MYTHOR Insel Des Schreckens von Hans W. Wiener Band o4
Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, gegen die Macht der gef...
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MYTHOR Insel Des Schreckens von Hans W. Wiener Band o4
Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, gegen die Macht der gefährlichen Dämonenpriester kann Mythor, der Held unserer Romanserie, nicht viel setzen. Noch nicht, denn er braucht eine Reihe wichtiger Gerätschaften, mit denen er den Kampf verstärkt aufnehmen kann. In erster Linie muß er sich aber derzeit auf seine Freunde und Gefährten verlassen, die mit ihm bisher gewaltige Gefahren aus dem Weg räumen konnten und die ihm helfen, seinen Auftrag als wahrer »Sohn des Kometen« zu erfüllen. Ohne sie und sein Gläsernes Schwert wäre der junge Abenteurer mit einiger Sicherheit schon tot. Doch was ist, wenn Freundschaften zwischen Menschen einer großen Bewährungsprobe unterworfen werden? Was geschieht, wenn Gefühle dafür sorgen, daß Menschen in mancher Situation anders reagieren als normal? Im vorliegenden Buch haben es Mythor und seine Begleiter erneut mit großen Gefahren zu tun. Doch zeitweise scheint es, als seien die Konflikte innerhalb ihrer kleinen Gruppe eine größere Gefahr… Lassen Sie sich überraschen, in welcher Art und Weise die Autoren die weiteren Geschehnisse schildern. Hans W. Wiener schrieb den ersten Roman des vorliegenden Bandes: »Insel des Schreckens«. Horst Hoffmann, der die Romane »Die Peitschenbrüder« und »Der Wolfsmann« beisteuerte, schrieb nach seiner Mitarbeit an der MYTHOR-Serie in den 80er Jahren übrigens – allerdings unter Pseudonym – eine Reihe von FantasyJugendromanen, blieb so dem Genre noch länger verbunden. Ich wünsche viel Vergnügen bei der folgenden Lektüre! Klaus N. Frick
Die gierigen Finger des Bösen greifen wieder aus der Dunkelzone nach der Welt der Menschen. Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Von Dämonenpriestern vorangetrieben, machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die seit langer Zeit auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter der junge Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt fest daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt Mythor, daß er als Sohn des Kometen zuerst mehrere Aufgaben zu erfüllen hat. In Elvinon gerät Mythor mitten in die Invasion durch das Kriegervolk der Caer. Die von den Dämonenpriestern geführte Invasionsflotte erstürmt die Stadt. Mythor muß fliehen, um die erste der Aufgaben zu erfüllen, die ihm gestellt wurden: Er soll das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, das in Xanadas Lichtburg aufbewahrt wird. Das stellt sich als recht schwierig heraus, denn die ehemalige Lichtburg ist mittlerweile zu einem Hort der Dunkelheit geworden und wird von einem Dämon beherrscht. Nur mit Hilfe einiger neuer Freunde gelingt es Mythor, bis zur Lichtburg vorzudringen und das Schwert an sich zu bringen. Doch die Burg wird durch den gewaltigen Nöffenwurm
und seine Brut vollständig zerstört. Durch viele Meilen lange unterirdische Gänge fliehen Mythor und seine Gefährten. Als sie wieder an die Oberfläche kommen, finden sie sich in der von der Pest gebeutelten und von den Caer belagerten Stadt Nyrngor wieder. Die junge Königin Elivara bittet Mythor um Hilfe. Doch der Sieg der Caer läßt sich nicht verhindern, und Mythor muß erneut fliehen. Hilfe erhoffen sich die Freunde von dem geheimnisvollen Sklutur, der auf einem gewaltigen Mammutfriedhof hausen soll. Als sie ihn nach vielen Schwierigkeiten finden, sind all ihre Anstrengungen vergeblich. Elivara kehrt zu den wenigen freien Kämpfern ihres Volkes zurück, während Mythor sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort macht. Dort muß er als »Sohn des Kometen« seine nächste Aufgabe in Angriff nehmen…
Hans W. Wiener
INSEL DES SCHRECKENS »Was hältst du davon?« fragte Nottr, der Lorvaner. Er stand am Ruder der Kurnis. »Es sieht nicht gut aus«, antwortete er. »Dieses Licht, diese seltsamen Farben!« Er lehnte an der hinteren Reling des Schiffes und beobachtete den südlichen Horizont. Er stand breitbeinig und glich so das sanfte Schwanken der Kurnis aus. Ein leichter Wind blies aus dem Osten, sang in den Tauen und Verspannungen des Mastes und blähte das rechteckige Segel. Das Meer der Spinnen war ruhig. Flache Wellen spielten um den Bug des Schiffes. Über allem spannte sich ein tiefblauer, klarer Himmel. Und dennoch lag etwas Unheimliches in der Luft. Weit im Süden, dort, wo der Himmel das Meer berührte, braute sich etwas zusammen. Ein dunkelroter Regenbogen spannte sich wie ein gewaltiges Tor über dem Meer. In seinem Mittelpunkt bildete sich eine violette Wolke, schwoll an und wurde zusehends größer. Das Wasser verfärbte sich. Es nahm eine tiefrote Tönung an. Die leichten Wellen beruhigten sich. Das Meer wurde glatt und träge. Es glänzte ölig. Die Farbe des Blutes, dachte Mythor. »Einen so plötzlichen Wetterumschwung habe ich noch nie erlebt«, murmelte Nottr. Er dämpfte seine kräftige Stimme. So als ob er vermeiden wolle, daß ihn irgendwelche fremden Mächte hören könnten. »Wetterumschwung?« wiederholte Mythor zweifelnd, aber ebenso leise wie Nottr. Seine Hände legten sich auf die Brüstung der Reling, seine
Finger umklammerten das rissige Holz. Ein Schwarm Seevögel näherte sich der Kurnis von Osten. Schreiend umkreisten die Tiere das Schiff. Auf ihrem glänzenden, hellen Gefieder spiegelte sich der Himmel wider und färbte sie ebenso rot wie das Meer. »Wie die Vögel, die nach einem Kampf über die getöteten Krieger herfallen«, flüsterte Nottr, und ein Schauder lief über den kräftigen, muskulösen Körper des Lorvaners. Die Vögel ließen sich auf der Reling, auf den Tauen und Verspannungen und auf dem Mast der Kurnis nieder. Ihre Schnäbel waren geöffnet, von Zeit zu Zeit entrang sich ihnen ein heiserer Schrei. Mythor streckte seinen Arm aus und griff nach einem der Vögel. Die sonst so scheuen Tiere ließen sich berühren, ohne davonzufliegen. Es sah so aus, als wüßten sie, daß die Gefahr, die möglicherweise von der Hand eines Menschen ausging, nichts war im Vergleich zu der Bedrohung, die von dem dunkelroten Regenbogen und der violetten Wolke ausging. »Sie suchen Schutz auf dem Schiff«, murmelte Nottr verwundert. »Aber Schutz wovor? Und kann die Kurnis ihnen Schutz bieten?« Es waren Fragen, auf die es keine Antwort gab. Noch nicht. Die Einstiegsluke im vorderen Teil des Schiffes wurde aufgestoßen, und der Steinmann kletterte auf das Deck der Kurnis. »Wie sieht’s aus?« fragte er die beiden anderen Männer. Mythor und Nottr drehten sich nach ihm um, aber sie sagten nichts. »Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte Sadagar mit einemmal heiser. Erst jetzt schien er die Verfärbung des Himmels und des Meeres zu bemerken. »Was nutzt uns jetzt dein Nadomir?« fuhr ihn Nottr gereizt an. »Kann er uns verraten, was sich hier zusammenbraut?« Sadagar achtete nicht auf die ärgerlichen Worte des Lorva-
