In einer Welt aus Eis und Schnee, wo frostige Stürme das Leben fast unmöglich machen, leben Bipa und Aer in einem Höhle...
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In einer Welt aus Eis und Schnee, wo frostige Stürme das Leben fast unmöglich machen, leben Bipa und Aer in einem Höhlendorf. Draußen ist es kalt und ungemütlich. Dichter Nebel verdeckt den Himmel. Nur das fahle Licht eines blauen Sterns dringt ab und zu durch die Wolkendecke. Aer ist unwiderstehlich von ihm angezogen und bricht auf in die feindliche Welt, um seinem Schein zu folgen. Bipa, die ihn zur Vernunft bringen will und ihn einzuholen versucht, merkt schnell, dass die wirkliche Gefahr nicht von den Schneestürmen oder gefährlichen Eiswesen ausgeht …
Laura Gallego Garcia wurde 1977 bei Valencia in Spanien geboren. Sie hat Geschichte und Spanische Literatur studiert. Für ihren ersten Roman ›Finis Mundi‹ bekam sie den renommierten Preis ›El Barco de Vapor‹. Mit der Idhún-Trilogie hat sie den Durchbruch zur BestsellerAutorin geschafft. Die Autorin lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Valencia. Ilse Layer, geboren 1958, arbeitet seit 1991 als Literaturübersetzerin und hat mehr als 30 Romane und Jugendbücher sowie Filme aus nahezu allen spanischsprachigen Ländern ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Berlin und in Spanien.
Laura Gallego García
DIE KAISERIN DES BLAUEN LICHTS Roman Aus dem Spanischen von Ilse Layer
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Laura Gallego García sind außerdem bei dtv junior lieferbar: Geheime Welt Idhún 1 – Die Verschwörung, dtv extra 70992 Geheime Welt Idhún 2 – Die Feuerprobe, dtv extra 71219 Geheime Welt Idhún 3 – Der Krieg der Götter I, dtv extra 71290 Geheime Welt Idhún 3 – Der Krieg der Götter II, dtv extra 71317 Das Tal der Wölfe, dtv junior 71168 Der Fluch des Meisters, dtv junior 71245 Der Ruf der Toten, dtv junior 71305 Finis mundi oder Die drei magischen Amulette, dtv junior 70754
Der Inhalt dieses Buches wurde auf einem nach den Richtlinien des Forest Stewardship Council zertifizierten Papier der Papierfabrik Munkedal gedruckt
Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung Dezember 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtvjunior.de © 2007 Laura Gallego Garcia © 2007 Santillana Ediciones Generales, S.L. Titel der spanischen Originalausgabe: ›La Emperatriz de los Etéreos‹, 2007 erschienen bei Alfaguara Infantil y Juvenil, Madrid © der deutschsprachigen Ausgabe: 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlaggestaltung: Lisa Helm unter Verwendung eines Motivs von Corbis/John Block Lektorat: Britt Arnold Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Aldus 11,25/14,25’ Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-423-24776-4
1 DAS MÄRCHEN VOM ÄTHERISCHEN REICH Hinter den Eisbergen, hinter der Stadt aus Glas, so geht die Sage, wohnt eine Kaiserin in einem glitzernden Schloss, dessen höchste Türme bis an die Wolken reichen und das so zart ist, als wäre es aus Regentropfen gebaut. Die Kaiserin ist so schön, dass niemand ihr ins Gesicht sehen kann, ohne den Verstand zu verlieren. Sie soll auch unsterblich sein und seit Urzeiten im Ätherischen Reich leben. Ihr Schloss steckt voller Wunder und Geheimnisse und steht allen offen, die sich von dem gefährlichen Weg dorthin nicht abschrecken lassen. Dort gibt es kein Leiden, man friert nie und braucht nicht zu essen, denn man hat nie Hunger …« Bipa war sieben Jahre alt, als sie zum ersten Mal vom Ätherischen Reich und seiner Kaiserin hörte. Während draußen ein heftiger Schneesturm tobte, saßen neun Kinder um Nuba herum und lauschten mit offenem Mund und glänzenden Augen ihren Geschichten. Nur Bipa blickte sichtlich unruhig umher. Nuba seufzte in sich hinein. Es war wirklich schwierig, dieses Mädchen mit Worten in eine fremde Welt zu locken. »Was hast du, Bipa?«, fragte sie freundlich. »Gefällt dir die Geschichte nicht?« Nach kurzem Zögern gestand Bipa: »Nicht besonders.« Mit gerunzelter Stirn sah sie Nuba an. »Dieses Schloss gibt es gar nicht, das ist alles gelogen.« Ein Anflug von Traurigkeit stahl sich in Nubas Augen, aber weder das noch das Tuscheln der anderen Kinder konnte 7
Bipa aufhalten. »Niemand kann ewig leben, nicht einmal diese Kaiserin. Und wie sollen die Leute verrückt werden, wenn sie sie ansehen? Auch wenn sie noch so schön ist – niemand wird verrückt, nur weil er jemand anderen ansieht. Und wenn man lange nichts isst, stirbt man. Das weiß doch jeder«, fügte sie entrüstet hinzu. Nuba erwiderte nichts, sondern ließ nur den Blick auf ihr ruhen. Bipa ahnte, dass ihre Worte sie gekränkt hatten, auch wenn sie nicht verstand, warum. »Es ist doch nur eine Geschichte«, warf eines der größeren Mädchen ein. »Dann ist es eine dumme Geschichte«, konterte Bipa, verärgert über den spöttischen Ton der anderen. »Was haben wir davon, wenn man uns von Dingen erzählt, die es gar nicht gibt?« »Woher willst du denn wissen, dass es sie nicht gibt?«, meldete sich da eine herausfordernde Stimme. »Bist du je hinter den Eisbergen gewesen?« Bipa drehte sich nach dem Jungen um. Sie kannte ihn – schließlich kannten sich in den Höhlen alle –, aber sie hatte bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Er hieß Aer und war Nubas einziges Kind. Aer … Alles an ihm war seltsam, angefangen mit seinem Namen und den Augen, die heller waren, als Bipa es jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Aer war dünn und einsilbig. Ständig verschwand er und tauchte urplötzlich wieder auf. Er war ein genauer Beobachter, staunte über Nichtigkeiten und schien das Alltägliche, Offensichtliche zu verachten. Das war vielleicht der Grund dafür, dass er sonderbare Dinge sagte, wenn er denn einmal den Mund aufmachte. Bipa mochte ihn nicht. »Ich glaube nur, was ich sehe«, entgegnete sie. »Keine Ahnung, was hinter den Eisbergen ist, aber warum sollte 8
ich das auch wissen? Wen interessiert schon die Kaiserin und ihr Schloss?« »Mich!«, sagte Aer bestimmt. »Wenn ich groß bin, will ich in die Eisberge und in die Stadt aus Glas und von dort aus zur Kaiserin.« Nach dieser Ankündigung waren alle stumm wie Statuen. Nur Nuba stieß einen leisen Seufzer aus, der im Heulen des Windes unterging. Bipa fand als Erste die Sprache wieder: »Und was willst du da?« Darauf war Aer nicht gefasst. Er machte den Mund auf, um zu antworten, ihm fiel jedoch nichts Schlaues ein. Bipas dunkle Augen starrten ihn fragend an. Die anderen Kinder begannen zu tuscheln: »Wozu sollte jemand in die Eisberge wollen?« – »Und in einem Schloss wohnen, wo nie gegessen wird?« – »Wenn sie nie essen, müssen sie nicht im Garten arbeiten und auch kein Vieh hüten.« – »Stimmt! Und was machen sie dann?« – »Sie spielen den ganzen Tag!« – »Auch die Erwachsenen?« »Außerdem«, überlegte Bipa, »wäre deine Mutter sehr traurig, wenn du nicht mehr da wärst.« Die Kinder verstummten erneut und alle Blicke wanderten zu Nuba. Sie hatte den Kopf weggedreht und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, aber die Spuren ihrer Tränen waren deutlich zu sehen. Aer lief rasch zu ihr, um sie zu trösten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Aers Vater die Höhlen vor langer Zeit verlassen hatte und nie zurückgekehrt war. Wahrscheinlich war er in den Eisbergen gestorben. Denn das lernten die Kinder aus den Höhlen schon früh: Fern von den warmen Tunneln und ihren heimeligen Feuern war die Welt kalt und feindselig. Alle, die sich entfernten, erfroren nach kurzer Zeit. 9
Warum auch sollte jemand die Höhlen verlassen wollen? Hier gab es Essen, es war warm und man war in Sicherheit. Nach Bipas Meinung konnten das nicht einmal alle Wunder im Schloss dieser Märchenkaiserin aufwiegen. »Vergiss es einfach«, sagte sie leise zu Aer. »Etwas Besseres als die Höhlen findest du da draußen nie.« Sie warf Nuba einen schnellen Blick zu. Aer biss die Zähne zusammen und schwieg. Eines der älteren Mädchen stand auf, um Nuba einen heißen Kräutertee zu bringen, und ein Junge holte eine Decke. In einer Welt wie dieser waren Decken und heiße Getränke ein besserer Trost als Worte. Aber Nuba war kaum zu trösten. Seit Aers Vater fort war, war sie in sich gekehrt und schwermütig. Und auch wenn sie sich bemühte, genauso tüchtig und entschlossen zu wirken wie alle Frauen aus den Höhlen, traf man sie oft dabei an, wie sie mit sehnsüchtigen Augen in die Ferne starrte und an ihn dachte. Er war ein außergewöhnlicher Mann gewesen. Als er vor vielen Jahren seine wie Eiskristalle funkelnden Augen auf Nuba gerichtet hatte, war es um sie geschehen gewesen. Nie wieder würde sie einen anderen Mann lieben können. Und nun war ihr nichts geblieben außer einem seltsamen, unruhigen Jungen sowie einem Haufen Erinnerungen, so zart und unerreichbar wie der Glaspalast jener Märchenkaiserin. Aber trotz ihrer Traurigkeit war Nuba warmherzig und sanft und alle mochten sie. Und auch wenn die Kinder nicht alles begriffen, so war ihnen doch klar, dass man sich um Nuba kümmern musste, weil sie allein war, und dass man lieb zu ihr sein musste, weil sie traurig war. Traurig, weil Aers Vater nicht zurückkommen würde. 10
Gerade Bipa verstand das am besten. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater schien zwar ausgeglichen und zufrieden mit seinem Leben, aber manchmal, wenn er dachte, Bipa würde es nicht merken, zeigte sich in seinen Augen dieser wehmütige Glanz, der sich auch so oft in Nubas müde Augen schlich. »Schon gut, schon gut«, sagte Nuba nun lächelnd, während sie sich in die Decke wickelte und den Blick über die neun besorgten Gesichtchen schweifen ließ. »Vergessen wir die Geschichte. Wir können etwas anderes machen«, fügte sie mit einem Seitenblick auf Aer hinzu. Der starrte mit finsterer Miene zu Boden. Er hätte die Geschichten seiner Mutter so nehmen können wie alle anderen Bewohner der Höhlen: als spannende, aber völlig fantastische Unterhaltung für die Kinder. Doch das tat er nicht. Erstens weil seine Mutter tatsächlich an die Kaiserin und ihr Schloss hinter den Eisbergen glaubte. Zweitens weil sie diese Geschichten von seinem Vater hatte. Und drittens weil zu akzeptieren, dass hinter den Eisbergen nichts war, bedeutet hätte, seinen Vater für tot zu halten. Aber Aer konnte genau wie seine Mutter die Hoffnung nicht aufgeben, er werde eines Tages zurückkommen oder er warte gar im Glaspalast der Kaiserin auf sie beide. Plötzlich klopfte es an die Tür und von draußen war eine Stimme zu vernehmen: »Nuba? Kinder?« »Das ist mein Vater!«, rief ein Junge. »Der Sturm hat offenbar nachgelassen«, sagte Nuba mit einem Seufzer. »Es wird Zeit, dass ihr nach Hause geht.« Nacheinander trafen alle Eltern ein, um ihre Kinder abzuholen. Schließlich auch Topo, Bipas Vater. Er kam 11
immer als Letzter. Bisher war nur Aer aufgefallen, dass Topo das tat, um eine Weile mit Nuba allein zu sein. Es störte ihn nicht. Er mochte Bipas Vater – im Gegensatz zu dessen Tochter –, auch wenn er wusste, dass er und seine Mutter nie zusammenkommen würden. Nubas Herz hatte der Mann mitgenommen, der eines Morgens im Schneegestöber verschwunden und nie zurückgekehrt war. Topo trat schnaubend ein. Er zwinkerte Nuba und den Kindern zu. »Brrr, ist das kalt! Noch kälter als gestern, aber nicht so kalt wie morgen.« Bipa lachte und Nuba lächelte leise. Topo trat ans Feuer, um sich die Hände zu wärmen, bemerkte, dass es lustlos glomm, und legte Kohle nach. Die Flammen schlugen höher und verbreiteten Wärme im ganzen Raum. »Und wie habt ihr den Nachmittag verbracht?«, fragte er. »Meine Mutter hat uns eine Geschichte erzählt«, antwortete Aer, »aber die blöde Bipa hat alles verdorben.« »Aer!«, tadelte Nuba. Bipa, die unterdessen ihre Sachen zusammengepackt hatte und sich gerade den Umhang festband, fuhr herum. »Was hast du gesagt, du Bohnenstange?« »Du kannst einfach den Mund nicht halten!« »Ach wirklich? Also ich rede, wann ich will, bloß damit du’s weißt! Und ich bin nicht so eine Petze wie du, du musst ja immer gleich zu deiner Mutter rennen …« »Ruhe!«, dröhnte Topo. Seine freundliche Miene war wie weggewischt. Er sah Bipa streng an. »Er hat angefangen!«, protestierte sie. »Du hast es selbst gehört!« »Ich will, dass du dich bei Nuba und Aer entschuldigst, Bipa.« Bipa kniff die Augen zusammen. »Nur wenn Aer sich zuerst bei mir entschuldigt.« 12
Aer wandte sich seiner Mutter zu, aber Nuba wirkte abwesend. Wortwechsel, Vorwürfe und Streitigkeiten brachten sie durcheinander. »Bipa, entschuldige dich«, beharrte Topo streng. Bipa funkelte Aer wütend an. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht gehorcht. Aber dieser seltsame, unverschämte, hohlköpfige Aer brachte sie auf die Palme. Schließlich war er derjenige, der sich nicht an die Regeln hielt und immer wieder tat und sagte, was ihm gerade einfiel, wurde aber nie getadelt oder bestraft. Das fand sie nicht gerecht. »Nur wenn Aer sich zuerst bei mir entschuldigt«, wiederholte sie dickköpfig. »Wenn du dich nicht entschuldigst, gehst du ohne Abendessen ins Bett.« Bei diesen Worten protestierten Bipas Eingeweide, aber sie biss die Zähne zusammen, richtete ihre Augen herausfordernd auf Aer und erklärte: »Dann esse ich eben nichts. Aber Aer hat sich genauso schlecht benommen und sollte auch ohne Abendessen ins Bett gehen, wenn er sich nicht entschuldigt.« Topo packte Bipa so fest am Arm, dass es ihr wehtat. »Im Namen meiner Tochter entschuldige ich mich bei euch beiden«, sagte er mit gepresster Stimme. »Zur Strafe für ihr schlechtes Betragen bekommt sie heute Abend nichts zu essen. Ich hoffe, das bringt sie zur Vernunft und morgen entschuldigt sie sich selbst bei euch.« »Topo, es ist nicht nötig …«, begann Nuba, sprach den Satz jedoch nicht zu Ende. Topos Blick duldete keine Widerrede. Am nächsten Tag entschuldigte sich Bipa. Aber sie passte einen Moment ab, als Nuba allein war, um nicht auch noch Aer um Verzeihung bitten zu müssen. Nein, dachte sie, während sie in den Tunnel zu den Gärten ein13
bog, wo sie an diesem Tag mithelfen musste, Aer und ich werden uns nie vertragen. In den folgenden Jahren ignorierten Bipa und Aer einander, streckten sich höchstens die Zunge heraus, wenn sie sich über den Weg liefen, oder machten eine gehässige Bemerkung. Die Zeit glitt träge dahin. Da es im Höhlendorf immer Winter war, ließ sich das Vergehen der Jahre am besten am Wachstum der Kinder messen. Bipa wurde zu einem ernsten, fleißigen Mädchen. Sie war alles andere als eine Träumerin und nie erlebte man sie übermütig oder leichtsinnig. Mit der ihr eigenen Direktheit nahm sie selten ein Blatt vor den Mund, was oft schwer zu ertragen war. Während die anderen Mädchen verstohlen nach den Jungen schauten und errötend kicherten, wenn diese den Blick erwiderten, hatte Bipa für solche Dinge keine Zeit. Sie arbeitete unermüdlich, genau wie ihr Vater. Immer fand sie etwas zu tun: Sie kleidete die Innenseite der Tür mit einer neuen Lage Fell aus, damit die Kälte nicht durch die Ritzen hereindrang, sammelte in den unterirdischen Tunneln essbare Pilze, fertigte Schuhe an, die die Füße gut vor dem Schnee schützten, stellte sicher, dass es nie an Kohle fürs Feuer fehlte, und kümmerte sich um den kleinen unterirdischen Garten. Und natürlich hütete sie die Herde. Diese Aufgabe hatte sie übernommen, als sie alt genug dafür war. Es war keine besonders schwierige Arbeit. Die kleinen, zottigen Höhlentiere, die nichts mit den Kühen und Schafen früherer Zeiten gemein hatten, waren einfältig und verließen selten die Grotte, in die Bipa sie jeden Tag führte. Die Tiere waren blind und nur ihr Geruchssinn und der Instinkt zeigten ihnen den Weg zum 14
weichen Moos. Bipa brauchte bloß darauf zu achten, dass sie zu trinken und zu fressen hatten, und durfte sie nicht zu weit hinunterführen, denn dort konnte die Herde leichter von einem Raubtier aus der Tiefe angegriffen werden. Die meisten jungen Leute fanden diese Arbeit langweilig, aber Bipa mochte sie. Im Schutz der Höhlen fühlte sie sich wohl. Sie war lieber unter der Erde und wärmte sich an einem ordentlichen Feuer, als draußen der Kälte und dem Schnee ausgeliefert zu sein. Und die Tage mit gutem Wetter mochte sie noch weniger. Denn wenn die Wolkendecke dünner wurde, ließ sie kaltes, bläuliches Licht hindurch, und davor gruselte ihr. Sie vermisste auch die Gesellschaft der gleichaltrigen Jungen und Mädchen nicht. Manchmal fühlte sie sich einsam, aber sie hatte ja ihren Vater. Außerdem interessierte sie sich immer weniger für die Dinge, mit denen sich die anderen beschäftigten. Zum Beispiel begriff sie nicht, was die Mädchen an Aer fanden, sosehr sie sich auch bemühte. Er war größer und schlanker als die restlichen, eher stämmigen Männer im Dorf und fiel auch durch sein hellbraunes Haar und seine hellen Augen auf. Alle anderen hatten schwarzes Haar und dunkle Augen, und vielleicht schielten die Mädchen deshalb nach ihm. Aber damit hatte es sich auch schon. Denn als rebellischer Einzelgänger, der verschwand und auftauchte, wo man es am wenigsten erwartete, und stets nur seltsame Ideen und undurchführbare Pläne im Sinn hatte, bereitete Aer der Gemeinschaft oft großes Kopfzerbrechen. Wenn ihre Freundinnen Aer anhimmelten, schüttelte Bipa den Kopf und versuchte ihnen begreiflich zu machen, dass kein halbwegs vernünftiges Mädchen mit so einem Traumtänzer glücklich werden konnte. Die anderen starrten sie ungläubig an und fragten sich, ob Bipa 15
womöglich blind war. Denn Aer hatte einen verschmitzten Blick und ein charmantes Lächeln, dem man nur schwer widerstehen konnte. Und noch attraktiver machte ihn, dass er sich bisher für keines der Mädchen entschieden hatte. »Du solltest ihn vergessen«, riet Bipa einer ihrer Freundinnen. »Denn irgendwann geht er fort, genau wie sein Vater, und dann sitzt du allein und verbittert da, so wie seine Mutter. Außerdem weiß ich von jemandem, der verrückt nach dir ist.« Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Bipa sich überhaupt nicht für Jungen interessierte, wurde sie häufig von ihren Freundinnen ins Vertrauen gezogen und hatte sich regelrecht zur Mittlerin entwickelt. »Lass den Quatsch und sag es ihm endlich!«, schimpfte sie. »Aber … was ist, wenn ich ihm nicht gefalle?« »Na gut, ich übernehme es für dich, dann weißt du, woran du bist, und verschwendest nicht länger deine Zeit. Und meine auch nicht.« Aber kein einziges Mal richtete sie Aer etwas von irgendeinem Mädchen aus. »Ich glaube ganz einfach nicht, dass er zu dir passt, deshalb werde ich ihm nichts sagen«, bestimmte sie. »Aber wenn du so sicher bist, mach nur, sag’s ihm doch selbst.« Später fragte Bipa die Verliebte nie, ob sie es gewagt hatte, sich zu erklären, und wenn ja, wie es ausgegangen war. Es interessierte sie nicht. Sie hatte Wichtigeres im Kopf. Aer und Bipa hatten seit damals, als sie sich an jenem stürmischen Nachmittag bei Nuba gestritten hatten, nicht mehr miteinander gesprochen. Das änderte sich eines 16
Tages, als Bipa die Herde auf der Suche nach einer neuen Weide durch die Tunnel trieb. Sie stieß auf eine weitläufige Höhle mit einem üppigen Moosbett, groß genug, um der Herde mehrere Tage Futter zu bieten. Bipa stellte die Lampe oben auf einen Felsvorsprung und sah sich um, die Arme in die Seiten gestemmt, während das Vieh sich um sie drängte. Sie erspähte ein Rinnsal, das an der Wand herunterlief und auf dem Boden einen kleinen Teich bildete, und nickte zufrieden. Dann entdeckte sie die Malereien. Zuerst hielt sie sie für Flecken, aber nein, das waren Lebewesen. Sie mussten von einer menschlichen Hand stammen. Bipa runzelte die Stirn und griff nach der Lampe. Ja, diese Striche stellten Menschen dar, die offenbar auf der Jagd waren. Die Beute waren Tiere, größer als die Menschen, und die unbekannte Hand, die sie auf diese Wand gebannt hatte, hatte die unregelmäßige Oberfläche des Felsens genutzt, um ihre Körper plastisch zu gestalten, mithilfe von Rotund Brauntönen, warmen Farben, die in Bipa eine unerklärliche Sehnsucht weckten. Sie fragte sich nicht, was für Tiere das wohl waren. Alle Tiere, die sie kannte, hauptsächlich Höhlentiere, sahen zwar ganz anders aus als die hier, aber Bipa war sich auch sicher, dass die Tunnel sehr tief in die Erde hinabreichten, und niemand wusste, was sich dort verbergen mochte. Und da sie nicht vorhatte, es herauszufinden, und stark bezweifelte, dass die Geschöpfe der Tiefe sich die Mühe machen würden, an die Oberfläche zu kommen, verspürte sie auch nicht das geringste Interesse, weiter nachzuforschen. Allerdings fiel ihr eine rote Scheibe über den Köpfen der Wesen auf. Sie erinnerte Bipa an das Feuer bei sich zu Hause und tröstete sie, auch wenn sie keine Ahnung 17
hatte, was sie wohl darstellte und warum sie auf dem Gemälde in der Luft hing. Ein Geräusch hinter ihr riss sie aus den Gedanken. Erschrocken fuhr sie herum. Im Tunnel näherte sich ein Licht, und es war ein kreischendes Geräusch zu hören, als würde etwas sehr Schweres über den Boden geschleift. Sie hob die Lampe und rief: »Ist da jemand?« Als Antwort vernahm sie nur ein Keuchen. Unruhig wartete Bipa, bis der Unbekannte die Höhle betrat.
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2 AERS GROSSER TRAUM Eine hoch aufgeschossene Gestalt, ein wirrer hellbrauner Schopf … Bipa schnaubte in sich hinein. Das war Aer, kein Zweifel. »Was machst du denn hier? Du hast mich erschreckt!« Jetzt zuckte er zusammen. Er hatte die Höhle rückwärts betreten, weil er eine riesige milchweiße Platte im Schlepptau hatte. Seine Hände waren mit Stoff umwickelt, um sich nicht an den scharfen Kanten zu schneiden, was die Sache nicht gerade leichter machte. Als Aer Bipas Stimme hörte, drehte er sich schuldbewusst um. »Vorhin war hier niemand«, rechtfertigte er sich. »Und das Licht hat dich nicht auf die Idee gebracht, dass inzwischen jemand gekommen sein könnte?«, fragte sie ungeduldig. »Scheuch die Tiere da weg! Sie tun sich nur weh.« Das Vieh hatte sich neugierig um Aer und seine Platte geschart. Sanft schob er ein Männchen beiseite, dann lehnte er seinen Fund an die Wand und ruhte sich aus. Bipa bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und beugte sich vor, um eines der Tiere auf den Arm zu nehmen, das sich an ihrem Bein rieb, ein Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war. Aer sah sie an. »Willst du gar nicht wissen, was das hier ist und wozu es gut ist?« »Vielleicht um sich in den Finger zu schneiden, wenn man nicht aufpasst?«, fragte sie zurück, ohne aufzusehen. Ihre Hände mit den kurzen, aber flinken Fingern suchten 19
das zottelige Fell des Tiers nach der Ursache für sein Unwohlsein ab. Nachdenklich richtete Aer den Blick auf die Platte. »Ich muss die Kanten abschleifen. Aber das ist kein Problem. Entscheidend ist das hier, sieh mal.« Ohne Vorankündigung griff er sich die Lampe, sodass Bipa nicht mehr genug Licht hatte. »He!«, rief sie. Aer ignorierte ihren Protest und ging um die Platte herum. Das Material war lichtdurchlässig und Aers Silhouette war schemenhaft zu erkennen. »Siehst du?«, fragte er. »Ja, und?« Bipa klang nicht besonders interessiert. Aer kam hinter der Platte hervor. »Das hier ist eine Quarzplatte«, erklärte er, »dünn genug, um Licht hindurchzulassen. Es war eine Heidenarbeit, sie aus dem Fels zu lösen, ohne sie kaputt zu machen.« In seiner Stimme schwang Stolz mit, aber Bipa war nicht so leicht zu beeindrucken wie die anderen Mädchen. »Wie schade, diese Zeit hättest du nämlich auf etwas Nützlicheres verwenden können.« Gekränkt wandte Aer sich ihr zu. »Du meinst, die Platte wäre zu nichts gut? Da täuschst du dich aber! Ich werde ein Loch in die Decke unserer Höhle schlagen und sie darin einpassen. So haben wir tagsüber mehr Licht«, verkündete er mit einem breiten Lächeln. Bipa starrte ihn an. Dann richtete sie sich mit einem Seufzer auf und ging zu ihm. »Erstens«, sagte sie und klopfte dabei auf die Platte, »ist sie so dünn, dass sie euch weniger vor der Kälte schützt. Wenn du ein Loch in die Decke schlägst und nur die Platte einsetzt, werdet ihr nachts etliche Decken mehr brauchen, um nicht zu frieren. Ich glaube nicht, dass deine Mutter das besonders witzig findet. Und zweitens«, fügte sie hinzu, »musst du 20
sie jeden Tag vom Schnee befreien. Denn er hält das Licht ab, das du einfangen willst, und wenn sich richtig viel darauf sammelt, zerbricht die Platte irgendwann. Deine brillante Idee ist also Zeitverschwendung«, schloss sie achselzuckend. Es gab noch einen dritten Grund, aber den erwähnte sie nicht. Um nichts in der Welt hätte sie den warmen Feuerschein gegen das kalte Licht von draußen getauscht. Doch das würde Aer nicht verstehen. Denn er hielt sich mit Begeisterung im Freien auf, mochte es noch so kalt und die Landschaft noch so trostlos sein. Bipa widmete sich wieder dem verletzten Tier. Vielleicht hatte sie Aer gekränkt, aber das kümmerte sie nicht weiter. Es vergingen einige Momente, bevor er sagte: »Weißt du was? Du hast recht.« »Sieh mal einer an«, bemerkte sie ruhig. Natürlich wusste sie, dass sie recht hatte. Das Erstaunliche war, dass er es einsah. Aer betrachtete seinen Fund nachdenklich, zuckte die Achseln, seufzte resigniert, hob die Platte dann hoch und donnerte sie gegen die Felswand. »Bist du verrückt geworden?«, rief Bipa, aber der Lärm der zerbrechenden Platte übertönte ihre Stimme. »So lässt sie sich besser transportieren.« Aer bückte sich, um die Scherben einzusammeln. »Bestimmt fällt mir noch etwas ein, wozu ich sie verwenden kann.« Bipa reagierte mit einem verächtlichen Knurren. »Pass auf, dass du nichts liegen lässt«, befahl sie. »Ich komme mit den Tieren her, bis sie alles abgeweidet haben, und will nicht, dass sie sich schneiden.« Aer erwiderte nichts, sondern packte alle Bruchstücke in seine Tasche. Bipa konzentrierte sich wieder auf das Tier und ent21
deckte schließlich die Ursache des Problems: Es musste sich an einem Felsvorsprung gestoßen haben, denn an einer Flanke hatte es unter dem dicken Fell eine tiefe Schramme. Bestimmt brannte die Wunde. Bipa wühlte in ihrem Beutel, bis sie ein kleines Gefäß mit einem Rest Wundsalbe fand. Während sie sie auftrug, nahm sie sich vor, Maga bald um neue Salbe zu bitten. »Hast du das gesehen?«, hörte sie plötzlich Aers Stimme ganz nah und drehte sich unwillkürlich zu ihm um. Das Tier nützte ihre Ablenkung aus und lief davon, bevor sie die Wunde vollends versorgt hatte. »Na toll!«, murrte sie. Aer griff nach der Lampe und hielt sie in die Höhe. »Hast du das gesehen?«, wiederholte er. Bipa warf ihm einen schnellen Blick zu. »Ach ja, die Malereien.« »Was sind denn das für Tiere? Und diese rote Scheibe? Wer hat das wohl gemalt? Und warum?« Aber Bipa hörte schon nicht mehr zu. Sie hatte das Tier wieder eingefangen und versuchte die Behandlung zu Ende zu bringen. »Gibt es denn nichts, was deine Aufmerksamkeit wecken kann?«, fragte Aer irritiert. »Stellst du dir nie Fragen? Bist du gar nie neugierig?« »Die Menschen, von denen diese Malereien stammen, müssen vor langer Zeit gestorben sein«, erwiderte sie. »Du wirst keinen mehr finden, der dir erklären kann, woran sie beim Malen gedacht haben. Es ist also sinnlos, sich dazu Fragen zu stellen.« Diesmal war es an Aer, aufgebracht zu schnauben. »Du redest immer, als ob du alles wüsstest, dabei kennst du nur unsere Höhlen und ein paar Tunnel. Als ob es nicht noch etwas anderes gäbe.« 22
»Es gibt nichts anderes, Aer. Und selbst wenn – ich werde es nie kennenlernen, denn hier geht es mir gut. Warum sollte ich mein Leben aufs Spiel setzen? All das ist nur Zeitverschwendung.« »Du bist so blind und eigensinnig wie deine Tiere«, sagte Aer kopfschüttelnd. »Immer drücken sie sich in dunkle Ecken, immer aneinandergedrängt …« »Die Tiere sind blind, weil sie keine Augen brauchen, schließlich leben sie im Dunkeln. Und weißt du, warum? Weil es dort draußen nichts gibt, das sie interessieren könnte. Denn wenn sie die Tunnel verlassen, verhungern und erfrieren sie. Von all den Tieren, die sich je vom Licht nach draußen locken ließen, ist keins zurückgekehrt, und am Ende überlebten diejenigen, die nicht zu sehen brauchten, die wussten, dass man warm bleibt, wenn man sich aneinanderdrängt. Ich bin lieber ein lebendiges, blindes Tier als ein toter Idiot«, sagte Bipa überzeugt. Aer sah sie einen Moment verdutzt an. Dann brach er zu ihrer Verblüffung in schallendes Gelächter aus. »Du verbringst zu viel Zeit hier drin, Bipa! Draußen gibt es so viele Dinge, die du nicht kennst. Zum Beispiel das hier«, fügte er hinzu und deutete auf die rote Scheibe an der Wand. »Du weißt, was das ist?«, fragte Bipa ungläubig. Aer nickte. »Du hast gerade gesagt, du wüsstest es nicht!« »Und du hast behauptet, es würde dich nicht interessieren«, konterte er. »Tja, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe einmal etwas Ähnliches gesehen. Irgendwann zeige ich es dir.« Bipa zuckte die Achseln. »Die Mühe kannst du dir sparen.« »Und irgendwann«, fuhr Aer unbeirrt fort, »entdecke 23
ich vielleicht, dass die Tiere, die dem Licht gefolgt sind, in Wirklichkeit nicht verloren sind, sondern einen besseren Ort gefunden haben.« »Wenn man tot ist, geht es einem bestimmt prächtig«, warf Bipa sarkastisch ein. »Man friert nicht mehr, hat keinen Hunger, braucht sich um nichts zu kümmern. Wie im Schloss der Kaiserin, nicht wahr?« Aer lief rot an und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ist es verkehrt zu glauben, dass mein Vater am Leben ist?« »Ja, es ist verkehrt«, antwortete Bipa harsch. »Denn deine Mutter wird ihr Leben lang auf ihn warten und sich dadurch die wenigen Gelegenheiten entgehen lassen, einigermaßen glücklich zu sein. Und wenn sie nicht aufpasst, schlägst du denselben Weg ein wie dein Vater. Dann bleibt sie allein und leidet noch mehr. Vergiss also endlich all diese unsinnigen Geschichten.« Sie sprang auf. »Kümmere dich lieber um deine Mutter und bring ihr zur Abwechslung mal etwas Gutes zu essen. Hier«, fügte sie hinzu und drückte ihm einen Korb mit Pilzen in die Hand, »bring sie ihr. Und gib mir anschließend den Korb zurück, ich hab nur den einen.« »Das ist nicht nötig …«, begann Aer, aber Bipa unterbrach ihn: »Tu’s, bevor ich’s mir anders überlege. Die arme Nuba kann nichts dafür, dass ihr Sohn so ein Nichtsnutz ist.« Aer kniff die Augen zusammen. Bipa wusste, dass sie ihn verletzt hatte, aber so war sie nun mal. Sie musste immer sagen, was sie dachte. Sie erwartete Widerspruch, erbosten Protest – auf all das war sie gefasst. Aber Aer hob das Kinn und sah sie mit einem schiefen Lächeln an. »Ich werde ihr sagen, dass sie von dir sind«, erklärte er nur. »Danke.« 24
Bipa war so überrascht, dass sie eine Erwiderung schuldig blieb. Sie sah Aer mit langen, ungelenken Schritten durch den Tunnel davongehen, den Beutel voller Quarzbrocken über der Schulter und den Korb mit Pilzen in der Hand. Am Ende des Arbeitstags trieb Bipa das Vieh wieder in die Höhle, die als Stall diente, und kehrte nach Hause zurück. Dazu musste sie zum Glück nicht erst ins Freie, denn die Höhle, die sie mit ihrem Vater bewohnte, hatte einen direkten Zugang zu den allgemeinen Tunneln. Auf diesem Weg konnten sie nicht nur in den Viehstall und den kleinen Garten gelangen, sondern auch zu den meisten anderen Höhlenwohnungen. Zu allen übrigen Höhlen mussten sie die Tür nehmen, die zum Schutz vor der Kälte mit mehreren Lagen Fell verhängt war und ins Freie führte, in die Welt voller Eis und Schnee. Als Bipa nach Hause kam, war ihr Vater noch nicht da. Sie machte Feuer und ging nur kurz hinaus, um den Topf mit Neuschnee zu füllen. Dann stellte sie ihn aufs Feuer, und während sie darauf wartete, dass der Schnee schmolz und das Wasser kochte, holte sie aus ihrem Beutel das Gemüse, das sie am Morgen im Garten geerntet hatte. Der Garten lag ebenfalls unter der Erde, in einer riesigen Höhle, die keinen direkten Ausgang ins Freie, sondern nur »Fenster« hatte. Durch diese Öffnungen fiel vormittags das kalte, fahle Licht ein und half den Pflanzen, trotz der bitteren Kälte zu wachsen. Es waren kräftige, widerstandsfähige Sorten, die einzigen, die in dieser Welt überlebt hatten. Doch ohne Magas Fürsorge wären auch diese Pflanzen unwiderruflich eingegangen. Bipa seufzte. Alles Essbare musste ihrer Welt mühsam abgerungen werden, deshalb wusch sie das Gemüse sorg25
fältig, schälte es jedoch nicht. Von den Gaben der Göttin durfte man nichts verschwenden. Denn leider war die Göttin nicht besonders freigebig. Bipa lächelte in sich hinein. Maga würde sie bestimmt tadeln, wenn sie diesen Gedanken laut aussprach, aber so empfand sie es nun mal. Unwillkürlich fielen ihr die Wandmalereien ein. Wie es wohl war, so ein riesiges Tier zu erlegen? Sie versuchte auszurechnen, wie lange eine Familie am Fleisch auch nur eines einzigen dieser Tiere essen würde und wie viele Mäntel und Decken man aus seinem Fell machen konnte. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. Sie selbst hatte so ein Tier noch nie gesehen und auch niemand, den sie kannte. Also gab es diese Wesen wahrscheinlich gar nicht, sondern jemand, der sehr hungrig war, hatte sie sich ausgedacht, oder sie waren längst ausgestorben oder lebten zu weit entfernt, um ihnen je zu begegnen. Bipa zuckte die Achseln. Bald würde die Jagdzeit beginnen und dann würden alle Familien ihre Kochtöpfe ein wenig besser füllen können. Gerade als das Wasser zu sieden begann, traf Topo ein. Sich die Hände reibend trat er durch die Außentür ein und schloss sie sofort wieder. Wie jeden Tag zwinkerte er Bipa zu und sagte: »Brrr, ist das kalt! Noch kälter als gestern, aber nicht so kalt wie morgen!« »Das will ich nicht hoffen, Vater«, erwiderte sie, »denn wenn es jeden Tag kälter wird, sind wir irgendwann alle erfroren.« Topo lachte schallend, wie immer, wenn Bipa so etwas sagte, und hielt ihr eine Schnur mit zwei blassen Fischen hin, die er geangelt hatte. Dann legte er den Fellmantel ab und nun sah er endlich wie ein Mann mit Vollbart und Bauch aus und nicht mehr wie ein zotteliges weißes Tier auf zwei Beinen. 26
Während Bipa sich daranmachte, die Fische zu säubern, steckte Topo die Nase in den Topf. »Hast du keine Pilze mitgebracht?«, fragte er enttäuscht. »Ich habe sie Nuba geschenkt«, antwortete sie. »Gut so«, befand Topo. Er aß für sein Leben gern Pilze, hatte jedoch nie etwas einzuwenden, wenn es darum ging, Nuba etwas zu schenken. Bipa warf ihm einen Seitenblick zu. Topo und Nuba schienen wie füreinander geschaffen. Doch auch unabhängig davon wäre es für beide Familien besser, sich zusammenzutun, in eine größere Höhle zu ziehen und ihre Kräfte zu bündeln, das lag auf der Hand. Aber Topo hatte es Nuba nie vorgeschlagen und Bipa wusste auch, warum. Sie aßen schweigend und anschließend machte sich jeder wieder an seine Arbeit. Bipa war schon seit einer Weile dabei, ihre Fellschuhe zu flicken, als es klopfte. Topo tauschte einen fragenden Blick mit Bipa, bevor er aufmachen ging. Beide waren überrascht, Aer im Türrahmen stehen zu sehen. »Du schon wieder?«, entfuhr es Bipa. Aer lachte. Ihre ruppige Art konnte ihm nichts anhaben. »Ich bringe euch den Korb zurück«, verkündete er und drückte ihn Topo in die Hand. »Und für dich habe ich noch was«, fügte er hinzu. Mit zwei Schritten stand er neben Bipa und hielt ihr einen Anhänger aus milchweißem Material hin, das sie sofort wiedererkannte. »Das ist ein Stück von dem Quarz, der im Moment zu nichts nütze ist. Zum Dank, dass du mir die Augen geöffnet hast, habe ich dir diesen Anhänger gemacht. Hier.« Bipa musste erst die Hand aus dem abgetragenen Schuh ziehen, den sie gerade flickte, um das Geschenk 27
entgegenzunehmen. »Und wenn er zu nichts gut ist, warum gibst du ihn mir dann?« Aer lächelte. »Weil er schön ist.« Bipa hielt den Anhänger hoch, um ihn im Schein des Feuers zu betrachten. Ja, er war hübsch, aber eben auch nutzlos. Doch sie spürte Aers gute Absicht. »Wenn du meinst …«, sagte sie zögernd. »Danke.« Aers Lächeln wurde breiter. Er verabschiedete sich mit einem Zwinkern und verließ die Höhle ohne ein weiteres Wort. Topo schloss die Tür hinter ihm. »Komischer Kerl«, brummte Bipa noch ganz verwirrt. Weil sie nicht wusste, was sie mit dem Geschenk anfangen sollte, legte sie es in ein Kästchen, zu anderen kleinen Dingen, die sie nicht verlieren wollte. »Wie aufmerksam von ihm«, bemerkte Topo. Bipa fuhr herum. »Ich weiß, was du denkst. Erstens irrst du dich und zweitens wäre es keine gute Idee.« Topo zuckte die Achseln. »Alles, was er braucht, ist ein vernünftiges Mädchen, das ihn auf den Boden der Tatsachen holt …« »… damit er sie irgendwann allein und traurig zurücklässt, weil er einem dummen Traum nachjagt, genau wie sein Vater.« Topo machte eine Pause, bevor er erwiderte: »Aer ist nicht wie sein Vater.« »Du sagst doch immer, er ist ihm sehr ähnlich.« »Ja, verglichen mit uns anderen schon. Deshalb müssen wir bei seinem Anblick alle an den Fremden denken, der aus der Ferne kam. Aber in Aer fließt auch Nubas Blut. Er ist viel warmherziger als sein Vater, viel aufgeschlossener.« Bipa warf ihm einen Seitenblick zu. »Hast du ihn gut gekannt?« 28
»Niemand außer Nuba hatte Gelegenheit, ihn gut kennenzulernen. Er blieb nicht lange bei uns.« Bipa schüttelte den Kopf. »Man muss schon herzlos sein, um eine schwangere Frau zu verlassen.« »So seltsam es dir auch vorkommen mag, er hat sie wirklich geliebt. Aber er passte nicht hierher. Sein Zuhause – wo auch immer es gewesen sein mag – ließ ihn nicht los, es rief nach ihm. Genau diese Sehnsucht entdecke ich manchmal auch bei Aer.« »Vater, du kannst doch nicht im Ernst glauben, es gäbe diese Kaiserin wirklich …« »Nicht unbedingt. Aber Der-aus-der-Ferne-kam muss ja von irgendwoher stammen. Irgendwoher … vielleicht weiter weg, als je einer von uns gekommen ist. Und wenn er sich bis hierher durchgeschlagen hat, kann er auch wieder zurückgegangen sein.« »Jemand hat mir erzählt, Nuba hätte ihn halb erfroren vor ihrer Tür gefunden«, berichtete Bipa. »Offenbar hat er einfach Glück gehabt.« »Aber trotzdem muss er von irgendwoher gekommen sein, deshalb ist es kein Wunder, dass Aer sich Fragen stellt.« »Seit er sprechen kann, sagt er, dass er fortwill, Vater. Du weißt, früher oder später wird er sich auf die Suche nach dem Schloss der Kaiserin, seinem Vater oder weiß die Göttin wem machen. Und wenn er sich irgendwann zum Aufbruch entschließt, wird ihn niemand mehr aufhalten können. Er ist der größte Dickkopf, den ich kenne …« »… nach dir«, frotzelte Topo. Bipa schnaubte. »Du weißt genau, dass er nur noch hier ist, weil er seine Mutter nicht alleinlassen will. Aber was passiert, wenn Nuba nicht mehr da ist? Oder wenn sich jemand anderes um sie kümmert?« 29
»Vielleicht bringt er es sogar fertig, seine Mutter zurückzulassen«, murmelte Topo. »Aber wenn jemand ihm ins Gewissen reden würde …« »… würde er es trotzdem tun. Genau wie sein Vater. Das weißt du doch.« Topo sah seine Tochter eindringlich an. Sie hatte sich wieder ihren Schuhen zugewandt. »Es ist ein Jammer, dass du ihn schon verloren gibst.« Bipa schüttelte den Kopf. »Sein großer Traum ist, sich auf die Suche nach dem Schloss der Kaiserin zu machen. Davon redet er schon so lange, dass es ihm ganz recht geschieht, wenn niemand sich näher mit ihm einlassen will. Jedem, der es trotzdem tut, muss klar sein, dass er ihn früher oder später verlieren wird. Das hat er sich also selbst eingebrockt.« »Ich habe hingegen das Gefühl, Aer schreit geradezu danach, dass jemand ihn am Aufbruch hindert.« Über Bipas Gesicht huschte ein skeptisches Lächeln. »Ich bin immer dafür, die Dinge beim Namen zu nennen, das weißt du ja. Wenn er zu mir sagt: ›Ich will fort‹, verstehe ich: ›Ich will fort‹, nicht: ›Ich würde gern hierbleiben, aber es geht nicht‹. Nein, bei Aer muss es heißen: ›Ich will fort, aber es geht nicht‹, und irgendwann geht es eben doch und dann macht er sich auf den Weg. Aber ich werde nicht zu denen gehören, denen er das Herz bricht, das schwöre ich dir.« In den nächsten Tagen sprachen Bipa und Aer kaum miteinander. Jeder ging seinen Aufgaben nach, und wenn sie sich in einem der Tunnel oder im Freien über den Weg liefen, blieb es bei einem knappen Gruß. Bipa trug nie den Anhänger, und wenn es Aer überhaupt auffiel oder er sich gar darüber ärgerte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. 30
Eines Tages – Bipa kam gerade aus dem Garten, den Korb voller Obst und Gemüse für mehrere Tage – trat er mit seinen großen, entschlossenen Schritten auf sie zu und sagte zur Begrüßung: »Heute Nacht kann ich es dir zeigen.« »Was denn?« »Weißt du nicht mehr, was ich dir über die rote Scheibe gesagt habe? An der Höhlenwand.« Es dauerte einen Moment, bis Bipa begriffen hatte. »Ach, das! Egal, ich hab dir doch gesagt, du sollst dir keine Mühe machen.« »Ich hol dich ab, wenn alle schlafen.« »Wehe«, warnte sie ihn. Aber Aer achtete nicht darauf und trabte davon, ohne sich richtig zu verabschieden. Bipa hatte an diesem Tag noch viel zu tun und darüber war Aer bald vergessen. Am Abend sank sie todmüde ins Bett, machte die Augen zu und schlief sofort ein. Erst am nächsten Morgen, als sie das Vieh holen ging, fiel Aer ihr wieder ein. Hatte er sie womöglich in der Nacht abholen wollen? Falls er an die Tür geklopft hatte, hatten weder sie noch Topo es gehört. Sie traf ihn, als sie mit der Herde zurückkam. »Tut mir leid, dass ich heute Nacht nicht vorbeikommen konnte«, sagte er. »Im letzten Moment zog Nebel auf, deshalb dachte ich, ich lasse dich lieber schlafen.« Bipa verstand nicht, was er meinte, erwiderte aber trotzdem: »Das macht nichts. Es ist besser, dass du mich nicht geweckt hast.« Aer lächelte. »Es wird noch mehr Gelegenheiten geben, keine Sorge.« »Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte sie. Sie verabschiedeten sich an der Stalltür. Während Bipa das Vieh hineintrieb, kam Taba auf sie zu, ein Mäd31
chen in ihrem Alter. »In letzter Zeit habe ich dich mehrmals mit Aer gesehen«, bemerkte sie beiläufig. »Ja«, erwiderte Bipa. Das war offensichtlich. »Es sieht aus, als … hm … würdet ihr euch besser verstehen als sonst«, tastete sich Taba vorwärts. Bipa starrte sie an. »Zwischen Aer und mir ist nichts«, stellte sie klar. »Nein, Aer gefällt mir nicht und ich ihm auch nicht. Nein, er hat nicht über ein bestimmtes Mädchen mit mir gesprochen. Und nein, ich werde ihm nicht von dir erzählen.« Taba verschlug es die Sprache. »Was denn?«, fragte Bipa ungeduldig. »War es nicht das, was du mich fragen wolltest?« »Also … doch.« »Dann habe ich dir die Mühe erspart, um den heißen Brei herumzureden.« »Deswegen brauchst du nicht grob zu werden«, sagte Taba gekränkt. »Das bin ich nicht. Ich nenne die Dinge nur beim Namen.« Taba war nicht die Einzige, die Bipa in diesen Tagen nach Aer fragte. Doch da Aer sich nicht anders verhielt als sonst und die Nachbarn sie nicht jeden Tag zusammen sahen, gewöhnten sie sich bald daran, die beiden gelegentlich irgendwo im Gespräch zu treffen. Meist waren ihre Unterhaltungen nur kurz und immer machte Aer den Anfang. Er zeigte ihr Dinge, die er gefunden oder selbst angefertigt hatte, erzählte ihr von seiner letzten Entdeckung oder vertraute ihr seine neueste Idee an. Bipa hörte zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, und wenn Aer verstummte und sie erwartungsvoll ansah, sagte sie ihm ihre Meinung, aufrichtig und manchmal schroff. Aber selbst wenn sie befand: »Das ist Unfug«, 32
»Es taugt zu nichts« oder »Darin sehe ich keinen Sinn«, ärgerte sich Aer nie oder war gekränkt. Er sah sie nur unverwandt mit seinen hellen Augen an und fragte: »Warum?«, und Bipa führte logische, vernünftige Gründe an. Aer nickte nachdenklich und erwiderte: »Aha. Daran hatte ich gar nicht gedacht« oder auch: »Das ist nicht so schlimm, aber ich werde darüber nachdenken.« Er bedankte sich bei ihr und ging im Laufschritt davon. Eine Zeit lang befürchteten die Mädchen, die ein Auge auf Aer geworfen hatten, er könnte an Bipa interessiert sein, aber dann beruhigten sie sich wieder. Aer begleitete Bipa nie nach Hause und versuchte auch nicht, das Gespräch in die Länge zu ziehen, um noch ein paar Augenblicke länger bei ihr zu sein. Er machte ihr auch keine Geschenke – der Quarzanhänger blieb zu Hause verwahrt und Aer zeigte nie die Absicht, ihr noch etwas anderes zu schenken – und versuchte auch nicht, bei Topo den Weg für eine bedeutende Unterredung zu ebnen. Anfangs war Aer für Bipa ein rotes Tuch gewesen, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich an ihn. Sie erfuhr nie, ob ihre Ansichten in Aers Leben wirklich etwas bewirkten, aber es interessierte sie auch nicht ernsthaft. Aer hingegen wusste, dass er auf Bipas Rat zählen konnte, solange er sie nicht von den Dingen abhielt, die sie für wichtig hielt. Aber eines Tages, als Bipa am wenigsten darauf gefasst war, ging Aer einen Schritt weiter.
