Edith Nesbit
Die Kinder von Arden Deutsch von Sybil Gräfin Schönfeldt Zeichnungen von Haidrun Gschwind
Cecilie Dressl...
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Edith Nesbit
Die Kinder von Arden Deutsch von Sybil Gräfin Schönfeldt Zeichnungen von Haidrun Gschwind
Cecilie Dressler Verlag Hamburg
Von Edith Nesbit sind im Dressler Verlag außerdem erschienen: Der Traum von Arden Der verzauberte Garten Das verzauberte Schloß
© Cecilie Dressier Verlag, Hamburg 1987 Alle Rechte vorbehalten Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1959 im Cecilie Dressler Verlag, Berlin Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1908 unter dem Titel The House of Arden bei Ernest Benn Limited, London Deutsch von Sybil Gräfin Schönfeldt Titelbild von Tilman Michalski Zeichnungen von Haidrun Gschwind Einbandgestaltung: Manfred Limmroth Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1993 Scan by Brrazo 05/2005 ISBN 3-7915-3504-8
Inhalt 1. Der Lord von Arden 2. Das Wappentier 3. Zeitgenossen Napoleons 4. Die Landung der Franzosen 5. Der Straßenräuber 6. Die geheime Kammer 7. Der Wohnzimmerschlüssel 8. Die Verschwörung 9. Die Gefangenen im Tower 10. Weiße Schwingen 11. Entwicklungen 12. Filme und Wolken 13. Maiglöckchen und Perlen 14. Ein Schatz wird gefunden Nachwort
Der Lord von Arden Früher einmal, in lange vergangenen Zeiten, waren die Ardens ein berühmtes Geschlecht, mit großen Feldern, Fluren und Wäldern, mit festen Häusern und reichen Schätzen, mit Knappen und Pächtern und wohlbewaffneten Soldaten. Damals mußte der Herr des Hauses drei Tage reiten, ehe er die Grenze seines Besitzes erreichte. Ein Arden war mit seinen Leuten gegen Cromwell gezogen, und jüngere Söhne des Hauses hatten in vielen fremden Ländern gekämpft. Es hatte Ardens schon zur Zeit der Angelsachsen gegeben, und es gab noch immer Ardens, aber sie besaßen die riesigen Ländereien nicht mehr, und heutzutage standen weder Knappen noch bewaffnete Soldaten in ihren Diensten. Das Dach des stattlichen Schlosses war eingestürzt, trübe Fenster starrten blind über fremde Felder, die sich bis an die grauen verwitterten Mauern heranschoben. Und es gab nur noch zwei männliche Nachkommen – einen alten Mann und ein Kind. Der alte Mann war Lord Arden, das Haupt der Familie. Er wohnte einsam und allein auf dem letzten Rest vom Grund und Boden seiner Vorfahren, in einem Anwesen, das aus Steinen erbaut war, die die Zeit und Cromwells Kanonenkugeln aus den festen Mauern des Schlosses 8
gebrochen hatten. Und der zehnjährige Edred Arden lebte mit seiner Schwester Elfrida in einer kleinen winddurchwehten Stadt am Meer, in einem freundlichen Haus mit Erkerfenstern und einem Balkon, von dem man weit über die schimmernde See blickte. Es war ein behagliches Haus, und es hätte sich wunderschön darin wohnen lassen, wenn nicht die Mieter gewesen wären ... Früher hatten die Geschwister eine Internatsschule in London besucht. Ihre Mutter war schon lange tot, aber ihre Tante Edith wohnte ganz in ihrer Nähe, damit sie oft Zusammensein konnten. Sie nähte an ihrer Aussteuer und wartete auf die Heimkehr ihres Bräutigams, der mit dem Vater der Kinder in Südamerika auf Geschäftsreisen war. Damals waren Edred und Elfrida meistens sehr vergnügt, und sie malten sich in langen Gesprächen mit ihrer Tante immer wieder aus, wie herrlich es sein würde, wenn ihr Vater und Onkel Jim endlich wieder daheim wären und sie dann alle zusammen aufs Land ziehen würden. Alle drei konnten die Zeit kaum noch erwarten. Doch eines Tages erhielten sie die schreckliche Nachricht, daß der Vater und Tante Ediths Bräutigam in die Hände von Räubern gefallen wären. Der Erfolg ihrer langjährigen Mühen war mit einem Schlag dahin, alles Hab und Gut verloren, bis auf das alte Haus am Meer. Kurzerhand nahm Edith Arden die Kinder aus dem teuren Internat und zog mit ihnen in die kleine Stadt an der See; und als sie keine andere Möglichkeit fand, sich und die beiden Geschwister durchzubringen, vermietete sie Zimmer an Sommergäste. Der Entschluß fiel ihr nicht leicht, aber der Erfolg gab ihr recht. Das Haus war alt und 9
gemütlich, und wer einmal bei ihr gewohnt hatte, kam meistens gern wieder. Wenn alle Zimmer besetzt waren, mußten die Kinder und ihre Tante eng zusammenrücken, aber das störte sie nicht. Die Kinder liebten das große anheimelnde Wohnzimmer im Kellergeschoß, wo die schönen alten Möbel aus dem Ardenschen Familienbesitz standen, zu denen Tante Edith die herrlichsten Geschichten erzählen konnte. Als es schließlich keinen Zweifel mehr gab, daß der Vater und Onkel Jim tot waren, erlosch in dem kleinen Haus über den Klippen alle Lebensfreude. Seit dem großen Unglück waren nun schon beinahe zwei Jahre vergangen. Edred und Elfrida gingen jeden Tag in die Stadt hinunter zur Schule, sie lernten Lesen und Schreiben, Rechnen und Erdkunde, Geschichte und andere nützliche Dinge, die sie alle miteinander nicht besonders liebten. Einzig und allein die Hausaufgaben machten ihnen Spaß, denn wenn Tante Edith Zeit hatte, ihnen dabei zu helfen, wurde Erdkunde zu einem spannenden Abenteuer, Geschichte verwandelte sich in ein großartiges Bilderbuch vergangener Zeiten, und selbst Rechnen bekam plötzlich einen außerordentlich lebendigen Sinn. »Ich wünschte, du könntest immer mit uns arbeiten«, sagte Edred seufzend. »Was meinst du, wie gern ich das selber täte«, antwortete Tante Edith, »aber ich kann leider nicht neunundzwanzigtausenddreiundfünfzig Dinge auf einmal tun und...« Eine Glocke schrillte.
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»Das ist das siebente Mal heute nachmittag!« Tante Edith stand auf und ging in die Küche hinüber. »Da war schon wieder die Klingel, arme Elisa«, sagte sie zu dem alten Faktotum des Hauses. »Reg dich nicht auf! Schau, was sie wollen, und laß dich auf keine Gespräche ein! Es hat gar keinen Zweck. Du bringst sie höchstens soweit, daß sie dir kein Trinkgeld zum Abschied geben!« »Es ist zu schön, wenn sie endlich gehen!« stieß Elfrida hervor. »Ja«, antwortete die Tante und setzte sich wieder zu den Kindern, »eine Droschke voll Gepäck und eine Pferdenase, die zum Bahnhof zeigt, das ist ein himmlischer Anblick, wenn die Rechnung bezahlt ist... Aber eigentlich bin ich auch immer ganz froh, wenn ich Koffer anrollen sehe! – Ach, meine Hühnchen, wenn erst einmal mein Schiff kommt, dann ziehen wir auf eine einsame Insel, wo es keine Droschken gibt, und dann nehmen wir auch keinen einzigen Mieter mit in unsere Höhle!« »Wenn ich groß bin«, sagte Edred, »dann fahre ich über das Meer und suche dein Schiff und bring es nach Hause.« »Dann bin ich Kapitän!« sagte Elfrida. »Nein, Kapitän bin ich!« »Na, dann bist du's eben!« rief Elfrida aufgebracht. »Und unterdessen grabe ich im Garten und finde eine Goldmine, und Tante Edith schwimmt im Geld, wenn du zurückkommst, und dann braucht sie dein dummes altes Schiff überhaupt nicht mehr.«
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»Wißt ihr was, Kinder«, sagte Tante Edith ruhig, »ich denke, zuerst arbeiten wir mal weiter, ja? Wie schreibst du ›Katarrh‹?« »Wen von uns meinst du?« fragte Edred, der sehr für Genauigkeit war. »Alle beide«, antwortete Tante Edith und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. Da läutete die Klingel im Wohnzimmer das achtemal, und die Haustürglocke schepperte, Klingeln schrillten im ersten Stock und im zweiten Stock, und die alte Elisa gab sich Mühe, überall gleichzeitig hinzulaufen, was äußerst schwierig war. An der Haustür stand der Briefträger. Edred nahm die Post in Empfang, und dann stand er neben seiner Tante und wartete. Er sammelte seit einiger Zeit Briefmarken und hatte in der Eile nicht feststellen können, ob etwas Lohnendes dabei war. Einer der Briefe übte eine höchst sonderbare Wirkung auf Tante Edith aus: Sie las und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann sprang sie auf und stellte sich unter die Lampe und las noch einmal. Dann fing sie ein drittes Mal von vorn an, und schließlich seufzte sie: »Oh!« »Was ist denn?« fragte Elfrida teilnahmsvoll. »Sind es Steuern?« Einmal war nämlich ein Schreiben vom Finanzamt gekommen, das hatte Elfrida nie vergessen. »Nein, mein Liebling, es ist kein Steuerbescheid«, murmelte Tante Edith, »ganz im Gegenteil! Ich glaube – es ist noch nicht ganz sicher –, aber ich glaube, daß jetzt vielleicht wirklich ein Schiff für uns kommt – ach, es ist sicher nur ein ganz winziges Schiff. Aber ich muß morgen 12
früh nach London. Ich muß sehen, ob es sich wirklich um ein Schiff handelt... Mrs. Blake wird nach euch sehen, ja? Und ihr müßt sehr brav sein. Kann ich mich darauf verlassen?« »Natürlich«, versicherten beide Kinder eilig. »Ich werde den Zug acht Uhr dreißig nehmen«, überlegte Tante Edith laut. »Wenn ich nur etwas wüßte, was – euch Spaß macht.« Sie war zu freundlich, um zu sagen: was euch davon abhält, morgen irgend etwas anzustellen, denn nur das befürchtete sie in Wirklichkeit. »Ich bringe dir eine Überraschung für deinen Geburtstag mit, Edred. Da fällt mir ein: Wollt ihr nicht vielleicht morgen den Tag bei Mrs. Hammond verbringen?« »Oh, bitte nein!« sagte Edred, und in einer plötzlichen Eingebung bat er: »Können wir nicht zur Feier meines Geburtstages einen Ausflug in die Dünen machen – nur Elfi und ich? Es schadet ja nichts, daß es der Tag vor meinem Geburtstag ist, nicht? Vorigen Sommer hast du gesagt, daß wir zu klein dazu wären, und wir dürften erst nächstes Jahr, und jetzt ist nächstes Jahr, und ich bin fünf Zentimeter gewachsen und Elfi acht. Wir sind jetzt dreizehn Zentimeter größer als damals, als du gesagt hast, wir wären zu klein«, schloß er atemlos. »Da siehst du, wie nützlich es ist, wenn man rechnen kann«, erwiderte die Tante lächelnd. »Also gut, ihr dürft. Aber ihr müßt alte Sachen anziehen und mir versprechen, auf den Wegen zu bleiben, ja? Ihr könnt euch einen richtigen Ferientag machen, das ist eine gute Idee. Und jetzt marsch, ins Bett – oh, schon wieder die Klingel! Arme gute Elisa!« 13
Am anderen Morgen fuhr Tante Edith mit dem Achtuhrdreißigzug nach London. Die Geschwister brachten sie zur Bahn. Ihre Schultaschen waren wohlgefüllt, nicht mit Büchern, sondern mit Mundvorrat für ihren Ausflug. Statt der Hefte steckten Butterbrote darin und an Stelle der tintenverschmierten Federtaschen zwei runde Schachteln mit Pfefferminzplätzchen. Tante Edith hatte sie in einem Anfall von Leichtsinn und Trennungsschmerz unterwegs noch gekauft und für jede Schachtel einen ganzen Schilling bezahlt. Edred und Elfrida wanderten langsam zurück. Als sie die Kuppe des sanften Hügels vor der Stadt erreicht hatten, blieben sie wie auf Verabredung stehen und sahen sich an. »Es kann eigentlich nicht schlimm sein«, murmelte Edred. »Sie hat es nie verboten«, bestätigte Elfrida. »Mir ist eingefallen«, sagte Edred, »wenn Erwachsene zu irgendeinem unserer Pläne sagen ›Wir wollen mal sehen‹, dann passiert überhaupt nichts!« »Das ist wahr«, stimmte Elfrida bei. »Tante Edith hat immer nur gesagt, sie will einmal sehen, wann sie mit uns dort hin geht.« »Ja, immer. Und wir haben ja auch gar keine Heimlichkeiten vor«, fügte Edred nachdrücklich hinzu.
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»Wir werden es ihr sofort erzählen, wenn sie wieder da ist.« »Natürlich«, sagte Elfrida erleichtert. Sie war nicht ganz sicher gewesen, ob ihr Bruder das wirklich im Sinn gehabt hatte. »Und schließlich«, fuhr Edred träumerisch fort, »schließlich ist es ja unser Schloß. Wir sind einfach verpflichtet, einmal hinzugehen und es uns anzusehen. Weißt du was? Wir werden es eine Wallfahrt nennen. Unsere Schultaschen sind die Pilgersäcke, und für den Rest deines Taschengeldes kaufen wir uns Wanderstäbe, findest du nicht? Wenn du willst, können wir auch Erbsen in unsere Schuhe tun«, bot er großzügig an. »Ach, Unsinn«, wehrte Elfrida ab. »Und mein Taschengeld wollte ich eigentlich für...« Sie hielt inne, weil ein Stirnrunzeln ihres Bruders sie warnte. »Na ja, gut«, schloß sie, »du kannst es haben. Du mußt es mir aber von deinem nächsten Taschengeld zurückgeben, das ist nur gerecht.« »Du kannst nicht behaupten, daß ich je ungerecht war«, sagte Edred empört. »Aber gut – dann sind wir eben keine Pilger.« »Ich fände es aber doch lustig!« jammerte Elfrida. Edred blieb dickköpfig. »Nein«, sagte er, »wir wandern nun einfach so.« Sie marschierten ziemlich trübsinnig weiter. Die Stadt lichtete sich. Die Häuser, inmitten großer Gärten, lagen immer weiter voneinander entfernt.
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»Sieh mal, da vorn ist ein Wegweiser. Ich möchte zu gern wissen, wie weit wir schon sind. Ich bin schrecklich müde«, sagte Elfrida. »Du wärst wirklich besser als Wallfahrer dran gewesen«, bemerkte Edred. »Wallfahrer werden niemals müde, und wenn sie noch so viele Erbsen in ihren Schuhen haben.« »Dann will ich jetzt einer sein«, sagte Elfrida. »Jetzt ist es zu spät«, brummte Edred. »Wir sind schon meilenweit von dem Spazierstockladen entfernt.« »Na gut, dann geh ich eben überhaupt nicht weiter«, schimpfte Elfrida. »Du bist heute früh mit dem linken Bein zuerst aus dem Bett gestiegen. Den ganzen Vormittag lang versuche ich, dich wie ein rohes Ei zu behandeln, aber jetzt hab ich es satt.« »Dann hast du's eben satt«, antwortete Edred mürrisch. »Lauf doch heim, wenn du magst. Von mir aus! Mit Mädchen ist es immer dasselbe. Püh!« »Ich bin lieber ein Mädchen als so was, was du bist«, sagte sie. »Könntest du mir vielleicht verraten, was ich bin?« erkundigte sich ihr Bruder spöttisch. Elfrida blieb stehen, kniff die Augen zusammen und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will nicht streiten, ich will nicht streiten, ich will nicht streiten. Friede! Schluß! – Wir wollen nicht!« »Was wollen wir nicht?« »Uns für nichts und wieder nichts in die Haare geraten.« Elfrida machte die Augen wieder auf und marschierte
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entschlossen weiter. »Immerzu streiten wir uns. Tante Edith sagt, es wäre eine greuliche Angewohnheit. Wenn Jungen wirklich soviel großartiger sind als Mädchen, müßten sie ja eigentlich leicht damit aufhören können.« »Vielleicht wollen sie das aber gar nicht«, murmelte Edred und bohrte seine Stiefelspitze in den dicken Straßenstaub. »Gut«, sagte Elfrida seufzend. »Ich habe zuerst gesagt, daß es mir leid tut. Genügt das?« »Ich wollte es gerade selber zuerst sagen«, maulte Edred. »Na komm«, fügte er versöhnlich hinzu, »hier ist der Wegweiser. Wir wollen sehen, was darauf steht.« Klipp und klar stand darauf, daß sie eine und eine dreiviertel Meile hinter sich gebracht und bis Schloß Arden noch acht Meilen vor sich hätten. Aber das verwitterte Holzschild verriet darüber hinaus, daß die Bahnstation Ardenhurst nur eine Viertelmeile entfernt lag. »Weißt du was – wir fahren mit dem Zug«, schlug Edred vor. »Wir haben doch kein Geld«, antwortete Elfrida unglücklich. »Jaja«, sagte Edred. »Aber jetzt kannst du mal sehen, daß ich nicht knickerig bin. Ich hab meinen neuen Gulden mit.« »Oh, Edred«, murmelte das Mädchen, ganz überwältigt von Reue, »du bist aber edel!« »Ach wo...« sagte der Junge wegwerfend. Seine Ohren färbten sich teils vor Triumph, teils vor Bescheidenheit knallrot. »Los, komm!« 17
Auf diese Weise sahen die Wallfahrer die Wiege ihres Geschlechts zum erstenmal von der Bahn aus. Schloß Arden erhebt sich düster und grau auf der hochragenden Klippe, auf der es einst als Bollwerk gegen feindliche Eroberer und zum Schutz für das weite Land ringsum errichtet wurde. Aber von seiner alten Pracht zeugen nur noch mächtige Mauern, auf denen Gras und wilde Blumen wachsen, einige runde Türme, deren Decken und Fußböden eingestürzt sind, und weite Räume ohne Fenster, in denen Eulen hausen und Brombeerbüsche und Farnkräuter grün und üppig wuchern. Die Kinder wanderten versonnen den felsigen Weg entlang. Über ihnen schmetterten Lerchen ihr Sommerlied in den blauen Himmel, und bienendurchsummte Bohnenfelder verströmten den süßesten Duft der Welt – einen Duft, der sich seltsam mit dem Geruch des braunen Seetangs am Fuß der Klippen mischte. »Hier machen wir Rast«, sagte Elfrida, als sie die Kuppe eines kleinen Hügels erreicht hatten. Sie verzehrten ihr Frühstück nach der streng eingehaltenen Regel: zwei Bissen vom Butterbrot und danach immer ein Pfefferminzplätzchen. Dabei betrachteten sie das alte Schloß, und es gefiel ihnen immer besser. »Möchtest du auch, daß es wirklich wäre und wir darin wohnen könnten?« fragte Elfrida. »Es ist doch wirklich.«
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»Ja schon, aber ich meine, wenn es ein heiles Haus wäre mit Schornsteinen und Kaminen und Türen mit Riegeln und Scheiben in den Fenstern.« »Ob wir wohl hineinkönnen?« überlegte Edred laut. »Wir müßten hinüberklettern«, schlug Elfrida vor und betrachtete nachdenklich die mächtigen Mauern. Sie dehnten sich abweisend, glatt und hoch und zeigten weder Tür noch Tor. »Da geht ein alter Mann – nein, nicht da! Über das Feld dort drüben. Den wollen wir fragen.« Sie ließen ihre Schulranzen in dem von wildem Thymian durchwucherten kurzen Gras liegen und liefen den Hang hinunter. Aber sie waren nicht schnell genug, denn ehe sie den Mann einholen konnten, war er zwischen den hohen Hecken eines tiefergelegenen Weges verschwunden. Die Kinder rannten den schmalen Weg hinunter und langten keuchend bei dem Alten an, als er gerade seine Gartentür hinter sich zuschnappen ließ und sein Haus betreten wollte. Er drehte ihnen den Rücken zu, und bekanntlich ist es sehr schwierig, einen Rücken wohlerzogen und höflich anzusprechen. Edred stieß also ein ziemlich atemloses »Hi!« heraus, und Elfrida rief: »Hallo! Hören Sie doch mal, bitte!« Der Mann drehte sich um. In seinem faltigen sonnengebräunten Gesicht funkelten unter schneeweißem Haar klare blaue Augen. »Na«, fragte er freundlich, »was wollt ihr denn?« »Wir möchten gern wissen...« begann Elfrida.
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»Es handelt sich um das Schloß«, unterbrach Edred seine Schwester. »Können wir hinein und es uns ansehen?« »Ich habe die Schlüssel«, entgegnete der alte Mann und nahm sie vom Nagel neben der Haustür. »Wohnt im Schloß noch jemand?« fragte Elfrida neugierig. »Jetzt nicht mehr«, sagte der alte Mann, während er zur Gartenpforte zurückkam. »Lord Arden ist nächsten Dienstag vor vierzehn Tagen gestorben, und alles bleibt verschlossen, bis der neue Lord gefunden ist.« »Wenn ich das doch wäre«, sagte Edred seufzend, während sie hinter dem alten Mann den Heckenweg entlanggingen. »Wie alt bist du denn?« fragte der alte Mann. »Zehn. Morgen habe ich Geburtstag«, erwiderte Edred. »Und wie alt sind Sie?« »Ich gehe so auf die Achtzig, mein Junge, und ich hab in meinem Leben eine ganze Menge mit angesehen. Wenn du der neue Lord wärst, dann hättest du einen Vorteil, den alle andern nicht gehabt haben – du mit deinen zehn Jahren.« »Was für einen Vorteil?« »Nanu!« rief der Mann erstaunt. »Kennst du die Sage denn nicht? Ich hab mir immer eingebildet, hier in der Gegend kennt sie jeder.« »Was für eine Sage?« »Wartet mal einen Augenblick, Kinder!« Der alte Mann blieb stehen. »Ich hab nicht mehr genug Atem, um beim Laufen viel zu reden – und für Gedichte langt's schon gar nicht!« Er holte tief Luft und deklamierte: 20
»Wenn Ardens Lord die Zehn erblickt, eh' seine Neun ihm ganz entrückt, soll Arden stahn, wo Arden steiht – auf festem Fels in Ewigkeit. Wenn Ardens Lord den Zauber kennt, geschickt zur rechten Zeit ihn nennt, wenn Ardens Lord hat kühnen Mut, ist sein der Schatz und alles gut.« »Und wo ist der feste Fels?« fragte Edred. »Dort drüben!« Der alte Mann deutete auf den Hang, wo die Kinder gefrühstückt hatten. »Er heißt der ArdenHügel.« »Und was ist das für ein Schatz?« fragte Elfrida. Aber sie bekam zunächst keine Antwort. »Wenn ich so viel erzählen soll, muß ich mich setzen«, schnaufte der Alte. »Wollen wir irgendwo hier rasten oder lieber im Schloß?« »Im Schloß!« sagten Edred und Elfrida im Chor. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, setzte sich der alte Mann auf eine der umgestürzten Säulen der Kapelle und wartete geduldig, bis die Kinder alles erforscht hatten. Sie rannten über den grasbewachsenen Innenhof, warfen einen Blick in die zerfallenen Säle, sprangen über die Trümmer des ehemaligen Säulenganges und stiegen die Stufen des noch erhaltenen runden Turms hinauf. Schließlich kamen sie zurückgelaufen, hockten sich auf den Rasen, der weiß übersät war von blühenden Gänseblümchen, und sagten: »So – jetzt!« 21
»Schön. Ihr müßt wissen, daß die Ardens eine berühmte Familie gewesen sind«, begann der alte Mann. »Die Leute sagen, daß es immer schon Ardens hier in der Gegend gegeben hat, schon seit Wilhelm dem Eroberer, oder wie er hieß.« »Tausendsechsundsechzig«, murmelte Edred. »Bei den Ardens ging es ebenso rauf und runter wie bei anderen Leuten auch, ob sie nun berühmt sind oder nicht, und einmal in Kriegszeiten wurde eine Masse Geld und Schmuck und Silbergeschirr verborgen, eben der Schatz. Die Männer, die ihn versteckt haben, sind erschlagen worden – ich sage euch, das waren unsichere Zeiten damals –, und niemand wußte, wo der Schatz geblieben war.« »Ist er denn wiedergefunden worden?« »Das erzähl ich euch doch gerade! Damals lebte hier eine weise Frau, und die fragte man eines Tages, wie die Leute vom Schloß ihren Schatz wiederfinden könnten. Sie bekam auf der Stelle einen Anfall. Sie gab nämlich eigentlich nie ein vernünftiges Wort von sich – außer in ihren Anfällen, und da redete sie in Reimen, aber etwas Rechtes konnte niemand aus ihr herauskriegen. Sie hat auch nicht gesagt, was es für ein Zauber wäre, den Ardens Lord kennen muß. Aber als sie alt und krank war, hat die damalige Lady Arden sie mit eigener Hand gepflegt, und ehe sie ihren letzten Seufzer ausstieß, hat sie der Lady zum Dank den Zauber verraten.« Der Alte hielt erschöpft inne. »Und was war das für ein Zauber?« drängten die Kinder, die atemlos zugehört hatten.
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»Das weiß keiner. Aber ich habe gehört, daß der Zauber in einem Buch steht, drüben in der Bibliothek im Haus. Bloß –es hat gar keinen Sinn, danach zu suchen, denn kein Lord Arden hat je den Titel erhalten, ehe er sein zehntes Lebensjahr begann. Sie waren immer viel, viel älter...« Edred hatte ein unbeschreibliches, sonderbares Gefühl im Kopf; seine Hände wurden heiß und trocken und gleich darauf wieder kalt und feucht. »Wahrscheinlich«, stammelte er, »wahrscheinlich muß man der richtige Lord Arden sein? Es genügt sicher nicht, wenn man nur ein gewöhnlicher John oder James oder Edred Arden ist, oder? Ich bin nämlich ein Arden, und ich würde es gern versuchen...« Der alte Mann beugte sich vor, nahm den aufgeregten Jungen am Arm und zog ihn zwischen seine Knie. »Laß dich mal genau anschauen, mein Junge«, sagte er und musterte Edred langsam und gründlich. »Wetter auch«, murmelte er, »natürlich bist du ein Arden. Daß ich das nicht gleich gesehen habe! Ich hätte es doch an deiner langen Nase und an deinem spitzen Kinn erkennen müssen! Ich hätte es überhaupt merken müssen... Aber meine Augen wollen nicht mehr so richtig. Wenn du also wirklich ein Arden bist: Wie heißt dein Vater mit Taufnamen?« »Edred, genau wie ich. Aber mein Vater ist tot«, antwortete der Junge ernsthaft. »Und wie hieß dein Großvater? Hieß er etwa George? George William?« »Das stimmt«, sagte Edred erstaunt. »Woher wissen Sie das?« 23
Der alte Mann ließ Edreds Arm los und erhob sich. Dann berührte er die Stirn des Jungen und sprach: »Ich hab als Junge und als Mann hier auf dieser Erde gearbeitet, und ich bin stolz, daß ich es noch erleben kann, wie ein neuer Lord Arden den Platz einnimmt, der ihm zusteht. Schnauf nicht so, Junge«, setzte er streng hinzu, »du bist Lord Arden – da gibt's gar keinen Zweifel.« »Es – es ist aber nicht möglich«, stammelte Edred verwirrt. »Tante Edith sagt, Lord Arden wäre ein entfernter Verwandter von uns, ein Großgroßonkelvetter«, mischte Elfrida sich ein. »Das stimmt auch«, sagte der alte Mann und nickte. »Lord Arden – mit dem Vornamen hieß er James –, das war der richtige Vetter von Herrn George, eurem Großvater. Sein Sohn war Herr Edred, also euer Vater. Und weil Seine Lordschaft selig keine Söhne hatte und auch keine Töchter, deshalb geht der Titel an euren Zweig der Familie. In den letzten drei Wochen hat uns das der Gehilfe vom Rechtsanwalt Lewis sicher über fünfzigmal erklärt. Du kannst es mir schon glauben: Du bist Lord Arden!« »Wenn ich es wirklich bin«, sagte Edred, »dann werde ich den Zauberspruch sagen und den Schatz finden.« »Da mußt du dich aber beeilen«, sagte Elfrida kichernd, »morgen bist du schon zehn!« »Dann beeil ich mich eben!« erwiderte Edred entschlossen. »Wenn du Lord Arden bist«, sagte der alte Mann eindringlich, »ich meine, wenn du erwachsen sein wirst 24
und mit Gottes Segen so weit gekommen, daß du die Vorteile deines Titels genießen kannst, dann darfst du die Armen und die Bedürftigen nicht vergessen, junger Herr. Denk daran!« »Wenn ich den Schatz finde, will ich bestimmt daran denken«, versprach Edred ernsthaft. »Vergiß es auf keinen Fall«, wiederholte der alte Mann nachdrücklich. »Und jetzt muß ich nach Hause gehen. Ihr wollt gewiß noch ein Weilchen hier spielen, wie? Dann bringt ihr mir nachher die Schlüssel wieder. Ich kann mich ja wohl auf euch verlassen. Ihr werdet nichts kaputt machen in eurem eigenen Haus, das die vielen Hunderte von Jahren schon im Besitz eurer Familie ist, nicht wahr?« »Sie können sich ganz und gar darauf verlassen!« sagte Edred selbstbewußt. »Auf Wiedersehen und vielen Dank!« »Auf Wiedersehen, Mylord«, grüßte der alte Mann und ging davon. »Stell dir vor«, sagte Edred und schwenkte vergnügt das dicke Schlüsselbund, »stell dir bloß vor, wenn ich nun tatsächlich Lord Arden wäre!« »Aber du bist es doch!« rief Elfrida. »Ich bin ganz sicher, daß du's bist. Und ich finde es schrecklich aufregend. Was ist denn?« Sie starrte ihren Bruder an, der mit gerunzelter Stirn das samtene Moospolster von dem großen Stein riß, auf den er sich, in Gedanken versunken, niedergelassen hatte. »Glaubst du, daß man bestraft werden kann«, fragte er langsam, »wenn man sein eigenes Haus ohne Erlaubnis betritt?« 25
»Wenn es wirklich dein eigenes Haus ist, nicht. Natürlich nicht«, sagte Elfrida überzeugt. »Ich bin nicht nur einfach neugierig, weißt du. Ich will den Zauber finden«, sagte der Junge. »Als ob ich das nicht wüßte!« antwortete Elfrida. »Aber wo ist denn das Haus eigentlich?« Ihre Frage war völlig berechtigt, denn es war kein Haus zu sehen – nur die alten grauen Außenmauern mit ihrem Saum von Blumen und Gräsern, die federleicht vor dem blassen blauen Junihimmel tanzten. Nur ein paar ungefüge dunkle Holztüren hoben sich vom Silberton der klobigen Steine ab. »Vielleicht können wir da hinein«, sagte Edred. »Weißt du was – wir werden einfach alle Schlüssel in allen Türen probieren, bis wir das Haustor finden.« Sie steckten also der Reihe nach die Schlüssel in die Schlösser aller Türen. Eine Tür führte zu einem Speicher, auf dem Apfel aufbewahrt wurden, eine andere in einen Keller, in dem Reiserbesen und Spaten und Hacken an der feuchten Wand lehnten und Körbe und Säcke in einer Ecke aufgestapelt waren. Die dritte Tür gehörte zu einer Art Turm, die als Taubenschlag benutzt zu werden schien, und erst die allerletzte Tür, die sie öffneten, führte in einen verwunschenen, von hohen Mauern umschlossenen Garten, in dem neben Vergißmeinnicht- und Stiefmütterchenbeeten Unkraut üppig aufgeschossen war. Ganz am Ende des Gartens stand ein schmales Haus mit rotem Ziegeldach, eng zwischen die hohen Mauern des alten Schlosses geschmiegt. Alle Vorhänge an den Fenstern waren 26
zugezogen. Der Garten atmete Stille und Kälte, und es roch nach feuchter Erde und altem Laub. »Oh, Edred, glaubst du wirklich, daß wir dürfen?« flüsterte Elfrida, plötzlich bange geworden. »Ja, ich glaube«, sagte Edred. »Bilde dir nur nicht ein, daß du besonders brav bist. Du hast jetzt bloß Angst.« Natürlich antwortete Elfrida sofort: »Hab ich nicht! Komm!« Aber sie näherten sich dem stillen Haus, das sie mit blinden Augen anzustarren schien, nur zögernd und mit angehaltenem Atem. Die Eingangstür war verschlossen, und keiner der Schlüssel wollte passen. »Das macht nichts«, erklärte Edred. »Wenn ich Lord Arden bin, hab ich ein Recht darauf hineinzukommen, und wenn ich's nicht bin, ist es mir auch egal.« Er schwang sich an einem dicht an der Mauer wachsenden Holunderbusch zu einem kleinen Fenster hinauf. Er rüttelte daran und versuchte, es zu öffnen, aber es war fest verriegelt. Schließlich drückte Edred mit dem Ellbogen die Scheibe vorsichtig ein. »So«, sagte er mit schwankender Stimme, »so betritt der Erbe von Schloß Arden seinen Besitz.« Er stieß das Fenster auf und verschwand. Elfrida knetete vor Aufregung ihre Hände und kämpfte gegen die Vorstellung an, daß plötzlich ein ungeheuer langer Polizist an der Gartentür auftauchte und mit tiefer Stimme fragte: »Wo steckt dein Bruder?« Glücklicherweise geschah jedoch nichts dergleichen, sondern ein Vorhang rauschte zurück, ein hohes Fenster tat 27
sich auf, und Edred winkte seiner Schwester mit Verschwörermiene zu. Obwohl es sie einige Überwindung kostete, ließ sie sich von ihm hinaufziehen. Die Gardine fiel wieder zusammen und... »Ach – wollen wir's nicht doch lieber lassen?« flüsterte Elfrida. »Unsinn«, sagte ihr Bruder. »Du brauchst keine Angst zu haben. Hier ist's genauso wie bei uns zu Hause.«
Die Geschwister durchstreiften alle Zimmer und fanden, daß er recht hatte. Ein paar Räume waren ziemlich kahl, aber alle Möbel ähnelten denen von Tante Edith, und sogar die Bilder erinnerten an ihre eigenen daheim. Nur die Bibliothek war anders. Das war ein großer Raum ohne Bilder und dergleichen, es gab nur Bücher über Bücher, alle in gelbes Leder gebunden, Bücher von der Decke bis zum Fußboden, Bücher in Borden zwischen den Fenstern und über dem Kamin – Hunderte und Tausende von Büchern. »Das hat keinen Zweck. Wir würden Jahre brauchen, um alle zu durchsuchen«, sagte Edred entmutigt. »Wir können wenigstens in ein paar hineingucken«, schlug Elfrida vor. Sie hockte sich auf den abgetretenen Teppich und begann, die Namen auf den Büchern zu entziffern, die ihr am nächsten standen. ›Burton, Das Atom des Melonirgendwas‹ buchstabierte sie und ›Locke, Über
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den menschlichen Verstand‹ und noch viele andere langweilige Titel. Aber keines dieser Werke schien auch nur im entferntesten einen Zauberspruch für die Schatzsuche zu verheißen. ›Zeugnis von den edlen Metallen‹ ließ sie zwar eine kleine Hoffnung schöpfen, aber sie stellte rasch fest, daß zwischen den dichtbedruckten stockfleckigen Seiten kein Platz für etwas so Interessantes wie einen Zauberspruch sein konnte. Die Zeit verstrich. Die Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Vorhänge fanden, waren schon ein gutes Stück über den Teppich weitergewandert, und noch immer durchblätterte Elfrida ganz versunken ein Buch nach dem anderen. Edred wurde langsam unruhig. »Es hat keinen Zweck«, wiederholte er verdrossen und sagte: »Gib's doch auf! Wahrscheinlich hat uns der komische Alte einen Bären aufgebunden. Ich glaub nicht mehr daran...« Nach einer kleinen Weile drängte er von neuem: »Laß uns endlich nach Hause gehen. Komm!« Aber Elfrida schüttelte den Kopf und suchte beharrlich weiter, obwohl ihr inzwischen der Rücken weh tat. Ihre Ausdauer blieb freilich ohne Lohn, aber Edred, der müßig mit seinem Zeigefinger am Rande der Bücherbretter entlangfuhr, weil ihm die weichen mausgrauen Staubflocken gefielen, die dabei an seinem Finger hängenblieben, Edred rief plötzlich aus: »Wie wär's denn damit?« und zog ein großes weißes Buch aus dem Regal. Auf dem Deckel war ein goldenes Wappen mit gemusterten Feldern und einem goldenen Schwein als
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Helmzier eingeprägt, und auf dem Rücken stand: ›Die Geschichte der Familie Arden auf Arden‹. Im Handumdrehen lag der dicke Band geöffnet zwischen den beiden auf dem Fußboden, und sie durchblätterten ihn hastig und aufgeregt. Aber ach, er enthielt ebensowenig einen Zauber wie der alte langweilige Metallwälzer von vorhin. Doch als Edred das Buch mit der Bemerkung, nun habe er wirklich genug von dem Unsinn, zuklappte, löste sich plötzlich ein Stück Papier, schwebte wie eine Taube davon und ließ sich im leeren Kamin nieder. Und das war der Zauberspruch, daran gab es überhaupt keinen Zweifel! Er war mit blasser Tinte auf ein vergilbtes Blatt Papier geschrieben. Es war wohl einstmals gefaltet gewesen, seither aber so oft auseinandergestrichen und wieder zusammengelegt worden, daß der Bruch ganz abgegriffen war und die beiden Hälften kaum noch zusammenhielten. In einer schönen, zierlichen, damenhaften Handschrift stand darauf: Der Zauber, den mir Tante Anna anvertraute 24.Dezember 1793 O höre, Wappentier von Arden, den Zauberspruch aus meinem Mund! Ich darf nicht einen Tag mehr warten – O Hüter Ardens, komm vom Grund und mach mich tapfer, klug und gut und zeig mir, wo der Schatz jetzt ruht!
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Der Spruch, stand weiter auf dem Zettel, muß von Lord Arden bei Sonnenuntergang am Abend vor der Vollendung des zehnten Lebensjahres gesprochen werden. »Das ist er, das ist er ganz bestimmt!« sagte Edred aufgeregt. »Komm, wir müssen hier raus!« Sie wandten sich zum Gehen, und im gleichen Augenblick bewegte sich etwas in der Ecke der Bibliothek – ein kleines Etwas, das die Geschwister nicht genau erkennen konnten. Beide wagten erst wieder richtig zu atmen, als sie das Haus und den Garten und das Schloß hinter sich gelassen und die weiten freien Hügel unter dem blauen Himmel erreicht hatten, wo der Thymian wuchs, die Lerchen jubilierten und sie der süße frische Duft von Seetang und blühenden Bohnen umwehte.
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»Oh«, seufzte Elfrida erleichtert, »ich bin bloß froh, daß du den Zauberspruch nicht um Mitternacht aufsagen mußt. Ich glaube, da hättest du auch Angst!« »Nein. Bestimmt nicht!« sagte Edred mit blassen Lippen und tat sicherheitshalber noch ein paar Schritte vom Schloß weg. »Mir wäre Mitternacht auch egal.« Bei diesen Worten war er beinahe selber von seinem Mut überzeugt. Elfrida hatte zum Glück das Papier aufgehoben, das Edred beim Anblick des geheimnisvollen Etwas in der Ecke der Bibliothek hatte fallen lassen. Sie hielt es immer noch fest umklammert. »Wahrscheinlich war es eine Ratte oder so was Ähnliches«, sagte Edred, während sein Herz wie verrückt pochte. »Ja, sicher«, antwortete Elfrida mit zitternden Lippen, »ich glaube auch, daß es eine Ratte war.« Als sie die Kuppe des Arden-Hügels erreicht hatten, war bis zum Sonnenuntergang noch lange Zeit. Sie hatten also Muße, sich zu beruhigen, den Lerchen zu lauschen, den Duft ringsum einzuatmen und sich dabei den Kopf zu zerbrechen, wie man sich von einer Ratte oder so etwas Ähnlichem derart ins Bockshorn jagen lassen konnte. Als die Sonne sich anschickte, auf die braune Hügelkette zu sinken, die sich dem runden roten Ball im ziehenden Abendnebel entgegenzuheben schien, verstummten die Kinder. Ihre Augen hingen an der Sonne, und als sie den Hügelrand berührte, flüsterte Elfrida: »Jetzt!« und drückte ihrem Bruder den Zettel in die Hand.
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Sie hatten den Zauberspruch im schwindenden Licht so oft studiert, daß sie ihn beide auswendig konnten und Edred ihn nicht abzulesen brauchte. Das erwies sich als günstig, denn in dem Ungewissen Abenddämmern konnte er die verblaßte Schrift auf dem Papier kaum noch entziffern. Er stand zögernd auf. »Jetzt!« flüsterte Elfrida wieder. »Fang doch endlich an!« Edred deklamierte den Zauberspruch mit lauter Stimme in dem getragenen Singsang, den er auch in der Schule anzuwenden pflegte, wenn er eine Ballade vortrug: »O höre, Wappentier von Arden, den Zauberspruch aus meinem Mund! Ich darf nicht einen Tag mehr warten – O Hüter Ardens, komm vom Grund und mach mich tapfer, klug und gut und zeig mir, wo der Schatz jetzt ruht!« Er sagte Zeile um Zeile langsam und sorgfältig auf, und Elfrida hörte gespannt zu, um sofort einspringen zu können, falls er steckenblieb. Aber er machte keinen Fehler. »... wo der Schatz jetzt ruht«, schloß Edred, und die ungeheure Stille der Downs schien wie eine Woge auf die Kinder herabzustürzen. Aber sonst geschah nichts. Die letzte Glut des Sonnenunterganges ergoß sich über die Hügel, die 33
Grashalme zeichneten sich zart und deutlich gegen den Himmel ab; die Lerchen schwiegen. Nichts geschah, bis Edred plötzlich ausrief: »Was ist denn das?« Dicht vor seinen Füßen bewegte sich etwas, nicht so rasch, daß er erschrecken mußte, sondern ganz leicht und gelassen, aber unübersehbar – ein Etwas, das im matten Licht golden schimmerte. »Nanu«, sagte Elfrida, »das ist doch...«
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Das Wappentier Tatsächlich! Da huschte etwas, das sah genauso aus wie das kleine schweinsähnliche Tier auf dem Pergamentdeckel des alten Buches, in dem der Zauberspruch gelegen hatte. Die Kinder verhielten sich mäuschenstill und wagten kaum zu atmen, um das kleine Wesen nicht zu verscheuchen. Trotz des unwirklichen Goldglanzes schien es sehr lebendig, es geisterte geschäftig vor ihren Füßen herum und schnupperte nach rechts und links. »Das ist es!« sagte Elfrida atemlos. »Was?« fragte Edred, obgleich er es selber sofort begriffen hatte. »Das Ding, das auf dem Buch war!« »Das ist doch Unsinn! Das Ding auf dem Buch war die Helmzier über unserem Wappen, wie auf der Schnupftabakdose vom Urgroßvater.« »Na schön, dann ist das dort eben unsere lebendig gewordene Helmzier!« Unterdessen kroch das kleine goldene Wesen unablässig und behutsam zu ihren Füßen hin und her. »Ach«, sagte Edred plötzlich, »das ist nichts als ein gewöhnlicher alter Maulwurf.« »Ist es gar nicht!« sagte das Mädchen empört. »Es ist unser ganz persönliches Wappentier, wie wir's zu Hause 35
auf den Löffeln und den anderen Silbersachen haben. Unser ureigener Familienmaulwurf. Außerdem – wieso sagst du denn ein gewöhnlicher Maulwurf? Er ist doch golden; das siehst du doch!« Aber noch während sie sprach, verlor das sonderbare Wesen seine märchenhafte Farbe mehr und mehr. Die Sonne war hinter dem Hügelkamm der Downs verschwunden, und in dem nebligen Zwielicht, das sich nun ausbreitete, sah der Maulwurf plötzlich weiß aus. »Oh!« rief Elfrida. »Da hast du's! Es kann kein gewöhnlicher Maulwurf sein. Gewöhnliche Maulwürfe sind schwarz.« »Hm«, machte Edred. »Er ist vielleicht zahm... Das wäre eine Erklärung, wie?« Im selben Augenblick wiederholte der Maulwurf plötzlich und überraschend: »Wie?« Eine Weile herrschte bestürztes Schweigen. Endlich flüsterte Elfrida: »Hast du das eben gesagt?« »Nein«, antwortete Edred ebenso leise. »Warst du das nicht?« »He ihr – laßt das Tuscheln!« fiepte der Maulwurf. »Das gehört sich nicht – das solltet ihr wissen!« Wie auf Befehl ließen sich die Geschwister zu beiden Seiten des weißen Tierchens auf die Knie fallen. »Also wirklich...« murmelte Edred. »Na, was denn!« sagte der Maulwurf und stieß seine Nase geringschätzig nach ihm hin. »Du willst doch nicht behaupten, daß du in der Welt herumrennst und nicht 36
weißt, daß Muddeltiere eine Zunge haben genau wie ihr, he?« »Aber doch nicht zum Sprechen!« wandte Elfrida sanft ein. »Wollt ihr mich für dumm verkaufen?« Das Zauberwesen sträubte ärgerlich sein Fell. »Hat euch denn kein Mensch jemals Märchen erzählt? Wir Tiere haben auch Zungen, und wenn wir da sind, benutzen wir sie natürlich!« »Wenn ihr wo seid?« erkundigte sich Edred. Er hatte Märchen nie sehr gemocht und ließ sich nicht dazu bringen, an sie zu glauben. »Wo? Natürlich im Märchen«, muffelte der Maulwurf, »was stellst du dir eigentlich vor, wo du bist?« »Hier!« antwortete Edred und stampfte mit dem Fuß auf den Grasboden, um sich irgendeiner zuverlässigen Festigkeit zu vergewissern. »Ich bin hier, auf dem ArdenHügel.« »Und ist das nicht mittendrin im Märchen?« fragte das Muddeltier triumphierend. »Du hast mich gerufen, und hier bin ich. Was willst du von mir?« »Bist du...« fragte Elfrida unter einem Schauer von Staunen und Furcht, Entzücken und Hoffnung, Neugierde und noch ein paar Gefühlen, die sie nicht genau bestimmen konnte, »bist du das Wappentier von Arden?« »Natürlich bin ich das«, brummte der Maulwurf, »aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich einmal von Arden-Kindern gerufen würde, die nicht wissen, was sie wollen. Was soll ich also für euch tun? He?« 37
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»Das haben wir doch in dem Zauberspruch gesagt!« antwortete Elfrida. »Aha«, sagte der Maulwurf bitter, »sonst noch was? Ich soll den da tapfer und klug machen und ihm den Schatz zeigen! Du Schlappschwanz du!« stieß er plötzlich wild hervor. »Ich bin kein Schlappschwanz!« widersprach der Junge mit puterrotem Gesicht. »Schließlich bin ich in das Haus gestiegen und hab den Spruch gefunden.« »Blablabla – jawohl! Aber wer hat sich krumm geblättert danach? Sie ganz allein! Oder vielleicht nicht? Sieh dich bloß vor, ich war dabei. Ich weiß alles! Wenn ich ihr den Schatz zeigen sollte, wäre das wenigstens eine vernünftige Sache!« »Du mußt nicht ungerecht sein«, sagte Elfrida so ernsthaft, als ob sie zu einem Erwachsenen spräche. »Wenn er schon tapfer und klug wäre, brauchten wir uns ja nicht zu wünschen, daß du ihn verwandelst, nicht wahr?« »Das geht dich gar nichts an«, sagte der Maulwurf ärgerlich. »Doch, es geht sie wohl etwas an«, unterbrach ihn Edred leidenschaftlich, »ich habe geschworen zu teilen, und ich werde ihr die Hälfte geben von allem, was ich kriege. Und wenn du mich klug machst, dann bringe ich ihr alles bei, was du mir zeigst. Aber ich glaube gar nicht, daß du das kannst. So, nun weißt du's!« »Glaubst du, daß ich sprechen kann?« fragte der Maulwurf, und Edred erwiderte wie aus der Pistole
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geschossen: »Nein, das glaube ich nicht. Du bist ein Traumtier und weiter nichts, ich träume bloß.« »Und was glaubst du?« wandte sich der Maulwurf an Elfrida. Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich glaube, daß es gleich dunkel sein wird und daß Tante Edith sich schreckliche Sorgen macht, wo wir bleiben. Könnten wir uns nicht ein andermal wiedertreffen? Heute abend hast du doch nicht genug Zeit, um uns tapfer und klug zu machen.« »Das hätte ich wahrhaftig nicht!« bestätigte der Maulwurf bedeutungsvoll. »Aber du könntest uns schnell noch erzählen, wo der Schatz versteckt ist«, drängte Edred. »Das kommt erst ganz zum Schluß, du Gierschlund!« sagte der Maulwurf. »Zunächst muß ich euch tapfer und klug machen, und es scheint mir, als war das ein hartes Stück Arbeit. Gute Nacht!« Damit wollte er in den Thymianbüschen verschwinden. »Oh – lauf nicht weg!« rief Elfrida erschrocken. »Wir fiden dich doch nie wieder! Es wäre zu schrecklich!« Der Maulwurf blieb stehen. »Ich muß leider dafür sorgen, daß ihr mich wiederfindet«, sagte er griesgrämig. »Wenn ihr mich braucht, dann steigt auf den Hügel und sagt irgend etwas Gereimtes und ruft mich damit. Dann komm ich schon.« Nach dieser mürrischen Anweisung wollte er endgültig davontrotten. »Aber was für ein Gedicht sollen wir denn nehmen?« fragte Elfrida eilig. 40
»Ach, irgendwas eben. Das könnt ihr entscheiden. Aber es wird euch nicht viel nützen, wenn ihr's nicht selber dichtet«, ergänzte das Muddeltier. Die Geschwister sahen sich betreten an. »Und natürlich müßt ihr mich sehr höflich und freundlich bitten. Verstanden? So – und jetzt marsch nach Hause mit euch!« »Wohin gehst du denn?« fragte Elfrida schüchtern. »Selbstverständlich auch nach Hause!« antwortete der Maulwurf und verschwand diesmal wirklich.
Die beiden Kinder machten sich in tiefem Schweigen auf den Weg. Erst als sie am Fuße des Hügels die Landstraße erreicht hatten, sagte Edred ehrfurchtsvoll: »Stell dir das vor!« Und Elfrida antwortete höchst beeindruckt: »Ja, nicht?« Dann beschlossen sie, keiner Menschenseele etwas von ihrem Erlebnis zu erzählen, und gingen stumm weiter. Die Lichter des kleinen Bahnhofs, die Rufe der Gepäckträger, das Stimmengewirr der wartenden Reisenden, das Klappern der Signalzeichen wirkten auf sie wie ein nasser Schwamm, der einem Schläfer frühmorgens ins Gesicht geworfen wird. Sie schienen aus einem tiefen Traum zu erwachen. Tante Edith kam glücklicherweise erst, als die Kinder längst zu Hause waren. Sie hatte Geschenke für Edreds 41
Geburtstag mitgebracht, viel mehr, als er in den letzten drei Jahren gesehen hatte, Schokolade, einen Handwerkskasten, einen wirklich erstklassigen Ballschläger, einen Kricketball samt den dazugehörigen drei Torstäben, einen Tuschkasten mit anständig großen Farbnäpfen und nicht so mickerigen kleinen, wie man im allgemeinen geschenkt bekommt, und außerdem noch wundervolle Pinsel, ein paar garantiert aus Eichhörnchenhaaren und einen aus Dachshaar, spitz wie ein Degen. »Du bist die beste Tante der Welt!« rief Edred und umarmte sie mit aller Kraft. Er strahlte vor Glück und wiederholte: »Du bist wirklich mein Aller-aller-liebstes, und Elfrida darf den Tuschkasten immer benutzen, wenn ich nicht da bin, und auch die Eichhörnchenpinsel. Nur den mit den Dachshaaren natürlich nicht!« »Für Elfrida habe ich auch etwas mitgebracht«, sagte Tante Edith und kramte in dem Berg von Einwickelpapier und Bindfaden, Pappe und Holzwolle. »Ah, hier ist es!« Es war ein Buch, ein roter Band mit goldener Prägung auf dem Deckel: ›Geheimnisvolle Reisen mit Psammy‹. Nun war Elfrida an der Reihe, der Tante um den Hals zu fallen. »Und jetzt gibt's ein Festessen!« verkündete Tante Edith schließlich, als sich der Begeisterungssturm etwas gelegt hatte. »Was haltet ihr von Brathuhn und Stachelbeerkuchen mit Schlagsahne?« Den Kindern, die abends an die milde Langeweile von Butterbroten und Milch gewöhnt waren, erschien das 42
üppige Mahl als die wahre Krönung aller Wunder dieses Tages. Während sie mit Genuß das knusprige Hühnchen verspeisten, erzählte die Tante von den Ergebnissen ihrer Fahrt. »Es ist tatsächlich eine Art Schiff angekommen«, sagte sie, »und das Beste, was es für uns mitbringt, ist die Aussicht, daß wir keine Mieter mehr zu nehmen brauchen!« Die Kinder schrien begeistert auf. »Und in Zukunft werden wir sogar ein bißchen Geld haben. Ihr könnt wieder in eine gute Schule gehen – und – ja, ratet einmal, wo wir wohnen werden!« »Doch nicht etwa...« flüsterte Elfrida, »doch nicht etwa im Schloß?« »Nanu – woher wißt ihr denn das?« Elfrida sah ihren Bruder an. Er schluckte hastig den letzten Riesenbissen hinunter und sagte: »Ach, Tante Edith – liebe Tante Edith – weißt du – wir waren nämlich heute in Arden. Du hast gesagt, in diesem Jahr dürften wir bestimmt...« Und dann erzählte er die ganze Geschichte, ja, wirklich alles, bis zum feierlichen Aufsagen des Zauberspruchs. »Geschah denn etwas danach?« fragte Tante Edith. Die Kinder stellten erleichtert fest, daß sie einfach neugierig war und kein bißchen böse. »Nun ja«, fing Elfrida an, »wir haben einen Maulwurf gesehen ...« Tante Edith lachte, und Edred sagte schnell: »Das war alles. Und jetzt bin ich doch wirklich Lord Arden, nicht wahr ?« 43
»Ja«, sagte seine Tante ernst, »das bist du.« »Dann bin ich jetzt Lady Arden, oder?« rief Elfrida. »Nein, mein Liebling«, sagte Tante Edith. »Wenn er Lord ist, müßte ich doch Lady sein«, sagte Elfrida empört, »anders ist es ungerecht!« »Spielt gar keine Rolle, altes Mädchen«, sagte Edred großzügig, »ich kann dich ja immer Lady Arden nennen, wenn es dir Spaß macht.« »Was haltet ihr denn davon«, fragte die Tante ablenkend, »wenn ihr beide sofort ins Schloß ziehen würdet?« »Heute abend?« »Nein, nein«, Tante Edith lachte, »ich meine in der nächsten Woche vielleicht. Seht mal: Ich muß doch versuchen, dieses Haus hier zu vermieten, und ich werde ziemlich viel um die Ohren haben. Mrs. Honeysett, die eurem verstorbenen Großonkel die Wirtschaft geführt hat, möchte gern im Schloß bleiben. Das hat sie den Rechtsanwälten geschrieben. Ich hab sie schon gekannt, als ich ein kleines Mädchen war, und ich erinnere mich noch gut an sie: Sie ist eine herzensgute Seele. Würdet ihr wohl schon zu ihr ziehen, während ich hier umräume und alles fertig mache und die Mieter ausquartiere? Ach, lieber Himmel, da klingelt es schon wieder! Im Schloß werden wir nicht eine einzige Klingel anbringen lassen, das ist gewiß!« Und so wurde es dann auch gemacht: Tante Edith blieb vorerst noch im Klippenhaus, um alle Dinge in Ruhe zu ordnen. Edred und Elfrida fuhren in einem gemieteten 44
Pferdefuhrwerk mit zwei Koffern, in denen ihre Kleider und Spielsachen waren, davon. Ihre Herzen barsten fast vor hochgespannten Erwartungen. Mrs. Honeysett empfing sie mit einem anmutigen, altmodischen Knicks und zog sie herzlich an sich. »Willkommen in Ihrem Haus, Mylord«, sagte sie und umschlang mit jedem Arm eines der Kinder, »und Ihnen auch Willkommen, Miss Elfrida, mein Liebchen. Wirklich – jeder sieht euch beiden sofort an, daß ihr Ardens seid. Es hat immer einen Jungen und ein Mädchen gegeben – ja, zu allen Zeiten.« Ach, es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl für Edred und Elfrida, als sie die Koffer auspackten und ihre Besitztümer in breite Schubladen aus Zedernholz einordneten, als sie die gestärkten Musselingardinen von dem Fenster mit den schönen Eisengittern fortzogen und wie so viele Ardens vor ihnen über das weite Land blickten, das früher einmal im Besitz ihrer Familie gewesen war. Später stiegen sie die flachen, breiten Treppenstufen zwischen den Bildern ihrer Ahnen hinab. In dem eichengetäfelten Wohnzimmer war der Tisch weiß und festlich für zwei gedeckt. Die schönen alten Möbel schienen den Kindern heimatlich und seit langem vertraut. Die Sonne warf schimmernde Lichtbahnen durch die blanken Fenster und ließ die polierten Holzpaneele an den Wänden silberbraun schimmern.