ners. Er lief an die Reling und starrte auf den Regenbogen. Er preßte seine ohnehin schon schmalen Lippen so fest aufeinander, daß sein Mund nur noch einem dünnen Strich glich. Dabei faltete er die Hände und verkrampfte die Finger ineinander. »Mythor, die Ratten!« rief plötzlich eine weibliche Stimme. Sie gellte schrill über das ganze Schiff. Mythor fuhr herum. In der Einstiegsluke, aus der der Steinmann herausgeklettert war, stand Kalathee. Sie stand breitbeinig auf der schmalen Treppe, die aus dem Inneren des Schiffes hinausführte. Ihre rechte Hand hatte sie zur Faust geballt und die Knöchel zwischen die Zähne geschoben. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Um sie herum wimmelte es von Ratten. Die fetten, häßlichen Tiere sprangen aus der Luke und liefen über das Deck der Kurnis. Der Rumpf des Schiffes spie eine ständig wachsende Zahl der quiekenden Nager aus. Sie verkrallten sich in der Kleidung der blonden Frau und, kletterten an ihr hoch. Verzweifelt versuchte sie die Tiere abzuwehren. In ihrem Gesicht spiegelten sich Panik, Ekel und Entsetzen wider. Mythor riß sein Schwert aus dem Gürtel und lief über das Deck auf die gepeinigte Frau zu. Mit Alton fuhr er über die Planken und fegte die fetten Ratten zur Seite. Quiekend stoben sie auseinander. Einige der Tiere hatten sich in den langen blonden Haaren Kalathees verkrallt. Mythor packte sie, riß sie der Frau vom Kopf, obwohl ihr dabei ein ganzes Büschel Haare mit ausgerissen wurde, und schleuderte sie über Bord. Dann umschlang er mit einem Arm die Hüfte Kalathees und hob sie aus der Einstiegsluke. Leicht zog er die schlanke, zartgliedrige Frau hoch. Sie legte ihren Arm um seinen Hals und Nacken und hielt sich ängstlich an ihm fest. Ihre Augen waren noch immer vor Entsetzen weit aufgerissen. In panischer Angst starrte sie auf die Ratten. Mythor brachte sie von der
Luke fort und trug sie zum Heck des Schiffes. Bis dorthin hatten sich die Nager noch nicht vorgewagt. Nottr ließ das Ruder der Kurnis los und empfing Kalathee. Besorgt versuchte er sie in die Arme zu nehmen. »Bist du verletzt?« fragte er sanft und strich ihr zerzaustes Haar glatt. Mit einer ärgerlichen Bewegung stieß ihn die Frau zur Seite. Sie schoß einen giftigen Blick auf ihn ab und drehte ihm dann den Rücken zu. Ihre Augen suchten den Blick Mythors. Dann senkte sie den Kopf. Eine kaum wahrnehmbare Röte stieg in ihr zartes, fast ätherisches Gesicht. »Danke, Mythor«, flüsterte sie kaum hörbar. »Es war entsetzlich. Die Ratten tauchten plötzlich von überall her auf. Sie wimmelten in den Lagerräumen, in den Wohnräumen, überall. Ich wußte, daß es Ratten auf dem Schiff gab. Auf welchem Schiff gibt es sie nicht? Aber in dieser Zahl? Und was treibt sie am hellichten Tag an Deck?« »Hellichter Tag?« fragte Nottr zweifelnd. Seiner Stimme war der Ärger über die Abfuhr deutlich anzumerken. »Ist dies noch ein hellichter Tag?« Der Regenbogen umspannte inzwischen das gesamte Firmament. Der Himmel war dunkel, die Sonne war nicht mehr zu sehen. Dennoch herrschte ein schwaches Licht, denn alle Einzelheiten waren noch deutlich zu erkennen. Nur war nicht feststellbar, woher das Licht kam. »Dieser Laut«, sagte Nottr. »Hörst du diesen Laut?« Ein dumpfer Ton hob an, wie von einer gewaltigen, unirdischen Pfeife erzeugt. Zuerst klang er sehr leise und weit entfernt, doch er schwoll an und wurde lauter und dröhnender. Mit diesem Ton erstarben alle anderen Geräusche. Das Meer wurde spiegelglatt. Keine Welle schlug mehr gegen den Bug. Das Singen des Windes in den Seilen hörte auf. Noch stand das Segel gebläht, aber die Kurnis machte keine Fahrt mehr. Das Kreischen der Seevögel hörte auf und das Quieken der
Ratten ebenso. »Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte Sadagar leise. »Seht, die Ratten«, sagte Nottr und deutete nach vorn auf das Schiff. Die Ratten hatten sich dicht auf die Planken des Decks gepreßt. Auf dem Bauch rutschten sie an den Rand des Schiffes. Ängstlich drehten sie ihre Köpfe zur Seite und nach hinten, so als ob sie eine gewaltige Macht über sich verspürten, vor der sie in Deckung gehen wollten. Dann stürzten sie sich über den Decksrand in das blutrote Meer. Zu Hunderten kletterten sie aus der Luke, aus Fässern und versteckten Winkeln. Sie krochen über die Planken und warfen sich ins Wasser. Das Meer blieb spiegelglatt und ölig. Es warf nicht einmal Wellen, als die Tiere eintauchten. Bis auf den dumpfen Ton war kein Geräusch zu hören. Alles spielte sich unter einem magischen Zwang und in einer unirdischen Stille ab. »Sie verlassen das Schiff«, murmelte Sadagar. »Sie spüren eine Gefahr, eine gewaltige Bedrohung. Etwas Furchtbares kommt auf uns zu.« »Was kann so furchtbar sein, daß die Ratten der Gefahr den Tod vorziehen?« fragte Nottr. In der Stille, die nur von dem dumpfen Heulen durchbrochen wurde, klangen die Stimmen unwirklich. Plötzlich erhoben sich die Seevögel. Sie breiteten ihre Schwingen aus und segelten in einem steilen Bogen ins Wasser. Wie die Ratten kurz vorher zwangen auch sie ihre Köpfe unter die Wasseroberfläche. Auch sie töteten sich stumm und lautlos. »Die Tiere geben uns ein Zeichen«, murmelte Sadagar. »Sie wissen besser als wir, was uns bevorsteht. Wir müssen ihnen folgen!« Einige Augenblicke lang begriffen die Gefährten die Worte des Steinmanns nicht. Stumm sahen sie ihn an. Erst als Sada-
gar auf die Reling kletterte und mit weit aufgerissenen Augen in das blutrot verfärbte Meer der Spinnen blickte, löste sich ihre Starre. Mythor schnellte los und stand nach zwei Sprüngen neben Sadagar an der Reling. Seine Hand schoß vor und erwischte die graue Pluderhose des Steinmanns, als der sich mit einem schrillen Schrei ins Wasser stürzen wollte. Der Stoff der Hose riß ein, als er das Gewicht Sadagars tragen mußte. Mit der anderen, noch freien Hand griff Mythor nach. Es gelang ihm, den Ledergürtel, in dem Sadagar seine zwölf Wurfmesser stecken hatte, zu packen. Wie ein gefangener Fisch zappelte und strampelte der Steinmann im sicheren Griff. »Hilf mir, ihn hochzuziehen!« forderte Mythor und sah sich nach Nottr um. Nottr folgte der Aufforderung. Er beugte sich ebenfalls über die Reling und ergriff beide Arme Sadagars. Gemeinsam zogen sie ihn zurück an Deck. »Eigentlich hat es dieser Kerl nicht verdient, daß ich ihm helfe«, murrte Nottr. Aber um seinen Mund spielte ein gutmütiger Zug. »Warum tut ihr das?« schimpfte Sadagar. »Spürt ihr nicht die Gefahr? Bin ich der einzige, der die Bedrohung erkennt?« »Wir spüren sie auch«, antwortete der Lorvaner. »Aber wir sind keine Ratten. Wir werden kämpfen und uns wehren.« »Kämpfen kannst du nur gegen die Gefahr, die du siehst«, widersprach Sadagar. Er atmete heftig. Seine schmale Brust hob und senkte sich schnell. Die Erregung ließ seinen Atem fliegen. Er wand sich im festen Griff des Lorvaners. Aber Nottr hielt ihn an seiner schwarzen Samtjacke fest. Kalathee hatte sich bisher im Hintergrund gehalten. Jetzt trat sie auf Sadagar zu. Sie sah ihm fest in die Augen. »Hast du noch all deine Wurfmesser?« fragte sie. Der Steinmann sah sie überrascht an. Seine Hand zuckte