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3 DER STERN DER KAISERIN Es geschah während der Jagdzeit. Dann schwärmten alle gesunden, kräftigen Erwachsenen in die unterirdischen Tunnel aus, und wenn sie Tage später zurückkehrten, hatten sie immer Beute dabei. In den am tiefsten gelegenen Höhlen wimmelte es von riesigen Raupen und verschiedenen Arten von Insekten, die so groß waren wie der Arm eines erwachsenen Mannes. Manche davon waren essbar – keine großen Leckerbissen, aber es wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Wenn die Jäger Glück hatten, lief ihnen ein verirrtes Tier über den Weg, eines von denen mit Fell, die einem Menschen bis an die Hüfte reichen konnten. Wenn so ein Tier sich umzingelt sah, wurde es wild und seine Krallen und Reißzähne konnten tödlich sein. Doch sein Fleisch war köstlich. Wenn die Jäger eines dieser Tiere erbeuteten, wurde in den Höhlen gefeiert. Alle scharten sich ums Feuer, ließen sich das gebratene Fleisch schmecken und die Nacht schien etwas weniger kalt. Während Topo an der Jagd teilnahm, blieb Bipa allein zu Hause. Sobald sie alt genug war, würde sie sich den Jägern anschließen, denn es wurde jede Hand gebraucht. Aber sie freute sich nicht besonders darauf. Als sie sich an diesem Abend in ihr Bett kuschelte, stellte sie sich ihren Vater vor, wie er unbequem in einem Tunnel kauerte. Sie beneidete ihn nicht. Doch auch sie hatte keine gute Nacht. Polternde Klopfgeräusche an der Tür rissen sie aus dem Tiefschlaf. Zuerst dachte sie, die Jäger wären vorzeitig zurückge34
kehrt. Aber das Klopfen kam von der Außentür, nicht vom Zugang zu den Tunneln. Unruhig stand sie auf und trat ans Guckloch. Es war zu dunkel, um zu erkennen, wer draußen stand, aber gleich darauf vernahm sie Aers unverwechselbare Stimme: »Ich bin’s, Bipa! Komm raus, es ist so weit!« »Was ist denn jetzt los?«, brummte sie, machte aber auf, denn jemanden im Freien stehen zu lassen war schrecklich unhöflich. Aer trat ein, schüttelte sich den Schnee aus dem Haar und rieb sich die Hände. »Zieh dir Mantel und Schuhe an, Bipa«, forderte er sie fröhlich auf. »Der Nebel hat sich gerade gelichtet. Wir haben nicht viel Zeit.« Bipa stemmte die Arme in die Seiten. »Ich habe nicht vor, mitten in der Nacht rauszugehen«, erklärte sie. »Es ist nicht weit«, beharrte er. »Wir sind gleich wieder zurück, versprochen.« »Hat das nicht bis morgen Zeit?« »Nein, nein, es ist nur nachts zu sehen, nur heute Nacht. Komm, du wirst es nicht bereuen.« Bipa gab sich geschlagen. »Na gut. Aber nur kurz.« Sie schlüpfte in die Schuhe und mummelte sich so dick ein, wie sie konnte. Dann trat sie hinter Aer ins Freie. Die Nacht war ruhig. Es schneite nicht, war windstill, und genau wie Aer gesagt hatte, hatte sich der undurchdringliche Nebel, der normalerweise über dem Höhlendorf lag, gelichtet und so war hinter einem zarten Dunstschleier der Nachthimmel zu erahnen. Bipa folgte Aer durch das menschenleere Dorf einen verschneiten Hügel hinauf. Oben blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Aer drehte sich mit glänzenden Augen zu ihr um. »Sieh nur.« Er deutete auf einen Punkt am Horizont. 35
Am Himmel schimmerte matt eine bläuliche, kalte Kugel. Sie war weit entfernt, sehr weit. Und doch war ihr Anblick überwältigend. Es war, als würde ein Auge aus Eis sie aus der Ferne anstarren. »Sieht aus wie ein riesiges Stück Quarz«, flüsterte Bipa. »Nein«, widersprach Aer. »Es ist viel, viel reiner.« Er sprach das Wort »rein« in einem fast andächtigen Ton aus, und Bipa lief es unwillkürlich kalt über den Rücken. »Maga hat mir einmal erzählt, ohne den ständigen Nebel würden wir am Himmel noch viel mehr solcher Lichter sehen«, fuhr Aer fort. »Sie heißen Sterne und sehen aus als wären sie aus Eis, dabei sind es riesige Feuerbälle, die brennen, ohne je zu erlöschen.« »Ach komm.« Bipa war skeptisch. »Hat dir das wirklich Maga erzählt? Nicht etwa deine Mutter?« »Maga sagt, früher haben die Menschen nachts den Himmel beobachtet und Millionen von Sternen gesehen«, fügte Aer hinzu. Bipa erwiderte nichts. Maga erzählte gern und oft Geschichten aus vergangenen Zeiten – ja, vielleicht hatte sie sogar einmal die Sterne erwähnt. »Aber das da sieht nicht aus wie ein Feuerball«, wandte Bipa ein und deutete auf die ferne Kugel über den Bergen. »Nein«, gab Aer zu. »Eher wie ein Eiskristall. Oder vielleicht wie ein Stern, der schon erloschen ist. Bloß ist er so nah an der Erdoberfläche, dass man fast nach ihm greifen kann.« Aer streckte die Hand nach der Kugel aus. Seine Finger wurden in ein gespenstisches Licht getaucht, das Bipa erschreckend kalt und unmenschlich vorkam. Plötzlich wusste sie, dass sie dem Blick dieses Auges keine Sekunde länger ausgesetzt sein wollte. »Lass uns gehen«, 36
drängte sie, aber Aer hörte sie nicht. Er starrte den bläulichen Stern wie gebannt an. Und für einen Moment schien sich der Stern in seinen Augen zu spiegeln. »Lass uns gehen«, beharrte Bipa. »Es ist kälter als sonst.« »Sieht aus, als wäre er gar nicht so weit weg«, murmelte Aer fast wie hypnotisiert. »Höchstens ein paar Tagesmärsche. Vielleicht …« »Vergiss es«, befahl Bipa energisch und zerrte ungeduldig an ihm. Dabei rutschte sie im Schnee aus, verlor das Gleichgewicht und riss Aer mit zu Boden. Beide rollten den Hügel hinunter. Als die Hügelkuppe den Stern verdeckte, fühlte Bipa sich bedeutend wohler. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte sie und rappelte sich auf. »Ich habe genug für heute.« Im Schatten der Hügel zog sie Aer hinter sich her. Er folgte ihr mechanisch. In seinen Augen war noch immer dieser sonderbare Glanz und auf seinen Lippen lag ein abwesendes Lächeln. Keiner von beiden sprach ein Wort, bis sie vor Bipas Haustür standen. »Geh zu deiner Mutter«, bat sie. »Wenn sie aufwacht und du bist nicht da, macht sie sich Sorgen.« Doch Aer blieb stumm. Er wirkte völlig entrückt und Bipa wusste sich nicht anders zu helfen: Sie gab ihm eine Ohrfeige, um ihn wachzurütteln. Er schüttelte den Kopf und sah sie verwirrt an. »Ich hab dir ja gleich gesagt, es ist keine gute Idee, mitten in der Nacht rauszugehen«, schimpfte sie. »Vor lauter Kälte ist dein Hirn eingefroren. Geh ins Bett und schlaf ein bisschen, du hast es nötig.« »Es ist wegen der leuchtenden Kugel am Himmel«, sagte er. »Genau wie auf dem Bild in der Höhle: eine Kugel über den Köpfen der Leute.« 37
»Aber diese Kugel war rot, nicht blau. Vergiss die ganze Sache, ja?« Bipa behielt für sich, dass die rote Scheibe an der Höhlenwand ihr ein Gefühl von Wärme und Sehnsucht vermittelt hatte, ganz anders als die Furcht einflößende Kälte des Auges aus Eis. »Nein«, widersprach er. »Dieser Stern leuchtet über unseren Köpfen. Wie in den Geschichten meiner Mutter. Er weist einem den Weg.« »Red keinen Unsinn. Es gibt kein …« »Er weist einem den Weg«, beharrte Aer, »bis zum Schloss der Kaiserin. Er spendet das Licht, das in ihrem Reich scheint. Dem Ätherischen Reich.« Ein Angstschauder lief Bipa über den Rücken. »Das gibt es doch gar nicht«, widersprach sie. »Die Kaiserin ist erfunden.« »Aber ihr Licht leuchtet am Himmel, du hast es selbst gesehen, genau wie ich«, beharrte Aer. Plötzlich hatte er sein breites Lächeln wiedergefunden. »Gute Nacht, Bipa. Möge das Licht der Kaiserin dich im Sturm führen.« Bipa wollte etwas erwidern, aber Aer ließ es nicht dazu kommen. Noch lächelnd drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwand im Dunkel der Nacht. Bipa blieb wie versteinert in der Tür stehen. Als sie sie endlich zugemacht hatte, fasste sie sich mit zittriger Hand an die Stirn. Dieser Kuss hatte sie überrascht – weit mehr jedoch, dass Aers Lippen sich so kalt anfühlten wie die eines Toten. Bevor Bipa am nächsten Tag die Herde holte, stattete sie Maga einen Besuch ab. Maga war die Schamanin und Heilerin des Dorfs. Niemand wusste so viel über das Leben und die Welt im Allgemeinen wie sie. Sie war der Mittelpunkt der Gemeinschaft, ohne wirklich eine An38
führerin zu sein, ohne Befehle zu erteilen oder Gesetze zu erlassen. Keiner wusste, wie alt Maga eigentlich war. Sie lebte schon so lange in den Höhlen, dass sogar die Ältesten sich erinnerten, wie sie als Kinder zu ihr gelaufen waren und sie um Rat gefragt hatten. Dabei wirkte Maga gar nicht so alt – wie eine ältere Frau eben, deren gütige Augen die Antwort auf alle Fragen zu kennen schienen. Die Kinder wuchsen heran, die Erwachsenen kamen in die Jahre, aber Maga sah immer gleich aus. Und anstatt darüber besorgt zu sein, waren die Bewohner der Höhlen froh. Ganz gleich, was geschehen würde – Maga würde immer da sein, mit ihren wundertätigen Händen, ihrem warmherzigen Lächeln und ihren weisen Worten. An diesem Morgen empfand Bipa die Kälte stärker als sonst. Obwohl sie sich warm angezogen hatte, hatte sie eine Gänsehaut, als hätte ein Hauch des ewigen Winters sich in ihrem Herzen eingenistet. Als sie in Magas Höhle kam, war die Heilerin dabei, Wurzeln in einem Mörser zu zerstoßen. Bipa trat zu ihr, um ihr zu helfen. »Was hast du denn heute, Bipa? Ist dir nicht gut?«, fragte Maga und ließ den Stößel sinken. Sie legte Bipa eine Hand auf die Stirn. Der Opal, den sie um den Hals trug, blitzte auf wie ein brennendes Herz. Sogleich machte sich ein wohliges Gefühl in Bipas ganzem Körper breit. »Danke«, sagte sie. »Mir war kalt.« »Aber du bist nicht krank«, stellte Maga fest. Nachdenklich spielte sie mit ihrem Amulett. »Hast du dich lange im Freien aufgehalten?« »Ja, eine Weile.« Sie berichtete von dem nächtlichen Ausflug mit Aer. Maga seufzte besorgt. »Dieser Junge … Ich kann ihm noch so oft ins Gewissen reden – seine Träume sind mächtiger als sein gesunder Menschenverstand.« 39
»Als wir uns heute Nacht verabschiedet haben, war er ganz komisch«, erinnerte sich Bipa. »Es hatte eindeutig mit dem Stern zu tun.« Maga runzelte die Stirn. Dann sagte sie sanft: »Niemand kann sich mehr daran erinnern, aber vor langer, langer Zeit war die Welt warm und voller Farben. Am Himmel leuchtete immer ein Licht, das wir Sonne nannten, ein Feuerball, der alle Geschöpfe wärmte und die Pflanzen gedeihen ließ. Aber dann kam der Winter … und verließ uns nicht mehr.« Bipa war aufgefallen, dass Magas Opal der roten Scheibe an der Höhlenwand ähnelte und auch der Sonne, von der sie sprach. »Was wurde aus der Sonne?«, fragte sie mit einem Schauder. Maga zuckte die Achseln. »Sie ist noch da, irgendwo. Das wissen wir, weil es noch Tag und Nacht gibt, und das bedeutet, dass die Sonne jeden Morgen am Horizont aufgeht. Aber sie bleibt hinter Nebel, Wolken und Schnee verborgen. In klaren Nächten kann man den Stern sehen, kalt und unheimlich, ein Licht, das nicht wärmt und das den Legenden zufolge den Weg zum Ätherischen Reich und zum Schloss der Kaiserin weist.« Bipa schüttelte den Kopf. »Gibt es diese Kaiserin denn wirklich?« »Das wissen wir nicht«, antwortete Maga, »denn von dort ist nie jemand zurückgekehrt, um es zu bestätigen.« Bipa sann über ihre Worte nach. »Und den Stern gab es früher auch schon?«, wollte sie wissen. Maga überlegte. »In den Legenden ist von einem Stern namens Mond die Rede«, erwiderte sie schließlich. »Doch anders als der Stern, den du gesehen hast, soll er weiß gewesen sein und jede Nacht eine andere Form gehabt haben. Aber vielleicht stimmt das ja gar nicht und 40
der Stern ist in Wirklichkeit der Mond aus den Legenden. Ich weiß es nicht.« Bipa schwieg einen Moment. »Warum hast du mir das alles erzählt?«, fragte sie dann. »Damit du die Natur des Sterns ein wenig besser begreifst. In dem Land, zu dem er gehört, schneit es angeblich nie, es gibt keine Stürme und ist auch nicht so kalt wie hier. Aber jetzt, wo du ihn mit eigenen Augen gesehen hast, verstehst du vielleicht, dass es trotz allem sicherer ist, in den Höhlen zu bleiben und sein bläuliches Licht zu meiden. Leider denkt Aer nicht so wie ich.« »Verstehe«, murmelte Bipa. Kurz darauf sagte Maga: »Es ist schon spät. Geh jetzt die Herde holen.« »Aber … ich bin noch gar nicht fertig …« »Das mache ich schon. Es wird noch viele Gelegenheiten geben, dieses Heilmittel zuzubereiten, keine Bange.« Bipa nickte, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Alle Jungen und Mädchen waren verpflichtet, Maga regelmäßig zur Hand zu gehen. Auf diese Weise sollten ihre Kenntnisse weitergegeben und bewahrt werden, aber Bipa hatte immer das Gefühl, sich im Leben nicht einmal die Hälfte von Magas Wissen aneignen zu können. Zum Beispiel konnte niemand Kranke so heilen wie sie. Es hatte mit ihrem Opal zu tun, das war klar, aber niemand wusste, wie der Stein genau wirkte. Maga pflegte den Opal als Geschenk der Göttin zu bezeichnen. Und da er seinen Dienst tat, fand niemand es nötig, der Sache weiter nachzugehen. Niemand außer Aer natürlich. Bipa verabschiedete sich von Maga und machte sich auf zum Stall. Bald vergaß sie den Stern, die Sonne, die Maga zufolge die Welt vor langer Zeit erhellt hatte, Aers Verhalten und die Kälte, die die Schamanin aus ihrer 41
Seele vertrieben hatte. Der Rest des Tages verlief ruhig und eintönig. Überall war es stiller als sonst, weil die Erwachsenen auf der Jagd waren. Bis zum Abend war Bipa Aer noch nicht begegnet, aber sie wunderte sich nicht darüber. Sie ging nach Hause, verschloss die Tür gut, fachte ein Feuer an und machte sich etwas zu essen. Als sie schon im Bett lag, klopfte es drängend an der Tür. Mit einem genervten Seufzer stand Bipa auf. Bestimmt war es wieder Aer. Doch zu ihrer Überraschung stand draußen Nuba. »Guten Abend …«, begann Bipa, aber Nuba fiel ihr besorgt ins Wort: »Hast du Aer gesehen? Er war den ganzen Tag nicht zu Hause und ich habe mich gefragt, ob du …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sah das Mädchen flehend an. Verdutzt über die für Nuba völlig untypische Unhöflichkeit schüttelte Bipa den Kopf. »Nein, ich habe ihn seit gestern Nacht nicht gesehen. Aber komm doch rein«, fügte sie hinzu. »Setz dich an die Glut.« Nuba trat ein, blieb jedoch unruhig in der Nähe der Tür stehen. »Gestern Nacht?«, wiederholte sie. »Er hat mich abgeholt, um mir etwas am Himmel zu zeigen.« Nuba wurde blass. »Den Stern der Kaiserin. Der den Weg ins Ätherische Reich weist.« »Gestern Nacht war er ganz deutlich zu sehen«, bestätigte Bipa mit vorwurfsvollem Unterton. »Und er glaubt an all diese Dinge über das Ätherische Reich, die du ihm erzählt hast!« »Aber all das ist wahr«, erwiderte Nuba. »Aer vernimmt den Ruf der Kaiserin … so wie sein Vater. Und jetzt ist er bestimmt auf dem Weg zu ihr.« Sie klang untröstlich. 42
Bipa sah sie ernst an. »Wäre es dann nicht besser gewesen, ihm gar nicht erst davon zu erzählen?« Nuba lächelte traurig. »Das wäre das Einfachste gewesen«, räumte sie ein, »aber nicht das Richtige. Aer hatte ein Recht zu erfahren, wo er herkommt und warum er anders ist.« »Dass er anders ist, liegt an dir.« Bipa konnte nicht mehr an sich halten. »Was nützen ihm all diese Geschichten, wenn er jetzt zur Kaiserin aufgebrochen ist und auf dem Weg erfriert?« Nuba sah sie gekränkt an. Ihre Worte waren hart, das wusste Bipa, aber sie konnte ihre Meinung nicht für sich behalten. Mit einem ungeduldigen Seufzer ging sie ihren Mantel holen. »Wir sollten Maga sagen, dass Aer verschwunden ist«, entschied sie. »Vielleicht weiß sie Rat.« Es gab nicht viele Leute in den Höhlen, die bei der Suche helfen konnten. Die Erwachsenen waren noch auf der Jagd und nur Alte, Kranke und Kinder waren zu Hause geblieben. Maga stellte einen Suchtrupp aus älteren Jungen und Mädchen zusammen. Zum Glück hielt das gute Wetter an, und auch wenn der Himmel vollständig vom Nebel verdeckt war und den fernen Stern verbarg, schneite es zumindest nicht und es ging auch kein Wind. Bei Tagesanbruch kamen die jungen Leute zurück, erschöpft und ohne eine Spur von Aer gefunden zu haben – zu Nubas Verzweiflung. Kurz darauf kehrten endlich die Jäger heim. Zwar war ihnen kein Tier über den Weg gelaufen, aber sie brachten dennoch reichlich Beute mit und waren müde, aber guter Dinge. Doch sobald sie von Aers Verschwinden erfuhren, lösten sie die Jugendlichen bei der Suche ab. Gegen Abend kam ein heftiger Schneesturm auf. Als 43
Topo kurz vor Morgengrauen mit ernster Miene nach Hause kam, sah Bipa ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. Es bedurfte keiner Worte. Bipa seufzte bekümmert. Wenn sie Aer bis jetzt nicht gefunden hatten, gab es keine Hoffnung mehr. So einen Schneesturm konnte niemand im Freien überleben. Wohl oder übel mussten sie die Suche abbrechen. »Arme Nuba«, sagte Bipa. Auch wenn sie mit so etwas schon lange gerechnet hatte, war sie seltsam bedrückt. »Wie kann man bloß so dumm sein«, murmelte sie. »Du wirst ihn vermissen«, behauptete Topo. Bipa zuckte die Achseln. »Ich wusste schon immer, dass er fortgehen würde … von Anfang an. Ich hab’s doch gesagt: Ihn ins Herz zu schließen, ist reine Zeitverschwendung. Aber Nuba kann ja nicht anders. Sie ist seine Mutter.« »Jetzt ist sie ganz allein«, sagte Topo besorgt. Bipa lächelte. »Duna ist bei ihr. Sie wird ihr in den nächsten Tagen Gesellschaft leisten.« Topo nickte erleichtert. Duna, die Mutter von Taba, hatte ihren jüngsten Sohn verloren, als er noch klein war. Sie war in Nubas Alter, die beiden verstanden sich gut und, was das Wichtigste war, Duna wusste, was Nuba durchmachte. Als der Sturm nachließ, setzten sie die Suche fort, aber wie erwartet fand sich keine Spur von Aer. Nach einer gewissen Zeit wurde er für tot erklärt und zu seinen Ehren eine kleine Trauerfeier abgehalten. Maga bat die Göttin, seine Seele bei sich aufzunehmen, und alle gedachten des sonderbaren Jungen. Nuba, blass und ganz durcheinander, weinte still. Einige Mädchen, unter ihnen Taba, schluchzten haltlos. 44
Bipa vergoss keine Träne. Sie war nicht die Einzige. Gewiss, es gab bekümmerte Mienen, aber Bipa hatte den Eindruck, die meisten Anwesenden bedauerten Nubas Unglück mehr als Aers Verlust. Nach und nach kehrte im Dorf wieder Ruhe ein. Nach einigen Tagen sprach keiner mehr von Aer. Duna ging zu ihrem Mann und ihrer Tochter zurück und Nuba war wieder allein. Topo und Bipa besuchten sie häufig, auch wenn Bipa sich dort nicht wohlfühlte. Denn jedes Mal kam die Rede unweigerlich auf Aer, dabei wollte sie nicht über ihn sprechen, wollte nicht an ihn denken. Es war besser, den Blick nach vorn zu richten-, denn Aer war fort und würde nicht wiederkommen. Doch wenn Nuba über ihren Sohn sprach, glänzten ihre Augen: Sie hoffte noch immer, er werde von den Toten auferstehen, genau wie sie seit Jahren vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes wartete. Bipa wollte Aer vergessen, doch das war nicht so einfach. Und nicht nur Nuba hinderte sie daran. Zu ihrer Überraschung merkte sie, dass alles Mögliche in ihrer kleinen Welt sie an Aer erinnerte: die Wandmalereien in der Höhle – der Hügel, auf den sie in jener Nacht gestiegen waren, um den Stern anzusehen – der Korb, den sie ihm geliehen und den er zurückgebracht hatte, zusammen mit jenem nutzlosen Geschenk … Bipa entdeckte es in ihrem Kästchen, als sie wenige Tage nach der Trauerfeier ein Knäuel Wolle brauchte. Beim Herumkramen stieß sie auf den Quarzbrocken und betrachtete ihn im Schein des Feuers. Ihr entschlüpfte ein Seufzer. Sie war kurz davor, ihn wegzuwerfen, er war ja zu nichts nütze. Außerdem würde er ihren Kopf nur wieder mit Erinnerungen füllen und diesen beängstigenden 45
Druck in ihrem Inneren auslösen. Doch nach kurzem Zögern legte sie den Anhänger in das Kästchen zurück, zu den nützlichen Kleinigkeiten, die sie darin aufbewahrte. Eines Nachts, als der Wind wütend heulte und den Schnee erbarmungslos vor sich hertrieb, gerade als Bipa zum ersten Mal einen ganzen Tag lang nicht an Aer gedacht hatte, geschah etwas Unerwartetes. Bipa verbrachte den Abend allein. Topo war bei Nuba, leistete ihr wie üblich nach dem Abendessen Gesellschaft, denn abends war ihre Trauer am größten. Immer brachte Topo ihr etwas vorbei, Essen oder sonst etwas, das sie brauchen konnte, und unterhielt sich mit ihr, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen. Dann trug Topo sie ins Bett, löschte das Feuer und brach lautlos auf. Wie sonst auch wartete Bipa an diesem Abend nicht auf ihren Vater, bevor sie schlafen ging. Sie war eine Frühaufsteherin und bei Nuba wurde es meist spät, denn sie fürchtete sich vor dem Einschlafen: Ihre Träume brachten ihr Erinnerungen an die Abwesenden und endeten häufig als Albträume. Bipa, die einen tiefen, festen Schlaf hatte, fragte sich, wie es wohl war, wenn die eigenen Ängste Nacht für Nacht lebendig wurden. Darüber dachte sie gerade nach, als es an die Tür klopfte. Verdutzt warf Bipa sich eine Decke über die Schultern. Bestimmt war es ihr Vater, auch wenn er beim Nachhausekommen normalerweise nicht anklopfte. Doch draußen stand Aer, ein leichenblasser, spindeldürrer Aer, das hellbraune Haar mit Schnee bedeckt, die Nase blau gefroren, am ganzen Leib zitternd vor Kälte. Seine Kleidung war zerfetzt und er lehnte am Türrahmen, außerstande, sich sonst auf den Beinen zu halten. Er schien den Tiefen eines von Nubas Albträumen 46
entstiegen zu sein und Bipa konnte nicht anders: Sie schrie. Aer lächelte schwach. Es war ein schiefes Lächeln, als wäre sein Gesicht gefroren oder als müsste er das Lächeln erst wieder lernen. »Hallo … Bipa«, hauchte er. Bevor sie etwas erwidern konnte, ließ er sein Bündel fallen, verdrehte die Augen und sank ihr leblos in die Arme. Bipa fing ihn gerade noch auf und schleifte ihn in die Höhle. Er war kalt, eiskalt, aber ohne jeden Zweifel war er hier … und am Leben. Bipa biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzudrängen. Sie schälte ihn aus seinem schneebedeckten Mantel, schleppte ihn zu ihrem Bett, deckte ihn mit allen verfügbaren Decken zu und fachte das Feuer an. Dann musterte sie ihn. »Wenn du mit dem Leben davonkommst, musst du eine Menge erklären«, murmelte sie. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Als sie sie wieder aufmachte, lag Aer immer noch da, aschfahl, eiskalt, fiebernd. Es war kein Traum. Er war zurückgekehrt. Aber von wo? Und wie war es ihm gelungen, so lange im Freien zu überleben? Bipa schüttelte den Kopf. Erst einmal musste sie Nuba Bescheid sagen und auch Maga, aber sie wagte nicht, Aer allein zu lassen. Was, wenn er aufwachte? So schwach er auch war, er hatte mehrmals bewiesen, dass man von ihm kein vernünftiges Verhalten erwarten konnte. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Temperatur war gestiegen. Das war gut, es bedeutete, dass ihm warm wurde. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, schwang die Außentür auf und Topo kam auf Zehenspitzen herein. Er blieb wie angewurzelt stehen: Er war nicht darauf gefasst, Bipa um diese Zeit noch wach zu sehen. Und noch weniger, dass jemand anderes in ihrem Bett 47
lag. Er blinzelte verdutzt, als er Aer erkannte. »Wie …?«, setzte er an, konnte jedoch nicht weitersprechen. Bipa zuckte nur hilflos die Achseln. Mit zwei Schritten war Topo bei dem Bewusstlosen und packte ihn am Arm, um sich zu vergewissern, dass es kein Gespenst war. Dann rief er freudestrahlend: »Wir müssen Nuba Bescheid sagen!« Er lief schon zur Tür, doch Bipa hielt ihn auf. »Nein, wir müssen Maga holen. Er ist schwer krank, ich weiß nicht, ob er bis zum Morgen durchhält.« »Du hast recht.« Topo wickelte sich den Schal wieder um den Hals und fügte hinzu: »Ich gehe zu Maga. Bleib du bei ihm und vergewissere dich, dass ihm warm wird.« Bipa nickte. Kurz darauf war Topo durch die Tür zum Tunnel verschwunden. Bald kehrte er mit Maga zurück, die Aers Gesicht aufmerksam untersuchte. Sie legte ihm beide Hände auf die Stirn und bat die Göttin um Hilfe. Bipa sah den Opal um ihren Hals aufleuchten. Augenblicklich hörte Aer auf zu zittern und sank in einen tiefen Heilschlaf. »Jetzt ist ihm wieder warm«, sagte Maga leise. »Er wird gesund werden, aber er darf noch nicht aufstehen.« »Wie … wie hat er da draußen so lange überleben können?«, fragte Bipa. Maga schüttelte den Kopf. »Das weiß allein die Göttin. Ich sehe morgen wieder nach ihm«, fügte sie hinzu. »Jetzt gehe ich zu Nuba und erzähle ihr, was passiert ist. Fürs Erste muss Aer hierbleiben. Er ist noch zu schwach, um die Kälte zu ertragen.« Aer hatte sich die ganze Zeit nicht geregt, sah jetzt aber schon besser aus. Auf seine Wangen war wieder ein wenig Farbe zurückgekehrt und seine Nase war nicht mehr so blau gefroren. Bald darauf kam Nuba, in Tränen aufgelöst, und 48
drückte ihren Sohn so fest an sich, als fürchtete sie, er könne jeden Moment wieder verschwinden. Später kamen auch die Nachbarn vorbei, vom Aufruhr alarmiert. Irgendwann musste Bipa alle hinauswerfen unter dem Vorwand, Aer brauche Ruhe. Und so ging sogar Nuba nach Hause, erschöpft von so viel Aufregung, auch wenn sie ihren Sohn nur widerstrebend zurückließ. »Geh schlafen«, sagte Topo zu Bipa, als alle fort waren. »Leg dich in mein Bett. Ich übernachte im Sessel.« Bipa kuschelte sich unter die Decke und schlief fast sofort ein, denn sie war todmüde. Das Letzte, was sie vor dem Einschlafen hörte, waren Aers langsame Atemzüge in ihrem eigenen Bett.
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4 DER AUFBRUCH Aer kam erstaunlich schnell wieder zu sich. Während seiner Genesung verhielt er sich normal, auch wenn er manchmal höchst sonderbare Dinge sagte. Er sprach jedoch nie darüber, was er fern von den Höhlen gemacht hatte. Nuba war fast ständig in Bipas und Topos Höhle und umsorgte ihn. Bipa ging ihren Aufgaben nach und kümmerte sich um die Herde, aber abends, wenn sie für alle eine Suppe gekocht hatte, setzte sie sich neben Aer und reichte ihm einen Teller. Während Topo Nuba wieder nach Hause begleitete, waren sie meist allein. Bei einer dieser Gelegenheiten sagte Aer: »Ich hatte recht, Bipa. Das Schloss der Kaiserin gibt es wirklich. Das weiß ich von Eiselda.« »Wer ist Eiselda? Die Kaiserin?« »Nein, Eiselda ist Eiselda.« Aer versuchte sich aufzurichten, aber Bipa hinderte ihn daran. »Sie träumt auch davon, zur Kaiserin zu gelangen. Sie …« »Du fieberst«, unterbrach ihn Bipa. »Hör auf, Unsinn zu reden, ja? Du wärst da draußen beinahe gestorben auf der Suche nach diesem Schloss, das noch nie jemand gesehen hat. Du verwechselst deine Fantasien mit der Realität. Deine Mutter …« »Meine Mutter hat nichts damit zu tun«, sagte Aer schneidend. »Ich weiß ganz genau, wann ich träume und wann ich wach bin. Ich weiß ganz genau, was ich gesehen habe, und ich kann es dir auch beweisen.« Aufgeregt sah er sich um. 50
Bipa musste ihn zurückhalten, damit er nicht aus dem Bett sprang. »Darf man erfahren, was du suchst?« »Meinen Rucksack. Ich hatte ihn dabei …« »Ich gebe ihn dir gleich, aber beruhige dich, ja?« »Vorsicht, Vorsicht!«, rief Aer, als Bipa den Rucksack packte. »Du darfst ihn nicht so schütteln!« Er schnürte ihn behutsam auf und holte ein in Stoff gewickeltes Bündel heraus. »So etwas hast du bestimmt noch nie gesehen«, sagte er leise. Als er den Stoff zurückschlug, erblickte Bipa eine Blume – weitaus schöner als das schönste der tristen Exemplare im Garten. Ihre Blätter reckten sich stolz, ihre Blütenblätter waren vollkommen … Aber es war keine Pflanze, denn sie war hart und durchsichtig wie Eis oder Quarz, nur viel, viel klarer. So klar, dass man durch ihre Blütenblätter hindurchsehen konnte, als wären sie gar nicht da. »Eine Glasblume«, flüsterte Aer. »Sie ist sehr zerbrechlich. Man muss sie vor jeder Erschütterung schützen.« »Aber … sie ist nicht echt«, sagte Bipa genauso leise. »Ich meine, sie ist nicht in der Erde gewachsen, oder? Man kann sie nicht essen.« Aer seufzte ungeduldig. »Natürlich kann man sie nicht essen. Das Entscheidende ist nicht die Blume, sondern das Glas. Sie ist wunderschön, findest du nicht?« »Oh ja«, pflichtete Bipa bei. Beinahe hätte sie hinzugefügt: Aber sie ist zu nichts nütze. Zum Glück bremste sie sich noch rechtzeitig. »Darf ich sie anfassen?«, fragte sie. Aer lächelte. »Natürlich«, antwortete er. »Sie ist für dich.« Bipa sah ihn verdutzt an. »Für mich? Aber …« 51
»Sie ist der Beweis, dass meine Eltern recht haben«, erklärte er. »Es gibt sehr wohl noch etwas anderes als diese Höhlen. Ich war bei Eiselda und habe diese Blume aus ihrer Schatzsammlung mitgenommen. Ich brauchte ja irgendeinen Beweis. Damit du mir glaubst.« »Du hast sie jemandem gestohlen?«, fragte Bipa entrüstet. Aer lächelte verschmitzt. »Glaub mir, wenn du Eiselda kennen würdest, hättest du nicht die geringsten Bedenken. Bestimmt ist sie jetzt ziemlich wütend, aber das ist mir egal. Eiselda ist zwar die schönste Frau, die ich je gesehen habe, aber diese Blume wurde nicht für sie geschaffen. Sobald ich sie sah, war mir klar, dass ich sie dir bringen musste.« Bipa wusste nicht, was sie sagen sollte, zum einen weil Aers Worte ihr völlig schwachsinnig vorkamen, zum anderen weil dieses Geschenk sie überrumpelte. Vorsichtig nahm sie die Blume in die Hand, um sie im Schein des Feuers besser zu sehen. Das Licht brach sich im Glas und tauchte ihre verwunderten Gesichter in alle Regenbogenfarben. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Bipa. Aber Aer wirkte entsetzt. »Nein … nimm sie da weg! Das Glas muss rein sein … durchsichtig … Verstehst du denn nicht?« »Nein«, antwortete Bipa. »Die einzige Aufgabe dieser Blume besteht darin, schön zu sein, und die erfüllt sie noch besser, wenn Licht auf sie fällt. So, im Dunkeln, ist sie viel langweiliger.« »Langweiliger!«, schnaubte Aer und riss sie ihr empört aus der Hand. »Du bist natürlich noch opaker als alle anderen.« »Wie hast du mich genannt?«, fragte Bipa verblüfft. 52
Müde schloss Aer die Augen. Als er sie wieder öffnete, lächelte er. »Ach, egal. Die Blume gehört dir, du kannst mit ihr machen, was du willst. Du kannst sie auch kaputt machen, weil sie zu nichts nütze ist.« Das wäre eine Möglichkeit, dachte Bipa. Aber als sie die zarten Blütenblätter aus Glas erneut betrachtete, fand sie es jammerschade. Jemand musste viel Zeit darauf verwendet haben, sie anzufertigen, und nur die Göttin mochte wissen, wie. Auch wenn die Blume keinen Nutzen hatte, war sie es aus Achtung vor fremder Arbeit wert, aufbewahrt zu werden. Außerdem hatte Aer recht: Sie war wunderschön. »Ich werde sie nicht kaputt machen.« Bipa nahm sie Aer vorsichtig aus der Hand und legte sie auf den Kaminsims, ganz nach hinten, damit sie nicht hinunterfallen konnte. Aer lächelte zufrieden und kuschelte sich unter die Decken. »Ich freue mich, dass sie dir gefällt«, sagte er ein wenig angestrengt. Er wurde immer noch schnell müde. »Und dass du sie aufheben willst. Nicht nur, weil es sehr schwierig war, sie zu bekommen, sondern … weil ich nur hergekommen bin, um sie dir zu bringen.« Seine letzten Worte waren kaum noch zu hören. Er war wieder eingeschlafen. Bald darauf konnte Aer wieder zu seiner Mutter nach Hause. In jenen Tagen bekamen er und Nuba viel Besuch. Die Leute wollten wissen, wie es ihm ging und was er gemacht hatte. Doch Aer bedankte sich nur mit einem geheimnisvollen Lächeln für ihre Nachfrage und sprach nach wie vor nicht über seine Erlebnisse. Fast niemandem fiel die schöne Glasblume auf, die Bipas und Topos Heim zierte. Nur Maga bemerkte sie. 53
Bei einem ihrer Besuche, noch während Aers Genesung, richtete sie den Blick auf den Kaminsims und ihre Stirn kräuselte sich. Doch sie sagte nichts. Kein Zweifel, alle waren froh, Aer wiederzuhaben, auch wenn sie noch ein wenig durcheinander waren. Kein Toter wurde wieder lebendig. Die Göttin gab nie zurück, was sie sich einmal genommen hatte. Deshalb wussten sie nicht, wie sie sich Aer gegenüber verhalten sollten. Es war, als wäre er nur eine Fata Morgana, als könnte er jeden Moment wieder verschwinden. Und genau das begann Bipa zu befürchten. Je mehr Aer wieder zu Kräften kam, desto ungeselliger und verschlossener wurde er. Nachts stieg er auf den verschneiten Hügel hinauf und starrte zum Horizont, auch wenn Wolken und Nebel den Stern meist völlig verdeckten. Er wusste, dass er da war, und das genügte ihm. Einmal ging Maga ihm nach und versuchte ihn zur Umkehr zu bewegen. Sie stritten erbittert – dabei stritt Maga sich nie mit jemandem –, aber worum es ging und was sie sich an den Kopf warfen, bekam nie jemand heraus. Von Topo erfuhr Bipa immerhin, dass Aer seine nächtlichen Ausflüge anschließend einstellte und schmollend zu Hause blieb. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf«, befand Bipa. »Nuba hofft, du könntest ihn zur Vernunft bringen«, sagte Topo. »Ich? Warum denn ich?« Topos Blick wanderte vielsagend zu der Glasblume auf dem Kaminsims. »Du willst mich doch hoffentlich nicht für etwas verantwortlich machen, das mich gar nichts angeht«, protestierte Bipa. »Zwischen Aer und mir ist nichts. Dass er hin und wieder das Bedürfnis hat, mir von seinen ver54
rückten Ideen zu erzählen und mir seltsame Dinge zu schenken, macht uns nicht zu einem Paar. Ich weiß nicht einmal, ob wir wirklich Freunde sind. Es ist nicht meine Aufgabe, auf ihn aufzupassen!« Topo sah sie nur nachdenklich an. »Ich habe es dir schon oft gesagt«, fuhr sie sanfter fort, »ich will ihn nicht ins Herz schließen. Denn wenn ihm etwas zustoßen sollte, würde ich ihn vermissen. Und jetzt wollt ihr auch noch, dass ich Verantwortung für ihn übernehme. Wenn es schiefgeht, vermisse ich ihn nicht nur, sondern habe auch noch Schuldgefühle. Findest du nicht, dass das unfair ist?« Topo seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht können wir wirklich nichts für ihn tun. Entweder es gibt sich mit den Jahren und er wird glücklich oder er verschwindet wieder, und zwar endgültig. Oder …« »Wie auch immer«, sagte Bipa bestimmt, »es ist seine Entscheidung. Wenn er mit dem Kopf durch die Wand will, bitte schön, das ist sein Problem. Mir tut es nur für Nuba leid«, fügte sie leise hinzu. Als Bipa ins Bett ging, warf sie einen Blick auf die Blume, die geheimnisvoll auf dem Kaminsims schimmerte. Da fiel ihr ein, was sie vor vielen Jahren, als Kind, einmal zu Aer gesagt hatte: Etwas Besseres als die Höhlen findest du da draußen nie. Aber Aer war trotzdem aufgebrochen und hatte eine Frau namens Eiselda und eine Glasblume ausfindig gemacht. Und noch viele andere Dinge, von denen er ihr nichts erzählt hatte. Und bestimmt vermisste er all das, denn er wirkte nicht besonders froh, wieder zu Hause zu sein. Bipa seufzte. Jetzt begriff sie, dass sie sich getäuscht hatte. Sie verstand zwar nicht, warum, aber für Aer war die Ferne nun einmal verlockender und nichts würde ihn in den Höhlen zurückhalten können. 55
Diese Vermutung bestätigte sich am nächsten Tag. Denn Aer verschwand wieder, ohne sich zu verabschieden. Bipa machte sich keine falschen Hoffnungen, schließlich hatte er es ihr selbst gesagt: Er war nur zurückgekommen, um ihr die Blume zu bringen, als Beweis, dass sie sich geirrt hatte. Das war seine einzige offene Rechnung mit der Welt der Höhlen gewesen und nun war sie beglichen. Sein Verschwinden machte ihr mehr zu schaffen, als sie gedacht hatte. Ihn zum zweiten Mal zu verlieren war fast schlimmer, als ihn beim ersten Mal für tot zu erklären. Nuba war untröstlich, Topo außer sich, Maga resigniert. Und alle anderen waren ratlos. Denn wenn sie eine Suche organisierten, würden sie ihn wahrscheinlich nicht finden, und wenn sie noch einmal seinen Tod beweinten, kam er möglicherweise wieder, brachte ihr Leben erneut durcheinander und stellte ihre Welt auf den Kopf. Tote wurden nicht wieder lebendig, aber Aer war eine Ausnahme. Letzten Endes machten sich nur einige wenige auf die Suche nach ihm, darunter Bipa und Topo. Wie erwartet fanden sie nichts. Nicht einmal einen Leichnam, den sie begraben konnten, um Aer endgültig für tot zu erklären. Er war eben verschollen, genau wie sein Vater. Und wie Bipa geahnt hatte, machte ein Verschollener den Angehörigen fast mehr zu schaffen als ein Toter. Denn es bestand die Möglichkeit, dass er zurückkam, auch wenn sie noch so unwahrscheinlich war, und solange sie nicht wussten, woran sie waren, würden sie weiterhin auf ihn warten, Monate, Jahre, vielleicht das ganze Leben. Bipa ertappte sich immer wieder dabei, dass sie genau wie Nuba den Horizont absuchte in der Hoffnung, Aer würde im Schneegestöber auftauchen, so wie er es schon 56
einmal getan hatte. Und sie sah Nuba in ihrer Haustür, wie sie ebenfalls in die Ferne starrte, mit verwelkter Haut und erloschenen Augen, nur von einem flackernden Hoffnungsschimmer aufrecht gehalten. Hoffnung war ein positives Gefühl, so hieß es zumindest. Aber Bipa kannte die bittere Wahrheit: Die Hoffnung konnte grausam sein, überaus grausam … Sie konnte aus einem verliebten Mädchen eine gebrochene Frau machen, die sich in ihren Träumereien und Erinnerungen an eine unwiederbringlich verflossene Zeit verlor. Die Hoffnung konnte jemanden bis an den Rand des Wahnsinns treiben. Bipa musterte Nuba, ihr sanftes, müdes Gesicht, ihren sehnsüchtigen Blick, der stets in die Ferne gerichtet war. Und sie beschloss, nicht so zu werden wie Nuba. An diesem Tag bat sie den kleinen Pado, die Herde für sie auf die Weide zu führen, und ging zu Maga. Die Heilerin behandelte gerade einen alten Mann mit Rückenschmerzen. Ihre Hände massierten die zarten Schultern des Alten, strichen über seine Wirbelsäule, bedachten jeden einzelnen Wirbel. Dabei leuchtete der Opal und verbreitete seine wohlige Wärme. Schließlich, als Maga fertig war und ihr Patient in erheblich besserer Verfassung fortgegangen war, fragte Bipa: »Was weißt du vom Ätherischen Reich, Maga?« Sie spürte den eindringlichen Blick der Schamanin auf sich. »Willst du etwa dorthin aufbrechen? Zum Schloss der Kaiserin?« Bipa schüttelte den Kopf. »Das ist hoffentlich nicht nötig. Mit ein wenig Glück hole ich ihn schon vorher ein. Vielleicht bei Eiselda«, fügte sie hinzu. Maga hob eine Braue. »Er hat dir von Eiselda erzählt?« 57
»Nicht viel.« Bipa strich sich das Haar hinters Ohr. »Kennst du sie? Weißt du, wie sie aussieht?« Maga seufzte. »Jeder, der zum Stern aufbricht«, sagte sie, ohne auf die Frage einzugehen, »muss die Eisberge überqueren, eine kalte, unwirtliche Gegend, in der nur wenige Geschöpfe überleben können. Das ist Eiseldas Reich, Bipa. Wir haben uns noch nie gesehen, aber ich weiß, dass wir etwas gemeinsam haben.« Bipa dachte an das wenige, das Aer ihr von Eiselda erzählt hatte, und widersprach spontan: »Das bezweifle ich sehr.« Maga lächelte. »Sobald du sie siehst, wirst du verstehen, was ich meine.« Bipa sah die Heilerin von der Seite an. »Du … hast dir schon gedacht, dass ich Aer suchen will?« Maga nickte. »Seit ich dich zum ersten Mal in der Ferne nach ihm Ausschau halten sah.« »Das kann nicht sein«, protestierte Bipa. »Ich habe es erst heute Morgen beschlossen. Nuba ist am Boden zerstört und jemand muss Aer klarmachen, dass er nicht das Recht hat, einfach so zu verschwinden. Er ist kein Kind mehr und muss lernen, Rücksicht zu nehmen.« »Warum hast du ihm all das nicht gesagt, bevor er fort ist?«, fragte Maga scharf. »Das habe ich«, antwortete Bipa, »aber offenbar nie nachdrücklich genug.« »Und du glaubst, diesmal wird er auf dich hören? Wenn du ihn einholst … was willst du ihm dann sagen?« Bipa schüttelte nur den Kopf. Ihr Schweigen sprach Bände. Maga sah sie eindringlich an. »Wenn du dich auf die Suche nach ihm machst, setzt du dein Leben aufs Spiel.« »Ich weiß«, bestätigte Bipa. 58
»Du wirst Hunger und Kälte ausgesetzt sein. Du wirst in Gefahr geraten. Vielleicht kehrst du nie zurück.« Bipa zögerte. Sie war versucht, einen Rückzieher zu machen. Aber dann erklärte sie: »Wenn Aer sich bis zu Eiselda durchgeschlagen hat, schaffe ich das auch. Ich bin genauso stark wie er.« »Das weiß ich, Bipa. Aber warum solltest ausgerechnet du dich auf die Suche nach ihm machen?« Bipa biss sich verunsichert auf die Unterlippe. »Weil Nuba Antworten braucht. Und wenn ich mich nicht aufmache, wird es niemand tun. Ich fühle mich für ihn verantwortlich, das wolltet ihr doch immer.« »Dein Vater kann diese Reise an deiner Stelle unternehmen«, schlug Maga vor, aber Bipa schüttelte den Kopf. »Er muss sich um Nuba kümmern, jetzt, wo sie ganz allein ist. Und niemand sonst ist bereit, sich für Aer einzusetzen. Niemand wird ihm diese Wahrheiten ins Gesicht sagen, die er nicht hören will. Niemand, außer mir.« »Genau deshalb schätzt er dich mehr als alle anderen.« Bipa knurrte. »Das bezweifle ich sehr.« Sie hob den Kopf. »Ganz ehrlich, Maga, ich könnte gut auf diese Reise verzichten. Am liebsten würde ich gemütlich zu Hause bleiben und Aer vergessen. Aber ich weiß genau, dass ich meinen Seelenfrieden erst wiederfinde, wenn diese ganze Angelegenheit geklärt ist … wenn wir wissen, ob Aer am Leben oder tot ist. Und wenn er am Leben ist, ob es ihm dort, wo er ist, gut geht. Das Schlimmste ist nicht, was Aer tut oder nicht tut. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Nicht nur für mich, sondern für alle.« Maga seufzte und schüttelte den Kopf. »Du redest um den heißen Brei herum, Kind. Wir wissen doch beide, dass deine Beweggründe ganz andere sind.« 59
»Aer ist dumm, weil niemand ihm auch nur ein Gramm gesunden Menschenverstand eingetrichtert hat. Ich habe es versucht, aber ich kann keine Wunder vollbringen und außerdem ist es nicht meine Aufgabe. Aber da ich die Einzige bin, die ein wenig Einfluss auf ihn hat, muss ich ihn suchen. Sonst tut es keiner.« Maga lächelte. »Du sagst, was du denkst, Bipa, aber nicht, was du empfindest.« »Meine Gründe haben nichts mit Liebe zu tun, wenn du das meinst«, schnaubte sie. »Wie oft soll ich es noch sagen: Zwischen Aer und mir ist nichts. Ich würde mein Leben nicht für ihn aufs Spiel setzen …« »… aber genau das wirst du tun.« »Weil ich mich verantwortlich fühle und weil ich nicht anders kann. Wenn ich in ihn verliebt wäre, würde ich ihm wahrscheinlich nicht hinterherlaufen. Ich würde es machen wie Nuba: ewig auf ihn warten … Oder vielleicht wie Taba: von ihm träumen, ohne zu wagen, mich ihm zu nähern. Wenn das Liebe ist, dann gibt es keinen Zweifel, dass ich nicht verliebt bin. Denn ich habe kein Problem damit, ihn zu suchen, ihm zu sagen, dass er ein Idiot ist, und ihn herzuschleifen, ganz gleich wie wütend oder gedemütigt er sich fühlt. Und genau das werde ich auch tun.« Mit gerunzelter Stirn kreuzte Bipa die Arme. Für sie war das Gespräch zu Ende. »Und so willst du es deinem Vater sagen?« Bipa zögerte. »Er wird dich nicht zurückhalten«, beruhigte Maga sie. »Aber er wird um dich bangen.« »Oh, ich habe fest vor zurückzukommen«, versicherte Bipa ihr bereits auf dem Weg zur Tür. »Ich weiß nicht, was Aer vorhat, aber ich will mich keine Sekunde länger als nötig da draußen aufhalten. Ich mache ihn ausfindig 60
und komme zurück, mit ihm oder ohne ihn. Wenn ich ihn mitbringe, umso besser, und wenn nicht, dann habe ich hoffentlich zumindest Nachrichten für Nuba und Taba und all diejenigen, die auf ihn warten.« Maga nickte lächelnd. »Komm noch einmal vorbei, bevor du aufbrichst, falls du es dir nicht anders überlegst. Ich habe etwas für dich.« »Danke«, sagte Bipa, ohne zu fragen, was es war. Das würde sie schon erfahren, wenn es so weit war. Als Bipa ihrem Vater ihren Entschluss mitteilte, sah er sie nur wortlos an. Nacheinander wiederholte Bipa die Gründe, die sie Maga aufgezählt hatte, auch wenn sie sie in Wahrheit immer weniger überzeugten. Und als sie schon glaubte, Topo werde sie nicht gehen lassen, stand er auf, schloss sie fest in die Arme und sagte mit belegter Stimme: »Pass gut auf dich auf, Bipa.« Bipa weinte nie. Aber jetzt hatte sie einen Kloß im Hals und feuchte Augen. Sie blinzelte, um die Tränen zurückzudrängen. »Keine Bange, Vater. Wenn dieser nichtsnutzige Aer da draußen überleben konnte, kann es jeder.« Topo lächelte. »Sei auf der Hut, Bipa. Und vor allem: Halt dein Herz immer warm. Vergiss das nicht.« Bipa packte ihre wärmsten Kleider und Schuhe, nahrhafte und haltbare Lebensmittel zusammen. Sie steckte auch Feuerstein und Zunder ein sowie einige von Magas Arzneien – nur Nützliches kam in den Rucksack. Die einzige Ausnahme war der Quarzanhänger, den Aer ihr geschenkt hatte. Sie holte ihn aus dem Kästchen, hängte ihn sich zum ersten Mal um und spürte ihn kühl auf der Haut. Vor ihrem Aufbruch bekam sie nacheinander Besuch 61
von Nuba und von Taba. Nuba schloss sie fest in die Arme, dankte ihr und flehte sie an, kein Risiko einzugehen, sondern kehrtzumachen, sobald sich Schwierigkeiten auftaten, auch wenn sie Aer noch nicht gefunden hatte. Taba wünschte ihr viel Glück, zögerte einen Moment und sagte dann leise, mit tiefer Bewunderung: »Wie mutig du bist.« »Unsinn«, schnaubte Bipa. Sie hielt sich tatsächlich nicht für besonders mutig. Sie hatte Angst. Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich in aller Frühe von Topo und versprach, bald zurückzukommen. Nach einer letzten Umarmung trat sie durch die Innentür hinaus, ihren Rucksack geschultert, und ging wie versprochen zu Maga. Es war noch dunkel, als sie sanft bei ihr anklopfte. Maga trug ein Schultertuch über ihrem Nachthemd und war noch ungekämmt, empfing sie jedoch mit einem breiten Lächeln. »Komm rein, Bipa.« »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Bipa beim Eintreten. »Ich will fort, bevor alle aufgestanden sind, sonst komme ich nie los.« »Ich halte dich nicht lange auf. Komm, tritt näher.« Bipa tat wie geheißen. Zu ihrer Überraschung nahm Maga sich den Opal ab und hängte ihn ihr um. »Aber Maga, was machst du denn da?«, protestierte sie. »Der Opal gehört dir! Du brauchst ihn, um die Leute zu heilen.« »Du wirst ihn dringender brauchen als ich. In Wirklichkeit sind es die Arzneien, die Suppen und der Körper des Kranken selbst, die bewirken, dass er gesund wird. Die Macht des Opals beschleunigt die Dinge nur …« »… und lindert den Schmerz und senkt das Fieber. Nein, Maga. Das kann ich nicht annehmen.« 62
»Du musst«, sagte Maga und ihre dunklen Augen blitzten fast so auf wie der Opal. »Du musst, denn ohne die Macht der Göttin erfrierst du. Und wenn du Aer findest, brauchst du alle erdenkliche Hilfe, um ihn zur Umkehr zu bewegen.« »Aber … aber …«, stammelte Bipa. »Ich bin gar nicht sicher, ob ich ihn zur Umkehr bewegen soll … wenn es die Kaiserin wirklich gibt und er …« »Wenn er so weit kommt«, sagte Maga scharf, »liegt die Entscheidung, ob er zurückkommt, vielleicht nicht mehr bei ihm.« »Was meinst du damit?«, fragte Bipa neugierig, aber die Schamanin ging nicht weiter darauf ein. »Pass gut auf den Opal auf«, bat sie. »Sorg für ihn, dann wird er für dich sorgen. Er ist ein Geschenk der Göttin. Solange du ihn trägst, werden Wärme und Leben dich nicht verlassen. Setz ihn richtig ein, Bipa. Denn die Macht des Opals ist groß. Aber die Entscheidung, wie, warum und wozu man ihn benutzt, liegt bei seinem Träger.« »Ich werde ihn nicht benutzen«, erklärte Bipa und schob ihn unter ihre Kleider. »Er gehört dir und eigentlich solltest du ihn tragen. Aber ich nehme ihn an, weil du es so willst. Ich komme so bald wie möglich zurück, um ihn dir wiederzugeben«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Ich werde nicht vergessen, dass er geliehen ist und du ihn hier auch brauchst.« Zum Abschied schlossen sie sich fest in die Arme. »Möge die Göttin bei dir sein, Bipa. Hoffentlich findest du Aer und hoffentlich ist die Göttin noch bei ihm.« Bipa sah sie fragend an. »Irgendetwas verheimlichst du mir, Maga.« Aber die Schamanin schüttelte nur niedergeschlagen den Kopf. 63
Bipa verließ die Höhlen, als sich am Horizont das fahle Morgenlicht abzuzeichnen begann. Auch wenn der Himmel wie gewöhnlich vom Nebel verdeckt war, wusste Bipa, in welcher Richtung sich der Stern befand. Sie zog sich Schal und Handschuhe über, vergewisserte sich, dass ihr Rucksack richtig saß, und machte sich auf den Weg. Bipa drehte sich nur zweimal um. Das erste Mal, als sie noch keine zehn Schritte getan hatte und sich zum letzten Mal von Topo verabschieden wollte, der in der Tür stand. Beide winkten stumm. Ihre Umrisse zeichneten sich schemenhaft im dichten Nebel ab. Das zweite Mal sah sie sich um, bevor ihr Höhlendorf vom Morgendunst verschluckt wurde. Bipa betrachtete die Silhouette der Hügel, in denen ihre Leute wohnten, die Schornsteine, die in den Himmel ragten. Sie schloss die Augen und wünschte sich, nach Hause zurückkehren zu können und nicht fortzumüssen. Aber wenn sie sich nicht um Aer kümmerte, würde es niemand tun. Bipa holte tief Luft und wandte sich zum Gehen. Vor ihr reckten sich, halb im Schnee versunken, die uralten Statuen, die ihre Vorfahren vor langer Zeit in den Fels gehauen hatten und die die Grenze zwischen Sicherheit und Unbekanntem markierten, zwischen Leben und Tod. Bipa glaubte in ihren ausdruckslosen, verwitterten Gesichtern eine stumme Warnung zu erkennen. Dennoch stapfte sie weiter durch den Schnee, ohne zurückzublicken.