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»Hier ist bestimmt irgendwo ein Geheimfach«, sagte Elfrida. Und obwohl Edred erwiderte: »Geheim-Schnickschnack!«, war er im Grunde seines Herzens fest davon überzeugt, daß sie recht hatte.
Nach dem Essen zogen sie auf große Entdeckungsreise aus. Das schmale alte Haus erwies sich als sehr viel weitläufiger, als es ihnen an jenem ersten Tag vorgekommen war, an dem sie sich wie Einbrecher eingeschlichen hatten. Sie durchstöberten Zimmer und Gänge und kamen dabei zu einer grüngebeizten Tür, deren Farbe schon ganz verblichen war. Sie drückten die Klinke nieder und stießen den Flügel auf. Dahinter lagen noch mehr Flure, noch mehr Räume. Aber es mußte ein älterer Teil des Gebäudes sein, der seit langem nicht mehr bewohnt wurde. Es war düster und schattig, überall lag Staub, und Spinngewebe spannten sich vor Fenstern mit zerschlissenen und verblaßten Seidengardinen, die leise hin und her wehten, obgleich kein Windhauch sie berührte. Die Teppiche auf den Fußböden bestanden nur noch aus Fetzen, Staub lag in dicken Puderschichten auf allen Möbeln. Die Baldachine über den breiten Betten der Schlafzimmer senkten sich schwer und grau. Über dem Rand einer geschnitzten Eichenwiege hing noch eine kleine zerschlissene Seidendecke, aber Motten und Mäuse hatten Löcher in die Kissen genagt. Aus dem gewaltigen Küchenherd, in dem seit langem kein Feuer mehr gebrannt hatte, pfiff ein eisiger Luftzug. Der große Raum roch 46
modrig und erfüllte die Kinder mit einer sonderbaren Beklemmung. »Glaubst du, daß es hier spukt?« fragte Elfrida. »Quatsch!« antwortete Edred kurz, und sie liefen weiter. Sie entdeckten lange Gänge, an deren Wänden schwarzgerahmte Kupferstiche schief und krumm unter dichten Spinnweben wie unter grauen Seidenschleiern hingen. Sie durchquerten Säle mit unebenen, knarrenden Eichenholzdielen. Als sie schließlich jede Tür geöffnet und in alle Räume gespäht hatten, verließen sie das Haus und liefen außen um seine dicken Mauern herum. Dabei stellten sie fest, daß dieser unbewohnte Gebäudeteil ein freistehender Flügel mit rechteckigen Fenstern und kunstvollen Wasserspeiern war. Durch die Schleier, die die Zeit und ganze Spinnengenerationen ihnen angeheftet hatten, wirkten die Fensterscheiben wie gelbes Pergament. Dichter Efeu umstrickte sie und hatte einige schon ganz und gar überwuchert. »Ach!« rief Elfrida glücklich und ließ sich ins Gras fallen. »Das alles ist viel zu schön, um wahr zu sein. Ich kann es immer noch nicht fassen!« »Was ich nicht fassen kann«, sagte Edred und warf sich längelang neben seine Schwester, »das ist die Sache mit dem Maulwurf...« »Aber wir haben ihn doch alle beide gesehen«, sagte Elfrida heftig. »Du kannst doch nicht an etwas zweifeln, was du gesehen hast!« »Na – ich weiß nicht...« sagte Edred unbestimmt. Und 47
nach einer kleinen Weile sagte er sehr überlegen: »Denk bloß mal an alle diese Feengeschichten und dergleichen. Vielleicht sind unsere Pfefferminzplätzchen verhext gewesen, und deshalb haben wir lauter Unsinn geträumt.« »Also, ich weiß nicht... Hast du schon etwas, womit wir den Maulwurf rufen könnten?« fragte Elfrida. »Hast du was?« »Nein, aber ich habe zu dichten versucht.« »Ich auch. Und ich habe auch etwas zusammengebracht«, sagte Edred verlegen. »Großartig, Edred! Sag's schnell einmal auf, ja?« »Weißt du«, sagte Edred unentschlossen, »ich möchte schon gerne den Schatz finden. Das ist klar. Aber ich glaube trotzdem nicht daran. Es ist nicht wahrscheinlich; mir kommt es jedenfalls nicht so vor. Oder dir?« »In meinem Buch von Psammy geschehen noch viel unwahrscheinlichere Dinge«, erwiderte Elfrida. »Ach«, meinte Edred wegwerfend, »das ist ja bloß eine dumme Geschichte!« »Der Maulwurf hat doch gesagt, wir wären auch in einer Geschichte – los, Edred, fang schon an mit deinem Gedicht!« Edred holte tief Luft und sagte widerwillig: »Maulwurf, Maulwurf, komm heraus aus deinem dunklen Maulwurfhaus. Ich weiß, dir fehlt der Augen Licht, aber das kümmert mich nicht.« 48
Elfrida sah sich aufgeregt nach allen Seiten um. Die Wiese lag fahlgrün in der Sonne, die Schloßmauer türmte sich dahinter grau und efeuüberwuchert. Tauben kreisten im seidenen Blau des Himmels, hockten in den Fensterbögen und auf dem Dach des Hauses und plusterten ihr weißes Federkleid. Aber kein Maulwurf erschien, nicht einmal der Schatten vom Schwanzende eines Maulwurfs. »Edred!« flüsterte das Mädchen. »Hm?« »Hast du das wirklich ganz allein gedichtet? Sei bitte nicht böse, aber es kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Ich – ich habe es übernommen.« »Wie?« »Hast du noch nie in Büchern gelesen: Aus dem Französischen übernommen? Ich habe es aber abgeändert.« »Ich glaube, das reicht nicht. Wieviel hast du denn abgeändert? Wie heißt das richtige Gedicht?« »Schneck, Schneck, komm heraus aus deinem kleinen Schneckenhaus – und so weiter«, murmelte Edred. »Tante Edith hat es manchmal gesungen...« »Du mußt sicher ganz und gar allein etwas dichten! Du siehst ja: Der Maulwurf ist nicht aufgetaucht.« »Nein, ist er nicht«, gab Edred zögernd zu.
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»Laß uns mal scharf nachdenken! Ich bin überzeugt, daß ich fabelhaft dichten könnte, wenn ich nur wüßte, wie ich anfangen soll.« »Wenn einer dichten muß, dann bin ich's«, sagte Edred. »Ich bin schließlich Lord Arden!« »Du bist gemein!« rief Elfrida. Edred lenkte ein. »Du kannst ja das Gedicht machen, und ich sage es auf.« Elfrida vergrub ihren Kopf in den Händen und dachte so lange und angestrengt nach, bis ihr das Blut wie Kirchenglocken in den Ohren dröhnte. »Hast du's?« fragte Edred gerade in dem Augenblick, als sie tatsächlich glaubte, einen guten Anfang erwischt zu haben. »Still!« zischte sie wütend, jäh aus ihrem Schaffensrausch gerissen. Wieder herrschte tiefes Schweigen. Nur die Tauben gurrten, und die Lerchen sangen, und von fern tönte das träge Muhen einer Kuh herüber. »Ob das geht?« fragte Elfrida endlich und hob den Kopf aus den Händen. Sie begann: »O Muddeltier – ich hab nämlich das Gefühl, als ob es lieber so genannt werden möchte als einfach bloß ›Maulwurf‹, denkst du nicht auch? Also: O Muddeltier, komm bitte raus und zeige uns in diesem Haus es. Es – das soll der Schatz sein. Ob es das begreift?« »Aber das ist doch gar kein Gedicht!« wandte Edred ein. »Doch – du mußt es nur richtig sagen: 50
O Muddeltier, komm bitte raus und zeige uns in diesem Haus es.« »Da fehlt noch was dran«, sagte Edred, der nicht zugeben wollte, daß er seine Schwester bewunderte. »Es geht ja auch weiter«, rief Elfrida. »Warte nur eine Sekunde, dann fällt es mir wieder ein. ›Es‹ – das soll nämlich heißen, wie man den Schatz findet und Edred tapfer und weise und freundlich macht.« »Na gut, dann sag das Ganze auf«, schlug Edred vor, und Elfrida deklamierte gehorsam: »O Muddeltier, komm bitte raus und zeige uns in diesem Haus es: wo der Goldschatz ruht – und wie Edred tapfer wird, weise und gut. Ich könnte es dir auch aufschreiben, wenn wir einen Bleistift hätten«, fügte sie hinzu. Wie eine Schulaufgabe lernte Edred das Gedicht auswendig. Er wiederholte es so lange, bis es saß. Dann stand er feierlich auf und sagte: »O Muddeltier, komm bitte raus und zeige uns in diesem Haus es: wo der Goldschatz ruht – und wie Edred tapfer wird, weise und gut. 51
Wenn es dir gerade paßt«, fügte er höflich von sich aus hinzu. Und sofort war der weiße Maulwurf da. »Was wollt ihr denn schon wieder?« fragte er unwirsch. »Und nennt ihr das vielleicht ein Gedicht?« »Es ist schließlich mein erstes«, erwiderte Elfrida. »Das nächste wird sicher besser.« »Wir möchten gern, daß du den Zauberspruch erfüllst«, sagte Edred. »Dich tapfer und weise machen? Hihi – das geht nicht so einszweidrei, mein Lieber!« höhnte der Maulwurf mit boshaftem Blinzeln. »Das ist eine verflixt langwierige Arbeit, das kannst du mir glauben.« »Ach, sei nicht böse, lieber, guter Maulwurf!« bat Elfrida. »Und wenn es so furchtbar lange dauert, warum fängst du dann nicht sofort damit an?« »Ich rühr doch nicht eine Hand mehr als unbedingt nötig«, knurrte der Maulwurf. Aber immerhin schien ihn die zärtliche Anrede etwas sanfter zu stimmen, denn er fuhr fort: »Ich muß überhaupt erst mal richtig wissen, was ihr wollt, vielleicht mach ich's dann.« »Ich weiß genau, was ich will«, sagte Edred, »ich weiß nur nicht, ob du's erfüllen kannst.« »Ha!« stieß der Maulwurf hervor und lachte verächtlich. »Ich hab die Idee aus dem Buch, das Elfrida zu meinem Geburtstag gekriegt hat. Die Kinder in der Geschichte sind
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in die Vergangenheit gegangen. Ich möchte auch in die Vergangenheit gehen und dort den Schatz entdecken!« »Bestimm die Epoche«, sagte der Maulwurf gähnend. »Die was?« »Die Epoche! Den Zeitabschnitt, in den du zurückgehen willst. Wenn du dich nicht entschieden hast, ehe ich bis zehn gezählt habe, kannst du dir deinen Wunsch in den Schornstein schreiben. Eins, zwei, drei, vier...« Er zählte gelangweilt vor sich hin, während die Kinder ihn verstört anstarrten. »...neun, zehn!« schloß er befriedigt. »Na gut, dann müßt ihr eben sehen, wie ihr weiterkommt.« »Ich konnte überhaupt nicht richtig an irgend etwas denken«, protestierte Edred, »bloß an alle Jahreszahlen von allen englischen Königen auf einmal!« »Sehr nützlich, wenn man sie weiß«, bemerkte der Maulwurf trocken und mit so viel hämischem Zweifel im Ton, daß Edred sofort mit halblauter Stimme aufzusagen begann: »Wilhelm I. 1066, Wilhelm II. 1087, Heinrich I. 1100...« Der Maulwurf gähnte vernehmlich, was wirklich nicht sehr höflich war. »Sei doch bitte nicht so böse, lieber Maulwurf«, schmeichelte Elfrida. »Kannst du uns nicht auf deine Weise helfen?« »Endlich kommt ihr zur Vernunft«, sagte der Maulwurf. »Ich werde euch einen kleinen Ratschlag geben: Zankt euch einen ganzen Tag lang nicht, und dann...«
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»Das mußt ausgerechnet du von uns verlangen!« murmelte Edred mutlos. »Bitte, bitte«, sagte der Maulwurf, der besser hören als sehen konnte, »dann eben nicht!« »Ach, fang doch nicht schon wieder an«, seufzte Elfrida. »Was sollen wir denn tun, wenn wir uns einen ganzen Tag lang nicht gezankt haben?« »Also gut. Wenn ihr das wirklich mal schafft, dann sucht die Tür.« »Welche Tür?« fragte Elfrida. »Die richtige Tür«, sagte der Maulwurf. »Aber wo ist die?« fragte Edred. »Im Haus natürlich«, sagte der Maulwurf ungeduldig, »wo zum Henker soll sie wohl sonst sein?« Er schoß flink wie eine flüchtende Maus durch das Gras davon und verschwand in einer Art Kaninchenloch. »Siehst du!« rief Elfrida triumphierend. »Jetzt glaubst du auch an den Maulwurf, nicht wahr?« »Ja«, gab Edred zu. »Aber vergiß nicht: Du mußt einen geschlagenen Tag lang nett zu mir sein, sonst hat's gar keinen Zweck, wenn ich an ihn glaube.« »Bin ich nicht immer nett zu dir?« fragte Elfrida empört. »Ist ja schon gut«, sagte ihr Bruder.
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Aber vierundzwanzig Stunden nett zueinander zu sein, das scheint für Geschwister viel schwieriger, als man eigentlich für möglich halten sollte. Drei Tage verstrichen, ohne daß sie es schafften, Frieden zu halten. Es waren jedoch keineswegs trübselige oder öde Tage: Elfrida und Edred waren ständig auf der Suche nach der Tür. Aber weil der Maulwurf sie weder näher beschrieben noch angegeben hatte, wo sie zu finden wäre, entdeckten sie nichts. Die meisten Zimmer hatten mehrere Türen, und da es viele Räume im Schloß gab, konnten einschließlich der Schranktüren fünfundsiebzig in Frage kommen; aber eigentlich schien nicht eine einzige davon würdig, vor allen anderen als die Tür zu gelten. Endlich kam der Tag, an dem keiner von beiden seinem Temperament die Zügel schießen ließ. Schon morgens beim Frühstück behandelten sie sich gegenseitig mit ausgesuchter Höflichkeit – und auf einmal kam es ihnen so unterhaltend wie ein neues Spiel vor. »Laß uns doch Lord und Lady Arden zueinander sagen«, schlug Elfrida vor, »und so tun, als ob wir überhaupt nicht miteinander verwandt wären.« Der Einfall half ungeheuer, weil man ja bekanntlich zu Fremden viel leichter höflich sein kann als zu seinen eigenen Verwandten. Je mehr Zeit verstrich, desto vorsichtiger gingen die Kinder miteinander um, es kam ihnen vor wie Kartenhausbauen. Als Stunde um Stunde in ungeahntem Frieden dahinging, wurden sie vor lauter Behutsamkeit ganz atemlos. Wenn nur nicht nach all der Anstrengung irgendein ganz natürlicher Geschwisterstreit alles wieder verdarb! 55
»Ich hoffe aus ganzem Herzen«, sagte Edred kurz vor dem Tee, »daß du nicht jetzt noch irgendwas Albernes anstellst!« »O mein Lieber, das hoffe ich auch«, erwiderte Elfrida sehr sanft. Um den bisherigen Erfolg nicht aufs Spiel zu setzen, entschlossen sie sich, nach dem Tee zu lesen. Beide griffen nach dem gleichen Band – es war ›Die Schatzinsel‹ –, und einen Augenblick lang hing ihr gutes Einvernehmen an einem seidenen Faden. Aber dann sagten beide wie aus einem Munde: »Nein – nimm du es!«, und es endete damit, daß schließlich jeder mit einem ganz anderen Buch dasaß, das er eigentlich gar nicht lesen wollte. Beim Schlafengehen zündete Edred für Elfrida die Kerze an, und sie bückte sich und hob die Streichholzschachtel auf, die er fallen gelassen hatte. »Gott segne die lieben Herzchen!« murmelte Mrs. Honeysett gerührt, die eben im Flur vorüberging. Diesmal hatten sie's geschafft.
»Wie sollen wir sie nur finden?« fragte Edred am nächsten Morgen zwischen zwei Bissen Toast. »Wahrscheinlich ist das so, wie wenn sich zwei Leute ineinander verlieben«, antwortete Elfrida ebenfalls mit vollen Backen. »Du siehst die Tür und weißt auf der Stelle: Das ist die einzige Prinzessin auf der ganzen Welt, die für 56
mich bestimmt ist – ich meine natürlich die einzige Tür!« verbesserte sie sich. Als sie mit ihrem Frühstück fertig waren, standen die Kinder auf und schauten sich an. »Los!« sagten sie wie aus einem Munde. »Wir gucken uns jede einzelne Tür noch einmal an. Vielleicht ist über Nacht auf einer ein Zeichen gewachsen – so wie Pilze, die wachsen doch auch über Nacht!« sagte Elfrida. »Ich glaube viel eher, der Maulwurf hat uns an der Nase herumgeführt«, sagte Edred. »Bestimmt nicht«, widersprach seine Schwester, »vielleicht sollten wir alle Türen von beiden Seiten ansehen? Ach – ich möchte zu gern wissen, was hinter der Tür da ist! Du nicht?« »Die toten Frauen von Ritter Blaubart«, sagte Edred, »und ihre abgeschlagenen Köpfe...« »Wenn du nicht sofort still bist«, rief das Mädchen, »dann such ich nicht mehr mit. Du weißt doch, daß ich solche grausligen Redereien nicht ausstehen kann!« Einträchtig liefen sie los und besahen nacheinander alle fünfundsiebzig Türen von innen und von außen. Manche waren gestrichen und manche schön gemasert und poliert, manche mit Schnitzereien versehen und andere völlig schmucklos, aber es waren nur Türen – einfache, gewöhnliche Türen ohne Besonderheiten. Als die Kinder alle fünfundsiebzig betrachtet und betastet hatten, blieb ihnen nichts weiter übrig, als noch einmal von vorn zu beginnen. Sie überprüften sämtliche 57
Türen mit äußerster Sorgfalt und Gründlichkeit zum zweitenmal daraufhin, ob nicht doch irgendwo eine Zauberschrift vorhanden wäre, die sie zufällig übersehen hätten. Aber sie entdeckten nichts. Schließlich fingen sie an, versuchsweise die Wände abzuklopfen, um vielleicht auf eine Tapetentür zu stoßen. »Es gibt gar keine alte Tür «, sagte Edred endlich. »Ich hab dir ja gleich gesagt, der Maulwurf nimmt uns nur auf den Arm.« »Ich weiß, daß es doch eine gibt«, beharrte Elfrida. »Paß mal auf! Warum spielen wir nicht das Such-und-findeSpiel? Du verbindest mir die Augen, faßt meine Hand und befiehlst mir, daß ich die Tür entdecke!«
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»Daran glaube ich nicht«, sagte Edred verdrossen. »Daß du sie dann findest, meine ich.« »Ich eigentlich auch nicht«, gab Elfrida zu, »aber irgendwas müssen wir jetzt unternehmen, meinst du nicht? Es hat keinen Sinn, wenn wir uns hinsetzen und jammern: Es gibt keine Tür, es gibt keine Tür.« »Na gut – dann komm!« sagte Edred ergeben. Er verband Elfrida die Augen mit ihrem besten blauen Seidenschal und ergriff ihre Hände. Die Kinder waren in der Bibliothek, in der sie den Zauberspruch entdeckt hatten, und Elfrida marschierte sofort mit sicheren Schritten los. Sie durchquerte die Halle und betrat durch die grüngebeizte Tür den anderen Flügel, lief den langen Gang entlang und stieg die staubige Treppe empor, immer höher. »Hier haben wir überall schon gesucht«, sagte Edred. Sie ging zuversichtlich den Flur entlang, wo die Spinnen die Bilder mit grauen Seidenschleiern verhängt hatten. Hier lagen viele Türen nebeneinander, und Elfrida blieb plötzlich vor einer stehen, vor einer, die genauso aussah wie alle anderen. »Diese!« sagte sie und streckte ihre Hand aus, bis sie den Holzrahmen berührte. »Dies ist die richtige Tür.« Sie tastete nach der Klinke, drückte sie hinunter und trat ein. Sie zog ihren Bruder immer noch an der Hand hinter sich her, und auch der blaue Schal lag noch über ihren Augen. Edred folgte zögernd. »Donnerwetter!« entfuhr es ihm, und da zerrte Elfrida das Seidentuch von ihrem Gesicht. 59
Die Tür schloß sich leise von selbst hinter ihnen. Sie standen in einem großen, schmalen Bodengelaß direkt unter dem Dachfirst. Es war ein Raum, den sie noch nie betreten hatten. Er hatte keine Fenster und keine Decke. Uralte, wurmzerfressene Balken gaben den Blick auf die Ziegelreihen frei, durch deren Ritzen hier und da ein goldstaubiger Lichtstrahl hereinbrach. Von draußen erklang das Tick-Tick-Tick scharrender Taubenfüße und das geschäftige Ruckedigu aus vielen Taubenkehlen. Der langgestreckte Raum war leer. Nur an den beiden Schmalseiten standen rechts und links dicht unter den Dachsparren eine Anzahl alter Truhen, von denen keine der anderen glich. »Oh«, stieß Edred hervor, »ich bin auf einmal ganz gütig und weise! Ich spüre es in meinem Magen. Und jetzt finden wir den Schatz, und dann können wir das Schloß wieder aufbauen.« Er lief zu der am nächsten stehenden Truhe und rüttelte an ihrem Deckel, aber Elfrida mußte ihm helfen, die schwere Platte hochzustemmen. Doch als sie nun hineinblickten, entdeckten sie keinen Schatz in der geheimnisvollen Tiefe, sondern nur einen Haufen Kleider. Die Kinder versuchten ihr Glück bei der nächsten Truhe und der übernächsten – aber nicht eine einzige enthielt Silber oder Gold, sondern alle waren nur vollgestopft mit Kleidern, Kleidern und noch mehr Kleidern. »Wir können es nicht ändern«, sagte Elfrida und gab sich Mühe, ihre Stimme gefaßt klingen zu lassen, »die
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Sachen eignen sich auf jeden Fall fabelhaft zum Verkleiden...« »Alles schön und gut«, murrte Edred, »aber ich will den Schatz haben!« »Vielleicht«, wandte Elfrida ein, »vielleicht bist du eben noch nicht ›gütig und weise‹. Ich meine noch nicht genug «,« fügte sie hastig hinzu. »Weißt du was? Wir wollen die Sachen mal rausnehmen und durchsehen. Vielleicht steckt der Schatz in den Taschen!« Da steckte jedoch nichts, nicht der Bruchteil eines Schatzes, ja nicht einmal ein einziger Penny. In der ersten Truhe waren Reitmäntel und hohe Stiefel, Kleider mit kurzen Taillen und bestickte Schärpen, enge Hosen und Gehröcke mit glänzenden Knöpfen. Dazwischen lagen bunte Westen und sonderbar geformte Hüte. Einer – er war klein und grün – sah aus, als ob er Edred passen könnte. Er probierte ihn neugierig auf, und zugleich kramte Elfrida einen kleinen Strohhut heraus, der mit blauen Bändern besetzt war. »Hier ist einer für mich!« rief sie und setzte ihn auf. In diesem Augenblick schien es, als dränge das Taubengurren durch das Dach auf sie zu, näher und immer näher. Eine Wolke von sanften Taubengeräuschen umschloß sie, hüllte sie ein und umgab sie immer dichter. Kleider hoben sich aus der Truhe und streiften sich über ihre Glieder. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah. Das Taubengurren strich wie helfende Hände über sie hin, und im Nu standen sich die Geschwister in Gewändern gegenüber, wie sie sie noch niemals erblickt hatten. Elfrida 61
trug ein hochgegürtetes Kleid mit langem engen Rock aus grüngeblümter Baumwolle. Ihre bequemen braunen Spangenschuhe waren verschwunden, und statt ihrer hatte sie dünne Sandalen an den Füßen. Edred steckte in schneeweißen Hosen, die ihm bis fast unter die Arme reichten, und einer blauen Jacke mit Messingknöpfen und einer Art Halskrause.
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»Das ist aber komisch«, sagte Edred, als das Taubengurren verklungen war. »Los, komm, wir wollen uns Mrs. Honeysett zeigen!« Aber als sie hinausstürmten, stellten sie überrascht fest, daß Mrs. Honeysett oder irgend jemand anders unterdessen bienenfleißig gewesen sein mußte, denn der Fußboden des Korridors war gefegt und gebohnert. Ein Läufer, abgetreten zwar, aber heil, lag da, und die Stiche hingen ordentlich ausgerichtet und gerade an den weißgekalkten Wänden, ohne daß noch irgendwo ein Spinngewebe zu entdecken war. Elfrida stieß im Vorbeilaufen alle Türen auf, und jedes Zimmer war aufgeräumt und sauber, nirgends gab es staubige Möbel oder zerschlissene Vorhänge, überall herrschte größte Ordnung und eine kühle, etwas nüchterne Behaglichkeit. Mrs. Honeysett war in keinem der Räume, und es waren auch keine Arbeiter zu sehen, die die grüngebeizte Tür entfernt haben könnten. An ihrer Stelle hing eine alte, klapprige Holztür schief in den Angeln. Die Kinder rannten ins Wohnzimmer. Im Kaminsessel erblickten sie zu ihrem Erstaunen eine weißhaarige alte Dame in kerzengerader Haltung. Neben ihr saß ebenso steif aufgerichtet ein alter Herr. Sie hatten sonderbare Kleider an, ähnlich denen, die sie jetzt selber trugen. Die alte Dame bestickte eine Rüsche aus hauchzartem weißen Batist, und der alte Herr las in etwas, was wie eine Zeitung aussah. »Welcher Übermut!« rügte die alte Dame gemessen. »Mir scheint, wir vergessen unsere Haltung! Mach dein Kompliment, mein Fräulein!« Elfrida knickste, so gut sie konnte.
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»Um euch Respekt vor Älteren zu lehren«, sagte der alte Herr, »empfehle ich, eines der prächtigen ›Geistlichen Lieder‹ von Doktor Watts auswendig zu lernen. Ich überlasse es Ihnen, Mylady, die Kinder dabei zu beaufsichtigen.« Er legte das Zeitungsblatt aus der Hand und verließ aufrecht und würdevoll das Zimmer. Ohne richtig gewahr zu werden, wie das geschah, fanden sich die Geschwister auf zwei kleinen Stühlen mitten in einem Raum sitzend, der das gleiche Wohnzimmer war – und doch auch wieder nicht –, in dem sie vorhin noch erwartungsvoll ihr Frühstück verzehrt hatten. Jetzt hielten sie einen Band ›Doktor Watts' Hymnen‹ in den Händen, und die alte Dame befahl: »Wiederholt mir also die Strophe mit dem Anfang: ›Glückliche Kinder, die schon in der Jugend eifrig und sittsam gelernt.. .‹« Anschließend bemerkte sie kühl: »Und beim Mittagessen werdet ihr heute vom Genuß der Nachspeise ausgeschlossen werden.« »Hör dir das an!« murmelte Edred. »Sei still!« flüsterte Elfrida, während die alte Dame ihre Stickarbeit zum Fensterplatz hinübertrug. »Aber das laß ich mir doch nicht gefallen!« protestierte Edred mit gedämpfter Stimme. »Ich sag's Tante Edith – und außerdem: Wer ist denn die da überhaupt?« Er starrte über den makellosen bunten Teppich zu der alten Dame hinüber.
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»Kapierst du denn nicht?« flüsterte Elfrida. »Wir haben uns in jemand anderen verwandelt, und das ist unsere Großmama. « Ihr war die Lage schnell klargeworden, aber Edred konnte noch immer nichts begreifen. Vielleicht lag es daran, daß sie ein Mädchen war, vielleicht auch, daß sie fast zwei Jahre älter war als ihr Bruder. Die Geschwister schauten stumm hinaus in den strahlenden Sonnenschein und dann auf die langweiligen winzigen Buchstaben in dem marmoriert gebundenen Buch. »Edred«, gebot die alte Dame plötzlich, »gib mir das Blatt herüber!« Sie deutete auf die Zeitung auf der spiegelblank polierten Tischplatte. Der Junge erhob sich und brachte ihr die Zeitung. Dabei warf er einen Blick darauf und sah, daß es eine ›Times‹ vom 16. Juni 1807 war. Und da wußte er – ebenso wie Elfrida –, wo er war und in welcher Zeit.
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Zeitgenossen Napoleons Edred schlich zu seinem Stuhl zurück und griff mit zitternden Händen wieder nach seiner Ecke des geistlichen Liederbuches. Verstört bedachte er dabei die sonderbaren Dinge, die sich ereignet hatten, seit er Lord Arden geworden war. Elfrida und er hatten nicht nur ein unbekanntes Haus erforscht, einen verwunschenen Dachboden mit merkwürdigen Kleidertruhen entdeckt, sondern sich darüber hinaus auch noch durch höchst geheimnisvolle Taubengeschichten plötzlich in den Gewändern eines anderen Zeitalters wieder gefunden. Dabei war es doch ganz bestimmt unmöglich, daß auch das zauberhafteste Taubengurren der Welt jemals jemanden mit irgend etwas bekleiden konnte... Und dennoch war es offensichtlich geschehen. Außerdem hatten Elfrida und er es irgendwie fertiggebracht, hundert Jahre in der Zeitrechnung zurückzugleiten. Davon nämlich war er mittlerweile überzeugt, obwohl er nur ein Stück Zeitung als Beweis besaß. Er fühlte es gewissermaßen, wenn er auch nicht hätte sagen können, woran es lag; vielleicht schmeckte die Luft hundert Jahre frischer. Schäfer und Bauern können die
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Stunden der Nacht ja auch an der Beschaffenheit der Luft erkennen. »Stell dir vor«, flüsterte Edred, »wir sind im Jahre 1807. Es steht auf der Zeitung.« »Weiß ich«, flüsterte Elfrida zurück. Sie schien noch mehr naturverbundenes Zeitgefühl als ihr Bruder zu haben. »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was 1807 in der Weltgeschichte los war«, fuhr sie leise fort, »aber wir haben nie weiter gelernt als bis zu Eduard IV.« »Wir sind ja nicht in der Weltgeschichte, wir sind in Schloß Arden«, sagte Edred. »Wir sind trotzdem in der Geschichte! Und es wird noch ziemlich schrecklich werden, wo wir nicht mal wissen, wer König ist!« In diesem Augenblick warf die alte Dame über ihre ungeheuer große Brille mit der dicken Silberfassung den Kindern einen strengen Blick zu und sagte: »Ruhe!« Bald darauf legte sie die ›Times‹ aus der Hand und begann zu schreiben. Offenbar beendete sie einen bereits früher begonnenen Brief, denn der Bogen war zur größeren Hälfte schon mit feinen Schriftzügen bedeckt. Sie schrieb mit einer weißen Gänsefeder, die sie in ein mit goldenen Schnörkeln und Rosenranken bemaltes Tintenfaß tauchte. Neben einer Schale mit Federn und rotem Siegellack stand etwas, was wie ein Pfefferstreuer aussah. Die Kinder konnten ihr langweiliges Gedicht inzwischen auswendig und beobachteten deshalb neugierig die alte Dame. Als sie' den Brief beendet hatte, schüttete sie aus der Streubüchse Sand auf die letzten Zeilen, um die Tinte zu trocknen. 67
Löschblätter schien es noch nicht zu geben. Dann faltete sie den Bogen zusammen, versiegelte ihn mit dem silbernen Petschaft und schrieb die Adresse auf die Außenseite des Bogens. »Habt ihr eure Aufgabe vollbracht?« fragte sie dabei. »Ja freilich!« antwortete Elfrida und klappte das Liederbuch geräuschvoll zu. »Keine Unarten, mein Fräulein«, mahnte die Großmutter. »Du weißt sehr wohl, wie ich es meine. Außerdem weißt du auch gut, daß du ›Madam‹ sagen sollst, wenn du mit mir sprichst!« »Ja, Madam«, murmelte Elfrida ergeben. »Dann komm her und sag es auf. Nein, nein – das kannst du besser! Füße in die erste Position! Hände auf dem Rücken gefaltet! Den Kopf schön aufrecht. Und scharre nicht so mit den Füßen!« Nachdem zuerst Elfrida und danach Edred die trübseligen Verse vorgetragen hatten, erlaubte die alte Dame ihnen, in den Garten zu gehen und zu spielen. »Sollen wir nicht zuerst Ihren Brief zur Post bringen?« bot Elfrida dienstwillig an. »Gewiß, aber vergeßt nicht: Ich habe euch untersagt, im Schankraum des ›George‹ zu verweilen! Händigt Mrs. Skinner den Brief aus und geht sogleich wieder. Schließt die Tür leise und lauft nicht so zapplig!« »Ja, Madam«, erwiderte Elfrida gehorsam. »Sie werden herauskriegen, wer wir sind, da gehe ich jede Wette ein«, jammerte Edred, als sie vor der Tür
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standen. »Wir wissen ja über nichts Bescheid. Ich hab keine Ahnung, wo der ›George‹ ist, woher wir eine Briefmarke bekommen sollen – und überhaupt...« »Wir müssen jemanden finden, dem wir vertrauen können, und dem müssen wir die Wahrheit sagen«, schlug Elfrida vor. »Hier gibt es keine Menschenseele, der ich vertrauen würde«, erklärte Edred. »Laß uns zurück auf den Boden gehen und versuchen, ob wir nicht in unsere eigene Zeit zurückkommen«, drängte er aufgeregt. »Ich glaube, wir sind vorhin durch eine falsche Tür gegangen, was meinst du? Komm, wir wollen hier weggehen!« »O nein!« protestierte Elfrida. »Das wäre ja albern. Denk doch nur, was wir alles erleben werden! Und in Geschichte sind wir später bis an unser Lebensende die Klassenbesten. Wir wollen lieber durchhalten!« »Weißt du noch, welche Tür es war? Welche Bodentür?« fragte Edred plötzlich. »War es die dritte von links?« »Keine Ahnung! Aber wir finden sie nachher schon wieder. « »Ich möchte lieber sofort nachsehen«, beharrte Edred. »Ich will ganz sicher sein, daß meine Sachen griffbereit daliegen. Stell dir bloß vor, irgend jemand geht hin und räumt unsere Kleider weg! Du weißt doch, wie die Erwachsenen sind!« »Na gut«, sagte Elfrida, »dann wollen wir sie schnell selber wegpacken. Das dauert ja höchstens zwei Minuten.«
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Sie liefen in größter Eile die Treppe zu dem Korridor mit den Kupferstichen hinauf. »Die erste Tür ist es nicht, das weiß ich ganz bestimmt«, sagte Edred, und deshalb öffneten sie gleich die zweite. Aber die war es auch nicht. Sie probierten alle Türen nacheinander und öffneten zuletzt die erste doch noch. Aber keine von allen war die richtige. »Wir sind im falschen Flur gelandet«, sagte der Junge. »Es gibt nur den einen«, widersprach das Mädchen, und obgleich sie nun treppauf und treppab durch das ganze Haus jagten und ihr Glück überall versuchten, konnten sie die Bodentür doch nicht wiederfinden. Ja, mehr noch: Als sie auf den Gedanken kamen, die Türen zu zählen, waren es auch ohne die gesuchte Bodentür fünfundsiebzig, »...dreiundsiebzig... vierundsiebzig... fünfundsiebzig!« wiederholte Elfrida und schloß mit einem verzweifelten Seufzer: »Die Tür ist verschwunden! Wir müssen bis in alle Ewigkeit hierbleiben. Oh, ich möchte zu Tante Edith – ich will weg, ich will weg!« Sie ließ sich mit einem Plumps auf eine kleine grüne Matte fallen, die vor der letzten Tür in dem langen unteren Flur lag. Elfrida schluchzte so bitterlich, daß sich plötzlich hinter ihnen die Tür auftat. Die beiden Kinder wurden von molligen Armen umfangen und in eine freundliche Küche getragen. Blitzblanke Kupfer- und Messinggeräte hingen an der weißgekalkten Wand, und über einem mächtigen, flackernden Feuer drehte sich eine Hammelkeule, ohne daß eine Hand den Bratspieß bediente.
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»Still, ganz still«, sagte die Besitzerin der molligen Arme, eine sehr umfangreiche Frau in einem schokoladenfarbenen Kattunkleid mit aufgedruckten blauen Röschen. Sie hatte eine Leinenschürze umgebunden und trug ein Häubchen mit flatternden Rüschen auf den weißen Haaren. Ihr gutes, freundliches und vergnügtes Gesicht war dem von Mrs. Honeysett ähnlich. »Jammert bloß nicht so laut«, mahnte sie, »sonst kommt eure Großmama über euch. Hört auf zu weinen, ich bitt euch; seht lieber, was ich da habe!« Sie öffnete eine Blechdose und fischte zwei Klümpchen einer braunen sandähnlichen, krümeligen Masse heraus, jedes ungefähr von der Größe und Form einer Backpflaume. »Was ist denn das?« fragte Edred mißtrauisch. »Bewahr mich der Himmel!« rief die Köchin. »Was für ein sonderbares Kind! Erkennt den Zucker nicht, wenn er ihm vor der Nase schwebt! Ach, Master Edred, ich möchte wissen, was Euch als nächstes einfallen wird!« Die Kinder nahmen die Klümpchen und kosteten vorsichtig. Vielleicht war das merkwürdige Zeug wirklich Zucker, aber dann schmeckte er ziemlich abscheulich, kratzig und viel zu süß. Mühsam würgten sie die freundliche Gabe hinunter, während die Köchin ihre beiden tellergroßen Hände auf die Hüften stemmte und die Geschwister mit breitem freundlichen Lächeln anstrahlte. »Seht ihr wohl, schon seid ihr keine Heulsusen mehr!« sagte die Köchin zufrieden. »Nun lauft und spielt!«
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»Wir sollen Großmamas Brief zur Post bringen«, sagte Edred, »und wir wissen nicht...« »Kannst du ein Geheimnis bewahren?« unterbrach Elfrida ihren Bruder, einer jähen Eingebung folgend. »Ob ich was kann?« fragte die Köchin empört. »Als ob ich nicht wie meinen Augapfel das Geheimnis hüte, wie man einen richtigen Weihnachtskuchen anrührt. Mit meinem Weihnachtskuchen kann es kein anderer im ganzen Land aufnehmen, das wißt ihr ganz genau!« »Wir wissen gar nichts«, sagte Elfrida kleinlaut, »das ist es ja gerade. Und wir wagen nicht, Großmama zu sagen, was wir alles nicht wissen. Irgend etwas ist mit uns geschehen, daß wir uns an nichts erinnern, was länger als eine Stunde her ist.« »Gott bewahr mich!« rief die Köchin. »Könnt ihr euch etwa auch nicht mehr daran erinnern, wie ich euch die Apfelküchlein zugesteckt habe – Donnerstag vor einer Woche, als ihr ohne Abendbrot ins Bett geschickt worden seid?« »Nein«, seufzte Elfrida. »Aber ich bin fest davon überzeugt, daß du's getan hast. Nur: Was sollen wir jetzt machen?« »Beschwindelt ihr mich auch bestimmt nicht – wie damals, als ihr behauptet habt, daß französische Soldaten sich in der Windmühle versteckt hielten, und das ganze Dorf vor Aufregung aus dem Häuschen geriet, wie?« »Nein, es ist die Wahrheit, die schreckliche Wahrheit! Du mußt uns helfen. Keiner von uns beiden kann sich auch nur auf das Geringste besinnen!« 72
Die Köchin ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl niederfallen. »Das ist ihr böser Blick gewesen! Da gibt's gar keinen Zweifel, ihr seid behext. Ach, meine armen Schätzchen, daß ich diesen schrecklichen Tag erleben muß...« Ihr rundliches Gesicht verzog sich schmerzlich. »Nicht weinen!« riefen beide Kinder wie aus einem Munde, und Elfrida fügte hinzu: »Wer hat wen mit dem bösen Blick verhext?« »Die alte Betty Lovell – darauf könnt ich meine ewige Seligkeit verwetten! Sie hat euch verzaubert, das ist so klar wie Wasser. Ich hab doch gleich gerochen, daß sich da etwas zusammenbraut, als der Herr sie in den Stock legen ließ, weil sie Reisig gestohlen hatte im Wald. Aber wir werden sie schon zwingen, den bösen Blick wieder wegzunehmen, darauf könnt ihr euch verlassen, meine Zuckerpüppchen. Sonst ginge es nur, wenn ihr einen weißen Maulwurf fändet, aber das sieht mir nicht so aus.« »Einen weißen Maulwurf?« fragten die Geschwister wieder im Chor, und dann wiederholten sie die Frage ein zweites Mal und schauten sich dabei wie Verschwörer an. »Ihr kennt doch den Spruch – oje! Wenn ihr alles vergessen habt, dann wißt ihr ja auch davon nichts mehr...« »Sag ihn uns doch bitte!« bat Edred. »Mal sehen, ob ich ihn noch weiß... Wartet! Ja, so ging es wohl: Der weiße Maulwurf den Zauber spricht. Der weiße Maulwurf den Zauber bricht. Geht alles gut, so stör ihn nicht. Wird alles schlecht, ist Rat ihm Pflicht.« 73
»Noch läuft ja nicht alles schlecht«, meinte Elfrida und drehte ihren Hals in dem kratzenden Musselinkragen hin und her. »Ich bin dafür, erst mal die Hexe zu besuchen.« »Dann solltest du ihr vielleicht etwas mitnehmen. Nach einem Brocken Zucker und einer Prise Tee leckt sie sich alle zehn Finger.« »Dafür wird sie aber kaum danke schön sagen«, bemerkte Edred mit einem Blick auf die winzigen Tütchen. »Mir scheint«, sagte die Köchin freundlich, »du weißt wohl auch nicht mehr, daß der Tee zehn Schilling das Pfund kostet, und Zucker ist seit dem Krieg unerschwinglich.« »Seit welchem Krieg?« »Mit Frankreich. Du kannst doch unmöglich vergessen haben, daß wir mit Napoleon und den Franzmännern Krieg haben. Denk doch bloß an das Feuerwerk, als die Nachricht von der Tracht Prügel kam, die wir ihnen bei Trafalgar verpaßt haben!« »Wir können uns wirklich nicht erinnern«, beteuerte Elfrida. »Und habt ihr vielleicht auch verschwitzt, wie ihr im vorigen Jahr alle weißen Schmetterlinge gefangen habt, weil ihr fandet, es wären Franzmänner mit ihren weißen Jacken? Und die Hiebe, die ihr gekriegt habt wegen Grausamkeit gegen die stumme Kreatur, wie Seine Lordschaft sich damals ausdrückte? Ihr habt eine ganze Stunde lang geheult, jawohl, das habt ihr!«
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»Ich bin froh, daß wir das vergessen haben«, sagte Edred. »Allmächtiger!« rief die Köchin. »Halb zwölf, und ich hab die Zutaten für meinen Pudding noch nicht mal angerührt! Weg jetzt mit euch, bringt den Brief fort und sagt niemandem etwas von eurer Vergeßlichkeit! Und dann lauft den Heckenweg entlang heim und besucht die alte Bet. Seid recht freundlich zu ihr und gebt ihr den Tee und den Zucker, und wenn sie euch zum Sitzen auffordert, dann haltet die Füße unterm Stuhl gekreuzt! Ich geb euch ein Stück von einer alten Messerklinge, das müßt ihr in die Tasche stecken. Sie kann euch nichts anhaben, wenn ihr Stahl bei euch tragt. Und bringt sie dazu, daß sie ihn fortnimmt – den bösen Blick. Aber laßt sie's nicht merken, daß ihr ein Stück Messer habt, sie mögen es nicht gerne, wenn man ihnen zuvorkommt.« Die Kinder liefen über die Felder hinunter zum Gasthof, und die Bohnen dufteten so süß, die Lerchen jubilierten so hell, und die Sonne und der Himmel leuchteten ebenso blau und golden wie in der vergangenen Woche. Aber diese vergangene Woche lag in Wirklichkeit hundert Jahre vor ihnen in der Zukunft... Die Zeit ist eine sehr verwirrende Sache, das bestätigten sich Edred und Elfrida ein über das andere Mal.
Der ›George‹ lag auf dem halben Weg zum Dorf Arden und war ein stattliches, weitläufiges Haus mit vielen 75
Fenstern und einer geräumigen Vorhalle. Sie übergaben ihren Brief einer Frau mit einer runden Haube, die nähend in einem freundlichen Raum saß. Auf den Regalen des braunen Geschirrschrankes an der Wand standen Flaschen und blanke zinnerne Bierkrüge und kleine gedrungene Meßbecher und Zinnteller aufgereiht. Vor dem breitesten Kamin, den die Kinder je zu Gesicht bekommen hatten, räkelten sich Windhunde. Edred und Elfrida machten sogleich wieder kehrt, nachdem sie ihren Auftrag ausgeführt hatten. Eben war vor dem Eingang eine Kalesche vorgefahren, bis zum Dach mit Gepäck beladen; Knechte schirrten sechs dampfende Rosse ab und führten sie weg. Edred fand, daß er sich unbedingt die Pferdeställe ansehen müßte, und so liefen sie hinterher. Die Ställe waren groß, und es herrschte ein reges Treiben: Pferde wurden hinein- und herausgeführt, Heu und Stroh abgeladen; Knechte mit Eimern und Knechte mit Pferdegeschirr trotteten aneinander vorbei, und es gab so viele Stände und Boxen, daß sie in der Eile gar nicht zu zählen waren. »Wie viele Pferde habt ihr?« erkundigte sich Elfrida bei einem Mann. »Zweiundfünfzig.« »Und wofür?« fragte Elfrida weiter. »Nun, für die Kutschen und die Postwagen – und für die reitenden Kuriere des Königs natürlich auch. Wie kämen wir denn sonst im Land herum, und wie erführen wir wohl die neuesten Nachrichten, wenn wir die Ställe vom ›George‹ nicht hätten!«
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Und nun fiel den Kindern ein, daß dies eine Zeit vor der Erfindung der Eisenbahn, des Telefons und der Telegramme war. Edred wäre am liebsten den ganzen Tag hiergeblieben, aber Elfrida zerrte ihn fort und bestand darauf, daß sie unbedingt die Hexe besuchen müßten. Sie fanden sie in einer elenden, verfallenen Hütte mit einem verfaulten, durchlöcherten Strohdach. Sie sah genauso aus wie die Hexen auf den Bildern in Märchenbüchern, nur hatte sie weder einen spitzen Hut auf dem Kopf, noch hielt sie einen Besenstiel umklammert. Statt dessen trug sie eine schmutzige Haube, die einst weiß, und ein altmodisches, verschossenes Kleid, das einst schwarz gewesen war. Auf einem Holzschemel hockte eine schwarze Katze, und die alte Frau selbst saß auf einem wackligen dreibeinigen Schemel, das faltige Gesicht über eine gescheckte Henne gebeugt, die sie mit ihren runzligen Händen zärtlich streichelte. Edred blieb an der windschiefen Tür stehen. »Ich gehe da nicht rein«, sagte er, »was soll das für einen Zweck haben? Wir wissen doch genau, daß sie uns nicht verhext hat. Wenn wir sie reizen, tut sie's höchstens noch, und dann sitzen wir erst recht in der Patsche!« »Aber der Tee und der Zucker«, sagte Elfrida. »Gib ihr rasch das Zeug und komm mir nach. Ich warte beim Zaun auf dich.« So betrat Elfrida die Hütte allein und grüßte ziemlich ängstlich: »Guten Tag! Ich hab Ihnen ein bißchen Tee und Zucker mitgebracht«, fuhr sie unsicher fort und wartete auf
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ein ›Dankeschön‹, um dann höflich ›auf Wiedersehen sagen und heimgehen zu können.
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Die Hexe hörte auf, ihre Henne zu liebkosen, und fragte: »Wofür? Ich hab dir nichts getan...« »Nein«, sagte Elfrida, »und ich glaub auch nicht, daß Sie es tun würden.« »Warum bringst du mir dann etwas?« »Wegen – oh, einfach so«, stotterte Elfrida. »Ich dachte, daß es Ihnen Freude machen würde. Es ist einfach ein – ein Herzensgeschenk.« So nannte Tante Edith nämlich Geschenke, die nicht zu Weihnachten oder zum Geburtstag fällig waren oder als Trost für einen gezogenen Zahn oder dergleichen. »Ein Herzensgeschenk?« sagte die alte Frau langsam. »Nach dieser ganzen langen Zeit?« Den Sinn dieser Worte verstand Elfrida nicht. Wie hätte sie ihn auch begreifen sollen? Sogar die meisten erwachsenen und klugen Leute können sich schwer vorstellen, wie grausam Frauen behandelt wurden, wenn sie im Verdacht der Hexerei standen. Es fing vielleicht damit an, daß eine alte Frau gescheiter war als ihre Nachbarinnen, daß sie nachdenken konnte und herausfand, was einem Kranken fehlte, und ihm infolgedessen zu helfen imstande war. Außerdem setzte eine natürliche Begabung sie womöglich in die Lage, Mißernten vorauszusagen oder mit einer Wünschelrute Wasser zu finden – wenn jemand schon eine Quelle entdeckte, indem er einfach mit einer Haselnußgerte in den Händen über eine Wiese ging, dann konnte er höchstwahrscheinlich auch noch eine ganze Menge anderer Dinge. Dinge, die sich die einfältigen Nachbarn nicht einmal träumen ließen. In 79
diesen vergangenen Zeiten, die in Wirklichkeit noch gar nicht so lange her sind, genügte es gewöhnlich schon, wenn jemand etwas klüger war als seine Nachbarn. Dann hieß es rasch: ›Das ist eine weise Frau‹, und von der weisen Frau zur Hexe war es bloß noch ein kleiner Schritt. Elfrida konnte also nur verständnislos »ja« antworten. Dann erkundigte sie sich schüchtern: »Ist Ihr Huhn krank?« »Das wird schon wieder«, murmelte die Alte, »das wird schon wieder. Die Kraft meiner Hände ist in sie übergegangen. « Sie stand auf und setzte die Henne auf den Herd, die sofort mit den Flügeln schlug und gackerte und sich schließlich behaglich in der grauen Asche einplusterte. Die Frau legte ihre Hände auf Elfridas Schultern. »Und jetzt geht meine Kraft in dich über«, raunte sie. »Du hast mir ein Geschenk gebracht. In langen Jahren habe ich nur Gaben der Angst oder Bezahlung für meine Hilfe bekommen, damit ich einen Zauber löse oder einen Zauber spreche. Aber du hast mir ein Herzensgeschenk gebracht, und deshalb sage ich dir: Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen. Das Verlorene wird gefunden, das Geschehene bleibt vergangen. Ich weiß alles – ich sehe alles, und für dich sehe ich nur Gutes und Schönes. Deine Zukunft ist rein und klar wie dein freundliches Herz.« Sie ließ ihre Hände fallen, und Elfrida blieb still stehen und wußte nicht, was sie tun oder sagen sollte. Am liebsten hätte sie geweint. »Ich hab es nur mitgebracht, weil die Köchin es gesagt hat«, sagte sie. »Aber die Köchin hat dir nicht dein mitleidiges Herz gegeben, das dich jetzt treibt zu weinen«, sagte die alte Frau. Sie sank auf ihrem Schemel zusammen. Ihre Stimme 80
ging in einen eintönigen Singsang über. »Ich weiß vieles«, summte sie, »ich weiß alles. Den ganzen lieben langen Tag allein und allein die lange grabesdunkle Nacht, da hab ich gelernt zu sehen. Wie Katzen im Finstern sehen, so kann ich im Gestern und im Morgen lesen. Ich weiß, daß du nicht hier bist und nicht jetzt lebst. Du wirst dorthin zurückkehren, woher du kamst, und diese Zeit, die nicht die deine ist, wird keine Spur in deinem Leben hinterlassen. Aber meine Wünsche werden mit dir gehen, weil du der armen alten, weisen Frau von Arden ein Herzensgeschenk gebracht hast.« »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Elfrida besorgt, weil die leise Stimme so erbarmungswürdig klang. »Küß mich«, sage die alte Frau, »küß mich mit deinen Kinderlippen, die dafür hundert Jahre in die Vergangenheit hinabgetaucht sind.« Elfrida verspürte keine große Lust, das faltige, graue Antlitz zu küssen, doch ihr Herz gebot ihr, freundlich zu sein, und sie folgte ihrem Herzen. »Oh«, seufzte die Alte, »ich sehe... Noch nie hat sich mir die Zukunft so klar gezeigt. Ich sehe Lichtkugeln, die wie Sonnen in den Straßen leuchten. Ich sehe eiserne Wege mit feurigen Drachen, die Kutschen ziehen; und ich sehe Reiche und Arme in ihnen hin und her fahren. Männer sprechen in England, und ihre Worte können in Frankreich gehört werden. Ja, mehr noch: In kleinen Schachteln bleiben die Stimmen Verstorbener lebendig und ertönen nach Wunsch und Willen der Lebenden...«
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»Schweig, Schwätzerin!« befahl eine strenge Stimme von der Tür her. Elfrida fuhr herum. Da stand Lord Arden, bolzengerade, hochgewachsen und grau auf seinen Rohrstock mit dem Goldknauf gestützt, und neben ihm stand Edred, der sehr klein und ertappt wirkte. Die Frau schien nichts wahrzunehmen. Sie verdrehte die Augen und kniff sie zusammen. Aber vielleicht hatte sie etwas gehört, denn sie sagte eintönig: »Untergang droht Arden! Untergang und Jammer! Die Wände des Hauses werden den Spinnen verfallen, und Mäuse werden die festen Möbel zernagen. Das Gold wird zerrinnen und das Geschlecht verarmen, bis ihm kein Acker vorm Haus mehr gehört. « Lord Arden zuckte die Schultern. »Geschwätz!« sagte er. »Wenn Sie will, daß ich Ihr glaube, so sag Sie mir, was morgen geschieht.« »Morgen«, murmelte die Alte, »morgen landen die Franzosen in der Lymchurch-Bucht.« Lord Arden lachte höhnisch. »Ich werde Ihnen ein Zeichen nennen – drei Zeichen«, sagte die Alte mit schwacher Stimme. »Sie werden den weißen Maulwurf erblicken, das Wappentier Ihres Hauses – auf der Schwelle des Schlosses –, jetzt, wenn Sie heimkehren.« »Das wäre Zeichen Nummer eins«, spottete der alte Mann, »und wie geht es weiter?«
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»Das zweite ist«, fuhr die Frau fort, »Sie treffen das Wappentier von Arden wiederum an – diesmal auf Ihrem Sessel im Wohnzimmer neben dem Kamin.« »Höchstwahrscheinlich«, höhnte Lord Arden. »Und das dritte«, sagte sie unbeirrt, »das dritte wird der weiße Maulwurf sein in den Armen dieses Kindes.« Damit strich sie Elfrida sanft über das Haar, drehte sich um und hob ihre Henne aus der Asche.