zum Gürtel und tastete über die Griffe der Waffen. Er zählte sie stumm. »Zwölf Stück«, antwortete er schließlich und nickte. »Gut, dann gebrauche sie, wenn es an der Zeit ist«, fuhr die Frau fort. »Was es auch immer ist, das uns bedroht, wir müssen uns aufeinander verlassen können. Möglicherweise benötigen wir jede einzelne Klinge!« Die Stimme Kalathees klang sanft, doch bestimmt. Sie ließ keinen Widerspruch zu. Dazu tat ihre Schönheit das übrige. Sie machte auf Sadagar den erwünschten Eindruck. Sadagar lächelte. »Ich werde für dich kämpfen«, sagte er. Nottr schnappte erregt nach Luft. »Hört euch den Wicht an«, schimpfte er. Dabei schüttelte er den schmächtigen Steinmann hin und her. »Plötzlich ist er der große Held und Kämpfer!« Nottr hörte erst auf, als ein gewaltiger Donnerschlag das ganze Schiff erzittern ließ und ein greller Blitz über den violett verfärbten Himmel zuckte. * Ein gelblicher Fleck bildete sich am südlichen Himmel. Er vergrößerte sich zuerst und zog sich dann auseinander wie die Lippen eines sich öffnenden Mundes. Dunkle Wolken drangen aus dem schwarzen Schlund, wurden von den Lippen ausgespien und zogen über den Himmel auf die Kurnis zu. Ein heftiger Wind kam auf. Er zerrte an der Takelage und brachte die Leinwand des Segels zum Flattern. Die Kurnis tänzelte auf der Stelle und drehte sich. Mit einem Satz stand Mythor am Mast und versuchte die Taue zu lösen, die das Segel aufgespannt hielten. Gleichzeitig ergriff Nottr das Ruder, um das Schiff in die Gewalt zu bekommen. Mythor zerrte an den Schlingen und Knoten. Währenddessen fetzte der Wind an der Leinwand. Sie knatterte
und prasselte. Es fehlte nicht viel, und sie würde zerreißen. Die Kurnis schlingerte und drehte sich um die eigene Achse. Nottr stemmte sich mit aller Kraft in das Ruder – vergeblich. »Ich schaffe es nicht!« brüllte der Lorvaner. »Es läßt sich nicht mehr bewegen!« Mit einem platzenden Geräusch riß die Leinwand des Segels auseinander. Die Fetzen peitschten über das Deck und schlugen Mythor ins Gesicht. Die Taue, die er lösen wollte, verloren plötzlich ihren Widerstand und rissen ihn am Mast hoch. Mit dem Kopf nach unten blieb er an der Spitze des Mastes hängen. Alton, das Gläserne Schwert, glitt ihm aus dem Gürtel. Es fiel, drehte sich in der Luft und blieb zitternd dicht neben dem Mast in den Planken der Kurnis stecken. »Mythor!« schrie Kalathee. Sie löste sich von der Reling und versuchte auf den Mast zuzulaufen. Sie schaffte nur ein paar Schritte. Das Schlingern des Schiffes riß ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel seitwärts auf das Deck. Der nächste Stoß, der die Kurnis herumwirbelte, schleuderte sie gegen die Reling. Das trockene Holz ächzte. Nottr stand noch immer am Ruder und versuchte, das Schiff unter Kontrolle zu bekommen. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen, die Adern an seinen Schläfen traten dick hervor und pulsierten. Sein langer Zopf zuckte wie eine Peitsche um seinen Körper. »Gib es auf!« rief ihm Sadagar zu. Der Steinmann war gestürzt und klammerte sich verzweifelt an kleinen Erhebungen der Planken fest. Wenn er den Halt verlor, würde ihn das Schaukeln des Schiffes über Bord schleudern. »Ohne ein Segel ist das Ruder sinnlos. Du kannst die Kurnis nicht mehr steuern.« »Nottr!« schrie jetzt auch Kalathee. Sie rief es ängstlich, in der Panik wirkte ihre Stimme schrill. Der Lorvaner ließ bei ihrem Ruf das Ruder los. Er wirbelte,
herum und sah die Frau an die Reling geklammert. Er versuchte das Schaukeln des Schiffes auszugleichen und taumelte auf sie zu. »Halt durch, Kalathee!« brüllte er. »Hilf Mythor!« rief Kalathee zurück. Nottr blieb stehen und drehte sich um. Erst jetzt entdeckte er den Mann, der an der Spitze des Mastes hing. Er zuckte zusammen und wankte auf den Mast zu. Nach einem Schritt jedoch blieb er stehen und blickte zurück auf die blonde Frau, die sich verzweifelt an die Reling klammerte. Für Augenblicke konnte er sich nicht entscheiden, wem er zuerst helfen sollte. »Hilf Mythor!« wiederholte Kalathee. »Ich kann mich halten!« Ein neuerlicher Windstoß traf die Kurnis. Unter der gewaltigen Wucht des Windes und der Wellen stöhnte das Holz des Schiffsrumpfs. Die Kurnis neigte sich zur Seite. Kalathee schrie auf, als Mythor am Mast durch die Luft gewirbelt wurde. Der geflochtene Hanf der Taue schnitt Mythor schmerzhaft ins Fleisch. Er versuchte sich am rissigen Holz des Mastes festzuklammern, aber die ständigen Schwankungen rissen ihn immer wieder los. Holzsplitter bohrten sich in seine geschundenen Handflächen. Mythor tastete nach seinem Gürtel und fühlte plötzlich den Griff des Dolches. Die Klinge saß stramm in der Scheide und war nicht herausgerutscht. Er riß die Waffe heraus und zog sich an dem festgebundenen Bein hoch. Inzwischen hatte Nottr den Mast des Schiffes erreicht. Er zog sein Krummschwert und schob es sich zwischen die Zähne, um beide Hände frei zu behalten. Dann umklammerte er den rauhen Mast mit Händen und Füßen und kletterte hinauf. Der Lorvaner war noch etwa zwei Armspannen von Mythor entfernt, als von Süden her eine gewaltige Welle heranbrandete. Sie mußte weit über zehn Schritt hoch sein. Auf ihrem Kamm bildeten sich weiße Schaumflocken, die vom Wind da-
vongefetzt wurden. »Du schaffst es nicht mehr«, warnte Sadagar, aber der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen. Außerdem war der Heulton zu einer solchen Stärke angewachsen, daß er alle anderen Geräusche übertönte. Wie eine Nußschale in der Brandung des Ozeans neigte sich die Kurnis zur Seite, als sie in das Wellental, das der gewaltigen Woge voranging, hineinglitt. Ein Zittern durchlief den gesamten Bootskörper. Jetzt erst bemerkte Nottr die Gefahr. Er sah die Wellenwand über sich auftauchen und öffnete den Mund. Doch sein Schrei erstickte in der Kehle. Er verlor das Krummschwert, das er zwischen den Zähnen gehalten hatte. Mit aller Kraft umklammerte er den Mast und zog sich gegen das Holz. Wie eine Lanze, die zum Stoß gesenkt wird, zeigte der Mast des Schiffes auf die hoch aufragende Wellenwand. Fast die Hälfte des Rumpfes tauchte aus dem Wasser auf. Lose Planken und Balken rutschten über das schrägstehende Deck, verfingen sich in den Tauen oder glitten in das tosende Meer. Der unwirkliche Heulton erscholl nun mit einer solchen Macht, daß die Trommelfelle der Menschen zu zerreißen drohten. Sadagar verlor den Halt, als er für einen winzigen Augenblick seine Hände gegen den Kopf preßte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er schlitterte über das Deck. Dabei überschlug er sich und prallte mit dem Kopf gegen eine hölzerne Verstrebung. Mehr instinktiv griffen seine Hände zu, und seine Arme umklammerten das nasse Holz. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber das Wasser schlug über ihm zusammen und erstickte jeden Laut. Mit der Mastspitze voran drang die Kurnis in die gewaltige blutrote Welle. Unvorstellbare Wassermassen krachten gegen die Planken, zerstörten Teile der Aufbauten und brachen Balken wie dünne Hölzer auseinander. Ein donnerndes Inferno
