zeitgenossen David Hume betont ebenfalls die Wichtigkeit des Nutzenbegriffs für die Ethik (siehe Hume, D., § 4). Etwas später machten die so genannten ‚theologischen Utilitaristen‘ Joseph Priestley und William Paley geltend, dass Gott uns zur Beförderung des größten Glücks auffordere. Zur selben Zeit vertrat in Frankreich Claude Helvétius den Utilitarismus als eine politische Theorie, nach der es die Aufgabe der Regierungen sei, für die Menschen Glück zu produzieren. Er beeinflusste einen der extremsten Utilitaristen, nämlich William Godwin. Es war jedoch Jeremy Bentham, der am meisten zur Sytematisierung des Utilitarismus beitrug. Benthams Schüler, J.S. Mill, war der nächste große Utilitarist, und ihm folge Henry Sidgwick. G.E. Moore distanzierte sich von Mills Hedonismus und entwickelte eine einflussreiche ‚ideale‘ Fassung des Guten. Eine der wichtigsten jüngeren Versionen des Utilitarismus ist jene von R.M. Hare. Dieser stellte eine zweistufige Theorie auf, nach der zwischen Alltagssituationen und qualifizierten Urteilssituationen zu unterscheiden ist. Auf der Alltagsebene vertritt Hare eine Form des Regel-Utilitarismus, wobei die zu befolgenden Regeln kollektiver Zustimmung bedürfen. Auf der qualifizierten Urteilsebene spricht sich Hare für einen ‚Handlungsutilitarismus‘ aus, bei dem besondere, eventuell sogar für den Einzelfall entwickelte Handlungsentscheidungen zur Anwendung kommen müssen, wenn die Alltagsprinzipien miteinander im Widerstreit stehen, wenn der zu beurteilende Fall sehr ungewöhnlich ist, oder wenn sich ein offenkundiger, ganz bestimmter Weg der Nutzenmaximierung abzeichnet und man aus gerechtfertigten Gründen dem eigenen Urteil unabhängig von kollektiven Regeln den Vorzug geben darf. 2. Konzeptionen des Nutzens Bevor man den Nutzen maximieren kann, muss man wissen, was überhaupt ein Nutzen ist. Es ist hier wesentlich zu beachten, dass die Nachvollziehbarkeit des Utilitarismus als eine Theorie der richtigen Handlung nicht von irgendeiner bestimmten Konzeption des Wohlergehens abhängt. Eine Darstellung des Guten für eine Person unterscheidet sich eventuell von einer Darstellung der richtigen Handlung (siehe Richtige und das Gute, Das). Die Utilitaristen haben viele unterschiedliche Ansichten zum Nutzen geltend gemacht. Die ‚klassischen‘ Utilitaristen, vor allem Bentham und Mill, waren Hedonisten. Gegen den Hedonismus lässt sich vieles einwenden. Was ist beispielsweise mit den Masochisten, die den Schmerz lustvoll erleben? Gut, vielleicht kann auch Schmerz lustvoll sein. Aber gibt es wirklich irgendetwas Gemeinsames namens ‚Lust‘ unter all jenen Erfahrungen, die ein glückliches Leben ausmachen? Und wäre 1856
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es vernünftig, sich selbst an eine Maschine anzuschließen, die einem eine große Anzahl oder Menge lustvoller Empfindungen verschafft? Solche Fragen führen vielleicht zu der Auffassung von Sidgwick, derzufolge der Nutzen als wünschenswertes Bewusstsein jeglicher Art zu verstehen ist. Einige Philosophen, wie z.B. Nietzsche, haben dagegen eingewandt, dass ein Leben in reiner Freude unauthentisch sei. Die Hedonisten wurden für ihre Nähe zum Sensualismus3 kritisiert. J.S. Mill versuchte diesen Vorwurf ein für allemal zu entkräften, indem er vorschlug, dass die Hedonisten nicht akzeptieren müssten, dass alle lustvollen Erfahrungen, z.B. Limonade zu trinken und Shakespeare zu lesen, gleichwertig seien, sondern nach Maßgabe der Menge an Lust zu bewerten seien, die mit ihnen verbunden ist oder war. Bentham und anderen meinten, dass der Wert einer Lusterfahrung hauptsächlich von ihrer Intensität und ihrer Dauer abhinge, aber Mill bestand darauf, dass es die Qualität einer Lust sei, d.h. ihr Wesen, das ihre Qualifikation als Lust beeinflusse, und damit auch ihren Wert. Warum aber muss der Wert eines Erfahrungstyps an der Qualität der dabei empfundenen Lust gemessen werden? Warum kann ihr lustvolles Wesen nicht schon an sich selbst etwas zu diesem Wert beitragen? Vielleicht ist der ernsthafteste Einwand gegen jede Theorie, derzufolge das Wohlergehen auf geistigen Zuständen beruht, jener der so genannten Erfahrungsmaschine. Diese Maschine sei angenommenermaßen besser als jede Lustmaschine, und sie kann uns die wünschenswertesten Erfahrungen verschaffen, die wir uns nur vorstellen können. Wäre es das Beste für uns, wenn wir unser ganzes Leben an eine solche Maschine angeschlossen wären? Man beachte, dass hier nicht zur Debatte steht, ob es richtig wäre, es für sich so einzurichten, dass man an eine solche Maschine angeschlossen ist und damit alle seine Verpflichtungen in der wirklichen Welt unerfüllt lässt. Selbst ein Utilitarist könnte hier einwenden, dass dies unmoralisch ist. Einige Menschen meinen, es mache Sinn, sich an eine solche Maschine anzuschließen, während anderen denken, dass dies eine Art von Tod wäre. Wenn man zu den Letzteren gehört, dann könnte man vielleicht eine Theorie der Nützlichkeit annehmen, nach der die maximale Erfüllung der eigenen Wünsche das ist, was das Leben für einen selbst gut macht. An der Erfahrungsmaschine werden viele Wünsche unerfüllt bleiben. Selbst wenn man sich beispielsweise nicht die Erfahrung des wirklichen Weltfriedens wünscht (weil einem dieser Wunsch womöglich zu unrealistisch erscheint), so mag man doch den Wunsch haben, an der Erreichung dieses Zieles mitzuwirken. Wunschtheorien dominieren inzwischen das zeitgenössische Denken, weil die Wirtschaftswissenschaftler den Begriff der ‚offenbarten Präferenzen‘ (engl.: revealed prefences) mögen (siehe Vernunft, Praktische). Lust- und Schmerzerfahrungen sind schwer zu messen, doch die Präferenzen der Menschen lassen sich feststellen und objektiv aus ihrem Verhalten erschließen. Eine einfache Wunschtheorie scheitert sofort: Ich möchte dieses volle Glass dort mit einer braunen Flüssigkeit trinken, weil ich glaube, es sei Whisky. In Wirklichkeit ist es Gift, so dass die Befriedigung meines Wunsches mir offensichtlich schaden Der Sensualismus war eine vor allem in England verbreitete erkenntnistheoretische Denkschule, die alle Bewusstseinsinhalte auf Empfindungen, Sinneseindrücken oder Wahrnehmungen zurückführte. Der Sensualismus stand damit im Gegensatz zum Realismus und ist eine spezifische Form des Empirismus. Vertreter des Sensualismus waren beispielsweise Étienne Bonnot de Condillac und Adam Smith. [WS]
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würde. Wunschtheoretiker würden hierauf erwidern, dass es die Befriedigung eines inneren Wunsches ist, die für das Wohlergehen zählt. Mein innerer Wunsch ist jener nach Lust, und der Wunsch auf das Getränk lediglich davon abgeleitet. Die übliche Strategie, die von Wunschtheoretikern üblicherweise eingeschlagen wird, ist die Formulierung von Einschränkungen innerhalb der Theorie, um solchen Gegenbeispielen wie dem zuvor genannten zu begegnen. Meine Besserstellung folgt nicht aus der Erfüllung meiner (oberflächlichen) Wünsche, sondern meiner ‚sachkundigen‘ Wünsche. Warum aber antworten die Wunschtheoretiker so auf diese Gegenbeispiele? Wahrscheinlich deshalb, weil sie bereits eine Sichtweise des Nutzens haben, der sie zur Konstruktion ihrer Theorien führt. Dies bedeutet, dass Wunschtheorien an sich beliebig sind, was sich unmittelbar zeigt, wenn man sich klar macht, dass die Erfüllung eines Wunsches an sich selbst für eine Person weder gut noch schlecht ist. Es geht darum, ob das, was die jeweilige Person sich wünscht und bekommt gut oder schlecht ist. Für Gründe wie diese gibt es keine Rückkehr zu den alten Theorien der Ideale des Nützlichen, nach denen gewisse Dinge einfach gut oder schlecht sind für die Menschen, unabhängig davon – zumindest in einigen Fällen –, ob man sie sich wünscht, oder ob sie zu lustvollen Erfahrungen führen. Eine weitere und interessante antike Ansicht ist jene, die kürzlich wieder neu auflebte, und nach der gewisse nichthedonistische Güter wertvoll seien, aber nur, sofern sie mit Lust oder Wunscherfüllung gekoppelt seien (siehe Platon, ‚Philebos‘ 21a-22b). Die vorgeschlagenen, nicht-hedonistischen Güter umfassen das Wissen und die Freundschaft. Für den Theoretiker solcher Ideale ergeben sich daraus die folgenden Fragen: Was gehört auf die Liste der Lebensgüter? Wie entscheiden wir über diese Liste? In welchem Verhältnis sollen diese guten Dinge zueinander stehen? 3. Typen des Utilitarismus Die Theorien des Richtigen und des Falschen müssen von etwas handeln, dass heißt, müssen sich auf etwas konzentrieren. Üblicherweise, zumindest in den letzten Jahrhunderten, konzentrierten sie sich auf Handlungen und versuchten die folgenden Fragen zu beantworten: ‚Welche Handlungen sind richtig?‘ und ‚Was macht diese Handlungen zu richtigen Handlungen?‘ Die Alten stellten bereits diese Fragen, bemühten sich aber um eine Konzentration auf das Leben, die menschlichen Charaktere, ihre Neigungen und Tugenden. Praktisch alle Formen des Utilitarismus konzentrierten sich auf die Handlungen, und erst in den letzten Jahrzehnten ergab sich auch einiges Interesse am Utilitarismus in seiner Anwendung auf die Motive, die Tugenden und das Leben von Menschen als einer Ganzheit. Der Utilitarismus ist eine Form des Konsequenzialismus. Da die Utilitaristen jedoch bestimmten Handlungen eine innere moralische Wichtigkeit zuordnen können (natürlich insbesondere der Handlung, die sich auf eine Maximierung von Nützlichkeit bezieht), muss angemerkt werden, dass es Probleme bei dem Versuch gibt, das Wesen des Utilitarismus zu erfassen, indem man diesem Verständnis eine Unterscheidung von Handlung und Konsequenz zugrunde legt. Eine kürzlich vorgelegte Alternative lautete, diese Unterscheidung in jene zwischen ‚akteursneutral‘ und ‚akteursrelativ‘ umzudeuten. Akteursneutrale Theorien ordnen jedem Akteur dieselben Ziele zu, z.B. dass man sich um sein Kind kümmert. Logisch hindert die Utilitaristen 1858
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jedoch nichts an dem Beharren darauf, dass dein Ziel die Maximierung deines Nutzens ist. Obwohl aber diese Theorie somit praktisch äquivalent zur akteursneutralen Theorie ist, legt allein ihre Möglichkeit nahe, dass es Probleme bei dem Versuch der Annahme geben kann, die Unterscheidung zwischen akteursneutralen und akteursrelativen Handlungen zur Erfassung des Wesens des Utilitarismus zu gebrauchen. Was den Utilitarismus klar von anderen Moraltheorien unterscheidet, sind seine Voraussetzungen, und wieso er diese Voraussetzungen geltend macht. Dem werden wir uns nunmehr zuwenden. Die üblichste und direkteste Fassung des Utilitarismus ist der Akt-Utilitarismus, demzufolge es das Kriterium der Richtigkeit einer Handlung ist, nach dem sich die Nutzenmaximierung bemisst. Akt-Utilitaristen können zwei Darstellungen der Richtigkeit anbieten. Die objektiv richtige Handlung wäre jene, nach der der Nutzen wirklich maximiert wird, während die subjektiv richtige Handlung jene ist, welchen den erwarteten Nutzen maximiert. Akteuren wird üblicherweise vorgeworfen, dass sie nicht das getan haben, was subjektiv richtig gewesen wäre. Eine weitere Unterscheidung ist jene zwischen dem gesamten und dem durchschnittlichen Nutzen. Nach der Gesamtnutzenauffassung ist die richtige Handlung jene, die den insgesamt größten Nutzen hervorbringt. Die Durchschnittsnutzenauffassung besagt, dass die richtige Handlung jene ist, die das durchschnittliche Nützlichkeitsmaß innerhalb einer Population maximiert. Beide Theorien sind nur in Fällen unvereinbar, in denen die Größe einer Population eine Rolle spielt. Der üblichste dieser Fälle ereignet sich, wenn jemand darüber nachdenkt, ein Kind zu bekommen. Hier führt die Durchschnittsnutzenauffassung zu dem absurden Ergebnis, dass ich kein Kind bekommen sollte, selbst wenn mein Leben dadurch wunderbar würde und sich aus der Existenz dieses Kindes keine schädlichen Wirkungen ergäbe, sofern dessen zu erwartenden Wohlergehen unterhalb jenes des aktuellen Bevölkerungsdurchschnitts liegen wird. Aber auch die Gesamtnutzenauffassung gerät in Probleme, und zwar auf prominente Weise in dem ‚Argument der abstoßenden Schlussfolgerung‘ von Derek Parfit, das die Gesamtnutzenauffassung mit dem weiteren Argument konfrontiert, dass eine menschliche Population, die ein kaum lebenswertes Leben lebt und sehr groß ist, dann einer kleineren menschlichen Population vorzuziehen wäre, wo alle ein sehr gutes Leben genießen. Eine Lösung dieses Problem wäre es, wenn man eine ‚personenuentrierte‘ Fassung des Utilitarismus annähme, die sich auf den Geltungsbereich der existierenden Personen beschränkt. Aber auch mit diesem Stanpunkt gibt es Probleme. Kürzlich haben einige Autoren vorgeschlagen, dass eine Möglichkeit zu Vermeidung der ‚abstoßenden Schlussfolgerung‘ darin besteht, dass man Diskontinuitäten in den Werten einführt, so dass in dem Moment, wo der Wert unter ein gewisses Minimum fällt, die damit auftretende Lücke nicht mehr durch Nutzenquantität allein kompensiert werden kann. Hier gibt es eine Verbindung zu Mills Auffassung über die Beziehung von höheren zu niedrigen Formen der Lust. Man stelle sich vor, dass man ein Akt-Utilitarist ist, der in einer vollkommen akt-utilitaristischen Gesellschaft aufgewachsen ist. Dann muss man viel Zeit darauf verwenden, die Nutzenwerte der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die einem offen stehen, zu berechnen. Man wird dabei sehr wahrscheinlich Fehler machen, und weil man nur ein Mensch ist, die Dinge wahrscheinlich immer zum eigenen Besten behandeln. 1859
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Aus diesen Gründen haben die meisten Akt-Utilitaristen eingewandt, dass wir nicht versuchen sollten, den Akt-Utilitarismus als Ganzes in die Praxis umzusetzen, sondern uns weitgehend an der Alltagsmoral orientieren sollten. Damit sparen wir eine Menge wertvoller Zeit, denn diese basiert auf langer Erfahrung und wird uns schon auf dem richtigen Pfad führen. Akt-Utilitaristen, die dagegen die alleinige und konstante Anwendung ihrer Theorie empfehlen, sowie jene, die uns empfehlen, dass wir nie die Theorie verwenden und uns stattdessen immer an die Alltagsmoral halten sollten, könnten beide ‚einstufige‘ Theoretiker genannt werden, denn sie empfehlen eine Ausführung des moralischen Handelns nur auf einer einzigen Ebene. Die meisten Utilitaristen haben sich jedoch einer zweistufigen Theorie angeschlossen, nach der wir den Utilitarismus nur manchmal in Anspruch nehmen, insbesondere dann, wenn die Prinzipien der Alltagsmoral miteinander in Konflikt geraten. Das Hauptproblem der zweistufigen Ansichten ist ihre immanente Psychologie. Wenn ich wirklich ein Anhänger des Utilitarismus bin, wie kann ich mich dann einer Alltagsmoral anschließen, von der ich doch weiß, dass sie eine Fiktion ist? Und wenn ich diese Alltagsmoral wirklich ernst nehme, wie soll ich sie dann vergessen können, wenn ich meine, wie ein Utilitarist denken zu müssen? Die zweistufige Antwort hierauf muss lauten, dass die Zweistufigkeit in der Tat ein ziemlich unordentlicher Kompromiss sei, aber dass es eben genau jener sei, um mit einer ebenso unordentlichen Wirklichkeit fertig zu werden. Der Akt-Utilitarismus ist eine extrem anspruchsvolle Theorie, weil sie von ihrem Befürworter vollständige Unparteilichkeit bezüglich seiner eigenen Interessen, der Interessen jener, die ihm nahe stehen und den Interessen der Allgemeinheit verlangt. Das übliche Beispiel hierzu ist die Hilfe bei Hunger. Wenn man seine gesamte Zeit, sein Geld und seine Energie für die Hungerhilfe einsetzt, wird man viele Leben retten und viele Menschen vor Leid bewahren. Die Utilitaristen behaupten an diesem Punkte oft, dass es Grenzen der menschlichen Fähigkeiten gibt, und der Utilitarismus fordert von uns nur das zu tun, was wir tun können. Aber der Sinn des Wortes ‚können‘ ist ziemlich dunkel, denn in jedem gewöhnlichen Sinne des Wortes kann ich natürlich meine Erwerbstätigkeit aufgeben und mein Leben fortan der Bekämpfung des Welthungers widmen. Der Einwand überhöhter Ansprüche scheint insbesondere dann schwer zu wiegen, wenn er im Zusammenhang mit einer verbreiteten Nichterfüllung der Ansprüche der akt-utilitaristischen Moral gesehen wird. Die meisten Menschen tun wenig oder gar nichts für die Entwicklungsländer, und das ist ja gerade der Grund dafür, warum die moralischen Anforderungen an mich als (moralisch willige) Einzelperson so hoch sind. Ein Argument wie dieses wurde verwendet, um dem Regel-Utilitarismus zu begründen, nach dem die richtige Handlung jene ist, die im Einklang mit einem Regelsystem steht, das, wenn es allgemein oder gar universell akzeptiert ist, den Nutzen maximieren würde. Jene Fassung der Theorie, die nur von den Regeln spricht, die befolgt werden, fällt dagegen vermutlich mit dem Akt-Utilitarismus zusammen. Anders als der Akt-Utilitarismus, der insofern eine direkte Theorie ist, als er die Richtigkeit und die Falschheit von Handelungen direkt davon abhängig macht, ob sie das Maximierungsprinzip erfüllen, ist der Regel-Utilitarismus eine indirekte Theorie, weil die Richtigkeit und die Falschheit von Regeln abhängt, deren Rechtfertigung selbst auf einem utilitaristischen Prinzip beruht. 1860
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Der hohe Anspruch des Akt-Utilitarismus war nicht der Hauptgrund für die Entwicklung des Regel-Utilitarismus. Vielmehr wurde die letztere Theorie entwickelt, um die alltäglichen Moralprinzipien zu unterstützen, wie z.B. jene, die sich gegen das Töten oder das Lügen aussprechen, und die an sich selbst plausibel sind. Der Regel-Utilitarismus hat nicht so viel Aufmerksamkeit erfahren wie der AktUtilitarismus, teilweise weil er sich von der Attraktivität der Nutzenmaximierung entfernt. Nach dem Regel-Utilitarismus mag es Zeiten geben, wo die richtige Handlung nicht die beste der möglichen Welten hervorbringt, wie z.B., wenn andere dem nicht entsprechen. Wenn aber die Maximierung auf der Ebene der Regeln vernünftig ist, warum soll man sie dann nicht gleich auf die Handlungen anwenden? 4. Argumente zugunsten der Utilitaristen Das berühmteste Argument für den Utilitarismus ist John Stuart Mills Beweis desselben. Dieser hat drei Stufen: (1) Glück ist wünschenswert. (2) Das allgemeine Glück ist wünschenswert. (3) Nichts anderes als das Glück ist wünschenswert. Jede Stufe wurde starker Kritik unterzogen, insbesondere die erste. Mill war ein Empirist, der glaubte, dass Tatsachenfragen durch eine Berufung auf die Sinne entschieden werden könnten (siehe Empirismus). In seinem Beweis versucht er, die bewertenden Behauptungen über eine analoge Berufung auf die Wünsche zu begründen und verwendet dabei aus rhetorischen Gründen leider die Wörter ‚sichtbar‘ und ‚wünschenswert‘. Die erste Stufe suggeriert dem Leser, dass er, wenn er seine eigenen Wünsche befragt, sehen würde, dass das Glück wünschenswert sei. Die zweite Stufe ist wenig mehr als eine Behauptung, denn Mill sah nicht die riesige Kluft zwischen dem egoistischen und dem universalistischen Hedonismus bzw. Utilitarismus. In einer wichtigen Fußnote (1861: 5. Kap., Nr. 36) sehen wir die Annahme, die hinter dem Beweis liegt: je mehr Glück jemand durch eine gewisse Handlung zu produzieren vermag, desto stärker sei der Grund, diese Handlung auch durchzuführen. Die Egoisten werden dies leugnen, doch damit sind sie zunächst wieder am Zug. Die abschließende Stufe stützt sich nochmals auf die Introspektion durch die Behauptung, dass wir uns letztlich nur lustvolle Zustände wünschen. Daher kann sogar ein Wunsch nach Tugend noch als ein Wunsch nach Glück gesehen werden, denn was wir uns wünschen, ist die Lust auf ein tugendhaftes Handeln oder die Betrachtung unserer Tugend. Hier könnte der Verdacht aufkommen, dass die Introspektion durch Mills Widersacher abweichende Ergebnisse zu Tage fördert. Die vielleicht üblichste Form des Utilitarismus, wie auch von jeder anderen Moraltheorie, ist der Intuitionismus, wenn auch nur einem schwachen Sinne. Vielen mag der Utilitarismus einfach und für sich genommen vernünftig erscheinen, tatsächlich so vernünftig, dass jeder Versuch ihn zu beweisen wahrscheinlich auf Prämissen beruhen müsste, die unsicherer sind als die Schlussfolgerung. Diese Ansicht wurde am nachdrücklichsten von Henry Sidgwick vertreten. Sidgwick untermauerte sein Argument mit einer minutiösen Analyse der Alltagsmoral. Sidgwick glaubte auch, dass der Egoismus von der Intuition gestützt würde, so dass die praktische Vernunft letztlich geteilt sei (siehe Egoismus und altruismus, §§ 1, 3).
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Utilitarismus
Im 20. Jahrhundert wollte R.M. Hare die Berufung auf die moralische Intuition vermeiden, die er als irrational ansah. Wenn wir nach Hare eine moralische Frage wie z.B.: ‚Was sollte ich tun?‘ beantworten wollen, sollten wir zunächst die Logik der Worte verstehen, die wir verwenden. Im Falle von ‚sollte‘ müssten wir sehen, dass dieses Wort zwei Eigenschaften habe, nämlich diejenige, eine Vorschrift zu sein (folglich ist es handlungsleitend), und die Universalisierbarkeit (ich sollte zur Zustimmung zu jedem moralischen Urteil bereit sein, das über Situationen abgegeben wird, die der gerade gegebenen in ihren universalen Eigenschaften ähneln) (siehe Präskriptivismus). Hare macht geltend, dass man, wenn man sich richtig in die Position eines anderen hineinversetze und auf diese Weise einen Wunsch ‚universalisiere‘, man sich auch dessen Präferenzen zu eigen mache. Ist dies einmal getan, so sei die einzige rationale Strategie, die allgemeine Präferenzerfüllung zu maximieren, was äquivalent mit dem Utilitarismus ist. Hare moralische Theorie ist eine der entwickeltsten seit Kant, und er behauptet tatsächlich, Elemente des Kantianismus in seine Theorie aufgenommen zu haben (siehe Kantische Ethik). Widersacher haben dagegen eingewandt, dass, anders als Kant selbst, Hare wieder ‚Intuitionen‘ in Form von Überzeugungen über die Moral oder die Rationalität durch die Hintertür einführe. Beispielsweise könnte man von dem Wort ‚sollte‘ behaupten, es beinhalte keine Bindung an die Vernunft der Maximierung, und zwar nicht einmal in eigenen Angelegenheiten. 5. Probleme der Utilitaristen Es gibt viele technische Probleme mit den unterschiedlichen Formen des Utilitarismus. Wie kann man Lust und Schmerz messen? Welche Wünsche sind zu berücksichtigen? Ist Wissen an sich schon ein Gut? Sollten wir wirkliche oder auch wahrscheinliche Glückseffekte berücksichtigen? Wie charakterisieren wir die mögliche Welt, die uns bei der Wahl unserer Regeln leiten soll? Dies sind bereits für die Theoretiker selbst Probleme, und deshalb wurde schon viel darüber geschrieben, wie sie zu lösen seien. Grundlegender ist dagegen eine Reihe von Problemen, die jede Art von utilitaristischer Theorie angeht, und die sich aus der dem Utilitarismus eigenen Konzeption der Unparteilichkeit ergibt. Ein berühmter utilitaristischer Ausspruch von Bentham lautet: „Jeder zählt als einer, niemand mehr als einer.“ Dies ist jedoch, wie Mill ergänzt, ein wenig irreführend. In einem gewissen Sinne zählt im Utilitarismus überhaupt niemand; alles, was zählt, ist das Maß des Nutzens. Was gegeneinander abgewogen wird, sind nicht Personen, sondern Lust- oder Nutzenmengen. Diese Konzeption der Unparteilichkeit macht es den Widersachern des Utilitarismus leicht, Beispiele heraufzubeschwören, in denen der Utilitarismus entsetzlich erscheint. In einem berühmten Beispiel dieser Art wird ein Richter aufgefordert, einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen, um einen Aufstand zu verhindern und damit das unter diesen Umständen allgemein größtmögliche Glück hervorzurufen (siehe Verbrechen und Strafe, § 2). Die Utilitaristen können hierauf erwidern, dass sie in der Praxis überzeugt seien, dass Menschen praktische Rechtsprinzipien aus utilitaristischen Gründen akzeptieren sollten (siehe § 2). Dies verfehlt jedoch den ernsten Kern in vielen dieser Einwände; es ist nämlich durchaus nicht nur von Belang, wie viel Nutzen etwas ergibt, sondern auch, wie er verteilt ist. Man stelle sich beispielsweise einen Fall vor, 1862
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in dem eine gewissen Menge an Ressourcen entweder jemanden übergeben wird, dem es bereits sehr gut geht und der ohne eigenes Zutun reich wurde, oder aber jemanden, der ohne eigene Schuld arm ist. Wenn der Nutzen einer Übergabe der Ressourcen an die reiche Person nur geringfügig höher ist als jener einer Übergabe an den Armen, so diktiert der Utilitarismus, dass der Reiche sie erhalten müsse. Doch viele, einschließlich einiger Konsquenzialisten, würden hier einwenden, dass es vernünftig sei, dem Schlechtergestellten eine gewisse Priorität einzuräumen. Dies sind Probleme auf der Ebene der sozialen Verteilung des Nutzens. Aber Schwierigkeiten ergeben sich auch aus der Tatsache, dass alle menschlichen Akteure ihr jeweils eigenes Leben führen und sich aus ihrer persönlichen Perspektive heraus engagieren, und nicht von irgendeinem imaginären Standpunkt eines ‚unparteiischen Zuschauers‘ aus. Auf diese Probleme wurden auf einflussreiche Weile in den vergangenen Jahren durch Bernard Williams hingewiesen, der sie unter dem Titel dessen zusammenfasst, was er ‚Integrität‘ nennt. In einem berühmten Beispiel bittet Williams uns, dass wir uns den Fall von Hans vorstellen, der im südamerikanischen Dschungel als Reisender unterwegs ist. Er trifft auf eine militärische Exekutionseinheit, die gerade dabei ist, zwanzig Eingeborene eines nahen Dorfes zu erschießen, weil dort ein Aufstand stattgefunden hatte. Der Hauptmann des Kommandos bietet Hans das Gästeprivileg an: Hans könne wählen, entweder einen der Eingeborenen selbst zu erschießen mit der Folge, dass alle anderen frei würden, oder alle zwanzig würden von dem Kommando erschossen. Williams Interesse liegt hier nicht auf dem Punkt, dass die Utilitaristen die falsche Antwort geben würden; tatsächlich ist er selbst der Meinung, dass Hans schießen sollte. Vielmehr komme der Utilitarist viel zu schnell zu einer Antwort und kann daher nicht die vielen Gedanken in Rechnung stellen, von denen wir wissen, dass man sie in Hans’ Situation haben sollte, wie z.B.: ‚Ich werde jetzt zum Mörder‘. Die praktische Vernunft ist nicht nur damit befasst, die Dinge einfach so zu arrangieren, dass der größte Nutzen dabei herauskommt. Es kommt vielmehr auf die Rolle eines jeden einzelnen Akteurs in der jeweiligen Situation an, und darauf, wo sich etwas Gutes bzw. etwas Schlechtes ereignet. Dies wird noch deutlicher sichtbar, wenn wir uns eine abweichende Version der Geschichte von Hans vorstellen, in der der Hauptmann Hans bittet, Selbstmord zu begehen, um damit ein Beispiel für mutiges und edles Verhalten gegenüber der lokalen Bevölkerung abzugeben, und zwar unter der Bedingung, dass alle zwanzig schuldlos Gefangenen frei sein werden, wenn er dies tut. Das Nutzenkalkül ist hier vielleicht noch klarer als im ursprünglichen Fall. Es ist aber sehr vernünftig, dass Hans es in dieser Geschichte für relevant hält, ob er sterben soll. Für einen jeden Menschen kommt es nicht nur darauf an, wie viel Glück es in der Welt gibt, sondern auch darauf, wer davon etwas hat. Siehe auch: Deontologische Ethik; Guten, Theorien des; Teleologische Ethik; Tiere und Ethik Anmerkungen und weitere Lektüre: Mill, J.S. (1861): ‚Utilitarianism‘. Auch in zahlreichen Auflagen auf Deutsch erhältlich. (Dies ist eines der wichtigsten und am meisten studierten Werke der Moralphilosophie. Hier legt Mill auch dar, dass Lust als qualitativ höher oder niedriger betrachtet und bewertet werden müsse.)
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Scarre, G. (1996): ‚Utilitarianism‘. London: Routledge. (Eine nützlich Einführung, einschließlich eines geschichtlichen Abrisses des Utilitarismus. Einschließlich Bibliographie.) Shaw, W.H. (1999): ‚Contemporary Ethics: Taking Account of Utilitarianism‘. Malden, Massachusetts: Blackwell. (Eine sehr ausgewogene und gut geschriebene Einführung in die Ethik aus utilitaristischer Sicht. Enthält eine umfangreiche Bibliographie.) ROGER CRISP, TIM CHAPPELL
Utopismus
Der Ausdruck ‚Utopismus‘ ist die allgemeine Bezeichnung für eine Reihe unterschiedlicher Arten sehnsuchtsvoller Vorstellungen oder des Nachdenkens über eine bessere Gesellschaft, oder deren Beschreibung oder der Versuch ihrer Herbeiführung. Der Ausdruck ‚Utopismus‘ leitet sich von dem Wort ‚Utopia‘ ab, das von Thomas Morus geprägt wurde. In seinem Buch ‚Utopia‘ (1516) beschrieb Morus eine Gesellschaft, der es bedeutend besser ginge als der englischen Gesellschaft seiner Zeit, und das Wort ‚Utopia‘ (altgr.: ‚Nichtplatz‘ bzw. ‚Nirgendwo‘) hat die Bedeutung eines fiktiven Ortes angenommen, üblicherweise einer Gesellschaft, die besser sein soll als jene, in der der Autor lebt, und die als Kritik der Gesellschaft des Autors fungiert. In einigen Fällen sind diese Beschreibungen auch als Anweisungen gedacht gewesen, wie eine soziale Reform zu unternehmen sei, oder in einigen wenigen Fällen sogar als ein möglicherweise zu erreichendes Ziel. Der Begriff des Utopismus spiegelt klar seine Ursprünge wieder. In ‚Utopia‘ eröffnet Morus eine fiktive Debatte über das Wesen seiner Schöpfung. Was ist fiktiv und was wirklich? Zielte diese offenkundige Satire auf das zeitgenössische England, oder hatte sie es auch auf die Gesellschaft abgesehen, die in diesem Buch beschrieben wird? Und was für spätere Entwicklungen noch wichtiger ist: war es naiv unrealistisch, oder wollte es eine soziale Vision präsentieren, die unabhängig davon, ob sie erreichbar sei oder nicht, als Ziel dienen könnte? Das meiste dessen, was wir heute Utopismus nennen, leitet sich von dieser letzten Frage ab. Im 19. Jahrhundert brachten Robert Owen in England, Charles Fourier in Frankreich und Henri SaintSimon und Étienne Cabet in Frankreich, die als die ‚utopischen Sozialisten‘ bekannt wurden, die Möglichkeit der Schaffung einer besseren Zukunft über die Errichtung kleiner, experimenteller Kommunen auf. Karl Marx, Friedrich Engels und andere wandten dagegen ein, dass ein solcher Ansatz nicht imstande sei, die Probleme der industriellen Gesellschaft zu lösen, und damit wurde die Bezeichnung eines sozialen Versuchs als utopisch zum Synonym für ‚unrealistisch‘ oder ‚naiv‘. Spätere Theoretiker, sowohl als Widersacher, als auch als Unterstützer des Utopismus, debattierten darüber, ob es wünschenswert sei, eine bessere Gesellschaft als einen Weg zur Erreichung bedeutsamer sozialer Veränderungen zu projizieren. Aus theologischer Perspektive fragt sich wiederum, ob die Vorstellung eines besseren Lebens auf Erden häretisch ist, oder ob sie ein normaler Teil des christlichen Denkens ist. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und der früheren Sowjetunion hat eine Reihe von Theoretikern behauptet, dass der Utopismus am Ende sei. Dies ist jedoch nicht der Fall; Utopien werden weiterhin geschrieben, entsprechende Gemeinschaften werden immer wieder gegründet, und man gibt die Hoffnung wird nicht auf, dass ein besseres Leben möglich sei. Siehe auch: Fourier, C.; Morus, Thomas; Saint-Simon, Comte de LYMAN TOWER SARGENT 1864
V Vagheit
Ein ist offensichtlich so, das es unbestimmte (vage) Sprechweisen und unbestimmte Denkweisen gibt, z.B. wenn man sagt: ‚Heute ist es warm.‘ Der gesunde Menschenverstand geht ferner davon aus, dass es auch in der außersprachlichen Welt Unbestimmtheiten gibt, auch wenn dies nicht die gängige Auffassung unter Philosophen ist. Intuitiv sagt man beispielsweise, dass Wolken keine klaren raumzeitlichen Grenzen haben. Aber die These, dass Unklarheit etwas Wirkliches ist, hat eine Reihe zutiefst verblüffender Paradoxa und Probleme hervorgebracht, die nicht nur im sprachlichen Bereich, sondern unter anderem auch in der modernen Theoretischen Physik im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Quantenmechanik immer noch diskutiert werden, und die inzwischen weitgehend mathematisch als Ereignis- oder Zustandswahrscheinlichkeiten behandelt werden. Dennoch ist der metaphysische Kern des Verhältnisses von gänzlich bestimmten zu weniger oder gänzlich unbestimmten Verhältnissen nach wie vor theoretisch nicht durchdrungen. Es gibt diesbezüglich keine allgemeine Einigkeit unter Philosophen, wie die Unklarheit zu verstehen ist. Siehe auch: Mehrwertige Logik, Philosophische Fragen der MICHAEL TYE
Vaihinger, Hans (1852-1933)
Hans Vaihinger war ein deutscher Philosoph und Philosophiehistoriker. Einen großen Teil seines Werks verwendete er auf eine Erwiderung gegenüber der kantischen Philosophie; dadurch trug er nicht unwesentlich zum neuerlichen Interesse an Kant am Ende des 19. Jahrhunderts bei, und zwar sowohl durch seine veröffentlichten Kommentare zu Kant, als auch durch die Gründung der Zeitschrift ‚Kant-Studien‘ und im Jahre 1904 der Kant-Gesellschaft in Halle (Saale) zur Diskussion des kantischen Denkens. Sein wichtigstes Werk ist ‚Die Philosophie des Als-Ob‘ (1911), das eine Weiterentwicklung des kantischen Begriffs der ‚heuristischen Fiktion‘ unternimmt. Die dort gestellte Hauptfrage lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: ‚Wieso erreichen wir oft Richtiges mit bewusst falschen Annahmen?‘ Seine Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig ein Grundsatz seiner Philosophie: „Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures Gewebe von Fiktionen voll logischer Widersprüche, d. h. von wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen Zwecken bzw. von inadäquaten, subjektiven, bildlichen Vorstellungsweisen, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist“ (a.a.O, S. 14).
CHRISTOPHER ADAIR-TOTEFF
Vaiśesika
Siehe: Nyaya-Vaisesika
Van Helmont, Franciscus Mercurius
Siehe: Helmont, Franciscus Mercurius van
1865
Vedānta
Vedānta
Die indische philosophische Spekulation erblühte in den Texten der Upanisaden (von 800 v.Chr. an), wo Ansichten über das wahre Selbst (ātman) in seinem Verhältnis zu Brahman, der obersten Wirklichkeit, dem Absoluten oder Gott vorgetragen und erforscht werden. Die frühen Upanisaden wurden an eine noch ältere sakrale Literatur angehängt, die ‚Veda‘ (dt.: ‚Wissen‘) genannt wurde. Daraus wurde die ‚Vedānta‘, was wörtlich heißt: ‚der letzte Abschnitt der Veda‘. Klassische Systeme der Philosophie, die durch die Ideen der Upanisaden inspiriert wurden, wurden ebenfalls unter dem Namen ‚Vedānta‘ bekannt, sowie auch Werke des jüngeren sprituellen Denkens. Die klassische ‚Vedānta‘ ist eines der großen indischen philosohpischen Systeme, das sich über beinahe zweitausend Jahre mit Hunderten von Autoren und zahlreichen und wichtigen Unterschulen erstreckt. Seit der Neuzeit ist die ‚Vedānta‘ im populären Sinne des sprituellen Denkens, das sich aus den Upanisaden ableitet, ein wichtiges kulturelles Phänomen. Im weiten Sinne kann man von der ‚Vedānta‘ sogar sagen, dass sie die Philosophie des Hinduismus ist, obwohl es in der klassischen Epoche auch andere Schulen gab (insbesondere die Mīmāmsā), die die Formulierung der richtigen Ansichten und die Führungsrolle in dem, was man die Gemeinschaft der Hindu-Gläubigen nennen könnte, beanspruchten. Die Ausdrücke ‚Hindu‘ und ‚Hinduismus‘ kamen erst nach der muslimischen Invasion aus dem südarabischen Kontinent in Verkehr, was erst recht spät in der klassischen Zeit stattfand. Swami Vivekananda (1863-1902), der große und populäre Verbreiter der Hindu-Ideen im Westen, sprach von der ‚Vedānta‘ als einer Dach- oder übergreifenden Philosophie, die von der Gottheit verschiedentlich in den religiösen Traditionen der Welt offenbart worden sei. Ein solcher Einschluss unterschiedlicher Strömungen ist ein wichtiges Thema in einigen klassischen Texten der ‚Vedānta‘, es gibt aber auch heftige Diskussionen darüber, wie Brahman überhaupt aufgefasst werden sollte, und hier speziell Brahmans Verhältnis zum Individuum. Im 20. Jahrhundert haben Philosophen wie Sarvepalli Radhakrishnan, K.C. Bhattacharyya und T.M.P. Mahadevan idealistische Weltsichten formuliert, die weitgehend durch die klassische und vorklassische ‚Vedānta‘ inspiriert sind. Der mystische Philosoph Sri Aurobindo trug eine theistische und evolutionäre Theorie vor, die er ebenfalls ‚Vedānta‘ nennt, und noch viele weitere, einschließlich sogar politischer Führer wie Gandhi und spiritueller Vorbilder, aber auch Akademiker, haben vedantische Ansichten vertreten oder weiter entwickelt.
Siehe auch: Brahman; Hinduistische Philosophie STEPHEN H. PHILLIPS
Veränderung
Die Veränderung im Allgemeinen kann definiert werden als ein Unterschied in den Eigenschaften (entweder von Dingen oder einer Region der Raumzeit). Diese Definition ist jedoch hinsichtlich einer Reihe von Aspekten unvollständig. Die Bezugnahme auf Eigenschaften und auf die Zeit wirft zwei wichtige Fragen auf. Die erste lautet, ob wir zur weiteren Bestimmung die Arten der Eigenschaften kennen müssen, die an der Veränderung beteiligt sind. Wenn wir die Veränderung an einem Gegenstand als Unterschied seiner Eigenschaften in der Zeit (temporal variation) definieren, sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Eigenschaften eines
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Verantwortung
Gegenstandes sich verändern können, ohne dass daraus eine Veränderung des Gegenstandes selbst folgt. Die zweite Frage betrifft den Lauf der Zeit: bewirkt das Eintreten von Unterschieden über die Zeit eine Veränderung nur infolge irgendeines Merkmals der Zeit selbst, z.B. des (mutmaßlichen) Umstandes des Zeitlaufs selbst? Einige Philosophen haben den Begriff des ‚Zeitlaufs‘ abgelehnt. Sind sie deshalb einem Bild von der Welt, die unveränderlich ist, verpflichtet?
Sieh auch: Ereignis; Prozess; Wandel ROBIN LE POIDEVIN
Verantwortung
Für etwas verantwortlich zu sein heißt, für den Eintritt eines Ereignisses oder Zustandes, sowie für die Folgen davon einstehen zu müssen. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob der Verantwortliche den Eintritt dieses Ereignisses oder Zustandes durch ein Handeln oder durch ein Unterlassen herbeiführte. Im rechtlichen Sinne heißt diese Verantwortung Haftung. Eine der grundsätzlichsten Unterscheidungen im Rahmen rechtlicher Haftung ist die strafrechtliche bzw. die zivil- bzw. besser: vermögensrechtliche Haftung der oder des Betroffenen. Der Begriff der Verantwortung umfasst jedoch deutlich mehr als das rechtliche Haften. Wir tragen prospektive Verantwortung, d.h. wir haben die Pflicht, uns um bestimmte Dinge zu kümmern. Dies kann mit bestimmten Verhaltensrollen verbunden sein, wie z.B. in der Verantwortung der Eltern oder des Arztes. Oder aber wir tragen Verantwortung als moralische Akteure und als Menschen. Ferner tragen wir retrospektive Verantwortung für das, was wir getan haben oder versäumt haben, es zu tun. Diese betrifft die Wirkungen unserer bereits erfolgten Handlungen oder Unterlassungen. Solche Verantwortung wird häufig (wenn auch nicht immer) als ‚moralische‘ oder ‚rechtliche‘ Verantwortung bezeichnet. Der Umfang unserer retrospektiven, moralischen Verantwortung ist strittig. Wir sind für die beabsichtigten Ergebnisse unseres Handelns (womit immer auch das Unterlassen als passives Handeln gemeint ist) verantwortlich. Wie weit wir jedoch nur für vorhergesehene Wirkungen verantwortlich sind oder auch für Schäden, die wir nicht verhinderten, hängt davon ab, wie wir unsere prospektive Verantwortung definieren, d.h. wie weitgehend wir uns die Vorhersehbarkeit bestimmter Wirkungen oder Schäden aus besonderen sozialen Rollen als unsere Pflichten zurechnen lassen müssen. Zu sagen, ich sei für irgendeine vorhersehbare Wirkung oder einen ebensolchen Schaden verantwortlich, die ich nicht verhindert habe, heißt, dass ich auf diese Wirkung oder diesen Schaden hätte achten und entscheiden müssen, wie ich diesbezüglich handele. Unsere retrospektive Verantwortung ist teilweise durch unsere prospektive Verantwortung determiniert. Ich kann für etwas nur dann verantwortlich sein, wenn es im Horizont meiner Kontrollmöglichkeiten liegt. Es wird manchmal geltend gemacht, dass man aus diesem Grunde nicht für etwas verantwortlich sein kann, dessen Eintreten eine Sache des Zufalls ist. Es ist aber nicht klar, ob wir versuchen sollten oder dies überhaupt können, die Verantwortung vollkommen vom Zufall unabhängig zu machen. Beispielsweise wird aus dem Wettvertrag und aus dem Versicherungsvertrag die Leistung gerade infolge des zufälligen Eintritts eines Ereignisses geschuldet. Wir tragen Verantwortung nicht nur als Einzelmenschen, sondern auch als Mitglieder von Organisationen, wobei Organisationen selbst haften, insofern sie als Handelnde betrachtet werden können (faktisch beschränkt dies die Haftung von 1867
Verbrechen und Strafe
Organisationen oder Körperschaften auf die vermögensrechtlichen Aspekte ihrer Verantwortung, während sie strafrechtlich nicht haftbar sind). Dies wirft die Frage auf, wie weit wir für die Handlungen von Gruppen oder Organisationen einzustehen haben, denen wir angehören. Rechtlich betrachtet haften sowohl natürliche, als auch juristische Personen in allen modernen Industriestaaten ferner nur jeweils für sich, d.h. es gibt keine Sippen- oder Kollektivhaft (was nicht damit zu verwechseln ist, dass der rechtsgeschäftlich Vertretene, z.B. ein durch seinen Mitarbeiter vertretener Arbeitgeber, auch für die Fehler seines Vertreters wie für eigene Fehler einzustehen hat). In vielen informellen und häufig diffusen politischen Prozessen hat sich die Auffassung vom Verbot der Sippenhaft aber selbst in den modernen Demokratien noch nicht mit jener Selbstverständlichkeit durchgesetzt wie das formale Prinzip der Individualhaftung. Die Klärung der damit zusammenhängenden Fragen ist eine wichtige Aufgabe der Soziologie und der Geschichtswissenschaften.
Siehe auch: Handlung; Konfuzianische Philosophie, Chinesische R.A. DUFF Verbrechen1 und Strafe
Einführung Eine Darstellung dessen, wie die staatliche Bestrafung gerechtfertigt werden kann, erfordert eine Darstellung des Staates, weil er die Autorität zur Bestrafung hat, sowie des Verbrechens als desjenigen, was bestraft wird. Das Verbrechen als sozial geächtetes Fehlverhalten kann formal gerügt werden, und es kann zur Zahlung eines Ausgleichs an diejenigen führen, denen es Schaden zugefügt hat – aber warum soll es auch jene Art von ‚harter‘ Bestrafung nach sich ziehen, die das System der Strafgesetze kennzeichnet? Wie sollen wir entscheiden, welche Arten von Fehlverhalten als Verbrechen zu gelten haben? Die Konsequenzialisten (siehe Konsequenzialismus) rechtfertigen die Bestrafung mit ihren wohltuenden Wirkungen, vor allem der Verhinderung weiterer Verbrechen durch Abschreckung (sog. General- und Spezialprävention), Besserung oder ‚Entschärfung‘ (incapacitation) potenzieller Krimineller. Ihre Argumente sind dem Einwand ausgesetzt, dass die rückhaltlose Verfolgung solcher Ziele zu Ungerechtigkeiten führen würden, d.h. zur Bestrafung von Menschen, die diese nicht verdienen. Das englische Wort für ‚Verbrechen‘, das in diesem Beitrag durchgehend verwendet wird, lautet crime. Die gewählte Übersetzung dieses Ausdrucks ist somit lexikalisch korrekt, nicht aber inhaltlich, da hier eigentlich von ‚Straftaten‘ im Allgemeinen die Rede ist. Immerhin ist z.B. nach deutschen (und praktisch in allen Rechtsstaaten der Welt) verbreiteten Strafrechtsgrundsätzen ein Verhalten auch dann strafbar, wenn es noch kein Verbrechen darstellt. In Deutschland trifft beispielsweise § 12 StGB eine Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen. Ihr gemeinsamer Oberbegriff (Gattungsbegriff) ist das Delikt. Die differentia specifica zwischen beiden Arten von Delikten liegt im deutschen Strafrecht im Mindeststrafmaß: alle Delikte, deren Mindeststrafmaß ein Jahr beträgt, sind Verbrechen, die übrigen Vergehen. Die hier verwendete Ausdrucksweise, d.h. die ausschließliche Rede vom crime, ist deshalb insofern unrichtig, als die besprochenen theoretischen Überlegungen gleichermaßen auch auf Vergehen anwendbar sind. Der Leser sollte also den Ausdruck ‚Verbrechen‘ dieses Beitrages mehr im Sinne von ‚Delikt‘ oder ‚Straftat‘ verstehen. Gleichwohl konnte die Übersetzung von crime nicht einfach als ‚Delikt‘ gewählt werden, weil sowohl‚Delikt‘, als auch‚Straftat‘ im Englischen eindeutig offence heißen, was man in der Übersetzung nicht einfach ignorieren kann, auch wenn dies hier inhaltlich nahe läge. [WS]
1
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Verbrechen und Strafe
Selbst wenn dieser Einwand ausgeräumt wird, indem man nicht-konsequenzialistische Beschränkungen in das System einbaut, sind sie doch immer noch dem Einwand ausgesetzt, dass ein konsequenzialistisches System darin versagt, Kriminelle als verantwortliche moralische Akteure zu respektieren. Vergeltungstheoretiker meinen, dass die Schuld einen Tadel verdient, und dass die Bestrafung zur öffentlichen Kommunikation dieses Tadels dient. Aber warum sollen wir die ‚harte Behandlung‘, wie z.B. Gefängnis- oder Geldstrafen anwenden, um die Missbilligung zu kommunizieren? Fungiert die ‚harte Behandlung‘ wie eine konsequenzialistische Abschreckung? Oder können solche Bestrafungen der Besserung oder Umerziehung von Kriminellen dienen, indem sie sie dazu bringen, ihre Verbrechen zu bereuen und ihre Beziehungen mit jenen, denen sie Schlechtes angetan haben, wieder herzustellen? Eine Theorie der gerechtfertigten Bestrafung muss zu unseren bestehenden Strafinstitutionen in Beziehung gesetzt werden. Sie muss insbesondere etwas über die gerichtliche Verurteilungspraxis zu sagen haben: welche Arten von Bestrafung verhängt werden sollen, und wie die Richter über die jeweilige Schwere der Bestrafung entscheiden sollen. Eine zentrale Frage betrifft die Rolle des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, d.h. die Forderung, dass die Schwere der Bestrafung in einem Verhältnis zu jener des Verbrechens stehen sollte. Wir müssen aber auch fragen, ob unsere bestehende Strafpraxis überhaupt gerechtfertigt ist. Wir müssen uns mit dem Argument der Aufhebungsbefürworter befassen, denen zufolge die Bestrafung zugunsten sozialer Maßnahmen aufgegeben werden sollte, die ‚Verbrechen‘ nicht als Fehlverhalten behandeln, das bestraft werden muss, sondern als einen ‚Konflikt‘, der durch einen Versöhnungs-, statt durch einen Bestrafungsprozess gelöst werden muss.
1. Bestrafung, der Staat und das Strafgesetz 2. Konsequenzialismus und Vergeltungstheorie 3. Bestrafung und Kommunikation 4. Straftheorie und Verurteilung 5. Ist Bestrafung zu rechtfertigen?
1. Bestrafung, der Staat und das Strafgesetz Unser Augenmerk richtet sich auf die Bestrafung, die vom Staat für den Bruch von Strafgesetzen verhängt wird. Die Bestrafung kann für den Anfang als eine bewusste Auferlegung von etwas definiert werden, das als beschwerlich gemeint ist, und zwar infolge seiner Autorität gegenüber einem mutmaßlichen Rechtsbrecher für eine mutmaßliche Rechtsverletzung. Sie bedarf der Rechtfertigung, weil sie die Vornahme von Handlungen mit sich bringt (sie nimmt Menschen das Leben, die Freiheit oder Geld), die normalerweise als falsch gelten. Unterschiedliche moralische Aussichten erzeugen jedoch auch verschiedene Ansichten darüber, warum die Bestrafung moralisch problematisch ist, und durch was sie gerechtfertigt sein könnte. Ist das, worum es dabei geht, beispielsweise die Auferlegung von Schmerz, oder die offensichtlich zwangsweise Verletzung von Rechten, die mit der Bestrafung einhergeht? Eine Rechtfertigung der staatlichen Bestrafung setzt eine normative Theorie des Staates voraus, da er die Autorität zur Bestrafung innehat. Unterschiedliche Theo-
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Verbrechen und Strafe
rien des Staates haben unterschiedliche Strafbegriffe zur Folge: eine liberale Theorie wird der staatlichen Bestrafung beispielsweise etwas bescheidnere Ziele setzen und wird stärkere Einschränkungen mit sich bringen, als dies eine kommunitaristische Theorie tut (siehe Liberalismus; Gemeinschaft und Kommunitarismus). Eine Rechtfertigung der Bestrafung erfordert darüber hinaus eine Darstellung der Straftaten, denn es sind Straftaten, die bestraft werden. Die Straftat kann minimal als ein sozial geächtetes Fehlverhalten definiert werden, das die geltenden sozialen Normen bricht. Wir brauchen eine Darstellung des eigentlichen Charakters und Anwendungsbereichs solcher Normen (und was es heißt, für ihren Bruch verantwortlich zu sein, denn eine Straftat erfordert einen Straftäter, der dafür verantwortlich gemacht werden kann) (siehe Verantwortung). Aber nicht alle Brüche sozial oder gesetzlich geltender Normen gelten als Straftat, die eine Bestrafung verdienen; wir müssen also fragen, welche Arten von Reaktionen sich für welche Arten von Fehlverhalten eignen. Der Tadel ist eine angemessene Antwort auf den Bruch geltender Regeln, und der Ausdruck der Missbilligung mag ein weiteres definierendes Merkmal der Bestrafung sein. Damit lassen sich beispielsweise Geldstrafen von Steuern unterscheiden (siehe § 3). Die Missbilligung kann aber auch durch formale Erklärungen oder durch symbolische Bestrafungen zum Ausdruck gebracht werden, die nur kraft ihrer ausdrücklichen Bedeutung schmerzhaft sind, während die Bestrafung der Straftat typischerweise eine ‚harte Behandlung‘ auferlegt (den Verlust der Freiheit, von Geld oder gar des Lebens), was unabhängig von seiner ausdrücklichen Bedeutung davon schmerzhaft ist. Warum sollte eine solche harte Behandlung eine geeignete Reaktion auf sozial geächtetes Fehlverhalten sein? Eine weitere Antwort auf solches Fehlverhalten ist die erzwungene Bezahlung einer Entschädigung an diejenigen, die von diesem Verhalten geschädigt wurden; dies ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des Zivil- vom Strafrecht. Aber obwohl die Bestrafung auf eine Entschädigungszahlung mit sich bringen kann, erlegt sie dem Täter darüber hinaus eine harte Behandlung auf, die nicht unmittelbar ausgleichende Wirkung hat (und Straftaten schädigen auch nicht immer identifizierbare, einzelne Opfer). Warum sollte eine solche strafende, harte Behandlung je richtig sein, und für was für eine Art von Verhalten? Was sollte als Straftat gelten, statt nur als ein ‚ziviles‘ Fehlverhalten? Einige Theoretiker berufen sich auf das ‚Schadensprinzip‘ (siehe Recht und Moral, § 2): nur ein für andere schädigendes oder gefährdendes Verhalten kann kriminell sein. Damit verfügen wir aber höchstens über eine notwendige, nicht aber über eine hinreichende Bedingung für eine Kriminalisierung. Nicht alle Arten von (sogar ernsthaft) schädlichen Verhaltensweisen sind plausible Kandidaten für eine Kriminalisierung. Und neben der Frage, ob patriarchalische Gesetze, die ein schädliches Verhalten verbieten, dass nur den Täter schädigt, überhaupt zu rechtfertigen ist, müssen wir fragen, was überhaupt als ‚Schaden‘ zu gelten hat. Können wir schädigendes von lediglich anstößigem Verhalten unterscheiden? Halten wir manche Verhaltensweisen womöglich nur aufgrund ihres moralischen Charakters für ‚schädigend‘ (wie beispielsweise den Vertrauensbruch oder die Leugnung von Rechten), statt wegen ihrer materiellen Wirkungen? Wenn wir von einem Verhalten sprechen, das Interessen schädigt, oder das Rechte verletzt, oder das gemeinsame Werte gröblich missachtet, müssen wir fra1870
Verbrechen und Strafe
gen, welche Interessen, Rechte oder Werte gerade durch das Strafrecht, statt ‚nur‘ durch das Zivilrecht geschützt werden müssen. Von Straftaten heißt es oft, sie seien in gewisser Weise öffentliches, und kein nur privates oder individuelles Unrecht, d.h. ein Unrecht, dass sich nicht nur gegen irgend einen Einzelnen richtet, der daraus Schadenersatzansprüche ableiten kann, sondern gegen die Gemeinschaft oder gegen den Staat. Das ist der Grund, warum zivilrechtliche Klagen von einzelnen Klägern erhoben (und auch wieder zurückgezogen) werden können, während strafrechtliche Fälle durch eine Anklage des Staates oder der Gemeinschaft zur Verhandlung kommen, selbst wenn dies aufgrund eines Angriffs auf eine Einzelperson als Opfer geschieht. Können wir aber Straftaten als öffentliches Unrecht erklären, ohne die Art und Weise zu verdrehen, wie zahlreiche Straftaten individuelle Opfer schädigen? Wenn man beispielsweise sagt, dass Mord und Raub nicht etwa deshalb Verbrechen sein sollen, was sie konkreten Opfern antun, sondern weil sie die öffentliche Ordnung bedrohen, scheint dies die Bedeutung des opferseitigen Leidens zu leugnen. Wir würden sagen, dass sogar Verbrechen gegen einzelne Opfer als ‚öffentliches‘ Unrecht gelten sollten, insofern sich die Gemeinschaft mit dem Opfer identifizieren sollte und sich damit das Unrecht, das dem Opfer zuteil wurde, als eigenes zurechnet. Oder wir geben die Idee der Straftat als einem öffentlichen Unrecht (außer bei denjenigen, die direkt das Kollektiv anstelle eines Individuums verletzten, wie beispielsweise die Steuerhinterziehung) auf und stellen die Straftat als einen Angriff auf jene zentralen Rechte oder Interessen dar, die der Staat schützen sollte. Jede dieser Sichtweisen setzt uns allerdings der Frage aus, welche Rechte oder Interessen schließlich geschützt werden sollten, und welches Fehlverhalten folglich als ein öffentliches angesehen werden sollte. Wenn wir aber sagen, dass die Strafgesetze die Werte schützen sollten, die für unsere Identität oder gar die Existenz der Gemeinschaft wesentlich sind, so müssen wir sagen, welche Werte dies sind. (Eine jede Darstellung des Verbrechens muss auch die Unterscheidung zwischen mala in se, d.h. Handlungen, die unabhängig von jeder Rechtsvorschrift falsch sind, und mala prohibita, d.h. Handlungen, die nur deshalb falsch sind, weil sie eben verboten sind, erklären. Mala prohibita umfassen jedoch viele Delikte [besonders die ‚regulativen‘ Vergehen wie z.B. Ordnungswidrigkeiten des Straßenverkehrs], von denen einige meinen, dass sie überhaupt nicht als wirkliche ‚Delikte‘ gelten sollten: sie sollten nicht im Wege des Strafprozesses, der tadelt und straft, sondern durch irgendeine andere, deutlich regulative Prozessform behandelt werden.2) Statt der direkten Frage, welchen Arten von Verhalten kriminalisiert werden sollten, könnten wir auch fragen, was die Bestrafung von Straftaten rechtfertigt, und die Grundlegung unserer Prinzipien der Kriminalisierung nach unserer Antwort auf diese Frage richten. Wenn das zentrale rechtfertigende Ziel der Bestrafung die Abschreckung ist, so können wir fragen, von welchen Arten von Verhalten folglich abgeschreckt werden soll; wenn das eigentliche Ziel dagegen die Vergeltung ist, so können wir fragen, welche Verhaltensformen eine solche vergeltende Antwort verdienen.