Lord Arden führte die Kinder fort und hielt ihnen eine sehr eindringliche Strafpredigt über ihren Ungehorsam. »Brot und Wasser zum Abendessen«, schloß er barsch, »das wird euch Zucht und Folgsamkeit lehren!« »Oh, Großvater«, schmeichelte Elfrida und griff nach seiner Hand, »seien Sie nicht so streng mit uns! Denken Sie daran, als Sie noch klein waren. Da haben Sie sich doch sicher auch gern Hexen angesehen, oder?« Lord Arden starrte sie ärgerlich an, aber plötzlich zog ein Lächeln über sein strenges Gesicht. »Du bist ein kühnes Frauenzimmerchen, fürwahr!« sagte er schmunzelnd. »Ich muß zugeben, daß ich einmal hingelaufen bin, als eine Hexe ins Wasser geworfen wurde. Ich habe damals den Unterricht bei meinem Hauslehrer geschwänzt – ich kann mich noch gut daran erinnern.« »Da haben Sie's!« sagte Elfrida. »Wir wollten gar nicht ungehorsam sein, wir sind nur genauso, wie Sie früher 83
waren. Sie bestehen nicht auf Brot und Wasser, nicht wahr? Besonders, wo das Brot so teuer ist!« Lord Arden lächelte wieder. »Mein kleines weißes Mäuschen hat den rechten Ton getroffen! Wahrhaftig, seit der Zeit, als ich noch selber Weiberröcke trug, hat niemand mehr so unbefangen mit mir gesprochen«, sagte er. »Gut also, wir wollen für diesmal nicht weiter darüber reden.« Einträchtig wanderten alle drei zwischen den Sommerfeldern zurück nach Schloß Arden. Es schien größer und weitläufiger zu sein, als die Kinder es aus ihrer Zeit kannten, auch noch besser erhalten. Auf der Schwelle saß ein weißer Maulwurf. »Da ist er!« rief Elfrida, aber im gleichen Augenblick war der Maulwurf verschwunden wie ein Fleck heller Farbe, der fortgewischt wird. »Püh!« machte Lord Arden geringschätzig. »Weiße Maulwürfe gibt es in Massen!« Aber als er gleich darauf sein Wappentier höchst lebendig in seinem eigenen geschnitzten Armsessel im Wohnzimmer antraf, gab er doch zu, dies wäre immerhin ziemlich ungewöhnlich. Elfrida kniete nieder und streckte ihre Arme aus. Sie freute sich ehrlich und aus ganzem Herzen, den Maulwurf wiederzusehen. Seitdem sie und ihr Bruder in diese sonderbare Zeit geraten waren, wollte sie ihn am liebsten möglichst in der Nähe wissen – ihr Muddeltier, das alles verstand, das sie beraten und in das Jahrhundert zurückbringen konnte, in das sie gehörten.
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Der Maulwurf nahm einen kurzen Anlauf und sprang; Elfrida fing ihn auf und preßte ihn mit beiden Händen gegen ihre Brust. »Bleib bei mir«, flüsterte sie dem Maulwurf zu. »Beim Jupiter!« rief Lord Arden verblüfft. »Sehen Sie, da haben Sie's!« sagte Edred.
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Die Landung der Franzosen Beim Mittagessen mußten die Kinder kerzengerade sitzen und langsam essen, das fanden beide recht anstrengend. Lord Arden war in tiefes Schweigen versunken. Er hatte zu Beginn der Mahlzeit seiner Frau von der Weissagung der Alten erzählt, und die Lady hatte erwidert: »Was Sie nicht sagen! Der Himmel bewahre uns!« und in aller Ruhe weiter den Braten aufgeschnitten. Als das Geschirr und das Tischtuch abgeräumt waren und nur Karaffen mit Wein zwischen Schalen mit getrockneten Pflaumen und Dörrbirnen auf dem schweren Eichentisch zurückblieben, wehrte Lord Arden ab: »Heute keinen Tropfen für mich, Mylady! Ich bin fürwahr nicht abergläubisch, das wissen Sie wohl. Aber Tatsachen sind Tatsachen. Was hast du mit dem weißen Maulwurf getan, mein Kind?« Elfrida hatte das Muddeltier in die unterste Schublade der Kommode in ihrem Zimmer gesetzt (die Köchin hatte es ihr gezeigt) und erzählte das verschüchtert. »Es scheint mir«, bemerkte Lady Arden, »daß wir auf diese Art eine Warnung erhalten sollten, wahrscheinlich als Gegengabe für Tee und Zucker.«
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»Gut«, sagte Lord Arden energisch, »mag die Vorhersage nun stimmen oder nicht: Jeder Mann in diesem Dorf wird noch heute bewaffnet und ausgerüstet. Punktum! Ich denke nicht daran, meine Leute die Hände in den Schoß legen zu lassen, während die Franzosen mir nichts, dir nichts hier an Land steigen. Niemand soll mir später vorwerfen können: ›Sie waren gewarnt, Lord Arden, Sie hätten etwas unternehmen müssen‹!« »Wahrhaftig«, antwortete seine Frau, »das wäre sehr unerfreulich!« Durch die Ankunft eines Mannes auf einem dampfenden Pferd wurde Lord Arden in seinem kriegerischen Entschluß noch bestärkt. »Die Franzosen kommen!« keuchte der Bote atemlos, konnte jedoch nicht angeben, woher er das wußte. »Alle sagen es«, behauptete er. »Ich soll's Ihnen melden, Mylord, und fragen, was wir tun sollen.« In England zitterten damals jeder Mann, jede Frau und jedes Kind vor Furcht, daß die Franzosen kämen – die Franzosen unter der Führung von Napoleon Bonaparte, der den »Schwärzen Mann‹ verkörperte, mit dem man die Kinder ins Bett scheuchte und dessentwegen mutige Männer in voller Kleidung schlafen gingen, Degen und Pistole für den Ernstfall stets griffbereit neben dem Kopfkissen. Edred und Elfrida hatten Mühe, von dieser Angst nicht angesteckt zu werden, als sie sahen, wie die Prophezeiung der weisen Frau, bekräftigt durch Gerüchte, die wie Ratten von Hütte zu Hütte des Dorfes huschten, alle Leute in kopflose Tätigkeit stürzte. Lord Arden war so davon in Anspruch genommen, Befehle auszugeben, und Mylady so sehr damit beschäftigt, 87
diese Befehle der weiblichen Dienerschaft zu erläutern, daß die Kinder sich selbst überlassen blieben. Sie rannten aufgeregt und neugierig ins Dorf hinunter. Dort sahen sie Männer am Schleifstein uralte Degen schärfen und andere, die keine Waffe besaßen, Beile, Hacken, Sensen und Küchenmesser in der Schmiede mit scharfgeschliffenen Spitzen versehen. Die Fenster aller Häuser und Hütten wurden verrammelt und in den Gärten Gruben ausgehoben, in denen Geld und ein paar ärmliche Wertsachen versteckt werden sollten. Keiner wußte, woher das Gerücht vom Nahen der Franzosen stammte, aber jeder glaubte fest daran. Edred und Elfrida gingen unangefochten umher. Sie verloren rasch ihre anfängliche Furcht, es könnte jemand entdecken, daß sie gar nicht diejenigen waren, für die sie sich ausgaben, denn jeder schien sie zu kennen. Niemand hatte freilich Zeit, sich mit ihnen zu unterhalten. Die Frauen waren eifrig bei der Arbeit, altertümliche purpurrote Jacken und enge weiße Hosen auszubürsten und zu flicken, und am Fuße der Klippen hatten Männer mit Fernrohren Aufstellung genommen und starrten angespannt aufs Meer hinaus. Große Jungen plagten sich damit ab, dicke Ballen aus Reisig und getrocknetem Stechginster den Steilhang hinaufzuschleppen, damit oben auf dem Felsen sofort Scheiterhaufen angezündet werden konnten, wenn die Franzosen sich näherten. Elfrida wünschte sich mehr denn je, daß sie in den letzten Kapiteln ihres Geschichtsbuches besser Bescheid wüßte. Landete Bonaparte am 17.Juni 1807 in England? Es fiel ihr leider nicht ein. Sie erinnerte sich zwar daran, daß 88
irgend etwas von einer Invasion in dem Buch stand, aber sie hatte vergessen, wer wann wo eingefallen war. Sie und Edred konnten sich also ebensowenig wie alle anderen vorstellen, was sich tatsächlich ereignen würde. In einem hastigen Gespräch vor dem Mittagessen hatte das Muddeltier zu ihrer großen Beruhigung allerdings versprochen zu erscheinen, wenn sie es riefen. – »Natürlich mit einem Gedicht!« hatte es hinzugefügt, ehe es sich in einer Ecke der Kommodenlade behaglich zusammenrollte – doch als sie später noch einmal hinauflief, fand sie die unterste Schublade leer. Obgleich sie alle Vorgänge um sich herum ebenso gespannt verfolgte wie ihr Bruder, war sie doch nur mit halber Seele dabei, denn in Gedanken bastelte sie emsig an einem Gedicht, damit sie nicht in einem sich plötzlich ergebenden Notfall machtlos –weil verslos – dastünde. Darum beobachtete Edred diesmal schärfer als sie. Er fragte sich nämlich, warum der Holzstoß nicht an der von Lord Arden bezeichneten Stelle errichtet wurde, und als er einen Mann auf den Platz zugehen sah, erkundigte er sich nach dem Grund. Zu seiner Verblüffung stieß ihn der Bursche mit seinem knochigen Finger in die Seite und kicherte: »Ach, Sie sind ein Spaßvogel, beim Teufel! Aber Sie sind auch ein Gentleman, und die kleine Lady ist eine Dame von Ehre, das soll wahr sein! Sie haben uns nicht an die Küstenwache verraten – trotz allem, was Sie schon entdeckt haben.« »Natürlich«, sagte Elfrida vorsichtig, »wir würden niemals jemanden verraten.«
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»Wollen Sie mit runterkommen?« fragte der Mann, ein stämmiger junger Kerl mit braungebranntem Gesicht und einem kurzen geteerten Zopf. »O ja, gern«, antwortete Elfrida schnell, und Edred sagte auch nicht nein. »Dann warten Sie hier, bis ich außer Sicht bin, und klettern Sie dann den Pfad hinunter, den Sie mich gehen sehen. Trödeln Sie ein bißchen herum, als ob Sie Schmetterlinge fangen wollen oder so, mal ein paar Schritte hierhin und mal dahin, verstanden?« befahl der Mann. Sie gehorchten ihm. Als sie ihn wieder einholten, bahnte er sich gerade einen Weg durch sperriges, steifes Ginstergestrüpp. »Springt über die äußeren Büsche!« kommandierte er, und die Kinder sprangen und zwängten sich auf engen Kaninchenpfaden hinter ihm her durch die Stechginsterwildnis. Endlich hob er einen Vorhang von stachligem Strauchwerk und verdorrten Brombeerranken, und vor ihnen öffnete sich unerwartet der Eingang zu einer Erdhöhle. Es war finster darin, aber Elfrida hatte keinen Augenblick Angst, und wenn Edred gezögert hat, so kann es höchstens eine Sekunde gewesen sein. Der braune Mann folgte ihnen und zerrte das Gestrüpp wieder vor den Eingang. Dann entzündete er in einer bereitstehenden Laterne eine scheußlich stinkende Talgkerze. Nun erkannten die Kinder den sanft abfallenden Einstieg deutlicher. Die zuckende Flamme warf goldene Lichter und tintenblaue Schatten auf glatte weiße Kalkwände. Stufen führten immer tiefer, bis eine grob gehauene, schwere Tür 90
den Weg versperrte. Sie war mit einem mächtigen Schloß gesichert, zu dem ein Schlüssel gehörte, so groß wie für eine Kirchenpforte. Die Flügel öffneten sich knarrend. Dahinter dehnte sich eine weitere Höhle; sie war so hoch, daß die Kinder ihre Decke nicht mehr erkennen konnten, tiefe Dunkelheit schloß sie nach oben ab. Irgendwo brach Wasser aus einem Spalt in der Wand, plätscherte eine glattgeschliffene Rinne entlang bis zur Mitte des weiten unterirdischen Raumes, schäumte einen steilen Abhang hinab und verschwand unter einem niedrigen Bogen. Fässer und Ballen lagen in Stapeln auf dem sandigen Boden. Grobe Bänke und ein Tisch waren aus dem hellen Kalkstein herausgeschlagen, und durch eine unregelmäßige Öffnung, die zum Teil von herabgestürzten Felsbrocken überdeckt war, schimmerten in einer geheimnisvoll zwielichtigen Dämmerung das Meer und die Sterne, die langsam darüber aufzogen. Plötzlich warf sich der wilde Wind von draußen keuchend herein. Sein höhnisches Pfeifen drang grell in die Ohren der Kinder. »Heute nacht weht eine ganz schön steife Brise«, stellte ihr Begleiter fest. »Glauben Sie, daß die Franzosen wirklich in unserer Bucht landen?« fragte Edred. Im Licht seiner Laterne blinzelte der Mann den Kindern ernsthaft zu. »Ihr beiden könnt ein Geheimnis bewahren, das weiß ich«, sagte er. »Die Franzmänner werden nicht landen, aber wir. Freilich nicht in der Bucht, sondern hier unten. Und was wir an Land bringen, das sind ein paar Fäßchen von einem anständigen Gesöff und vielleicht auch ein paar Meter Seide und Spitze. Ich weiß nicht, wer sich 91
das mit den Franzmännern und ihrer Landung aus den Fingern gesogen hat, aber darauf könnt ihr Gift nehmen: Freunde der Zollfritzen sind das sicher nicht gewesen.« »Oh, ich verstehe«, flüsterte Elfrida. Der Mann war ein Schmuggler, jetzt war ihr alles klar. »Und deshalb...« »Das Dumme ist bloß«, sagte er, »daß sie sich auf einen Wachtposten oben auf den Klippen versteift haben. Na, unsere Burschen haben sich freiwillig dafür gemeldet. Und wir kennen unsere Freunde!« »Aber«, fragte Edred nachdenklich, »aber wie kann man denn mit Franzosen befreundet sein, wo wir doch mit ihnen im Krieg liegen?« »Das ist so, kleiner Herr«, erklärte der Schmuggler und ließ sich auf einem Fäßchen nieder, »wir haben keinen Streit mit den Freihandelsleuten, weder hier noch drüben. Ein Mann muß sein Auskommen finden, nicht wahr? Deshalb kommt für ihn zuerst das Geschäft, denn damit verdient er sein Brot. Daher sind die Männer, die uns im Kanal die Ware übergeben, in erster Linie freie Handelsleute und dann erst Franzmänner. Wir haben keinen Streit mit ihnen. Im Krieg liegen wir nur mit den französischen Soldaten, nicht mit ordentlichen französischen Handelsleuten. Die ziehen am gleichen Strang wie wir.« »Dann hat also jemand die Geschichte von Bonapartes Landung aufgebracht, damit alle Leute zur Bucht laufen sollen, während Sie Ihr Schmuggelgut in die Höhle bringen?« fragte Edred.
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»Das möchte ich nun doch nicht behaupten, Sir«, antwortete der Mann bedächtig. »Aber auf jeden Fall ist's eine glückliche Fügung für uns, die wir unser Brot mit ehrlicher Arbeit und bei ehrlicher Gefahr verdienen. Mehr kann ich nicht sagen, aber ich weiß durch alles, was wir schon miteinander hinter uns gebracht haben, daß Ihr dichtzuhalten versteht wie ein altes Teerfaß.« Die Geschwister hätten ein Königreich für die Kenntnis dessen gegeben, was sie miteinander hinter sich gebracht hatten, aber sie erfuhren es zu ihrem Leidwesen nicht, und nachdem sie die Höhle bis in die tiefsten Winkel durchstöbert hatten, kehrten sie nicht ungern wieder nach Schloß Arden zurück. Tiefe Dunkelheit war unterdessen hereingebrochen, ihre Zubettgehzeit war längst überschritten, und der ganze Tag hatte ihnen ermüdende und aufregende Erlebnisse genug beschert. Die ziemlich barsche und kurz angebundene Kammerzofe Lady Ardens brachte die beiden ins Bett, und bald schliefen sie wie zufriedene Murmeltiere auf groben, handgewebten Leinenlaken, die köstlich nach Lavendel aus dem Schloßgarten dufteten. Nur Elfrida wachte einmal auf. Das Zimmer war von rotem Lichtschein gespenstisch erhellt. Durch das Fenster leuchtete eines der Signalfeuer auf den Klippen. Flammen und Rauch wehten über den dunklen Sommerhimmel. Der Wind heulte und winselte und rüttelte an den Fenstern. Er war inzwischen zu einem richtigen Sturm angewachsen. Der Scheiterhaufen da draußen loderte flackernd empor; das bedeutete also, daß die Franzosen in Sicht waren. Elfrida gähnte und schlüpfte wieder unter das weiche dicke 93
Deckbett, das prall mit den Federn vieler an der Schloßtafel verzehrter Dorfgänse gestopft war. Sie war zu müde, um an Bonaparte zu glauben. Der graue Morgen dämmerte bereits, als der Wind des Widerstandes der bleigefaßten Butzenscheiben überdrüssig wurde. Er sammelte alle Kraft zu einem neuen Angriff, hob das Fenster gewalttätig aus den Angeln und konnte endlich ungehemmt ins Zimmer dringen. Er riß die Kinder mit seinem Atem aus dem Schlaf und nahm ihnen alle Lust, länger liegenzubleiben. Sie standen auf und zogen sich an. Im Hause regte sich nichts; die Vordertür stand weit offen. Auf dieser Seite des Schlosses war es still, doch als Edred und Elfrida den Schutz der dicken Mauern verlassen hatten, warf sich der Sturm mit Macht auf sie und peitschte sie, jagte sie, narrte sie, biß sie und fiel sie von allen Seiten an, daß sie sich kaum aufrecht halten konnten und nur langsam und mühevoll vorwärts stolperten. Dennoch erkämpften sie sich irgendwie den Weg zum Kliff, wo sich eine dichte Menschenmenge hin und her schob. Als die Kinder näher kamen und die einzelnen Gestalten im trüben Licht der Morgendämmerung erkennen konnten, waren sie nicht dunkel: Rot und blau drängten sich die bewaffneten Bauern in ihren zusammengestoppelten Uniformen aneinander. Alle starrten auf die See hinaus. Das Meer schimmerte wie das Innere einer Muschel, gerippt von Wellen aus kaltem Silber; der Himmel spannte sich grau wie eine Möwenschwinge darüber, und zwischen Wogen und Wolken trieb ein Schiff geradewegs auf die Felsen am Fuße der Steilklippen zu.
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»Das ist ein französisches Schiff, der Takelage nach«, sagte jemand. Der Segler kam immer näher. »Es ist die ›Bonne Esperance‹«, flüsterte die leise Stimme ihres Schmugglerfreundes dicht neben Elfridas Ohr. Sie konnte seine Worte beim Heulen des Windes gerade noch verstehen. »Es stimmt schon, was die alte Betty prophezeit hat: Die Franzosen landen heute hier, aber als Leichen. Bei dem Sturm in der Nacht haben sie unser Boot verfehlt, und nun wird die ganze Ladung hier vor unseren Augen zerschellen. Es ist schon ein hartes Brot, ein ehrlicher Kaufmann zu sein!« Die Männer in ihren buntscheckigen Uniformen, die sonderbaren Waffen fest umklammernd, drängten sich dichter zusammen, und aller Augen hingen an dem nähertreibenden Schiff. »Muß es denn wirklich scheitern? Sind Sie sicher, daß es...« flüsterte Elfrida und griff nach der Hand des alten Lords. »Keine Hoffnung mehr, mein Kind. Geh heim und ins Bett«, antwortete er ernst. Es half nichts, daß alles dies vor mehr als hundert Jahren geschehen war. Die kalte wilde See war gegenwärtig und donnerte tief unten schäumend gegen die Felsen. Elfrida konnte es nicht ertragen, dazustehen und mit ansehen zu müssen, wie das Schiff an den Felsen zerschellen würde. Dichten war schwer, aber hierbleiben und ein Schiff untergehen sehen, ein Schiff mit lebendigen Menschen an Bord, das war noch viel schwerer. Sie flüsterte hastig: 95
»O Muddeltier, sei jetzt zur Stell'! Ich kann nicht mehr, o komm doch schnell!« Der Vers war gewiß keine vollendete Dichtung, aber er drückte genau ihre Gefühle aus, und auf jeden Fall bewirkte er das, was er bewirken sollte: Der weiße Maulwurf rieb sich schon an ihren Knöcheln, ehe sie noch das letzte Wort gesprochen hatte. Rasch hob sie ihn auf. »Was sollen wir tun?« fragte sie. »Lauft heim«, sagte er, »ins Schloß zurück. Ihr werdet die Tür jetzt finden.« Die Kinder wandten sich zum Gehen, aber im Donnern der Wogen und im Brüllen des Sturmes hörten sie ein mahlendes, schreckliches Krachen. Dann ertönte das stöhnende Aufseufzen der Männer am Klippenrand und Lord Ardens Stimme: »Die Franzosen sind gelandet! Sie hat die Wahrheit gesprochen. Die Franzosen sind gelandet – Gott helfe ihren armen Seelen!« Und während die Kinder auf das Schloß zurannten, wußten sie, daß jetzt jeder Mann unbedenklich sein Leben für die Rettung der Gestrandeten einsetzen und nicht mehr daran denken würde, daß er eigentlich die ganze Nacht darauf gewartet hatte, sie mit Sensen und Hackbeilen und Degen und Sicheln zu erschlagen. Männer sind sonderbare Wesen!
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Hier herauszukommen – zurück in die sichere Ruhe eines Lebens ohne Krieg und Schiffbruch und Hexen –, das war Elfridas einziger Wunsch. Mit einer Hand preßte sie den Maulwurf fest an ihre Brust, mit der anderen zerrte sie Edred hinter sich her; so erreichte sie das Schloß, lief durch das offenstehende Tor, die Treppe hinauf und spornstreichs auf eine Tür im oberen Flur zu. Sie wußte, daß es die richtige sein müßte, und es war auch die richtige. Da lag der weitläufige Bodenraum mit seinen Deckenbalken, da standen die langen Reihen der Truhen unter dem schrägen Dach. Und im gleichen Augenblick, in dem sich die Tür hinter den Kindern schloß, brach das wilde Geheul des Sturmes ab, so wie das zischende Geräusch ausströmenden Gases aufhört, wenn man den Hahn zudreht. Goldenes Licht drang durch die Ritzen zwischen den Ziegeln, von draußen erklang das helle TickTick-Tick der Taubenfüße und das Ruckedigu der Taubenstimmen. Elfridas und Edreds Kleider lagen auf den Dielenbrettern. »Zieht euch um!« befahl der Maulwurf etwas atemlos, weil ihn das Mädchen im Laufen so fest an sich gedrückt hatte. Sobald sie ihre eigenen Sachen anzuziehen begannen, schienen die sanften Taubengeräusche näher und immer näher zu kommen und ihnen auf unerklärliche Weise aus den engen, zwickenden Kleidern von 1807 heraus- und in ihre eigenen bequemen hineinzuhelfen. »Habt ihr den Schatz gefunden?« fragte der Maulwurf, und die Geschwister antworteten verwirrt: »Wieso? Nein. Wir haben gar nicht mehr an ihn gedacht.«
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»Es macht nichts«, sagte der Maulwurf, »er war auch gar nicht da...« »Da?« fragte Elfrida. »Dann sind wir also wieder hier? Es ist wieder jetzt, meine ich, ja? Wir leben nicht mehr im Damals?« »Oh – und ob ihr hier im Jetzt seid«, kicherte der Maulwurf. »Seht bloß zu, ob ihr's noch einholt! Mrs. Honeysett hat auf der Suche nach euch die ganze Gegend auf den Kopf gestellt! Wenn ihr euch das nächste Mal in alten, vergangenen Zeiten herumtreiben wollt, dann würde ich euch empfehlen, die Uhr nachzustellen. Jetzt marsch hinunter mit euch, und nehmt eure Strafe in Empfang!« Er verschwand unter einer der Truhen, und Edred und Elfrida blieben allein auf dem Dachboden zurück und sahen sich an. »Gefallen dir solche Abenteuer wirklich?« fragte Edred langsam. »Ja«, antwortete Elfrida fest, »und dir auch. Komm mit nach unten.«
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Der Straßenräuber Sie meinten es beide wirklich ernst mit dem Versprechen, niemals wieder etwas anzustellen, was die alte Haushälterin beunruhigen würde. Aber um ihr Wort halten zu können, mußten sie unbedingt bald in Erfahrung bringen, was das Muddeltier mit seiner Empfehlung gemeint hatte, die Uhr nachzustellen. Elfrida kaute langsam an ihrem gerösteten Brot und flehte dabei ihren Verstand an, bis zum Frühstücksende ein fix und fertiges Gedicht zu liefern. »Ich überlege immerzu«, murmelte sie, »wo die Uhr sein könnte, die wir nachstellen sollen.« »Ach, das sagt uns das Muddeltier schon noch«, meinte Edred hoffnungsvoll. Es war ein schöner Tag, und nach dem Frühstück setzten sich die beiden draußen auf den Rasen, der von den mächtigen Schloßmauern umgeben war. Das Gras leuchtete grün und kräftig, die Gänseblümchen schimmerten wie frischgefallener Schnee, und die Sonne strahlte golden über ihnen.
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Und wie sie so saßen, überwältigte Elfrida plötzlich die Erkenntnis, was dies für ein guter Fleck Erde war und welches Glück sie hatten, daß sie nun hier in Arden daheim waren, und aus diesem dankbaren Gefühl heraus sagte sie, ohne zu wissen, woher ihr die Worte kamen: »O Arden, altes Arden-Haus, breit deinen Frieden um uns aus; und du, geliebtes Muddeltier, ich bitte dich, komm schnell zu mir!« »Das erinnert schon eher an ein Gedicht, ja, das schon eher«, sagte der weiße Maulwurf und hockte plötzlich zwischen den Kindern im Gras, »mehr als alles, was ich bis jetzt von euch zu hören gekriegt habe. Aber zur Sache: Was wollt ihr an diesem herrlichen Tag von mir?« Er schien so gute Laune zu haben, daß Edred ihn etwas fragte, was er schon lange gern gewußt hätte: »Wie alt bist du eigentlich?« »So alt wie meine Zunge und ein bißchen älter als mein Gebiß«, sagte der Maulwurf und fletschte seine Zähne. »Ach, bitte, sei nicht ärgerlich!« bat Elfrida. »Es ist so schön heute, und wir möchten dich gerne fragen, wie man die Uhr zurückstellt und solche Sachen.« »Ihr verlangt allerhand, kann ich nur sagen«, sagte der Maulwurf verdrießlich. »Aber ihr habt euch in den letzten drei Tagen nicht gestritten, und deshalb könnt ihr unternehmen, was euch paßt. Wenn ihr allerdings die Uhr anhalten wollt, müßt ihr hier weggehen. Lauft in den 101
Torturm hinauf und haltet die Augen offen. Sobald ihr das große Zifferblatt erblickt, müßt ihr schnell zurückkommen und euch auf den Sekundenzeiger setzen. Wenn irgendwas die Zeit anzuhalten vermag, dann ist's das.« Als die Kinder sich zwischen wehenden Efeuranken und raschelnden, schwirrenden Taubenflügeln aus dem Turmfenster beugten, sahen sie etwas sehr Sonderbares: Das Grün und Weiß von Gras und Gänseblümchen zwischen den alten Mauern verschwamm vor ihren Augen. Die Wiese begann sich plötzlich zu strecken, zu recken und zu glätten, bis sie völlig eben dalag wie ein kostbarer Teppich. An manchen Stellen schienen die wehenden Halme noch grüner zu leuchten, und daneben schimmerte das Weiß dann dichter und reiner als zuvor. »Sieh... Elfi«, schrie Edred aufgeregt, »sieh mal: Die Gänseblümchen gehen spazieren! Was machen sie denn bloß?« Die kleinen weißen Sterne marschierten zielbewußt in Zweier- und Viererreihen vorwärts. Sie scharten sich zu Regimentern und danach zu Armeen. An einigen Stellen machten sie auf der glatten Grasfläche halt und blieben reglos stehen. »Sie bilden ein Muster«, sagte Edred, »sieh nur! Ringsherum läuft ein großer Kreis – wie eine Verzierung!« »Wahrhaftig!« rief Elfrida. »Aber schau doch jetzt! Das wird eine Uhr!« Es wurde wirklich eine Uhr. Bald zeichnete sich deutlich auf dem satten Grün da unten eine riesige kreisrunde Linie dicht gesteckter weißer Gänseblümchen ab. Im smaragde102
nen Innenfeld erschienen hellschimmernd alle Zahlen, die auf ein Zifferblatt gehören – eine nach der anderen, alle zwölf. Auch die Zeiger bestanden aus Gänseblümchen, und zwischen der Sechs und dem Mittelpunkt lag ein kleiner weißer Kreis, in dem die Kinder den Sekundenzeiger laufen sehen konnten. Schnell wie der Wind stürmten die beiden nach unten und rannten zu der Uhr. In ihrer Mitte hockte der Maulwurf und wirkte überaus eitel und selbstbewußt. »Wie hast du das nur zustande gebracht?« keuchte Elfrida. »Das waren die Gänseblümchen. Die armen kleinen Dinger! Einfälle haben sie nie, aber alles was recht ist: Die Ideen anderer führen sie ganz ordentlich aus. Alles Weiße muß mir nämlich gehorchen«, fügte er lässig hinzu. »Und das ist nun also die Uhr?« fragte Edred. Das Muddeltier kicherte. »Eingebildet bist du gar nicht, mein Söhnchen! ›Die‹ Uhr ist viel zu groß, als daß du sie sehen könntest – wenigstens auf einmal. Ihr Mittelpunkt ist die Sonne. Dies hier ist nur eine Ersatz-Uhr, aber für unsere Zwecke reicht sie natürlich, sonst hätte ich sie ja gar nicht erst gemacht. Und jetzt marsch! Setzt euch auf den Sekundenzeiger – nein, nein, das macht den Blumen gar nichts. Zählt bis hundert – ja, so ist's richtig!« Die Kinder hatten sich auf der dichten weißen Gänseblümchenlinie niedergehockt und fingen an zuzählen: »... zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig...«
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»Und jetzt«, fuhr das Muddeltier fort, als sie bis hundert gekommen waren, »jetzt ist es die gleiche Zeit, die es war, als ihr angefangen habt. Hoffentlich habt ihr das begriffen.« »Das schon, aber wenn wir hier sitzen«, fragte Elfrida, »wie können wir dann jemals irgendwo anders sein?« »Das könnt ihr auch gar nicht«, erklärte das Muddeltier. »Einer von euch kann gehen, und der andere muß hierbleiben. « »Geh nur, Elfi«, sagte Edred hastig, »ich bleib hier und warte, bis du zurückkommst.« »Das ist lieb von dir«, antwortete Elfrida, »aber ich fände es viel netter, wenn wir zusammen gehen könnten. Kannst du das nicht bewerkstelligen?« fragte sie den Maulwurf. »Ich könnte es schon – natürlich könnte ich's«, gab er zu, »aber... er hat einfach Angst, allein zu gehen!« sagte er plötzlich. »Das ist nicht wahr!« widersprach Elfrida hitzig. »Und außerdem ist er zwei Jahre jünger als ich.« »Na gut, dann geh ohne ihn los«, sagte der Maulwurf. »Das hast du doch wohl begriffen: Solange er auf der Uhr sitzt, ist es das gleiche, ob du gehst oder ob du bleibst. Und wenn du hier bleibst, ist es genauso, als ob du gehst. Und – also der langen Rede kurzer Sinn«, fuhr er fort und verfiel in seinen ungeduldigen Polterton: »Es ist doch albern, sich so aufzuplustern! Er merkt es sowieso nicht, daß du weg bist – und er wird dir nicht glauben, wenn du wieder-
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kommst und ihm davon erzählst! Also lauf, mein Mädchen! Na – los!« Elfrida zögerte einen Augenblick. Und auf einmal sagte sie: »Oh, Edred! Was hab ich alles erlebt! Hat es sehr lange gedauert? Ich weiß, daß es scheußlich von mir war, mich so endlos aufzuhalten, aber alles war so aufregend, ich konnte wirklich nicht früher wieder weg!« »Red keinen Quatsch«, antwortete Edred. »Geh doch, wenn es dir Spaß macht. Mir ist es vollkommen schnuppe.« »Aber ich war doch schon fort, ich rede doch die ganze Zeit davon«, rief Elfrida und zerrte ihren Bruder von dem Sekundenzeiger der Gänseblümchenuhr herunter, worauf die Soldaten sofort ihren eiligen Rundmarsch wieder aufnahmen. »Siehst du wohl«, sagte der Maulwurf, »da hast du's! Aber ich will dir was sagen: Wenn du das nächste Mal die Uhr anhalten willst, rollen wir einfach einen Balken über den Zeiger. Na, nun lauft und spielt. Für diesen Donnerstag habt ihr genug Arden-Zauber genossen, das ist gewiß. Mehr wäre wahrlich von Übel!«
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Gehorsam liefen die Geschwister an der Schloßmauer entlang, bis zu der Stelle, von der aus sie das Meer sehen konnten. Sie legten sich in das weiche, warme Gras, und Elfrida erzählte Edred aufgeregt, was sie soeben erlebt hatte. Er glaubte ihr natürlich kein Wort. »Aber es stimmt alles«, beteuerte sie, »du meinst doch nicht etwa, daß ich mir so eine Geschichte aus den Fingern sauge – oder?« »Nein«, gab Edred zu, »dazu bist du gar nicht gescheit genug. Aber vielleicht hast du sie in einem Buch gelesen.« »Ich hab sie nirgends gelesen«, sagte Elfrida ungeduldig und überdachte noch einmal ihr sonderbares Abenteuer. Nachdem der Maulwurf »Na lauf, mein Mädchen« gesagt hatte, war sie einen Augenblick unschlüssig stehengeblieben...
Aber dann ging sie schnell und immer schneller auf das Schloß zu, dessen rotes Dach zwischen den efeuumsponnenen grauen Strebepfeilern hindurchschimmerte. Sie wandte sich noch einmal um und sah Edred und das Muddeltier dicht nebeneinander auf dem Zifferblatt der wunderbaren grün-weißen Uhr sitzen, ohne sich zu rühren. Da lief sie entschlossen ins Haus hinein, die Treppe hinauf und geradewegs zu der geheimnisvollen Bodentür, die sie ohne weiteres fand, öffnete – und behutsam hinter sich zuzog. Sie stand einen Herzschlag lang still, dann hob sie den Deckel der zweiten Truhe auf der rechten Seite. 106
»Du wechselst dein Kleid, und die Zeit wechselt auch, Wechseln und Wandeln, das ist der Brauch! Ruckedigu – Zeit weht wie Rauch!« gurrten die Tauben oder sang die Stille oder summte es in Elfrida. »Ich möchte nur wissen«, überlegte sie laut, während sie in einen grünseidenen, mit rosa Rosenknospen bestickten Unterrock schlüpfte, »ob Shakespeare auch dadurch zum Dichter geworden ist, daß ihm einfach sonderbare Sätze und Verszeilen durch den Kopf gegangen sind, ohne daß er besonders darüber nachdachte...« Und während sie ein Kleid aus rosa-weißem Brokat überstreifte, probierte sie eifrig, wie sich das anhören würde: »Unsere große Dichterin, Miss Elfrida Arden.«
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Sie band die rosa Bänder einer kleinen, weichen weißen Haube unter ihrem Kinn zusammen und verließ den Dachboden. Sie hatte keine Angst, sie bewegte sich wie in einem Traum, in dem ja auch nichts Wirkliches geschehen kann. Als sie aber mit dem Besatz ihres Ärmels an einem rostigen Nagel hängenblieb, tat es ihr doch leid. Denn für einen Gegenstand, der nur im Traum existierte, fühlte sich die Spitze ziemlich wirklich an, und außerdem war sie sehr schön. Aber Elfrida hatte jetzt keine Zeit, Gedanken an Spitzen zu verschwenden, denn eine Tür öffnete sich vor ihr. Sie führte freilich nicht zu dem abgelegenen Korridor mit den alten Kupferstichen, sondern in einen fremdartig getäfelten Raum, in dem ein ungewöhnliches Durcheinander herrschte: Kleider, Mäntel, Hutschachteln, Pakete, Rollen, Büchsen, Schals, Hüte, Handschuhe und Putzsachen aller Art häuften sich verwirrend. Dienerinnen – Elfrida wußte auf der Stelle, daß es sich um Dienerinnen handelte – bemühten sich vergeblich um Ordnung; ein Herr in Kniehosen zeigte ein paar erlesene Porzellantassen auf einem lackierten Tablett, und vor ihm stand eine anmutige junge Dame, die lachend rief: »Himmel! Hast du die ganze Zeit da in der Kammer gesteckt, Bäslein? Komm her und schau, wie gut der neue Schal deine Bet kleidet. Ist er nicht ganz a la mode?« »Ja«, erwiderte Elfrida einsilbig, weil sie nicht wußte, was sie sonst sagen sollte. Plötzlich erbebte alles, verschwamm vor ihren Augen und geriet durcheinander wie die bunten Glasplättchen in einem Kaleidoskop, ehe sie sich zu einem Muster ordnen. Aber schon befand sich alles wieder am richtigen Platz, 108
und Elfrida hatte nicht mehr das sonderbare Gefühl, einer Filmvorführung zuzusehen, sondern sie fühlte sich lebendig in das Geschehen einbezogen und umgeben von lebenden Menschen. Glücklicherweise wußte sie aus der letzten Geschichtsstunde, daß Königin Annas Regierung im Jahre 170z begonnen hatte, und sie erinnerte sich auch, daß damals Reifröcke und Krinolinen Mode gewesen waren, wie sie die Frauen in diesem Zimmer trugen. Sie überlegte: In ihrem gemeinsamen ersten Abenteuer waren Edred und sie ungefähr hundert Jahre bis zu Napoleons Zeit zurückgegangen ... ob es wohl möglich wäre, daß sich dies hier noch früher abspielte, vielleicht vor zweihundert Jahren? Wenn das der Fall war... »Bitte«, fragte sie rasch, »ist jetzt 1707? Lebt Königin Anna noch?« »Grundgütiger Himmel!« riefen erschrockene Stimmen durcheinander, und die junge Dame befahl gereizt: »Kind, halt uns mit deinem Geplapper nicht auf! Schlag zehn Uhr wird die Kutsche vorfahren, und wir wollen doch in Tonbridge übernachten!« Elfrida verzog sich mit offenen Augen und gespitzten Ohren in eine stille Ecke. Diese reizende Betty war also ihre Kusine, und sie würde nachher mit ihr, den Dienerinnen und einem Geleit von berittenen Knechten nach Schloß Arden zurückkehren. Die Männer sollten sie vor den Straßenräubern beschützen, die seit kurzem so übermütig und frech geworden waren, daß sie sich nicht scheuten, eine Kutsche am helllichten Tag mitten auf dem Marktplatz zu überfallen... Es wäre nicht auszudenken, 109
wenn Bet und ihrem Geleit dergleichen zustieße – wo sie doch den Arden-Familienschmuck bei sich trug, der neu gefaßt worden war, der jetzigen Mode entsprechend. Außerdem schien Kusine Bet für alle Freundinnen in der Nachbarschaft von Arden Besorgungsaufträge übernommen zu haben – ganz abgesehen davon, daß sie ihr eigenes Nadelgeld völlig ausgegeben hatte. Kein Wunder, daß das Zimmer förmlich überquoll und die vielen Hände kaum ausreichten, alle herumliegenden Dinge zu verpacken. In größter Hast nahmen sie schließlich eine Mahlzeit aus Kuchen und heißer Schokolade ein, und als Elfrida in einen langen Mantel und zahllose Schals so fest eingewickelt worden war, daß sie sich kaum noch bewegen konnte, wurde gemeldet, daß der Wagen vor der Tür wartete. Die Kutsche war zwar sehr geräumig, aber Koffer und Taschen mußten untergebracht werden, außerdem Base Bet mit ihrer umfangreichen Krinoline, den lebhaft schwatzenden Mädchen, kleinen und großen Paketen und Putzschachteln und dem widerwärtigen winzigen Schoßhund, der ständig kläffte und nach jedem schnappte, auch nach seiner Herrin und Elfrida.
Die Straßen waren eng und schmutzig und rochen abscheulich in der glühenden Junisonne. Auch im Wagen war es heiß und stickig, und das breite Gefährt rumpelte einfach grauenhaft. Sie hatten noch nicht einmal Lewisham 110
erreicht, da taten Elfrida schon alle Knochen im Leibe weh. Base Bet erzählte gähnend, daß sie gestern bis nach Mitternacht getanzt habe, und kuschelte sich in einer Ecke zum Schlafen zurecht. Elfrida spürte, wie ein leeres Gefühl der Gleichgültigkeit in ihr aufstieg, und wünschte, sie wäre nie im Leben hierhergekommen. Der Wagen rüttelte und knarrte durch das grüne Land, mehr als einmal rutschten die Räder in tiefe Löcher, und die Männer mußten zufassen und die Kutsche wieder aufrichten. Base Bet schlug die schönen Augen nur auf, um verdrossen zu äußern, daß solche Aufenthalte ungeheuer lästig und ärgerlich seien, und schlief sofort wieder ein. Es war die ungemütlichste Reise, die Elfrida je gemacht hatte. Sehnsüchtig dachte sie an ruhige, rasche Ferienfahrten mit der Eisenbahn und war sich klar darüber, daß sie –wenn sie nur ein Gedicht fertigbrächte – es ohne Zaudern aufsagen und das Muddeltier bitten würde, sie schleunigst wieder in ihre eigene Zeit zurückzuzaubern, wo Kutschen auf alle Fälle gefedert und Straßen auch Straßen waren. Und als der Wagen endlich vor dem ›Ochsen‹ in Tonbridge hielt, waren ihre Glieder so steif, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte. Ein geschäftiger Lärm war entstanden, Pferdeknechte und Stallburschen schrien durcheinander, und die Pferde wurden ausgespannt, ehe sich die Reisenden noch aus der Kutsche geschält hatten. Das Abendessen sollte in einem großen, niedrigen Raum im ersten Stock aufgetragen werden, dessen blanke Fenster auf einen ordentlichen Garten mit gestutzten Buchsbaumhecken hinabschauten. Das Ausladen des Gepäcks schien 111
noch eine gute Weile in Anspruch zu nehmen, und da sich Elfrida ausrechnen konnte, daß sie dabei nicht vermißt werden würde, huschte sie die rückwärtige Wendeltreppe hinunter und durch die Küche ins Freie. Es war ein herrliches Gefühl, sich die Beine vertreten zu können und nicht mehr eingezwängt, gestoßen und durchgerüttelt zu werden. Sie lief den schmalen Gartenweg hinunter, und da, in einer Eibenlaube, begegnete sie dem prächtigsten Kavalier, den sie je gesehen hatte. Seine weiße Perücke war an den Schläfen reich gelockt und dick mit Puder bestäubt, und über seinem gefältelten Spitzenkragen mit der juwelenbesetzten Brosche lachten blaue Augen Elfrida freundlich an. »Eine Dame vom Stande, wie ich annehmen darf«, sagte er, »und mit ihrer Dienerschaft auf Reisen?« »Ich bin Miss Arden von Arden«, antwortete das Mädchen mit Würde. »Euer Diener, Madame«, rief er, indem er aufsprang und seinen Hut mit einer zierlichen Verbeugung schwenkte. Elfridas angedeuteter Knicks fiel nicht ganz so stilvoll aus, wie es sich wahrscheinlich gehört hätte, aber er mußte genügen. »Womit könnte ich Miss Arden von Arden zu Diensten sein?« erkundigte sich der Fremde höflich. »Würdet Ihr vielleicht auf meiner schwarzen Stute zu reiten belieben ?« »O bitte nein – vielen Dank!« sagte Elfrida so erschrocken, daß er lächelnd sagte: »Ich hätte nicht geglaubt, daß Furcht aus diesen Augen sprechen kann!«
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»Ich hab keine Spur von Angst«, widersprach Elfrida ungestüm, »bloß – ich bin den ganzen Tag in einer gräßlichen Kutsche gefahren und fühle mich jetzt so zerschlagen, daß ich am liebsten nie wieder etwas mit Pferden oder Fuhrwerken zu tun haben möchte!« Der Fremde lachte auf. »Fürwahr, das ist verständlich!« gab er zu. »Kommt also lieber und nehmt Platz und berichtet mir, was Neues in der Stadt geschah!« Elfrida lächelte bei der Vorstellung, was sie ihm alles erzählen könnte, doch dann runzelte sie die Stirn und versuchte angestrengt, sich auf etwas zu besinnen, was für seine Ohren nicht allzu unwahrscheinlich klingen würde. Schließlich erzählte sie, was sie von Base Betty und dem Zweck ihrer Reise wußte, und er hörte aufmerksam zu. Sie schwatzte von den Einkäufen, die ihre Kusine gemacht hatte, von dem Perlenhalsband und dem kostbaren Pomader, der mit Korallen eingelegt war, von der kleinen goldenen Uhr und von dem neugefaßten Familienschmuck. »Und nun werdet Ihr hier über Nacht Rast halten?« fragte der Edelmann. Elfrida nickte. »Wir reisen erst morgen nach dem Frühstück weiter. Ach – es ist zu langweilig mit diesem Schneckentrott! Hättet Ihr nicht auch gern einen Wagen zur Verfügung, der von feurigen Eisenrossen gezogen wird und sechzig Meilen in der Stunde schafft?« »Ihr verfügt über einen so erfinderischen Geist«, erwiderte der schöne Herr, »wie ich ihn mit Vergnügen an meinem Ehegemahl bewundern würde. Wollt Ihr mich heiraten, wenn Ihr erwachsen seid?« 113
»Nein«, sagte Elfrida. »Ihr seid zu alt, und selbst wenn es möglich wäre, daß Ihr so bliebet, bis ich groß wäre, wäret Ihr viel zu alt.« »Und wie alt, meint Ihr, würde ich sein, wenn Ihr siebzehn wäret?« »Ich müßte einmal zählen«, murmelte Elfrida, die im Rechnen ziemlich gut war. Sie brach einen Zweig ab und kritzelte Zahlen in den Sand. »Ich weiß nicht genau, ob es stimmt«, sagte sie nach einem Weilchen. Sie wischte die Addition vorsichtig mit dem purpurnen Absatz ihres rechten Schuhes wieder aus. »Aber ich glaube, Ihr zähltet dann zweihundertdreißig Jahre.« Darauf lachte er übermütig und schwor abermals, daß sie die einzig richtige Frau für ihn wäre. »Bei Eurer Rechnung würden sich meine Einkünfte rasch verzehnfachen«, beteuerte er. Er war wirklich reizend! Elfrida konnte ihre Neugier nicht länger zähmen. »Und wie heißt Ihr?« fragte sie. »Mein Name«, erwiderte er, »ist ein Geheimnis. Könnt Ihr ein Geheimnis wahren?« »O ja«, sagte sie. »Ich kann's auch«, antwortete er. Plötzlich kam eine aufgeregte Dienerin aus den Buchsbaumhecken hervorgestürzt und schleppte Elfrida scheltend davon, ehe sie auch nur einen ordentlichen Knicks machen und sagen konnte: »Vielen Dank für die freundliche Unterhaltung. «
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»Lebt wohl«, rief der schöne Herr ihr nach. »Ich hege keinen Zweifel, daß wir uns bald wiedersehen. Und beim nächsten Mal werde ich Euch entführen und zweihundert Jahre lang in einem Turm gefangen halten, bis Ihr siebzehn seid und rechnen gelernt habt!« Elfrida bekam eine schallende Ohrfeige, worüber sie vor Wut fast erstickte, und wurde im Eilschritt zum Abendbrot in den großen Raum im ersten Stock gebracht. Dort berichtete die Kammerfrau entrüstet, daß sie Elfrida ›im Gespräch mit einem wildfremden Mannsbild‹ erwischt habe, und als Kusine Betty sich zu ihr herumdrehte, erzählte Elfrida die Geschichte von ihrem Standpunkt aus. »Er war ein Mordsschatz«, schloß sie. »Ein was?« »Ein sehr liebenswürdiger Herr. Ich wünschte, du wärest dabeigewesen, Base Betty. Er hätte dir sicher auch gefallen.« Daraufhin bekam sie auch von der Base Betty eine Ohrfeige und wünschte mehr denn je, daß sie ein kleines Gedicht für das Muddeltier bereit hätte. Am folgenden Tag verlief die Fahrt genauso holprig wie am ersten, und Elfrida hing das ganze Abenteuer schon ziemlich zum Halse heraus. Wenn doch nur irgendwas passierte! dachte sie ungeduldig. Die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen, und die Dämmerung brach schon herein, während sie immer noch die Straße entlangholperten. Plötzlich preschte ein maskierter Reiter in einem großen schwarzen Umhang hinter einer Hecke hervor. Er zügelte seinen Rappen, 115
beugte sich im Sattel nieder, riß die Tür der Kutsche auf, packte Elfrida bei den Falten ihres weiten Reisemantels und zog sie vor sich auf seinen Sattel. Mit lauter Stimme befahl er: »Gebt Eure Wertsachen heraus, sonst schieße ich die Pferde nieder! Und laßt die Donnerbüchsen stecken! Wenn Ihr auf mich zielt, trefft Ihr das Kind.« Dabei lenkte er freilich im Sprechen den Rappen so, daß sein eigener Körper sich wie ein Schild zwischen Elfrida und die Pistolen der Bediensteten schob. »Was wollt Ihr von uns?« jammerte Kusine Bet mit schriller Stimme. »Wir besitzen keine Kostbarkeiten, wir sind einfache Landleute auf der Heimfahrt zu unserem Hof!« »Ich will das Perlenhalsband«, zählte der Räuber auf, »und den Pomader und die kleine goldene Uhr und die neu gefaßten Juwelen...« In diesem Augenblick wußte Elfrida, wer er war. »Sie sind gemein!« schrie sie auf. »Geschäft ist Geschäft«, sagte er, hielt sie jedoch sehr sanft und liebevoll fest. »Nun, meine schöne Dame?« Die Knechte spielten unentschlossen mit ihren Pistolen. Die Pferde, vom jähen Halt erschreckt, bäumten sich wild auf, und die Dienerinnen kreischten, der Unhold habe das Kind in seiner Gewalt, und es sei besser, man verlöre ein paar Juwelen als das teure Leben – und Betty schluchzte und jammerte in der finsteren Kutsche. Die Sache endete damit, daß die Juwelen übergeben wurden, widerwillig und langsam, und Bet beteuerte später, 116
die Hand, die aus der Dunkelheit nach ihnen griff, sei lilienweiß gewesen.