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5 EIN REISEGEFÄHRTE Am ersten Tag meinte das Wetter es gut mit Bipa. Der dicke, klebrige Nebel lichtete sich zwar nicht, aber zumindest schneite es nicht und es kam kein Sturm auf. Sie ging in Richtung des Sterns und bemühte sich angestrengt, nicht vom Weg abzuweichen. Als Hunger und Müdigkeit sie übermannten, machte sie im Schutz eines Felsvorsprungs halt. Sie wollte ein Feuer entfachen, aber es war zu feucht, die Äste brannten nicht. Bipa wickelte sich fest in ihre Kleider und umklammerte den Opal mit beiden Händen, versuchte sich an ihm zu wärmen. Die Äste steckte sie zurück in ihren Rucksack. Zuhause im Höhlendorf waren Bäume und Büsche dünn gesät und die, die es gab, waren klein und kraftlos. Die Dorfbewohner benutzten meist Kohle, die war eher zu finden als Holz. Bipa hatte bemerkt, dass hier draußen noch weniger wuchs. Das fand sie kein gutes Omen. Den Rest des Tages döste sie im Schutz des Felsens. Als es dunkel wurde, stand sie auf und hielt nach dem Stern Ausschau. An einer Stelle war der Nebel heller, in diese Richtung ging sie. Nachts war es noch kälter als tagsüber. Aber dafür war das Risiko, vom Weg abzukommen, geringer. Sie machte erst halt, als der Himmel sich verdüstert hatte und sie sich nicht mehr am Leuchten orientieren konnte. Bipa schlug ihr Lager am Fuß eines Hügels auf. Er bot nicht besonders viel Schutz, aber es gab nichts anderes. Sie schlief bis in den Morgen hinein. Taub vor Kälte wachte sie auf und musste ein paarmal aufstampfen, bis 65
sie die Füße wieder spürte. Die Feuchtigkeit war ihr in die Knochen gekrochen und ihre Nase fühlte sich eisig an. Ihr tat alles weh und sie war versucht kehrtzumachen. Aber als sie den Opal in die Hände nahm, flößte er ihr sofort Wärme und Vertrauen ein. Sie stapfte den ganzen Vormittag unter einem bleigrauen, wolkenverhangenen Himmel weiter. Gegen Mittag begann es sanft zu schneien, doch das Wetter schlug nicht um. Am nächsten Tag kam ein heftiger Schneesturm auf. Bipa hatte ihn schon den ganzen Vormittag kommen sehen. Der Himmel wurde immer dunkler und ein unangenehmer Wind fuhr ihr in die Ohren, schnitt ihr in die Lippen und ließ ihre Nase gefrieren. Bipa ließ den Opal keine Sekunde los und dennoch fühlten sich ihre Hände in den Fäustlingen eisig an. Sie suchte verzweifelt einen Unterschlupf, aber der Sturm fiel über sie her, bevor sie einen fand. Taumelnd stemmte sie sich gegen den Wind, blind, taub und mit jeder Faser ihres Körpers der Kälte ausgeliefert. Mehr als einmal stolperte sie und wäre am liebsten nicht mehr aufgestanden. Aber sie war zu dickköpfig, um sich geschlagen zu geben. Und als sie schon damit rechnete, jeden Moment entkräftet in den Schnee zu sinken, stieß sie auf einen Hohlraum unter einem Felsvorsprung. Keuchend kauerte sie sich hinein. Sie hätte alles für ein gutes Feuer und eine heiße Suppe gegeben. Mit halb geschlossenen Augen dachte sie an die Thermalquellen des Höhlendorfs, wo die Bewohner sich jeden Tag wuschen, die Männer frühmorgens, die Frauen gegen Abend. Fast meinte sie, das warme Wasser spüren zu können, den Wasserdampf und die Hitze prasselnder Flammen. Dann verlor sie das Bewusstsein. Das Pfeifen des Windes weckte sie auf – zum Glück, denn sonst wäre sie unweigerlich erfroren. Die pulsie66
rende Wärme des Opals brachte ihre Lebensgeister langsam zurück. Erschrocken schüttelte sie sich, zerrte mühsam alle Kleidungsstücke aus dem Rucksack, die sie dabeihatte, und zog zitternd eins nach dem anderen über. Dann schlang sie die Arme um den Körper und rieb sich, um warm zu werden. Schließlich versuchte sie ein Feuer zu machen, aber der Wind blies zu stark. Bipa kauerte noch zwei weitere Tage in dem Loch, bis der Sturm nachließ. Der Wind legte sich, die Wolken stiegen ein wenig höher und der Schnee fiel wieder sachte und weich. Endlich konnte sie ein kleines Feuer anfachen. Sie weinte vor Freude, als sie das Flämmchen zaghaft zwischen den Zweigen tanzen sah. Es wärmte kaum, aber es spendete ihr so viel Trost, dass sie nicht einmal merkte, wie ihre Tränen auf den Wangen gefroren. Am Abend war das Leuchten des Sterns am dunstigen Horizont wieder zu erahnen und Bipa machte sich erneut auf den Weg. Sie hinkte. Ihr rechter Fuß fühlte sich an, als wäre er eingeschlafen oder hätte sich in einen Eisklotz verwandelt. Zum Glück kam durch das Gehen ihr Kreislauf in Schwung und bald konnte sie den Fuß wieder spüren. Am nächsten Tag bemerkte sie, dass ihre Vorräte knapp wurden, und sie fing an, das Essen zu rationieren. Noch immer hatte sie keine Spur von Aer oder von Eiselda und erst recht nicht von der Kaiserin. Entmutigt dachte sie daran, aufzugeben und kehrtzumachen. Aber womöglich war sie jetzt weiter von ihrem Zuhause als von ihrem Ziel entfernt. Und vielleicht war Aer näher, als sie dachte. Er war bestimmt auch vom Sturm aufgehalten worden. Jedenfalls konnte es zu Eiselda nicht mehr weit sein. Bis dorthin hatte Aer es geschafft und sogar wieder zurück zu den Höhlen und wahrscheinlich war er nicht 67
besser ausgerüstet gewesen als sie selbst. Dieser Gedanke munterte Bipa auf. Nach mehreren Tagesmärschen erspähte sie im Nebel die Gipfel eines Gebirgszugs. Er schien ihr unüberwindlich und Mutlosigkeit machte sich in ihr breit. Aber dann fielen ihr die Geschichten ein, in denen vom Schloss der Kaiserin die Rede war. Hinter den Eisbergen und der Stadt aus Glas, hieß es da. Die Eisberge … Ob das hier die erste Hürde war? Diese Berge sahen ganz normal aus, nur sehr hoch, viel höher als alle, die Bipa je gesehen hatte. Und bald wurde ihr klar, dass sie die Entfernung völlig falsch eingeschätzt hatte. Bei Einbruch der Dunkelheit waren die Berge immer noch ein ferner Schatten und am Himmel über ihr braute sich ein noch heftigerer Schneesturm zusammen. Starr vor Kälte, orientierungslos und außer Atem suchte sie einen Unterschlupf, fand jedoch keinen. Ihre einzige Chance bestand darin, bis zu den Bergen zu gelangen. Sie biss die Zähne zusammen, schloss die Finger noch fester um den Opal und ging weiter, Schritt für Schritt. Irgendwann war sie sich ihrer Bewegungen nicht mehr bewusst. Ihr Geist war leer, aber etwas in ihr setzte immer noch einen Fuß vor den anderen und vergaß auch das Atmen nicht. Mechanisch stand sie jedes Mal auf, wenn sie hinfiel, und ging unverdrossen weiter. Nach zwei Tagen hatte sie sich bis zum Fuß des Gebirgszugs geschleppt und stieß dort auf eine Höhle. Schutz. Ruhe. Wärme. Bipa schluchzte vor Glück, aber ihre Tränen gefroren, noch bevor sie ihr über die Wangen liefen. Sie stolperte in die Höhle, kauerte sich in eine Ecke und fiel völlig durchgefroren und erschöpft in einen tiefen Schlaf. 68
Als sie mit knurrendem Magen und klamm vor Kälte aufwachte, wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Noch mit steifen Fingern und heftig zitternd verschlang sie ihren gesamten Proviant. Nun hatte sie keine Reserve mehr, aber das war ihr egal. Zumindest war sie vor dem Schneesturm geschützt. Die bloße Vorstellung, sich hier ausruhen zu können, erfüllte sie mit Freude und Zuversicht. Sie verbrachte den Rest des Tages mit dem Versuch, ein Feuer zu entfachen. Schließlich wurde ihre Geduld belohnt. Begeistert klaubte sie Moos von den Wänden und warf es ins Feuer, erreichte damit jedoch nur, dass die Höhle sich mit dunklem, beißendem Qualm füllte. Hustend durchwühlte sie ihren Rucksack nach Zweigen – und stieß in einer der Seitentaschen auf etwas Rundes. Überrascht zog sie zwei ansehnliche Stücke Kohle heraus. »Oh«, rief sie und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Seit zwei Wochen hatten sie mit niemandem gesprochen. Sie erinnerte sich nicht, Kohle eingepackt zu haben. Das musste Topo gewesen sein. Gerührt lächelte sie. Bald brannte das Feuer kräftig und wärmte ihren Unterschlupf. Bipa packte einen kleinen Tontopf aus und brachte Schnee zum Schmelzen. Als das Wasser lauwarm war, trank sie es. Sie hatte nichts, womit sie eine Suppe hätte kochen können, aber auch so tat ihr die warme Flüssigkeit gut und weckte ihre Lebensgeister. Und zum ersten Mal seit vielen Tagen fror sie nicht mehr. Als der Sturm am nächsten Tag nachließ, war das Feuer erloschen und Bipa völlig ausgehungert. Sie räumte den Schnee am Eingang beiseite und trat hinaus. Beim bloßen Gedanken daran, ihren Unterschlupf zu verlassen und weiter nach Aer zu suchen, begann sie zu zittern. Sie 69
musste erst wieder zu Kräften kommen und möglichst Nahrung sammeln, bevor sie ihre Reise fortsetzte … oder nach Hause zurückkehrte. Die Versuchung, kehrtzumachen, wurde immer stärker. Nur die Erkenntnis, dass dann alles umsonst gewesen wäre, hielt sie zurück. Nein, ohne Nachricht von Aer würde sie nur umkehren, wenn es gar nicht mehr anders ging. An diesem Morgen erforschte Bipa die Umgebung der Höhle, die Spalten zwischen den Felsen im Schatten der Berge, und stieß auf mehrere vertrocknete Büsche, deren Zweige bestes Brennmaterial abgaben. Nur zu essen fand sie nichts. Am Nachmittag ging sie noch einmal hinaus und bemerkte zum ersten Mal die Lebewesen, die sich in dieser unwirtlichen Felslandschaft tummelten. Die meisten hatten weißes Fell und hoben sich kaum vom Schnee ab, deshalb hatte sie sie vorher nicht bemerkt. Nach mehreren Anläufen gelang es ihr, mit der Schleuder eine Art Nagetier zu erlegen, das sie anschließend auf ihrem kleinen Feuer briet. Sie verschmähte nichts von dieser Mahlzeit und bewahrte sogar die Knochen für eine Suppe auf. Am nächsten Tag führte ihr Streifzug sie in die Nähe eines sonderbaren Schneemannes. Vor Überraschung blieb Bipa wie angewurzelt stehen. Der Koloss überragte sie um mehrere Köpfe und war zu kompakt und menschenähnlich, um eine Schneeverwehung zu sein. Er stand kerzengerade im Schutz eines Felsens, die Arme am Körper ausgestreckt, mit einem geraden Strich als Mund und zwei Löchern als Augen. Auf seinem Kopf und seinen Schultern hatten sich kleine Schneehäufchen gebildet, aber lange stand er bestimmt noch nicht hier. Bipa drehte sich nach allen Seiten um, konnte jedoch niemanden entdecken. Sie holte tief Luft und schrie: »Aer!?« 70
Nur das Echo (Aer.:. Aer … Aer …) warf ihre Stimme zurück. »Ist da jemand?«, beharrte sie (jemand … jemand … jemand …). Stille. Bipa atmete tief durch. Achselzuckend trat sie ein paar Schritte zurück, um den Schneemann zu betrachten. Er sah nicht freundlich aus wie diejenigen, die die Kinder aus den Höhlen bauten, wenn es schneite. Er war einem Menschen nachempfunden, das schon, aber sein Kopf wirkte zu groß, die Arme zu kurz … und diese Miene … Wie konnte ein lediglich angedeutetes Gesicht derartig bedrückt wirken? Bipa bekam eine Gänsehaut und diesmal lag es nicht an den eisigen Temperaturen. Sie streckte die Hand aus, um festzustellen, ob der Schneemann so fest war, wie er aussah, oder ob er bei der ersten Berührung in sich zusammenfallen würde. Kaum streifte sie seine Hand, da blitzte der Opal auf ihrer Brust plötzlich auf und eine Art Hitzewelle erfasste ihren ganzen Körper, schoss in ihre Hand und durch den Fäustling hindurch in das Ungetüm. Verdutzt und erschrocken zog Bipa die Hand zurück. Jetzt sah der Opal wieder aus wie immer und die Empfindung von Wärme war vorbei. Bipa dachte schon, sie hätte sich alles nur eingebildet. Da rieselte ihr Schnee ins Gesicht. Als sie nach oben sah, schrie sie vor Entsetzen auf. Der Koloss hatte den Kopf bewegt und eines der Schneehäufchen, die sich auf ihm angesammelt hatten, war in Bewegung geraten. Fassungslos beobachtete Bipa, wie er den riesigen Kopf hin und her drehte, um auch den restlichen Schnee abzuschütteln. Als er sich ihr zuwandte und sie mit diesen hohlen Augen ansah, wich sie zurück, stolperte und 71
plumpste in den Schnee. Wie gelähmt blieb sie sitzen und sah mit an, wie der Schneemann lebendig wurde. Jetzt schüttelte er die Schultern und hob die Arme, betrachtete sie, als wäre er überrascht, dass sie noch da waren. Dann machte er einen Schritt auf Bipa zu, aber als sie erschrocken davonkrabbelte, blieb er stehen, hielt den riesigen Kopf schräg und sah sie erwartungsvoll und ein wenig traurig an. Bipa keuchte vor Entsetzen. Der Schneemann sah sie an! Mit diesen »Augen«, die nichts weiter waren als zwei Löcher in dem Schneeball, der seinen Kopf bildete! War er etwa lebendig? Wenn nicht, warum bewegte er sich dann? Bipa starrte den Riesen an. Es war nicht so wichtig, was für ein Wesen er war oder wie er hergekommen war. Viel wichtiger war es, ob er gefährlich war oder ihr womöglich sogar weiterhelfen konnte. »Äh … hallo«, sagte sie vorsichtig. Der Schneeriese starrte sie nur stumm an. »Was bist du?«, tastete sich Bipa weiter. Das war vielleicht nicht sehr höflich, deshalb verbesserte sie sich: »Wer bist du? Hast du einen Namen?« Keine Antwort. »Ich heiße Bipa«, fuhr sie fort. Allmählich kam sie sich albern vor. Ihr Gegenüber rührte sich nicht. Die Sache war klar: Entweder verstand er sie nicht oder er konnte nicht sprechen. Aber musste er sie so anglotzen? »Hör endlich auf, mich anzustarren«, protestierte Bipa. Sie warf einen Schneeball nach ihm, bereute es jedoch sofort. Jetzt wurde er vielleicht wütend. Atemlos beobachtete sie, wie er gleichmütig den Kopf zur Schulter drehte, an der Bipa ihn getroffen hatte. Dann wandte er sich wieder ihr zu und sah sie traurig und zugleich erwartungsvoll an. Mit einem ungehaltenen Seuf72
zer rappelte Bipa sich hoch, klopfte sich den Schnee von der Hose und sagte: »Es war nett, dich kennenzulernen, aber ich habe noch anderes zu tun. Tschüs.« Sie kehrte dem seltsamen Wesen den Rücken und setzte ihren Weg fort. Doch gleich darauf vernahm sie hinter sich ein Knirschen, das verstummte, als sie stehen blieb. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich langsam um. Der Schneekoloss folgte ihr. Nervös setzte Bipa sich erneut in Bewegung, diesmal schneller. Ein rascher Blick über die Schulter genügte, um festzustellen, dass das Ungetüm ihr immer noch folgte. Nun begann Bipa zu laufen. Der Schneemann war groß, aber langsam, und zu ihrer Erleichterung blieb er bald zurück. Zitternd flüchtete sie sich in ihre Höhle. Als sie genug Mut gesammelt hatte, trat sie vorsichtig wieder hinaus. Der Koloss tauchte gerade hinter einer Schneeverwehung auf. Erschrocken duckte Bipa sich hinter einen Felsen, um unbemerkt zu bleiben. Er ging zielstrebig bis zum Eingang der Höhle – er hatte sie also gesehen, wenn er denn wirklich etwas »sehen« konnte – und blieb dort stumm und reglos wie ein Wächter stehen. Bipa traute sich erst nach einer Weile aus ihrem Versteck. Vorsichtig ging sie in die Höhle zurück. Der Riese verfolgte ihre Bewegungen, aber das war auch alles. Allmählich beruhigte sich Bipa. Der Schneemann folgte ihr zwar hartnäckig, hatte aber keine bösen Absichten. Er versuchte nie, die Höhle zu betreten, wich jedoch auch nicht vom Eingang. Erst als Bipa bei Einbruch der Dunkelheit Feuer machte, zog er sich ein Stück von der Wärmequelle zurück. Auch am nächsten Morgen war er noch da. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wollte Bipa sich an ihm vorbeischleichen, aber er bemerkte sie sofort und wandte ihr 73
den Kopf zu. Bipa tat, als hätte sie ihn nicht gesehen, und ging weiter, aber das schien dem Wesen nichts auszumachen. Es folgte ihr wie ein treues Hündchen. Bipa schloss die Augen und blieb stehen. »Also gut«, sagte sie, »jeder kann gehen, wohin er will, und ich kann dich nicht daran hindern, mir zu folgen, oder?« Sie sah ihn resigniert an. Aber der Koloss hielt nur ungerührt den Kopf schräg. Bald hatte Bipa sich an seine Gesellschaft gewöhnt. Er machte kaum Lärm, störte nicht, kam ihr nicht in die Quere. Sein einziges Bedürfnis schien darin zu bestehen, ihr überallhin zu folgen, außer in die Höhle. Und bald begann Bipa seine Gegenwart tröstlich zu finden. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie wusste, dass er am Eingang stand. Auch wenn nichts darauf schließen ließ, dass er sie verteidigen würde, falls sie angegriffen wurde, so flößte er ihr doch ein eigenartiges Gefühl von Beschütztsein ein. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass Bipa, als sie sich wieder kräftig genug fühlte, beschloss, ihren Weg zu Eiselda fortzusetzen, anstatt nach Hause zurückzukehren. An einem dunstigen Morgen verstaute sie die knappen Vorräte, die sie hatte ansammeln können, in ihrem Rucksack und machte sich wieder auf den Weg. Schon vor Tagen hatte sie einen Passweg zwischen den Bergen entdeckt und vermutete, dass er sie auf die andere Seite führen würde. Der Schneeriese folgte ihr lautlos. Dass sie sich von der Höhle und dem Ort, wo sie ihn gefunden hatte, entfernte, kümmerte ihn offenbar nicht. Ohne zu zögern, begleitete er sie durch die Berge und wirkte auch nicht besorgt, als das Felspanorama schließlich einer weiten Schneefläche wich. Bipa ließ die Berge hinter sich und er folgte ihr, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. 74
Im Lauf der nächsten Tage versuchte sie ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, sich auf verschiedene Weisen mit ihm zu verständigen, aber alles vergeblich. Das Geschöpf begnügte sich damit, sie mit ausdrucksloser Miene anzusehen. Zum Glück hatten sie gutes Wetter. Natürlich lichtete sich der Nebel nie und der Himmel war nach wie vor völlig mit Wolken verhangen, aber es kam zumindest kein Sturm auf. Bipa stand früh auf und ging, bis sie nicht mehr konnte. Sie wollte das günstige Wetter nutzen, um voranzukommen, denn nach den vielen Tagen in den Bergen war Aer ihr bestimmt weit voraus. Allerdings war sie nicht sicher, ob sie in die richtige Richtung ging. Die Schneewüste wollte kein Ende nehmen. Vielleicht ging sie im Kreis. Vielleicht … Wenn sie jetzt anfing, sich alle möglichen Schwierigkeiten auszumalen, würden Angst und Zweifel sie lähmen. In dieser Kälte war es das Beste, einfach weiterzugehen, sich zu bewegen, ganz gleich in welche Richtung. Also setzte sie stur einen Fuß vor den anderen. Der Schneeriese folgte ihr. Gerade als die Vorräte zur Neige gingen und Bipa schon in Betracht zog, wieder mehrere Tage haltzumachen, um zu jagen, zu fischen und sich auszuruhen, tauchten am Horizont Eiszacken auf. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen und sah sich die Umrisse, die im Nebel zu erahnen waren, genauer an. Sie atmete erleichtert auf: Es waren keine neuen Berge. Dafür waren diese Zacken zu regelmäßig, sie schienen eher von menschlichen Händen geformt. Möglicherweise waren es Türme, die riesigen Türme eines großen Gebäudes, das aussah wie aus Eis. »Eiselda«, sagte sie laut. Sie holte tief Luft. Eiselda 75
kannte Aer. Sie konnte sie nach ihm fragen. Mit ein wenig Glück war er vielleicht noch bei ihr. Aber dann fiel Bipa die Glasblume ein, die Aer ihr gestohlen hatte. Ob Eiselda ihm deshalb noch böse war? Bipa zögerte, aber die Aussicht, endlich etwas über ihren Freund in Erfahrung zu bringen oder nach so langer Zeit wenigstens mit einem anderen Menschen zu sprechen, gab schließlich den Ausschlag. Entschlossen steuerte sie auf die hohen Türme zu und erreichte das riesige Gebäude, als es bereits dunkel wurde. Müde, hungrig und außer Atem blieb Bipa vor einem Torbogen stehen und spähte hindurch. Aber der Weg verlor sich im Nebel und ein Eingang war im Zwielicht nicht auszumachen. Sie legte den Kopf in den Nacken. Über ihr ragte der riesige Bogen aus Eis auf. Weitere solche Bögen, nur kleiner, säumten den Weg zu Eiseldas Palast. Bipa fand die Wirkung zwar ziemlich beeindruckend, aber diese Bögen hatten keinerlei Nutzen, sie mussten nichts stützen und taugten auch nicht als Unterschlupf. Bipa dachte an ihr Zuhause, an die gemütlichen, praktischen Höhlen, und fragte sich, was für ein Menschenschlag sich wohl die Mühe machte, den Weg zum Haus mit prunkhaften, aber sinnlosen Bögen zu säumen. Vermutlich derselbe Menschenschlag, der Glasblumen sammelte. Die Glasblume erinnerte sie wieder an Aer. Sie holte tief Luft und schob alle Bedenken beiseite. Sie musste hineingehen und nach Aer fragen. Und nebenbei um Obdach und ein warmes Abendessen bitten. Sie ging unter den Eisbögen hindurch. Aber nach wenigen Schritten vermisste sie etwas und drehte sich um. Ihr Begleiter rührte sich nicht. Er war unter dem Hauptbogen stehen geblieben und sah ihr nach, machte jedoch keine Anstalten, ihr zu folgen. 76
»Was hast du? Kommst du nicht mit?« Er deutete ein Kopfschütteln an und blieb, wo er war. »Ist gut«, sagte Bipa. »Warte hier auf mich, wenn dir das lieber ist. Ich komme morgen früh wieder.« Der Schneeriese ließ erkennen, dass er verstanden hatte. Also ging Bipa allein bis zu einem Portal, das von zwei mächtigen Statuen flankiert wurde. Es war verschlossen. Über ihr hing ein riesiger Türklopfer, der so schwer aussah, dass Bipa sich nicht die Mühe machte, ihn zu benutzen, sondern mit den Fäusten an das Tor hämmerte, so laut sie konnte. Zunächst geschah nichts. Aber dann war ein unheimliches Knarren zu hören. Erschrocken wich sie zurück und hob den Kopf. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Das, was sie für Statuen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit zwei Wächter, die sie anstarrten. Sie ähnelten ihrem Schneeriesen, aber es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Bipa räusperte sich und sagte langsam und deutlich: »Ich heiße Bipa und komme aus den Höhlen. Ich möchte zu Eiselda. Ich hätte gern eine Auskunft von ihr.« Die Wächter rührten sich zunächst nicht. Als Bipa schon dachte, sie hätten sie nicht verstanden, wandte sich einer von ihnen dem Portal zu und versetzte ihm mit beneidenswerter Leichtigkeit einen einzigen Schlag mit dem schweren Türklopfer. Der Klang hallte im Inneren des Palastes wider. Dann schwang das Portal langsam auf und ließ einen feinen Regen aus Schnee und Eis herabrieseln. Der Wächter trat ein und drehte sich zu Bipa um, als wolle er ihr bedeuten, ihm zu folgen. Genau das tat sie. 77
6 EISELDA Das Portal schloss sich hinter ihnen. Bipa folgte dem Wächter durch einen spärlich erleuchteten Gang. Verwundert blickte sie sich um. Sie hatte erwartet, hier drinnen werde es warm und gemütlich sein, aber es war genauso kalt wie draußen. Und jetzt verstand sie auch, warum. Die Wände, die Böden, die Decken – alles bestand aus purem Eis. Deshalb war das Gehen ziemlich mühsam und sie konnte kaum mit ihrem Begleiter mithalten. Beim schwachen Schimmer der Wände konnte Bipa ihn endlich besser sehen. Von der Größe her ähnelte er ihrem Schneeriesen. Aber sein Körper war genau wie alles hier aus Eis. Seine Miene war ausdruckslos, doch insgesamt wirkte er achtsamer gestaltet, besser proportioniert als ihr Schneemann, und seine Gesichtszüge waren detaillierter herausgearbeitet. Als sie um eine Ecke bogen, glitt Bipa plötzlich auf dem Eis aus und landete auf dem Hintern. Sie stöhnte und blieb erschöpft sitzen. Als sie den Kopf hob, stand neben dem Wächter ein blasses Männchen, das sie missbilligend musterte. Er war ein Mensch, allerdings flößte er Bipa nicht viel mehr Vertrauen ein als der Eisriese. Erstens war er extrem dünn, so dünn, dass Bipa den Eindruck hatte, jeder Windhauch könne ihn fortpusten. Zweitens war er nicht einfach blass, sondern kreidebleich, als trage er Schminke, um jede Spur Farbe aus seinem Gesicht zu tilgen. Auch sein Haar war schneeweiß und stand spitz nach oben ab, was die längliche Form seines Gesichts noch betonte. Und seine Kleidung 78
war aus dem dünnsten Stoff, den Bipa jemals gesehen hatte, so fein, dass man beinahe seine Haut hindurchsehen konnte. Bipa fragte sich, wie jemand, der in einem Gebäude aus Eis wohnte, damit die klirrende Kälte aushalten konnte. »Was willst du denn hier?«, fragte der Wicht unfreundlich. Bipa rappelte sich auf. »Ich möchte gern zu Eiselda«, erklärte sie vorsichtig. Vielleicht war es besser, Aer vorerst nicht zu erwähnen. »Eine Opake wie du will zu Eiselda?« »Eine Opake?«, wiederholte Bipa verblüfft. Sie erinnerte sich, dass Aer sie einmal so genannt hatte. Es hörte sich nach einer Beleidigung an. Doch sie ignorierte den Ton und fügte hinzu: »Ich bin seit vielen Tagen unterwegs und bin müde und hungrig. Ich habe mich gefragt, ob ich heute Nacht hier schlafen könnte …« Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass das blasse Männchen sie nun mit unverhohlenem Ärger von Kopf bis Fuß musterte. »Du wirst Eiselda nicht genehm sein«, befand er. »Nach dem, was ich von ihr weiß, vermute ich, dass Eiselda mir auch nicht genehm sein wird«, erwiderte Bipa unwirsch. »Aber nicht einmal sie kann jemandem einfach die Tür vor der Nase zuschlagen, selbst wenn es sich um eine Opake handelt. Oder hat deine Eiselda etwa kein Herz?« Bei dem Wort »Herz« richtete der Blick des Männchens sich auf den Opal auf Bipas Brust, und seine Lippen bogen sich zu einem sonderbaren Lächeln, das Bipa äußerst unangenehm fand. Dieses weiße Gesicht schien nicht oft zu lächeln. »Komm.« Der Wicht drehte sich um und ging ins In79
nere des Gebäudes. Oder vielleicht war »gehen« nicht das richtige Wort, er glitt eher dahin, so wie die Kinder aus den Höhlen, wenn sie auf dem zugefrorenen See schlitterten. Bipa hatte früher nie mitgemacht, denn sie fand die Spiele auf dem Eissee unnütz und gefährlich, aber jetzt bereute sie das. Sie versuchte dem Männchen zu folgen, verlor jedoch bald das Gleichgewicht. Keiner half ihr auf. Der Eisriese war auf seinen Posten am Eingang zurückgekehrt und ihr Begleiter war ihr weit voraus. Mit einem Seufzer rappelte Bipa sich hoch und hangelte sich an den Wandvorsprüngen weiter. Schließlich mündete der Gang in einen großen, hohen Raum, dessen Decke voller riesiger Eiszapfen hing, die fahles, kaltes Licht verbreiteten, ähnlich wie der Stern. Bipa musste sich von ihrem Anblick regelrecht losreißen, um nach dem verhärmten Männchen Ausschau zu halten, das sie hergeführt hatte. Es wartete an der Tür auf sie. Neben ihm stand eine große, knochige Frau, ebenfalls sehr dünn – Bipas Hoffnung auf ein gutes Abendessen begann zu schwinden – und in ähnlicher Aufmachung, Haar und Gesicht weiß gepudert, die Kleidung zart und hell. »Bist du Eiselda?«, fragte Bipa unverblümt. Die Frau verzog das Gesicht. »Folge mir«, sagte sie nur und verschwand durch einen Spitzbogen. Bipa blickte das blasse Männchen fragend an, aber das rührte sich nicht von der Stelle, sondern starrte sie nur verächtlich an. Also beeilte sich Bipa, die Frau einzuholen. Dabei rutschte sie an noch mehr blassen, dünnen Menschen mit abstehenden Haaren und weiß getünchten Gesichtern vorbei. Sie bemerkte auch einige Geschöpfe aus Eis – kleinere Wesen, nur so groß wie 80
Menschen –, die mit knarrenden Gelenken durch die Flure glitten. Die Frau führte sie in ein kleines Zimmer mit einem Bett, einer Truhe und einer Kommode. »Zieh dich um und mach dich zurecht«, befahl sie. »Du kannst Eiselda bei Tisch sehen, aber nur wenn du salonfähig bist.« Bipa wollte protestieren, aber die Frau hatte sich bereits umgedreht und glitt mit raschelnder Tunika durch den Flur davon. Das Zimmer war eiskalt und völlig schmucklos, aber immerhin besser als alle anderen Orte, an denen sie seit ihrem Aufbruch übernachtet hatte. Und außerdem hatte es geheißen, sie würde am Abend etwas zu essen bekommen. Bipa zog den Vorhang zu, der als Tür diente, und stellte ihren Rucksack in eine Ecke. Sie testete das Bett: Es war gut, aber die Laken waren hauchdünn und Decken fehlten. Es gab auch nichts, was wie ein Kamin aussah. Ein Feuer hätte vermutlich alles zum Schmelzen gebracht. Bipa war froh, dass sie eine Decke und einen Mantel dabeihatte. Mit ein wenig Glück würde sie heute Nacht nicht frieren. Auf der Kommode stand eine Schüssel voll Wasser. Es war eiskalt, aber Bipa wusch sich trotzdem Gesicht und Hände. Ob die Palastbewohner wohl jemals ein heißes Bad nahmen? Sie seufzte sehnsüchtig. Auf der Kommode entdeckte sie mehrere Gefäße mit weißem Pulver, das, so erriet sie, zum Tünchen von Haut und Haaren gedacht war. Kommt nicht infrage, sagte sie sich. Aus der Truhe zog sie einige Kleidungsstücke aus dem zarten, lichtdurchlässigen Stoff, der alle Palastbewohner kleidete. Sie entschied sich für eine Tunika, ähnlich wie die der Frau, die sie hergeführt hatte. Darin hole ich mir den Tod, dachte Bipa. Aber die Aussicht auf das 81
Abendessen war zu verlockend, weshalb sie ihren Mantel und die warme Kleidung ablegte und zitternd die Tunika überstreifte. Sie war ihr zu eng. Bipa probierte alle Kleidungsstücke aus der Truhe durch, aber offenbar waren sie für erheblich dünnere Frauen gedacht. Also packte sie sie zurück und ließ den Deckel schlecht gelaunt zuknallen. Als sie ihre eigenen Kleider wieder anhatte, fühlte sie sich gleich wohler. Allmählich wurde ihr auch warm. Nach einer Weile kam die Frau, um sie abzuholen. Sie verzog das Gesicht, als sie Bipa in ihren eigenen Kleidern aus Wolle und Fell auf dem Bett sitzen sah. »Opake!«, sagte sie tadelnd. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst etwas Passenderes anziehen?« »Ich heiße Bipa«, erwiderte sie. »Und ich hätte es auch getan, wenn ihr Kleider für normale Leute hättet und nicht nur für wandelnde Skelette.« »Wandelnde Skelette!«, wiederholte die Frau fassungslos. »Du hast nichts von unserem wahren Wesen begriffen! Wir, die Blassen, befinden uns bereits auf dem Weg des Wandels – ganz im Gegensatz zu dir. Du solltest froh sein, dass wir dir überhaupt Zugang zum Palast unserer Herrin gewährt haben! Du solltest uns anflehen, dir beim Schlankwerden zu helfen! Du solltest dich deines Aussehens schämen!« »Ich? Mich schämen?«, entfuhr es Bipa, die kaum verstand, was sie gesagt bekam. »Warum denn? Ich würde mich eher schämen, so auszusehen wie du!« Die Frau wurde noch ein wenig blasser, falls das überhaupt möglich war. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden, du … Fleischkloß!«, tobte sie. »Du warst noch nicht einmal rücksichtsvoll genug, dir wenigstens das Haar zu tünchen! Du bist … du bist widerwärtig!« 82
Bipa wurde zornig. »Mein Haar gehört mir, mir gefällt es so und ich will es nicht verändern«, pfefferte sie zurück. »Und ich bin kein Fleischkloß. Ich bin eine Frau und habe weibliche Formen, und wenn ich so dünn wäre wie du, würde ich erfrieren. Dort, wo ich herkomme, ernähren die Eltern ihre Kinder gut, damit sie die Sturmnächte und die Zeiten des Mangels überleben, und niemand magert bis auf die Rippen ab, außer, er ist schwer krank, aber das wünscht sich natürlich kein vernünftiger Mensch. Und was wirklich widerwärtig ist, ist die Art, wie du Besucher behandelst.« Die Frau kniff die Augen zusammen und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Bipa schlug zurück. Die andere starrte sie an, als hätte sie ein Ungeheuer vor sich, und sauste schreiend davon. Bipa holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Sie stand zu ihren Worten, aber vielleicht wäre es klüger gewesen, ihre Zunge im Zaum zu halten. Jetzt würde sie bestimmt nichts zu essen bekommen, wenn in diesem Haus denn tatsächlich irgendwann gegessen wurde. Jedenfalls konnte sie nicht hier hocken bleiben und warten. Sie machte die Truhe wieder auf und holte Schuhe mit einer Sohle heraus, die dem Eis mehr Widerstand zu bieten schien. Damit würde sie bestimmt leichter vorankommen. Sie versteckte noch schnell ihren Rucksack unter der Kommode, dann warf sie einen Blick hinaus. Niemand zu sehen. Anfangs drückte sie sich hinter die Türrahmen und Säulen aus Eis, um nicht entdeckt zu werden, aber bald merkte sie, dass diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig war. Der Palast war weitläufig, ein monströses, kaltes Skelett. Viele seiner spärlichen Bewohner sahen zwar aus wie Menschen, bestanden aber aus Eis, so wie die Wäch83
ter am Eingangsportal. Sie wirkten wie Diener oder Wachen. Aber wenn sie wirklich etwas bewachten, taten sie es entweder ziemlich nachlässig oder sie fanden, Bipa habe ihre Aufmerksamkeit nicht verdient, denn sie sahen sie kaum an, wenn sie an ihnen vorbeiging. Die Menschen aus Fleisch und Blut – oder vielmehr, berichtigte Bipa sich verächtlich, »aus Haut und Knochen« –, die Blassen, wie die Frau sie genannt hatte, schenkten ihr sehr wohl Beachtung. Sobald sie auftauchte, verstummten sie und warfen ihr missbilligende Blicke zu. Aber niemand richtete das Wort an sie oder versuchte herauszufinden, was sie hier machte. Sie verzogen lediglich das Gesicht und kehrten ihr den Rücken zu. Ihre Beschäftigungen waren erschreckend belanglos: eitles, leeres Geplauder, gekünsteltes Gelächter, Brettund Kartenspiele, albernes Kokettieren … Sogar diejenigen, die sich praktischeren Dingen widmeten, wie der Beaufsichtigung der Geschöpfe aus Eis, wirkten dabei so gelangweilt, als fänden sie diese Aufgaben unter ihrer Würde. Es dauerte nicht lange, bis Bipa sich völlig fehl am Platz fühlte. Das Denken und Handeln dieser Menschen war ihr völlig unverständlich. Die Blassen stellten selbstgefällig ihre zarten Kleider und gepuderten Gesichter zur Schau. Nach den Blicken zu urteilen, die sie Bipa zuwarfen, schienen sie es als Ehre zu betrachten, hier zu leben. Gleichzeitig kamen sie Bipa irgendwie enttäuscht vor. In ihren Augen flackerte eine Sehnsucht, aber nicht wie bei Nuba, die ihren Mann vermisste, sondern eher wie bei Aer: eine Sehnsucht nach etwas, das Bipas Verständnis überstieg, ein Fernweh nach einem Ort, der durch ihre Träume geisterte oder in den Geschichten ihrer Mütter vorgekommen war. 84
Was war Eiselda wohl für eine Frau und warum waren diese Menschen hier offenbar stolz darauf, nach ihren Regeln zu leben? Es dauerte nicht lange, bis Bipa eine Antwort auf ihre Fragen erhielt. Auf ein durchdringendes Klingelzeichen hin ließen die Blassen alles stehen und liegen und strömten in einen riesigen Salon, der fast vollständig von einer langen Tafel ausgefüllt wurde. Am einen Ende stand ein hoher Thron, der zweifellos der Hausherrin vorbehalten war. Bipa riss sich vom Anblick der bereits gedeckten Tafel los und hielt nach Eiselda Ausschau. Ob sie sie überhaupt erkennen würde? All diese dünnen, weißen Menschen kamen ihr gleich vor. Doch als sie Eiselda entdeckte, begriff Bipa schlagartig, warum sie den höchsten Stuhl hatte und warum all die anderen dieses Leben in ihrem Palast führten. Eiselda stand am Fenster und unterhielt sich mit zwei Männern und einer Frau. Sie trug dieselbe Art Kleider wie die anderen, aber ohne offensichtlichen Grund wirkten ihre noch leichter, noch luftiger. Ihre Figur erinnerte an einen Grashalm. Ihr Gesicht war schneeweiß und ihr Haar war auch ohne Puder, Färbemittel oder Schminke weiß. Ihre Augen glichen Eiskristallen. Dieser Frau versuchten die Blassen nachzueifern, begriff Bipa. Zugegeben, sie war schön, trotz ihrer krankhaften Magerkeit, die sie mit natürlicher Anmut zur Schau trug. Aber wenn sie so klug wie schön gewesen wäre, hätte sie nicht geduldet, dass man sie auf so künstliche Weise kopierte. Das würde Maga nie zulassen, dachte Bipa. Warum ihr wohl gerade jetzt Maga in den Sinn kam? Wie auch immer, der Gedanke an die Schamanin erinnerte Bipa wieder daran, warum sie hier war. Ungeachtet der missbilligenden Blicke bahnte sie sich einen Weg zu Eiselda. 85
Diese lauschte mit leicht geneigtem Kopf dem schmeichlerischen Geschwätz eines der Männer, wirkte jedoch weder erfreut noch verärgert. Ihr kaltes Sphinxgesicht ließ nicht die geringste Regung erkennen. Als sie Bipa bemerkte, richtete sie den Blick auf sie und wartete stumm ab, so wie eine Götterstatue unerschütterlich darauf gewartet hätte, dass ihre Jünger ihr Opfergaben zu Füßen legten. Aber Bipa war keiner ihrer Jünger und hatte auch nicht vor, es zu werden. »Hallo«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich heiße Bipa und komme aus den Höhlen. Ich würde gern kurz mit dir sprechen.« Unter den Menschen mit den getünchten Gesichtern erhob sich entrüstetes Gemurmel. Aber Eiselda lächelte nur, ein halbes Lächeln, das eher dem Riss in einer Eisdecke glich, und sagte: »Lasst uns allein.« »Aber meine weiße Herrin, sie ist eine Opake!« »Das weiß ich«, erwiderte Eiselda schneidend, mit einer Stimme, die ihrem Namen alle Ehre machte. »Lasst uns allein, habe ich gesagt.« »Was bedeutet opak?«, wollte Bipa wissen, nachdem die anderen sich zurückgezogen hatten. »Es bedeutet, dass du nicht ätherisch bist.« Bipa war auch die Bedeutung des Wortes »ätherisch« nicht recht klar. Sie wusste nur, dass es mit der Kaiserin zu tun hatte. »Natürlich bin ich das nicht. Wie ich dir bereits gesagt habe, bin ich in den Höhlen zur Welt gekommen. Ihr seid ätherisch?« »Wir sind weniger opak als du und das sollte dir genügen«, antwortete Eiselda selbstherrlich. »Weißt du etwa nicht, wer wir sind?« »Mir wurde gesagt, ihr nennt euch ›die Blassen‹«, antwortete sie. »Das leuchtet mir sofort ein.« 86
Eiselda deutete ein Lächeln an. »So werden wir genannt, gewiss. Aber man kennt uns auch als ›die Eisigen‹. Weißt du, warum?« »Weil alle, die hier leben, so sein wollen wie du?« Eiselda sah sie herablassend an. Offenbar war ihr die Ironie in Bipas Worten entgangen. »Weil wir die Reinheit des Eises verehren. Weil wir es bearbeiten und ihm eine Form geben und weil wir danach streben, genauso durchsichtig zu werden. Wenn du es dir ganz fest wünschst, kannst du bald sein wie wir.« »Nein danke«, erwiderte Bipa hastig. »Daran liegt mir nichts.« Eiseldas Lächeln verflüchtigte sich. »Weshalb hast du dann an meine Tür geklopft?«, fragte sie trocken. Bipa zögerte. Sie war nicht sicher, ob sie Aer erwähnen sollte. »Ich bin auf der Durchreise«, antwortete sie ausweichend. »Ich will zum Schloss der Kaiserin.« Eiselda stieß ein eisiges, schneidendes Lachen aus. »Du wirst nie zum Schloss der Kaiserin gelangen. Dazu bist du viel zu opak. Wenn du eine Weile bei uns bleiben würdest«, fügte sie vielsagend hinzu, »würde es dir vielleicht gelingen, blass zu werden, so wie wir, dann wärst du ein bisschen ätherischer und etwas weniger opak. Es würde nicht ausreichen, um zur Kaiserin zu gelangen, aber es wäre ein erster Schritt.« Bipa schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ich bleibe lieber, wie ich bin.« »Du bist ein armes, unwissendes Ding«, lächelte Eiselda verächtlich. »Du wälzt dich lieber im Dreck, als nach Höherem zu streben.« »Ich wälze mich nicht im Dreck«, stellte Bipa richtig. »Und man muss nicht besonders schlau sein, um zu merken, dass hier alle kurz vorm Verhungern sind. Warum 87
sollte ich auf jemanden hören, in dessen Haus man friert und der behauptet, es sei erstrebenswert, blass und dünn zu sein? Das ist absurd und dumm.« Als Bipa sich ihrer Worte bewusst wurde, war es schon zu spät. Sie hatte mal wieder ihre Zunge nicht im Zaum halten können. Aber Eiselda schien völlig ungerührt. »Oh«, erwiderte sie. »Na schön. Du glaubst also, die Leute hier würden verhungern. Dann schlägst du die Einladung zu unserem nicht vorhandenen Abendessen aus?« Bipa errötete und das passierte ihr nicht gerade oft. »Nein, nein, so war das nicht gemeint«, sagte sie beschwichtigend. Eiselda lächelte erfreut. »Gut. Dann setz dich an den Tisch und lass uns essen. Danach sprechen wir weiter. Ich weiß, ihr Opake nehmt die Bedürfnisse des Körpers sehr ernst. Vielleicht bist du ein wenig umgänglicher, wenn dein großer Magen voll ist.« Bipa schnaubte leise und murmelte ein knappes Dankeschön. Kurz darauf nahm Eiselda an der Tafel Platz und die übrigen Tischgäste taten es ihr nach. Bipa musste warten, bis eines der Geschöpfe aus Eis ihr einen Stuhl brachte. Als sie sich setzte, rückten ihre Nachbarn ein Stück von ihr ab, aber Bipa ignorierte es. Nun gingen Diener mit großen Suppenschüsseln durch den Raum. Alle nahmen sich winzige Portionen und aßen ein wenig verschämt. Bipa fiel auf, dass die Eisdiener die Schüsseln problemlos halten konnten. Wie war es nur möglich, dass ihre Hände nicht schmolzen? Als sie an der Reihe war, verstand sie den Grund. Die Suppe war kalt und obendrein wässrig und wenig gehaltvoll. Unter den entsetzten Blicken ihrer Tischnachbarn füllte Bipa ihren Teller, bis er fast überlief. Sie hatte ihn 88
sofort leer gegessen. Die kalte Suppe füllte ihren Magen kaum, weshalb sie ungeduldig auf den zweiten Gang wartete. Aber es gab keinen zweiten Gang. Eiselda, die nur einen Löffel Suppe zu sich genommen hatte, erhob sich vom Tisch, sobald die Diener das Geschirr abräumten, und alle anderen beeilten sich, auch aufzustehen. Nur Bipa blieb sitzen. Sie konnte es einfach nicht fassen. »Moment mal …!«, rief sie halblaut. Die Umstehenden reagierten nicht. Erbost schoss sie hoch und ging mit großen Schritten auf Eiselda zu. »Was soll das sein? Ein Witz?«, warf sie ihr an den Kopf. »Oh, hat dir das Essen nicht geschmeckt?« »Ich kam gar nicht dazu, mir eine Meinung zu bilden. Als du von ›nicht vorhandenem Abendessen‹ gesprochen hast, dachte ich, du meinst es ironisch.« Eiselda lächelte verächtlich. »Ihr Opaken macht euch eben zu sehr von euren körperlichen Bedürfnissen abhängig. Wir, die Blassen, stehen über all dem.« »Unsinn. Wenn ihr nicht essen würdet, wärt ihr alle tot.« »Aber wir sind ziemlich lebendig, nicht wahr? Ich weiß, warum du hergekommen bist, Bipa. Du willst nicht zum Schloss der Kaiserin. Du hast nicht das geringste Interesse daran, wie die Ätherischen zu werden oder sie überhaupt kennenzulernen. Mit deinen primitiven Ansichten bist du außerstande, ihre Größe auch nur annähernd zu ermessen.« Bipa schnaubte und wollte protestieren, aber Eiselda kam ihr zuvor. »Du bist wegen des opaken Jungen gekommen, der mir meine Glasblume gestohlen hat.« Bipa schluckte trocken. »Dieser Junge heißt Aer und ist mein Freund«, erklärte sie. »Er hat die erste Reise 89
durch den Schnee überlebt, aber er ist noch einmal aufgebrochen, und ich weiß nicht, ob er diesmal auch so viel Glück hat. Deshalb suche ich ihn.« »Ja ja, damals war er hier. Er hat sich meinem Hof angeschlossen, um von mir zu lernen. Er wusste, dass er seine Reise noch nicht fortsetzen konnte, deshalb ist er hiergeblieben … Aber statt sich geduldig zu bemühen, immer weniger opak zu werden, hat er mir einen meiner Schätze aus Glas gestohlen. Er ist also zu den Opaken zurückgekehrt – zu dir.« Sie stieß ihr kaltes, vornehmes Lachen aus. »Warum sollte ich dir von ihm erzählen? Gibst du mir dafür meine Glasblume zurück?« »Ich kann sie dir nicht zurückgeben. Ich habe sie nicht dabei«, antwortete Bipa. »Das habe ich mir gedacht.« Eiselda lächelte spöttisch. »Dann willst du mir nicht sagen, ob Aer noch mal vorbeigekommen ist? Aber ich kann doch gar nichts dafür, dass er dir die Blume gestohlen hat. Verlang sie von ihm zurück, nicht von mir.« »Keine Bange, die Auskunft, die du benötigst, kannst du mir auch anders bezahlen. Komm mit.« Die Kleider der Schlossherrin raschelten, als sie sich umdrehte. Mit einer einzigen Geste hielt sie die anderen Tischgäste davon ab, sich an ihre Fersen zu heften. Nur Bipa folgte ihr durch kalte, trostlose Flure bis zu einem Saal, der von zwei Eisriesen bewacht wurde. Bipa war beeindruckt. Hier waren lauter Dinge aus Glas ausgestellt, so wie die Blume, die Aer ihr geschenkt hatte: Krüge, Gläser und Tabletts, aber auch Figuren, Bäume, Tiere und andere Wesen, die Bipa nicht kannte, alle aus reinem, funkelndem Glas. »Kostbarkeiten aus der Glasstadt«, sagte Eiselda ge90
dämpft. »Alle vollkommen durchsichtig. Ein weiterer Schritt in Richtung der Ätherischen. Hast du eine Ahnung, wie wertvoll sie sind? Nein, natürlich nicht.« Ihr Ton war verächtlich. »Und doch kannst du mich für den Verlust eines der kostbarsten Stücke meiner Sammlung entschädigen.« »Ich habe nichts, was ich dir geben könnte …«, setzte Bipa an, aber Eiselda unterbrach sie: »Oh doch.« Sie hob ihre weiße Hand und ihr Zeigefinger, der in einem langen Nagel aus Eis endete, deutete auf Bipas Brust: »Deinen Anhänger.« Instinktiv griff Bipa nach dem Quarzbrocken, den Aer ihr geschenkt hatte. »Nein, nicht den«, wehrte Eiselda ungeduldig ab. »Den anderen. Wenn du ihn mir gibst, sage ich dir, wo dein Freund ist.« Bipa erschrak zutiefst. Sie bedeckte den Opal rasch mit beiden Händen, um ihn vor dem habgierigen Blick der Frau aus Eis zu schützen. »Den kann ich dir nicht geben. Er gehört mir nicht, ich habe ihn nur geliehen bekommen.« Eiselda lachte schallend. »Das glaube ich dir nicht. So etwas gibt niemand freiwillig aus der Hand, Herzchen. Viele würden für diesen Stein über Leichen gehen, versuch also nicht mir einzureden, du hättest ihn geliehen bekommen. Du musst ihn irgendwo gestohlen haben.« Bipa hörte ihr kaum zu. Erst jetzt hatte sie bemerkt, dass auf Eiseldas Brust auch ein Opal ruhte, nur blasser als ihrer, verblichen, fast farblos, als wäre die Wärme des Steins erloschen. Verglichen damit funkelte Magas Opal wie ein kleiner Feuerball. »Was ist denn mit deinem passiert?«, fragte sie. »Das geht dich nichts an. Du brauchst nur eins zu wis91
sen: Wenn du mir deinen Opal gibst, sage ich dir, wo dein Freund ist. Ich an deiner Stelle würde es mir nicht lange überlegen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »ohne mich findest du ihn nämlich nie.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Bipa. »Außerdem habe ich dir schon gesagt, der Opal gehört mir nicht und ich kann ihn nicht leichtfertig weggeben. Und wenn du mir nicht glauben willst, kann ich auch nichts machen«, schloss sie tapfer. »Wie du willst«, sagte Eiselda. »Denk noch ein wenig über mein Angebot nach. Aber beeil dich. Je länger du zögerst, desto weiter ist Aer fort.« Bipas Herz krampfte sich zusammen. Dennoch wandte sie ein: »Ohne den Opal, der mich am Leben hält, nützt es mir nichts zu wissen, wo Aer ist.« »Wer weiß«, sagte Eiselda kryptisch. »Vielleicht ist er näher, als du glaubst.« Bipa sah sie misstrauisch an und ging zurück in ihr Zimmer. Den Opal hatte sie wieder unters Hemd gleiten lassen und fühlte sich getröstet von seiner sanften Wärme. Sie würde Eiseldas Palast morgen früh verlassen und auf eigene Faust weiter nach Aer suchen. Die Vorstellung, diese anstrengende Reise so bald fortzusetzen, entmutigte sie, aber besonders gemütlich war es hier ja auch nicht gerade. Doch was, wenn Aer hier war? Wenn Eiselda ihn womöglich gefangen hielt? Da hatte sie eine Idee. Eiselda würde ihre Fragen nicht beantworten, aber irgendjemand anders vielleicht schon.