Diese Unterscheidung ist z.B. im deutschen Recht durch die klare Unterscheidung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten realisiert. [WS]
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Verbrechen und Strafe
2. Konsequenzialismus und Vergeltungstheorie Die Straftheorie war im angloamerikanischen Rechtsraum über lange Zeit ein Kampffeld zwischen Konsequenzialisten und Vergeltungstheoretikern. Nach einer Periode der konsequenzialistischen Herrschaft erlebten die 1970er Jahre ein Wiederaufleben des Vergeltungsgedankens als Teil einer ausgedehnteren, rechtsbasierten Reaktion auf den Konsequenzialismus in der Sozialpolitik. Der Konsequenzialismus rechtfertigt die Bestrafung mit ihrem instrumentellen Beitrag zu bestimmten Gütern, am offensichtlichsten zum Gut der Verbrechensverhütung. Ein Strafsystem ist demzufolge gerechtfertigt, wenn seine verbrechensverhütendes und sonstigen Vorteile seine Kosten überwiegen und keine alternative Praxis zur Erreichung solcher Güter unter kostengünstigeren Gesichtspunkten verfügbar ist. Bestrafung verhindert Straftaten durch Abschreckung, durch ein ‚Aus-demVerkehr-ziehen‘ oder durch eine Besserung potenzieller Täter, indem sie entweder vernünftige Anreize zur Unterlassung von Straftaten gibt, oder indem sie sie solchen Einschränkungen unterwirft, dass es für sie schwerer wird, das Gesetz zu brechen, oder auch durch eine Änderung ihrer Einstellung, so dass sie sich künftig freiwillig an das Gesetz halten (siehe Bentham, J.; Konsequenzialismus). Es ist eine zumindest kontingente Wahrheit, dass solche Wirkungen bei möglichen Straftätern tatsächlich erzielt werden, in dem man tatsächliche Straftäter bestraft. Dies setzt jeden reinen Konsequenzialisten jedoch dem vertrauten Einwand aus, dass die Sanktion ungerecht ist. Ein System der abschreckenden Bestrafung darf nur wirkliche Straftäter bestrafen; dies lässt jedoch die Möglichkeit offen, damit auch ‚Sündenböcke’ (stellvertretende Schuldige) zu treffen, um andere abzuschrecken oder um die öffentliche Sicherheit wieder herzustellen. Und solange die wirkliche Straftat das einzige verlässliche Anzeichen der zukünftigen Verbrechen ist, die bessernde oder hindernde Maßnahmen verhüten sollen, werden solche Maßnahmen am effizientesten womöglich (aber dann sicherlich ungerecht) denen auferlegt, die das Gesetz noch gar nicht gebrochen haben, aber von denen dies als wahrscheinlich angenommen wird. Da die Unterwerfung einer Person unter eine Zwangsbehandlung durch den Staat von den vorausgesagten Wirkungen einer solchen Behandlung abhängen muss, statt von ihrem vergangenen Verhalten, fragen wir uns, ob der Konsequenzialismus überhaupt ein Strafsystem, d.h. irgendwelche Maßnahmen als Reaktion auf eine Straftat, rechtfertigen kann. Einige Konsequenzialisten machen geltend, dass wir die Bestrafung durch andere, effizientere Methoden des Umgangs mit sozial gefährlichen Menschen ersetzen sollten. Andere meinen, dass sie die ‚Ungerechtigkeiten‘ hinnehmen sollten, die ein strikt konsequenzialistisches Strafsystem womöglich begeht (mit der Nebenbemerkung, dass wir bereits z.B. die vorausschauende Wegschließung von geistig Kranken akzeptieren). Die meisten akzeptieren jedoch, dass ein gerechtfertigtes Strafsystem solche Arten grober Ungerechtigkeit, wie sie oben benannt wurden, nicht verüben darf. Die Konsequenzialisten könnten diesem Einwand dadurch begegnen, dass sie eine umfassendere Darstellung der Güter, die erreicht oder geschützt werden sollen, geben, sowie der sonstigen Methoden, durch die sie praktisch erreichbar wären. Daher machen einige geltend, dass die individuelle Freiheit ein wesentliches Gut ist, dessen Schutz die absichtliche Bestrafung derer ausschließt, die nicht freiwillig das Gesetz gebrochen haben. Andere wenden ein, dass in Anbetracht der Fehlbarkeit 1872
Verbrechen und Strafe
menschlicher Akteure der einzig sichere Weg zur Erreichung der geeigneten Güter der Erlass strikter Einschränkungen des Strafsystems sei, beispielsweise rundum die absichtliche Bestrafung Unschuldiger zu verbieten. Solche konsequenzialistischen Verteidigungen hängen jedoch von weitreichenden empirischen Behauptungen über die wahrscheinlichen Wirkungen von Bestrafungsstrategien ab, die nicht leicht zu verifizieren sind. Kann die Forderung nach Gerechtigkeit, auf die sich dieser Einwand beruft, wirklich adäquat auf den Kontingenzen gegründet werden, von denen dieses konsequenzialistische Argument abhängt? Eine weitere Strategie ist es, den reinen Konsequenzialismus aufzugeben und der Justiz nicht-konsequenzialistische Nebenbeschränkungen zum Zwecke der Erreichung konsequenzialistischer Ziele aufzugeben, beispielsweise darauf zu bestehen, dass nur jene bestraft werden können, die vorsätzlich das Gesetz gebrochen haben, da verantwortliche Akteure ein Recht darauf haben, nicht solchen Zwangsmaßnahmen unterworfen zu werden, solange sie sich ihnen bzw. den entsprechenden Strafgesetzen nicht freiwillig unterworfen haben. Ein Einwand selbst noch gegen die Nebenbeschränkungen einer konsequenzialistischen Theorie betrifft die moralische Stellung jener, die bestraft oder mit einer Bestrafung bedroht werden, dass nämlich eine konsequenzialistisches System darin versagt, seine Bürger (seien sie Kriminelle oder nicht) als verantwortliche Akteure zu respektieren. Ein System abschreckender Bestrafung, meinte Hegel, behandelt alle jene, die es mit Strafe bedroht, wie Hunde: statt ihre Gesetzestreue durch Berufung auf die moralischen Gründe zu suchen, die eine solche Forderung rechtfertigen, erzwingt es ihren Gehorsam durch Drohungen (siehe Hegel, G.W.F. § 8). Ein konsequenzialistisches System der Besserung behandelt auf ähnliche Weise jene, die ihm unterworfen sind, als Gegenstände, die umgeformt werden sollen, statt als verantwortliche Akteure, die ihr eigenes Verhalten steuern müssen. Auf solche Einwände erwidern einige, dass ein System mit Nebenbeschränkungen der abschreckenden Bestrafung die moralische Stellung jener respektieren kann, die es bedroht und bestraft; oder auch, dass Rehabilitation und Besserungsmaßnahmen keine unanständige oder gewaltsame Manipulation mit sich bringen müssen. Ein Anreiz für das Wiederaufleben der Vergeltungsorientierung in den 1970er Jahren war allerdings die Behauptung, dass nur ein System der Vergeltung die moralische Stellung von Kriminellen respektiert, d.h. ihr Recht auf eine faire und bestimmte Strafe, statt sie nur als Mittel der Abschreckung der anderen zu gebrauchen oder auf unbestimmte Zeit irgendeiner Besserungsmaßnahme zu unterwerfen. Die zentrale, vergeltungsorientierte Losung ist, dass (nur) der Schuldige eine Bestrafung verdient, und zwar im Verhältnis zur Schwere seines Verbrechens. Diese Forderung nach dem ‚gerechten Lohn‘ kann man negativ interpretieren, als verböte sie die Bestrafung Unschuldiger (oder die exzessive Bestrafung der Schuldigen); oder aber positiv, dass die Bestrafung der Schuldigen in dem Umfange erforderlich sei, wie sie dies verdienen. Die negative Lesart macht die Schuld zur notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung einer gerechten Strafe; sie geht von einer ‚gemischten‘ Darstellung aus, die der Bestrafung ein konsequenzialistisches Ziel gibt, aber unsere Verfolgung dieses Ziels einer vergeltungsorientierten Nebenbeschränkung unterwirft, indem es erforderlich sein soll, dass die Bestrafung sowohl verdient, als auch anschließend vorteilhaft ist. Die positive Lesart macht die Schuld zu einer notwendigen und hinreichenden Bedingungen der gerechten Strafe: der 1873
Verbrechen und Strafe
Schuldige sollte bestraft werden, weil er es verdient, egal, ob seine Bestrafung irgendeinem daraus folgenden Guten nützt oder nicht (siehe Kant, I. § 10). Die zentrale Aufgabe eines jeden Vergeltungstheoretikers ist es, diese angenommene Rechtfertigungsbeziehung zwischen Schuld und Strafe zu erklären, d.h. was es bei einem Verbrechen ausmacht, dass die Strafe eine geeignete Reaktion darauf ist. Der zentrale Einwand gegen alle Vergeltungstheorien ist, dass sie diese Aufgabe niemals erledigen. Entweder schaffen sie es nicht, diesen Begriff der verdienten Strafe zu erklären und fallen zurück in die unerklärte Intuition oder metaphysisches Mysteriengemurmel, oder aber sie bieten verdeckt konsequenzialistische Erklärungen an. Die ‚neue Vergeltungstheorie‘ der 1970er Jahre bot unterschiedliche Modelle der Idee einer verdienten Strafe an. Eine von ihnen lautete, dass Kriminelle durch ihre Straftaten einen unfairen Vorteil über diejenigen erlangen, die dem Gesetz gehorchen, weil sie die Vorteile der Selbstbeschränkung der jeweils anderen durch deren Gesetzestreue akzeptierten, aber die Last der eigenen Selbstbeschränkung vermeiden. Ihre Bestrafung korrigiert folglich diesen unfair erlangten Vorteil und stellt wieder das faire Gleichgewicht der Vorteile und Lasten her, die das Gesetz bewahren sollte. Ein Einwand gegen diese Darstellung ist, dass sie das Wesen des Verbrechens entstellt: was den Raub als Verbrechen strafbar macht, ist sicherlich das Unrecht, das dem Opfer angetan wird, und nicht der unfaire Vorteil des Räubers, den er vermutlich gegenüber all jenen erlangt, die sich ans Gesetz halten. Eine weitere Tendenz im aktuellen vergeltungsorientierten Denken baut mehr auf der Idee der Bestrafung als auf einer symbolisch bedeutsamen oder kommunikativen Praxis auf. 3. Bestrafung und Kommunikation Symbolisch bedeutsame Darstellungen der Bestrafung müssen nicht vom Vergeltungsgedanken geprägt sein; da wir durch den Ausdruck unserer Missbilligung das Verhalten des Straftäters zu korrigieren vermögen, können sich Konsequenzialisten auch einer symbolisch bedeutsamen Bestrafung anschließen. Aber der symbolisch bedeutsame oder kommunikative Aspekt der Bestrafung kann auch die Losung des Vergeltungstheoretikers erklären, derzufolge die Schuld eine Bestrafung verdient: wenn sie gegen ein Gesetz verstoßen haben, das gerechtfertigterweise seine Befolgung verlangt, so verdient ihr Verhalten Missbilligung; und es ist eine dem Staat gemäße Aufgabe, wenn er ihnen als Vertreter der Gemeinschaft diese Missbilligung ausspricht. Wir sollten hier aber eher von Kommunikation als von symbolischer Bedeutung sprechen. Denn Kommunikation ist ein Prozess, der sich an einen anderen Menschen als einen rationalen Akteur wendet (was die symbolische Bedeutung nicht muss); dieser Prozess greift die Idee auf (die im Zentrum aktueller Fassungen der Vergeltungstheorie stehen), dass wir Kriminelle als rationale und verantwortliche Akteure ansprechen müssen. Aber selbst wenn kriminelle Straftäter unsere Missbilligung erfahren sollten und eine hart (d.h. physisch unmittelbare) vollzogene Bestrafung dieser Art, die ihnen von unserem Strafsystem auferlegt werden, diese Missbilligung kommunizieren, müssen wir dennoch fragen, warum es auf diese Weise kommuniziert werden muss, statt durch eine formale Erklärung oder rein symbolische Bestrafungen (siehe § 1). 1874
Verbrechen und Strafe
Einige erwiderten hierauf, dass die ‚harte‘ Behandlung notwendig sei, wenn der Tadel, den die Straftäter verdienen, dem Kriminellen wirklich kommuniziert werden soll, weil er auf die rein symbolische Bestrafung womöglich überhaupt nicht hört; oder dass es notwendig sei, den Überlegenheitsanspruch zu ‚besiegen‘, den sein Verbrechen impliziert. Aber implizieren alle Verbrechen einen solchen Anspruch? Warum aber, wenn nicht aus konsequenzialistischen Gründen, die Strafe hierdurch zu einer umso wirksameren Abschreckung zu machen, soll die effektive Kommunikation so wichtig sein, dass wir physische Strafen verhängen müssen, um sie zu erreichen? Andere wieder akzeptieren, dass eine kommunikative Vergeltungstheorie aus sich selbst heraus nicht den Gebrauch einer harten Behandlung als kommunikatives Vehikel rechtfertigen kann; sie muss stattdessen durch ein konsequenzialistisches Bemühen um Abschreckung gerechtfertigt werden. Dieses Bemühen muss kein ‚gemischtes‘ sein, das die vergeltungsorientierten Werte nur als Seiteneinschränkungen zu konsequenzialistischen Zwecken darstellt, um dem Strafsystem sein positives Ziel zu geben. Die Kommunikation der Missbilligung kann selbst das zentral rechtfertigende Ziel der Bestrafung sein, so dass das Gesetz sich an die Bürger als verantwortliche moralische Akteure richtet, indem es sich auf die moralischen Gründe beruft, die seine Forderungen und auch die Missbilligung rechtfertigen, die sie denen auferlegt, die diese Forderungen missachten. Wenn man aber anerkennt, dass wir als fehlbare menschliche Wesen von solchen moralischen Gründen nicht immer entsprechend motiviert sein werden, den Gesetzen zu gehorchen, so kommunizieren wir diese Missbilligung mittels ‚harter‘ Behandlung, um damit einen weiteren vernünftigen Anreiz zum Gehorsam zu geben. Nach einer anderen Fassung dieser Darstellung sollte die ‚harte‘ Behandlung nur eine zurückhaltend vernünftige Ergänzung liefern, die nicht die moralische Stimme des Gesetzes ersetzt oder erstickt; die Frage ist dann, ob eine solche zurückhaltende Ergänzung immer noch wirksam sein wird. Nach noch einer anderen Fassung sollte die ‚harte‘ Behandlung streng genug sein, um von selbst eine wirksame Abschreckung zu produzieren. Dies lässt aber auch die bereits zuvor genannten Einwände gegen eine abschreckende Konzeption der Bestrafung wieder aufleben. Anspruchsvollere kommunikative Darstellungen der Bestrafung zeichnen ein Bild von der ‚harten‘ Behandlung als einer Form der moralischen Kommunikation, die darauf abzielt, zu bessern oder umzuerziehen. Bestrafung ist darauf aus, die Straftäter zu einem Verständnis ihres Handelns und zum Bereuen ihres Verbrechens zu bringen, um dadurch ihre künftiges Verhalten zu reformieren. Die ‚harte‘ Behandlung unterstützt diesen Zweck, indem sie dabei hilft, ihnen nahe zu bringen, was ihre Tat bedeutet und impliziert; sie kann auch, wenn der Straftäter sich ihr willentlich unterzogen hat, die Täter in die Lage versetzen, ihre Reue auszudrücken und sich dadurch mit ihren Opfern und der Gemeinschaft wieder zu versöhnen. Solche Darstellungen sind vergeltungsorientiert, da sich die Bestrafung der vergangenen Straftat auf eine missbilligende Antwort konzentriert; sie geben der Bestrafung aber auch einen nach vorne schauenden Zweck: die Umerziehung oder Rehabilitation des Straftäters, die Wiederherstellung der durch die Straftat beschädigten Beziehungen, die Bewirkung einer symbolischen (und vielleicht sogar materielle) Wiederherstellung des Opfers und der Gemeinschaft. Solche Zwecke kann man jedoch nicht auf strikt konsequenzialistische Weise verstehen, d.h. als voneinander unabhängige 1875
Verbrechen und Strafe
Zwecke, für die die Bestrafung nur ein kontingentes Mittel darstellt; sie können nur durch einen strafenden Prozess erreicht werden, der darauf abzielt, die Straftäter davon zu überzeugen, dass sie eine Bestrafung für das, was sie getan haben, erleiden müssen. Wir müssen uns jedoch fragen, ob eine ‚harte‘ Behandlung jemals als ein geeignetes Mittel für eine solch kommunikatives, umerziehendes oder strafendes Bemühen ist, und ob der Staat, selbst wenn er dies kann (wie vielleicht auch eine religiöse Gemeinschaft, die Bestrafungen vornimmt), überhaupt ein solches Interesse an dem erzwungenen Interesse für den moralischen Zustand seiner Bürger haben sollte. Diese Konzeption der Bestragung mag sich gut mit einer gemeinschaftsorientierten Perspektive verstehen, nach der Individuen ihre Identität und das Gute nur als Mitglieder einer Gemeinschaft finden können, die durch gemeinsame Werte und gegenseitige Sorge vereint ist; aber sie scheint mit dem liberalen Beharren auf dem Bedürfnis nach einem Schutz der individuellen Rechte und der Privatheit gegen einen aufdringlichen Staat oder die gemeinschaftliche Macht unvereinbar zu sein. Liberal Gesonnene werden einwenden, dass der erste Zweck der Bestrafung die Mitteilung einer angemessenen Missbilligung sei, aber sie mögen leugnen, dass der Staat mittels solcher Zwangsmaßnahmen versuchen sollte, die Reue und die Umkehr zu erzwingen. In diesem Falle könnte die physische Bestrafung nur noch als vernünftige Abschreckung gerechtfertigt sein, die nicht mehr versucht, in die Seele des Verbrechers einzudringen. 4. Straftheorie und Verurteilung Philosophische Diskussionen der Bestrafung werden typischerweise auf einer Ebene hoher Abstraktion geführt, weit entfernt von der Wirklichkeit der Strafpraxis und von den drückenden Sorgen der Bestraften. Deshalb müssen wir uns bemühen, sie mit der realen Welt der Bestrafung wieder in Verbindung zu bringen. Eine zentrale Frage ist die der Verurteilung. Welchen Arten von Bestrafung sollten den Gerichten zur Verfügung stehen (Todesstrafe, Gefängnis, Geldstrafen, gemeinnützige Dienste, Bewährung)? Was lässt eine bestimmte Art von Bestrafung geeignet erscheinen, entweder allgemein oder für ein bestimmtes Verbrechen? Wie sollten Richter die Schwere der Strafe bestimmen, die infolge bestimmter Verbrechen oder bestimmter Verbrecher verhängt werden müssen? Die Diskussion der letzten Frage zentriert sich oft auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Die Strenge der Bestrafung sollte im Verhältnis stehen zu der Schwere des Verbrechens. Einige solcher Prinzipien sind integraler Bestandteil einer jeder vergeltungsorientierten Theorie, einschließlich der kommunikativen Theorien; denn wenn die Bestrafung ein entsprechendes Maß an Missbilligung kommunizieren soll, so muss ihre Strenge im Verhältnis zur Schwere des Verbrechens stehen. Die Anwendung eines solchen Prinzips erfordert irgendeine Art von Bewertung und Vergleich der Schwere unterschiedlicher Verbrechen, und auch der Strenge unterschiedlicher Bestrafungen; und es ist nicht gerade klar, oder wie genau dies erfüllt werden kann. Während ein solches Prinzip bei der Bestimmung der relativen Strenge eines Urteils helfen kann, ist überdies erforderlich, dass schwerere Verbrechen strenger behandelt werden etc., so dass nicht klar ist, ob es überhaupt hilfreich ist, absolute Stufen der Bestrafung festzulegen.
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Verbrechen und Strafe
Wie wichtig ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit? Nach einer Auffassung ist es umfassend: das vorrangige Ziel der Verurteilung ist es, Gerechtigkeit durch Erlass eines dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügenden Urteils ergehen zu lassen. Dies bedeutet in der Praxis, dass die verfügbare Bandbreite an Bestrafungen eingeschränkt werden muss, und dass die Gerichte nur sehr geringen Freiraum beim Urteilen haben sollten. Andere meinen dagegen, dass die Forderung nach Verhältnismäßigkeit gegen andere relevante Prinzipien abgewogen werden muss, wie z.B. gegen das Prinzip der Sparsamkeit der Strafe, die es erforderlich macht, dass die Gerichte nur auf die leichteste akzeptable Strafe erkennen, selbst wenn diese leichter ist, als sich dies bei Anwendung strikter Verhältnismäßigkeit ergäbe. Nach dieser Auffassung kann man die Verhältnismäßigkeit als ein Grenzprinzip betrachten, dass sagt, dass Verbrecher nicht strenger bestraft werden sollen, als es sich aus der Verhältnismäßigkeit ihrer Verbrechen ergibt. Ferner besteht eine Spannung zwischen der Forderung nach Verhältnismäßigkeit und einem jeglichen Anspruch auf eine Bestrafung als Kommunikation. Wenn Bestrafung ein erzieherisches, umerziehendes oder strafendes Ziel haben soll, so sollten Gerichte eine Strafform suchen, die materiell geeignet, statt nur formal in Bezug auf die Straftat und den Straftäter verhältnismäßig sind, d.h. Bestrafungen, die auf geeignete Weise auf den jeweiligen Verbrecher eingehen. Dies würde aber erfordern, dass die Gerichte flexibler und kreativer in ihrem urteilenden Ermessen sein dürften, um für den Einzelfall geeignete Urteile finden oder konstruieren zu können; dieser Ermessensspielraum würde womöglich aber die Forderung nach strikter und formaler Verhältnismäßigkeit verletzen. Hier stehen wir wieder einem Konflikt zwischen einer liberalen Ansicht, die die Bedürfnisse der formalen Justiz betont und die Bürger gegen Zwang und Willkür des Staates zu schützen sucht, und einer ehrgeizigeren Konzeption der eigentlichen Rolle des Staates und der Strafgesetze gegenüber, wo es um das moralisch Gute der Bürger geht. 5. Ist Bestrafung zu rechtfertigen? Jede plausible normative Theorie der Bestrafung wird beweisen, dass unsere bestehenden strafrechtlichen Institutionen radikal unvollkommen sind. Die Art und der Umfang des Leidens, das sie auferlegen, kann nicht stimmig als etwas geschildert werden, dass entweder konsequent kosteneffektiv oder vergeltungsorientiert gerecht ist, und auch nicht gut angepasst an die Ziele einer kommunikativen Theorie der Bestrafung. Und es ist auch nicht klar, dass die Vorbedingungen gerechter Bestrafung in unseren eigenen Gesellschaften erfüllt sind, insbesondere dann nicht, wenn man Bestrafung als vergeltungsorientiert oder kommunikativ schildert: können wir wirklich sagen, dass die meisten von denen, die von unseren Gerichten verurteilt werden, schuldhaft die Gesetze missachtet haben, deren Beachtung zu Recht von ihnen eingefordert wurde, oder dass wir selbst (d.h. jene, in deren Namen das Gesetz spricht) das moralische Ansehen haben, diese Verurteilten zu tadeln? Die radikale Unvollkommenheit unserer bestehenden Strafinstitutionen wirft ernsthafte Fragen für jeden Bürger auf. Sollen wir diese bestehenden Institutionen akzeptieren (und gleichzeitig nach ihrer Reformierung streben), wie es zur Verhütung noch größerer Unordnung oder Ungerechtigkeit notwendig ist, oder müssen
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Verbrechen und Strafe
wir zugeben, dass sie so schwere Ungerechtigkeiten begehen oder soviel Schaden verursachen, dass sie überhaupt nicht zu rechtfertigen sind? Der Gedanke, dass selbst dann, wenn die Praxis staatlicher Bestrafung grundsätzlich gerechtfertigt wäre, unsere bestehenden Strafinstitutionen dennoch jeglicher adäquaten Rechtfertigung ermangeln, mag frivol erscheinen: können wir denn aufrichtig wollen, dass sie abgeschafft werden? Dies ist aber genau das, was von den ‚Abschaffungstheoretikern‘ vorgebracht wird, von denen viele tatsächlich meinen, dass die Bestrafung nicht einmal im Prinzip zu rechtfertigen ist. Wir sollten nach ihrer Auffassung deshalb nicht an der Reform unserer Strafinstitutionen arbeiten, sondern an ihrer Abschaffung. Solche Argumente werden in der philosophischen Literatur nicht oft berücksichtigt, die vielmehr dazu neigt anzunehmen, dass die Schlüsselfrage nicht die ist, ob, sondern wie staatliche Bestrafung gerechtfertigt werden kann. Diese Argumente stellen durchaus eine Herausforderung dar, die man ernst nehmen muss. Verschiedene Themen werden in den abschaffungsorientierten Schriften behandelt. Eines davon betrifft den genauen Begriff der Straftat als das, was eine strafende Antwort verdient, d.h. wir sollten Straftaten als ‚Konflikte‘ begrifflich neu fassen, die eher einer Lösung als einer Bestrafung bedürfen. Entsprechend sollten wir unsere Antwort auf die Straftaten ‚zivilisieren‘, also lieber das Zivilrecht bevorzugen, als ein strafrechtliches Modell. Statt durch Verdammung und Bestrafung jener, die Unrecht begangen haben, eine vergeltende Gerechtigkeit zu suchen, sollten wir uns eher um eine ‚wiederherstellende‘ Gerechtigkeit bemühen, indem wir danach streben, die Konfliktparteien zu versöhnen und (sofern notwendig) eine Wiedergutmachung für den Schaden zu verhandeln, den sie angerichtet haben. Diese Themen gehen oft einher mit einer Befürwortung einer sog. ‚informellen Gerechtigkeit‘; statt dem Staat zu erlauben, dass er den Individuen und lokalen Gemeinschaften die Konflikte ‚stiehlt‘, zu denen sie doch eigentlich gehören, sollten wir nach einer informellen, partizipatorischen Weise der Konfliktlösung suchen. Aber Bestrafung (die vorsätzliche Auferlegung von Leiden) ist niemals gerechtfertigt, weder als Vergeltung (die gar kein eigentliches Ziel ist), noch als Abschreckung (die das moralische Ansehen derer leugnet, die bedroht und bestraft werden). Und während Rehabilitationseinrichtungen denen angeboten werden sollen, die sie brauchen und suchen, können sie den Bürgern doch niemals aufgedrängt werden. Gegen solche Auffassungen kann man einwenden, dass strafrechtliche bewehrte Konflikte die Begehung wirklichen Unrechts mit sich bringen, das verurteilt werden sollte, dass ferner jede moralisch vertretbare Versöhnung die Anerkennung und Annahme der Schuld durch den Straftäter mit sich bringen muss (diese Überlegungen gehen in Richtung einer kommunikativen Konzeption der Bestrafung als Tadel), und dass eine Gesellschaft, die dem ganzen Zwangsapparat der Strafjustiz wirklich abgeschworen hat, unfähig wäre, sich selbst und ihre Mitglieder gegen ernstlich destruktive Straftaten und soziale Unordnung zu schützen. Wir können uns eine perfektere Gesellschaft vorstellen, in der die aktuell angewandten Formen der ‚harten‘ Bestrafung ungerechtfertigt wären, einfach weil sie unnötig sind. Wir werden vielleicht zustimmen, dass wir jetzt zu viel strafen, zu streng, dass unsere Strafinstitutionen nicht den Zwecken dienen, denen eine Bestrafung dienen sollte, und dass sie zu häufig noch weiteres Leiden jenen auferlegen, die bereits ernsthaft von den politischen und ökonomischen Strukturen benachteiligt sind, von denen viele von uns profitie1878
Vererbungslehre
ren. Die Vertreter der Abschaffungstheorie erinnern uns zwingend an diese Punkte; allerdings kann man ihnen nicht darin zustimmen, dass eine Bestrafung niemals zu rechtfertigen ist. Siehe auch: Gerechtigkeit; Rechtsphilosophie Anmerkungen und weitere Lektüre: Duff, R.A. und Garland, D. (Hrg.) (1994) A Reader on Punishment, Oxford, Oxford University Press. (Eine Sammlung zentraler Texte, ob und wie die Bestrafung von Straftaten gerechtfertigt werden kann.) Primoratz, I. (1999) Justifying Legal Punishment, 2. Aufl., Atlantic Highland, NJ: Humanities Press. (Eine nützliche Einführung, die utilitaristische und ‚gemischte‘ Darstellungen angreift und sich für die Vergeltung einsetzt.) Von Hirsch, A. und Ashworth, A.J. (Hrg.) (1998) Principled Sentencing, 2. Aufl., Oxfort, Hart Publishing. (Eine Sammlung von Artikeln über die Prinzipien der Urteilsfindung, die auch unterschiedliche gegenwärtige Konzeptionen der eigentlichen Ziele der Bestrafung diskutiert.) R.A. DUFF
Vererbungslehre
Die Vererbungslehre untersucht Fragen der Erbschaft, beispielsweise warum Abkommen ihren Eltern ähneln. Dieses Forschungsgebiet entstand um 1900 mit der Wiederentdeckung der Arbeiten von Gregor Mendel im Jahre 1865. William Bateson nannte das Forschungsgebiet im Jahre 1905 im englischen Kulturraum Genetics, und W. Johannsen benutzte als einer der Ersten im Jahre 1909 den Ausdruck ‚die Gene‘. Durch die Analyse von Daten der Vererbungsmuster von Eigenschaften, wie beispielsweise der gelben und grünen Erbsen, schlossen die Mendelschen Vererbungstheoretiker auf die Anzahl und den Typ hypothetischer Gene. Die bedeutenderen Bestandteile der Gentheorie, für die als Modell der Gene eine Art ‚Perlenschnur‘ vorgeschlagen wurde, ergaben sich in den 1920er Jahren. In den 1930er Jahren tauchte das Gebiet der Bevölkerungsvererbungslehre aus der Synthese der Ergebnisse der Mendelschen Vererbungslehre und der Darwinschen Theorie der natürlichen Auslese auf. Bevölkerungsvererbungstheoretiker studierten die Verteilung von Genen im Genpool einer Population und die Änderungen darin, die durch Auslese und andere Faktoren verursacht wurden. In den 1940er und 1950er Jahren entwickelte sich schließlich die Molekulargenetik, die Probleme der Genreproduktion, der Mutation und von Funktionen auf molekularer Ebene untersuchten. Philosophische Fragen tauchten dabei bezüglich des Beweises der Wirklichkeit hypothetischer Gene und hinsichtlich des Status der Mendelschen Gesetze in Anbetracht der Tatsache, dass sie keine universalen Verallgemeinerungen sind, auf. Andere Debatten entstanden über das Wesen der Beziehung zwischen der Mendelschen und der molekularen Genetik. Die Populationsgenetik lieferte die Perspektive der Gene als einer Einheit der Auslese in der Evolutionstheorie. Die Molekulargenetik begleitete sich technisch; sie wirft ethische Fragen über die humangenetische Information auf, wie beispielsweise jene der Privatheit der Information über das eigene Genom und die moralischen Implikationen, wenn man die Gene einer Person ändert. Die Debatte über das Risiko von ‚Zuchtkindern‘ bringt Fragen des genetischen Determinismus mit sich, und zwar in dem Umfange, wie die Gene menschliche Charakterzüge und sein Verhalten kontrollieren. 1879
Vernunft, praktische
Siehe auch: Genetik und Ethik; Arten LINDLEY DARDEN
Vergnügen siehe: Lust
Verhütung
Siehe: Leben und Tod (§ 5); Sexualität, Philosophie der
Verifikationsprinzip
Siehe: Logischer Positivismus; Bedeutung und Verifikation
Verifikationstheorie der Bedeutung Siehe: Bedeutung und Verifikation
Vernunft, praktische
Während die theoretische Vernunft jene Vernunftform ist, die ihre Autorität gegenüber unseren Überzeugungen beansprucht, ist die praktische Vernunft jene, die auf irgendeine Weise auf die Handlung bezogen ist, entweder indem sie sie leitet, motiviert, plant, auswertet, oder indem sie sie voraussagt. Darstellungen der praktischen Vernunft umfassen Theorien, wie wir die Mittel zu den uns gegebenen Zwecken bestimmen sollten, wie wir die Zwecke selbst bestimmen sollten, wie wir handeln sollten, wenn wir vor eine Mehrzahl von Zwecken stehen, welche Konsistenzanforderungen unsere Handlungen lenken sollten, und wie moralische Überlegungen in unsere Überlegungen darüber, wie wir handeln sollten, einfließen sollen. Die Wirtschaftswissenschaft hat in jüngerer Zeit Ergebnisse geliefert, die von vielen für ein zwingendes Portrait der praktischen Vernunft gehalten werden, nämlich das, was als ‚Theorie des erwarteten Nutzens‘ (engl.: ‚expected utility theory‘) bezeichnen. Nach dieser Theorie ist die rationale Handlung jene, die den höchsten erwarteten Nutzen einbringt, der wiederum durch eine Nutzenmessung oder der ‚Gutheit‘ oder ‚Schlechtheit‘ der möglichen Ergebnisse der Handlung ermittelt wird, und zwar indem man den Nutzen eines jeden möglichen Ergebnisses einer Handlung mit der Wahrscheinlichkeit multipliziert, dass dieses Ergebnis überhaupt eintritt, und am Ende die Ergebnisse für alle möglichen Ergebnisse einer Handlung zusammenzählt. Diejenige Handlung, für die danach der höchste erwartete Nutzen ausgewiesen wird, ist die rationale Handlung. Andere technische Darstellungen der praktischen Vernunft wurden innerhalb der Sozialwissenschaft unter dem Titel ‚Spieltheorie‘ erforscht; dort werden strategische Situationen untersucht, in denen die Handlung, die für den Akteur rational ist, teilweise davon abhängt, was andere Akteure tun (siehe Entscheidungs- und Spieltheorie). Eine Theorie der praktischen Vernunft kann eines von zahlreichen unterschiedlichen Zielen haben. Wenn sie beschreibt, wie die Menschen wirklich denken, dann fungiert sie als eine deskriptive Theorie der praktischen Vernunft. Zeichnet sie dagegen eine Konzeption, wie unser Denken verlaufen sollte, so fungiert sie als eine normative Theorie der praktischen Vernunft. Theorien der praktischen Vernunft können auch von der Handlung an sich handeln: wenn eine Theorie eine Konzeption entwirft, auf welche Weise unsere Handlungen einsehbar oder konsistent oder nützlich sein sollten (unabhängig von der Qualität der Überlegungen, die ihnen vorausgingen), so fungiert sie als eine (normative) Theorie der Verhaltensklugheit. Wenn sie dagegen lediglich das konsistente Handeln beschreibt, dass uns die Verhaltensvoraussage bei
1880
Verpflichtung, politische
Akteuren erlaubt, deren vorangehende Handlungen in diese Konsistenzdarstellung passen, so fungiert sie als eine deskriptive Theorie. Man könnte vielleicht einwenden, dass dort, wo die theoretische Vernunft angeblich die Wahrheit erstrebt, die praktische Vernunft gewisse Arten des Guten oder von Werten an menschlichen Handlungen anstrebt. Theorien, die das rationale Handeln als jenes verstehen, das das Gute (was auch immer als solches betrachtet wird) erreicht, fördert oder maximiert, sind konsequenzialistische oder teleologische Theorien. Theorien, die davon ausgehen, dass die rationale Handlung manchmal als eine solche verstanden werden muss, die einen inneren Wert oder eine ‚Richtigkeit‘ unabhängig davon aufweist, wie viel Gutes sie bewirken oder realisieren wird, sind nonkonsequenzialistische oder nonteleologische Konzeptionen der praktischen Vernunft. Wenn eine Theorie die Vernunft als das definiert, was definierten Zwecken durch etwas anderes als durch sich selbst dient, so bezeichnet man diese als instrumentelle Theorien. Wenn sie der Vernunft erlaubt, eine nicht instrumentelle Rolle zu spielen, die ihrerseits imstande ist, zumindest einige unserer Handlungszwecke festzulegen, so beschreibt eine solche Theorie eine nichtinstrumentelle Konzeption. Theorien der praktischen Vernunft, die die Existenz eines speziell moralischen Vernunftdenkens anerkennen, neigen dazu, diese Denkprozedur als eine nichtinstrumentelle darzustellen. Die Philosophen sind sich uneinig darüber, ob die praktische Vernunft uns einen Weg des Denkens weist, der noch vor der Wahlentscheidung liegt, die uns wirklich motivieren kann, uns in der von ihr empfohlenen Richtung zu bewegen. Viele glauben, dass es der Vernunft an motivationaler Kraft mangele, so dass sie uns nur gültige Anweisungen geben könne, die aber durch etwas anderes noch mit einer Motivation versehen werden müssen (z.B. durch unsere Wünsche). Schließlich betrachtet das Studium der praktischen Vernunft auch die Vielzahl der Möglichkeiten, wie man das rationale Handeln verfehlen kann, und im Zentrum dieser Diskussion stehen Fragen über das Wesen und die Möglichkeit der irrationalen ‚Willensschwäche‘ (siehe Akrasie). Siehe auch: Praktische Vernunft und Ethik; Rationalität und kultureller Relativismus; Wirtschaftswissenschaft und Ethik JEAN HAMPTON
Verpflichtung, politische
Das Problem der politischen Verpflichtung ist durch die gesamte Geschichte dieses Begriffs hindurch eines der zentralen Themen der politischen Philosophie gewesen. Politische Pflichten sind die moralischen Pflichten der Bürger, ihre jeweiligen politischen Autoritäten zu unterstützen und ihren Anweisungen zu folgen. Ein Problem der politischen Verpflichtung bereitet das Verständnis, warum die Bürger (wenn überhaupt) in unterschiedlichen Staatsformen an eine solche Verpflichtung gebunden sind. Die meisten Theorien gehen konservativ davon aus, dass der typische Bürger in einigermaßen gerechten Staaten tatsächlich dieser Pflicht unterworfen ist. Sie sehen das Problem darin, die Gründe oder Rechtfertigungen der politischen Pflichten konsistent im Verhältnis zur Bejahung weitergehender Pflichten darzustellen. Andere Theoretiker, unter denen vor allem die Anarchisten prominent sind, akzeptieren wiederum nicht die konservative Annahme und halten sich die Möglichkeit offen, dass die beste Theorie der politischen Verpflichtung besagen
1881
Versprechen
könne, dass nur wenige, wenn überhaupt irgendwelche Bürger in den wirklichen Staates tatsächlich politische Pflichten haben. Ein großer Teil dieser modernen Debatte über die politischen Pflichten besteht aus Versuchen, entweder die mutmaßlichen Fehler der voluntaristischen Theorien zu verteidigen, oder über ihre Grenzen hinauszukommen. Die Voluntaristen meinen, dass nur unsere eigenen und freiwilligen Handlungen, wie z.B. das freiwillige Zustimmen zur Autorität einer Regierung, uns an den Gehorsam binden können. Weil die gegenwärtigen politischen Gesellschaften aber keine freiwilligen Assoziationen sind, scheint der Voluntarismus nicht in der Lage zu sein, die konservativen theoretischen Ansprüche zu befriedigen. Einige individualistische Theorien werden dadurch zu nicht-voluntaristischen Theorien der politischen Verpflichtung, indem sie versuchen, die Verpflichtungen der Bürger mit den Vorteilen zu begründen, die die Regierungen ihnen verschaffen, oder auch der moralischen Qualität ihrer politischen Institutionen. Andere lehnen den Individualismus gänzlich ab und verteidigen kommunitaristische Theorien, die auf unseren politischen Pflichten in unseren sozialen und politischen Rollen oder Identitäten aufbauen. Die individualistischen Anarchisten weisen alle konservativen Ansprüche, die mit solchen Theorien einhergehen, zurück und begrüßen stattdessen einen Voluntarismus, der impliziert, dass die meisten Bürger einfach gar keine politischen Pflichten haben. Siehe auch: Ziviler Ungehorsam A. JOHN SIMMONS
Versprechen
Das Versprechen (im Sinne von: ‚eine verbindliche Zusage abgeben‘) wird oft als eine soziale Praxis mit bestimmten Regeln betrachtet, die festsetzen, wann ein Versprechen abgegeben wurde und fordern, dass ein ordnungsgemäß abgegebenes Versprechen erfüllt werden muss. Dementsprechend haben viele Philosophen sich bemüht, die Pflicht zur Erfüllung oder Einhaltung eines Versprechens dadurch zu erklären, dass sie sich auf eine Pflicht zur Einhaltung solcher Regeln berufen, sei es wegen der sozialen Vorteile einer solchen Praxis, oder dass die Fairness eine solche Regelfolgsamkeit gebiete. Andere sehen das Brechen eines Versprechens als ein direktes Fehlverhalten gegenüber jener Person, deren Erwartungen damit enttäuscht werden. Siehe auch: Vertrauen; Wahrhaftigkeit T.M. SCANLON
Vertragstheorie
Siehe: Kontraktualismus
Vertrauen
Die meisten Menschen, die über das Vertrauen geschrieben haben, sind offenbar mit der folgenden Behauptung einverstanden: Vertrauen birgt das Risiko, es zu verlieren; die Vertrauenden überwachen nicht ständig diejenigen, denen sie vertrauen (denn sonst würden sie ihnen gerade nicht vertrauen); Vertrauen erhöht die Wirksamkeit von Handeln; Vertrauen und Misstrauen sind selbstbestätigend. Ferner sind auch drei weitere Behauptungen weitgehend akzeptiert: Vertrauen und Misstrauen sind Gegensätze, jedoch keine sich ausschließenden; Vertrauen kann man nicht willkürlich erzwingen; Vertrauen hat einen nicht-instrumentellen Wert. Darstellungen des Vertrauens lassen sich in drei Gruppen einteilen: risikobewertende Darstellungen, 1882
Vertretung, politische
die den Gründen indifferent gegenüberstehen, warum jemand vertraut; willensbasierte Darstellungen, die die Bedeutung der Motive jener betonen, denen vertraut wird; und Darstellungen der affektiven Einstellung, die behaupten, dass Vertrauen sowohl ein Gefühl, als auch ein Urteil ist, und dass es ferner eine Handlungsneigung mit sich bringt. Eine der zentralen Fragen hierzu lautet, wann das Vertrauen gerechtfertigt ist, und insbesondere, ob gerechtfertigtes Vertrauen den Beweis für die Überzeugung überholen kann, dass die Vertrauensperson ihr Vertrauen wert ist. Wenn das Vertrauen den Beweis der Vertrauenswürdigkeit zu überspringen vermag, dann stellt das Vertrauen ein Problem für die Auffassung dar, dass man niemals jemandem etwas ohne ausreichenden Beweis glauben sollte. Ferner lässt sich fragen, ob Vertrauen eine Tugend und Vertrauenswürdigkeit moralisch notwendig ist, während eine bestimmte Fragengruppe die Rolle des Vertrauens in der Politik und die Verbindung zwischen interpersonellem Vertrauen und institutionellem Vertrauen betrifft. Siehe auch: Berufsethik; Versprechen; Solidarität; Wahrhaftigkeit KAREN JONES
Vertretung, politische
Die politische Vertretung, d.h. die Ernennung einer kleinen Gruppe politisch aktiver Bürger, als Vertreter der politischen Gemeinschaft als Ganzer zu dienen, ist ein zentrales Merkmal der heutigen Staaten, speziell jener, die von sich behaupten, Demokratien zu sein. Was heißt es aber zu sagen, dass eine Person oder eine Gruppe von Menschen eine größere Gruppe ‚repräsentiert‘? Die Vertreter werden manchmal als Akteure jener verstanden, die vertreten werden, manchmal als deren Symbole, wobei manchmal ihre spezifischen Qualitäten oder Einstellungen in Typen eingeteilt werden. Obwohl die politische Vertretung mit allem diesem etwas zu tun hat, hat sie doch auch ihren eigenen und bestimmten Charakter. Die ideelle Lücke kann hier darin bestehen, dass die vertretene Gruppe den Vertreter bevollmächtigt, so dass Letzterer Entscheidungen an ihrer Statt treffen kann. Damit bleibt eine zentrale Frage jedoch noch immer unbeantwortet, nämlich: wie weit sollten die politischen Vertreter jenen rechenschaftspflichtig bleiben, die sie vertreten, und wie weit sollte ihre Freiheit gehen, nach ihrem eigenen Urteil zu entscheiden? Siehe auch: Demokratie; Liberalismus; Neutralität, politische; Verpflichtung, Politische ANDREW REEVE
Verursachung
Siehe: Kausalität
Verzicht, Der, in der indischen Philosophie
Siehe: Pflicht und Tugend, Indische Konzeptionen der
Via negativa
Siehe: Negative Theologie
Vico, Giambattista (1668-1744)
Vico lebte in einer Epoche, in der die Erfolge der Naturwissenschaften häufig der kartesischen Methode der apriorischen Demonstration zugeschrieben wurden. Sein eigenes, primäres Interesse war jedoch die Kultivierung der humanistischen Werte der Weisheit und der Klugheit, wofür diese Methode irrelevant war. Ursprünglich suchte er daher nach einer Methodik der Überzeugungs- und Argumentationstechnik
1883
Vico, Giambattista (1668-1744)
für diese Werte, die in der politischen und rechtlichen Rede verwendbar ist. Er kam jedoch bald zu der Überzeugung, dass die kartesische Methode zu beschränkt und nicht einmal in der Lage sei, die Fortschritte in den Naturwissenschaften zu erklären. So entwickelte er eine alternative, konstruktivistische Erkenntnistheorie, durch die man den Genauigkeitsgrad verschiedener Wissenschaften feststellen können sollte. Weisheit und Klugheit kamen auf dieser Skala allerdings zu kurz. Über bestimmte historische Rechtsstudien gelangte er zu der Überzeugung, dass, obwohl es keine ewigen und universellen Maßstäbe gebe, die dem Gesetz zu allen Zeiten und an allen Orten zugrunde liegen, das für eine bestimmte historische Epoche geeignete Recht von einem zugrunde liegenden Entwicklungsmuster des sozialen Bewusstseins und der Institutionen abhinge, die allen Nationen außer den Juden nach dem Sündenfall gemeinsam sei. Sein Buch ‚Scienza Nuova Prima‘ (dt.: ‚Neue Wissenschaft‘; 1725, 1730 und 1744) war ein hoch origineller Versuch, dieses Muster zu ermitteln, indem er mit einem urzeitlich-mythischen Bewusstsein beginnt und bei einem vollständig rationalen, aber letztlich verdorbenen Bewusstsein aufhört. Er glaubte, dass ein Wissen dieses Musters uns in die Lage versetzen würde, einen weiten Bereich historischer Tatsachen zu interpretieren, und dass wir damit in der Lage seien, kontinuierliche und kohärente Darstellungen der Geschichte aller gegebenen nichtjüdischen Nationen zu liefern. Der Vorrang des Bewusstseins in dem Muster führte ihn zu der Behauptung, dass es eine notwendige Folge von Ideen geben müsse, auf denen die Institutionen beruhen, und die der Schlüssel zur historischen Interpretation der Bedeutung aller nichtjüdischen Sprachen seien. Er stützte seine Konzeption durch ausgedehnte, vergleichend anthropologische, linguistische und historische Untersuchungen, die in ihrer bekanntesten Form zu seiner Auslegung der Homerischen Dichtungen führten. Er trug auch eine weiter entwickelte Darstellung seiner früheren Erkenntnistheorie vor, in der die Arbeit von Philosophen und Historikern als sich gegenseitig bedingend dargestellt werden. Damit wollte er zeigen, wie diese Konzeption der ‚wissenschaftlichen Geschichte‘ erreicht werden könne. Vico glaubte, dass die Erkenntnis, derzufolge sich Weisheit und Klugheit von geschichtlicher Epoche zu Epoche im Einklang mit einem zugrunde liegenden Muster wandelt, uns eine höhere Einsicht in unser jeweils eigenes Zeitalter verschaffen könnte und uns damit in die Lage versetze, einen Rückfall in die Barbarei zu vermeiden, was in einem übermäßig rationalen Zeitalter, in dem der religiöse Glaube nachlassen muss, mehr oder weniger unvermeidlich sei. Unglücklicherweise verunmöglicht der metaphysische Status seines Musters genau dies. Ein großer Teil seines Denkens drückt sich im Zusammenhang theologischer Annahmen aus, die mit wichtigen Aspekten seiner Arbeit im Widerstreit stehen. Dies führte zu einer fortgesetzten Kontroverse über seine persönlichen und theoretischen Bindungen an diese zugrunde liegenden Annahmen. Dessen ungeachtet bleibt jedoch seine Konzeption der historischen Entwicklung in Gesellschaften, der Beziehungen zwischen Ideen und Institutionen, der Sozialanthropologie, der komparativen Linguistik und der philosophischen und methodischen Aspekte der geschichtlichen Untersuchung im Allgemeinen auf gründliche Weise sehr fruchtbar. Siehe auch: Geschichte, Philosophie der LEON POMPA
1884
Vitalismus
Vitalismus
Die Vitalisten behaupten, dass lebende Organismen sich grundsätzlich von nicht-lebenden Entitäten unterscheiden, weil sie irgendein nicht-physikalisches Element enthalten oder durch andere Prinzipien gesteuert werden als die belebten Dinge. In seiner einfachsten Form behauptet der Vitalismus, dass lebende Entitäten irgendeine Flüssigkeit enthalten, oder auch einen bestimmten ‚Geist‘. In seiner entwickelteren Form wird der vitale Geist zu einer Substanz, die die Körper durchdringt und ihnen Leben einhaucht, oder der Vitalismus gerät zu der Auffassung, dass es eine ganz bestimmte Organisation unter den lebenden Dingen gibt. Vitalistische Positionen können bis in die Antike zurückverfolgt werden. Aristoteles’ Erklärungen der biologischen Phänomene werden manchmal als vitalistisch interpretiert, obwohl dies problematisch ist. Im 3. Jahrhundert v. Chr. behauptete der griechische Anatom Galen, dass vitale Geister für das Leben notwendig seien. Den Vitalismus versteht man jedoch am besten im Zusammenhang mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft während des 16. und 17. Jahrhunderts. Mechanistische Erklärungen natürlicher Phänomene wurden von Descartes und seinen Nachfolgern auf biologische Systeme ausgedehnt. Descartes meinte, dass Tiere und der menschliche Körper ‚Automaten‘ seien, d.h. mechanische Apparate, die sich von menschengeschaffenen Apparaten nur durch den Grad ihrer Komplexität unterscheiden. Der Vitalismus entwickelte sich im Gegensatz zu dieser mechanistischen Sichtweise. Über die nachfolgenden drei Jahrhunderte widersprachen zahlreiche Autoren der Ausdehnung des kartesischen Mechanismus auf die Biologie und trugen vor, dass die Materie nicht die Bewegung, die Wahrnehmung, die Entwicklung oder das Leben erklären könne. Der Vitalismus ist aus der Mode gekommen, obwohl er noch bis ins 20. Jahrhundert Anhänger hatte. Der bekannteste von ihnen war Hans Driesch (1867-1941), ein herausragender Embryologe, der das Leben eines Organismus als die Gegenwart einer Entelechie (gr.: ‚Vollendetheit‘ oder ‚Vollendlichkeit‘) erklärte, d.h. als eine substanzartige Entität, die die organischen Prozesse steuert. Auf ähnliche Weise hat der französische Philosoph Henri Bergson (1874-1948) einen élan vital behauptet, der den Widerstand der trägen Materie bei der Bildung lebender Körper überwindet. Siehe auch: Aristoteles; Bergson, H.-L.; Lebens, Ursprung des WILLIAM BECHTEL, ROBERT C. RICHARDSON
Vitoria, Francisco de (ca. 1486-1546)
Francisco de Vitoria, der den größten Teil seines Arbeitslebens als Erster Professor der Theologie in Salamanca, Spanien, verbrachte, war einer der einflussreichsten politischen Theoretiker im katholischen Europa des 16. Jahrhunderts. Ausgebildet wurde er als Theologe, aber wie alle Theologen dieser Epoche betrachtete er die Theologie als die ‚Mutter der Wissenschaften‘, deren Geltungsbereich alles abdecke, was durch göttliche oder natürliche, und nicht durch menschliche Gesetze gesteuert sei, d.h. alles bis auf das, was wir heute als Rechtswissenschaft beschreiben würden. Vitorias Schriften decken eine große Themenbreite ab, die von der Möglichkeit des Magischen bis zur Annehmbarkeit des Selbstmordes reicht. Sein Ruhm gründet sich jedoch hauptsächlich darauf, dass er sich auch mit den strittigsten juristischen Fragen seiner Zeit beschäftigte, nämlich mit dem Wesen der bürgerlichen Macht und
1885
Voltaire (François-Marie Arouet) (1694-1778)
des Königtums, mit der Macht des Papsttums, und vor allem mit der Legitimität der spanischen Eroberung Amerikas. Siehe auch: Internationale Beziehungen, Philosophie der; Krieges und des Friedens, Philosophie des; Politische Philosophie, Geschichte der; RenaissancePhilosophie ANTHONY PAGDEN
Voltaire (François-Marie Arouet) (1694-1778)
Voltaire ist nach wie vor der berühmteste Vertreter der Reformer und Freidenker, deren Schriften die Ideenbewegung im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die als die Aufklärung bekannt ist, definieren. Er war allerdings kein systematischer Philosoph mit einer originellen, kohärent vorgetragenen Weltsicht, sondern ein philosophe, der übersetzte, interpretierte und die Arbeit anderer Philosophen unter das Volk brachte. Seine eigenen Schriften zu philosophischen Themen waren tief vom englischen Empirismus und Deismus beeinflusst. Sein Denken ist durch einen pragmatischen Rationalismus gekennzeichnet, der ihn schon in seinen frühen Jahren dazu bewegte, die Anschauung der Welt aus der Perspektive des spekulativen Räsonnierens mit einer Skepsis zu betrachten, die er später häufig sehr eindrücklich in seinen Kurzgeschichten formulierte. Als ein junger Mann war Voltaire insbesondere an Locke und Newton interessiert, und vor allem durch seine Veröffentlichungen in den 1730er und 1740er Jahren gelangte die Lockesche Erkenntnislehre und die Newtonsche Kosmologie nach Frankreich und besiegelte schließlich den Niedergang der kartesischen Philosophie. Nach seinem Aufenthalte in England entwickelte Voltaire ein Interesse am philosophischen Optimismus, und sein Denken spiegelt eng die Newtonsche Auffassung einer göttlich geordneten menschlichen conditio humana, der Alexander Pope in seinem ‚Essay on Man‘ (1733-1734) einen machtvollen poetischen Ausdruck verlieht. Dies verfestigte sich beim jungen Voltaire durch den Leibnizschen Optimismus, der eine Anschauung entwickelte, derzufolge die materielle Welt, die notwendigerweise die vollkommene Schöpfung eines allmächtigen und wohlwollenden Gottes ist, die ‚beste aller möglichen Welten‘ sei, d.h. diejenige Form der Schöpfung, die von Gott als jene auserwählt worden sei, in der ein optimaler Betrag an Gutem auf Kosten eines minimalen Betrages an Bösem genossen werden könne. Voltaires spätere Unzufriedenheit mit der optimistischen Theorie brachte einen entsprechenden Vertrauensverlust gegenüber dem Begriff der bedeutungsvollen Ordnung der Natur mit sich, und an die Stelle seiner früheren Zustimmung zur Wirklichkeit der menschlichen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit trat nach 1748 die wachsende Überzeugung, dass eine solche Freiheit illusorisch sei. In den 1750er Jahren gab Voltaire abschließend den Optimismus und seinen Glauben an die göttliche Vorsehung zugunsten einer eher deterministisch orientierten Einstellung auf, in der eine wesentliche freudlosere Auffassung vom menschlichen Leben und Schicksal dominiert. Der pessimistische Fatalismus war jedoch nur eine vorübergehende Phase in seinem Denken, und an seine Stelle trat schließlich eine Sichtweise der Besserung, in der er die Möglichkeiten begrenzten menschlichen Handelns unter feindlichen und gottlosen Bedingungen behauptete. Siehe auch: Aufklärung, Kontinentaleuropäische; Empirismus; Rationalismus; Wille, der DAVID WILLIAMS 1886
Voluntarismus
Voluntarismus
Der Voluntarismus ist eine Handlungstheorie. Er führt unsere Handlungen weniger auf unseren Intellekt und unsere natürlichen Neigungen, als vielmehr auf den einfachen Willen oder die Wahlfreiheit zurück. Wendet man ihn auf das Denken über Gottes Handlungen an, so führte der Voluntarismus beispielsweise die spätmittelalterlichen Philosophen zu einer Weltsicht der kausalen und moralischen Ordnung, die letztlich in Gottes reiner und freier Wahlentscheidung wurzelt, und versteht damit Gottes Befehle als die Quelle der moralischen Verpflichtung. Der mittelalterliche Voluntarismus half bei der Bahnung des Weges zum Empirismus, zum Kartesischen Zweifel an den Sinnen, zum Rechtspositivismus und zur Reformationstheologie. Siehe auch: Freiheit, Göttliche; Okkasionalismus BRIAN LEFTOW
Volkspsychologie
siehe: Alltagspsychologie
Voraussetzung
Man kann in verschiedenem Sinne von einer Aussage behaupten, sie setze eine andere Aussage voraus, und diese verschiedenen Bedeutungen von ‚Voraussetzung‘ sind der dauernden Gefahr einer Verwechslung ausgesetzt. Unter diesen Bedeutungen ragt diejenige von Strawson heraus, der meint, die Voraussetzung sei eine Beziehung zwischen Aussagen, dergestalt, dass die Falschheit der einen Aussage die anderen bezogenen Aussagen ihres Wahrheitswertes beraubt. Zum Beispiel ist die Aussage: ‚Es gab eine Person namens Kepler‘ im Strawsonschen Sinne die Voraussetzung für die Aussage: ‚Kepler starb im Elend‘. Ferner gibt es die semantische Voraussetzung, die zwischen einer Aussage und einer bestimmten Verwendung von Satztypen besteht, wenn die Falschheit der Aussage bedeutet, dass sie eine Anschlussaussage verunmöglicht. Zum Beispiel ist die Aussage: ‚Es gab jemanden, der den Namen Kepler trug‘ die semantische Voraussetzung für die Aussage ‚Kepler starb im Elend‘. Und dann gibt es noch die pragmatische Voraussetzung, die ein weiter gefasster Ausdruck ist, und die durch die legitime Annahme exemplifiziert wird, dass die Akzeptanz oder das Bestreiten der Behauptung ‚Johannes weiß, dass sich die Erde bewegt‘ bedeutet, den zugrunde liegenden Satz ‚Die Erde bewegt sich‘ schon vorab zu akzeptieren. Siehe auch: Beschreibung; Implikatur; Pragmatik IAN RUMFITT
Vorhersehung
Siehe: Allwissenheit; Prädestination
Vorhölle
Nach der traditionellen römisch-katholischen Lehre ist die Vorhölle das postmortale Ziel jener Seelen, die nicht getauft wurden, aber keiner Sünde schuldig sind. Weil sie nicht getauft sind, können diese Menschen nicht erlöst werden, aber ihre Unschuld bedeutet immerhin, dass sie nicht die Strafe der Hölle verdienen. Die Anhänger dieser Lehre sind der Meinung, dass diese Menschen sich in zwei Gruppen teilen: die Gerechten des ‚Alten Bundes‘, die Vorrang bei der Erlösung Christi haben, und die ungetauften Kinder. Von Ersteren nimmt man an, dass sie nach dem Tode Christi in den Himmel gekommen sind, aber die Letzteren haben für immer in der Vorhölle zu bleiben. Die Existenz der Vorhölle wurde niemals dogmatisch defi1887
Vorsokratische Philosophie
niert, und sie genoss auch niemals dieselbe Aufmerksamkeit wie der Himmel oder die Hölle, und noch nicht einmal jene wie das Fegefeuer, von denen jedes für ein Schicksal steht, das die Menschen teilweise durch eigene Wahl erwartet. Heutzutage ist die Vorstellung, dass ungetaufte Babys womöglich der Vorhölle verfallen, nicht mehr besonders verbreitet, und einige Denker meinen, dass die Voraussetzung der Taufe für Erlösung interpretationsbedürftig sei. Folglich wird die Idee der Vorhölle nicht mehr so stark diskutiert wie einstmals. Siehe auch: Bösen, Problem des; Fegefeuer; Himmel; Hölle LINDA ZAGZEBKSI
Vorsokratiker
Siehe: Vorsokratische Philosophie
Vorsokratische Philosophie
Die Vorsokratiker waren die ersten abendländischen Philosophen. Die berühmtesten unter ihnen waren Thales von Milet, Anaximander, Pythagoras, Heraklit, Parmenides, Zenon von Elea, Empedokles, Anaxagoras und Demokrit. Sie waren in Griechenland über das ganze 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. hinweg tätig und konzentrierten sich auf die Kosmogonie (Entstehung des Kosmos) und die Kosmologie (Leere von der Beschaffenheit des Kosmos), d.h. auf die Aufgabe, die Ursprünge und die Ordnung der Welt ohne Rückgriff auf die Mythologie zu erklären. Sokrates (469-399 v. Chr.) wird als derjenige wahrgenommen, der den großen Wendepunkt in der Philosophie herbeiführte, und zwar in Form einer Bewegung des Schwerpunktes vom Ursprung und dem Wesen des Universums hin zu jenem des menschlichen Wertes. Die ‚vorsokratische‘ Philosophie umfasst daher die Ära der intellektuellen Vorgänger von Sokrates, selbst wenn ihre Vertreter noch Zeitgenossen vom ihm einschließen (und manche sogar jünger waren als er). Jene zeitgenössischen Denker von Sokrates, die seine Konzentration auf die menschlichen Werte teilten, sollte man aber besser nicht Vorsokratiker nennen (siehe Sophisten). Keiner der vorsokratischen Texte ist vollständig erhalten geblieben. Wir verfügen heute nur über die Zitate (‚Fragmente‘) späterer Autoren, über Zusammenfassungen, Kritiken etc., aus denen die Originale hervorblitzen. Eine mythische Konstruktion der Welt war schon fester Bestandteil der frühesten griechischen Dichtung (ca. 700 v. Chr.). Die Rationalisierungen dieser Bilder durch die Philosophen konzentrierten sich anfänglich auf solche Fragen wie: Was ist der Urstoff, aus dem die Welt gemacht ist? Warum bleibt die Welt stabil?, und noch allgemeiner: Was bringt die Ordnung in die Welt? Mit der Zeit nahm der griechische Ausdruck kosmos (dt.: ‚Ordnung‘) die Bedeutung von ‚Welt‘ an. Zur Erklärung der kosmischen Ordnung wurden biologische, mechanische und sogar politische Modelle entwickelt. Die vorsokratische Philosophie war aber auch gleichermaßen an der menschlichen Seele und ihrer Bestimmung interessiert (siehe Psychē) und ignorierte niemals die menschlichen Werte. Eine weitere dominante Frage war die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis. Die Hauptbewegungen und Phasen der vorsokratischen Philosophie waren die folgenden: Die drei miletischen Philosophen des 6. Jahrhunderts v. Chr., beginnend mit Thales, waren Monisten. Jeder von ihnen behauptete einen einzigen Urstoff, beispielsweise das Wasser oder die Luft. Diese fungierten in ihren Modellen allerdings nicht nur als die Ursprungsstoffe der Welt, sondern auch als ihre fortbestehenden Substrate (siehe Anaximander; Anaximenes; Archē; Monismus; Thales). 1888
Vorsokratische Philosophie
Der Pythagoreismus, obwohl eine Geheimbewegung mit kultischen Tendenzen, war in seiner Zeit enorm einflussreich. Über die Bemühungen um ein Verständnis der Seele und deren Überleben hinaus vertraten seine Anhänger eine mathematische Herangehensweise an die Kosmologie (siehe Pythagoras; Pythagoreismus). Heraklit (ca. 540-480 v.Chr.) richtete seinen Schwerpunkt auf den Kosmos und die Seele, aber sein Ansatz war weitgehend durch metaphysische Fragestellungen gekennzeichnet, speziell die paradoxe Wechselwirkung und Abhängigkeit der Gegensätze (siehe Heraklit). Die Metaphysik und die Logik standen bald daraufhin im Mittelpunkt der eleatischen Bewegung, die durch Parmenides eingeleitet und von Zenon von Elea weitergeführt wurde. Der Eleatismus verstand sich als radikale Kritik der gewöhnlichen Begriffes des Seins und trat stattdessen für einen strikten Monismus ein, der alle phänomenalen Unterscheidungen und Veränderungen als illusionär ausschloss (siehe auch Gorgias). Die Kosmologen des späteren 5. Jahrhunderts versuchten von dieser eleatischen Kritik abzulenken. Die meisten waren Pluralisten, die von mehr als einem grundlegenden Weltstoff oder -element ausgingen. Ihre Beiträge kulminierten in dem atomistischen System des Demokrit, der alle Wirklichkeit auf Atome und die Leere reduzierte und sich stark auf den Eleatismus stützte (siehe Atomismus, Antiker; Empedokles; Leukipp). Die vorsokratische Philosophie wird oft als materialistisch angesehen. Allerdings reduzierte kein Philosoph vor Demokrit und Leukipp das Leben und die Intelligenz auf etwas Unbelebtes. Die noch früheren Vorsokratiker betrachteten dieses als unauslöschlich in den Dingen gegeben, entweder als schon im Urstoff als Merkmal enthalten, oder, wie bei Anaxagoras, kraft eines irreduziblen Dualismus von Geist und Materie. Siehe auch: Antike Philosophie; Sokrates Anmerkungen und weitere Lektüre: Barnes, J. (1979): ‚The Presocratic Philosophers‘. London: Routledge & Kegan Paul. (Dies ist das philosophisch beste englischsprachige Werk über die Vorsokratiker.) Diels, H., Kranz W.: ‚Die Fragmente der Vorsokratiker‘. 3 Bände. Berlin 1952. Neudruck: Weidmann, Zürich 1996. (Dieses Werk ist auch international die Referenzausgabe für alle Quellenzitate. Es handelt sich hierbei allerdings eine reine Textausgabe, die keine systematische Darstellung des Denkens der Vorsokratiker enthält.) Kirk, G.S., Raven, J.E. und Schofield, M. (1983): ‚The Presocratic Philosophers‘. Cambridge: Cambridge University Press. 2. Aufl. (Ein sehr guter Überblick über die vorsokratische Philosophie, einschließlich vieler originaler Textzitate.) Long, A.A. (2000): ‚The Cambridge Companion to Greek and Roman Philosophy‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Ein ganz aktueller und sehr gut lesbarer Überblick mit einer umfangreichen Bibliographie.) DAVID SEDEY
Vorstellung
Siehe: Einbildungskraft
Vorwort-Paradox
Siehe: Paradoxa, Erkenntnistheoretische
1889
W Wahl, Jean
Siehe: Hegelianismus
Wahrhaftigkeit
Menschen sind die einzige Tierart, die nicht nur zum Reden, sondern damit auch zum sprachbasierten Lügen in der Lage ist. Entscheidungen über die Wahrhaftigkeit und die Täuschung von Gesagtem sind an allem beteiligt, was Menschen sagen und tun. Von der Kindheit an kennt jeder die Erfahrung, getäuscht zu werden und andere zu täuschen, das Wort eines anderen zu bezweifeln und als Lügner betrachtet zu werden. Durch das ganze Leben hindurch ist kein anderes moralisches Urteil gewöhnlicher als jenes, ob jemand die Wahrheit sagt, sich irrt oder gar lügt, sei es um zu schmeicheln, aus Schwierigkeiten zu entkommen, zu vergelten oder um sich irgendeinen Vorteil zu verschaffen. Alle Gesellschaften sowie alle größeren moralischen, religiösen und rechtlichen Traditionen haben praktisch alle Formen der Täuschung und des Ablegens falschen Zeugnisses verdammt. Viele haben aber auch gesagt, dass Betrug und Täuschung entschuldbar oder unter gewissen Umständen sogar pflichtgemäß seien, wie beispielsweise zur Ablenkung von Feinden im Krieg oder von Kriminellen, um sie von der Gewaltanwendung gegenüber wehrlosen Opfern abzubringen. Die Meinungen hinsichtlich solcher Fälle, wie auch zu vielen alltäglichen Fragen zur Aufrichtigkeit und Täuschung sind allerdings geteilt. Wie offen sollten z.B. Eheleute einander über Ehebruch berichten, oder Ärzte mit sterbenden Patienten reden? Dies sind schon seit alters her die Zwickmühlen der Aufrichtigkeit. In neuem Gewande präsentieren sie sich, wenn es um die Verwerflichkeit der Rückdatierung elektronischer Dokumente, die Erklärung von privaten Quittungen zu Betriebsausgaben in der Steuererklärung, gefälschte Bewerbungsunterlagen oder das Verschweigen des eigenen HIV-positiven Status gegenüber dem Partner geht. Schwierige Entscheidungen betreffend die Wahrhaftigkeit und das Lügen werfen unvermeidlich noch tiefer liegende Fragen auf. Wie soll man die Wahrhaftigkeit definieren? Ist die Lüge jemals moralisch zu rechtfertigen, und wenn, unter welchen Bedingungen? Gibt es hier so etwas wie eine ‚Bagatellgrenze‘? Wie sollen wir mit Grenzfällen zwischen Aufrichtigkeit und eindeutiger Falschheit der Aussage umgehen, und wie mit skandalöseren Betrugsfällen? Und wie verhält sich eine aufrichtige Gesinnung zur Eigenschaft der personalen Integrität und des ‚guten Charakters‘? Die umfangreiche philosophische Debatte zu diesen Fragen konzentriert sich auf Fragen der Definition, der Rechtfertigung und der Abgrenzung, und auch zu Fragen der Relevanz von Aufrichtigkeit für die praktische moralische Verhaltensentscheidung. Siehe auch: Selbsttäuschung, Ethik der; Vertrauen; Tugenden und Laster SISSELA BOK
1890
Wahrheit, Deflationäre Theorien der
Wahrheit, Deflationäre Theorien der
Bei den so genannten ‚deflationären Wahrheitstheorien‘, deren bekannteste die Redundanztheorie, die performative Theorie und die sog. Prosatztheorie1 sind, handelt es sich eigentlich um Theorien der Wahrheitszuschreibung. Denn sie sind keine Theorien darüber, was die Wahrheit ist, sondern sie sind Theorien darüber, was wir sagen, wenn wir Sätze wie ‚[Die Verfasser dieser Enzyklopädie sind tolle Menschen] ist wahr‘ äußern. Die Oberflächengrammatik solcher Äußerungen suggeriert, dass wir sie zur Aussage einer Eigenschaft, nämlich der Wahrheit, von einem Satz oder einer Proposition verwenden. Dies wird jedoch von allen deflationären Wahrheitstheorien bestritten. Sie unterstützen vielmehr allesamt die deflationäre These, dass es gar keine Eigenschaft der Wahrheit gibt, und dass deshalb kein Bedarf nach Wahrheitstheorien besteht, die sich von den Theorien der Wahrheitszuschreibung abheben, und dass sie im Übrigen auch gar keinen Sinn hätten. Für die ‚Deflationisten‘ sind die klassischen Wahrheitstheorien wie z.B. die Korrespondenz-, die Kohärenz- und die pragmatischen Wahrheitstheorien deshalb nicht etwa falsch. Sie sind in gewisser Weise noch schlechter als falsch: sie sind von Grund auf fehlkonzipiert, weil sie etwas zu analysieren versuchen, was es gar nicht gibt. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Rechtfertigung, erkenntnistheoreWahrheit, Kohärenztheorie der; Wahrheit, Korrespondenztheorie der; Wahrheit, Pragmatische Theorie der RICHARD L. KIRKHAM
tische;
Wahrheit, Kohärenztheorie der
Der Ausdruck ‚Kohärenz‘ in der Wendung ‚Kohärenztheorie der Wahrheit‘ wurde nie sehr präzise definiert. Am ehesten können wir im Wege einer allgemeinen Definition sagen, dass eine Menge von zwei oder mehr Überzeugungen als kohärent gilt, wenn sie ‚zueinander passen‘ oder ‚miteinander übereinstimmen‘. Die Kohärenztheorie der Wahrheit würde dann wohl besagen, dass die Überzeugungen eines bestimmten Menschen in dem Umfange wahr sind, wie die Menge aller seiner Überzeugungen kohärent sind. Solche Theorien machen die Wahrheit zu einer 1 Die auf Englisch als prosentential theory bezeichnete Theorie hat in der deutschsprachigen Philosophie und Linguistik keine Entsprechung. Diese Theorie wurde erstmals von Dorothy Grover, Joseph Camp und Nuel Belnap, Jr. (1975) und Grover (1992) formuliert; sie erfuhr neuerliche Aufmerksamkeit durch die Arbeiten von Robert Brandom (1994). Der dort verwendete Neologismus ‚Prosatz‘ leitet sich aus der Behauptung ab, dass Sätze wie ‚das ist wahr‘ sog. Prosätze seien, die in dieser Theorie analog zur grammatischen Funktion der Pronomen gedacht werden. So, wie wir z.B. das Pronomen ‚er‘ anstelle des Eigennamens ‚Johannes‘ verwenden, um den Satz ‚Johannes ging in den Supermarkt‘ in ‚Er ging in den Supermarkt‘ umzuwandeln, können wir auch den Operator, der einen Prosatz bildet, verwenden, um den Satz ‚Schnee ist weiß‘ in den Satz ‚[Schnee ist weiß] ist wahr‘ umzuformen. Überall dort, wo ein Bezugsausdruck, z.B. eine definite Beschreibung oder ein Bezeichner, zusammen mit einem Wahrheitsprädikat auftritt, enthält der resultierende Satz nach der Prosatz-Theorie nicht mehr als nur den Satz bzw. die Sätze, die durch die bezugnehmenden Ausdrücke erfasst sind. Die ausdrückliche Behauptung der Wahrheit eines Satzes ist schlicht die neuerliche Behauptung dieses selben Satzes; dem Satz wird dadurch nichts hinzugefügt, insbesondere nicht die gesonderte Behauptung seiner Wahrheit. Die Prosatz-Theorie ist deshalb eine deflationäre Wahrheitstheorie, weil sie eine Alternative zu den Wahrheitsbeschreibungen darstellt, die die Wahrheit als Referenz, Prädikatserfüllung oder -sättigung oder als eine Korrespondenzbeziehung deuten. [WS]
1891
Wahrheit, Korrespondenztheorie der
Angelegenheit der Beziehungen von einem Wahrheitsträger zu anderen Wahrheitsträgern, statt zu seiner Frage der Beziehung eines Wahrheitsträgers zur Wirklichkeit. Diese letztere Implikation ist das hauptsächliche Hindernis für die Plausibilität der Kohärenztheorien, und die meisten Kohärenztheoreitker versuchen diesem Problem dadurch zu entkommen, dass sie bestreiten, dass es überhaupt eine extramentale Wirklichkeit gibt. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Wahrheit, Deflationäre Theorien der; Wahrheit, Pragmatische Theorie der RICHARD L. KIRKHAM
Wahrheit, Korrespondenztheorie der
Die beiden ältesten Wahrheitstheorien der abendländischen Philosophie, nämlich jene von Platon und Aristoteles, sind beide Korrespondenztheorien. Und wenn man vom Nichtphilosophen sagen soll, welcher Wahrheitstheorie er wohl beipflichten wird, so würden die meisten von ihnen diese als eine Art von Korrespondenztheorie beschreiben. Diese heißen so, weil solche Theorien oft unter der Losung zusammengefasst werden: ‚Wahrheit ist die Übereinstimmung [einer Äußerung] mit den Tatsachen‘ oder ‚Wahrheit ist Übereinstimmung [einer Äußerung] mit der Wirklichkeit‘. Aristoteles sagte es folgendermaßen: ‚Zu sagen, dass etwas sei, was nicht ist, oder dass etwas nicht sei, was ist, ist falsch; und zu sagen, dass etwas ist, was ist, und dass nicht ist, was nicht ist, ist wahr.‘ In der Erkenntnistheorie bieten uns solche Theorien eine Beschreibung dessen an, worauf sich erkenntnistheoretische Untersuchungen vermutlich richten, nämlich auf die Wahrheit. Von Korrespondenztheorien meint man aber inzwischen auch, dass sie eine wichtige Rolle in der philosophischen Semantik und in dem physikalistischen Programm spielen, das sich zur Aufgabe stellt, alle nichtphysikalischen Begriffe auf die Begriffe der Logik, der Mathematik und der Physik zu reduzieren. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Realismus und Antirealismus; Wahrheit, Kohärenztheorie der; Wahrheit, Deflationäre Theorien der; Wahrheit, Pragmatische Theorie der RICHARD L. KIRKHAM
Wahrheit kraft Vereinbarung
Siehe: Konventionalismus; Notwendige Wahrheit und Konvention
Wahrheit, Pragmatische Theorie der
Zwei deutlich unterschiedene Theoriearten präsentieren sich unter der Bezeichnung der ‚pragmatischen Wahrheitstheorie‘. Zum einen gibt es die Konsenstheorie von C.S. Peirce, nach der eine wahre Aussage eine solche ist, der einstimmig von allen Menschen zugestimmt würde, die über ausreichende Erfahrung für ein solches Urteil verfügen. Zweitens gibt es die instrumentalistische Theorie, die mit William James, John Dewey und F.C.S. Schiller in Zusammenhang gebracht wird, und derzufolge eine Aussage ausschließlich dann als wahr zu gelten hat, wenn ein Verhalten, dass auf der in dieser Aussage ausgedrückten Überzeugung aufbaut, auf lange Sicht und unter Berücksichtigung aller Umstände zu einem vorteilhaften Ergebnis für den Überzeugungsträger führt. (Peirce benannte seine Theorie in ‚Pragmatizismus‘ um, als die ursprüngliche Bezeichnung als ‚Pragmatismus‘ von den Instrumentalisten vereinnahmt wurde.) Solange diese Theorien an eine bestimmte Form des ontologischen Antirealismus gebunden sind, was in der Regel der Fall ist, folgt 1892
Wahrnehmung
aus beiden Theorieformen, dass die Tatsachen für den Wahrheitswert einer Aussage nicht maßgeblich sind. Siehe auch: Bedeutung und Wahrheit; Pragmatismus; Realismus und Antirealismus; Wahrheit, Kohärenztheorie der; Wahrheit, Korrespondenztheorie der; Wahrheit, deflationäre Theorien der RICHARD L. KIRKHAM
Wahrheit und Bedeutung
Siehe: Bedeutung und Wahrheit
Wahrheitsbedingungen
Siehe: Bedeutung und Wahrheit
Wahrnehmung Einführung Die Sinneswahrnehmung ist der Gebrauch unserer Sinne zum Erwerb von Informationen über die Welt um uns, und zur Gewinnung von Vertrautheit im Umgang mit Gegenständen, Ereignissen und ihren Merkmalen. Traditionell geht man von der Existenz von fünf Sinnen aus: dem Sehvermögen, dem Berührungsempfinden, dem Hörvermögen, dem Riechvermögen und dem Geschmacksvermögen. Die philosophische Debatte über die Wahrnehmung ist bereits sehr alt. Ein großer Teil dieser Debatte dreht sich um den Unterschied zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit. Wir können Gegenstände falsch wahrnehmen und über ihre Natur in die Irre geführt werden. Wir können sie aber auch auf die Art und Weise wahrnehmen, wie sie wirklich sind. Man kann sich beispielsweise über die Form der Buchseite vor seinem Auge täuschen. Gelegentlich kann es auch passieren, dass wir meinen etwas wahrzunehmen, wenn wir in Wirklichkeit gar nichts wahrnehmen, sondern nur Opfer einer Halluzination sind. Sinnestäuschungen und Halluzinationen stellen notorische Probleme für eine jede Erkenntnistheorie dar: wenn unsere Sinne uns täuschen können, wie sollen wir dann wissen, dass die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen, solange wir nicht bereits wissen (und nicht erst erfahren müssen), dass sie so sind, wie sie sich uns zeigen? Aber die Aufgabe einer Bemühung um die Wahrnehmung ist es hauptsächlich zu erklären, wie wir sowohl wahrnehmen, als auch uns darüber täuschen lassen können, wie die Dinge in der Welt um uns beschaffen sind. Einige Philosophen haben hierauf mit der Annahme geantwortet, dass unsere Wahrnehmung der materiellen Gegenstände durch ein Bewusstsein der geistabhängigen Entitäten oder Qualitäten vermittelt würde. Sie nannten diese in der Regel Sinnesdaten, Vorstellungen oder Eindrücke. Diese Vermittler sollen als mutmaßlicher Ersatz oder Darsteller externer Gegenstände auftreten: wenn sie richtig auftreten, nehmen wir wahr; wenn sie uns täuschen, dann haben wir eine Fehlwahrnehmung. Eine Alternative hierzu geht davon aus, dass die Wahrnehmung ein Analogon zur Überzeugung oder zum Urteil sei; genauso wie ein Urteil oder eine Überzeugung wahr oder falsch sein könne, so könnten auch Seinszustände richtig oder falsch sein. Dieser Ansatz versucht die vermittelnden Gegenstände zwischen dem Wahrnehmenden und den externen Gegenständen der Wahrnehmung zu umgehen und dabei eine angemessene Darstellung der Möglichkeit von Sinnestäuschungen und Halluzinationen liefern. Beide Antworten stehen wiederum im Gegensatz zu den 1893
Wahrnehmung
Anschauungen von Philosophen, die bestreiten, dass Sinnestäuschungen oder Halluzinationen überhaupt irgendetwas über die Natur des Wahrgenommenen mitteilen, und halten sich eher an eine naive oder direkte Form des Realismus. Die Darstellung der Wahrnehmung, die jemand bevorzugt, hat Folgen für dessen Sichtweise anderer Aspekte des Geistes und der Welt, oder für die Natur und die sekundären Qualitäten wie z.B. Farben und Geschmacksempfindungen, aber auch für die Möglichkeit einer Darstellung des Geistes als Teil einer rein physischen, natürlichen Welt, oder dafür, wie man sich gegenüber dem Skeptizismus stellen sollte, der unser Wissen der externen Welt betrifft. 1. Wahrnehmung, Gegenstände, Erscheinung und Sinnestäuschung 2. Sinnesdaten-Theorien der Wahrnehmung 3. Intentionalitätstheorien der Wahrnehmung 4. Naiver Realismus und disjunktive Theorien der Erscheinung 1. Wahrnehmung, Gegenstände, Erscheinung und Sinnestäuschungen Wir nehmen Gegenstände, Merkmale von Gegenstände und Ereignisse wahr: Ich kann einen fliederfarbenen Busch sehen, die Oberfläche eines Stückes Samt fühlen und eine Explosion hören. Wir können auch Tatsachen wahrnehmen, denen zufolge die Dinge auf eine gewisse Art beschaffen sind: ich mag beispielsweise sehen, dass es dort drei leere Kaffeetassen in meinem Büro gibt, oder riechen, dass Milch übergekocht ist. Wenn wir Dinge wahrnehmen, dann erscheinen sie uns auf eine bestimmte Art und Weise, so dass wir Wissen über sie erwerben. Man kann aber Tatsachen auch ohne die Wahrnehmung irgendwelcher bestimmter Gegenstände feststellen: wenn ich den Blick über den Horizont gleiten lasse, dann sehe ich vielleicht, dass es dort überhaupt keine Menschen mehr gibt; damit nehme ich wahr, dass etwas der Fall ist, aber es ist nichts da, was ich als diesen Fall gesehen habe. Gegenstände können in ihrer Erscheinung variieren; wie etwas ausschaut, hängt von der Sichtweise bzw. den Umständen ab, unter denen ich ihn anschaue, z.B. ob das Licht gut ist. Und sie hängen von meinen Wahrnehmungsfähigkeiten ab, beispielsweise kann mein Geschmacks- oder Geruchsempfinden davon abhängen, ob ich erkältet bin. Derselbe Gegenstand kann unterschiedlichen Beobachtern auch unterschiedlich erscheinen. Darüber hinaus wird man vielleicht nicht nur unterschiedliche Aspekte eines Gegenstandes als ein anderer wahrnehmen, sondern man wird sich vielleicht in diesem Gegenstand täuschen oder ihn betreffend Opfer einer Sinnestäuschung sein. Jemand nimmt etwas falsch wahr, wenn er zwar etwas wahrnimmt, ihm dies aber anders erscheint, als es wirklich beschaffen ist. Die Fehlwahrnehmung kann auf verschiedene Weisen geschehen: jemand könnte einen kleinen Grashügel für einen Hasen halten, oder die Wände eines Raums schauen bei schlechter Beleuchtung rosa aus, obwohl sie in Wirklichkeit gänzlich weiß sind; manch einer kann infolge einer Krankheit das Opfer von Sinnestäuschungen sein. Andere Beispiele der Sinnestäuschung ereignen sich wiederum unter ganz normalen Wahrnehmungsbedingungen bei allen Wahrnehmenden. Hier folgt ein Beispiel, dass in psychologischen Lehrbüchern üblich ist und die ‚Ponzo-Sinnestäuschung‘ genannt wird:
1894
Wahrnehmung
Die beiden horizontalen Linien haben tatsächlich dieselbe Länge, obwohl die obere länger aussieht. Psychologen und Neurologen kennen noch weitere Sinnestäuschungen, die sie hervorrufen können. In einem alarmierenden Fall werden die Testpersonen beispielsweise dazu gebracht zu glauben, dass ihre Nasen in ihren Kopf zurückwachsen. Es ist auch möglich, Halluzinationen hervorzurufen. Dies sind Fälle, in denen es den Betroffenen erscheint, als würden sie es wirklich sehen oder fühlen, wenn sie in Wirklichkeit überhaupt nichts sehen. Solche Effekte werden ganz überwiegend von psychischen Defekten verursacht; es ist jedoch möglich, sie auch durch eine geeignete Stimulation des Gehirns zu erzeugen: das plötzliche Aufzucken von Licht, ‚Phosphene‘ genannt, hat seine Ursache in der Stimulation des visuellen Kortex. Die Philosophen neigen dazu, immer dieselbe Schlussfolgerung aus allen diesen Beispielen zu ziehen: es sei möglich, dass uns die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise erscheinen, selbst wenn sie gar nicht auf diese Weise beschaffen sind. So wie jemand vom dem wahrgenommenen Gegenstand ausgehend nicht sagen kann, wie die Dinge einem Wahrnehmenden erscheinen, so kann man auch nicht aus der Art und Weise, wie die Gegenstände einem Wahrnehmenden erscheinen, ableiten, was der Gegenstand der Wahrnehmung ist, oder ob es überhaupt einen solchen Gegenstand gibt. Dies impliziert, dass eine Darstellung der Wahrnehmung zwei unterschiedliche Aufgaben mit sich bringt: einerseits muss sie erklären, was Wahrnehmungserfahrung überhaupt ist, d.h. den Zustand des Geistes, wenn die Dinge uns sinnlich auf eine bestimmte Art und Weise erscheinen; und andererseits muss sie erklären, was an einer solchen Wahrnehmung es ausmacht, dass sie eine wirkliche Wahrnehmung irgendeines Gegenstandes ist und nicht nur eine reine Sinnestäuschung oder Halluzination. Unter welchen Bedingungen ist eine Wahrnehmungserfahrung die Wahrnehmung eines gegebenen Gegenstandes? Man könnte meinen, dass die Erscheinung der Dinge mit dem Gegenstand auf irgendeine Weise übereinstimmen müsste, aber es scheint keine solche Weise zu geben, auf die ich etwas genau wahrnehmen muss, damit ich einen Gegenstand wahrnehme; man kann sich in der Farbe, in der Form, im Ort , im Geschmack, im Geruch oder im Berührungsgefühl der Dinge täuschen. Selbst wenn die Art und Weise, wir mir die Dinge erscheinen, vollkommen zur Szenerie vor mir passt, muss ich doch nicht notwendigerweise damit diese Szenerie wahrnehmen; wenn ein Wissenschaftler in mir eine visuelle Halluzination von einer Orange hervorgerufen hat, dann wird das einfache Platzieren einer wirklichen Orange vor meinen verbundenen Augen dennoch nicht dazu führen, dass ich diese Orange sehe. Als Erwiderung auf solche Beispiele wahrheitsartiger Halluzinationen haben einige Philosophen vorgeschlagen, dass man einen Gegenstand nur dann 1895
Wahrnehmung
wahrnehmen kann, wenn er diese Wahrnehmung in uns hervorgerufen hat. Diese Bedingung ist jedoch nicht hinreichend zur Unterscheidung der wahrheitsartigen Halluzination von der Wahrnehmung: die Orange vor meinen verbundenen Augen kann auf dem Schalter einer Maschine liegen, die bei mir die Halluzination hervorruft. Es wurden verschiedene Versuche unternommen, die kausalen Bedingungen zu verfeinern, um damit zu einer vollständigen Darstellung des Unterschiedes zwischen der Halluzination und der Wahrnehmung zu kommen, jedoch ist keine von diesen bei der Erklärung unserer Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen den beiden bisher vollständig befriedigend gewesen. Die zugrunde liegende Aufgabe für jede Theorie der Wahrnehmungserfahrung ist es, das Folgende zu erklären. In der Wahrnehmung erscheinen uns die Dinge auf eine gewisse Weise. Beispielsweise kann uns ein roter Fleck auf der Wand vor uns so erscheinen, als wäre dort in der Tat ein roter Fleck. In solchen Fällen, d.h. wo uns die Dinge tatsächlich so erscheinen, wie sie gegeben sind, also im Falle einer echten Wahrnehmung, ist eine Beschreibung der Erfahrung, d.h. wie uns die Dinge erscheinen, gleichzeitig eine wahre Beschreibung dessen, was man sieht. In diesem Falle scheint es so, als ob eine Beschreibung unserer Erfahrung auch eine Beschreibung der Dinge in der Welt ist, die man wahrnimmt. Wir können jedoch eine Erfahrung haben, die genau dieselbe wie die vorangehende ist, und die dieses Mal jedoch die von nichts Rotem mehr oder eine gänzliche Sinnestäuschung ist und wir in Wirklichkeit überhaupt nicht das sehen, was wir zu sehen meinen. In jedem der beiden Fälle wird man geneigt sein, dieselbe Beschreibung der Erfahrung wie im echten Wahrnehmungsfalle abzugeben, aber in keinem dieser beiden letzten Fälle wäre die Beschreibung wahr von dem, was wirklich vor uns lag, denn es gab dort keinen roten Fleck mehr. Wie kann es also richtig sein, seine Erfahrung von Gegenständen in der Welt zu beschreiben, wenn die Beschreibung als Darstellung unserer Erfahrung wahr sein kann, aber genauso gut auch falsch? Dies ist die Frage, die hinter dem so genannten Argument der Sinnestäuschung liegt, und unterschiedliche Wahrnehmungstheorien geben darauf unterschiedliche Antworten. 2. Sinnesdaten-Theorien der Wahrnehmung Einige Philosophen behaupten, dass wir uns nicht oder zumindest nicht unmittelbar der Gegenstände um uns herum bewusst sind, sondern nur jener Dinge, die von unserem Geist für ihre Existenz und Natur abhängen, d.h. die von unserem Geist vermittelt werden. Angenommen es gäbe keinen roten Fleck auf der Wand vor mir, aber ein Neurowissenschaftler hat mein Gehirn auf eine Art und Weise behandelt, dass ich den Eindruck habe, dort befände sich ein roter Wandfleck vor mir. Man könnte meinen, dass es mir nur so scheint, als wäre dort etwas Rotes vor mir, wenn auch wirklich etwas Rotes dort ist, das ich bemerke. Da der Neurowissenschaftler mir die Halluzination verschaffen kann, einfach indem er auf mein Gehirn auf bestimmte Weise einwirkt, scheint es, als ob die Erzeugung der Erfahrung eines roten Flecks bereits ausreichend wäre für die Annahme, dass es dort einen roten Fleck gibt, dessen ich mir bewusst werde. Zumindest im Falle der Halluzination jedoch würde ich mir einer Entität bewusst werden, die für ihre Existenz (ausschließlich) von meinem Bewusstsein davon abhängt. Die Philosophen verwenden den Ausdruck Sinnesdatum für solche Entitäten (siehe Sinnesdaten).