brach über das Schiff herein. In der Luft hing ein Klagen wie die Todesschreie aus Tausenden von Kehlen. Es verband sich mit dem heulenden Wind, dem Bersten des Holzes und dem Ächzen und Stöhnen der Wanten. Für die Dauer eines Herzschlags wurde es schwarz um das Schiff, dann war alles vorüber. Absolute Stille legte sich über das Meer. Langsam richtete sich die Kumis auf und trieb dann auf dem ölig glatten Wasser. Der unirdische Heulton war ebenso verstummt wie der Sturm. Nichts erinnerte mehr an das furchtbare Toben, das noch vor wenigen Augenblicken alles zu zerstören drohte. Nun erschienen die Stille und Ruhe unwirklicher als das Tosen des Infernos. »War es Wirklichkeit?« flüsterte Kalathee. Sie lag an der Reling und umklammerte noch immer krampfhaft die Verstrebungen. Sie lag auf der Seite, hatte die Augen geschlossen und zitterte. Mühsam erhob sie sich schließlich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. Sie atmete schwer. Mit einer Hand fuhr sie sich durch ihr langes blondes Haar und streifte die Nässe aus den Strähnen. Auf ihrer Zunge lag ein salziger Geschmack, in ihren Augen brannte noch immer das Meerwasser. »Was war das?« fragte sie. »Welche Macht hat uns das gesandt?« Sie murmelte die Worte leise. Nur wenige Schritte von ihr entfernt lag Sadagar. Der Steinmann hatte sich an dem Stumpf einer Verstrebung festgeklammert. Er bewegte sich nicht. Kalathee erhob sich, ging auf ihn zu und hockte sich neben ihn. Sie sah, daß er atmete. Seine schmächtige Brust hob und senkte sich gleichmäßig. »Es ist vorbei«, sagte sie. »Kannst du das wissen?« entgegnete Sadagar. Am Fuß des Mastes saß Nottr. Er beobachtete die Frau, und für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Kalathee wich
dem Blick aus und sah hoch zur Spitze des Mastes. Plötzlich wich sie zurück. Sie taumelte einige Schritte und preßte die Handknöchel zwischen die Zähne. Ein gellender Schrei scholl über das Deck. »Mythor!« Gleichzeitig sprangen Sadagar und Nottr auf die Beine. Zuerst starrten sie die Frau an, dann folgten sie ihrem ausgestreckten Arm und drehten ihre Köpfe zur Spitze des Mastes. »Er ist weg!« flüsterte Kalathee. »Beim Kleinen Nadomir«, murmelte der Steinmann. Nottr lief nach vorn zum Bug, lehnte sich über die Reling und blickte ins Wasser. »Mythor!« rief er und legte beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund. »Mythor, kannst du mich hören?« Einen kurzen Moment wartete er auf Antwort und lauschte. Sein Blick streifte über die spiegelglatte Oberfläche des Meeres. Nirgendwo war eine Bewegung zu entdecken. »Mythor!« rief der Lorvaner noch einmal. Er pumpte die Lungen voll Luft und ließ seine Stimme dröhnend über das seltsam ruhige Meer schallen. »Die Taue sind zerrissen«, stellte Sadagar fest. Er stand unter dem Mast und blickte nach oben. »Die Welle hat ihn mitgenommen!« Kalathee hob beide Hände an den Kopf. »Das darf nicht sein«, flüsterte sie. Ihre Lippen zitterten. Es schien, als murmle sie Beschwörungen. »Mythor!« brüllte der Lorvaner noch einmal, und sein Gesicht lief unter der Anstrengung rot an. Am Rand des Decks umrundete er das gesamte Schiff. Immer und immer wieder rief er den Namen des Vermißten. »Ist damit das Schicksal der Lichtwelt besiegelt?« fragte Kalathee leise. »War das der entscheidende Sieg der Mächte der Finsternis?« Nottr stand am Heck der Kurnis und schlug mit der Faust
auf die Reling. »Mythor!« brüllte er wieder, und seine Stimme klang flehentlich. Doch sie verhallte ungehört in der Weite des Meeres. »Das Meer gibt niemals seine Beute zurück«, stellte der Steinmann fest. Nottr drehte sich um und starrte Sadagar wütend an. Es sah so aus, als wolle er sich auf ihn stürzen, um ihn für die Bemerkung mit eigenen Händen zu erwürgen. Der Steinmann zog den Kopf ein. In diesem Augenblick wünschte er sich, im Boden versinken zu können. Eine kleine Welle bildete sich im Heckwasser des Schiffes und schlug leise gegen den Rumpf. Die Welle war von einem Kopf verursacht worden, der plötzlich auftauchte. Der Kopf eines Menschen. Langes, dunkles Haar hing ihm in nassen Strähnen um die Stirn. Nottr sah ihn und prallte zurück. Er streckte die Hand aus und deutete mit dem Finger in das Wasser. »Dort!« stammelte er. Sofort standen die Gefährten neben ihm. Sadagar schnappte nach Luft. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Er klappte seinen Mund wieder zu und starrte wortlos ins Wasser. Kalathee beugte sich weit über die Reling, um besser sehen zu können. Sie verlor das Gleichgewicht, und ihre Füße lösten sich vom Boden. Im letzten Augenblick packte sie der Lorvaner an der Kleidung und riß sie zurück. »Mythor!« rief Kalathee. Der Kopf bewegte sich. »Vielleicht ist jemand so freundlich und hilft mir hinauf«, sagte der Kopf. Eine Hand tauchte neben ihm auf, und die Finger strichen eine Haarsträhne aus der Stirn. »Natürlich«, lachte Kalathee. Sie wandte sich an Nottr und Sadagar. »Tut etwas, helft ihm!« forderte sie und stieß den
Steinmann gegen die Schulter, weil der ihr am nächsten stand. Sie war aufgeregt und zitterte am ganzen Körper, aber diesmal vor Erleichterung. »Ein Tau!« befahl Nottr, und auch er stieß Sadagar an. Dieser Stoß war allerdings wesentlich kraftvoller als der der Frau und trieb den schmächtigen Steinmann weit über das Deck. Mit beiden Armen ruderte Sadagar in der Luft, um sein Gleichgewicht zurückzufinden. »Ein Tau«, murmelte er dabei und nickte. »Sofort, ich bringe es!« Wenig später stand Mythor wieder auf den Planken der Kurnis. Kalathee fiel ihm um den Hals und drückte ihn an sich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und preßte ihre Lippen so heftig auf den Mund Mythors, daß dieser kaum Luft bekam. Nottrs Gesicht verfinsterte sich dabei. Sadagar stellte sich neben Mythor und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er grinste. »Wenn du das nächstemal schwimmen gehst, meldest du dich vorher ab!« tadelte er mit betont strenger Stimme. »Wir hätten uns fast schon Sorgen gemacht. Ist das dein Blut?« »Blut?« fragte Mythor erstaunt. Jetzt erst bemerkte er, daß sein Gesicht, seine Hände, seine Kleidung, überhaupt sein gesamter Körper von einer dunkelroten Flüssigkeit überzogen waren. Er strich mit der Hand über einen Arm, aber es ließ sich nicht abstreifen. Er hatte jedoch keine Verletzungen, abgesehen von einigen Schrammen und Kratzern an den Händen. »Das Meer«, sagte Kalathee. »Es ist die Farbe des Meeres!« »Ein Blutmeer«, flüsterte Sadagar. Noch immer war der Himmel tiefrot, und die Besatzung der Kurnis hatte die Tönung des Wassers für eine Widerspiegelung des Himmels gehalten. »Auch das Deck, der Mast«, stotterte Nottr. »Dein Kleid, Kalathee, überall Spritzer und Flecken, alles rot, alles wie Blut!« In den ersten Augenblicken, nachdem die gewaltige Welle