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7 FLUCHT INS TAL Anstatt direkt in ihr Zimmer zurückzukehren, bog Bipa in einen anderen langen Flur ein. Sie versuchte mit den Geschöpfen aus Eis ins Gespräch zu kommen, stellte jedoch bald fest, dass sie stumm waren, wie ihr Schneeriese. Da erspähte sie einen jungen Mann, hoch aufgeschossen und weiß geschminkt, genau wie alle anderen. Er würde sie bestimmt auch ignorieren, aber sie wollte es trotzdem probieren. Vielleicht weil er sie irgendwie an Aer erinnerte. »Hallo«, grüßte sie ihn. »Was willst du, Opake?«, fragte er argwöhnisch. »Ich suche jemanden«, vertraute Bipa ihm an. »Einen Opaken wie mich. Na ja …«, schränkte sie ein, »er sieht ein bisschen anders aus als ich. Sein Haar ist heller und er ist wesentlich dünner als ich. Aber nicht so dünn wie du« – der Göttin sei Dank, fügte sie in Gedanken hinzu. »Er ist etwa so alt wie du. Er war schon einmal hier …« Bipa sprach den Satz nicht zu Ende und wartete mit angehaltenem Atem. Ihr Gegenüber senkte den Kopf und überlegte. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Er hat etwas getan, das Eiselda tagelang in schlechte Laune versetzte, verschwand dann aber, bevor sie ihn bestrafen konnte.« »Und er ist nicht wiedergekommen?« »Das wäre sehr dreist von ihm. Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen.« Niedergeschlagen schloss Bipa die Augen. Wenn Aer es nicht bis zu Eiseldas Palast geschafft hatte, war er höchstwahrscheinlich unterwegs verhungert oder erfro93
ren. Sie war nicht schnell genug gewesen. Mehrere Tage waren verstrichen, bis sie sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, und dann hatte sie wegen der Schneestürme in den Bergen haltmachen müssen. Sie konnte Aer unmöglich überholt haben. Er hätte lange vor ihr hier sein müssen. »Du solltest in der Küche fragen«, schlug da der junge Mann vor, vielleicht aus Mitleid, weil Bipa so entmutigt aussah. »Bianca weiß immer, wer kommt und geht. Vielleicht kann sie dir mehr sagen.« »Danke«, erwiderte Bipa aus tiefstem Herzen und rannte sofort los. Um ein Haar hätte sie das Gleichgewicht verloren, als sie um eine Ecke bog. Sie ruderte mit den Armen und konnte sich gerade noch an der Wand abstützen. Bald erreichte Bipa die Küche, wo die Eisdiener gerade die Überreste des kargen Abendessens wegräumten. Sie wurden mit knappen, unmissverständlichen Befehlen von einer Frau dirigiert. Bipa bekam weiche Knie. Es war dieselbe Frau, die sie in ihr Zimmer geführt und der sie eine Ohrfeige verpasst hatte. Wenn das die Köchin war, brauchte sie sich gar keine Hoffnungen zu machen. Aber sie musste es trotzdem versuchen. »Hallo, bist du Bianca?«, fragte sie vorsichtig. Als die Köchin sie wiedererkannte, kreischte sie entsetzt auf. »Das von vorhin tut mir leid«, sagte Bipa schnell. »Aber du musst zugeben, dass du diese Ohrfeige verdient hattest. Du hast mich zuerst geschlagen.« »Verschwinde!«, schrie Bianca und starrte sie an, als wäre sie ein grässliches Ungeheuer. »Fort mit dir! Fort mit dir!« »Ich gehe, wenn du mir ein paar Fragen beantwor94
test«, versprach Bipa. »Ich suche einen Jungen in meinem Alter, einen Opaken, der vor ein paar Tagen hier angekommen ist.« »Fort mit dir!«, schrie Bianca wie am Spieß. »Werft sie raus!« Plötzlich wandten sich alle Eisdiener Bipa zu. »Bitte!«, bettelte sie. »Ich komme von weit her, nur um ihn zu finden!« Sie war es nicht gewöhnt, jemanden so anflehen zu müssen, und dann auch noch wegen des leichtfertigen Aer. Aber ihr Herz übernahm die Führung. »Ich komme von weit her … nur um ihn zu finden«, sagte sie noch einmal leiser. »Um ihn zu finden und wieder nach Hause zu holen.« Etwas in Bipas Blick oder vielleicht in ihrer Stimme rührte Biancas Herz. »Eigentlich dürfte ich es dir nicht sagen«, gestand sie mit bebender Stimme. »Aber dieser Junge, von dem du redest, war vor etwa zwei Wochen hier. Er traf nachts ein und kam direkt in die Küche. Ich habe ihm einen Teller Suppe gegeben und ein Zimmer angeboten, aber er wollte es nicht annehmen. Er setzte sich in diese Ecke hier und starrte nur vor sich hin, in seinen schrecklichen Fellmantel gewickelt. Ich ging Eiselda benachrichtigen, aber als wir zurückkamen, war er schon fort. Wir haben ihn nicht wiedergesehen.« Bipas Herz schlug schneller. Vor zwei Wochen war Aer am Leben, dachte sie. Sie sah ihn vor sich in der Ecke, auf die Bianca gedeutet hatte, den Teller mit kalter Suppe in der Hand und den Kopf so voller absurder Gedanken, dass er seine Umgebung gar nicht richtig wahrnahm. Ich habe die Palastbewohner für verrückt erklärt, schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Aber ich selbst habe alles zurückgelassen, um den verrücktesten Kerl zu su95
chen, den ich kenne. Wer ist also am verrücktesten von allen? Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, um nachzudenken. Aer hatte zwei Wochen Vorsprung. Das war eine Menge. Aber immerhin wusste sie jetzt, dass er noch am Leben war oder es zumindest vor zwei Wochen noch gewesen war. Bipa beschloss, ihre Reise bei Tagesanbruch fortzusetzen. Sie versuchte zu schlafen, aber das Bett war hart und kalt und außerdem knurrte ihr Magen erbärmlich. Obwohl sie unendlich müde war, tat sie kein Auge zu – zum Glück, denn so hörte sie das Knarren der Eisdiener im Flur. Erschrocken setzte sie sich auf. Als die Tür aufschwang, hatte Bipa bereits den Rucksack aufgesetzt und stand sprungbereit neben dem Fenster. »Was wollt ihr?«, schrie sie. Die Eisdiener kreisten sie stumm ein. Einer versuchte ihr mit seinen krummen Fingern den Opal vom Hals zu reißen. »Lass das, der gehört mir!« »Du hast doch behauptet, er gehört nicht dir, Herzchen«, ließ sich Eiseldas Stimme an der Tür vernehmen. Bipa wich ein Stück zurück, während die Eisdiener immer näher kamen. »Wir hatten eine Abmachung!«, protestierte sie. Eiselda lachte. »Ich habe meinen Teil erfüllt. Bianca hat dir alles erzählt, was du wissen wolltest, also gib mir jetzt sofort den Opal.« »Wenn schon, dann müsste ich ihn Bianca geben, nicht dir. Aber mit ihr habe ich keine Abmachung … Lass das!« Bipa wehrte eine Hand aus Eis ab. »Gefallen dir meine Eisgolems nicht?«, fragte Eiselda lächelnd. »Sie sind meine vollkommenste Schöpfung. 96
Natürlich werde ich mit deinem Opal noch reinere Wesen erschaffen können. Aber du weißt nicht mal, wovon ich spreche, stimmt’s? Schließlich bist du nur eine Opake.« Bipa schrie, als eisige Krallen sie von hinten packten, und strampelte aus Leibeskräften. Das Geschöpf, das Eiselda »Eisgolem« genannt hatte, hatte offenbar keine so energische Reaktion erwartet, denn es ließ seine Beute los. Bipa drehte sich um und stieß es mit aller Kraft gegen die anderen. Die Eisdiener fielen übereinander. Es klirrte unangenehm, aber Bipa achtete nicht weiter darauf, sondern schmetterte ihren Rucksack gegen das Fenster. Das dicke Glas zerbarst geräuschvoll. Bipa wollte gerade ihrem Rucksack hinterherspringen, als eine kalte Hand sie am Arm packte. »Wo willst du denn hin?«, zischte Eiselda. »Fort«, erwiderte Bipa. Eiselda verstärkte den Griff, aber Bipa war kräftiger, stieß Eiselda gegen die Wand, dass sie zusammensackte, und zwängte sich durch die geborstene Scheibe. Draußen rappelte sie sich hoch, griff sich ihren Rucksack und humpelte in die Dunkelheit hinaus. Jetzt erst merkte sie, dass sie sich an einer Glasscherbe verletzt hatte. Eine dünne Blutspur bildete sich hinter ihr im Schnee. Sie wusste nicht, wo sie war, und schleppte sich orientierungslos durch die Nacht, aber plötzlich stand sie vor den Spitzbogen aus Eis, die zum Eingangsportal führten. Vor Schmerzen und Erschöpfung sank sie auf die Knie. Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, sah sie gerade noch, wie die beiden Torwächter auf sie zukamen. Und diesmal wirkten sie nicht wie zwei harmlose Statuen, sondern hatten ihre Lanzen erhoben. Ihre Schritte ließen den Schnee bedrohlich knir97
schen. Gleich würden sie bei ihr sein und dann war alles zu Ende … Plötzlich wurde sie von etwas so Kaltem und Feuchtem gepackt, dass sie vor Angst aufschrie. Sie flog durch die Luft, und ehe sie sich’s versah, landete sie auf einem riesigen Schneehaufen. Sie schnappte nach Luft und wollte sich gerade aufrappeln, da begann sich der Schneeberg zu bewegen, fort von den Wächtern, in großen Schritten … und zwar mit ihr. Natürlich! Sie hatte ja auch einen Golem … einen Schneegolem, der ihr treu durch die Berge gefolgt war und ihr jetzt das Leben rettete. Noch benommen ließ sie den Kopf auf die Schulter des Riesen sinken, der sie eilends durch die Schneewüste trug. Hinter sich hörte sie das laute Knarren ihrer Verfolger und schloss aus den Geräuschen, dass ihnen nicht nur zwei Eisgolems folgten, sondern weit mehr. Aber sie war so erschöpft, dass ihr die Augen zufielen. Also schlief sie ein, gab sich dem Geschaukel hin und träumte von Eisdienern und dünnen weißen Menschen, von nicht vorhandenen Mahlzeiten und wundersamen Gebilden aus Glas. Von Eiselda und Bianca und auch von Aer. Es wurde schon hell, als der Riese sie im Schutz eines Felsens absetzte. Bipa kam langsam wieder zu sich und das Erste, was sie sah, war das Gesicht des Schneegolems, der sich über sie beugte. Für einen kurzen Moment erschrak sie, fing sich aber schnell wieder. »Wo sind wir?«, fragte sie, und erst dann fiel ihr ein, dass sie keine Antwort bekommen würde. Beim Aufstehen verspürte sie einen schmerzhaften Stich im Bein. Richtig, sie hatte sich ja verletzt. Sie zog das Hosenbein hoch und säuberte die Verletzung mit 98
Schnee. Dann verrührte sie ein Pulver, das Maga ihr mitgegeben hatte, mit Schnee zu einer braunen Paste und strich sie auf die Wunde. »Eigentlich sollte dieser Umschlag warm aufgelegt werden«, erklärte sie dem Golem, »aber unter diesen Umständen muss ich mich wohl mit einer Eispackung begnügen.« Während sie einen festen Verband um das Bein legte, war der Schneeriese auf einen Felsen geklettert und suchte mit seinen hohlen Augen den Horizont hinter ihnen ab. Als Bipa ihn dort oben stehen sah, kam ihr zu Bewusstsein, was für ein wunderliches Wesen er doch war. »Um der Göttin willen, sieh dich an«, rief sie. »Du bist ein riesiger Schneeball mit Kopf, Beinen und Armen. Eigentlich dürftest du dich gar nicht bewegen können, sondern müsstest bei der ersten Gelegenheit auseinanderfallen. Und eigentlich solltest du mich auch nicht ansehen können. Du hast ja nicht einmal Augen!« Der Schneegolem schien ihre Ansichten nicht krummzunehmen, sondern wandte sich wieder dem Horizont zu. Offenbar wollte er ihr etwas zeigen. Mit einem resignierten Seufzer schleppte Bipa sich zu ihm. Was sie sah, ließ sie vor Entsetzen aufkeuchen. Sie wurden von Hunderten von Eisgolems verfolgt. Angeführt wurde dieses Heer von Eiselda, die auf einer Riesenechse aus Eis ritt. Panisch drehte Bipa sich um. Vor ihnen türmten sich weitere Berge auf. Es führte zwar eine Schlucht hinein, aber sie bot keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sobald sie aus dem Schutz des Felsens traten, würden ihre Verfolger sie sehen können. Sie würden es nie auf die andere Seite schaffen. Aber wenn sie hierblieben, würden sie sie auf jeden Fall finden. 99
Entmutigt nahm sie den Opal in die Hand. Wie kann es sein, dass so ein kleiner Stein so wichtig ist?, fragte sie sich. Für Maga und die übrigen Bewohner der Höhlen war er natürlich von großer Bedeutung. Aber Eiselda hatte selbst einen Opal. Warum wollte sie ihr dann diesen hier um jeden Preis abjagen? »Und wenn ich ihn ihr gebe?«, überlegte Bipa laut. »Es wäre schrecklich, ihn zu verlieren, aber bestimmt versteht Maga, dass mir nichts anderes übrig blieb. Wer weiß, wozu Eiselda fähig ist, wenn ich ihn nicht …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn plötzlich stürzte sich der Schneegolem auf sie und begrub sie unter sich. Heftig protestierend versuchte Bipa sich zu befreien, aber der Riese war zu groß und stark. Plötzlich hörte sie Eiseldas Stimme ganz nah. Bibbernd vor Kälte begriff sie, dass der Schneegolem sie mit seinem Körper vor feindlichen Blicken abschirmte. Wenn er sich ruhig verhielt, völlig reglos, so wie jetzt, war er vom normalen Schnee nicht zu unterscheiden. Eiseldas Soldaten zogen an ihnen vorüber. Bipa konnte ganz deutlich das Knarren ihrer Gelenke aus Eis hören, das Knirschen ihres Gleichschritts im Schnee. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie vorbei waren. Erst als ihre Schritte nur noch ein leises Murmeln waren, stand der Schneegolem auf und entließ Bipa aus ihrem unbequemen Gefängnis. Sie war völlig durchgefroren. Ihre Lippen waren blau angelaufen und ihre Zähne klapperten so stark, dass sie Angst hatte, sich auf die Zunge zu beißen. Sie bewegte Arme, Beine, Finger und Zehen und hüpfte auf und ab. Kaum versorgte ihr Kreislauf wieder alle Teile des Körpers mit warmem Blut, setzte Bipa sich hinkend in 100
Bewegung, aber nicht hinter Eiselda und ihren Leuten her in die Schlucht hinein, sondern am Fuß der Bergkette entlang, auf der Suche nach einem anderen Passweg. Der Golem folgte ihr. Trotz Kälte, Hunger, Müdigkeit und Schmerzen schleppte sich Bipa den ganzen Tag weiter. Bei Einbruch der Dunkelheit kroch sie in eine Höhle, die geschützt genug lag, um sich dort sicher zu fühlen, und entfachte ein Feuer. Als die Flammen ihren Körper wärmten und ihrem Herz wieder Hoffnung einflößten, wandte Bipa sich lächelnd dem Golem zu, der draußen auf sie wartete. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie, »und ich weiß gar nicht, warum. Ich glaube, jetzt muss ich dir wenigstens einen Namen geben.« Der Golem ließ keine Regung erkennen. Wahrscheinlich war es ihm egal, wie er angesprochen wurde, aber für Bipa war er nicht länger ein unförmiger Schneemann. Er hatte einen eigenen Willen und eine gewisse Intelligenz. Er musste einen Namen bekommen. Bipa überlegte lange. »Ich glaube, ich werde dich ›Nevado‹ nennen«, sagte sie schließlich zufrieden. Am nächsten Tag meinte die Göttin es gut mit ihnen, denn am späten Vormittag stießen sie auf ein kleines Tal. Bipa vermutete zwar, dass Aer den Weg durch die Schlucht genommen hatte, denn der war von Eiseldas Palast aus am schnellsten zu erreichen. Aber Hauptsache, sie überquerten die Berge, ohne Eiselda in die Arme zu laufen. Bipa und Nevado kundschafteten das Tal auf der Suche nach Nahrung und Unterschlupf aus. Sie fanden einen kleinen See, der natürlich zugefroren war, aber Bipa schlug eine Öffnung ins Eis – es war gar nicht so dick, 101
wie sie gedacht hatte –, zog die Angelschnur aus ihrem Rucksack und hängte sie ins Wasser. Bis zum Abend hatte sie zwei weiße, glitschige Fische gefangen, die nicht besonders appetitlich aussahen. Doch ihr Hunger war so groß, dass sie sie über dem Feuer briet und mit Haut und Gräten verschlang. Sie bekamen ihr nicht besonders gut, aber das Gefühl eines vollen Magens entschädigte für alles. Am nächsten Morgen setzten sie den Marsch fort. Bipa war besserer Laune. Sie humpelte fast nicht mehr, ihr Magen knurrte noch nicht und Eiselda war nicht wieder aufgetaucht. Ihre Zuversicht schwand allerdings, als das Tal enger wurde. Wenn es keinen Ausgang hatte, blieb ihnen doch nur die Schlucht … Aber Bipa ging stur weiter, bis sie ganz und gar von Bergen umringt war. Und sie hatten Glück. Dort war ein Tor. Zwei gewaltige Eiszapfen, deren Spitzen sich berührten und zum Himmel zeigten. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich die Eiszapfen jedoch als etwas anderes. Dieses Material erkannte Bipa sofort wieder. Um sicherzugehen, zog sie Aers Anhänger unter ihrem Hemd hervor. »Quarz«, murmelte sie erstaunt. Aber was für welcher! Er war unendlich viel reiner und vollkommener als das triste Stückchen um ihren Hals. Die prismenförmigen Säulen forderten sie geradezu auf, unter ihnen hindurchzugehen und den Tunnel zu betreten, der sich dahinter auftat. »Morgen«, bestimmte sie. Sie schlugen ihr Lager am Fuß des Tores auf. Trotz ihrer Entdeckung fehlte Bipa noch etwas zu ihrem Glück. Quarz war nicht essbar und sie hatte wieder Hunger. In diesem Tal gab es nicht besonders viele Lebewesen, auch wenn es hier ein wenig wärmer zu sein schien als in 102
Eiseldas Reich. Da und dort hatte sich der Schnee zurückgezogen und ließ schlüpfriges, graues Moos zutage treten. In den Felsspalten fand Bipa außerdem einige Knollenpflanzen von einem schmutzigen, vergilbten Weiß, als hätten sie ihre Farbe eingebüßt. Ebenfalls zwischen den Felsen liefen unappetitliche blasse Tierchen mit vielen Füßen herum. Bipa konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Sie kochte aus all dem eine Suppe und langte hungrig zu. Am nächsten Morgen aß sie zum Frühstück die Reste der Suppe. Dann packte sie ihre Sachen zusammen, holte einen Kienspan aus ihrem Rucksack und entzündete ihn am Lagerfeuer. Nevado wich einen Schritt zurück. »Du kannst hierbleiben, wenn du willst«, sagte Bipa. »Der Tunnel ist zwar hoch genug für dich, aber ich kann verstehen, wenn du nicht hineingehen magst. Ich hab auch keine große Lust«, vertraute sie ihm an. »Aber mir bleibt nichts anderes übrig. Zurückzugehen ist viel zu gefährlich und dieser Tunnel führt irgendwo hin. Sonst hätte sich niemand die Mühe gemacht, hier ein solches Tor zu bauen.« Nach diesen Worten holte sie tief Luft, hielt die Fackel hoch und ging unter den riesigen Quarzsäulen hindurch. Hinter sich hörte sie ein sanftes Knirschen. Nevado folgte ihr in sicherem Abstand. Das Innere des Tunnels war noch erstaunlicher als das Tor an seinem Eingang. Es barg einen ganzen Wald aus mächtigen Quarzkristallen, die milchig schimmerten, als das Licht der Fackel darauf fiel. Manche Kristalle strebten zur Tunneldecke, andere wuchsen kreuz und quer, einzeln oder in Bündeln. Voller Verwunderung bahnte sich Bipa einen Weg, über manche kletterte sie hinweg, unter anderen schlüpfte sie hindurch. Nevado folgte ihr 103
treu und beider Gesichter spiegelten sich matt in den Facetten des Quarzes, der sie mit Hunderten von Augen aus seinem Versteck im Herzen des Gebirges zu beobachten schien. Der Weg war lang und mühsam und teilweise sogar gefährlich. Häufig war der Boden mit spitzen Stacheln gespickt und Bipa musste auf einem waagrechten Quarz darüber hinwegbalancieren. Mehr als einmal wäre sie beinahe abgerutscht. Keuchend hielt Bipa inne, um auf Nevado zu warten. Sie ließ einen Finger über die makellos glatte Oberfläche eines der Kristalle gleiten. In den Tunneln bei sich zu Hause hatte sie Ähnliches gesehen, aber nie in dieser Größe und auch nie so dicht an der Erdoberfläche. Diese Quarze hier sahen aus wie das Werk eines genialen Architekten und doch waren es natürliche Gebilde, geformt von der Hand der Göttin. Aber irgendjemand muss diese beiden Kristalle als Tor an den Eingang gestellt haben, dachte sie. Schließlich entdeckte Bipa einen Lichtstrahl. Erleichtert rutschte sie über einen der Quarzblöcke auf den Ausgang zu, aber dieser war nicht von zwei gekreuzten Säulen flankiert, sondern von zwei Quarzgolems mit groben, schematischen Zügen. Sie rührten sich nicht, als Bipa näher kam, sahen sie nicht einmal an. Sie wirkten tot, verlassen, so wie der Schneegolem, als sie ihn gefunden hatte. Vorsichtshalber fasste sie die Quarzgolems nicht an, sondern ging langsam zwischen ihnen hindurch und trat ins Freie. Nevado folgte ihr.
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8 DIE STADT AUS GLAS Sie standen in einer engen Schlucht zwischen hohen Felswänden. Erleichtert holte Bipa tief Luft und löschte die Fackel. Der Weg, der vor ihnen lag, sah sonderbar aus, wie aus Eis, aber viel reiner und empfindlicher. Bipa ließ sich auf die Knie nieder und befühlte die glatte Oberfläche. Nein, das hier war definitiv kein Eis. Dafür war es nicht kalt genug und schmolz nicht unter ihrer Hand. Es konnte nur Glas sein, so kostbares, makelloses Glas wie das der Blume, die Aer ihr geschenkt hatte. Vorsichtig machte Bipa ein paar Schritte. Als sie sich vergewissert hatte, dass der Boden unter ihrem Gewicht nicht einbrach und auch nicht unter dem von Nevado, schritt sie freier aus und ging weiter, bis sie ein drittes Tor erreichte. Es bestand aus zwei riesigen Türmen aus Glas, noch reiner als die Quarzkristalle, fast ganz durchsichtig und mit einfallsreichen Verzierungen versehen. Die Türme liefen nach oben hin spiralförmig aus und in der Mitte jedes Turms befand sich eine Kugel, die nicht gläsern war, sondern aus einem undurchsichtigen Material. Waren das vielleicht Fenster? Bipa konnte an den Türmen jedoch keinerlei Hinweis darauf entdecken, dass sie innen hohl waren und man sie betreten konnte. Es waren einfach zwei mächtige Glasblöcke – bis auf diese darin eingelassenen Kugeln. Bipa ging noch ein wenig näher. Außer den beiden Türmen war da nichts. Sie konnte auch niemanden entdecken. Als sie noch etwa fünfzig Schritte entfernt war, bewegten sich die Kugeln und eine dünne Membran, die 105
über ihnen lag, glitt nach oben. Bipa schrie vor Entsetzen auf. Das waren keine Kugeln. Und auch keine Fenster. Es waren Augen. Die beiden Türme dienten als Halterung für zwei überdimensionale Augen, deren Pupillen an riesige Edelsteine mit vielen Facetten erinnerten, zwei unmenschliche, unwirkliche Augen, die in ihren gläsernen Höhlen hin und her schwangen und sich dann auf die Eindringlinge richteten, ein wenig schielend, um sie besser sehen zu können. Starr vor Angst tastete Bipa nach Nevados Hand und klammerte sich an einen seiner kalten Finger, außerstande, weiterzugehen oder kehrtzumachen. Sie starrte die Augen an und die Augen starrten aufmerksam zurück. Sehr aufmerksam. Davon abgesehen geschah erst einmal gar nichts. Allmählich legte sich Bipas Panik. Noch an Nevados Hand ging sie einen Schritt vorwärts. Nichts passierte. Sie machte noch einen Schritt und dann noch einen. Alarmiert blieb sie stehen, als sie sah, dass die Augen ihr mit dem Blick folgten. Aber sie begnügten sich damit, sie zu beobachten. Bipa machte einen neuen Anlauf. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, gefolgt von dem Schneegolem. Die Augen bewegten sich in ihren Höhlen mit. Mit klopfendem Herzen gelangte Bipa direkt zum Fuß der Türme. Jetzt schielten die Augen noch stärker, um sie im Blick zu behalten, aber dabei blieb es, auch als sie mit Nevado zwischen den beiden Türmen hindurchging. Schritt für Schritt entfernte sie sich von ihnen. Ein leises Knacken ließ ihr das Blut in den Adern stocken. Mit zugeschnürter Kehle drehte sie sich um. Die 106
Augen hatten sich in ihren Höhlen gedreht und verfolgten jetzt von der anderen Seite der Türme, wie sie davongingen. Aber sonst geschah nichts. Bipa atmete tief durch. Der beklemmende Blick bohrte sich ihr in den Rücken und sie lief weiter, bis die Augen sie auf keinen Fall mehr sehen konnten. Erst dann warf sie einen Blick über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, dass die Türme bereits hinter einer Wegbiegung verschwunden waren. Doch vor ihr tat sich eine neue Herausforderung auf. Als der Nebel sich ein wenig lichtete, entdeckte sie am Horizont lauter Wachttürme aus Glas, ganz ähnlich denen, die sie gerade hinter sich gelassen hatte. Das war zumindest Bipas erster Eindruck. Denn als sie näher kam, stellte sie fest, dass es nicht nur Türme waren, sondern auch Giebel, Torbögen, Dächer und Kuppeln. Eine ganze Stadt aus Glas breitete sich vor ihr aus, atemberaubend in ihrer filigranen Schönheit. Bipa steuerte auf das Stadttor zu, ebenfalls gänzlich aus Glas, streng symmetrisch gearbeitet. Zu ihrer Überraschung stand es offen – denn sie wurde bereits erwartet. Die Menschen, die ihr entgegenkamen, glichen Eiselda. Sie waren groß und schmal oder vielleicht wirkten sie nur groß, weil sie so schmal waren. Ihre Haut war weiß, schneeweiß – als Bipa genauer hinsah, konnte sie die Adern darunter erkennen. Ihre Haare waren ebenfalls makellos weiß und so fein wie Spinnweben. Und ihre Augen … Ihre Augen waren seltsam, die Iris wie flüssiges Glas in verblichenen Farben. Beim Anblick dieser anmutigen Menschen kam Bipa sich unwillkürlich schmutzig und unbeholfen vor. Sie blieb wortlos stehen und Nevado 107
verharrte reglos neben ihr. Auch er war unförmig und plump, verglichen mit den zarten Glasgolems, die das Empfangskomitee begleiteten. Bipa zog bereits ernsthaft in Erwägung, umzudrehen und nach Hause zurückzukehren, als eine der weißen Gestalten vortrat. Der Mann unterschied sich von den anderen nur durch einen Edelstein, den er in einem gläsernen Diadem auf der Stirn trug. Bis auf die Farbe – natürlich Weiß – sah der Stein genauso aus wie Bipas Opal. Den hatte sie, lange bevor sie das Tor zu diesem außergewöhnlichen, wunderschönen Ort erreicht hatte, vor neugierigen Blicken unter ihren Kleidern versteckt. »Willkommen, junge Opake«, sagte der Mann mit dem Diadem. Seine leisen Worte waren fein wie Nebel und leicht wie Luft. »Ich bin der Herr der Stadt aus Glas. Wir, die Glasmenschen, heißen dich bei uns willkommen, der nächsten Etappe auf deinem Weg zum Schloss der Kaiserin.« Bipa hatte Mühe, die Sprache wiederzufinden. »Wie … woher weißt du, dass ich zum Schloss der Kaiserin will?« Auf den ausdruckslosen Zügen des Herrn der Glasstadt zeichnete sich ein seltsames Lächeln ab. »Weil das der einzige Ort weit und breit ist. Aber sei unbesorgt: Du befindest dich auf dem Wahren Weg und bist dabei, dich zu Wandeln.« Das letzte Wort sprach er in einem besonderen Ton aus, verheißungsvoll und zugleich ein wenig unheimlich, und Bipa bekam eine Gänsehaut. »Nein, ich … ich will mich gar nicht wandeln. Ich suche nur nach jemandem. Nach jemandem … wie mich. Nach einem Jungen, der schon vor einiger Zeit von zu Hause aufgebrochen ist. Er war …« 108
Aber der Herr der Glasstadt hörte ihr gar nicht mehr zu. »Du willst dich nicht Wandeln? Aus deinem Äußeren schließe ich, dass du den Stern der Kaiserin noch gar nicht in seiner ganzen Pracht erblickt hast. Wie ist es möglich, dass Eiselda uns jemanden wie dich geschickt hat?« Vorsichtig wich Bipa zwei Schritte zurück. »Also, eigentlich hat Eiselda mich nicht hergeschickt. Ich bin auf eigene Faust gekommen, aber ich will keine Umstände machen. Ich suche meinen Freund Aer, und wenn er nicht in der Stadt ist, ziehe ich weiter … Ich bitte nur darum, dass ihr mich und meinen Golem für eine Nacht aufnehmt, vielleicht auch zwei … Ich bin müde und hungrig, aber Nevado braucht nichts zu essen und auch kein Bett, er wird nicht stören …« Bipa schwieg plötzlich, als sie merkte, dass ihre Worte alles nur noch schlimmer machten. »Wir sollen das da in unsere Stadt lassen?«, fragte einer der Glasmenschen. »Warum denn nicht?«, fragte Bipa zurück. »Ich habe doch schon gesagt, er stört nicht. Er kann natürlich auch hier draußen bleiben, bestimmt macht es ihm nichts aus, aber …« »Mein Gebieter«, mischte sich ein anderer Glasmensch ein, »wir können sie nicht aufnehmen. Sie hat mehrere Stadien übersprungen. Sie legt den Weg nicht zurück, wie es sich gehört.« »Wie sollte ich den Weg denn zurücklegen?«, fragte Bipa verdutzt. »Rückwärts? Humpelnd?« Niemand äußerte sich dazu, aber nun wirkten die Gesichter der weißen Menschen auf Bipa nicht mehr friedlich, sondern gefährlich ernst. »Um zum Schloss der Kaiserin zu gelangen«, erklärte 109
der Herr der Glasstadt kühl, »musst du dem Weg folgen und dich mit ihm Wandeln. Wir waren alle einmal opak, so wie du, aber wir haben uns auf den Weg gemacht und der Weg hat uns hierher geführt. Alle müssen sich weiterentwickeln, um das nächste Stadium zu erreichen. Auch du, sonst kommst du nie ans Ziel. Wenn du das nächste Stadium nicht erreichst, kannst du auch deinen Freund nicht einholen. Er kam vor einiger Zeit hier an und ist wieder aufgebrochen, weil er schon so weit war. Das trifft auf dich nicht zu, deshalb ist dir der Zutritt zur Stadt verwehrt.« Nacheinander kehrten ihr alle Menschen mit dem hellen Haar und den weißen Gesichtern den Rücken und gingen wieder in die Stadt hinein. Die Glasgolems folgten ihnen und Bipa fiel auf, dass sie langsam und schwerfällig schritten, als wären sie schrecklich müde. Als Letzter ging ihr Gebieter. Er warf Bipa einen verwunderten Blick zu. »Diesmal haben die Augen mich getäuscht«, merkte er an. »Ich meinte zu sehen, dass du mit dem Mut und der Entschlossenheit eines sich Wandelnden ausschreitest, so wie der Junge, der vor dir kam. Aber du befindest dich nicht auf dem Wahren Weg. Wenn dein Ziel nicht die Kaiserin ist, was treibt dich dann an? Wie bist du hierher gelangt?« »Ich will mich nicht wandeln«, beharrte Bipa, ohne auf die letzte Frage einzugehen. »Ich habe nicht das Bedürfnis, zur Kaiserin zu gelangen, aber wenn ich Aer bis zu ihrem Schloss folgen muss, wird sie mich so zu Gesicht bekommen, wie ich bin. Und wenn ich ihr nicht gefalle, hat sie eben Pech gehabt.« Über das Gesicht des Herrn der Glasstadt huschte ein kaltes Lächeln. »Du Dummerchen«, sagte er. »Du hast die Möglichkeit, dich auf den Weg zu machen und dich 110
zu Wandeln. Mir ist es nicht gestattet. Und doch verschmähst du es, die Gnade der Kaiserin zu erlangen – freiwillig. Deine Dickköpfigkeit wird dein Verderben sein, junge Opake. Denn wenn du den Wahren Weg nicht beschreitest, wirst du nirgendwohin gelangen – auch nicht zu deinem Freund. Er hat sich innerhalb weniger Tage Gewandelt und seine Reise fortgesetzt. Die Kaiserin ruft ihn laut und inständig herbei. Sie hat ihn erwählt und ermöglicht ihm, sich sehr schnell zu Wandeln, ganz anders als die meisten Menschen in dieser Stadt. Sie brauchen zum Teil Jahre, bis sie das nächste Stadium erreichen. Du allerdings bist derartig opak, dass es geradezu beleidigend ist. Kehr zu deinen Leuten zurück. Du wirst deinen Freund nie einholen. Er ist unerreichbar für dich. Er gehört der Kaiserin und zu ihrem Schloss haben Opake wie du keinen Zutritt. Gib auf. Kehr um. Geh zurück.« Mit diesen Worten wandte sich der Herr der Glasstadt von ihr ab. Bipa war sprachlos und viel zu müde und entmutigt, um ihn aufzuhalten. Mit Tränen in den Augen sah sie ihm nach. Während das Tor sich hinter ihm schloss, kam es ihr so vor, als könnte man die Glasgebäude durch den Körper dieses unbarmherzigen Mannes hindurch sehen, als wäre er nicht aus Fleisch und Blut, sondern so lichtdurchlässig wie der Quarz um ihren Hals. Erschöpft ließ Bipa sich auf den Boden sinken. Nevado setzte sich neben sie. »Und was jetzt?«, fragte sie den Golem. »Wenn ich die Kraft hätte, würde ich gegen dieses Tor hämmern, bis sie uns hineinlassen. Aber ich bin am Ende. Und von hier aus schaffe ich es auch nicht allein nach Hause. Ich hätte mich nie auf die Suche nach diesem Idioten machen sollen. Auserwählter! Wahrer Weg! Wandel! Pff!« 111
Doch sie konnte nicht anders, schlug die Hände vors Gesicht und begann stumm zu weinen. Nevado beobachtete sie, ohne sich zu rühren, und machte auch keine Anstalten, sie zu trösten. Schließlich beruhigte sich Bipa, auch wenn das weder ihren Hunger noch ihre Müdigkeit verscheuchte. Sie blickte zu den Türmen der Glasstadt auf und sagte: »Ich pfeife darauf, ob ich irgendwelche Stadien überspringe oder nicht. Ich brauche mir von keinem Herrn irgendeiner Stadt sagen zu lassen, ob ich meine Reise fortsetzen kann.« Sie rappelte sich auf, griff sich ihre Sachen und brach gefolgt von dem Schneegolem wieder auf. Sie wollte entlang der hohen Mauer um die Glasstadt herumgehen und hoffte, auf der anderen Seite wieder auf den Weg zu stoßen. Aber bald musste sie einsehen, dass das komplizierter war als gedacht. Denn die Glasstadt ruhte auf dem Grund einer Schlucht, zwischen die steilen Abhänge eines Gebirges gezwängt, das nicht felsig, sondern gläsern und mit messerscharfen Stacheln gespickt war. Die wenigen ebenen Flächen waren ebenfalls aus Glas, so glatt, dass es fast unmöglich war, darauf voranzukommen. Bipa ließ sich nicht beirren. Sie bahnte sich einen Weg durch das gläserne Dickicht, nahm die Hände zu Hilfe, wenn ihre Füße den Halt verloren, auch wenn sie sich an den scharfen Kanten die Haut aufritzte. Als sie den Blick hob, seufzte sie entmutigt. Auf der Suche nach einem Weg war sie hoch hinaufgeklettert und nun war die Stadt deutlich zu sehen. Gebäude aus Glas, Straßen aus Glas … erschaffen von den Bewohnern während des langen Wartens auf den Wandel. Trotz all ihrer Schönheit kam Bipa die Stadt tot, kalt und leer vor. Einen Moment lang war sie froh, sie nicht betreten zu ha112
ben. Aber nur einen Moment lang – bis ihr Blick auf die Strecke fiel, die noch vor ihr lag. Sie betrachtete ihre zerschnittenen, blutigen Handflächen. Das stehe ich nicht durch, ohne ein paar Finger zu verlieren, begriff sie. Und wenn ich Pech habe, kommt es noch schlimmer. Sie drehte sich nach Nevado um, der ihr folgte. Und schrie vor Entsetzen auf. Der Schneegolem hatte genau denselben Weg wie sie gewählt, hatte sich an dieselben Kanten geklammert und war an denselben Stellen gestolpert. Und jede Berührung mit den gläsernen Felsen hatte tiefe Spuren hinterlassen. Schrunden und Kerben waren in seinen Schneekörper geschnitten. Wenn er stürzte, würden die Glasstacheln ihn vollends zerstören. Bipa verfluchte diesen Ort im Stillen und rief Nevado zu: »Warte! Geh nicht weiter! Bleib stehen!« Der Golem gehorchte. Unendlich vorsichtig kletterte Bipa zurück. Als sie bei ihm angelangt war, suchte sie mit den Füßen festen Halt und versuchte seinen Körper wieder in Form zu bringen, füllte die Löcher und strich die Oberfläche glatt. Dabei hinterließ sie eine Blutspur, aber das schien Nevado nichts auszumachen, und außerdem linderte die Kälte des Schnees das Brennen ihrer Hände. Als sie fertig war, musterte sie ihn kritisch. »Jetzt siehst du noch ein bisschen unförmiger aus«, sagte sie zu ihm. »Aber nur ein bisschen.« Nevado senkte den Kopf, blieb aber wie immer stumm. Mit einem zufriedenen Seufzer drehte sich Bipa um und … … verlor das Gleichgewicht, glitt aus und stürzte auf die tödlichen Glasstacheln zu. Es ging alles so schnell, dass sie nicht einmal schreien konnte, bevor zwei Stacheln, spitz wie Dolche, sich in ihren Körper bohrten. 113
Sie kam wieder zu sich, als ein warmer Strom durch ihre Adern floss, ihre Lebensgeister weckte und ihre Schmerzen linderte. Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie den Herrn der Glasstadt. Sie wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. »Oh, du bist aufgewacht, wie ich sehe«, sagte er. Bipa musste lächeln. Etwas am Ton dieses Mannes, etwas Liebevolles, Warmes oder einfach Menschliches, tröstete sie. Sogleich fühlte sie sich besser. Sie hatte den Eindruck, seit ihrem Aufbruch aus dem Höhlendorf keine wohlwollende Stimme mehr gehört zu haben. Nein … das hier konnte nicht derselbe Mensch sein, der ihr das Stadttor vor der Nase zugeschlagen hatte. Sie musterte ihn genauer, als er sich über sie beugte. Doch, er war es, der Herr der Glasstadt. Nur dass der Opal an seinem Diadem nicht weiß war, sondern rot und genau wie der von Bipa funkelte. Sie fuhr zusammen und wollte sich aufrichten, aber stechende Schmerzen in einer Schulter und am rechten Bein hinderten sie daran. »Ganz ruhig. Alles zu seiner Zeit«, sagte der Herr der Glasstadt beschwichtigend. Dann hielt er die Hände über ihre Wunden. Der Opal flammte auf und seine Macht übertrug sich auf Bipa. Sie schloss die Augen, während ihre Wunden langsam zu verheilen begannen. »Es wird eine Weile dauern«, versicherte ihr Retter, »aber du wirst wieder gesund. Zum Glück habe ich dich gefunden, bevor es zu spät war. Wie konntest du dich einfach so in die Berge wagen? Das überlebt niemand.« »Wieso ich … durch die Berge gelaufen bin?«, stieß Bipa hervor. »Du hast mir die Tür vor der Nase zugeschlagen!« Der Mann hielt inne und sah sie freundlich an. »Ich fürchte, du verwechselst mich. Aus deinen Worten 114
schließe ich, dass du schon Bekanntschaft mit meinem Bruder gemacht hast, dem Herrn der Glasstadt. Ich bin der Glasmeister, aber du kannst mich Lumen nennen.« Bipa machte große Augen. »Du bist der Bruder dieses hochnäsigen Typen aus der Stadt? Du siehst genau aus wie er!« »Wir sind Zwillinge«, erwiderte der Glasmeister lächelnd. »Zwillinge«, wiederholte Bipa nachdenklich. »Das hätte ich mir ja denken können. Ihr seht zwar gleich aus, seid aber so verschieden, dass ihr niemals ein und derselbe Mensch sein konntet. Du bist sehr freundlich, während dein Bruder überhaupt keine Manieren hat …« Sie verstummte sofort, als ihr klar wurde, was sie da gesagt hatte, und sah den Glasmeister erschrocken an, voller Angst, ihn gekränkt zu haben. Aber der lachte nur. »Du musst Nachsicht mit meinem Bruder haben«, erwiderte er. »Er hat sein Herz vor langer Zeit der Kaiserin geschenkt und kann weder Sympathie noch Mitgefühl mehr empfinden. Im Grunde kann er einem leidtun.« Das sah Bipa ganz anders, aber sie biss sich auf die Zunge und ließ es dabei bewenden. Mit einem Seufzer sank sie aufs Kissen zurück und sah sich um. Ihre Umgebung kam ihr merkwürdig, aber auch vertraut vor. Das Heim des Glasmeisters befand sich in einer geräumigen Höhle, genau wie Bipas eigenes Zuhause. Aber alles stand voll mit seltsamen und zugleich wunderschönen Gegenständen aus buntem Glas, das im Rhythmus des fröhlichen Kaminfeuers Funken sprühte. Diese Stücke glichen Eiseldas Sammlung, nur waren sie noch viel schöner, weil das Glas in allen Regenbogenfarben schillerte. Es waren Blumen dabei, deren 115
Schönheit die des Exemplars auf Bipas Kaminsims in den Schatten stellte, Tiere, die Bipa noch nie gesehen hatte, Figürchen und auch ganze Szenen, Gefäße, Flaschen in allen erdenklichen Formen und Farben, Teller, Krüge … »Hast du das alles gemacht?«, fragte Bipa voller Verwunderung. Lumen lächelte. »All das und noch viel mehr. Wenn du wieder ganz gesund bist, zeige ich dir meine Werkstatt. Das hier sind nur die Stücke fürs Gästezimmer«, fügte er bescheiden hinzu. Bipa konnte sich die Frage nicht verkneifen: »Und wozu sind sie gut?« »Die meisten zu nichts Bestimmtem. Aber sie sind schön und ihre Betrachtung erzeugt ein eigenartiges Gefühl in der Brust … Merkst du es nicht?« »Doch.« Bipa lächelte. »Es ist angenehm.« »Siehst du? Diese Dinge sind dazu da, dich zum Lächeln zu bringen.« Bipa wollte sich aufrichten, um die glitzernden Glasarbeiten besser zu sehen, aber Lumen ließ es nicht zu. »Du musst dich ausruhen. Du bist noch schwach.« »Du hast mich auf dieselbe Weise wie unsere Schamanin behandelt«, sagte Bipa, während sie sich wieder in die Kissen sinken ließ, »mit einem Opal, einem echten … einem lebendigen Opal.« Spontan zeigte sie ihm ihren eigenen. »Den hier hat sie mir gegeben«, erklärte sie. »Sie sagte, er würde mich beschützen, aber bisher hat er mir nur Ärger eingebracht. Eiselda wollte ihn mir wegnehmen, obwohl sie selbst einen hat.« »Der von Eiselda hat seine Macht vor langer Zeit eingebüßt, genau wie der meines Bruders«, erwiderte Lumen ernst. »Sie haben sich abgenutzt, weil sie falsch ein116
gesetzt wurden. Die Gaben der Göttin sind nun mal nicht unerschöpflich.« Plötzlich bekam Bipa Angst, Magas Opal falsch benutzt zu haben. Was würde geschehen, wenn seine Macht erloschen war? Wie sollte sie Maga dann unter die Augen treten? »Wie setzt man sie denn richtig ein?«, wollte Bipa wissen. Lumen lächelte. »Darüber sprechen wir später«, bestimmte er. »Jetzt musst du schlafen.« Bipa ließ sich vom Glasmeister zudecken. In ihrem weichen Bett und am warmen Feuer fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit geborgen und es dauerte nicht lange, da war sie wieder eingeschlafen.