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Wahrnehmung
Die Halluzination könnte für mich genau dieselbe sein wie die Erfahrung, die ich machen würde, wenn ich auf einen wirklich existieren Flecken an der Wand schauen würde. Und der Neurowissenschaftler könnte dies erzeugen, indem er mein visuellen Kortex auf genau jene Weise stimuliert, wie ich stimuliert werde, wenn ich auf die Wand schaue. So scheint es plausibel zu sein zu befürworten, dass meine Halluzination von derselben Art ist wie die Erfahrung, die ich machen würde, wenn ich tatsächlich etwas Externes wahrnehme. Wenn die halluzinierte Erfahrung von einer Art ist, die das Bewusstsein eines Sinnesdatums mit sich bringt, dann würde ich mir also selbst in einem Falle echter Wahrnehmung einer solchen geistabhängigen Entität gewahr sein. So landen wir also bei der Sinnesdaten-Theorie der Erfahrung: wir sind uns der geistabhängigen Entitäten in aller unserer Wahrnehmungserfahrung bewusst. Eine Kritik dieses Gedankens lautet, dass der Gedanke eine Form von Fehlschluss enthält. Wenn ich glaube, dass dort im nächsten Raum fünfzehn Elefanten sind, so folgt daraus nicht, dass es im nächsten Raum wirklich fünfzehn Elefanten gibt. Mein Glaube kann also falsch sein, und folglich wäre es ein Irrtum, die letzte Behauptung auf der Basis der vorangehenden zu akzeptieren. Kritiker meinen nun, dass in der obigen Behauptung, wenn sich jemand von einer unstrittigen Behauptung, es sähe so aus, als wäre dort ein roter Fleck vor meinen Augen, zu der Schlussfolgerung bewegt, dass sich dort wirklich ein roter Fleck befinde, genau ein solcher Irrtum verborgen läge. Die Verteidiger der Sinnesdaten-Theorien der Wahrnehmung würden allerdings zustimmen, dass die letztere Behauptung nicht einfach als eine logische Selbstverständlichkeit aus der Prämisse folgt. Stattdessen, so sagen sie, können wir immer nur dann eine angemessene Erklärung der Erfahrung anbieten, wenn wir akzeptieren, dass die letztere Behauptung wahr ist, sofern dies auch die vorangehende ist. Wie gut ist diese Erklärung der Erfahrung? Die Theorie ist daran gebunden zu behaupten, dass, wenn die Dinge sich auf eine gewisse Art und Weise zeigen, das wirkliche Sinnesdatum auch von dieser Art sein muss. Angenommen es erscheint uns, als ob dort vor uns ein Hase im Feld herumspringe. Ist sich in diesem Falle jemand irgendeines geistabhängigen Häschens bewusst? Um nicht diese Schlussfolgerung ziehen zu müssen, müssen die Sinnesdaten-Theoretiker den Eigenschaftsbereich einschränken, der allein uns streng genommen erscheinen kann, und zwar auf solche Eigenschaften, die die Sinnesdaten plausiblerweise überhaupt aufweisen können. Im Falle des Sehvermögens wird dies traditionellerweise auf die Farbe, die Form und die Größe beschränkt, wobei es eine Kontroverse darüber gibt, ob visuelle Daten in einer zweidimensionalen oder dreidimensionalen visuellen Darstellung abgebildet werden. Es sieht also streng genommen nicht so aus, als wenn ein Hase vor uns sei, außer wenn wirklich dort etwas auftaucht, was die Gestalt eines Hasen hat. Wenn Erscheinungen allein als geistabhängige Entitäten gelten sollen, welche Verbindung besteht dann zwischen der Erfahrung und den Gegenständen der Wahrnehmung wie z.B. einem Hasen? Die Repräsentationstheorien der Wahrnehmung behaupten typischerweise, dass materielle Gegenstände die indirekten oder vermittelten Gegenstände der Wahrnehmung sind, und zwar wegen der Verlässlichkeit, mit der sie unsere Erfahrungen der Sinnesdaten hervorrufen. Ich kann den Hasen vor mir sehen, weil die visuelle Erfahrung von etwas Hasenförmigem durch diesen Hasen verursacht wird. Ein traditioneller Einwand gegen die Repräsentationstheorien der 1897
Wahrnehmung
Wahrheit lautet, dass sie zum Skeptizismus über die externe Welt führen (siehe Skeptizismus). Als Erwiderung hierauf nehmen einige Philosophen einen alternativen Standpunkt betreffend die Verbindung zwischen Gegenständen der Wahrnehmung und der Erfahrung ein. Sie sagen, physische Gegenstände seien lediglich Konstruktionen von geistabhängigen Entitäten oder Erfahrungen (siehe Phänomenalismus; Idealismus, § 2). Wenige Philosophen jedoch finden diese Position akzeptabel. Muss sich ein Sinnesdatentheoretiker zwischen Skeptizismus und Idealismus entscheiden? Man könnte bestreiten, dass die Repräsentationstheorien der Wahrnehmung überhaupt irgendein skeptisches Problem zur Folge haben. Ob dies so ist oder nicht, hängt wiederum nicht davon ab, ob Sinnesdaten als etwas betrachtet werden sollten, das uns wie ein Wahrnehmungsschleier von der externen Welt abschneidet, sondern eher als etwas, was uns mit unserem einzigen Zugang zur Welt versorgt. Sind die metaphysischen Implikationen der Sinnesdatentheorie akzeptabel? Diese Theorie fordert von uns, dass zusätzlich zu solchen vertrauten Dinge wie Steinen und Stühlen und Entdeckungen wie Schwarzen Löchern und Neutrinos auch noch geistabhängige Entitäten existieren, die in die Existenz hinein- und heraustreten, so wie gerade eine Person eine Sinneserfahrung erlebt. Die Philosophen haben beklagt, dass solche Entitäten für immer rätselhaft sein werden, und dass man sich über keine wirkliche Methode wird einigen können, mit der sich bestimmen lässt, ob einer gerade dieselbe Sinnesdatenerfahrung hat wie ein anderer. Ferner würde die Existenz solcher Entitäten unsere Erklärung ausschließen, wie der Geist dazu kommt, ein Teil der rein physikalischen, natürlichen Welt zu sein (siehe Materialismus in der Philosophie des Geistes). Einige Philosophen dachten, dass diese Sorgen sich verringern würden, wenn wir die inneren Gegenstände des Bewusstseins eliminieren und uns stattdessen einfach auf die Art und Weise berufen, in der wir etwas wahrnehmen. Nach dieser Auffassung sollte man, wenn man einen roten Fleck wahrnimmt, nicht etwa annehmen, dass dort irgendein Gegenstand sei, sondern vielmehr, dass jemand Rot oder auf eine rote Weise wahrnimmt. Man könnte dies mit dem Singen eines Wiegenliedes vergleichen: wir müssen nicht annehmen, dass es dort etwas gibt, was der Sänger singt, sondern nur, dass der Sänger auf eine bestimmte, beruhigende Weise gesungen hat. Wo die Sinnesdatentheorie innere Gegenstände und Qualitäten postuliert, statt den Charakter der Wahrnehmungserfahrung zu erklären, beruft sich diese ‚adverbiale‘ Theorie der Erfahrung einfach auf diese Weisen oder Qualitäten der Erfahrung, die auch ‚Qualia‘ genannt werden, und womit subjektive Qualitäten oder Empfindungseigenschaften der Wahrnehmung gemeint sind. Kritiker der adverbialen Theorien haben darauf hingewiesen, dass wir einerseits zwischen der Empfindung eines roten Vierecks und eines grünen Dreiecks unterscheiden, und auf der anderen Seite der Empfindung eines grünen Vierecks und eines roten Dreiecks. Es ist schwierig, diesen Unterschied zu erklären, ohne sich auf die Vorstellung zu berufen, dass ein Gegenstand in dem einen Falle sowohl viereckig, als auch rot ist, und viereckig und grün im anderen. Es scheint keinen Sinn dieser Empfindung zu geben, in dem ein geistiger Zustand oder eine Empfindung buchstäblich viereckig oder rund sein könnte. Und noch ein weiterer Einwand wird dagegen erhoben, wie wir unsere Erfahrungen beschreiben, die sowohl auf die adverbialen, als auch für die SinnendatenTheorien anwendbar sind. Verschiedene Philosophen haben bestritten, dass die 1898
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Introspektion in die eigene Erfahrung die geistabhängigen Gegenstände oder ihre Merkmale offenbare, die wir wahrnehmen. Unsere Erfahrung der Welt ist ‚durchsichtig‘ oder transparent: die Introspektion in sie trägt uns gleich bis zu den Gegenständen und ihren Merkmalen in der Welt; d.h. wir starren nicht auf eine Glasscheibe, sondern wir schauen sofort durch diese Scheibe hindurch auf das, was dahinter liegt. Dieser Einwand hat zwei Aspekte. Einerseits gibt es hier die negative Behauptung, dass man keinen introspektiven Beweis für die Existenz geistabhängiger Gegenständen oder Qualitäten findet. Da wir die Dinge genau als das erfahren, als das sie innerlich vor uns treten, könnte man erwarten, dass es, wenn es dort solche Gegenstände gäbe, wir ihnen durch die Introspektion auch begegnen müssten. Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass diese negative Behauptung richtig ist; ihre Gegner haben eingewandt, dass der Beweis hierfür durch das Beispiel der Nachbilder geliefert wird, oder auch dadurch, dass ein näher liegender Gegenstand einen größeren Teil des eigenen Gesichtsfeldes füllen kann als ein entfernterer Gegenstand, selbst wenn beide gleich groß ausschauen. Gleiches gelte auch für unser Bewusstsein, dass wir die Gestalt eines Gegenstandes sehen, statt ihn zu spüren. Ob solche Beispiele wirklich die Existenz der subjektiven Qualitäten demonstrieren, ist Gegenstand weiterer Debatten; aber der andere Aspekt des ‚Transparenz‘Einwandes kann auch erhoben werden, ohne diese Dinge klären zu müssen. Er weist auf ein positives Element der Erfahrungsweise hin, die sich durch die Introspektion offenbart, dass nämlich geistabhängige Gegenstände der Wahrnehmung in unserer Erfahrung gegeben sind. Eine Darstellung der Erfahrung, die sich allein auf die Sinnesdaten und die Qualia beruft, würde nicht voraussagen können, dass diese geistabhängigen Elemente normalerweise auch ein Teil unserer Erfahrung sein sollten. Eine Erwiderung hierauf wäre es zu bestreiten, dass Wahrnehmungserfahrungen wirklich diesen ‚transparenten‘ Charakter haben. Es wurde z.B. vorgeschlagen, dass wir die Erfahrung eines Würfels lediglich beschreiben, um auf die typische Ursache einer solchen Erfahrung hinzuweisen. Aber diese Erwiderung ist unplausibel. Wir greifen Erfahrungen zwar manchmal indirekt, d.h. durch einen Verweis auf ihre typische Ursache heraus, wenn wir z.B. einen bestimmten Schmerz als Nesselbrennen bezeichnen. In diesem Falle sieht es nicht so aus, als würde der Ausdruck ‚Bennessel‘ direkt als Beschreibung dessen verwandt, wie der Schmerz beschaffen ist. Man könnte jedoch behaupten, dass die visuelle Erfahrung nicht so beschaffen ist, sondern dass die Beschreibung einer Erfahrung als der visuellen Wahrnehmung von etwas Rotem oder Viereckigem oder Hartem bedeutet, dass man diese Ausdrücke direkt von dem meint, was wir wahrnehmen. Dieser Einwand richtet sich stärker gegen die adverbialen als gegen die Sinnesdaten-Theorien. Wir beschreiben unsere visuellen und taktilen Erfahrungen z.B. als Gestalteigenschaften. Wie bereits weiter oben bemerkt wird ein Sinnesdatentheoretiker bestreiten, dass wir unsere Erfahrungen auch als Qualitäten beschreiben könnten, was dann nur die Eigenschaften materieller Gegenstände sein könnten. Doch auch wenn dieser Einwand nicht entscheidend ist, war er doch einflussreich als ein Beweggrund zur Ausarbeitung einer alternativen Darstellung der Wahrnehmungserfahrung.
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3. Intentionalitätstheorien der Wahrnehmung Wenn ich den Eindruck habe, dass dort ein roter Fleck auf der Wand vor mir ist, obwohl doch gar nichts Physischen dieser Art dort vorhanden ist; wenn mir also der fragliche Flicken gleichwohl als Teil der objektiv-externen Welt erscheint, dann könnte ich vielleicht dennoch aus irgendeinem seltsamen Grund davon überzeugt sein, dass dies der Fall sei, obwohl die Wirklichkeit das Gegenteil beweist. Wir sind alle mit dieser Art von Fehlauffassungen vertraut, wenn z.B. jemand fest der Auffassung ist, dass sein Nachbar ihn mit seiner Frau betrogen hat, obwohl dies nachweislich gar nicht der Fall sein konnte, oder wenn ein Kind fest glaubt, dass morgen Nacht der Weihnachtsmann zu ihm nach Hause kommen wird. Eine intentionale Theorie der Erfahrung verläuft parallel zu diesen Beispielen: die Wahrnehmungserfahrung ist intentional und lässt auch die Unrichtigkeit ihres Inhalts zu, und sogar die Nichtexistenz ihrer Gegenstände auf genau dieselbe Welse, wie Überzeugungen und Urteile falsch oder richtig sein können (siehe Intentionalität). Wenn es jemandem so scheint, als sei dort ein roter Fleck auf der Wand vor ihm, dann zeigt sich ihm die Welt in seiner Erfahrung so, dass sie diesen Fleck enthält. Ist jedoch kein Fleck vorhanden, dann ist diese Repräsentation der Welt in der Erfahrung eines Menschen unrichtig, und die betreffende Person unterliegt einer Sinnestäuschung. Wenn ein Gegenstand der Erfahrung nicht existiert, wie z.B. der Weihnachtsmann, dann ist eine entsprechende Erfahrung eine Halluzination, und nicht die Wahrnehmung von etwas (wobei Kinder in der Regel den Weihnachtsmann nicht halluzinieren, sondern in der Regel schlicht einer Verwechslung oder Täuschung aufsitzen, weil sie nicht erkennen, dass der Papa oder der Nachbar im Weihnachtsmann-Kostüm stecken). Beim intentionalen Ansatz wird der Erfahrung ein repräsentativer Inhalt zugeschrieben, der richtig oder unrichtig sein kann; die Erfahrung ist folglich richtig oder falsch, je nachdem, ob die Übereinstimmung des Wahrgenommenen mit der Wirklichkeit gegeben ist. Was die Erfahrung für das wahrnehmende Subjekt ist, d.h. wie sie sich ihm durch die Reflexion offenbart, muss im Wege dieses repräsentativen Inhalts erklärt werden. Es ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass die intentionale Theorie den repräsentativen Inhalt der Erfahrung nicht in der Weise als Gegenstand des Bewusstseins einführt, wie die Sinnesdatentheorie die Sinnesdaten als Gegenstände des Bewusstseins einführt. Stattdessen behauptet die intentionale Theorie, dass im Falle der Wahrnehmung die Gegenstände des Bewusstseins geistunabhängige Gegenstände sind, die man wahrnimmt, und die die Erfahrung als gegenwärtig repräsentieren. Im Falle der Halluzination gibt es keine Gegenstände des Bewusstseins, aber der Erfahrungscharakter ist genau derselbe wie im Falle der wirklichen Wahrnehmung von etwas: in beiden Fällen muss er durch den repräsentativen Inhalt erklärt werden, den die Erfahrung dem Bewusstsein vorlegt. Damit bietet die intentionale Theorie nicht eine Darstellung der Gegenstände des Bewusstseins an, sondern eine der Art und Weise, in der wir uns der Gegenstände der Welt bewusst werden können. Wie kann die Erfahrung so ähnlich wie eine Überzeugung auftreten? Eine Sichtweise hierzu lautet, dass wir die Erfahrung mit dem Erwerb von Überzeugungen gleichsetzen können, oder auch mit der Neigung zum Erwerb von Überzeugungen. Ein Problem dieses Vorschlages ist, dass man von seinen Sinnesempfindungen (im Regelfall zumindest) keinen Abstand nehmen kann. Diejenigen, die mit der PonzoSinnestäuschung vertraut sind, glauben nicht mehr, dass die obere Linie länger ist, 1900
Wahrnehmung
und dennoch schaut sie auch für sie weiterhin länger aus. Eine Überzeugungstheorie der Erfahrung könnte auf dieses Beispiel mit der Behauptung antworten, dass man zwar immer noch geneigt sei zu meinen, die obere Linie sei länger, dass aber offenbar noch andere Überzeugungen gegeben seien, die den Glauben daran inzwischen verhindere. Aber diese Erwiderung ist nicht wirklich befriedigend. Wenn man auf diese optische Täuschung schaut, dann macht man eine Erfahrung, die zu der fraglichen Überzeugung geführt haben kann, und keine weitere Neigung zum Erwerb irgendeiner anderen Überzeugung lässt sich mit diesem geistigen Zustand gleichsetzen, die mit diesem geistigen Zustand wechselwirken könnte. Dies legt nahe, dass etwas zu erfahren nicht gleichzusetzen ist mit einer Überzeugung von etwas. Doch man könnte immer noch behaupten, dass beide Zustände den gleichen repräsentativen Inhalt hätten. Diese Behauptung wird allerdings ebenfalls bestritten. Denn die notwendigen Bedingungen um etwas zu denken können andere sein als die Bedingungen, unter denen man eine Erfahrung macht. Es ist z.B. denkbar, dass wir als Kinder dieselben Erfahrungen machen wie andere Tiere, doch diese Tiere können dabei nicht dieselben Gedanken haben wie wir. Unsere Überzeugungen lassen sich sprachlich ausdrücken und beruhen auf sehr fortgeschrittenen begrifflichen Fähigkeiten, die weder Kinder, noch Tiere haben müssen. Man könnte auch behaupten, dass der Erfahrungscharakter zu reichhaltig sei, um von irgendeiner Menge starrer Kategorien oder Begriffe vollständig erfasst werden zu können. Aus solchen und ähnlichen Gründen haben einige Philosophen behauptet, dass der Gehalt der Erfahrung sich von dem der Gedanken und der Überzeugungen unterscheidet, weil er nicht rein begrifflicher Natur sei: die Erfahrung habe auch einen nichtbegrifflichen Inhalt (siehe Inhalt, Nichtbegrifflicher). Reicht dies bereits aus, um die Typik der Erfahrung und den Unterschied zwischen der Erfahrung von Dingen und der schlichten Meinung oder des Glaubens über diese Dinge zu erklären? Eine ganze Reihe von Philosophen verneint dies. Sie bestehen darauf, dass es irgendeine Art von nicht-repräsentativer Erfahrungsqualität geben müsse, und zwar zusätzlich zu dem repräsentativen Gehalt, den die Erfahrung aufweisen kann (siehe Qualia). Diese Frage bringt uns zurück zum ersten Teil des Transparenz-Einwandes gegen die Sinnendatentheorie: es ist eine ungeklärte Frage, ob es nachweisbar subjektive oder qualitative Erfahrungsaspekte gibt, die etwas anderes sind als die Welt, die uns durch die Erfahrung präsentiert wird. Wenn jemand akzeptiert, dass es so etwas gibt, dann ergibt sich für eine größere als erwartete Übereinstimmung zwischen den traditionellen Sinnesdatentheorien, die das Bewusstsein der Sinnesdaten durch Interpretationen ergänzen, und andererseits den intentionalen Theorien, die den repräsentativen Gehalt durch subjektive Qualitäten ergänzen. 4. Naiver Realismus und disjunktive Theorien der Erscheinung Die Sinnesdatentheorien der Wahrnehmung berufen sich auf die Sinnestäuschungen und Halluzinationen, wenn sie für die Existenz innerer Gegenständer der Wahrnehmung eintreten, und die intentionalen Theorien der Wahrnehmung berufen sich auf die Sinnestäuschungen, um ihre Auffassung zu rechtfertigen, dass die Erfahrung repräsentativer Natur ist. Es gibt aber noch eine Denkrichtung innerhalb der philosophischen Kritik zum Thema, die bestreitet, dass man irgendwelche Schlüsse aus Fällen der Sinnestäuschung oder der Halluzination über die Wahrnehmung zie-
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Wahrnehmung
hen könne. Ein Motiv für diese Kritik ist die Befürwortung einer gewissen Art von naivem oder direktem Realismus im Hinblick auf die Wahrnehmung. Die Vertreter der Sinnesdatentheorie behaupten, dass die beste Darstellung der Erfahrung einen daran binde zu denken, dass man eine Qualität nur empfinden könne, wenn ein Fall dieser Qualität auch tatsächlich in der Empfindung gegeben sei; der Einwand der Sinnestäuschung führt sie dann zu der Annahme, dass solche Qualitäten geistabhängig sein müssen; die Vertreter der intentionalen Theorien behaupten, dass die beste Darstellung der Erfahrung einen daran binde zu denken, dass die Erfahrung auf geistunabhängige Gegenstände gerichtet sei; das Beispiel der Sinnestäuschung führt sie dann zu der Behauptung, dass die Erfahrung diese Gegenstände lediglich repräsentiert. Ein naiver Realist mag sowohl die anfängliche Behauptung der Sinnesdatentheoretiker, als auch jene der intentionalen Theoretiker befürworten und kann sich gleichzeitig ihren Schlussfolgerungen widersetzen. Nach dieser Auffassung ist man sich, wenn man etwas wahrnimmt, gewisser geistunabhängiger Gegenstände und ihrer Merkmale bewusst, und solche Gegenstände und Merkmale müssen wirklich da sein, damit man sie erfahren kann. Dies kann nicht wahr sein für die Fälle, wo kein angemessener physischer Gegenstand der Wahrnehmung entspricht, wie im Falle der Halluzination. Also muss der naive Realist behaupten, dass diese Darstellung nur auf die Fälle der ‚echten‘ Wahrnehmung passt. Folglich müssen sie bestreiten, dass der Geisteszustand, in dem man sich befindet, wenn man wirklich etwas wahrnimmt, ein anderer sein muss als der, wenn man halluziniert oder einer Sinnestäuschung erliegt. Sie müssen behaupten, dass es für den Fall der Erscheinung eines roten Flecks vor den Augen einer Person entweder einen solchen roten Fleck gebe, oder die betreffende Person sei in einem Zustand, als ob sie einen roten Flicken wahrnehme. Dieser Auffassung zufolge bedarf es nichts weiter Gemeinsamem zwischen den beiden Situationen, als keiner inneren Gegenstände, derer sich jemand bewusst sei, und auch keines repräsentativen Inhalts. Diese Auffassung, die wir als eine disjunktive Theorie der Erscheinungen bezeichnen können, behauptet, dass die Wahrnehmungserfahrung keine gemeinsame Zustandsart über alle Fälle der Wahrnehmung, der Sinnestäuschung und der Halluzination ausbildet. Gegen diese Auffassung wurden aus verschiedenen Gründen ebenfalls Einwände erhoben. Zunächst einmal sind sich alle Seiten darüber einig, dass man zur Wahrnehmung, die man gerade erfährt, auch eine passende Sinnestäuschung oder Halluzination haben kann, die der Wahrnehmende dann nicht von der Wahrnehmung unterscheiden kann. Nach der disjunktiven Auffassung gibt es aber hier einen grundlegenden Unterschied. Wie soll dieser Unterschied im bewussten Zustand aber aussehen, wenn das Subjekt selbst ihn nicht zu entdecken vermag? Die disjunktive Auffassung ist an die Behauptung gebunden, dass wir uns über die Art unseres Bewusstseinszustandes irren können, in dem wir uns befinden. Tatsächlich könnte man diese Auffassung sogar dahingehen zusammenfassen, sie behaupteten, dass Sinnestäuschungen und Halluzinationen nicht nur zu einem Irrtum über die Gegenstände der Welt führen, sondern darüber hinaus auch zu einem Irrtum über sich selbst. Zweitens kann dieselbe Gehirntätigkeit, die Wahrnehmungen hervorzubringen imstande ist, auch Halluzinationen hervorbringen. Ferner kann jedes physische Ergebnis als Folge einer Wahrnehmung, z.B. das Stoßen eines Balls, genauso gut durch eine entsprechende Halluzination verursacht werden. Also muss die disjunktive Auf1902
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
fassung behaupten, dass es einen realen Unterschied zwischen der Erfahrung gibt, die eine Wahrnehmungserfahrung ist, und einer solchen, die eine Halluzination ist, selbst wenn es keinerlei kausale Differenz zwischen beiden gibt. Aber viele Philosophen meinen, dass es einen wirklichen Unterschied zwischen Dingen nur geben kann, wenn sie sich in ihren Kausalkräften unterscheiden. Es bleibt also strittig, ob die Konsequenzen dieser Sichtweise unakzeptabel sind, oder die Einwände gegen sie unbeantwortet bleiben; ein ähnliche Gruppe von Argumenten wird auch in Debatten über das Wesen des Inhalts und des Denkens verhandelt (siehe: Inhalt: ‚weiter‘ und ‚enger‘). Siehe auch: Empirismus; Sehvermögen Anmerkungen und weitere Lektüre: Cornmann, J. (1975): ‚Perception, Common Sense and Science‘. New Haven, Connecticut: Yale University Press. (Eine sehr umfassende Darstellung der vorstehenden Debatte und ihrer Implikationen für die Metaphysik und die Erkenntnistheorie.) Yolton, J. (1984): ‚Perceptual Acquaintance from Descartes to Reid‘. Minneapolis, Minnesota: Minnesota University Press. (Eine Diskussion der Geschichte der Philosophie der Wahrnehmung, die die populäre Zuschreibung repräsentativer Theorien der Wahrnehmung zu zahlreichen frühneuzeitlichen Philosophen bezweifelt, einschließlich Descartes und Locke.) M.G.F. MARTIN
Wahrnehmung, indische Theorien der
Siehe: Sinneswahrnehmung, Indische Sichtweisen der
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der Einführung Der Ausdruck ‚Wahrscheinlichkeit‘ und verwandte Ausdrücke sind häufig sowohl in der Alltagssprache, als auch im philosophischen Diskurs anzutreffen. Anders als bei vielen anderen Begriffen ist es fruchtlos, den Ausdruck ‚Wahrscheinlichkeit‘ als etwas anzusehen, was eine einzige Bedeutung habe. Stattdessen gibt es eine Reihe unterschiedlicher, wenn auch aufeinander bezogener Begriffe, von denen wir hier fünf erwähnen werden: die klassische oder gleich wahrscheinliche Sichtweise, die Auffassung von der relativen Häufigkeit, die subjektivistische oder personalistische Auffassung, die Auffassung der Neigung, und den Begriff der logischen Wahrscheinlichkeit. Keine dieser Auffassungen erfasst alle unsere legitimen Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚Wahrscheinlichkeit‘, die vom deutlich Subjektiven, wie bei unserer Bewertung der Wahrscheinlichkeit des Sieges einer Fußballmannschaft in einem Spiel, über die geschlossene Wahrscheinlichkeit, wo eine Menge von Sätzen einem weiteren Satz ein gewisses Maß induktiver Unterstützung verleiht, bis hin zur offenkundig objektiven Bedeutung, wie bei der physischen Chance des radioaktiven Zerfalls eines Atoms in der nächsten Minute. Es wird oft gesagt, dass das Gemeinsame aller dieser Interpretationen sei, dass sie alle durch dieselbe einfache, mathematische Theorie beschrieben würden, nämlich die ‚Wahrscheinlichkeitsrechnung‘, die sich in den meisten Schullehrbüchern findet, und dass es traditionell die Aufgabe einer jeden Interpretation sei, ihre Übereinstimmung zu dieser mathematischen Theorie unter Beweis zu stellen. Diese Auffassung hält einer genaueren Betrachtung jedoch nicht stand, und es ist besser, jeden Ansatz als etwas 1903
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
zu betrachten, das von einem jeweils anderen Gegenstand handelt, dessen Struktur auch die Struktur des geeigneten Kalküls bestimmt. 1. Das Projekt 2. Die formale Theorie 3. Theorien der relativen Häufigkeit 4. Theorien der Propensität 5. Subjektive Wahrscheinlichkeiten 6. Klassische Interpretationen der Wahrscheinlichkeit 7. Logische Interpretationen und andere Ansätze 1. Das Projekt Die Aufgabe der Interpretation der Wahrscheinlichkeit kann man auf drei verschiedene Weisen angehen. Die erste Weise lautet, das Projekt als etwas zu betrachten, was eine explizite Definition des Ausdrucks ‚Wahrscheinlichkeit‘ liefern soll, oder etwas üblicher gesagt, eine Definition des Ausdrucks ‚… hat eine Wahrscheinlichkeit des Wertes p‘. Die zweite Weise lautet, diesem Prädikat einen verwendbaren Inhalt zu geben; mit anderen Worten, eine Reihe von Prozeduren zu formulieren, bei deren Anwendung unterschiedliche Wahrscheinlichkeitswerte gemessen und zugewiesen werden können. Diese zweite Aufgabe kann auch nur in der Nennung ausreichender Bedingungen zur Zuweisung des Prädikats bestehen, und umgekehrt kann eine Lösung der ersten Aufgabe damit herbeigeschafft werden, ohne dass uns die Definition mit einer Möglichkeit versorgt, wie wir Wahrscheinlichkeitswerte messen können. Zu der Zeit, als der Verifikationismus vorherrschend war, wurde das Versagen, ein Messkriterium für eine Behauptung zur Verfügung zu stellen, als für eine Definition verhängnisvoll betrachtet (siehe Logischer Positivismus, § 4; Operationalismus). Wir sollten diese beiden Aufgaben aber getrennt voneinander behandeln. Der dritte Ansatz lautet, eine implizite Definition des Prädikates ‚… hat eine Wahrscheinlichkeit des Wertes p‘ zu liefern, und zwar einer axiomatisierten Wahrscheinlichkeitstheorie, der sich eine Interpretation oder ein Modell dieser Theorie anschließt. Weil der Begriff der Wahrscheinlichkeit oft auf eine Weise als rätselhaft und für die Beobachtung unzugänglich angesehen wird, wie dies beispielsweise für den Begriff des Blauen nicht der Fall ist, so ist vielleicht der beste und möglicherweise sogar einzige Weg, dem Begriff einen Inhalt zuzuordnen, dass man eine detaillierte Wahrscheinlichkeitstheorie entwirft und dann ein Modell entwirft, in dem diese Theorie wahr ist. Dieses dritte Projekt besteht also darin, den möglichen Interpretationen einer Wahrscheinlichkeitsfunktion strukturelle Beschränkungen aufzuerlegen, und dies wird normalerweise zu keiner expliziten Definition führen. Ferner werden üblicherweise den Ergebnissen auch keine bestimmten Werte zugewiesen, außer im Falle gewisser Extremwerte wie z.B. der Gewissheit oder dem unmöglichen Ereignis. 2. Die formale Theorien Die Struktur der elementaren Wahrscheinlichkeitstheorie hat ihren auslösenden Grund häufig in einer Berufung auf die vertrauten Tatsachen der relativen Häufigkeit. Angenommen, ein zufälliger Prozess, wie das Rollen eines Würfels, habe N mögliche Ergebnisse, die einen Ergebnisraum Ω = {1, 2, 3, 4, 5, 6} bilden. Entnimmt man daraus Untermengen von Ω wie z.B. {2, 4, 6}, so haben wir damit das Ereignis
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Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
isoliert, dass der Wurf des Würfels eine gerade Augenzahl ergibt. Nun nehme man alle möglichen Untermengen von Ω, wodurch man eine Algebra A der Untermengen von Ω erhält, also beispielsweise eine Menge von Untermengen von Ω, die komplementär geschlossen sind (‚Negation‘), und auch in ihrer Vereinigung (‚Disjunktion‘). Wir sagen nun, dass ein Ereignis E in A dann eintritt, wenn das elementare Ergebnis, wie z.B. ‚2‘ in E enthalten ist. Dann können wir eine Wahrscheinlichkeitsfunktion P über A bilden, indem wir P(E) = die Anzahl des Eintretens von E / [geteilt durch] die Gesamtzahl der Wiederholungen des Zufallsprozesses. Dies ergibt unmittelbar: (1) P(Ω) = 1 (2) P(E) ≥ 0 (3) Wenn zwei Ereignisse E und F sich gegenseitig ausschließen, dass gilt: P(E) ∪ (F) = P(E) + P(F). Aus Gründen der mathematischen Bequemlichkeit wird diese elementare Theorie üblicherweise erweitert, indem man die abzählbare Additivität fordert, wodurch (3) ersetzt wird durch: ∞ ∞ (3′) P(∪ i=1 Ei) = ∑ P(Ei), wenn Ei alle gegenseitig disjunkt sind. i=1 (Die Struktur von A muss dann auf eine Weise komplexer sein, die hier nicht wesentlich ist.) Eine wichtige Definition, die hier angefügt werden muss, ist die der bedingten Wahrscheinlichkeit: P(A | B), d.h. die Wahrscheinlichkeit von A, wenn B gegeben ist, die definiert ist als P(A | B) = P(A ∩ B) / P(B). Zwei Elemente von A sind unabhängig voneinander, wenn und nur wenn P(A | B) = P(A), oder äquivalent, wenn P(A ∩ B)P(A) × P(B). Dieser abstrakte Kalkül ist nicht mehr an jene bestimmte Interpretation gebunden, mit der wir begannen, und die Algebra kann eine der Aussagen sein, d.h. muss keine der Ereignisse sein, und würde damit eine Ontologie zugrunde legen, die für logische oder subjektive Interpretationen vorzuziehen ist. Andere Darstellungen der Wahrscheinlichkeit können nun mit dieser axiomatischen Theorie verglichen werden. 3. Theorien der relativen Häufigkeit Bei diesem Theorietyp ist die Ontologie eine der Ereignistypen, und die Wahrscheinlichkeit wird explizit entweder als die wirkliche, relative finite Häufigkeit wie in § 2 oben genannt, oder als der Grenzwert der relativen Häufigkeit, wenn die Gesamtzahl der Wiederholungen ins Unendliche geht. Dies ergibt den Wahrscheinlichkeitswert als eine empirische Eigenschaft der Folge oder Bezugsklasse der Ergebnisse, die die Häufigkeit hervorbringt, und nicht als absoluten Wert. Eine naive finite Häufigkeitsinterpretation ist offenkundig unbefriedigend. Angenommen, ein Würfel wird eine endliche Anzahl N von Malen geworfen. Dann kann kein Ergebnis, z.B. eine ‚6‘, einen Wahrscheinlichkeitswert haben, der feinkörniger ist als auf der Skala 0, 1/N, 2/N, …, 1 ablesbar. Daher könnte nach zwei Würfen die ‚6‘ nur eine Wahrscheinlichkeit von 0, 0,5 oder 1 haben. Dieses Problem könnte umgangen werden, wenn man ausreichend viele Wiederholungen fordert, wobei ‚ausreichend viele‘ eine Funktion der Anzahl möglicher Ergebnisse und des Grades der geforderten Aussagenpräzision wäre. Ein etwas gewöhnlicheres Mittel zur Abhilfe bei diesem Problem ist, sich auf eine Interpretation des relativen Häufigkeitsgrenzwertes zu be1905
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
wegen, wobei der Wahrscheinlichkeitswert dann einfach als der Grenzwert von m/N bei N → ∞ läge, wobei m die Anzahl der Erfolge ist. Dies löst unsere erste Definitionsaufgabe, bringt jedoch eine Schwierigkeit hinsichtlich des Messprojekts mit sich, denn es gibt keine Garantie, dass der Wert der relativen Häufigkeit nach z.B. 1.000 Wiederholungen derselbe wie oder in der Nähe zum Grenzwert sein wird, denn ein ungewöhnlicher Ergebnislauf könnte an irgendeiner Stelle eingetreten sein. Man könnte sich hier auf das starke Gesetz der großen Zahl für den Fall zweiwertiger Ergebnisse berufen, welches besagt, dass, wenn die Wiederholungen des Experiments unabhängig voneinander sind und identisch verteilt sind (d.h. wenn die Wahrscheinlichkeit sich von Wiederholung zu Wiederholung nicht verändert), gilt: Für jedes ε > 0: | m/N – p | > ε tritt mit der Wahrscheinlichkeit 1 nur mit endlicher Häufigkeit ein. Dies stellt sicher, dass bei einer entsprechend langen Versuchsreihe die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung der Grenzhäufigkeit vom ‚wahren‘ Wert p gegen null geht, dies allerdings um den Preis, dass eine Wahrscheinlichkeit zweiter Ordnung eingeführt wird, die wiederum interpretiert werden muss. Als zusätzliche Voraussetzung forderte Richard von Mises zu Recht, dass die Grenzhäufigkeitswerte nur aus einer zufälligen Datenfolge abgelesen werden können. Wenn uns als die Würfelwürfe die Ergebnisfolge 1, 2, 3, 4, 5, 6, 1, 2, 3, 4, 5, 6 … brachte, so wäre die Grenzhäufigkeit von ‚2‘ ein Sechstel, aber darüber hinaus wäre bei jedem Wurf (N = 0, 1, 2, …) der Stelle (6N + 2) die Wahrscheinlichkeit einer ‚2‘ gleich 1, und sie wäre 0 bei jedem anderen Wurf der Reihe. Dies zeigt, was als das Problem der EinzelfallWahrscheinlichkeit bekannt ist: wie übertragen wir einen Wahrscheinlichkeitswert einer Klasse auf ein einzelnes Ergebnis? Eine Standard-Antwort hierauf lautet, dass die geeignete Häufigkeit für einen Ergebnistyp diejenige ist, die man aus einer Zufallsfolge ermittelt. Die Versuche zur Lösung dieses Problems führten zu komplexen und faszinierenden Theorien über den Zufall und die statistische Erheblichkeit, wobei an beiden ein jeweils eigenes philosophisches Interesse besteht. 4. Theorien der Propensität Wir sahen oben, dass die relativen Häufigkeiten relativ zu einer Ergebnisklasse definiert werden. Wenn wir den Schwerpunkt auf die Tatsache legen, dass Ergebnisse unter einer fixierten Menge von Entstehungsbedingungen zustande kommen, dann sei es vernünftig, die Wahrscheinlichkeiten auch in einen physikalischen Kontext zu stellen, insbesondere dann, wenn das System, das die Ergebnisse hervorbringt, irreduzibel indeterministisch ist. Daraus ergibt sich eine zufällige Disposition, Neigung oder Propensität zur Hervorbringung eines bestimmten Ergebnisses. Beispielsweise ist die Zerfallswahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten Minute die Eigenschaft eines radioaktiven Atoms, genauso wie sein Atomgewicht. Diese Sichtweise, die offenbar von C.S. Peirce als Erstem formuliert und von Karl Popper (§ 3) neuerlich aufgegriffen wurde, wurde als übertrieben metaphysisch kritisiert. Diese Kritik ist jedoch unfair, denn der Propensitätswert kann für ein System mit einer festen Propensität unter Anwendung des oben erwähnten, starken Gesetzes der großen Zahl empirisch gemessen werden, und zwar zusammen mit statistischen Schätzungstechniken, wodurch auch den notwendigen Verfahrensvoraussetzungen Genüge getan wird. Da es sich hierbei jedoch um eine ontologische Interpretation der Wahrscheinlichkeit handelt, liefern Propensitätsdarstellungen keine explizit re1906
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
duktionistische Definition der Wahrscheinlichkeit, denn Propensitäten sind grundlegende, oft einfache Eigenschaften der Welt. Es konnte jedoch bislang noch keine befriedigende Lösung für das dritte Projekt der Formulierung eines PropensitätsKalküls vorgelegt werden. Und trotz größerer Bemühungen von Popper und anderen konnte bisher kein befriedigender Beweis erbracht werden, dass die Quantenwahrscheinlichkeit dem Typ nach offenkundig Propensitäten hinsichtlich aller Einzelheiten der betreffenden Prozesse sind (siehe Quantenmechanik, Interpretation der; Statistik; Verursachung). 5. Subjektive Wahrscheinlichkeiten Im Gegensatz zu den gerade beschriebenen objektiven Interpretationen hatte der Begriff der Wahrscheinlichkeit aber auch immer schon eine enge Beziehung zu Stufen rationaler Überzeugung. Innerhalb dieser Tradition kann man einen solchen Überzeugungsgrad durch die Messung von Wettverhalten operationalisieren. Hier sind die Elemente, denen Wahrscheinlichkeitswerte zugewiesen werden, Aussagen oder Sätze, und keine Ereignisse. Mittels einer ausgeklügelten Vorgehensweise, die als die ‚Methode der sicheren Wette‘ (engl.: ‚method of the dutch book‘) bekannt ist, und innerhalb derer der Wahrscheinlichkeitswert der kleinsten Gewinnchance ermittelt wird, die ein Spieler hinzunehmen bereit ist, kann man zeigen, dass plausible, einschränkende Bedingungen des rationalen Verhaltens ausschließlich dann erfüllt sind, wenn die Axiome (1) – (3) und die Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit gem. § 2 dieses Beitrages gelten. Die subjektiven Wahrscheinlichkeitszurechnungen werden dann als kohärent betrachtet. Damit hätten wir das zweite und dritte Kriterium, das zuvor genannt wurde, erfüllt, obwohl man anmerken muss, dass unterschiedliche Einzelpersonen einer kontingenten Aussage weit auseinander liegende Wahrscheinlichkeitswerte zuweisen können, und beide kohärent sein können. De Finetti meinte allerdings, dass Axiom (3′) für die subjektiven Wahrscheinlichkeiten nicht gelten würde, weil das Abschließen unendlich vieler Wetten menschlichen Akteuren nicht möglich sei. Die ‚Methode der sicheren Wette‘ liefert uns das, was man einen ‚Wahrscheinlichkeitsvorrang‘ nennt, aber mit Ausnahme von Extremwerten kommt man auf einen solchen Vorrang nicht im Wege eines apriorischen Prozesses. Stattdessen sind diese Werte Ausdruck einer unausgesprochenen Mischung von Hintergrundwissen. Obwohl es teilweise strittig ist, wie man Überzeugungen am besten im Lichte empirischer Evidenz überprüfen kann, geschieht dies herkömmlicherweise über das Setzen von Bedingungen unter Einsatz von Bayes Theorem. Wenn Hj eine Hypothese ist (z.B. dass der Würfel nicht gezinkt ist), dann ist E die empirische Evidenz (z.B. die Ergebnisse der Würfe mit diesem Würfel), und P0 ist unsere vorangehende (vorrangige) Wahrscheinlichkeitszuweisung. Nun gilt: P1 (Hj) = P0 (Hj | E) = P0 (E | Hj) P0 (Hj) / ∑i P0 (E | Hi) P0 (Hi) wobei {Hi} die Menge der Hypothesen ist, die betrachtet wird, und P1 die neue und nachträgliche Wahrscheinlichkeitszuweisung. Unter der Voraussetzung, dass die Mitglieder von {Hi} einander ausschließende Hypothesen sind (d.h. nur eine von ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt wahr sein), und dass ∑i P0(Hi) = 1 ist (d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass kein Elemente von {Hi} wahr ist, ist nicht vorgesehen), gilt ∑i P0 (E | Hi) P0 (Hi) = P0 (E), was P1 (Hj) = P0 (Hj | E) P0 (Hj) P0 (E) ergibt.