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Elfrida, vom Arm des Straßenräubers fest umschlungen, rührte sich nicht. Plötzlich beugte er sich nieder und flüsterte ihr ins Ohr: »Hast du Angst, daß ich dir ein Leid antue?« »Nein«, flüsterte sie zurück. »Mutige kleine Dame«, sagte er. Dann gab er seinem Pferd die Sporen, setzte über die niedrige Hecke am Straßenrand, hielt noch einmal an und befahl: »Fahrt weiter, ihr tapferen Burschen, und schweigt über das, was hier geschah! Ich werde noch vor euch in Arden sein...« Damit ritt er davon. »Das Kind!« schrien die Mägde gellend. »Ach, unser Kind!« »Soll ich in Arden schon für euch die Abendsuppe bestellen?« rief der Räuber spöttisch zurück und ritt mit Elfrida querfeldein in die sinkende Nacht davon. Sie lehnte sich atemlos, erschrocken, aber trotzdem stolz gegen seine Schulter. Im Nu war die Kuppe des Arden-Hügels erreicht, und vor ihnen schimmerten und blinkten die Lichter des Schlosses. »Und jetzt, mein Liebchen«, sagte der Räuber, »jetzt werde ich dich vor der Tür drüben absetzen und warten, bis sie sich öffnet. Du kannst von allem berichten, was sich zutrug, nur nichts von dem, was ich dir jetzt sage: Du wirst mich wiedersehen, doch keiner außer dir wird mich erkennen. Darum hüte deine Zunge bis morgen, und ich schwöre dir, daß Miss Betty Arden alle Juwelen zurückbekommen wird. Und du sollst ein goldenes 118
Medaillon erhalten, in das du eine Locke deines getreuen Liebsten hineinlegen kannst, wenn du siebzehn Jahre sein wirst und ich zweihundertdreißig zähle! Laß das Fenster im Wohnzimmer offen, und sei zur Stelle, wenn ich klopfe. Ist das ein ehrlicher Handel?« »Dann sind Sie also gar kein richtiger Straßenräuber?« fragte Elfrida. »Was würdest du sagen, wenn ich dir gestände, daß ich Jakob III. bin, rechtmäßiger König von England, und gekommen, mein Eigentum zurückzufordern?« »Ohhh!« machte Elfrida, und er ließ sie sanft vom Pferd gleiten. Sie lief zum Schloßtor und hämmerte mit den Fäusten dagegen, bis man sie einließ. Sie mußte ihre Geschichte wieder und wieder erzählen, auch später Kusine Betty und ihren Dienerinnen, aber schließlich beruhigten sich die Gemüter, und die Mädchen verschwanden in die Küche, um in aller Eile ein Abendessen zu bereiten. Bet und Elfrida blieben im Wohnzimmer. Das Fenster war angelehnt. Der Lorbeer vor den dicken Mauern raschelte im Abendwind und schlug gegen die Scheiben. Elfrida lief zum Fensterplatz hinüber – nein, es war nur ein winkender Ast. Aber im nächsten Augenblick klopfte eine Hand – eine reich beringte Hand –, und ein weißes Rechteck wurde sichtbar: ein Brief. »Für Miss Betty Arden«, flüsterte eine Stimme. Elfrida brachte ihrer Base die geheimnisvolle Botschaft und legte sie ihr auf den seidengeblümten Schoß. »Für mich, mein Kind? Woher bekamst du dies?« »Lies doch«, sagte Elfrida. »Es ist von einem Herrn.« 119
»Himmel!« rief Bet. »Welch aufregender Tag! Ein Straßenräuber, verlorene Juwelen und jetzt gar noch ein Liebesbrief!« Sie entfaltete den Bogen, las, las ein zweites Mal und reichte ihn dann hilflos und mit bebender Hand zu Elfrida hinüber. In klarer und schöner Schrift stand darauf: ›Der Ritter von St. George besucht sein Königreich geheim in dringlichen Staatsgeschäften und erlaubt sich, unter dem Dach der königstreuen Familie Arden Schutz und Unterkunft zu suchen.‹ »Na und? Hab dich doch nicht so!« sagte Elfrida scharf. »Wer ist denn dieser Ritter von St. George?« »Unser König«, erwiderte Betty im Flüsterton, »unser König jenseits des Kanals – König Jakob III. Oh – warum ist nur mein Onkel nicht daheim? Sie werden den König ermorden, wenn sie ihn finden! Was soll ich tun? Was soll ich tun?« »Tun?« fragte Elfrida. »Dich nicht so albern anstellen – das sollst du tun. Ich weiß gar nicht, was du hast! Das ist doch eine großartige Gelegenheit! Denk doch bloß, wie sie später alle deinen Mut loben werden. Ist er Bonnie Prinz Charles? Wird er später mal König?« »Nein, nicht Karl –Jakob! Du bist zwar noch ein Kind, aber du solltest immerhin wissen, daß er als Sohn von König Jakob II. der rechtmäßige Erbe von Englands Thron ist, wenn sein Vater auch nach Frankreich fliehen mußte.
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Jetzt herrscht Königin Anna über uns, doch unser Onkel hofft, daß Jakob König wird.« »Dann wollen wir ihm helfen«, sagte Elfrida bestimmt. »Vielleicht liegt es in deiner Hand, daß er die Krone erhält.. .« Von Prinz Charlie wußte sie nur aus Balladen und Büchern. »Und wenn er König ist«, fuhr sie glühend vor Begeisterung fort, »wenn er König ist, wird er dich zur Herzoginwitwe von irgendwas ernennen und dir sein Bild in einem Kranz von Diamanten verehren. Nun hör bloß auf zu jammern! Er ist draußen. Ich ruf ihn jetzt herein. Wo können wir ihn verstecken?«
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Die geheime Kammer »Wo können wir ihn also verstecken?« wiederholte Elfrida ungeduldig. Von der Begeisterung ihrer kleinen Base angesteckt, sprang Bet auf und begann, mit den Fingerspitzen die geschnitzten Blumen im Paneel über dem Kamin abzutasten. »In der Geheimkammer«, sagte sie. »Aber schieb den Riegel vor und dreh den Schlüssel um!« Elfrida verschloß eilig die Zimmertür, und als sie sich wieder umwandte, sah sie, wie sich ein Fach in der geschnitzten Wandtäfelung wie ein Schrank öffnete. Sie rannte zum Fenster, stieß die Flügel weit zurück, und der schöne junge Edelmann kletterte herein. Betty sank vor ihm in die Knie und küßte ehrerbietig die weiße, juwelengeschmückte Hand, die er ihr entgegenstreckte. »Schnell, schnell!« sagte Elfrida. »Versteckt Euch! Seht Ihr die Tür dort oben? Dahinter seid Ihr in Sicherheit!« »Vorsicht«, mahnte Bet, »da sind Stufen.« Der Ritter von St. George sprang auf einen Stuhl, stemmte sein Knie auf den Kaminsims und schlüpfte in das Dunkel hinter der Wandverkleidung. Betty reichte ihm 122
einen Leuchter mit brennenden Kerzen; Elfrida stieg auf den großen Armsessel und schloß die Täfelung. Dann lief sie zur Tür und schob den Riegel gerade in dem Augenblick zurück, als ein Mädchen mit dem Abendessen für die beiden Kusinen vor der Tür anlangte. Als sie wieder allein waren, schlang Betty ihre Arme um Elfrida. »Keine Angst«, flüsterte sie, »deine Bet wird alles tun, damit dir bei diesem Abenteuer kein Leid geschieht!« »So siehst du aus!« erwiderte Elfrida empört und befreite sich sofort aus der Umarmung. »Wer hat ihn denn eingelassen? Du hättest mit deinem Gekreisch das ganze Haus zusammengetrommelt, wenn ich nicht gesagt hätte, du solltest den Mund halten!« »Laß das Geplapper, Kind«, sagte Bet und fuhr sich zerstreut mit der Hand über die Stirn, »ich muß jetzt überlegen, wie ich meinem König dienen kann.« »Ich an deiner Stelle«, sagte Elfrida aufgebracht, »ich würde ihm vor allen Dingen etwas zu essen geben und nachsehen, ob er da oben ein Bett hat. Aber das ist wahrscheinlich zu gewöhnlich für dich.« Die beiden Mädchen starrten sich atemlos an. »Freches Balg!« fauchte Betty. »Selber eins!« gab Elfrida zurück. Und dann lachte sie. »Ach, komm schon, Base Bet«, sagte sie, »dein Onkel ist nicht da, und du bist schließlich erwachsen. Ich werd dir sagen, was du tun sollst. Du brauchst nur weise und großartig zu sein, damit dein Bild in die illustrierte Weihnachtsnummer der Zeitung kommt – ›Die Retterin des
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Königs‹ – ganz in Weiß und mit einem besorgten Gesichtsausdruck...« »Was schwatzt du da für Unsinn?« sagte Bet und preßte ihre Hand gegen die Augen. »Es gibt fürwahr im Augenblick Wichtigeres genug, was mich durcheinanderbringt. Doch immerhin: Wenn es dich danach verlangt, mich um Vergebung zu bitten, so magst du's tun.« »Wieso? Na schön: Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Elfrida völlig verwirrt. »So – und gibst du vielleicht deinem König jetzt etwas zu essen?« »Verlangst du etwa von mir, in dieses Wandloch zu steigen? Mit einem Tablett? Während in jedem Augenblick die Dienerinnen kommen können? Was würdest du wohl zu ihnen sagen?« »Also gut, dann geh ich eben«, sagte Elfrida, die über diese günstige Gelegenheit nur zu glücklich war. Sie stieg in das Versteck über dem Kamin, nachdem Bet die geheime Feder betätigt hatte, und ließ sich das Servierbrett mit dem Abendbrot hinaufreichen. »O verflixt!« rief sie und setzte das Tablett eilig nieder. »Das ist zu schwer für mich. Er muß selber kommen und es sich holen. Gib mir einen Leuchter, Bet, und klapp die Täfelung zu – halt, nein! Erst sag mir, wie ich gehen muß.« »Zuerst nach rechts und dann die Stufen hinauf. Und versäume nicht, niederzuknien und seine Hand zu küssen, ehe du mit ihm sprichst!« Elfrida beugte sich hinunter und ergriff den Leuchter, die Täfelung schnappte zu, und sie stand zwischen 124
Spinngeweben und Staub im engen Geheimgang, den Leuchter in der Hand und das Tablett zu ihren Füßen. »Es ist ja nur ein Muddeltier-Zauber-Abenteuer«, sagte sie, um sich Mut zu machen, wandte sich entschlossen nach rechts und stieg die Treppe hinauf. Die Stufen waren schmal und steil. Oben gewahrte sie den langen Lichtspalt einer angelehnten Tür. Anzuklopfen erschien ihr unklug, sie rief lieber leise: »Ichbin's!« Sofort öffnete sich die Tür, und vor ihr stand der schöne Ritter. Die geheime Kammer war nur spärlich möbliert: ein
Bett, ein Tisch, wenige Stühle, alles alt und von schöner Form, wie selbst im schwachen Licht der Kerzen zu erkennen war. 125
»Euer Abendbrot steht unten an der Treppe«, sagte Elfrida. »Es war zu schwer für mich. Mögt Ihr es Euch wohl heraufholen?« »Wenn Ihr mir leuchtet, gern«, antwortete er und ging die Stufen hinab. »Bleibt Ihr ein wenig hier und leistet mir beim Essen Gesellschaft?« fragte er, nachdem er das Tablett auf den Tisch gesetzt hatte. »Ich darf nicht«, antwortete Elfrida. »Base Bet ist so ungeschickt, sie wüßte nicht, was sie sagen sollte, falls die Mädchen reinkommen und nach mir fragen. Ach, du liebe Zeit! Es tut mir leid, daß ich's verschwitzt habe: Sie hatte mir befohlen, daß ich niederknie und Euch die Hand küsse, ehe ich irgendwas sage. Aber ich kann's ja jetzt schnell noch nachholen...« »Bewahre nein«, sagte er hastig. »Ich werde Eure Wange küssen, kleine Dame, und ich werde auf die Gesundheit dessen trinken, dem Eure Lippen gehören, wenn Ihr siebzehn seid und ich – wie alt bin ich dann? Fünfhundert?« »Zweihundertdreißig«, verbesserte Elfrida und erwiderte herzlich seinen Kuß. »Ihr seid sehr nett. Ich wünschte, Ihr wäret wirklich. Ach, ich glaube, ich gehe jetzt lieber zu Bet zurück.« »Wirklich?« fragte er. »Ach, das war bloß Unsinn«, sagte Elfrida. »Ich geh jetzt. Lebt wohl!« »Das fehlende Tablett würde Euch verraten«, mahnte er, nahm Essen und Wein und stellte beides auf den Tisch. »Und nun werde ich dies wieder hinuntertragen. Ihr verfügt 126
zwar über den Mut, aber noch nicht über die Geschicklichkeit eines Verschwörers.« »Wie lange werdet Ihr hierbleiben?« fragte Elfrida. »Ihr seid doch sicher vor irgendwem oder irgendwas auf der Flucht, so wie es in Geschichtsbüchern steht, nicht wahr?« »Lange werde ich mich gewiß nicht aufhalten«, antwortete er. »Wenn jemand Euch fragen sollte, ob Ihr den König gesehen habt, was würdet Ihr entgegnen?« »Ich würde nein sagen«, erklärte Elfrida, »denn schließlich kann ich nicht mit Sicherheit wissen, ob Ihr der König seid. Ihr behauptet es, das ist alles. Vielleicht stimmt es gar nicht.« »Großartig!« rief er aus. »Ihr glaubt mir also nicht?« »O ja, ich glaube Euch schon«, sagte Elfrida, »doch ich müßte es nicht tun, versteht Ihr?« »Respekt!« murmelte er. »Aber ich wünschte, ich wäre es. Dann wären eine Krone und ein Titel zu vergeben.« »Ihr wünschtet, Ihr wäret was?« »Fort und in Sicherheit, meine kleine Dame. Und was die Krone angeht: Die Juwelen sind gerettet! Seht, ich habe sie in den Eckschrank dort gelegt.« Er nahm das Tablett und trug es hinunter, und weil Elfrida der Magen vor Hunger knurrte, versuchte sie nach ihrer Rückkehr ins Wohnzimmer, ihre Base davon zu überzeugen, daß sie tüchtig essen müßte, um ihre Kräfte für die Taten zu stärken, die jeden Augenblick von ihr gefordert werden könnten. Aber Bet erklärte, sie könne unmöglich etwas hinunterbringen, selbst der kleinste Bissen würde ihr im Halse steckenbleiben. Dessenun127
geachtet kenne sie jedoch durchaus die Pflichten ihrem König gegenüber, und sie sei bereit, ihren Herrscher im Falle der Not unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen, und... In diesem Augenblick unterbrach lautes Klopfen am Schloßtor die Stille, und eine dröhnende Stimme verlangte: »Öffnet – im Namen der Königin!« »Sie kommen seinetwegen! Alles ist verloren! Wir sind verraten! Was sollen wir bloß tun?« jammerte Bet. »Essen!« rief Elfrida. »Los, iß was du kannst!« Sie schob ihre Kusine in einen Sessel, stellte einen Teller vor sie hin, legte eine tüchtige Portion der Fleischpastete darauf und eine zweite auf ihren eigenen Teller. »Stopf dir den Mund voll«, flüsterte sie und schob sich noch beim Reden selber einen großen Bissen zwischen die Lippen, »so voll, daß du nicht sprechen kannst – dann hast du Zeit zum Nachdenken!« Und schon flog die Tür auf. Im Nu hatte sich der Raum mit bewaffneten Kavalieren gefüllt. Elfrida, mit vollen Backen kauend, ließ ihre Augen von einem der späten Besucher zum anderen wandern. Dann bemerkte sie: »Das ist eine reizende Art, Damen zu später Nachtstunde zu stören!« »Einem königstreuen Untertan gilt jede Stunde gleich!« erwiderte ein kugelrunder Edelmann mit blauen Augen, der sich als Anführer zu fühlen schien. »Beherbergt Ihr heute nacht etwelche Fremde unter Eurem Dach?« »Oh«, schrie Bet, »alles ist verloren!« 128
Die Männer tauschten Blicke aus und drängten näher. Elfrida zuckte im Geiste die Schultern und sagte sich, daß alles ohnehin keine Rolle spiele. Die Begebenheit damals war zweifelsohne so verlaufen, und was sie jetzt zu erleben schien, war nur historische Vergangenheit. »Es weilt also ein Fremder hier im Schloß?« fragten die Eindringlinge und: »Wo ist er? Ihr könnt Euch nicht weigern, ihn uns auszuliefern!« »Mein Herz«, schluchzte Betty, »mein Herz verriet mir sofort, daß er es ist, nach dem Ihr sucht!« Mit diesen Worten glitt sie anmutig in Ohnmacht und in die Arme des ihr am nächsten stehenden Herrn, der einen pflaumenblauen Anzug trug und so mit seinen Gefühlen zu kämpfen schien, daß es aussah, als ob er lachte. »Fragt das Kind! Kinder und Narren sprechen die Wahrheit!« forderte der dicke Edelmann mit den blauen Augen. Elfrida fühlte sich plötzlich hochgehoben und auf den Tisch gestellt, von wo sie das ganze Zimmer überblicken und über die Herren hinwegschauen konnte. Sie sah Bet, die inzwischen im Sofa lehnte, und sie sah die offene Tür, in der sich die Dienerinnen mit weit aufgerissenen Augen und gespitzten Ohren drängten. »Also«, sagten die Männer, zu Elfrida aufblickend, »heraus mit der Wahrheit, kleine Miss!« »Was wollt Ihr von mir wissen?« fragte Elfrida und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ich werde kein einziges Wort sagen, ehe Ihr nicht die Dienerschaft weggeschickt habt!« Die Tür wurde geschlossen und die Frage abermals gestellt. 129
»Wenn Ihr mir nur deutlich sagtet, was Ihr wissen wollt!« wiederholte das Mädchen. »Liegt diese Nacht ein Fremder hier verborgen?« »Nein«, erwiderte Elfrida sehr sicher. Sie wußte genau, daß der schöne Unbekannte im Geheimzimmer vor seinem Abendbrot saß – also auf gar keinen Fall verborgen ›lag‹. »Aber Miss Arden rief vorhin ›Alles ist verloren‹ und schien zu wissen, wen wir suchen.«
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»Nun ja«, sagte Elfrida vorsichtig, »es ist nämlich... wir wurden heute von einem Wegelagerer überfallen und ausgeraubt. Das hat meine Base schrecklich aufgeregt. Ich glaube, sie verliert immer ziemlich schnell die Nerven.« »Sehr schnell, fürwahr«, bestätigten mehrere Stimmen. »Der kürzeste Weg ist stets der beste«, platzte der große, schlanke Kavalier in Pflaumenblau heraus. »Befindet sich Sir Edward Talbot hier?« »Nein, bestimmt nicht«, antwortete Elfrida, »ich finde, Ihr habt kein Recht, in anderer Leute Häuser zu stürmen und Damen zu erschrecken, daß sie in Ohnmacht fallen. Ich werde es Lord Arden sagen, wenn er heimkommt. So, nun wißt lhr's!« »Wetter auch«, rief einer der Edelleute, »das Kind zeigt Mut! Und recht hat es außerdem. Ihr könnt mich prügeln, wenn das nicht stimmt!« »Schnickschnack!« unterbrach ihn ein anderer. »Wir tun schließlich nichts weiter, als Lord Ardens Haus in seiner Abwesenheit zu beschützen!« »Wenn Ihr meint, daß Euer Talbot hier Verstecken spielt, und wenn er etwas Schlimmes getan hat, dann könnt Ihr ihn meinetwegen suchen. Aber ich glaube nicht, daß Lord Arden davon sehr entzückt sein wird. Das wär's. Wenn's Euch beliebt, so möchte ich jetzt gern wieder vom Tisch hinunter.« Sie wurde behutsam heruntergehoben, und danach verließen die Kavaliere den Raum und das Schloß unter zahlreichen Entschuldigungen, daß sie die Damen belästigt hätten. Elfrida vernahm durch das Fenster ihre heiteren 131
Stimmen im Schloßhof, ein fröhliches, allgemeines Gelächter und die klappernden Hufe ihrer Pferde, als sie endlich aufsaßen und davon ritten, und sie hatte das sichere Empfinden, von sonderbaren Geheimnissen umgeben zu sein. Sie hätte es nicht über sich gebracht, in ihre eigene Zeit zurückzukehren, ohne das Ende dieses Abenteuers mitzuerleben. So legte sie sich neben ihrer Kusine in einem großen Himmelbett schlafen. Bets Ohnmachtsanfall hatte haargenau so lange angedauert, bis die Fremden das Schloß verlassen hatten, und keine Minute länger, was recht praktisch war.
Am nächsten Morgen stand Elfrida zeitig auf und lief ins Wohnzimmer. Sie wollte nachsehen, wie es dem König ging und ob er nicht vielleicht – wie ihr Vater früher immer –zuerst einmal Rasierwasser haben wollte. Aber es war noch so früh, daß sie beschloß, doch lieber noch ein Weilchen zu warten. Sie schlenderte hinaus in die Felder, auf denen silberner Tau lag, und stieg zum Arden-Hügel hinauf. Sie lauschte den Lerchen und schaute zum Schloß hinüber und stellte fest, wie frisch der Mörtel auf den Mauern des Wohnhauses war. Plötzlich sah sie zwei Gestalten, die im Begriff waren, den Park zu betreten. Sie rannte schnell zurück und fing die Männer am Tor mit einem höflichen »Guten Morgen!« ab. »Ihr seid früh auf!« sagte der eine, der einen leuchtend grünen Mantel trug. Und dann erkundigte er sich lächelnd: 132
»Und es übernachtete also in der vergangenen Nacht wirklich kein Fremder in Arden, wie?« Elfrida fand diese Frage schwierig zu beantworten. Zweifellos hatte der König im Geheimzimmer übernachtet. Aber war er denn ein Fremder? Nein, eigentlich wohl nicht. So fand sie, sie könne guten Gewissens ›nein‹ sagen – und tat es auch. Ausgerechnet in diesem Augenblick schob sich ein Bein in Reitstiefeln aus dem offenen Wohnzimmerfenster, das zweite folgte, und plötzlich stand der schöne Ritter von St. George in voller Größe vor ihnen. »Schscht!« flüsterte er. »Sprecht leise, die Dienerschaft ist noch nicht munter!« »Das ist sie schon«, stellte Elfrida richtig, »aber sie wohnen nach der anderen Seite hinaus. Kriecht hier unter der Mauer entlang, dann kommt Ihr fort, ohne daß Euch jemand sieht!« »Stets eine wunderbare Ratgeberin!« sagte der schöne Kavalier und verneigte sich anmutig vor ihr. »Begleitet uns doch, kleine Dame. Ich habe vor Euch nichts zu verbergen.« Sie schlichen also alle miteinander vorsichtig im Schatten der Schloßmauer bis zu der Stelle, wo zwischen zwei Hügelhängen das Meer in der Ferne aufglänzte. Dort hielten sie an. »Ich habe meine Wette gewonnen«, begann der schöne Herr, »trotz aller Eurer Versuche, mich daran zu hindern. Es entsprach nicht der Übereinkunft, Fitzgerald, daß Ihr
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abends um neun Uhr in Arden eindringt, um mich mit einer Meute auszuheben wie Reineke Fuchs!« »Es war gar nichts verboten«, verteidigte sich der grüne Edelmann. »Wir haben versucht, Euch am Wege aufzulauern, aber Ihr kamt um eine Stunde zu früh!« »Ach«, lachte der Ritter von St. George, »Uhren nachzustellen ist keine Kunst! Und die Pferdeknechte im ›Ochsen‹ schätzen eine gute Wette so hoch wie ein gutes Goldstück!« »Aber wollt Ihr mir nicht endlich alles erklären?« rief Elfrida, die vor Neugier und Ungeduld ihre Füße nicht mehr stillhalten konnte. »Sofort, meine Schöne, mit Vergnügen!« versicherte ihr geheimnisvoller Fremder und lachte. »Ihr seid also nicht der König? Ihr habt es aber gesagt!« »Nun: nein... nicht so schnell! Ich habe Euch nur gefragt, was Ihr sagen würdet, wenn Ihr erführet, ich sei König Jakob.« »Und wer seid Ihr nun wirklich?« fragte sie ungeduldig. »Edward Talbot, Baronet, Euch zu Diensten, Lady«, erwiderte er mit einer anmutigen Verneigung. »Ich verstehe kein Wort«, protestierte Elfrida. »Erzählt mir bitte alles von Anfang an.« Er gehorchte und gab seine Geschichte zum besten, während die beiden Edelleute lachend daneben standen: »Vor ein paar Abenden speiste ich mit Mr. Fitzgerald zur Nacht, und das Gespräch kam auf Wegelagerei. Meine Kameraden wetteten um fünfhundert Guineen, daß ich
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nicht imstande sein würde, eine Kutsche zu überfallen und auszurauben. Ich nahm die Wette an und erbot mich darüber hinaus, den Familienschmuck der Ardens zu rauben und hier im Schloß zu übernachten, ohne daß mich jemand erkennen würde. Ich bin erst kürzlich aus fernen Ländern heimgekehrt, so daß Eurer Base mein Antlitz fremd war. Doch, zum Teufel, mein Kind – ohne Euch hätte ich trotzdem verloren. Ich rechnete mit Miss Ardens Hilfe und lernte sie als schwächlichen, hilflosen Nichtsnutz kennen. Aber Ihr – Ihr seid ein Mädchen, wie man es nur einmal unter Tausenden findet. Ich werde Euch, wenn ich das nächstemal nach London reise, das schönste Geschenk besorgen, das ich nur finden kann. – Doch nun kommt, meine Freunde: Wir wollen dem reizenden Fräulein schwören, daß – wenn sie selbst ihre Zunge hütet – niemand je ein Sterbenswörtchen von dieser Sache erfahren wird.« »Aber gestern nacht sind doch alle diese Herren im Schloß aufgetaucht! Das ganze Gesinde weiß Bescheid«, wandte Elfrida ein. »Die Kavaliere kamen nur, um Miss Arden zu beschützen, falls sich etwa der räuberische Wegelagerer im Schloß verborgen haben sollte, meint Ihr nicht? Dieses Kind ist wirklich klug, es denkt an jeden schwachen Punkt in unserer Rechnung.« Er erzählte seinen Freunden in Eile das ganze Abenteuer, und sie lachten herzlich miteinander, und schließlich gingen sie zusammen quer durch die Felder heim zu einem guten Frühstück.
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Es ist ja nett, daß er mich für tapfer und gescheit und was weiß ich noch alles hält, dachte Elfrida und sah ihnen nach, aber ich wünschte, er wäre wirklich der König gewesen. Dann lief sie ins Schloß und berichtete Betty, was geschehen war – aber plötzlich schien sich alles nicht mehr zu lohnen. Sie hatte kein bißchen Lust, sich noch länger in diesem Teil der Vergangenheit aufzuhalten, und rannte eilig die Treppe hinauf und durch den Dachboden und das zauberische Taubengurren zurück in ihre eigene Zeit und fand ihren Bruder geduldig inmitten der geheimnisvollen Gänseblümchen hockend... Natürlich glaubte Edred nicht, daß seine Schwester inzwischen weg gewesen sein könnte. Wie sollte er auch? Während er den verwunschenen Zeiger festhielt, gab es ja für ihn keine Zeit, seine Uhr war stehengeblieben, bis zu dem Augenblick, da Elfrida ihn davonzog und aufgeregt von ihrem Abenteuer erzählte. Er war sehr böse und gekränkt. »Wenn das wirklich stimmt«, ereiferte er sich, während sie nun zusammen im Grase lagen, »warum hast du mich dann nicht geholt? Du weißt doch, wie sehr ich mir immer gewünscht hab, einmal einen Räuber zu treffen!« »Wie stellst du dir denn das mit dem Zurückkommen vor? Hätte ich vielleicht vom Pferd springen sollen und heimlaufen und zu den Truhen sausen und zu der Uhr und dich dann den ganzen Weg wieder mit zurücknehmen? Der Straßenräuber – ich meine Talbot – wäre längst über alle Berge gewesen, ehe wir beide wieder da sein konnten.« »Nein, das wäre er nicht«, sagte Edred eigensinnig, »du vergißt nämlich, daß ich ja auf der Uhr saß und sie anhielt. 136
Es ist also keine Zeit vergangen, während du dort warst – wenn du wirklich weg gewesen bist!« »Aber das war doch nur mit mir so«, stöhnte Elfrida. »Kannst du denn nicht begreifen...« »Es wäre nicht das geringste inzwischen geschehen, wenn du mich geholt hättest, das weiß ich ganz genau«, unterbrach Edred sie starrköpfig. »Edred«, sagte seine Schwester leidenschaftlich, »manchmal möchte ich dich nehmen und verprügeln!« »Das traust du dich nicht«, sagte Edred. »Ich trau mich nicht?« »Nein!« schrie Edred wütend. Daraufhin blieb Elfrida nichts übrig, als ihm eine Ohrfeige zu geben, aber dann brach sie in Tränen aus. Edred starrte sie einen Augenblick lang an und zog heftig den Atem ein. »Es tut mir ja so leid«, sagte sie schluchzend. »Ja, ach ja«, murmelte er, »es tut mir auch leid – bitte! Aber wir brauchen uns gar nicht zu entschuldigen. Gestritten haben wir uns doch. Jetzt können wir die Tür wieder drei Tage lang nicht finden. Das ist das allerschlimmste.« »Vielleicht macht es nichts«, sagte Elfrida, »wir haben doch keinen richtigen Streit gehabt, so mit: ›Ich bin dir böse bis zum Jüngsten Tag! ‹« »Ich glaube, es spielt keine große Rolle, wie sehr wir uns gezankt haben«, sagte der Junge trübselig. »Weißt du was? Du erzählst mir jetzt alles noch einmal in Ruhe von 137
vorn, und ich will versuchen, dir alles zu glauben. Ich will's wirklich, großes Arden-Ehrenwort!« Also berichtete Elfrida die ganze Geschichte ein zweites Mal, während sie langsam zum Schloß zurückgingen. »Und wohin«, fragte Edred, nachdem sie fast geendet hatte, »wohin hast du den Schmuck getan?« »Ich – sie – er legte ihn in den Eckschrank in der geheimen Kammer«, stotterte Elfrida. »Wenn du mich geholt hättest und nicht bloß so herumgehetzt wärst – nein, ich fange nicht wieder zu streiten an, ich setze dir den Fall nur logisch auseinander, so wie es Tante Edith immer macht! Wenn ich also an deiner Stelle gewesen wäre, hätt ich die Sachen irgendwo vergraben, und dann wäre ich hierher zurückgekommen, und wir hätten sie ausgebuddelt.« »Aber ich habe Betty nichts von den Juwelen erzählt. Vielleicht liegen sie jetzt noch da. Komm, wir sehen schnell mal nach!« »Wenn sie noch da sind«, sagte Edred, »dann glaube ich dir auf der Stelle alles, was du mir erzählt hast!« »Das müßtest du eigentlich schon, wenn es überhaupt ein Geheimzimmer gibt, nicht?« »Vielleicht«, gab er zu, »wir wollen erst mal sehen.« Aber unglücklicherweise war jetzt Mittagessenszeit, und man kann nicht nach der Feder eines uralten Geheimfaches suchen, während ein Rinderbraten mit herrlichem frischen Gemüse auf der Anrichte steht.
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»Wir warten bis nachher«, flüsterten sie sich deshalb zu, als Mrs. Honeysett ihnen auftat. »Sie kochen herrlich«, sagte Edred, als sie beim Erdbeerauflauf angelangt waren. »Und Sie sind dankbare Esser«, erwiderte Mrs. Honeysett lächelnd. »Aber ist heute morgen etwas passiert? Sie sehen beide aus, als ob Ihnen die Bissen im Halse steckenbleiben wollten. Bei den meisten Kindern ist das ein sicheres Zeichen, daß irgendwas los ist.« »Nein, wir haben nichts angestellt«, versicherte Elfrida, »bestimmt nicht! Wahrscheinlich sehen wir so komisch aus, weil wir uns die Haare mit einer nassen Bürste gebürstet haben.« »Ich hab mich heute morgen tüchtig beeilt«, sagte Mrs. Honeysett, »damit ich nachmittags auf einen Sprung zu meiner Schwester kann. Es geht ihr leider nicht gut, der Armen, und vielleicht muß ich ein bißchen länger bleiben. Meine Nichte Emily wird nach Ihnen sehen, ja? Sie ist ein munteres junges Ding, und sie wird Ihnen Tee machen und sich um Sie kümmern.« Es hätte gar nicht besser kommen können! Die Kinder waren überzeugt, daß sie mit Emily leicht fertig werden könnten. Sobald sie allein waren, beredeten sie ihren Plan noch einmal gründlich und beschlossen, Emily zu bitten, sie möchte zum Bahnhof hinuntergehen und sich nach einem Paket für Master Arden oder Miss Arden erkundigen.
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»Und wenn keins da ist«, kicherte Elfrida, »soll sie am besten darauf warten. Wenn wir die Geheimkammer gefunden haben, laufen wir runter und holen sie ab.« »Weißt du«, murmelte Edred nachdenklich, »eigentlich haben wir uns noch nicht sehr angestrengt, um den Schatz zu finden, meinst du nicht auch? Es wäre schrecklich einfach, wenn wir diese Juwelen aus dem Schrank bloß herauszuholen brauchten und sie verkaufen und Schloß Arden wieder so aufbauen könnten, wie es einmal gewesen ist, nicht?« »Ich glaube, wir sollten Tante Edith etwas von dem Schmuck geben. Sie ist so lieb. Was hältst du davon?« »Ja, natürlich. Sie kann sich zuerst aussuchen, was ihr gefällt. Du, ich hab das Gefühl, als ob bald irgendwas geschieht, etwas Wirkliches, nicht in der Vergangenheit, sondern hier in Arden, in dem Jetzt-Arden. Wir sollten uns beeilen, glaub ich.« »Ich halte uns den Daumen, daß wir die Juwelen schnell finden«, sagte Elfrida, »ich halte ihn ganz fest.«
Mrs. Honeysetts bestes Ausgehkleid war leuchtend rot, also in einem Ton gehalten, der auch auf große Entfernungen noch leicht zu erkennen war. Die Kinder blickten ihm nach, bis es hinter einem Hügelkamm verschwunden war, und widmeten sich dann der Aufgabe, mit Emily fertig zu werden. Das war kein Problem, denn 140
der Vorschlag, zum Bahnhof hinunterzulaufen, erschien ihr ungleich verlockender als der Gedanke, Teller abwaschen und die Küche gründlich scheuern zu müssen, womit sie eigentlich den Nachmittag hätte verbringen sollen. Ihr Kleid strahlte in lebhaftem Blau, und das war auch eine gute Farbe. Und jetzt«, rief Elfrida, als der letzte bläuliche Schimmer im Wiesenweg zum Dorf hinunter verschwunden war, »jetzt sind wir allein und können das Geheimnis in Ruhe erforschen!« »Aber wenn nun plötzlich jemand kommt und uns überrascht! Wenn jemand alles entdeckt und uns die Juwelen stiehlt?« wandte Edred ein. »Weißt du was? Wir schließen einfach die Vordertür ab und die Gartentür meinetwegen auch noch«, sagte Elfrida. Gesagt, getan. Aber Edred war noch nicht zufrieden. »Auch die Wohnzimmertür!« schlug er vor. Sie schlossen also auch noch die Wohnzimmertür ab, und Elfrida versteckte den Schlüssel an einem sicheren Ort. »Im Falle eines Notfalls«, wie sie sagte. Sie hatten sich eine Schachtel Streichhölzer und eine Kerze besorgt, und nun war der entscheidende Augenblick gekommen. Elfrida tastete vorsichtig das Paneel nach dem geheimen Eingang ab. »Wie geht die Wand denn auf?« fragte Edred gespannt. »Das werd ich dir gleich zeigen.« Elfridas Stimme klang zuversichtlicher, als sie eigentlich war. Sie wußte zwar, daß eine verborgene Feder vorhanden war, aber sie mußte sie erst einmal finden. Elfrida zog sich einen der hohen 141
Armsessel heran und balancierte waghalsig auf einer Seitenlehne, während sie die geschnitzten Girlanden der Wandfelder nacheinander mit beiden Händen untersuchte. Plötzlich klickte etwas, und die Geheimtür sprang auf. Elfrida hatte gerade noch Zeit zu einem kühnen Sprung auf den Teppich, sonst wäre sie hinuntergestoßen worden. Sie holte tief Atem, kletterte wieder hinauf, schlüpfte in das Loch hinter der Täfelung, und Edred reichte ihr die Kerze. »Wo sind denn die Streichhölzer?« fragte sie. »In meiner Tasche«, antwortete Edred. »Ich denke nämlich nicht daran, dich etwa wieder allein loslaufen zu lassen.« »Dann komm doch!« sagte Elfrida ungeduldig. »Sofort«, sagte Edred und stieg ebenfalls auf den Sessel. »Wie geht sie auf?« Die Tür war halb zugefallen, und der Junge fuhr über das hölzerne Rankwerk, wie er es bei seiner Schwester gesehen hatte. »Komm schon, du Trödelheinrich«, rief Elfrida, »und gib acht!« Aber die Warnung kam zu spät. Als er sich emporreckte, geriet der Sessel ins Wanken, Edred wurde nach vorn geschleudert, griff nach der geschnitzten Leiste, um sich festzuhalten, verfehlte sie und prallte mit seinem ganzen Gewicht gegen die halbgeöffnete Tür. Sie flog mit lautem Knall ins Schloß. Als Edred und der große Sessel zu Boden stürzten, hallte das schweigende Haus von dem lauten Getöse wider.
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Eine schreckerfüllte Pause folgte. Dann trommelte Elfrida mit beiden Fäusten von der Innenseite des Paneels gegen das Holz und rief: »Mach die Tür auf! Hast du dir was getan?« »Ja, aua, ja«, jammerte Edred vom Kaminteppich aus, »mein Bein ist verrenkt, und ich hab eine dicke Beule am Kopf, und überhaupt bin ich ganz schrecklich elend!« »Na schön, mach aber erst mal die Wandverkleidung auf«, befahl Elfrida mitleidslos. Sie stand schließlich im Finstern allein hinter der Geheimtür und fühlte sich auch nicht besonders wohl. »Ich weiß nicht wie«, ächzte Edred, und Elfrida hörte, wie er sich mit viel Lärm und Stöhnen aufrappelte. »Fahr mit den Fingern vorsichtig die Blätter entlang, so wie ich vorhin«, sagte sie. »Es ist das einfachste von der Welt. Du wirst es sofort haben.«
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Der Wohnzimmerschlüssel Elfrida kauerte in der staubigen Finsternis und hielt den Atem an. Was tat Edred eigentlich so lange da draußen? Mittlerweile hätte er doch wahrhaftig Zeit genug zum Aufstehen gehabt! »Warum machst du die Tür nicht auf?« rief sie ungeduldig. Keine Antwort. In dem engen Raum hinter der Wandverkleidung schien die Stille tausendfach stiller zu sein, als sich überhaupt ausdenken ließ. Und stockfinster war es auch. Und Edred hatte die Streichhölzer in seiner Tasche. »Edred! Edred!« schrie Elfrida plötzlich aus vollem Halse. »Warum machst du die Tür nicht auf?« Und diesmal antwortete er: »Weil ich nicht drankomme.« Elfrida stöhnte auf und griff nach ihrem Taschentuch. Als sie die Hand in die Tasche steckte, fühlte sie plötzlich etwas Hartes und Schweres und erinnerte sich daran, daß sie vorhin sicherheitshalber den Wohnzimmerschlüssel eingesteckt hatte, damit er nicht verlorenging. 144
Sie dachte angestrengt nach. »Hör mal«, rief sie schließlich, »es hat gar keinen Sinn, daß ich hier herumstehe. Ich werde versuchen, ob ich nicht zu der Kammer hinaufgehen kann. Wenn ich mich bloß erinnern könnte, ob da ein Fenster war... An deiner Stelle würde ich mir ein Buch nehmen und lesen. Mrs. Honeysett kommt sicher irgendwann zurück.« »Ich kann nur die Hälfte von dem verstehen, was du sagst«, schrie Edred, »du flüsterst so.« »Nimm ein Buch!« rief Elfrida so laut sie konnte. » Lies! Mrs. Honeysett – kommt – irgendwann – wieder – heim – und – hilft dir!« Dann streckte sie mit klopfendem Herzen ihre Arme aus und schob sich den schmalen Gang entlang. Es stimmt alles, dachte sie, die Wandverkleidung ist noch genauso in Ordnung wie damals. Aber wenn nun die Stufen verschwunden sind? Oder wenn sie in Wirklichkeit nie da waren? Vielleicht lauf ich in ein Mauerloch oder irgendwas Ähnliches hinein? Oder vielleicht hört der Weg plötzlich auf, und ich falle in einen Brunnen? Ein jäher Schreckensschauer überfiel sie, und sie tastete mit größter Vorsicht den Boden ab, ehe sie ihre Füße zu einem neuen Schritt aufzusetzen wagte. Die Wände fühlten sich an, als ob sie mit Samt bezogen wären, und mit den Stufen war es genauso. Denn es gab natürlich Stufen. Elfrida stieg sie langsam und mißtrauisch mit ausgestreckten Armen hinauf und stieß schließlich gegen etwas, was eine Tür zu sein schien. Sie strich sachte darüber hin und suchte nach der Klinke, aber die Tür war 145
so lange nicht benutzt worden, daß sie sich nicht öffnen lassen wollte. Elfrida mußte sich kräftig dagegen stemmen, bis sie endlich aufsprang. Und da war nun wirklich der kleine Raum. Er hatte sich nicht verändert seit damals, als sich der Ritter von St. George beim Schein einer Kerze im silbernen Leuchter vor dem Mädchen verneigt und es angelächelt hatte. Jetzt war sie allein, und nur durch ein kleines Fenster über dem Kaminsims, das von dichtem Efeu überwuchert war, brach schwaches Licht. Elfrida schob rasch einen Stuhl vor den Kamin und öffnete das Fenster. Es ging nach innen auf, und es sperrte sich genau wie die Tür dagegen, geöffnet zu werden. Doch schließlich gab es nach. Elfrida griff hinaus und riß ein Efeublatt nach dem anderen ab. Immer mehr Tageslicht strömte herein. Jetzt konnte sie etwas sehen. Sie schaute sich neugierig um. Da standen – dick mit Staub bedeckt – die breiten Sessel, der Tisch, auf den der Ritter von St. George – ach nein, Sir Edward Talbot – damals das Tablett niedergestellt hatte, und da war tatsächlich der Eckschrank, in den er die Juwelen gelegt hatte. Elfrida öffnete die Tür mit einem sonderbaren, aus Hoffnung und Furcht gemischten Gefühl. Der Schrank hatte drei Fächer, aber alle drei waren leer. Während sie die Tür offenhielt, spürte sie eine Unebenheit an der Innenseite, und als sie genauer hinsah, erkannte sie, daß dort ein Name eingeschnitten war. Sie schlug den schmalen Flügel weiter zurück, und als das volle Tageslicht darauf fiel, las sie: ›E. Talbot‹. Damit war bestätigt, daß sich alles, was sie in diesem Raum erlebt hatte, vor zweihundert
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Jahren wirklich zugetragen hatte und kein Zaubertrick vom Muddeltier dahinter steckte. Elfrida kletterte noch einmal auf den Sessel und schaute aus dem winzigen Fenster. Vom Schloß selbst konnte sie nichts sehen, nur den fernen Hügelzug und den Pfad, der zum Bahnhof führte. Sie hätte sich herzlich gefreut, wenn sie eine rote oder blaue Gestalt auf dem Weg zum Schloß entdeckt hätte. Aber keine Menschenseele war zu sehen. Was kann man unternehmen, wenn man in einer Geheimkammer eingeschlossen ist und keine Möglichkeit sieht, in den nächsten Stunden wieder herauszukommen? Elfrida fiel plötzlich der weiße Maulwurf ein. »Wir haben uns ja eigentlich nicht gezankt«, überlegte sie laut, »versuchen könnte ich's also auf jeden Fall...« Und sie machte sich mit Feuereifer daran, eine Beschwörung für das Muddeltier zu entwerfen. Nach geraumer Zeit sah ihr Gedicht so aus: »Der weiße Maulwurf vom Arden-Haus hat feierlich versprochen: Er nimmt vor keiner Not Reißaus. Darauf muß Elfrida pochen! Das Muddeltier hat den Schwur getan und versichert, es würde beizeiten sich nah'n. Jetzt müßte sich's mächtig beeilen. Elfrida will nicht länger weilen hier hinter der Treppe, der steilen!«
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Aber als sie ihr Werk laut aufsagte, geschah nichts. »Ich möchte nur wissen«, sagte Elfrida, »ob es nicht kommt, weil wir uns doch gestritten haben, oder weil ich nur sage, ich möchte raus, ohne daß ich richtig bitte, das Muddeltier soll mir zu Hilfe kommen, oder weil die beiden Strophen nicht gleich lang sind – ich will's lieber noch einmal anders versuchen...« Sie überlegte also weiter und probierte und tüftelte, und schließlich brachte sie eine neue Strophe zustande: »In der geheimen Wandschrank-Kammer sitzt Elfrida voller Jammer und wünscht, sie war zu Haus! Ihr wird hier in dem engen Zimmer bang und bänger, sie ruft immer: Lieb Muddeltier, hilf mir heraus!« Sie sagte das Gedicht auf, und als sie das letzte Wort ausgesprochen hatte, hockte der weiße Maulwurf vor ihren Füßen und blinzelte zu ihr empor. »Lieb von dir, daß du gekommen bist.« Elfrida seufzte dankbar und erleichtert. »Was willst du denn von mir?« fragte der Maulwurf. »Ach – ich – ich weiß ganz genau, daß ich dich eigentlich um gar nichts bitten dürfte... aber ich hab gedacht, du würdest sowieso nicht kommen, wenn es ein richtiger Streit gewesen wäre«, sagte Elfrida, »aber es war doch bloß ein ganz kleiner, und es hat uns gleich danach schrecklich leid getan.« 148
»Du bist wenigstens ehrlich«, antwortete das Muddeltier. »Aber ich muß schon sagen: Diesmal hast du dir eine ganz schöne Suppe eingebrockt!« »Es wäre alles gar nicht so schlimm«, meinte Elfrida, »wenn nur die geheime Tür nicht zugeschlagen wäre. Sonst bliebe ich nämlich ganz gern eine Weile hier. Ist das nicht komisch?« »Ja«, bestätigte der Maulwurf, und dann fuhr er fort: »Wenn ihr euch nicht gezankt hättet, könnte ich dich ohne weiteres in eine andere Zeit expedieren, und zwar einfach in eine, in der die Wandtäfelung offenstünde – dann brauchtest du bloß hinauszuspazieren. Ihr sollt euch eben nicht streiten! Das gibt lauter Scherereien und streut Sand ins Getriebe. Hält das Rad der Uhr an und so was...« »Uhr?« wiederholte Elfrida langsam. »Kann nicht vielleicht die Uhr rückwärtsgehen?« »Ich versteh nicht, wie du das meinst«, sagte der Maulwurf. »Das mußt du mir erklären.« »Ich weiß selber nicht genau, wie ich es meine «, sagte Elfrida, » aber ich dachte an die Gänseblümchen-Uhr. Wenn man sich auf den Sekundenzeiger setzt, dann gibt es keine Zeit mehr, nicht wahr ? Aber dort, wo man nicht sitzt, gibt es massenhaft Zeit. Wenn ich auf der Gänseblümchen-Uhr sitzen könnte, würde die Zeit für mich so lange einfach nicht weitergehen, bis jemand käme, der mich hinausläßt. Aber ich kann ja nicht zu der Gänseblümchen-Uhr, selbst wenn du sie für mich machen würdest. Es hat also gar keinen Sinn.«
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»Du bist ein gescheites Frauenzimmer«, lobte das Muddeltier, »und schließlich müssen nicht alle Uhren auf der Welt aus Gänseblümchen sein. Schieb den Tisch und die Stühle an die Wand! Wir wollen mal sehen, was wir für dich zustande bringen können.« Während Elfrida seine Anordnungen ausführte, richtete sich der weiße Maulwurf auf den Hinterpfoten auf und stieß leise, sanfte Rufe in einer unverständlichen Sprache aus. Sofort kam eine weiße Taube durch das offene Fenster herbeigeflattert, und noch eine und noch eine, immer mehr, bis der ganze Raum erfüllt war mit kreisenden Schwingen und zärtlichem Gurren. Ein Schauer von weichen, silbrig schimmernden Federn stob herab wie Schnee.
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Das Muddeltier verstummte, und die weißen Tauben rauschten schwirrend wieder zum Fenster hinaus, zurück in die blaugoldene Welt da draußen. »Steig auf den Sessel und lauf mir nicht vor den Füßen herum«, befahl der Maulwurf, und Elfrida gehorchte. Mit einemmal wehte ein sanfter Wind durch das Zimmer –ein Wind, so leicht wie der Lufthauch, der an strahlenden Sommervormittagen die Rosenblätter zur Erde schweben läßt. Die weißen Federn auf dem Fußboden wurden aufgewirbelt und zu kleinen Bergen, Strichen und Bögen zusammengetrieben, bis sie auf den staubigen Brettern den Kreis eines Zifferblattes bildeten mit zwölf Zahlen, großem Zeiger, kleinem Zeiger und Sekundenzeiger. Das Muddeltier stand in der Mitte. »Alle weißen Dinge müssen mir gehorchen«, sagte es. »Komm, setz dich auf den Minutenzeiger. Dann bist du im Nu da.« »Wo?« fragte Elfrida und sprang von ihrem Sessel herunter. »Wo? In der Zeit, in der sie das Wandfach aufmachen, natürlich. Laß mich aber erst aus der Uhr heraus. Und gib mir den Wohnzimmerschlüssel, das spart uns später eine Menge Sorgen.« Elfrida ließ sich auf dem Minutenzeiger nieder, und er begann sofort, wie rasend mit ihr im Kreis herumzufahren. Sie saß aber ganz weich und fürchtete sich kein bißchen. Der Zeiger drehte sich so schnell, daß überhaupt keine meßbare Zeit vergangen zu sein schien, als Elfrida sich plötzlich auf dem Fußboden hockend wiederfand und
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Stimmen vernahm und sofort wußte, daß die Geheimtür wieder offenstand. »Siehst du wohl«, sagte sie überlegen, »das war eine gute Idee!« Aber sie bekam keine Antwort, denn das Muddeltier war verschwunden. Als sie aufstand, sah sie weiße Taubenfedern in kleinen verwehten Hügeln auf dem Fußboden liegen. Aber von einem Zifferblatt war nichts mehr zu erkennen.
Edred hatte vom Lesen bald genug. Er fand sein Buch langweilig und zog auf gut Glück ein paar andere Bände aus den Regalen. Aber nicht einer konnte ihn fesseln. Das große, leere Haus war viel zu still, die Uhr draußen tickte viel zu laut – und Elfrida saß eingeschlossen hinter der Wand, und vor den Fenstern waren Eisengitter, und die Tür war abgeschlossen. Der Junge lief ziellos durch das stumme Zimmer, setzte sich der Reihe nach in jeden Sessel, aber keiner war behaglich. Und seine Gedanken waren es erst recht nicht: Wenn sie nun niemals wieder herausgelassen würden – wenn Jahre vergingen –, und wenn er als alter weißhaariger Mann immer noch hier gefangen säße, wie die Leute in der Bastille oder hinter sonst welchen Kerkermauern? Seine Augen füllten sich mit Tränen. Glücklicherweise fiel ihm nicht ein, daß er schwerlich ein hohes Alter erreichen 152
würde, wenn nicht bald jemand käme, da Menschen selten lange ohne Nahrung leben können. Wenn er daran gedacht hätte, wäre er bestimmt noch verzweifelter gewesen, als er's ohnehin schon war. Dann fing er an, darüber nachzugrübeln, ob Elfrida etwas zugestoßen sein könnte. Sie verhielt sich da drin so beängstigend still... Er lief zum Fenster und schaute genau wie seine Schwester hinaus, ob er nicht ein rotes oder blaues Kleid auf dem Hügelweg entdecken könnte. Aber nichts war zu sehen, nichts – nichts. Die Zeit verstrich im Schneckentempo. Schließlich schlief er vor lauter Trübsal auf dem Fensterbrett ein. Er wurde von einer Hand wach, die sich auf seine Schulter legte, und einer Stimme, die seinen Namen rief. Im nächsten Augenblick lag er in Tante Ediths Armen, soweit das mit dem Fenstergitter zwischen ihnen jedenfalls möglich war. Nachdem Edred erzählt hatte, wo Elfrida steckte und was mit dem Zimmerschlüssel war – was eine geraume Weile in Anspruch nahm –, fing er wieder zu weinen an, denn er konnte noch nicht glauben, daß er befreit werden könnte. »Sei kein solches Schäfchen«, sagte Tante Edith. »Wenn wir dich so nicht herausbekommen, lauf ich ins Dorf und hol den Schlosser. Aber sieh mal, was ich mitten auf dem Weg gefunden habe, als ich vom Bahnhof kam.« Sie hielt ihm einen Schlüssel entgegen. Ein kleines Elfenbeinschild hing daran, auf dem stand: ›Wohnzimmertür, Arden‹. »Willst du ihn nicht mal versuchen?« schlug sie vor. 153
Edred probierte den Schlüssel, und er paßte. Der Junge schloß die Wohnzimmertür auf und danach auch die Haustür, damit Tante Edith hereinkommen konnte. Sie holten zusammen eine Trittleiter, fanden die Geheimfeder, öffneten das Wandfach und zogen eine völlig verstaubte Elfrida heraus. Dann machte Tante Edith das Herdfeuer in der Küche an und setzte den Wasserkessel auf, und sie tranken Tee, nach dem sich alle drei schon sehr sehnten. Tante Edith wollte über Sonntag bleiben. Sie fand die Geheimklappe in der Wandverkleidung ebenfalls sehr aufregend, und nachdem Edred auf dem Bahnhof Emily von ihrer vergeblichen Paketjagd erlöst hatte, erkundeten Tante, Nichte und Neffe in aller Gründlichkeit die steile dunkle Treppe und die geheime Kammer. »So viele schöne Taubenfedern!« rief Tante Edith entzückt. »Sie müssen sich seit Jahren hier angesammelt haben.« »Was für ein Glück, daß du den Wohnzimmerschlüssel gefunden hast«, sagte Edred. »Ich möchte bloß wissen, wer ihn auf dem Weg verloren hat. Wo ist denn der andere, Elfi?« »Ich weiß nicht«, erwiderte seine Schwester unsicher. »In meiner Tasche steckt er nicht mehr.« Obgleich Edred und Tante Edith daraufhin sofort jeden Winkel der geheimen Kammer durchstöberten, fanden sie ihn natürlich nicht. Elfrida wußte ja genau, wem sie den Schlüssel gegeben hatte – aber sie schwieg und dachte voll Dankbarkeit an das umsichtige Muddeltier.