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9 DER GLASMEISTER Ein köstlicher Duft, bei dem ihr das Wasser im Mund zusammenlief, weckte Bipa. Sie schlug die Augen auf, in der Erwartung, sich zu Hause zu befinden und Topo am Herd zu sehen. Aber im Topf rührte nicht ihr Vater, sondern ein großer, schlanker Mann mit weißer Haut und weißem, schulterlangem Haar: der Glasmeister. Jetzt, wo sie ihn eingehend musterte, entdeckte sie noch andere Unterschiede zu seinem Bruder, dem Herrn der Glasstadt. Lumen trug Kleidung aus Fell, so wie sie selbst, Kleidung, die zum Schutz vor der Kälte diente, keine leichten, fast durchsichtigen Kleider wie die Glasmenschen. Doch als Lumen vor die Feuerstelle trat, fiel Bipa auf, dass sie durch seine Hände und seinen Kopf hindurch die Flammen sehen konnte. Das rief ihr in Erinnerung, dass der Glasmeister trotz seiner Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit »einer von ihnen« war, eines der seltsamen Geschöpfe aus der Glasstadt. In diesem Moment gab ihr Magen ein klangvolles Knurren von sich und Bipa konnte an nichts anderes mehr denken als ans Essen. Lumen wandte sich zu ihr um. »Ah, du bist aufgewacht.« »Dieser Duft würde selbst einen Toten wieder zum Leben erwecken.« »Hast du Hunger?« »Wie bitte? Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal etwas Richtiges gegessen habe.« Bipa schnüffelte. »Was riecht denn da so gut?« 118
»Schmorbraten«, antwortete Lumen nur und holte zwei Teller aus dem Schrank. Bipa erstarrte. »Du machst Witze«, stieß sie hervor. »Da draußen gibt es fast nichts Lebendiges. Außer, du steckst jemanden aus der Stadt in den Kochtopf, aber ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob die Leute da überhaupt Blut in den Adern haben …« Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass Lumen ja genauso aussah wie die Glasmenschen, aber er schien sich nicht gemeint zu fühlen. »Hier oben gibt es tatsächlich kaum etwas. Aber unter der Erde wimmelt es von Leben. Dorthin haben sich die letzten Geschöpfe geflüchtet, die die Göttin hervorgebracht hat. In den Höhlen und Tunneln versuchen sie zu überleben, möglichst nah bei ihr.« »Du redest genau wie Maga«, meinte Bipa, die Augen fest auf den Teller gerichtet, den Lumen gerade mit Schmorbraten füllte. »Es kommt mir fast so vor, als wäre ich wieder zu Hause. Nur dass du so weiß bist und deine Wohnung voller seltsamer Dinge ist, die zu nichts nütze sind, aber sonst …« Sie verstummte, als der Glasmeister ihr endlich den ersehnten Teller hinhielt. Bipa nahm ihn mit zitternden Händen entgegen und begann gierig zu essen. »Langsam, langsam, sonst verschluckst du dich noch«, mahnte Lumen und reichte ihr ein Glas Wasser. Bipa ließ sich den Schmorbraten schmecken, fast mit Tränen in den Augen, und als sie den Teller leer gegessen hatte, fragte sie schüchtern: »Könnte ich noch etwas haben?« »Natürlich«, sagte Lumen. »Aber iss langsamer. Du hast lange gehungert und dein Magen ist geschrumpft. Du darfst ihn nicht überfordern.« »Danke«, sagte Bipa ernsthaft. »Vielen Dank.« 119
Sie aß weiter, diesmal entspannter. Der Glasmeister beobachtete sie mit einem Lächeln. »Ich freue mich, dass du Appetit hast. Der Junge, der vor dir hier war, wollte gar nichts essen.« Besorgt schüttelte er den Kopf. »Ein schlechtes Zeichen.« Bipa ließ sofort die Gabel sinken. »Ein Junge?«, wiederholte sie. »Wie sah er aus?« Lumen zuckte die Achseln. »So wie alle. Ein Traumtänzer, der von den Verlockungen der Kaiserin hypnotisiert ist.« »Aber wie sah er aus?«, beharrte Bipa. »Also …« Lumen überlegte. »Er hatte extrem blondes Haar, fast weiß. Und seine Augen funkelten hell wie Diamanten. Seine Haut war ganz blass und sein Gesicht so ernst, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie gelächelt.« Bipa schloss die Augen. Durch ihr Gedächtnis zuckte flüchtig die Erinnerung an Aers charmantes Lächeln, mit dem er allen Mädchen den Kopf verdreht hatte. Aers Haar war hell, aber nicht blond, nur eben heller als das der meisten Menschen im Höhlendorf. »Das war nicht Aer«, sagte sie. »Genau so hat er allerdings zu heißen behauptet«, erwiderte der Glasmeister. Bipa holte tief Luft. »Das kann nicht sein«, befand sie. »So sehr kann er sich nicht verändert haben.« »Ah, das muss er aber, wenn er zum Schloss der Kaiserin will. Und das wollte er, aus tiefster Seele. Deshalb hat er keinen Hunger und Durst mehr, schläft nicht mehr, friert und schwitzt nicht mehr. Und als er merkte, dass ich ihm nicht geben konnte, was er wollte, hat er in der Glasstadt um Zuflucht gebeten. Und wurde aufgenommen.« 120
»Bei dem Tempo kann ich ihn nicht mehr einholen«, sagte Bipa bedrückt. Das Schweigen, das nun eintrat, wurde nur vom Prasseln der Flammen unterbrochen. »Wenn du dich kräftig genug fühlst«, meinte Lumen irgendwann, »würde ich dir gern meine Werkstatt zeigen.« Bipa nickte. Sie stellte den Teller beiseite und schwang sich aus dem Bett. Doch in der Tür blieb sie plötzlich stehen. »Ich habe noch eine Frage«, sagte sie. »Es war jemand bei mir … ein Schneegolem. Er heißt Nevado und ist mir aus Eiseldas Reich gefolgt. Er kann sich um sich selbst kümmern, aber ich wäre beruhigt, wenn ich wüsste, dass es ihm gut geht.« Lumen nickte. »Wir haben ihn neben dir gefunden. Vielmehr das, was von ihm übrig war. Er war dir nachgesprungen.« Bipa fluchte leise vor sich hin. »Zum Glück hat er nur ein paar Gliedmaßen verloren«, fuhr Lumen fort. »Smara hat ihn eingesammelt und richtet ihn jetzt wieder her. Es ist leichter, einen Golem aus Schnee zu verarzten als einen aus Glas«, sagte er lächelnd. »Wer ist Smara?«, fragte Bipa argwöhnisch. »Du wirst sie gleich kennenlernen. Komm.« Bipa folgte Lumen durch einen engen Gang in einen kleinen Raum mit einem Ofen und einer Menge seltsamer Gerätschaften: viele lange, dünne Glasröhren, ein riesiger Kübel und ein großer Mörser. An den Wänden standen Regale voller Gläser, Krüge, Flaschen und Schalen. »Hier blase ich das Glas«, erklärte Lumen. »Ich kann sehr kunstvolle Gläser herstellen, aber meistens mache 121
ich ganz schlichte, je feiner und durchsichtiger, desto besser. Die schicke ich in die Glasstadt.« Er lächelte verschmitzt. »Ohne mich kommt mein Bruder offenbar ganz gut aus, aber nicht ohne meine Gläser.« »Ich dachte, die Bewohner der Stadt brauchten nicht mehr zu essen«, sagte Bipa. »Aber sie trinken noch Wasser.« Der nächste Raum war noch beeindruckender. Auf einem riesigen Tisch waren Edelsteine und Kristalle in allen Formen und Größen ausgebreitet. Manche waren erst halb geschliffen, andere roh, dazwischen welche aus einem kristallklaren, extrem reinen Material. »Diamant«, sagte Lumen. »Der härteste Stein, den es gibt. So fing alles an«, fügte er hinzu und deutete auf all seine Kreationen in den Regalen an den Wänden. »Die Leute pilgerten zum Schloss der Kaiserin, aber viele mussten hier eine Rast einlegen. Sie entdeckten die Quarze und begannen sie zu bearbeiten. Je tiefer sie in die Tunnel hinabstiegen, desto reineres Material fanden sie, und daraus bauten sie die Glasstadt. Am kostbarsten waren die Diamanten, sie waren am reinsten und härtesten und glänzten am schönsten. Die farbigen Edelsteine und Kristalle wurden aussortiert, weil sie das Ideal der Durchsichtigkeit nicht erfüllten.« Versonnen machte Lumen eine Pause. Bipa sah ihn fragend an. »Ich war noch sehr jung, als ich in die Tunnel geschickt wurde, um Edelsteine zu suchen«, fuhr der Glasmeister fort. »Damals träumte ich genau wie Lux, mein Bruder, und wie so viele andere davon, eines Tages der Kaiserin unter die Augen treten zu dürfen. Ich bewunderte alles Farblose, Durchsichtige, Kristallklare. Aber all das kam mir armselig vor, um nicht zu sagen belanglos, 122
als ich da unten auf diesen Reichtum stieß. Edelsteine in allen Farben. Prächtige Rubine, Saphire, Amethyste, Smaragde, Topase … Kostbarkeiten, die von meinen Kollegen als Abfall betrachtet wurden. Ich begann heimlich damit zu arbeiten. Wenn ich nicht genügend Edelsteine hatte, färbte ich Glas und Kristall. Ich versuchte die anderen mit meiner Kunst zu beeindrucken und Farbe in die Glasstadt zu bringen und ihr einen fröhlicheren Anstrich zu geben, aber …« Er verstummte mit einem Anflug von Bitterkeit in seinen glasklaren Augen. »Lass mich raten: Es hat ihnen nicht gefallen«, kam ihm Bipa zu Hilfe. Lumen lächelte. »Das ist untertrieben. Man hat mich aus der Glasstadt verbannt. Ich flüchtete mich in die Berge und suche sie bis heute nach Quarzen, Edelsteinen und Kristallen ab, um weiter meinem Beruf nachzugehen, meiner Kunst, meiner Leidenschaft. Ich lebe schon seit Urzeiten hier. Genau wie mein Bruder bin ich an diesen Ort und an den Opal gebunden, der zu unserer Hoffnung und unserem Fluch wurde …« Bei der Erwähnung des Opals hob Bipa den Kopf. Lumen bemerkte es. »Ich fand die Opale zusammen«, erzählte er. »Die beiden schönsten Edelsteine, die ich je gesehen hatte. Tief in den Felsen eingebettet, haargenau gleich, einfach vollkommen. Zugegeben, sie waren nicht durchsichtig. Aber sie hatten dieses wilde Rot des Blutes, des Feuers, des Lebens. Sie waren so schön, dass ich dachte, sie würden sogar meinem Bruder gefallen, diesem großen Liebhaber alles Reinen, Durchsichtigen. Es waren ja zwei, so als wollte die Göttin sie ganz speziell uns beiden schenken. Es war wie ein Zeichen. Damals«, fügte Lumen wehmütig hinzu, »sprach man noch von der Göttin. Heute ist sie hier fast ganz in Vergessenheit gera123
ten. Vielleicht hat mein Bruder mich deshalb angehört, als ich ihm einen der beiden Steine als Versöhnungsgeschenk überbrachte. Zunächst wusste er ihn zu schätzen. Durch ihn wurde er zum Herrn der Glasstadt und verbesserte das Leben all ihrer Bewohner. Aber bald merkten wir, dass der Opal auch eine Kehrseite hatte. Denn er brachte den Prozess des Wandels bei ihm fast vollständig zum Erliegen und außerdem kettete er ihn an die Stadt. Mein Bruder hatte sein Leben lang vom Schloss der Kaiserin geträumt, aber nun sah er sich gezwungen, für immer in der Stadt zu bleiben – und das Leben eines Opalträgers ist sehr, sehr lang. Seither haben mehrere Generationen von Glasmenschen die Stadt bevölkert. Tausende von Pilgern haben sie betreten und auf dem Weg zum Schloss der Kaiserin wieder verlassen. Aber Lux, der Herr der Glasstadt, wird an sie gefesselt bleiben – ein Privileg, aber auch eine große Verantwortung; eine Ehre, aber eben auch eine Pflicht.« »Kann er den Opal nicht einfach an jemand anderen weitergeben?«, fragte Bipa. »Maga hat ihren Opal mir anvertraut. Natürlich nur vorübergehend, aber wenn sie wollte, könnte sie ihn vermutlich jemandem schenken, den sie für geeignet hält …« »Unsere Opale sind Zwillingssteine. Lux kann seinen nicht loswerden, solange ich meinen behalte. Und ich würde mich nie davon trennen.« »Warum nicht?« »Wegen Smara.« Lumen sah sie eindringlich an. »Weißt du eigentlich, wofür die Opale benutzt werden, Bipa? Kennst du ihre besonderen Eigenschaften?« Sie runzelte die Stirn. »Bis zu meinem Aufbruch aus den Höhlen wusste ich gar nicht, dass es mehr als einen gibt. Sie sind dazu da, die Menschen gesund zu machen. 124
Um ihre Schmerzen und Krankheiten zu lindern. Damit Pflanzen kräftiger wachsen, die Tiere widerstandsfähiger werden und die Kinder gesund zur Welt kommen. Dafür hat Maga zumindest gesorgt«, fügte sie hinzu. »Ich habe nie herausgefunden, ob sie diese Macht selbst besitzt oder dem Opal verdankt. Für uns ist sie einfach Maga, die Schamanin. Der Opal gehört zu ihr.« »Der Opal ist ein Lebensquell«, bestätigte Lumen und strich mit dem Zeigefinger über sein Exemplar. »In ihm steckt die Macht der Göttin, die Energie, die die Erde einst mit Leben und Farbe erfüllt hat. Damit war es vorbei, als die Kaiserin auftauchte. Jetzt zählt das Leben nicht mehr. Um der Kaiserin würdig zu sein, muss man seine körperlichen Bedürfnisse ablegen. Man muss ätherisch werden. Ich weiß nicht, was für ein Leben sie den Menschen dafür bietet. Es muss paradiesisch sein, denn so viele träumen davon und so viele sind bereits bei ihr, dass ihr Einfluss sich immer weiter ausbreitet. Aber die Göttin gibt sich nicht geschlagen und bringt weiterhin Opale hervor, kleine Lebensspender, vielleicht in der Hoffnung, den Menschen ihr Herz und ihr Blut zurückzugeben. Leider werden die Opale nicht nur dazu benutzt, das Leben zu erneuern. Weißt du, was ich meine?« Bipa schüttelte den Kopf. Lumen seufzte. »Sieh genau hin«, sagte er. Er nahm ein rotes Figürchen aus dem Regal, ein Insekt mit großen, runden Flügeln, besetzt mit gelben und blauen Steinen. »Dieser Schmetterling ist aus einem einzigen Rubin gearbeitet«, sagte der Glasmeister. »Früher gab es Tausende von Schmetterlingsarten, die in Schwärmen über die Felder flogen, wenn der Frühling kam.« »Frühling?«, wiederholte Bipa verständnislos. Aber Lumen ging nicht darauf ein, sondern hob vor125
sichtig die Hand und richtete den Opal auf den Schmetterling. Der Edelstein blitzte ein einziges Mal auf, dann erbebten die Flügel des Rubinfalters und senkten sich, bis sie ganz waagerecht standen. »Er hat sich bewegt«, staunte Bipa. Als hätte er sie gehört, schlug der Schmetterling mit den Flügeln, einmal, zweimal, dreimal. Sein zarter Saugrüssel erbebte, und ehe Bipa sich’s versah, flog das Geschöpf davon. »Das gibt’s doch gar nicht!«, rief sie. »Wie kann es sich in der Luft halten?« Wie um sich über sie lustig zu machen, flatterte der Falter um sie herum, anfangs ein wenig unbeholfen, dann immer schneller und mit immer gewagteren Schleifen und Pirouetten. »Genau wie dein Schneegolem ohne Muskeln gehen, ohne Augen sehen und ohne Hirn handeln kann«, antwortete der Glasmeister. Bipa begriff. »Die Opale machen die Golems lebendig. Aber so etwas hat Maga nie getan.« »Ich habe von den Opaken gehört, die hinter den Eisbergen leben. Früher haben sie Golems aus Stein zum Leben erweckt. Aber irgendwann haben sie ihre Bemühungen und die Energie der Opale darauf gerichtet, die Menschen am Leben zu erhalten. Doch diejenigen, die den Weg des Wandels eingeschlagen haben, sind nicht an den Lebenden interessiert. Sie benutzen die Opale, um künstlich etwas zu erschaffen, das ihnen nützlich ist. In der Stadt werden Glasgolems angefertigt und mein Bruder erweckt sie zum Leben. Sie übernehmen die alltäglichen Aufgaben, die banalen Dinge, die die Menschen schon seit Langem vernachlässigen, weil sie mehr damit beschäftigt sind, sich zu Wandeln. Aber vor allem erinnern die Glasgolems sie an das, was sie anstreben: immer 126
ätherischer zu werden. Deshalb müssen die Golems aus Glas sein. Rein und durchsichtig. Ohne jede Farbe.« Vor Verblüffung pfiff Bipa durch die Zähne. »Eiselda hat ein ganzes Heer von Eisgolems«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wozu sie sie braucht. Sie bekommt fast nie Besuch.« »Damit stellt sie ihre Macht zur Schau. Vielleicht glaubt sie, sie könnte irgendwann die Glasstadt erobern, und möglicherweise hat sie da gar nicht so unrecht. Aber selbst die machtbewusste Eiselda ist dem Ideal von Reinheit und Durchsichtigkeit verpflichtet. Am Anfang waren ihre Golems noch aus Schnee, doch jetzt formt sie sie aus Eis, das lichtdurchlässig und farblos ist, nicht weiß und opak wie der Schnee. Die Schneegolems hat sie einfach sich selbst überlassen.« Bipas Augen waren weit aufgerissen. Lumen lächelte. »Ja«, sprach er weiter. »Mit der Zeit verbrauchen sich die Golems. Sie müssen immer wieder neu belebt werden, sonst erstarren sie. Aber auch die Opale verschleißen, wenn sie über Gebühr beansprucht werden. Genau das ist Lux und auch Eiselda passiert, weil sie über lange Zeit eine gewaltige Zahl von Golems unterhalten haben.« »Deshalb wollte Eiselda mir meinen Opal wegnehmen«, begriff Bipa, »und deshalb wirken die Glasgolems so müde und bewegen sich so langsam.« Lumen nickte. »Wahrscheinlich hast du mit deinem eigenen Opal einen vor Urzeiten von Eiselda aufgegebenen Schneegolem wiederbelebt.« »Sie zum Leben zu erwecken, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen, ist grausam«, fand Bipa. »Grausam ist, sie überhaupt zu erschaffen.« Der Glasmeister beobachtete nachdenklich den flatternden Rubinfalter. »Denn dann sind sie keine Gegenstände 127
mehr, sie sind aber auch nicht richtig lebendig. Oder kann etwas lebendig sein, das kein Herz hat?« »Pflanzen haben auch kein Herz«, gab Bipa zu bedenken. »Trotzdem sind sie lebendig. Und die Golems haben vielleicht kein Herz, aber sehr wohl Gefühle. Zumindest Nevado. Da bin ich mir ganz sicher, auch wenn er nicht besonders schlau ist.« Der Glasmeister lachte schallend. »Lass uns zu ihm gehen«, schlug er vor. »Bestimmt vermisst er dich.« Sie betraten einen Tunnel, der nach oben führte. Je mehr sie sich der Erdoberfläche näherten, desto kälter wurde es. Nevado bekamen so warme Orte wie Lumens Höhle mit der Feuerstelle leider nicht so gut. Schließlich befestigte Lumen die Fackel am Zugang zu einem kühlen Raum. Bipa blieb vor Überraschung stocksteif stehen. Dort saß Nevado ganz ruhig auf einem Felsbrocken, während starke, feste Hände seinen Körper neu modellierten. Grüne Hände, die im Schein der Fackel glitzerten. Hände aus feinstem Glas. »Bipa«, sagte Lumen, »das hier ist Smara.« Smara richtete sich zu ihrer vollen Größe von knapp zwei Meter fünfzig auf- ein Golem aus smaragdgrünem Glas mit ansprechenden weiblichen Formen. Ihr Gesicht hatte menschliche Züge und strahlte etwas Liebevolles aus. »Es lag nahe, sie Smara zu nennen«, erklärte der Glasmeister lächelnd. »Sie ist mein erster Golem und auch der letzte. Ich habe sie in den Anfangszeiten meines Exils angefertigt, als die Einsamkeit und die Feindseligkeit meiner Leute mich fast verrückt gemacht haben. Natürlich kann sie nicht sprechen, aber sie leistet mir auf ihre Weise Gesellschaft. Sie ist seit ewigen Zeiten meine einzige Freundin. Sie hat vielleicht kein Herz, aber eine Art Seele hat sie auf alle Fälle.« 128
Zögernd machte Bipa ein paar Schritte auf Smara zu. Die Golemfrau wirkte zwar freundlich, aber zugleich so imposant, dass sie sie einschüchterte. »Und benutzt du den Opal, um sie immer wieder neu zu beleben?« »In gewissen Abständen, ja. Wenn ich merke, dass sie träge wird. Wie du siehst, erhält mein Opal einen einzigen Golem am Leben. Kein Vergleich zu Eiseldas Heer von Eisgolems oder zu den vielen Glasgolems, die mein Bruder versorgen muss. Deshalb bewahrt mein Opal noch einen großen Teil seiner Energie.« »Hallo Smara«, sagte Bipa schüchtern. Die Golemfrau neigte den Kopf. »Wir bekommen normalerweise keinen Besuch«, erklärte Lumen. »Und ich lasse sie nur nachts hinaus, sie hat also nicht viel Umgang mit Fremden gehabt. Den Leuten aus der Stadt gefällt sie nicht, weißt du … weil sie so grün ist.« Er lächelte. »Grün gefällt ihnen sogar noch weniger als Rot. Vielleicht weil Grün die Lieblingsfarbe der Göttin ist.« Schließlich fasste Bipa sich ein Herz und trat zu den beiden Golems. Nevado war in guter Verfassung. Neugierig streckte Bipa die Hand nach Smara aus. Wie sich diese glatte grüne Oberfläche wohl anfühlte? Als Smara ihr den Kopf zudrehte, zog Bipa die Hand erschrocken zurück. Aber die Golemfrau verhielt sich ruhig. Bipa strich ihr vorsichtig über den kühlen, harten Arm. Ein angenehmes Gefühl. »Sie erinnert mich an die riesigen Quarze, die ich auf dem Weg hierher gesehen habe«, bemerkte sie. »Und dieses Grün! Schwer zu glauben, dass sie lebendig ist … irgendwie.« »Irgendwie«, pflichtete Lumen ernst bei. Bipa sah ihn an. »Ihretwegen willst du deinen Opal niemand anderem anvertrauen«, sagte sie. »Weil du 129
fürchtest, dass derjenige sich nicht richtig um Smara kümmert. Dass er sie vergisst und sterben lässt. Ist es nicht so?« Der Glasmeister nickte. »Aber es gibt noch einen anderen Grund«, fügte er hinzu, »und der hat mit meinem Bruder zu tun. Wenn er seinen Opal weitergibt, hält ihn nichts mehr in der Glasstadt, und dann macht er sich zum Schloss der Kaiserin auf.« »Ist das nicht sein größter Wunsch?« »Ja«, bestätigte Lumen. »Aber ich zweifle schon länger daran, dass es dort wirklich so paradiesisch ist, wie alle meinen. Denn bisher ist niemand zurückgekommen, um davon zu berichten.« Bipa spürte einen seltsamen Druck auf der Brust. »Aer wird zurückkommen«, versicherte sie. »Er will bestimmt seine Mutter nachholen. Er …« »Vielleicht ist es keine Frage des Willens«, unterbrach der Glasmeister. »Sieh mal.« Er hielt die Hand vor die brennende Fackel. Die Flamme war durch seine Handfläche hindurch deutlich zu sehen. »Wir sind die Glasmenschen. So werden wir genannt, weil wir in einer Stadt aus Glas leben. Aber wir haben noch einen anderen Namen, der unser wahres Wesen viel genauer trifft. Man nennt uns die Lichtdurchlässigen.« Bipa musste schlucken. »Du bist eine Opake«, erklärte Lumen weiter. »Wir, die Lichtdurchlässigen, sind die Zwischenstufe zwischen den Opaken und den Ätherischen. Alle Bewohner der Glasstadt befinden sich auf dem Weg des Wandels, alle werden früher oder später lichtdurchlässig. Aber dabei bleibt es nicht. Kurz bevor sie das nächste Stadium erreichen, verlassen sie die Stadt und ziehen weiter. Lux und 130
ich leben hier schon seit Urzeiten. Und doch hat sich keiner von uns beiden mehr Gewandelt, seit wir die Opale tragen. Unser Wandlungsprozess ist ins Stocken geraten. Solange das so ist, kommen wir nicht weiter, so bestimmen es die Gesetze. Um die Stadt zu verlassen, müsste mein Bruder sich weiter Wandeln, aber dazu müsste er sich zuerst seines Opals entledigen. Das ist jedoch unmöglich, solange ich meinen behalte. Verstehst du jetzt?« Bipa nickte zögernd. »Die meisten Leute Wandeln sich einfach«, sagte Lumen, »ob sie wollen oder nicht.« »Willst du damit sagen, wenn Aer im Schloss der Kaiserin eintrifft, verwandelt er sich in einen Ätherischen? Wird er dann durchsichtig?« »Die Ätherischen sind seltsame Wesen, Bipa. Ich weiß nicht, inwieweit sie überhaupt noch Menschen sind. Vielleicht ist deshalb nie jemand aus dem Schloss der Kaiserin zurückgekehrt und auch keiner, der unterwegs aufgegeben hat. Jedenfalls wirst du deinen Freund dort nie wiedersehen, wenn du dich nicht auch in eine Ätherische verwandelst.« Bipas Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Sie holte tief Luft. »Wenn das so ist«, sagte sie und hob entschlossen den Kopf, »muss ich ihn einholen, bevor er dort ist.« Lumen lächelte. »Dann solltest du sofort aufbrechen. Smara«, rief er, »bring Nevado zum östlichen Ausgang. Wir kommen dann nach.« Die Golemfrau setzte sich mit quietschenden Gelenken in Bewegung und Nevado folgte ihr. Lumen verließ den Raum in entgegengesetzter Richtung, die Fackel in der Hand. Die beiden Golems kamen offenbar auch im Dunkeln zurecht. 131
Lumen und Bipa stiegen weiter hinauf, bis sie am Ende des Tunnels Tageslicht wahrnahmen. »Gehen wir hinaus?«, fragte Bipa besorgt. Sie erinnerte sich noch zu gut an die Berge um die Glasstadt herum. »Keine Bange, es besteht keine Gefahr«, beruhigte sie Lumen. Sie traten an einem Abhang ins Freie. Ein hoch aufragender Quarzkristall schützte den Tunneleingang vor neugierigen Blicken. Der Glasmeister duckte sich dahinter und winkte Bipa zu sich. »Ich will dir etwas zeigen«, sagte er. Da lag die Glasstadt auf dem Grund der Schlucht, mitten in einem Gewirr aus Glasstacheln, in dem kein einziger sicherer Pfad zu erkennen war. »Siehst du?«, fragte Lumen. »Das Dickicht ist undurchdringlich. Der einzige Weg auf die andere Seite führt durch die Glasstadt.« »Aber sie werden mich nicht hineinlassen«, sagte Bipa verzagt. »Da weiß ich Rat. Allerdings musst du nachts aufbrechen. Dann hast du es leichter, unbemerkt zu bleiben.« »Soll das heißen, es gibt noch ein anderes Stadttor außer den beiden, die von hier aus zu sehen sind, das Haupttor und das kleinere da …? Moment mal«, unterbrach sie sich. »Was ist denn das?« Ein umfangreicher Trupp bewegte sich durch die Schlucht auf das Haupttor zu, angeführt von einem Reiter auf einer schimmernden Riesenechse. »Eiselda mit ihren Eisgolems«, flüsterte Bipa bestürzt. »Was will die denn hier?« »Ich fürchte, sie ist auf der Suche nach dir und deinem Opal, Bipa«, antwortete Lumen. »Und das bedeutet, dass Eiselda viel verzweifelter ist, als ich dachte. So weit hat 132
sie sich noch nie vorgewagt.« Wie gebannt beobachteten sie das Heer, bis es das verschlossene Tor erreicht hatte. »Ich rufe den Herrn der Glasstadt!«, ertönte die klare, kalte Stimme der Herrscherin über das Reich des Eises. »Ich verlange, gehört zu werden! Haben euch eure Türme mit Augen etwa nicht über mein Kommen informiert?« »Sie haben uns ganz genau informiert, Eiselda«, erschallte die Stimme des Herrn der Glasstadt von einem der Türme der Stadtmauer aus. »Deshalb wussten wir auch, dass du mit Streitkräften anrückst. Es sollte dich also nicht wundern, das Tor verschlossen vorzufinden.« »Ich bin auf der Suche nach etwas, das mir gehört«, erklärte Eiselda ungeduldig. »Eine Opake ist mit etwas sehr Wertvollem aus meinem Reich geflohen. Ihre Spur hat mich hierher geführt. Ich verlange, dass du sie mir aushändigst, sonst …« »Die Opake, von der du sprichst, ist nicht hier«, erwiderte Lux ruhig. »Wie du weißt, ist in der Glasstadt kein Platz für Opake. Nimm deine Golems, Eiselda, und geh wieder dorthin, wo du hergekommen bist.« »Ich weiß, dass sie hier ist«, beharrte Eiselda. »Und du wirst sie mir aushändigen, Herr der Glasstadt. Wenn das Mädchen und ihr Schatz nicht morgen bei Tagesanbruch bei mir sind, greifen wir die Stadt an und verwandeln sie in einen Scherbenhaufen.« »Du verschwendest deine Zeit, Eiselda. Ich habe diesem Mädchen den Zugang zur Stadt verwehrt, genau wie jetzt dir.« »Ich weiß, dass sie hier ist«, wiederholte Eiselda, »denn es gibt keinen anderen Ort, an dem sie sein könnte.« »Da irrst du dich«, widersprach Lux, »genau wie in allem anderen.« 133
Eiselda forderte ihn auf, sich zu zeigen, aber der Herr der Glasstadt sprach kein weiteres Wort und das Tor blieb fest verschlossen. Beklommen beobachteten Lumen und Bipa, wie Eiselda und ihr Heer vor der Stadtmauer ein Lager aufschlugen. »Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte Bipa entmutigt. »Keine Bange. Der Weg zu dem kleineren Tor, den ich kenne, führt nicht durchs Haupttor. Du musst nicht an Eiseldas Heer vorbei.« »Aber wenn ich mich nicht stelle, greift sie die Stadt an …« »Das wird sie nicht tun. Glas sieht zerbrechlich aus, aber in Wirklichkeit ist es dem Eis überlegen, und das weiß Eiselda. Komm, wir gehen wieder ins Warme. Du musst heute Nacht aufbrechen und wir haben noch viel zu besprechen.«
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10 DER ANGRIFF DER EISGOLEMS Sie kehrten in Lumens Höhle zurück. Als Bipa nach Smara und Nevado fragte, erklärte ihr der Glasmeister, dass er sie vorgeschickt hatte. »Sie erwarten uns am Geheimtunnel, der in die Stadt führt«, sagte er. »Mach dir keine Gedanken um sie, Golems sind sehr geduldig.« Es wurde Abend und Lumen machte sich ans Kochen. Während Bipa langsam ihre Suppe aß und genüsslich die Fleischstücke zerkaute, die darin herumschwammen, gab ihr der Glasmeister ernst Anweisungen: »Wenn du die Stadt durchquerst, musst du aufpassen, dass du nicht gesehen wirst. Eine Opake wie du, vor allem in Begleitung eines Schneegolems, ist sehr auffällig. Aber das ist nur der Anfang. Sobald du das kleinere Tor passiert hast, gelangst du ins Spiegellabyrinth. Die Spiegel werden dein Bild dutzendfach, hundertfach zurückwerfen und dein Wesen in sich aufnehmen. Das Labyrinth ist riesig, selbst wenn du also nicht darin herumirrst, brauchst du lange, bis du wieder hinausfindest. Bis dahin wirst du etwas sehr Wichtiges deiner selbst verloren haben: einen Teil deiner Körperlichkeit.« Bipa lief es kalt über den Rücken. »Aber das ist gut, oder? Dann kann ich mich leichter dem Schloss der Kaiserin nähern und Aer finden.« Lumen schüttelte den Kopf. »Es wäre gut, wenn du nicht noch einen langen Weg vor dir hättest. Nach dem Spiegellabyrinth kommt der Tunnel der tausend Masken. Darin werden unzählige Gesichter über deine Schritte 135
wachen. Sie sind trügerisch und grausam, denn sie nehmen das Aussehen derjenigen an, die du liebst und nach denen du dich sehnst, aber wenn du vorankommen willst, musst du sie zurücklassen. Verstehst du?« »Kein Problem«, sagte Bipa beschwichtigend. »Ich habe längst alles zurückgelassen, was ich liebe.« »Außer denjenigen, den du ausfindig machen willst.« »Aer?« Bipa lachte. »Der ist mir nicht so wichtig.« »Und doch hast du auf der Suche nach ihm einen weiten Weg zurückgelegt«, bemerkte Lumen. Bipa schnaubte. »Ich bin ihm gefolgt, weil irgendjemand es tun musste. Aber wenn ich gewusst hätte, dass die Reise so weit und so anstrengend wird, wäre ich ganz bestimmt zu Hause geblieben. So viele Umstände hat dieser Trottel gar nicht verdient.« Lumen hob eine seiner schneeweißen Augenbrauen. »Achtung, Bipa«, warnte er sie. »Deine Gefühle sind die beste Waffe gegen die Macht der Kaiserin. Unterdrück sie nicht. Die Ätherischen haben keine körperlichen Bedürfnisse, aber sie haben auch keine Gefühle mehr. Sie empfinden nichts. Wenn du zu Aer gelangen willst, musst du dich ihrem Wesen so weit wie möglich anpassen. Aber wenn du genauso wirst wie sie, liegt dir nichts mehr daran zurückzukommen – und du willst doch zurückkommen, nicht wahr?« »Natürlich«, bestätigte Bipa im Brustton der Überzeugung. »Wer will denn schon auf seine Gefühle verzichten?« »Das hat seine Vorteile. Die Ätherischen haben keine Schmerzen, keinen Hunger, keine Angst vor Krankheiten …« »Das klingt, als wären sie tot«, erklärte Bipa mit einer Gänsehaut. 136
»Da irrst du dich. Ein Toter ist ein Körper ohne Lebensgeister. Die Ätherischen verzichten dagegen auf ihren Körper und alles, was damit zusammenhängt. Sie haben ein fortgeschrittenes Stadium erreicht …« »Das ist doch Unsinn!«, entfuhr es Bipa. »Wenn man nicht isst, nicht schläft, nicht liebt, nicht weint … ist man nicht lebendig! Dabei ist das Leben das kostbarste Geschenk der Göttin. Dir ist das klar«, fügte sie hinzu, »denn du behandelst Smara wie einen Menschen und nicht wie einen Stein. Ich will keine Ätherische werden«, erklärte sie. »Ich bin opak, ich habe einen Körper und bin stolz darauf. Aber Aer …« Sie verstummte, als sie endlich begriff, worauf die lange Reise ihres Freundes wirklich hinauslief. Zum ersten Mal gestand sie sich ein, dass es vielleicht eine Reise ohne Wiederkehr war. Lumen verstand auch ohne Worte. »Nimm’s ihm nicht übel«, sagte er sanft. »Er ist ein halber Glasmensch. Den Wunsch, die Kaiserin zu sehen, hat er im Blut.« »Sein Vater«, fiel Bipa ein. »Sein Vater war ein Fremder. Woher weißt du, dass er von hier kam? Kanntest du ihn etwa?« »Nein«, antwortete er. »Aber ›Aer‹ ist ein Wort aus der alten Sprache, die früher bei uns gesprochen wurde und längst in Vergessenheit geraten ist. Nur einzelne Wörter haben sich erhalten, so wie mein Name und der meines Zwillingsbruders. Und der deines Freundes. ›Aer‹«, fügte er hinzu, »bedeutet ›Luft‹. Ein bei den Ätherischen sehr beliebter Name.« »Luft«, wiederholte Bipa. »Passt gut zu ihm«, bemerkte sie ein wenig verächtlich. »Das ist das Einzige, was er im Kopf hat.« Aber dann dachte sie daran, dass Aer auch wie der Wind war, nie greifbar, so leicht wie eine Brise, 137
so fern wie der Ort, wo die Schneeflocken herkommen. So anders als sie selbst … »Wie auch immer, Bipa«, sagte Lumen, »du musst ihn einholen, bevor er zum Abgrund gelangt. Denn wenn er den erst einmal überquert hat, kannst du ihm nicht mehr folgen.« »Warum denn nicht? Was ist auf der anderen Seite?« »Das weiß ich nicht, so weit bin ich nie gekommen. Aber nicht das sollte dich beunruhigen, Bipa, sondern der Abgrund selbst. Du kannst ihn nicht überqueren.« »Was Aer kann, kann ich auch«, protestierte sie. »Wirklich?«, fragte der Glasmeister lächelnd. »Kannst du fliegen?« Bipa starrte ihn entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst«, stammelte sie. »Über den Abgrund muss man hinüberfliegen, Bipa, anders geht es nicht. Man muss den Absprung wagen und auf das Wunder vertrauen. Alle, die den Weg des Wandels eingeschlagen haben, tun es blindlings, deshalb gelangen sie hinüber. Aber ihr Opaken könnt das nicht. Ihr habt zu viel Angst vorm Sterben.« »Du etwa nicht?«, warf sie ihm unwillig an den Kopf. »Doch«, antwortete er lächelnd. »Deshalb bin ich ja hier. Ich konnte den Abgrund nicht überqueren.« Bipa holte tief Luft. »So dumm kann Aer nicht sein«, murmelte sie. »Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen«, riet ihr Lumen. Diesmal wusste Bipa nicht, was sie erwidern sollte. Wenig später, als es draußen stockfinster sein musste, machten sie sich auf den Weg. Ein wenig traurig packte Bipa ihre Habseligkeiten zusammen. Sie wäre gerne 138
noch länger in Lumens gemütlichem Heim geblieben. Aber Aer hatte zu viel Vorsprung und die Zeit drängte. Am Eingang zum Geheimtunnel warteten Smara und Nevado. Der Schneegolem wich vor Lumens Fackel ein paar Schritte zurück. »Ich gehe voran«, sagte der Glasmeister. »Folg mir, Bipa.« Sie gingen eine ganze Zeit durch den Tunnel. Als Bipa langsam ungeduldig wurde, blieb Lumen plötzlich stehen und sie wäre fast gegen ihn geprallt. »Was …?« »Pst … Von jetzt an musst du still sein. Wir nähern uns der Stadt.« Die letzten Meter mussten sie klettern. Schließlich stemmte Lumen eine Klappe in der Decke auf und frische Luft strömte ein. »Steig hinauf«, flüsterte der Glasmeister. »Dann bist du in der Stadt, in einem kleinen Glaslager. Such die Stadtmauer und geh an ihr entlang, sie wird dich zum Ausgang führen. Smara und ich bleiben hier. Viel Glück«, wünschte er ihr. »Danke für alles«, sagte Bipa innig. »Vielen, vielen Dank. Ich werde dich nie vergessen«, fügte sie hinzu, als sie sich bereits durch die Deckenöffnung gezwängt hatte. »Das will ich hoffen«, erwiderte Lumen. Smara half Nevado hinauf. Dann schloss sich die Luke. Unter ihnen wurden Lumens und Smaras Schritte immer leiser, bis Stille eintrat. Bipa holte tief Luft und richtete sich entschlossen auf. »Los geht’s«, sagte sie leise zu Nevado. »Wir müssen hier raus.« Sie traten in die Stadt aus Glas hinaus, die stumm und kalt im nächtlichen Nebel lag. Es war niemand zu sehen. Bestimmt schlafen alle, dachte Bipa. Dann fiel ihr ein, dass die Bewohner der Glasstadt ja kaum schliefen. Sie blieb wie angewurzelt stehen, aber alles war ruhig. 139
Sie ging weiter, doch die Stadt war groß und alle Straßen sahen gleich aus. Wie sollte sie da die Stadtmauer finden? Ich brauche die Mauer nicht, dachte sie plötzlich und blickte zum Himmel auf. Der Stern wird mich führen. Das sanfte Licht, in das die Glasstadt getaucht war, schien in der Tat aus einer bestimmten Richtung zu kommen. Selbst wenn es noch so dunkel war, wies der Stern den Weg zum Schloss der Kaiserin. Bipa ging schneller. Hinter sich hörte sie das leise Knirschen von Nevados Schritten, der ihr treu folgte. Verstohlen drückten sie sich an die Hauswände und in die dunkelsten Ecken wie zwei Diebe. Endlich erspähte Bipa das kleinere Stadttor. Sie begann zu laufen und in ihrer Hast bemerkte sie nicht, dass die beiden Statuen davor gar keine richtigen Statuen waren. Der Glasgolem brauchte nur eine Hand auszustrecken, um sie zu fangen. Und als Bipa sich wehrte und ihm die Finger zu brechen versuchte, ballte er die andere Hand zur Faust und schlug ungerührt zu. Bipa spürte noch den Schlag, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie wachte auf einem unbequemen Lager aus einem harten, kalten Quarzblock auf. Ihre Zelle hatte Glaswände und der Eingang war mit einem mächtigen Quarzkristall versperrt. Neben sich entdeckte sie Nevado. »Du hättest mir zu Hilfe kommen können«, warf sie ihm vor, aber der Golem erwiderte nichts. Bipa versuchte es sich auf ihrem harten Lager ein wenig bequemer zu machen und deckte sich mutlos mit ihrem Schultertuch zu. Sie hatte kaum damit angefangen, alle ihre Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, als die Go140
lems, die die Tür bewachten, den Quarzkristall beiseiteschoben und jemand eintrat. Bipa sprang auf. Vor ihr stand Lux, der Herr der Glasstadt. »Lass mich hier raus«, bat Bipa ihn, bevor der Lichtdurchlässige den Mund aufmachen konnte. »Lass mich auf die andere Seite. Dann bin ich fort und störe dich nicht wieder.« »Du bist die Opake, hinter der Eiselda her ist«, sagte Lux. Das hatte sie ganz vergessen – am Stadttor warteten ja die Eisgolems! »Du … du wirst mich ihr doch nicht ausliefern, oder?« »Warum denn nicht? Du gehörst in ihr Reich, nicht in meins.« »Aber … sie wird mich töten!« »Wenn du weiterziehst, wirst du auch sterben.« Verzweifelt zog Bipa den Opal unter ihren Kleidern hervor. »Sieh her!«, rief sie. »Hinter diesem Opal ist sie her! Wusstest du das? Lass mich hinüber, dann gehört er dir.« Die Worte waren aus ihrem Mund gesprudelt, bevor sie überhaupt überlegt hatte. Sofort bereute sie ihr Angebot und wollte einen Rückzieher machen, aber der Herr der Glasstadt lächelte und sagte: »Das habe ich mir gedacht.« »Warte … Ich habe es nicht so gemeint … In Wirklichkeit …«, stammelte sie, aber Lux brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich will deinen Opal nicht. Diese Steine … wirken heilig, aber in Wirklichkeit sind sie Ballast, der uns daran hindert, uns zu Wandeln. Nein, was mich interessiert, bist du.« »Ich?«, fragte Bipa erschrocken. »Warum? Du hast doch selbst gesagt, ich bin eine Opake und keine …« 141
»Eine Opake mit einem Opal. Versteh mich nicht falsch: Ich will nicht, dass dieser Stein Eiselda in die Hände fällt. Wenn ich ihn ihr aushändige, zieht sie heute noch ab, aber morgen ist sie mit einem noch viel größeren Heer wieder da, und dann zerstört sie die Glasstadt tatsächlich, denn bis dahin sind meine Golems zu erschöpft, um gegen sie anzutreten. Aber wie gesagt, ich will deinen Opal gar nicht. Mir ist mein eigener schon zu viel. Ich würde ihn am liebsten loswerden und zum Schloss der Kaiserin aufbrechen. Aber das geht nicht …« »… weil dein Bruder genauso einen Opal hat«, sagte Bipa. »Ich weiß.« »Und weil ich der Stadt gegenüber Verantwortung trage. Ich wünsche mir schon lange, einen Nachfolger zu finden, jemanden, der mein Amt erbt. Aber ich kann meinen Opal an niemanden weiterreichen. Du hingegen bist zu opak, um weiterzugehen, und außerdem hast du selbst einen Opal …« Bipa begriff. »Du willst von hier fort und ich soll an deine Stelle treten? Aber ich kann dein Amt nicht übernehmen! Ich muss weiter, ich muss Aer finden …« »Dieser Opal wird dich daran hindern, dich zu Wandeln, er ist noch zu mächtig. Du wirst also nie zum Schloss der Kaiserin gelangen. Aber der hier«, fügte er hinzu und deutete auf seine eigene Stirn, »ist fast erschöpft. Nach so langer Zeit ist es mir endlich gestattet, mich auf den Wahren Weg zu machen und mich zu Wandeln, sogar wenn ich ihn noch trage.« »Ich habe nicht vor hierzubleiben«, beharrte Bipa. »Das geht nicht.« »Und ob«, versicherte ihr Lux. »Du wirst so lange hier eingeschlossen bleiben, bis du eine von uns bist. Dann wirst du verstehen, wie bedeutsam dein Stein ist, und 142
wirst bereit sein, dein Schicksal als Herrin der Glasstadt anzunehmen.« »Und so zu werden wie du?«, fragte Bipa herausfordernd. »Nein danke.« Lux erwiderte nichts, sondern warf ihr nur ein mysteriöses Lächeln zu. Bipa musste unwillkürlich an Lumen denken, der ihm so ähnlich war und zugleich so anders. Der Herr der Glasstadt drehte sich um und verließ die Zelle. »He!«, rief Bipa. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Sie erhielt keine Antwort. Bipa presste die Nase an die Wand und spähte nach draußen, konnte jedoch im Nebel niemanden sehen. Draußen war es noch dunkel. Plötzlich waren ein Sirren, ein Knall und das Zersplittern von Glas zu hören. Bipa hob alarmiert den Kopf. »Was war denn das?« Die Geräusche wiederholten sich und kamen immer näher. Bipa lauschte. Es hörte sich an, als würde etwas sehr Schweres auf die Dächer der Stadt fallen. Durch die Wände ihres Gefängnisses beobachtete Bipa, wie Leute überstürzt ihre Häuser verließen. Sie strömten alle in dieselbe Richtung. Die Golems folgten ihnen. »Was ist nur los?«, fragte sich Bipa. Irgendwo zerbarst ein Turm in tausend Stücke. »Wir müssen hier raus«, sagte sie mit einem Schauder zu Nevado. Sie versuchten den Quarzkristall vor dem Eingang beiseitezuschieben, doch vergeblich. Nicht einmal mit vereinten Kräften gelang es ihnen, ihn mehr als ein kleines Stück von der Stelle zu bewegen. Als Bipa sich erschöpft auf den Boden fallen ließ, weckte etwas im Freien ihre Aufmerksamkeit. Sie drück143