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Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
Aus dem Vorstehenden ergibt sich eine normative Theorie, wie Akteure den Grad ihrer Überzeugung verteilen sollten; allerdings fielen schon immer dieser normative Bayesianismus und die individuellen Überzeugungsgrade auseinander. Untersuchungen von Psychologen und Ökonomen haben systematische empirische Abweichungen von den Bayesianischen Vorschriften offenbart, und zwar selbst dann noch, wenn die Probanden sich im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten gut auskannten. 6. Klassische Interpretation der Wahrscheinlichkeit Dieser Ansatz ermittelt die Wahrscheinlichkeitswerte durch Einteilung der Ergebnisse in gleichermaßen wahrscheinliche Fälle und wendet dann das Prinzip der Ununterscheidbarkeit an, um jedem gleichermaßen wahrscheinlichen Fall den gleichen Wahrscheinlichkeitswert zuzuweisen. Wenn also jemand aus Symmetriegründen meint, jede Seite eines Würfels würde mit gleicher Wahrscheinlichkeit wie alle anderen Seiten nach oben zu liegen kommen, dann weist die klassische Theorie jedem dieser Ergebnisse eine Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel zu. Entgegen vieler Behauptungen ist dies nicht immer eine apriorische Zuweisung, weil sie im Allgemeinen von bestimmtem empirischem Wissen über die Symmetrien des Systems abhängt. Der klassische Ansatz ist aus einer Vielzahl von Gründen unbefriedigend. Erstens ist er auf Situationen beschränkt, in denen gleichermaßen wahrscheinliche Fälle überhaupt verfügbar sind. Zweitens gibt es direkte Paradoxa, die mit diesem Ansatz zusammenhängen, und die eine Zuordnung unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitswerte zu ein und demselben Ereignis erlauben. Das einfachste Paradox ist das von Bertrand formulierte. Angenommen, man hat Wein und Wasser in einem Verhältnis gemischt, dass irgendwo zwischen einem Teil Wasser gegenüber einem Teil Wein, und zwei Teilen Wasser gegenüber einem Teil Wein liegt. Unter Anwendung des Indifferenzprinzips hinsichtlich des Wasser-Wein-Verhältnisses erhalten wir die Wahrscheinlichkeit von 1:2, dass das Verhältnis von Wasser zu Wein zwischen 1 und 1,5 liegt. Nun bedenke man das Verhältnis von Wein zu Wasser. Dieses kann zwischen 1:2 und 1 liegen, und dem Wasser-Wein-Verhältnis von 1:5 entspricht dann ein Wein-Wasser-Verhältnis von 2:3. Das Indifferenzprinzip sagt dann, dass die Wahrscheinlichkeit dieses Verhältnisses zwischen 1 und 2:3 eine Wahrscheinlichkeit von 2:3 habe. Dies ist widersprüchlich. 7. Logische Interpretationen und andere Ansätze Der logische Ansatz sieht Aussagen als die Gegenstände, denen Wahrscheinlichkeiten zugewiesen werden, und interpretiert eine bedingte Wahrscheinlichkeit als eine logische Beziehung, die dem bedingten Satz ein bestimmtes Maß induktiver Unterstützung durch den bedingenden Satz gewährt. Daher ist P(H | E) der Grad induktiver Unterstützung, den der Beweissatz E der Hypothese H gewährt. Um P(H | E) zu messen, betrachtete Carnap Zustandsbeschreibungen. Im einfachsten Falle listet man alle Einzeldinge a1 …an in einer Welt auf, sowie alle Prädikate F1 … Fi. Dann ist eine Zustandsbeschreibung eine Zuschreibung von Fi oder ~ Fi zu jedem Einzelding aj für alle i und j, d.h. eine maximal konsistente Beschreibung irgendeiner möglichen Welt. Wenn wir nun einer Zustandsbeschreibung auf apriorische Weise ein Maß m zuschreiben (was auf eine Vielzahl von Arten möglich ist), dann ist die bedingte logische Wahrscheinlichkeit genau m(H & E)/m(E). Der grundsätzliche Nachteil einer Verwendung von Zustandsbeschreibungen ist, dass 1908
Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der
hier ein Lernen aus Erfahrung unmöglich ist, einfach deshalb, weil alle Prädikate logisch unabhängig voneinander sind, und daher die Beobachtung eines Falles einer Eigenschaft keine Information über irgendeinen anderen Fall enthält. Aus diesem Grunde wechselte Carnap zu den Strukturbeschreibungen, innerhalb derer Einzeldinge ununterscheidbar sind. Interessanterweise sind die Unterschiede zwischen der Maxwell-Boltzmann-Statistik, den Bose-Einstein- und den Fermi-Dirac-Statistiken in der Physik als solche darstellbar, die davon abhängen, welche Zustände physisch möglich sind. Weil es allerdings eine empirische Tatsache ist, welche Partikel irgendeine Statistik erfüllen, wirft dies erhebliche Zweifel bezüglich des gesamten Unternehmens auf, apriorische Wahrscheinlichkeitszuweisungen vorzunehmen. Es gibt inzwischen gut eingeführte Theorien der vergleichenden Wahrscheinlichkeit, innerhalb derer numerische Werte gar nicht zugewiesen werden, sondern ein Ergebnis wird schlicht als zumindest genauso wahrscheinlich wie ein anderes betrachtet. Alternativ können, statt einer Aussage spezifische Wahrscheinlichkeitswerte ihrer Richtigkeit zuzuweisen, ihr auch Wahrscheinlichkeitsintervalle zugewiesen werden, um damit unsere Ungewissheit hinsichtlich des korrekten Wertes über obere und untere Wahrscheinlichkeiten auszudrücken. Ferner sind auch die Verbindungen zwischen subjektiver Wahrscheinlichkeit und objektivem Zufall Gegenstand starken Forschungsinteresses. Siehe auch: Carnap, R.; Bestätigungstheorie; Entscheidungs- und Spieltheorie; Induktiver Schluss; Rationalen Wahl, Theorie der; Reichenbach, H. Anmerkungen und weitere Lektüre: Feller, W. (1968): ‚An Introduction to Probability Theory and Its Applications‘. New York: John Wiley & Sons. (Dieses Buch ist immer noch die beste englischsprachige Einführung in die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie. Der 1. Band behandelte die diskreten Ergebnisräume; der 2. Band [2. Aufl. 1971] behandelt die kontinuierlichen Ergebnisräume.) Gillies, D. (2000): ‚Philosophical Theories of Probability‘. London: Routledge. (Eine umfassende, gut lesbare und ausgewogene Bewertung der Hauptinterpretationen der Wahrscheinlichkeit.) Kahnemann, D., Slovic, P. und Tversky, A. (Hrg.) (1982): ‚Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Eine Textsammlung von Psychologen, die beschreiben, wie Einzelpersonen unter Wahrscheinlichkeitsbedingungen denken.) PAUL HUMPHREYS
Wandel
Den Wandel von abstrakten oder konkreten Gegenständen, ganzen Situationen oder deren Eigenschaften kann man als den Unterschied in den Bestimmtheiten dieser Gegenstände, Situationen oder Eigenschaften verstehen. Ungefähr so fasste bereits Aristoteles den verwandten Begriff des Wandels (siehe Veränderung) in seiner ‚Metaphysik‘ auf (zur Notwendigkeit der Bestimmtheit als Voraussetzung von Sein bei ihm siehe 1007b 18 ff.), wobei Aristoteles bereits zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Wandel unterscheidet (1010a 22). Ein solches Verständnis des Wandels ist jedoch hinsichtlich einer Reihe von Aspekten nicht unproblematisch:
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Wandel
(1) Qualität und Quantität: Der Unterschied zwischen einem Wandel der Quantität und einem Wandel der Qualität scheint nur im subjektiven oder phänomenalen Bereich relevant zu sein, während sich im objektiven Bereich jeder qualitative Wandel wahrscheinlich auf einen quantitativen reduzieren lässt. Jemand sagt beispielsweise: ‚Erst leuchtete das Lämpchen rot, jetzt leuchtet es grün.‘ Dieser phänomenal qualitative Unterschied lässt sich objektivieren, indem man der Versuchsperson eine geordnete Messskala mit beliebig genauen Abstufungen von rot nach grün vorlegt und von ihr die beiden Werte bestimmen lässt, oder indem man den Frequenzunterschied der unterschiedlichen in der Lampe emittierten Lichtwellen angibt. Damit wird aus dem qualitativen ein quantitativer Unterschied. Wenn sich dies auch nicht unter allen Bedingungen praktisch durchführen lässt, so ist dennoch die Behauptung, dass sich jede qualitative Veränderung prinzipiell hinsichtlich ihrer Beschreibung (nicht hinsichtlich des Erfahrungsereignisses!) auf eine quantitative reduzieren lässt, sehr plausibel. Folglich scheint es sinnvoll, sich auch auf die quantitativen Aspekte des Wandels zu konzentrieren. Denn selbst ein komplexer qualitativer Wandel, wie er z.B. im öffentlichen Urteil über eine Person oder eine Regierung zum Ausdruck kommt, muss letztlich auf quantitative Werte zurückgeführt werden, um damit weiter umgehen zu können. Dies wirft im Einzelnen die Frage auf, welche Messparameter oder welche Messskala bei einer solchen Umwandlung zugrunde gelegt werden soll. (2) Bestimmtheit: Eine implizite Voraussetzung zur Feststellung eines eigenschaftlichen Unterschieds ist, dass die beiden zu vergleichenden Zustände mit einer jeweils bekannten, wenn auch nicht notwendig gleichen Genauigkeit bestimmt sind. Dies ist nicht selbstverständlich. Prinzipiell gilt, dass das Ergebnis der Feststellung eines eigenschaftlichen Unterschiedes zur Bestimmung einer Veränderung (z.B. auf der Grundlage einer zweistelligen Relation) nur so genau sein kann wie das ungenaueste aller beteiligten Relata. Hierzu eine Beispielfrage zur Eigenschaft ‚Temperatur‘ eines menschlichen Körpers: ‚Wie groß ist der Unterschied der Körpertemperatur zwischen ungefähr 37,5° C und genau 40° C?‘ Antwort: ‚Der Temperaturunterschied beträgt ungefähr 2,5° C.‘ Es gilt: Eine Schlussfolgerung hat immer nur den Genauigkeitsgrad der ungenauesten aller beteiligten Prämissen (eine Variation des ‚Prinzips des schwächsten Gliedes‘). (3) Eigenschaftliche Identität: Es ist plausibel davon auszugehen, das wir zur Bestimmung des fraglichen Wandels von Gegenständen oder Situationen die Arten der Eigenschaften kennen müssen, die daran beteiligt sind. Dies wirft die Frage auf, wie die Identität dieser beiden zu vergleichenden Eigenschaften festgestellt werden kann, denn nur eine Veränderung einer an sich identischen Eigenschaft ist überhaupt ein eigenschaftlicher Wandel. Es gibt Fälle, wo diese Kenntnis notwendig ist. Hierzu eine finanzwirtschaftliche Beispielfrage: ‚Was verändert sich an einem gegebenen Zahlungsstrom, wenn die erste und die letzte Zahlung zeitlich weiter oder kürzer auseinander liegen?‘ Antwort: ‚Die damit verbundenen wirtschaftlichen Veränderungen lassen sich nur unter der Voraussetzung beziffern, dass zur Ermittlung des Barwertes beider Zahlungsströme der identische Abzinsungszinssatz verwendet wird.‘ Folglich muss die Eigenschaft des Abzinsungssatzes beider Zahlungsströme bekannt sein, um die jeweilige Veränderung bestimmen zu können. Wer dies nicht beachtet, wird den wirtschaftlich relevanten Unterschied beider Zahlungsströme
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Wandel
nicht exakt benennen können, weil es ihm an der Bezugnahme auf eine gemeinsame Eigenschaft mangelt. (4) Gegenständliche (und situative) Identität: Geht man dagegen von der Veränderung eines z.B. materiellen Gegenstandes in seiner ganzen Gegebenheit, d.h. ohne Ansehung seiner einzelnen Eigenschaften aus, so muss eventuell erst geklärt werden, welche kategorematischen Attribute (wesensmäßigen Eigenschaften) der Gegenstand aufweist, um nach der eingetretenen Veränderung überhaupt noch als derselbe Gegenstand gelten zu können. Beispiel: Ein bestimmter Versuchsbazillus hat eine gemessene Lebensdauer von 2‘30 Minuten. Der tote Bazillus kann jedoch noch fünf weitere Minuten für andere Immunexperimente verwendet werden. Erste Frage: ‚Wie lange lebte der Bazillus?‘ Antwort: ‚Der Bazillus lebte genau 2‘30 Minuten.‘ Darauf die zweite Frage: ‚Wie lange wurde der Versuchsbazillus insgesamt experimentell verwendet?‘ Antwort: ‚Der Bazillus wurde insgesamt 7‘30 Minuten verwendet.‘ Und nun die dritte, kategorematische Testfrage: ‚Was ist ein Bazillus?‘ Antwort: ‚Ein Bazillus ist ein lebender, einzelliger Organismus.‘ Diese Antwort ist offenkundig nicht mit den beiden zuvor gegebenen Antworten vereinbar, weil der tote Bazillus der zweiten Frage nach dieser Definition gar kein lebender Bazillus der ersten Frage mehr ist. Die dritte Antwort besagt nämlich, dass der Ausdruck ‚toter Bazillus‘ vielleicht umgangssprachlich verständlich ist, fachsprachlich aber insofern falsch, als die Definition von ‚Bazillus‘ (für dieses Beispiel) eindeutig ‚lebender, einzelliger Organismus‘ lautet. Somit ist die zweite Antwort falsch. – Fragt man also nach der Veränderung eines Gegenstandes ohne Ansehung einzelner seiner Eigenschaften, so muss sichergestellt sein, dass die verglichenen Zustände überhaupt den identischen Gegenstand betreffen. Noch wichtiger wird diese Frage im Falle des Wandels von Situationen, weil deren Veränderungsrate (Änderungseinheiten pro Zeiteinheit) in der Regel deutlich höher ist als die von festkörperlichen Gegenständen. (5) Betroffene Ebene: Wenn wir die Veränderung an einem ganzen Gegenstand oder einer Situation als Unterschied seiner Eigenschaften in der Zeit definieren, sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Eigenschaften eines Gegenstandes sich verändern können, ohne dass daraus eine Veränderung des Gegenstandes selbst folgt. Es muss also immer klar sein, ob man von gegenständlichen, situativen oder eigenschaftlichen Veränderungen spricht, auch wenn unter Umständen alles gleichzeitig der Fall sein kann. (6) Begriff des Zeitlaufs: Eine weitere Frage betrifft den Begriffs des Zeitlaufs: bewirkt das Eintreten von Unterschieden über die Zeit womöglich nur eine Veränderung irgendeines Merkmals der Zeit, z.B. des (mutmaßlichen) Umstandes des Zeitlaufs selbst? Der Begriff des ‚Zeitlaufs‘ ist unter Naturwissenschaftlern und Philosophen strittig. Nur dann, wenn man sich über das Wesen dieses Begriffs einig ist, hat diese Frage folglich einen Sinn. Siehe auch: Ereignis; Prozess; Situation; Veränderung GEORG SULTAN
Wang Yangming (1472-1529)
Wang Yangming war ein einflussreicher konfuzianischer Denker im China des 16. Jahrhunderts, der wie andere konfuzianische Denker die soziale und politische Verantwortung betonte und die Kultivierung des Selbst als die Grundlage zur Erfüllung dieser Verantwortung sah. Während er sich manchmal auf Ideen und Metaphern 1911
Weber, Max (1864-1920)
des Taoismus und des Chan-Buddhismus bezog, kritisierter er diese Schulen auch für ihre Vernachlässigung der familiären Bindungen und der sozialen Beziehungen insgesamt. Und im Gegensatz zu einer Fassung des Konfuzianismus, der das Lernen betont, befürwortete er im Prozess der Selbstkultivierung die unmittelbare Hinwendung auf den eigenen Geist. Siehe auch: Konfuzianische Philosophie, Chinesische SHUN KWONG-LOI
Weber, Max (1864-1920)
Max Weber, ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Soziologe, Methodologe und politischer Denker ist infolge seiner versuchten Versöhnung von historischem Relativismus und der Möglichkeit einer kausalen Sozialwissenschaft philosophisch bedeutsam, ferner für seinen Begriff der ‚verstehenden Soziologie‘ und seine Formulierung, Verwendung und erkenntnistheoretische Darstellung des Begriffs der ‚idealen Typen‘, seine Ansichten über die rationale Unversöhnlichkeit letzter Wertentscheidungen, und insbesondere für seine Formulierung der Folgen für das ethisch-politische Handeln in dem Konflikt zwischen Überzeugungsethik und Verantwortungsethik, sowie für seine soziologische Darstellung der Ursachen und der Einzigartigkeit der westlichen Rationalisierung des Lebens. Diese Themen sind eng miteinander verbunden: Weber machte geltend, dass sich die explanatorischen Interessen der Historiker und der Sozialwissenschaftler auf der Basis kultureller Standpunkte bilden, und dass ihre Kategorien folglich auf Bewertungen beruhen und deshalb subjektiv seien. Er sagte aber auch, dass die Sozialwissenschaft die Kausalität nicht einfach aufheben könne, und dass, sobald die Kategorien einmal gewählt seien, die Kausalurteile objektiv seien. Die explanatorischen Interessen des Soziologen in seiner Definition der Soziologie seien das kausale Verständnis intentionalen Handelns, jedoch auf der Basis von Kategorien, die kulturell bedeutsam seien, wie z.B. jene der ‚rationalen Handlung‘. Ein großer Teil seines Einflusses ergab sich aus seiner Formulierung der alltäglichen kulturellen Situation, und hier speziell die Idee, dass es das Schicksal einer Zeit sei anzuerkennen, dass Bewertungen unausweichlich subjektiv seien, und dass die Welt keine ‚Bedeutung‘ an sich habe. Die existenziellen Implikationen dieser neuartigen Situationen für die Politik und das Lernen wurden von ihm auf schlagenden Weise dargelegt: die Wissenschaft könne uns nicht diktieren, wie wir zu leben haben, und die Politik sei eine Wahl zwischen einander widersprechenden Gütern. Webers akademische Arbeit und seine politische Philosophie dienten als Modell für Karl Jaspers, und sie war Gegenstand der Kritik und der weiteren Analyse für andere Philosophen wie z.B. Karl Löwith, Max Scheler und die Frankfurter Schule. STEPHEN P. TURNER, REGIS A. FACTOR
Weil, Simone (1909-1943)
Simone Weils Leben und Werk stellt eine ungewöhnliche Mischung aus politischem Aktivismus, religiösem Mystizismus und einer intensiven spekulativen Arbeit an einem breiten Themenbereich dar, einschließlich der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Sozialtheorie. Vieles ihrer wichtigsten Schriften ist nur in fragmentierter Form erhalten geblieben, und zwar in Notizbüchern, die nach ihrem vorzeitigen Tod veröffentlicht wurden. Obwohl sie aus einer jüdischen Familie stammte, war ihre Einstellung gegenüber dem Judaismus weitgehend feindselig, und trotz ei1912
Whewell, William (1794-1886)
ner tiefen Verpflichtung gegenüber den christlichen Ideen und Symbolen in ihrem späteren Leben verwahrte sie sich doch beständig dagegen, getauft zu werden. Ihre religiösen Ansichten waren in vieler Hinsicht eklektisch, bezogen sich auf Platon und auf hinduistische Quellen. In allem, was sie schrieb, war sie um die entmenschlichenden Wirkungen der wirtschaftlichen Unfreiheit und der sklavischen Arbeit besorgt, die der industrielle Kapitalismus fordert, doch ist dies für sie nur ein Beispiel der Erfahrung der ‚Notwendigkeit‘ oder der ‚Schwerkraft‘, die die materiellen Vorgänge beherrschen. Das Wesen moralischer und geistiger Handlung außerhalb der Welt der ‚Notwendigkeit‘ ist der vollständige Verzicht auf eine jegliche privilegierte Position für ein Ego. Ein solcher Verzicht ist tatsächlich die einzige Möglichkeit zum Entkommen aus der Notwendigkeit; was sie ‚Dekreation‘ nennt, wird zu unserem herausragend kreativen Akt, denn nur in der Abwesenheit des Egos sei Liebe oder ein Begreifen der nicht selbstorientierten Güter möglich. Marx, Kant und das Evangelium sind ihr alle hierfür ein Beweis. ROWAN WILLIAMS
Werte und Tatsachen
Siehe: Tatsache und Wert, Unterscheidung von
Wesen
siehe: Essentialismus
Wesensschau
Siehe: Phänomenologie, Erkenntnistheoretische Fragen der
Whewell, William (1794-1886)
William Whewell schrieb zwei fruchtbare Arbeiten, die ‚History of the Inductive Science, from the Earliest to the Present Time‘ (1837) und ‚The Philosophy of the Inductive Sciences, Founded upon their History‘ (1840). Mit diesen beiden Büchern begann eine neue Ära in der Wissenschaftsphilosophie. Indem er sich gleichermaßen kritisch zur britischen wahrnehmungsbetonten Schule, die alles Wissen auf die Erfahrung gründete, und den deutschen Idealisten stellte, die die Wissenschaft auf apriorischen Ideen aufbauten, unternahm Whewell eine Durchmusterung der Geschichte aller bekannten Wissenschaften auf der Suche nach einer besseren Erklärung der wissenschaftlichen Entdeckung. Seine Schlussfolgerungen waren so umfangreich wie das Unternehmen selbst. Alles wirkliche Wissen, so behauptete er, sei ‚antithetisch‘, d.h. setze gegenseitig irreduzible, allgegenwärtige und dennoch nicht voneinander zu trennende empirische und begriffliche Bestandteile voraus. Der wissenschaftliche Fortschritt werde nicht durch Induktionsschlüsse erreicht, und auch nicht durch das Herauslesen von Theorien aus zuvor gesammelten Daten, sondern durch die imaginative ‚Superinduktion‘ neuer Hypothesen auf der Grundlage bekannter, aber angeblich unzusammenhängender Fakten. Er brach damit radikal mit dem traditionellen Induktivismus – und wurde beinahe ein Jahrhundert lang fast ignoriert. In der ‚Philosophy‘ bilden die antithetische Struktur der wissenschaftlichen Theorien und die hypothetisch-deduktive Darstellung der wissenschaftlichen Entdeckung die Grundlage für neuartige Analysen der wissenschaftlichen und mathematischen Wahrheiten und der wissenschaftlichen Methodik, der Kritik von konkurrierenden Wissenschaftsphilosophien, sowie eine Darstellung des Auftauchens und der Verfeinerung wissenschaftlicher Ideen.
1913
Whitehead, Alfred North (1861-1947)
Siehe auch: Konventionalismus; Entdeckung, Logik Methode MENACHEM FISCH
der;
Wissenschaftliche
Whichcote, B.
Siehe: Cambridge-Platonismus
Whitehead, Alfred North (1861-1947)
Whitehead lieferte grundlegende Beiträge zur modernen Logik und schuf eines der strittigsten metaphysischen Systeme des 20. Jahrhunderts. Er stellte etwas dar, was er für die revolutionäre Konsequenz der neuen Entdeckungen in der Mathematik, der Logik und der Physik für die Philosophie hielt, und entwickelte diese Konsequenzen zunächst in der Logik, und dann in der Wissenschaftsphilosophie und der spekulativen Metaphysik. Sein Werk kehrt immer wieder zu der Frage zurück: Welchen Ort hat die Konstruktion der Mathematik, der Wissenschaft und der Philosophie in der Natur der Dinge? Whitehead arbeitete mit Bertrand Russell an den ‚Principia Mathematica‘ (1910-1913) zusammen, in denen behauptet wird, dass alle reine Mathematik von einer kleinen Zahl logischer Prinzipien abgeleitet werden kann. Er schritt in seiner Wissenschaftsphilosophie mit der Beschreibung der Natur als eine Reihe sich überlappender Ereignisse fort und argumentierte, dass die wissenschaftlichen Erklärungen auf dieser Grundlage konstruiert seien. Er dehnte seine Arbeit schließlich aus und definierte ihren Gegenstand neu, indem er eine neue Art von spekulativer Metaphysik entwickelte. Dies drückte er hauptsächlich in dem Buch ‚Process an Reality‘ (1929, dt.: ‚Prozess und Wirklichkeit‘, 1979) aus. Seine Metaphysik ist sowohl eine ausgedehnte Reflexion über den Charakter der philosophischen Untersuchung an sich, als auch eine Darstellung des Wesens aller Dinge als selbst-konstruierende Prozesse. Nach dieser Auffassung ist die Wirklichkeit unvollständig, d.h. eine Sache des Werdens von ‚Gelegenheiten‘, die Aktivitätszentren in einer Vielzahl serieller Prozesse sind, wobei die jeweils vorangehenden Gelegenheiten in den Aktivitäten der nachfolgenden Gelegenheiten aufgegriffen werden. JAMES BRADLEY
Whorf, Benjamin Lee
Sieh: Sapir-Whorf-Hypothese
Wiener Kreis
Der Wiener Kreis war eine Gruppe von ungefähr drei Dutzend Denkern aus den Natur- und Sozialwissenschaften, der Logik und der Mathematik, die sich regelmäßig zwischen den Weltkriegen in Wien zur Diskussion philosophischer Fragen trafen. Das Werk dieser Gruppe stellt eine der wichtigsten und einflussreichsten philosophischen Leistungen des 20. Jahrhunderts dar, insbesondere in der Entwicklung der analytischen Philosophie und der Wissenschaftsphilosophie. Der Wiener Kreis trat das erste Mal im Jahre 1929 mit der Veröffentlichung seines Manifests ‚Die wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis‘ in Erscheinung. Im Mittelpunkt dieser modernistischen Bewegung stand der so genannte ‚Schlick-Zirkel‘, eine Diskussionsgruppe, die im Jahre 1924 durch den Physikprofessor Moritz Schlick organisiert wurde. Friedrich Waismann, Herbert Feigl, Rudolf Carnap, Hans Hahn, Philip Frank, Otto Neurath, Viktor Kraft, Karl Menger, Kurt Gödel und Edgar Zilsel gehörten zu seinem inneren Kreis. Ihre Treffen in der 1914
Wiener Kreis
Boltzmanngasse wurden auch von Olga Taussky-Todd, Olga Hahn-Neurath, Felix Kaufmann, Rose Rand, Gustav Bergmann und Richard von Mises besucht, und bei einigen Gelegenheiten auch von ausländischen Besuchern wie Hans Reichenbach, Alfred Ayer, Ernest Nagel, Willard van Orman Quine und Alfred Tarski. Der Diskussionskreis war pluralistisch gesonnen und den Idealen der Aufklärung verpflichtet. Er war vereint durch das Ziel, die Philosophie mit Hilfe der modernen Logik auf der Grundlage wissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung zu verwissenschaftlichen. An der Peripherie des Schlick-Zirkels und in einem mehr oder weniger durchlässigen Kontakt mit ihm gab es lose Diskussionsgruppen um Ludwig Wittgenstein, Heinrich Gomperz, Richard von Mises und Karl Popper. Zusätzlich richtete der Mathematiker Karl Menger in den Jahren 1926-1936 ein internationales mathematisches Kolloquium ein, das unter anderem von Kurt Gödel, John von Neumann und Alfred Tarski besucht wurde. Somit erlebten die Jahre 1924-1936 die Entwicklung einer interdisziplinären Bewegung, deren Ziel es war, die Philosophie umzugestalten. Ihr öffentliches Profil lieferte die Ernst Mach Gesellschaft, durch die die Mitglieder des Wiener Kreise nach einer Verbreitung ihrer Ideen im Kontext von Programmen der nationalen Ausbildung in Wien suchten. Das allgemeine Programm dieser Bewegung spiegelt sich in ihren Publikationen wie der Zeitschrift ‚Erkenntnis‘ wieder, das später in ‚Journal for Unified Science‘ umbenannt wurde, und der ‚International Encyclopedia of Unified Science‘. In Anbetracht dieser intellektuellen Erfolgsgeschichte war das Schicksal des Wiener Kreises tragisch. Die Ernst-Mach-Gesellschaft wurde im Jahre 1934 aus politischen Gründen aufgelöst, Moritz Schlick wurde 1936 ermordet, und zu dieser Zeit verließen viele Mitglieder des Wiener Kreises aus rassischen und politischen Gründen Österreich; kurz nach Schlicks Tod löste sich der Kreis auf. Als Ergebnis der Emigration so vieler seiner Mitglieder erlangten jedoch die Ideen des Wiener Kreises mehr und mehr Bekanntheit, insbesondere in Skandinavien, England und Nordamerika, wo sie zur Entstehung der modernen Wissenschaftsphilosophie beitrugen. In Deutschland und Österreich war die philosophische und mathematische Szene von einer Verlängerung des Bruchs gekennzeichnet, der durch die Emigration der Mitglieder des Wiener Kreises verursacht worden war. Siehe auch: Analytische Philosophie; Aufklärung, Kontinentaleuropäische; Bedeutung und Verifikation; logischer Positivismus FRIEDRICH STADLER
Wille, Der
In der traditionellen Auffassung ist der Wille die Fähigkeit zur Wahl oder Entscheidung, durch die wir bestimmen, welche Handlungen wir ausführen werden. Im Sinne von Entscheidungsfähigkeit wird der Wille natürlicherweise als jener Punkt betrachtet, an dem wir unsere Handlungsfreiheit ausüben, d.h. als unsere Kontrolle darüber, wie wir handeln. Es untersteht nur deshalb unserer Kontrolle oder ‚liegt bei uns‘, welche Handlungen wir durchführen, weil wir die Fähigkeit haben zu entscheiden, welche Handlungen wir ausführen werden, und es liegt auch an uns, welche diesbezüglichen Entscheidungen wir treffen. Wir üben unsere Handlungsfreiheit im Wege frei gewählter Entscheidungen darüber aus, wie wir handeln werden. Von der Spätantike an nahmen viele Philosophen diese traditionelle Konzeption des Willens sehr ernst und entwickelten sie als Teil einer allgemeinen Theorie des spezifisch menschlichen Handelns weiter. Menschliche Handlungen sind nach 1915
Williams, Bernard Arthur Owen (1929-2003)
dieser Theorie in wichtiger Hinsicht von jener der Tiere verschieden. Nicht nur, dass Menschen Freiheit in ihrer Kontrolle über ihre Handlungen zukommt, was den Tieren fehlt, sondern diese Freiheit entsteht angeblich, weil Menschen auf der Grundlage der Vernunft handeln können, während die tierische Handlung von der Gier und dem Instinkt getrieben ist. Sowohl diese Freiheit, als auch die Rationalität bringen es mit sich, dass der Mensch besitzt, was Tieren zu fehlen scheint: einen Wille oder ‚rationalen Appetit‘, d.h. eine echte Fähigkeit zur Entscheidung. Vom 16. Jahrhundert an stießen diese Konzeption des Willens und seine Rolle im menschlichen Handeln auf zunehmende Skepsis. Es bestand fortan keine Einmütigkeit mehr darüber, dass die menschlichen Handlungen geistige Kapazitäten mit sich bringen, die auf fundamentale Weise jenen der Tiere unähnlich sind. Und die Idee, dass freies Handeln durch freie Entscheidungen des Willens erklärt wird, wurde nunmehr als vitiöser Regress betrachtet: wenn unsere Handlungsfreiheit ein Ergebnis der zuvor bestehenden Willensfreiheit sein soll, warum sollte dann diese Freiheit des Willen nicht von einer noch früheren, willenserzeugenden Form von Freiheit abstammen, und so fort ad infinitum? Es ist jedoch ganz selbstverständlich zu glauben, dass wir über eine Entscheidungsfähigkeit verfügen, und dass es an uns liegt, wie wir diese Fähigkeit ausüben, und dass es wirklich an uns liegt, welche Handlungen durchzuführen wir uns entscheiden. Der Willensskeptizismus des frühneuzeitlichen Europa, der immer noch in zahlreichen Werken der anglophonen Handlungsphilosophie anzutreffen ist, brachte dann offenbar die Preisgabe eines Modells des menschlichen Handelns und der menschlichen Rationalität mit sich, die tief im common sense verwurzelt ist. Wir müssen dieses Modell noch wesentlich besser verstehen, bevor wir schließen können, dass die Abkehr davon wirklich berechtigt war. Siehe auch: Handlung; Freier Wille; Intention; Praktische Vernunft und Ethik; Tugendethik THOMAS PINK
Williams, Bernard Arthur Owen (1929-2003)
Bernard Williams schrieb über die Philosophie des Geistes, insbesondere über die personale Identität, und zur politischen Philosophie. Der größere und spätere Teil seines veröffentlichten Werks betrifft allerdings die Ethik. Williams steht dem Utilitarismus feindselig gegenüber und greift auch eine Moralauffassung an, die vor allem mit Kant assoziiert ist, nämlich dass den Menschen nur das zu Recht vorgeworfen werden könne, was sie freiwillig tun; für uns alle gilt nach Kant hinsichtlich dessen, was wir tun sollten, dasselbe, und dies sei mit vernünftigen Mitteln zu entdecken. Im Gegensatz dazu behauptete Williams, dass das Glück eine wichtige Rolle in unserer Selbst- und Fremdbewertung spiele. Bei der richtigen Zuschreibung von Verantwortung sei das freiwillige Moment weniger wichtig, als das kantische Bild dies suggeriere. Williams dachte, dass die Scham eine wichtigere moralische Empfindung sei als der Vorwurf. Die Art und Weise, wie wir zu leben haben, hänge anstatt von unabhängigen Mengen konsistenter moralischer Wahrheiten, die durch die Vernunft zu entdecken seien, vielmehr von den Gefühlen und Wünschen ab, die wir erleben. Diese unterschieden sich von Mensch zu Mensch und treten typischerweise in einer untereinander unvereinbaren Mehrheit auf. Daher kann das ethische Urteil für Williams keine unabhängigen oder wirklichen Werte beschreiben, woge-
1916
Wirtschaftsethik
gen er durchaus der Auffassung war, dass das wissenschaftliche Urteil die wirkliche, geistunabhängige Welt beschreibt. ROSS HARRISON
Willensschwäche Siehe: Akrasie
Wirtschaftsethik
Die Wirtschaftsethik ist die die Anwendung der Theorien des Richtigen und des Falschen auf Tätigkeiten von und innerhalb von gewerblichen Unternehmen, und zwischen solchen Unternehmen und ihrer weiteren Umgebung. Dies betrifft ein großes Tätigkeitsgebiet, und man kann nicht einfach eine Liste der Fragen oder Themen aufstellen, die damit angesprochen sind. Die Arbeitssicherheit, die Fairness bei der Einstellung von Mitarbeitern, die Transparenz der Finanzbuchhaltung, die sofortige Bezahlung offener Lieferantenrechnungen, der Umfang erlaubter Aggression zwischen Wettbewerbern: alle diese Themen fallen in ihren Gegenstandsbereich. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen der Geschäftswelt und dem Konsumenten, den lokalen Gebietskörperschaften, den nationalen Regierungen und den Ökosystemen. Viele, aber nicht alle dieser Angelegenheiten kann man so auffassen, dass sie sich auf bestimmte, anerkannte Gruppen beziehen, die ihr jeweils eigenes Interesse an einem geschäftlichen Unternehmen haben: Angestellte, Aktionäre, Konsumenten etc. Die Literatur der Wirtschaftsethik neigt dazu, sich auf diese Interessensgruppen zu konzentrieren, d.h. auf jeden, der irgendeine Rolle innerhalb der Geschäftswelt einnimmt, oder der zu einer der anerkannten Gruppen außerhalb dieser Welt gehört, die durch ihre Aktivitäten betroffen ist, jedoch nicht auf alle Arten von Geschäften. Konzerne bzw. große Gesellschaften werden häufig unter Ausschluss der mittleren und kleinen Unternehmen diskutiert. Theorien über das Richtige und das Falsche in der Wirtschaftsethik stammen aus einer ganzen Reihe von Quellen. Die akademische Moralphilosophie hat den Utilitarismus, den Kantianismus und den Aristotelismus, sowie den Egoismus und die Theorie des Sozialkontrakts beigesteuert. Es gibt aber auch Theorien, die ihren Ursprung in der organisierten Religion, in den Manifesten politischer Aktivisten, in den Gedanken gewisser Industriemagnaten mit einem Interesse am social engineering und in den Schriften von Management-‚Gurus‘ haben. Neuerdings ist die Wirtschaftsethik auch vom Ende des Kalten Krieges und vom Zusammenbruch der ehemaligen Planwirtschaften betroffen. Diese Entwicklungen haben Enthusiasten der Marktwirtschaft ermutigt, sich für moralische und politische Ideen einzusetzen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, z.B. für die Übergabe von Tätigkeiten an private Gesellschaften, die in gewissen Ländern lange dem Staat vorbehalten waren. Siehe auch: Angewandte Ethik; Berufsethik; Wirtschaftswissenschaft und Ethik TOM SORELL
Wirtschaftswissenschaft und Ethik
Anders als andere Wissenschaften sind die Wirtschaftswissenschaften sowohl mit der Ethik, als auch mit Theorien der Rationalität gekoppelt. Obwohl viele Wirtschaftswissenschaftler die Ökonomie als eine ‚positive‘ Wissenschaft von einer bestimmten Art sozialer Phänomene betrachten, ist die Ökonomie doch um eine normative Theorie der Rationalität herum aufgebaut und ist speziell für die Aufstellung 1917
Wirtschaftswissenschaft und Ethik
von Verhaltensregeln und die Kritik sozialer Institutionen relevant. Die Ökonomie ergänzt und überschneidet sich mit der Moralphilosophie sowohl in der entworfenen Begrifflichkeit, als auch in ihrer Behandlung normativer Probleme. Für die moderne Ökonomie ist ihre Konzeption des Menschen als einem rationalen Agenten grundlegend. Dessen Handlungsentscheidungen sind durch vollständige und transitive Prioritäten determiniert. Obwohl Wirtschaftswissenschaftler immer wieder die Nützlichkeit dieses Begriffs der Rationalität betonen, weil er das menschliche Verhalten erklärt, ist doch der Begriff der Rationalität klar auch ein normativer. Die von den Wirtschaftswissenschaften entwickelten mathematischen Hilfsmittel zur Darstellung und dem Studium der Folgen rationaler Handlungen in kollektiven und interaktiven Zusammenhängen sind deshalb auch von unmittelbarer Bedeutung für den Moralphilosophen. Ebenfalls interessant für die Moralphilosophie in der Wohlfahrtsökonomie ist der problematische Versuch eines Entwurfs einer normativen Theorie wirtschaftlicher Institutionen und von Verhaltensregeln zu dem Zweck, den Menschen bei der Befriedigung ihrer subjektiven Vorlieben zu helfen. Dieses Projekt beruht, was allerdings umstritten ist, auf einer Gleichsetzung des Wohlergehens von Menschen mit dem Grad der Befriedigung ihrer subjektiven Vorlieben. Eine individuelle ‚Nützlichkeit‘ ist nach dieser Auffassung nicht mehr als ein Hinweis darauf, wie gut die subjektiven Vorlieben der Menschen befriedigt wurden. Da die meisten Wohlfahrtsökonomen ferner davon ausgehen, dass es keinen sinnvollen Weg gibt, Grade der Befriedigung von Vorlieben unterschiedlicher Menschen miteinander zu vergleichen, erfordert dieses Projekt auch ein Schema zur Gewichtung der Effektivität alternativer ökonomischer Ordnungen zur Befriedigung von Vorlieben, ohne die verglichenen Befriedigungsgrade verschiedener Menschen zu gewichten. Zentral für dieses Problem ist das sog. Pareto-Optimum, d.h. die Vorstellung von einer ‚effizienten‘ Ordnung als einer solchen, wo kein Individuum höhere Befridigungsgrade subjektiver Vorlieben erreichen kann, ohne dass dies zu einer Herabsetzung des Befriedigungsniveaus einer anderen Person führt. Wirtschaftliche Verhaltenskodizes und Institutionen können nach einer Vielzahl von Werten neben jenem der Effizienz verglichen werden. Beachtlich sowohl im historischen Zusammenhang, als auch in zeitgenössischen Diskussionen sind die Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Gleichheit. Da ein großer Teil der Wirtschaftswissenschaften im Hinblick auf ihre mögliche Anwendung auf Verhaltenskodizes betrieben wird, spielt die Ethik eine bedeutende Rolle in der Ökonomie. Aus demselben Grunde sind die Wirtschaftswissenschaften sehr wichtig für die Ethik, sowohl wegen ihrer Erforschung der Konsequenzen, als auch wegen der Entwicklung mathematischer und konzeptueller Hilfsmittel. Siehe auch: Marktethik; Spiel- und Entscheidungstheorie DANIEL HAUSMAN, MICHAEL S. MCPHERSON
Wissen und Begründung
Siehe: Erkenntnis und Begründung
Wissen, stillschweigendes
Stillschweigendes Wissen ist eine Form des impliziten Wissens, auf das wir uns sowohl beim Lernen, als auch beim Handeln verlassen. Der Ausdruck stammt aus der Arbeit von Michael Polanyi (1891-1976), dessen Kritik der positivistischen 1918
Wissenschaftliche Methode
Wissenschaftsphilosophie sich schließlich zu einer vollständigen Erkenntnistheorie entwickelte. Polanyi war der Auffassung, dass die ‚wissenschaftliche‘ Darstellung des Wissens als einem vollständig explizit formalisierbaren Korpus von Aussagen kein angemessenes Bild der Entdeckung und des Wachstums zulasse. In seiner Darstellung des stillschweigenden Wissens hat das Wissen eine nicht auszumerzende subjektive Dimension. Wir wissen viel mehr, als wir sagen können. Dieser Begriff des stillschweigenden Wissens in der Wissenschaft wurde von Thomas Kuhn weiter entwickelt, spielte eine prominente Rolle in der theoretischen Linguistik und wurde auch in der Psychologie untersucht. C.F. DELANEY
Wissenschaft und Religion
Siehe: Religion und Wissenschaft
Wissenschaftliche Methode Einführung
Verfahren zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis nennt man ‚wissenschaftliche Methoden‘. Diese Methoden umfassen die Formulierung von Theorien und ihre Überprüfung anhand von Beobachtungen oder Experimenten. Die antiken und mittelalterlichen Denker nannten jeglichen systematisch gewonnen Erkenntnisfundus eine ‚Wissenschaft‘, und ihre Methoden richteten sich auf das Wissen im Allgemeinen. Nach dem gebräuchlichsten Modell wissenschaftlicher Erkenntnis, das von Aristoteles formuliert wurde, ergeben sich aus der Induktion universelle Aussagen, von denen alles Wissen auf einem Gebiet abgeleitet werden kann. Dieses Modell wurde von mittelalterlichen und frühmodernen Denkern verfeinert und im 19. Jahrhundert in England von Whewell und Mill weiter entwickelt. Wie Kuhn beobachtete, müssen idealisierte Darstellung der wissenschaftlichen Methode von den Beschreibungen dessen unterschieden werden, was Wissenschaftler wirklich tun. Die Methoden der sorgfältigen Beobachtung und des Experiments sind seit der Antike in Gebrauch, breiteten sich aber erst ab dem 17. Jahrhundert weiter aus. Die Entwicklung bei der Herstellung von Instrumenten, in der Mathematik und der Statistik, in der Terminologie und in der Kommunikationstechnologie haben die Methoden und die Ergebnisse der Wissenschaft verändert.
1. ‚Methode‘ und ‚Wissenschaft‘ 2. Vorstellungen von Methoden von den Griechen bis Thomas Kuhn 3. Wissenschaftliche Methodik in der wissenschaftlichen Praxis 1. ‚Methode‘ und ‚Wissenschaft‘ Der Ausdruck ‚Methode‘ stammt von dem griechischen Wort meta, dt.: ‚nach‘, plus dem griechischen Ausdruck für ‚Pfad‘ oder ‚Weg‘, hodos. Eine Methode ist folglich ein Weg, um ein Ziel zu erreichen. Eine wissenschaftliche Methode ist ein Weg zur Erreichung wissenschaftlicher Ziele. Welche diese Ziele sind, hängt davon ab, was man für Wissenschaft hält. Das Wort ‚Wissenschaft‘ meint in seiner heutigen Bedeutung vor allem ‚Naturwissenschaft‘, zu denen z.B. die Physik, die Astronomie, die Biologie, die Chemie, die Geologie gehören; es wird im weiteren Sinne aber auch auf die Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften wie z.B. die Psychologie, die Soziologie, die Politik- und Geschichtswissenschaften etc. 1919
Wissenschaftliche Methode
angewandt. Diskussionen der Methode konzentrieren sich auf wissenschaftliche Erkenntnisziele, was die Gewinnung von Wissen, Verständnis, Erklärung oder Prognoseerfolg umfasst, und zwar im Hinblick auf die gesamte Natur oder einen Teil von ihr, oder auf einen Bereich natürlicher oder sozialer Phänomene. Abstrakt beschrieben sind die wissenschaftlichen Methoden die Mittel zur Erreichung dieser Ziele, insbesondere durch Modell- oder Theoriebildung, oder durch Ausformung anderer kognitiver Strukturen sowie deren Überprüfung im Wege der Beobachtung und des Experiments (siehe Experiment; Modelle; Beobachtung; Theorien, wissenschaftliche). Untersuchungen zur wissenschaftlichen Methodik können die Methoden beschreiben, die tatsächlich von Wissenschaftlern angewandt werden, oder sie können Vorschläge zu den Verfahrensweisen liefern, die befolgt werden sollten, um wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen. Die Hauptmerkmale, die traditionell ‚der‘ wissenschaftlichen Methode zugeschrieben werden, einschließlich der klaren Formulierung der Fragestellung, der sorgfältigen Gegenüberstellung von Theorie und Tatsache, der geistigen Offenheit und der (zumindest potenziell) öffentlichen Zugänglichkeit oder Nachvollziehbarkeit ihrer Evidenz, sind vielen Erkenntnisunternehmen gemeinsam, und auch vielen Bemühungen in den sog. Geisteswissenschaften (engl.: ‚humanities‘). Obwohl es keine einzelne Methode gibt, die die Wissenschaft von anderen intellektuellen Vollzügen unterscheidet, sind doch die folgenden Merkmale typisch für die Natur- und Sozialwissenschaften: die Verwendung quantitativer Daten und von Theorien, die mathematisch formuliert sind; der Einsatz von künstlich erzeugten, experimentellen Situationen, und das Interesse an universellen Verallgemeinerungen oder Gesetzen (siehe Abgrenzungsproblem, Das; Einheit der Wissenschaften; Naturgesetze). Man beachte jedoch, dass die biologischen Taxonomien nicht an sich selbst quantitativ sind, und auch die Astronomie und die Wirtschaftswissenschaft basieren hauptsächlich auf dem Experiment. Sowohl in den Natur-, als auch in den Sozialwissenschaften kann die Bildung von Modellen oder Theorien Geschicklichkeit in der mathematischen Berechnung und Ableitung, der Bewertungskonsistenz, der Vorstellung neuer theoretischer Möglichkeiten, der Bewertung von Taxonomiestrukturen oder der Bezugnahme von einem Gebiet auf die Untersuchungen anderer Gebiete voraussetzen. Die Mittel zur Überprüfung von Theorien oder der Erzeugung neuen empirischen Wissens gehen weit auseinander und umfassen die systematische und unsystematische Beobachtung, die Gegenkontrolle anhand von Hintergrundtheorien oder -wissen, sowie verschiedentliche experimentelle Verfahrensweisen, einschließlich der fortgeschrittenen statistischen Techniken, der Konstruktion besonderer Instrumente oder Apparate und des Einsatzes speziell gezüchteter Labortiere. 2. Vorstellungen von Methoden von den Griechen bis Thomas Kuhn Weil die Bezeichnung als ‚wissenschaftlich‘ ursprünglich jeglichen systematisch konstruierten Wissensfundus meinte und damit von der Mathematik bis zur Theologie reichte, war die wissenschaftliche Methode jene zum Erhalt, oder vielleicht auch nur zur Darstellung und Lehre von Wissen ganz im Allgemeinen. Die Methoden variierten im Verhältnis zu den Überzeugungen über das, was man wissen konnte und sollte. Die Schriften von Platon und Aristoteles verkörpern gegensätzliche Konzeptionen sowohl der Gegenstände der Erkenntnisse, als auch der Erkenntnismethode. 1920
Wissenschaftliche Methode
Im ‚Staat‘, 6. Kapitel, teilt Platon die Gegenstände der Erkenntnis in zwei große Bereiche ein, nämlich den sichtbaren und den einsehbaren (‚intelligiblen‘) (siehe Platon, § 14). Ihm zufolge fielen unter die Ersteren die Gegenstände der Sinne, über die nur ein Meinen, aber keine echte Erkenntnis möglich sei, und unter die Letzteren die Geometrie und die Astronomie, in denen die Forscher die Existenz ihrer Gegenstände annehmen, wie z.B. geometrische Gegenstände, und von diesen aus als den Hypothesen schließen. In den höchsten Höhen des intelligiblen Reiches versucht die Vernunft das erste Prinzip von allem, was existiert zu erreichen, von denen es dann „hinabsteigt zu einer Schlussfolgerung […,] indem es über die Formen2 und durch die Formen voranschreitet bis hin zu ihren Schlussfolgerungen, die wiederum Formen sind“, ohne jegliche Bezugnahme zur sichtbaren Welt. Platon dachte sich die wahrnehmbare Welt als einen dämmrigen Widerschein der intelligiblen Formen, und er meinte, dass die Formen selbst am besten durch die direkte intellektuelle Kontemplation zu erfahren seien, unabhängig von der Wahrnehmungserfahrung. Der Begriff einer intelligiblen Welt hinter der Wahrnehmungswelt, und insbesondere einer Welt, die durch die Mathematik beschreibbar ist, spielt seit Platon in den physikalischen Wissenschaften eine wichtige Rolle. Aristoteles lehnte Platons intelligibles Reich der Formen ab, weil es die Gegenstände der mathematischen Wissenschaften, wie z.B. der Astronomie, aus der sensiblen Welt entferne, wo er sie jedoch zu finden meinte. Er führte ausgedehnte biologische Beobachtungen durch (einschließlich Leichensektionen) und entwickelte ein einführendes taxonomisches Schema. Aristoteles’ zentrale Diskussion der wissenschaftlichen Methode findet sich in der ‚Zweiten Analytik‘, einem grundlegenden Werk der Wissenschaftsphilosophie. Er akzeptierte die platonische Unterscheidung zwischen einer Erkenntnisrichtung, die sich ‚zu den Formen hin‘ bewegt, und der Erkenntnisrichtung, wie z.B. in den syllogistischen Beweisen, die ‚von den Formen her‘ voranschreiten. Doch er fasste diese Prozesse als etwas auf, was mit den wahrnehmbaren Gegenständen beginnt und bei der Erkenntnis der allgemeinen Naturen oder Wesenheiten der Dinge als etwas, was in diesen Gegenständen existiert, ankommt. Ein solches Wissen, beispielsweise des Wesens einer besonderen Art von Mineral, oder einer Art von lebendem Ding, ergibt eine Menge von Kernaussagen in jeder Wissenschaft, von denen aus weitere Erkenntnis deduktiv erschlossen werden kann. Die mittelalterlichen Philosophen, einschließlich Roger Bacon, John Duns Scotus und Wilhem von Ockham, kommentierten ausführlich Aristoteles’ methodische Schriften, die später an der Universität von Padua zusammen mit jenen von Galen diskutiert wurden. Ein zentrales Thema war dabei die Unterscheidung zwischen Analyse und Synthese, oder zwischen Auflösung (lat.: resolutio) und ZusammenWas im Deutschen als die platonische ‚Ideenlehre‘ bekannt ist, heißt im Englischen häufig ‚Theory of Forms‘. Da der engl. Ausdruck ‚idea‘ bereits sehr stark von Hume (im Anschluss an Locke) für seine fundamentale Dichtomie von ‚idea‘ (dt.: ‚Vorstellung‘) und ‚impression‘ (dt.: ‚Eindruck‘) in Anspruch genommen wird, bringt die englische Bezeichnung jener platonischen Lehre in dieser Hinsicht eine wichtige terminologische Distanz zum Ausdruck. Darüber hinaus ist der Ausdruck ‚Form‘ aber auch im Deutschen für das, was Platon meinte, sicherlich nicht ferner als dessen Bezeichnung als ‚Idee‘. Der Bezug auf die sog. ‚platonischen Ideen‘ wird deshalb hier durchgängig als ‚platonische Formen‘ etc. übersetzt. Siehe hierzu gleichlautend auch Anm. 1 zum Beitrag Platon. [WS].
2
1921
Wissenschaftliche Methode
setzung (lat.: compositio), wie man dies auch manchmal nannte. In der analytischen Untersuchungsphase löst man den Gegenstand der Untersuchung in seine grundlegenden Bestandteile oder kleinsten Elemente auf, um auf diese Weise seine ersten Prinzipien zu bestimmen. In der synthetischen Untersuchungsphase erklärt man einen Gegenstand aus seinen ersten Prinzipien oder stellt eine Erkenntnisgesamtheit durch Ableitung aus solchen Prinzipien her. In einem üblichen Beispiel umfasst die analytische Phase den Beweis von Theoremen aus den zugrunde liegenden Axiomen und Postulaten, und die synthetische Phase die Demonstration von Theoremen aus diesen Axiomen und Postulaten. Bacon schlägt vor, dass die ersten Prinzipien, die man in der analytischen oder induktiven Phase freilegt, überprüft werden können, indem man die sich daraus neu ergebenden Konsequenzen kontrolliert, was ein Merkmal der ‚hypothetisch-deduktiven‘ Überprüfung von Theorien ist. Scotus skizzierte eine Methode der Zustimmung, in der eine mögliche Ursache für eine Wirkung gefunden wird, indem man die Umstände auflistet, die gemeinsam mit der Wirkung auftreten, und sich dann nach einer solchen umschaut, die bei derselben Ursache immer auftritt. Ockham schlug eine Differenzmethode vor, bei der ein Umstand, der gegeben ist, wenn eine bestimmte Wirkung auftritt, und der abwesend ist, wenn diese Wirkung nicht eintritt, als mögliche Ursache für diese Wirkung zu betrachten sei. Das 17. Jahrhundert als eine Zeit des grundlegenden Wandels in der Physik und der Astronomie erlebte eine fortgesetzte Aufmerksamkeit für die Methodik innerhalb des induktiv-deduktiven Rahmens, der bereits von Aristoteles eingerichtet worden war. Francis Bacon entwarf ganz im Detail induktive Prozeduren und forderte die umfangreiche Sammlung von Daten (was er ‚Geschichten‘ nannte), die daraufhin systematisch nach allgemeinen Prinzipien oder Gesetzen durchgeschaut werden sollten. Galileo drängte darauf, dass mathematische Beschreibungen mittels Beobachtung und Experiment auf natürliche Phänomene angewandet werden sollten (siehe Galilei, G.). Descartes schrieb in seinem ‚Diskurs über die Methode‘ (1637), dass die Ableitung einer Wirkung von einer Ursache als eine Erklärung der Wirkung dienen könne, und darüber hinaus als ein empirischer ‚Beweise‘ der behaupteten Ursache (siehe Descartes, R., § 6). Newton formulierte in seinen ‚Mathematical Principles of Natural Philosophy‘ (1729) zahlreiche ‚Hypothesen‘ oder ‚Regeln‘ des Denkens in der der Naturphilosophie. Er riet den Forschern, einander überlagernde Ursachen in Beziehung auf Wirkungen zu meiden, ferner von den Eigenschaften ausgehend, die man an den irdischen Körpern findet, auf alle Körper des Universums zu verallgemeinern, und die dadurch induktiv gewonnen Aussagen als ‚präzise oder der Wahrheit sehr nahe‘ aufzufassen, bis neue Beobachtungen ihre Genauigkeit verbessern oder ihren Anwendungsbereich beschränken würden (siehe Newton, I.). Während des 19. Jahrhunderts wurde die ‚Wissenschaftsphilosophie‘ oder die ‚Logik der Wissenschaft‘ in den Schriften von William Whewell, John Stuart Mill und anderen zu einem Hauptthema der Philosophie. Whewells ‚Philosophy of the Inductive Sciences‘ (1840) analysiert die wissenschaftliche Erkenntnis der ‚externen‘ Natur (unter Ausschluss des Geistes). Whewell meinte, dass wissenschaftliche Erkenntnis aus den Wahrnehmungen und den Vorstellungen basiere, wobei Erstere das ‚objektive‘ Element seien, weil sie durch Gegenstände verursacht würden, und die Letzteren ein ‚subjektives‘ Elemente, weil sie vom erkennenden Subjekt beigesteuert würden. Bewusst aufgefasste Tatsachen und Theorien entsprechen den 1922
Wissenschaftliche Methode
Wahrnehmungen und Vorstellungen jedoch nicht vollständig, weil alle Tatsachen in sich selbst bereits Vorstellungen enthalten und damit möglicherweise auch ein Stück Theorie. Whewell teilte die Methoden der Wissenschaft in solche der Beobachtung, der Gewinnung deutlicher Vorstellungen und solcher der Induktion ein. Die Beobachtungsmethoden umfassen beinhalten sowohl die Sammlung, als auch die Klassifizierung von Daten. Deutliche Vorstellungen ergeben sich aus der intellektuellen Schulung, und zwar auch in den mathematischen Wissenschaften und der Naturgeschichte, und aus der Diskussion, einschließlich der manchmal metaphysischen Definitionsdiskurse wie z.B., ob eine einförmig wirkende Kraft im freien Fall eines Gegenstandes relativ zur Zeit oder zum Raum definiert werden sollte. Die Wissenschaft schreite durch Induktion voran, einschließlich der Verwendung quantitativer Techniken zur Glättung von Beobachtungsunregelmäßigkeiten – womit er die ‚Kurvenmethode‘ meint, durch die eine Kurve an Datenpunkte angepasst wird, und die ‚Methode der geringsten Eckigkeit‘ – sowie die Bildung und empirische Überprüfung von provisorischen Hypothesen. Zuerst werden gewöhnlich phänomenale Gesetze gebildet. Man wünsche sich jedoch Theorien über die wahren Ursachen, so wie man sie nach Darstellung von Whewell in der physikalischen Astronomie, der physikalischen Optik und der Geologie gefunden habe, und wie man sich noch hinsichtlich der Hitze, des Magnetismus, der Elektrizität, der chemischen Zusammensetzungen und der lebenden Organismen finden würde. In seinem Buch ‚A System of Logic‘ (1843) analysiert Mill die Methoden der Wissenschaft noch vollständiger, als dies bereits Whewell getan hatte, und integriert auch die Psychologie und die Sozialwissenschaften, die auch als ‚geistige‘ oder ‚moralische‘ Wissenschaften bezeichnet werden. In seiner Analyse der experimentellen Methode nahm Mill auch die bereits erwähnten Methoden der Zustimmung und der Differenzbildung auf und fügte die ‚Restbetragsmethode‘ hinzu, die den Forscher dazu führt, auf die bis dahin unbekannten Ursachen solcher Wirkungen zu schauen, die übrig bleiben, wenn alle anderen Wirkungen zu bekannten Ursachen zugeschrieben wurden, sowie die Methode der gleichzeitig auftretenden Änderungen, nach denen solche Phänomene, die in quantitativ regelmäßiger Korrelation sich parallel zu den mutmaßlichen Ursachen verändern. Wie Whewell betonte Mill die Rolle der neuen oder schon zuvor existierenden Begriffe und Namen in der wissenschaftlichen Beobachtung, und die Rolle, die die Klassifizierung in der der Induktion spielt. Er schlug vor, dass die Psychologie und die Sozialwissenschaften die Erklärungsstrukturen der Naturwissenschaften übernehmen sollten, was seitdem häufig kritisiert wurde, vor allem durch die Neukantianer Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert und Ernst Cassirer, die Methoden diskutierten, die den ‚Sozial-‘ oder ‚Humanwissenschaften‘ zugerechnet wurden, und die die Geisteswissenschaften als eine Form von ‚Wissenschaft‘ [im Orig. auch deutsch, WS] betrachteten (siehe Neukantianismus; Positivismus in den Sozialwissenschaften). Die Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Wiener Kreis und Karl Popper, versuchten die Naturwissenschaft zu analysieren und das wissenschaftliche Denken zu rekonstruieren, indem sie die neue symbolische Logik oder die neue Wahrscheinlichkeitstheorie hierzu einsetzten (siehe Wiener Kreis). Sie setzten die Untersuchung der Theoriebestätigung fort und konzentrierten sich auf die neuen physikalischen Theorien (siehe Bestätigungstheorie). Rudolph Carnap versuchte erfolglos, eine quantitative Theorie der Induktion zu entwickeln. 1923
Wissenschaftliche Methode
Carl Hempel, der eine hypothetisch-deduktive Darstellung der wissenschaftlichen Bestätigung favorisierte, was die Überprüfung von Theorien mittels ihrer deduktiven Konsequenzen mit sich brachte, entdeckte gewisse Paradoxa, die sich ergeben, wenn die Beziehung wissenschaftlicher Verallgemeinerung mit ihren Bestätigungsinstanzen in der Prädikatenlogik ausgedrückt werden und dabei gewisse plausible Voraussetzungen zugrunde gelegt werden. Popper schloss, dass das definierende Merkmal der empirischen Methoden der Wissenschaft sei, dass Aussagen immer der Möglichkeit ihrer Falsifikation durch neue Daten unterworfen werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweiterte sich die philosophische Analyse der wissenschaftlichen Methode und umfasste nunmehr auch solche Wissenschaften wie die Biologie und die Geologie, und achtete ferner mehr auf die Wissenschaftsgeschichte. N.R. Hanson rief die oft implizite Rolle der Theorie bei der Beobachtung in Erinnerung und hinterfragte den Begriff einer theorieneutralen Beobachtungssprache (siehe Beobachtung). Thomas S. Kuhn betonte das soziale Wesen der wissenschaftlichen Gemeinschaften und die gemeinsame Ausbildung, die ein gemeinsames Vokabular und eine Menge experimenteller Vorgehensweisen hervorbringt. Kuhn und Paul Feyerabend betonten ferner die Notwendigkeit der Unterscheidung von idealisierten Darstellungen der wissenschaftlichen Methode, wie sie durch einige Wissenschaftler und Philosophen vermittelt wird, von der wirklichen methodischen Praxis der Naturwissenschaftler. Beim Studium der Letzteren ergänzt die historische und soziologische Untersuchung die Vertrautheit der Teilnehmer durch die wissenschaftliche Forschung, die die Wissenschaftler selbst, aber auch einige Philosophen besitzen. 3. Wissenschaftliche Methodik in der wissenschaftlichen Praxis Die Methoden der sorgfältigen Beobachtung und Beschreibung, einschließlich der quantitativen Beschreibung, sowie des kontrollierten Experiments entwickelten sich bereits in der Antike und wurden durch die griechischen, hellenistischen und islamischen Forscher angewandt. Beispiele hierzu liefern die biologischen Beobachtungen von Aristoteles, die zahlreichen griechischen und arabischen (und noch früher babylonischen) Tafeln mit astronomischen Daten, Ptolemäus’ und Alhazens sorgfältige Studien des zweiäugigen Sehens und der Entfernungswahrnehmung, sowie Galens Einsatz der Abbindung separierter tierischer Eingeweide und anderer experimenteller Techniken in der Physiologie. Von der Antike an unterstützten Instrumente die Genauigkeit der Beobachtung in der Astronomie und der Optik. Im frühen 17. Jahrhundert verwandte Johannes Kepler die präzisen astronomischen Daten von Tycho Brahe, die dieser mit verbesserten Instrumenten gewonnen hatte, um die elliptischen Umlaufbahnen der Planeten zu ermitteln und die Beziehungen zwischen den Größen und Perioden dieser Umlaufbahnen zu bestimmen. Im Jahre 1609 nutzte Galilei das kürzlich erfundene Teleskop, um bis dahin ungesehene Himmelskörper zu beobachten, einschließlich der Jupiter-Monde. Später im selben Jahrhundert eröffnete das Mikroskop wiederum neue Beobachtungsmöglichkeiten. Das 19. und 20. Jahrhundert sahen die Entwicklung, Verfeinerung und häufig komplexe Ausstattung mit Instrumenten in allen Bereichen der Naturwissenschaften, einschließlich der Biologie, der Chemie und Psychologie. Diese Entwicklung reichte von verbesserten Waagen über das Rastertunnelmikroskop bis hin zu Weltraumteleskopen. Die Photographie wurde eingesetzt, 1924
Wissenschaftliche Methode
um Daten auf nahezu allen Gebieten zu erfassen. Der Computer erlaubt die Sammlung und Manipulation von größeren Datenmengen, als man je zuvor bearbeiten konnte. In der Psychologie erlaubt der Computer die Erzeugung von kontrollierten Reizen und die Aufzeichnung von Daten mit hoch präziser zeitlicher Messung. Die Entwicklung der Mathematik, einschließlich der Wahrscheinlichkeit und der Statistik, führte zu neuen Formen der Theorieformulierung und zu neuen Beschreibungen von Beschreibungs- oder Experimentaldaten. Die mathematischen Wissenschaften von der Antike bis ins 17. Jahrhundert verwendeten beinahe ausschließlich die Geometrie. Die Entwicklung der algebraischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung ermöglichte im 19. Jahrhundert neue Aussagen zur Newtonschen Mechanik und eröffnete neue Wege zur theoretischen und experimentellen Beschreibung und Erforschung funktionaler Relationen von Größen. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde eine neue Mathematik von der mathematischen Physik gefordert und auch selbst beigesteuert. Dadurch eröffnete die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien bis dahin ungeahnte theoretische Möglichkeiten der physikalischen Kosmologie. Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik erlaubte die Formulierung statistischer Gesetze, wie z.B. in der mathematischen Genetik, der Quantenphysik und der Soziologie (siehe Statistik und Sozialwissenschaften; Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der). Die sog. ‚schließende Statistik‘ ist in der Analyse quantitativer Daten in der Psychologie und in anderen Wissenschaften weit verbreitet. Eine klare und präzise Terminologie ist ein wichtiges Merkmal der wissenschaftlichen Methodik. Die Astronomie, die Optik (als die Wissenschaft vom Sehen), die Naturgeschichte und die Medizin entwickelten schon in der Antike eigene technische Vokabulare. Newton änderte gründlich die Terminologie der Physik, die sich auch weiterhin dem Theoriewandel anpasst. Carl von Linné erfand wichtige Taxonomien in der Botanik und der Zoologie. Nachdem Darwins Theorie der natürlichen Auslese an Zustimmung gewonnen hatte, beeinflusste die biologische Evolutionsgeschichte die biologische Taxonomie (siehe Evolution, Theorie der; Taxonomie). Die Molekularbiologie brachte eine weitere, neue Terminologie hervor. In der Psychologie wurde durch die Behavioristen des 20. Jahrhunderts eine alt eingesessene, mentalistische Terminologie gereinigt (siehe Behaviorismus, methodischer und wissenschaftlicher); sie wurde seitdem nochmals quasi neu eingeführt, teilweise unter dem Einfluss der Computermetapher für geistige Prozesse (siehe Geist, Berechnungstheorien des). Auf ähnliche Weise verwenden die Wirtschaftswissenschaften, die Anthropologie und die Soziologie verfeinerte technische Vokabulare. Man bekommt einen Eindruck von den verschiedentlichen Instrumenten und Techniken der Datensammlung und der Analyse, die heutzutage verwendet werden, wenn man die Materialien, Methoden und Ergebnisberichte in den wissenschaftlichen Journalen liest. Zeitschriften und andere Kommunikationsmittel haben selbst eine methodische Bedeutung. Die verfügbaren Methoden zur Darstellung von Beobachtungsdaten werden radikal durch die Entwicklung der Druckmethoden (sowohl von Text, als auch von Bildern), und nochmals durch die Verbreitung computererzeugter Bilder und der elektronischen Kommunikation verändert. Die Massenproduktion standardisierter Illustrationen und gedruckter Daten erlaubt weltweit die Verbreitung, die Nutzung und daher auch die Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse. 1925
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Die Struktur wissenschaftlicher Forschungsgruppen und ihre Wechselwirkung mit wissenschaftlichen Institutionen, einschließlich des Prozesses zur Entscheidung, ob ein Forschungsvorhaben finanziert oder veröffentlicht werden soll, sind im weiteren Sinne ebenfalls Teil der wissenschaftlichen Methodik. Die methodische Wirksamkeit der Wissenschaft kann auf verschiedenen Skalen bewertet werden, einschließlich der des individuellen Experiments, des einzelnen Forschers, der Laborgruppe oder der institutionellen Strukturen, durch den kollektive Instrumente wie z.B. Teilchenbeschleuniger geführt werden. Darüber hinaus kann man auch die normativen Konsequenzen bei Vorliegen einer relativen Homogenität der methodischen und theoretischen Überzeugungen innerhalb eines aktiven Wissenschaftsbereiches prüfen, im Gegensatz zur beschränkten Wette zwischen unterschiedlichen Methoden und Theorien. Der Student wissenschaftlicher Methodik kann nahezu jeden Aspekt der linguistischen, begrifflichen, psychologischen, instrumentellen, sozialen und institutionellen Kennzeichen der Wissenschaften untersuchen, der deren kognitive Ergebnisse betrifft. Siehe auch: Entdeckung, Logik der; Erklärung; Induktiver Schluss; Objektivität; Schlüsselexperimente Anmerkungen und weitere Lektüre: Hanson, N.R. (1958): ‚Patterns of Discovery‘, Cambridge: Cambridge University Press. (Eine wichtige Studie der grundlegenden Begriffe der Wissenschaften, unter Bezugnahme auf wirkliche historische Fälle.) Kitcher, P. (1993): ‚The Advancement of Science: Science without Legend, Objectivity without Illusions‘. New York und Oxford: Oxford University Press. (Ein fortgeschrittenes Werk der Wissenschaftsphilosophie mit einem Schwerpunkt auf der Methodik.) Losee, J. (1002) ‚Historical Introduction to the Philosophy of Science‘. Oxford: Oxford University Press, 4. Aufl. (Eine Einführung mit Referenzen in viele Themen der Wissenschaftsphilosophie.) GARY HATFIELD
Wissenschaftliche Theorien
Siehe: Theorien, Wissenschaftliche
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus Einführung Traditionell behauptet der wissenschaftliche Realismus, dass der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis unabhängig vom menschlichen Geist oder von Handlungen der Wissenschaftler existiert, und dass wissenschaftliche Theorien von dieser objektiven, geistunabhängigen Welt wahr sind. Die Bezugnahme auf die Erkenntnis weist auf den dualen Charakter des wissenschaftlichen Realismus hin. Auf der einen Seite äußert sich hier eine metaphysische, insbesondere ontologische Doktrin mit der Behauptung der unabhängigen Existenz gewisser Entitäten. Auf der anderen Seite ist es ebenfalls eine erkenntnistheoretische Doktrin, dass wir wissen können, was für Individuen existieren, und dass wir die Wahrheit der Theorien oder Gesetze herausfinden können, von denen sie gesteuert werden. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Realismus (nachfolgend ‚Realismus‘ genannt) steht eine Reihe von Formen des Antirealismus, einschließlich des Phänome1926
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
nalismus und des Empirismus. Kürzlich haben zwei weitere Formen, der Instrumentalismus und der Konstruktivismus, besondere Herausforderungen des Realismus vorgetragen. Der Instrumentalismus betrachtet die Gegenstände des Wissens pragmatisch, d.h. als Werkzeuge der verschiedenen menschlichen Zwecke und betrachtet deshalb eher die Verlässlichkeit bzw. die empirische Angemessenheit als wissenschaftlich zentrales Kriterium, und nicht die Wahrheit. Eine Variante hiervon, der Fiktionalismus, bestreitet die Existenz vieler der Gegenstände, die von den Realisten behauptet werden, und betrachtet sie als Notlösung zur Erreichung nützlicher Ziele. Der Konstruktivismus behauptet, dass wissenschaftliche Erkenntnis sozial zustande kommt, d.h. dass ‚Tatsachen‘ durch uns verfertigt werden. Dies stellt die Objektivität der Erkenntnis in Frage, jedenfalls in dem Sinne, wie die Realisten sie verstehen, und damit die unabhängige Existenz, die der Realismus behauptet. Der Konventionalismus, der meint, dass die Wahrheiten der Wissenschaften letztlich auf von Menschen gemachten Konventionen beruhen, ist ein Verbündeter des Konstruktivismus. Der Realismus und der Antirealismus schlagen miteinander konkurrierende Interpretationen der Wissenschaft als Ganzes vor. Sie unterscheiden sich sogar noch darin, was überhaupt nach Erklärung verlangt, wobei der Realismus den größeren Umfang an zu Erklärendem behauptet. 1. Argumentation für den Realismus 2. Stückweise Realisten 3. Alternativen zum Realismus 4. Die konstruktivistische Herausforderung 1. Argumentation für den Realismus Die Debatten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts über die Wirklichkeit von Molekülen und Atomen polarisierten die wissenschaftliche Gemeinschaft über die Fragen der Wirklichkeit. Antirealisten wie Mach, Duhem und Poincaré, die im Großen und Ganzen die phänomenalistische, die instrumenatlistische und die konventionalistische Position repräsentieren, trugen zunächst den Sieg mit ihrer skeptischen Einstellung gegenüber der Wahrheit der wissenschaftlichen Theorien und der Wirklichkeit der ‚theoretischen Entitäten‘ davon, die von diesen Theorien verwendet werden (siehe Phänomenalismus; Konventionalismus). Geleitet durch den Erfolg der statistischen Mechanik (siehe Thermodynamik) und der Relativität (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der) halfen Planck und Einstein jedoch dabei, das Ruder zugunsten des Realismus umzuwerfen. Diese Bewegung wurde durch zwei Entwicklungen gehemmt. Zum einen geriet die Quantentheorie von 1925/1926 schnell in Schwierigkeiten, was die Möglichkeiten ihrer realistischen Interpretation anbetraf (siehe Quantenmechanik, Interpretation der), und die scientific community wandte sich daraufhin der instrumentalistischen Deutung zu, die von Bohr und Heisenberg unterstützt wurde. Dies war wiederum ein Lehrstück für den logischen Empirismus, dessen großer Respekt vor den Entwicklungen der Physik und ihre positivistische Orientierung sie dazu führte, Fragen der Wirklichkeit als metaphysisch oder als Pseudofragen abzutun. Deshalb stellten empiristische und instrumentalistische Tendenzen in der Wissenschaft und der Philosophie den wissenschaftlichen Realismus eine Zeitlang in den Schatten.