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Die drei verbrachten ein herrliches Wochenende. Sie hatten ihren Spaß mit vergnüglichen Spielen – und Tante Edith erzählte von den Mietern und vom Klippenhaus, das Edred und Elfrida bereits unendlich fern gerückt schien. Als sie am Sonntag von der Kirche heimwanderten – wo sich die Kinder große Mühe gegeben hatten, dem Gottesdienst aufmerksam zu folgen und sich nicht allzusehr die Hälse nach den Grabsteinen und Marmorreliefs ihrer Vorfahren zu verrenken –, setzten sie sich auf den ArdenHügel, und Tante Edith versuchte, ihnen die augenblicklichen Verhältnisse ein bißchen zu erklären. Sie erzählte von letztwilligen Verfügungen und Steuern und Einkommen weit mehr, als die Geschwister hätten begreifen können, aber sie genossen es sehr, daß Tante Edith anzunehmen schien, sie könnten solche Erwachsenenangelegenheiten tatsächlich verstehen. Das einzige, was sich schließlich in ihren Köpfen festsetzte, war die Tatsache, daß Schloß Arden nun ihnen gehörte und daß sie zu wenig Geld hätten, um es zu erhalten. Sie müßten schrecklich sparsam sein und könnten sich keine ausgefallenen Wünsche leisten. Tante Edith würde Montag früh wieder in die Welt der Rechtsanwälte und Testamente und Treuhänder zurückkehren, und die Geschwister sollten sich ordentlich betragen und Mrs. Honeysett nicht lästig werden und sich nie, nie, nie wieder einschließen und den Schlüssel dann an sicheren Orten‹ aufbewahren. Später begleiteten sie Tante Edith zum Zug, und auf dem Heimweg sagte Edred: »Es ist wirklich ungeheuer wichtig, daß wir den Schatz finden. Dann können wir das Schloß ohne Schwierigkeiten erhalten. Es müßte natürlich erst 155
einmal wieder aufgebaut sein, ehe es erhalten wird, aber das findet sich schon. Wir dürfen bloß nicht mehr so viel Zeit mit alten Uhren und Alleinlosgehen und so was vertrödeln. Wenn unser Streit genau drei Tage alt ist, müssen wir gleich auf den Boden rennen und das Muddeltier bitten, uns eine Zeit zu schicken, in der wir den Schatz mit eigenen Augen sehen können. Ich denke, das ist eine gute Idee, meinst du nicht auch?« fragte er bescheiden. »Eine ausgezeichnete Idee!« lobte Elfrida. »Ich will auch nie wieder Streit anfangen, wenn ich's vermeiden kann. Aber ich will dir etwas verraten: Man kann das Muddeltier erscheinen und sich von ihm helfen lassen, selbst wenn man sich ein bißchen gezankt hat. Das hab ich ausprobiert...« Und sie erzählte ihrem Bruder ausführlich, was sich in der geheimen Kammer zugetragen hatte. »Aber ich nehme an«, schloß sie ihren Bericht, »daß es nur kommt, wenn man in den allergrößten Schwierigkeiten steckt und eigentlich schon völlig verloren ist...« »Das sind wir jetzt ja nicht«, meinte Edred, »und ich bin verflixt froh darüber.« Elfrida hing ihren eigenen Gedanken nach. »Ich möchte eigentlich gerne wissen«, murmelte sie, »wer jetzt im Haus der Hexe wohnt. Wahrscheinlich ist es längst abgerissen, aber laß uns trotzdem mal hingehen, ja? Ich weiß genau, wo es war.« Sie fanden den Weg ohne Schwierigkeiten, aber als sie zu der Stelle kamen, wo zu Napoleons Zeiten die eingefallene Hütte gestanden hatte, erhob sich da ein kleines schiefergedecktes Haus. Ein blaues Schild an seiner 156
gelben Backsteinwand verkündete, daß hier erstklassiges Ingwerbier und täglich frisches Mineralwasser ausgeschenkt würde. Das Haus sah sehr langweilig aus, und weil sie kein Geld hatten, um sich Mineralwasser zu kaufen, drehten die Kinder um und wollten nach Hause gehen. Plötzlich stand eine alte Frau vor ihnen in einer wollenen, dunkelkarierten Bluse und einer schwarzen Schürze über dem faltigen Rock. Auf ihrem Kopf thronte eine verblichene Männerschirmmütze. »Das alte Gemäuer haben sie also abgerissen«, sagte sie, »das neue Haus scheint ja ganz nett, und drinnen ist es sicher knochentrocken. Früher tropfte Regen durchs Dach, daß man sich genausogut in eine Pfütze unter freiem Himmel hätte schlafen legen können.« Die Geschwister waren stehengeblieben und grübelten darüber nach, wo sie dieser Frau schon einmal begegnet wären. Ihr Gesicht kam ihnen sonderbar vertraut vor. »Die meisten Häuser hier in der Gegend sind heute noch armselige Löcher«, fuhr die Alte fort, »da hat sich wenig geändert. Doch wenn erst Lord Arden den Schatz in die Hand bekommt, dann wird er schon dafür sorgen, daß die armen Leute warm und trocken liegen. Meint ihr nicht auch?« Da wußten die Kinder mit einem Schlag, wer vor ihnen stand, und die Frau wußte, daß sie es wußten. »Oh«, stammelte Edred, »dann sind Sie...« »Ja«, sagte die Alte, »ich bin die Hexe, und ich komme aus abgelebten, längst versunkenen Zeiten hierher. So wie
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ihr zurückgehen könnt, kann ich vorwärtsgehen, denn Einst und Jetzt ist gleich, wenn man weiß, wie die Uhr entsteht.« »Sie können Uhren machen?« fragte Elfrida erstaunt. »Ich dachte, das könnte nur...« »So ist es«, sagte die Hexe. »Ich kann sie nicht machen, aber ich kenne die, die dazu imstande sind. Und ich bin hergekommen, um euch zu treffen, weil ihr mir den Tee und den Zucker gebracht habt. Ihr müßt wissen, daß mir die Gabe der Weissagung verliehen ist: Vergangenheit und Zukunft liegen klar vor meinen Augen. Ich schaute voraus, und ich erkannte euch – und ich blickte zurück und sah, was ihr sucht, und ich weiß, wo der Schatz verborgen liegt...« »Aber wo hast du bloß diese Kleider her?« platzte Edred heraus. Und das war eine Frage, die er später noch bitter bereuen sollte. »Ach, nichts einfacher als das«, sagte die Hexe. »Wenn sich's nur um Kleider handelt, könnte ich auf der Stelle eine Königin im Krönungsstaat sein.« Die Kinder hatten plötzlich den Eindruck, neben dem niedrigen Lattenzaun am Kartoffelacker stünde lächelnd eine Dame in hermelingesäumtem Purpurmantel mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Sie blinzelten erschrocken, aber sie mußten den Glanz von Purpur, Weiß und Gold wohl geträumt haben, denn vor dem Hintergrund des langgestreckten Feldes waren nur die dunklen Kleider der Hexe zu sehen. »Und wie bist du hergekommen?« fragte Edred neugierig weiter. 158
»Meine gescheckte Henne hockt auf dem Zifferblatt«, erklärte die Frau bereitwillig. »Ich habe sie mit einem Kreidestrich eingeschläfert, den ich von ihrem Schnabel aus geradewegs bis ins Wunderland gezogen habe. Wenn sie aufsteht, bin ich wieder dort; hierher kann ich niemals wieder zurückkommen, meine Schätzchen, mehr als einmal geht es nicht. Darum wollen wir uns sputen, damit ich euch zeigen kann, wo der Schatz liegt. Meine Urgroßmutter war nämlich dabei, als er versteckt wurde. Es geschah zu der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war.« Sie eilten den Weg am Steilufer entlang. »Tausendmal«, erzählte die Hexe während des hastigen Laufes, »tausendmal hat meine Urgroßmutter mir haargenau beschrieben: Man geht einfach dort, wo...« Doch plötzlich war keine Hexe mehr da. Edred und Elfrida standen allein auf dem schmalen Weg. Die gefleckte Henne mußte aus ihrem Kreideschlaf erwacht und vom Zifferblatt herabgeflattert sein. »Jetzt ist sie weg, und wir werden es nie erfahren«, jammerte Edred. »Gerade als sie uns sagen wollte, wo der Schatz liegt. Das finde ich wirklich zu blöd!« »Es ist deine Schuld!« rief Elfrida hitzig. »Was mußtest du sie auch nach den albernen Kleidern fragen! Daran liegt es nämlich. Sie hätte uns gut und gerne sagen können, wo der Schatz ist, wenn du nicht die Zeit mit deinem dämlichen Geschwätz über die Kleider vertrödelt hättest. Wenn du doch wenigstens manchmal versuchen würdest, dich wie ein vernünftiger Mensch zu benehmen!«
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»Auch das noch!« rief Edred erbittert. »Jetzt müssen wir wieder drei Tage lang warten, weil du immer gleich zu schimpfen anfängst!« Aber es war zu spät, und sie marschierten in düsterem Schweigen zum Schloß zurück. Am Tor blieb Edred stehen. »Also – wenn du willst, können wir wieder gut sein«, sagte er. »Mir ist gerade eingefallen: Vielleicht sind es drei Tage vom Ende eines Streites angerechnet. « »Ja«, stimmte Elfrida zu, »je länger wir's aufschieben...« »Also gut«, fiel Edred ihr ins Wort: »Wir wollen uns vertragen und nicht unnütz mehr Zeit verschwenden.«
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Die Verschwörung Drei Tage verloren wegen eines törichten Gezänks! Aber drei Tage fliegen rasch vorüber, wenn draußen die Sonne scheint, wenn Ferien sind und ein altes, verfallenes Schloß zum Durchstöbern einlädt. Am zweiten Morgen meinte Elfrida: »Am Ende finden wir den Schatz sogar auf eigene Faust, ohne Muddeltier-Zaubereien und so was. Wir müssen nur gründlich suchen und jeden Stein umdrehen.« »'ne ganze Menge Steine können wir gar nicht umdrehen«, wandte Edred ein und musterte den massigen grauen Hauptturm, dessen Mauern sich schwer und drohend vor ihnen erhoben und den zu besteigen sie sich heute vorgenommen hatten. »Ach, du weißt schon, was ich meine«, sagte Elfrida, »komm nur!« Sie liefen los und kletterten die steilen, ausgetretenen Wendeltreppen hinauf, die sich endlos emporschraubten; Treppen, auf denen Laub und Schmutz und Federn lagen und vertrocknete Nester von Eulen und Dohlen; Treppen, die jäh in blendendem Tageslicht endeten. Sie taten einen letzten großen Schritt und standen auf einer breiten, efeuübersponnenen Plattform, von deren schwindelnder Höhe sie tief, tief hinabblicken konnten zu 161
den Löchern in den festen Wänden, in denen früher die Deckenbalken gesessen hatten, zu alten Feuerstellen, die noch immer vom Rauch längst erloschener Feuer geschwärzt waren, zu Türen und Fenstern von Räumen, die seit langer Zeit schon keine Fußböden mehr hatten – tief, tief hinab bis zu den Farnkräutern und Gräsern und Brombeerhecken, die grün und dicht am Fuße des Turmes wucherten. »War das nicht großartig«, keuchte Elfrida, als sie sich völlig außer Atem und mit puterroten Gesichtern verschnauften, »wenn wir diese Teile wieder aufbauen könnten und alles so aussähe wie damals, als es funkelnagelneu war?« »Weißt du was?« antwortete Edred. »Das nächste Mal wollen wir in eine Zeit gehen, wo das Schloß noch völlig in Ordnung war, und es von allen Seiten zeichnen. Wenn wir dann den Schatz finden, wissen wir gleich, wie wir alles wieder aufbauen müssen, was meinst du?« »Eine gute Idee«, sagte Elfrida, »aber dazu müßten wir erst zeichnen lernen, nicht?« »Das müßten wir natürlich«, gab Edred zu, »aber wenn wir uns anstrengen, kann das doch nicht sehr lange dauern. In der Schule geb ich mir bloß nie Mühe, aber es ist bestimmt puppenleicht. Könnten wir nicht gleich anfangen zu üben?« »Na schön«, sagte Elfrida, »dann laß es uns mal versuchen.« »Aber du mußt mir einen von deinen Bleistiften leihen«, sagte Edred, »denn meiner ist kaputtgegangen, als ich 162
neulich versucht habe, mit ihm das Schloß in der Wohnzimmertür aufzubekommen.« »Kannst du gern haben, wenn du nicht darauf kaust!« sagte Elfrida. Sie holten sich große Bogen Zeichenpapier und mächtige Lederfolianten als Unterlage für die Blätter heraus, und dann begannen sie, Schloß Arden zu zeichnen. Aber weil Elfrida außer dem, was sie sah, auch alles wiederzugeben versuchte, was – wie sie wußte – vorhanden war, verwandelte sich ihr Entwurf rasch in eine unübersehbare Wirrnis von Bleistiftstrichen. Sie hatte keinen Radiergummi, deshalb mußte jeder falsche Strich stehenbleiben, und schließlich hätte beim besten Willen niemand in dem Durcheinander auf ihrem Blatt Schloß Arden erkennen können. Bei Edred war es schon leichter möglich, sogar noch bevor er in großen, krakeligen Druckbuchstaben SCHLOSS ARDEN darunterschrieb. Er hatte seine Augen kein einziges Mal vom Papier gehoben und einfach die Front des Schlosses so gezeichnet, wie sie seiner Meinung nach, von draußen betrachtet, aussah. »Da«, sagte er schließlich. »Es ist viel ähnlicher als deins, findest du nicht?« »Zugegeben«, erwiderte Elfrida, »aber in meinem liegt mehr drin.« »Es ist ganz egal, was in einer Zeichnung drinliegt, wenn man überhaupt nicht sieht, was es sein soll«, bemerkte Edred mit einer gewissen Berechtigung. »Bitte:
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Bei mir kannst du die Türme erkennen und das große Tor und die Fenster und alles.« »Ja, ja«, sagte Elfrida, »aber – ach komm, wir wollen was anderes spielen! Ich glaube nicht, daß du oder ich gut genug zeichnen lernen, um danach Arden wiederaufbauen zu können; sicher nicht, bis wir den Schatz gefunden haben. Vielleicht treffen wir inzwischen einen wirklichen Künstler, einen, der gestern das Schloß gemalt hat – ich meine, gestern in der Vergangenheit. Dann können wir den bitten, es für uns zu zeichnen, und nehmen das Bild mit und...« »Oh!« rief Edred, sprang vor Begeisterung auf und warf ungestüm sein Meisterwerk und den ledergebundenen Folianten auf die Erde. »Ich hab's! Die Box!« »Die Box?« »Ja – die nehmen wir mit und knipsen einfach das ganze Schloß!« »Aber wir können doch keinen Fotoapparat mitnehmen!« »Warum nicht?« fragte Edred. »Du weißt es bloß nicht, aber ich will dir jetzt mal was erzählen: Das erste Mal, als wir uns umzogen, klebte ein bißchen Pflaster in meinem linken Schuh, und als wir dort waren, war es auch drin, und als wir das Gedicht lernen mußten, riß ich es raus und schnickte es aus dem Fenster. Aber als wir zurückkehrten und umgezogen waren und alles, da steckte das Pflaster wieder in meinem eigenen Schuh. Wenn wir Pflasterstückchen mitnehmen können, können wir auch Fotos mitnehmen – ich meine: Kameras.« 164
Diese Beweisführung überzeugte Elfrida, und sie wünschte, sie wäre selber auf den Gedanken gekommen. Aber in ihrem Schuh hatte eben kein Pflaster geklebt! Sie sagte deshalb schnippisch: »Du kommst dir wohl wunder wie gescheit vor, wie?« »Das hättest du dir ja bloß selber gerne einfallen lassen!« spottete Edred. »Ich kann eben manchmal genauso klug sein wie du!« Elfrida antwortete hitzig: »Na, sehr oft gerade nicht...« und dann hielt sie jäh die Luft an. Einen Augenblick sahen sich die Geschwister in die Augen. Dann stießen beide einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Geschafft!« Edred atmete auf. »Gerade noch rechtzeitig«, sagte Elfrida zufrieden. »Es war bestimmt noch kein Streit, niemand kann behaupten, daß es ein Streit war! Komm, wir wollen uns die Häuser im Dorf ansehen, wie's die Hexe uns ans Herz gelegt hat.«
Bei ihren Besuchen an diesem und am nächsten Tag erfuhren sie mehr über das Leben im Gebiet von Arden, als ein Erwachsener in einem ganzen Jahr hätte in Erfahrung bringen können. Sie wußten bald, wieviel ein Familienvater verdiente, was es zum Mittagessen gab, wie viele Kinder lebten und wie viele schon früh gestorben waren. Sie kannten die Stellen der verfaulten Strohdächer, wo bei schlechtem Wetter der Regen durchtropfte, und merkten
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sich, wo der Wind durch die Ritzen der Wände pfiff; die Hexe hätte gewiß Freude an ihrem Eifer gehabt. Wenn sie aber weder die Dorfhäuser besichtigten noch das Schloß durchstreiften, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie gemeinsam die Geschichte von Arden lasen. Sie wechselten sich beim Vorlesen ab, und Elfrida wartete ungeduldig auf eine Erwähnung von Sir Edward Talbot und seinem Anspruch, Ritter von St. George zu heißen. Aber sie fanden nichts, nur einmal wurde ein gewisser Sir Edward Talbot von dem Lord Arden jener Zeit beschuldigt, eine Verschwörung gegen Seine Christliche Majestät, den König Jakob I., angezettelt zu haben. »Ob das mein Edward Talbot war?« überlegte Elfrida laut. »Ich möchte ihn zu gern einmal wiedersehen. Es tut mir eigentlich leid, daß ich ihm nicht erzählt habe, wie viele Jahre nach seinem Tode wir erst geboren sind. Aber es wäre ziemlich schwierig gewesen, ihm das klarzumachen. Laß uns doch mal im Historischen Bilderatlas nachschauen, wie die Leute zur Zeit Jakobs I. ausgesehen haben.« Als die berühmten drei Tage vergangen waren, lag die geheimnisvolle Bodentür, die nach jedem Zank und Streit einfach nicht aufzufinden war, plötzlich klar und deutlich vor den Augen der Kinder. Sie stießen sie auf und liefen gleich zu den Truhen. Möglicherweise gaben ihre Studien im Historischen Bilderatlas den Ausschlag, daß die Geschwister diesmal nach Kleidern suchten, die sie an die Darstellungen aus der Zeit Jakobs I. erinnerten. Edred griff nach weitgeschnittenen Kniehosen, die wie kleine Ballons gepufft waren, dazu gehörten ein hoher, 166
spitzer Hut, ein Schultermantel aus rotem Samt und eine umfangreiche gestärkte Krause, die seinen Hals allerdings sehr eng und unbequem umschloß. Aber er zog doch entschlossen alle diese fremdartigen Sachen an, und wie immer halfen die sanften Taubengeräusche dabei. Seine Schwester steckte bald in einem knappen, miederartigen Oberteil mit engen Ärmeln, in das vorn zu allem Überfluß ein langes, flaches Stück Holz eingenäht war, das sie zwang, sich sehr gerade zu halten, und der Reifrock mit den üppigen Falten war auch recht unbequem. Da Elfrida außerdem ihren kleinen Fotoapparat abwechselnd in jeder Hand fest umklammert hielt, ergaben sich allerhand Schwierigkeiten beim Umziehen, und es dauerte länger als sonst. Doch ohne diese Vorsichtsmaßnahme wäre die Box gewiß »zum Verschwinden verdammt«, wie sich Edred ausdrückte, da stets außer ihren Kleidern alles verschwand, was in ihre Zeit gehörte. Als Edred sich als letztes anschickte, den zweiten Schuh anzuziehen, erzitterten plötzlich die Mauern ringsum in ihren Grundfesten, sie schwankten und neigten sich wie die Blätter eines zusammenstürzenden Kartenhauses; die Dachsparren schoben sich wirr durcheinander wie Streichhölzer, die aus der Schachtel zur Erde fallen, das Ziegeldach schien sich wie ein Kreisel zu drehen, und das sonst so tröstlich durch seine Ritzen schimmernde Tageslicht verschwand in dem beängstigenden Wirbel. Alles vollzog sich mit rasender Geschwindigkeit, aber ebenso unvermittelt, wie es begonnen hatte, hörte es mit einem scharfen Ruck wieder auf –wie ein Uhrwerk stehenbleibt, dessen Feder bricht. 167
Der Dachboden war verschwunden und mit ihm die Truhen, die glasierten Ziegel, die Wände und das dunkle Balkenwerk. Der ganze Raum schien zusammengeschrumpft, und die Kinder fanden sich zu ihrem Erstaunen in einem runden Gemach mit schmalen Fenstern und einem Kamin mit steinernem Rauchfang. Die jähe Verwandlung hatte ihnen den Atem geraubt, sie starrten sich ein paar Minuten lang fassungslos an. »Ich weiß es«, flüsterte Edred heiser, als er wieder genug Luft zum Sprechen hatte, »der Dachboden entstand erst später, als der Turm längst eingestürzt war.« »Aber im Schloß gibt's doch gar keinen richtigen Boden«, wandte Elfrida ein. »Du weißt doch selber, daß wir die Tür nie finden, wenn wir uns gezankt haben, und Mrs. Honeysett weiß auch nichts von einem Boden. Es gibt keinen – das ist es!« »Es muß einen geben!« widersprach Edred. »Wir könnten ihn doch sonst nicht aufsuchen – oder?« »Na, ja«, sagte Elfrida düster, »ich hoffe bloß, daß wir ihn wiederfinden. Und jetzt sollten wir hier rausgehen, meine ich. Es hat keinen Sinn, wenn wir in diesem Loch Wurzeln schlagen.« Sie streckte die Hand nach der Tür aus, aber als sie den eisernen Griff niederdrückte, geschah etwas, was noch viel unangenehmer war als die jähe Hals-über-KopfVerwandlung des vertrauten Dachbodens. Es schien, als würden ihnen Herz und Lunge von einer Riesenfaust zusammengepreßt; sie mußten die Augen schließen, um die Vorstellung ertragen zu können, daß ein 168
schwindelerregender Wirbel sie blitzschnell davonriß. Aber ebenso plötzlich, wie diese lähmenden Empfindungen begonnen hatten, endeten sie wieder, und die Geschwister schlugen ihre Augen in einem Raum auf, den zumindest Edred noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Elfrida allerdings kam das Zimmer bekannt vor. Seine Größe, die Lage der Türen und Fenster, der Kaminsims mit seinen Schnitzereien – all das war ihr vertraut. Nur schien ihr der Raum sonderbar leer zu sein – leerer, als er hätte sein dürfen. Aber wieso kam er ihr leer vor – leerer, als er hätte sein dürfen –, wenn sie nicht wüßte, daß es einstmals anders gewesen war? Wenn sie ihn nicht tatsächlich früher schon einmal gesehen hatte? »Oh, jetzt hab ich's!« rief sie, während sie nachdenklich um sich blickte. »Ich weiß, das ist das Stadthaus von Lord Arden. Hier war ich mit Base Betty. Bloß die hübschen Sessel fehlen und der andere Krimskrams, und außerdem wimmelte es damals von Leuten.« Edred brachte noch immer kein Wort heraus. Mit halb offenem Mund und zugekniffenen Augen schien er sich in einem schlafwandlerischen Zustand zu befinden. Dies hier unterschied sich zu sehr von dem letzten Abenteuer. Bei dem hatte er nur eine Treppe hinunterzusteigen brauchen und war – geheimnisvoll genug – innerhalb von Schloß Arden in einen Raum aus Napoleons Zeiten geraten; aber diesmal war er auf eine gewalttätige und unangenehme Art und Weise nicht nur aus seiner eigenen Zeit in eine längst vergangene, sondern auch von dem ihm vertrauten Schloß in das völlig unbekannte Stadthaus befördert worden.
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Endlich entschloß er sich zum Reden. »Ich mag das nicht«, sagte er nörgelnd, »komm, wir kehren um! Ich mag das nicht. Und wir haben auch nichts geknipst. Und ich mag das wirklich nicht. Meine Kleider kneifen furchtbar, und du solltest bloß wissen, wie du aussiehst! Wie Frau Noah aus der Arche – nur doppelt so dick. Und ich hab keine Ahnung, wo wir eigentlich sind. Ich glaub nicht, daß dies das Stadthaus ist. Und es nützt auch nichts, weil wir trotzdem nicht wissen, in was für einer Zeit wir stecken. Stell dir vor, es wäre gerade Inquisition und sie schleiften uns auf den Scheiterhaufen! Wir wollen ganz schnell zurückgehen, Elfi – hier mag ich nicht bleiben!« schloß er ungeduldig. »Nun laß dir doch mal was in Ruhe erklären«, sagte Elfrida und runzelte unter der sonderbaren Haube, die sie trug, die Stirn. »Ich weiß ganz genau, was ich meine, aber du kapierst ja nie etwas, ehe schon alles läuft!« »Dann sag schon!« murmelte Edred störrisch. »Ja, ja... Also: Selbst wenn es die Zeit der Inquisition wäre, spielte es keine Rolle – wenigstens nicht für uns.« »Woher willst du das wissen?« »Ich hab keine Ahnung, aber ich weiß, daß ich's weiß«, erwiderte Elfrida. »Schließlich war ich doch neulich schon hier. Sieh mal: Es ist ja gar nicht wirklich.« »Wieso nicht?« brauste Edred auf und trat zornig gegen das Tischbein. »Ja, natürlich, so schon... aber... Ach was! Erinnerst du dich noch an die Regenrinne in Earl's Court? Wie wir daran hochgeklettert sind, und was du für Angst hattest?« 170
»Hatt ich gar nicht!« »Doch, doch, du hattest Angst. Und mir selber war auch nicht wohl. Aber da wir einmal angefangen hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuklettern. Ach – gräßlich! Aber als wir's hinter uns hatten, waren wir so begeistert, daß wir gleich noch mal anfingen, und jetzt macht es Spaß, daran zurückzudenken. Dies hier ist genauso, begreifst du das ?« »Nein«, antwortete Edred, »ich kapiere kein einziges Wort. Dies hier ist kein bißchen so wie die Sache mit der Regenrinne, das kannst du mir nicht einreden. Nie!« Elfrida runzelte wieder die Stirn. Später war sie froh, daß sie nicht mehr getan hatte. Wenn es schon gefährlich ist, sich in einem Boot zu zanken, so ist es bestimmt noch viel gefährlicher, Streit in einem Jahrhundert anzufangen, in dem man nicht zu Hause ist! Elfrida seufzte also und wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine kleine dunkle, ärgerlich aussehende Frau in einem braunen Kleid und mit einer komischen Haube auf dem Kopf kam hereingeschossen. »Also hier habt Ihr Euch versteckt!« rief sie. »Und ich kann mir wieder mal die Augen aus dem Kopf suchen! Geschwind zum Umkleiden mit Euch!« »Wozu?« fragte Edred, denn sie packte ihn ziemlich heftig am Arm. »Wozu?« wiederholte sie, während sie ihn hinter sich her aus dem Zimmer zerrte. »Nun, um Euren Vater und Eure Frau Mutter zum Maskenball im Königlichen Palast zu begleiten. Ist Euch das schon wieder entfallen? Und 171
dabei habt Ihr tagelang gebettelt, daß Ihr sie begleiten dürft – in Eurem neuen Weißsamtenen, das so schön bestickt ist, und mit den Diamantenknöpfen Eurer Frau Mutter und dem Seidenmäntelchen und den Schnallenschuhen und dem kleinen Degen und allem...« Die Frau hatte Edred nicht losgelassen und war inzwischen mit ihm bei der Treppe angekommen, als Elfrida sich einmischte. »Kann ich auch mitgehen?« fragte sie gespannt. Die Frau drehte sich um und gab ihr einen kleinen freundlichen Klaps. »Ich hab Euch angekündigt, was geschehen wird, wenn Ihr Eure vorlaute Zunge nicht hütet! Nein, Ihr könnt nicht mitgehen. Junge Damen bleiben daheim und sticken an ihrem Mustertuch. Basta! Ihr werdet noch früh genug zu Hofe gehen.« Elfrida setzte sich hin und schaute zu, wie Edred mit einem weißen Pagenkostüm bekleidet wurde. »Du siehst großartig aus«, stellte sie fest. »Ach, ich wollte, ich war ein Junge!« »Das werdet Ihr bestimmt nicht mehr wünschen, wenn erst die Zeit gekommen ist, da Ihr zu den Hofbällen geht«, sagte die Frau. »Nun, mein kleiner Lord, gebt Eurer alten Amme einen Kuß und betragt Euch gesittet. Und wenn jetzt Eure Frau Mutter kommt, so eilt hinaus und verneigt Euch, wie Ihr's bei Eurem Hauslehrer gelernt habt!« Nun hatte freilich kein Mensch Edred je gezeigt, wie man sich in jenen Tagen verbeugte, aber als jetzt draußen das knisternde Rascheln von Seide zu hören war, brachte er es irgendwie fertig, vor der Dame, die glanzvoll auf ihn 172
zurauschte, eine Aufwartung zu machen, die sich einigermaßen sehen lassen konnte. Elfrida schien es am gescheitesten, neben ihrem Bruder in einen Knicks zu versinken. Gottlob, die Dame lächelte wohlwollend. Sie war wunderschön gekleidet: Ihr Mieder war aus gelber Seide und reich bestickt, ihr Unterkleid aus gestreiftem, feinem Goldstoff, der Rock aus rotem Samt mit Goldstreifen besetzt, und sie erstrahlte im Schmuck köstlicher Juwelen. »Du bist ein anmutiger Page, in der Tat, mein lieber Sohn«, sagte sie. »Nun tritt zur Seite und nimm meine Schleppe auf, wenn wir gehen. Und du, kleine Tochter, sei getrost. Auch du wirst eine Schleppe haben und einen Pagen, der sie dir trägt, sobald du in das gehörige Alter gekommen bist!« Sie schritt davon, und die Kinder folgten ihr. In der Halle wartete Lord Arden, kaum weniger glänzend gekleidet als seine Frau; sie stiegen in eine breite Kutsche und rollten davon. Elfrida sah ihnen nach und kam sich ein bißchen wie Aschenputtel vor. Aber sie ließ den Kopf nicht lange hängen, sondern ging die Treppe wieder hinauf, als der Wagen mit Edred in Nebel und Regendunst verschwunden war – denn es herrschte alles andere als strahlendes Sommerwetter. Sie lief zu dem Zimmer zurück, in dem sie vorhin mit der alten Kinderfrau gewesen war, da sie nicht wußte, wohin sie sonst hätte gehen sollen. »Setzt Euch nur nieder«, forderte die Amme sie auf, »und näht an Eurem Sticktuch.« Dabei deutete sie auf einen großen, schön polierten Holzrahmen, in den die Arbeit ordentlich eingespannt war. 173
»Ich wünschte, ich brauchte mich damit nicht auch noch zu plagen«, sagte Elfrida und betrachtete ängstlich die feinen seidenen Fäden. »Tz, tz, tz«, machte die Amme mißbilligend, »wie wollt Ihr eine vornehme Dame werden, wenn Ihr nicht die Nadel führen lernt?« »Aber ich möchte mich lieber mit dir unterhalten«, schmeichelte Elfrida. »Ihr könnt ohnehin besser plaudern als nähen«, sagte die Kinderfrau, »das weiß ich zu meinem Kummer längst. Ach, flöge Eure Nadel doch je so schnell wie Eure Zunge! Setzt Euch nur nieder, und wenn Ihr bis zur Mittagsstunde das Muster vollendet habt, werdet Ihr Erlaubnis erhalten, Euren Vetter Dick zu sehen.« Elfrida seufzte noch einmal und nahm widerwillig die Nadel zur Hand. Puh, war das mühsam! Ihre Augen begannen bald zu brennen, und sie atmete auf, als die Amme nach einer kleinen Weile abgerufen wurde. Erleichtert ließ sie die Arbeit sinken. Sie fand, es hätte wenig Zweck, an einer Stickerei herumzupfuschen, die sie doch nicht fertig bekäme – und die auf jeden Fall viele, viele Jahre bevor sie überhaupt auf die Welt kam, schon zerschlissen sein würde. – Die Elfrida, die an diesem Tuch arbeitet, ist genauso alt wie ich und sicher am gleichen Tag geboren, dachte sie und überlegte, was für ein Tag in was für einem Jahr das sein mochte. Sie grübelte immer noch daran herum und stach die Nadel müßig in das dünne Gewebe und zog sie wieder heraus, ohne den Seidenfaden durchzuholen, als Lärm auf 174
der Treppe ertönte. Die Tür flog auf, und ein vergnügter Junge etwa ihres Alters kam hereingestürmt. »Bist du mit deiner Arbeit fertig?« rief er. »Ich bin's mit meiner auch. Die alte Papageiennase hat mich nicht schlecht drangsaliert, doch ich dachte an dich und gab mir viel Mühe. Jetzt sind wir frei. Komm, wir wollen im Garten Ball spielen !« Das mußte Vetter Dick sein, und Elfrida wußte sofort, daß sie ihn sehr gern mochte. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten. Sie spielten zwischen gestutzten Büschen und steinernen Bänken, zwischen glitzernden Springbrunnen und Marmorstatuen Verstecken. Ganz in Schwarz gekleidet erschien sehr bald Mr. Parados, Vetter Richards Hauslehrer. Er ließ sich auf eine Bank nieder und beobachtete die Kinder; eine Weile spazierte er auch die mit Steinplatten belegte Terrasse auf und ab, wobei er seinen Daumen in ein langweilig aussehendes Buch klemmte, und als die beiden Kinder sich auf einer Marmorbank verschnauften, schlich er sich hinter sie und lauschte. Und damit fing das Unglück an. Elfrida erinnerte sich nämlich plötzlich an die Gedanken, die ihr beim Sticken durch den Kopf gezogen waren, und fragte: »Sag mal, Vetter Richard, was für ein Tag ist heute?« Es war der fünfte November. »Wirklich?« antwortete sie vergnügt. »Dann ist ja GuyFawkes-Tag. Hast du Raketen?« Unbeschwert summte sie vor sich hin:
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»Die Pulververschwörung – als Tat der Empörung am fünften November gedacht – glüht als Fanal in der Nacht. Verrat droht – habt acht! Steht auch in Zukunft auf Wacht!« »Das ist kein heiteres Lied«, sagte der Junge, »und auch kein ungefährliches. Du solltest nicht von Verrat singen.« »Aber es hat doch nicht geklappt, und zum Schluß wird er immer verbrannt«, wandte Elfrida ein. »Gibt es denn noch mehr Strophen?« fragte Vetter Richard. »Nein.« »Von welchem Verrat ist denn in dem Lied die Rede?« fragte der Junge. »Weißt du das nicht?« Das war der Augenblick, in dem Elfrida den Fehler beging, mit ihren Geschichtskenntnissen zu protzen. »Ich weiß es aber! Und ich kenne auch ein paar Namen der Verschwörer und wen sie umbringen wollen und alles.« »Erzähl mir doch«, sagte Vetter Richard gleichgültig. »Der König war nicht gerecht zu den Katholiken, weißt du«, begann Elfrida, die beinahe vor Wichtigkeit platzte, »und deshalb beschlossen viele, ihn und auch die Lords vom Parlament zu töten. Sie zettelten also eine Verschwörung an, und manche behaupten, Lord Arden gehörte auch dazu, aber das stimmt nicht. Einige sollten zum Schein eine Jagdpartie unternehmen und die 176
Prinzessin Elisabeth ergreifen und sie zur Königin ausrufen, und die übrigen sollten das Parlament in dem Moment in die Luft fliegen lassen, in dem es der König eröffnete.« »Diese Geschichte hat mir mein Lehrer nie erzählt«, sagte Vetter Richard lachend, »fahr fort, Kusine!« »Ja, gern. Mr. Piercy mietete ein Haus neben dem Parlament, und dann gruben sie einen Geheimgang bis zu den Gewölben unter dem Parlament und schafften drei Fässer mit Schießpulver dorthin. Sie würden alles in die Luft gesprengt haben, wenn Mr. Tresham nicht einen Brief an Lord Monteagle, mit dem er verwandt war, geschrieben hätte. Darin stand, daß sie den König umbringen wollten und...« »Welchen König?« fragte Vetter Richard. »König JakobI.«, erwiderte Elfrida, »wieso? – Was...« stammelte sie, denn Vetter Richard war entsetzt aufgesprungen, und die alte Papageiennase packte Elfrida am Handgelenk. »Nun, Miss Arden«, sagte er honigsüß. »Von wem hörtet Ihr denn diese hübsche Historie?« »Wo sind wir denn jetzt?« keuchte Elfrida, der etwas zu dämmern begann. »Hier im Garten, wo sonst?« antwortete Vetter Dick, der überhaupt nichts zu begreifen schien. »Hier, in meinem Gewahrsam!« rief der Lehrer, der fest überzeugt war, alles verstanden zu haben. »Und jetzt nennt mir genau jeden Namen, jede Einzelheit – oder es wird um Euch und Euren Vater schlecht bestellt sein!«
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»Ich bitt Euch, Herr«, sagte Vetter Richard ärgerlich, »warum erschreckt Ihr meine Base? Es ist doch nur eine Legende, die sie mir erzählte. Sie hat stets allerlei Kurzweil im Sinn.« »Das ist eine Legende, die sie vor Mächtigeren als mir wiederholen wird«, bestimmte der Lehrer auf eine höchst unangenehme Art und schloß seine Hand eisern um das Handgelenk des erschrockenen Mädchens. »Aber – aber – es ist doch historisch!« rief Elfrida verzweifelt. »Es steht in allen Büchern!« »In welchen Büchern?« fragte er barsch. »Ich weiß nicht... in allen«, antwortete sie niedergeschlagen; niedergeschlagen, weil sie plötzlich ahnte, wohin sie ihre ungewöhnlichen Geschichtskenntnisse und der unbedachte Wunsch, ein bißchen vor dem Vetter Dick anzugeben, geführt hatten. »Also«, befahl der Lehrer ungeduldig, »nun nennt mir ohne Verzug die Namen der Verschwörer!« Elfrida überlegte schnell, daß es eigentlich keinen Schaden anrichten könne, wenn sie diesem Befehl nachkäme. Dies war die Zeit von Jakob I., und wenn sie auch jetzt darin lebte, so war doch gleichzeitig alles dreihundert Jahre her. Wenn sie etwas sagte, war alles längst geschehen. Nichts war mehr zu ändern, und so konnte sie wohl unbesorgt die Namen aufzählen, die ihr bekannt waren. Der Lehrer schüttelte das Mädchen heftig. Elfrida duckte sich und hörte sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen: »Ich denke nicht daran, und es kümmert mich nicht, was Ihr mit 178
mir tun wollt. Es tut mir leid, daß ich überhaupt den Mund aufgemacht habe. Ich hab das alles nur so aus Spaß dahergeschwatzt, ich meine: Es ist ja bloß Geschichte, und Ihr solltet Euch schämen, daß Ihr gelauscht habt!« Dann kam ein ziemliches Durcheinander: Elfrida kochte vor Zorn, und bei so einem Wutanfall verwirren sich die Dinge leicht. Aber soviel steht fest: Der Lehrer führte sich ganz fürchterlich auf, verdrehte ihr die Handgelenke, um sie zum Reden zu zwingen, und sie schrie und versuchte, ihn zu treten. Vetter Richard schrie zwar nicht, aber dafür schlug er nach seinem Lehrer. Und schließlich wurde Elfrida ins Haus geschleift und in einem fensterlosen Gemach eingesperrt. Wenn Edred bloß hier wäre, dachte sie unter Tränen der Wut und Erniedrigung, dann könnten wir das Muddeltier bitten, daß es uns hier herausholt. Wenn er nur erst hier wäre!
Aber als ihr Bruder endlich kam, waren Lord und Lady Arden natürlich dabei. Sie fanden ihr Haus von bewaffneten Soldaten besetzt, und in der kleinen düsteren Kammer hockte ein blasses, vom Weinen völlig erschöpftes Mädchen, das immer wieder versicherte, alles sei nur ein Spaß gewesen, alles sei doch Geschichte, und sie hätte es gar nicht sagen wollen – wirklich, niemals! Lady Arden schloß Elfrida in die Arme und hielt sie trotz
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des prächtigen Staatskleides und der Juwelen fest und liebevoll umschlungen. »Du hast kein Unheil angestiftet«, tröstete Lord Arden, »ein törichtes Märchen! Morgen werde ich Lord Salisbury sehen und ihm den Star zu stechen wissen. Geh nur zu Bett, meine Liebe«, wandte er sich an seine Frau, »und behalte unsere kleine Tochter bei dir, damit sie sich beruhigt. Morgen wird Haus Arden wieder frei sein, und wir werden darüber lachen, daß sich ein sauertöpfischer Störenfried aus einem Namen oder zweien und den Phantasien eines Kindes eine Staatsaffäre zurechtgezimmert hat. Morgen nacht wird alles wieder in Ordnung sein.« Doch am nächsten Abend lagen Lord Arden, seine Frau und seine beiden Kinder nicht in ihren Betten in Haus Arden in London, auch nicht im Schloß zwischen den Hügeln am Meer, sondern im Tower, dem gefürchtetsten Staatsgefängnis Englands. Sie waren des Hochverrats angeklagt und sollten im Kerker ihren Prozeß erwarten. Denn Lord Salisbury war zu den Gewölben unter dem Parlament hinabgestiegen und hatte dort Guy Fawkes gefunden, den Glücksritter mit den dunklen Augen, einer dunklen Laterne und sehr dunklen Plänen. Die Namen der Verschwörer waren bekannt geworden, und König Jakob samt den Mitgliedern der Regierung wurden gerettet. Aber die Adligen, die sich gegen ihn erhoben hatten, sahen sich der Folter und dem Schafott ausgeliefert. Natürlich wurde diese Lawine von Schuld und Qual nicht ausgelöst, weil ein kleines Mädchen im Park von Schloß Arden unbesonnen ein paar Liedzeilen vor sich 180
hingesummt hatte, aber Elfrida fühlte sich doch unsäglich bedrückt. Sie sagte sich zwar immer wieder, daß all diese Dinge sich weit vor ihrem eigenen Dasein ereignet hatten – mehr als dreihundert lange Jahre waren seither im Brunnen der Zeit versunken! –, und doch kam sie sich in der dickwandigen Kerkerzelle des Towers wie eine Verräterin vor.
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Die Gefangenen im Tower Nun kamen sonderbare Tage für Elfrida. Sie mußte Lady Arden bedienen und an ihrem Stickmustertuch weiternähen, das die alte Kinderfrau vorsorglich mit ihren und ihrer Mutter Kleidern eingepackt hatte, aber sie durfte nicht spielen und höchstens einmal ein paar Schritte auf einer schmalen Terrasse tun, wo verdorrte Blumenstengel aus kärglichen Beeten starrten. Sehnsüchtig sah sie zur Themse hinunter, auf der schwerfällige Schiffe dahinzogen, und wälzte immer neue Pläne, wie sie und Edred wieder in ihre eigene Zeit und nach Arden zurückkommen könnten, wo nichts Aufregendes, nichts Romantisches und nichts Gefährliches geschah, wenn sie den Dingen nur ruhig ihren Lauf ließen und sich nicht auf geheimnisvolle Muddeltier-Zaubereien einließen. Aber wo war Edred jetzt? Wie ging es ihm? Edred war mit Lord Arden und verschiedenen andern Edelleuten im Weißen Turm untergebracht, und es ging ihm nicht schlecht. Er durfte sogar im Garten des Kommandanten spielen. Aber dazu hatte er wenig Lust. 182
Alle seine Gedanken drehten sich nur um das eine: Er wollte Elfrida finden und nach Arden zurückkehren. Der erzwungene Aufenthalt im Tower trieb ihn zur Verzweiflung. Er mußte sich so viel gesitteter betragen, als er gewohnt war, er mußte ›Sir‹ und ›Madam‹ sagen und durfte nicht sprechen, bevor er gefragt wurde, und dabei schien ihm gerade jetzt die ganze Welt von tausend interessanten Dingen zu bersten. Glücklicherweise traf er eines Tages jemanden, der gern bereit war, seine vielen Fragen zu beantworten. Als er nämlich an einem strahlenden Wintermorgen in dem kleinen Garten des Kommandanten umherschlenderte, sah er plötzlich einen prächtig gekleideten Herrn auf sich zukommen. Die meisten Edelleute, die damals im Tower gefangen saßen, waren der Meinung, ihre ältesten Sachen seien für das Gefängnis gerade gut genug, deshalb überwältigte Edred der außergewöhnliche Anblick geradezu, und ehe er sich noch auf die Regel besinnen konnte, daß ein gut erzogenes Kind schweigen soll, bis es angesprochen wird, hatte er sich schon verneigt und gegrüßt: »Euer Diener, Sir.« Freimütig setzte er hinzu: »Ihr seht einfach fabelhaft aus!« »Wie meinst du?« fragte der Edelmann. »Ach... ich...« stotterte Edred, »ich wollte sagen, wie prächtig Ihr ausseht!« Der alte Herr lächelte. »Du schmeichelst, mein Junge«, sagte er freundlich. »Ich meine Eure Kleider«, erwiderte Edred, und da ihm der Schreck in die Glieder fuhr, weil er jäh begriff, daß er 183
sich ungehörig benommen hatte, fügte er hastig hinzu: »Euer Gesicht ist natürlich auch großartig, bloß... Ich habe gelernt, man dürfe den Leuten nie sagen, sie wären schön. ›Ein Lob aufs Gesicht gehört sich nicht‹, predigt Mrs. Honeysett immer.« »Ein Lob auf mein Antlitz ist keine Schande«, sagte der Edelmann, »im Gegenteil, in diesen Mauern ist es eine sehr ergötzliche Abwechslung.« »Habt Ihr heute Geburtstag?« fragte Edred. »Nein«, antwortete der alte Herr lächelnd. »Wie kommst du darauf?« »Weil Ihr so ausseht«, erklärte Edred. »Aber vielleicht seid Ihr ein Prinz?« »Keineswegs«, sagte der Kavalier. »Ach, dann weiß ich«, fuhr der Junge fort, »Ihr werdet heute freigelassen und habt Eure besten Kleider für den Heimweg angezogen. Das freut mich! Das heißt – mir tut es natürlich leid, daß Ihr geht, aber ich freu mich für Euch!« »Das ist lieb von dir«, sagte der Edelmann, »aber du irrst. Ich bin gefangen und werde es wohl sehr lange bleiben... Und was diesen Flitter angeht«, er wölbte die Brust, daß seine Diamantknöpfe und die Nadel am Spitzenkragen in der kalten Wintersonne funkelten, »niemand soll sagen können, daß Walter Raleigh im Schatten des Kerkers sich gehenlassen hat.« »Ohh!« rief Edred. »Ihr seid Sir Walter Raleigh? Das ist ja großartig! Ihr müßt mir von Südamerika erzählen und von den Seegefechten und der Armada und den Spaniern 184
und was Ihr gespielt habt, als Ihr noch ein kleiner Junge wart!« »Oje«, schmunzelte Sir Walter. »Na, ich kann genug spannende Geschichten zum besten geben, wenn man mich nicht daran hindert, mit dir zu plaudern. Wenn ich nur den Fluß sehen könnte«, unterbrach er sich und sah sich ungeduldig um, »und die ein- und ausfahrenden Schiffe – Schiffe, die hinunter zu den großen Meeren ziehen...« Er seufzte und schwieg einen Augenblick. Schließlich sagte er: »Und du hast deinen alten Freund Raleigh nicht erkannt? Er ist schon vergessen – schon vergessen. Dabei bist du dereinst auf diesem Degen hier geritten, und ich habe mit dir im Schloßhof von Arden gespielt. Doch wenn schon England so rasch vegißt, wie kann man von einem Kind mehr erhoffen?« »Es tut mir leid«, sagte Edred beschämt. Sir Walter lächelte und kniff ihn zärtlich ins Ohr. »Es ist zwei Jahre her, und kurze Jahre haben kurze Erinnerungen. Jetzt sollst du mit mir kommen, und ich werde dir eine Karte und einen Plan von Windargocoa zeigen, das Ihre teure ruhmreiche Majestät mir in Virginia umzubenennen gestattete.« Edred ging beglückt und stolz Hand in Hand mit Sir Walter Raleigh in dessen Kammer. Dort durfte er eine Menge fremdartiger Gegenstände aus Übersee betrachten, und Sir Walter erzählte ihm dabei von seinen Reisen und Abenteuern und wie er und seine Freunde ihre Spielzeugschiffe im Long Stream hatten segeln lassen und wie sie unten im Hafen zwischen den mächtigen Schiffen umhergerudert waren und zu den großen Galionsfiguren 185
emporgestarrt und wie sie sich über die Schiffe unterhalten hatten und über die fernen Länder, aus denen sie kamen. »Und oft«, sagte Sir Walter lächelnd, »oft begegneten wir einem Seekapitän, der uns Reisegeschichten erzählte, wie ich jetzt dir. Wir ließen unsere kleinen Boote dahinziehen, und später stachen wir mit unseren großen Schiffen in See, und jetzt liege ich hier im Dock und werde nie wieder über die Sieben Meere fahren. Wenn ich wenigstens die Moore von Devon wiedersehen könnte und den Silberlauf des Long Stream! Doch selbst das wird mir nicht mehr vergönnt sein!« Er stützte seinen Arm aufs Fensterbrett, und wenn er nicht der berühmte Seefahrer und Held gewesen wäre, der in allen Geschichtsbüchern abgebildet ist, hätte Edred gedacht, daß er weinte. »Ach – faßt nur Mut, ich bitte Euch!« sagte der Junge unbeholfen. »Ich weiß jetzt nicht, ob sie Euch nach Devonshire gehen lassen, aber ich weiß ganz bestimmt, daß sie Euch irgendwann gestatten, nach Amerika zurückzukehren. Mit zwölf Schiffen. Ich habe das gestern erst gelesen, und Euer Schiff wird ›Destiny‹ heißen, und Lord Arden wird Euch an Bord begleiten und zum Abschied küssen und Euch eine Münze zum Andenken schenken. Euer Sohn wird mit Euch gehen. Ich weiß ganz verläßlich, daß das alles stimmt. Es stand in dem Buch.« »In dem Buch?« fragte Walter Raleigh. »Wohl eine Prophezeiung?« »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr's so nennen«, antwortete Edred vorsichtig, »aber auf jeden Fall ist es wahr.« Er fühlte sich seiner Sache völlig sicher, denn er hatte alles in der ›Geschichte von Arden‹ gelesen. 186
»Wenn es sich wirklich als Wahrheit erweisen sollte«, begann Sir Walter, und beim Sprechen stieg wieder ein Lächeln in seine Augen, »und wenn ich jemals wieder in den Goldenen Westen segeln werde, will ich verdammt sein, wenn ich dir nicht eine goldene Halskette und blanke Dublonen mitbringe – einen stattlichen Sack voll!« »Vielen herzlichen Dank«, sagte Edred höflich, »das ist sehr freundlich von Euch; aber dann werde ich nicht mehr hier sein.« Und mit allen Fragen brachte Sir Walter nicht aus ihm heraus, wie er das wissen konnte und was er damit meinte.
Die Wochen gingen gleichförmig dahin, und eines Tages erinnerte sich die Königin an Lady Arden und beschloß, sie und ihren Sohn Edred zu begnadigen. Sie teilte diesen Wunsch dem König mit, und der König sagte es Lord Sowieso, der den Befehl an den Kommandanten des Towers weitergab, und siehe da: Unversehens wurden Lady Arden und Edred in ihrer eigenen Kutsche wieder heimgeschickt. Elfrida mußte jedoch zurückbleiben, weil sie das Lied vom fünften November gesungen hatte. Sie wurde der Frau des Kommandanten in Obhut gegeben und durfte zuweilen Lord Arden besuchen, den sie sehr liebgewann. Er ähnelte sonderbarerweise ihrem eigenen Vater, und auch er schien die kleine Tochter immer inniger ins Herz zu schließen.
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»Du bist eine mutige kleine Person«, sagte er einmal, »und deine Kühnheit wächst mit jedem Tag. Hast du keine Angst, daß dein Vater dich strafen wird, weil du ihm so kecke Antworten gibst?« »Nein«, antwortete Elfrida und fiel ihm um den Hals, so gut das mit der steifen Spitzenkrause möglich war. »Ich weiß ganz genau, daß du mich nicht schlagen wirst.« Und während sie sich an ihn schmiegte, hatte sie fast das Gefühl, ihren eigenen Vater zu umarmen, der niemals wieder nach Hause kommen würde, und sie war beinahe glücklich. Sie wußte aus der ›Geschichte von Ardem, daß der Lord nicht bestraft, sondern lediglich von Hofe verbannt werden und sein Leben friedlich im Schloß am Meer beenden würde, und sie erlag fast der Versuchung, alles laufen zu lassen, wie es lief. Dann könnte sie bei ihrem neuen Vater bleiben, der vor dreihundert Jahren gelebt hatte, könnte zärtlich zu ihm sein und würde von ihm geliebt und behütet werden – das müßte schön sein. Aber Edreds wegen war das natürlich ausgeschlossen. Wenn sie nur endlich wüßte, wie es ihrem Bruder ging! Ob er glücklich oder unglücklich war?