te die Nase wieder ans Glas und erkannte die hohe Gestalt eines Golems, der in der nächtlichen Finsternis näher kam. Erst als er vor dem Eingang stand, fiel Bipa auf, dass er dunkler war als die anderen. »Smara?«, rief sie freudig. Die Smaragdfrau gab nicht zu erkennen, ob sie sie gehört hatte, sondern stemmte sich gegen den Quarzkristall vor dem Eingang. Nach einem kurzen Moment bewegte sich der Quader und gab die Tür frei. Bipa raffte ihre Sachen zusammen und lief hastig ins Freie, gefolgt von Nevado. Sie schlang Smara die Arme um die harte Taille. »Danke, danke! Das vergesse ich dir nie, Smara.« Smara neigte den Kopf und sah sie an, aber das war auch alles. Sogleich löste sie sich sanft von Bipa und setzte sich in Bewegung, ohne auf sie und Nevado zu warten. Trotzdem wusste Bipa, dass sie ihr folgen mussten. Sie liefen hinter Smara her durch die Straßen der Glasstadt. Niemand achtete auf sie, denn um sie herum fielen große Eisbrocken vom Himmel. Einer davon lag mitten auf der Straße, wo er gelandet war, nachdem er eine Kuppel zerschmettert hatte. »Das ist Hagel«, sagte Bipa verdutzt. »Es hagelt.« Aber diese Eisbrocken waren zu groß, um natürlichen Ursprungs zu sein, und sie richteten erheblichen Schaden an. Eigentlich, dachte Bipa, wollte Eiselda die Stadt doch einnehmen und nicht zerstören. Smara hatte sie inzwischen bis zu dem kleineren Stadttor geführt. Dort harrte stumm und reglos noch einer der Golem-Wächter aus. Der zweite hatte sich wahrscheinlich den anderen angeschlossen, um die Stadt zu verteidigen, falls das überhaupt möglich war. 144
»Er wird uns nicht durchlassen«, sagte Bipa besorgt. Smara konnte sie schlecht bitten, ihn aus dem Weg zu schaffen, und Nevado war nicht fest genug, um gegen einen Glasgolem anzutreten. In diesem Moment drehte der Wächter den Kopf in Bipas Richtung. Sie bekam Angst. Der Glasgolem kam bedrohlich auf sie zu. Diesmal würde er sich bestimmt nicht damit begnügen, sie bewusstlos zu schlagen. Er würde sie töten. Sie wollte fliehen, prallte jedoch mit Nevado zusammen und beide gingen zu Boden. Der Glasgolem hob die Faust. Aber ein grüner Arm fuhr zwischen den Torwächter und seine Opfer. Es war ein unangenehmes Splittern zu hören und der Glasgolem wich einen Schritt zurück. Bipa riskierte einen Blick. Vor ihr stand Smara, reglos, majestätisch, und schützte sie mit ihrem eigenen Körper vor dem Wächter. Die beiden Riesen starrten einander an. Smara machte einen Schritt nach vorn und der Wächter ging auf sie los. Sie steckte den Schlag weg, ohne dass sich ihre Füße vom Boden lösten. Der Glasgolem schlug erneut zu und wieder war ein Splittern zu hören. Doch im Halbdunkel konnte Bipa nicht erkennen, wer von beiden zu Schaden gekommen war. Etwas sehr Kaltes und Feuchtes zog an ihr und sie zuckte zusammen. Nevado versuchte energisch sie zum Aufstehen zu bewegen. Noch ganz benommen ließ sie sich von ihm fortziehen – aufs Tor zu. Erst dort löste sie sich aus seiner eisigen Hand. »Halt … Halt! Wir können Smara nicht so zurücklassen!« Da packte Nevado sie und lud sie sich auf die Schulter. Bipa strampelte und rief nach Smara, während der Schneegolem aufs Tor zurannte, fort von den beiden imposanten Geschöpfen aus Glas – das eine durchsichtig 145
und das andere smaragdgrün –, die in einen erbitterten Kampf verstrickt waren. Schließlich setzte Nevado sie vor dem Tor ab. Bipa warf einen letzten Blick zurück, aber im Nebel und der Dunkelheit konnte sie nur noch zwei undeutliche Umrisse erkennen. Sie holte tief Luft in Gedanken an das, was sie zurückließ und was vor ihr lag. In diesem Moment war ein schauriges Klirren zu hören, als wäre etwas sehr Großes in tausend Stücke zersprungen. »Smara!«, schrie Bipa verängstigt. Sie wollte zu ihr laufen, aber Nevado hielt sie in seinen kalten Armen zurück. »Mach dir keine Sorgen um sie«, ertönte da eine Stimme in der Dunkelheit. Bipa erkannte den Herrn der Glasstadt und wich erschrocken zurück. Aber er lächelte. Dann musste es Lumen sein. »Entschuldige, dass ich dich nicht vor den Wächtern gewarnt habe«, sagte er. »Ich wusste nichts von ihnen. Lux muss sie nach meiner Zeit aufgestellt haben.« Aber darüber machte Bipa sich keine Gedanken mehr. »Was ist überhaupt los?«, forschte sie. »Was sind das für Eisbrocken und wo kommen sie her?« »Eiselda wollte nicht bis morgen früh warten, sie greift die Stadt an.« »Das kann nicht sein«, stammelte Bipa. »Was wollt ihr jetzt tun?« »Uns verteidigen, was sonst. Und jetzt geh. Die Angelegenheiten der Lichtdurchlässigen gehen eine Opake nichts an.« »Aber … all das ist meine Schuld!« »Oh nein. Eiselda will die Glasstadt schon lange betreten, aber Lux hat es ihr nie erlaubt. Sie ist nur eine Blasse, zu opak, um den Weg fortzusetzen, und wird es auch 146
bleiben, solange sie nicht auf ihr Heer, ihren Palast und ihre Diener verzichtet. Gewiss, Eiselda ist auf deinen Opal aus. Aber sie will auch in die Glasstadt. Und jetzt hat sie einen Vorwand, um es mit Gewalt zu versuchen. Lass dich nicht aufhalten. Wir kümmern uns schon um sie. Ich werde meinem Bruder helfen und noch mehr Golems für ihn zum Leben erwecken.« »Aber … was wird dann aus Smara?« »Mein Opal verbraucht sich nicht so schnell, Bipa, keine Bange.« Unterdessen hatte sich ihnen im Nebel eine Gestalt genähert. Mit einem Seufzer der Erleichterung erkannte Bipa Smara. Sie wirkte müde und ihr glatter Glasleib war an einigen Stellen beschädigt, aber sie war noch ganz. Bipa war so erleichtert, dass sie sie fest umarmte. »Danke, Smara.« Lumen lächelte. »Sie ist ein starkes Mädchen. Es wird Zeit, dass du aufbrichst, Bipa. Im Moment sind die Glasmenschen sehr beschäftigt, aber wenn sie dich entdecken, hindern sie dich trotzdem am Gehen.« Bipa umarmte beide und bedankte sich noch einmal. Dann passierte sie, gefolgt von Nevado, das Tor der Glasstadt und ging durch den Nebel, ohne zurückzublicken. Der Weg führte bergauf zwischen zwei mit Glasstacheln gespickten Felswänden. Bipa lief, so schnell sie konnte, kletterte, rutschte aus, stand wieder auf … ein ums andere Mal. Als es Tag wurde, blieb sie erschöpft stehen. Sie hatte gehofft, hier oben würde sich die Landschaft weiten, aber der Weg wurde immer schmaler und führte direkt auf eine Höhle zu. Ihr Eingang war von Glasprismen gesäumt und erinnerte an einen offenen Mund mit spitzen Zähnen. 147
Bipa erschauerte und drehte sich um, um zum letzten Mal die Glasstadt zu betrachten. Der Nebel hatte sich gelichtet. Von hier oben waren auch die Eisgolems, die auf der anderen Seite der Stadtmauer warteten, klar zu erkennen. Nur dass sie sich nicht mehr mit Warten zufriedengaben. Irgendwo splitterte Glas. Noch einmal. Und noch einmal. Atemlos beobachtete Bipa, wie Eiseldas Golems ganze Eisblöcke gegen die Stadtmauer warfen, mit solcher Wucht, dass sie wankte. Dabei verrenkten sie sich geradezu, drehten ihren Oberkörper so extrem nach hinten, dass er wie eine mächtige Schleuder wirkte. Einige der Geschosse flogen so hoch, dass sie die Glastürme trafen. Klirrend brachen die zarten Gebäude zusammen. Eiselda beobachtete den Angriff ihrer Golems ungerührt von ihrer belebten Riesenechse herab. »Was ist?«, fragte Bipa verängstigt. »Warum unternehmen sie nichts?« Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was innerhalb der Stadtmauer vorging. In diesem Moment fegte eine Windbö die restlichen Nebelschwaden davon und Bipa entdeckte nicht ohne Erleichterung, dass hinter dem Haupttor Dutzende von Glasgolems in Reih und Glied parat standen. Und es waren noch mehr im Anmarsch, aus allen Winkeln der Stadt. Sobald alle bereit waren, würde sich das Tor öffnen und die Lichtdurchlässigen würden sich endlich gegen Eiseldas Angriff verteidigen. Smara entdeckte Bipa nicht unter den Glasgeschöpfen. Ganz sicher konnte sie aus dieser Entfernung natürlich nicht sein, aber sie war trotzdem beruhigt. Eigenartig: Heute würden viele Golems zerstört werden, sie würden sterben, falls man die Existenz dieser Wesen als »Leben« bezeichnen konnte. Und doch konnte sie sich nur um 148
Smara sorgen, vielleicht weil sie anders war oder weil sie sie kannte … oder weil sie einen Namen hatte. Unwillkürlich fiel Bipas Blick auf Nevado, der neben ihr stand. Jetzt war er nicht mehr weiß wie frisch gefallener Schnee, sondern schmutzig grau und reichlich ramponiert. Bipa strich ihm sanft über den kalten Arm. »Gehen wir«, sagte sie fast zärtlich. Nevado sah zu ihr hinunter und in seinen hohlen Augen meinte Bipa stummes Einverständnis zu lesen. Sie schlüpfte vorsichtig zwischen den Glaszähnen hindurch in die Höhle. Nevado folgte ihr. Dort war es stockdunkel. Bipa holte den Kienspan aus ihrem Rucksack. »Zurück, Nevado«, warnte sie ihn. Ohne sich zu vergewissern, ob der Golem ihr gehorchte, zündete sie den Kienspan an. Als sie ihn hochhob und sich umsah, hätte sie ihn vor Verwunderung beinahe gleich wieder fallen lassen. Sie war umringt von Hunderten von identisch aussehenden Mädchen und ebenso vielen Schneegolems, die Nevado glichen. Alle Mädchen hielten eine brennende Fackel in der Hand, was die Höhle plötzlich in gleißendes Licht tauchte. »Wer seid ihr?«, rief Bipa. Alle Mädchen bewegten die Lippen gleichzeitig, aber zu hören war lediglich Bipas eigene Stimme, die vom Echo zurückgeworfen wurde. »Das soll … ich sein?«, fragte sie befremdet. Sie tastete sich mit der freien Hand übers Gesicht. Die Mädchen ahmten die Bewegung nach. Bipa schluckte und ging auf die Erstbeste zu, ohne sich von den anderen ablenken zu lassen, die sich alle gleichzeitig vorwärtsbewegten. »Das soll ich sein?«, wiederholte sie bei diesem Anblick. Das Mädchen blickte ihr halb kritisch, halb er149
schrocken entgegen. Nein, das war nicht ihr Spiegelbild. Oder zumindest nicht das der Bipa aus ihrer Erinnerung. In den Höhlen gab es keine Spiegel, aber sie hatte sich oft im See gesehen, wenn sie die Eisdecke zum Angeln aufhackte. Diese Bipa hier hatte, anders als die Bipa, die sie kannte, ganz helles Haar und war ziemlich dünn. Zweifellos hatte diese Reise voller Entbehrungen an ihr gezehrt, aber das erklärte nicht ihre veränderte Haarfarbe, den kränklich blassen Ton ihrer Haut und ihre hellen Augen. Bipa geriet zum ersten Mal auf ihrer Reise richtig in Panik. Sie wollte auf dem schnellsten Weg wieder nach Hause, zurück zu ihrem bisherigen Leben, in ihren alten Körper. Ihr war immer klar gewesen, dass sie bei dieser Suche ihr Leben verlieren konnte, aber aus irgendeinem Grund schreckte sie das weniger als die Vorstellung, sich selbst zu verlieren. »Ich bin dabei … mich zu Wandeln«, stöhnte sie entsetzt. Sie ließ die Fackel fallen, drehte sich um, lief davon … und prallte direkt auf einen der Spiegel. Mit sich selbst zusammenzuprallen und Hunderte von Bipas zu Boden stürzen zu sehen, war ein verwirrendes Erlebnis. »Geht weg! Alle!«, ächzte sie und rollte sich zusammen. »Verschwindet!« Sie hielt sich schützend die Arme vors Gesicht. Aber als sie wieder einen Blick riskierte, waren nicht nur die Bipas noch da, sondern Hunderte von Nevados marschierten gleichzeitig auf sie zu wie ein diszipliniertes weißes Heer. Bipa schrie, als alle ihr eine brennende Fackel reichten, Hunderte von brennenden Fackeln, und das Echo ließ es klingen, als schrien alle Bipas vor Entsetzen. Aber da war auch noch eine andere Empfindung: die 150
Hitze der brennenden Fackel. Sie drehte sich zu Nevado um, zu dem echten. Er sah wässrig aus, als würde er heftig schwitzen. Da gewann Bipas gesunder Menschenverstand die Oberhand. Sie entriss Nevado die Fackel. »Zurück, zurück!«, befahl sie ihm. »Das hier ist gefährlich für dich.« Nevado gehorchte und alle Golems wichen gleichzeitig zurück. Mit einem lauten Seufzer stand Bipa auf. »Na dann, weiter geht’s«, sagte sie. Sie tastete sich am Spiegel entlang, bis sie auf den Spalt zwischen diesem Spiegel und dem nächsten stieß. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging sie auf die nächste Bipa zu, bis sie fast mit ihr zusammenprallte, und wandte sich dann nach rechts. Dort war ein Durchschlupf, aber erneut warteten Dutzende von Bipas und Nevados auf sie. »Das Geheimnis besteht darin, nicht zu sehr auf sie zu achten, oder?«, fragte sie den Golem. »Letztendlich gibt es nur eine einzige Bipa, und zwar mich. Da kann ich sicher sein, ich brauche also keine Angst zu haben.« Sie gingen weiter durch die Lücken zwischen den Spiegeln. Bipa verlor bald die Orientierung. Ganz gleich wohin sie sich wandte, die anderen Bipas ahmten ihre Bewegungen nach. Bipa war dem Spiegellabyrinth völlig ausgeliefert. Doch sie ließ sich nicht entmutigen, sondern ging immer weiter zwischen den Spiegeln hindurch. All diese Bipas sind ich, dachte sie verwundert. Und ich bin sie alle. Das nächste Spiegelbild brachte sie auf einen seltsamen Gedanken. Vielleicht war sie gar nicht wirklich Bipa. Vielleicht war sie eine dieser Bipas, die in den Spiegeln feststeckten. Vielleicht irrte die echte Bipa irgendwo 151
hinter einem dieser Spiegel umher. Und sie war nur ihr Abbild in einer mit Quecksilber überzogenen Glasscheibe. Bipa bekam einen Schreck und begann schreiend auf den Spiegel vor sich einzuhämmern. Es war, als würde sie sich selbst schlagen, aber das war ihr egal. Im Grunde hasste sie diese Bipa, die kaum wiederzuerkennen war, und deshalb hämmerte sie weiter verzweifelt gegen das Glas, um auszubrechen … Plötzlich gab es einen Knall. Bipa wich erschrocken zurück, ohne den Blick von ihrem in mehrere Teile zerbrochenen Abbild zu wenden. Bis sie es nicht mehr ertrug und davonlief. Das Spiegellabyrinth schien kein Ende zu nehmen. Sie hastete weiter, ohne auf all die anderen Bipas zu achten, ohne festes Ziel, nur immer weiter, wo sich Raum bot. In ihrem Kopf hatte nur noch ein Gedanke Platz: Ich muss hier raus, bevor ich zu einer von ihnen werde. Bevor ich für immer in einem Spiegel gefangen bleibe. Als sie schließlich erschöpft auf die Knie sank, rollte die Fackel davon und erlosch, aber in der Höhle blieb es hell. Bipa hob verwundert den Kopf. Ein bläulicher Lichtkegel fiel auf die Spiegel. Dort hinten musste der Ausgang sein. Bipa stand auf und ging darauf zu, ohne ihr Ziel aus den Augen zu lassen. Schließlich trugen ihre Füße sie zu einem Durchlass, hinter dem ein weiterer Tunnel lag … ohne Spiegel. Bipa lehnte sich an die Wand und ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Der Gang, der sich vor ihr auftat, war sehr lang und aus Glas, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Hier brauchte sie keine Fackel. An den Wänden entdeckte sie seltsame Ausbuchtungen, die sie sich gar nicht genauer ansehen mochte. Sie blieb ganz einfach, wo sie war, und ruhte sich aus. 152
Sie befühlte ihre Hände und ihr Gesicht. Sie war nach wie vor körperlich, dreidimensional. Sie war den Spiegeln entronnen. Nevado trat zu ihr. Ihm hatte das Verwirrspiel der Spiegel nichts anhaben können, aber ihre Ecken und Kanten hatten seine Schneehaut aufgeschürft und sogar Löcher hineingerissen. Bipa brachte den Schnee schnell wieder in die richtige Form. »Du bist sehr empfindlich«, sagte sie. »Noch mehr als die Glasgolems.« Nevado senkte bekümmert den Kopf und sie strich ihm tröstend über den Schneearm. Nachdem sie einen Bissen gegessen hatte und sich gestärkt fühlte, stand sie auf, schulterte ihren Rucksack und betrat den Tunnel. Nevado folgte ihr.
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11 ICH WERDE DICH NACH HAUSE BRINGEN … Sobald sie ein paar Schritte gegangen war, stellte sie überrascht und auch ein wenig beklommen fest, dass die Ausbuchtungen an den Wänden gläserne Gesichter waren. Alle sahen gleich aus, leblose, ausdruckslose Masken mit leeren Augen und halb offenem Mund. Vom Boden bis zur Decke waren die Wände des Tunnels mit den Glasgesichtern bedeckt. Bipa fragte sich, wer sich wohl so viel Mühe gemacht hatte und wozu. Doch bald hatte sie die Masken vergessen und konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihr lag. Der Tunnel wollte kein Ende nehmen und die einzige Herausforderung, die er darstellte, schien seine Eintönigkeit zu sein. Die Masken beunruhigten Bipa nicht. Verglichen mit den Hunderten von Bipas und Nevados im Spiegellabyrinth kamen sie ihr harmlos vor. Sie bewegten sich nicht und erinnerten sie an niemand Bestimmten. Deshalb blieb sie ganz ruhig, als sie irgendwann das eine oder andere Gesicht wiederzuerkennen glaubte. Sie sind alle gleich, mahnte sie sich selbst. Du bist müde, das ist alles nur Einbildung. Aber unbewusst begann sie mehr auf die Masken zu achten. Irgendwann blieb sie verdutzt vor einem der Gesichter stehen. Auf den ersten Blick hatte es genau wie ihre Freundin Taba ausgesehen. Aber bei näherer Betrachtung erwies es sich als optische Täuschung: Dieses Glasgesicht war auch nicht anders als die anderen. Dieses Phänomen wiederholte sich. Je länger Bipa 154
ging, desto öfter meinte sie Bekannte zu entdecken. Aber immer nur aus dem Augenwinkel. Sobald sie sich einer Maske zuwandte, sah sie wieder aus wie alle anderen. So blickten ihr von den Wänden des gläsernen Tunnels die Gesichter von Nuba, Eiselda, Maga und Lumen (oder vielleicht Lux) entgegen. Sie glaubte auch andere Menschen aus den Höhlen zu erkennen. Und schließlich nahm eine der Masken das Aussehen ihres Vaters an. Abrupt wandte Bipa sich diesem Glasgesicht zu. Bestimmt hatte sie sich auch diesmal getäuscht. Aber nein, die Maske hatte wirklich Topos Züge. Ihr Herz setzte kurz aus. Das bildete sie sich doch nicht ein. Die Glasgesichter stellten Leute dar, die sie kannte. Und das hier war ohne jeden Zweifel ihr Vater. Es kam ihr sogar vor, als lächelte er ihr zu. Zu Tode erschrocken wandte Bipa den Blick ab. Plötzlich sahen die Masken im Tunnel alle unterschiedlich aus – eine ganze Galerie von bekannten Gesichtern. Da waren wieder Taba und Maga und Nuba und all die anderen aus den Höhlen, aber auch Lumen und Eiselda und sogar Bianca. Das waren sie, jeder Einzelne, daran gab es nichts zu rütteln. Wie hatte sie anfangs nur glauben können, alle Masken wären gleich? »Was … was macht ihr hier?«, stammelte sie. Irgendwoher ertönte eine Stimme. »Oh Bipa … du hast dich auf die Suche nach Aer gemacht. Wie mutig du bist …« Mit einem Ruck sah Bipa sich um. Das war Tabas Stimme! Dort war die Maske mit Tabas Gesicht. Und sie konnte sprechen … Auf einmal redeten alle Gesichter durcheinander. »Du musst mir den Opal zurückgeben«, sagte Maga. 155
Sie wirkte viel älter und müder, als Bipa sie in Erinnerung hatte. »Ich brauche ihn, das weißt du ja. Die Kranken …« »Mein Sohn«, sagte Nuba. »Er ist den gleichen Weg gegangen wie sein Vater. Er …« »Gib mir den Anhänger um deinen Hals«, forderte Eiselda. »Dafür kommst du mit dem Leben davon …« »Es ist gefährlich, Bipa«, erklärte Lumen. »Wenn du opak bleibst, kannst du deinen Freund nicht einholen, aber …« »Komm wieder nach Hause«, flehte ihr Vater sie an. Das wiederholte er immer wieder: »Komm wieder nach Hause … komm wieder nach Hause … komm wieder nach Hause …« Bipa schrie und hielt sich die Ohren zu, aber die Stimmen sprachen weiter, alle gleichzeitig, und dröhnten ihr im Kopf und im Herzen. Bipa lief davon, weg von diesem Ort, der sie in den Wahnsinn trieb, aber der Tunnel wollte kein Ende nehmen. »Eine Opake wie du kann das Tor der Glasstadt nicht passieren …« »Ein Fleischkloß! Wie kannst du es wagen …?« »Aer ist fort … wie sein Vater … Das Schloss der Kaiserin …« »Komm wieder nach Hause … komm wieder nach Hause … komm wieder nach Hause …« Bipa konnte nicht mehr. Sie blieb stehen und schrie aus voller Kehle: »Es reicht!!! Seid endlich still!« Die Glasgesichter verstummten kurz, doch gleich darauf hob das Stimmengewirr wieder an. Völlig verzweifelt sank Bipa zu Boden und rollte sich zu einer kleinen zitternden Kugel zusammen. Nicht einmal Nevados kühle Gegenwart trug dazu bei, sie zu beruhigen. 156
Bis sie diese Worte hörte: »Du bist natürlich noch opaker als alle anderen.« Bipa machte die Augen auf und hob misstrauisch den Kopf. Ihr Blick wanderte von Maske zu Maske, bis sie die gesuchte fand. Aer! Hier, mitten in diesem gläsernen Tunnel, zwischen einer Maske von Topo und einer von Bianca. Sein Gesicht war spitz und durchsichtig, aber sie erkannte ihn an seinem verschmitzten Lächeln wieder. Bipa war natürlich klar, dass das nicht der echte Aer war. Aber bei seinem Anblick war sie so erleichtert, dass sie mit ihm sprach, als wäre er es leibhaftig. »Du Idiot!«, warf sie ihm an den Kopf. »Was ich deinetwegen alles durchgemacht habe! Wie konntest du nur so dämlich sein, aus den Höhlen fortzugehen!« »Und du warst dämlich genug, einem Idioten zu folgen«, erwiderte er zu ihrer Überraschung. »Jetzt mach mal halblang, Bipa. Das hier ist mein Schicksal, das weißt du doch. Ich muss ins Schloss der Kaiserin. Es geht nicht anders.« »Oh doch«, widersprach Bipa ein wenig beklommen. »Du kannst nach Hause zurückkehren. Deine Mutter vermisst dich. Wir alle vermissen dich.« »Du auch, nicht wahr?« »Das könnte dir so passen«, knurrte sie, aber das gläserne Gesicht hörte ihr gar nicht zu. »Du folgst mir, weil du mich an dich ketten willst«, sprach es erbarmungslos weiter. »Weil du nicht wahrhaben willst, dass ich nicht so bin wie du. Mein Platz ist nicht bei den Opaken. Dorthin, wo ich hinwill, kannst du mir nicht folgen.« »Ich weiß nicht, warum du meinst, ich …«, begann Bipa, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Aers Vorwürfe hatten eine tiefe Wunde in ihr Herz gerissen. 157
Plötzlich sah die Maske nicht mehr aus wie aus Glas, sondern als wären ihre herablassende Miene und ihr zynisches Lächeln ganz echt. »Sieh dich doch an«, sprach sie weiter. »Wie kommst du auf die Idee, ich wollte dich bei mir haben? Eine Opake, die keinen Sinn hat für die Vollkommenheit der Ätherischen und ihrer Kaiserin? Wie kommst du auf die Idee, du wärst mir ebenbürtig?« Bipa blinzelte und kämpfte empört mit den Tränen. »Sei still … Sei bloß still, du Schwachkopf« »Wie lange willst du denn noch nach mir suchen? Wie kommst du auf die Idee, ich könnte wollen, dass du mir folgst, du Opake?« Das letzte Wort sagte er voller Verachtung. »Sei still!«, brüllte Bipa, aber Aer lachte schallend. Er lachte sie aus. Bipa blieb nichts anderes übrig, als dieses Gelächter über sich ergehen zu lassen, während die Maske ihres Vaters wiederholte: »Komm wieder nach Hause … komm wieder nach Hause …« Und die von Bianca rief ihr in Erinnerung: »Du bist widerwärtig, Opake, ein Fleischkloß …« »Seid still!!«, schrie Bipa, so laut sie konnte. »Lasst mich endlich in Ruhe!« Aber die Masken sprachen alle durcheinander, übertönt von Aers Gelächter. Bipa wurde schwindlig, sie hatte das Gefühl zu fallen … und verlor das Bewusstsein, noch bevor sie den Boden berührte. Als sie Stunden später aufwachte, war nicht das kleinste Geräusch zu hören. Die Stimmen waren verstummt, nur in ihrer Erinnerung hallten sie noch leise nach. Langsam, ganz langsam machte Bipa die Augen auf. Sie befand sich nicht mehr im gläsernen Tunnel. Die 158
Masken waren verschwunden. Um sie herum lag nichts als Schnee. Sie richtete sich auf. Ihr brummte der Schädel, aber sie zwang sich, sich umzuschauen. Sie befand sich am Fuß eines hohen Gebirgszugs aus lichtdurchlässigem Quarz. Neben ihr tat sich der Eingang zu einer Höhle auf, aus der ein Licht fiel, das ihr bekannt vorkam. »Der Tunnel der tausend Masken«, sagte sie. Sie entdeckte Nevado neben sich, reglos wie eine Statue, aber auf der Hut wie ein Wachposten. »Hast du mich da rausgeholt?«, fragte sie ihn, auch wenn sie die Antwort bereits kannte. Der Golem zuckte nicht mit der Wimper. Auch nicht, als Bipa ihn vor lauter Dankbarkeit umarmte. Der Wind trug ihr ein unheimliches Stimmengewirr ans Ohr. Es schien aus dem Tunnel zu kommen. »Nichts wie weg hier«, sagte sie mit einem Schauder. Noch zitternd stand sie auf und setzte sich in Bewegung, froh, wieder im Freien zu sein und die Eisberge hinter sich lassen zu können. Sie marschierten stumm durch die verschneite Ebene. Hier war der Nebel weniger dicht und alles war in ein fahles, eisblaues Licht getaucht, das die Konturen schärfte und zugleich die Luft schwerer machte. Bipa hob den Kopf. Zwischen den Nebelschwaden sah sie am Himmel den Stern, noch in weiter Ferne, aber viel größer und echter, als sie es sich je hätte träumen lassen. »Der Stern, der den Weg zum Schloss der Kaiserin weist«, flüsterte Bipa. Sie waren ganz nah. Zu nah. Sie setzten den Marsch durch die leere, unwirklich stille Schneewüste fort. Bis sie den Abgrund erreichten. Er entpuppte sich als tiefe Schlucht, die die Erde spal159
tete. Die andere Seite war im Nebel kaum auszumachen. Und es gab nichts, um den Abgrund zu überqueren, keine Brücke, keine Leiter, kein Seil … Nichts. Bipa kamen die Worte des Glasmeisters in den Sinn: Kannst du fliegen? Doch Bipa verlor nicht den Mut. »Na schön«, sagte sie nur. »Dieser Abgrund mag groß sein, aber irgendwo muss er schließlich aufhören.« Sie setzte sich also wieder in Bewegung, gefolgt von Nevado, immer an der Felskante entlang. Sie gingen, bis es Nacht wurde, eine seltsame Nacht, gefärbt vom blauen Schein des Sterns, und schlugen ihr Lager am Rand der Schlucht auf. Am nächsten Morgen gingen sie weiter. Sie hatten einen halben Tagesmarsch hinter sich, als Bipa etwas sah, das sie aus ihrer Benommenheit riss. Eine Gestalt am Horizont. Sie lief aber nicht am Abgrund entlang, so wie Nevado und sie, sondern darüber hinweg. Da vorne gab es also eine Brücke oder so etwas! Bipa rannte los. Nach einigen Minuten blieb sie mit klopfendem Herzen stehen, ohne ihren Augen zu trauen. Denn da war keine Brücke. Die Gestalt ging durch die Luft, über eine so tiefe Leere hinweg, dass Bipa beim bloßen Gedanken daran schwindlig wurde. Dieser Tollkühne schwebte ganz einfach, er flog ohne Flügel. Und dieser Tollkühne war Aer. Bipa erkannte ihn an seinem entschlossenen, schlaksigen Gang, sogar in der Luft. Und sogar auf diese Entfernung und obwohl sein Haar völlig weiß geworden war und er so abgenommen hatte, dass er eher wie ein Skelett aussah. »Ich kann es nicht glauben«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ich kann es nicht glauben.« Sie hatte ihn gefunden. Sie hatte ihn endlich eingeholt. 160
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schrie: »Aer!!« Das Echo warf ihre Stimme zurück (Aer … Aer … Aer …), aber die Gestalt in der Ferne hörte sie nicht. Bipa versuchte es noch einmal: »Aer!! Ich bin’s, Bipa!! Warte auf mich!« Warte auf mich … warte auf mich … warte auf mich … Bipa fürchtete schon, er sei taub geworden. »Ich komme zu dir!«, schrie sie. »Ich bin gleich da!« Da … da … da … Bipa rannte auf Aer zu und stellte mit wachsender Panik fest, dass es tatsächlich keinen Weg über die Schlucht gab. Es war genau so, wie es aussah: Aer ging durch die Luft, schwebte mit der unbekümmerten Leichtigkeit einer Wolke auf die andere Seite des Abgrunds zu. Erneut ging ihr Lumens Stimme durch den Sinn: Wenn er den Abgrund erst einmal überquert hat, kannst du ihm nicht mehr folgen. Bipas Herz klopfte zum Zerspringen. »Aer!!«, rief sie. »Aer, warte! Komm zurück! Bitte, Aer, geh nicht weiter! Komm zurück!« Zurück … zurück … zurück … Aer reagierte immer noch nicht, sondern ging ungerührt weiter. Bipa lachte und weinte zugleich. »Das kann doch nicht wahr sein … Das bilde ich mir doch nur ein …«, murmelte sie, während sie am Rand des Abgrunds auf und ab lief. Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was Lumen ihr über diesen Ort erzählt hatte. Dass man fliegen musste, um hinüberzukommen, hatte er gesagt. Jetzt bereute Bipa, dass sie nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Alles war ihr so abwegig vorgekommen. Und doch flog Aer … 161
oder schwebte … oder ging durch die Luft … und entfernte sich immer mehr von ihr. Sie konnte ihn nicht gehen lassen. Nicht nach allem, was sie seinetwegen durchgemacht hatte. »Aer!!«, schrie sie. Wer den Weg des Wandels beschritten hatte, gelangte auf die andere Seite, fiel ihr ein. Weil derjenige keine Angst vor dem Tod hatte. Aber sie selbst wie auch Lumen hingen zu sehr am Leben. Zu sehr, um den Sprung zu wagen. Ob es am Opal lag, den sie um den Hals hängen hatten? Lumen hatte etwas davon gesagt, dass der Stein den Prozess des Wandels stoppte oder zumindest verlangsamte. Vielleicht weil er ein Geschenk der Göttin war, der Schöpferin allen Lebens, die sogar leblose Materie zum Leben erwecken konnte? Bipa zögerte. Aber Aers Gestalt wurde immer kleiner. Die Zeit drängte. Sie streifte den Opal ab und legte ihn in den Schnee. Dann ging sie langsam auf den Rand der Schlucht zu. Sie schluckte und sah nach unten. Tiefe, dunkle Leere. Ihr wurde schwindlig und sie musste die Augen schließen. »Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Hörst du?«, schrie sie Aer hinterher. »Ich kann nicht! Das kannst du doch nicht mit mir machen! Du kannst mich nicht zwingen zu springen, damit ich dich einhole! Du bist … oh, verdammt noch mal!«, entfuhr es ihr. Verdammt noch mal … verdammt noch mal … verdammt noch mal …, fiel das Echo ein. Bipa hängte sich den Opal mit zitternden Fingern wieder um. »Meine Angst ist zu groß«, gestand sie Nevado. »Ich kann ihm nicht folgen. Aber war dann alles umsonst?« 162
Die bloße Vorstellung, den weiten Rückweg mit leeren Händen anzutreten, quälte sie. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie Aer für immer davonging. »Idiot …«, zischte sie. »Wie konntest du nur …« Ihr fiel ein, dass Maga und auch ihr Vater sie vor der Reise gewarnt hatten. »Wenn dieser nichtsnutzige Aer da draußen überleben konnte, kann ich es auch«, wiederholte sie ihre Antwort von damals. Worte, die ihr jetzt so fern erschienen. Sie holte tief Luft. Ihre innere Stimme raunte: Aer kann fliegen, oder? Warum solltest du es dann nicht auch können? Wie als Antwort kam ihr Aers Ausruf in den Sinn: Du bist natürlich noch opaker als alle anderen! Die Ätherischen können fliegen, schoss es Bipa durch den Kopf. Sie hatten gelernt, die Beschränkungen ihres Körpers zu überwinden. Sie schliefen nicht, aßen nicht, froren nicht, litten nicht … Und sie brauchten keinen festen Boden unter den Füßen. Bedeutete das, dass Aer bereits einer von ihnen war? Beklommen beobachtete Bipa die Gestalt über dem Abgrund. »Sein Bewusstsein ist vielleicht schon ätherisch«, murmelte sie. »Aber er sieht noch … körperlich aus.« Er mochte schon lichtdurchlässig sein, so wie Lumen. Aber er konnte sich noch nicht Gewandelt haben. Nicht wenn er so aussah. Aber er fliegt. Oder schwebt. Wenn er das kann, kannst du es auch, beharrte die Stimme. Bipa schluckte. Und machte einen Schritt vor. Unter der Fußspitze spürte sie die Felskante und wich wieder zurück. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.« Dann löste sich Aers Silhouette im Dunst auf. 163
»Aer … nein!!«, schrie Bipa voller Entsetzen. Sie durfte ihn nicht verlieren … sie durfte ihn nicht verlieren … Das war ihr letzter und einziger Gedanke, bevor sie den nächsten Schritt machte. Ihr blieb keine Zeit, sich vorzubereiten, sich vorzustellen, dass sie fliegen würde, oder sich zu bemühen, ätherischer zu werden. Im Fallen krampfte sich ihr Magen zusammen und sie wurde von einer schrecklichen Panik ergriffen. Doch bereits nach Sekundenbruchteilen machte sie eine schmerzhafte Landung. Bipa schrie, als sie den Abgrund tief unter sich sah. Ihr aufgewühltes Bewusstsein realisierte erst nach einigen Sekunden, dass sie auf etwas Festem lag. Etwas Festem, Kaltem, Glattem und Unsichtbarem … oder besser gesagt, Durchsichtigem. Ihr Verdacht bestätigte sich, als Nevado ein wenig ungeschickt neben ihr landete. Bipa lachte und weinte gleichzeitig. Es gab doch eine Brücke. Eine Brücke aus Glas. »Ich wusste, dass Aer nicht so besonders ist, wie er mir einreden wollte«, sagte sie triumphierend. Sie stand vorsichtig auf. Am liebsten wäre sie hinter Aer hergelaufen, aber die Vernunft hielt sie zurück. Schließlich konnte sie die Brücke nicht sehen und wusste nicht, wie breit sie war. Ein falscher Schritt und sie würde wirklich in die Tiefe stürzen. Bipa blieb also nichts anderes übrig, als sich Schritt für Schritt über den Abgrund zu tasten. Nevado folgte ihr. Als sie schließlich Stunden später die Füße auf die andere Seite setzte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Soweit Bipa sehen konnte, wurde die Schneewüste bald von einer weiten gläsernen Ebene abgelöst und die164
se ging in der Ferne in ein spiegelglattes Meer über, in dem große Glasstücke schwammen. Verzweifelt hielt Bipa im Nebel nach Aer Ausschau. Aber sie konnte niemanden entdecken. Und hörte keinen Laut. Nicht das leiseste Lüftchen strich ihr durch die Haare oder kräuselte die Oberfläche des Meeres. Bipa wagte nicht, laut nach Aer zu rufen. Sie hatte das Gefühl, etwas Schreckliches werde geschehen, wenn sie die übernatürliche Stille zu durchbrechen wagte. Über dem Wasser schien sich der Nebel zu lichten. Irgendwo dort stand der Stern am Himmel, viel größer, heller und unheimlicher als in jener Nacht, als Bipa ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er übte eine geheimnisvolle Faszination auf sie aus. Bipa zögerte nicht länger. Sie musste sofort zu diesem Ort, zu dem der Stern den Weg wies. Das war die einzige Richtung, die Aer eingeschlagen haben konnte, auch wenn sie übers Meer führte. Wenn Aer durch die Luft gegangen war, konnte er ja vielleicht auch auf dem Wasser gehen. Das Meer war weiter entfernt, als Bipa gedacht hatte, aber sie legte keine Rast ein. Die Schneedecke wurde zusehends dünner, und der Boden, der darunter zum Vorschein kam, war ganz aus Glas. Bipa stellte sich keine Fragen mehr und überlegte auch nicht, was sie tun würde, wenn sie ans Ufer kam, oder warum sie Aer wieder aus den Augen verloren hatte. Das blaue Licht des Sterns schien die einzige Frage und die einzige Antwort zu sein. Bipa bewegte sich wie in Trance vorwärts, verspürte weder Hunger noch Durst und merkte auch nicht, dass sie schwitzte, denn für die steigenden Temperaturen war sie viel zu warm angezogen. 165
Tief in ihrem Inneren nagten leise Zweifel an ihr: Es konnte nicht sein, dass sie das Meer immer noch nicht erreicht hatten. Vielleicht war es nur eine Fata Morgana. Aber Bipa kümmerte sich nicht darum, ignorierte auch das beunruhigende Gefühl, dass das Licht des Sterns sie geradezu hypnotisierte. Schließlich holte ein seltsamer Laut sie langsam aus ihrer Trance. In dieser unermesslichen Glaswüste waren nicht einmal ihre Schritte zu hören. Aber nach und nach drang ein unangenehmes rhythmisches Geräusch in ihr Bewusstsein, das sie schon seit einer ganzen Weile begleitete: tschoff … tschoff … tschoff … Sie blieb irritiert stehen. Genau in dem Moment verstummte das Geräusch. Bipa blinzelte, über sich den Stern, der sie mit seiner ungeheuren Anziehungskraft zum Schloss der Kaiserin lockte. Aber Bipa hatte sich bereits umgewandt, um das Geräusch zu ergründen. Der Anblick, der sich ihr bot, holte sie vollends in die Wirklichkeit zurück und brannte sich unauslöschlich in ihre Netzhaut ein. Nevado. Das tschoff … tschoff … tschoff … begleitete die Schritte des Schneegolems, der kaum noch wiederzuerkennen war. Die Temperatur war beständig gestiegen, aber Bipa war so auf das blaue Licht fixiert gewesen, dass sie nicht bemerkte, was das für ihren Freund bedeutete. Nevado schmolz. Er sah schon ganz wässrig aus, als würde er stark schwitzen. Seine Hände waren nur noch zwei Stummel. Seine Füße befanden sich jetzt dort, wo vorher seine Knie gewesen waren. Die beiden Augenhöhlen waren fast verschwunden. Er war geschrumpft, wirkte fiebrig und vergänglicher denn je. 166
Und trotzdem war er ihr bis hierher gefolgt, treu bis ans Ende. Bipa schrie – ein Schrei, der in dieser trostlosen Einöde wie das Heulen eines Gespenstes klang. Hastig griff sie nach dem Opal und legte ihn Nevado auf die Brust. Aber der Edelstein sank ein, als wäre sein Körper aus Butter. »Ich muss dich fortbringen!«, rief sie. Ganz vorsichtig nahm sie Nevado an der Hand und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung, fort vom Stern. Sie versuchte sich fieberhaft zu erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal unbeschädigt gesehen hatte. Vielleicht nach der Überquerung des Abgrunds …? Und wie viel Zeit war seither vergangen? Würden sie es noch schaffen bis in die Gegend, in der es für Nevado kalt genug war? Oder war es schon zu spät? Nevados Hand wurde immer weicher und ihre eigenen Finger immer nasser … »Schnell, schnell, schnell!«, rief sie dem Golem zu, während sie ihn mit aller Kraft von dem Stern fortzog. Aber der überstürzte Rückzug währte nicht lange. Plötzlich tat es einen Ruck und Bipa hielt die Hand des Golems zwischen den Fingern – jetzt nur noch ein wässriger Schneeklumpen. Bipa starrte ihn fassungslos an und hob dann den Blick. Nevado war gestürzt. Er hatte mittlerweile fast keine Beine mehr und versuchte sich mit seinen Armstümpfen aufzurichten. Sein Kopf war nur noch eine unförmige Beule zwischen den Schultern. Er schmolz einfach weg. Als er Bipa sein klatschnasses Gesicht zuwandte, sah es aus, als weinte er. Bipa weinte ebenfalls. Sie kniete sich neben ihn und versuchte ihn wieder neu zu formen, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war. Was von Nevado übrig war, zerfloss ihr zwischen den Fingern. »Es muss doch … eine Lösung … geben«, stammelte sie. 167
Aber der Schnee verschwand zusehends und dafür wurde die Pfütze, in der der Golem lag, immer größer. Endlich gab Bipa sich geschlagen. Vorsichtig legte sie die Arme um Nevados Taille, die jetzt schmal und weich war, und bettete den Kopf an seine Brust. Als sie merkte, dass ihre Körperwärme den Golem noch schneller zum Schmelzen brachte, wollte sie sich von ihm lösen. Aber Nevado legte ihr die Armstümpfe um die Schultern. »Ich bleibe bei dir«, versprach Bipa ihm unter Tränen. »Ich bleibe bei dir …« Ihre Stimme wurde von einem Schluchzen erstickt. »Du bist … ein … Dummkopf«, stieß sie hervor. »Warum musstest du mir bis hierher folgen? Warum?« Wütend riss sie sich den Opal vom Hals und schleuderte ihn weit von sich. Dieser Edelstein hatte den verlassenen Schneegolem zum Leben erweckt und war wahrscheinlich der Grund dafür, dass er ihr überallhin folgte. Doch Nevado drückte Bipa weiterhin an sich, auch ohne Opal. »Du bist … ein Dummkopf«, schluchzte sie verzweifelt. Sie war klatschnass, wollte ihn jedoch so lange halten, wie es nur ging. So schmolz Nevado langsam in ihren Armen. Bald war von dem treuen Schneegolem nur noch eine Pfütze auf dem Glasboden übrig. Hätte sie doch nur eine Flasche aus Lumens Werkstatt mitgenommen! Vielleicht hätte sie dann das Wasser auffangen können und zu Hause wäre es wieder gefroren … Von Kummer überwältigt schüttelte Bipa den Kopf. Sie wusste, dass es Nevado nicht mehr gab. Er war fort, hatte sich aufgelöst und die Pfütze bestand nur aus ganz normalem Wasser. Dennoch hätte sie gern wenigstens ein bisschen davon 168
aufbewahrt, als Erinnerung. Sie tauchte die Fingerspitze in die Pfütze und führte sie zu einem letzten Abschiedskuss an die Lippen. Sie schloss die Augen, zu niedergeschlagen, um weiterzugehen. Und so verharrte sie eine Stunde, vielleicht auch zwei. Als sie die Augen wieder aufmachte, war nicht einmal mehr Wasser da. Nun war der Golem ganz und gar verschwunden. Bedrückt stand Bipa auf und heftete den Blick auf den Stern, der Aer so unerbittlich zu sich rief. »Sieh nur, was deinetwegen passiert ist!«, klagte sie mit belegter Stimme und wusste nicht, ob sie Aer, den Stern oder die Kaiserin meinte. »Aer!«, rief sie. »Wenn ich dich finde, bringe ich dich nach Hause, ob du willst oder nicht! Hörst du? Ich werde mir nicht einmal die Mühe machen, dich zu fragen!« Bipas Stimme versagte. Diese Reise war von Anfang an wahnwitzig gewesen, aber jetzt, nach Nevados Verlust, musste sie ihr unbedingt einen Sinn geben. Wenn sie Aer nicht fand, wenn sie ihn nicht nach Hause brachte, war Nevados Opfer vergeblich gewesen. Sie trocknete sich die Tränen, schulterte ihren Rucksack, holte den Opal und machte sich erneut auf den Weg.