1927
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Dies änderte sich nochmals in den 1960er Jahren, als die Wissenschaften und ihre technologischen Anwendungen zu einem allgegenwärtigen und herrschenden Merkmal der westlichen Kultur wurden. In dieser Situation schlugen Philosophen wie Smart und Putnam etwas vor, was unter dem Titel des ‚Wunder‘-Arguments für den wissenschaftlichen Realismus bekannt wurde. Sie machten geltend, dass, wenn die theoretischen Entitäten, die von den naturwissenschaftlichen Theorien behauptet werden, gar nicht existieren würden, und diese Theorien gleichwohl zumindest ungefähr die Wahrheit über die Welt als Ganzes sagen würden, der evidente Erfolg der Wissenschaften im Hinblick auf ihre Anwendung und ihre Voraussagen allerdings ein Wunder wäre. Es sei leicht einzusehen, zumindest im Nachhinein, dass der größte Teil dessen, was man aus dem wissenschaftlichen Erfolg schließen könne, und wie eindrucksvoll dieser auch immer sei, sich auf dem richtigen Weg befinde. Dies könnte bedeuten, je nachdem, wie man das Argument deutet, dass die Wissenschaft auf dem Weg zu Wahrheit oder auf dem Weg zum empirischen Erfolg ist, letzteres womöglich trotz schwer fehlerhafter Darstellungen der Wirklichkeit. Das ‚Wunder‘Argument ist somit nicht ganz schlüssig. Gleichwohl erschien es vielen Philosophen der beiden folgenden Jahrzehnte als zwingend. Tatsächlich wurde in dieser Zeit der Realismus so stark mit der Naturwissenschaft identifiziert, dass eine Infragestellung des Realismus rasch als antiwissenschaftlich verworfen wurde. Die realistische Orthodoxie fand Unterstützung in Poppers Angriff auf den Instrumentalismus, den er kritisierte, weil er unfähig sei, seine eigene Falsifikationsmethode darzustellen (siehe Popper, K.). In Erweiterung dieser Gedankenfolge entwickelte Boyd eine explanatorische Fassung des ‚Wunder‘-Arguments, das sich auf die wissenschaftlichen Methoden konzentrierte, und er versuchte auch den spezifisch menschlichen (d.h. den konstruktivistischen und den konventionalistischen) Aspekten der Wissenschaft gerecht zu werden, die durch Kuhn und Feyerabend betont worden waren. Boyd fragte, warum von uns erfundene Methoden, die unsere Interessen und Einschränkungen widerspiegelten, zu einer instrumentell erfolgreichen Wissenschaft führen würden. Indem er damit den Realismus dem Empirismus und dem Konstruktivismus gegenüberstellte, kam er zu dem Schluss, dass der Realismus hierfür die beste – und tatsächlich die einzige – Erklärung böte. Dies sei deshalb so, argumentiert er, weil die von uns für die Wissenschaften erzeugten Methoden, wenn wir mit Wahrheiten oder Beinahe-Wahrheiten begännen, noch mehr von derselben Art produzieren würden. Da es einzig der Realismus sei, der die Wahrheit unserer wissenschaftlichen Theorien verlange, gewinne er den Streit, weil er die beste Erklärung für den instrumentellen Erfolg der Wissenschaften böte. Daher sei der Realismus, wie auch die wissenschaftliche Hypothese, sehr wahrscheinlich wahr, und wir sollten ihr Glauben schenken. Dieses explanatorische Argument ist sehr sorgfältig aufgebaut, so dass wir hier nur nach dem instrumentellen Erfolg der Wissenschaft fragen, d.h. nach dem Erfolg auf der Beobachtungsebene. Betrachtet man die Wissenschaft auf der theoretischen Ebene als erfolgreich, weil sie zum Beispiel Wahrheiten produziert, so gerät man in eine petitio principii gegenüber dem Empirismus und dem Instrumentalismus. Ist dies jedoch einmal klar erkannt, so können wir eine bedeutende Lücke in dem Gedankengang erkennen. Dem Argument liegt ein Bild der Wissenschaft als etwas zugrunde, das neue Wahrheiten aus alten Wahrheiten erzeugt; doch die aufgeworfene explanatorische Frage richtet sich nur auf Wahrheiten auf der Ebene der Beobach1928
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
tungen, nicht auf Wahrheiten im Allgemeinen. Die Antirealisten mögen dies als ein unzulässiges Erklärungsansinnen zurückweisen. Wenn sie dies jedoch annehmen, erhalten sie darauf eine klar empiristische oder instrumentalistische Antwort, dass nämlich unsere wissenschaftlichen Methoden deshalb von uns erfunden werden, um die instrumentell verlässliche Information herauszufiltern. Wenn wir mit recht verlässlichen Aussagen beginnen, so werden die von uns verfertigten Methoden noch weitere solche Aussagen erzeugen. Deshalb muss die Erklärung des wissenschaftlichen Erfolges auf der instrumentellen Ebene nichts über die buchstäbliche Wahrheit unserer wissenschaftlichen Prinzipien oder Theorien sagen, sondern nur über ihre instrumentelle Verlässlichkeit. Dieser Gedankengang wandelt das Argument für den Realismus als die beste Erklärung des wissenschaftlichen Erfolges ganz freundlich in ein Argument zugunsten des Instrumentalismus um. Es gibt aber noch ein weiteres Problem mit der explanatorischen Taktik, und zwar eines, das vielleicht noch ernster ist. Die Schlussfolgerung zur Unterstützung des Realismus hängt vom Schluss auf die beste Erklärung ab (siehe Schluss auf die beste Erklärung). Das Prinzip, dasjenige als wahr zu betrachten, was etwas anderes am besten erklärt, wird vom Antirealismus jedoch bestritten, insbesondere von den Instrumentalisten und den Empiristen. Van Fraassen betrachtet beispielsweise eine ‚beste Erklärung‘ als eine Eigenschaft, die von der Wahrheit zu unterscheiden ist. Er erinnert uns daran, dass die beste Erklärung immer noch die beste aus einer Menge sehr schlechter sein kann. Obwohl dies nicht erforderlich ist, könnte es zum Beispiel ein instrumentalistisches Schlussprinzip auf die beste Erklärung geben. Dies würde nicht auf die Wahrheit der Erklärung schließen, sondern auf ihre instrumentelle Verlässlichkeit oder empirische Entsprechung; dies entspricht genau der Strategie, die oben verfolgt wurde, als wir den Instrumentalismus aus dem instrumentellen Erfolg der Wissenschaften erschlossen. Daher verwendet das explanatorische Argument ein spezifisch realistisches Schlussprinzip auf die beste Erklärung, und indem es so verfährt, gerät es in eine petitio principii über die Wahrheit im Verhältnis zur Verlässlichkeit, die eine der zentralen Fragen zwischen dem Realismus und dem Antirealismus ist. 2. Stückweise Realisten Der ‚Schluss auf die beste Erklärung‘ versprach eine vollkommen zwingende Version des ‚Wunder‘-Arguments. Sein Scheitern bewirkte nunmehr den eiligen Rückzug der Realisten aus ihrem ursprünglichen Selbstverständnis als Vertreter einer globalen Interpretation der Wissenschaften. Dieser Rückzug unterstützte zwei weitere antirealistische Entwicklungen. Die eine davon war der pessimistische Metainduktionsschluss auf die Instabilität der gegenwärtigen Wissenschaften, der auf der historisch wiederholten Revision wissenschaftlicher Theorien und den daraufhin folgenden, dramatischen ontologischen Änderungen aufsetzte. Die andere dieser Entwicklungen war eine Verschärfung der Unterbestimmtheitsthese, die an Poincaré und Duhem anschloss und besagte, dass es empirisch äquivalente Theorien geben mag, zwischen denen sich auf der Grundlage von Evidenzen keine Entscheidung treffen lässt (siehe Unterbestimmtheit). Beide Entwicklungen tendierten dazu, die Wirklichkeitsansprüche hinsichtlich der Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung, sowie die Wahrheiten der wissenschaftlichen Theorien zu untergraben.
1929
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
Beim Nachsinnen über eine Rettungsstrategie schlugen einige Philosophen vor, der Realismus könne sich darauf zurückziehen, eine Lehre von der unabhängigen Existenz theoretischer Entitäten zu sein (sog. ‚Entitätenrealismus‘), ohne sich dabei an die Wahrheit der Theorien zu binden, die diese Entitäten verwenden. Hacking schlug in diesem Zusammenhang ein ‚experimentelles Argument‘ für diesen Entitätenrealismus vor. Dieses besagt zusammengefasst, dass Entitäten, wenn man sie experimentell zur Entdeckung neuer Merkmale der Natur verwenden könne, beispielsweise eine ‚Elektronenkanone‘ zur Erforschung von Quarks, diese Entitäten auch wirklich seien, unabhängig davon, ob die Theorien, die auf sie Bezug nehmen, wahr seien (siehe Experiment). Cartwright schlug vor, dass die Schlussstrategie auf die beste Erklärung auf einen Schluss auf die Ursachen von Phänomenen beschränkt werden sollte, denn die Ursachen seien fraglos wahr. Dem Antirealisten erscheinen diese aufeinander bezogenen Strategien jedoch alles andere als zwingend. Denn einerseits sei nicht klar, dass man theoretische Entitäten präzise von ihren umhüllenden Theorien trennen könne. Ferner aber können wir in beiden Fällen sehen, dass die Grundlage, auf der man die realistische Schlussfolgerung ziehen soll, höchstens einer Unterstützung in Form eines Schlusses über die Nützlichkeit oder Verlässlichkeit bedarf. In Hackings Fall muss man nur schließen, dass die Elektronen ein nützliches theoretisches Konstrukt sind (womöglich eine nützliche Fiktion?), während in Cartwrights Fall der Schluss erforderlich ist, dass gewisse kausale Hypothesen in gewissen Bereichen verlässlich seien. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hat sich das Lager der Realisten noch weiter zersplittert. Manchmal nimmt der Realismus dort eine historizistische Wendung und kontert den pessimistischen Metainduktionsschluss durch die Anerkennung der Wirklichkeit nur bei solchen fruchtbaren Entitäten, die ‚wissenschaftliche Revolutionen‘ überleben. Dann wieder wird der Realismus auf andere Weise hoch selektiv. Achtet man beispielsweise nur auf das, was in spezifischen Fällen des explanatorischen oder prognostischen Erfolgs wesentlich erscheint, oder auf Entitäten, die dadurch herausragen, dass sie nur von der allerbesten wissenschaftlichen Evidenz gedeckt sind. Obwohl jedes dieser Prinzipien wissenschaftlich bedeutsame Gegenstände ermittelt, ist nicht klar, dass solche Kriterien die allgemeinen Strategien zu überwinden vermögen, die die umfassenden realistischen Argumente ausgehebelt haben. Insbesondere scheinen sie nicht wirksam zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was lediglich nützlich ist zu unterschieden, und damit auch nicht zwischen Realismus und Instrumentalismus. 3. Alternativen zum Realismus Zum Realismus wurden im Verlauf dieser Debatten zahlreiche Alternativen entwickelt. Unter diesen ragen Putnams ‚interner Realismus‘ (siehe Putnam, H.), van Fraassens ‚konstruktiver Empirismus‘ und das, was Fine ‚die natürliche ontologische Einstellung‘ oder (engl.: ‚natural ontological attitude‘, kurz: NOA) nennt, heraus. In einer chamäleonartigen Denkbewegung wechselte Putnam von der Rolle eines Realismus-Verfechters zum Kritiker dieser Position. Indem er das ablehnte, was er ‚metaphysischen Realismus‘ nannte (den er mit der ‚Perspektive des göttlichen Auges‘ verband), schlug Putnam eine perspektivische Position vor, aus der heraus die Wahrheit nur relativ zur Sprache oder zu einem begrifflichen Schema gegeben sei. Damit konnte er es zulassen, dass wissenschaftliche Behauptungen in 1930
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
ihrem eigenen Geltungsbereich wahr seien, und gleichzeitig bestreiten, dass sie uns ‚die ganze Wahrheit‘ erzählen, ja nicht einmal, dass es überhaupt eine ‚ganze Wahrheit zu erzählen gebe. Sein Bild ging dahin, dass es auch andere Wahrheiten geben könne, unterschiedliche Geschichten über die Welt, von denen jede zu Recht für wahr genommen werden könne. Van Fraassens konstruktiver Empirismus vermeidet die Überzeugung zugunsten dessen, was er eine ‚Bindung‘ (engl.: ‚commitment‘) nennt. Er fasst die Unterscheidungsmerkmale des Realismus als zwiefältig auf: der Realismus sucht die Wahrheit als ein Ziel, und wenn ein Realist eine Theorie akzeptiert, dann akzeptiert er sie als wahr. Der konstruktive Empirismus versteht die empirische Entsprechung (nicht die Wahrheit) als das Ziel der Wissenschaft, und wenn er eine Theorie akzeptiert, dann im Sinne dieser empirischen Entsprechung. Die bindet seine Anhänger jedoch an eine Arbeitsweise innerhalb des Theorierahmens, ohne dabei an seine buchstäbliche Wahrheit zu glauben. Anders als die soeben genannten Theorien ist Fines NOA kein allgemeines Interpretationsschema, sondern schlicht eine Haltung, die man gegenüber der Wissenschaft einnehmen kann. Diese Haltung ist minimal, deflationär und ausdrücklich lokal beschränkt. Sie ist kritisch positiv, achtet sorgfältig auf einzelne wissenschaftliche Behauptungen und Verfahrensweisen, und warnt uns, der Wissenschaft keine allgemein-interpretierende Aufgaben anzuhängen. Deshalb lehnt die NOA es ab, der Wissenschaft als Ganzer Ziele vorzuschreiben, wie dies die Realisten und die konstruktiven Empiristen tun. Die NOA akzeptiert den Ausdruck ‚Wahrheit‘ als semantisch einfach, lehnt aber jegliche allgemeine Theorie oder Interpretation der wissenschaftlichen Wahrheit ab, einschließlich des Perspektivismus, der ein Merkmal des internen Realismus ist, und der Korrespondenz mit der externen Welt, die ein Merkmal des Realismus insgesamt ist. Die NOA sollte man vielleicht eher als Nichtrealismus, denn als Antirealismus bezeichnen. Es ist interessant herauszuarbeiten, wie diese Positionen auf die Wendung von der ‚guten Wissenschaft‘3 reagieren. Der Realismus akzeptiert die ‚gute Wissenschaft‘ als wahr im Hinblick auf eine beobachterunabhängige Welt. Der interne Realismus akzeptiert sie als wahr relativ zu unserem Schema der Dinge. Der konstruktive Empirismus akzeptiert sie nur, wenn sie empirisch korrekt ist. Die NOA akzeptiert sie schlicht. Dies bringt zwei bedeutsame Merkmale der aktuellen Debatte zum Thema ans Licht. Das eine ist, dass es hier mehr um die Reichweite der Evidenz (welche Art von Akzeptanz berechtigt ist) geht, als um den metaphysischen Charakter der fraglichen Gegenstände. Der betreffende Unterschied zeigt auch, dass größere Herausforderer, seien sie Realisten oder nicht, eine gemeinsame positive Grundhaltung gegenüber de Wissenschaft teilen. Dies war nicht immer anerkannt, und ein Verdacht aufs Gegenteil haftet immer noch dem Konstruktivismus am, der häufig als antiwissenschaftlich betrachtet wird. Die Bezeichnung ‚gute Wissenschaft‘ (engl.: ‚good science‘) ist im Deutschen unüblich. Sie meint im Englischen eine informelle, allgemeine Zusammenfassung dessen, was man unter guter wissenschaftlicher Arbeit versteht, ungefähr so, wie man im Deutschen von ‚guter Arbeit‘ spricht. Dazu gehören häufig Zuschreibungen wie: ‚Wissenschaftliche Ergebnisse müssen intersubjektiv nachvollziehbar sein‘; ‚Die wissenschaftliche Arbeit hat nach Regeln zu erfolgen‘; ‚In der Wissenschaft gehen die Tatsachen den Meinungen vor‘ etc. Es handelt sich dabei also eher um Ehrenregeln oder einen informellen Berufsethos. [WS]
3
1931
Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus
4. Die konstruktivistische Herausforderung Die zeitgenössischen Entwicklungen in der Geschichte und der Soziologie der Wissenschaften haben auch konstruktivistische Ansätze wieder belebt (siehe Konstruktivismus). Mit dem Instrumentalismus und anderen Formen des Pragmatismus teilt er eine Begeisterung für die Wissenschaft als einer Tätigkeit. Der Konstruktivismus borgte sich aus dem marxistischen Vokabular den Begriff der ‚Produktion‘ von Ideen, um die Wissenschaft damit unter den ‚produzierenden‘, d.h. quasi-industriellen Institutionen einordnen zu können. Insbesondere produziere die Wissenschaft Erkenntnis, was die Erzeugung von Begriffen und Theorien einschließe, zusammen mit Dingen und sogar Tatsachen. Der Konstruktivismus betont auch, dass die Wissenschaft ein Unternehmen mit offenem Ende sei. Er hebt die Rolle des ungezwungenen Urteils in der wissenschaftlichen Praxis hervor, fordert das Bild einer ‚strikt wissenschaftlichen Methode‘ und jenes der Entscheidungsfindung, die auf Schritt und Tritt von der Vernunft erzwungen wird. Das Fazit hieraus lautet, die Wissenschaft als eine Form der menschlichen Beschäftigung wie andere auch zu sehen; die Menschen würden das Ihrige tun, so gut sie es könnten. Viele betrachten diese Einordnung der Wissenschaft jedoch eher als ihre Ausmusterung, weil sie hierdurch von ihrer privilegierten Stellung als das Paradigma der rationalen und objektiven Untersuchung zurückgesetzt wird. Die Betonung auf der menschlichen Konstruktion mag die Geistabhängigkeit in Frage stellen, die das Kennzeichen der realistischen Metaphysik ist. Die entsprechenden Rollen der sozialen Ordnung und der Natur bei der Gestaltung dieser Konstruktionen werden von den Konstruktivisten jedoch nicht einheitlich gesehen. Das eine Ende von ihnen reicht bis zum starken Idealismus (siehe Idealismus), und der andere Pol liegt beim pragmatischen Realismus. Trotz dieser Differenzen stellt der Konstruktivismus die einzigartige Position in Frage, die der Realismus hinsichtlich der fortlaufenden wissenschaftlichen Bemühungen für sich selbst in Anspruch nimmt. Wenn wir über die relativ raffinierten Argumente für den Realismus hinausschauen, die wir weiter oben durchgingen, ist vielleicht das, was am Realismus am meisten unsere Aufmerksamkeit beansprucht, sein Anspruch, die einzig gangbare Grundlage zum Verständnis der wissenschaftlichen Praxis zu liefern. Wir erfahren, dass wir, solange wir die Wissenschaftler nicht als Menschen verstehen, die sich nicht etwa um Erkenntnisse in einer selbst gemachten Welt bemühen, wir auch nicht verstehen können, wie Wissenschaft eigentlich vor sich geht. Genau hier setzt die große konstruktivistische Herausforderung an. Der Kern des Konstruktivismus besteht aus sehr ins Einzelne gehenden Studien der ‚Wissenschaft in Aktion‘. Diese Studien entwerfen ein Verständnis der Wissenschaft, wie sie wirklich vorgeht, während sie die Wahrheitsansprüche des Wissenschaftsbereiches, den sie untersucht, in Klammern setzt. Stattdessen wenden Konstruktivisten typischerweise wenig mehr als Alltagspsychologie und einen Alltagspragmatismus im Hinblick auf die gewöhnlichen Erfahrungsgegenstände an. In dem Umfange, wie diese Studien erfolgreich sind, zeichnen sie ein Bild der Wissenschaft, dass nicht nur die Argumente, sondern auch die Intuitionen zu untergraben vermag, auf denen der wissenschaftliche Realismus beruht. Siehe auch: Dewey, J.; Empirismus; Pragmatismus; Realismus und Antirealismus; Theorien, Wissenschaftliche
1932
Wissenschaftsphilosophie
Anmerkungen und weitere Lektüre: Papineau, D. (Hrg.) (1996): ‚The Philosophy of Science‘. Oxford: Oxford University Press. (Aufsätze von führenden Diskussionsteilnehmern, die viele der Themen aus den obigen §§ 2 und 3 berühren.) ARTHUR FINE
Wissenschaftsphilosophie4 Einführung und historischer Hintergrund Die Wissenschaft hat sich aus der Philosophie heraus entwickelt. Doch selbst nachdem sich erkennbare, wenn auch noch biegsame, interdisziplinäre Grenzen entwickelt hatten, wurden die fruchtbarsten philosophischen Untersuchungen häufig in enger Verbindung zur Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Fortschritt unternommen. Die großen neuzeitlichen Erneuerer, wie Bacon, Descartes, Leibniz, Locke und andere, wurden alle im Kern ihres Denkens durch die Wissenschaft ihrer Zeit beeinflusst und trugen in einigen Fällen auch selbst Bedeutendes zu ihr bei. Kants grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem wurde durch einen Erfolg der Wissenschaft hervorgebracht: wir haben gewisse Erkenntnisse erlangt, und zwar sowohl in der Mathematik, als auch – hauptsächlich durch Newton – in der Naturwissenschaft; wie war dies möglich? Es überrascht nicht, dass viele Denker, die hauptsächlich als große Naturwissenschafter betrachtet werden, aufregende und tiefgreifende Einsichten bei der Verfolgung wissenschaftlicher Ziele und unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Erlangung wiederum wissenschaftlicher Erkenntnis hatten. Man kann sich nur wundern, warum in Kursen über die Geschichte der modernen Philosophie nicht auch die erkenntnistheoretischen Ansichten beispielsweise von Galileo und Newton zusammen mit denen von Bacon und Locke gelehrt werden. Hierzu ließe sich gewiss sehr überzeugend vorbringen, dass die ersten beiden mindestens genauso viel Einsicht in die Ziele und Methoden der Wissenschaft hatten, und auch darin, wie wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen und nachgewiesen wird, wie die letzten beiden (siehe Boyle, R.; Copernicus, N.; Galilei, G.; Kepler, J.; Newton, I.). Im 19. Jahrhundert hatten Maxwell, Hertz und Helmholtz interessante Ansichten über die Erklärung und die Grundlegung der Naturwissenschaften, während Poincaré, der zweifellos einer der größten Mathematiker und mathematischen Physiker war, wahrscheinlich auch zu den größten Wissenschaftsphilosophen zu rechnen ist. Letzter entwickelte wichtige und einflussreiche Auffassungen unter anderem über das Wesen der Theorien und der Hypothesen, der Erklärung und der Rolle der Wahrscheinlichkeitstheorie sowohl innerhalb der Wissenschaft, als auch als Darstellung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt (siehe auch Duhem, P.M.M.). 4 Der englische Ausdruck science hat die allgemeine Bedeutung von ‚Wissenschaft‘ und die spezielle Bedeutung von ‚Naturwissenschaft‘. Letztere Bedeutung kommt häufig dann zum Zuge, wenn der Ausdruck science vergleichend oder gegenüberstellend, z.B. im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften oder der Philosophie, verwendet wird. Dies ist im vorliegenden Beitrag in besonderem Maße der Fall, weshalb science hier, wenn nicht aus stilistischen Gründen verzichtbar, immer mit ‚Naturwissenschaft‘ übersetzt wird. Lediglich der zusammengesetzte engl. Ausdruck philosophy of science sperrt sich gegen seine eigentlich korrekte Übersetzung als ‚Naturwissenschaftsphilosophie‘, weil dies unüblich ist, sondern wird hier einheitlich als ‚Wissenschaftsphilosophie‘ übersetzt. [WS]
1933
Wissenschaftsphilosophie
Über die Epoche von den 1920er bis zu den 1950er Jahren wird manchmal gesagt, sie habe eine Bewegung hervorgebracht, die sich mehr um allgemein-formale Fragen auf Kosten der Einzelheiten des wissenschaftlichen Prozesses bemühte (siehe Logischer Positivismus). Während dies etwas übertrieben wurde – z.B. zeigen Carnap, Hempel, Popper und besonders Reichenbach allesamt ein sehr entwickeltes Bewusstsein für einen ganzen Bereich von Einzelfragen der zeitgenössischen Naturwissenschaften (siehe auch Operationalismus) – besteht doch kein Zweifel, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit in der Wissenschaftsphilosophie wieder den Einzelheiten der Naturwissenschaften zugewandt hat, und im Falle der ‚nachpositivistischen‘ Philosophen wie Hanson, Feyerabend, Kuhn, Lakatos und anderen speziell auch ihrer historischen Entwicklung. Die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie hat diese große Tradition aufgegriffen und behandelt viele der inzwischen allgemein anerkannten philosophischen Fragen z.B. über die Erkenntnis, das Wesen der Wirklichkeit, den Determinismus und den Indeterminismus etc. nunmehr durch eine den Naturwissenschaften sehr nahe Aufmerksamkeit sowohl als ein Beispiel von Erkenntnis, als auch als eine Quelle wahrscheinlicher Information über die Welt. Dies bedeutet, dass es unvermeidlich zu häufigen Überlappungen mit anderen Bereichen der Philosophie kommt, vor allem mit der Erkenntnistheorie (die Theorie des naturwissenschaftlichen Erkennens ist natürlich eine zentrale Frage der Wissenschaftstheorie) und der Metaphysik (die die Wissenschaftsphilosophen als eine angeblich apriorische Disziplin oft meiden, sie aber begrüßen, wenn man sich ihr im Zuge einer Untersuchung dessen nähert, was die gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorie und Praktiken eigentlich über die wahrscheinliche Struktur des Universums sagen wollen). Tatsächlich besteht eine sinnvolle Gliederung des Gegenstandes der Wissenschaftstheorie darin, die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie und das, was man die naturwissenschaftliche Metaphysik nennen könnte, als die beiden Hauptäste dieses Forschungsgebietes zu bezeichnen, wobei diese beiden Äste umgekehrt gemeinsam das bilden, was man eine ‚Allgemeine Wissenschaftstheorie‘ nennen könnte. Ein dritter Bereich bestünde dann aus detaillierteren, spezifischen Untersuchungen von grundlegenden Fragen zu bestimmten wissenschaftlichen Gebiete oder bestimmten wissenschaftlichen Theorien; spezielle, wenn auch keineswegs ausschließliche Aufmerksamkeit wurde hier in der jüngeren Vergangenheit den Grundlagen und der Interpretation der Quantentheorie und der Darwinschen Evolutionstheorie zuteil. Es ist wiederum nicht überraschend, dass wichtige Beiträge zu diesem dritten Teilbereich von Naturwissenschaftlern selbst geleistet wurden, die sorgfältig und unter Infragestellung ihres eigenen Werks und dessen Grundlagen darüber nachdachten (siehe Bohr, N.; Darwin, C.R.; Einstein, A.), aber auch durch jene, die im üblichen Sinne mehr als Philosophen betrachtet werden. 1. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: die Theorie der naturwissen schaftlichen Erkenntnis 2. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: ‚Naturwissenschaftliche Metaphysik‘ 3. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: Letztbegründungsfragen der zeitgenössischen Naturwissenschaft
1934
Wissenschaftsphilosophie
1. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: die Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis Naturwissenschaftler entwerfen Theorien und bewerten diese Theorien im Lichte von Beobachtungs- und insbesondere experimenteller Evidenz. Die Naturwissenschaft hebt sich durch die sorgfältige und systematische Art und Weise ab, durch die Evidenzbehauptungen begründet werden (siehe Wissenschaftliche Methode). Diese einfachen Behauptungen, die, so meine ich, universelle Zustimmung erhalten würden, bergen jedoch eine Reihe komplexer Fragen. Zunächst die Fragen betreffend die Theorien: wie genau werden diese am besten dargestellt? Werden Newtons Gravitationstheorie oder die neodarwinistische Evolutionstheorie oder die allgemeine Relativitätstheorie am besten – wie die logischen Positivisten wie z.B. Carnap meinten – als Mengen von zumindest potenziell formal axiomatisierten Sätzen dargestellt, die mit ihrer Beobachtungsgrundlage durch gewisse Korrespondenzregeln verknüpft sind? Oder werden sie, wie einige jüngere ‚Semantiker‘ meinten, am besten als eine Menge von Modellen dargestellt (siehe Modelle; Theorien, wissenschaftliche)? Ist dies lediglich eine Darstellungsfrage, oder hat der Unterschied zwischen den beiden Herangehensweisen eine wissenschaftliche und philosophische Bedeutung? Diese Frage bringt auch jene weitere nach der in steigendem Maße anerkannten Rolle der Idealisierungen in der Wissenschaft und der Rolle von Modellen als Vermittlern zwischen der Grundlagentheorie und den empirischen Gesetzen mit sich (siehe Campbell, N.R.; Idealisierung). Sie steht ferner zu der wichtigen Frage in Beziehung, wie man den Zustand eines wissenschaftlichen Wissensgebietes zu einem bestimmten Zeitpunkt am besten auffassen soll: soll man sich einen Wissenschaftler am besten als jemanden vorstellen, der auf die eine oder andere Weise eine einzelne Theorie oder eine Menge solcher Theorien vertritt, oder eher als jemanden, der mehr einer Art allgemeinerer und hierarchisch organisierter Menge von Annahme und Techniken nach Art der Kuhnschen Paradigmen oder den Lakatosschen Forschungsprogrammen anhängt? Es ist wahrscheinlich, dass die Gewinnung einer richtigen Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung, und speziell der Darstellung eines Theoriewandels in der Naturwissenschaft davon abhängt, dass man die ‚richtige‘ Darstellung der Theorie selbst ausmacht. Die nächste Fragengruppe betrifft die Evidenz: es war lange anerkannt, dass viele der Aussagen, die Naturwissenschaftler zur eigenen Zufriedenheit als ‚Beobachtungssätze‘ betrachteten, in Wirklichkeit eine gewisse Menge an Theorie bereits voraussetzen, und dass alle Beobachtungssätze, außer vielleicht jene der rein subjektiven Berichte über eine gegenwärtige Introspektion, von irgendeiner minimalen Theorie abhängen; selbst noch der Satz: ‚Die Nadel zeigt auf der Skala ungefähr auf die Zahl 5‘ setzt voraus, dass die Nadel und die Skala unabhängig vom Beobachter existieren, und dass ihr Wahrnehmung durch den Beobachter nicht systematisch durch einen kartesischen Dämon in die Irre geführt wird. Bedeutet dies, dass es keine wirkliche erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Beobachtungs- und theoretischen Behauptungen gibt? Bedeutet es gar, dass es keine sichere Grundlage oder Grundlegung der Naturwissenschaften in der Form von Beobachtungs- und experimentellen Ergebnissen gibt (siehe Beobachtung)? Wenn dies der Fall ist, was wird dann aus der ganzen empiristischen Idee einer Grundlegung der naturwissenschaftlichen Theorien auf der Evidenz? Es ließe sich einwenden, dass jene, die aus 1935
Wissenschaftsphilosophie
diesen Überlegungen schreckliche Konsequenzen gezogen haben, indem sie die Falsifizierbarkeit mit der ernsthaften Korrigierbarkeit verwechselten, d.h. dass es Beobachtungssätze wie z.B. Berichte über Längenablesungen und Ähnlichem auf einem ausreichend niedrigen Niveau gebe, die nach ihrer unabhängigen und intersubjektiven Bestätigung als nicht mehr ernsthaft korrigierbar gelten sollten, selbst wenn sie im strikten Sinne des Worten natürlich immer noch fehlbar seien (siehe Masstheorie). Abgesehen von dieser Frage wurde das Experiment für lange Zeit als etwas betrachtet, was kaum irgendein unabhängiges, sei es philosophisches oder methodisches Interesse auf sich zog, denn Experimente stellte man sich als weitestgehend sehr einfache Mittel zum Ausprobieren von Theorien vor (siehe Exeriment). In jüngerer Zeit jedoch lernte man den Umfang, in dem die experimentelle Wissenschaft ihr eigenes Leben führt, das unabhängig von fundamentalen Theorien ist, mehr schätzen, und ebenso den Umfang, in dem philosophische Fragen der Überprüfung, des Realismus, der Unterbestimmung etc. durch das Studium von Experimenten erhellt werden können. Angenommen, wir beschreiben wissenschaftliche Theorien und ziehen eine unterscheidende Linie zwischen theoretischen und Beobachtungssätzen darüber, wie im Einzelnen die ‚systematische und sorgfältige‘ Begründung theoretischer Behauptungen aus der Wahrnehmungsevidenz vor sich geht. Diese Frage ist vielleicht überhaupt das zentrale Anliegen der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Wir wissen zumindest seit David Hume, dass die Antwort hierauf nicht lauten kann, dass die richtigen Theorien aus Beobachtungsergebnissen ableitbar seien. Tatsächlich verallgemeinern unsere Theorien nicht nur die unvermeidlich endlichen Daten, worauf Hume hinwies, sondern sie ‚transzendieren‘ (‚überschreiten‘) diese Daten auch, indem sie sie als zugrunde liegende, aber nicht beobachtbare theoretische Entitäten erklären. Dies bedeutet, dass es grundsätzlich immer unendlich viele Theorien geben muss, die miteinander auf der theoretischen Ebene unvereinbar sind, sich aber allesamt auf dieselben Beobachtungsergebnisse beziehen (siehe Unterbestimmtheit). Welche weiteren Faktoren sind nun aber über den einfachen Besitz richtiger Beobachtungskonsequenzen hinaus erforderlich? Welche Rollen spielen solche Faktoren wie die Einfachheit (siehe Einfachheit) und die Erklärungskraft (siehe Erklärung) bei der Glaubhaftmachung von Theorien auf der Grundlage von Evidenzen? Ferner, welchen Status haben diese Faktoren: sind sie rein pragmatische Merkmale, die wir gerne in Theorien sehen, oder sind sie wahrheitsbedeutsam, und in diesem Falle: wieso? Einige Beteiligte machten geltend, dass der gesamte Prozess wahrscheinlichkeitstheoretisch dargestellt werden könne, wobei die Theorien, die wir infolge von Evidenzen als anerkannt betrachten, diejenigen sind, die in Ansehung dieser Evidenz in jedem Falle wahrscheinlicher sind als alle ihrer Konkurrenten (siehe Bestätigungstheorie; Induktionsschluss). Abschließend nehme man an, wir hätten tatsächlich den richtigen wissenschaftlichen Weg des Schlusses von der Evidenz auf die Theorien gefunden. Was sagt uns dies über die Theorie, die damit durch eine Evidenz ‚glaubhaft‘ geworden sind? Und was sagt uns das über die Entitäten wie z.B. Elektronen, Quarks etc., die offenkundig durch solche Theorien postuliert werden? Ist es vernünftig zu glauben, dass diese glaubhaft gemachten Theorien wahre Beschreibungen einer zugrunde liegenden Wirklichkeit sind, d.h. dass ihre theoretischen Ausdrücke sich auf wirkliche, wenn auch unbeobachtbare Entitäten beziehen? Oder dass es vernünftig wäre zu glauben, 1936
Wissenschaftsphilosophie
dass sie zumindest wahrscheinlich wahr seien? Oder vielleicht nur wahrscheinlich ungefähr wahr? Noch deutlicher gesagt: ist irgendeine dieser Überzeugungen die einzige rationale? Oder ist es stattdessen eher oder zumindest gleich rational, d.h. zumindest auf der wissenschaftlichen Ebene gleichermaßen erklärungsstark, zu behaupten, dass diese ‚glaubhaft gemachten‘ Theorien nicht mehr als empirisch angemessen seien, oder dass sie gar nur einfache Voraussageinstrumente sind, und dass die theoretischen ‚Entitäten‘, die dort behauptet werden, nicht mehr als bequeme Fiktionen sind (siehe Inkommensurabilität; Konventionalismus; Putnam, H.; Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus)? Ein größeres Problem, dem sich die Realisten ausgesetzt sehen, ist die Entwicklung einer plausiblen Antwort auf einstmals akzeptierte Theorie, die nunmehr abgelehnt werden, entweder weil sie auf irgendeine Weise unreif waren, d.h. nicht im Vollsinne des Wortes wirklich ‚wissenschaftlich‘, oder dass sie, obwohl sie abgelehnt wurden, trotzdem immer noch als ‚Grenzfälle‘ weiterleben (siehe Alchemie; Vitalismus). Eine deutlich antirealistische Sichtweise der Theorien würde sich ergeben, wenn man überzeugend darlegen könnte, dass die Glaubhaftmachung von naturwissenschaftlichen Theorien nicht einfach eine Funktion evidenter und anderer wahrheitsrelevanter Faktoren oder sogar erkenntnispragmatischer Faktoren ist, sondern auch weiterer kultureller und sozialer Umstände. Obwohl solche Argumente in steigendem Umfange zu hören sind, lassen sich viele davon nicht überzeugen und sehen solche Argumente als etwas, was entweder auf einer Verwechslung von Entdeckungs- und Validierungsfragen, oder auf einer reichlich naiven Sichtweise der empirischen Evidenz beruhe (siehe Entdeckung, Logik der; Konstruktivismus). 2. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: ‚Naturwissenschaftliche Metaphysik‘ Angenommen, wir nehmen eine vage realistische Auffassung gegenüber der zeitgenössischen Naturwissenschaft ein. Was sagt uns dies über die allgemeine Struktur der Wirklichkeit? Erfordert eine sensible Auslegung der Naturwissenschaft beispielsweise das ‚Postulat natürlicher Arten‘ (siehe Natürliche Arten) oder von Universalien? Erfordert es das Postulat eines Begriffs der physikalischen Notwendigen einer Unterscheidung von Naturgesetzen und bloßen ‚Regularitäten‘ (siehe Naturgesetze)? Was ist das Wesen der Wahrscheinlichkeit (siehe Wahrscheinlichkeit, Interpretationen der): Ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage unabänderlich ein Ausdruck (teilweisen) Unwissens, oder gibt es wirkliche, irreduzible und ‚objektive‘ Zufälle in der Welt? Was genau bringt die Behauptung mit sich, dass eine bestimmte Theorie (oder ein bestimmtes System, das durch eine solche Theorie beschrieben wird) deterministisch sei (siehe Determinismus und Indeterminismus), und was würde das für die Welt insgesamt bedeuten, deterministisch zu sein? Scheut sogar die ‚deterministische‘ Naturwissenschaft den Begriff der Ursache (wie Russell meinte)? Wird der Begriff der Ursache in einem etwas ‚weltlicheren‘ Zusammenhang verständlicher, wenn man so etwas wie ‚kausale Faktoren‘ und die wahrscheinliche Verursachung mit einbezieht? Wie sieht im Einzelnen die Beziehung zwischen kausalen Behauptungen wie z.B.: ‚Rauchen verursacht Herzbeschwerden‘ und statistischen Daten aus (siehe Kausalität)? Wie sollte die Raumzeit aufgefasst werden (siehe Raumzeit): als etwas Substanzielles, oder lediglich als ein Relationengefüge? Schließt die zeitgenössische Wissenschaft zuzüglich jeglicher Idee der Kausalität, 1937
Wissenschaftsphilosophie
die mit ihr im Zusammenhang steht, die Möglichkeit der Zeitreise eindeutig aus (siehe Zeitreise), oder ist dies weiterhin eine zumindest logische Möglichkeit in Ansehung der zeitgenössischen Naturwissenschaft? Schließlich und ganz allgemein fragt sich, was uns die Wissenschaft – oder vielleicht bedeutsamer gesagt, die Richtung der wissenschaftlichen Entwicklung – über die allgemeine Struktur des Universums sagt: Handelt es sich dabei um ein einziges und einfaches System, das auf der untersten Ebene durch eine einheitliche Menge allgemeiner Gesetze gesteuert wird, oder eher um ein ‚Flickenmuster‘ untereinander verbundener, aber gesonderter, gegenseitig irreduzibler Prinzipien (siehe Einheit der Wissenschaften; Reduktion, Probleme der)? Obwohl es natürlich wahr ist – trotz einiger übertriebener Ansprüche von Seiten einer ‚theory of everything‘ (dt.: ‚physikalische Einheitstheorie‘ oder ‚Theorie der großen Vereinheitlichung‘) – dass die Wissenschaft weit davon entfernt ist, alles auf eine gemeinsame fundamentale Grundlage zu stellen, und obwohl es gleichermaßen wahr ist, dass selbst in Fällen, wo eine solche Reduktion inzwischen allgemeine Zustimmung findet, wie z.B. jene der Chemie auf die Physik, diese Reduktion nur ontologischer Natur ist, d.h. es wurde gezeigt, dass die Chemie keiner wesentlichen, nicht-physikalischen, einfachen Begriffe bedarf, nicht dagegen erkenntnistheoretischer Natur (niemand träumt gegenwärtig davon, eine vollständige Beschreibung irgendeiner chemischen Reaktion aus den Prinzipien der Quantenmechanik abzuleiten. Gleichwohl würden einige Forscher wohl behaupten, dass die allgemeine Tendenz der Naturwissenschaften reduktionistischer Art sei. Dies sind Beispiele für mehr oder weniger allgemeine und eindrucksvoll vielfältige ‚metaphysische‘ Fragen, die durch die Naturwissenschaften aufgeworfen wurden, und die sich in jüngerer Zeit philosophischer Aufmerksamkeit erfreuten. 3. Zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie: Letztbegründungsfragen der zeitgenössischen Naturwissenschaft Viele der interessantesten Fragen der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie sind eng mit letztbegründenden oder methodischen Bemühungen um die gegenwärtige Wissenschaftstheorie verbunden. Eine fruchtbare Quelle solcher Bemühungen ist die Quantentheorie. In welchem Umfange erfordert diese Theorie einen revolutionären Wandel unserer allgemeinen metaphysischen Sichtweise der Welt? Ist sie irreduzibel indeterministisch, oder gibt es die Möglichkeit einer Interpretation im Sinne von ‚verborgenen Variablen‘, trotz entsprechend negativer Ergebnisse? Was sagt uns die Quantenmechanik über den Begriff der Ursache? Impliziert die Quantenmechanik einen drastischen Zusammenbruch der sog. ‚Lokalität‘, indem sie uns sagt, dass die Eigenschaften sogar noch von räumlich weit getrennten Systemen auf fundamentale Weise, d.h. nicht im Sinne üblicher Wechselwirkung miteinander verbunden sein können, so dass wir nicht länger beispielsweise von ‚zwei‘ räumlich getrennten Partikeln als wirklich verschiedenen Teilchen reden können? Direkter gesagt: gibt es aus der Sicht des quantenmechanischen ‚Messproblems‘ überhaupt eine kohärente Interpretation der Quantenmechanik? Es wurde bereits geltend gemacht, dass bei einer universellen Interpretation der Theorie, wo allen Systemen, einschließlich der ‚makroskopischen‘ wie z.B. bei Messapparaten, ein Quantenzustand zugeordnet wird, die beiden fundamentalen Prinzipien der Quantentheorie, nämlich die Schrödinger-Gleichung und das Projektionspostulat, in direkten Wider1938
Wissenschaftsphilosophie
spruch zueinander geraten (siehe Bells Theorem; Quantenmechanik, Interpretation der; Quantenmechanik, Messprobleme in der; Statistik; Zufälligkeit). Die beiden anderen, großen Theoriekomplexe, die zusammen mit der Quantenmechanik den Kern der zeitgenössischen Physik bilden, nämlich die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie und die Thermodynamik, stellen uns vor ähnlich faszinierende Probleme, auch wenn diese beiden Bereiche weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Falle der Relativitätstheorie haben die Philosophen sowohl ontologische Fragen z.B. nach dem Wesen der Raumzeit, als auch erkenntnistheoretische Fragen beispielsweise zur wirklichen Rolle, die Machs Empirismus bei Einsteins Entwicklung der Theorie spielte, oder der Rolle der angeblichen Schlüsselexperimente von Michelson und Morley (siehe Schlüsselexperimente) gestellt, sowie zur erwiesenen Auswirkung des Experiments von Eddington (1919) zur Lichtablenkung auf die allgemeine Relativitätstheorie. Ferner sind wichtige Fragen über die Konsistenz der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik offen, die umgekehrt eine Rückwirkung auf die allgemeineren Fragen zur Einheit der Wissenschaften und des Realismus haben (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). Die Thermodynamik wirft unter anderem Fragen zur Wahrscheinlichkeit und der Überprüfung von Wahrscheinlichkeitstheorien auf, sowie über den Determinismus und den Indeterminismus, und schließlich über die Gerichtetheit der Zeit (siehe Determinismus und Indeterminismus; Duhem, P.M.M.; Thermodynamik; Zeit). Und auch andere gegenwärtige Gebiete der Physik werfen bedeutsame und grundlegende Fragen auf (siehe Chaos-Theorie; Kosmologie). Über einen langen Zeitraum war die Wissenschaftsphilosophie in Wirklichkeit eine Philosophie der Physik. Eine willkommene Erweiterung ist erst kürzlich eingetreten, insbesondere in Gestalt einer Philosophie der Biologie. Das zentrale Anliegen ist hier die Klärung grundlegender Fragen der Darwinschen Evolutionstheorie, oder genauer gesagt die neodarwinsche Synthese der natürlichen Auslese mit der Genetik. Fragen ergaben sich auch hinsichtlich der Überprüfbarkeit, und noch allgemeiner der empirischen Nachweise dieser Theorie, über ihren Geltungsbereich und speziell darüber, was sie uns über Menschen und menschliche Gesellschaften sagen kann, sowie über die geeignete ‚Selektionseinheit‘ (Individuum, Gen, Gruppe), über das exakte Wesen der Gene, den exakten Begriff der Arten, und darüber, ob die Evolutionsbiologie bestimmte und in einigen Fällen sogar ‚teleologische‘ Erklärungsformen mit sich bringt (siehe Arten; Darwin, C.R.; Evolutionstheorie; Funktionale Erklärung; Genetik; Leben, Ursprung des; Soziobiologie; Taxonomie). In jüngerer Zeit hat die Philosophie der Biologie mit einer Erweiterung ihres eigenen Geltungsbereiches begonnen, indem sie über Fragen außerhalb der Evolutionstheorie nachzudenken begann, wo sich jedoch bereits Fragen zum Reduktionismus und zur Möglichkeit charakteristischer Erklärungsweisen abzeichnen. Siehe auch: Abgrenzungsproblem; Atomismus, Antiker; Farbe, Theorien der; Computerwissenschaft; Demokrit; Entscheidungs- und Spieltheorie; Gedankenexperimente; Informationstheorie; Jung, C.G.; Materie; Mead, G.H.; Raum; Religion und Wissenschaft; Risikobewertung; Tatsachen; Technologie, Philosophie der Anmerkungen und weitere Lektüre: Kitcher, P. (1993): ‚The Advancement of Science: Science without Legend, Objectivity without Illusions‘. New Yorik und Oxford: Oxford University Press. (Eine gründliche und erhellende Darstellung der allgemeinen Fragen zum Theoriewandel 1939
Wissenssoziologie
in den Naturwissenschaften; dies ist auch eine nützliche Einführung in die methodischen Fragen, die durch die Darwinsche Theorie aufgeworfen werden.) Papineau, D. (Hrg.) (1996): ‚The Philosophy of Science‘. Oxford Readings in Philosophy. Oxford: Oxford University Press. (Eine jüngere Aufsatzsammlung speziell zu Realismus-/Antirealismus-Fragen, aber auch zur Themen der Erkenntnistheorie.) Salmon, M.H. et al. (1992): ‚Einführung in die Wissenschaftsphilosophie‘. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. (Dieser Band wurde von Mitgliedern des international anerkannten History and Philosophy of Science Department an der Universität von Pittsburgh geschrieben und deckt die gesamte allgemeine Wissenschaftsphilosophie, sowie die Philosophie der Physik, der Biologie und der Verhaltens- und Sozialwissenschaften ab.) JOHN WORRALL
Wissenssoziologie
Die Wissenssoziologen arbeiten an der Erzeugung einer naturalistischen Darstellung des Wissens mittels Beschreibung und Erklärung beobachteter Merkmale unterschiedlicher Kulturen. Sie gehen davon aus, dass Wissen als ein Gegenstand der empirischen Forschung behandelt (und nicht nur gefeiert oder verdammt) werden kann. Weil die Wissenschaft verständlicherweise als unser bestes Beispiel von Wissen gilt, spielt die Soziologie der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Schlüsselrolle auf diesem Gebiet. Es wird geltend gemacht, dass unsere natürlichen Verstandesfähigkeiten mitsamt unserer Sinneserfahrung eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis sind. Die Wissenssoziologen, die nach den Gründen für das Zustandekommen wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Art und Weise Ausschau halten, konzentrieren sich auf den Beitrag der Konventionen und Institutionen hierzu. Siehe auch: Feministische Erkenntnistheorie; Foucault, M.; Konstruktivismus; Naturalismus in der Sozialwissenschaft DAVID BLOOR
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951) Einführung Ludwig Wittengenstein wurde am 26. April 1889 in Wien geboren und starb am 29. April 1951 in Cambridge. Er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Österreich und Deutschland, studierte von 1911 bis 1914 mit Russell in Cambridge und arbeitete erneut, wenn auch mit einigen Unterbrechungen, von 1929 bis 1947 in Cambridge. Sein erstes Buch, der ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘, wurde auf Deutsch im Jahre 1921, und auf Englisch im Jahre 1922 veröffentlicht. Es zeichnet ein logischatomistisches Bild der Wirklichkeit und der Sprache. Die Welt besteht demnach aus einer riesigen Anzahl voneinander unabhängiger Tatsachen, von denen jede wiederum aus irgendeiner Kombination einfacher Gegenstände zusammengesetzt ist. Jeder Gegenstand hat eine ganz bestimmte logische Gestalt, die bewirkt, dass er nur mit bestimmten anderen Gegenständen zusammenpasst. Diese Gegenstände werden durch die grundlegenden Elemente der Sprache benannt. Jeder Name hat dieselbe logische Gestalt und weist damit dasselbe Muster an Möglichkeitskombinationen auf wie der Gegenstand, den er benennt. Ein elementarer Satz ist eine Kombination 1940
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
von Namen, und wenn er wahr ist, so ist er ein Bild der strukturisomorphen Tatsachen, die durch die Kombination der benannten Gegenstände gebildet werden. Gewöhnliche Sätze sind hinsichtlich ihrer Oberflächenform allerdings irreführend und bedürfen einer Analyse, bevor wir die wirkliche Struktur erkennen, die in ihnen enthalten ist. Andere wichtige Ideen des ‚Tractatus‘ sind, dass die tiefen Wahrheiten über das Wesen der Wirklichkeit und ihre Repräsentation nicht richtig ausgesprochen, sondern nur gezeigt werden können. Tatsächlich behauptete Wittgenstein, dass der Hinweis auf diese Unterscheidung im Zentrum seines Buchs stünde. Und er befürwortete die paradoxe Schlussfolgerung, dass der größte Teil des ‚Tractatus‘ selbst, streng genommen, Unsinn sei. Er behauptete auch, dass andere wichtige Dinge ebenfalls nur gezeigt, nicht aber ausgesprochen werden könnten, beispielsweise gewisse Wahrheiten des Solipsismus und solche über das Wesen der Werte. Das Buch ist kurz und in einer einfachen und eleganten Weise geschrieben. Es inspirierte Philosophen, Schriftsteller und Musiker gleichermaßen und war von bedeutendem Einfluss auf den logischen Positivismus. Nach dem ‚Tractatus‘ gab Wittgenstein die Philosophie bis 1929 auf, und als er sich ihr wieder zuwandte, gelangte er zu der Auffassung, dass Teile seines früheren Denkens fundamental verfehlt gewesen seien. Seine späteren Ideen sind am vollständigsten in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ ausgearbeitet, die im Jahre 1953 veröffentlicht wurden. Eine zentrale Veränderung betrifft die Darstellung der Sprache zunächst als ein fixiertes und zeitloses Rahmenwerk, hin zu einer Darstellung der Sprache nunmehr als einem Aspekt des verletzlichen und wandelbaren menschlichen Lebens. Wittgenstein dachte jetzt, dass die Idee, derzufolge Worte einfachen Gegenständen ihre Namen geben, inkohärent sei, und führte stattdessen die Idee der ‚Sprachspiele‘ ein. Wir lehren Kindern die Sprache, indem wir mit ihnen Gewohnheiten darüber antrainieren, wie Worte und Handlungen miteinander verwoben sind. Ein Wort zu verstehen heißt zu wissen, wie man es im Verlauf der Vorhaben des täglichen Lebens verwendet. Wir finden unsere Wege zur Klassifizierung der Dinge und des Umfangs mit ihnen so selbstverständlich, dass es uns erscheint, sie seien notwendig, und wir durch ihre Verwendung das einzige mögliche Begriffsschema wieder erkennen. Wenn wir darüber aber nachdenken, so entdecken wir, dass wir zumindest mit der Beschreibung von Alternativen beginnen können, was gerechtfertigt sein mag, wenn bestimmte, sehr allgemein Tatsachen über die Welt sich anders verhalten oder sich unsere Interessen ändern. Ein weiterer Aspekt des Wandels in Wittgensteins Auffassung ist die Aufkündigung der Sympathie mit dem Solipsismus. Nach seiner späteren Auffassung gibt es viele Selbstheiten, die einander bewusst sind und miteinander in ihrer gemeinsamen Welt kooperieren. Wittgenstein erforscht ausgiebig das Wesen unserer psychologischen Begriffe, um das Bild von einem ‚Innen‘ und einem ‚Außen‘ zu untergraben, das es uns so schwierig macht, eine zufrieden stellende Lösung des so genannten ‚Geist-Körper-Problems‘ zu finden. Obwohl es verblüffende Unterschiede zwischen den früheren und den späteren Auffassungen gibt und Wittgenstein zu Recht berühmt dafür ist, sehr deutlich unterschiedliche philosophische Perspektiven entworfen zu haben, gibt es auch Kontinuitäten. Eine von ihnen ist Wittgensteins Überzeugung, dass die Rätsel der überkom1941
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