Wenn Edred hätte antworten können – er war nichts von beidem. Er fühlte sich allerdings recht unbehaglich. Denn Mr. Parados unterrichtete die beiden Jungen nach wie vor. Er stand in hoher Gunst beim König, weil er seine lange Nase in Dinge gesteckt hatte, die ihn nichts angingen, und 188
sie dort weitererzählt hatte, wo sie größtes Unheil anrichteten. So etwas befriedigte Jakob I., und Lady Arden durfte nicht wagen, den Hauslehrer zu entlassen. Sie war ohnehin krank vor Kummer und Sorge und ließ sich auch nicht durch Edreds Beteuerungen beruhigen, der sie immer wieder tröstete: »Vater wird nicht wegen Hochverrats angeklagt! Sie werden ihn nicht hinrichten! Er wird nach Arden zurückgeschickt und kann in aller Seelenruhe mit Euch leben. Bloß an den Hof darf er nicht mehr. Ich hab das alles in einem Buch gelesen! Glaubt mir nur!« Lady Arden hörte jedoch nicht auf zu weinen, und Mr. Parados führte ungehindert sein strenges Regiment. Er strafte seine Zöglinge, wo er nur konnte, und Edred sagte zu seinem Vetter: »Ich kann nicht mehr sehen, wie er um uns herumschleicht. Mit dem möchte ich gründlich abrechnen, ehe ich gehe. Und das werd ich auch tun, er soll sich wundern!« »Ehe du gehst? Wohin?« fragte Vetter Dick erstaunt. »Elfrida und ich gehen wieder weg und...« begann Edred, doch dann fiel ihm ein, wie sinnlos es war weiterzusprechen. Denn selbst wenn er mit seiner Schwester verschwand, so würden doch Edred und Elfrida von 1605 an ihrer Stelle da sein, vorausgesetzt, daß... Er überflog in Gedanken alle Probleme, zu deren Lösung er im Augenblick keine Zeit hatte, und fuhr in einem entschiedenen Ton fort, der neu an ihm war: »Aber – nun ja, zuvor muß ich zweierlei erledigen: mit der alten Papageiennase abrechnen und Elfrida aus dem Tower holen...« 189
Die beiden Jungen hockten auf dem Dach, mit dem Rücken an einen Schornstein gelehnt und die Augen der Falltür zugewandt, die den einzigen Zugang zu ihrem Zufluchtsort darstellte. Es war bitterkalt, der Nordwind pfiff um die Ecken, aber sie waren heraufgeklettert, weil sie sich hier vor Mr. Parados sicher fühlten. »Aus dem Tower holen?« Richard lachte auf. »Wenn das so einfach wäre!« »Wir können es wirklich«, sagte Edred überzeugt. »Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, und ich weiß, wie es möglich ist. Aber du mußt mir helfen, Dick. Du und ein Erwachsener.« »Ein Erwachsener?« frage sein Vetter. »Ja, und ich denke an unsere Kinderfrau. Ich werd schon herausbekommen, ob ich mich auf sie verlassen kann.« »Auf sie verlassen?« wiederholte Dick. »Natürlich! Sie würde alles für uns Ardens tun, und sie würde sich eher totschlagen lassen, ehe sie etwas verriete!« »Gut, dann ist das in Ordnung«, sagte Edred. »Was hast du denn für einen Plan?« erkundigte sich Dick, und er lachte nicht bei der Frage, obwohl er nahe dran war. Edred sah so klein und hilflos aus, wie er da neben ihm hockte, und welche Festung des Schreckens war der Tower! »Ich will Elfrida herausholen, wie's Lady Nithsdale mit ihrem Mann gemacht hat«, erklärte Edred. »Es ist ganz einfach, man muß nur Bescheid wissen, wann die Wache abgelöst wird.«
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»Wie hat denn Lady Nithsdale ihren Mann befreit? Und von wo?« fragte Richard. »Na, aus dem Tower natürlich, du weißt doch«, begann Edred, doch dann fiel ihm ein, daß Dick diese Geschichte nicht kannte und auch nicht kennen konnte, weil Lord Nithsdale noch gar nicht aus dem Tower befreit, ja noch nicht einmal dort eingeliefert, ja – soweit Edred zu wissen glaubte – noch nicht einmal geboren war. Ihm wurde heiß, und er fuhr eilig fort: »Laß nur, es spielt keine Rolle. Ich werde es dir schnell erzählen«, und er berichtete in großen Zügen von der List der tapferen Edelfrau. Darüber sank die Dämmerung nieder. Im Haus wurden die Lichter angezündet, und die offene Falltür verwandelte sich in ein goldenes Quadrat. Ein plötzlich auftauchender Schatten in dem schimmernden Viereck warnte Dick. Er kniff Edred heimlich in den Arm. »Komm«, sagte er laut. »Wir wollen uns wieder unseren Studien widmen. Tugendhafte Schüler handeln in der Abwesenheit ihres Lehrers stets so, als sei er bei ihnen; und mir ist auch so, als ob der unsrige gegenwärtig wäre...« Daraufhin verschwand der dunkle Umriß in Windeseile, und die beiden Jungen, von verhaltenem Gelächter nur so geschüttelt, stiegen ebenfalls hinab. Beim Licht zweier schwelender Talgkerzen in massiven Silberleuchtern machten sie sich an ihre Schulaufgaben. Am folgenden Tag bestürmte Edred die alte Kinderfrau so lange, bis sie ihn zum Königlichen Hof begleitete, und dort gelang es ihm tatsächlich, von der Königin empfangen zu werden, die Lady Arden nach wie vor zugetan war. Sie 191
gewährte ihm huldreich die Bitte, seinen Vater und seine Schwester im Tower besuchen zu dürfen, und gab ihm ein Schreiben mit, das den Kommandanten des Towers anwies, Master Edred Arden, Master Richard Arden und einer Begleitperson Zutritt zum Gefängnis zu gewähren. Am anderen Morgen war es bitterkalt, und am Spätnachmittag begann es leise und gleichmäßig zu schneien. »Um so besser«, murmelte die alte Kinderfrau. Die Wache am Eingang zum Tower wurde stets mit Beginn der Abenddämmerung abgelöst, und eine Viertelstunde vor dieser Zeit hielt Lady Ardens Kutsche vor dem großen Tor. Eine alte Kinderfrau mit Halskrause und Haube und in einem weiten roten Mantel kletterte umständlich heraus und half zwei jungen Herren beim Aussteigen. Der eine – in Schwarz mit einem eichhörnchenfellbesetzten Mantel – war Edred, und der andere – in grauem Samt mit Marderpelz –war Richard. Der Kommandant wurde herbeigerufen. Er las die Genehmigung der Königin, nickte Edred freundlich zu, und alle drei durften eintreten. Während sie den Hof zum Weißen Turm überquerten, fiel der Schnee dicht und weich auf ihre Mäntel und fror daran fest in der schneidenden Kälte, und die Amme murmelte wieder: »Um so besser, um so besser!« Als sie Lord Ardens Zelle betraten, war Elfrida gerade bei ihm. Sie sprang mit einem Freudenschrei von seinen Knien und fiel ihrem Bruder um den Hals. »Geh mit der
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Kinderfrau hinaus«, flüsterte er ihr eilig zu, »und tu genau, was sie sagt!« »Aber ich hab ein Gedicht gemacht«, flüsterte Elfrida zurück, »und wir könnten jetzt...« »Tu, was ich dir sage«, befahl Edred kaum hörbar, aber fest entschlossen. »Wir müssen hier raus. Sei nicht so schwer von Begriff – denk an Lady Nithsdale!« Da verstand Elfrida. Sie löste sich von ihm und lief eilig zu Lord Arden zurück, schlang ihre Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit zärtlichen Küssen. Plötzlich weinte sie verzweifelt auf. »Ja, ja, mein Töchterchen, schon gut...« murmelte Lord Arden liebevoll und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Kommt jetzt mit mir hinaus«, forderte die alte Kinderfrau sie auf, »ich möchte an Euch Maß nehmen für ein neues Gewand.« Elfrida klammerte sich nur fester an Lord Arden. »Sie will ihren Vater nicht verlassen«, sagte er, »nicht wahr, mein Liebling? Aber laß nur gut sein«, fuhr er freundlich fort, »du bist ja schnell wieder da, mein Lämmchen. Lauf nur, um so eher kannst du wieder zurückkehren zu mir!« »Mein lieber, lieber, lieber Vater!« sagte Elfrida und stand dann plötzlich auf. »Ach, liebster Vater, leb wohl!« »Na, na, was für ein Aufstand um ein neues Gewand«, schalt die Kinderfrau. »Jetzt reißt mir aber die Geduld!« Sie griff nach Elfridas Hand und zog das Mädchen in ein Nebenzimmer. »So«, flüsterte sie dort und lag schon auf 193
den Knien, um Elfridas Kleid aufzuhaken, »keinen Augenblick gilt es mehr zu verlieren! Preßt Euer Taschentuch gegen das Antlitz und gebt vor zu weinen, wenn wir gehen. Ei nun, Ihr weint ja schon! Um so besser!«
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Sie holte eilig unter ihren weiten steifen Röcken einen kleinen schwarzen Anzug hervor, der mit Hut, Mantel, Strümpfen und Schuhen dem von Edred aufs Haar glich, und im Handumdrehen stand Elfrida als genaues Abbild ihres Bruders da. Flink wie ein Wiesel eilte die Amme zur Tür und redete auf die Wache ein: »Gott schütz Euch, guter Mann«, sagte sie, »mein kleiner Herr ist erkrankt. Er ist zu zart für diese traurige Begegnung. Ich bitt Euch, geleitet uns zum äußeren Tor! Dort wartet unser Wagen, der ihn heimbringen kann. Und später werd ich wiederkehren, um meinen anderen Schützling zu holen.« »Was Ihr nicht sagt«, erwiderte der Wächter freundlich, »armes Kind! Ja, so ist das Leben, liebe Frau, und wir haben alle unser Kreuz zu tragen.« Er durfte allerdings seinen Posten vor Lord Ardens Tür nicht verlassen, aber er erklärte ihnen den Weg und sie liefen allein über den Hof. Die Torwache, die vor einer Weile in wirbelnden Schneeschauern eine alte Amme mit zwei kleinen Jungen hatte hereinstapfen sehen, erblickte eine dickverschneite alte Amme, die mit einem kleinen Jungen wieder hinauseilte. Er schien bitterlich zu weinen, und die Kinderfrau erklärte, dies sei kein Wunder, da er seinen Vater und seine Schwester unter solchen Umständen hätte wiedersehen müssen. »Ich will ihn nur schnell zu unserer Kutsche geleiten, gute Herren«, rief sie den Soldaten zu, »dann komm ich gleich zurück, um meinen anderen Schützling zu holen.« 195
Und auf diese Weise brachte sie Elfrida durchs Tor und in den wartenden Wagen. »Geschwind unter den Sitz!« befahl sie, stieß das Mädchen hinein, schloß die Wagentür und lief schnell davon.
So weit, so gut. Doch nun kam der weitaus bedenklichere Teil des Abenteuers. Die alte Frau wurde von den Männern, die sie eben hatten hinausgehen sehen, ohne Schwierigkeit eingelassen, und während sie langsam über den verschneiten Hof schritt, erdröhnte der Torweg hinter ihr von den stampfenden Tritten der Soldaten, die zur Ablösung anmarschiert kamen. Wieder so weit, so gut. Aber der Posten vor der Tür zu Lord Ardens Räumen war noch gefährlich genug, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß jemand von der alten Wachmannschaft in der Nähe herumlungerte, wenn die Kinderfrau zum zweitenmal kam – und zwar nicht mit einem Jungen, sondern mit zweien. Aber das mußte gewagt werden. Die Alte wartete still in einer Ecke, während sich Lord Arden mit den Jungen unterhielt. Endlich entschloß sie sich jedoch zu mahnen: »Die Zeit ist um, Mylord!« Denn sie wußte, daß die Wache vor der Tür inzwischen ebenfalls abgelöst worden war.
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»Jetzt bloß schnell fort!« murmelte Edred, während er und Richard der Amme eilig über die engen Treppen und den verschneiten Innenhof folgten. Der neue Posten am Tor hielt sie an, las das Handschreiben der Königin, das sich die alte Kinderfrau vorsorglich hatte wiedergeben lassen – und da ganz offenkundig Master Edred Arden und Master Richard Arden mit einer Begleitperson eingelassen worden waren, wurde den dreien gestattet, wieder hinauszugehen. Zwei Minuten später rumpelte eine geräumige Kutsche durch die schneeverwehten dunklen Straßen Londons, und drinnen lagen sich die vier Insassen glücklich in den Armen. Der Plan war gelungen. Sie erreichten Haus Arden, und die Amme schickte den Kutscher, kaum daß sie gehalten hatten, mit dem Auftrag in die Küche, sofort das Abendessen für Master Richard und Master Edred richten zu lassen. Auf diese Weise sah niemand, daß statt der zwei Jungen, die das Haus am Spätnachmittag verlassen hatten, in der Abenddämmerung drei zurückkehrten.
Die alte Frau führte die Kinder ins Wohnzimmer und zog nachdrücklich die Tür ins Schloß. »So«, sagte sie streng, »jetzt wird Master Richard seinen guten Anzug wieder ausziehen, und Miss Arden wird ins kleine Zimmer nebenan gehen und ihr Gewand wechseln. Und was Euch
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anbelangt, Master Edred, Ihr wartet inzwischen hier bei mir.« Als die beiden Kinder gehorsam gegangen waren, blieb die Amme regungslos mitten im Raum stehen und blickte Edred an. Ihre Augen veränderten sich geheimnisvoll und wurden immer größer. Der Junge stand vor ihr und starrte wie gebannt auf die alte Frau. »Donnerwetter«, sagte er schließlich, »du bist die Hexe – die Hexe, der wir den Tee und den Zucker gebracht haben!« »Und wenn schon«, gab sie gelassen zurück, »meinst du denn, ihr könnt allein in andere Zeiten zurückwandern? Noch hast du den Stein der Weisen nicht entdeckt, Master Arden von Arden. Aber du bist ein tapferer Junge und hast das Zeug zu einem richtigen Mann. Ich glaube, daß du in diesen längst vergangenen Zeiten manches gelernt hast. – Und jetzt«, befahl sie, als Elfrida in ihren Mädchenkleidern zurückkam, »jetzt müßt ihr schleunigst in eure Zeit zurück. Im Tower haben sie unsere List schon entdeckt.« »Sie ist eine Hexe«, erklärte Edred seiner staunenden Schwester. »Ihr dürft nicht mehr herumtrödeln, hab ich gesagt«, wiederholte die Alte. »Unterhalten könnt ihr euch später!« »Aber ich muß zuerst noch ein Hühnchen mit dem alten Parados rupfen«, rief Edred, und ehe die Kinderfrau ihn festhalten konnte, war er auch schon zur Tür hinaus. Elfrida folgte ihm eilig und stieß auf dem Flur mit Vetter Richard zusammen, der verwundert fragte, wo um 198
Himmels willen sie denn so stürmisch hinwolle. Edred kam ein paar Schritte zurück und erklärte hastig, er sei dabei, jetzt einmal seinerseits Mr. Parados eine Lektion zu erteilen. »Aber du solltest deine Finger davon lassen, Vetter Dick«, mischte Elfrida sich besorgt ein, »und zwar deinetwegen, damit dir nichts geschieht. Wir gehen nämlich weg von hier, weißt du – aber wir können dir jetzt nicht so schnell sagen, weshalb, du würdest uns das alles gar nicht glauben...« »Na, versucht es doch mal«, schlug Vetter Dick vor. Die Geschwister sahen sich zögernd an, aber dann begannen sie, wie gejagt zu erzählen. In der Eile fielen sie sich immer wieder gegenseitig ins Wort, aber schließlich brachten sie ihre Geschichte doch einigermaßen zu Ende. Richard Arden lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, aber er sagte kein Wort. »Du glaubst uns nicht«, sagte Elfrida. »Das hab ich mir gleich gedacht. Na ja – macht nichts!« »Es ist einfach fürchterlich«, rief Dick plötzlich, »so war es sonst nie! Ich denke jetzt beinahe, daß alles ein Traum ist. Und dabei habe ich immer gemeint, es sei keiner...« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Edred, »aber was wir dir erzählt haben, stimmt jedenfalls. Wart einmal, da fällt mir was ein!« Er lief zu einem versteckten Winkel des Wohnzimmers, wo er seine Kamera hinter einem Vorhang verborgen hatte, und hielt sie Dick triumphierend hin. »Sieh dir das an! Es stammt aus unserer Zeit, die noch weit entfernt in der Zukunft liegt – aus der Zeit, aus der wir 199
kommen, ich meine, aus einer Zeit, die noch gar nicht gewesen ist – oder wenigstens hier, wo wir jetzt sind, ist sie noch nicht gewesen, und du kannst natürlich nicht ahnen, was das hier ist: ein Ding, mit dem man Bilder machen kann...« »Ach, hör doch auf!« unterbrach Richard seine atemlose Rede. »Jetzt weiß ich genau, daß alles nur ein Traum ist. Als ob ich keinen Fotoapparat erkennen könnte, wenn ihn mir jemand vor die Nase hält. Das ist eine Box.« Edred starrte ihn verblüfft an. Dann sagte Elfrida: »Wenn du von unserer Zeit geträumt hast, dann kannst du doch auch glauben, daß wir von deiner träumen. Hast du noch von irgendwas anderem außer von Kameras geträumt? Vielleicht von pfeilschnellen Wagen und rasenden Booten und...?« »Red doch nicht mit mir, als ob ich ein Wickelkind wäre«, unterbrach Richard sie ärgerlich. »Ich weiß alles über Eisenbahnen und Dampfschiffe und was du sonst noch willst. Ich weiß sogar, daß Kent vorigen Donnerstag mit 615 Punkten gegen Derbyshire gewonnen hat. Also...« »Aber, Dick, das mußt du uns erzählen...« fiel Elfrida atemlos ein. »Kein Sterbenswort!« sagte Richard entschlossen. »Aber ich werde euch bei der Rache an Papageiennase helfen. Mir ist's egal, was wird, wenn ihr wieder weg seid. Los, wir wollen ihm den Schnee vom Dach in seine Kammer schippen. Ich weiß, wo Schaufeln sind, wenn ich das im Traum nicht durcheinandergebracht hab...«
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»Weißt du«, sagte Edred plötzlich, »das mit Kent möchte ich mir aufschreiben und später nachprüfen, ob's stimmt.« Im zinnernen Tintenfaß auf dem Tisch, an dem sie ihre Schulaufgaben zu erledigen pflegten, steckte ein Federkiel. Aber Elfrida sah sich vergebens nach Papier um. »Hier, mach fix«, drängte Richard und zog ein kleines Blatt aus der Tasche. »Oder warte, ich schreib's dir auf, ja?« Er notierte hastig die Zahlen und gab Edred das zusammengerollte Papier, der es vorn in sein Wams schob. Dann rannten sie alle drei aufs Dach und wühlten im Schnee, bis sie das Oberlicht gefunden hatten, das dem Hauslehrer als Fenster diente. Sie zersplitterten das dicke Glas mit den scharfen Kanten der Spaten und schaufelten den klumpigen kalten Schnee hinab, und sie schippten um so eifriger, je lauter die Schimpfworte unter ihnen wurden. Als Mr. Parados auf das Dach geschossen kam und wütend versuchte, sie zu fassen, duckten sie sich hinter den Schornstein und erreichten vor ihm die Falltür, schlugen sie zu, verriegelten sie und rannten fort. Sie ließen den keifenden Hauslehrer auf dem Dach stehen, wo er zur Straße hinunter um Hilfe schreien oder durch das zertrümmerte Oberlicht in den aufgetürmten Schnee in seine Kammer springen konnte. Die Kinder liefen zufrieden ins Wohnzimmer zurück, und dort wurde Richard ohne Federlesens ins Bett
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geschickt. Die Amme schloß nachdrücklich die Tür hinter ihm und wandte sich zornig um. »Sei nicht böse«, sagte Elfrida hastig, »weißt du, ich hab schon längst ein Gedicht für das Muddeltier fertig, bloß – es handelt vom Tower, und da sind wir ja nicht mehr! Ich wollte nämlich sagen: O Muddeltier, wir sind sehr in Bedrängnis, befreie uns doch rasch aus dem Gefängnis! – Aber nun nützt das nichts mehr, und etwas anderes fällt mir nicht ein und...« Die Kinderfrau unterbrach sie. »Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf wegen eines Gedichtes«, sagte sie. »Gedichte sind gut und schön, aber ich weiß etwas, was dreimal so wirksam ist.« Sie zog die Kinder ins Eßzimmer, setzte den Leuchter auf den Tisch und nahm einen schweren Silberteller mit dem eingravierten Ardenwappen von der Anrichte. Sie hauchte gegen die schimmernde Platte und malte einen Kreis und drei, vier Dreiecke auf die Innenfläche. Als der feine Nebeldunst ihres Atems verflog und das Silber wieder ohne Trübung schimmerte, saß plötzlich der springlebendige weiße Maulwurf auf dem großen Teller. Er sah allerdings ungewöhnlich wütend aus. »Du hast auch nicht die Spur von Benehmen«, fuhr er die Amme an, » mich so einfach mir nichts, dir nichts ruppig und unvorbereitet herzuholen! Ohne ›Bitte schön‹ oder ›Hätten Sie wohl die Freundlichkeit !‹ – Du weißt 202
ganz genau, daß es mir in allen Knochen weh tut, wenn du mich mit deinen Dreiecken und Firlefanzereien herbeizitierst. Gedichte sind viel einfacher und völlig schmerzlos.« »Gedichte dauern für diese Nachtarbeit zu lange«, antwortete die Kinderfrau scharf. »Los, schaff die Kinder fort! Ich hab mein Teil getan.« »Du machst alles immer so kompliziert«, sagte das Muddeltier noch giftiger als vorher. »Das ist das schlimme an den Leuten, die sich einbilden, sie wüßten alles, und in Wirklichkeit haben sie von nichts eine Ahnung. Ich hätte sie so leicht zurückbringen können! Aber jetzt – na gut, ändern kann man's nicht mehr. Ich schaff sie natürlich weg, aber ich muß es nun auf eine Art tun, die ihnen nicht gefallen wird. Sie müssen aufs Dach steigen und hinunterspringen.« »Ich glaube nicht, daß das notwendig ist«, sagte die Hexen-Kinderfrau. »Na bitte«, der Maulwurf kicherte höhnisch, »dann bring du sie doch weg!« Er wollte eilig verschwinden, aber... »Nein, nein«, rief Elfrida, »wir wollen ja alles tun, was du sagst.« »Auf dem Dach liegt der Schnee einen halben Meter hoch«, sagte die alte Frau empört. »Um so besser«, erwiderte das Muddeltier, »um so besser! Das solltest du wissen.« »Bilde dir bloß nicht ein, daß du die Weisheit mit Löffeln gefressen hast«, zeterte die Kinderfrau.
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»Ich halte mich nicht für halb so klug, wie ich bin«, entgegnete der Maulwurf ziemlich rätselhaft. »Da!« fügte er hinzu, als donnernde Schläge gegen die Haustür die Stille der Nacht unterbrachen. »Da habt ihr's! Aufs Dach, wenn euch euer Leben lieb ist! Ich weiß noch nicht einmal, ob es nicht schon zu spät ist!«
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Weiße Schwingen »Wir können nicht aufs Dach!« rief Edred, dem Mr. Parados wieder einfiel. Rasch erzählte er, was sie getan hatten. Der Maulwurf sah die Kinder strafend an. »Das ist freilich unerhörtes Pech«, sagte er. »Was soll denn nun werden, he? Soll ich euch denen da unten überlassen?« Er schnaufte gereizt, als sich der Lärm auf der Straße immer bedrohlicher steigerte. »Dann muß eben das oberste Stockwerk reichen«, murmelte er. »Wo ist das andere Kind?« »Ins Bett gegangen«, sagte die Amme kurz angebunden. »Tz, tz, tz«, kicherte das Muddeltier, »das sind so die Neunmalklugen! Das hast du also nicht entdeckt? Wozu bist du eigentlich eine Hexe? Na, das bring ich nachher in Ordnung. Jetzt haben wir keine Zeit mehr zu verlieren!« Die Kinderfrau faßte Edreds Hand, und Elfrida ergriff das Muddeltier, und dann hasteten sie die Treppen hinauf bis zu einem schmalen Fenster auf dem obersten Absatz. Eisige Luft strömte herein, als die alte Frau die Flügel aufriß. 205
»Also hopp, weg mit euch – Damen zuerst«, rief das Muddeltier. »Du meinst doch nicht wirklich«, stotterte Elfrida, »du kannst doch nicht im Ernst wollen, daß wir da hinausspringen ins – ins Nichts?« »Freilich, freilich«, sagte das Muddeltier ungerührt, »das müßt ihr jetzt: raus aus dem Fenster, da hilft nichts. Wie ich euch rette, das ist schließlich meine Sache.« »Ein bißchen ist es aber auch unsere, findest du nicht?« fragte Elfrida schüchtern, wobei ihr die Zähne klapperten. »Tja, dann geht nur ruhig auf eure Weise nach Hause«, sagte das Muddeltier und begann zu verschwinden. »Nein! Geh doch nicht weg!« schrie Elfrida. »Wenn ich nicht weggehen soll, müßt ihr's tun, und zwar sehr schnell«, sagte das Muddeltier verdrossen. Aber es hörte jedenfalls auf zu verschwinden. »Setz mich auf die Erde«, befahl es. »Laß mich los und spring!« Elfrida gehorchte zitternd. Immer lauter dröhnten die Schläge durch das schweigende Haus. Wie lange würde das Tor dem Ansturm noch standhalten? Plötzlich schloß die Kinderfrau das Mädchen in die Arme und küßte es. »Leb wohl, mein Herzchen«, sagte sie bewegt, »kein Abschied ist für immer, sonst könnte ich dich jetzt nicht so gehen lassen. Komm, steig hinauf! Stell deinen Fuß hier auf den Balken! So, und nun das Knie aufs Fensterbrett. Spring!« Elfrida kauerte auf dem dick mit Schnee bedeckten Sims. Sie biß die Zähne zusammen und starrte in das schwarze, von treibenden Schneeflocken durchwehte 206
Nichts zu ihren Füßen. Dann schaute sie zurück in den düsteren Gang. Das flackernde Licht der Kerze in der Hand der Kinderfrau warf zuckende Schatten an die Wände. »Und Edred wird nichts geschehen?« fragte sie besorgt. »Bist du auch sicher, daß er richtig springt?« »Natürlich«, antwortete Edred mit seiner neuen entschlossenen Stimme. »Los, Elfi, laß mich zuerst, damit du siehst, daß ich kein Feigling bin!« Selbstverständlich sprang Elfrida daraufhin sofort, und im nächsten Augenblick folgte Edred ihr nach. Die Schneeflocken drängten sich zusammen und bildeten eine dichte Wolke, die sie sanft umfing. Die federleichten, weißen Schneekissen ballten und formten und rundeten sich, und auf einmal schien es den Kindern, als wären da Sitze mit Rückenlehnen und Armstützen und – »Das ist ja – was hast du denn da in der Hand?« fragte Elfrida verblüfft. »Zügel«, antwortete Edred, »weiße Zügel. Wir sitzen in einer Kutsche.« Wahrhaftig, sie flogen dahin in einem wunderlichen Gefährt aus weißen Schneeflocken. Schneeflocken schmiegten sich warm und sanft wie Decken aus Flaumfedern um sie, und die Zügel aus Schneeflocken fühlten sich an wie Samtbänder. Und die Pferde... »Sieh doch, das sind gar keine Pferde«, rief Elfrida, »es sind Schwäne, weiße Schwäne!« Und von irgendwoher erklang die Stimme des Muddeltieres: »Alle weißen Dinge gehorchen mir!«
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Edred konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Zaubergespann um die Ecke des Hauses herum und knapp über die Köpfe der Soldaten hinweg zu leiten, die immer noch am Tor Einlaß forderten. Übermütig schrie der Junge hinab: »He, ihr da! Wieder angeführt!« Damit schien er ihnen einen Todesschrecken einzujagen. Dann riß er die Schwäne empor und lenkte sie durch Wolken und Wind einen Weg entlang, den er genau kannte, obwohl ihm niemand gesagt hatte, daß es der richtige war. Während die Geschwister so dahinglitten, hatten sie plötzlich eine sonderbare, jähe Vision von einer zweiten, kleineren Schneekutsche, die einen Kreis über ihnen zog und danach in der tiefen Dunkelheit des Nachthimmels verschwand. Im Vorüberfliegen erhaschten sie einen flüchtigen, verwirrenden Blick auf ein Antlitz, das ihnen vertraut war und an das sie sich dennoch nicht genau genug erinnerten, um einen Namen rufen zu können
Dann breiteten ihre Schwäne die glänzenden, mächtigen Schwingen aus, stemmten sich mit aller Kraft gegen das Geschirr und rissen das Zaubergefährt im Flug davon. London blieb zurück. Der Schneesturm erstarb, ein klarer dunkelblauer Himmel spannte sich über ihnen, übersät von den ruhigen Silberlichtern der Sterne. Die Grafschaft Kent lag wie ein nächtlicher Schatten unter ihnen. Vorbei – immer vorbei!
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Eisiger Fahrtwind biß in die Haut der Kinder, aber allmählich wurde er sanfter, und schließlich strich er wie laue Juniluft über ihre Gesichter. In verwunschener Stille glitten sie über das Land. Nur allzubald hielten die Schwäne schwebend neben einem Turmfenster von Schloß Arden an. Obwohl sie diesen Turm nicht kannten, war den Kindern ohne weiteres klar, daß sie ihn jetzt betreten sollten. »Liebe Schwäne«, begann Elfrida und umklammerte die Box, die Edred nach der Unterhaltung mit Dick nicht wieder versteckt hatte, »können wir nicht noch ein wenig sitzen bleiben, bis es hell geworden ist? Wir möchten das Schloß so gerne fotografieren!«
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Die Schwäne schüttelten die weißen schmalen Köpfe, als ob sie die Frage verstanden hätten. Die Kinder verließen also ihren Märchenwagen und kletterten in ein dunkles Turmgemach, in dem bittere Kälte herrschte. Aber ehe sie richtig gewahr wurden, wie ungemütlich der Raum war, tauchten im Fenster die Köpfe der Schwäne auf. In ihren Schnäbeln hielten sie die leichten warmen Decken aus der Schneekutsche. Mit ihren starken weißen Flügeln schoben sie die flockigen Hüllen durch das Fenster. »Habt Dank!« antworteten die Kinder. »Auf Wiedersehen – und lebt wohl!« Das Rauschen der Schwingen verklang in der Nacht, und bald war nur noch Dunkelheit vor dem Fenster. Die Geschwister, die vor Müdigkeit fast umfielen, machten es sich auf dem Fußboden bequem und kuschelten sich zufrieden in die weichen Decken. Dahinein mußten wunderbare Träume verwoben sein, denn so köstlich hatten Edred und Elfrida noch nie geschlafen. Als die Wintersonne am anderen Morgen durch die schmalen Scheiben glänzte, schien kaum eine Sekunde verstrichen zu sein. Elfrida warf die silberweiße daunenleichte Decke ab. Sie zerteilte sich sofort in fünf verschieden geformte, verschieden große Teile, die sich zusammenrollten, ineinanderschoben, auseinanderbliesen und sich vor den staunenden Augen des Mädchens in eine silberne Wanne mit warmem Wasser, ein Stück duftende Seife, ein Badelaken, einen silbernen Kamm und eine Zahnbürste mit Elfenbeingriff verwandelten. »Wie schön!« sagte Elfrida und wunderte sich schon gar nicht mehr, als nach dem Waschen Wasser, Seife, 211
Badetuch, Zahnbürste und Kamm wie Quecksilberperlen wieder zusammenrannen, sich zu einem unordentlichen Knäuel ballten und schließlich wieder zur Decke glätteten. »Wie schön!« sagte sie ein zweites Mal. Dann weckte sie Edred, und seine Decke vollführte für ihn das gleiche nützliche und erstaunliche Verwandlungsspiel. Als die Geschwister mit ihrem Fotoapparat aufbrachen, sprangen die schimmernden Wunderdecken in die Form von weißen Pelzmänteln, und je einer glitt höflich neben je ein Kind und streckte seine Ärmel aus, als ob er sagen wollte: ›Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich anziehen würdest !‹ Natürlich folgten die Geschwister dieser Aufforderung. Dann stiegen sie vorsichtig die Wendeltreppe hinab und durchschritten eine schwere Tür, die sich unter dem Bogen eines geräumigen Torweges öffnete. Die mächtige Ausgangspforte stand weit offen, neben ihr hockte ein Soldat auf den breiten Steinstufen. Er hatte seinen Helm zwischen die Knie geklemmt und scheuerte ihn mit Sand. Dabei pfiff er munter und tippte nur mit der Hand grüßend an die Stirn. »Ihr seid früh auf den Beinen«, sagte er und fuhr eifrig in seiner Arbeit fort. »Es ist so schön heute«, sagte Elfrida. »Dürfen wir hinausgehen?« »Natürlich«, antwortete der Mann, »aber seht euch vor am Zwölf-Morgen-Feld, da treibt sich oft allerlei Gesindel herum. Lauft lieber überhaupt nicht so weit weg! Na, der Dampf der Morgensuppe wird euch schon wieder zurücklocken, wie?«
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Die Kinder nickten, liefen durch das Tor und polterten mit ziemlichem Getöse über die hölzernen Planken. »Das ist ja eine Zugbrücke«, stellte Edred überrascht fest, »und da ist der Graben, sieh doch!« Tatsächlich zog sich ein breiter Wasserlauf um das Schloß, und an seinen Ufern wuchsen Binsen und Schilf, braun, fahl und vertrocknet, die Wurzeln fest vom Eis umschlossen. Als eine Wildente aufstob, raschelten und flüsterten die Halme im Morgenwind. »Das gefällt mir«, sagte Elfrida. »Ich wünschte, daß Arden auch in der Gegenwart einen Graben hätte!« »Wenn wir die Quelle finden«, sagte Edred, »könnten wir den Graben wieder ausheben lassen.« Der gefrorene Tau unter ihren Füßen knirschte, als sie über die Wiesen liefen. Sie stellten rasch fest, daß der Schloßgraben von einem kleinen Fluß gespeist wurde. Sie folgten seinem Lauf ein Stückchen, doch plötzlich rief Elfrida: »Sieh doch nur! Was ist denn mit dem Fluß? Er hört ja plötzlich auf!« Es schien tatsächlich so. Der schmale Strom hatte sich wie ein Silberband, das in der Morgensonne glitzerte, durch die kahlen Felder gewunden. Nun war es auf einmal, als habe eine Riesenhand das Band einfach abgeschnitten und den Rest zusammengerollt und weggelegt. »Na – so was!« sagte Edred verblüfft. Die Neugierde packte ihn, und er rannte spornstreichs zu der Stelle, wo der Fluß sozusagen abgeschnitten war. Elfrida folgte ihm. Sie sahen, daß der Fluß sich ohne Ankündigung durch ein Loch von knapp drei Metern Durchmesser in die Tiefe der 213
Erde stürzte. Staunend beobachteten sie, wie das Wasser über den Rand der Höhlung schoß, glatt und glänzend und so rasch, daß kaum eine Bewegung wahrzunehmen war. Schließlich sagte Edred: »Da könnte ich ewig zugucken. Aber das soll wieder so werden, findest du nicht? Komm, wir suchen mal, wo der Fluß herkommt!« »Wir sollten die Stelle hier knipsen«, schlug Elfrida vor, »dann wissen wir später Bescheid.« Sie kramte den kleinen Fotoapparat aus der Tasche unter ihren weiten Röcken hervor und machte zwei Aufnahmen. Dann gingen sie den Weg am Flußufer zurück und liefen quer über die Wiesen zum Arden-Hügel. Dort bot sich ihnen ein wunderschönes Bild: Der Fluß entsprang unter einem behauenen niederen Steinbogen, der sich dicht über die sprudelnde Quelle duckte. »Ich möchte wissen, warum es jetzt nicht mehr fließt«, sagte Elfrida. »Wir werden es wieder dazu bringen, sobald wir den Schatz gefunden haben!« sagte Edred mit fester Stimme. Noch einmal klickte der Verschluß der Kamera, ehe sie zum Schloß zurückgingen. Da lag das große alte Haus in seiner ganzen Herrlichkeit vor ihren Augen – vollkommen und makellos, keine eingestürzten Bogen mahnten an Vergänglichkeit und Zerfall, keine zerbrochenen Säulen, keine zusammengesunkenen, zerlöcherten Mauern. »Ist das schön!« rief Edred aus. »Ich bin froh, daß wir so ein Schloß bekommen haben!« »Unser Schloß sieht aber nicht so aus, leider«, antwortete Elfrida. 214
»Nein, aber es wird wieder so werden, wenn wir den Schatz gefunden haben. Wir bauen es ganz genauso auf, ja?« sagte Edred. » Komm schnell, wir wollen noch ein paar Bilder machen !« Sie nahmen das Schloß von Norden und Süden und Westen und Osten auf und von Nordosten und Südosten und Nordwesten, bis sie sicher waren, jede Einzelheit festgehalten zu haben. Dann gingen sie wieder über die dumpf dröhnende Zugbrücke, an dem Soldaten vorbei, der inzwischen mit dem Putzen fertig geworden war und sich seinen blanken Helm auf den Kopf gestülpt hatte. Unterwegs berieten sie, was als nächstes geschehen sollte. Edred war nämlich neugierig, welche Art Frühstück es in den Tagen Jakobs I. gäbe, und wollte das abwarten, während Elfrida nichts anderes im Sinn hatte, als unverzüglich heimzukehren. »Wenn wir hierbleiben, werden wir bloß in irgendein neues Abenteuer verwickelt«, sagte sie, »in meinem ganzen Leben bin ich noch nirgends gewesen, wo so viele aufregende Geschichten passieren wie in der historischen Vergangenheit. Und außerdem bin ich todmüde. Ach, Edred, komm mit!« »Ich glaube, es gibt Entenbraten«, sagte Edred und schnupperte, »es riecht nach Zwiebelfüllung.« »Ente!« rief Elfrida. »Wir bekommen ganz sicher nur Brot und Wasser zum Frühstück, paß nur auf! Du kannst Gift darauf nehmen, daß wir wieder irgendwas falsch gemacht haben. Komm bloß fort, ehe wir dafür bestraft werden!«
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Sie kletterten die schiefe, krumme Wendeltreppe wieder hinauf und fanden auch die Tür der Kammer, in der sie unter den wunderbaren weißen Decken geschlafen hatten, die sie jetzt als Mäntel trugen. Aber plötzlich blieben die Kinder erschrocken stehen und sahen sich ratlos an, denn es war ihnen eingefallen, daß sie gar nicht wußten, wie sie wieder in den Frieden ihrer eigenen Zeit zurückkehren konnten. »Unsere Kleider!« sagte Elfrida verstört. »Die Kleider sind weg. Und wir können nicht zu ihnen, weil sich der Bodenraum in diesen Turm verwandelt hat. Vielleicht würde er sich wieder zurückschütteln, wenn wir wüßten, wie man diese Holterdiepolter-Geschichte auslösen kann.« Die weißen Zauberdecken schlangen sich eng um die Kinder, und in der zärtlichen, weichen Berührung lag ein unbestimmter Trost. Der Junge schüttelte seine Beklemmung ab. »Holla! Was ist denn das?« sagte er, als er mit seinen Fingern zwischen die Knöpfe seines Wamses geriet. Erstaunt zog er ein zusammengerolltes Stück Papier heraus. »Das ist der Zettel mit den Kricketzahlen von Vetter Richard«, sagte Elfrida. »Kümmere dich doch jetzt nicht um so einen unwichtigen Kram!« Aber Edred schüttelte den Kopf und strich den Zettel sorgfältig glatt. »Er könnte verschwinden«, rechtfertigte er 216
sich, »oder hier irgendwie hängenbleiben, und wenn wir zu Hause sind und danach suchen, ist er weg! Laß mich nur schnell nachsehen, was er gesagt hat! Kent hatte gewonnen, glaub ich.« Er las, las noch einmal und streckte dann das Blatt auf Armeslänge von sich. »Sieh dir das an!« sagte er. »Richard hat sich tatsächlich in unsere Zeit geträumt. Und außerdem hat er sogar Sachen aus unserer Zeit hierher mitgebracht. « Elfrida griff nach dem Papier, las und kam aus dem Staunen nicht heraus, denn der Zettel war die Rechnung eines bekannten Londoner Spielwarengeschäftes über drei Schiffskanonen, einen Kompaß und ein halbes Dutzend Flaggen auf den Namen von Mr. Richard D. Arden, 117 Laurie Grove, New Cross, London S. E. Auf der Rückseite stand die Bleistiftnotiz über das Kricketspiel vom vergangenen Donnerstag. »Sag mal«, begann Elfrida und holte Luft, um etwas ganz besonders Gescheites zu sagen, doch im gleichen Augenblick spürte sie, wie ihr Pelzmantel sich in ganzer Länge und Breite zu winden und zu sträuben begann und deutlich damit zum Ausdruck brachte: ›Achtung! Gefahr! Gefahr! Gefahr! Du solltest verschwinden, solange du noch kannst!‹ Elfrida stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus. »Soldaten!« rief sie erschrocken. »Sie sind hinter uns her – das weiß ich ganz genau!« »Sie ziehen die Zugbrücke hoch! Weshalb bloß?« fragte Edred, der plötzlich neben ihr stand. »Sieh nur die Gitter da! Sie sehen wie ein Fallbeil aus, wenn sie so heruntergelassen werden, findest du nicht? Und...« 217
»Laß jetzt«, unterbrach ihn Elfrida, »mein Pelzmantel sagt: ›Geh weg!‹ Deiner auch?« »Wenn ich darauf hören würde – vielleicht«, antwortete Edred gleichgültig. Inzwischen waren die Reiter näher herangekommen – so nah, daß Elfrida erkennen konnte, wie wütend sie aussahen. Es schienen dieselben Soldaten zu sein, die gestern abend so lange und so heftig in Soho an das Tor von Haus Arden geschlagen hatten. Wahrscheinlich waren sie die ganze Nacht hindurch geritten. Elfrida war verzweifelt. Wie sollte sie in der Eile ein Gedicht zusammenbringen! Aber ohne daß sie recht wußte, wie es geschah, formten sich Zeilen, und sie sagte laut: »Lieb' Muddeltier, wir sind in größter Not, welch neue Gefahr uns schrecklich droht! Die Soldaten sind da im Handumdreh'n! Komm schnell, eh' uns ein Leid gescheh'n!« Noch während sie sprach, reckten und streckten sich die weißen Zauberpelzmäntel, umfingen die Kinder und hüllten sie dicht und weich ein. Es war, als versänken Edred und Elfrida in einer wohligen, unbekannten Tiefe. Sie wußten zwar, daß der Turm bis auf die Grundmauern erschüttert wurde und kein Stein auf dem anderen blieb, aber es beunruhigte sie nicht. Schlaf hatte sich auf sie herabgesenkt. Eine leise Melodie schwebte in ihren Ohren, wie Bienensummen in einem Feld voller Glockenblumen. Und plötzlich glitten sie mit einem Aufblitzen des Lichtes 218
aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück und stellten fest, daß sogar die steifen, schweren Gewänder verschwunden waren. Sie steckten in ihren Alltagskleidern, die so bequem waren.
Elfrida fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Hast du den Zettel aus dem Spielwarengeschäft? Sieh schnell nach, ob er sich nicht etwa in Luft aufgelöst hat.« Das kostbare Blatt war jedoch noch vorhanden. »Ich würde Dick schrecklich gerne wiedersehen«, meinte Edred, als sie die Treppe hinuntergingen, »er war der netteste Junge, den ich in meinem Leben getroffen habe.« »Vielleicht sehen wir ihn noch einmal«, sagte Elfrida voller Hoffnung. »Er ist doch schon in unserer Zeit gewesen. Oder wir könnten ja auch wieder zurückgehen, was meinst du? Nur ein bißchen später, wenn die Pulververschwörung vorbei ist und niemand mehr daran denkt.« »Aber daran denken die Leute ja heute noch«, wandte Edred ein, »und dabei ist es dreihundert Jahre her. – Komm, wir wollen jetzt zuallererst die Fotos entwickeln, ich hab nämlich kein gutes Gefühl dabei. Wir haben die Filme mitgenommen und auch wieder zurückgebracht, aber ob Bilder darauf sind, das ist noch längst nicht raus. Ich
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würde mich kein bißchen wundern, wenn die Filme alle unbelichtet wären!« »Das ist aber gescheit von dir, daß du auf so was kommst«, sagte Elfrida voll Hochachtung. »Wir wollen Mrs. Honeysett gleich fragen, ob wir den alten Raum benutzen dürfen, von dem sie immer sagt, daß darin früher einmal Vorräte aufgehoben wurden. Wenn wir die Läden schließen, wäre das eine phantastische Dunkelkammer!« »Natürlich können Sie die Kammer nehmen«, meinte Mrs. Honeysett. »Und ich werde Ihnen ein paar Eimer Wasser reintragen. Der Fußboden ist aus Stein, da macht's nichts, wenn Sie ein bißchen planschen.« »Warum hat man eigentlich den alten Teil des Hauses so verkommen lassen?« frage Elfrida, während sie alles bereitstellte, was zum Entwickeln der Filme nötig war. »Das ist schon immer so gewesen«, antwortete die alte Haushälterin, »und ohne Anordnung von eurer Tante Edith könnte ich's nicht übers Herz bringen, da aufzuräumen. Obwohl's mir schon lange in den Fingern juckt, mit Besen und Schrubber mal tüchtig loszuputzen.« »Aber warum haben Sie es denn nicht längst getan?« fragte Elfrida beharrlich weiter. »Ach, das ist eine von den ganz, ganz alten Geschichten«, erklärte Mrs. Honeysett. »Da müßt ihr den alten Beale fragen, der weiß vielleicht noch davon.« »Wir wollen zu ihm gehen«, sagte Edred, »sowie wir die Bilder vom Schloß entwickelt haben – wenn überhaupt welche drauf sind«, setzte er hinzu.
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»Auf diese Apparate kann man sich nie verlassen, nicht wahr?« meinte Mrs. Honeysett mitfühlend. »Die Frau von dem Vetter meines Mannes ist mal mit ihrer ganzen Familie vor ihrer eigenen Hintertür fotografiert worden, und als das Bild entwickelt wurde, da stellte sich heraus, daß sie aus Versehen die Regentonne der Nachbarn geknipst hatten, nur weil ihr Ziegenbock ein bißchen am Ärmel des jungen Mannes gezupft hatte, der die Kamera hielt! Das Bild war ihnen wirklich gar nicht ähnlich!«
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Entwicklungen »Also los, Elfi«, befahl Edred, »du mißt jetzt das Fixiersalz ab und stellst die vier Auflaufformen zurecht. – Sie dürfen unter gar keinen Umständen mehr reinkommen, verstehen Sie, Mrs. Honeysett?« schärfte er der alten Frau ein. »Wenn die Tür nämlich nur ein Ritzchen aufgeht, sind alle Bilder verdorben!« »Der Teufel soll mich holen«, versprach die alte Haushälterin, »ich komme sicher nicht rein, ich wüßte gar nicht, weshalb!« »Wir wollen vorsichtshalber die Tür zuriegeln, falls ihr doch noch was einfällt«, meinte Edred, als sie gegangen war. Er schob den schweren hölzernen Riegel vor und drehte sich zufrieden um. »Jetzt wird's schön dunkel sein.« Aber das stimmte leider nicht. Die Holzläden hatten hoch oben je zwei herzförmige Öffnungen, durch die Licht kam. Edred mußte auf das Fensterbrett klettern und die Löcher mit zusammengeknülltem Zeitungspapier zustopfen, und dazu mußte er natürlich noch einmal aufschließen. »So«, sagte er, »das wird reichen.« 222
Er zog die Tür wieder zu – aber das reichte noch nicht. Immer noch sickerte Licht durch die Ritzen, wo die Scharniere und Angeln der Fensterläden saßen. Und immer wieder mußte Edred in die Küche gehen, wo Mrs. Honeysett auf einem Schemel saß und ein weißes Huhn rupfte. Nacheinander bat er sie um alte Vorhänge, einen Hammer, Nägel und noch einen Vorhang. Als er zum drittenmal kam, sagte sie, er solle sich wegscheren und sie nicht mehr stören – und warf ihm eine Handvoll Hühnerfedern ins Gesicht. Aber sie lachte dabei und rückte mit dem Vorhang heraus. Endlich waren alle Lichtquellen verhängt und verstopft, und es war stockfinster. Nach diesen umständlichen Vorbereitungen waren sie an der Grenze ihrer Geduld angelangt. Alles ging viel zu langsam! Endlich flammte die rote Lampe auf. Das Wasser in den vier Auflaufformen schimmerte in der geheimnisvollen Beleuchtung rosa. »Ein Gutes hat es wenigstens gehabt«, stellte Edred fest, während er den Film in der ersten Schale wässerte, »das Fixiersalz konnte sich in Ruhe auflösen.« »Paß bloß auf, daß es keine Luftbläschen gibt!« rief Elfrida aufgeregt. »Soll ich es nicht lieber machen?« »Du kannst den nächsten nehmen«, flüsterte Edred und wagte kaum noch zu atmen. Endlich zeigten sich schwache graue Schatten auf dem Film, und die Kinder gerieten in einen wahren Taumel der Begeisterung, als sie zu guter Letzt sechs kleine, vollkommene Fotografien vor sich hatten, die wirklich das 223
unzerstörte Schloß Arden zeigten, ohne zerfallene Bogen und zusammengebrochene Mauern. Mit dem zweiten Film hatten sie ebenfalls Glück: noch einmal sechs fehlerlose Bilder von Schloß Arden, wie es vor dreihundert Jahren ausgesehen hatte. Auch der letzte Film ließ sich ohne Schwierigkeiten entwickeln. Nur in dem Augenblick zwischen Fixierbad und erster Wäsche schwebte ein kleines weißes Federchen aus Edreds Haaren in die Auflauf form hinab. Es war so winzig, daß er es in dem dämmerigen roten Licht nicht bemerkte.