über das Schiff hinweggerollt war, hatte die Besatzung in ihrer Freude über die Rettung nicht auf die Umgebung geachtet. Jetzt traf sie die schreckliche Erkenntnis wie ein Schlag. »Es ist noch nicht vorbei!« Sadagar sprach es aus, und sein schmächtiges Gesicht erbleichte. »Die Ratten haben schon mehr geahnt, und eine einzige Welle brauchten die Vögel nicht zu fürchten!« »Aber was ist es dann?« fragte Kalathee. »Was mußten sie fürchten?« Hilflos zuckte Mythor mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Der Himmel«, warf Sadagar plötzlich ein. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte nach oben. »Der Kreis bewegt sich!« Der dunkelrote Regenbogen, der sich zu einem Kreis geformt hatte, zog sich langsam zusammen und wurde enger. Er wurde gleichmäßig kleiner, und die Kurnis blieb ständig in seinem Mittelpunkt. Über den violetten Himmel zuckten bläuliche Zungen. Grelle Blitze leuchteten auf, explodierten zu einem gleißenden Stern und schossen in alle Himmelsrichtungen auseinander. Dort, wo sie erloschen, blieben kleine gelbe Wolken zurück. Es blies kein Wind, nicht einmal ein leichter Hauch war zu verspüren. Dennoch begannen die Wolken zu wandern. Sie bewegten sich gleichmäßig und mit steter Geschwindigkeit. Wie von einer unbekannten Macht gezogen, trieben sie über die hohe Kuppel des Himmels auf den dunkelroten Kreis zu. Sie überwanden ihn ohne Schwierigkeiten und sammelten sich in seinem Inneren. Immer mehr Blitze zerschnitten das dunkle Violett des Himmels, platzten auseinander, verloren sich in alle Richtungen und bildeten bei ihrem Erlöschen neue gelbe Wölkchen. Im Inneren des Kreises türmten sie sich auf zu gewaltigen Wolkengebirgen, ballten sich ineinander und blieben
in ständiger, wallender Bewegung. Sadagar begann zu wanken. Er versuchte sich an der Kleidung des Lorvaners festzuhalten, doch dann gaben seine Knie nach, und er glitt zu Boden. Er schlug seine Hände vor das Gesicht und senkte den Kopf. »He«, sagte Nottr und versuchte vergeblich, den Steinmann festzuhalten. »Willst du dich schon ausruhen?« Er lachte und zupfte an der Kleidung Sadagars. »Ich habe es nie geglaubt«, murmelte Sadagar. »Jetzt bin ich verloren!« »Was hast du verloren?« fragte Nottr, der ihn nicht richtig verstanden hatte, und beugte sich zu dem Sitzenden hinunter. Im gleichen Augenblick federte Sadagar wieder hoch. Sein Gesicht war von Erregung gerötet. »Wir müssen fahren«, rief er. Er packte Mythor an der Fellweste. Er schüttelte ihn heftig. »Wir müssen das Segel hissen und den Kurs ändern. Ganz gleich wohin. Wir dürfen nicht unter dem Kreis und den gelben Wolken bleiben!« »Was er wohl hat?« murmelte Nottr verständnislos. Sadagar warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Dann sprang er zum Mast und versuchte die vollkommen verwirrten Taue zu ordnen. »Helft mir!« bat er. »Beim Kleinen Nadomir, ich flehe euch an!« »Das Segel ist zerrissen«, sagte Mythor ruhig. Der Steinmann fuhr zusammen und blickte nach oben. Nur noch ein kleiner Fetzen Leinwand hing lose an der Mastspitze. »Es weht auch kein Wind«, warf Kalathee ein. Ein verzweifelter Seufzer entrang sich der Brust des Steinmanns, als er die Lage begriff. Er stemmte sich mit der Hand am Mast ab. »Wir hätten den Ratten folgen sollen«, murmelte er. Mythor ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was weißt du?« fragte er ruhig. »Was bedeuten der Ring
und die Wolken? Es ist ein Zeichen, und du verstehst es. Sag uns, was uns bevorsteht!« Sadagar drehte sich langsam um. Sein sonst so sehniger, straffer Körper war zusammengefallen. Seine Schultern waren kraftlos nach vorn gesunken, seine Brust eingefallen. Sein pfiffiges Gesicht schien plötzlich um Jahre gealtert. Er sah hoch und blickte Mythor ins Gesicht. Seine Augen hatten jeden Glanz verloren. »Ein magischer Regen«, sagte er tonlos. Nottr lachte verächtlich. »Damit erschrecken die Lorvaner ihre Kinder«, höhnte er. »Die Geschichten von magischem Regen sind Hirngespinste alter Weiber und Märchenerzähler!« Sadagar sah ihn mitleidig an. »Du wirst es bald am eigenen Leib erfahren. Dieses Hirngespinst wirst du nicht überleben!« »Ich habe einmal davon gehört«, sagte Kalathee nachdenklich. »In manchen Hafenstädten wird davon erzählt. Meistens sind es Seeleute, die Nachrichten von magischem Regen mit nach Hause bringen!« »Seemannsgarn«, polterte Nottr. »Unsinniges Zeug!« Mythor war nachdenklich geworden. »Was wird in den Hafenstädten erzählt?« »Geschwätz!« knurrte Nottr. Er verschränkte die Arme vor der Brust, brummte ärgerlich und schlenderte zum Heck der Kurnis. »Es klingt alles sehr unwahrscheinlich«, sagte Kalathee etwas unsicher. »Vielleicht hat Nottr recht.« »Mit Sicherheit«, rief der Lorvaner dazwischen. »Erzähl!« forderte Mythor. »Es wird berichtet, daß manche Wolken in großer Höhe von den ewigen Winden weit über unsere Welt getrieben werden«, begann Kalathee. »Sie sollen nicht nur Wasser über das Land tragen, sondern auch andere Dinge, feste Stoffe!« »Welcher Art?«
Kalathee senkte den Kopf. »Ich erzähle nur, was ich gehört habe«, entschuldigte sie sich. »Ich selbst habe solch einen Regen noch nie erlebt! Aber…« »Froschregen«, unterbrach sie Nottr. »Es soll Frösche geregnet haben. Kleine grüne Hüpfer!« Mit beiden Beinen gleichzeitig sprang er im Kreis auf dem Deck herum und versuchte die Sprünge der Frösche nachzumachen. »Quaak, quaak«, sagte er. »Stimmt das?« fragte Mythor. Kalathee nickte und zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls wird es erzählt!« »Es ist die Wahrheit«, schaltete sich Sadagar mit leiser Stimme ein. »Es hat Unwetter gegeben, in denen Frösche zu Tausenden vom Himmel gefallen sind. Ganze Dörfer sind unter den weichen, glitschigen Körpern begraben worden, ganze Landstriche wurden völlig vernichtet.« »Hast du so etwas selbst erlebt, Steinmann?« fragte Nottr. »Mit eigenen Augen gesehen?« »Nein«, antwortete er. »Und dafür danke ich dem Kleinen Nadomir. Aber es gibt geheime Schriften, in denen von magischem Regen berichtet wird.« »Unsinn!« behauptete Nottr. Der Steinmann ließ sich nicht beirren. »Diese Ereignisse kündigen sich immer auf die gleiche Art an. In den Büchern war von einem gewaltigen roten Ring die Rede, in dem sich gelbe Wolken sammelten. Er wurde genau beschrieben, und er war so wie die Erscheinung dort oben am Himmel!« »Und dann fallen plötzlich die Frösche auf die Erde«, spottete der Lorvaner. »In der Runenbotschaft der Königstrolle ist alles Wissen über den magischen Regen gesammelt«, fuhr Sadagar unbeirrt fort. »Fahrna hat, wie ihr wißt, versucht, die Botschaft zu entschlüsseln. Es ist ihr nicht gelungen, aber das, was sie erfahren hat,