menen Philosophie oft aus sehr tiefgreifenden, aber dennoch irreführenden Bildern über die Funktionsweise der Sprache resultieren. Eine weitere ist seine Überzeugung, dass philosophische Einsicht nicht durch die Konstruktion quasiwissenschaftlicher Theorien von rätselhaften Phänomenen gewonnen wird. Stattdessen erlangt man diese Einsicht, wenn überhaupt, durch Bemühung um intellektuelle Aufrichtigkeit, um dadurch die Quellen der Verwirrung zu unschädlich zu machen. 1. Leben 2. Werke und Schreibmethode 3. Die Bildtheorie der Bedeutung 4. Negation und Tautologie 5. Einfache Gegenstände 6. Gedanke, Selbst und Wert 7. Sagen und zeigen 8. Unterschiedliche Interpretationen des ‚Tractatus‘ 9. Übergang 10. Demontage des Bildes im ‚Tractatus‘ 11. Regelfolgen 12. Das spätere Bild der Bedeutung 13. Alternative Lesarten 14. Philosophie des Geistes 15. Philosophie der Mathematik 16. Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie 17. Erkenntnistheorie 18. Wittgensteins Konzeption der Philosophie 1. Leben Wittgenstein war das achte und letzte Kind einer reichen österreichischen Industriellenfamilie. Von 1903 bis 1908 wurde er unter der Annahme ausgebildet, dass er Ingenieur würde, und im Jahre 1908 kam er nach Manchester zum Studium der Aeronautik. Er setzte dieses Studium drei Jahre lang fort, doch zur selben Zeit entwickelte sich sein Interesse an der Philosophie. Er war insbesondere an der Logik und den Grundlagen der Mathematik interessiert, woraufhin er Frege (§§ 6-10) und Russell las. Im Oktober 1911 gab er das Ingenieursstudium auf und ging auf Freges Rat hin nach Cambridge, um bei Russell zu studieren. In den Jahren 1914-1918 diente er in der austro-ungarischen Armee, und während dieser Zeit vollendete er den ‚Tractatus Logico-Philosphicus‘ (veröffentlicht 1922). Eine Zeit lang dachte Wittgenstein, mit dem ‚Tractatus‘ sei alles gesagt, was er zur Philosophie zu sagen hätte, und so wandte er sich anderen Dingen zu. Von 1920 bis 1926 war er Schullehrer in Österreich, obwohl nicht mit Erfolg, denn er war streng und forderte von seinen Schülern zu viel. Von 1926-1928 half er beim Entwurf eines Hauses für seine Schwester. Im Jahre 1927 nahm er wieder die philosophischen Diskussionen mit einigen Mitgliedern des Wiener Kreises auf, und 1929 kehrte er nach Cambridge zurück und lehrte dort von 1930 bis 1936. Von 1936 bis 1938 bereiste er Norwegen und Irland und kehrte 1938 nach Cambridge zurück, wo er im Jahre 1939 zum Professor ernannt wurde. Er behielt seinen Lehrstuhl bis 1947, obwohl er von 1941 bis 1944 freigestellt war, um Dienst im Guy‘s Hospital in Lon-
1942
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
don leisten zu können, und daraufhin in der Royal Victoria Infirmary in Newcastle. Nach der Aufgabe seines Lehrstuhls lebte er an verschiedenen Orten, vor allem in Irland, und reiste auch nach Amerika. Wittgenstein beeindruckte diejenigen, mit denen er zusammentraf, durch die Kraft sowohl seines Intellekts, als auch seiner Persönlichkeit. Es bemühte sich intensiv um Wahrheit und Integrität, was sehr attraktiv wirkte, was es aber schwierig machte mit ihm umzugehen, denn er neigte dazu, andere der Oberflächlichkeit oder der Unaufrichtigkeit zu beschuldigen. Er hatte eine große Abneigung gegen das, was er als die Affektiertheit und Anmaßungen des akademischen Lebens wahrnahm. Seine späteren Ideen wurden in den 1930er und 1940er Jahren durch den Umlauf von Kopien der ‚Blauen und braunen Bücher‘ (1958) bekannt, und durch Berichte davon in den Vorlesungen. Sie übten bemerkenswerten Einfluss auf diejenigen aus, die sie inspirierend fanden; andere wiederum fanden sie auf ärgerliche Weise undurchschaubar. 2. Werke und Schreibmethode Während seines ganzen Lebens schrieb Wittgenstein seine Gedanken in Tagebücher und kehrte dabei viele Male zu denselben Themen zurück, indem er versuchte, die denkbar direkteste und zwingendste Formulierung seiner Ideen zu finden. Er wählte unter diesen Bemerkungen dann einige aus und stellte sie zusammen, ließ ihnen weitere Zusammenstellungen folgen und überarbeitete rearrangierte das Ganze weiter. Der ‚Tractatus‘ war das einzige Buch, das er während seines Lebens veröffentlichte. Im Jahre 1930 stellte er das zusammen, was wir heute als die ‚Philosophischen Bemerkungen‘ kennen, und das ein Werk ist, das immer noch weitgehend die Perspektive des ‚Tractatus‘ hat, gleichzeitig aber auch bemerkenswerte Sympathien mit dem Verifikationismus zeigte. 1932-1934 schrieb er daraufhin die ‚Philosophische Grammatik‘, in der bereits einige Themen der späteren Philosophie anklingen. Er war aber mit beiden nicht zufrieden, und von 1936 an arbeitete er an verschiedenen Fassungen dessen, was wir jetzt als die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ (1953) kennen, und von dem er hoffte, dass es eine abschließende Darstellungen seines Denkens würde. Die erste Hälfte dieses Bandes ist jener Teil seiner Arbeit, mit dem er am ehesten einverstanden war, auch wenn er nie wirklich vollständig zufrieden damit war, und 1949 gab er das Vorhaben vollständig auf. Die anderen Bücher, die unter seinem Namen vorliegen, sind alle frühere oder vermittelnde Fassung des Materials, die in seinen Papieren verblieben und nach seinem Tode ediert und veröffentlich wurden. Die ‚Tagebücher‘ sind Vorab-Fassungen von Ideen, die später zum ‚Tractatus‘ wurden. Die ‚Blauen und braunen Bücher‘ waren so eingerichtet, dass sie seinen Studenten in den Jahren 1932 und 1933 helfen sollten. Die ‚Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik‘ (1956) enthalten Ideen, an denen er von 1937 bis 1944 arbeitete, und die er zu dieser Zeit zu einem zweiten Teil der ‚Philosophischen Untersuchungen‘ ausarbeiten wollte, und nicht die psychologischen Themen, die wir jetzt dort finden. Von 1944 an arbeitete er hauptsächlich an einer philosophischen Psychologie: ‚Zettel‘ (1967), ‚Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I und II‘ (1980) und ‚Letzte Schriften über die philosophische Psychologie I und II‘ (1982) stammen aus diesen Jahren. Aus den Jahren 1950 bis 1951 haben wir ferner ‚Über Gewissheit‘ (1969) und ‚Bemerkungen über die Farbe‘ (1977). Eine weitere Quelle seiner Auffassungen sind sei1943
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ne Gespräche und Vorlesungen, wie sie von Freunden und Schülern aufgezeichnet wurden. 3. Die Bildtheorie der Bedeutung Der ‚Tractatus‘ besteht aus knapp achtzig gedruckten Seiten durchnummerierter Bemerkungen. Die Nummerierung läuft nicht einfach fortgesetzt, sondern ist so gestaltet, dass sie die relative Wichtigkeit und Rolle der Bemerkungen anzeigt. Es gibt sieben Hauptsätze, und jeder von ihnen (bis auf die Nr. 7) hat untergeordnete und klarstellende Bemerkungen, die sich daran anschließen und z.B. als ‚2.2‘ oder ‚5.4‘ etc. nummeriert sind, bis hinunter auf solche Unterkategorien wie ‚4.0312‘. Die Themen, um die sich Wittgenstein Gedanken machte, als er in Cambridge ankam, umfassten das Wesen der logischen Wahrheit und Russells Typentheorie (siehe Typentheorie). Hinsichtlich dieser beiden Stoffe meinte Russell, dass wir eine Darstellung sehr allgemeiner Merkmale der Welt und der Dinge in ihr bräuchten. Wittenstein kam jedoch bald zu der Auffassung, dass der Weg zur Erkenntnis über das Nachdenken zum Wesen und den Voraussetzungen individuell bedeutungsvoller Sätze führe wie ‚Sokrates ist weise‘, und dass sich bei einer solchen Überlegung herausstelle, dass Russells Herangehensweise verfehlt sei. Die zentrale Tatsache solcher individuellen Sätze ist, dass jeder Satz eine Sache aussagt, beispielsweise dass Sokrates weise ist, und dass er im Kern so beschaffen sei, dass er entweder wahr oder falsch sei. Ein falscher Satz ist sowohl ohne Kontakt zur Welt, insofern er falsch ist, aber genauso im Kontakt zur Welt, sofern er erfolgreich ist in der Bestimmung der Art und Weise, wie die Dinge sein könnten. Wittgenstein meinte, dass all dies nur möglich sei, weil der Satz komplex sei und Bestandteile aufweise, die Elemente der Wirklichkeit repräsentierten, und die unabhängig davon existierten, ob der Satz wahr oder falsch sei, und die ferner (potenzielle) Bestandteile von Sachverhalten seien. So repräsentiert in einer groben Skizze ‚Sokrates‘ den antiken Sokrates, und ‚ist weise‘ repräsentiert die Weisheit. Die Wahrheit oder Falschheit des Satzes hänge dann aber davon ab, ob diese Elemente in einer Tatsache versammelt seien oder nicht. Nicht alle Folgen von Satzbestandteilen sind akzeptabel. Eine reine Liste von Namen (beispielsweise ‚Platon Sokrates‘) hängt nicht im Sinne eines Satzes zusammen. Und obwohl es so aussieht, als wenn wir ein Prädikat direkt auf sich selbst anwenden könnten, wie in ‚auf deutsch ist auf deutsch‘ oder ‚ist weise ist weise‘, ist es doch wichtig, dass solche Wortfolgen nicht als Sätze zugelassen sind, die auf ihren Wahrheitswert hin auswertbar sind, andernfalls man in eines der Russellschen Paradoxa verfällt. Russells Darstellung dieser Dinge ist, dass die Elemente der Wirklichkeit in unterschiedlichen Typen aufgeteilt sind, nämlich Einzeldinge, Eigenschaften etc., und dass ein Satz nur dann sinnvoll und damit wahrheitsbedeutsam ist, wenn die Elemente, die von den Bestandteilen ausgesucht werden, solche sind, die auf geeignete Weise miteinander in Beziehung stehen. Wittgenstein behauptete hiergegen, dass wir keine Regeln brauchen, um Sätze auszuschließen, die sonst in ein Paradox führen, weil wir sehen, wenn wir das Wesen unserer Sprache richtig verstehen, dass wir die betreffenden Sätze überhaupt nicht formulieren können. Wir würden nur meinen, dass wir das könnten, wenn wir jenen Satzbestandteil in ‚Sokrates ist weise‘ fehlerhaft identifizieren, dessen Gegenwart in diesem Satz Sokrates Weisheit zuschreibt. Dieser Bestandteil ist nicht der Ausdruck 1944
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‚ist weise‘, sondern die Eigenschaft, die das Wort ‚Sokrates‘ hat, wenn die Worte ‚ist weise‘ zu seiner Rechten geschrieben werden. Um die Plausibilität dieses Einwandes zu verstehen, bedenke man die Tatsache, dass es eine Sprache geben könnte, in der den Menschen Eigenschaften dadurch zugeschrieben werden, dass man ihre Namen in unterschiedlichen Farben schreibt. Beispielsweise könnten wir behaupten, dass Sokrates weise sei, indem wir ‚Sokrates‘ in roten Buchstaben schreiben. In einer solchen Sprache könnten wir niemals das unsinnige Analogon von ‚ist weise ist weise‘ schreiben, weil wir die Röte von ‚Sokrates‘ gar nicht herausgreifen und rot darstellen könnten. Und obwohl wir dem Wort ‚Platon‘ z.B. im Deutschen eine sprachliche Rolle gegeben haben, nämlich jene der Repräsentation von Platon, haben wir doch der Eigenschaft eines Namens keinerlei Rolle zugeordnet, die sie erwirbt, wenn wir ‚Platon‘ rechts von dem Wort für diese Eigenschaft aufschreiben. Dies ist der Grund, warum eine reine Namensliste nicht zusammenhängt und deshalb auch keine Aussage formt. Wittgenstein verallgemeinert diese Idee zu der Behauptung, dass die formalen Eigenschaften eines jeden Elements der Welt, d.h. die Eigenschaften, die sein Kombinationspotenzial zusammen mit anderen Elementen in Tatsachen fixieren, sich in den formalen Eigenschaften der sprachlichen Bestandteile spiegeln müssen, die sie verkörpern. So ist die Art von Element, die etwas sagt, und die wir oft und fälschlicherweise für einen komplexen Gegenstand halten, in Wirklichkeit eine Tatsache. In einem Satz werden bestimmte sprachliche Bestandteile experimentell unter einer Struktur zusammengefügt, die die formale Struktur irgendeines möglichen Sachverhaltes widerspiegelt (siehe Typentheorie). 4. Negation und Tautologie Diese Darstellung macht die Typentheorie überflüssig, und Wittgenstein meint, dass die Ideen, die von Russell in Anspruch genommen wurden, um das Wesen der logischen Wahrheiten zu erklären, entsprechend unnotwendig seien. Russells Auffassung war, dass logische Wahrheiten wie die, dass alle Sätze der Form ‚p oder nicht p‘ wahr seien, dadurch erklärt werden sollten, dass man auf die Beziehung verweist, die zwischen irgendwelchen sehr abstrakten Arten logischer Elemente wie z.B. der Negation, der Disjunktion und ähnlichem bestehen. Wittgenstein behauptet dagegen, dass das Negationszeichen kein Bestandteil eines Satzes ist und deshalb überhaupt kein Element einer möglichen Tatsache beschreibt (wobei die Ausdrücke ‚Bestandteil‘, ‚Element‘ und ‚darstellen‘ hier im quasi-technischen Sinne, wie er oben eingeführt wurde, verwendet werden). Stattdessen sei das Negationszeichen das sichtbare Zeichen einer Operation, die jemand an einem bedeutungsvollen Satz zur Hervorbringung eines weiteren Satzes vornehme. Die Rolle des zweiten Satzes ist es dann zu bestreiten, dass die Dinge so sind, wie sie sein müssten, wenn der erste Satz wahr sein soll. Um die Kraft dieses Arguments zu sehen, müssen wir uns erneut die Darstellung der Wahrheit anschauen, wie sie oben gegeben wurde. Was einen negativen Satz wahr macht, ist nicht die Gegenwart irgendeiner ‚Nicht-heit‘ innerhalb einer Tatsache, sondern vielmehr die Abwesenheit des Negierten (also die Kombination von Elementen), die den nicht negierten Satz ansonsten wahr gemacht hätte. Auf ähnliche Weise stellt er auch die anderen so genannten logischen Konstanten dar. Daher steht ‚oder‘ nicht für ein mögliches Element in einer Tatsache, sondern ist 1945
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das Zeichen, durch das man auf korrekte Weise zwei Sätze miteinander verknüpfen kann, sofern die Bestandteile von jedem einzelnen so kombiniert werden, dass sie die Wahrheit ergeben können. Logische Tautologien offenbaren somit nicht die Natur besonderer logischer Objekte. Solche Gegenstände wie ‚Es regnet oder es regnet nicht‘ sagen überhaupt nichts. Aber ihre Möglichkeit ist eine logische Folge der Existenz einer Sprache, die geeignet ist, jene Arten von Dingen zu sagen, die gesagt werden können. Damit kann ihre Betrachtung unsere Aufmerksamkeit auf die logische Struktur der Welt lenken (siehe Logische Konstanten). 5. Einfache Gegenstände Die in den letzten beiden Abschnitten skizzierten Ideen sind bereits in den Notizbündeln enthalten, die Wittgenstein im Herbst 1913 und 1914 schrieb. Aber der ‚Tractatus‘ in seiner vollständigen Form enthält zahlreiche weitere und wichtige Ideen. Eine von diesen, die er vielleicht von Frege übernahm, ist die Auffassung, dass der Sinn bestimmt sein muss, d.h. dass jeder bedeutungsvolle Satz in jedem möglichen Sachverhalt entweder wahr oder falsch sein muss. Doch unterscheidet sich Wittgenstein von Frege in dem Gedanken, dass die Alltagssprache, auch wenn ihre Oberflächenform irreführend sei, doch in Ordnung sei und deshalb die Bestimmtheitsbedingung erfülle. Die Bestimmtheit bringt es mit sich, dass es etwas geben muss, was Wittgenstein ‚Objekte‘ nennt, d.h. ausdrücklich einfache, ewige und unveränderliche Elemente, aus denen alle Tatsachen zusammengesetzt sind. Ferner müssen die Verknüpfungen zwischen unserem Sprachsystem und der Wirklichkeit bereits auf dieser Grundebene angelegt sein. Angenommen, sprachweltliche Verknüpfungen wären so beschaffen, dass sie einen grundlegenden sprachlichen Bestandteil mit irgendeinem anderen Element der Wirklichkeit verknüpfen, das nicht grundlegend ist. Die Existenz dieses Elements wäre dann kontingent und würde von einigen einfacheren Elementen abhängen, die auf passende Weise zu einer Tatsache kombiniert sind. Ein Satz, der diesen vorgestelltermaßen grundlegenden Bestandteil enthält, ist klarerweise nicht in einer Welt wahr, wo die einfacheren Elemente nicht auf geeignete Weise kombiniert sind. Es wäre aber ebenfalls verunglückt zu sagen, dass er falsch sei, nur weil der Bestandteil selbst gar nicht bestimmt, was die einfacheren Elemente seien oder dass sie kombiniert werden müssen, weshalb es kein Teil ihrer Bedeutung ist, dass der Fehler in ihrer Kombination für ihre Falschheit ausschlaggebend ist. Auf der Undefiniertbarkeit dieses vorgestelltermaßen grundlegenden Sprachelementes zu bestehen, heißt darauf zu bestehen, dass es seine Bedeutung nur durch seine Verbindung mit dem Element der Wirklichkeit erhält, für das es steht. In einer Welt, in der es dieses Wirklichkeitselement nicht gibt, hat es keine Bedeutung, und Sätze, die dieses Wort enthalten, sind weder wahr noch falsch. Dies ist jedoch unter der Voraussetzung der Bestimmtheit des Sinns eine reductio ad absurdum der Idee, dass Bedeutung auf die vorgestellte Weise überhaupt übertragen werden kann. Wir können einen offenkundig grundlegenden Satzbestandteil vorliegen haben, der mit einem kontingent existieren Wirklichkeitselement verknüpft ist, beispielsweise ‚Sokrates‘ als ein Name für Sokrates. Dies ist aber nur möglich, weil in unserem Sprachsystem eine Definition dieses Bestandteils gegeben werden kann. Die Verbindung zwischen Sokrates und seinem Namen ist daher kein grundlegender 1946
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Anknüpfungspunkt zwischen Sprache und Welt, im Gegensatz zu dem Eindruck, den man aus unserem früheren, zu groben Beispiel gewinnen konnte. Es ist eine Folge dieser Ideen, dass eine vollständige Analyse von jedem Satz unserer Sprache möglich sein muss, die zeigt, ob es sich dabei um eine Kombination elementarer Aussagen handelt, deren Bestandteile einfache Zeichen sind, die ihrerseits Gegenstände repräsentieren. Was sind aber diese einfachen Gegenstände? Wittgenstein lässt innerhalb der Bedeutung, die den Namen von Grundelementen der Wirklichkeit zukommen, wie Russell und entgegen Frege, keinen Gegensatz von Sinn und Bedeutung zu. Dies stellt eine Anforderung an die Wirklichkeitselemente: sie können nichts mit unterscheidbaren Aspekten sein, d.h. keine Dinge, die man sich logisch auf mehrfache Weise konzipiert vorstellen kann. Wenn dies möglich wäre, so bestünde auch die Möglichkeit eines Namens für ein Wirklichkeitselement als die eine Bezeichnungsweise, und ein weiterer, nicht-synonymer Name für dasselbe Wirklichkeitselement, der nur auf eine andere Weise gedacht wird, was im Widerspruch zur Leugnung der Sinn-Bedeutung-Unterscheidung (siehe Frege, G.) steht. Folglich ist ein Wirklichkeitselement etwas, das, wenn es so begriffen wird, dass es auch bei seinem Namen genannt werden kann, dann auch genau so begriffen wird, wie es in seiner Gesamtheit beschaffen ist. Soweit Wittgenstein selbst Hinweise darauf gibt, läuft dies darauf hinaus, dass Wirklichkeitselemente phänomenal präsente Dinge sind, wie z.B. Punkte im Sehfeld und die ihnen zukommenden Eigenschaften wie Schatten oder die erfahrene Farbe. Er kann diese Antwort jedoch nicht ganz offen geben, denn dies würde einen Widerspruch zu einem anderen der Themen erzeugen, die in der weiteren Entwicklung des ‚Tractatus‘ hervortreten. Dies betrifft die Behauptung, dass alle Notwendigkeit logische Notwendigkeit sei, die sich folglich in einer vollständigen Analyse als tautologisch erweist (siehe § 7). Eine Folge hiervon ist, dass alle atomaren Tatsachen voneinander unabhängig sind, und damit keine elementare Aussage das Gegenteil oder die logische Folge irgendeiner anderen Aussage sein kann. Solche Dinge wie Farben können damit gar keine ‚Gegenstände‘ sein, weil die Zuschreibung unterschiedlicher Farben zu einer und derselben Sache wie in ‚a ist rot‘ und ‚a ist grün‘ konträre Sätze produzieren würde. Die hier behandelten Punkte werden hauptsächlich in den Bemerkungen diskutiert, die den Hauptsätzen der Nummern 2, 3 und 4 untergeordnet sind. Die Bemerkungen zu Hauptsatz Nr. 5 und 6 handeln vor allem von den Folgen dieser atomistischen Konzeption für gewisse Fragen der Logik, beispielsweise solcher der Allgemeinheit und der Identität, und für das Wesen der Wissenschaft, der Mathematik und der Wahrscheinlichkeitsaussagen. Was das Letztere betrifft, so sind Wittgensteins kurze Bemerkungen eine wichtige Quelle für den Ansatz, der später von Rudolf Carnap entwickelt wurde (siehe Carnap, R; Logischer Atomismus). 6. Gedanke, Selbst und Wert Wittgenstein schreibt: ‚Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht.‘ (5.631) Seine Gründe für diese Behauptung ähneln denen von Hume, dass nämlich ein einheitliches, bewusstes Selbst kein Element irgendeiner vorgefundenen Tatsache sein kann. Folglich kann kein solches Elemente unter denjenigen Gegenständen sein, die im Denken repräsentiert werden. Somit sind Berichte der Form ‚A glaubt, 1947
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dass p‘, die ein solches Subjekt zu erwähnen scheinen, in Wirklichkeit Sätze der Form ‚[p] sagt, dass p.‘ Sie berichten die Existenz eines Satzgebildes, dessen Bestandteile mit den Elementen dieser potenziellen Tatsache korreliert sind, dass p. Folglich gibt es keine ‚Selbstheiten‘ in der kontingenten, vorgefundenen Welt, sondern bestenfalls Bündel von satzartigen Dingen. Wittgenstein verwirft jedoch nicht vollständig den Begriff des Subjekts. Der Begriff, den er ablehnt, ist jener eines Subjekts, wie es in der Psychologie konzipiert wird. Doch den Begriff des ‚metaphysischen‘ Subjekts hält er für wichtig. Über diesen letzten sagt er: ‚Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich.‘ (5.62), und ‚Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.‘ (5.632). Eine Lesart dieses Satzes sieht ihn als die Behauptung, dass ich die Welt und meine Erfahrung von ihr nicht auseinander reißen kann. Meine eigene Erfahrung ist mir direkt verfügbar, und jede Behauptung, die ich über die Welt mache, muss zur selben Zeit auch die entsprechende Erfahrung ausdrücken. Die Erfahrungen anderer sind mir dagegen nur durch Geräusche, visuelle Zeichen oder Bewegungen in meiner Welt verfügbar. Eine weitere Interpretation betont die Idee, dass eine Repräsentation immer aus einer bestimmten Perspektive geschieht, die in dieser Interpretation nicht enthalten ist. Eine dritte Sichtweise verbindet diese Bemerkungen mit der Idee der Projektion. Wittgenstein spricht von dem Gebrauch eines propositionalen Zeichens als der Projektion einer möglichen Situation, die man sich ausdenkt. Ein Subjekt könnte also der Ursprung dieser Projektionen sein, durch die repräsentierende Elemente mit dem verknüpfen, was sie repräsentieren, und deren Existenz daher durch ihre Bedeutungshaftigkeit vorausgesetzt ist. ‚Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten‘ (5.62). Wittgensteins Idee ist hier vielleicht, dass sich die Existenz eines einzigartigen Selbst (ich) an der Grenze der Welt durch die Existenz der Repräsentationen zeigt, die für mich bedeutungsvoll sind. Wittgenstein offeriert in den abschließenden Seiten des ‚Tractatus‘ noch eine Reihe rätselhafter, wenn auch tiefgründiger Bemerkungen über den Wert, den Tod und das Mystische, unter anderem die Behauptung, dass in der Welt gar kein Wert existiere, dass die Ethik nicht in Worte gefasst werden könne, dass der Wille als Subjekt ethischer Attribute keine Tatsachen zu ändern vermöge, sondern nur die Grenzen der Welt, dass sich die Welt mit dem Tod einer Person nicht ändere, sondern an ein Ende stoße, dass das Spüren der Welt als ein beschränktes Ganzes das Mystische sei, und dass die Lösung des Problems des Lebens im Verschwinden des Problems zu sehen sei. Diese Behauptungen sind bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar auf Ideen gegründet, die das Selbst und das, was man sagen kann, betreffen. Sie stehen aber auch für einen Sprung in der Entwicklung über diese Bemerkungen hinaus, d.h. für einen Sprung, der teilweise aus Wittgensteins eigenen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und den religiösen Überzeugungen herrührt, zu denen ihn seine immer intensiven und ernsthaften Anschauungen hinführten. 7. Sagen und zeigen Wittgenstein sagt, dass man durch die Lektüre des ‚Tractatus‘ bestimmte Dinge über das Wesen der Bedeutung, der Wirklichkeit und des Wertes begreift, unter anderem jene Arten von Dingen, die oben skizziert wurden. Er behauptet aber auch, 1948
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dass diese Dinge nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden können, und dass der Versuch, sie auszusprechen, zur Erzeugung von Unsinn führt (6.54). Der größte Teil des ‚Tractatus‘ wäre somit Unsinn. Diese Behauptung ist sehr paradox, ferner scheint sie unnötig und schlicht ein grandioser Mystizismus zu sein, insbesondere wenn man sie als Teil desselben Gesamtvorhabens sieht, das auch die schwierigen Bemerkungen über den Willen und den Solipsismus enthält. Dies wäre jedoch unfair. In vielen ihrer Anwendungen ist diese Behauptung durchaus begründet, sofern man die Bildtheorie der Bedeutung zugrunde legt (siehe § 3). Die meisten der sprachlichen Manöver, die Wittgenstein als unsinnig verdammt, sind Versuche, Dinge zu sagen, die sowohl notwendig, als auch gehaltvoll sind, d.h. die keine reinen Tautologien sind. Sie enthalten daher auch Denkbewegungen zur Zuordnung von Wirklichkeitselementen oder der Sprache zu ihren logischen Typen (‚Sokrates ist ein Einzelding‘), sowie den damit verbundenen Versuch einer Beschreibung der logischen Formen von Sätzen oder Tatsachen, und auch Bemühungen zur Auflistung der ‚Urlemente‘. (Behauptungen darüber, was wertvoll ist, könnten auch diesen Status haben, dass sie sowohl substanziell, als auch notwendig sind.) Wenn aber die Bildtheorie der Bedeutung in vollständiger Allgemeinheit gilt, dann kann es keine solchen aussprechbaren, notwendigen Wahrheit geben. Wenn man beispielsweise sagt, dass der Gegenstand b ein F ist, so ist es erforderlich, dass es einen sprachlichen Repräsentanten von b (‚b‘) gibt, sowie einen der F-heit (die Eigenschaft F zur Rechten von b), die kombiniert werden können oder nicht, genauso wie b und die F-heit kombiniert werden können oder nicht. Hier muss eine Verflochtenheit vorliegen und damit die Möglichkeit der Auftrennung der beteiligten Elemente genauso wie jene ihrer Kombination. Wenn aber b und die F-heit notwendig zusammengehen (weil beispielsweise Sokrates ein Einzelding sein muss), dann kann b nicht mehr von der F-heit getrennt werden, und es wäre verwirrend sich vorzustellen, dass das F-sein von b eine Tatsache mit einer zusammengesetzten Struktur sei. Folglich ist es auch eine Verwirrung sich vorzustellen, dass dies etwas von der Art sei, was man in dem Sinne sagen könne, wie dies von der Bildtheorie der Bedeutung angeboten wird. 8. Unterschiedliche Interpretationen des ‚Tractatus‘ Die obige Darstellungen fasst zusammen, was der ‚Tractatus‘ zu sagen scheint. Wittgensteins übergreifende Absicht in diesem Text ist umstritten. Eine traditionell-‚metaphysische‘ Lesart versteht den Text als die Darstellung einer stark realistischen Perspektive. Es gibt demzufolge eine Welt einfacher Gegenstände, die eine bestimmte, vom Denken unabhängige Struktur aufweisen, und diese Struktur beschränkt und erklärt die Natur der bedeutungsvollen Repräsentation. Wir können nicht sagen, was diese Struktur ist, und können auch nicht die Beziehung zwischen der Wirklichkeit der Sprache beschreiben. Aber der ‚Tractatus‘ zielt darauf ab, uns diese Dinge zu erklären. Eine zweite und ‚therapeutische‘ Lesart sieht Wittgenstein als jemanden, der versucht, die Versuchung auszuhebeln, solche metaphysischen Behauptungen zu erheben. ‚[Ist weise] ist weise‘ ist vollständiger Unsinn, genauso wie ‚Babbel ist weise‘ Unsinn ist, weil wir dem Ausdruck ‚ist weise‘ keine Bedeutung im Sinne eines Bezugsausdrucks gegeben haben. Hier bedarf es keiner weiteren Erklärung seiner Unsinnigkeit, und sie könnte auch gar nicht geliefert werden. Der Versuch, 1949
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eine solche Erklärung zu finden, indem man sich auf irgendeine weitere Tatsache über das Wesen dessen, was das Prädikat bezeichnet, beruft, führt uns lediglich zur Formulierung von noch mehr Geschwätz. Wir können die Form unserer Sprache von innen heraus erforschen, doch wir können diese Form nicht durch Berufung auf etwas dazu Externes erklären. Eine Reflexion über die Artikulierung der Wirklichkeit muss gleichzeitig eine Reflexion über die Artikulation der Repräsentation sein, denn die Idee der Wirklichkeit kann nur die Idee dessen sein, von dem die Repräsentation wahr ist. ‚Was nicht durch bedeutungsvolle Repräsentationen repräsentabel ist‘ kann nur meinen: ‚was durch Unsinn repräsentiert wird‘. Doch Unsinn repräsentiert nichts. Die Verfechter dieser zweiten Interpretation glauben, dass es Wittgensteins Absicht bei der Abfassung des ‚Tractatus‘ war, uns von der der Versuchung zu befreien, fruchtloses philosophisches Theoretisieren zu unternehmen. Einige von ihnen glauben auch, dass Wittgenstein die Vervollständigung der ‚Therapie‘ in dem Sinne beabsichtigte, dass er die Unterscheidung von ‚etwas sagen‘ und ‚etwas zeigen‘ selbst als unsinnig preisgeben wollte, und damit auch die Idee, dass es irgendwelche Einsichten durch das Lesen eines Buchs zu gewinnen gäbe. Zugunsten der so genannten ‚resoluten‘ Interpretation spricht die Tatsache, dass irgendeine therapeutische Absicht offenkundig in dem Werk verborgen ist, und dass Wittgensteins Vorhaben ohne die abschließende Denkbewegung inkonsistent erscheint. Er strebt folglich danach, uns das vor Augen zu führen, was er als die Voraussetzungen für eine jegliche bedeutungsvolle Rede hält, nämlich dass diese Rede in der Lage ist, kontingente Sachverhalte abzubilden. Könnte es sein, dass er uns ganz ernsthaft vorschlägt, es gäbe sprachliche Vorgänge, durch die die Dinge auf eine Weise aufgezeigt werden können – und das heißt: Denkbewegungen, die deshalb in irgendeinem Sinne sinnvoll sind – die nicht diesen Anforderungen entspricht? Gegen die ‚resolute‘ Lesart könnte man einwenden, dass die Beseitigung eines Durcheinanders, das ein fruchtbares Denken behindert, sich auch als eine Verbesserung des Verständnisses seiner selbst erweisen könnte, oder als eine Zuwachs des Wissens darüber, wie man denken sollte. Dieser Reflexionsprozess, der das Durcheinander lichtet, sowie die daraus resultierende verbesserte Sichtweise können womöglich beide auf natürlichsprachliche Weise ausgedrückt werden. Wittgensteins Sichtweise der Sprache im ‚Tractatus‘ als einem System allein zur Darstellung kontingenter Sachverhalte lässt die Bedeutungshaftigkeit solcher Äußerungen allerdings nicht zu. Doch seine spätere Sichtweise erkennt eine größere Bandbreite der Arten bedeutungsvollen Sprechens, die die Form indikativischer Sätze haben, an; deren Rolle ist dann jedoch eine der Anerkennung von Sprachregeln. Wir können uns den Wittgenstein des ‚Tractatus‘ deshalb entweder als nicht ‚resolut‘, oder als inkonsistent vorstellen, doch dabei in der Praxis durchaus die Vielgestaltigkeit der menschlichen Rede anerkennen, oder umgekehrt, dass seine Perspektive resolut und konsistent ist und er damit seine Augen gegenüber der Vielgestaltigkeit verschließt. Der ‚Tractatus‘, je nachdem, ob man ihn auf eine metaphysische oder eine therapeutische Weise liest, zeigt uns einen Wittgenstein, der von der Überzeugung erfasst ist, dass es nur genau eine Menge möglicher Begriffe gibt. Diese grundlegenden Bestandteile des Denkens und der Wirklichkeit sind in seinem Verständnis ein für allemal fixiert, und sie sind unabhängig von allen Kontingenzen der Interessen und der Umstände menschlicher Existenz. Und Sätze weisen eine Struktur auf, 1950
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die, wenn sie ausgesprochen würde, uns etwas deutlich machen würde, dessen wir uns im Moment nicht ausdrücklich gewahr sind, nämlich das Wesen der grundlegenden Gegenstände, aus denen die Sachverhalte bestehen, und die durch die einfachen Zeichen einer jeder bedeutungsvollen Sprache repräsentiert werden. Diese Bindungen an die Struktur, an die Gegenstände und an die Einfachheit verkörpern selbst wesentliche philosophische Behauptungen, und werden damit auch zu Zielen von Wittgensteins spätere nochmalige Betrachtungen. 9. Übergang Zu der Zeit, als Wittgenstein den ‚Tractatus‘ schrieb, führte er eine etwas hochtrabende Rede über die einfachen Gegenstände: er hätte bewiesen, dass sie existieren, und es hätte keine Bedeutung, dass wir nicht sagen könnten, was sie seien. Doch in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr zur Philosophie, d.h. in den Jahren 1927-1931, beschäftigte ihn vor allem die detaillierte Arbeit an verschiedenen Teilen unserer Sprache, vor allem jene, die mit der Rede von der Gestalt, der Länge und der Farbe und anderen beobachtbaren Eigenschaften von Gegenständen um uns zu tun haben. Sein Ziel bei diesen Betrachtungen war eine Darstellung der grundlegenden Merkmale sowohl der Sprache, als auch der Welt. Er überzeugte sich bald davon, dass die Idee unabhängiger, elementarer Aussagen nicht haltbar sei. Beispielsweise kann die Unvereinbarkeit von ‚a ist rot‘ und ‚a ist grün‘ nicht dadurch erklärt werden – im Gegensatz zu seiner entsprechenden Behauptung im ‚Tractatus‘ –, dass man die beiden Aussagen analysiert und zeigt, dass eine von ihnen irgendeine elementare Proposition enthält, die der elementaren Proposition in der Analyse der anderen Aussage widerspricht. Stattdessen erscheint die gesamte Sammlung von Farburteilen in einer Menge, ähnlich einer Menge von Millimeterstrichen auf der Kante eines Lineals. Um einen Gegenstand zu messen, halten wir einen Gegenstand mit seinen Markierungen an einen Gegenstand, d.h. wir halten eine ganze Menge möglicher Längenurteile an diesen Gegenstand und lesen dann die korrekte Länge ab. Etwas Ähnliches gilt für die Farbe und für viele andere Begriffe, außer dass das Lineal in diesen Fällen nicht physisch anwesend ist. Die Unterschiede zwischen Begriffen haben mit der logischen Gestalt ihrer ‚Lineale‘ zu tun, und mit den unterschiedlichen Methoden, durch die sie mit der Wirklichkeit verglichen werden. Andere Themen, die Wittgenstein zu dieser Zeit beschäftigten, waren jene betreffend die psychologischen Phänomene und die Verwendung des Wortes ‚ich‘. Und er arbeitete auch ausgiebig am Wesen der Mathematik. Es zeigen sich in einigen Schriften dieser Zeit Ideen, die er mit jenen der logischen Positivisten gemeinsam hatte. Tatsächlich kann sogar das Schlagwort des bekannten ‚Verifikationsprinzips‘, demzufolge die Bedeutung einer Aussage die Methode ihrer Verifikation ist, bei Wittgenstein entstanden sein. Er fand jedoch, dass es unmöglich sei, dies als eine klare Aussage zu behaupten, die als Ausgangspunkt zur Ausarbeitung eines philosophischen Systems dienen könnte. Er war sich weiterer Ungereimtheiten bewusst und war von seinem Temperament her nicht imstande, sie zunächst beiseite zu stellen, um erst einmal eine intellektuelle Konstruktion zu errichten, die womöglich auf einer Fehlauffassung aufgebaut ist, und die nicht diejenigen Fragen beantwortet, die ihn immer noch beschäftigten (siehe Logische Positivisten, §§ 3-4, Wiener Kreis).
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10. Demontage des Bildes im ‚Tractatus‘ Über die Paragraphen 1 bis 242 der ‚Philosophischen Untersuchungen‘, d.h. ungefähr das erste Drittel des Buches, besteht allgemeine Einigkeit dahingehend, dass sie die konzentrierteste Darstellung von einigen der zentralen Ideen der späteren Wittgensteinschen Perspektive liefern, und zwar in einem Zusammenhang, der auch bei dem Blick auf seine Sichtweisen der Philosophie des Geistes, der Mathematik und der Erkenntnistheorie hilft. Wir können diese Paragraphen in drei Gruppen einteilen: §§ 1 – 88 werfen eine Vielzahl und untereinander verknüpften Schwierigkeiten für die Perspektive des ‚Tractatus‘ auf; die §§ 89 – 142 diskutieren das Wesen der Logik, der Philosophie und der Wahrheit, und §§ 143 – 242 enthalten die Überlegungen zum so genannten Regelfolgen. Die erste Gruppe hat zwei Hauptziele: erstens die Idee, dass die meisten Worte ihre Bedeutung aus der Benennung von irgendetwas beziehen, und zweitens die Idee, dass die Bedeutung eine Bestimmtheit und damit Genauigkeit erfordert. Gegen die erste Idee weist Wittgenstein darauf hin, dass unterschiedliche Worte unterschiedliche Funktionen entfalten. Um das Wort ‚fünf‘ zu verstehen muss eine Person in der Lage sein zu zählen und sich dem Ergebnis des Zählens entsprechend zu verhalten; das Verständnis eines Farbausdrucks kann z.B. das Wissen voraussetzen, wie man die zu beurteilenden Stücke mit einem Beispiel vergleicht. Um eine Sprache zu lehren muss man mit einer Person üben, dass sie Worte hervorbringt und auf Worte im Zusammenhang alltäglicher Aktivitäten eingeht, wie z.B. Dinge holen, messen, bauen, kaufen und verkaufen. Wir können Licht in die Bedeutung bringen, indem wir über einfache ‚Sprachspiele‘ nachdenken, die eine solche Verzahnung von Sprache und Handlung mit sich bringen. Zu sagen, dass jedes Wort etwas benennt, ist so, als würde man sagen, dass jedes Werkzeug in der Werkzeugkiste irgendetwas verändert. Wir können Dinge auf diese Weise beschreiben, wenn wir darauf beharren: ‚Die Säge verändert die Form des Regals; das Lineal verändert unser Wissen von der Länge der Dinge‘. Aber eine solche Anpassung lässt uns vielleicht eine wichtige Vielgestaltigkeit übersehen, statt uns nützliche Einsichten zu vermitteln. Damit man jemanden dazu zu bekommt, dass er ein Wort versteht, genügt es nicht, ihm den angenommenen Referenten vor das Gesicht zu halten, während man das Wort wiederholt. Damit er von dieser Konfrontation profitiert, muss der Lernende wissen, welche Art von Wort ihm beigebracht wird, z.B. eine Zahl, eine Form, eine Farbe etc. Und dies bringt es wiederum mit sich, dass er bereits mit täglichen Aktivitäten vertraut ist, in die die Bemerkung, bei denen die betreffenden Worte verwendet werden, eingewoben ist. „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 43). Über die zweite Idee bemerkt Wittgenstein, dass die Behauptung eines Unterschieds zwischen ‚einfach‘ und ‚komplex‘ vom Kontext und vom Interesse abhängt. Gegenstände, die man in einem Zusammenhang als komplex ansehen mag, könnte in einem anderen als einfach erscheinen, und umgekehrt. Also seien die Begriffe und die entsprechenden Begriffe der Exaktheit kontextrelativ. Ein Wort wird nicht deshalb unnütz und folglich bedeutungslos, weil seine Verwendung nicht überall an Regeln gebunden ist. Es stellt keine Kritik an der aktuellen Benutzung eines Wortes dar, dass wir uns Umstände vorstellen können, in denen eine gegebene Beschrei1952
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bung unpassend vage erscheint, oder in denen wir nicht sagen können, ob diese Beschreibung richtig oder falsch ist; und folglich ist dies auch kein Bedeutungskriterium. Daher ist die Idee verfehlt, dass jeder bedeutungsvolle Satz irgendeine zugrunde liegende Struktur in Gestalt seiner Grundelemente aufweisen müsse. Jede Art von Wörtern ist in ihrem jeweils eigenen Sprachspiel zu Hause. Es gibt jedoch nicht immer klare und deutliche Beziehungen der Über- und Unterordnung oder Abhängigkeit zwischen unterschiedlichen Sprachspielen. Es gibt viele Prädikate, z.B. ‚Intention‘, ‚Denken‘, ‚Aussage‘, ‚Zahl‘, ‚Spiel‘, die offenkundig keine Grundelemente benennen, weil sie einen interessanten Bedeutungsreichtum aufweisen und auf komplexe Dinge verweisen. Es ist jedoch nicht der Fall, dass solche Prädikate eine Gliederung im Sinne von ‚einfacheren‘ Prädikaten aufweisen müssen. Die Suche nach einer solchen Gliederung kann stattdessen eine ‚Familienähnlichkeit‘ zu Tage fördern. Personen, die anerkanntermaßen zur selben Familie gehören, könne vielfältige Ähnlichkeiten der Statur, der äußeren Erscheinung, der Augenfarbe, der Gangart, des Temperaments etc. aufweisen: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 66), ohne dass eine Gruppen solcher Ähnlichkeiten notwendig ist und hinreicht, um bereits als Familienmitglied zu erscheinen. Auf der Grundlage dieser Untersuchung des wirklichen Funktionierens von Sprache schließt Wittgenstein nun, dass das Bild des ‚Tractatus‘ von einer detaillierten und kristallinen Struktur, die sowohl in der Welt, als auch in der Sprache gegenwärtig ist, eine Illusion ist. Aber vielleicht erfordert die hier skizzierte Überlegung nur kleinere Ausbesserungen am Sprachbild des ‚Tractatus‘? Wir könnten sagen: ‚Sicherlich werden sprachliche Repräsentationen von Sachverhalten auf unterschiedliche Weise verwendet, nämlich in Anweisungen, Späßen, Geschichten etc., und auch in klaren Berichten. Auch der Grad an Genauigkeit, den wir benötigen, ist durch den Kontext fixiert. Deshalb sollten wir akzeptieren, dass für viele praktische Zwecke lediglich ungenaue Bemerkungen durchaus angebracht sind. Aber nichts davon zeigt, dass wir das Bild des ‚Tractatus‘ von einer vollständig bestimmten Welt verwerfen müssten, die sich in einfache Gegenstände gliedert. Noch zeigt dies, dass die Idee einer Konstruktion einer vollständigen und erschöpfenden Beschreibung von ihr aufgeben werden muss. Alles, was dies zeigt, ist lediglich, dass unsere Alltagssprache die Welt weniger genau spiegelt als das vorgestellte Ideal einer wissenschaftlichen Sprache. Dass eine solche Lesart unangemessen ist, zeigt sich an den Überlegungen zum Regelfolgen, die sich in den §§ 143 – 242 finden. 11. Regelfolgen Mit ‚Regel‘ meint Wittgenstein keinen abstrakten Maßstab, nach dem irgendeine Handlung als falsch oder richtig beurteilt werden kann. Stattdessen meint er etwas Konkretes wie z.B. ein Geräusch, eine Markierung oder eine Geste, die vor einer Person ausgeführt wird, und durch deren Wahrnehmung ihr Verhalten gesteuert wird, wobei die Verbindung zwischen Regel und Antwort darauf gelernt und folglich konventioneller Natur ist. Eine enorme Anzahl menschlicher Aktivitäten kann man als Beispiele des Regelfolgens ansehen. Dies umfasst die Nachahmung von Gesten und Geräuschen, die andere machen, das Kopieren von Formen, die Um1953
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formung von Sichtzeichen in Geräusche wie beim Spielen von Noten, das Singen von Intervallen oder das Aussprechen von Buchstaben etc. Allgemein sind sowohl das nonverbale Verhalten als Antwort auf die verbale Anweisung (z.B. ein Buch zu holen, wenn einem dies aufgegeben wurde), und auch die Hervorbringung sprachlicher Berichte (wobei die Welt selbst der Führer ist, und die Äußerung die Antwort ist) können als Beispiele der Regelfolge beschrieben werden. Das Regelfolgen liegt daher im Zentrum der sprachlichen Kompetenz. Wenn wir ferner akzeptieren, dass die Fähigkeit zur Verwendung einer reichhaltigen und ausdrucksvollen Sprache ein unverzichtbarer Teil der Fähigkeit zum Begreifen komplexer Begriffe und zur Erklärung reflektierter Urteile ist, dann ist das Regelfolgen ebenfalls ein Kernbereich unseres Lebens als denkende Kreaturen. Es besteht allgemeine Einigkeit, dass Wittgenstein auch Negatives über ein attraktives, aber irreführendes Bild des Regelfolgens zu berichten hat. Nach diesem Bild ist es zum Verstehen einer Regel notwendig und hinreichend – beispielsweise zum Begreifen, was die Anweisung ‚Zähle 2 hinzu‘ bedeutet –, etwas Bestimmtes, z.B. ein Bild, ein Gefühl oder eine Formel bereit zu haben, die einem im Geiste erscheint, wenn man die Anweisung hört. Wenn man beispielsweise ein Bild von zwei Bausteinen hat, die am Ende einer Linie von Bausteinen auftauchen, so ist dies die Art von Gegenstand, den man sich vorstellen kann, um die Anwendung von ‚Zähle 2 hinzu‘ zu verstehen. Dieses Bild soll zwei Dinge leisten. Erstens hilft es dabei, dass die betreffende Person weiterhin auf eine bestimmte Art und Weise antwortet, z.B. ‚Acht‘ zu sagen, wenn die zuvor aufgerufene Zahl ‚Sechs‘ lautete. Zweitens setzt es einen Maßstab, durch den diese Antwort als richtig oder falsch beurteilt werden kann. Aber das Bild leistet dies nicht. Eine Person kann ein solches Bild haben und auf die Aufforderung ‚Zähle 2 hinzu‘ antworten, als bedeutete dies ‚Multipliziere mit zwei‘. Ferner könnte das Verhalten der Person (also die regulären Handlungsmuster oder was als Fehler betrachtet wird etc.) zeigen, dass für ‚Zähle zwei hinzu‘ in Wirklichkeit ‚Multipliziere mit zwei‘ bedeutet. Deshalb garantieren Bilder weder das nachfolgende Verhalten, noch die Eignung eines bestimmten Beurteilungsmaßstabes. Dieser Fall zeigt uns, dass ein Bild, ein Gefühl oder eine Formel nur ein weiterer regelartiger Gegenstand ist, d.h. ein potenzielles Bedeutungsvehikel, und noch nicht die Bedeutung selbst. Ein solcher Gegenstand ist nicht automatisch ein sich selbst erklärendes Zeichen, d.h. eines, das eine bestimmte Lesart von sich selbst fixiert und durchsetzt, und zwar schlicht kraft seiner Existenz im Geiste, statt in der äußeren Welt. Bilder und Ähnliches sind also nicht ausreichen für das Verständnis. Sie sind aber auch nicht dafür notwendig, da sie in vielen Fällen des tatsächlichen Verständnisses gar nicht auftreten. Wenn jemand auf eine alltägliche und ihm vertraute Ansprache antwortet, so handeln die Menschen typischerweise ohne zu zögern und spontan, ohne erst irgendeinen inneren Gegenstand zu konsultieren. Um jemanden das Befolgen einer Regel zu lehren, z.B. die Anweisung ‚Zähle 2 hinzu‘ richtig zu verstehen, lassen wir ihn eine endliche Anzahl von Übungen durchlaufen, vor allem mittels Durcharbeitung von Beispielen der Addition von 2. Diese Beispiele könnten eine weitere Ressource für das Begreifen der Bedeutung sein. Aber weil die Übungen nur in endlicher Zahl stattfinden, sind sie daran gebunden, mehr als ein Merkmal gemeinsam zu haben. Damit bestimmen sie an sich selbst 1954
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keine eindeutige Interpretation für das Zeichen, das wir damit assoziieren. Ein Lernender mag deshalb künftig eine bizarre Abweichung von dem erwarteten Verhalten zeigen, beispielsweise indem er sagt, dass die Addition von 2 zu 1,000 1,004 ergibt. Und wenn sich dies ereignet, so würde man vermuten, dass alle Beispiele offenbar noch irgendein anderes, gemeinsames Merkmal aufwiesen als das, um das es in der Lerneinheit eigentlich ging. Der zentrale Punkt hier ist, dass der Regelbefolgende, damit es überhaupt eine Bedeutung gibt, sich auf eine ganz bestimmte, und nicht auf die anderen Ähnlichkeiten zwischen den Beispielen des Lehrers fixiert und diese mit der beabsichtigten Regel assoziiert haben muss, d.h. mit dem Merker oder Zeichen, auf das sie antworten. „Das Wort ‚Übereinstimmung‘ und das Wort ‚Regel‘ sind miteinander verwandt, sie sind Vettern.“ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 224). Aber keines dieser Beispiele, noch die Regel selbst bestimmt, welche Ähnlichkeit dies ist; und vorgestellte innere Stellvertreter, in denen wir gerne die maßgebliche Ähnlichkeit aufgehoben sehen würden, erweisen sich als ebenso untauglich. Diese Reflexionen untergraben nicht nur ein psychologisches Bild des Verstehens. Sie sind auch für das Bild maßgeblich, das vom ‚Tractatus‘ präsentiert wird. Wenn es eine fixierte Struktur für die Welt und die Sprache gäbe, wie sie im ‚Tractatus‘ ins Auge gefasst wird, dann würden dort Dinge existieren, nämlich Urelemente, die ein für allemal den einzigen Maßstab der Ähnlichkeit fixieren. Wenn es ein solches Element gibt, das zwei gesonderten Tatsachen gemeinsam ist, dann gibt es eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen diesen Tatsachen, und sonst nicht. Jede andere wirkliche Ähnlichkeit, die bedeutungsvoll bezeichnet werden kann, beispielsweise durch die Prädikate der Alltagssprache oder der Wissenschaft, müsste dann auf solche Urelemente gegründet sein. Ein denkbarer sprachlicher Ausdruck, der nicht an irgendeine definitive Kombination von einfachen Elementen gebunden ist, wäre nach der Auffassung des ‚Tractatus‘ ein Ausdruck ohne Bedeutung, der einfach willkürlich angewandt wurde. Ferner und wie wir bereits zuvor sahen, ist das Urelement jene Art von Sache, die, wenn man sie begreift, so begriffen werden muss, wie sie ist. Damit wird aber die Darstellung eines Urelements, sei es durch direktes Begreifen oder dadurch, dass man etwas im Geiste hat, was sein Wesen aufweist, zum Bewusstwerden einer sich selbst interpretierenden Sache, d.h. zu etwas, das befiehlt, was als ‚dasselbe‘ zu gelten hat. Doch diese Art von Konfrontation ist das, was die Überlegungen zum Regelfolgen als uneinsehbar erweisen. Die Diskussion der §§ 143 – 242 kann daher als etwas betrachtet werden, was mit den §§ 1 – 88 zusammenspielt und diese untermauert. Das Ganze stellt allerdings nicht nur die Idee der Geschlossenheit oder des Passens zwischen der Welt des ‚Tractatus‘ und der Alltagssprache in Frage, sondern auch die zugrunde liegende Konzeption dieser Welt selbst als etwas, dass sich in bestimmt artikulierbare Tatsachen aus Urelementen auflösen lässt, die man begreifen kann (siehe Bedeutung und Regelfolgen). 12. Das spätere Bild der Bedeutung Der ‚Tractatus‘ führt uns eine Welt vor, die unabhängig von unseren sehr detaillierten menschlichen Sorgen und Bemühungen in Gestalt wertfreier Tatsachen gegeben ist, die ihrerseits Gegenstand der Naturwissenschaften sind, zusammen mit einem Geist, der sich diese Welt vor Augen hält und versucht, sie in seinen Gedan1955
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ken zu spiegeln. Er sagt uns ferner, dass es in gewisser Weise nur ein Subjekt gibt, und dass dieses Subjekt ein Etwas an der Grenze der Welt ist, das nicht verantwortlich in der Welt handeln kann. Wie attraktiv der erste Punkt auch immer sein mag, wird doch jedermann zustimmen, dass an dem Solipsismus des zweiten Teils ernsthaft etwas nicht in Ordnung sein kann. Deshalb besteht ein wesentlicher Nachbesserungsversuch darin, das psychologische und das metaphysische Subjekt des ‚Tractatus‘ wieder zusammenzuführen, indem das Selbst wieder zu etwas verantwortlich Aktivem wird, und zwar dadurch, dass man es von der Grenze wieder fest und zusammen mit anderen Selbstheiten in die Mitte des Geschehens führt. Wir können dies tun und gleichzeitig die Idee der Welt als einer Totalität wertfreier Tatsachen an ihrem Platz belassen. Dann muss die Existenz des Selbst, die nunmehr in der Welt angesiedelt ist, irgendeine Untermenge aller Tatsachen verkörpern. Dies ergibt ein sehr mächtiges und attraktives, allgemeines Bild, und zwar genau das Bild des reduktiven Naturalismus. Es erzeugt aber auch viele philosophische Rätsel, die z.B. mit den naturalistischen Darstellungen des Bewusstseins, des freien Willens etc. zu tun haben. Dieses allgemeine Bild kann jedoch nicht das Wittgensteinsche sein, wenn die Lesart des § 11 hinsichtlich der Überlegungen des Regelfolgens richtig ist. Die Idee einer unabhängig artikulierten Welt ist für ihn nicht akzeptabel. Wir können unsere Begriffe nicht verstehen, indem wir auf Urelemente weisen, die sich selbst als die letzten Bestandteile irgendeiner Welt erweisen, und uns damit auf evidente Weise die Notwendigkeit und Vertretbarkeit unserer Art des Denkens vor Augen führen. Um die Bedeutung zu verstehen, müssen wir auf den Gebrauch schauen, d.h. darauf, wie unsere Handlungen und Begriffe miteinander verwoben sind. Die Tatsache, die einen Satz wahr macht, begreift man durch das Einsehen, wann der Satz richtig verwendet wurde, und dies begreift man umgekehrt nur durch die Einsicht in die ganz Form der Sprachspiele, in denen er verwendet wird. Damit ein Begriff wirklich auf die Welt anwendbar ist, und das heißt, dass die entsprechende Eigenschaft instantiiert ist, kann man nicht einfach irgendein Element herausgreifen, das sich unter den angeblich zeitlos gegebenen Bausteinen aller Welten befindet. Stattdessen kommt es im Leben darauf an, welcher Gebrauch von diesem Begriff gemacht wird, damit er ein lebbarer Teil dieser Welt ist. Wittgenstein bewegt sich daher von einer Form der Korrespondenztheorie der Wahrheit im ‚Tractatus‘ zur einer Redundanztheorie in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ (siehe Wahrheit, Korrespondenztheorie der; Wahrheit, Deflationäre Theorien der). Das Selbst muss dieser Auffassung zufolge nicht eine Assemblage wertfreier Tatsachen sein. Noch müssen wir es als eine einzigartige metaphysische Grenze der Welt auffassen. Es ist vielmehr ein lebender und menschlicher Ort von Fähigkeiten, d.h. eine Person, die darauf trainiert werden kann, Regeln zu befolgen, sie zu gebrauchen und auf eine seine Ansprache in der Weise einzugehen, wie dies normale Menschen eben können. Und weil Begriffe Aspekte unserer Lebensform sind und keine Elemente, die in das eine begriffliche Schema eingebaut und durch entsprechend einfache Gegenstände unterfüttert sind, bringt das Verständnis der Bedeutung eines bestimmten Begriffs ‚zusammensetzende Erinnerungen‘ darüber mit sich, wie dieser Begriff für uns arbeitet, und wie unsere verschiedentlichen Aktivitäten und Redeweisen zu einer Lebensform verschmolzen werden.