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12 DAS MEER DER FLÜSSIGEN Mehrere Tage und Nächte lang ging Bipa ohne Unterbrechung auf den Stern zu. Sie empfand weder Müdigkeit noch Hunger oder Durst und blieb erst stehen, als sie endlich am Meer anlangte. Am Ufer war der Glasboden in riesige Platten zerborsten. Manche waren noch mit dem Festland verbunden, andere hatten sich gelöst und trieben auf dem Meer davon. Es war ein Anblick von einzigartiger Schönheit, aber Bipa war zu abwesend, um es zu bemerken. Als der Boden unter ihren Füßen vibrierte und das Stück Glas, auf dem sie stand, sich mit einem Knacken vom Rest löste, rührte sie sich nicht. Die Platte trieb auf dem Wasser, zunächst langsam, dann immer schneller auf den Stern zu, als würde auch sie von ihm angezogen. Bald verlor Bipa das Festland aus den Augen. Der Ozean, auf dem sie dahinsegelte, war glasklar und auf seiner spiegelglatten Oberfläche war keine einzige Welle zu sehen. Aber sie war nicht allein. Rechts und links von ihrem Glasfloß glitten Wesen durchs Wasser, als wollten sie sie begleiten. Sie waren zu durchsichtig, um richtige Fische zu sein. Außerdem schienen sie keine feste Form zu haben, sondern zogen sich in die Länge, schrumpften zusammen, dehnten sich wieder aus, verschmolzen miteinander oder lösten sich im Wasser auf. Irgendwann blieben diese Wesen zurück, dafür kamen andere, deren spindelförmige Leiber mächtige Rückenflossen hatten. Sie waren geformt wie Fische, groß und schlank, aber sie waren durchsichtig und bestanden ganz 170
und gar aus Wasser. Sie folgten Bipa, tauchten neben dem Floß her oder sprangen in die Luft, ohne auf dem glatten Meeresspiegel Wellen zu verursachen. Als Bipa sie bemerkte, streckte sie die Hand nach ihnen aus. Doch sie wichen wie im Spiel zurück. Bipa war noch nie in ihrem Leben am Meer gewesen, deshalb wusste sie nicht, dass diese Tiere keine Fische waren, sondern Delfine, Wasserdelfine, die sprangen und lachten, als hätten sie noch ihre festen Körper. Beim eisblauen Licht des Sterns ging die Reise weiter. Die Wasserdelfine tollten nach wie vor um sie herum, aber Bipa achtete nicht mehr auf sie, denn sie entdeckte erschrocken, dass ihr Glasfloß schmolz, als wäre es aus Eis. Bipa kauerte sich zusammen. Sie hatte nie schwimmen gelernt, aber seltsamerweise war es nicht das, was ihr die größten Sorgen bereitete, sondern dieses Wasser. Es war so rein, so klar. Sie fürchtete, selbst in diesem stillen Meer aufzugehen. Zu schmelzen, genau wie Nevado. Vielleicht würde aus ihr ein Fisch werden oder vielleicht Millionen von Tropfen, die sich im Ozean verloren. Ihr Floß wurde immer kleiner. Bald würde es verschwunden sein und sie würde ins Wasser sinken. Sie hob den Blick und suchte den Horizont ab. Da, ein schmaler Streifen! Vielleicht Festland? Das war aus dieser Entfernung schwer zu sagen. Voller Hoffnung beugte Bipa sich vor – verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Sie schrie vor Angst, paddelte wild und versuchte wieder auf ihr Glasfloß zu klettern, aber das war bereits zu klein, um sie zu tragen. Sie wollte um Hilfe rufen, doch das Wasser umfing sie, schob sie und zog an ihr, als wäre es lebendig. 171
Plötzlich spürte sie eine Bewegung neben sich und bekam Panik. Aber es war nicht das Wasser, sondern die seltsamen Delfine. Sie vollführten Pirouetten um sie herum und Bipa hätte schwören können, dass sie lachten. Sie versuchte sich an einem ihrer silbrigen Rücken festzuhalten, doch vergeblich. Die flüssigen Leiber waren nicht dazu gemacht, gepackt oder gestreichelt zu werden. Bipas Finger griffen durch sie hindurch und sie musste strampeln, um nicht unterzugehen. Es gab keine Rettung. Sie war noch zu opak, begriff sie. Zu körperlich, zu schwer. Sie würde sterben. Trotzdem gab Bipa nicht auf und kämpfte darum, sich über Wasser zu halten. Immer stärker hatte sie das Gefühl, das Wasser zerfresse ihr die Haut und raube ihr etwas von ihrem Wesen, falls so etwas möglich war. Als sie schließlich schon überzeugt war, keine Sekunde länger durchhalten zu können, zog etwas an ihr und hob sie aus dem Wasser. Bipa hustete und strampelte erleichtert und zugleich erschrocken. Ihre Füße berührten die Oberfläche des Wassers, ohne darin einzusinken, und einen Moment lang glaubte sie, sie hätte tatsächlich gelernt, auf dem Meer zu gehen. Aber schließlich gewann ihr gesunder Menschenverstand die Oberhand. Irgendjemand hatte sie aus dem Wasser gehoben und hielt sie immer noch fest. Sie drehte den Kopf. Hinter ihr stand eine Gestalt, deren Züge in Glas gemeißelt schienen. Einen Moment lang hielt Bipa sie für einen von Lux’ Golems, doch dann begriff sie, dass das hier ein Wesen aus Fleisch und Blut war. Allerdings war es fast durchsichtig und sah eigenartig flüssig aus. Bipa fürchtete schon, es sei ein Wasserwesen, so wie die Delfine, und werde sie gleich wieder fallen lassen, deshalb griff sie voller Panik nach seinem 172
Handgelenk. Das war fest, bemerkte sie erleichtert, wenn auch seltsam weich. Sie sahen sich kurz an. Bipa konnte nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Züge ihres Retters waren sehr fein, genau wie sein Haar, das geschwungen war wie der Kamm einer Welle und fast genauso fließend. Seine Augen hatten etwas von flüssigen Diamanten. »Du wiegst schwer«, bemerkte das Wesen mit einer Stimme, die dahinplätscherte wie ein Bach. Nicht einmal aus der Stimme konnte Bipa auf sein Geschlecht schließen. Sie wollte sich gerade für ihre Körperlichkeit entschuldigen, die in so offensichtlichem Gegensatz zu der ihres Retters stand, als dieser sie mit einem lauten Platschen ins Wasser fallen ließ. Zum Glück hielt er sie noch an den Kleidern fest, sodass ihr Kopf über Wasser blieb. Dann drehte er sich um und setzte sich in Bewegung, wobei er Bipa hinter sich herzog. Er ging auf dem Wasser, ohne einzusinken, glitt mit seinen leichten Füßen über den glatten Meeresspiegel. Verwundert ließ Bipa es geschehen. Ihr eigener Körper zerteilte die Wasseroberfläche und hinterließ eine deutlich sichtbare Spur. Ich bin so … körperlich …, dachte Bipa, bevor sie in eine eigenartige Trance verfiel. Aufgeweckt wurde sie von Wasserrauschen und dem Gefühl, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Benommen öffnete sie die Augen. Als Erstes erblickte sie eine gewölbte Decke, die in ständiger Bewegung war. Fasziniert sah Bipa sich um. Die Decke war flüssig. Der Boden unter ihr war aus Glas und ringsherum schoss Wasser aus dem Boden, das einen großen Bogen beschrieb, bevor es wieder nach unten fiel. Und dann waren da noch drei Wesen. Sie glichen Bi173
pas Retter. Alle waren durchsichtig und einander so ähnlich, dass sie kaum zu unterscheiden waren. Wegen ihrer Ausdruckslosigkeit hätte Bipa sie fast für besonders gut gearbeitete Golems gehalten, wenn sie nicht selbst Golems dabeigehabt hätten. Und was für welche! Schlanke, flüssige, wandelbare Geschöpfe ohne Gesicht, ohne festen Körper. Sie waren vollkommen durchsichtig und bewegten sich mit übernatürlicher Anmut, als wären sie den Gesetzen der Schwerkraft nicht unterworfen. Golems aus Wasser. Wie die Delfine, die Bipa im Meer gesehen hatte, nur von menschenähnlicher Gestalt. Bipa fand sie schön, aber auch unheimlich. Einer der echten Menschen trat vor. »Wir haben dich aus dem Meer gerettet«, sagte er mit einer Stimme, die an das Rauschen eines Wasserfalls erinnerte. »Aber du bist nicht wie die anderen. Was bist du?« Bipa schloss die Augen. Wer bin ich?, fragte sie sich. Sie hatte Mühe, sich ihre Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen: das Höhlendorf, die Wesen, die sie unterwegs kennengelernt hatte, alles, was sie auf ihrer Reise erlebt hatte. »Ich bin Bipa«, antwortete sie schließlich mit fester Stimme. »Ich komme aus den Höhlen und bin auf der Suche nach meinem Freund Aer. Habt ihr ihn gesehen?« Die drei sahen einander an. »Nicht, wenn er wie du ist«, sagte einer von ihnen. »Wie ich? Wie meint ihr das?« »Viele der sich Wandelnden kommen zum Meer der Flüssigen«, erwiderte ein anderer. »Aber jemanden wie dich haben wir noch nie gesehen. Du bist zu opak, um hier zu sein.« »Das habe ich schon öfter gesagt bekommen«, erwi174
derte Bipa bedrückt, dann hob sie interessiert den Kopf. »Was wollt ihr damit sagen? Dass Aer nicht mehr opak ist oder dass er hier nicht vorbeigekommen ist?« Die drei sahen sich wieder an. »Das wissen wir nicht«, antwortete der Dritte. »Alle sich Wandelnden sind gleich. Nur du bist anders.« »Hat er euch denn nicht einmal gesagt, wie er heißt?« Alle drei schüttelten gleichzeitig den Kopf und machten dabei ein plätscherndes Geräusch. »Nur die Opaken und die Lichtdurchlässigen haben Namen. Wir Durchsichtigen brauchen so etwas nicht. Und die Ätherischen auch nicht.« Bipa erschauerte. »Ist das Schloss der Kaiserin weit weg?« Der Erste deutete auf einen der Ausgänge. »Am Ende dieses Tunnels beginnt das Ätherische Reich«, sagte er. »Und in der Mitte des Reichs steht das Schloss.« Bipa zitterte. So weit hatte sie auf ihrer Reise nie kommen wollen. Sie hatte immer gehofft, Aer vorher einzuholen. Und jetzt wurde ihr klar: Wenn sie bis zum Schloss der Kaiserin wollte, ins Herz des Ätherischen Reichs, würde sie sich Wandeln müssen. Unwiderruflich. Aber dazu war sie nicht bereit. Nicht einmal Aer zuliebe. Sie überlegte. Bevor sie diesen Tunnel betrat, musste sie sich vergewissern, dass Aer tatsächlich hier vorbeigekommen war. Sie ließ den Blick über ihre drei Gastgeber schweifen: Einer von ihnen trug auf der Stirn einen Opal, der einem großen Tautropfen glich. Sie wandte sich an diesen, den sie im Geist »Eins« taufte: »Gibt es keine Möglichkeit, zweifelsfrei festzustellen, ob mein Freund hier war?« Eins blinzelte. »Hier kommen viele Leute vorbei«, erwiderte er, »aber niemand bleibt lange bei uns. Alle 175
Wandeln sich, werden ätherisch und brechen zum Schloss der Kaiserin auf.« »Wie lange?«, fragte Bipa ungeduldig. Zwei deutete auf die Wasserkuppel über ihnen. »Diejenigen, die den Schutz des Wassers schmähen, Wandeln sich schneller«, sagte er. »Nur diejenigen gehen hinaus, die sich noch nicht bereit fühlen«, bestätigte Drei. »Denn der schnellste Weg zur Kaiserin ist dieser Tunnel hier«, sagte Eins abschließend, »aber er ist nicht für alle geeignet.« Bipa versuchte sich einen Reim auf diese Angaben zu machen. »Ihr wollt damit sagen, wenn Aer noch zu opak war, läuft er noch da draußen herum. Und wenn er schon bereit war, als er ankam, wenn er sich schon genug Gewandelt hatte, dann ist er wohl durch diesen Tunnel hier ins Ätherische Reich aufgebrochen. Richtig?« Eins, Zwei und Drei nickten einhellig. »Aber du kannst diesen Tunnel nicht benutzen.« Eins durchschaute ihre Absichten. »Du bist zu …« »… opak«, kam Bipa ihm zuvor. »… konsistent«, sprach Eins den Satz zu Ende. Opak, konsistent, körperlich, fest – letzten Endes bedeutete alles dasselbe. Bipa befühlte den Arm des Wassermenschen neben sich und fand ihn weich, glibberig. Sie hielt seine Hand gegen das Licht. Durchsichtig. Bipa seufzte. Im Grunde wusste sie es seit ihrer Ankunft in der Glasstadt, im Reich der Lichtdurchlässigen, aber erst jetzt drang es ihr richtig ins Bewusstsein. Darin bestand also die Wandlung. Das hier strebte Aer freiwillig an. Wie er jetzt wohl aussah? So durchsichtig wie alle hier im Reich der Flüssigen? Würde sie ihn überhaupt noch wiedererkennen? 176
Sie hob ihre eigene Hand. Sie war bleich, so bleich, dass die Adern hindurchschienen. Aber sie war nicht durchsichtig, nicht einmal lichtdurchlässig. Noch nicht. Kritisch musterte sie ihre Gastgeber. »Ihr seid weich und durchsichtig geworden«, stellte sie fest. »Warum seid ihr dann noch hier? Wollt ihr euch etwa nicht vollständig Wandeln?« Es trat tiefes Schweigen ein, nur unterbrochen vom Plätschern des Wassers. »Man braucht Mut, um sich zu Wandeln«, antwortete Zwei. »Aha«, erwiderte Bipa. »Dann hoffe ich, Aer ist feige genug, um hiergeblieben zu sein.« Die drei starrten sie an, als hätte sie eine Gotteslästerung ausgesprochen. »Aber das bezweifle ich«, sagte Bipa unbeeindruckt. »Dummheit wird oft mit Mut verwechselt und ich muss zugeben, Aer ist ziemlich dumm.« Sie warf einen besorgten Blick in den Tunnel. Auch wenn sie nur Lobeshymnen über die Kaiserin vernommen hatte – sie war immer unsicherer, ob sie sie wirklich kennenlernen wollte. »Es gibt einen Weg herauszufinden, ob dein Freund hier vorbeigekommen ist«, sagte Eins daraufhin. Bipas Kopf schnellte herum. »Im Ernst? Wie denn?« »Komm.« Der Durchsichtige drehte sich um und betrat einen der anderen Tunnel. Bipa folgte ihm. Hinter dem Wasserschleier über ihren Köpfen konnte sie kleine Formen erkennen, die wie Fische aussahen. Sie versuchte sie zu berühren, aber ihre Finger glitten durch sie hindurch. Diese Fische waren genauso flüssig wie die Wassergolems. »Das hier ist ein weiteres Stadium des Wandels«, erklärte Eins, der ihre Gedanken erriet. »Bei uns werden alle Geschöpfe irgendwann flüssig. Deshalb suchen wir 177
Zuflucht in den Tunneln. Wenn man zu früh flüssig wird, kann man nämlich nicht mehr zur Kaiserin gelangen.« Bipa musste an Nevado denken und wurde traurig. Aber etwas an Eins’ Worten ließ sie aufhorchen. »Vorhin hast du gesagt, außerhalb der Tunnel würde man sich schneller Wandeln«, erinnerte sie sich. »Und jetzt sprichst du wieder davon, dass ihr Zuflucht in ihnen sucht. Warum? Was bringt die Leute dazu, sich zu Wandeln?« Eins wirkte verwirrt. »Natürlich ihr Wunsch, sich zu Wandeln«, antwortete er. »Man geht ins Freie, weil man sich Wandeln will. Wenn man Angst hat, bleibt man hier, in Sicherheit.« »In Sicherheit wovor?« Bipa wollte es genau wissen. Eins blieb stumm. Zum ersten Mal auf ihrer Reise machte sie sich Gedanken über die Gründe des Wandels. Sie wusste, dass er eine unabdingbare Voraussetzung war, um zur Kaiserin zu gelangen, aber … wie ging er vor sich? Genügte es wirklich, ihn zu wollen? Ich will ihn nicht, sagte sie sich. Und sie war ja tatsächlich nach wie vor opak. Wenn auch weniger. Sie betrachtete ihre Haarspitzen: Früher waren sie dunkelbraun gewesen, jetzt waren sie weiß wie Schnee. Ich bin dabei, mich zu Wandeln, dachte sie. Vielleicht nicht so schnell, wie ich sollte. Oder vielleicht bewege ich mich zu schnell von einer Etappe zur nächsten. So wie ich aussehe, sollte ich mich noch bei Eiselda oder in der Glasstadt aufhalten, nicht hier. Und doch bin ich dabei, mich zu Wandeln. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte sie ihren Gastgeber unvermittelt. 178
Dieser sah sie verwirrt an. »Wie lange?«, wiederholte er, als wäre Zeit für ihn eine unbekannte Größe. Bipa deutete auf den Opal an seiner Stirn. »Damit erweckst du die Wassergolems zum Leben«, sagte sie. »Wenn du eine solche Verantwortung hast, kannst du nicht erst kürzlich angekommen sein.« Eins legte die Fingerspitze auf den Opal, fast als bemerkte er ihn zum ersten Mal. »Noch nicht lange«, antwortete er. »Sonst wäre ich schon völlig flüssig geworden. Wie Alles.« Bipa blinzelte. Eins hatte das Wort »Alles« auf besondere Weise ausgesprochen, als meinte er jemand Bestimmten und nicht etwas Abstraktes. »Alles? Was ist Alles?« »Du wirst ihn gleich sehen.« Mit einem Mal wurde Bipa unruhig. »Er heißt Alles? Aus einem besonderen Grund?« »Weil er Alles ist«, antwortete Eins ein wenig barsch. »Und jetzt hör auf mit der Fragerei. Sie zwingt mich zum Nachdenken.« »Das erklärt natürlich vieles«, bemerkte Bipa spöttisch. Aber Eins blieb stumm. Schließlich mündete der Tunnel in einen großen Saal, dessen Wände ebenfalls aus Wasser bestanden, das in mächtigen Fontänen aus dem Boden schoss und über ihnen eine Kuppel von atemberaubender Schönheit bildete. Der Raum selbst war ziemlich trocken. »Ich warte hier auf dich«, sagte der Durchsichtige. »Der Golem wird dich begleiten.« Gerade hatte sich ein Wassergolem direkt aus der Wasserwand gebildet. Er führte sie mit fließenden, eleganten Bewegungen in die Mitte des Saals. Bipa blickte sich suchend nach diesem Alles um oder nach einer Tür, 179
die zu ihm führte. Aber hier gab es nur ein großes Wasserbecken im Boden. Der Wassergolem blieb am Rand des Beckens stehen. »Was denn?«, fragte Bipa. »Wo ist Alles?« Der Golem wandte sein ausdrucksloses Gesicht dem Wasser zu. »Kann mir jemand sagen, was ich tun soll?«, fragte Bipa ungehalten. Sie kniete sich auf den Glasboden. Vielleicht musste sie von dem Wasser trinken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon lange nichts mehr gegessen und getrunken hatte. Sie vermisste es auch gar nicht. Kaum berührten ihre Fingerspitzen das Wasser, da geriet es in Bewegung. Überrascht und ein wenig beklommen beobachtete Bipa, wie die Wellen sich unnatürlicherweise an einer einzigen Stelle konzentrierten und schließlich ein Gesicht bildeten, ernst, ausdruckslos, so wie die Gesichter im Tunnel der tausend Masken. »Bist du … Alles?«, fragte Bipa vorsichtig. Das Gesicht sprach nicht mit einer menschlichen Stimme, sondern mit dem Blubbern fließenden Wassers: »So nennt man mich.« »Warum?« »Weil ich das Wasser bin. Weil ich mich in diesem Becken hier zusammenziehen, aber auch blitzschnell bis in den letzten Winkel des Reichs der Flüssigen ausdehnen kann. Deshalb bin ich Alles. Und deshalb werde ich Alles genannt.« »Aber du zeigst dich mir mit dem Gesicht eines Menschen.« Bipa musste an Eins’ Worte denken. »Hast du einmal einen festen Körper gehabt?« »Ja«, antwortete Alles, »aber ich habe mich hier zu lange aufgehalten und mich zu schnell Gewandelt. Ich 180
bin flüssig geworden, habe mich mit dem Wasser vermischt und jetzt kann ich mich nicht weiter Wandeln. Und deshalb«, fügte er hinzu, »kümmere ich mich vor allem darum, die Wassertunnel in Ordnung zu halten.« Bipa sah zu der fantastischen Wasserkuppel auf. »Ist das hier dein Werk?« »Es ist Teil von mir.« Bipa hätte ihn gern nach den Wassergolems gefragt, nach dem Weg des Wandels, nach dem Stern … nach so vielen Dingen, die ihr fremd waren, nach so vielen Rätseln, die Alles womöglich erklären konnte. Aber er konnte jeden Moment verschwinden, sich im Wasser auflösen, deshalb beschränkte sie sich auf die dringendste Frage: »Ich suche einen Freund von mir. Er heißt Aer. Ist er hier vorbeigekommen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Alles. »Dazu müsste ich ihn gesehen haben.« »Ich kann ihn dir beschreiben«, schlug Bipa hastig vor. »Das nützt nichts«, widersprach Alles lächelnd. »Wenn die sich Wandelnden hier eintreffen, sehen sie alle gleich aus. Aber lass mich durch deine Augen schauen. Beug dich zu mir herunter.« Als Bipas Nase fast schon die Wasseroberfläche berührte, tauchte Alles’ flüssiges Gesicht direkt unter ihr auf und seine Lippen pressten sich auf die ihren. Bipa schrie auf und schrak hoch. »Das war aber nicht nett von dir«, sagte Alles tadelnd. »Willst du deinen Freund nun finden oder nicht?« Bipa seufzte. Anstelle einer Antwort holte sie tief Luft und beugte sich wieder über das Becken. Erneut tauchte Alles’ Gesicht unter ihr auf, erneut pressten sich seine flüssigen Lippen auf ihre. Diesmal überließ Bipa sich 181
jedoch mit angehaltenem Atem der Macht des Wassers und tauchte mit dem Gesicht unter. Sie öffnete die Augen, aber alles war dunkel. Als sie spürte, dass ihre Lungen gleich bersten würden, richtete sie sich auf und holte keuchend Luft. Alles’ Gesicht tauchte wieder auf. Bipa fürchtete schon, es sei noch nicht genug gewesen, aber er sagte nur: »Ich habe ihn gesehen.« Bipas Herz schlug schneller. »Wo?«, fragte sie. Alles’ Gesicht verschwand und auf der spiegelglatten Wasseroberfläche zeigten sich Bilder, die Bipa mit Sehnsucht erfüllten. Die Höhlen. Ihr Vater. Maga. Und Aer. Aer mit dieser dummen Quarzplatte im Schlepptau, Aer, wie er auf den Hügel stieg, um den Stern zu sehen, Aer, wie er Schneebälle warf und herumalberte, Aer, wie er an ihrer Tür zusammenbrach … Aer, wie er halb sehnsüchtig, halb entschlossen den Horizont absuchte. »Das ist er«, keuchte Bipa fast außer Atem. »Aber das sind Bilder von früher. Als wir noch in den Höhlen gewohnt haben.« Seither schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. »Und wo bin ich?« »Auf der anderen Seite«, antwortete Alles blubbernd. »Diese Bilder sind deine Erinnerungen. Du hast sie selbst in deinem Gedächtnis gespeichert.« Während Bipa weiter zusah, stellte sie nicht ohne Scham fest, dass sie Aer immer viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als sie hatte wahrhaben wollen. »Gut«, sagte sie, noch ohne sich vom Anblick ihrer Erinnerungen losreißen zu können. »Jetzt kennst du Aer. Und – hast du ihn gesehen?« Plötzlich brachen die Bilder ab und im Becken spie182
gelten sich wieder Bipas Züge. Alles’ Blubbern holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Das hier sind meine Erinnerungen«, sagte er. Jetzt waren Bilder aus dem Reich der Flüssigen zu sehen, diesem weiten, glasklaren Meer, das mit einem ausgedehnten Netz von festen Wegen durchzogen war. Diese ermöglichten es den Durchsichtigen, sich auf dem Wasser fortzubewegen, ohne unterzugehen, das war klar. Aber … warum mussten sie mit Wasser überdacht sein? Bipa begriff es fast im selben Moment, als Alles weitersprach. »Du hast es erraten«, sagte er. »Die Glaswege müssen überdacht sein, sonst werden sie flüssig, so wie alles andere.« Bipa musste an ihr Floß denken, das wie Eis am Feuer geschmolzen war. »Das Licht des Sterns bewirkt, dass alle Dinge und Menschen immer körperloser werden«, erklärte Alles weiter. »Nichts Opakes darf das Schloss der Kaiserin entweihen. Deshalb dient ihr Stern den sich Wandelnden als Wegweiser und hält die ab, die sich noch nicht Gewandelt haben.« »Aber du sorgst dafür, dass die Wege über das Meer fest bleiben«, sagte Bipa, während sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. »Du schützt sie mit einem Dach aus Wasser. Warum?« »Weil Wasser das einzige Element ist, das ich in meinem Zustand verwenden kann.« »Nein, das meine ich nicht. Ich wollte wissen, warum du Wege über das Meer spannst. Wenn der Stern der Kaiserin dient und sie nicht will, dass etwas Festes in ihr Schloss gelangt, warum hilfst du dann den sich Wandelnden beim Überqueren des Meeres?« »Weil die Wandlung bei den meisten ein längerer Pro183
zess ist. Oft helfen ihnen meine Wege dabei, sich zur rechten Zeit zu Wandeln – nicht zu früh und nicht zu spät. Ohne meine Wassertunnel würden viele am Ufer bleiben und dort flüssig werden …« »… so wie Schneegolems«, sagte Bipa halblaut. »… so wie es mir passiert ist«, sprach Alles den Satz zu Ende. Nun zeigten die Bilder jemanden, der unerschrocken auf einem Glasweg übers Meer ging. Er war schlank, sehr schlank, und bewegte sich mit der Anmut und Eleganz eines Wassergolems. Das schneeweiße Haar ergoss sich wie ein Wasserfall über seine Schultern. Sein Gesicht war bleich wie Kreide, seine Augen zwei Knospen aus Wasser. »Das kann er nicht sein«, flüsterte Bipa. »Er sieht fast aus wie ein Gespenst.« »Er ist schon beinahe ätherisch«, bestätigte Alles mit einem melancholischen Unterton. »Ihm fehlt nur noch wenig zur Vollkommenheit.« »Vollkommenheit!« Bipa traute ihren Ohren nicht. »Er … er ist ja nur noch ein Schatten seiner selbst! War das der Stern? Aber …« Verwirrt starrte sie ihre Hände an. »Aber ich habe denselben Weg zurückgelegt wie er. Und ich bin nach wie vor opak.« »Du bist in der Erde verwurzelt«, erwiderte Alles ein wenig vorwurfsvoll. »Du trägst das Zeichen der Göttin. Du tätest gut daran, damit das Schloss der Kaiserin nicht zu betreten.« »Das Zeichen der Göttin?«, wiederholte Bipa. Sie griff sich an den Opal. »Er ist der Fluch aller sich Wandelnden«, sagte Alles voller Groll. »Viele sehnen sich danach, so einen Stein zu besitzen, weil er ihnen die Macht gibt, Golems zum 184
Leben zu erwecken. Aber gleichzeitig sorgt er dafür, dass sein Träger seinen Körper behält.« So etwas Ähnliches hatte Bipa auch schon von Lumen gehört. »Willst du damit sagen, dass der Opal mich vor dem Einfluss des Sterns schützt?«, fragte sie. »Und dass ich mich deswegen nicht Gewandelt habe, so wie Aer?« »Deswegen und weil du dich gar nicht Wandeln willst«, erwiderte Alles überheblich. »Aber ja, du hast recht«, fügte er versöhnlicher hinzu. »Ohne den Opal wirst du dich schneller Wandeln. Diese Steine setzt die Göttin im Kampf gegen ihre Rivalin als Waffe ein und das hat die Kaiserin natürlich gar nicht gern.« »Die Göttin ist die Erde, auf der wir stehen.« Das hatte Bipa von Maga gelernt. »Sie lässt die Pflanzen gedeihen, nährt das Feuer, bringt das Blut in unseren Adern zum Fließen. Die Göttin ist das Leben. Was ist diese Kaiserin bloß für ein Mensch, dass sie sie so hasst?« Alles lachte. »Wie wenig du weißt, junge Opake. Du bist zur Kaiserin unterwegs und hast doch keine Ahnung, wer sie ist …« »Ich bin nicht zur Kaiserin unterwegs«, stellte Bipa mit gerunzelter Stirn richtig. »Ich bin auf der Suche nach Aer. Und ich kann nichts dafür, dass er es sich in den Kopf gesetzt hat, zu einer Art Geist zu werden.« Alles lächelte. »Du solltest aber wissen, was auf dich zukommt. Wenn du die Göttin verehrst, ist es keine gute Idee, dich der Kaiserin zu nähern. Sie sind seit jeher verfeindet. Früher wurde unsere Welt von der Göttin regiert, die ihre Geschöpfe ständig daran erinnerte, dass sie aus unreiner Materie gemacht waren. Dass sie einen Körper hatten, der von einem anderen Körper abstammte, den man ernähren musste, der heranwuchs und alterte, der Schmerz, Hunger und Durst empfand, Schlaf brauchte 185
und den Drang verspürte, sich mit anderen Körpern zu verbinden. Alle Lebewesen waren Sklaven ihrer Körperlichkeit. Und wenn dieser Körper schließlich starb, wurde er wieder zu Erde, kehrte in den Schoß der Göttin zurück. Er gehörte ihr von Geburt an, bis die Erde ihn wieder aufnahm. So weit ging ihre Herrschaft. All das änderte sich mit der Kaiserin. Sie besiegte die Göttin und zwang sie, sich tief in die Erde zurückzuziehen, wo sie bis heute gelegentlich Steine spuckt – Opale, die etwas von ihrer Macht enthalten.« »Die Macht des Lebens«, rief ihm Bipa fast schroff in Erinnerung. »Aber jetzt herrscht die Kaiserin über die Welt«, fuhr Alles unbeeindruckt fort. »Sie kam und bot uns die Möglichkeit, uns von der Sklaverei unserer Körper zu befreien. Sie lehrte uns, uns zu Wandeln. Sie gab uns Gelegenheit, in die Unsterblichkeit einzugehen.« »Die Unsterblichkeit«, rief Bipa verächtlich. »Was hat man davon, wenn man dafür aufs Leben verzichten muss?« »Die Unsterblichkeit«, erwiderte Alles, »ist die Freiheit, nach der sich all diejenigen sehnen, die Sklaven ihres Körpers sind. Das ist deinem Freund klar. Er weiß, dass das, was die Kaiserin ihm bietet, mehr wert ist als ein kurzes Leben, in dem er nichts anderes tun würde, als sich zu ernähren, zu schlafen, älter zu werden und Kinder großzuziehen, die genauso Sklaven sein würden wie er. Deshalb hat er sich von dir abgewandt. Von dir und von allem, was er kannte. Er weiß ganz genau, dass es nichts Kostbareres gibt als das Geschenk der Kaiserin. Was könntest du ihm denn bieten?« Bipa wurde wütend. »Das Leben zu leben«, konterte sie, »das ist das Kostbarste überhaupt. Wer nie gefroren 186
hat, weiß ein Feuer nicht zu schätzen. Wer nie geweint hat, kann die fröhlichen Momente nicht genießen. Wer nie Hunger gehabt hat, weiß nicht, wie köstlich ein Schmorbraten schmecken kann. Wer den Tod nicht kennt, wird keine Liebe zum Leben empfinden. Das ist es, was Maga mir beigebracht hat. Die Ätherischen verlieren die Fähigkeit zu fühlen, ihr Herz zu öffnen. Genau das bringt uns aber dazu, das Leben zu lieben. Die Ätherischen suchen ein Leben ohne Grenzen und verzichten gleichzeitig auf alles, was es lebenswert macht. Ihr Leben wird ewig sein, ja, aber auch leer und inhaltslos. Das weißt du genau«, schloss sie. »Du behauptest, Alles zu sein, aber du steckst in einem flüssigen Gefängnis fest. Du behauptest, keine körperlichen Bedürfnisse zu haben, aber du hast mir einen Kuss gestohlen. Nur um dich daran zu erinnern, was man empfindet, wenn man eine Frau küsst.« Alles erwiderte nichts. Zum ersten Mal nach langer Zeit stand Bipa selbstsicher und zuversichtlich auf. »Du bist nicht Alles«, verkündete sie. »Du bist zum Beispiel nicht ich. Denn ich besitze noch einen Körper, der mich abgrenzt. Und ich habe noch meinen Namen. Und ich weiß, dass du dich gern an deinen eigenen erinnern würdest.« »Du lügst«, stammelte das Wasserwesen. »Aus deinem Mund spricht die Göttin und versucht mich zu verunsichern. Du …« Bipa verließ den Saal, ohne noch länger auf Alles’ Blubbern zu achten. Der Wassergolem begleitete sie in den Raum zurück, von wo der Tunnel ins Ätherische Reich abging. Dort wurde sie von zwei Durchsichtigen erwartet. Sie erkannte nur Eins am Opal auf seiner Stirn. 187
»Hast du schon entschieden, was du jetzt machst?«, fragte er. »Ja«, antwortete Bipa. »Ich nehme den Tunnel zum Ätherischen Reich. Und zwar sofort«, fügte sie nach einer Pause hinzu. Sie war nämlich weder müde noch hungrig. Ätherisch zu werden hatte auch seine guten Seiten. Die beiden Durchsichtigen sahen sich verblüfft an. »So kannst du nicht aufbrechen!« »Warum denn nicht?« »Du bist zu körperlich. Du gehst unter.« Irgendwann würde sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen haben, begriff Bipa. Da fiel ihr die Glasplatte ein, die ihr als Floß gedient hatte. »Ich gehe nicht unter«, versicherte sie ihnen. »Das Gute am Körperlichsein ist, dass mein Gehirn noch nicht so aufgeweicht ist wie euers.« Die Durchsichtigen wirkten nicht gekränkt. Ein wenig argwöhnisch folgten sie ihr in den Tunnel, der ins Reich der Kaiserin führte. Wie vermutet verlor sich der Glasboden nach kurzer Zeit im Wasser. Bipa kniete sich ans Ufer und versuchte ein Stück Glas vom Rand abzubrechen. Erst beim dritten Versuch erhielt sie, was sie wollte: eine längliche Scherbe, die spitz zulief wie ein Dolch. Dann drehte sie sich um und begann mit ihrem neuen Werkzeug auf den Boden zu hämmern. »Was machst du denn da?«, wollte Eins wissen. »Ich will mir ein Floß bauen, so wie das, das mich hergebracht hat«, erklärte Bipa. »Aber du darfst den Tunnel nicht zerstören.« »Das tue ich auch nicht. Ich brauche nur ein Stück vom Boden, das groß genug ist, dass es mich transportieren kann.« 188
Eins wirkte nicht recht einverstanden und versuchte Bipa die Scherbe wegzunehmen – mit dem Ergebnis, dass beide sich an ihren scharfen Kanten schnitten. Bipa schrie vor Schmerz auf, ließ die Scherbe los und steckte sich den verletzten Finger in den Mund. Zu ihrer Verblüffung entdeckte sie, dass ihr Blut nicht rot war, sondern blass-rosa. Doch es stand in lebhaftem Kontrast zum Blut von Eins. Der Durchsichtige ließ keine Anzeichen von Schmerz erkennen, obwohl er sich tiefer geschnitten hatte als sie selbst. Aus seiner Wunde tropfte eine völlig farblose Flüssigkeit. »Wasser! Das kann doch nicht sein«, stammelte Bipa. »Du hast Wasser in den Adern!« Eins versuchte sie festzuhalten, aber Bipa sprang entsetzt zurück. Beim Aufprall begann der Boden unter ihnen zu schwingen. Die Durchsichtigen rührten sich nicht. Bipa sprang erneut. Es war ein Knirschen zu hören. »Holt sie dort weg«, befahl Eins den Wassergolems. Gehorsam bewegten sich die Geschöpfe auf Bipa zu. Bipa sprang zum dritten Mal. Da löste sich die Glasplatte, auf der sie stand, mit einem Knacken und glitt langsam in den Tunnel hinein. Bipa sah Eins und dem anderen Durchsichtigen ins Gesicht. Obwohl sie ausdruckslos waren wie Eismasken, war ihre Fassungslosigkeit mit Händen zu greifen. »Tut mir wirklich leid!«, rief sie ihnen zu, während sie davonsegelte. »Ich wollte nicht grob werden! Aber ich muss Aer finden!« … bevor es zu spät ist, fügte sie im Stillen hinzu. Ob er noch Blut in den Adern hatte? Ob er noch etwas empfinden konnte? Wie auch immer, sagte sie sich. Ich muss ihn nach Hause zurückbringen. Wie sollte sie Nuba erklären, dass ihr Sohn sich in ei189
nen Ätherischen ohne Körper verwandelt hatte? Würde es ihr ein Trost sein zu wissen, dass er nun unsterblich war? »Du wirst nicht bis ans Ziel gelangen«, blubberte da eine bekannte Stimme. Bipa zuckte zusammen. Neben ihr zeichnete sich Alles’ flüssiges Gesicht auf der Wasseroberfläche ab. »Das ist mir egal«, erwiderte Bipa. »Ich habe gar nicht vor, ans Ziel zu gelangen. Ich will nur Aer finden.« »Siehst du? Du bist eine Sklavin deiner Gefühle.« »Das ist mir lieber, als eine Sklavin der Kaiserin zu sein. Meinst du, ich wüsste nicht, dass das Licht dieses Sterns die Leute hypnotisiert? Das nennst du Freiheit?« Alles warf ihr einen unergründlichen Blick zu. »Ich könnte dich jetzt sofort kentern lassen«, sagte er. »Dann würdest du es bereuen, opak zu sein und nicht auf dem Wasser gehen zu können.« »Und wirst du es tun?«, fragte Bipa nervös. »Nein«, antwortete Alles. »Es ist mir egal, was du sagst oder tust. Du bist mir egal. Völlig egal.« Mit diesen Worten tauchte er unter und löste dabei nur eine leichte Welle aus. Bipa wartete, doch es geschah nichts. Das Meer blieb ruhig und das Glasfloß segelte weiter unter dem Wassergewölbe dahin.