Nun mußten die Filme trocknen. Der erste wurde zu diesem Zweck an den rechten Türpfosten genagelt und der zweite an den linken. Den dritten spannten sie kurzentschlossen quer über den Fensterrahmen. »Es macht nichts«, meinte Edred dabei, »wir brauchen ja die Läden nicht aufzumachen, ehe er trocken ist.« 224
Er bohrte vier Nägel durch die Ecken des Films und löschte das Licht aus und wollte gerade die Tür aufmachen, da geschah das Wunder. Jetzt hätte der Raum völlig dunkel sein müssen, aber das Fenster, das mit Läden verschlossen war, die Läden, vor denen der Film zum Trocknen hing, der Film, auf den die kleine Feder gefallen war, die winzige weiße Feder, die sich in Edreds Haaren festgesetzt hatte, als er bei Mrs. Honeysett in der Küche gewesen war – dieses Fenster verwandelte sich in ein breites Rechteck aus Helligkeit. Darüber hin huschte ein Lichtblitz, eine schwach flackernde Bewegung wie das Flimmern auf der Kinoleinwand vor Beginn eines Filmes. »Oh!« machte Elfrida und tastete nach Edreds Hand. »Noch mehr Zauberei«, sagte der Junge nüchtern, »ich möchte bloß wissen...« »Sei still«, flüsterte Elfrida, »sieh doch nur, sieh!« Auf dem breiten Lichtstreifen riß das Flimmern plötzlich ab. Bewegte Gestalten huschten schemenhaft über die Fläche, und allmählich entstanden lebendige Bilder. Sie glichen einem Stummfilm – oder nein, es war mehr: Es war das Leben selbst. Das Fenster schien sich aufgetan zu haben, so daß die Kinder durch seinen Rahmen in eine Welt voll Licht und Sonnenschein hinausblicken konnten, in eine sonderbar vertraute Welt. Da lag das Schloß, Menschen gingen über die Zugbrücke, Männer, die schwere Säcke auf dem Rücken schleppten. Ein Mann mit einem langen Stock in der Hand wartete unter dem großen Torbogen und gab 225
Anweisungen, wohin sie ihre Last tragen sollten. Jetzt rumpelte ein Karren voller Fässer heran, die über die Zugbrücke und unter dem hohen Bogen des Torturmes hindurchgerollt wurden. Dann blinkte etwas, und die Szene wechselte. Ein langgestreckter Innenraum mit vielen Bildern an einer Wand und vielen Fenstern an der gegenüberliegenden erschien. Eine Dame mit einem großen weißen Spitzenkragen und wunderschönen langen Locken, die Tante Edith wie aus dem Gesicht geschnitten war, verpackte kostbare Kleider. Ein Herr, ebenfalls mit lang herabfallenden Locken und erstaunlich viel Spitzen um den Hals und an den Handgelenken, schichtete goldene und silberne Krüge und Teller in eine andere Truhe. Diener trugen immer neue prächtige Dinge herbei. Edred und Elfrida brachten kein Wort heraus. Was sich vor ihren Augen abspielte, war viel zu aufregend. Sie wußten es beide: Das ist der Schatz! Und beide wünschten: Wenn das nur weitergeht, bis wir sehen können, wohin sie den Schatz bringen, dann laufen wir los und holen ihn wieder... Ganz sicher hatte der weiße Maulwurf seine Pfoten im Spiel, damit die Geschwister etwas von der Schatzangelegenheit erführen und endlich aufhörten, ihn zu allen Tages- und Nachtstunden mit Gedichten aufzustöbern, die sogar ein Muddeltier nicht als übermäßig gut bezeichnen konnte. Jedenfalls war es eine großartige Veranstaltung, und es schien den Kindern, als könnten sie durch dieses Fenster, das in die Vergangenheit blickte, die Dinge sehr viel besser beobachten, als wenn sie selbst dabei wären. 226
Die Kleinodien wurden immer hastiger verpackt. Die Dame nahm einer Dienerin viele kleine Kästen und Bündel ab, die sie in ihrer Schürze herbeitrug, und die Truhe, vor der sie kniete, war schon fast voll, als die Tür am Ende des langen Raumes plötzlich aufsprang. Edred und Elfrida in der Dunkelheit der Speisekammer sahen sich unvermutet ihren Ebenbildern gegenüber, die durch die langgestreckte Bildergalerie auf die Truhen zuliefen. Sie erblickten sich selber in blauer Seide und Spitzen und schwarzem Samt, sie lasen in ihren eigenen Gesichtern Furcht und Liebe, und sie sahen, wie sie von der Dame und dem Herrn, die ganz offensichtlich Vater und Mutter waren, umarmt wurden, und sahen, wie sie selber sprachen und wie die Erwachsenen etwas erwiderten. Ich würde mein Taschengeld von einem ganzen Jahr dafür geben, wenn ich wüßte, was sie sagen, dachte Edred. Der Vater dort sieht meinem Vater ähnlich, dachte Elfrida, und auch dem Vater im Tower, den ich so gern hatte... Die Kinder auf dem Bild knieten nieder, und der Vater legte seine Hände auf ihre Scheitel, und die Kinder in der Speisekammer senkten unwillkürlich die Köpfe, denn sie begriffen, was da vor sich ging. Wieder wechselte der Schauplatz: Vier Männer schleppten eine Kiste, sie stolperten einen Gewölbegang entlang, aber alle Augenblicke setzten sie ihre Last ab, reckten sich und wischten sich über die Gesichter. Der Film lief weiter, so daß die Kinder eine Treppenflucht mit hinabzusteigen schienen bis in eine weite Halle. Dort redeten viele Männer aufgeregt durcheinander und machten 227
sich mit Rüstungen und mächtigen Stiefeln zu schaffen. Weiter ging es, über den Schloßhof – da waren noch mehr Männer versammelt, die Äxte blank rieben, Musketen putzten, frische Feuersteine in Pistolen einsetzten und an einem riesigen Schleifstein Degen schärften. Dann verschwand die Kiste auf den Schultern ihrer Träger in einem Bogengang. Hier wollte einer der Männer wieder eine Verschnaufpause machen, aber die anderen redeten auf ihn ein. Vermutlich machten sie ihm klar, daß es sich nicht mehr lohne, weil sie gleich am Ziel wären. Gleich werden wir es genau wissen, dachte Edred. Elfrida preßte seine Hand. Sie fühlte dasselbe und hielt den Atem an. Die Träger blieben vor einer Tür stehen, pochten, pochten ein zweites Mal und noch einmal. Sonderbarerweise konnten die Geschwister in der Vorratskammer das Geräusch deutlich vernehmen, obwohl sie bisher nichts gehört hatten. Die Männer schauten sich über die Kiste an, die sie auf die Erde gesetzt hatten. Dann stemmte einer seine Schulter gegen die Tür. Ein knirschender Laut ertönte, und das Bild verblaßte und erlosch. Nur der Fensterrahmen mit dem quer darübergespannten Film starrte die Kinder an, und in der offenen Tür verkündete Mrs. Honeysett fröhlich, daß das Essen kalt werden würde, wenn sie sich nicht beeilten und herunterkämen. »O Mrs. Honeysett«, stöhnte Elfrida aus tiefstem Herzen, »Sie sind wirklich fürchterlich.«
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»Hoffentlich habe ich die Fotos nicht verdorben«, entschuldigte sich die Haushälterin freundlich, »aber ich hab dreimal geklopft, und Sie waren so still, daß ich Angst bekam, es sei Ihnen etwas zugestoßen – aus Versehen vergiftet oder so was Ähnliches.« »Es ist zu gemein«, sagte Edred verbittert, »es ist zu, zu, zu gemein! Ich will kein Essen. Ich will überhaupt nichts. Alles ist verpatzt!« »Vielleicht«, bemerkte Mrs. Honeysett geduldig, »vielleicht hätt ich noch ein bißchen länger gepocht, wenn ich nicht gedacht hätte, daß die Tür verriegelt wäre. Sie wollten sie doch verriegeln, nicht wahr? Deshalb hab ich nur mal nach der Klinke gegriffen, um zu probieren, und da ist sie mir unter der Hand aufgegangen. Nun kommt schon, meine Schätzchen, setzt keinen Dickkopf auf! Ich hab es ja nicht absichtlich getan. Und ich werd Ihnen auch ersetzen, was da kaputtgegangen ist. Morgen können Sie ja neue Aufnahmen machen.« »Sie hätten wissen müssen, daß uns nichts fehlt«, sagte Edred, immer noch empört, »es geht ja gar nicht um die Fotos...« »Worum denn sonst?« fragte Mrs. Honeysett. »Aber nun kommt schon um Himmels willen zum Essen, solange alles noch einigermaßen warm ist.« »Es war – es war eine andere Art von Bildern«, versuchte Elfrida zu erklären und schluckte heftig, »es ist wirklich ein Jammer!« »Laß dir nicht das Herz brechen, Liebchen«, tröstete die alte Frau und strich ihr leise über den gesenkten Kopf. 229
»Bald gibt's eine Überraschung für euch, und das Essen wird eiskalt werden, wenn ihr euch nicht beeilt – das heißt, wenn ich nicht im letzten Moment daran gedacht hätte, es rasch noch mal ins Rohr zu schieben. Ich konnte mir doch vorstellen, wie eure Hände nach dieser Giftpanscher ei in meinen Auflaufformen aussehen. Und wenn ich eure Tante wäre, so würde ich's euch überhaupt verbieten. Hopp, hopp, kommt jetzt und wascht euch die Hände und stellt euch nicht so an! Habt ihr verstanden?«
Sie aßen in tiefem Stillschweigen. Es war die erste stumme Mahlzeit, seit die Kinder nach Arden gekommen waren. Edred glaubte, an jedem Bissen zu ersticken, und wies eine zweite Portion Kompott zurück. Auch Elfrida aß nicht so viel wie sonst. Es war tatsächlich eine zu bittere Enttäuschung! Fast hätten sie gesehen, wo der Schatz verborgen liegt – und dann war alles umsonst gewesen, nur weil sie dummerweise vergessen hatten, die Tür zu verriegeln! Als Elfrida nach dem Essen von ihrem Stuhl rutschte, sah sie die alte Haushälterin an und bemerkte den traurigen Ausdruck auf ihrem sonst so fröhlichen, liebevollen Gesicht. Sie ging langsam und zögernd zu ihr und schlang plötzlich die Arme um ihren Hals und gab ihr einen Kuß. »Es tut mir leid, daß wir uns so aufführen«, sagte sie, »es ist ja nicht Ihr Fehler, daß Sie nicht gescheit genug
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sind, um sich richtig mit Bildern und solchen Sachen auszukennen, nicht wahr?« Wenn Mrs. Honeysett nicht so eine durch und durch gute Seele gewesen wäre, hätte diese Entschuldigung alles nur noch viel schlimmer gemacht. Aber so lachte sie und umarmte das Mädchen zärtlich, und irgendwie geriet auch Edred in ihre Arme und fiel in das zufriedene Gelächter ein, und die drei waren wieder versöhnt. Danach liefen die beiden Kinder zum alten ßeale hinunter. In seinem Garten blühten herrliche Rosen, und Glockenblumen und Lupinen und hochgewachsener Fingerhut säumten den schmalen Backsteinweg. Der alte Mann saß in der Sonne vor seiner Haustür. Über seinem Kopf schaukelte eine Dohle in einem Weidenkäfig, und Elfrida runzelte mißbilligend die Stirn, bis sie erkannte, daß die Tür offenstand und die Dohle nur im Käfig saß, weil es ihr Spaß machte, und nicht, weil sie mußte. Auf der hölzernen Türschwelle räkelte sich eine dicke getigerte Katze. Im Schatten der Regentonne lag faul ein kastanienbrauner Spaniel. Es war ein Bild ländlichen Friedens, und der alte Beale war mitten in diesem Frieden eingenickt. Die Kinder setzten sich ins Gras gegenüber dem Gartentor und betrachteten die gelben und weißen Schmetterlinge und die bunten Blumen und das grüne Kartoffelkraut hinter dem graugrünen Staketenzaun. Dabei kam Elfrida eine Idee – sie kam so plötzlich und war so gut, daß Elfrida einen Luftsprung machen mußte. Aber sie sagte keinen Ton, und Edred riet ihr: »Kneif die Stelle
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tüchtig, und wenn du sie noch erwischst, kannst du sie tot drücken.« Denn er glaubte, eine Ameise hätte sie gebissen. Endlich wachte der alte Beale auf und rappelte sich hoch, ein bißchen taumelig, und strich sich mit der Hand über die Stirn und murmelte: »Mylord?« »Wie geht es Ihnen?« fragte Elfrida. »Wir haben den Schatz leider noch nicht gefunden.« »Den findet ihr schon noch«, tröstete der alte Mann, »kommt ins Haus; oder wollt ihr lieber in der Laube sitzen und ein Glas Milch trinken?« »Wir können genauso gut hierbleiben«, antwortete Edred. Sie waren in den Garten gekommen, und der Junge klopfte dem Spaniel den Rücken, während Elfrida die dicke Katze streichelte. »Mrs. Honeysett hat gesagt, daß Sie alle alten Geschichten kennen.« »Ach«, seufzte der alte Beale, »das ist ein nettes Mädchen, die Mrs. Honeysett! Ihrem Vater hat der Sellings-Hof gehört, wo die Feen die Butter für die Braut geknetet haben, solange kein böses Wort geredet wurde. Heutzutage haben sie nicht mehr viel zu tun, die Feen.« Er lachte leise, seufzte wieder und sagte: »Ich weiß eine Menge Geschichten. Und ich weiß auch, was für eine die Leute hören wollen, wenn sie zu mir kommen. Ihr beide seid auf die Geschichte vom Ostflügel neugierig, stimmt's? Kann sich der alte Mann auf seine Nase verlassen oder nicht?« »Wir möchten gern wissen«, sagte Edred, der sich mit dem Spaniel den Platz auf der Steinplatte teilte, »warum dieser Teil abgeschlossen ist und weshalb nicht alles mal 232
aufgeräumt und wieder hergerichtet werden darf. Wenn wir den Schatz gefunden haben, ist doch genug Geld da für neue Gardinen und Tapeten und solche Sachen.« »Das ist eine traurige Geschichte«, antwortete der alte Beale, »eine Geschichte für alte Leute, aber nicht für Kinder. Ihr würdet sie gar nicht verstehen...« »Wir mögen erwachsene Geschichten sehr«, bemerkte Elfrida würdevoll, und Edred ergänzte: »Wir können alles begreifen, wenn es bloß richtig erzählt wird.« Der alte Beale ließ sich also erweichen und fing an: »Es ist lange, lange her – es geschah noch vor meiner Zeit. Aber mein Vater war Kutscher im Schloß, und deshalb wußte er natürlich alles darüber, er hat mir oft davon erzählt. Meine Mutter war Haushälterin und machte es mit der ganzen Familie zusammen durch. Damals gab's auch eine Miss Elfrida, genau wie jetzt, sie war nur älter, als du es bist, mein kleines Fräulein. Die jungen Herren kamen von fern und nah, um ihr den Hof zu machen, denn sie war ein prachtvolles Mädchen mit schwarzen Haaren und Augen wie das Meer, wenn ein Sturm heraufzieht. Das hab ich meinen Vater sagen hören – nicht, daß ich sie jemals selber gesehen hätte. Sie trug ihren schönen Kopf hocherhoben und dachte nicht daran, sich nach einem der jungen Herren umzudrehen, und der alte Lord hatte sie viel zu lieb, als daß er sie gegen ihren Willen zu irgend etwas gezwungen hätte – und sie war ja auch noch jung. So blieb sie allein und blickte hinaus auf die See.« »Warum denn?« fragte Edred.
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»Um zu sehen, ob das Schiff ihres Liebsten nicht heimkäme. Denn natürlich hatte sie einen Liebsten, aber davon wußte niemand. Es war ihr Vetter Dick, ein Tunichtgut, wie es keinen zweiten gab, und später stellte sich heraus, daß sie ihm ewige Treue geschworen hatte und daß er über die Sieben Meere gesegelt war, um sein Glück zu machen. Und so blickte sie jeden Tag, den Gott werden ließ, hinaus auf die See, doch kein Tag brachte ihn zurück. Aber jeden Tag, den Gott werden ließ, kam ein junger Mann dahergeritten, ein braver junger Edelmann und ein Prachtkerl.« »Armer Dick!« meinte Elfrida. »Nicht so rasch, kleines Fräulein«, mahnte der alte Mann. »Nun ja, ihr Vater und ihre Mutter rieten: ›Nimm den, der bei dir ist und dich liebt, mein Herz!‹ – wie man so sagt. Aber sie antwortete: ›Nein!‹ Und die Eltern sagten immer wieder: ›Doch!‹ Und schließlich haben sie ihr eingeredet, Dick wäre sicher längst ertrunken, und ich weiß nicht, was noch alles. Und endlich fügte sie sich, und die Hochzeit mit Arnold Frewin wurde auf Weihnachten festgesetzt. Miss Elfrida schlief in dem Zimmer im Ostflügel, das auf den Arden-Hügel hinausging, die Dienerschaft schlief auf dem Dachboden, und die alten Herrschaften bewohnten einen anderen Flügel des Hauses. Und in einer Nacht, als alles in tiefem Schlummer lag, da denke ich mir, daß sie etwas an ihrem Fenster gehört hat, und zuerst mag sie gedacht haben: Das ist der Efeu! Aber dann war da draußen ein Gesicht, und es war der, den sie liebte, von dem alle behauptet hatten, daß er ertrunken sei.« 234
»Wie schrecklich für Mr. Frewin«, murmelte Elfrida. »Das dachte sie sicher auch, kleines Fräulein, aber sie liebte nun einmal Dick. Sie schlüpfte in ihren Reitmantel und kletterte aus dem Fenster und die Efeuwand hinunter, und dann ging's fort mit ihm nach London. Und am Morgen, als die Glocken begannen, ihre Hochzeit einzuläuten, und als der Bräutigam angeritten kam, war keine Braut mehr da. Sie hatte einen Brief zurückgelassen, daß es ihr bitter leid täte, aber sie könne nicht anders. Und dann schlössen sie den Ostflügel zu.« »Das ist also die Geschichte«, sagte Elfrida seufzend. »Die Hälfte, mein Fräulein«, sagte der alte Beale und holte eine schwarze Tonpfeife und Tabak heraus. Langsam und bedächtig stopfte er die Pfeife und zündete sie an, ehe er fortfuhr: »Sie schlössen das Haus zu, wo sie gewohnt hatte, aber es wurde sauber gehalten und gefegt und Staub gewischt. Den alten Herrschaften brach fast das Herz, denn es kam niemals eine Nachricht von Miss Elfrida. Aber in einer Nacht, da klopfte es an der Tür, und Miss Elfrida, die ja inzwischen Mrs. Richard war, stand da mit ihrem Baby auf dem Arm. Ihr Mann war tot, ganz plötzlich bei einem Unfall ums Leben gekommen, und da hat sie's heimgezogen zu ihrem Vater und ihrer Mutter. Die konnten dem armen jungen Ding und ihrem Kind gar nicht genug Liebe erweisen. Sie wohnte wieder in ihrem alten Zimmer, und allmählich wurde sie ein bißchen heiterer, und sie vergötterte ihr Baby, und auch die alten Herrschaften liebten es sehr. Und dann kam in einer Nacht jemand den Efeu heraufgeklettert – genauso wie damals Master Dick –, aber diesmal wurde nicht sie entführt, sondern das Kind.« 235
»Wie schrecklich!« stöhnte Elfrida. »Bekam sie's wieder?« »Niemals. Und man hat auch niemals auch nur das geringste herausbekommen, weder wer es fortgeholt hat noch wohin es geschafft worden ist oder warum es überhaupt geschah. Nur – eine oder zwei Wochen später erlitt Mr. Frewin einen Jagdunfall, und als sie ihn aufhoben, flüsterte er: ›Elfrida... sagt Elfrida...‹ Er versuchte, noch etwas zu sagen, aber dann starb er. Manche Leute meinen, daß er das Baby gestohlen hatte, um sich an ihr zu rächen oder um später zu behaupten, er hätte das Kind gefunden, damit sie ihn dann aus Dankbarkeit heiratete. Aber das wird niemand mehr erfahren. Und die junge Mutter wurde immer elender und welkte dahin, und schließlich starb sie. Danach wurde das ganze Osthaus ganz und gar geschlossen, und es verkam und zerfiel zur Ruine. – Nun, weine nur nicht, mein Fräuleinchen. Ich wußte ja, daß euch die Geschichte nicht gefallen würde, aber ihr wolltet sie ja durchaus hören.« »Ich finde die Geschichte ja sehr schön«, sagte Elfrida schluchzend, »sie ist bloß so traurig, nicht?« »Vielen Dank fürs Erzählen«, sagte Edred, »aber ich glaube auch, daß es keinen Sinn hat, über Sachen traurig zu sein, die schon so lange her sind und vorbei. – Ach, Mister Beale, ich wollte Sie noch fragen, wem jetzt das Land gehört, all das Land ringsum, meine ich, das früher uns Ardens gehörte. « »Will Jackson«, erwiderte der alte Mann, »dem, der mit Seifensieden reich geworden ist. Die Leute nennen ihn den Talgkönig. Aber er hat sich in Yorkshire ein neues 236
Grundstück gekauft, und das Land um Arden herum soll nächstes Jahr verkauft werden, hab ich gehört.« »Vielleicht können wir's dann zurückbekommen!« rief Edred aufgeregt. »Wir haben nicht vergessen, was wir ganz am Anfang versprochen haben: Wenn wir den Schatz finden, lassen wir alle Häuser im Dorf in Ordnung bringen und die Dächer neu mit Schilf decken.« »Du bist ein guter Junge«, sagte der alte Beale. »Na, dann beeil dich nur und such den Schatz. Und wenn du ihn nicht findest, dann laß den Kopf nicht hängen. Es gibt immer Wege, wie man andern Leuten auch ohne Schatz helfen kann, ja, die gibt es. Kommt nur und besucht mich mal wieder, ja? Es sollte mich gar nicht wundern, wenn ich das nächste Mal ein weißes Kaninchen für euch hätte.«
»Er ist wirklich lieb«, meinte Elfrida auf dem Heimweg. »Glaubst du, daß unsere Filme trocken sind? Aber vielleicht sollten wir sie vorsichtshalber nicht vor morgen früh abziehen?« »Wir haben noch massenhaft Tageslicht«, antwortete Edred. Elfrida begann nach einer kleinen Pause: »Hör mal...« »Ja ?« »Kannst du dich daran erinnern, was für Kleider wir in diesem Film trugen, als sie den Schatz versteckt haben?«
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»Oh«, stöhnte Edred, dem plötzlich das ganze Elend wieder einfiel, »wenn Mrs. Honeysett doch bloß die Tür nicht gerade in dem Augenblick aufgemacht hätte! Jetzt wüßten wir längst, wo der Schatz liegt. Das war der Westturm, in den sie ihn geschleppt haben, oder?« »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Elfrida. »Und wenn es weitergegangen wäre, dann wüßten wir jetzt Bescheid – wir hätten sie ja wieder zurückkommen sehen!« »Hör mal«, fing sie wieder an. »Ich denke nämlich – also nimm mal an, wir suchen in den Truhen und finden solche Kleider, dann könnten wir doch dahin zurückgehen und mit eigenen Augen sehen, wie der Schatz fortgeschafft wird, und dann wissen wir, wo er ist.« »Na fabelhaft!« stimmte Edred begeistert zu. »Los, Elfi, Wettrennen bis zum Tor!« Er lief davon wie der Wind und gewann mit ungefähr dreißig Weißen-Muddeltier-Längen. Die Kinder hatten sich lange Zeit nicht gezankt, deshalb fanden sie den Dachboden ohne Schwierigkeiten. »Komm«, rief Elfrida fröhlich, »ich erkenne die Kleider sofort wieder, wenn ich sie sehe. Meins war aus blauer Seide und deins aus schwarzem Samt mit einem großen weißen Kragen.« Sie stemmten mit vereinten Kräften den Deckel einer Truhe auf, die sie noch nie richtig geöffnet hatten. Darin lagen viel kostbarere Gewänder als die, die sie bisher gefunden hatten. Die Jacken und Röcke und Mieder 238
starrten von Goldstickerei und Edelsteinen. Aber es war kein blaues Seidenkleid und auch kein schwarzer Samtanzug mit weißem Kragen dabei. »Macht nichts«, sagte Edred und stopfte die Sachen mit beiden Händen wieder zurück. »Hilf mir doch, Elfi, und leg das Zeug glatt, damit der Deckel zugeht, dann können wir's mit der nächsten versuchen.« Aber die Truhe wollte sich nicht schließen lassen, ehe Elfrida nicht alle Kleider noch einmal herausgenommen und ordentlich zusammengefaltet hatte. Danach schnappte das Schloß ganz leicht zu, und die Kinder wandten sich zur nächsten Truhe. »Ich hab so ein Gefühl, daß sie hier drin sind!« behauptete Elfrida heiter. Vielleicht stimmte es, aber sie erfuhren es nie, denn die nächste Truhe war versperrt, und so sehr sie sich auch anstrengten, der Deckel ließ sich nicht einmal um Haaresbreite öffnen. »Verflixt!« keuchte Edred. »Los, versuchen wir's bei der nächsten!« Aber die nächste Truhe war ebenfalls verschlossen, genau wie die übernächste und die daneben und – es ließ sich überhaupt keine einzige öffnen. Die Kinder starrten sich in aufsteigender Verzweiflung an. »Mir geht ein Licht auf«, sagte das Mädchen nachdenklich. »Ich glaube«, fügte sie sehr langsam hinzu, »ich glaube, das bedeutet: Wenn wir irgendwohin wollen, dann müssen wir unbedingt dahin, wo sie solche kostbaren steifen goldenen Kleider tragen. Deshalb ist die eine Truhe
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offen – und deshalb sind die anderen alle abgeschlossen. Verstehst du?« »Dann wollen wir die Sachen anziehen und losgehen!« entschied Edred. »Eigentlich habe ich keine Sehnsucht nach den Gefängnissen in London«, sagte Elfrida zögernd. »Es spielt doch gar keine Rolle, was passiert«, antwortete ihr Bruder. »Ich hab nämlich auch etwas rausgekriegt: Wir kommen immer heil davon, wie brenzlig es auch aussieht.« »Na gut«, sagte Elfrida und legte ihre Hände auf den Truhendeckel, unter dem sich die goldene Pracht verbarg, »dann hilf mir mal bitte!« Edred packte an und zog und zerrte, Elfrida zog und zerrte, aber der Deckel saß jetzt genauso eisern fest wie alle andern. »Wer nicht will, wenn er kann, der kann nicht, wenn er will...« murmelte Elfrida. Das waren zwei Zeilen aus einem alten Lied, das Mrs. Honeysett immer sang, wenn sie die Öfen putzte. »Ich glaube, für heute müssen wir aufgeben«, meinte Edred schließlich, nachdem er noch einmal vergeblich versucht hatte, alle Truhen reihum zu öffnen, und sich dabei die Finger wund gerissen hatte. »Komm, wir wollen unsere Fotos abziehen.«
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Aber die Filme waren noch nicht trocken genug. Die Kinder verschlossen die Vorratskammer von außen und hängten den Schlüssel auf einen Nagel, der ziemlich hoch über dem Küchenkamin saß. Eben kam Mrs. Honeysett fröhlich hereingesegelt. »Da seid ihr ja, meine Lämmchen«, schnaufte sie, »gerade zur rechten Zeit für die Überraschung!« »Ach, die Überraschung hatten wir ganz vergessen!« rief Elfrida. »Bitte, sagen Sie uns schnell, was es ist, ja? Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr wir gerade jetzt eine hübsche Überraschung als Trost gebrauchen könnten!« »Sie meinen wohl, weil ich die Tür aufgemacht habe? «sagte Mrs. Honeysett. »Na bitte, es gibt sogar zwei Überraschungen. Die eine ist Brathuhn. Zum Abendbrot«, setzte sie bedeutungsvoll hinzu. »Dann weiß ich die zweite«, triumphierte Edred. »Tante Edith kommt!« Und sie kam tatsächlich, im selben Augenblick, in dem die Kinder aus dem Fenster schauten, sahen sie ihr blaues Kleid auf dem Hügelweg. Fröhlich stürmten sie ihr entgegen. Nach dem Brathuhn – es war schon fast dunkel und kurz vor der Schlafenszeit – sagte Tante Edith plötzlich: »Kinder, ich habe noch etwas auf dem Herzen, was ich euch gerne erzählen möchte. Ich hab es immer wieder hinausgeschoben, aber ich finde, daß wir keine Geheimnisse voreinander haben sollten.« Die Geschwister wechselten einen schuldbewußten Blick. »Keine wirklichen Geheimnisse, natürlich nicht«, 241
stotterte Edred. »Aber du hast doch nichts dagegen, wenn wir unsere Zauber-Geheimnisse haben, oder?« »Bewahre«, erwiderte Tante Edith lächelnd, »und was ich euch jetzt erzählen will, ist auch beinahe Zauberei – wenn es wahr ist. Ich weiß nur noch nicht, ob es wahr ist.« Bei diesen Worten schlang Tante Edith ihre Arme um die Kinder, die auf der breiten Fensterbank kauerten, und dann schluckte sie etwas hinunter, was ihr im Halse saß, und suchte nach ihrem Taschentuch. »Es sind doch keine schlechten Nachrichten?« rief Elfrida erschrocken. »Ach liebe, liebste Tante Edith, sei nicht traurig und sag bitte nicht, sie hätten festgestellt, daß uns Arden gar nicht gehört oder daß Edred in Wirklichkeit gar nicht Lord Arden ist oder so etwas ähnlich Schreckliches!« »Arden gehört uns ganz sicher. Aber wäre es wirklich so schlimm, wenn du nicht Lord Arden wärst, Edred?« fragte Tante Edith zärtlich. »Denn – ach, das erzähl ich euch ein andermal.«
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Filme und Wolken Die Filme waren noch vor der Schlafengehzeit trocken, und nach einem vergnüglichen Abend ganz ohne Zauberei schlüpfte Edred hinaus, holte die Aufnahmen und versteckte sie in Elfridas Kommodenschublade, die er mit Recht für einen besseren Aufbewahrungsort hielt als seine eigene. Dann lief er ins Wohnzimmer zurück, um noch eine letzte Runde Sprichwörter-Quartett zu spielen. Während er die Karten aufnahm, schoß ihm durch den Kopf, wie sonderbar es war, daß er, der als Gefangener im Tower gesessen und sich mit Sir Walter Raleigh unterhalten hatte, nun hier friedlich wie ein x-beliebiger Junge mit seiner Tante und seiner Schwester Quartett spielte. »Edred sieht so selbstzufrieden aus wie ein satter Kater«, bemerkte Tante Edith. »Sicher hat er ein ganzes Sprichwort – oder ziemlich ein ganzes – in der Hand.« »Laß nur, du wirst auch gleich zufrieden aussehen«, antwortete Edred, »du gewinnst ja immer!« Dabei stellte er sich vor, wie zufrieden sie erst aussehen würde, wenn er
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und Elfrida auf sie zutreten, sie bei der Hand nehmen und zu dem Versteck führen könnten, in dem der Schatz lag. Da sich Elfridas Gedanken nicht wesentlich von seinen unterschieden, gewann Tante Edith tatsächlich das Spiel. »Ich werde in der nächsten Zeit ganz herkommen«, sagte Tante Edith, während sie die Karten zusammenschob, »dann werden wir herrliche Zeiten haben. Vielleicht finden wir den Schatz. Habt ihr schon einmal von dem Schatz gehört?« »Und ob«, entschlüpfte es Edred, und Elfrida ergänzte: »Und wie wir schon danach gesucht haben! Bloß gefunden haben wir noch nichts! Hast du auch mal gesucht?« »Nein«, erwiderte Tante Edith lächelnd, »aber ich wollte es immer tun. Mein Großvater hat danach gesucht, als er noch ein kleiner Junge war.« »War dein Großvater Lord Arden?« fragte Edred. »Nein. Er war der Enkel von dem Lord Arden, der als halbes Kind für Jakob III. gekämpft hat – wißt ihr, den Thronprätendenten. Sie ließen ihn laufen, weil er noch so jung war. Und dann verpfändete er allen Grund und Boden von Arden und schickte dem Prinzen das Geld. Der Prinz hätte es ihm sicher zurückgezahlt, wenn er König geworden wäre. Aber er wurde eben niemals König«, schloß sie seufzend. »Und deshalb hat der Talgkönig unser ganzes Land bekommen?« »Ja, Liebling, deshalb. Der alte Lord Arden verpfändete allen Besitz, das heißt: Er lieh sich Geld, und wenn er das nicht innerhalb einer bestimmten Zeit zurückzahlen konnte, 244
mußte er statt dessen die Ländereien hergeben. Er konnte nicht zahlen, und deshalb verlor er allen Grund und Boden, bis auf ein Zipfelchen im Dorf und den Arden-Hügel.« »Wenn wir den Schatz finden, wollen wir das Land zurückkaufen«, sagte Edred eifrig. »Der Talgkönig will's nämlich wieder loswerden, hat uns der alte Beale erzählt. Und weißt du was, Tante Edith, dann wollen wir das Schloß wieder aufbauen, nicht? Und die Löcher in den Dächern lassen wir auch zumachen – wo der Regen durchkommt – im Dorf, meine ich. Wir müssen den Schatz einfach finden, damit wir ordentlich für alles sorgen können.« »Aber ihr dürft nicht unzufrieden werden, wenn ihr den Schatz nicht findet«, mahnte Tante Edith, »es ist wirklich nur so etwas wie ein Spiel! Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der einen Schatz gefunden hätte. Und eigentlich haben wir schon einen gefunden: Schloß Arden statt Haus Seeblick mit den Mietern, findet ihr nicht auch? Gute Nacht, meine Häschen!«
Sie war schon abgereist, ehe die Kinder am nächsten Morgen aufwachten. Nach dem Frühstück machten sie sich sofort an ihre Fotoabzüge. Sie arbeiteten in der Küche, weil Mrs. Honeysett im Wohnzimmer aufräumte. Sie brauchten den ganzen Vormittag, weil sie nur einen Trockenrahmen hatten, aber als sie fertig waren, besaßen sie achtzehn bräunliche Bilder des Schlosses.
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Nun mußte ein sicheres Versteck für sie gefunden werden. Elfrida und Edred trugen ihre Abzüge ins Wohnzimmer, das unterdessen wieder blitzsauber war und nach Bohnerwachs und Terpentin roch, breiteten sie auf dem polierten ovalen Eßtisch aus und vertieften sich aufs neue voller Entzücken in ihren Anblick. »Man kann eine Menge erkennen«, stellte Elfrida fest. »Ein bißchen verschwommen sind sie allerdings, wahrscheinlich hat das mit der Entfernung nicht ganz gestimmt oder so was, aber jeder Mensch, der etwas vom Bauen versteht, begreift bestimmt, was wir wollen.« In diesem Augenblick rief Mrs. Honeysett aus der Küche: »Brauchen Sie den ganzen Abfall noch?« Und beide riefen zurück: »Nein!« Aber in der nächsten Minute schrien sie erschrocken auf: »Die Filme!« und rasten in die Küche. Sie kamen gerade zur rechten Zeit, um die Flammen im Herd mit einem harten Knistern hell aufflackern zu sehen. Die alte Wirtschafterin hatte die Filme mit allem anderen Abfall ins Feuer geworfen und betonte eilig, daran seien die Kinder ganz allein schuld. »Ich hab euch gefragt, ob ihr das Zeug noch braucht, und ihr habt nein gesagt – faßt euch an die eigne Nase!« wiederholte sie immer wieder, und damit hatte sie ja recht. »Wir müssen eben doppelt und dreifach auf die Bilder aufpassen«, sagte Edred schließlich, und die ›Geschichte von Arden‹ wurde als zugleich sicherer und angemessener Platz zum Verstecken bestimmt. »So schade ist es auch gar nicht um die Filme«, sagte Elfrida, »wir hätten sie ja doch niemandem zeigen können. Wenn wir den Schatz haben, werden wir es schon so 246
einrichten, daß Tante Edith die Abzüge findet. Wir lassen das Buch einfach irgendwo herumliegen, und dann wird sie denken, daß es Fotografien von Gemälden sind, und dann ist alles in Ordnung.« Während sie die Abzüge zwischen die Seiten des dicken Buches schob, wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich durch die Wörter Graben und Wasserversorgung gefesselt, und sie blätterte gespannt um. »Nun fang bloß jetzt nicht an zu lesen«, sagte Edred, aber Elfrida winkte ab. »Hör mal zu«, sagte sie und schlug eine Seite zurück. Dann las sie laut: »In alten Zeiten war Schloß Arden von einem Wassergraben umgeben. Mit jener Erfindungskraft, deren Früchte die Welt bewundert, lenkten die Erbauer dieses Kastells einen Strom von seinem unterirdischen Laufe ab, der durch den Kalkstein der benachbarten Hügel emporstieg und sich etwa fünfzig Meter unter der Hochwassergrenze in das Meer ergossen haben soll. Die vorbereitenden Arbeiten reichen bis in das Jahr 1647 zurück. Als Arden von den Truppen Oliver Cromwells belagert wurde, gab der kommandierende Offizier Befehl, den Fluß wieder in sein ursprüngliches Bett zurückzuleiten, um den Sturmangriff auf das Schloß zu erleichtern. Dieser Befehl wurde ausgeführt und der Graben trockengelegt. Es geht das Gerücht, daß der Strom seinen Lauf unterirdisch fortsetzte, doch der Autor dieses Werkes, der im Sommer des Jahres I87I den Wohnsitz von Lord Arden mit dessen huldreich gewährter Erlaubnis besuchte und die ganze Gegend einer gründlichen Untersuchung unterzog, konnte keine Spur seiner Existenz entdecken. Die ländlichen Autochthonen des Distriktes stritten jegliche Kenntnis von 247
einem solchen Fluß ab, doch sind dieselben so tief in Ignoranz und Aberglauben versunken, daß sie weder den erhabenen Werken der Philosophie noch den Ehrfurcht heischenden Schönheiten der Natur Bewunderung zu zollen vermögen.« »So ein langweiliger Quatschkopf!« sagte Edred. »Zeig mal, wann ist das gedruckt? 1882? Ich glaube, mir schwant, warum die ländlichen Ich-weiß-nicht-was den Fluß nicht kennen wollten. Merkst du nicht, daß es das Wasser ist, das durch die Schmugglerhöhle fließt? Und damals haben sie doch wie wild geschmuggelt.« »Richtig«, sagte Elfrida bewundernd, »du bist aber gescheit!« »Na ja – aber ich wette, daß wir ›Spuren seiner Existenz‹ finden werden! Los, Elfi, komm, wir wollen die Truhen noch einmal untersuchen. Wir ziehen die ersten Sachen an, die wir in die Finger kriegen, und überlassen alles dem Zufall.«
Sie hatten zwar keinen Streit miteinander gehabt, aber etwas stellte sich ihnen dennoch in den Weg: Sie konnten nämlich die Tür nicht finden. Sie war einfach nicht vorhanden. »Und dabei haben wir uns nicht das allerkleinste bißchen gezankt«, sagte Elfrida verzweifelt, nachdem sie den Ostflügel wieder und wieder durchsucht und keine Tür 248
gefunden hatten, die sie zu dem wunderbaren Dachboden mit den Truhen führte. Entmutigt ließen sich die Kinder auf der obersten Stufe der Bodentreppe nieder, ohne sich um den Staub zu kümmern, der dort lag. »Es ist alles aus«, sagte Edred, »wir haben es irgendwie verdorben. Ich überleg schon die ganze Zeit, ob wir vielleicht die Bilder nicht hätten machen sollen?« »Meinst du vielleicht... daß wir das alles nur geträumt haben?« fragte Elfrida. »Nein«, antwortete Edred bestimmt, »wir haben schließlich die Abzüge – ich glaube wenigstens, daß wir sie haben. Laß uns lieber mal schnell nachsehen.« Von bangen Zweifeln gepackt, polterten sie treppab und stellten erleichtert fest, daß die Fotos noch dort lagen, wohin sie sie getan hatten: zwischen den Seiten der ›Geschichte von Arden‹. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Du?« fragte Edred ratlos. Den Kindern kam es vor, als ob ihnen jemand eine Tür vor der Nase zugeschlagen und mit deutlichen Buchstaben ›Ende‹ unter das Kapitel ihrer Abenteuer geschrieben hätte. »Wenn wir wenigstens die Hexe wiederfänden«, sagte Elfrida. »Aber sie hat ja gesagt, daß sie nicht noch einmal in dieses Zeitalter kommen kann.« »Ich möchte nur eins wissen«, überlegte Edred laut. »Dieser Dickie muß doch ziemlich lange hier gewesen sein, wenn er eine Adresse in New Cross hat. Hör mal, wir sollten ihm einfach schreiben, dann hätten wir wenigstens was getan. «
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Sie schrieben also einen Brief. Das heißt, Elfrida schrieb ihn, und beide unterzeichneten. Er lautet: Lieber Vetter Richard, erinnerst Du Dich noch daran, daß wir uns bei der Pulververschwörung getroffen haben? Wenn Du in unserer Zeit bist, würden wir uns freuen, Dich zu sehen und zu erfahren, wie Du in die Zukunft kommst. Vielleicht könnten wir uns genauso in die Vergangenheit begeben, denn auf diese Weise, wie wir es bisher gemacht haben, geht es nicht mehr. Vielleicht kannst Du nächstes Mal hierherkommen, statt nach New Cross zu gehen. Mit herzlichen Grüßen von Deinen treuen fernen Freunden (Miss) Elfrida Arden (Lord) Edred Arden PS 1.) Ich weiß nicht genau, wie Lords ihre Briefe unterschreiben, denn ich bin es noch nicht lange, aber Du wirst schon wissen, wer ich bin. PS 2.) Kennwort: die alte Papageiennase! Sie brachten den Brief zur Post, und unterwegs fiel ihnen ein, wie sie zu Napoleons Zeiten mit dem Schreiben der alten Lady Arden zum ›George‹ gelaufen waren. Edred schlug vor, die Schmugglerhöhle zu suchen, und als sie eine Briefmarke erstanden, angeleckt und auf den Brief geklebt hatten, stiegen sie zum Kliff hinauf und stöberten 250
unter den Stechginsterbüschen nach dem Höhleneingang herum. Aber sie hatten keinen Erfolg, nirgendwo zeigte sich der schmale geheime Pfad, den sie damals mit ihrem Begleiter hinabgestiegen waren. Schließlich setzten sie sich auf einen Grasfleck und schauten zu den blassen blauen Streifen des Meeres hinüber. Sie quälten sich beide mit Selbstvorwürfen, und Edred klagte: »Wenn wir doch bloß die goldenen Kleider angezogen hätten, als wir die Gelegenheit dazu hatten!« Danach verfielen sie wieder in Schweigen und starrten lange Zeit verzagt aufs Wasser, bis sich allmählich ein sanfter Zauber über sie senkte und sie mit Frieden erfüllte. Edred murmelte plötzlich: »Aber schließlich haben wir ja das Schloß bekommen.« Und Elfrida ergänzte: »Und wir haben herrlich viel erlebt.« Dann sahen sie weiter über die See, und aus ihrem Schweigen wuchs eine kleine Hoffnung, und auf einmal rief Elfrida aus: »Das Muddeltier! Vielleicht ist noch gar nicht alles vorbei... Das Muddeltier hat uns gesagt, daß wir die Tür suchen sollen, und dann haben wir sie gefunden. Vielleicht gibt es uns etwas Neues auf, wenn wir's jetzt rufen – und wenn es kommt!« »Ja, wenn es kommt«, wiederholte Edred unsicher.
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»Du sollst nicht unken, mach lieber ein Gedicht«, sagte Elfrida. Aber Dichten gehörte zu den Dingen, die Edred nie im Leben lernen würde. Elfrida runzelte also angestrengt die Stirn, biß sich auf die Lippen, bis Worte sich fügten, ihr zuflogen und sich ins Gefängnis der Reime zwingen ließen. Schließlich kam eine Strophe zustande, die sie erleichtert vor sich hin sprach: »Ach, liebes Muddeltier – verzeih, wenn wir dich eilig rufen herbei! Wir müssen unser Leid dir klagen und dringlich deinen Rat erfragen. Die Tür ist verschwunden! Nun sag unumwunden: Was können wir tun, daß für uns zwei ein neuer Weg zu dem Schatz wird frei?« »Das ist mal wieder typisch für euch«, sagte der weiße Maulwurf und saß plötzlich zwischen den Kindern im trockenen Dünengras. »Ja, ja, die Jugend ist die große Zeit der Dummheiten. Was soll denn jetzt werden, he? Ich hab dieses ewige Hin und Her langsam satt. Ihr gönnt einem armen Muddeltier keine ruhige Minute! Wie lästige Fliegen summt ihr mir vor der Nase herum.« »Gibt es irgendeine andere Möglichkeit, in die Vergangenheit zu kommen?« fragte Elfrida sachlich. »Wir können die Tür nicht wiederfinden.«
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»Klar, daß ihr das nicht könnt«, sagte der Maulwurf, »ihr habt die Gelegenheit vertan. Jetzt ist es aus für immer. Wer nicht will, wenn er kann, der kann nicht, wenn er will... das ist eine alte Weisheit! – Also schön, sagt mir, wohin ihr wollt, dann mach ich euch eine rückwärtslaufende weiße Uhr.« »Wohin du willst«, rief Edred unüberlegt. »Tz tz«, schnaufte das Muddeltier und rieb sich verdrießlich die Nase, »wieder eine Möglichkeit verspielt! Und auch für immer. Ihr geht verdammt großzügig mit euren Chancen um, das muß ich schon sagen. Also, jetzt wird messerscharf geantwortet: Gibt's jemanden in der Vergangenheit, den ihr gerne sehen wollt? – Wer nicht weiß, was er will, bleib, wo er ist, und schweig still. Das ist ein Reim, der allemal so gut ist wie eure!« »Vetter Richard!« sagten Edred und Elfrida wie aus einem Munde. »Also verhaltet euch ruhig«, befahl das Muddeltier, »ich werde euch eine weiße Straße bauen, die geradewegs dahin führt, wo er sich aufhält.« Gehorsam saßen die Kinder still, aber sie hörten nicht auf zu reden. 253
»Ist er in der Vergangenheit?« fragte Elfrida. »Dann war unser Brief an ihn ziemlich überflüssig.« »Haltet euren Mund!« fauchte der Maulwurf. »Mund zu und Augen auf! Und denkt fest an den weißen Zauber. Es hat noch keinem Zauber geschadet«, fügte das Muddeltier hinzu, »wenn man beharrlich an ihn denkt.« »Darf ich bitte noch etwas sagen, ohne daß es den Zauber aufschiebt?« unterbrach ihn Elfrida. »Leg dir ein weißes Taschentuch übers Gesicht und sprich da hindurch, das ist erlaubt.« Es war ein glücklicher Zufall, daß Elfridas Taschentuch tatsächlich weiß war. Sie legte sich also zurück, breitete es über ihr Gesicht und sagte unter dem dünnen Leinen: »Ich möchte gern die Hexen-Kinderfrau wiedersehen.« »An Stelle von Vetter Richard?« »Nein, nein: außerdem!« »Geht in Ordnung«, sagte das Muddeltier. »Ändern könnt ihr eure Wünsche nicht, aber es gibt keine Regel, die verbietet, daß ihr sie ausweitet, im Gegenteil. Aber jetzt seht her!« Elfrida zog das Taschentuch fort und riß die Augen auf. Der weiße Maulwurf streckte seine Hände – oder besser: seine Vorderpfoten – gegen den tiefblauen Himmel, an dem plötzlich viele weiße Wolken zusammenströmten, und dabei summte er. Es hörte sich an wie die ersten zarten Töne, die der Bogen in der Hand eines Meisters der Geige entlockt – und die weißen Wolken flössen herab, um diesem Klang zu antworten. Sie zogen Kreise am blauen Himmel, ballten sich zusammen und sanken nieder – immer rundherum, rundherum, bis sie 254
wie ein großer Ring über dem Klippenrand schwebten. Langsam senkten sie sich immer tiefer, der Ring umschloß die Kinder dicht und genau, sie saßen wie in einem Turm aus Schnee. Dort, wo sein Fundament das Gras berührte, war er schmal, aber oben zum Himmel öffnete er sich weit. »Faßt euch an den Händen«, rief das Muddeltier, »ihr müßt euch immer anfassen, wenn gezaubert wird!« Die Kinder gaben sich die Hand. »Beide Hände!« befahl das Muddeltier, und Edred und Elfrida griffen nacheinander und hielten einer des anderen Finger fest umklammert. Rundherum, rundherum kreiste die Wolkenwand mit ungeheurer Geschwindigkeit, und die Stimme des Maulwurfs klang nur noch schwach und wie aus weiter Ferne. »Auf!« rief er. »Auf! Sollen die Wolken zu eurem Vergnügen tanzen, und ihr bleibt wie die Ölgötzen sitzen und rührt euch nicht?« Edred und Elfrida sprangen auf, und da durchdrang ein Ton wie Musik die Wolkenhülle, undeutlich zwar und von fern, aber der Rhythmus war klar und vernehmbar – ein eindringliches Tam – tam – tam – tam. Die Kinder konnten ihre Füße nicht mehr stillhalten. Sie führten Tanzschritte aus, von denen sie nicht gewußt hatten, daß sie sie beherrschten, und dabei fühlten sie ein unbeschreibliches Entzücken. Die weiße Wolkenwand senkte sich herab und umschloß sie völlig, sie tanzten in einer Hülle von flockiger, heller Watte. Ein süßer Duft umschwebte sie, der an Frühling erinnerte und an Felder und Hecken, die fernab von düsteren grauen Städten 255
grünten. Die Wolke wurde durchscheinender, je stärker dieser Duft wurde, eine sanfte grünliche Helligkeit durchschimmerte sie mehr und mehr. Das Licht breitete sich aus, die Wolke hob sich sacht, und Edred und Elfrida, immer noch tanzend, fanden sich in einem Kreis von etwa dreißig Kindern wieder, die sich auf einem grünen Rasenteppich zwischen schattigen Mauern von Spalierbäumen im Reigen drehten. Jedes Kind trug einen Kranz von weißen Maiglöckchen auf dem Kopf. »Was ist denn los? Warum tanzen wir hier?« erkundigte sich Edred unvorsichtigerweise bei dem kleinen Mädchen, dessen Hand er zu seinem Erstaunen mit seiner Linken umfaßt hielt. Das Kind lachte nur und gab keine Antwort. Elfrida umklammerte seine rechte Hand, und ihre eigene Rechte wurde von einem Jungen in einem grünen Gewand festgehalten. »Oh«, flüsterte sie, »du bist es! Ich freu mich! Was ist hier los? Warum wird getanzt?« »Es ist Erster Mai«, antwortete Vetter Richard, »und der König wird kommen, um den Festlichkeiten beizuwohnen.« »Was für ein König?« fragte sie. »Wer denn sonst als König Heinrich?« sagte er. »König Heinrich VIII. und seine neue Königin, die noch vor kurzem Lady Anna Boleyn hieß.« »Hör mal, Dick«, rief Edred an seiner Schwester vorbei, »ich bin wirklich froh, daß wir dich wiedergetroffen haben. Wir...«
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»Jetzt nicht!« unterbrach Richard ihn. »Kein Wort hier, das ist zu unsicher. Und außerdem – da naht der König!«
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Maiglöckchen und Perlen Der König kam langsam auf einem großen Rappen zwischen den Bäumen heran. Er war in den Mai-Farben Grün und Weiß gekleidet, ebenso die anmutige Dame, die auf einem schneeweißen Zelter neben ihm ritt. Sie hatte ein schönes Gesicht – stolz und heiter –, und ihr Blick lag voller Liebe auf dem König. »Ich wünschte, ich wüßte nicht so gut in der Geschichte Bescheid«, keuchte Elfrida beim raschen Takt der Musik. »Es ist zu gräßlich, wenn man weiß, daß ihr Kopf...« Richard drückte warnend ihre Hand, und Elfrida hörte auf zu reden. »Halt den Mund!« sagte er. »Man muß nicht denken. Und ich hab gehört, daß die Geschichte aus Lügen besteht. Vielleicht werden sie immer und ewig so glücklich bleiben, wie sie jetzt sind. Man kann die Vergangenheit nur genießen, wenn man nicht an die Zukunft denkt – das heißt die Zukunft der Vergangenheit, ach – aber ich muß euch möglichst bald etwas Wichtiges sagen«, fügte er ziemlich streng hinzu.
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Der Kreis löste sich in einer kunstreichen Figur. Edred und Elfrida entdeckten, daß sie farbige Bänder in der Hand hielten, die von einem Maibaum in der Mitte des Tanzplatzes herabhingen. Die Kinder drehten sich und wendeten sich und reichten die Bänder anderen, geschickten Fingern weiter. Hin und her, nach rechts und links, vor und zurück, es war ein schwieriger Tanz. Glücklicherweise fanden sich ihre Füße zurecht, obgleich die Geschwister selbst nicht wußten, was sie zu tun hatten. Zwei Kreise drehten sich um den Maibaum. Im inneren Kreis, zu dem Edred und Elfrida gehörten, tanzten adlige Kinder in kostbaren Gewändern und im äußeren Bauernkinder in farbenfroher Tracht. Eine Kapelle saß auf erhöhtem Podest, das mit Birkengrün und Schneeballzweigen überdacht war, und feuerte mit ihrer Musik die Tanzenden an. Der König und die Königin hatten ihre Pferde gezügelt und sahen dem Reigen zu, bis die Kinder sich in einer Reihe aufstellten und zu feierlichem Gruß verneigten. »Ein lieblicher Tanz, und wohl ausgeführt«, rief der König. »Nun laßt uns auch noch ein Lied zu Ehren der Maikönigin und meiner viellieben Dame hier hören!« Ein Wispern und Tuscheln lief durch die Schar. Dann trat Richard Arden vor die Gruppe der grün-weiß gekleideten Junker und Edelfräulein. »Dazu sind wir von Herzen gern bereit«, sagte er, »doch zuvor ein Lied für die erhabene Majestät des Königs.«
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Und jubelnd hoben sich die Stimmen: »Die Jagd geht an, die Jagd geht an, und es ist kurz vor Tag, Herr Harry, unser König, will jagen, er stellt seine Beute im Hag.« Während des Singens – denn zu ihrer Überraschung war sie in den Gesang eingefallen, und die Melodie riß sie mit – überlegte Elfrida die alte Frage: Konnte irgend etwas, was sie in der Vergangenheit unternahm, den Ablauf der Dinge 260
ändern? Es mußte doch möglich sein, mit der glücklichen, strahlenden Dame auf dem Schimmel ein Wort unter vier Augen zu wechseln, sie zu warnen, ihr zu helfen! Der Gedanke an das schwarze Schafott überwältigte Elfrida mit solcher Gewalt, daß sie fast seinen düster drohenden Schatten unter den sonnendurchflirrten Frühlingszweigen zu erkennen vermeinte. Jemand zupfte sie an ihrem grünen Rock: eine alte Frau mit einer Haube, die die Haare verbarg. »Lauf zu ihr hin! Lauf!« flüsterte die alte Frau Elfrida zu und stieß sie vorwärts. Irgendwer drückte ihr einen dicken Strauß wilder Maiblumen in die Hand, und sie ging ganz allein über den freien Rasenplatz, bis sie den König und die Königin erreicht hatte. Dann blieb sie stehen und versank in zwei tiefe Knickse, für jeden einen. Und plötzlich hörte sie sich selber sagen: »Der Erste Mai! Der Erste Mai! Alles strömt zum Fest herbei. Der Wald schmückt sich mit Blütenglanz – Ihr Herren und Damen, herbei zum Tanz! Ihr Herren und Damen, arm und reich – Ihr seid gebeten alle zugleich. König und Königin, Bauer und Knecht, feiern den Frühling nach uraltem Recht. Laßt alle Sorgen fahren dahin, heut gilt nur Freude und heiterer Sinn!«
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Darauf verbeugte sie sich und reichte ihre Blumen zur Königin empor. »Wenn wir die Pläne Eurer Majestät gekannt hätten«, ließ sich ein großer, schmalgesichtiger Mann in langem Talar vernehmen, »dann hätten wir Euch ein besseres Willkommen bereitet als diesen ländlichen Gruß!« »Wir gedachten, euch zu überraschen«, erwiderte der König. »Ihr sagtet, der Graf von Arden sei abwesend?« »Sein Sohn und seine Tochter sind hier, um Euch zu huldigen«, entgegnete der Mann im Talar, und da merkte Elfrida, daß Edred neben ihr stand. »Tritt näher, mein Junge«, befahl der König und griff herab nach des Jungen Hand. Elfrida trat auf einen Wink näher an den weißen Zelter heran, und die Königin beugte sich tief aus dem Sattel, um sie nach ihrem Namen zu fragen. Hier war der Augenblick, den das Mädchen herbeigewünscht hatte, hier war die Gelegenheit, die Königin zu warnen. »Ich heiße Elfrida Arden«, antwortete sie und setzte tapfer hinzu: »Darf ich etwas sagen, Euer Majestät?« »Sprich nur«, antwortete die Königin lächelnd und hob die schmalen Augenbrauen. »Ich möchte gern dicht herankommen und ganz leise reden«, bat Elfrida. »Du bist sehr kühn, Mädchen!« sagte die Königin, aber sie beugte sich doch tiefer hinab. »Ich möchte Euch warnen«, flüsterte Elfrida hastig, »und bitte, schenkt mir Glauben, wenn ich auch bloß ein Kind bin. Denkt nicht, ich könnte noch nichts wissen, ich 262
weiß doch ganz genau Bescheid. Ich möchte Euch warnen...« »Ich wurde schon einmal am heutigen Morgen gewarnt«, unterbrach sie die Königin, »welch krächzend Unkenlied an einem Ersten Mai!« »Wer warnte Euch, Euer Majestät?« »Eine alte Frau schlüpfte statt der Dienerinnen in die Kammer zu mir. Sie bot mir einen Maienzauber, um mir meine Schönheit und die Liebe meines Herrn zu bewahren...« »Was war das für ein Zauber?« fragte Elfrida aufgeregt und vergaß ganz, ›Euer Majestät‹ zu sagen. »Er war recht einfach«, entgegnete die Königin. »Die rosige Haut und die Liebe würden mir so lange erhalten bleiben, als ich kein Taschentuch zur Erde fallen lassen würde. Doch wenn ich's fallen ließe, würde ich mehr verlieren als die Schönheit und das Glück. Sie sagte, ich verlöre dann mein Haupt«, die Königin lachte leise auf, »nach dem Ablauf einer gewissen Zahl von Tagen vom Fallen des Taschentuches an gerechnet – dies Haupt, das du hier sehen kannst!« Sie lachte wieder. »O nicht! Nicht!« bat Elfrida. »Ich hoffe, daß Ihr sie ernst nehmt! Ich liebe Euch von ganzem Herzen, Ihr seid so klug und wunderschön. Ich möchte sein wie Ihr, wenn ich erwachsen bin!« Das feingeschnittene Antlitz der Königin verdüsterte sich. »Der Himmel gebe, daß du besser wirst als ich!« sagte sie ernst und beugte sich noch einmal tief hinab.