ist Wissen genug!« »Lügen einer alten, bösen Hexe«, behauptete Nottr. »Und es sind immer Frösche, die vom Himmel fallen?« fragte Mythor. »O nein«, sagte Sadagar und schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt zahllose Arten. Entsetzliche Geschichten, bei denen selbst das Erzählen oder Zuhören eine kaum erträgliche Qual bedeutet.« »Blutregen«, flüsterte Kalathee leise und schauderte. »Du hast recht«, stimmte ihr der Steinmann zu. »Und haben wir eine Erklärung für die Verfärbung des Meeres und die Farbe, die unsere Kleidung, das Deck des Schiffes und deinen Körper bedeckt, Mythor?« »Es sind die Waffen finsterer Mächte«, raunte Kalathee. »Ja, viele vermuten das«, sagte Sadagar. »Aber niemand weiß etwas Genaues. Es heißt, die Wolken bildeten sich weit im Süden über der Zone ewiger Finsternis. Sie würden ausgespien aus den Schlünden schwarzer Mächte, in die höchsten Höhen der Welt geschleudert und von magischen Winden davongetrieben.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Nottr mit unverkennbarem Hohn. »Lassen wir uns überraschen von dem, was sich uns bieten wird.« Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den zusammengeballten Wolken hoch, die sich allmählich auf die Kurnis herniedersenkten. »Ich bin bereit«, sagte er. * Es begann mit einem zweiten gewaltigen Donnerschlag. Der Lärm ließ den Schiffsrumpf erzittern und spannte die Trommelfelle der Schiffsbesatzung bis an der Rand der Erträglichkeit. »Das Grauen wird uns vernichten!« flüsterte Sadagar. Sein
schmächtiger Körper begann heftig zu beben, aus seinem Gesicht wich das Blut. »Geh unter Deck und schließ die Luke«, riet Mythor Kalathee. Aber die Frau schüttelte den Kopf. »Ich bleibe!« sagte sie mit fester Stimme. Zuerst waren es nur vereinzelte Tropfen, die in unregelmäßigen Abständen auf die Planken der Kurnis schlugen. Dicke Wassertropfen, die sich in nichts von einem normalen Regen unterschieden. »Wann kommen die Frösche?« spottete Nottr. Kurz darauf verdunkelte sich der Himmel. Der rote Kreis wurde schwarz. Tiefschwarz. Lediglich das helle, leuchtende Gelb der zusammengeballten Wolken wurde intensiver und kräftiger. Es bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem düsteren Hintergrund. Die Heftigkeit des Regens nahm zu. Die Tropfen wurden dicker, fielen dichter und schneller. Nach kurzer Zeit strömte das Wasser vom Himmel, floß in Sturzbächen über das Deck und spülte die blutrote Farbe, die noch von der Riesenwelle herrührte, ins Meer. Gleißende Blitze lösten sich aus den Wolken und stießen wie Schlangen auf den Mast der Kurnis nieder. Ein fluoreszierender Kranz hellen Lichtes legte sich um das Schiff. Windböen erfaßten die Kurnis, wirbelten sie herum und trieben sie auf einen unbestimmbaren Kurs. Der hölzerne Griff des Steuerruders pendelte in der Halterung und schlug einen rhythmischen Takt. Grüne Schleimfäden mischten sich in den Regen. Sie klebten am Mast und an den Tauen und tropften zäh auf das Deck. In kurzer Zeit bildete sich dort eine schleimige, rutschige Schicht. Sie fühlte sich warm an, und grünlicher Nebel und Dämpfe gingen von ihr aus. Ein bestialischer Gestank stieg der Besatzung in die Nasen. Er erschwerte das Atmen und legte sich schwer auf die Lungen.
Mythor ergriff den nassen, durchtränkten Rand seiner Fellweste und preßte ihn sich vor Mund und Nase. Dabei streifte sein Handrücken den breiten Ledergürtel. Im Augenblick durchfuhr ihn ein Schock. Das Gläserne Schwert – es fehlte! Mythor registrierte es mit Schrecken. Sein Gürtel war leer. Alton, die Waffe mit der klagenden Klinge, war verschwunden. In diesem Augenblick schossen ihm hundert verschiedene Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Hatte er die Waffe bei seiner Rückkehr auf das Schiff noch besessen? Oder hatte er sie verloren, als ihn die Strudel der gewaltigen Welle herumwirbelten? Hatte ihm das Meer der Spinnen die Waffe geraubt? Er zermarterte sich sein Gehirn. Wenn es so war, daß ihm die Waffe im Wasser aus dem Gürtel geglitten war, war sie für alle Zeit verloren. Sie würde auf dem Grund des Meeres liegen, und niemand würde sie im Kampf gegen die Mächte der Finsternis einsetzen können. Aber so konnte es nicht gewesen sein, durfte es nicht gewesen sein. Mythor dachte wieder an den Augenblick, in dem die Leinwand mit einem lauten, platzenden Knall zerriß. Er spürte wieder den groben Hanf des Taues, der sich ihm um den Fußknöchel legte und zusammenzog. Er wurde gewaltsam hochgerissen, und dann glitt Alton aus dem Gürtel. Deutlich stand wieder das Bild vor seinen Augen. Das Gläserne Schwert drehte sich in der Luft, stieß einen klagenden Ton aus und bohrte sich mit der Spitze zuerst in die Planken der Kurnis. Zitternd blieb es stecken. Genau so war es gewesen, er erinnerte sich wieder deutlich. Das Meer der Spinnen hatte ihm nicht die Waffe geraubt. Vorsichtig, ständig darauf bedacht, nicht den Halt zu verlieren, arbeitete sich Mythor durch die rutschige, grünliche Schleimmasse, die inzwischen das gesamte Oberdeck des Schiffes bedeckte. Er arbeitete sich vor bis zum Mast, der ebenfalls dick
mit der zähen, stinkenden Masse beklebt war. Er würde sich erst dann sicher fühlen, wenn die Waffe wieder in seinem Gürtel steckte. Eine erneute Windbö packte das Schiff und riß den Bug herum. Eine Welle spritzte schaumiges blutrotes Wasser über das Deck. Mythor verlor den Halt. Er rutschte mehrere Schritt durch die schleimige Masse. Im letzten Augenblick gelang es ihm, das Ende eines Taus zu fassen, das einmal das Segel getragen hatte. Er klammerte sich daran fest und zog sich zum Mast. Er fand leicht die Stelle, an der sich die Klinge in das Holz gebohrt hatte, aber die Waffe blieb verschwunden. Eine furchtbare Verzweiflung zog sein Herz zusammen. War Alton doch verloren? Hatte die Welle die Klinge über Bord gespült? Müdigkeit und Mutlosigkeit krochen in seine Seele. Sollte alles umsonst gewesen sein? »Mythor! Was sollen wir tun?« Die verzweifelten Rufe Kalathees rissen ihn aus seinen dumpfen Gedanken hoch. Er hob den Kopf und blickte zu seinen Gefährten hinüber. Kalathee stand neben dem Ruder und versuchte ihren Kopf vor dem grünen Schleim zu schützen, der immer heftiger auf die Kurnis und die Besatzung niederfloß. Eine Hand hielt sie vor Mund und Nase, um den bestialischen Gestank, der fast die Atemwege lähmte, zu mildern. Nottr lehnte am Heck an der Reling. Seine Arme hingen schlaff herunter. Fassungslos starrte er auf das seltsame Schauspiel, das sich ihm bot. Sein zerfurchtes Gesicht war vollkommen mit Schleim bedeckt. Zäh tropfte er von seinem Kinn. Der Steinmann hockte zusammengekauert neben einem aufgerollten Seil auf dem Boden. Er hatte beide Hände über den gesenkten Kopf erhoben und gefaltet. Seine Lippen bewegten sich. Beschwörend murmelte er vor sich hin.