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13 DIE FAST-ÄTHERISCHEN Plötzlich zerriss der flüssige Vorhang. Bipa konnte gerade noch den blauen Stern groß über sich am Himmel leuchten sehen, da stürzte sie zusammen mit ihrem Glasfloß auch schon einen Wasserfall hinunter, durch eine eigenartige Nebelbank hindurch. Sie fiel und fiel, und als sie schon dachte, es werde gar kein Ende mehr nehmen, landete sie auf einem seltsam weichen Untergrund. Stöhnend richtete Bipa sich auf. Der Boden unter ihr sah aus wie normale Erde, war aber völlig farblos und ohne Festigkeit: Er war so durchsichtig wie Wasser und weich wie ein Federkissen. Wohin war sie gefallen? Bipa schaute nach oben, sah jedoch nichts als Nebel. Die Fluten des Wasserfalls verschwanden, bevor sie den Boden berührten, das Wasser verflüchtigte sich einfach, bis nichts mehr übrig war. Das ist der Stern, dachte Bipa. Er bewirkt, dass sogar Wasser und Erde an Festigkeit verlieren. Er verwandelt sie in Luft, in Dunst. Etwas Derartiges hatte sie noch nie gesehen. Im Reich der Kaiserin löste sich sogar der Boden auf. Deshalb war sie so lange gefallen. Der Nebel, durch den sie gesunken war, war früher fester Boden gewesen. Und der Boden, auf dem sie jetzt stand, war dabei aufzusteigen, sich in Luft aufzulösen – unter dem Einfluss des blauen Sterns, der im Lauf der Zeit ein unvorstellbares Loch in die Erdoberfläche gefressen hatte. Bipa lief es kalt über den Rücken. Sie tappte aufs Ge191
ratewohl in den Nebel hinein und rief laut nach Aer, erhielt jedoch keine Antwort. Also entschied sie sich, der Spur des eisblauen Lichts zu folgen, auch wenn sie nicht besonders erpicht darauf war, Bekanntschaft mit der Kaiserin zu machen. Diesen Weg hatte vermutlich auch Aer eingeschlagen. Sie rief nach ihm, während sie sich weiter durch den Nebel tastete. Aber alles blieb immer gleich, als wäre die Zeit stehen geblieben, und irgendwann verstummte Bipa, ohne es zu merken. Sie hatte schon die Hoffnung aufgegeben, auf irgendetwas oder irgendjemanden zu stoßen, als sie stolperte und hinfiel. Der Sturz war zwar nicht schmerzhaft, aber er rüttelte sie wach. »He!«, rief sie. Da war nichts. Sie kniff die Augen zusammen, um im Nebel etwas zu erkennen. Den Sturz hatte sie sich doch nicht eingebildet! Pass auf, wo du hintrittst, Opake, knurrte da eine Stimme in ihrem Kopf. Bipa hätte beinahe aufgeschrien. Diese Worte hatte sie nicht mit ihren Ohren gehört. Verlor sie allmählich die Nerven? Sei doch nicht so grob zu ihr, sagte da eine weichere, sanftere Stimme. Sie ist keine Opake, sondern eine Blasse, fast Lichtdurchlässige, siehst du das denn nicht? Sie kam mir sehr körperlich vor, als sie mich angerempelt hat. Sieh sie dir doch an, sie hat sogar klare Konturen. Versuch mir nichts einzureden: Sie ist eine hundertprozentige Opake. Aber das brauchst du der Ärmsten doch nicht so unter die Nase zu reiben. Bestimmt kann sie nichts dafür. Manche Menschen haben Schwierigkeiten, sich zu Wandeln. Man muss Verständnis für sie haben. 192
»Wer seid ihr?«, wollte Bipa halb argwöhnisch, halb verärgert wissen. »Warum kann ich euch nicht sehen?« Sie hat sogar eine Stimme, klagte die erste Stimme. Das hat uns gerade noch gefehlt: eine Opake, die Lärm macht. Mich kannst du sehr wohl sehen, ließ die zweite Stimme ein wenig traurig vernehmen. Du brauchst dich nur umzudrehen. Bipa tat wie geheißen und entdeckte zu ihrem Erstaunen ein Mädchen ihres Alters, extrem blass und extrem dünn. Langes, makellos weißes Haar rahmte ihr Marmorgesicht ein. »Bist du … eine Ätherische?«, fragte Bipa fasziniert. Das Mädchen bewegte sich mit übernatürlicher Eleganz, noch anmutiger als die Wassergolems. Sie schien im Nebel geradezu zu schweben. Fast. Das Mädchen brauchte zum Sprechen nicht die Lippen zu bewegen. Ich bin unstofflich, das bedeutet, ich bin sichtbar, aber man kann mich nicht anfassen. Mein Freund, mit dem du gerade zusammengestoßen bist, fügte sie hinzu, ist unsichtbar. Du kannst ihn also nicht sehen, aber sehr wohl anfassen. Richtige Ätherische hingegen kann man weder sehen noch anfassen, schloss sie in verträumtem Ton. »Wenn man sie nicht sehen und auch nicht berühren kann«, überlegte Bipa, »woher weiß man dann, dass es sie überhaupt gibt?« Auch die Luft kann man nicht sehen und nicht anfassen und doch weiß man, dass es sie gibt, mischte sich der Unsichtbare ein. »Stimmt, wenn es sie nicht gäbe, könnte ich nicht atmen und würde ersticken.« Das ist bei dir so, weil du noch atmest. 193
Bipa blinzelte entgeistert. »Habt ihr überhaupt keinen Körper mehr?« Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann erklang die telepathische Stimme des Unsichtbaren, diesmal geradezu empört. Wo kommt denn dieses Dummchen her? Bipa verstand nicht, warum ihr mangelndes Wissen ihr peinlich sein sollte. »Wie könnt ihr sicher sein, dass ihr nicht tot seid?«, beharrte sie. Sie ist völlig verwirrt, die Ärmste, sagte die Unstoffliche mitfühlend. Wir sind nicht tot, wir sind nur dabei, uns zu Wandeln, verstehst du? Unsere Körper sind immer weicher geworden, bis sie sich völlig aufgelöst haben. jetzt sind wir nicht mehr in unserer fleischlichen Hülle gefangen. Wir brauchen zum Denken kein Gehirn mehr, wir sehen ohne Augen, sprechen ohne Stimme. Wir sind auf unser wahres Wesen reduziert, ohne Ballast, ohne Grenzen. Wir sind das Reinste, was in uns steckte, nur noch Geist. Sprich für dich selbst, knurrte der andere. Ich bin nur unsichtbar. Ich kann immer noch von opaken Trampeltieren angerempelt werden. Bipa ignorierte ihn. »Wenn dein Herz nicht mehr schlägt, kannst du nicht mehr am Leben sein«, befand sie. »Und wenn du nicht am Leben bist, weil du kein Herz mehr hast, kannst du nur tot sein.« Es gibt noch andere Stadien als Leben und Tod, erwiderte die Unstoffliche, aber sie klang ein wenig verunsichert. Bipa mochte sie und wollte sich nicht mit ihr streiten, deshalb wechselte sie das Thema. »Ich heiße Bipa«, sagte sie. »Ich suche einen Freund von mir. Er heißt Aer. Habt ihr ihn gesehen?« Keiner von beiden reagierte. Da fiel Bipa ein, dass 194
Ätherische mit Namen wenig anfangen konnten. »Er muss vor Kurzem angekommen sein. Er ist etwa so alt wie ich.« Warum suchst du ihn?, wollte der Unsichtbare wissen. Sie konnte ihnen unmöglich sagen, was sie wirklich mit Aer vorhatte. Diese Menschen – falls sie überhaupt noch Menschen waren – waren der Ansicht, ätherisch zu werden war das Beste, was jemandem passieren konnte. Sie würden nicht verstehen, dass sie Aer von der Kaiserin und ihrem unheilvollen Stern fernhalten wollte. »Er ist mein Freund«, erwiderte sie nur. Die Ärmste, sagte die Unstoffliche noch einmal. Deshalb ist sie so durcheinander. Sie sind zusammen aufgebrochen und dann konnte sie nicht mit ihm Schritt halten. Ich frage mich, warum, sagte der Unsichtbare hämisch. Sei nicht so gemein, schalt die Unstoffliche. Alle Neuen gehen schnurstracks zum Schloss der Kaiserin, erklärte sie Bipa. Dort versuchen sie Aufzusteigen. Wenn sie so weit sind, gelingt es ihnen und sie verwandeln sich in Ätherische. Für einen Moment wurde ihr Ton ganz schwärmerisch. Wenn nicht, halten sie sich noch eine Weile hier auf. Zu denen gehören wir, fügte sie hinzu, plötzlich ganz traurig. »Dann«, wollte Bipa sich vergewissern, »muss man also noch eine weitere Prüfung bestehen, bevor man zur Kaiserin gelangt. Das heißt, Aer ist höchstwahrscheinlich noch hier.« Oh, manche schaffen es auf Anhieb, erwiderte die Unstoffliche beschwichtigend, weil sie Bipa falsch verstanden hatte. Vielleicht gehört dein Freund ja dazu. Manche vernehmen den Ruf der Kaiserin lauter als andere. Beneidenswert, fügte sie sehnsüchtig hinzu. 195
»Aber wenn du ganz ätherisch wirst«, konnte Bipa sich nicht verkneifen zu fragen, »verlierst du dann auch deine Sichtbarkeit? Kann dich dann niemand mehr sehen?« Mich kann man auch nicht sehen, warf der Unsichtbare ein, aber keine von beiden achtete auf ihn. »Was bist du dann?« Bipa ließ nicht locker. »Was wird dann aus dir?« Dann bin ich ich selbst, antwortete die Unstoffliche, verblüfft über die Direktheit der Opaken. Dann finde ich zu meinem wahren Wesen. »Und worin besteht dein wahres Wesen? Wer bist du? Wie heißt du?« Die Unstoffliche wusste nichts zu erwidern. Hör nicht auf sie, warnte der Unsichtbare. Sie will dich nur verunsichern. Sie trägt einen dieser grässlichen Steine, die von der Göttin stammen. Erst da bemerkte die Unstoffliche Bipas Opal und wich entsetzt zurück, als fürchtete sie, Bipa könne sie mit irgendeiner Krankheit anstecken. »Ich kenne Leute, die würden für so einen Opal über Leichen gehen«, sagte Bipa patzig. Dank der Kaiserin wird die finstere Macht der Göttin nie eine Versuchung für uns darstellen, erwiderte der Unsichtbare. Wie du siehst, gibt es hier nichts Stoffliches. Aus Nebel kann man keine Golems erschaffen. Niemand ist hinter einem Opal her, weil er niemandem etwas nützen würde. Hier sind wir sicher vor der Göttin und ihren widerlichen Schöpfungen. Niemand kann den Frevel begehen, seelenlose Materie zum Leben zu erwecken. »Das ist doch gar nicht Sinn der Sache.« Bipa musste an Lumens Worte denken. »Die Opale sind als Hilfe für die Lebenden gedacht. Um Krankheiten zu heilen, die 196
Alten zu stärken und Verletzte zu versorgen. Die Opale unterstützen die Lebenden. Wer damit Dingen Leben einhaucht, betreibt Missbrauch. Außerdem«, fügte sie hinzu und dachte dabei an Nevado, »bezweifle ich, dass die Golems wirklich keine Seele haben.« Seele, wiederholte die Unstoffliche ganz unvermittelt. Bipa sah sie verwirrt an. »Was hast du gesagt?« Seele, wiederholte sie. Du kannst mich ›Seele‹ nennen. »Ist das dein Name?« Nein. Das ist es, was ich bin. Du brauchst keinen Namen, protestierte der Unsichtbare. Wir sind fast ätherisch. Ich brauche keinen Namen, bestätigte Seele. Aber die Ärmste hat das Bedürfnis, mich irgendwie zu nennen. Schließlich ist sie nach wie vor opak, fügte sie herablassend hinzu, als sei damit alles gesagt. Ich habe nicht vor, mir nur ihr zuliebe einen Namen für mich zu überlegen. »Nicht nötig«, warf Bipa boshaft ein. »Ich habe schon einen Namen für dich: Griesgram.« Es trat kurzes Schweigen ein. Du hast nicht viel Fantasie, stimmt’s?, sagte der Unsichtbare. »Zumindest weiß ich noch, wie ich heiße«, entgegnete Bipa spitz. »Das ist mehr, als man von dir sagen kann.« Ich bin der Unsichtbare, erwiderte der Unsichtbare voller Würde. Das sollte dir genügen. »Macht euch nicht so viele Gedanken wegen der Namen«, sagte Bipa ungeduldig. »Ich wollte mich sowieso verabschieden, ich muss weiter. War nett, euch kennenzulernen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging sie los. Warte!, rief Seele und folgte ihr. Wo willst du hin? »Zum Schloss der Kaiserin«, antwortete sie. »Auf der Suche nach Aer.« 197
Aber … Seele rang nach Worten. »Was denn?«, ermunterte Bipa sie, ohne stehen zu bleiben. Um zum Schloss der Kaiserin zu gelangen, musst du Aufsteigen … und … versteh mich nicht falsch … aber ich glaube, das wird für dich nicht so einfach. Aufsteigen, die da?, spottete der Unsichtbare. Eher würde der Stern vom Himmel fallen. Bipa knirschte mit den Zähnen. »Also wenn es sein muss, reiße ich diesen Stern vom Himmel. Aber nach dieser weiten Reise gehe ich keinesfalls mit leeren Händen nach Hause.« Versteh mich nicht falsch, sagte Seele noch einmal. Du bist eben noch ein bisschen körperlich. Aber das gibt sich mit der Zeit … »Ihr kapiert es einfach nicht!«, schrie Bipa. Jetzt war ihre Geduld wirklich zu Ende. »Ich-habe-keine-Zeitmehr!« Sie musste Aer retten. Es ging nicht mehr nur darum, ihn zur Vernunft zu bringen. Er war in Gefahr und war sich dessen womöglich nicht einmal bewusst. Vielleicht irre ich mich, dachte Bipa, und die Ätherischen haben es tatsächlich besser, aber das glaube ich nicht. Ich muss Aer aufhalten, bevor es zu spät ist. Sie rannte davon. Noch hörte sie Seeles Stimme: Sie meint es wirklich ernst. Sie spinnt, befand der Unsichtbare. Aus den Augenwinkeln erspähte Bipa Seeles Gesicht neben sich und hörte sie sagen: Du solltest es dir überlegen. »Mir was überlegen?«, keuchte Bipa. Ihre Füße sanken in den weichen Boden ein, aber sie lief trotzdem weiter. 198
Also … ich will dir nicht zu nahe treten, aber du bist … zu opak, um hier zu sein. »Das hast du vorhin schon gesagt.« Oh, mir macht es nichts aus, glaub mir, versicherte Seele ihr hastig. Aber ganz generell ist es hier … Tja, es wird nicht gern gesehen. Bipa blieb wie angewurzelt stehen. Das hörte sich nach einer Warnung an. »Was willst du damit sagen?« Seele war sichtlich verlegen. Viele hier … werden es nicht gut finden, dass du in diesem Zustand so weit gekommen bist. Sie werden dafür sorgen, dass du nicht bis zum Rondell gelangst. Sie werden dich zurückschicken und dir sagen, du sollst wiederkommen, wenn du ein bisschen weniger körperlich bist. Tut mir leid, fügte Seele hastig hinzu. So sind nun einmal die Regeln hier. Ich weiß, du kannst nichts dafür, dass du so bist, und du sollst wissen, dass du mir wahnsinnig leidtust. Ich meine, es ist ja schon schlimm genug, so opak zu sein, du Ärmste … Du solltest den Aufstieg wenigstens einmal versuchen dürfen … Wozu denn?, mischte sich der Unsichtbare ein. In diesem Zustand wird er ihr nie gelingen, sie ist viel zu schwer. »Das ist mir egal«, unterbrach Bipa entnervt. »Ich gehe weiter und niemand kann mich daran hindern. Glaubt ihr, nach allem, was ich durchgemacht habe, lasse ich mich von einem Haufen Gespenster einschüchtern?« Wir sind keine Gespenster, widersprach Seele gekränkt. Aber Bipa hörte ihr schon nicht mehr zu. He!, rief Seele ihr nach. Opake … Ich meine, Blassefast-Lichtdurchlässige! Geh nicht fort! Bipa ignorierte sie, aber der Unsichtbare und Seele sprachen trotzdem weiter. Irgendwann blieb Bipa stehen 199
und wandte sich Seele zu, der Einzigen, die sie sehen konnte: »Jetzt reicht’s aber! Darf man erfahren, warum ihr mir folgt?« Natürlich weil wir uns Sorgen um dich machen! Das mag für dich gelten, brummelte der Unsichtbare. »Also warum?«, bohrte Bipa. Beide waren um eine Antwort verlegen. »Ich werd’s euch sagen«, sprach Bipa weiter. »Ihr langweilt euch. Das Leben hier ist extrem öde. Ihr habt nichts anderes zu tun, als zu reden, nachzudenken und zu warten. Und ich bin das einzige halbwegs Unterhaltsame, das euch in langer, langer Zeit über den Weg gelaufen ist. Also folgt ihr mir, weil ich in eurem faden Leben eine Abwechslung bin.« Enttäuscht schüttelte Bipa den Kopf. »Ich sage es nicht gern, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ihr den Opaken so überlegen seid, wie ihr mir einreden wollt.« Seele klappte den Mund mehrmals auf und zu. Das war wirklich nicht nett von dir, warf sie ihr schließlich sanft vor. Beachte sie einfach nicht, riet ihr der Unsichtbare stolz. Bipa holte tief Luft. »Na gut, es tut mir leid«, entschuldigte sie sich ein wenig freundlicher. »Die Sache ist nur, ich bin müde und habe Angst. Ich komme nicht schnell genug vorwärts. So hole ich Aer nie rechtzeitig ein.« Das liegt daran, dass du einen Körper hast, rief ihr der Unsichtbare in Erinnerung. Oh, sagte Seele nur, als hätte sie gerade eine zündende Idee gehabt. Stimmt, du hast einen Körper und ich nicht. Warte hier. »Ich kann nicht warten …«, begann Bipa, aber Seele war bereits verschwunden. 200
Da fühlte sich Bipa, die sich darüber beschwert hatte, dass die Fast-Ätherischen ihr überallhin folgten, auf einmal schrecklich allein. Es dauert nicht lang. Diesmal klang die Stimme des Unsichtbaren fast freundlich. Für sie sind Entfernungen kein Hindernis. Sie hat sich auf die Suche nach deinem Freund gemacht und wird dir von ihm berichten. Schließlich bist du verglichen mit ihr furchtbar langsam und außerdem musst du entsetzlich müde davon sein, so einen schweren Körper mit dir herumzuschleppen. »Diesmal meinst du es nett, nehme ich an«, sagte Bipa. »Ich habe seit Tagen nicht gegessen, getrunken und geschlafen. Eigentlich müsste ich völlig erschöpft sein. Aber ich bin nur müde.« Du bist dabei, dich zu Wandeln. Nur nicht schnell genug. »Ich will mich aber gar nicht Wandeln«, sagte Bipa mit Tränen in den Augen. Das war mir auch schon aufgefallen, erwiderte der Unsichtbare streng. Aber wenn du dich nicht Wandeln willst, wie willst du dann deinem Freund bis zum Schloss der Kaiserin folgen? Noch nie hat es jemand betreten, der nicht ätherisch war. Bipa wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Dann werde ich die Erste sein.« Vielleicht nicht. Plötzlich war Seele wieder bei ihnen. Vielleicht nicht. Bipa, ich habe einen Neuen auf das Rondell zugehen sehen. Es soll sein erster Versuch sein, vielleicht handelt es sich also um deinen Freund. Wenn du dich beeilst, holst du ihn noch ein. Bipa holte tief Luft und schluckte mehrmals, um nicht wieder zu weinen. »Danke, Seele«, sagte sie. »Danke, danke.« 201
Keine Ursache, erwiderte Seele lächelnd. Bestimmt wird es wunderschön, wenn ihr gemeinsam Aufsteigt. Lauf los, dann holst du ihn noch ein. Beeil dich! So schnell es auf dem weichen Boden ging, lief Bipa durch den Nebel, immer dem eisblauen Licht des Sterns nach, auf der Suche nach Aer. Sie hätte aus voller Kehle nach ihm gerufen, wenn sie nicht so außer Atem gewesen wäre. Sie wäre hinter ihm hergeflogen, wenn sie Flügel gehabt hätte. Sie war ihm nah, ganz nah. Als sie schließlich eine schlanke Silhouette erspähte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sogar jetzt, wo Aer eher einem Skelett glich als einem lebenden Menschen, war er noch an seinem Gang zu erkennen. Bipa hielt inne und schrie, so laut sie konnte: »AER!!« Aber er drehte sich nicht um. Bipa lief weiter auf ihn zu. Aer bewegte sich leichtfüßig voran, fast als schwebte er. Verglichen mit ihm kam Bipa sich unbeholfen und schwer vor. Ständig stolperte sie und sank bis zu den Knöcheln ein. Aber sie hörte nicht auf zu laufen. Sie musste ihn einholen. Sie musste ihn einholen. Sie musste ihn einholen. Da schien ihr, als sei Aer stehen geblieben, und einen Moment lang hoffte sie inbrünstig, er habe sie bemerkt und warte auf sie. »AER!!«, rief sie noch einmal. Er stand reglos da. Vor ihm entdeckte Bipa eine riesige Glassäule. Aer war stehen geblieben, weil er nicht weitergehen konnte: Die Oberfläche der Säule sah völlig glatt aus, ohne Ausbuchtungen oder Stufen, Fenster oder Türen. Dort schien das Licht noch heller. Der Stern stand genau über diesem gläsernen Turm. 202
Ist das das Schloss der Kaiserin?, fragte sich Bipa. Sind wir da? Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Sie lief weiter und schrie dabei Aers Namen, aber er reagierte nicht. Er hatte den Kopf gehoben und sah nach oben, vielleicht zum Stern hinauf, vielleicht zu dem sagenhaften Schloss, das sich dort befinden musste. »Aer … nicht!!«, schrie Bipa. In diesem Moment lichtete sich der Nebel ein wenig und sie konnte ihren Freund deutlicher erkennen. Gleich würde sie bei ihm sein … Da prallte sie plötzlich gegen etwas und stürzte. »Was …?«, stammelte sie. Mit wachsender Panik merkte sie, dass sie hochgehoben wurde. Sie konnte nicht sehen, von wem, spürte nur, wie mehrere seltsam weiche Hände sie an den Armen packten und sie von der Glassäule fortzogen. »He!«, protestierte Bipa wild strampelnd, erreichte jedoch nur, dass die Hände noch fester zupackten. »He! Lasst mich los! Lasst mich gehen!« Mehrere Stimmen hallten in ihrem Kopf wider: Hier hast du keinen Zutritt … Opake … Du darfst das Rondell nicht mit deiner unreinen Gegenwart entweihen … Körperliche … Wehe, du kommst ihm zu nahe … Du bist noch nicht so weit … Du musst fort … Abwarten … Dich Wandeln … 203
14 DIE KAISERIN Die Stimmen sprachen alle durcheinander. »Seid still!«, schrie Bipa. »Lasst mich in Ruhe!« Sie wehrte sich aus Leibeskräften, aber die Unsichtbaren hatten sie fest im Griff. Hinter einem Tränenschleier erspähte Bipa im Nebel mehrere gespenstische Gesichter: Unstoffliche wie Seele, die sie nicht festhalten konnten, sich das Spektakel aber nicht entgehen lassen wollten und ebenfalls Kommentare dazu abgaben. Was macht denn eine Opake hier? Nicht zu fassen! Warum hat sie sich nicht Gewandelt? Wie sie bloß aussieht, grauenhaft … »Lasst mich los!«, heulte Bipa immer verzweifelter. »Es kann euch doch egal sein, wie ich aussehe! Das ist doch unwichtig! Aer!«, schrie sie dann wieder. »Aer, hör zu! Ich bin’s, Bipa! Ich bin deinetwegen hier!« Bemüh dich nicht, er kann dich nicht hören. Diese Stimme kam Bipa bekannt vor. Sie hörte auf zu strampeln und sah Seele flehend an. »Sag ihnen, sie sollen mich loslassen«, bat sie. »Ich will nur zu Aer. Ich muss mit ihm reden. Bitte … ich komme von sehr weit her …« Ihre Stimme versagte. Es ist sinnlos, Bipa, sagte Seele. Dein Freund hat das Recht, den Aufstieg zu versuchen. Du darfst ihn nicht stören. »Welchen Aufstieg? Ins Schloss der Kaiserin?« Bipa versuchte sich aus den unsichtbaren Klauen zu winden. »Das darf ich nicht zulassen! Ich muss mit ihm reden!« 204
Selber schuld!, ertönte da eine vertraute griesgrämige Stimme. Hast du dir das noch nie überlegt? Wenn du dich Gewandelt hättest, wärst du jetzt unstofflich. Dann könnte dich niemand zurückhalten. Du stehst dir selbst im Weg. Das hast du davon, dass du dich partout nicht Wandeln wolltest. »Aber … aber Aer hat sich doch noch gar nicht Gewandelt!«, protestierte sie. Bist du dir sicher? Beklommen musterte Bipa die schmale Gestalt ihres Freundes. Sie blinzelte. Nein, das hier war keine optische Täuschung. Aers Umrisse waren wirklich verschwommen. Und sein Körper … Sie konnte durch ihn hindurchsehen. Für alle Fast-Ätherischen hier war das ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass Aer ein höheres Stadium erreicht hatte. Aber Bipa konnte nur an das denken, was ihr verloren ging. Auch wenn das vielleicht egoistisch war. »AER!!«, schrie sie aus voller Kehle. Der verzweifelte Schrei hallte durchs ganze Tal und erschütterte seine stillen Bewohner. Der Druck der unsichtbaren Hände verstärkte sich, aber Bipa registrierte es kaum. Denn Aer hatte sich umgedreht und sah sie alle an. Bipa hielt die Luft an. Sein Haar hob sich schneeweiß vom Nebel ab und war so fein und leicht, dass es schwerelos um seinen Kopf waberte. In seinem fast leichenblassen Gesicht wirkten die Augen größer denn je und funkelten wie zwei blaue Eiskristalle. Das war der einzige Farbtupfer an ihm: diese Augen, die leuchteten wie der Stern der Kaiserin. Und er war so dünn … Bipa schnürte es das Herz zusammen. Er wirkte zerbrechlich wie Glas, leicht wie ein Windhauch. 205
Er hat fast keinen Körper mehr, flüsterte Seele ehrfürchtig. Bald kann er Auf steigen. Wenn er entschlossen genug ist, kann er vielleicht jetzt sofort ins letzte Stadium des Wandels eintreten. Das war mehr, als Bipa ertragen konnte. Mitten in das andächtige Schweigen der Fast-Ätherischen hinein schrie sie: »Aer! Ich bin’s, Bipa! Ich bin deinetwegen hier!« Aers kristallklarer Blick glitt über die Anwesenden, ohne auch nur eine Sekunde bei Bipa zu verharren, als sehe er sie gar nicht oder erkenne sie nicht wieder. Dann wandte er sich langsam wieder ab, sah zum Stern hinauf und breitete die Arme aus. »Aer!«, schrie Bipa erneut. »Du verdammter Blödmann! Komm zurück! Sieh mich an! Wenn du nicht kehrtmachst, wirst du es bereuen!« Halt den Mund, befahl der Unsichtbare schroff. Er ist im Begriff, sich zu Wandeln, siehst du das denn nicht? In der Tat merkte auch Bipa, dass Aers Körper sich immer mehr verflüchtigte. Er wurde ätherisch. Vor ihren Augen. Und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Oh, seufzte Seele. Er ist doch gerade erst angekommen. Und noch so jung. Er muss sich wirklich zutiefst danach gesehnt haben, denn die Kaiserin hat ihm seinen Wunsch erfüllt. Manche haben eben Glück, grummelte der Unsichtbare. Ohnmächtig musste Bipa zusehen, wie Aers Füße sich vom Boden lösten und er langsam in die Höhe schwebte. Seht nur … Wie er Aufsteigt. Das Gemurmel der FastÄtherischen, der Unsichtbaren und Unstofflichen, die darauf warteten, die letzten Spuren ihrer Körperlichkeit abzulegen, klang neidisch, aber auch bewundernd. Bipa schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein. Das hier ist nur ein böser Traum …« 206
Sieh nur, sagte Seele. Er Steigt Auf. Nur jemandem, der es sich schon lange sehnlichst gewünscht hat, gelingt es auf Anhieb. Bipa fiel ein, dass Aer schon als kleiner Junge geschworen hatte, er werde irgendwann zum Schloss der Kaiserin gelangen. Wenn dir so viel an ihm liegt, sagte der Unsichtbare, warum willst du dann seinen Traum zunichtemachen? Bipa ballte die Fäuste und hob mit neuer Entschlossenheit den Kopf. »Weil sein Traum bedeutet, dass er stirbt. Meinetwegen soll er mich für den Rest seines Lebens hassen. Aber ich muss ihn da rausholen. Aer!«, schrie sie wieder. »Hörst du mich? Ich bring dich wieder nach Hause, ob du willst oder nicht!« Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es Bipa schließlich, sich aus den weichen Händen zu winden, und sie rannte laut schreiend auf Aer zu. Die Stimmen der Fast-Ätherischen hallten in ihrem Bewusstsein wider. Sie darf euch nicht entkommen! Haltet sie fest! Was soll’s, lasst sie gehen. Schließlich wird es ihr nicht gelingen Aufzusteigen. Inzwischen war Bipa am Fuß der hohen Glassäule angelangt. Sie blickte im Nebel nach oben, doch da war nur eisblaues blendendes Licht. Aer befand sich bereits außerhalb ihrer Reichweite. »Aer!«, schrie Bipa. Er hörte sie nicht. Bipa verlor den Mut. Sie würde ihren Freund nie erreichen. Aber sie musste ihn erreichen. Dies war die letzte Gelegenheit. Sie schloss die Finger um den Opal und flehte die Göttin an, ihr zu helfen, der Kaiserin diesen Jungen zu entreißen. Lass nicht zu, dass sie ihn bekommt, bat Bipa. Nicht ausgerechnet ihn, bitte. Aber sie konnte ihm nun einmal nicht folgen. Sie war 207
Bipa, die Opake, sie hatte einen Körper, einen schweren, festen Körper. Sie würde nie so schweben können wie Aer. Dazu musste man ätherisch werden. Man musste sich Wandeln. Und um sich zu Wandeln, brauchte man zwei Dinge: das Licht des Sterns und den Willen zur Wandlung. Sogar in diesem Moment, in dem Aers Leben davon abhing, wollte Bipa sich nicht Wandeln. Sie wollte nicht blasser, dünner, durchsichtiger und ätherischer werden. Und was die andere Voraussetzung anging: Ihr Opal hatte sie bisher vor diesem unmenschlichen blauen Licht geschützt. Sie hatte keine Chance. Oder vielleicht doch? Am Rand des Abgrunds hatte sie auch gedacht, sie könne nicht fliegen. Und doch hatte sie den Sprung gewagt und war unversehrt hinübergelangt. Und zwar nicht hypnotisiert vom Licht des Sterns und auch nicht, weil sie sich Wandeln wollte. Sie schloss die Augen. Vielleicht muss ich es einfach nur wollen, dachte sie. Sie machte die Augen wieder auf und schrie Aer zu: »Warte auf mich, ich komme mit! Wenn es sein muss, fliege ich eben, aber ich schwöre dir, wenn ich oben bin, zwinge ich dich runterzukommen! Und das meine ich ernst!« Blitzschnell streifte Bipa die Kette mit dem Opal ab und wickelte sie sich so ums Handgelenk, dass der Stein ihre Haut nicht berührte. Augenblicklich fühlte sie sich leichter. Als sie nach oben sah, stellte sie mit wachsender Angst fest, dass Aer schon kaum mehr zu erkennen war, nicht nur wegen des Nebels und der Entfernung, sondern auch weil er sich fast verflüchtigt hatte, so wie der letzte Regen nach dem Sturm. 208
»Aer!«, rief sie. »Nein! Warte! Geh nicht fort!« Sie konnte ihn nicht gehen lassen. Sie durfte ihn nicht gehen lassen. Inzwischen war das Licht des Sterns durch Bipas Netzhaut gedrungen und hatte ihre Seele mit seinem kalten Glanz erfüllt. Sie durfte Aer nicht gehen lassen. Sie bemerkte kaum, wie ihre Füße sich vom Boden lösten. Das Gemurmel der Fast-Ätherischen verstummte. Doch Bipa hatte nur noch Augen für Aer, der sich immer weiter von ihr entfernte. Sie musste ihn einholen, egal wie. »Aer, komm zurück!«, rief sie. »Ich darf dich nicht gehen lassen!« Sie war so darauf konzentriert, zu ihm zu gelangen, dass sie gar nicht merkte, wie sie sich immer weiter vom Boden entfernte. Als Bipa schließlich direkt unter ihm schwebte, war es, als sei die Zeit stehen geblieben. Sie war zu heiser, um nach ihm zu rufen, deshalb streckte sie die Hand aus und versuchte einen seiner Füße zu greifen. Aber Aer machte seinem Namen alle Ehre: Er war so wenig zu fassen wie die Luft. Unstofflich. Fast-ätherisch. Das kann nicht sein, dachte Bipa erschrocken und die Angst trieb sie noch ein Stück weiter nach oben. Als sie Aer ins Gesicht sehen konnte, merkte sie voller Entsetzen, dass von ihm fast nichts mehr übrig war. Er war zu einem Schatten seiner selbst geworden, zu einem Geist. Bald würde er sich völlig in Luft auflösen. »Aer, hör zu! Sieh mich an!«, beharrte sie. Aber seine Augen waren fest auf den Stern gerichtet und seine Züge waren zu einer Maske der Ekstase erstarrt. Zum ersten Mal, seit sie zu schweben begonnen hatte, 209
hob Bipa den Kopf, um zu sehen, was ihn so faszinierte. Bisher hatte sie nur Augen für Aer gehabt. Jetzt blickte sie der Wahrheit in all ihrer Unendlichkeit ins Gesicht. Und sehnte sich sofort nach Nubas Geschichten zurück. Denn die waren so viel freundlicher als die grausame Wirklichkeit. Es gab überhaupt kein Schloss. Es gab überhaupt keine Kaiserin. Über der Glassäule stand nur der furchterregende, gefräßige Stern, der sie anzog wie ein Magnet. Bipa konnte seinen Hunger, seine Gier regelrecht spüren. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie ihre Hand immer durchsichtiger wurde. Sie hatte richtig vermutet – es war der Stern, der die Menschen ätherisch werden ließ. Der Stern war die Kaiserin, von der immer erzählt wurde. Einst hatte sie sich zur Erde aufgemacht und raubte seither mit ihrem blauen Licht allen Dingen, Tieren und Menschen die Körperlichkeit. Wie ein Kind, das die Schale einer Nuss knackt, um das Innere zu essen, löste die Kaiserin die Geister aus ihren Körpern, um sie sich einzuverleiben. Auf diese Weise hatte sie mit der Zeit alles Leben auf dem Planeten ausgelöscht. Dessen Oberfläche war erkaltet, nur tief im Inneren harrten noch die letzten Kräfte aus. Ohne es zu wissen, waren die Bewohner der Höhlen Rebellen in dieser eisigen Welt. Sie priesen die Göttin des Lebens, während die Anhänger der Kaiserin, von deren kaltem Licht hypnotisiert, alles um sich herum verachteten und davon träumten, sich ihrer Körper zu entledigen, um ihren Geist ihrer gefräßigen Herrin zu opfern. Gleich würde die Kaiserin, dieser Stern, der sich von Seelen ernährte, sie beide ebenfalls verschlingen. Nachdem die Kaiserin sich so lange alles Leben auf der Erde einverleibt hatte, blieb ihr kaum noch Nahrung. Sie 210
musste völlig ausgehungert sein. Und daran würde sich auch nichts ändern, denn sie steckte in dieser Welt fest, die sie selbst zugrunde gerichtet hatte. Deshalb saßen Bipa und Aer in der Falle. Die Kaiserin konnte es sich nicht leisten, die beiden entkommen zu lassen. Bipa versuchte ihren Freund festzuhalten, aber auch diesmal war es, als wollte sie nach dem Wind greifen. »Nein, Aer, tu’s nicht«, flehte sie ihn an. »Kehr um.« Sie hob den Opal, der noch an ihrem Handgelenk hing, und streifte Aer die Kette über den Kopf. Liebe Göttin, halt ihn in dieser Welt zurück, bat sie. Gib ihm seinen Körper wieder. Liebe Göttin, ich flehe dich an, hilf mir, indem du ihm hilfst. Dann ließ Bipa den Opal los. Aber zu ihrem Entsetzen glitt die Kette einfach durch Aer hindurch und drohte in die Tiefe zu fallen. Doch in letzter Sekunde blieb sie an seiner Fußspitze hängen. Und der Stein, der Nevado zum Leben erweckt hatte, gab diesem Lebewesen ohne Körper einen Teil seiner Stofflichkeit zurück. Bipa ergriff den Anhänger und hängte ihn Aer erneut um den Hals. Diesmal fand er Halt. Mit Freudentränen umarmte Bipa Aer. Sein Körper fühlte sich zerbrechlich und seltsam weich an, weshalb sie ihn lieber nicht so fest drückte. Aber sie versuchte ihn zu wärmen, denn Aer verströmte die Kälte eines Eisgolems. Unter dem Einfluss des Opals und Aers zunehmender Körperlichkeit begannen sie langsam zu sinken. Jetzt erst sah Aer Bipa an. Seine hellen, strahlenden Augen wirkten wie zwei Abbilder des blauen Sterns. »Was machst du denn da?«, fragte er sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich hole dich hier raus«, antwortete Bipa entschlossen. »Ich werde dich retten. Wir fliehen gemeinsam …« 211
»Ich will aber nicht fliehen«, protestierte Aer und stieß sie grob weg. »Ich will zur Kaiserin. Dann werde ich ätherisch. Unsterblich.« »Von wegen«, widersprach Bipa. »Dein Körper wird sich auflösen, die Kaiserin wird deine Seele verschlingen und dann ist nichts mehr von dir übrig. Hörst du? Nichts!« Aer zog sich noch weiter von ihr zurück. »Lass mich in Ruhe!«, blaffte er und riss sich den Opal ab. »Das hier will ich nicht! Ich will Aufsteigen!« Bipa konnte den Opal gerade noch auffangen. »Du Idiot!«, schimpfte sie. »Denk daran, was Maga dir gesagt hat! Bevor man Luftschlösser baut, muss man mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen!« Aber Aer hörte ihr gar nicht mehr zu. Er hatte sein Gesicht erneut der Kaiserin zugewandt und bot sich ihr mit ausgebreiteten Armen dar. Bipa schluckte die Tränen hinunter. Aers Körper wurde wieder durchsichtiger und sie konnte nichts dagegen unternehmen. »Dann geh doch!«, schrie sie außer sich. »Aber geh allein! Ich habe nicht vor, diesem Ding noch näher zu kommen!« Sie hängte sich den Opal wieder um. Die Macht der Göttin zog sie in Richtung Erde, die der Kaiserin in Richtung Himmel. Bipas Finger schlossen sich um den Opal. Er fühlte sich warm und lebendig an. Er war so anders als der kalte blaue Stern … … der sie vom Himmel aus ansah, wunderschön, faszinierend … … und tödlich. Bipa schüttelte den Kopf, um den Zauber zu brechen, und schloss die Augen. Da hatte sie eine verrückte Idee, eine absurde Idee. Aber wenn es klappte, konnte sie Aer retten. Es war die einzige Möglichkeit, lebend zu entkommen. 212
Sie drückte den Opal an die Brust und begann an irdische Dinge zu denken. Sie dachte an Lumens Schmorbraten und wurde hungrig. Sie dachte an ihr Bett und wurde müde. Sie dachte an Nevado und wurde traurig. Ganz allmählich erwachte ihr Körper und erinnerte sie daran, dass sie noch am Leben war. Und sie begann zu sinken. Die Reaktion der Kaiserin ließ nicht auf sich warten. Bipa spürte einen heftigen Ruck. Der Stern wollte sie wieder an sich ziehen. Bipa versuchte sich auf ihren Körper zu konzentrieren. Das war qualvoll, denn schlagartig spürte sie alles auf einmal: Hunger, Durst, Müdigkeit, Kälte, Schmerz … Je stärker diese Empfindungen wurden, desto opaker wurde Bipa’. Und desto mehr zog die Erde sie an. Aber genau das versuchte die ausgehungerte Kaiserin mit aller Macht zu verhindern. Sie würde Bipa verschlingen, ganz gleich in welchem Zustand sie sich befand. Als die Anziehungskraft des Sterns unerträglich wurde, nahm Bipa den Opal ab. Sie hielt ihn in der Hand, ohne ihn zu berühren, schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken. Schneller als je ein Ätherischer schwebte sie nach oben, so verzweifelt saugte die Kaiserin sie an. Bipa hatte schreckliche Angst, doch sie wartete, bis die Anziehungskraft des Sterns an ihrer Seele riss und sie es nicht mehr länger aushielt. Dann ließ sie den Opal los. Während er weiter nach oben schwebte, schickte Bipa ein Stoßgebet zur Göttin. Dann versuchte sie ihren Körper wiederzufinden, so opak wie nur möglich zu werden, um zu sinken. 213
Die Sogkraft der Kaiserin war jetzt so gewaltig, dass nicht einmal der Opal sich ihr entziehen konnte. Er kam dem Stern immer näher, immer näher … bis er in seiner Mitte verschwand. Augenblicklich verblasste das blaue Licht, bis es ganz bleich und kränklich aussah. Etwas schien im Inneren des Sterns zu rumoren: Die Göttin griff die fremde Kaiserin direkt im Herzen an. Oder vielmehr hatte sie diesem Ungeheuer überhaupt erst ein Herz gegeben. Der Stern blitzte ein paarmal blau auf. Dann zerbarst er. Die Explosion ging nicht mit Feuer einher und verursachte auch keinen Lärm. Sie war nicht einmal besonders heftig. Der Stern zog sich einfach zusammen und spie dann lautlos Myriaden von eisblauen Funken. Mehr konnte Bipa nicht erkennen. Denn nun, ohne die Anziehungskraft der Kaiserin, machte sich plötzlich die Schwerkraft bemerkbar und sie stürzte ungebremst zu Boden. Die Erde, um die sie so gekämpft hatte, würde sie unweigerlich zerschmettern. Gleich bin ich tot, schoss ihr nur noch durch den Sinn. Gleich ist es aus. Bipa schloss die Augen. Doch etwas stoppte sie. Es verschlug ihr den Atem, aber der Aufprall war weniger schmerzhaft als befürchtet. Sie war noch am Leben. Vorsichtig machte sie die Augen auf. Aer hielt sie fest und sah sie ernst an. Trotz des blauen Funkenregens um ihn herum waren seine Augen glasklar, durchsichtig, ohne jede Spur von Farbe. Aber die Hauptsache war, dass er sie festhielt. »Du bist wieder körperlich geworden«, sagte sie. »Für kurze Zeit«, erwiderte er. Bipa verstand nicht, was er meinte. 214
Sanft schwebten beide zu Boden. Aer war nach wie vor zu ätherisch, um abzustürzen, sogar ohne den blauen Blick der Kaiserin am Himmel. Schließlich landeten sie auf dem weichen Boden. Sogleich wurden sie von Fast-Ätherischen umringt. Was ist passiert? Wo ist der Stern? Was ist mit der Kaiserin? Die Opake ist schuld! Sie hätte nicht Auf steigen dürfen! Sie hat die Kaiserin beleidigt! Seid alle still, ertönte die bekannte Stimme des griesgrämigen Unsichtbaren. Warum sollen wir still sein? Genau, warum denn? Der Opaken zahlen wir’s heim! Seid alle still, wiederholte der Griesgram. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Und ich habe es schrecklich vermisst. Alle, Unsichtbare und Unstoffliche, verstummten und wichen ein paar Schritte zurück, um Bipa und Aer Platz zu machen. Bipa achtete nicht auf sie. Aer war zusammengebrochen und sie hielt ihn in den Armen. Er war spindeldürr und schwach. Vom Tod gezeichnet. Ohne die hypnotische Macht der Kaiserin forderte sein geschundener Körper sein Recht ein. »Du musst durchhalten, Aer«, flüsterte Bipa mit erstickter Stimme. »Ich bringe dich nach Hause, dort pflegen wir dich wieder gesund.« Aer bekam kaum Luft. Er warf ihr einen müden Blick zu, der aber immerhin von seinem unverwechselbaren Lächeln begleitet wurde. »Es … ist zu spät, Bipa.« »Nein, das ist es nicht«, bestritt sie. »Ich habe diese 215
weite Reise nicht gemacht, um jetzt zuzusehen, wie du stirbst.« »Es ist eben … sehr hart. Der Hunger, die Schmerzen … die Erschöpfung. Ich kann nicht mehr. Mein Körper … quält mich. Ich kann immer noch … ätherisch werden … Ich kann mich immer noch … vom Schmerz befreien …« Bipa verlor die Beherrschung. Sie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. »Was bildest du dir eigentlich ein!«, schrie sie. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe! Ich habe gehungert und gefroren, habe tausend Ängste ausgestanden und wäre fast gestorben! Ich habe mir die Füße wund gelaufen, bis ich dich endlich gefunden habe, und habe unterwegs einen guten Freund verloren, dessen einziger Fehler es war, dass er mich begleitet hat! Und du wagst es, von Schmerzen zu reden? Was weißt du schon davon?« Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Aber … Bipa«, stieß Aer verwirrt hervor. »Warum … hast du all das getan? Warum … wolltest du zu mir?« Sie starrte ihn an, als wäre er schwer von Begriff. »Weil ich dich liebe, du Dummkopf.« Unter dem blauen Funkenregen, der vom Tod des Sterns kündete, trafen sich ihre Blicke und einen Moment lang blitzte die wahre Macht der Göttin auf.
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EPILOG Viel später, als schon niemand mehr mit ihnen rechnete, trafen zwei Reisende im Höhlendorf ein. Die eine sah den Dorfbewohnern ähnlich, der andere hingegen glich eher einem Gespenst: Er war ganz abgemagert und musste sich beim Gehen auf seine Gefährtin stützen. Sie war jung, er hingegen wirkte vorzeitig gealtert. Beider Haar war weiß wie frisch gefallener Schnee. Sie kehrten von einer langen Reise zurück, müde und hungrig, aber glücklich. Die Dorfbewohner beäugten sie unruhig und neugierig. Irgendwie kamen sie ihnen bekannt vor. Nur zwei erkannten sie wieder. Der Erste war ein stämmiger Mann mit einem buschigen braunen Bart. Er hatte sie vom Hügel aus erspäht, kam herbeigelaufen und schloss sie so fest in die Arme, dass sie fast erstickten. Die Zweite war eine Frau mit traurigem Lächeln und melancholischem Blick, die vorsichtig zur Haustür hinauslugte, die Schultern in ein schmales Tuch gehüllt. Sie starrte die Neuankömmlinge an, als traue sie ihren Augen nicht, und rührte sich nicht vom Fleck. Aer ging zu ihr. Er hatte eine lange und mühevolle Reise hinter sich. Sie waren über das Meer der Flüssigen gesegelt, hatten einen Abgrund überquert und waren in der Glasstadt bei den Zwillingen zu Gast gewesen, wo sie vom Schicksal der Frau aus Eis erfahren hatten, die sich zusammen mit ihrem Golemheer am Meeresufer verflüssigt hatte. Sie hatten sich ausgeruht und geschlafen und köstlichen Schmorbraten geschmaust, bis Aer nach und nach wieder in den Schoß der Göttin zurückgekehrt war. 217
Und jetzt war er endlich wieder zu Hause. Nuba sah ihn an. Aers Haar war verändert und auch seine Augen, aber sein Lächeln war noch genauso charmant wie früher. Mit Tränen in den Augen schloss sie den Sohn in die Arme, der zum zweiten Mal dem Tod entronnen war und den sie bereits endgültig verloren geglaubt hatte. Bipa sprach mit ihrem Vater kaum über die Reise. Das meiste war mit einem Blick gesagt. Doch für etwas anderes waren sehr wohl Worte nötig. »Du solltest sofort zu Maga gehen«, sagte Topo eindringlich. Bipa lief zur Höhle der Schamanin. Statt der unermüdlichen, stets lächelnden Frau, die sie kannte, fand sie eine Greisin vor, die so zerbrechlich wirkte wie ein Eiszapfen. Viele Falten durchfurchten das zahnlose Gesicht und schneeweißes Haar ergoss sich über das Kopfkissen ihres Bettes. Bipas Herz krampfte sich zusammen. »Maga, bist du’s?«, wisperte sie. »Was ist mit dir geschehen?« »Hast du Aer gefunden?«, fragte Maga mit schwacher, brüchiger Stimme zurück. »Ja«, sagte Bipa, den Tränen nahe. »Ja, ich habe Aer gefunden. Ich habe ihn nach Hause gebracht. Und ich habe die Kaiserin besiegt«, fügte sie hinzu in der Hoffnung, Maga werde nach Einzelheiten fragen. Aber das tat sie nicht. »Das ist recht«, sagte sie nur. »Dann ist jetzt alles gut und ich kann … mich zur Göttin begeben.« »Was? Nein, Maga, so was darfst du nicht sagen. Dazu ist es noch …« »Mein Kind«, unterbrach die Schamanin, »jeder Mensch muss eines Tages sterben. Meine Stunde war schon vor langer, langer Zeit gekommen, sogar schon 218
vor deiner Geburt. Ich bin nur noch am Leben, weil der Opal mich jung gehalten hat, weil die Göttin es so wollte …« »Dann ist es meine Schuld!«, stöhnte Bipa. »Ich habe den Opal mitgenommen und deshalb bist du gealtert. Es … tut mir schrecklich leid, Maga. Ich habe ihn im Kampf gegen die Kaiserin verloren. Aber ich weiß von jemandem, der einen hat«, versicherte sie eifrig. »Er kann ihn mir bestimmt leihen, denn …« »Bipa«, unterbrach die Greisin erneut mit fester Stimme, »ich brauche keinen Opal. Meine Zeit ist um. Das Einzige, was ich brauche, ist eine Nachfolgerin … und da denke ich an dich.« Bipa starrte sie ungläubig an. »An mich …? Aber … Maga … ich bin doch völlig unvorbereitet …« »Oh nein. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß, und jetzt hast du noch viel mehr dazugelernt. Du bist weise geworden, Bipa, das sieht man an deinem Haar. Du hast dein Herz der Stimme der Göttin geöffnet und deshalb hast du Aer zurückgebracht. Wenn ich nicht mehr da bin, wirst du an meine Stelle treten.« Bipa schluckte. »Ich werde mein Bestes geben, Maga«, versprach sie und drückte ihr fest die Hand. »Aber … was ist mit dem Opal?« »Du brauchst keinen Opal. Ab jetzt wird der mächtigste aller Opale am Himmel scheinen.« Bipa verließ Magas Höhle, ohne ihre letzten Worte ganz verstanden zu haben. Draußen wurde sie von Aer erwartet. »Ich habe gehört, Maga geht es nicht gut«, sagte er. »Das ist wohl alles meine Schuld.« Betrübt ließ er den Kopf hängen. 219
»Das stimmt«, bestätigte Bipa erbarmungslos wie immer. »Es ist deine Schuld, weil du fortgegangen bist.« Aer seufzte. »Eins steht fest«, sagte er. »Erst wenn man weit fort von zu Hause ist, merkt man, was einem alles fehlt.« »Wie schön, dass du wieder etwas empfindest«, bemerkte Bipa spöttisch. »Ich hoffe, in deinen neu entdeckten Gefühlen sind auch ein paar Gramm Gewissensbisse enthalten.« »Mehr als nur ein paar Gramm, das kannst du mir glauben«, erwiderte Aer ganz ernst. »Gewissensbisse und andere Dinge, die ich noch gar nicht kannte. Und eines davon ist ganz besonders erstaunlich.« Bipa verdrehte die Augen. »Wieder eine deiner genialen Ideen? Tut mir leid, davon hab ich genug. Wenn du Lust auf Experimente hast, musst du allein zurechtkommen, ich habe nämlich nicht vor, mir deinetwegen wieder Probleme aufzuhalsen.« Aer machte ein enttäuschtes Gesicht. »Wie schade«, versicherte er, »ohne dich wird es nicht halb so interessant.« Dann küsste er sie ohne Vorwarnung. Zunächst erstarrte Bipa, dann verschlug es ihr den Atem, aber letztlich fand sie Aers neues »Experiment« doch nicht so übel. Sie küsste ihn zurück und eine flammende Hitze durchfuhr sie, ähnlich der lebenspendenden Wärme des Opals. In diesem Moment lichtete sich nach vielen Jahrtausenden endlich der Nebel über ihnen und gab eine leuchtend rote Kugel frei, die wie ein wachsames Auge am Himmel strahlte.
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INHALT 1 DAS MÄRCHEN VOM ÄTHERISCHEN REICH..... 7 2 AERS GROSSER TRAUM ....................................... 19 3 DER STERN DER KAISERIN.................................. 34 4 DER AUFBRUCH ..................................................... 50 5 EIN REISEGEFÄHRTE ............................................ 65 6 EISELDA.................................................................... 78 7 FLUCHT INS TAL .................................................... 93 8 DIE STADT AUS GLAS ......................................... 105 9 DER GLASMEISTER.............................................. 118 10 DER ANGRIFF DER EISGOLEMS ..................... 135 11 ICH WERDE DICH NACH HAUSE BRINGEN … 154 12 DAS MEER DER FLÜSSIGEN ............................ 170 13 DIE FAST-ÄTHERISCHEN.................................. 191 14 DIE KAISERIN...................................................... 204 EPILOG ....................................................................... 217
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