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Wenn es richtig ist, das Verstehen als eine Fähigkeit aufzufassen, dann wird die Übung dieser Fähigkeit in Alltagssituationen oft in Gestalt von irgendwelchen zuversichtlichen, spontanen Handlungen oder Äußerungen vor sich gehen, die das jeweilige Subjekt nicht dadurch rechtfertigen können wird, dass es auf irgendetwas anderes zeigt als die Situation oder die Worte, auf die es reagiert, und die es leiten. „ ‚Wie kann ich einer Regel folgen?‘ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, dass ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ‚So handle ich eben.‘ “ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 217) Dies soll uns jedoch keine Sorgen bereiten. „Ein Wort ohne Rechtfertigung zu gebrauchen, heißt nicht, es zu Unrecht zu gebrauchen“ (a.a.O., § 289). Die Tatsache ist die, dass wir tatsächlich solche zuversichtlichen und unzögerlichen Reaktionen in uns selbst finden. Wir sind üblicherweise auch mit den anderen einverstanden; und wo wir dies nicht sind, sind wir uns üblicherweise darin einig, wie der Streit auszutragen ist. Deshalb haben wir keinen Grund zum Zweifel, dass wir im Allgemeinen tatsächlich meinen, was wir zu meinen denken. In Wirklichkeit können wir diese Aussage noch stärker fassen. Es ist nicht so, als würde ich mir, praktisch gesprochen, ‚einen Stoß geben‘ und mich entscheiden fortzufahren, als ob ich das meinte, was wir doch zu meinen scheinen. Vielmehr haben wir gar keine andere Wahl uns anders zu verhalten, als ‚Acht!‘ als die richtige Antwort auf die Frage ‚Sechs und Zwei?‘ aufzufassen. Das Sprachspiel der Zuschreibung von Bedeutungen zu Bemerkungen von uns selbst und von anderen ist so zentral und unverzichtbar für das menschliche Leben als Solches, wie alles andere in unserem sprachlichen Repertoire ebenso. Obendrein unterstützt die reichhaltige und komplexe soziale Welt, in der wir uns befinden, diese Verhaltenspraxis. Somit sind wir und unsere Bedeutungen genauso Teil der Welt wie die Sterne, die Steine und die Bäume um uns herum. Und weil wir nicht länger der Idee einer Totalität der Tatsachen verpflichtet sind, nämlich jener der wertfreien Naturwissenschaften, produziert diese Anerkennung keine Krämpfe und auch keinen Druck zu reduktiven Manövern (siehe Private Zustände und Sprache). 13. Alternative Lesarten Die Darstellung der §§ 10 – 12 zeigen Wittgenstein als jemanden, der uns dazu einlädt, die Idee aufzugeben, dass unsere Bedeutungen und Urteile sicher auf etwas gegründet sind, das uns gegeben ist, und für das wir keine Verantwortung tragen. Wir sehen, dass es keine Garantie für das Vorhandensein irgendeines einzigartigen begrifflichen Schemas gibt, dass sich durch eine Analyse offenbart, oder von einer Welt, die sich ein für allemal durch ihre Kategorien artikuliert. Wir werden uns stattdessen unserer Verwickelung in und unserer Verantwortung für unsere eigenen Urteile bewusst und spüren damit die Lebensform, von der sie ein Teil sind. Wir müssen auch anerkennen, dass wir nicht die eindeutige Richtigkeit unserer Lebensform und der mit ihr verbundenen Begriffe beweisen können. Die Argumente der ‚Philosophischen Untersuchungen‘ gegen die Position des ‚Tractatus‘ haben an dieser Stelle vieles mit Themen gemeinsam, die durch andere Denker des späten 19. und des 20. Jahrhunderts erforscht wurden, wie z.B. Nietzsche , William James, Heidegger (siehe dort §§ 2-4), Quine (siehe dort § 5) und Derrida. Doch die Lesart, 1957
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die in § 12 vorgestellt wurde, geht implizit davon aus, dass uns dies nicht in den Skeptizismus über den Begriff der Bedeutung, der Tatsache, der Objektivität oder der Wahrheit führen muss. Diese Interpretation, obwohl sie nicht selbstwidersprüchlich ist, ist dennoch keineswegs allgemein akzeptiert. Es gibt eine große Anzahl unterschiedlicher Konstruktionen der allgemeinen Wittgensteinschen Absicht, von denen vielen gemeinsam ist, dass sie die Konsequenzen der Preisgabe der Sichtweise des ‚Tractatus‘ als eine radikalere darstellen, als dies hier in § 12 dargestellt wird. Eine der Interpretationen betont einen Unterschied zwischen dem ‚Tractatus‘ und den späteren Schriften, der sich von den zuvor genannten abhebt. Er verwendet die Überlegungen zum Regelfolgen um zu zeigen, dass wir das Begreifen einer Bedeutung nicht in der Weise vollziehen können, dass wir die Wahrheitsbedingungen unabhängig von unserer Fähigkeit zur Verifikation dessen festschreiben, was sich aus diesen Bedingungen ergibt. Der späte Wittgenstein wird so verstanden, dass er entgegen seiner früheren Auffassung darauf besteht, dass alle Bedeutung durch Berufung auf die Behauptbarkeitsbedingungen expliziert wird, und nicht durch so etwas wie mögliche, verifikationstranszendente Wahrheitsbedingungen, und er wird hier von der antirealistischen Seite der Debatte in dem Disput zwischen Realismus und Antirealismus in Anspruch genommen. Eine weitere und viel diskutierte Auffassung wurde von Saul Kripke vorgestellt. Wenn es Tatsachen bezüglich der Bedeutung gäbe, so macht er geltend, dann würden diese durch etwas gebildet werden, was dem vergangenen Verhalten oder den gegenwärtigen Ereignissen im Geist entspringt. Deshalb können die §§ 143 – 242 so gelesen werden, als zeigten sie, dass es keine Tatsachen bezüglich der Bedeutung gibt. Unsere Gewohnheit, Bemerkungen als ‚korrekt‘ oder ‚unkorrekt‘ zu kennzeichnen, und die Zuschreibung von ‚Bedeutungen‘ zu ihnen spielt jedoch in unserem sozialen Leben eine Rolle. Solche sprachlichen Bewegungen haben aber keine Wahrheitsbedingungen. Es steht uns frei, sie auszuführen, wenn andere Mitglieder unserer Gemeinschaft diesbezüglich in gewissen Ausdrucksweisen mit uns mitgehen. Und eine dritte Interpretation geht davon aus, dass Wittgenstein für den Relativismus eintritt. Eine Erwiderung auf die Idee, dass es keine Urelemente gibt, ist die Auffassung, dass die Welt ein merkmalsloser Brei bzw. ein unerkennbares Irgendwas ist. Jede erkennbare Struktur ist ihr dann von uns selbst aufgeprägt. Folglich ist die uns vertraute physikalische und soziale Welt, die wir erfahren, eine Schöpfung von uns selbst. Es gibt jedoch zahlreiche und untereinander unvereinbare Wege, der Welt eine Struktur aufzuprägen, von denen wir einen physiologisch und sozial verursachten einschlagen. Deshalb könne kein Urteil behaupten, in einem nicht-relativen Sinne wahr zu sein; bestenfalls könne es ‚wahr für uns‘ sein. Eine wichtige Frage bei der Bewertung dieser dritten Auffassung ist, welchen Status Wittgenstein den skizzierten Alternativen einer Erwiderung auf den Spracherwerb zuwies. Sicherlich bedürfen sie einer ausreichenden Durchführbarkeit, um die Überzeugung auszutreiben, dass es nur einen einzigen möglichen Weg der Aufteilung der Welt gibt. Andererseits ist nicht klar, dass er uns das Recht zu der Behauptung zugesteht, dass es begriffliche Schemata gebe, die sowohl mit den unsrigen unvereinbar, als auch vollumfänglich möglich seien. Viele andere Lesarten sind ebenfalls möglich, indem man in seinen Schriften Elemente des Pragmatismus, des Behaviorismus und sogar des Dekonstruktivismus 1958
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entdeckt (siehe Behaviorismus, Analytischer; Dekonstruktion; Pragmatismus, § 2; Realismus und Antirealismus, § 4; Relativismus). Eine allgemeine Frage ist hier, ob Wittgenstein als ein philosophischer Theoretiker oder als ein Therapeut gelesen werden sollte, der uns eine Erleichterung bei der Konstruktion philosophischer Theorien anbietet. Versteht man ihn als jemanden, der antirealistische, skeptische oder relativistische Auffassungen vertritt, so heißt dies, ihn als Theoretiker zu sehen. Diejenigen, die ihn in seinen späteren Werken als Theoretiker lesen, favorisieren häufig auch eine metaphysische Lesart des ‚Tractatus‘, indem sie ihn als etwas sehen, das eine philosophische Theorie ausdrückt, beispielsweise irgendeine Fassung des Realismus. Andere Kommentatoren des vorherrschenden Meinungsspektrums sehen ihn als jemanden, der sich von einer theoretischen Position im ‚Tractatus‘ zu einer therapeutischen im späteren Werk bewegt hat. Und eine dritte Gruppe favorisiert die therapeutische Lesart seiner Intentionen durch sein ganzes Werk hindurch und glaubt, dass die Ideen, die er im ‚Tractatus‘ darlegt, denjenigen seiner späteren Werke viel ähnlicher sind, als man gemeinhin annimmt. Dieser Beitrag geht davon aus, dass der zweite Ansatz der richtige ist, zumindest dahingehend, dass der ‚Tractatus‘ Bindungen verkörpert, die tatsächlich theoretischer Natur sind, und die Wittgenstein später als solche anerkannte und kritisierte. Doch diese Lesart erlaubt auch, dass die dritte Gruppe insofern Recht haben mag, als sie denkt, dass Wittgensteins offene Intentionen immer einen therapeutischen Aspekt hatten. Und es mag auch sein, dass die Unterscheidung zwischen Theorie und Therapier weniger klar ist, als zuvor angenommen wurde. 14. Philosophie des Geistes Das Bild des ‚Tractatus‘ von der Beziehung der Sprache zu ihrem Gegenstand ist besonders attraktiv im Falle einiger psychologischer Begriffe. Eine Empfindung wie der Schmerz lässt sich leicht als ein Phänomen vorstellen, dass einem seine Natur und seine Identitätsbedingungen aufdrängt, so dass man sie unabhängig von äußeren Bedingungen oder von einem körperlichen Verhalten ‚einfach hat‘. Das Privatsprachenargument der §§ 243 – 271 prüft diese Idee im Lichte der früheren Diskussion der Bedeutung. Ein Ziel ist es hier zu zeigen, dass unser wirklicher Gebrauch der Ausdrücke für Empfindungen nicht zu dem vorgeschlagenen Erklärungsmuster passt. Die Überlegungen zum Regelfolgen legen dagegen nahe, dass sich kein Standard dafür fixieren lässt, was als ‚dasselbe‘ zu gelten hat, wenn man einfach irgendein Wort zu sich selbst spricht und sich dabei aufmerksam bewusst darüber ist, was man dabei erlebt. Damit eine Art von Gegenstand statt einer anderen Art aus der unendlichen Vielzahl von Dingen, die sich möglicherweise in der Erfahrung zeigen, in die Aufmerksamkeit rückt, muss diese Erfahrung in einer bestimmten Lebensform statt in einer anderen eingebettet sein. Entsprechend gilt, dass ein Wort, damit es eine Bedeutung hat, Teil einer ausgedehnten Übung oder Gewohnheit sein muss, innerhalb der sein Gebrauch einen Sinn hat. Dies gilt genauso für Empfindungswörter wie für jedes andere Wort. Wir lehren und gebrauchen sie innerhalb einer komplexen Anordnung physischer Umstände und expressiver körperlicher Verhaltensweisen. Diese Anordnung, so Wittgenstein, ist nicht extern und kontingent mit der Empfindung verknüpft, sondern ist ein integraler Bestandteil jener Art von Leben, in der die 1959
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allgemeine Kategorie ‚Empfindung‘ einen Sinn hat, und in der die spezielle Empfindung eingeordnet werden kann. Wittgenstein bedenkt viele weitere Themen der philosophischen Psychologie, unter ihnen die Intention, die Erwartung, das Kopfrechnen, die Überzeugung, das Träumen und die Aspektwahrnehmung. Ein ständiges Thema ist ferner das Bedürfnis nach einer Abwehr der Attraktion des Modells vom Namen und seinem Gegenstand, das zusammen mit solchen Dinge wie die besondere Autorität, mit der jede Person sich über ihre eigenen psychologischen Zustände äußert, uns dazu bringt, uns das ‚Innen‘ als ein besonders rätselhaftes Reich vorzustellen, das sich vom ‚Außen‘ oder dem Physischen unterscheidet. Er äußert hierzu solche allgemeinen Bemerkungen wie: „Ein ‚innerer‘ Vorgang bedarf äußerer Kriterien“ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 580). Er kehrt auch immer wieder zu der Idee zurück, dass verbindliche psychologische Äußerungen in der Ersten Person Singular als Ausdrücke oder Beteuerungen solcher Zustände gesehen werden sollten, auf deren Entsprechung von Beschreibung und Empfindung wir beharren. Diese Arten von Denkbewegungen führten zu der Idee, dass er die Existenz des ‚Inneren‘ gänzlich leugne und in Wirklichkeit ein Behaviorist sei. Wittgenstein war sich des Risikos dieser Lesart bewusst: „ ‚Aber du wist doch zugeben, dass ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.‘ – Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! – ‚Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei das Nichts.‘ – Nichtdoch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts.“ (‚Philosophische Untersuchungen‘, § 304) Gedanken und Experimente sind nach dieser Auffassung notwendig miteinander zu expressivem Verhalten verbunden. „Es kommt darauf hinaus: man könne nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist (sich ähnlich benimmt), sagen, es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewusstsein, oder bewusstlos“ (a.a.O., § 281). Dies heißt aber weder, dass jegliche Reduktion des Geistigen auf das Verhalten möglich sei, noch, dass das Psychologische nicht wirklich sei. Um Wittgensteins Auffassung verständnisvoll zu sehen, ist es wichtig sich das Fazit der §§ 1 – 242 klar zu machen. Es gibt a priori keine Garantie irgendeiner privilegierten Menge von Einteilungen, beispielsweise jene der Naturwissenschaften, nach denen alle anderen erklärt werden müssten. Um irgendein Phänomen zu verstehen, müssen wir eine klar Sichtweise der Sprachspiele erlangen, innerhalb derer Ausdrücke für diese Phänomene verwendet werden; und die logischen Formen dieser Sprachspiele können sich sehr von denen unterscheiden, die uns ursprünglich als die vorschwebten, als wir von einem Bild von ihnen ergriffen wurden (siehe Privatsprachenargument). 15. Philosophie der Mathematik Der Platonismus in der Mathematik bringt zwei Behauptungen mit sich, nämlich dass es ein Reich notwendiger Tatsachen gibt, die unabhängig vom menschlichen Denken sind, und dass diese Tatsachen unsere Fähigkeit übersteigen könnte, zu ihnen über Beweise Zugang zu erhalten. Der Platonismus ist attraktiv, weil er zahlreiche verblüffende Merkmale der mathematischen Erfahrung darzustellen vermag: erstens, dass Beweise zwingend sind und deshalb Schlussfolgerungen haben können, die überraschend sind, und zweitens, dass wir offenbar in der Lage sind, 1960
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einige mathematische Aussagen zu verstehen, ohne irgendeine Garantie dafür zu haben, dass ihre Beweise existieren. Wittgenstein akzeptierte den Platonismus nie, weil er immer die Haltung einnahm, dass die substanzielle Aussage etwas anderes ist als die Artikulation der Regeln, auf denen solche Aussagen beruhen. So genannte notwendige Wahrheiten präsentieren uns deutlich sprachliche Regeln, insofern ihre Hinnahme uns verpflichtet, gewisse sprachliche Bewegungen zu erlauben oder zu verbieten. Wittgenstein meint, dass es daher verworren sei zu denken, dass solche Formulierungen irgendeinen speziell festen und unbeweglichen Sachverhalt beschrieben. Deshalb werden mathematische Aussagen im ‚Tractatus‘ zusammen mit den Tautologien als Zeichenmengen behandelt, die nichts sagen, sondern den logischen Zusammenhang der Welt aufzeigen. Gleichwohl weist die Sichtweise des ‚Tractatus‘ einige Nähe zumindest mit der ersten Behauptung des Platonismus auf, insofern die Regeln unserer Sprache, auf denen die Mathematik beruht, solche der einzigen logisch möglichen Sprache sind. Wenn aber Wittgenstein schließlich meint, dass die sprachlichen Regeln als interne Merkmale unserer (möglicherweise variierenden) Lebensgewohnheiten seien, so ist das sich daraus ergebende Bild auch diesbezüglich unbequem. Wir können nun nicht mehr annehmen, dass es so etwas wie eine ‚Logik der Welt‘ gibt, die man noch aussprechen oder zeigen könnte. Stattdessen erforscht er in den ‚Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik‘ Ideen der nachfolgend beschriebenen Art. Zu einem gegebenen Zeitpunkt werden unsere jeweiligen sprachlichen Gewohnheiten von gewissen Regeln geleitet. Jemand könnte nun einen Beweis für eine Formel formulieren, die, wenn sie akzeptiert würde, eine neue Regel ergäbe, beispielsweise ‚14 + 3 = 17‘. Selbstverständlich denkt man, dass dies zu akzeptieren nicht anderes bedeute, wozu wir nicht schon durch unser bisheriges Verständnis der Zeichen ‚17‘, ‚+‘ etc. verpflichtet seien. Aber die Überlegungen zum Regelfolgen bringen diese Annahme ins Wanken, weil sie die Idee einer intellektuellen Gegenüberstellung mit einem abstrakten Gegenstand untergraben, der uns Aufmerksamkeit hinsichtlich seines Wesens abverlangt, und diese Überlegungen machen uns auch auf das Element unserer Spontaneität bei jeder neuen Anwendung eines gegebenen Ausdrucks aufmerksam. Statt den Beweis und sein Ergebnis zu akzeptieren, müssen wir jetzt unsere Gewohnheiten der Anwendung von Zeichen wie ‚17‘ ändern, weil wir uns nunmehr ein neues Kriterium für das Urteil zulegen müssen, dass zwar siebzehn Dinge von etwas vorhanden sind, doch dass es sie in zwei Gruppen von vierzehn bzw. drei Dingen gibt. Um den Beweis zu akzeptieren müssen wir also unsere Begriffe ändern. Was die Mathematik möglich mache, sei der Umstand, dass wir uns praktisch allesamt in unserer Reaktion auf Beweise dahingehend einig seien, dass wir sie – wenn sie schlüssig sind – zwingend finden. Versuche man aber dies zu erklären, indem man auf platonische Strukturen verweise, so falle man in eine inkohärente Mythologie zurück. Die eigene Auffassung des Autors dieses Beitrages lautet, dass es hauptsächlich ein fortgesetztes Unbehagen gegenüber der zuvor formulierten Behauptung des Platonismus war, das hinter Wittgensteins Reflexionen über die Mathematik stand. Aber jene, die ihn als einen Antirealisten sehen, werden stärker seine Feindseligkeit gegenüber der zweiten platonischen Behauptung betonen – der Idee einer transzendenten Verifikation –, und sicherlich weisen einige von Wittgensteins Bemerkungen, z.B. 1961
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
sein Misstrauen gegen die Anwendung des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten auf mathematische Aussagen, einige Nähe zu den Ideen der intuitionistischen Logik auf. Eine dritte Lesart rückt die konventionalistisch klingenden Bemerkungen in den Vordergrund, nach denen wir wählen, welche sprachliche Regeln unter pragmatischen Gesichtspunkten zu wählen seien. Zusätzlich zu den Reflexionen über das Wesen und den Gebrauch elementarer arithmetischer Behauptungen wendet Wittgenstein seine Idee auch auf einige komplexere Konstrukte der mathematischen Logik an, wie z.B. auf das Frege-RussellProjekt einer Ableitung der Mathematik aus der Logik, auf Cantors DiagonalenArgument betreffend die Nicht-Bezifferbarkeit der reellen Zahlen, auf Konsistenzbeweise und auf Gödels Theorem. Seine allgemeine Linie ist hier nicht, dass an der Mathematik irgendetwas falsch sei, sondern dass die Ergebnisse falsch konstruiert seien, weil sie vor einem irrigen Hintergrund-Platonismus interpretiert wurden. Einige mathematische Logiker behaupten, dass Wittgenstein nicht richtig verstanden habe, worüber er rede. Seine Auffassungen über die Konsistenz und speziell über Gödel haben Verärgerung hervorgerufen (siehe Intuitionismus). 16. Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie Im ‚Tractatus‘ verlegt Wittgenstein die Ethik in das Reich des Unsagbaren, und dieselbe Haltung nimmt er in seiner ‚Vorlesung über Ethik‘ (1929) ein. Hier sagt er, dass die Ethik, die er mit der Ästhetik und der Religion verknüpft, aus einer Neigung des menschlichen Geistes entspringe, etwas in Worten auszudrücken – grob gesagt die Existenz und das Wesen des absoluten Wertes – das sich uns in gewissen Erfahrungen zu manifestieren scheint. Als Beispiel nennt er die Erfahrung, die Existenz der Welt übernatürlich zu empfinden. Für diesen Impuls sei es wesentlich, dass er über die Welt und die bedeutsame Sprache hinauszugehen versuche. Somit sei er an Äußerungen gebunden, die unsinnig seien. Trotzdem, so meint Wittgenstein, habe er den größten Respekt vor diesem Impuls und würde ihn unter keinen Umständen ins Lächerliche ziehen. Diese Position spiegelt den Emotivismus wieder, der mit dem Positivismus verbunden ist, indem er die ethischen Äußerungen scharf von jenen der Naturwissenschaften trennt, die ihrerseits einer rationalen Bewertung zugänglich sind und wahr oder falsch sein können. Diese Position unterscheidet sich aber andererseits von einer solchen Haltung, insofern sie im Geiste ein ethischer Realismus ist, wenn auch einer der mystischen Art. In seinen späteren Schriften überdachte Wittgenstein seine Standpunkte über die Bedeutung, die Mathematik und über den Geist nochmals, kehrte aber zu keinerlei nachhaltiger Diskussion der Ethik oder Ästhetik mehr zurück, auch wenn es hierzu noch verstreute Bemerkungen gibt, insbesondere über die Ästhetik der Musik in ‚Kultur und Wert‘ (1980). Eine mögliche Interpretation der späteren Perspektive liefert uns allerdings eine etwas freundlichere Grundlage für einen ethischen Realismus der weniger mysteriösen Art, und zwar einen, der uns die Aussage und die rationale Diskussion von wahrheitsrelevanten ethischen Behauptungen erlaubt. Philosophen der Metaethik, die von sich selbst meinen, dass sie innerhalb einer Wittgensteinschen Perspektive arbeiten, drängen darauf, dass wir unserer Neigung zum Beharren auf einer Dichotomie zwischen Tatsache und Wert oder zwischen Erkennen und Spüren widerstehen sollten, weil das Ergebnis einer solchen Einstellung 1962
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auf einem falsch angewandten Bild beruhe. Darüber hinaus würde Wittgensteins Betonung der Hinwendung auf das wirkliche Funktionieren der Sprache einen anderen Ansatz gegenüber den ethischen Fragen erster Ordnung stützen. Er selbst hat aber niemals diese Position ausgeführt, noch hat er sich mit Fragen der politischen Philosophie beschäftigt. Die spätere Perspektive erlegt uns auf, jedes einzelne Gebiet der Sprache so weit wie möglich ohne vorgefasste Meinungen zu untersuchen. Wenn wir dies für die religiöse Sprache tun, so meint Wittgenstein, würden wir sehen, dass die Religion keine Art von Wissenschaft ist und folglich keiner Kritik aus Gründen zugänglich ist, die, wie in der Wissenschaft, zeigen sollen, dass sie nicht überzeugend ist (siehe z.B. die ‚Bemerkungen zu Frazers The Golden Bough‘ [1931]). Einige verstehen dies so, als ob es impliziere, dass keine religiöse Äußerung auf richtige Weise Gegenstand irgendeiner Kritik sei kann, die nicht aus der Mitte derselben religiösen Gemeinde oder Tradition kommt. 17. Erkenntnistheorie Ein vertrautes und überkommenes philosophisches Problem ist das des Skeptizismus, d.h. die Frage, ob wir zu Recht behaupten können, so etwas wie physische Körper zu kennen, die unabhängig von unserer Wahrnehmung existieren, oder dass die Welt nicht erst vor fünf Minuten entstanden ist etc. pp. Wittgensteins ausgedehnteste Diskussion solcher Fragen findet sich in ‚Über Gewissheit‘ (1969). Er beginnt mit jener Art von Beispielen, die bereits von G.E. Moore in seinem Versuch vorgetragen wurden, den Skeptizismus zu bekämpfen, z.B. mit ‚Hier ist eine Hand‘ und ‚Die Erde existierte eine lange Zeit vor meiner Geburt‘. Moore habe sich jedoch geirrt, meint Wittgenstein, wenn er meinte, dass wir ganz einfach berechtigt seien zu behaupten, dass wir diese Dinge wüssten. Aber Moore habe Recht mit dem Gedanken, dass diese Behauptungen eine interessante Klasse bilden. Es sei unmöglich ein Leben zu führen und zu denken, ohne einige Dinge vollkommen als gegeben zu nehmen, und die Aussagen, die Moore diesbezüglich anführt, seien die artikulierten Formen von Dingen, welche diese Rolle für uns spielen. Sie helfen uns bei der Definition unseres Weltbildes und untermauern die Prozeduren, durch die andere Behauptungen, und zwar solche, die in der Tat bezweifelt und überprüft wurden, bewertet werden können. Diese Prozeduren können selbst aber nicht bewertet werden, weil es nichts relativ Gewisseres gibt, mit dem wir sie aushebeln könnten. Jemand, der sie bezweifeln möchte, wird für verrückt gehalten, und aus der Perspektive der Ersten Person Singular denke ich mir, wenn ich mir vorstelle, solche Dinge zu bezweifeln, eine Situation, in der ich nicht mehr wissen würde, wie ich überhaupt noch sinnvoll über irgendetwas nachdenken soll. Es gibt enge Verbindungen zwischen diesen Themen und der Idee, dass der Umgang mit einem jeglichen Sprachspiel gewisse sehr allgemeine Tatsachen über die Natur voraussetze. Die Folge dieses Umstandes für die traditionelle Frage des Skeptizismus ist, dass er in dieser Form falsch formuliert ist. Der zentrale Gebrauch des Wortes ‚wissen‘ findet in Verbindung mit Aussagen statt, wo eine Überprüfung möglich ist. Daher hat jemand, der das Wort in Verbindung mit den Aussagen verwendet, die uns bei der Bestimmung unserer Weltsicht helfen – was tatsächlich nur in der Philosophie und nicht im Alltag geschieht – das Wort auf eine Situation ausgedehnt, wo keine 1963
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
Prozeduren zu ihrer Bewertung existieren, weder von Behauptungen erster Ordnung, noch von Behauptungen des Wissens davon. Dies heißt nicht, dass das Wort ‚wissen‘ uneinsehbar sei und in der philosophischen Debatte falsch verwendet würde. Wir können mit dem skeptischen Impuls sympathisieren, der unserem Bewusstsein der Tatsache entspringt, dass unsere Sprachspiele nicht auf Grundlagen beruhen, die uns zu ihrer Annahme zwingen oder ihren fortgesetzten Erfolg garantieren. Wir können aber auch mit einer antiskeptischen Position sympathisieren, die darauf besteht, dass die Annahme dieser zentralen Aussagen unsere Fähigkeit untermauert, dass wir überhaupt denken können, wodurch Behauptungen, die dies in Zweifel ziehen, ins Leere gehen (siehe Skeptizismus). 18. Wittgensteins Konzeption der Philosophie In zweierlei wichtiger Hinsicht steht Wittgenstein mitten in der breiten, historisch-philosophischen Tradition: erstens hinsichtlich der Art von Fragen, die ihn intellektuell erregten und fesselten – z.B. die Bedeutung, das Selbst, das Bewusstsein, die Notwendigkeit –, und zweitens, wenn man auf die Wurzeln der Tradition zurückgeht, in seiner ‚Liebe zur Weisheit‘, d.h. in seiner ernsthaften Bemühung darum, die richtige Einstellung zur Welt zu haben, und zwar sowohl intellektuell, als auch praktisch, und der sich unter anderem dem Gebrauch seines Intellekts zur Erreichung dieser Ziele verpflichtet fühlt. Er unterscheidet sich jedoch von vielen Philosophen in seiner Überzeugung, dass eine große Anzahl traditioneller philosophischer Probleme das Ergebnis irgendeiner tiefen Verwirrung sind, und auch in seiner Überzeugung, dass die bereits gegebenen Antworten und die Art und Weise, wie sie diskutiert werden, uns eher an der Erlangung der Weisheit hindern, als diese zu befördern. Diese Überzeugung hatte ihn schon von früh an gepackt, und das philosophische Denken präsentierte sich ihm deshalb als ein quälend schwieriger Kampf um die Aufrichtigkeit, und auch um die Befreiung seiner selbst von irreführenden Vorurteilen. Deswegen hat das Wort ‚Philosophie‘ in allen seinen Schriften zwei Verwendungsweisen. Nach der einen beschreibt es eine Gesamtheit verwirrter Äußerungen und Argumente, die weitgehend aus Missverständnissen über das Funktionieren der Sprache resultieren, und nach der anderen beschreibt es eine Tätigkeit der Hilfe gegenüber anderen Menschen, sich aus dieser Verwirrung zu befreien. Eine weitere und wichtige Kontinuität ist sein Beharren darauf, dass es keine philosophischen Theorien geben kann, und dass die hilfreiche Tätigkeit der Philosophie nur darin bestehen sollte, unstrittige Erklärungen der Beschreibung und Zusammensetzung von Erinnerungen abzugeben. Im Kontext der Bildtheorie der Bedeutung ist dies nachvollziehbar (siehe § 7). Es ist jedoch weniger klar, dass auch seine spätere Auffassung dies fordert. Teilweise betont Wittgenstein hier, dass wir nicht diejenige Art von Erklärung unserer Begriffe erwarten können, die das Bild des ‚Tractatus‘ uns zu versprechen schien. Unsere Lebensform kann nicht begründet, sondern nur beschrieben und gelebt werden. Teilweise hinterfragt er den Impuls, nach quasiwissenschaftlichen Theorien über das Wesen der philosophisch rätselhaften Phänomene zu suchen. Aber diese beiden aufeinander bezogenen Punkte fügen sich nicht offenkundig zur einer vollständigen Sperre gegen alles, was man ‚philosophische Theorie‘ nennen könnte, zusammen. Gerade der Geist seiner späteren Philosophie weist darauf hin, dass es 1964
Wittgenstein, Ludwig Joseph Johann (1889-1951)
viele unterschiedliche Arten von Dingen gibt, die man ‚Theorien‘ nennen kann. Jeder, der sich am Nachdenken über Punkte beteiligt, die auch Wittgenstein betrachtete, findet es ganz selbstverständlich (einschließlich Wittgenstein selbst), in Worten jene Zustände zu artikulieren, die man dabei erreicht, und sich mit diesen Worten und den Worten anderer in der Form weiterer Kommentare und Bewertungen zu befassen. Wir werden uns hier und an vielen anderen Stellen dem niemals endenden Wesen der Wittgensteinschen Reflexionen bewusst. Seine Schriften haben infolge ihrer Wahrhaftigkeit und Tiefe, die viele darin entdecken, große Hingabe erfahren. Es ist jedoch wichtig, sie nicht mit abergläubischer Ehrerbietigkeit zu behandeln. Stattdessen sollten sie in dem Geiste gelesen werden, von dem er vermutlich selbst eingenommen war, nämlich als eine Einladung zur Erkundung der eigenen Verwirrung mit der größtmöglichen Integrität, und als Suche nach deren Auflösung. Siehe auch: Alltagssprache, Philosophische Schule der; Bedeutung und Regelfolgen; Frege, G.; Kripke, S.A.; Kriterium; Logischer Atomismus; Moore, G.E.; Privatsprachen, argument der; Wiener Kreis Anmerkungen und weitere Lektüre: Monk, R. (1990): ‚Ludwig Wittgenstein‘. London: Jonathan Cape (Eine umfassende und sehr aufschlussreiche Biographie.) Wittgenstein, J.L.L.: Werkausgabe in 8 Bänden, durchgesehen von Joachim Schulte, 1. Aufl. 1984. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Diese Ausgabe enthält in ihrem ersten Band den ‚Tractatus Logico-Philosophicus‘, die Tagebücher von 1914 – 1916 und die ‚Philosophischen Untersuchungen‘, wobei ersteres das einzige Buch ist, dass Wittgenstein zu Lebzeiten veröffentlichte. Die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ sind ferner der am meiste studierte Text von Wittgenstein, und mit diesem Text war er auch am relativ zufriedensten. Die ‚Philosophischen Untersuchungen‘ enthalten die Darstellungen seiner späteren Ideen über die Bedeutung und die philosophische Psychologie, einschließlich der Diskussionen von Begriffen wie dem Sprachspiel, der Lebensform und der Familienähnlichkeit.) JANE HEAL
Wohlfahrt
Begriffe der Wohlfahrt werden verbreitet in Argumentationen der politischen Philosophie und der Politik verwendet. Beispielsweise ist der Utilitarismus eine soziale Ethik, die man als eine Lehre verstehen kann, die jener Idee einen herausragenden Platz einräumt, nach der die Wohlfahrt einer Gesellschaft das überragende Ziel der öffentlichen Politik sein sollte. Diskussionen der Verteilungsethik konzentrieren sich auf die Institutionen und Gepflogenheiten des so genannten Wohlfahrtsstaates. Selbst jene, die nicht davon überzeugt sind, dass wir gültig von Tierrechten sprechen können, werden häufig akzeptieren, dass Überlegungen zum Wohlergehen der Tiere in der Gesetzgebung und der Moral eine Rolle spielen sollten. Ferner steht der Begriff der Wohlfahrt in einer deutlichen Beziehung zu Begriffen wie ‚Bedürfnisse‘ oder ‚Interessen‘ bzw. überlappt sich mit ihnen, die auch für die öffentliche Entscheidungsfindung und das öffentliche Handeln von zentraler Bedeutung sind. Die Wohlfahrt kann man sich auf drei Weisen vorstellen. Erstens gibt es einen subjektiven Sinn, in dem die Aussage, etwas trage zur Wohlfahrt einer Person bei, heißt, dass es zur Befriedigung einer Präferenz beiträgt. Die Menschen können ihre 1965
Wohlwollens, Prinzip des
Präferenzen aber an ihre Umstände anpassen; glückliche Sklaven sollten vielleicht besser ihre Präferenzen neu ordnen, als sich mit ihrer Befriedigung als Sklaven zufrieden zu geben. Dieser Gedanke führt zu einem zweiten Sinn des Ausdrucks ‚Wohlfahrt‘ als einem guten Tun nach Maßgabe eines objektiven Maßstabs, wie beispielsweise dem materiellen Besitz. Diese Konzeption kann jedoch subjektive Unterschiede zwischen Menschen übersehen und damit bei der Darstellung ihrer Fähigkeit versagen, wie weit sie imstande sind, ihre eigenen Umstände zu ihrem Vorteil wahrzunehmen. Daher sagt eine dritte Konzeption der Wohlfahrt, dass sie im Wesentlichen die Möglichkeit sei, Vorteile aus seinen Besitztümern ziehen zu können. Eine befriedigende, allumfassende Konzeption wird diese Ideen zu einem einheitlichen Gebilde integrieren müssen. Siehe auch: Glück ALBERT WEALE
Wohlwollens, Prinzip des
Das Prinzip des Wohlwollens steuert die Auslegung von Überzeugungen und Meinungen anderer. Es dringt auf eine nachsichtige Interpretation, d.h. auf eine solche, die die Wahrheit oder Rationalität dessen, was ein anderer denkt oder sagt, maximiert. Einige Formulierungen des Prinzips betreffen vor allem die Wahrheit und empfehlen folglich die Zuschreibung einer wahren Überzeugung oder Behauptung. Unterschiedliche Fassungen des Prinzips variieren in ihrer Stärke. Das schwächere verlangt nach Wohlwollen eher als einer Rücksichtnahme unter vielen. Die stärksten fordern, dass eine Auslegung von Überzeugungen und Meinungen anderer nur unter der Annahme von deren Rationalität oder Wahrheit vorgenommen werden könne. Dieses Prinzip ist auf verschiedene Weise philosophisch eingesetzt worden. Studenten werden typischerweise unterwiesen, es anzuwenden, wenn sie Textpassagen interpretieren und die Argumente formulieren sollen, die diese enthalten. Das Prinzip spielt auch eine Rolle in der Geistphilosophie, in der Sprachphilosophie und in der Erkenntnistheorie. Einige Philosophen haben vorgebracht, dass das Prinzip des Wohlwollens eine wesentliche Rolle bei der Beschreibung des Wesens der Überzeugung und der Intentionalität spiele, wovon wieder einige von ihnen geltend machten, dass die Überzeugungen überwiegend wahr sein müssen. Eine Fassung dieses Prinzips hat sogar als Schlüsselprämisse in einem weithin diskutierten Argument gegen den erkenntnistheoretischen Skeptizismus fungiert. Siehe auch: Skeptizismus RICHARD FELDMAN
Wolff, Christian (1679-1754)
Christian Wolff war ein rationalistischer Schulphilosoph der deutschen Aufklärung. In der Epoche zwischen dem Tode von Leibniz (1716) und der Veröffentlichung der kantischen Kritiken in den 1780er Jahren war Wolff vielleicht der einflussreichste Philosoph Deutschlands. Hierfür gibt es viele Gründe, vor allem Wolffs umfangreiche Schriften sowohl auf Deutsch, als auch auf Lateinisch, zu praktisch allen zu seiner Zeit bekannten Gebieten der Philosophie, ferner die durchgängig strikt rationalistische Methode zur Herbeiführung der jeweiligen Schlussfolgerungen, die Aufmerksamkeit, die Wolff und seine Anschauungen als das Ergebnis bitterer Streitigkeiten mit einigen theologischen Kollegen auf sich zog, seine Verbannung aus Preußen durch König Fried1966
Wolff, Christian (1679-1754)
rich Wilhelm I. im Jahre 1723 und seine triumphale Rückkehr aus Hessen-Kassel im Jahre 1740, nachdem Friedrich der Große den Thron erklommen hatte, sowie seine aktive Lehrtätigkeit an den Universitäten von Halle und Marburg über beinahe fünfzig Jahre. Vermittels seiner Arbeit als Universitätsprofessor, durch seine fruchtbaren Schriften, und durch die Strenge und die Umfänglichkeit seiner Philosophie beeinflusste Wolff eine sehr große Gruppe von Nachfolgern, Lehrern und anderen Autoren. Selbst nachdem sein Einfluss zu schwinden begann, bezog sich Kant noch immer auf „den berühmten Wolff“ und sprach von „der strengen Methode des berühmten Wolff, dem größten aller dogmatischen Philosophen“ (‚Kritik der reinen Vernunft’, Vorw. zur 2. Aufl., B XXXVI). Wolff hielt die Philosophie für jene Disziplin, die die Gründe dafür liefert, warum die Dinge existieren oder sich ereignen, und warum sie überhaupt möglich sind. Deshalb bezog er in die Philosophie einen deutlich weiteren Bereich von Gegenständen ein, die heute noch als ‚philosophisch‘ anerkannt sind. Tatsächlich bestand für Wolff alles menschliche Wissen aus nur drei Disziplinen: der Geschichte, der Mathematik und der Philosophie. Die Beweise, die Wolff in seiner Philosophie lieferte, wurden allesamt durch ein fehlerloses Festhalten an einer streng demonstrativen Methode erbracht. Wie Descartes entdeckte Wolff seine Methode zuerst in der Mathematik, aber er schlussfolgerte, dass sowohl die mathematischen, als auch die philosophischen Methoden ihren Ursprung letztlich in einer ‚natürlichen Logik‘ haben, die dem menschlichen Geist von Gott eingegeben worden sei. Tatsächlich ist der Kern der Wolffschen philosophischen Methode eine deduktive Logik unter Anwendung syllogistischer Beweise. Für Wolff war der unmittelbare Gegenstand der philosophischen Methode die Erlangung von Gewissheit durch Aufstellung einer Ordnung von Wahrheiten innerhalb jeder seiner Disziplinen, sowie eines Systems aus dem menschlichen Wissen als Ganzem. Das letzte Ziel sei die Errichtung einer verlässlichen Grundlage zur Regelung der menschlichen Angelegenheiten und der Verbreiterung des Wissens. Wolff wendete seine philosophische Methode ohne Fehler auf alle drei der hauptsächlichen Teile der Philosophie an: 1) die Metaphysik, d.h. das Wissen von jenen Dingen, die durch das Sein im Allgemeinen möglich sind, von der Welt im Allgemeinen, von den menschlichen Seelen und von Gott; 2) die Physik, d.h. das Wissen von jenen Dingen, die durch ihre Verkörperung möglich sind; und 3) die praktische Philosophie, d.h. das Wissen von jenen Dingen, die sich mit den menschlichen Handlungen befassen. Wolffs philosophisches System umfasst auch die Logik, eine Kunst der Entdeckung (zur Anleitung der Erforschung verborgener Wahrheiten und der Erzeugung neuer Einsichten), einige experimentelle Disziplinen (z.B. die empirische Psychologie), und zahlreiche Bereiche des philosophischen Wissens, die zu Wolffs Zeiten noch nicht besonders gut entwickelt waren, z.B. jene betreffend das Recht, die Medizin, und die angewandten und freien Künste. Siehe auch: Aufklärung, Kontinentaleuropäische; Rationalismus CHARLES A. CORR
Wollstonecraft, Mary (1759-1797)
Wollstonecraft verwendete die rationalistischen und egalitaristischen Ideen des radikalen Liberalismus des späten 18. Jahrhunderts zu einem Angriff auf die Unterdrückung der Frauen, und zur Darstellung der Wurzeln dieser Situation in der 1967
Wright, Georg Henrik von (1916-2003)
sozialen Konstruktion des Geschlechts. Ihre politische Philosophie stützte sich auf Rousseaus philosophische Anthropologie, auf die rationale Religion, und auf eine originelle moralische Psychologie, die die Vernunft und das Gefühl zur Hervorbringung von Tugend integriert. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen seien durch künstliche Geschlechterunterscheidungen verdorben worden, genauso wie die politischen Beziehungen durch künstliche Unterscheidungen des Ranges, des Wohlstandes und der Macht verdorben seien. Konventionelle, künstliche Moral unterscheidet zwischen männlichen und weiblichen Tugenden; wahre Tugend sei aber geschlechtsneutral; sie bestünde in der Nachahmung von Gott und hänge von der ungehinderten Entwicklung der natürlichen Fähigkeiten ab, die beiden Geschlechtern gemein seien, einschließlich der Vernunft und der Leidenschaft. Die politische Gerechtigkeit und die private Tugend hingen gegenseitig voneinander ab: keine könne ohne den gleichzeitigen Fortschritt der anderen vorankommen. Siehe auch: Feminismus; Moral und Gefühl SUSAN KHIN ZAW
Wright, Georg Henrik von (1916-2003)
G.H. von Wright war einer der einflussreichsten analytischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er wurde in Helsinki, Finnland geboren. Von Wright arbeitete zunächst in der Logik, der Wahrscheinlichkeit und der Induktion unter dem Einfluss des logischen Positivismus. In den Jahren 1948-1951 lehrte er als Nachfolger Wittgensteins in Cambridge, kehrte aber in seine Heimat zurück und wurde später Mitglied der Finnischen Akademie. Er leistete Pionierarbeit auf den neuen Anwendungsgebieten der Logik, d.h. in der Modallogik, der deontischen Logik, der Logik der Normen und der Handlungen, der Präferenzlogik, der Zeitlogik, und in der Kausalität und dem Determinismus. In den 1970er Jahren halfen seine Ideen zur Erklärung und dem Verständnis des menschlichen Handelns beim Aufbau neuer Verknüpfungen zwischen der analytischen Tradition und der kontinentaleuropäischen Hermeneutik. Von Wrights spätere Arbeiten, sehr redegewandte Bücher und Aufsätze, die ursprünglich in seinen beiden Muttersprachen Schwedisch und Finnisch geschrieben waren, handeln von Fragen des Humanismus und der menschlichen Wohlfahrt, der Geschichte und der Zukunft, der Technologie und dem Umweltschutz. Siehe auch: Handlung; Deontische Logik; Induktion, Erkenntnistheoretische Fragen der; Modallogik ILKKA NIINILUOTO
Wunder Einführung Greift Gott dann und wann auf wunderbare Weise in irdische Angelegenheiten ein? Das heißt: geschehen einige Dinge, weil Gott in unser Raum-Zeit-Kontinuum eindringt und direkt die entsprechenden Naturgesetze (bei deren Geltung das Ereignis nicht eingetreten wäre) abändert oder umgeht? Nur wenige Philosophen bestreiten heutzutage, dass dies möglich ist. Viele bezweifeln aber, dass wir jemals berechtigterweise behaupten können, dass eine solche Intervention überhaupt je stattgefunden habe. Einigen Philosophen zufolge ist es nicht einmal notwendig zuzugeben, dass die Ereignistypen, die von Gläubigen Wunder genannt werden, beispielsweise Hei1968
Wunder
lungen oder Wiederauferstehungen, wirklich so wie berichtet geschehen sind. Denn eine Evidenz, die das Eintreten eines solchen Ereignisses bestätigen könnte, beruht nur auf dem persönlichen Zeugnis weniger, möglicherweise voreingenommener Menschen, während die Grundlage für den Zweifel die enorme Menge objektiver Forschung ist, auf denen die Naturgesetze, um die es hier geht, beruhen; so ist es also nach dieser Auffassung praktisch immer gerechtfertigt zu schließen, dass solche Berichte fehlerhaft sind. Andere wenden allerdings ein, dass es bei Gegebenheit bestimmter Beweise, beispielsweise im Falle der unabhängigen Bestätigung eines Ereignisses durch glaubhafte Quellen, unter Umstände höchst vernünftig wäre anzuerkennen, dass sogar die unerwartetsten Ereignisse wirklich eingetreten sind. Einige Philosophen bestreiten auch, dass wir jemals mir Recht schließen können, dass ein Ereignis nicht allein durch die Naturgesetze eingetreten ist. Denn wir werden nie in der Lage sein, so erklären sie, all das zu bestimmen, was die Natur hervorzubringen vermag, und folglich wird es für Wissenschaftler sehr vernünftig sein, sich mit einem gegenwärtig noch unerklärlichen Beispiel der Verletzung eines Naturgesetzes auseinanderzusetzen, um nach dessen Erklärung zu suchen. Viele Gläubige sind jedoch vollkommen bereit zuzugestehen, dass die Natur im Prinzip jedes Ereignis produzieren kann, denn worauf sie eigentlich bestehen, ist ja nur, dass die Natur dies im Falle wunderbarer Eingriffe gerade nicht getan habe. Während manche Philosophen anerkennen, dass der Glaube an die direkt göttliche Intervention in bestimmten Fällen womöglich für diejenigen gerechtfertigt sein kann, die bereits an die Existenz Gottes glauben, gibt es schließlich auch noch jene, die argumentieren, dass in Anbetracht unserer Erfahrung kein einziges Ereignis und auch keine Reihe von Ereignissen jemals alle denkenden Menschen zwingen könne, die Existenz eines vollkommen guten, übernatürlich kausalen Akteurs anzuerkennen, wenn man beispielsweise die riesige Menge des schrecklichen Bösen, das in unserer Welt bereits geschehen ist und fortlaufend geschieht, in Rechnung stellt (Argument von Voltaire). Viele Gläubige glauben allerdings trotz dieses Arguments an Wunder. 1. Definition 2. Die Möglichkeit von Wundern 3. Die Glaubwürdigkeit des persönlichen Zeugnisses 4. Wunder als Ereignisse, die durch natürliche Ursachen nicht erklärlich sind 5. Wunder als Handlungen Gottes 1. Definition Der Ausdruck ‚Wunder‘ wird manchmal in gewöhnlichen Diskussionen verwendet, um sich auf das Eintreten irgendeines unerwarteten Ereignisses zu beziehen – von der plötzlichen Entdeckung eines verloren geglaubten Besitzes bis zum nicht mehr erwarteten Bestehen eines Examens. In philosophischen Kreisen wird der Ausdruck ‚Wunder‘ jedoch meistens in einem eingeschränkteren Sinne verwendet, nämlich als Bezeichnung ein ungewöhnliches Ereignis, dass das Ergebnis einer direkten göttlichen Intervention in oder einer Veränderung des natürlichen Laufs der Dinge. Sowohl Philosophen, als auch religiöse Gläubige, sind untereinander unterschiedlicher Auffassung über die genaue begrifflichen Beziehung zwischen wunder-
1969
Wunder
baren göttlichen Eingriffen und der natürlichen Ordnung der Dinge. Für jene, die die Wunder als eine Verletzung der (bekannten) Naturgesetze verstehen, ist ein Wunder nicht einfach ein Ereignis, dass die Natur nicht allein hervorbrachte, sondern das die Natur überhaupt nicht allein hervorbringen konnte, d.h. ein Ereignis, das mit den entsprechenden Naturgesetzen immer unvereinbar ist (siehe Naturgesetze). Beispielsweise verstehen die Vertreter des ‚Modells der Gesetzesverletzung‘ eine Auffassung, derzufolge jemand durch ein Wunder geheilt worden sein soll, so, dass es nicht genügt anzunehmen, dass einfach Gott direkt daran beteiligt war. Es wäre in diesem Falle auch notwendig anzunehmen, dass der fragliche Sachverhalt auf natürliche Weise nicht eintreten konnte, dass also keine natürliche Erklärung hierfür zur Verfügung steht. Andere Philosophen und viele Gläubige bestreiten jedoch, dass eine wunderbare göttliche Intervention als ein Ereignis definiert werden müsse oder auch nur könnte, für das keine plausible natürliche Erklärung zur Verfügung steht. Es reiche aus anzunehmen, so meinen sie, dass Gott direkt beteiligt war. Geht man beispielsweise davon aus, dass das Krebsgeschwür einer Person sich auf wunderbare Weise zurückgebildet habe, so muss man nicht auch notwendig davon ausgehen, dass die Natur allein hierzu nicht imstande gewesen wäre, d.h. dass dies auf natürlichem Wege gar nicht möglich gewesen wäre. Es reiche aus davon auszugehen, dass die Natur allein dies in solchen Fällen einfach nicht ‚tut‘. 2. Die Möglichkeit von Wundern Einige Philosophen behaupteten, dass der Begriff des Wunders, wenn er als Verletzung eines Naturgesetzes definiert wird, inkohärent sei. Naturgesetze, so sagen sie, sind wirklich nur verallgemeinerte Beschreibungen dessen, was tatsächlich geschieht. Das heißt, diese Gesetze fassen für uns lediglich den wirklichen Ereignisverlauf zusammen. Deswegen sei die Behauptung, die Verletzung eines Naturgesetzes sei eingetreten, äquivalent mit der Behauptung, dass das fragliche Ereignis eine Aufhebung des wirklichen Ereignisverlaufs gewesen sei, und dies sei allerdings unmöglich. Es könnten durchaus Ereignisse eintreten, so gestehen sie zu, die im Moment mit dem unvereinbar erscheinen, was wir als den normalen Verlauf der Dinge ansehen. Aber sollte ein Fall eintreten, der wirklich ein Gegenbeispiel für das ist, was wir im Moment für die Realisierung eines Naturgesetzes halten, so zeige dies nur, dass das jeweilige Gesetz falsch formuliert sei. Denn wenn Naturgesetze per definitionem nur das zusammenfassen, was wirklich geschieht, so müssen wir im Prinzip immer bereit sein, unsere Gesetze zu erweitern, um sie an jegliche Ereignisse anzupassen, wie ungewöhnlich sie auch immer sein mögen. Es können auf diesem Gebiet niemals die Regel und die Ausnahme gleichzeitig gegeben sein. Andere dagegen meinen, dass dieser Gedankengang auf einem Missverständnis beruht. Zu behaupten, dass ein Naturgesetz die Ordnung der Natur korrekt beschreibe, so betonen sie, heiße lediglich, dass es korrekt dasjenige ausmache, was unter einer bestimmten Gruppe natürlicher Bedingungen eintreten werde. Wer jedoch behaupte, dass ein Ereignis ein wundersamer Fall eines Gegenbeispiels zu einem Naturgesetz sei, der behaupte damit keineswegs, dass dieses Ereignis unter einer genauen Menge naturgesetzlicher Bedingungen eingetreten sei, und dass es damit unter dieses Gesetz und nichts sonst gefallen sei. Zu sagen, dass sich beispielsweise Wasser durch ein Wunder in Wein verwandelt habe, heiße nicht, dass sich Wasser 1970
Wunder
genau unter jenen natürlichen Bedingungen in Wein verwandelt habe, unter denen eine solche Verwandlung gerade nicht eintritt. Es heiße vielmehr, dass ein zusätzlicher, nicht-natürlicher Kausalfaktor, nämlich die direkte göttliche Tätigkeit ebenfalls in diesem Falle eine Rolle spiele. Entsprechend behaupten diese Philosophen, dass man, solange nicht angenommen werde, dass übernatürliche Tätigkeit unmöglich sei, auch nicht davon ausgehen könne, dass ein wundersamer Fall eines Gegenbeispiels zu einem Naturgesetz, d.h. der Fall eines Gegenbeispiels, das teilweise durch göttliche Umgehung oder Veränderung der natürlichen Weltordnung eingetreten sei, begrifflich unmöglich sei. Das heißt, solange man nicht annehme, dass die übernatürliche Intervention unmöglich sei, könnten wir durchaus nebeneinander den Eintritt einer Regel und die Ausnahme von dieser Regel haben. Selbstverständlich bestreiten viele Menschen rein faktisch die Existenz einer jeglichen Art von übernatürlichem Wesen. Und selbst einige derjenigen, die die Existenz eines solchen Wesens behaupten, z.B. die sog. Prozesstheisten (siehe Prozesstheismus), bestreiten, dass dieses Wesen einseitig in irdische Angelegenheiten in dem Sinne eingreifen könne, wie dies notwendig wäre, um Wunder zu bewirken. Andererseits gibt es heutzutage nur wenige Philosophen, die behaupten, dass sie den Beweis der Unmöglichkeit der Existenz eines übernatürlichen Wesen, oder die Fähigkeit eines solchen Wesens, wenn es denn existiert, zum Eingreifen in der Welt führen können. Das heißt: Während die meisten Philosophen sich einig sind, dass die Existenz eines übernatürlichen Wesens, das in irdische Angelegenheiten eingreift, zu Recht bestritten werden könne, sind sie sich auch gleichzeitig darin einig, dass man zu Recht die mögliche Existenz eines solchen Wesens behaupten könne. Folglich bestreiten nur wenige, dass Wunder, selbst wenn sie als Verletzungen der Naturgesetze definiert werden, geschehen können. Seit den Zeiten von David Hume (§ 6) diskutieren die Philosophen leidenschaftlich eine Reihe von Fragen, die mit unserer Fähigkeit zur Erkennung von Wundern zusammenhängen. 3. Die Glaubwürdigkeit des persönlichen Zeugnisses Eine dieser Fragen lautet, ob wir überhaupt anerkennen müssen, dass die mutmaßlichen Fälle von Gegenbeispielen zu weithin bestätigten Naturgesetzen wirklich eingetreten sind. Die meisten Philosophen sind sich darin einig, dass die Berichte wiederholter solcher Gegenbeispiele, d.h. solche, die im Prinzip durch jeden unter bestimmten natürlichen Bedingungen herbeigeführt werden können, nicht mehr mit Recht verworfen werden dürften. Es gibt aber auch eine Reihe von Philosophen, die meinen, dass die Situation bei den fraglichen Ereignissen, wenn sie nicht unter bestimmten natürlichen Bedingungen wiederholbar sind, eine vollkommen andere ist. Es ist selbstverständlich möglich, so geben sie zu, dass nicht wiederholbare Fälle von Gegenbeispielen zu weithin bestätigten Naturgesetzen eingetreten sind oder noch eintreten werden. Sie geben beispielsweise zu, dass nicht wiederholbare Fälle von Gegenbeispielen zu den uns aktuell bekannten Naturgesetzen, die die Eigenschaften von Wasser oder menschlichem Gewebe beschreiben, eingetreten sein können oder noch eintreten werden. Sie betonen allerdings, dass der Beweis, der die Angemessenheit von Gesetzen dieses Typs stützen soll, sehr stark ist. Diese Gesetze können nämlich nicht nur, sondern werden und wurden noch und noch geprüft, häufig täglich und durch ganz normale Menschen, die kein besonderes Interesse am Ergebnis einer solchen Überprüfung haben. 1971
Wunder
Auf der anderen Seite fügen sie rasch hinzu, dass Berichte von gegenwärtig nicht wiederholbaren Fällen von Gegenbeispielen solcher Gesetze – z.B. der Behauptung, dass sich Wasser in Wein verwandelt hat oder jemand vom Tode auferstanden ist – bestenfalls nur durch ein persönliches Zeugnis weniger Leute bestätigt wird, die vielleicht ein Interesse am Ausgang solcher Ereignisverläufe haben. Folglich können wir, solange solche mutmaßlichen Fälle von Gegenbeispielen nicht wiederholbar sind, niemals bessere Gründe zu der Annahme haben, dass die fraglichen Ereignisse tatsächlich wie berichtet eingetreten sind, als zu der Annahme, dass sie nicht eingetreten sind. Und daraus schließen diese Philosophen – und sie folgen damit der Humeschen Maxime, dass der weise Mensch seine Überzeugungen nach den Beweisen dafür ausrichtet – dass es immer gerechtfertigt ist, die Exaktheit solcher Berichte zu bestreiten. Es gibt aber noch jene Philosophen (beispielsweise Swinburne), die glauben, dass diese Schlussfolgerung viel zu stark ist. Sie geben zu, dass Berichte von offensichtlich nicht wiederholbaren Fällen von Gegenbeispielen zu weithin bestätigten Naturgesetzen mit einer angemessenen Skepsis zu behandeln seien, denn die Möglichkeit einer Täuschung oder Fehlwahrnehmung sei immer gegeben. Aber aus ihrer Perspektive sei es unvernünftig anzunehmen, dass der Beweis, der noch die am stärksten bestätigten Naturgesetze stützt, immer eine ausreichende Grundlage abgibt, um Berichte solche Fälle zu verwerfen. Zu allererst, so argumentieren sie, gehe diese Annahme fehl, weil sie nicht die prima facie-Verlässlichkeit unserer visuellen und überzeugungskonformen Wahrnehmungsfähigkeiten in Rechnung stelle. Wir alle verlassen uns täglich auf diese Fähigkeiten, und im Allgemeinen dienen sie uns sehr gut. Tatsächlich muss die allgemeine Verlässlichkeit dieser Fähigkeit auch von denen angenommen werden, die unsere Naturgesetze formulieren. Daher sei es in Fällen, wo wir keinen Grund zum Zweifel an der Verlässlichkeit dieser überzeugungskonformen Fähigkeiten haben – wie beispielsweise dann, wenn wir selbst einen solchen Fall eines Gegenbeispiels beobachten, oder wenn es von einem Freund direkt beobachtet wird, dessen Charakter und Objektivität außer Frage steht – nicht klar, dass es immer gerechtfertigt sei, sich zugunsten des Naturgesetzes zu entscheiden. Darüber hinaus, so fügen diese Philosophen hinzu, werden wir in einigen Fällen zwingende physische Spuren auffinden, die es auszuwerten gilt. Im Falle einer angeblichen Heilung, die weithin etablierten Gesetzen widerspricht, verfügen wir beispielsweise über mehr als nur das persönliche Zeugnis. Uns liegen wahrscheinlich objektive Daten – Fotos, Videobänder, Röntgenaufnahmen oder medizinische Akten – vor, die als starker Beweis für das Auftreten des fraglichen Ereignisses zu gelten haben, so wäre dies so überzeugend, dass es unvernünftig wäre, sie zu bestreiten. Daraus schließen sie, dass Entscheidungen betreffend die Genauigkeit der Berichte über mutmaßliche Fälle von Gegenbeispielen (‚Wunder‘), selbst wenn die fraglichen Ereignisse nicht wiederholbar sind, von Fall zu Fall getroffen werden müssten. 4. Wunder als Ereignisse, die durch natürliche Ursachen nicht erklärlich sind Selbst wenn einige Erscheinungen zu Recht als Fälle von Gegenbeispielen zu unseren anerkannten Naturgesetzen gelten könnten, fragt sich, wie wir jemals in der Lage sein sollen mit Recht zu behaupten, dass ein solches Ereignis auch auf Dauer 1972
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wissenschaftlich unerklärlich ist. Das heißt: Gibt es überhaupt Umstände, unter denen wir zu Recht behaupten können, dass ein anerkannter Fall eines Gegenbeispiels ein Sachverhalt ist, den die Natur niemals von selbst zuwege bringen würde? Wenn man auf diese Frage eingeht, ist es wichtig, eine mögliche Mehrdeutigkeit zu klären, über die wir bisher hinweg gegangen sind. Per definitionem kann kein bestimmter Sachverhalt – weder durch direkte Umgehung, noch durch Veränderung der natürlichen Ursache bzw. der Ursache-Wirkungs-Muster – je auf vollständig natürlichem Wege erklärt werden. Daraus folgt, dass wir, wenn wir jemals mit Recht behaupten können, dass irgendein Ereignis wirklich die Folge einer direkten Handlung Gottes gewesen sei, automatisch in der Lage wären, mit Recht zu behaupten, dass dieses spezielle Ereignis an sich selbst für immer wissenschaftlich unerklärlich sei. Im gegenwärtigen Verständnis der meisten Philosophen ist jedoch der vorrangige Zweck der Naturwissenschaften nicht die Bestimmung dessen, was die Natur tatsächlich hervorgebracht hat. Das Hauptziel der Wissenschaft sei vielmehr zu bestimmen, zu was die Natur imstande sei, d.h. was allein unter natürlichen Bedingungen geschehen kann. Beispielsweise ist der erste Zweck der Naturwissenschaften nicht die Bestimmung, ob ausschließlich natürliche Faktoren die Abheilung des Krebsgeschwürs irgendeiner Person verursacht haben. Der erste Zweck der Wissenschaft ist vielmehr die Bestimmung, ob natürliche Faktoren allein für sich genommen hierzu imstande gewesen wären. Wenn also Philosophen fragen, ob wir jemals überhaupt in der Lage sein werden, mit Recht zu behaupten, dass ein Ereignis auf Dauer wissenschaftlich unerklärlich sei, dann fragen sie nicht, ob wir jemals in der Lage sein werden, mit Recht zu behaupten, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht allein durch die Natur hervorgebracht wurde. Vielmehr fragen sie, ob wir jemals in der Lage sein werden mit Recht zu behaupten, dass ein bestimmtes Ereignis nicht allein durch die Natur hervorgebracht werden könnte. Wenn man diese Frage erwägt, sollte man sich zunächst klarmachen, dass kein Philosoph davon ausgeht, dass wir als Menschen in der Lage seien, mit absoluter Gewissheit zu behaupten, wozu die Natur für sich allein in der Lage sei oder nicht. Vielmehr anerkennen alle, dass das Unternehmen der Naturwissenschaft eines der fortgesetzten Entdeckung von neuen, oft erstaunlichen und höchst unerwarteten Verhältnissen der kausalen Beziehungen in unserem Universum ist. Und alle geben frei zu, dass die Annalen der Naturwissenschaft zahlreiche Fälle verzeichnen, in denen mutmaßliche Fälle von Gegenbeispielen zu Naturgesetzen sich später als durchaus konsistent mit den Naturgesetzen oder korrigierten Fassungen von ihnen erwiesen. Einige unserer Naturgesetze sind jedoch aus der Sicht einiger Philosophen, wie z.B. Swinburne, derart weitgehend bestätigt, dass eine jegliche Veränderung an ihnen, die wir vornehmen wollten, um sie jenen Fällen von Gegenbeispielen anzupassen, so unbeholfen und ad hoc seien, dass damit die gesamte Struktur der Naturwissenschaften auf den Kopf gestellt würde. Beispielsweise würde der Versuch einer Modifizierung unserer aktuell geltenden Gesetze betreffend die Eigenschaften des Wassers einzig zu dem Zweck, dessen Verwandlung in Wein auf natürlichem Wege zuzulassen, oder der Versuch einer Modifizierung unserer geltenden Gesetze betreffend die Eigenschaften von menschlichen Leichen mit dem Ziel, eine natürliche Wiederauferstehung dieser Leiche zuzulassen, diese Gesetze praktisch vollkommen 1973
Wunder
entwerten. Sofern wir also in der Lage wären, mit Recht zu behaupten, dass der Fall eines Gegenbeispiels zu einem Naturgesetze dieser Art tatsächlich eingetreten sei, wäre es um des wissenschaftlichen Unternehmens Willens insgesamt notwendig zu behaupten, dass dieses Ereignis auf Dauer nicht durch natürliche Ursachen erklärbar sei, d.h. dieses Ereignis niemals durch die Natur allein hervorgebracht werden könnte. Kritiker halten diesen Gedankengang für einen, der ein falsches Dilemma enthält. Wenn wir mit einem anerkannten Fall eines Gegenbeispiels zu einem Naturgesetz konfrontiert sind, und zwar selbst dann, wenn es sich um ein sehr weitgehend bestätigtes Naturgesetz handelt, wäre es in diesem Moment weder erforderlich, so meinen sie, die Naturgesetze zu modifizieren, um sie diesem Ereignis anzupassen oder um die Richtigkeit des Gesetzes bestätigen zu können, noch zu erklären, dass dieses Ereignis auf Dauer durch natürliche Ursachen unerklärbar ist. Stattdessen müsste eine geeignete anfängliche Antwort auf das Eintreten eines solchen Falles, weil die Naturgesetze nur durch die natürlich wiederholbaren Fälle von Gegenbeispielen falsifiziert werden, lediglich sowohl das Naturgesetz als auch den Fall des Gegenbeispiels solange anerkennen, wie noch weitere Untersuchungen in der Sache im Gange seien. Ferner argumentieren diese Kritiker, dass solche Untersuchungen niemals zu der abschließend vernünftigen Schlussfolgerung führen könnten, dass etwas jenseits der Fähigkeit der Natur, es hervorzubringen, wirklich eingetreten sei. Würde entdeckt, dass der angebliche Fall eines Gegenbeispiels natürlich wiederholbar ist, d.h. wenn herausgefunden würde, dass das fragliche Ereignis regulär unter rein natürlichen Bedingungen reproduziert werden kann, so wäre in der Tat ein Überarbeitung der entsprechenden Naturgesetze notwendig. Aber dann wäre dieses Ereignis auch nicht mehr auf natürlichem Wege unerklärbar. Aber selbst dann, wenn die natürliche Wiederholbarkeit nicht dargestellt werden kann, müsste die entsprechende Reaktion darauf nicht in ein Beharren darauf münden, dass dieses Ereignis auf Dauer nicht erklärbar sei. Denn nicht wiederholbare Fälle von Gegenbeispielen konfrontieren uns nicht mit konkurrierenden Hypothesen zu den relevanten Gesetzen, so dass die richtige Antwort dann lauten müsste, dass dieser Fall eben eine Anomalie sei, während man weiterhin die funktionale Angemessenheit der fraglichen Gesetze akzeptiere. Aber selbst wenn dieser Gedankengang richtig ist, folgt daraus noch gar nichts für diejenigen, die nur behaupten, dass ein Wunder ein Ereignis ist, dass nicht genau zu dieser Zeit und genau auf diese Art und Weise passiert wäre, wenn nicht Gott direkt die natürliche Ordnung der Dinge in diesem fraglichen Falle umgangen oder modifiziert hätte. Nur diejenigen, die glauben, dass ein Wunder eine Verletzung von Naturgesetzen darstelle, die also glauben, dass ein Wunder ein Ereignis sei, das von der Natur nicht hervorgebracht werden konnte, wären von dem vorgenannten Argument betroffen. 5. Wunder als Handlungen Gottes Unabhängig von der betrachteten Beziehung zwischen Wundern und der Natur gibt es aber noch weitere wichtige Fragen betreffend unsere Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Erkennung von Ereignisses als direkte Handlungen von Gott. Für viele Philosophen ist die bedeutendste Frage dieser Art nach wie vor, ob es vorstellbare Bedingungen gibt, unter denen rationale Lebewesen gezwungen wären anzuerken1974
Wunder
nen, dass Gott direkt in den Weltverlauf eingegriffen hat. Und obwohl die meisten Philosophen glauben, dass die Antwort auf diese Frage ‚nein‘ lautet, meinen doch einige, z.B. Larmer, dass hier eine positiven Antwort zu geben sei. Sie erkennen an, dass hinsichtlich vieler Sachverhalte, von denen Gläubige tatsächlich behaupten, dass sie von Gott herbeigeführt worden seien – z.B. viele mutmaßliche Fälle göttlicher Heilungen – es doch einer rationale Person möglich sei zuzugestehen, dass ein solches Ereignis wie berichtet stattgefunden habe, und sie gleichwohl mit Recht bestreiten können, dass dies das Ergebnis eines direkten göttlichen Eingreifens war. Oder nehmen wir an, dass die fehlenden Finger eines Leprakranken plötzlich wieder auftauchen, nachdem der Kranke einem Heiler-Prediger gefolgt war. In solchen Fällen, argumentieren sie, gäbe es allerdings eine sehr starke Evidenz für die übernatürliche Verursachung und keinerlei Evidenz für eine rein natürliche Verursachung. Tatsächlich wäre der Beweis so stark, dass ein weiteres Festhalten an der Überzeugung einer rein natürlichen Erklärung unter solchen Umständen insofern ungerechtfertigt wäre, als dies nur eine unvernünftige, apriorisch-naturalistische Voreingenommenheit beweisen würde. Als Antwort hierauf bestreiten Kritiker nicht, dass es denkbare Fälle geben mag, die, wenn man sie isoliert betrachtet, die göttliche Intervention zu einer sehr plausiblen kausalen Hypothese machen würden. Sie weisen aber darauf hin, dass die Anerkennung der Existenz Gottes und der Tatsache, dass er wohlwollend in irgendeinen bestimmten Fall eingegriffen habe, auch die Anerkennung nach sich zöge, dass Gottes Existenz mit allem, was wir erfahren, vereinbar sei, beispielsweise mit der beinahe unendlichen Menge menschlichen Schreckens und Leidens, das ganz unverhältnismäßig die Unschuldigen und die Benachteiligten trifft. Und selbst wenn man mit Recht behaupten kann, dass Gottes Existenz mit aller unserer Erfahrung vereinbar sei, so kann man doch nicht mit Erfolg behaupten, dass jeder dem zustimmen müsse. Der Unglaube betreffend Gott ist auch dann noch eine Antwort, die sich rechtfertigen lässt (siehe Böse, Problem des, § 6). Folglich schließen diese Kritiker, dass der Glaube, demzufolge es nur eine natürliche Ursache für jedes spezifische Auftreten von Ereignissen gebe, immer noch eine Option sei, die sich rechtfertigen lasse, unabhängig von dem Umfang, zu dem sich herausstellen mag, dass tatsächlich ein göttliches Eingreifen beteiligt war. Für viele Philosophen ist die Kernfrage allerdings nicht, ob es vorstellbare Bedingungen gibt, unter denen alle rationalen Lebewesen gezwungen wären, das göttliche Eingreifen anzuerkennen, sondern vielmehr, ob es Bedingungen gibt, unter denen jene, die schon an Gott glauben, es rechtfertigen könnten, dass sie dies tun. Selbst wenn es wahr ist, dass das Eintreffen keines einzelnen Ereignisses oder sogar von Gruppen von Ereignissen die Überzeugung eines göttlichen Eingreifens erzwingen kann, so ist es doch auch wahr, meinen einige Philosophen, dass das Eintreffen keines Ereignisses (bzw. einer Ereignisgruppe) – also z.B. keiner Menge von Bösem – den gerechtfertigten Glauben aus Gottes Existenz als einem übernatürlichen kausalen Akteur in unserer Welt ebenfalls ausschließen kann. Und in Anbetracht dieses Umstandes, argumentieren sie, sind sie so lange, wie die Gläubigen selbst gute theistische Gründe für ihre Annahme zu besitzen meinen, dass Gott direkt in einem gegebenen Fall eingegriffen habe – z.B. weil das Eintreffen dieses Falles sich so gut in ein von ihnen akzeptiertes Muster göttlicher Handlung einfügt – zu diesem Vorbehalt berechtigt. 1975
Wundt, Wilhelm (1832-1920)
Man muss allerdings hinzufügen, dass selbst dann, wenn dies richtig ist, auch eine wichtige umgekehrte Beziehung zwischen den Wundern und dem Bösen fortbesteht. Beispielsweise impliziert die Strategie, auf das Böse zu antworten, indem man behauptet, dass Gott nicht sowohl den Menschen ein relevantes Maß an Freiheit zugestehen, als auch gleichzeitig wohlwollend auf einer konsistenten Grundlage intervenieren kann, gleichzeitig die Nennung eines Grundes, warum Wunder nicht allzu häufig erwartet werden sollten. Und wenn man auf das Böse antwortet, indem man behauptet, dass ‚Gottes Wege unerforschlich‘ seien, so stellt man den Gläubigen unsicherer, als wenn man angibt, wo und wann eine wunderbare göttliche Intervention stattgefunden habe. Siehe auch: Deismus; Offenbarung; Okkasionalismus; Religion und Wissenschaft
Anmerkungen und weitere Lektüre: Johnson, Davi (1999): ‚Hume, Holism and Miracles‘. Ithaca, New York: Cornell University Press. (Eine interessante Herausforderung des Humeschen Standpunktes gegenüber der rationalen Glaubwürdigkeit der Berichte von Wundern.) Larmer, R.A.H. (Hrg.) (1996): ‚Questions of Miracle‘. Kingston, Ontario: McGill-Queen‘s University Press. (Eine hilfreiche Diskussion sowohl der Beziehung zwischen Wundern und Naturgesetzen, als auch der Frage von Wundern als Beweis für die Existenz Gottes.) Swinburne, Richard (Hrg.) (1989): ‚Miraces‘. New York: Macmillan Publishing Company. (Ein ausgewogener Kreis von Aufsätzen, die sich damit beschäftigen, was als Beweis für Wunder zu gelten habe, und ob es darauf ankommt, ob sie wirklich geschehen sind.) DAVID BASINGER
Wundt, Wilhelm (1832-1920)
Der deutsche Philosoph, Psychologe und Arzt Wilhelm Wundt gründete das erste psychologische Labor der Welt im Jahre 1879 in Leipzig, und zwar zu einer Zeit, als die Psychologie noch allgemein als ein theoretischer und institutioneller Teil der Philosophie betrachtet wurde. Dieses Ereignis prägte sein Lebenswerk und dessen Aufnahme in vieler Hinsicht. Einerseits versuchte Wundt die Psychologie als eine unabhängige Wissenschaft zu entwickeln, indem er ihren Gegenstand und ihre Methodik definierte; andererseits wollte er die Psychologie in den Kontext der Philosophie, der Kulturtheorie und der Geschichte einbetten. Mit beiden Versuchen erlangte er Weltruhm und wurde zugleich zu einer sehr umstrittenen Figur. Während er seinen Ansatz systematisierte, arbeitete Wundt mit umfangreichem Material sehr unterschiedlicher Disziplinen. Er wurde als der letzte philosophische ‚Polyhistor‘ in der Tradition von Leibniz und Hegel bezeichnet, sowie als der erste moderne Wissenschaftler im Bereich der Psychologie. Siehe auch: Dualismus; Monismus JENS BROCKMEIER
Wunsch
Wenn ein Akteur eine Handlung unternehmen soll, dann müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens muss der Akteur Überzeugungen darüber besitzen, wie die Dinge wirklich beschaffen sind, ferner über die möglichen Handlungen in Anbetracht dieses Zustandes der Dinge, und über die wahrscheinlichen Wirkungen 1976
Wyclif, John (ca. 1330-1384)
dieser Handlungen auf diese Dinge; und zweitens muss der Akteur Wünsche haben oder diese bilden, wie die Dinge sich bei Eintreten dieses oder jenes Handlungsverlaufes ändern werden. Die Überzeugungen sagen dem Akteur etwas darüber, wie die Dinge sind und wie sie verändert werden können; die Wünsche ziehen den Akteur zu den Dingen nicht auf eine Art und Weise hin, wie sie sind, sondern wozu sie gebracht werden können. Diese ungefähre Beschreibung der Überzeugungen und Wünsche ist von der zeitgenössischen Philosophie weitgehend anerkannt; sie leitet sich auf vielfache Weise von der fruchtbaren Arbeit des schottischen Philosophen David Hume im 18. Jahrhundert ab. Aus der Sicht des Wunsches ist daran auffallend, dass sie diesen durch die Arbeit kennzeichnet, die der Wunsch in seinem Zusammenspiel mit der Überzeugung leistet und dadurch die Handlung hervorbringt; sie kennzeichnet den Wunsch durch die Funktion, nicht durch die Anwesenheit irgendeines bestimmtes Gefühls. Eine solche Darstellung wirft eine Menge Fragen auf. Ist beispielsweise das Wünschen ein vollkommen anderer Zustand als das Überzeugtsein und als andere, glaubensbezogene Zustände wie z.B. Schlussgewohnheiten? Hat der Wunsch auf Betrachtungen bezüglich der Evidenz und Wahrheit einzugehen, die für die Überzeugung und den Schluss maßgeblich sind? In welchem Verhältnis steht der Wunsch zur Vorliebe und zur Wahl? Und in welcher Beziehung steht der Wunsch zu den Werten, die wir verschiedenen Handlungsverläufen zuschreiben, und die uns in unserem Tun beeinflussen? Siehe auch: Handlung; Intention; Vernunft, praktische PHILIP PETTIT
Wyclif, John (ca. 1330-1384)
John Wyclif war ein Logiker, Theologe und religiöser Reformer. Als jemand, der aus Yorkshire abstammte, studierte er Oxford, wo er zunächst als Logiker bekannt wurde. Er entwickelte einige technische Begriffe der Oxford Calculators, sprach sich jedoch gegen ihre Ausdruckslogik aus und favorisierte stattdessen leidenschaftlich die Idee der wirklichen Existenz der universellen Ideen. Er führte seine Auffassung als ein Theologe aus, indem er den Begriff der Annihilation der Substanz (einschließlich der eucharistischen Elemente) zurückwies, und behandelte die Zeit als lediglich kontingent. Das richtige Verständnis der Universalien wurde bei ihm zum Eckstein des moralischen Fortschritts. Durch die Behandlung der Heiligen Schrift als einer universalen Idee maß er den Wert der menschlichen Institutionen, einschließlich der Kirche und ihrer zeitlichen Einrichtungen, an ihrer Übereinstimmung mit deren absoluter Wahrheit. Diese Auffassungen, obwohl König Edward III. sie zeitweise unterstützte, wurden von Papst Gregor XI im Jahre 1377 und durch die englische kirchliche Hierarchie im Jahre 1382 verdammt, was ihn in den Ruhestand zwang, von wo aus er jedoch eine Geheimgruppe akademische Reformer, die Lollards, gründete. Siehe auch: Dreifaltigkeit; Universalien JEREMY CATTO
1977
X Xun Kuang Siehe: Xunzi
Xun Qing
Siehe: Xunzi
Xunzi (ca. 298-238 v.Chr.)
Xunzi war einer der brillantesten konfuzianischen Denker des alten China. Seine Werke zeigen ein weitreichendes Interesse an solchen Themen wie der Beziehung zwischen der Moral und der menschlichen Natur, dem Wesen des ethischen Diskurses und entsprechender Beweise, und den ethischen Einsatz der Geschichte, der moralischen Erziehung und der persönlichen Kultivierung. Wegen des umfassenden und systematischen Charakters seiner philosophischen Bemühungen wird Xunzi manchmal mit Aristoteles verglichen. Hervorzuheben ist seine Betonung des li, d.h. der Regeln oder des richtigen Verhaltens, und seine Sicht des holistischen Charakters des Dao, d.h. des konfuzianischen Ideals des guten menschlichen Lebens. Er kritisierte andere Philosophen nicht wegen ihrer Fehler, sondern wegen ihrer Eingenommenheit von jeweils nur einem Aspekt des Dao unter Ausschluss der übrigen Aspekte. Siehe auch: Ethik; Konfuzianische Philosophie, Chinesische A.S. CUA
Y Yi
Siehe: Konfuzianische Philosophie; Chinesische; Konfuzius
Yin-Yang
Yin und Yang beschreiben immer die Beziehungen, die zwischen eindeutigen Einzelgegenständen bestehen. Ursprünglich bezeichneten diese Ausdrücke die schattige und die sonnige Seite eines Hügels, und mit der Zeit wurde daraus eine Bezeichnung der Art und Weise, wie eine Sache eine andere in einem bestimmten Aspekt ihrer Beziehung ‚überschattet‘. Jeder Vergleich zwischen zwei oder mehr eindeutigen Einzeldingen hinsichtlich eines beliebigen, gegebenen Kriteriums ist notwendig hierarchisch: eine Seite ist Yang, und die andere ist Yin. Die Natur des Gegenteils, das mit dieser Paarung erfasst wird, drückt die Gegenseitigkeit, die gegenseitige Abhängigkeit, die hierarchische Beziehung, die Vielgestaltigkeit und die schöpferische Wirksamkeit der dynamischen Beziehungen aus, die diesem Widerspruch immanent sind und der Welt ihren Wert verleihen. Die ganze Bandbreite der Unterschiede in der Welt wird für etwas gehalten, was sich durch diese Paarbildung erklären lässt. Yin und Yang sind Elemente einer aufeinander bezogenen Paarung, die pragmatisch bei einer Absonderung von ‚diesem‘ und ‚jenem‘ wirksam werden; sie sind jedoch nicht, obwohl dies oft behauptet wird, dualistische Prinzipien von Licht und Dunkel, männlich und weiblich, Handlung und Passivität etc., wo Licht und Dunkel 1978
Yin-Yang
jeweils einander ausschließen, das jeweilige Gegenteil gleichwohl logisch implizieren und in ihrer Komplementarität eine Gesamtheit bilden. Stattdessen sind Yin und Yang zu allererst ein Vokabular der qualitativen Kontraste, das sich auf bestimmte Situationen anwenden lässt und uns in die Lage versetzt, spezifische Unterscheidungen zu treffen. Um diese Beobachtung auf unser Verständnis von Yin und Yang anzuwenden, müssen wir mit der Beziehung beginnen, die zwischen zwei beliebigen Einzeldingen oder -ereignissen bestehen. Beispielsweise mag in einer bestehenden menschlichen Beziehung ‚diese‘ ältere Dame kraft ihrer Weisheit als Yang betrachtet werden, im Gegensatz zu ‚jener‘ jüngeren Frau, die damit Yin ist. Wenn wir uns jedoch auf ihre Fruchtbarkeit oder ihre körperlichen Kräfte beziehen, würde sich diese Korrelation vermutlich umkehren. Hier ist der Vorrang des Einzelnen und der Beweglichkeit der Beziehung wichtig. Obwohl die Dinge in dieser Welt, d.h. Einzeldinge, entschieden hierarchisch1 geordnet sind, sticht doch kein Ding in jeder Hinsicht hervor, wodurch dieselbe Hierarchie zur Grundlage einer Komplementarität aller Dinge wird. In der klassischen chinesischen Welt werden Dinge derselben ‚Art‘ nicht nach Maßgabe ihrer Wesenheiten als natürliche Arten definiert, sondern kraft ihrer Affinität oder ‚Verwandtschaft‘ oder Ähnlichkeit, die sie zu ‚Familienähnlichkeiten‘ assoziieren. Wichtig sind hier der Vorrang des einzelnen Unterschiedes und die Abwesenheit von jeglicher angenommener Selbigkeit oder strikten Identität. Die Dinge werden als etwas genommen, was Ähnlichkeiten auf der Grundlage von analogen Rollen oder Funktionen aufweist. Deshalb ruft eine Sache kraft ihrer Beziehungen viele Rollen hervor. Der Hinweis in jedem Phänomen auf den Aufruf anderer, ähnlicher Phänomene ist vergleichbar mit der vielgestaltigen Bedeutsamkeit poetischer Bilder. Die Beschreibung eines bestimmten Phänomens erfordert nicht die Entdeckung irgendeines zugrunde liegenden, dies bestimmenden und hervorbringenden Prinzips – die Grundlage dessen, durch die aus ‚vielen‘ eines wird – sondern einen Entwurf und ein Enträtseln der zahlreichen Beziehungen des Phänomens und der Beziehungen und Bedingungen, die seinen Kontext ausmachen. Yin und Yang definieren die Spannung zwischen vielfältigen Perspektiven auf Phänomene, und sie befähigen uns zur Interpretation und bringen Kohärenz in unsere Wahrnehmung von ihnen, indem sie uns erlauben, die Beziehungsmuster innerhalb bestimmter Kontexte zu unterscheiden. Sie liefern ein Vokabular für das Sortieren der Beziehungen, die zwischen den Dingen bestehen, wie sie vor uns gemeinsam gegeben sind und sich selbst in einzigartigen Kompositionen herausbilden. Daher sind Yin und Yang als Relata einer Wechselbeziehung keine universellen Prinzipien, die irgendein wesentliches Merkmal von Phänomenen definieren, sondern explanatorische Kategorien, die eine kreative Spannung in spezifischen Unterschieden aufnehmen und somit die unmittelbaren, konkreten Dinge der Welt einsehbar machen. Nur infolge eines Verallgemeinerungsprozesses sind weibliche und männliche Geschlechtszüge vorwiegend als Yin und Yang konstruiert, und Worte wie Yinmen (dt.: ‚weibliche Scheide‘) und Yangdao (dt.: ‚Männlichkeit‘, ‚männliches Geschlecht‘) bringen den Kontrast von Yin und Yang in dieser Hinsicht auf das Wesentliche. ‚Hierarchisch‘ ist hier im Sinne einer Einordnung aller Gegenstände hinsichtlich ihrer diversen Eigenschaften auf den jeweiligen Messskalen dieser Eigenschaften gemeint, nicht dagegen im Sinne einer Art von naturgesetzlicher Subordinationsstruktur. [WS]
1
1979
Yin-Yang
Das Yin-Yang-Vokabular ist funktional. Statt die Neigung einer Situation zu bewerten und es im Vorhinein zu manipulieren, müssen wir Unterscheidungen treffen. Hier kommt die Rede- und Denkweise des Yin und Yang ins Spiel. Wir beginnen mit der angenommenen Einzigartigkeit einer jeden Situation und der Einzigartigkeit der Bestandteile, aus der sie sich zusammensetzt. Der Yin-Yang-Gegensatz liefert uns hier eine Trennlinie und versetzt uns dadurch in die Lage, eine kontinuierliche Situation in verschiedene, allerdings voneinander abhängige Einzeldinge aufzuteilen. Wir müssen die einzelnen Bedingungen kennen lernen, die eine Situation bestimmen, so dass wir sie zu unserem Vorteil handhaben können. Dies erfordert, dass man die Situation in das Yin-Yang-Vokabular der komplementären Gegensätze übersetzt: stark-schwach, schnell-langsam, viele-wenige, normal-unnormal und so fort. YinYang ist ein Denkschema, das uns in die Lage versetzt, unter den vielen Faktoren zu unterscheiden, die zusammen die Kraft der Umstände ausmachen, und das gibt uns die Möglichkeit an die Hand, diese Kraft mittels einer strategischen Ausrichtung zu kontrollieren. Sobald wir bei einem Verständnis der Umstände angelangt sind, müssen wir diese kritischen Faktoren identifizieren, die uns befähigen, die Struktur einer sich entfaltenden Situation in eine Chance zu verwandeln. Anmerkungen und weitere Lektüre: Graham, A.C. (1989): ‚Disputers of the Tao: Philosophical Argument in Ancient China‘. LaSalle, Illinois: Open Court. (Ein Überblick über das alte chinesische Denken.) Hall, D.L. und Ames, R.T. (1995): ‚Anticipating China: Thinking Through the Narratives of Chinese and Western Culture‘. Albany, New York: State University of New York Press. (Eine vergleichende Studie der verschiedenen Annahmen, auf die sich die chinesischen und westlichen philosophischen Traditionen gründen.) ROGER T. AMES
1980
Z Zahlworte
Siehe: Masseausdrücke
Zeichen, demonstrative und indexikalische
Demonstrative und indexikalische Zeichen sind Worte und Redewendungen, deren Interpretation von Merkmalen ihres Zusammenhanges abhängt, in dem sie verwendet werden. Beispielsweise hängt die Referenz von ‚ich‘ von den Bedingungen ab, die von diesem Ausdruck in Anspruch genommen werden: wenn Du es verwendest, verweist es auf dich, wenn ich es verwende, verweist es auf mich. Im Unterschied dazu hängt die Referenz des Ausdrucks ‚der Erfinder des Bifokalglases‘ nicht davon ab, wann, wo oder durch wen es benutzt wird. Unter die indexikalischen Ausdrücken fallen die Worte ‚hier‘, jetzt‘, ‚heute‘, oder auch demonstrative Pronomen wie ‚dieses‘, sowie reflexive, possessive und Personalpronomen, und zusammengesetzte Wendungen unter Verwendung von indexikalischen Ausdrücken wie z.B. ‚meiner Mutter‘. C.S. Peirce verwendete den Ausdruck ‚indexikalische Zeichen‘ (indexicals) als Hinweis auf die Vorstellung des Zeigens ein (wie in dem Ausdruck ‚Zeigefinger‘). Das Phänomen der Indexikalität spielt in den zeitgenössischen philosophischen Debatten eine prominente Rolle. Der Grund hierfür ist, dass die indexikalischen Ausdrücke es uns ermöglichen, unsere Überzeugungen über unseren subjektiven Platz in der Welt auszudrücken, und zwar in Überzeugungen, die den Handlungen unmittelbar vorausgehen. Einige Philosophen meinen, dass solche Überzeugungen irreduzibel indexikalisch sind. Beispielsweise ist meine Überzeugung, dass ich kurz davor stehe, von einem Bären angegriffen zu werden, etwas ganz anderes als meine Vorstellung, dass H.D. (also der Autor dieses Beitrages) von einem Bären angegriffen wird, denn die erstere der beiden Überzeugungen erklärt, warum ich mich auf die eine oder andere Art verhalte (z.B. fliehen), während die letztere nichts erklärt, solange nicht die Erklärung folgt, ich sei der Überzeugung, dass ich H.D. bin. Es scheint unmöglich zu sein, Überzeugungen zu beschreiben, die meine Handlungen auslösen, ohne den Ausdruck ‚ich‘ zu Hilfe zu nehmen. Entsprechend wurde geltend gemacht, dass Darstellungen des Selbst oder des Bewusstseins ohne jeden indexikalischen Ausdruck notwendig unvollständig sind, so dass ein rein objektiver Physikalismus unmöglich ist. In einem anderen Zusammenhang wurde auch argumentiert, dass unsere Ausdrücke für natürliche Substanzen, Arten und Phänomene (‚Gold‘, ‚Wasser‘, ‚Licht‘) insofern indexikalisch sind, als sie bestimmte, substanzielle wissenschaftliche Behauptungen mit sich bringen, beispielsweise, dass Wasser H2O ist, und dass diese Behauptungen, wenn überhaupt, dann notwendig wahr sind. Das Nachdenken über die Indexikalität hat folglich einige überraschende (und kontroverse) philosophische Schlussfolgerungen gezeitigt. Siehe auch: Referenz HARRY DEUTSCH
Zen
Siehe: Buddhistische Philosophie, Japanische; Buddhistische Philosophie, Chinesische 1981
Zenon von Elea (geb. ca. 450 v. Chr.)