»Wo ist Alton?« rief Mythor ihnen zu und versuchte das Tosen des Sturms zu übertönen. Die Gefährten wandten ihm ihre Gesichter zu und blickten ihn an. Sie hatten seine Stimme gehört, aber die Worte nicht verstehen können. »Das Schwert!« wiederholte Mythor noch einmal und legte eine Hand an den Mund. »Was ist mit meinem Schwert geschehen?« Nottr verstand und reagierte als erster. »Wir werden es suchen!« brüllte er. Seine Stimme dröhnte über die Kurnis. Sadagar hob resignierend die Schultern. »Was soll euch eine Waffe noch nützen?« Vorsichtig arbeitete sich der Lorvaner über das rutschige Deck vor. Mit ausgestreckten Armen versuchte er das Gleichgewicht zu halten. Ein Schlingern des Schiffes jedoch warf ihn um. Mit einem fürchterlichen Fluch auf den Lippen fiel er in den Schleim. Sofort bedeckte ihn schwerer grünlicher Nebel. Mühsam zog er sich wieder hoch und wischte sich über das Gesicht. Aber die gallertartige Masse ließ sich nicht abstreifen. Mythor löste sich vom Mast, stieß sich ab und glitt auf den Rand des Schiffes zu. Wenn die Welle das Schwert losgerissen hatte, war es vielleicht gegen die Reling gespült worden. Nur dort konnte er es finden. Ein gräßlicher Schrei Kalathees ließ ihn herumfahren. Die Frau stand starr und hatte die Augen weit aufgerissen. Sie krallte beide Hände in ihre bleichen Wangen. Sie versuchte etwas abzustreifen. Immer wieder und immer verzweifelter fuhren ihre Hände in ihr Gesicht und krampften sich zusammen. »Wie Feuer!« schrie sie. »Es brennt wie Feuer!« Auch Nottr hatte den schrecklichen Schrei gehört. Er blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Doch dann schrie auch er auf. Auch seine Hände fuhren zum Kopf. »Verflucht!« brüllte er. Er riß sein Messer aus dem Gürtel und begann in seinem
Gesicht zu schaben. »Was ist das für ein Zeug?« »Ich habe euch gewarnt«, murmelte Sadagar. »Aber ihr habt mich verspottet.« Mythor stieß sich ab und glitt auf Kalathee zu. Nur mühsam konnte er sich aufrecht halten. »Hilf mir, Mythor!« bat die Frau mit leiser Stimme. Tränen liefen über ihre Wangen. Das Gesicht Kalathees war gerötet. An manchen Stellen klebten gelbliche, daumennagelgroße Stücke. Wie Schnecken bewegten sie sich über das Gesicht und hinterließen eine brennende Spur. Mythor griff danach, doch im Augenblick, als er die gelbe Masse berührte, brannte seine Haut, als habe er an glühendes Eisen gefaßt. Seine Hand zuckte zurück, doch der Schmerz ließ nicht nach. »Bitte«, bat Kalathee. »Hilf mir!« »Nimm das Messer!« rief Nottr. »Schab sie mit der Klinge ab!« Mythor zog seinen Dolch heraus. Vorsichtig fuhr er damit über die Haut der Frau. Die gelbe Masse löste sich. Sie kroch über die glänzende Klinge und hinterließ einen schleimigen Film. Der Stahl der Waffe färbte sich darunter dunkel. In den letzten Minuten hatte der Himmel all seine Schleusen geöffnet. Ungeheure Massen an Wasser und Schleim stürzten auf die Kurnis nieder. Sturmböen türmten Wellen zu mannsgroßen Wasserbergen auf und ließen sie gegen die Bordwand des Schiffes klatschen. Gischt fegte über das Deck und peitschte die Gesichter der Besatzung. Der Kreis, der die gelben Wolken am Himmel einschloß, begann zu rotieren. Flammenzungen lösten sich und zuckten wie Kometenschweife durch die Luft. Die Wolken wallten auf wie eine kochende, brodelnde Masse. Hilflos tanzte die Kurnis auf dem aufgewühlten Meer. Un-
heimliche Gewalten hatten die Macht übernommen. Sie vollführten einen unirdischen Reigen und brachen alle Naturgesetze der Welt. Das Schiff und die kleine Besatzung waren ihnen hilflos ausgeliefert. Von allen Himmelsrichtungen gleichzeitig stürmten Winde auf sie ein. Eine immer größere Zahl der gelblichen Klumpen mischte sich in den grünen, schleimigen Regen. Wo die Teilchen die ungeschützte Haut berührten, brannten sie sich fest und stießen einen schmierigen, ätzenden Schleim aus. Das schlammige Deck des Schiffes begann zu brodeln. Fette Blasen bildeten sich, wuchsen und platzten schließlich. Stinkende Qualmwolken strömten von ihnen aus. Die Schreie und Flüche der gepeinigten Menschen vermischten sich mit dem Toben der Gewalten und vervollständigten diese Symphonie des Grauens. »Warum sind wir den Ratten nicht gefolgt?« murmelte Sadagar. Mit halb geschlossenen Augen watete er durch den Schleim. Er ging ziellos über das Deck und hielt seine Arme gespreizt. Zahllose gelbe Klumpen bewegten sich über seine nackten Unterarme und sein Gesicht. Sie hinterließen rote Spuren. In der Luft hing der Geruch nach verbranntem Fleisch. Tränen bildeten sich in den Augenwinkeln des Steinmanns. Sie rollten über seine Wangen und kühlten die brennenden Wunden. Ein gewaltiger Stoß ließ das Schiff erzittern und Mythor herumfahren. Der Bug der Kurnis tauchte tief in das Wasser, und eine mächtige Welle spülte über die Planken. Zischend stieg weißer Wasserdampf in den Himmel. Als sich das Schiff wieder aus den Wogen erhob, sah Mythor den Klumpen, der die Kurnis getroffen hatte. Er war etwa einen Schritt hoch und hatte die Form einer Halbkugel. Er bestand aus einer gelben, gallertartigen Masse und bewegte sich zitternd unter dem Schlingern und dem Stampfen des Schiffes. Er glich einem fast leeren ledernen
Wassersack. Der schimmernde Kranz eines seltsamen Lichtes umgab den Klumpen und ließ ihn unwirklich erstrahlen. Wassertropfen, die ihn erreichten, begannen zu kochen und verdampften zischend. »Die Planken brennen!« brüllte Nottr und deutete auf den Bug. Ein Windstoß trug einen harzigen, würzigen Geruch über das Schiff. Es war der Geruch nach brennendem Holz und Teer. Dort, wo die Ränder des gelben Klumpens das Deck der Kurnis berührten, kräuselten sich schwarze Rauchwolken in den stürmischen Himmel. Kleine Flämmchen züngelten auf und wurden von dem niederprasselnden Regen zurückgedrängt. Doch ganz allmählich gewann der Brand die Oberhand. Der Regen verdampfte nutzlos, das Feuer breitete sich aus. Mit schweren Schritten kämpfte sich Mythor durch die schleimige, klebrige Masse, die das Deck bedeckte. Mühsam arbeitete er sich zum Bug vor. »Ich werde dir helfen!« rief Nottr. Er setzte sich ebenfalls in Bewegung und vergaß seine brennende Haut. Ganz allmählich zerfloß der gelbe Klumpen. Wie die Fangarme eines Polypen verteilte sich seine Masse. Zungen aus Schleim krochen über das Deck. An seinen Rändern verkohlte das Holz der Planken und fing Feuer. Schon von weitem spürte Mythor die Hitze. Es strahlte wärmer als die Sonne. Der Klumpen mußte ganz aus einer heißen, kochenden Masse bestehen. Auf halbem Weg bückte sich Mythor, ergriff eine lose Schiffsplanke und Umschloß sie mit der Faust wie ein Schwert. Das war jetzt die einzige Waffe, die er besaß. Als Mythor die ersten Ausläufer des Klumpens erreicht hatte, hob er das Holz und schlug mit aller Kraft zu. Weich drang das Holz in die Masse und begann sofort zu brennen. Dennoch