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Elfrida hob sich auf die Zehenspitzen, und die Königin küßte sie. »Und seid nur vorsichtig!« flüsterte das Mädchen. »Euer lieber Kopf!« Und die Königin küßte sie nochmals. Plötzlich schrillten grelle dudelsackähnliche Klänge auf, und junge Burschen drehten sich in einem munteren Bauerntanz. Andere Instrumente fielen ein, und der König rief: »Das ist eine fröhliche Weise! Komm, mein Schatz, wir wollen uns mit allen anderen im Takte drehen!« Und schon waren sie von ihren Pferden gestiegen und führten den Tanz an, so vergnügt und heiter wie irgendein ländliches Paar. Elfrida hätte am liebsten geweint, doch Edred zog sie am Arm und bahnte ihr einen Weg zu Vetter Richard. »Wie schön das hier ist!« rief er begeistert. »Hier würde ich am liebsten immer bleiben!« »Wenn ich du wäre«, unterbrach ihn Richard scharf, »dann würde ich keine Stunde lang hierbleiben wollen!« »Warum nicht? Ist es so gefährlich? Werden sie uns den Kopf abschlagen?« »Ich habe nicht an eure Köpfe gedacht«, erwiderte Richard noch immer ziemlich aufgebracht. »Ich habe das Gefühl, daß es Wichtigeres auf der Welt gibt!« »Nicht so sehr viel«, wandte Elfrida ein. »Wenigstens nicht für uns, meine ich. Weswegen bist du so aufgeregt und böse?« »Ich habe gedacht«, begann Richard, doch da schlich sich das alte Weib heran, das Elfrida vorhin den Blumenstrauß gegeben hatte. 264
»In den Wald, Kinder«, flüsterte es, »rasch hinein in den Wald! Die Königin wird gleich in Tränen ausbrechen, und der König wird keine Gnade für die kennen, deren Warnungen seine Liebste zum Weinen brachten.« Sie liefen zu den Büschen am Rande des Festplatzes hinüber, und die grünen Blätter schlössen sich wie ein Vorhang hinter ihnen. »Nur schnell!« drängte die Alte. »Dort entlang!« Sie bahnten sich einen Weg unter Eichen und Eiben und durch Haselsträucher und Kastaniendickicht bis zu einem schmalen Pfad. »Jetzt rennt, was ihr könnt!« rief sie und eilte den Kindern mit einer für ihr Alter erstaunlichen Behendigkeit voran bis zu der Hügelkette, von wo sie Schloß Arden mit seinem Wallgraben und das Meer dahinter sehen konnten. »So«, sagte die alte Frau, »nun merkt euch die Stelle gut, wo der Fluß entspringt. Hier war die Höhle der Schmuggler, als Betty Lovell die Landung der Franzosen prophezeite.« »Du bist die Hexe!« rief Elfrida. »Du bist Betty Lovell!« »Wer denn sonst?« fragte die Alte. »Aber jetzt ruft eilig das Muddeltier und sputet euch, daß ihr zurück in eure Zeit kommt. Denn der König wird das ganze Land nach dem Kind durchsuchen lassen, das seine Herzallerliebste zum Weinen gebracht hat. Und sie wird ihm alles erzählen, sie verschweigt ihm nichts, und...« »Aber sie wird ihm doch nicht das von dem Taschentuch erzählen?« fragte Elfrida.
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»Doch, sie wird töricht genug dazu sein«, bestätigte die Alte, »und wenn sie es am kommenden Ersten Mai in Green wich fallen lassen wird, dann wird er sich wieder daran erinnern. Los, ruft euer Muddeltier und verschwindet!« »Aber wir sind doch gerade erst gekommen«, protestierte Edred. »Was war denn mit Elfrida?« »Ach, nichts«, sagte Elfrida, »ich wollte nur wissen, was Richard damit meinte, daß unsere Köpfe nicht so wichtig wären.« »Eure Köpfe werden höchst interessant werden, wenn ihr noch lange zögert!« unterbrach auch sie die Hexe energisch. »Soll ich das Muddeltier rufen, oder wollt ihr es tun?« »Ruf du's bitte«, sagte Elfrida. »Sag mal, Dickie, was hast du damit gemeint? Sag es uns.« Betty Lovell begann, büschelweise das kurze Gras auszureißen und die Kalksteine darunter zusammenzuklauben. »Helft mir doch«, rief sie, »sonst schaff ich es nicht rechtzeitig!« Gehorsam griffen die Kinder zu. »Könnte Dickie nicht mit uns gehen, wenn wir wirklich fort müssen?« fragte Elfrida plötzlich. »Nein«, sagte Richard, »ich denke nicht daran!« »Warum denn nicht?« fragte Elfrida keuchend. Sie zerrte mit aller Kraft an einem mächtigen Steinbrocken. »Weil ich nicht will.«
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»Dann erzähl uns wenigstens, was du gemeint hast, ehe das Muddeltier kommt!« »Dazu ist's zu spät«, sagte eine kleine Stimme, »es ist bereits da!« Und dabei schob sich der weiße Maulwurf zwischen zwei hellen Kalkbrocken hindurch ans Tageslicht. »Nanu – ich hab doch gar kein Gedicht aufgesagt!« sagte Elfrida. »Und ich hab weder ein Dreieck noch einen Bogen gebaut«, rief die alte Betty Lovell kichernd. »Ich war schon vorher hier«, erklärte der Maulwurf und blickte streitsüchtig in die Runde, »die ganze Zeit. Warum soll ich denn nicht dann und wann mal dahingehen, wo's mir paßt? Warum soll ich immer nur nach eurer Pfeife tanzen, he?« »Da hast du völlig recht«, lenkte Elfrida ein. »Und jetzt, liebes, liebstes Muddeltier, bring uns bitte schnell weg!« Wirrer Stimmenlärm ertönte in der Ferne. Hundegebell klang dazwischen. »Die Jagd geht an«, sagte die Hexen-Kinderfrau. »Ich halte nichts von Jagden«, sagte das Muddeltier, »und erst recht nichts von Hunden. Ich hab Hunde nie ausstehen können – diese scheußlichen, lärmigen, zahnigen Ungeheuer. Hier – kommt rein!« »Wohin?« fragte Edred. »In mein Haus«, entgegnete der Maulwurf. Ob sie nun alle kleiner wurden oder ob sich der Spalt im Kalkstein ausdehnte, das wußte keiner. Auf jeden Fall 267
konnten sie einer nach dem anderen hinabschlüpfen. Elfrida packte Richards Hand und hielt sie fest umklammert, obwohl er sich sträubte und die Füße gegen den Boden stemmte. »Ich geh nicht mit euch in eure Zeit zurück«, sagte er, »ich gehe meine eigenen Wege!« »Wohin denn?« fragte Elfrida. »Wohin ich will«, erwiderte Richard entschlossen und riß seine Hand los. Aber es war zu spät, der Felsen hatte sich schon über ihnen geschlossen. Kein Schimmer des köstlichen Mai-Sonnenscheins drang herein, es war plötzlich dunkler als in der schwärzesten Nacht. Elfrida tastete nach Edreds Hand und dann auch nach Richards, denn sie erinnerte sich an den Befehl des Muddeltiers: ›Gebt euch die Hände, wenn gezaubert wird!‹ Richard ließ es zwar zu, daß sie ihn festhielt, aber er sagte mit spröder Stimme: »Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es ernst meine, wenn ich sage: Ich will nicht mit euch in eure Zeit gehen!« »In den Tagen Jakobs I. warst du viel netter«, stellte Elfrida fest. In diesem Augenblick ließ ein heftiges Donnern die Erde über ihnen erdröhnen, daß sie erstarrten und sich eng aneinanderdrängten. »Das sind nur des Königs Pferde und des Königs Leute, die euch nachjagen«, erklärte das Muddeltier vergnügt. »Aber jetzt will ich eine weiße Uhr für euch zum Nachhausegehen machen. Setzt euch da auf die Erde, wo ihr steht, und faßt nichts an, bis ich wieder zurück bin!« 268
Während sie in der tiefen Dunkelheit allein am Boden hockten, kam Elfrida auf ihre Frage zurück. »Warum willst du nicht mit uns in unsere Zeit gehen, Dickie?« »Ich hasse eure Zeit. Es ist eine widerliche, grausame Zeit«, brach es leidenschaftlich aus Richard hervor. »Sie schlagen einem jedenfalls in unserer Zeit nicht den Kopf für nichts und wieder nichts ab«, wandte Edred ein, »und sie werfen einen auch nicht in den Tower.« »Sie tun viel Schlimmeres«, entgegnete Richard, »das könnt ihr mir glauben! Sie lassen Leute viele Stunden am Tag schuften, für so wenig Geld, daß es kaum zum Leben reicht, und Zeit zum Schlafen oder zum Glücklichsein haben die Leute auch nicht. Keiner denkt daran, den Armen Essen und Kleider zu geben, wenn sie sich nicht alles Notwendige kaufen können, aber sie werden ins Gefängnis geworfen, wenn sie sich nehmen, was sie brauchen. Frauen müssen arbeiten, statt daß sie sich um ihre Kinder kümmern, und wenn niemand aufpaßt, fällt ihr Baby hin und ist ein ganzes Leben lang ein Krüppel. Oh – ich weiß Bescheid! Ich will nicht mit euch gehen! Am Ende würdet ihr mich dort für immer festhalten.« Er schüttelte sich vor Abscheu. »Das würden wir nicht tun. Aber ich kann es nicht ändern, daß Leute arbeiten müssen und nicht genug Geld haben«, sagte Edred. »Wenn ich Lord Arden wäre«, rief Richard ins Dunkel, »dann würde ich mir keinen Tag Ruhe gönnen und nichts tun, was mir Spaß macht, bis all diese Mißstände behoben
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wären. Aber in eurer Zeit kümmert sich ja niemand darum.« »Das ist nicht wahr«, unterbrach ihn Elfrida, »wir kümmern uns schon, wenn wir davon hören. Aber was sollen wir tun?« »Ich bin Lord Arden«, erklärte Edred, »und wenn ich groß bin, werde ich durchführen, was du gesagt hast. Ich glaube, ich bin dann im Oberhaus, und da müssen sie mir zuhören, wenn ich Vorschläge mache. Ich werde an deine Worte denken und alles vorbringen.« »Du bist noch nicht erwachsen«, sagte Richard, »und Lord Arden ist dein Vater – nicht du.« »Unser Vater ist tot«, sagte Elfrida leise. »Woher weißt du das?« fragte Richard. »Wir haben einen Brief bekommen.« »Meinst du vielleicht, ich würde mich auf einen Brief verlassen?« fragte Richard verächtlich. »Wenn ich meinen Vater nicht tot hätte daliegen sehen, würde ich doch nicht glauben, daß er gestorben ist! Ich hätte mich vergewissert, wie er starb und wo, und dann hätte ich mich an seinem Mörder gerächt!« »Aber er ist ja gar nicht ermordet worden.« »Wie wollt ihr das wissen? Ihr seid die ganze Zeit nur dem Schatz nachgelaufen und habt kein einziges Mal versucht, in die Zeit zu kommen, in der euer Vater gelebt hat – und das ist doch noch gar nicht lange her! –, um herauszufinden, was wirklich mit ihm geschehen ist!«
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»Ich wußte nicht, daß wir das hätten tun können«, flüsterte Elfrida mit erstickter Stimme. »Aber selbst wenn wir's gekonnt hätten, dann wäre es nicht richtig gewesen, nicht? Tante Edith hat gesagt, daß er im Himmel ist. Dorthin können wir nicht, verstehst du? Das ist nicht so wie Geschichte – das ist ganz etwas anderes.« »Na gut«, seufzte Richard, »dann muß ich's euch eben sagen. Damals bei der Pulververschwörung habt ihr mir nämlich ganz gut gefallen, und als ihr wieder in eure eigene Zeit gegangen wart, da hab ich Betty Lovell gefragt, wie ihr heißt, und sie hat mir gesagt, daß du Lord Arden wärst. Und als ich das nächste Mal weg wollte – weg von dort, wo ich war –, da wünschte ich, daß ich zu Lord Arden gebracht würde. Und...« »Kommt her, meine Lieben«, erklang plötzlich die Stimme des Maulwurfs, »die Uhr ist fertig!« Ein sanftes Licht erglomm und nahm an Glanz zu. Sie erkannten, daß sie sich in einer mächtigen Kalksteinhöhle befanden – in der Schmugglerhöhle. Und auf ihrem glatten Sandboden schimmerte ein großes Zifferblatt mit Zeigern und Zahlen, die aus zart leuchtenden Perlen in Elfenbein eingelegt waren. »Marsch, auf den Minutenzeiger«, befahl das Muddeltier, »und ab nach Hause!« »Ich kann nicht weg«, erklärte Edred grimmig, »ehe ich nicht weiß, was Richard sagen wollte.« »Dann wirst du vom König und seinen Soldaten erwischt!« mahnte die Hexe.
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»Darauf muß ich's ankommen lassen«, erwiderte der Junge ruhig. »Ich tue keinen Schritt, bis Richard mir nicht erklärt hat, was er meinte.« »Eine Minute geb ich noch zu«, sagte das Muddeltier, »aber mehr nicht. Ich hab es verflucht satt, das kannst du mir glauben!« »Ach sei doch bitte nicht so wütend«, bat Elfrida. »Bin ich gar nicht«, antwortete das Muddeltier. »Es ist nur das ewige Hin und Her und Ja und Nein und Vor und Zurück – das macht mich ganz kribbelig!« »Also – wie hast du das gemeint, das mit meinem Vater?« fragte Edred. »Ich wollte zu euch und fragte nach Lord Arden. Und da bin ich nicht bei euch gelandet, sondern bei eurem Vater.« »Nein!« schrieen Edred und Elfrida zugleich. »Euer Vater lebt! Und ihr habt die ganze Zeit mit dem albernen Schatz vertrödelt, statt ihn zu suchen!« »Unser Vater lebt!« Elfrida klammerte sich an ihren Bruder. »Oh, das ist gemein, ihn mit der Zauberei und solchen Sachen zusammenzubringen. Du bist herzlos, Dick. Ich weiß ganz genau, daß ich meinen Vater nie wiedersehen kann.« »Natürlich wirst du das nicht, weil ihr nicht nur feige, sondern auch noch dumm wie Bohnenstroh seid«, rief Richard ärgerlich. »Macht euch auf und sucht ihn! Das ist eure Aufgabe! Wiedersehen!«
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Und ehe das Muddeltier oder die Kinderfrau eingreifen konnten, war er auf den langen Minutenzeiger gesprungen und hatte gerufen: »Nach Hause!« Sofort begannen die Zeiger zu kreisen, zuerst langsam und dann immer schneller und schneller, bis sie schließlich so rasch rundum wirbelten, daß sie völlig unsichtbar wurden. Nur die Ziffern aus Perlen und Elfenbein waren noch auf dem Sandboden der Höhle zu erkennen. Edred und Elfrida, die sich fest umschlungen hielten, warfen dem Muddeltier einen ängstlichen Blick zu. Sie erwarteten, daß es vor Wut aus dem Häuschen wäre, aber es schien zu schmunzeln. »Ein tapferer Junge«, sagte die Hexe. »Ha«, kicherte das Muddeltier, »das war ein richtiger Arden, was?« Edred löste sich von seiner Schwester und reckte sich entrüstet, um dem Muddeltier zu zeigen, daß er auch ein richtiger Arden war. »Können wir nicht nach Hause gehen?« fragte Elfrida schüchtern. »Kannst du uns nicht noch eine weiße Uhr oder so etwas Ähnliches machen?« »Wer schon was hat, der braucht nichts«, sagte das Muddeltier. »Erst werden die alten Uhren verschlissen, ehe es neue gibt. Sowie er den 'Zeiger verlassen hat, bleibt die Uhr stehen. Dann könnt ihr euch draufsetzen und so bequem wie in Abrahams Schoß nach Hause reisen.« »Aber wenn uns der König entdeckt?« fragte Elfrida ängstlich. »Das wird er schon nicht«, beruhigte sie Betty Lovell. 273
»Mach mal die Kalktür auf, Muddeltier, mein Schatz, dann werd ich den König ablenken, bis die jungen Herrschaften heimgefahren sind.« »Sie werden dich als Hexe ins Wasser schmeißen«, warnte das Muddeltier, das anscheinend nichts gegen den vertraulichen Ton einzuwenden hatte, in dem Betty zu ihm sprach. »Ach, heut ist es so heiß«, erwiderte die Alte leichthin. »Bis sie mich zum Teich geschleift haben, seid ihr sicher fort. Und das Wasser wird ganz erfrischend sein.« »Nein!« riefen Edred und Elfrida: »Nein, nicht! Du wirst ertränkt!« »Gott segne eure Einfalt«, brummte das Muddeltier, »die da wird schon nicht ersaufen. Sie kommt bloß durch die Hintertür nach Hause – das ist alles. Auf dem Grund eines jeden Teiches ist eine Tür. Man muß sie nur zu finden wissen. « Die Kinder küßten sie zum Abschied, und Betty Lovell schlüpfte durch den Kalkspalt, um sich dem Zorn des Königs zu stellen. Und plötzlich war die Elfenbeinuhr wieder vollständig mit Minuten- und Sekundenzeiger, Edred und Elfrida kauerten sich auf den Minutenzeiger, und ehe das Muddeltier seinen Mund aufmachen konnte, rief Edred mit fester Stimme: »Bring uns dorthin, wo Vater ist!«, denn er hatte von Richard gelernt, daß man weißen Uhren befehlen kann. Und der Zeiger aus Perlen und Elfenbein begann, schneller und immer schneller zu kreisen, bis er unsichtbar wurde.
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Ein Schatz wird gefunden »Zu Richard Arden!« schrie das Muddeltier und sprang im allerletzten Augenblick auf die Uhr und klammerte sich mit Krallen und Pfoten an den wirbelnden Minutenzeiger, der schneller und immer schneller im Kreise schwang. Als er mit einem plötzlichen Ruck stehenblieb, holte Edred tief Atem und rief, so laut er konnte, noch einmal: »Zu meinem Vater!« Wieder begannen die Zeiger sich so geschwind zu drehen, daß keines von den Kindern genug Zeit hatte festzustellen, wo sie zwischendurch angehalten hatten. Sie nahmen nur flüchtig wahr, daß sie sich in einem Zimmer befanden und daß sich das Muddeltier, das plötzlich die Größe eines Eisbären angenommen hatte, über den Rand der Uhr beugte und mit seiner riesenhaften Pfote nach etwas griff. Dann rief jemand etwas, was die Geschwister nicht verstanden. Fast im gleichen Augenblick hielt die Uhr an, und sie sahen, wie etwas von ihr herunterkletterte. Sie waren jetzt wieder in der Höhle gelandet. Aber Vetter Richard hatte jetzt andere Kleider an als bei der Maifeier zur Zeit Heinrichs VIII. Seine Sachen ähnelten dem Anzug, den Edred zu Napoleons Zeiten getragen hatte,
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und auch die Höhle sah mit den Fässern und Ballen und dem Strom, der sie durchrauschte, genauso aus wie damals. »Es hilft nichts, du mußt uns begleiten«, sagte das Muddeltier und schrumpfte langsam wieder zu seiner gewöhnlichen Größe zusammen, »kannst du das nicht verstehen? Wenn sich die Kinder ihrem Vater zeigen, dann müssen sie ihm die ganze Zauberei erklären, und wenn ein Zauber einmal erklärt wurde, dann ist er auch verflogen und dahin. Aber du kannst zu ihm gehen und ihm helfen, wenn er Hilfe nötig hat, ohne daß du etwas erklären mußt.« »In Ordnung.« Richard willigte ein. »Nur«, fügte er hinzu, »ich habe meinen Zauber hier verloren.« Er beugte sich zum Sandboden hinunter und hob einen kleinen, mit silbernen Glöckchen behangenen Stock auf, der wie eine altmodische Kinderklapper aussah. »Da sind das Wappen und der Helmschmuck von Arden drauf«, sagte er, und im Schimmer der Elfenbeinuhr konnten die Kinder den Schild und darüber das Muddeltier erkennen. »Jetzt bin ich bereit. Ich nehm alles zurück, was ich gesagt habe. Mein Vater ist nämlich wirklich tot... und wenn ich nur halb so viel Gelegenheit gehabt hätte wie ihr... daran mußte ich immer denken. Begreift ihr das? So, und nun wollen wir uns die Hände geben. « »Dies ist so ganz anders als die anderen Abenteuer«, sagte Elfrida leise. »Sonst war es ein Spiel, aber dies hier ist... dies ist...« »Dies ist die Wirklichkeit, mein Lämmchen«, fuhr das Muddeltier ungewöhnlich sanft fort. »Jetzt wird euch euer Vetter Richard helfen, und wenn ihr euren Vater zurückbekommt, woran ich keinen Augenblick mehr 276
zweifle, dann wird euer Vetter Dick in seine eigene Zeit und in seine eigene Generation heimkehren, und ihr werdet ihn nicht wiedersehen, und euer Vater wird keine Ahnung haben, daß ihr ihm so nahe wart, wie ihr es sein werdet.« »Ich glaub nicht, daß wir ihn sehen werden«, murmelte Elfrida, und zum erstenmal war sie es, die nichts glauben wollte. »Wenn du nicht daran glaubst, daß ihr ihn finden werdet«, sagte das Muddeltier bitter, »dann kann es natürlich auch nicht gelingen. Das ist klar!« »Aber ich glaube, daß wir ihn finden werden«, sagte Edred bestimmt. »Es könnte natürlich alles nur ein Traum sein«, setzte er nachdenklich hinzu, »du mußt dir nicht einbilden, daß ich das nicht wüßte. Aber wenn es ein Traum ist, dann will ich nie mehr aufwachen. Ohne meinen Vater gehe ich nicht nach Arden zurück!« »Habt ihr begriffen«, fragte das Muddeltier, »daß es der Schlußpunkt ist, wenn ich euch in eurem eigenen Jahrhundert in irgendein anderes Jahr und an einen anderen Ort bringe? Dann gibt es nichts mehr.« »Bedeutet das, daß wir danach keine Gelegenheit mehr haben, in die Vergangenheit zu reisen, um nach dem Schatz oder sonst was zu suchen?« »Oh – Gelegenheiten!« sagte das Muddeltier lachend. »Ich wollte nur sagen, daß keine Zauberuhren für euch mehr gemacht werden, das habe ich gemeint. Und wenn du deinen Vater findest, dann bist du auch nicht mehr Lord Arden.«
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Edred dachte nach, und einen Augenblick lang durchzogen die verrücktesten Gedanken gleichzeitig seinen Kopf: daß alles Torheit sei und daß sein Vater wahrscheinlich gar nicht mehr lebte und daß es überhaupt keinen Sinn hätte, ihn zu suchen, und daß er selber Lord Arden bleiben wollte und daß es eigentlich am gescheitesten wäre, wenn sie nach Hause gingen... und alle diese Gefühle überfielen ihn ganz gegen seinen Willen. Aber... »Ich will nicht Lord Arden sein«, brachte er heraus, »ich will meinen Vater!« Und diese Worte entsprachen ganz und gar der Wahrheit. »Soll ich mit euch gehen?« fragte das Muddeltier, und sie antworteten einstimmig und ernst: »Ja, bitte!« »Viele Fehler könnt ihr ja nicht mehr machen«, fuhr das Muddeltier fort, »dies ist unwiderruflich das Ende. Ja, das ist es. Jetzt gibt's keine Dachboden-Truhen mehr. Und erst recht keine weißen Uhren.« »Ja, ja«, unterbrach ihn Edred ungeduldig, »das haben wir längst begriffen. Laß uns doch bloß endlich gehen!« »Du wartest erst mal noch ein Augenblickchen«, sagte das Muddeltier. Seine Ruhe war nervenaufreibend für die Kinder. »Du mußt dir nämlich überlegen, was du sein willst und wie dein Vater am besten rauskommt. Ich würde vorschlagen: durch eine Ritze im Kalkstein.« »Wie du willst«, sagte Elfrida. »Aber, liebstes Muddeltier, sehen wir dich denn nicht irgendwann einmal wieder?«
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»Ach, das denke ich doch«, erwiderte der Maulwurf verschmitzt. »Ihr werdet mich jeden Tag beim Mittagessen sehen.« »Beim Mittagessen?« »Ich bin schließlich auf allen Gabeln und Löffeln«, sagte er und kicherte noch aufreizender als vorher. »Muddelchen!« schrie Edred plötzlich. »Ich hab's! Du verkleidest uns so, daß Vater uns nicht erkennen kann!« »Das ist ein großartiger Einfall«, sagte Richard, »und ich werde auch verkleidet.« »Du nicht«, bestimmte das Muddeltier. Dabei schwenkte es seine weiße Pfote gegen Edred und Elfrida, und im Nu steckten sie in dicht anliegenden weißen Pelzen. Sogar an ihren Händen saßen dicke weiße Pelzhandschuhe mit scharfen Krallen an den Fingerspitzen. Im gleichen Augenblick schoß auch das Muddeltier wieder in die Höhe, bis es die Größe eines Eisbären erreichte, während Vetter Richard jäh die Ausmaße eines Riesen annahm. »Los!« befahl das Muddeltier, und sie sprangen flugs auf die weiße Uhr, die sich sogleich in Gang setzte. Als sie anhielt und alle wieder vom Zeiger herunterstiegen, traten sie auf einen Teppich von dickem Moos. Über ihren Köpfen schimmerten durch die Zweige großer Bäume Sterne. Die Luft war schwer vom Duft vieler Blumen, aber obgleich sie Edred und Elfrida lau umfloß, empfanden sie ihre Pelzkleider nicht im geringsten als lästig. Das Moos schmiegte sich so weich gegen ihre Fußsohlen, daß sie es auch mit den Händen fühlen wollten und sich deshalb niederbeugten und auf allen vieren liefen. Dann packte sie 279
der sonderbare Wunsch, sich hinzuwerfen und auf dem Boden zu wälzen, und dieses Verlangen wurde so mächtig, daß sie ihm nachgaben. Es war ein himmlisches Gefühl, sich auf dem weichen Moospolster zu kugeln. Vetter Richard blieb stehen und schaute zu ihnen hinab und lachte. Sie waren so in ihr Rollen und Purzeln versunken, daß sie nicht aufeinander achteten. »Ihr seid vielleicht ulkig!« sagte Dick. »Aber jetzt auf zum Spalt im Kalkstein. Soll ich dich tragen?« fragte er das Muddeltier, das überraschenderweise zustimmte. »Kommt mit!« rief er den Geschwistern zu. Es mußte am Moos liegen, oder vielleicht hatte es auch etwas mit den Pelzanzügen und den Pelzhandschuhen zu tun, daß es Edred und Elfrida einfacher schien, Richard auf allen vieren zu folgen. Sie hatten sich noch niemals so beschwingt und so vergnügt gefühlt, und das Gehen war ihnen noch nie so leichtgefallen. Sie sprangen ausgelassen hinter ihrem Vetter her, bis sich plötzlich eine gewaltige Felswand vor ihnen erhob. Wie gewaltig sie war, zeigte sich erst recht, als der Mond hinter den Wolken hervorkam. Der Anblick erinnerte überraschenderweise an die Ritze im Kalkstein, aus der das Muddeltier daheim in den Hügeln von Sussex herausgekrochen war, als sie mit Betty Lovell den Rasen aufrissen. »Da müssen wir hinauf«, sagte Richard und deutete zu der schattenschwarzen Schlucht empor. Trotz der Dunkelheit konnten Edred und Elfrida erkennen, daß kein Weg hinaufführte, es gab nur ein paar Riffe, die höchstens eine Gemse betreten könnte. 280
»Du kannst niemals da raufklettern«, sagte Edred überlegen zu seinem großen Vetter, während er aus irgendeinem Grunde nicht daran zweifelte, daß er und Elfrida es schaffen würden. »Nein«, bestätigte das Muddeltier, sprang von Richards Arm zur Erde, sagte: »Ich muß ihn tragen« und nahm vor den Augen der verdutzten Kinder wieder Eisbärengröße an. »Sie haben's noch nicht gemerkt – sogar jetzt noch nicht«, sagte Richard. »Was gemerkt?« fragte Elfrida neugierig. »Na, als was ihr verkleidet seid. Ihr lauft als Katzen herum, meine werten Verwandten, als weiße Katzen!« Edred und Elfrida blickten sich erstaunt an und sahen, daß sie tatsächlich Katzen waren. »Ich will euch meinen Plan erklären«, fuhr Richard fort. »Die Leute in diesem Land kennen keine zahmen Tiere und halten Menschen, die Tiere zähmen können, für Zauberer. Das hab ich herausbekommen, als ich das vorige Mal hier war. Deswegen habe ich diesmal drei zahme weiße Tiere bei mir – das heißt, wenn du mitmachen willst«, fragte er das Muddeltier, »du spielst doch mit, nicht?« »Und ob!« antwortete es und kicherte kurz auf. »Ihr Katzen dürft bloß maunzen und schnurren und müßt meinen Befehlen gehorchen. Ihr werdet schon sehen, wie alles geht. Folgt unter allen Umständen nur mir oder eurem Vater.« »Ist unser Vater denn wirklich hier?« fragte Elfrida aufgeregt. 281
»Er ist jenseits der großen Klippe«, erwiderte Richard, »jenseits dieses Felsens, den kein Mensch erklettern kann. Aber ihr könnt es. Kommt mit!« Er stieg auf den Rücken des Muddeltiers und schlang seine Arme um den weißen Eisbärenhals, und das Muddeltier begann den Aufstieg. Es war kein leichter Aufstieg. Selbst den Katzen fiel es schwer, mit den Pfoten Halt an den schmalen, glatten Felswänden zu finden. »Ich hab manchmal von Bergbesteigungen in fremden Ländern gehört«, keuchte Elfrida, »aber so hätte ich sie mir doch nicht vorgestellt. Wir sind jetzt auch im Ausland, nicht wahr?« »In Südamerika«, antwortete Richard. »Wenn du wieder zu Hause bist, kannst du im Atlas nachsehen, aber wahrscheinlich wirst du's nicht finden. Kommt, kommt weiter!« Als sie den Grat der Felswand endlich erreicht hatten, mußten sie auf der anderen Seite wieder hinunterklettern, denn der Gebirgszug war eine trennende Mauer zwischen einem Waldgebiet und einer ausgedehnten fruchtbaren Ebene, über die sich baumbestandene Wege und glatte Straßen zwischen Feldern und Wäldern hinzogen. Häuser und Städte lagen wie bunte Tupfen in ihrem Grün, Seen spiegelten das Himmelsblau, und die Dächer hoher steinerner Gebäude glänzten im Licht der aufgehenden Sonne wie Gold. Auf den Wiesen weideten fremdartige Tiere mit langen Hörnern, und daneben grasten hochbeinige Schafe, von denen Richard behauptete, es seien Lamas.
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»Ich kenne sie, weil ich sie auf Briefmarken gesehen habe«, erklärte er. Sie wanderten ein ganzes Stück in die Ebene hinein und beschlossen, für eine kleine Weile unter den schattigen Ästen eines großen Baumes zu rasten. Aber bald kamen Hirten herbeigelaufen und bestaunten den fremden, sonderbar gekleideten Jungen, der es sich da in Gesellschaft eines großen weißen Bären und zweier weißer Katzen bequem gemacht hatte. Die Männer schienen keine Angst vor den Tieren zu haben. Als sich das Muddeltier jedoch auf die Hinterpfoten aufrichtete und würdevoll verneigte, als die beiden Katzen auf Richards Befehl Purzelbäume schlugen, zog einer der Hirten mit entschlossener Miene seinen roten wollenen Mantel fester um die Schultern, gab dem Jungen zu verstehen, er solle ihm folgen, und lief eilig in eine nahe Stadt, deren Häuser aus gewaltigen, mit Gold und Silber eingelegten Steinquadern erbaut waren. Auf einem weiten Platz erhob sich ein Palast mit einem Dachgarten, und dahin führte der Hirte Richard und seine Gesellschaft. Sie traten durch hohe, weit offene Türen ein. In einem langgestreckten Innenraum, der ohne Decke frei unter dem Himmel lag, hielten sich viele braunhäutige Menschen auf, alle in wallende bunte Gewänder gekleidet. An einer Schmalseite erhob sich eine steinerne Plattform mit drei Thronsesseln. Die versammelte Menge machte dem Hirten und seinem sonderbaren Gefolge Platz, und als sie sich der Estrade näherten, erblickten die beiden Katzen Edred und Elfrida auf dem mittleren größten Stuhl einen
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hoheitsvollen Mann, und in den Sesseln zu seiner Rechten und Linken saßen – Vater und Onkel Jim! »Kein Wort!« zischte Dick gerade noch rechtzeitig genug, um einen Jubelschrei der Kinder zu verhindern. Gegen ihre Handlungen war er jedoch machtlos, und jeder in der weiten Halle konnte sehen, wie zwei weiße Katzen vorwärts sprangen und zu dem Mann im rechten Sessel rannten. Da sie zum Schweigen gezwungen waren, rieben Edred und Elfrida wenigstens ihre schmalen Katzenbuckel an den Beinen ihres Vaters und schnurrten voller Hingabe. Es war eine große Erleichterung, daß sie wenigstens schnurren konnten, wenn sie schon nicht sprechen durften... Der König betrachtete sie mit klugen, freundlichen Augen und stellte offensichtlich eine Frage, aber das weiße Muddeltier erhob sich auf seine Hinterpfoten und begann vor dem Herrscher dieses geheimnisvollen, verborgenen Reiches einen gemessenen Tanz, wie ihn kein abgerichteter Bär besser hätte darbieten können. Dann winkte Richard, und Edred und Elfrida ließen von ihren leidenschaftlichen Liebkosungen ab und liefen zu ihm zurück. »Das Menuett«, flüsterte Edred hastig. Dick pfiff eine Melodie, die sie nicht kannten, aber der Takt war richtig. Und nun bot sich der staunenden Menge im Thronsaal der fremdartige Anblick zweier weißer Katzen, die sich langsam und ernst in den Figuren eines verwickelten Tanzes drehten und wendeten, sich verneigten und mit aller Anmut bewegten, die Tante Edith sie gelehrt hatte, als sie noch Edred und Elfrida und keine weißen Katzen waren. Sie schlössen mit einer letzten Verbeugung, richteten sich 284
noch einmal auf und ließen sich dann erleichtert wieder auf alle acht weichen Katzenpfoten niederfallen. Der König rief etwas, das vermutlich »Wundervoll!« oder so ähnlich hieß, und Vater und Onkel Jim riefen: »Bravo!« Und alle Leute ringsum klatschten begeistert Beifall. Schließlich richtete der König eine Frage an Richard, aber der gab keine Antwort, sondern legte nur seinen Finger an die Lippen.
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Darauf versuchte es der Vater mit Fragen auf englisch und französisch. Doch Dick legte immer wieder den Finger an die Lippen, der weiße Bär schüttelte betrübt seinen dicken Kopf, und die weißen Katzen schnurrten laut und hefteten die Augen auf ihren Vater. Richard beugte sich zu ihnen herab. »Lauft ihm nach, wenn er jetzt hinausgeht«, flüsterte er. Als sich der König von seinem Thron erhob und den Saal verließ und auch alle anderen sich zum Gehen wandten, folgten die weißen Katzen ihrem Vater auf dem Fuß. Der König gab den Männern seiner Begleitung einen Befehl, und gleich darauf waren sie allein auf einer Terrasse, die von Bäumen beschattet und von üppigen roten und weißen Blumen gesäumt war: die Katzen, der Bär, Richard, Onkel Jim und Edreds und Elfridas Vater. Richard sah sich hastig um, und als er keinen der braunen Männer in der Nähe entdeckte, sagte er mit leiser Stimme: »Ich bin Engländer und gekommen, um Sie zu retten.« »Du scheinst sehr mutig zu sein, und ich danke dir«, erwiderte der Vater der Kinder, »aber Rettung aus diesem Land ist unmöglich.« »Wir haben nicht viel Zeit«, begann Richard von neuem, »sie haben uns sicher nur zusammen hierhergehen lassen, weil sie herausfinden wollen, ob Sie uns kennen. Ich nehme an, daß sie lauschen, wir müssen also sehr vorsichtig sein. Aber wenn Sie meinen Anweisungen genau folgen, kann ich Sie hinausbringen. Sie müssen wissen, daß Sie jetzt Lord Arden sind – der alte Lord ist tot. Wollen Sie sich mir anvertrauen?«
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»Ein Versuch lohnt sich bestimmt«, warf Onkel Jim ein, »ganz gleich, wie er aussieht.« »Können Sie überall hingehen, wohin Sie wollen?« fragte Dick. »Ja«, antwortete Lord Arden, »aber es gibt nur einen Weg ins Freie, und der wird Tag und Nacht von hundert Mann mit vergifteten Pfeilen bewacht.« »Es gibt noch einen zweiten Weg«, sagte Richard, »den – den wir gekommen sind. Der weiße Bär hilft uns, er wird Sie beide nacheinander über die Steilwand tragen!« »Sollen wir es wagen?« fragte Lord Arden zweifelnd. »Selbstverständlich!« rief Onkel Jim. »Denk doch an Edith und die Kinder!« »Daran denke ich die ganze Zeit«, sagte Lord Arden. »Solange wir leben, können wir auf einen Ausweg hoffen, aber wenn dieser Versuch fehlschlägt, werden sie uns töten.« »Er wird nicht fehlschlagen«, sagte Richard, »und Sie werden bald Ihre Heimat wiedersehen. Aber ich wüßte gern, wie Sie hierhergekommen sind, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie's mir erzählen würden. Vielleicht sehe ich Sie morgen nicht wieder.« »Wir suchten in den Bergen nach Gold«, antwortete Lord Arden, »und fanden dabei den Eingang, den einzigen Eingang zu der verborgenen Ebene. Wir wurden gefangen genommen, und seit jener Zeit halten sie uns fest, denn jeder König muß vor seiner Thronbesteigung feierlich schwören, keine Kunde vom Vorhandensein dieser Hochfläche in die Welt dringen zu lassen. Es waren zwar 287
schon lange Gerüchte im Umlauf, aber bis jetzt ist sie noch nie entdeckt worden. Die Kultur hier ist älter als die der Inkas, und man führt das schönste Leben, das man sich wünschen kann. Wenn sie mir vertraut hätten, würde ich sie niemals verraten haben, und wenn ich fliehe, werde ich gewiß kein Wort über dieses Land sprechen. Aber die Menschen hier sind voller Mißtrauen und haben uns damals nur erlaubt, einer Zeitung die Nachricht zu geben, wir wären Räubern in die Hände gefallen. Mehr durften wir nicht unternehmen. Es fehlt uns an nichts: Nahrung, Kleidung, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Zuneigung werden uns in reichem Maße geboten. Aber wir sind nicht frei. Wenn es eine Möglichkeit gibt, müssen wir meiner Schwester und meiner Kinder wegen fliehen, doch es kommt mir vor, als ob ich das Paradies mit einem rußgeschwärzten Industriegelände vertauschen sollte.« »Ja, genauso!« bestätigte Onkel Jim. »Wenn wir dich nicht wiedersehen werden«, fuhr Lord Arden nach einer kleinen Pause fort und blickte Richard forschend an, »willst du uns nicht wenigstens sagen, warum du gekommen bist und aus welchem Grunde du uns helfen willst?« »Ich stehe in der Schuld bei allen, die den Namen Arden tragen«, murmelte Richard. Seine Stimme wurde so leise, daß die beiden Katzen nur noch ›Haupt der Familie‹ verstehen konnten, wie sehr sie auch ihre Ohren spitzten. »Und jetzt zur Sache!« sagte Dick wieder laut. »Sehen Sie da drüben die schwarze Schlucht?« Er deutete zu dem Spalt in der Felsenwand, durch den sie gekommen waren.
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»Seien Sie bei Mondaufgang dort, dann werden Sie ungefährdet heim nach Schloß Arden kommen.« »Aber du mußt uns natürlich begleiten«, sagte Lord Arden. »Wir haben ein kleines Vermögen auf der Bank von Lima liegen – nicht unter unserem eigenen Namen –, aber wir können darüber verfügen, sobald wir frei sind. Willst du nicht mit uns gehen und es mit uns teilen?« »Ich kann nicht«, antwortete Richard, »ich muß in meine eigene Zeit zurück, ich meine: in mein richtiges Zuhause. Und jetzt werde ich gehen. Kommt, ihr Katzen!« Die Katzen blickten ihren Vater flehend an, aber sie gehorchten und liefen zu Richard hinüber. »Ich nehme doch an, daß wir ungehindert gehen dürfen?« fragte er. »Jeder Mensch ist hier völlig frei«, erwiderte Lord Arden, »man darf nur die Ebene nicht verlassen. Es ist ganz sonderbar: Jeder kann hier tun und lassen, was er will, aber keiner scheint Vergnügen daran zu finden, etwas zu tun, was anderen mißfallen oder sie verletzen könnte. Nur wenn jemand bei dem Versuch ertappt wird, in die Außenwelt zu gelangen, dann wird er getötet. Aber es geschieht schmerzlos, und es gilt nicht als Strafe, sondern als Notwendigkeit.« Die weißen Katzen warfen einander klägliche Blicke zu. »Doch wie auch immer«, schloß Lord Arden, »wegen der Kinder und meiner Schwester müssen wir das Wagnis auf uns nehmen. Ich vertraue dir, mein Junge, und bei Mondaufgang werden wir bei der Schlucht sein.« Richard und seine drei weißen Tiere verließen die Terrasse. Sie wurden sofort von den Stadtbewohnern 289
umringt, die ihnen Obst und Maiskuchen für Richard und Milch in kleinen goldenen Schüsseln für die Katzen anboten. Als Dick schließlich durch Zeichen zu verstehen gab, daß er müde sei, ließen sie ihn mit seinen drei weißen Gefährten ohne weiteres hinaus in die Felder gehen.
Zur verabredeten Stunde trafen sie Lord Arden und Onkel Jim am Fuße des mächtigen Felsgürtels, der sich als natürliche Mauer schützend um die geheimnisvolle Ebene zog. Der Maulwurf-Bär trug zuerst Onkel Jim zum Kamm hinauf und kehrte eilig zurück, um Lord Arden und Richard zu holen. Aber ehe es noch dazu kam, erhob sich wilder Lärm in der Ferne, in der Stadt flammten Fackeln auf, und sie wußten, daß ihre Flucht entdeckt war. »Wir haben keine Zeit mehr für den Weg über das Gebirge«, schnaufte der weiße Bär zum höchsten Erstaunen von Lord Arden. Die beiden Katzen erhoben ebenfalls ihre Stimmen und riefen: »Oh, Vati, was sollen wir nur machen?« »Haltet euren dummen Mund!« fuhr sie der Bär wütend an. »Ihr sollt nicht schwatzen! Los! Los! Helft mir und scharrt ein Loch in den Berg!« Er begann selbst sofort, mit seinen starken, derben, krummen Vorderfüßen an dem Felsgestein zu kratzen, und die Katzen taten es ihm nach in ihren weißen gepolsterten Handschuhen mit den spitzen Krallen. Und der Fels öffnete sich – ein heller Spalt brach auf und wurde immer breiter, 290
während die tanzenden, schwankenden Fackeln über die Ebene näher und näher kamen. »Hinein mit euch!« schrie das Muddeltier. »Hinein mit euch!« »Jim!« rief Lord Arden. »Jim! Ich gehe nicht ohne ihn!« »Der ist schon halb daheim«, knurrte das Muddeltier und stieß den Vater mit seiner großen weißen Schulter vorwärts. »Los, sag ich!« Er schubste alle in den Spalt hinein, und die Felswand schob sich hinter ihnen fest und sicher zusammen. »Dort ist der Ausgang«, sagte das Muddeltier und deutete mit seiner staubigen Pfote geradeaus, wo sich ein Lichtschimmer zeigte. »Nanu«, rief Edred, »das ist ja die Schmugglerhöhle – und da ist die Uhr!« Aber im nächsten Augenblick war keine Uhr mehr da, denn Richard hatte sich schon daraufgeschwungen, und er und sie verschwanden gemeinsam. Das Muddeltier konnte sich im letzten Augenblick gerade noch an den großen Zeiger klammern. Die weißen Katzen wichen erschrocken zurück. Sie sahen, wie der Vater und Onkel Jim die Stufen zu der Holztür hinaufstiegen, die sich zum Eingang hinter den Stechginsterbüschen öffnete, zu jenem Eingang, den die Kinder vergeblich gesucht hatten. Sie folgten den beiden Männern und atmeten wieder die freie Luft, in der die Lerchen jubilierten wie immer. Als die Geschwister sich umsahen, entdeckten sie gerade noch zwei Gestalten, die auf das Schloß zugingen und es schon fast erreicht hatten. 291
Die Kinder starrten sich an. »Oh«, sagte der Junge, »du bist gar keine Katze mehr!« »Du auch nicht, wenn's dich interessiert«, sagte das Mädchen lachend. »Sieh doch, Edred, sie gehen durch das große Tor hinein! Meinst du, daß es wirklich Wirklichkeit ist, oder haben wir diesmal alles bloß geträumt? Es war noch viel unwahrscheinlicher als alle anderen Abenteuer.« »Ich hab das Gefühl«, sagte Edred schwach und mußte sich plötzlich hinsetzen, »als wäre ich mein Lebtag lang eine Katze gewesen und wäre jeden Tag an meinem Schwanz durch die Luft gewirbelt worden. Ich glaube, ich muß hier ein bißchen sitzen bleiben, bis ich weiß, ob ich eine weiße Katze oder Edred Arden bin.« »Ich weiß genau, wer ich bin«, entgegnete Elfrida, aber sie ließ sich auch ganz gern in das weiche warme Gras fallen.
Als die Kinder eine halbe Stunde später langsam zum Schloß hinabschlenderten, waren sie immer noch im Zweifel, ob sich tatsächlich ein Zauber ereignet hatte oder ob alle Wunder, die sich zugetragen zu haben schienen, nur eine Art Doppel- oder Zwillingstraum gewesen waren. Auf halbem Wege kam ihnen Tante Edith entgegen. Sie war so blaß wie das Elfenbein und die Perlen der weißen Uhr. Aber ihre Augen strahlten.
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»Kinder!« rief sie und kniete sich auf die Erde, damit sie die Geschwister leichter umarmen konnte. »Liebste Herzen, es ist etwas Wundervolles geschehen, etwas so Schönes, daß ihr's nicht glauben werdet.« Die beiden küßten sie stürmisch – aus Zärtlichkeit und auch, um ihren Mangel an Neugierde zu vertuschen. »Ihr Lieben, es ist das Wunderschönste, was es überhaupt gibt. Ratet einmal, was es ist!« »Vater ist heimgekommen«, flüsterte Elfrida und fühlte sich dabei unerträglich verlogen. »Ja«, antwortete Tante Edith strahlend, »und Onkel Jim auch. Sie waren in Südamerika gefangen, und ein englischer Junge mit einem weißen Tanzbären hat ihnen zur Flucht verholfen.« Kein Wort von Katzen! Die Kinder fühlten sich verletzt. »Sie haben eine schreckliche Zeit hinter sich –Wochen und Monate haben sie sich durch das Innere des Landes geschleppt, kein Wasser und Eingeborene und viele aufregende Abenteuer... Und euer Vater hatte schwere Fieberanfälle und behauptet noch jetzt, der Bär wäre der weiße Maulwurf gewesen – unser Wappentier, wißt ihr –, und er hätte genauso geredet wie ihr oder ich, und dann seien da auch zwei weiße Katzen gewesen, mit euren Stimmen. Aber nun geht es ihm schon viel besser, er ist nur noch sehr schwach. Darum habe ich euch das alles erzählt. Ihr dürft nicht viel reden und müßt ganz leise und vorsichtig sein. Ach, meine Herzchen, es ist viel zu schön, um wahr zu sein –viel zu schön!«
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Und nun ist die Frage: Hat sich Edreds und Elfridas Vater während seines Fiebers alles eingebildet? Oder haben die Kinder sich alles ausgedacht? In Onkel Jims Geschichte tauchte nichts Zauberisches auf, und Lord Arden sprach nie wieder von dem, was er während seiner Krankheit geträumt hatte. Und Edred und Elfrida redeten auch nicht über ihre Erlebnisse. Es war alles ungeheuer wunderbar und geheimnisvoll, so wie es das Leben sehr oft sein kann, wenn man etwas unter die Oberfläche blickt und sich nicht damit begnügt, die Tageszeitung zu lesen und mit der Untergrundbahn zu fahren und Kleider in großen Geschäften zu kaufen und nur das für wahr zu halten, was langweilig ist. Aber Elfrida vergaß nie, wie sie an jenem Abend ins Wohnzimmer trat und ihren Vater ansah, der aufs Haar dem Lord Arden glich, den sie in den Tagen der Pulververschwörung kennengelernt hatte. Er saß gemütlich in dem großen Lehnsessel direkt unter dem Geheimfach, hinter dem sich Sir Edward Talbot versteckt hatte, als er vorgab, der Ritter von St. George zu sein. Sein geliebtes Gesicht war unverändert, und das Lächeln, das sich jetzt darüber breitete – das heitere, zärtliche, humorvolle Lächeln galt ihr allein und niemandem sonst auf der ganzen Welt. Elfrida stand nur einen Augenblick in der Tür, aber es war einer von jenen Augenblicken, die so kurz sind wie ein Uhrticken und so lang wie die Ewigkeit. Sie
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stand regungslos und fragte sich: Habe ich alles geträumt? Gibt es das Muddeltier wirklich – und den Schatz? Und dann überwältigte sie eine Woge von Liebe und Sehnsucht, und sie wußte, daß sie den Schatz wahrhaft besaß, und schon hatte sie den Raum durchquert und lag in ihres Vaters Armen und schluchzte und lachte und stammelte immer wieder: »O mein Vati! O mein Vati, mein lieber Vati!«
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NACHWORT 1858 wurde Edith Nesbit als jüngstes von sechs Kindern geboren. Ihre Eltern nannten sie Daisy, und so behütet und liebevoll verwöhnt wie ein Gänseblümchen wuchs Edith auch auf. Der Vater war Naturwissenschaftler und leitete das erste landwirtschaftliche College in London. Die Nesbits lebten in einem prächtigen Stadthaus mit Garten, Park und Gespenst, sie reisten viel, und Daisy ging in Südfrankreich und Deutschland zur Schule. Dieses Leben dauerte nur bis zum frühen Tod des Vaters, denn die Mutter kam nicht mit dem Geld zurecht. Das Haus mußte verkauft werden, und die Familie zog nach London. Mit siebzehn erhielt Daisy ihr erstes Honorar für ihre ersten Gedichte. Aber die Mutter traute dieser Art von Gelderwerb nicht. Sie wollte ihre Jüngste möglichst rasch in einer Ehe versorgt sehen, und so heiratete Daisy Hubert Bland, einen flotten Bürstenfabrikanten, wie er sich nannte. Aber kaum war Daisy Mrs. Bland geworden und erwartete das erste Kind, da bekam ihr Mann die Pocken, damals eine lebensgefährliche Seuche. Sein Geschäftspartner nutzte die lange Zeit der Krankheit, betrog ihn und brannte mit seinem gesamten Vermögen durch. So hatte Edith Nesbit einen todkranken Mann und einen neugeborenen Sohn zu versorgen. Sie überlegte sich, was sie konnte, und machte, ohne zu zögern, einen Gelderwerb aus ihrer Begabung: Sie zeichnete Glückwunschkarten und schrieb 296
Gedichte, Zeitungsartikel und Romane. Zuerst schrieb sie nur, um Geld zu verdienen: sentimentale Liebesgeschichten, Mord- und Horrorromane, und verdiente bald so gut, daß die Blands mit ihren fünf Kindern nach Well Hall ziehen konnten. Well Hall war ein großes rotes Backsteinhaus aus dem 16. Jahrhundert, in dem es auch spuken sollte und das von einem Wassergraben umgeben war. 1889 schrieb Edith Nesbit ihr erstes Kinderbuch, die Geschichte von den Geschwistern, die einen Goldschatz suchen und am Ende entdecken, daß Liebe und Freundschaft die wahren Schätze des Lebens sind. 1900 starb Fabian, der Zweitälteste Sohn der Blands, mit fünfzehn Jahren nach einer Mandeloperation. Das war ein Schmerz, den Edith Nesbit nur schwer verwand, und sie vergrub sich ganz in ihre Schreibarbeit. Ihre Bücher wurden auch in Amerika verkauft, und sie schrieb jetzt, nachdem sie jahrelang nur für Erwachsene geschrieben hatte, ein Kinderbuch nach dem anderen. Erzählte sie für Fabian? Sammelte sie für ihn in diesen Romanen alles an Zauber und Kinderglück, was sie in Well Hall und in den Sommern am Meer gemeinsam erlebt hatten? Auf jeden Fall erzählte sie Geschichten, die so phantasievoll, warmherzig und überraschend waren, daß sie bekannter wurden als »Alice im Wunderland«. Edith Nesbit ist eigentlich die erste richtige Kinderschriftstellerin, denn sie hat die Phantastischen Geschichten samt allen Spielarten dieser Romanform erfunden. Bei ihr ziehen sich zum erstenmal Kinder historische Kleider an und geraten dann genau in das 297
Jahrhundert, aus dem die Kleider stammen. Bei ihr reisen und fliegen Kinder zum erstenmal im Zeitraffer in andere Länder. Bei ihr sind Phantasie, gesunder Menschenverstand und Logik aufs erstaunlichste miteinander verbunden. 1914 starb Hubert Bland, und Edith Nesbit wurde krank. Sie verkaufte Well Hall, das nun zu groß und baufällig geworden war, und fand keine Kraft mehr, neue Bücher zu schreiben. 1917 heiratete sie einen verwitweten Nachbarn, Thomas Tucker, mit dem sie einige Jahre später in ein kleines Haus an der Küste zog. Am 4. Mai 192.4 ist Edith Nesbit gestorben. Dr. Sybil Gräfin Schönfeldt
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Weltberühmte Lieblingsbücher – Eine Auswahl – H. C. Andersen, Andersens Märchen James M. Barrie, Peter Pan L. Frank Baum, Der Zauberer von Oz Lewis Carroll, Alice im Wunderland Carlo Collodi, Pinocchio Daniel Defoe, Robinson Crusoe Brüder Grimm, Grimms Märchen Wilhelm Hauff, Hauffs Märchen Erich Kästner, Till Eulenspiegel Rudyard Kipling, Das Dschungelbuch Selma Lagerlöf, Nils Holgersson Hugh Lofting, Doktor Dolittle und seine Tiere A. A. Milne, Pu der Bär Edith Nesbit, Die Kinder von Arden Robert L. Stevenson, Die Schatzinsel Theodor Storm, Der Schimmelreiter P. L. Travers, Mary Poppins Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer
Dressler
Kinder-Klassiker 299