Zenon von Elea (geb. ca. 450 v. Chr.)
Der griechische Philosoph Zenon von Elea ist berühmt für seine Paradoxa. Aristoteles nannte ihn den ‚Gründer der Dialektik‘. Er schrieb zur Verteidigung der eleatischen Metaphysik seines Mitbürgers und Freundes Parmenides, demzufolge die Wirklichkeit ein Einziges ist, veränderungslos und homogen. Zenons Kraft lag in der Produktion von verwickelten Argumenten, die zu zeigen scheinen, dass offenkundig unmittelbare Merkmale der Welt, vor allem die Mehrheit von Dingen und die Bewegung, von Widersprüchen durchsetzt sind. Zumindest hatte er darin Erfolg, dass es harten Nachdenkens bedarf, den Begriffen der Vielheit und der Bewegung einen Sinn zu verleihen. Seine Paradoxa regten die Atomisten, Aristoteles und zahllose weitere Philosophen seitdem an, über die Einheit, die Unendlichkeit, das Kontinuum und die Struktur von Raum und Zeit nachzudenken. Obwohl Zenon ein Buch mit vielen Debatten schrieb, sind doch nur sehr wenige seiner wirklichen Worte überliefert. Berichte aus zweiter Hand (einige von Platon und Aristoteles) haben vielleicht präzise das Wesen der Zenonschen Argumente bewahrt. Doch selbst wenn dies so ist, wissen wir nur einen Bruchteil der Gesamtheit seines Werks. Nach Platon hatten die Argumente in Zenons Buch die folgende Form: Wenn es eine Vielheit von Dingen gibt, dann sind ein und dieselben Dinge sowohl F, als auch nicht-F; da aber dieselben Dinge nicht sowohl F und nicht-F sein können, kann es also nicht viele Dinge geben. Zwei Fassungen dieser Argumentationsform wurden bewahrt: Wenn es viele Dinge gäbe, dann wären dieselben Dinge sowohl begrenzt, als auch unbegrenzt, und dieselben Dinge wären sowohl lang (d.h. von unendlicher Größe) und klein (d.h. von keiner Größe). Wie genau die Bestandteile dieses Arguments zusammenspielen, ist nicht klar. Die Dinge sind in ihrer Anzahl beschränkt, sagt Zenon, weil sie genau so viele sind statt mehr oder weniger, während sie in ihrer Anzahl unbeschränkt sind, weil jeweils zwei von ihnen ein Drittes zwischen sich haben müssen, das sie trennt und aus ihnen zwei macht. Die Dinge sind von unendlicher Größe, weil alles, das existiert, irgendeine Größe haben muss, so dass jedes Ding eine unendliche Anzahl ausgedehnter Teile enthalten muss. Andererseits hat jedes Ding überhaupt keine Größe; denn wenn es viele Dinge gibt, dann muss es einige Dinge geben, die einzelne, einheitliche Dinge sind, und diese werden keine Größe haben, weil alles mit Größe eine Summe von Teilen ist. Zenons Argumente betreffend die Bewegung haben eine andere Form. Aristoteles berichtet von vieren dieser Argumente. Ihrer Dichotomie zufolge ist die Bewegung unmöglich, weil es zur Überbrückung irgendeiner Entfernung notwendig ist, zunächst die Hälfte dieser Entfernung zu überwinden, dann die Hälfte der verbleibenden Hälfte, dann die Hälfte des Restes, und so weiter ohne Ende. Die Geschichte von Achilles und der Schildkröte ist eine Variante hiervon: der schnelle Achilles wird eine Schildkröte niemals überholen, wenn er ihr erlaubt, mit etwas Vorsprung zu starten, weil Achilles eine endlose Reihe von Aufgaben auszuführen hat, und jedes Mal, wenn Achilles ansetzt, um die Schildkröte einzuholen, zeigt sich, dass in dem Zeitpunkt, wo Achilles den Ort erreicht, wo die Schildkröte sich befand, als Achilles losrannte, bereits ein Stück weiter gelaufen ist, wenn auch nur ganz wenig. Ein weitere Geschichte vom Pfeil versucht zu zeigen, dass ein Pfeil, der sich offenkundig bewegt, in Wirklichkeit in jedem Moment seines ‚Fluges‘ still steht, denn in jedem Moment besetzt er eine Region des Raum, die genauso groß ist wie er selbst. Die Geschichte der bewegten Reihen beschreibt drei Reihen oder Ströme gleich 1982
Zeit
großer Körper, und zwar einen stehenden und zwei weitere, die sich mit gleicher Geschwindigkeit in entgegen gesetzter Richtung bewegen. Wenn jeder Körper einen Meter lang ist, dann ist die Zeit, die ein Körper benötigt, um zwei Meter zu durchschreiten, gleich der Zeit, die er braucht, um vier Meter zu durchschreiten, denn ein bewegter Körper wird zwei stehende Körper passieren, während er vier Körper jener Reihe passiert, die sich in die entgegen gesetzte Richtung bewegen, und das erscheint unmöglich. Zenons Paradoxa müssen lösbar sein, denn die Welt enthält offensichtlich eine Vielzahl von Dingen in Bewegung. Es besteht jedoch wenig Einigkeit darüber, wie man sie lösen solle. Einige Punkte können ausgemacht werden, die Zenon vielleicht in die Irre geführt haben. Es ist beispielsweise nicht wahr, dass die Summe einer unendlichen Sammlung von Teilen, von denen jedes eine Größe hat, selbst von einer unendlichen Größe sein muss; dies ist z.B. falsch, wenn die Teile selbst eine proportional fortschreitend abnehmende Größe haben. Und etwas, das in Bewegung ist, wird stehende und bewegte Körper mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten passieren. In vielen anderen Fällen besteht jedoch keine allgemeine Einigkeit darüber, worin der Fehler, wenn es überhaupt einen solchen gibt, der Zenonschen Argumente liegt. STEPHEN MAKIN
Zenon von Kiton (334-262 v.Chr.)
Zenon von Kition, ein griechischer Philosoph aus Zypern, gründete die stoische Schule in Athen ca. 300 v.Chr. Sein intellektueller Hintergrund und seine Ausbildung lagen in verschiedenen Zweigen der sokratischen Tradition, einschließlich der platonischen Akademie, und insbesondere im Zynismus. Sein umstrittenes Buch ‚Der Staat‘ war eine utopische Abhandlung, die auf der Abschaffung der meisten bürgerlichen Normen und Institutionen aufbaute. Er legte die Fundamente der stoischen Lehre in allen Gebieten außer in jenem der Logik. DAVID SEDLEY
Zeit Einführung Die Zeit ist der durchdringendste Bestandteil unserer Erfahrung und der fundamentalste Begriff unserer physikalischen Theorien. Aus diesen Gründen ist die Zeit auch Gegenstand intensiver Aufmerksamkeit seitens der Philosophie. Das Nachdenken über unsere alltägliche, zeitlich strukturierte Sprache hat viele Denker zum Postulat einer metaphysisch wichtigen Beziehung zwischen der Zeit und der Existenz geführt. In engem Zusammenhang mit solchen Intuitionen stehen Behauptungen darüber, dass die Zeit dem Raum in tiefen und wichtigen Hinsichten nicht ähnlich sei. Die Entwicklung der physikalischen Theorien von der Newtonschen Dynamik bis zu den Relativitätstheorien, von der statistischen Mechanik bis hin zur Quantenmechanik hatte eine tiefgreifende Wirkung auf die philosophischen Ansichten über die Zeit. Die Relativität bedroht den Begriff einer universalen, globalen Gegenwart, und mit ihr auch die mutmaßlichen Verbindungen der Zeit und der Existenz. Die Verbindungen zwischen der zeitlichen und der kausalen Ordnung in den Relativitätstheorien einerseits, und zwischen der Asymmetrie der Zeit und der entropischen
1983
Zeit
Asymmetrie in der statistischen Mechanik andererseits legen verschiedene ‚reduktive‘ Darstellungen zeitlichen Phänomene nahe. Schließlich zeigen sich durch die radikalen Unterschiede zwischen der Zeit, wie sie in unserer physikalischen Theorie gegeben ist, und wie sie in unserer unmittelbaren Erfahrung erscheint, wichtige und schwierige Probleme betreffend die Beziehung des Zeitbegriffs einer Theorie zur Zeitauffassung unseres unmittelbaren Bewusstseins. 1. Zeit und Existenz 2. Der Relationismus und seine Probleme 3. Die Zeit in relativistischen Theorien 4. Zeit und Kausalität 5. Die Zeit in der Erfahrung und die Zeit in der Natur 1. Zeit und Existenz Es gibt umfangreiche philosophische Debatten über das Ausmaß, in dem die Zeitlichkeit der Welt ihrer Räumlichkeit ähnelt, oder ob dies überhaupt der Fall ist. Alle sind sich darin einig, dass Raum und Zeit sich dimensional unterscheiden, und alle sind sich auch darin einig, selbst in relativistischem Kontext, dass die Temporalität der Welt keine räumliche Dimension ist. Räumliche und zeitliche Aspekte der Welt sind beispielsweise auf unterschiedliche Weise mit kausalen Merkmalen dieser Welt verknüpft. Ein Aspekt, der die Zeit vom Raum unterscheidet, ist die intuitive Asymmetrie2 der ersteren, die von keinem der Merkmale des letzteren ausgesagt werden kann. Während darüber debattiert wird, worin diese Asymmetrie besteht und wie sie mit anderen Merkmalen der Welt verknüpft ist, wie z.B. der entropischen Asymmetrie, ist es keine große Frage, dass dies ein einzigartiges Merkmal der zeitlichen Struktur der Welt ist (siehe Thermodynamik). Doch diese Unterscheidung wird oft nicht für ausreichend gehalten, um das spezielle Wesen der Zeit zu erfassen. Metaphorische Ausdrücke wie der ‚Fluss‘ der Zeit werden oft in Anspruch genommen, um zu erfassen, was damit gemeint ist, wie z.B. in Bergsons Behandlung der Zeitlichkeit (siehe Bergson, H.-L.). McTaggart unterschied zwischen jenen Aspekten der Zeit, die mit ‚flusslosen‘ zeitlichen Relationen beschrieben werden können, wie z.B. der Umstand, dass ein Ereignis vor oder nach einem anderen eintritt, und die von ihm die B-Serie genannt werden, sowie jenen anderen Aspekten der Zeit, die im zeitlich geordneten Sprachverlauf ausgedrückt werden, und die er die A-Serie nennt. McTaggart erhob die Behauptung, dass nur die A-Serie vom Wesen der Zeitlichkeit erfasst sei, dass aber, weil dieses Zeitliche in sich selbst widersprüchlich sei, auch die Zeit selbst ‚irreal‘ sei (siehe McTaggart, J.M.E.). Mit ‚Asymmetrie der Zeit‘ ist hier die tatsächliche ‚Erstreckung‘ oder der tatsächliche ‚Verlauf‘ der Zeit in nur einer Richtung gemeint: Ereignisse spielen sich in unserer Vorstellung immer nur in einer ‚Richtung‘ ab, d.h. sie lassen sich niemals wirklich umkehren. Einmal zerbrochene Tassen setzen sich nie mehr durch eine umgekehrte kausale Einwirkung wieder zur Einheit zusammen, und ein Tintenklecks im Wasser breitet sich nur aus, zieht sich aber niemals wieder zu einem konzentrierten Tropfen zusammen (sog. entropische Asymmetrie). Da dieser Gerichtetheit der Zeit (dem ‚Zeitpfeil‘) nichts Entgegengesetztes entspricht, sagt man auch, die Zeit sei ‚asymmetrisch‘. [WS]
2
1984
Zeit
Der Kern solcher Behauptungen liegt vielleicht in einer Intuition, die bereits von Augustinus ausgedrückt wurde, dass nämlich das An-einem-anderen-Ort-sein eines Gegenstandes kaum die Wirklichkeit eines Gegenstandes berühren würde, dagegen das Nicht-gegenwärtig-Sein eines Gegenstandes bedeute, dass ihm überhaupt keine Existenz zukomme (siehe Augustinus). Andere Fassungen dieses Gedankens lauten, dass nur der Gegenwart und der Vergangenheit bestimmte Wirklichkeit zukomme, die Zukunft jedoch, da sie noch gar nicht ins Sein getreten sei, noch überhaupt keine echte oder bestimmte Wirklichkeit sei. Eine wichtige Erwiderung auf solche Ideen macht geltend, dass es letztlich keine Unterscheidung zwischen einer ‚Wirklichkeit‘ der Gegenwart, die der Vergangenheit und der Zukunft gegenübergestellt wird, und einer ‚Wirklichkeit‘ der Gegenwart und der Vergangenheit, die lediglich der Zukunft gegenüber gestellt wird, gibt. Dieser Ansatz erlaubt, dass die Vergangenheit und die Zukunft nicht ‚existieren‘, natürlich nur in dem Sinne, wie man ‚existieren‘ in zeitlich bestimmter Rede verwendet; er entdeckt hierin aber lediglich ein interessantes Merkmal der natürlichen Sprache: es gibt zeitlich gebeugte Verbformen, aber keine entsprechenden sprachlichen Strukturen für räumliche Verhältnisse. Die metaphysische Bedeutung der Frage wird dagegen ausgeblendet. McTaggarts Behauptung, dass zeitlich strukturierte Ausdrücke nicht in zeitlose übersetzt werden können, weil die ersten Wahrheitswerte aufweisen, die sich mit der verwendeten Zeitform verändern, was bei letzteren nicht der Fall ist, ist gültig, aber die Verfechter der Ansicht, dass mit der zeitlich strukturierten Aussage nichts Metaphysisches dargestellt wird, meinen hierzu, dass dies lediglich zeige, dass die zeitlich indizierte Rede eine unvermeidlich ‚zeichenreflexive‘ (engl.: token reflexive) oder auch ‚indexikalische‘ Natur aufweise. Zu sagen: ‚x hat sich ereignet‘, heißt zu sagen: ‚x hat sich vor jetzt ereignet‘. ‚Jetzt‘ ist ein Ausdruck, dessen Referenz sich mit seiner Verwendung ändert, denn er bezieht sich auf ein jegliches zeitliches Moment, zu dem er geäußert wird. Nur diese implizite Indexikalität bzw. dieser hinweisende Charakter, so wird behauptet, unterscheide die zeitlich bestimmte von der zeitlich unbestimmten Rede, und keine Fähigkeit der ersteren zur Erfassung der wesentlichen, d.h. metaphysischen Natur der Zeit, die der letzteren abgehe. Diejenigen, die diesen Gedanken ablehnen, bieten zahlreiche Wege an, auf denen sie auszudrücken versuchen, was nach ihrer Auffassung an der kritisierten Darstellung fehle. Die Zeitlogik und Modelle geteilter Welten mit der Vergangenheit als etwas Einzigartigem bzw. fest Bestimmtem und der Zukunft als etwas, das noch eine Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten offen hält, sind einige der Herangehensweisen. Andere weisen auf die Analogie zur modalen Logik hin, wo die wirkliche Welt (zumindest in den meisten Darstellungen) metaphysisch durch ihre Wirklichkeit von anderen möglichen Welten unterschieden ist, genauso wie auch die Gegenwart sich mutmaßlich von anderen zeitlichen Momenten der Vergangenheit und der Zukunft unterscheidet (siehe Zeitform und Zeitlogik). Diese Analogie reicht allerdings nicht weiter, denn jeder zeitliche Moment ist, wenn er gegenwärtig ist, der Moment der Wirklichkeit. Es hat sich allerdings als sehr schwierig herausgestellt, eine voll entwickelte metaphysische Perspektive zu entwickeln, die das Wesen der metaphysischen Behauptungen jener erfasst, die meinen, dass die Zeit auf besondere Weise mit der Existenz verbunden sei.
1985
Zeit
2. Der Relationismus und seine Probleme Wie schon bei der philosophischen Erforschung des Raumes ist auch bei der Zeit die Idee wichtig, dass sie nichts als eine strukturierte Ansammlung von Beziehungen materieller Ereignisse sei (siehe Raum). Diese Lehre ist vielleicht schon in Aristoteles’ Beschreibung der Zeit als ‚Maß der Bewegung‘ enthalten und wird in Leibniz’ voll entwickeltem Relationismus des Raumes und der Zeit explizit (sie Leibniz, G.W., § 11). Eine Frage, die sich unmittelbar aus einer relationistischen Perspektive ergibt, ist jene, ob es einen Zeitablauf ohne Veränderung geben kann (siehe Veränderung). Eine Erwiderung hierauf ist die Einführung der Modalität in den Diskurs. So, wie der leere Raum als das gedacht werden kann, was sich durch die unaktualisierten Möglichkeiten räumlicher Relationen ergibt, kann man sich zeitliche Intervalle ohne wirkliche Veränderung als etwas vorstellen, was durch mögliche, aber nicht wirkliche Veränderungen gegeben ist. Wichtige Einsichten vermittelt ferner der Begriff der Grenze von Situationen, die selbst relational miteinander verknüpft sind, wie z.B. die Grenze einer Folge von sehr großen Regionen des Universums, die ohne Veränderung verharren. Newton führte neuartige Elemente in die philosophische Diskussion ein mit seinem Bestehen auf der ‚absoluten Zeit‘, die den ebenso gearteten Raum als Bezugsrahmen für absolute träge Bewegungen begleiten sollte. Viele Relationisten befürworten den Gedanken an ein Zeitintervall als etwas, dass durch irgendeinen beliebigen, periodischen Prozess näher bestimmt wird. Newton betonte die Unterscheidung zwischen dem idealen Prozess und dem wirklichen. Wichtiger noch ist, dass seine Theorie mit ihrem Begriff der gesonderten, absolut gleichförmigen Bewegungen voraussetzt, dass die Gleichförmigkeit des Zeitintervalls durch physische Prozesse fixiert ist, die nicht von den beliebig gewählten periodischen Prozessen der Zeitmessung abhängen. Ohne den absoluten Begriff der Gleichheit des Zeitintervalls ist der absolute Begriff der Einförmigkeit der Bewegung inkohärent. Durch die zeitgenössische relativistischen Theorien werden die Fragen der Angemessenheit einer relationistischen Darstellung der Zeit in die allgemeineren Fragen aufgehoben, die den Gegensatz zwischen relationistisch und substantiell interpretierten Raum-Zeit-Theorien betreffen (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). 3. Die Zeit in relativistischen Theorien Die Einführung der neuartigen Begrifflichkeit des Raumes und der Zeit, die uns von der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie aufgezwungen wurden, illustriert auch neuerlich die zentrale Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit philosophischen und physikalischen Denkens auf diesem Gebiet. In der Speziellen Relativitätstheorie wird der Begriff der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die räumlich voneinander getrennt sind, und mit ihnen das Zeitintervall zwischen zwei räumlich getrennten, nicht gleichzeitigen Ereignissen zu einem Relativum gegenüber einem gewählten trägen Bezugsrahmen (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). Es gibt kein globales ‚jetzt‘ mehr, das sich auf ein und dieselbe Ereignismenge für alle Beobachter bezieht, unabhängig davon, in welchem Bewegungszustand sie sich zueinander befinden. Eine solche Relativierung des Zeitbegriffs darf nicht mit der relationistischen Konzeption der Zeit, wie 1986
Zeit
sie oben beschrieben wurde, verwechselt werden. Mit dem Aufstieg der Speziellen Relativitätstheorie trennen sich auch radikal unsere intuitiven Vorstellungen der Zeit von jenen, die von den physikalischen Theorien postuliert werden. Es wird oft behauptet, dass innerhalb des relativistischen Bildes der Zeit jene Lehren, die die Existenz mit der Zeitlichkeit verknüpfen (s. oben) nicht länger vertretbar seien. Wenn das Gegenwärtige und das Vergangene sich von Beobachter zu Beobachter ändern kann, wie kann man dann überhaupt noch aufrecht erhalten, dass der Vergangenheit und der Zukunft (oder alternativ auch der Zukunft allein) keine ‚echte‘ Wirklichkeit zukommen? Eine häufige Behauptung in diesem Zusammenhang ist, dass uns die Relativität die Auffassung einer Zeitlosigkeit der Existenz aufzwinge, die im Gegensatz zu Theorien einer im Wesentlichen zeitlich geprägten Natur der Existenz stünden. Wie es jedoch so häufig der Fall ist, erscheint ein solcher Schluss von der Physik auf die Philosophie voreilig. Man könnte beispielsweise den Begriff der Existenz relativieren und damit behaupten, dass die Vergangenheit und die Zukunft unwirklich seien, dass aber dennoch Ereignisse, die für einen Beobachter unwirklich seien, gleichwohl wirklich für einen zweiten Beobachter sein könnten, der für den ersten wiederum ebenfalls wirklich existiert. Alternativ könnte man nur invariante Merkmale der Raumzeit in die Darstellung aufnehmen. In einer Variante dieses Ansatzes bleibt die Vergangenheit an ‚ihrem‘ Ereignispunkt der Raumzeit, und zwar in dem Sinne, dass der vergangene Lichtkegel an dem betreffenden Ereignispunkt die Wirklichkeit konstituiert (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). In einer weiteren Fassung bricht die Wirklichkeit noch radikaler als in der augustinischen Auffassung zusammen, so dass das, was an einem Raumzeitpunkt wirklich ist, tatsächlich nur dieser unausgedehnte Raumzeitpunkt mit seinen Merkmalen ist. Die Allgemeine Relativitätstheorie mit ihrer dynamischen Raumzeit lässt die Dinge noch sonderbarer erscheinen. Modelle der Welt existieren in dieser Theorie auf geschlossenen, zeitartigen Kurven. In einer solchen Welt kann ein Ereignis global gesehen in seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft liegen (siehe Zeitreise). Solche Möglichkeiten führten Kurt Gödel zu der Behauptung, dass die Zeit ‚ideell‘ sei, und dass der ‚t‘-Parameter der Physik für überhaupt keine Zeit stünde. 4. Zeit und Kausalität Verschiedentliche Behauptungen wurden in dem Sinne erhoben, dass die Zeit durch einige andere Merkmale der Welt ‚definiert‘ oder auf sie ‚reduzierbar‘ sei. Kausaltheorien datieren zurück bis zu Leibniz, der darauf hinwies, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen dadurch beschrieben werden könne, dass sie nicht kausal miteinander verbunden seien. Der Zusammenbruch dieser Assoziation in der Speziellen Relativitätstheorie wird oft als eine Schlüsselfigur in Behauptungen verstanden, die darauf abzielen, dass distante Gleichzeitigkeit lediglich eine Sache der Konvention sei. Die Frage nach dem Umfang, in dem zeitliche Begriffe in der Relativitätstheorie kausal definierbar seien oder nicht, ist schwierig zu beantworten. In der Speziellen Relativitätstheorie gibt es eine Beziehung, die als kausale Verknüpfbarkeit aufgefasst werden kann, und die koextensiv mit der Gleichzeitigkeit ist. In der Allgemeinen Relativitätstheorie versagen in der Regel kausale Definitionen der zeitlichen Metrik und der topologischen Begriffe, die sich allein auf die kausale Verknüpfbar1987
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keit stützen. Man kann aber topologische, raumzeitliche Begriffe als das Kontinuum kausaler (zeitartiger) Pfade auffassen. Dies legt eine Reduktion der raumzeitlichen auf kausale Begriffe nicht per se nahe, aber doch hinsichtlich der erkenntnistheoretisch zugänglichen, topologischen Merkmale der Raumzeit, also jener, die einem Beobachter direkt zur Verfügung stehen (siehe Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der). Sowohl die physikalischen Verbindungen der räumlichen und zeitlichen (und der raumzeitlichen) Merkmale einerseits, und der kausalen Merkmale der Welt andererseits, und das philosophische Verständnis dessen, was dies für unser Verständnis der Zeit in der Welt bedeuten soll, bleibt ein strittiges Thema (siehe Kausalität). 5. Die Zeit in der Erfahrung und die Zeit in der Natur Die Zeitlichkeit tritt in unserem begrifflichen Bezugsrahmen sowohl als deskriptiver Bestandteil unserer unmittelbaren Erfahrung, als auch als ein Bestandteil unserer theoretischen Beschreibungen der physikalischen Welt auf. In welcher Beziehung stehen diese Aspekte der Zeit aber zueinander? Dies ist selbst dann noch ein Problem für die Philosophie, wenn wir die Zeit der Natur als etwas auffassen, das dieselben Merkmale aufweist, die wir in einem vorwissenschaftlichen Sinne der Zeit zuschreiben. Sobald uns von der Wissenschaft mitgeteilt wurde, dass die Zeit der Natur sich radikal anders verhält als alles, was uns in unserer unmittelbaren Erfahrung begegnet – wie uns dies in der Tat die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mitzuteilen scheinen, und wie wir es wahrscheinlich noch radikaler erfahren werden, sobald eine voll entwickelte quantenmechanische Darstellung der Raumzeit vorliegt – wird das Problem der Erfahrungszeit in ihrer Beziehung zur theoretischen Zeit sogar noch dringender. Eine wichtige Denkströmung beginnt mit der Zeit unserer unmittelbaren Erfahrung und legt nahe, dass die Zeit der Natur auf die eine oder andere Weise ein Konstrukt sei, das von der Zeitwahrnehmung des Bewusstseins abhänge. Eine fruchtbare Fassung dieses Ansatzes ist die Behandlung der Zeit bei Kant (‚Kritik der reinen Vernunft‘, 1781/1787). Dort ist die Zeit, zusammen mit dem Raum, eines der strukturierenden Prinzipien aller Erfahrung; sie werden von Kant als ‚Formen der reinen Anschauung‘ bezeichnet. Als solche wären sie Merkmale der phänomenalen Welt, und keine der ‚Dinge an sich‘. Sowohl die äußere Erfahrung physischer Gegenstände, als auch die innere Erfahrung psychologischer Zustände werden nach dieser Darstellung als etwas aufgefasst, das sich innerhalb des Bezugsrahmens intuitiver zeitlicher (und räumliche) Strukturen befindet. Hinter dem zeitlichen, psychologischen Selbst gebe es jedoch ein transzendentales Selbst, das alle unsere Erfahrung durch sein implizites ‚Ich denke‘ vereinheitlicht. Als etwas Nichtzeitliches ist das transzendentale Selbst die Grundlage der zeitlichen Strukturierung physischer und psychologischer Erfahrung (siehe Kant, I.,§§ 5-7). Die idealistische Tradition setzt sich in Husserls phänomenologischer Darstellung des Grundes und der Natur unserer Erfahrung der Zeit fort. Hier liegt die Betonung auf den notwendigen Merkmalen solcher Erfahrung, damit wir Dinge als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig erfahren können, und damit wir ein Empfinden dafür haben können, dass wir Dinge im zeitlichen Verlauf tun. In Heideggers pragmatisch-phänomenologischer Darstellung der Zeit als einer Funktion menschlicher Tätigkeit liegt hierin überhaupt der Grund aller Zeitlichkeit (siehe 1988
Zeit
Heidegger, M., §§ 1-2). Man beginnt mit der Zeit (im Sinne eines Beginns zeitlicher Erfahrung), wie sie uns in unserer erfahrenen Welt der fixierten Vergangenheit erscheint, und auch als die Gegenwärtigkeit des Handelns bzw. als die Zukunft projektierter Absichten. Die Zeit der Natur und der Wissenschaft, d.h. die Zeit des ‚gegenwärtigen Zuhanden-Seins‘, ist nach dieser Auffassung nur eine Ableitung aus der vorrangigen Erfahrungszeit als Folge von Entscheidung und Handlung. In diesen transzendentalen, idealistischen Darstellungen der Zeit steht die Zeitlichkeit des Vergangenen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu solchen Ansätzen stehen jene der physikalistisch-naturalistischen Schilderungen, für die die Zeit der physikalischen Welt grundlegend, und die Zeit der menschlichen Erfahrung bestenfalls supervenient ist. Nach diesen Darstellungen sind es üblicherweise die zeitlosen Relationen der McTaggartschen BReihe, die als grundlegend angesehen werden. Die Zeit der Erfahrung erscheint hier gewöhnlich als etwas in der Art einer Sekundärqualität. Aber selbst solche naturalistischen Darstellungen haben ihre problematischen Seiten. Jeder Vorschlag, der die Erfahrungszeit zu einer reinen Sekundärqualität macht (wie dies z.B. Gödel tat), und der folglich das ‚t‘ der Physik nur als einen Parameter auffasst, der in keiner Verbindung zur von uns empfundenen Zeit steht, gibt uns keinerlei Hinweis darauf, wie man physikalische Theorien als realistische Interpretationen der Zeit – im Gegensatz zu instrumentellen – auffassen könnte, und auch nicht für den theoretischen Realismus im Allgemeinen (siehe Wissenschaftlicher Realismus und Antirealismus). Siehe auch: Fortbestehende Dinge Anmerkungen und weitere Lektüre: Davies, P. (1974): ‚The Physics of Time Asymmetry‘. Bekeley, California: University of California Press (Dieses Buch beschäftigt sich mit der Gerichtetheit der Zeit in den entsprechenden physikalischen Theorien.) Le Poidevin, R. und MacBeath, M. (Hrg.) (1993) : ‘The Philosophy of Time‘. Oxfod: Oxford University Press. (Eine Sammlung wichtiger philosophischer Aufsätze über die Zeit.) Sklar, L. (1993): ‚Physics and Chance‘. Cambridge: Cambridge University Press. (Im 10. Kapitel wird hier die entropische Theorie der zeitlichen Ordnung diskutiert.) LAWRENCE SKLAR
Zeitform und Zeitlogik
Es bedarf einer besonderen Art der Logik, um die gültigen Argumente darstellen zu können, die im Zusammenhang mit zeitbezogenen Sätzen und zeitgebeugten Verben auftreten. Die erste bedeutende Darstellung der Zeitlogik wurde von Prior im Jahre 1957 veröffentlicht. Die temporale Satzlogik fügt in ihrer einfachsten Form der klassischen Aussagenlogik zwei Zeitoperatoren P und F hinzu. Die grundlegende Idee ist hier, die Vergangenheit und die Zukunft als sprachliche Zeitformen im Sinne von Aussagenpräfixen zu verstehen: ‚Es war wahr, dass…‘ und ‚Es wird wahr sein, dass…‘, sind Aussagen, die Satzaussagen in der Gegenwartsform vorangestellt werden. Satzaussagen in der Gegenwartsform bedürfen keines Gegenwartsoperators, weil der Satz ‚Es ist wahr, dass Maria jetzt gerade läuft‘ äquivalent mit dem
1989
Zeitreise
Satz ‚Maria läuft‘ ist. Die Übersetzung dieser Symbole in eine natürliche Sprache steht nur am Rande einer Semantik für die Zeitlogik; wir können ‚P‘ als ‚es war wahr, dass‘ übersetzen; dadurch bleibt aber immer noch die Frage offen, was es bedeutet zu sagen ‚es war wahr, dass‘. Es gibt mindestens zwei Fassungen der Theorie zeitlicher Aussagen, nämlich die minimalistische und die maximalistische Fassung. Beide kann man zur Interpretation der zeitlogischen Symbole verwenden. Die minimalistische Fassung impliziert, dass es keine vergangenen oder zukünftigen Einzelgegenstände gibt, und damit auch keine Dinge oder Ereignisse, die die Eigenschaft des Vergangenseins oder des Zukünftigseins aufweisen. Es existieren dieser Auffassung zufolge nur Dinge mit ihren Eigenschaften und Beziehungen, auf die in bestimmten, als gegenwärtige formulierten Sätzen Bezug genommen werden kann. Wenn ‚Maria läuft‘ wahr ist, dann gibt es eine ‚Sache‘, nämlich Maria, die die Eigenschaft des Laufens besitzt. Der Satz ‚Sokrates diskutierte‘ enthält, selbst wenn er wahr ist, keinen Namen, der auf eine vergangene Sache namens Sokrates verweist, denn es gibt diesem Ansatz zufolge keine vergangenen Sachen. Die ontologischen Verbindlichkeiten aus Sätzen in Vergangenheits- und Zukunftsform bestehen nur gegenüber Propositionen3, die satzartig abstrakte Gegenstände sind, und die ihrerseits die Bedeutung oder der Sinn von Sätzen sind. ‚Sokrates diskutierte‘ bindet uns lediglich an die Proposition, die durch den Satz: ‚Es war wahr, dass Sokrates diskutierte‘ ausgedrückt wird. Die maximalistische Theorie der Zeitlogik impliziert dagegen, dass es vergangene, gegenwärtige und zukünftige Dinge und Ereignisse gibt, und dass vergangene Gegenstände die Eigenschaft des Vergangenseins, gegenwärtige Dinge die Eigenschaft der Gegenwärtigkeit, und zukünftige Gegenstände die Eigenschaft der Zukünftigkeit besitzen. Der Satz: ‚Sokrates diskutierte‘ impliziert dann eine Bezugnahme auf eine vergangene Sache, nämlich Sokrates, und impliziert ferner, dass das Ereignis eines Sokrates, der diskutiert, die Eigenschaft aufweist, vergangen zu sein.
Siehe auch: Demonstrative und indexikalische Zeichen; Fortbestehende Dinge; Intensionale Logik; Modallogik; Zeit QUENTIN SMITH
Zeitreise
Die Aussicht auf eine Maschine, in der man durch die Zeit transportiert werden kann, ist nicht mehr reine Phantasie, sondern wurde im 20. Jahrhundert zum Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher und philosophischer Debatten. Aus Einsteins Spezieller Relativitätstheorie haben wir gelernt, dass eine Form der Zeitreise in die Zukunft dadurch möglich werden könnte, dass man sich nächst der Lichtgeschwindigkeit fortbewegt und als Folge davon langsamer altert, d.h. durch Ausnutzung des Zeitdehnungseffektes einer solchen schnellen Bewegung. Und im Jahre 1949 veröffentlichte Kurt Gödel seine Entdeckung von allgemein-relativistischen Raumzeiten, deren globale Kurvatur auch Reisen in die Vergangenheit erlauben sollte. Seitdem erfolgt die Erforschung der Möglichkeit von Zeitreisen in drei Hauptrichtungen. Erstens wurden Untersuchungen von theoretischen Physikern über den Charakter und die Plausibilität von Strukturen angestellt, die über jene von Gödel entdeckten hinausgehen und geschlossene, zeitartige Linien und geschlossene Kausalketten erzeugen. Diese Phänomene umfassen auch rotierende Universen, ‚schwarze Löcher‘, 3
Zum Begriff der Proposition siehe Anm. 7 des Beitrages Propositionale Einstellungen.
1990
Zeugnis
durchquerbare ‚Wurmlöcher‘ und unendliche kosmische strings. Zweitens machte man sich auch Gedanken über die semantische Frage, ob die Ausdrücke ‚Ursache‘, ‚Zeit‘ und ‚Reise‘ im strengen Wortsinne auf solche bizarren Modelle überhaupt noch anwendbar sind, wenn man bedenkt, wie weit sie von den Kontexten entfernt sind, in denen diese Worte verwendet werden. Es mag jedoch Skepsis angebracht sein hinsichtlich der Bedeutung dieser Frage, denn die primär interessierenden Fragen, die sich auf das Wesen und die Wirklichkeit von Modellen der Gödelschen Art konzentrieren, scheinen unabhängig davon zu sein, ob ihre Beschreibung eine Bedeutungsverschiebung dieser Worte erfordert. Und drittens gab es erhebliche Diskussionen sowohl innerhalb der Physiker-, als auch innerhalb der philosophischen Gemeinde betreffend zahlreiche angebliche Paradoxa im Falle von Zeitreisen, und auch über ihre Möglichkeiten, gerade diejenigen Raumzeit-Modelle auszuschließen, in denen sich Zeitreisen ereignen können. Siehe auch: Raumzeit; Relativitätstheorie, Philosophische Bedeutung der; Zeit PAUL HORWICH
Zensur
Siehe: Journalismus, Ethik des; Pornographie; Redefreiheit
Zeugnis
Die philosophische Behandlung der Probleme, die durch den Begriff der Erkenntnis oder des Wissens aufgeworfen werden, war auf seltsame Weise blind gegenüber der Rolle, die das Zeugnis bei der Ansammlung und der Überprüfung von Wissen oder auch für die gerechtfertigte Überzeugung spielt. Dies ist umso überraschender in Anbetracht des Umstandes, dass eine enorme Menge dessen, was ein Einzelner plausiblerweise zu wissen behaupten kann, sei es in Alltagsangelegenheiten oder zu theoretischen Zwecken, auf verschiedene Weise von dem abhängt, was andere gesagt haben. Die Vorstellung, dass jemand nur wirkliches Wissen erlangen kann, wenn er es sich vollständig durch Inanspruchnahme seiner eigenen Erfahrungsquellen aneignet, ist ein verführerisches Ideal des autonomen Wissens, dass vielleicht erklären hilft, wieso die Erkenntnistheoretiker ihren Blick von der Frage des Zeugnisses abgewandt haben. Solange sie aber bereit sind, den Geltungsbereich der Erkenntnis so drastisch einzuschränken, müssen Theoretiker, die ein solches individualistisches Autonomieideal vertreten, auch erklären, wie unser weitreichendes Vertrauen in das, was uns erzählt wird, damit in Einklang gebracht werden kann. Typischerweise erkennen jene, die über diese Sache nachdenken, die besagte Verlässlichkeit an, versuchen aber dann zu zeigen, dass der individuelle Erkennende seine Abhängigkeit vom Zeugnis allein durch den Rückgriff auf die individuellen Ressourcen der Beobachtung, der Erinnerung und des Schlusses zu rechtfertigen vermag. Das Zeugnis wird daher als eine Erkenntnisquelle zweiten Ranges betrachtet. Dieses reduktionistische Projekt ist jedoch größeren Schwierigkeiten ausgesetzt, wie man in dessen Fassung bei David Hume sehen kann. Es hat Probleme mit der Art und Weise, wie die angegebene Rechtfertigung strukturiert ist, mit ihren Behauptungen über die Sprache, und mit der Art und Weise, wie die individuellen erkenntnistheoretischen Ressourcen bereits mit dem Zeugnis vermischt und verstrickt sind. Der Erfolg oder das Versagen des reduktionistischen Projekts hat bedeutende
1991
Zeugnis in der der indischen Philosophie, Das
Auswirkungen auf andere philosophische und wissenschaftliche Untersuchungsgebiete. Siehe auch: Soziale Erkenntnislehre; Zeugnis in der der indischen Philosophie, Das C.A.J. Coady
Zeugnis in der der indischen Philosophie, Das
Ein herausragendes Thema der indischen Erkenntnislehre ist śābdapramāna, d.h. die Erkenntnis, die von der sprachlichen Äußerung oder dem Zeugnis abgeleitet wird. Das klassische Material hierzu ist weitläufig und geht in unterschiedliche Richtungen. Ursprünglich bezog sich dieser Erkenntnistyp auf die Schaffung von Gründen zur Akzeptanz der Weisheit von śruti, d.h. des ‚gehörten Wortes‘, also der kanonischen Schriften. Die Buddhisten sahen jedoch keine Notwendigkeit für die śābdajñāna als einer unabhängigen Erkenntnisquelle, d.h. für die Information, die durch das Wort gewonnen wird, weil keine Äußerung, einschließlich derjenigen von Buddha, die nicht von der eigenen Erfahrung überprüft wurde, vertrauenswürdig sei. In jedem Falle könne der Erwerb eines solchen Wissens immer als Schluss und Wahrnehmung dargestellt werden. Das Nyāya, dem Mīmāmsā folgend, entwickelte ausgeklügelte Analysen und eine geistvolle Verteidigung der Tauglichkeit und Autonomie des Zeugnisses. Das Problem wird damit auf die folgende Weise neu formuliert: ist śābdapramāna an sich selbst sprachliches Wissen, oder läuft das verbale Verständnis auf ein Wissen nur dann hinaus, wenn gewisse angebbare Bedingungen zusätzlich zu den Erzeugungsbedingungen erfüllt sind? Die gewöhnliche Antwort hierauf ist, dass, wenn der Sprecher verlässlich und aufrichtig ist und es keinen Hinweis auf das Gegenteil gibt, die zugrunde liegenden semantischen und phänomenologischen Bedingungen ausreichen, um gültiges Wissen zu verschaffen. Wenn Zweifel entstehen, dann können andere Quellen zur Prüfung der Wahrheit oder der Falschheit des Verständnisses, oder zur Überwindung der Mängel auch die Verlässlichkeit des Autors einer unpersönlichen Quelle verwendet werden. PURUSHOTTAMA BILIMORIA
Zi Mozi
Siehe: Mozi
Zitat, Wortgebrauch und Gegenstandserwähnung, Unterschied von
Sprecher ‚verwenden‘ den Ausdruck, den sie äußern, und ‚erwähnen‘ die einzelnen Dinge, über die sie reden. Im Zusammenhang mit den Rollen der verwendeten Ausdrücke und der erwähnten Einzelgegenstände gibt es eine Art und Weise der Verbindung von ihnen, und auch einen typischen Irrtum im Umgang mit ihnen. Üblicherweise wird der Ausdruck, der in einer Äußerung verwendet wird, nicht auch genau das erwähnte Einzelding sein, also das, wovon die Rede ist. Doch können beide zusammenfallen. Das Mittel hierzu sind Anführungszeichen. Dem Anführungszeichen kommt eine spezielle Verwendung zu; es wird verwendet, wenn ein Ausdruck sich selbst erwähnt4. Diese Verwendung von Anführungszeichen darf jedoch nicht mit der im Deutschen ebenfall üblichen Verwendung von Anführungszeichen für uneigentliches Sprechen verwechselt werden. Ein Beispiel für uneigentliches Sprechen ist die ironische Rede. Antwortet beispielsweise jemand, der
4
1992
Ziviler Ungehorsam
Der Fehler, nicht zwischen den Rollen der verwendeten Ausdrücke und den erwähnten Einzelgegenständen zu unterscheiden, kann zu Irrtümern führen. Solche Irrtümer werden ‚Verwechslungen zwischen Verwendung und Erwähnung‘ genannt. An sich ist eine solche Verwechslung ein kleinerer linguistischer faux pas, aber unter ungünstigen Voraussetzungen kann er auch größere Probleme verursachen. Siehe auch: De Re / De Dicto COREY WASHINGTON
Ziviler Ungehorsam
Gängigen Definitionen zufolge ist der zivile Ungehorsam ein öffentlicher und nicht-gewalttätiger Bruch des Gesetzes, der begangen wird, um das Gesetz oder die Politik zwecks einer besseren Gesellschaft zu ändern. Ferner müssen die als zivil ungehorsam Eingestuften bereit sein, für ihr Verhalten bestraft zu werden. Worin liegt die praktische Bedeutung einer Kategorisierung dessen, was als ziviler Ungehorsam zu gelten hat? Die übliche Annahme lautet, dass Handlungen des zivilen Ungehorsams leichter moralisch zu rechtfertigen sind als andere illegale Handlungen. Handlungen des zivilen Ungehorsams, wie z.B. solche, die die Abschaffung der Sklaverei bezweckten, oder jene der Anhänger von Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. bzw. jene der Gegner des Vietnamkrieges stellten eine wichtige Form des sozialen Protests dar. Die Entscheidung darüber, was genau als ziviler Ungehorsam zu gelten hat, sollte sowohl vom gewöhnlichen Verständnis dessen, was der Ausdruck bedeutet, geleitet sein, als auch davon, welche Faktoren für die moralische Rechtfertigung geltend gemacht werden. Als Rechtfertigung zählen die Gewaltlosigkeit und die Öffentlichkeit, denn diese verringern den Schaden infolge der Gesetzesverletzung. Die Taktik sollte dem Schlechten angemessen sein, gegen das der zivile Ungehorsam gerichtet ist. Jemand, der die Moral einer bestimmten Handlung des zivilen Ungehorsams bewertet, sollte eine Bewertung der Taktik von der Bewertung der Ziele unterscheiden. KENT GREENAWALT
Zivilistische Tradition Siehe: Römisches Recht
sich offensichtlich ziemlich krank fühlt, auf entsprechende Nachfrage: „Oh ja, mir geht es wirklich ‚toll‘!“, dann bedeuten die Anführungszeichen um das Wort‚toll‘, dass hier nicht derjenige Zustand gemeint ist, den das Wort üblicherweise beschreibt, sondern eher sein Gegenteil. – Ferner werden im Deutschen umgangssprachlich häufig Anführungszeichen verwendet, um anzuzeigen, dass man die gewählte Ausdrucksweise nicht ganz als die eigene verwendet, sondern sich beispielsweise auf einen öffentlichen Sprachgebrauch bezieht. Ein Beispiel hierfür wäre es, wenn ein Vorgesetzter seine Mitarbeiter informell auf einem Schild in der Büroküche auffordert: „Ich bitte um Beachtung der ‚Vorschriften‘ hinsichtlich der pfleglichen Benutzung der Küche!“ In diesem Falle bedeutet das Wort ‚Vorschriften‘ in Anführungszeichen vielleicht: ‚unsere stillschweigende Übereinkunft‘ oder ähnliches, weil es in seinem Betrieb womöglich gar keine formalen Vorschriften zu diesem Sachverhalt gibt. – Wieder eine andere Verwendung von Anführungszeichen ist die Absetzung z.B. von Buchtiteln etc. vom übrigen Textfluss, um sie als zusammengesetzte Eigennamen zu kennzeichnen, wie dies auch in dieser Enzyklopädie durchgehend praktiziert wird. Dies alles hat jedoch nichts mit der formalen Verwendung von Anführungszeichen im sprachanalytischen Kontext im oben genannten Sinne zu tun. [WS]
1993
Zoroastrismus
Zoroastrismus
Zarathustra, der in der klassischen und modernen Welt eher in der griechischen Form seines Namens ‚Zoroaster‘ bekannt ist, offenbarte seine Vision der Wahrheit, der Weisheit und der Gerechtigkeit in der Versdichtung, die unter dem Titel ‚Gāthās‘ (ca. 1200-1000 v. Chr.) bekannt ist, und wird von den Zoroastristen als ihr heiliger Prophet verehrt. Die Religion wird richtig als mazdāyasna, als ‚die Anbetung von Ahura (‚der Herr‘) Mazdā‘, beschrieben, der der Schöpfer der Welt und die Quelle alles Guten sei. Weil das avestische (eine altiranische, ausgestorbene Sprache) Wort mazdā zu deutsch ‚weise‘ oder ‚Weisheit‘ bedeutet, sehen die Zoroastristen ihren Propheten als den ursprünglichen philosophos, also den ursprünglichen ‚Liebhaber der Weisheit‘ an. Zarathustras Botschaft ist vor allem ethischer und rationalistischer Natur. Der Zoroastrismus lehrt ein Leben, das (1) auf der Vermeidung des Bösen beruht, und zwar durch eine rigorose Unterscheidung zwischen Gut und Böse, und (2) das im Dienste der Weisheit steht durch die Pflege von sieben Idealen. Diese Ideale sind als sieben unsterbliche, wohlwollende Geister personifiziert: Ahura Mazdā selbst, der als schöpferischer, ‚heiliger‘Geist vorgestellt wird; die Erhabene Wahrheit; die Tugendhafte Kraft; der Gute Zweck bzw. Geist; die Gütige Frömmigkeit; die Ganzheit bzw. Gesundheit; und schließlich die Unsterblichkeit. Das Böse entspringt weder aus Gott, noch aus seinen Geschöpfen, sondern aus einer ganz anderen Quelle, die als Angra Mainyu personifiziert ist, d.h. als der ‚Feindselige Geist‘, dessen Existenz rituell und lehrmäßig als vorgetäuschte und parasitäre abgelehnt wird. Die wirkliche Existenz ist allein die Domäne von Ahura Mazdā und seiner Schöpfung. Angra Mainyu und seine Dämonen sind in Wirklichkeit Zustände der Negativität, der Leugnung, oder in den Worten der Religion ‚die Lüge‘. Deshalb ist der Vorwurf, diese Religion sei ontologisch dualistisch, nicht wahrer, als dies für jedes andere System zutrifft, das das Gute und das Böse als etwas ansieht, das in fundamentalem Widerspruch zueinander steht. Ebenso ist der Einwand, dass ihre Theologie eine ditheistische oder polytheistische sei, ein Missverständnis der zoroastrischen theologischen und rituellen Tradition. Der Einfluss, den diese Religion auf die klassische Philosophie und das Denken und die Sitten des Judaismus, des Christentums und des Islam ausgeübt hat, wird durch die Gelehrten der heutigen Zeit neu bewertet. Siehe auch: Neuplatonismus; Religionsphilosophie ALAN WILLIAMS
Zufälligkeit
Die fundamentale Intuition, die der Zufälligkeit zugrunde liegt, ist die Abwesenheit von Ordnung oder Mustern. Um diese Intuition genauer zu klären, gehen die Philosophen und Wissenschaftler auf fünf verschiedene Weisen an die Zufälligkeit heran: (1) Zufälligkeit als das Ergebnis eines Zufallsprozesses. Demzufolge tritt ein Ereignis zufällig ein, wenn es das Ergebnis eines Zufallsprozesses ist. Ferner stelle eine Ereignisfolge eine zufällige Auswahl dar, wenn alle Ereignisse der Folge sich von einem einzigen Zufallsprozess ableiten und kein Ereignis der Folge durch die anderen beeinflusst ist. (2) Zufälligkeit als Nachahmungszufall. Statistiker suchen häufig nach einer Zufallsprobe im Sinne von (1) entsprechend einer spezifizierten Wahrscheinlich-
1994
Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber
keitsverteilung. Unglücklicherweise kann ein Zufallsprozess, der dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung entspricht, schwer herzustellen sein. In diesem Falle wird ein Statistiker vielleicht eine Computersimuluation verwenden, um den gewünschten Zufallsprozess nachzuahmen, beispielsweise einen Generator für Zufallszahlen. Zufälligkeit als Nachahmungszufall wird auch als Pseudozufälligkeit bezeichnet. (3) Zufälligkeit durch Mischung. Man bedenke die folgende Situation: Teilchen sind in einer der Ecken eines Flüssigkeitsbehälters konzentriert; es wirken Kräfte auf die Flüssigkeit ein, so dass die Teilchen schließlich gründlich mit der gesamten Flüssigkeit in dem Behälter vermischt sind und dabei einen Gleichgewichtszustand erreichen. Hier für die Zufälligkeit mit dem Gleichgewichtszustand über diese Mischung identifiziert. (4) Zufälligkeit als Maß einer Berechnungskomplexität. Computer sind ideal zur Erzeugung von Bit-Ketten geeignet. Die Länge des kürzesten Programms, dass eine gegebene Bit-Kette generiert, sowie die Minimalzeit, die ein Programm benötigt, um diese Kette zu erzeugen sind Maße für die Komplexität solcher Ketten. Je höher die Komplexität, umso zufälliger ist die Kette. (5) Zufälligkeit als Musterbruch. Nimmt man eine bestimmte Sammlung von Mustern, so ist ein Objekt zufällig, wenn es gegen alle Muster der Sammlung verstößt. Wenn es andererseits in wenigstens eines der Muster der Sammlung passt, so ist es nicht mehr zufällig.
WILLIAM A. DEMBSKI
Zukünftigen Generationen, Verpflichtungen gegenüber
Es gibt mindestens drei unterschiedliche Auffassungen betreffend die Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen. Eine lautet, dass die Moral hier nicht anwendbar ist, da künftige Generationen in keinerlei Beziehung der Gegenseitigkeit zu uns stehen. Eine weitere lautet, dass wir, obwohl wir keinerlei moralische Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen haben, etwas für sie zu tun, es doch sehr löblich wäre, wenn wir dies täten. Und eine dritte Auffassung besagt, dass die Gerechtigkeit es fordert, dass wir die Interessen zukünftiger Generationen beachten. Philosophen und andere haben die betreffenden Verpflichtungen auf drei Hauptgebieten diskutiert: der Umwelt und den Schäden, die ihr auf der Jagd nach Profit angetan wird; Sparen und die Akkumulation von Kapital; und die Bevölkerungspolitik. Unterschiedliche theoretische Ansätze wurden erarbeitet. Dem Utilitarismus zufolge zählen die Interessen zukünftiger Menschen genauso viel wie jene der gegenwärtig lebenden, und alle Interessen müssen weitestgehend befriedigt werden. Hieraus können sehr weit gehende Forderungen resultieren. Der politischen Vertragstheorie zufolge beruht die Moral auf der Übereinkunft aller beteiligten Seiten. Wessen Sichtweise soll aber beachtet werden im Falle der künftigen Generationen? Den vielleicht plausibelsten Ansatz bietet der Kommunitarismus, dem zufolge diese Verpflichtungen sich auf einen Gemeinschaftssinn stützen können, der sich in die Zukunft erstreckt.
Siehe auch: Technologie und Ethik AVNER DE-SHALIT
Zusammengesetztheit
Siehe: Kompositionalität 1995
Zusammenhang, Einzelheit und
Zusammenhang, Einzelheit und
Zu den tiefsten Fragen der abendländischen Philosophie gehört jene nach dem Rätsel oder der Widersprüchlichkeit des Umstandes, dass unsere Welt offenbar aus einzelnen Dingen besteht, diese Dinge aber gleichzeitig eine große Gesamtheit oder sogar Einheit bilden. Diese Frage könnte man so formulieren: ‚Stimmt es, dass alles mit allem zusammenhängt? Und wenn dies der Fall ist, was bedeutet dann der Begriff des Einzelnen in diesem Allzusammenhang? Ist nicht eigentlich alles Eines?’ Wohlgemerkt ist der Begriff des Zusammenhanges in der vorgenannten Fragestellung in einem sehr weiten Sinne zu verstehen; er meint jegliche Arten oder Formen von Zusammenhängen, also physikalisch-kausale genauso wie geistig-assoziative, semantische, emotionale oder logische Zusammenhänge. Bereits der Vorsokratiker Heraklit („Aus Allem Eins und aus Einem Alles“) beschäftigte sich intensiv mit dieser Frage, und im Anschluss an ihn zog sie sich durch die gesamte abendländische Ideengeschichte. Der verwandte Begriff der Alleinheit steht im Zentrum der pantheistischen Theologie, nach der die Einheit der Welt in Gott realisiert ist. Die Frage, ob alles mit allem zusammenhängt, lässt sich je nach Perspektive gleichermaßen glaubwürdig mit ‚ja‘ und mit ‚nein‘ beantworten. Die ausschließliche Beantwortung dieser Frage entweder nur mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ muss folglich falsch sein – eben deshalb, weil beide Antworten, je nach Perspektive, richtig sind. Die Frage nach dem Zusammenhang der Dinge ist nur sinnvoll, wenn man darüber nachdenkt, was es bedeutet, dass Dinge gleichzeitig sie selbst (d.h. in einstelliger Relation identisch) sein können (was ihre gegenständliche Begrenzung und in gewisser Weise ihre Unabhängigkeit voraussetzt), und was es macht, dass sie als solche identischen Dinge mit anderen Dingen zusammenwirken können. Dabei zeigt sich, dass ihr Zusammenhang es allerdings gerade voraussetzt, dass sie bereits ineins mit der Entstehung ihres Zusammenhanges als einzelne Dinge dieser Welt auftreten, denn sonst könnte man gar nicht das benennen, was überhaupt zusammenwirkt. Der Allzusammenhang setzt folglich die logische gleichzeitige Differenzierung der Welt in ‚Gegenstände‘ (d.h. nicht nur anorganische Dinge, sondern überhaupt alles Einzelne, was es gibt) bereits voraus. Nur im Zuge und als Folge dieser Differenzierung bekommt die Vorstellung eines Zusammenhanges dieser Dinge einen Sinn. Die Welt ist somit weder nur ein formloser Allzusammenhang, noch lediglich ein ‚Sack Flöhe‘ lauter einzelner Dinge, sondern sie ist die sich dialektisch aus dem Zusammenwirken von Einzelnem fortschreibende Ganzheit.
Siehe auch: Heraklit; Neuplatonismus GEORG SULTAN
Zustimmung
Der Begriff der Zustimmung hat zentrale Bedeutung in der Moral-, in der politischen und der Rechtsphilosophie. Die Zustimmung ist weitgehend anerkannt als etwas, was Handlungen, Vereinbarungen oder Erwartungen rechtfertigt oder legitimiert. In Standardfällen beseitigt die Zustimmung einer Person zu den Handlungen einer anderen Person die Geltung moralischer oder rechtlicher Einwände dagegen, sowie die Haftung für die Durchführung der genehmigten Handlungen an sich (nicht dagegen die Haftung für Fehler bei ihrer Durchführung). So kann in der medizinischen Praxis die informierte Zustimmung eines Patienten zur einer Operation die ärztlichen Handlungen rechtfertigen. Juristisch liegt die Maxime volenti non fit in-
1996
Zwang juria (dt.: ‚Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht‘, d.h. wenn jemand in eine Handlung eingewilligt hat, kann er sich nicht über ihre Folgen beschweren) vielen Handlungen und Transaktionen zugrunde, von den wirtschaftlichen bis zu den sexuellen. In der Politik wird oft angenommen, dass es die ‚Zustimmung der Regierten‘ ist, die sowohl regierungsseitige Maßnahmen, als auch behördlichen Zwang zur Erzwingung des Rechtsgehorsams rechtfertigt und zu etwas Erlaubtem macht. Die Zustimmung kann auf zahlreiche mehr oder weniger direkte Weisen erteilt werden, aber ihre Bindungswirkung beruht immer auf der Erfüllung von Bedingungen des Wissens, der Absicht, der Zuständigkeit, der Freiwilligkeit und der Zumutbarkeit ihres Inhalts.
Siehe auch: Freiheit; Liberalismus A. JOHN SIMMONS Zwang5
Der Zwang (coercion) ist eine der grundlegenden Entschuldigungen sowohl unter den Moralgesetzen, als auch in einigen Systemen wie z.B. dem Strafrecht. Anders als die vielen Arten direkten Zwanges (compulsion), die einem Opfer keine Wahl lassen, verbleibt einem Gezwungenen (coercee) noch eine Wahl, wenn auch eine sehr unangenehme. Er kann tun, was von ihm verlangt wird, oder kann sich weigern und sich stattdessen für die Konsequenzen entscheiden, die dann drohen. Manchmal finden die Gerichte, dass eine jede Person mit gewöhnlicher Willenskraft der Drohung infolge des Zwanges, die den Angeklagten so handeln ließ, wie er es tat, objektiv hätte standhalten müssen, insbesondere wenn das Verhalten des Angeklagten für andere Privatpersonen oder den Staat extrem schädlich war. Ein Vorschlag ist ein Angebot, wenn es dem Empfänger nach seiner Überlegung eine Aussicht eröffnet, die aus sich selbst heraus zu begrüßen ist, d.h. nicht schädlich oder unwillkommen jenseits dessen ist, was bei einem normalen Ereignisverlauf (ohne diesen Vorschlag) geschehen würde. Zwangsangebote (coercive offers) sind einigen Autoren zufolge jene, die eine bestimmte Wahl vom Opfer erzwingen, während sie tatsächlich die Freiheit des Zwangsausübenden steigern. Einige wenden jedoch ein, dass der echte Zwang (coercion) die aktive und überlegte Herbeiführung einer Verletzlichkeit auf Seiten des Opfers erfordere, und nicht lediglich die opportunistische Ausbeutung einer Verletzlichkeit, die auf Seiten des Opfers zufällig vorgefunden wurde, also bereits vorhanden war.
Siehe auch: Freiheit; Verantwortung JOEL FEINBERG
Zweck in der Natur, Der Siehe: Teleologie
Zweifel
Der Zweifel wird oft definiert als ein Zustand der Unentschiedenheit oder des Zögerns im Hinblick auf die Annahme oder die Ablehnung einer bestimmten Aussage. So gesehen steht der Zweifel im Gegensatz zur Überzeugung bzw. dem Glauben. Der Zweifel steht aber auch im Gegensatz zur Gewissheit. Da es jedoch plausibel Im Englischen werden drei verschiedene Fachbegriffe für das deutsche Wort ‚Zwang‘ verwendet: coercion, duress und compulsion. Da der Beitrag teilweise zwischen den verschiedenen Bedeutungsnuancen dieser drei englischen Begriffe unterscheidet, ist der jeweils gemeinte Ausdruck hinter der einheitlichen deutschen Übersetzung als ‚Zwang‘ auch immer auf Englisch wiedergegeben. [WS]
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1997
Zweifel ist zu sagen, dass es viele Dinge gibt, die wir glauben, ohne vollständig ihrer gewiss zu sein, scheinen wir über keinen einheitlichen Begriff des Zweifels zu verfügen. Obwohl der Zweifel in der Philosophie häufig mit dem Skeptizismus assoziiert wird, ist die historische Beziehung zwischen ihnen komplex. Überdies bestreiten einige Philosophen, dass skeptische Argumente in irgendeiner wesentlichen Beziehung mit aufkommenden Zweifeln stünden. Skeptische Zweifel unterscheiden sich im Verständnis der Philosophen von alltäglichen Zweifeln in ihrer Tiefe und Allgemeinheit. Wir alle bezweifeln das eine oder andere. Der philosophische Skeptiker fragt sich jedoch, ob wir jemals auch nur den leisesten Anlass zu der Überzeugung von der einen gegenüber einer anderen Auffassung haben können. Die Vernünftigkeit solcher Zweifel, und sogar ihre Nachvollziehbarkeit, bleibt jedoch umstritten. Die verschiedenen, von Philosophen eingenommenen Einstellungen bezüglich des Status skeptischer Zweifel kennzeichnen die Hauptansätze in der Erkenntnistheorie. Siehe auch: Fallibilismus; Skeptizismus MICHAEL WILLIAMS
1998