zog sich der gelbe Ausläufer zurück. »Das Zeug lebt«, murmelte Nottr. Er hatte Mythor inzwischen erreicht und starrte mit Grauen auf die kochende Gallerte. In seiner Hand hielt der Lorvaner sein Krummschwert. »Dann läßt es sich auch bekämpfen«, stellte Mythor fest und drang von neuem auf die Masse ein. Auch Nottr hob jetzt sein Schwert. Er packte den Griff mit beiden Händen, holte aus und schlug zu. Die scharf geschliffene Klinge pfiff durch die Luft und drang tief in die Masse. Nottr hatte alle Kraft in den Hieb gelegt. Aber als er die Waffe zurückzog, schloß sich die Schnittstelle sofort wieder. Erneut holte er aus, und noch einmal schlug er zu. Aber er vermochte nichts mit dem Schwert auszurichten. Jeder Stich und jeder Schlag wurde weich abgefangen. Die Schneide konnte die gelben Zungen nicht zerteilen. »Zäher als Leder«, schimpfte Nottr. Unermüdlich schlug er zu. Mythor kämpfte mit der Planke. Er stieß und schlug damit wie mit einer Lanze. Die Spitze brannte, und ständig wurde die Waffe kürzer. Inzwischen hatte sich der gelbe Klumpen schon weit über das Schiff verteilt. Ständig dehnte er sich weiter aus. Nur dort, wo Mythor und Nottr auf ihn einschlugen, bewegte er sich kaum. Träge und zäh umfloß er die beiden Männer. »Eine Falle«, warnte Mythor, doch es war schon zu spät. Hinter ihnen hatte sich die Masse wieder verbunden. Nottr und Mythor standen inmitten der dampfenden Gallerte auf einer kleinen Insel, nicht einmal zwei Schritt im Durchmesser. »Verfluchtes Zeug«, schimpfte Nottr. Er hob den Fuß und trat mit voller Wucht zu. Sofort verkohlte das Leder seiner Stiefel, und das Fell fing Feuer. Mit beiden Händen mußte er die Flammen löschen. »Wir sind verloren«, rief der Lorvaner. Ganz allmählich wurde die kleine Insel schmaler. Die Masse
zog sich zusammen. Unter den Schlägen Mythors und Nottrs wich sie zwar noch immer ein wenig zurück, aber es war abzusehen, wann sie die beiden erreicht haben würde. Rücken an Rücken standen die beiden Männer. »Mythor, dort!« brüllte Nottr. Mit der ausgestreckten Hand deutete er auf die Spitze des Bugs. Mythor unterbrach für einen kurzen Moment den Kampf und folgte mit seinem Blick dem Zeichen des Lorvaners. Dann durchfloß ihn ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. »Wir werden siegen!« rief er aus. Alton, das Gläserne Schwert, lag in der Spitze des Bugs. Es hatte sich zwischen Resten zerrissener Seile und zerborstener Planken und Balken verkeilt. Die Riesenwelle mußte es vom Mast losgerissen und dorthin getrieben haben. In der Düsternis des Unwetters leuchtete die Klinge matt auf. Doch strahlte sie heller als der leuchtende Schleimklumpen. »Wie willst du die Waffe erreichen?« fragte Nottr. Er teilte keineswegs den Optimismus, den Mythor verspürte. Das Gläserne Schwert war von der schleimigen Masse vollkommen eingekreist. Ständig leckten Zungen darauf zu. Aber es schien so, als ob von Alton eine Macht ausgehe, die die Gallerte in ihre Schranken wies. Auch die klebrigen grünen Fäden, die mit dem Regen vermischt vom Himmel fielen, wurden abgelenkt, beschrieben einen leichten Bogen und schlugen nur rechts und links daneben auf, während das Wasser des Regens ungehindert auf Klinge und Griff fiel. »Wir müssen es schaffen!« Mythor und Nottr, die bisher mit den Rücken gegeneinander gekämpft hatten, drehten sich zur Seite und hieben nun nebeneinander in die gleiche Richtung auf die Masse ein. »Wir müssen eine Gasse schlagen!« Zuerst sah es so aus, als ob die Männer Erfolg hätten. Das stinkende gelbe Zeug wich zurück und gab verkohlte und
brennende Planken frei. Teilweise war das Deck bereits eingebrochen. Schleimfäden hingen in den Schiffsrumpf hinab. Dann jedoch zog sich die Masse plötzlich zusammen. Ein dicker Wulst bildete sich unmittelbar vor den Männern. Er begann zu zucken und in den verschiedensten Farben zu leuchten. Grüne, blaue und violette Lichtblitze zuckten hin und her. Schwere Dämpfe quollen aus schmalen Öffnungen, stiegen auf und brannten in den Augen und Lungen. »Es wehrt sich!« »Wir haben keine Chance!« »Wir müssen Alton erreichen!« Die Männer kämpften verzweifelt. Die Dämpfe erzeugten immer wieder furchtbaren Hustenreiz. Ihr Atem ging pfeifend, ihr Blut pochte ihnen in den Schläfen und dröhnte in den Schädeln. Plötzlich gaben die Planken der Kurnis nach. Ein häßliches Knirschen und Bersten mischte sich in das Toben des magischen Regens. Mit einem wilden Aufschrei brach Nottr durch das Deck. Die glühenden Balken vermochten das Gewicht des Lorvaners nicht mehr zu tragen. Funken stoben auf und wurden vom Sturm über das Schiff verstreut. Mit einer Hand griff Nottr noch nach dem ausgezackten Rand der Bruchstelle. Das Schwert entglitt seiner Hand und polterte in den Leib des Schiffes. »Mythor!« schrie er. Mythor beugte sich zu dem Gefährten hinunter und versuchte dessen Hand zu ergreifen. Doch noch bevor er ihn fassen konnte, schoß eine gelbe Zunge auf die Hand des Lorvaners zu und legte sich über sie. Sofort roch es nach verbranntem Fleisch. Nottr schrie vor Schmerz auf. Seine Finger öffneten sich und gaben den Decksrand frei. Er fiel in das dunkle Innere der Kurnis. Mythor hörte, wie der Körper des Lorvaners aufschlug. Er
rief seinen Namen, aber er erhielt keine Antwort. Mit verstärkter Wut und Kraft schlug Mythor jetzt auf die schleimige, kochende Masse ein. Aber er spürte auch, daß sein Versuch sinnlos war. Die Planke, die er als Schlagwerkzeug benutzte, war nur noch etwa eine Armspanne lang. Der Rest war verbrannt. Jeder neue Schlag verkürzte das Holz. Außerdem hatte sich der Schleim vor ihm so dicht zusammengezogen, daß er ihn mit seinen Hieben nicht mehr auseinandertreiben konnte. Der Kampf schien aussichtslos. In diesem Augenblick hörte er hinter sich die Stimme des Steinmanns. »Mythor, fang!« Mythor drehte sich kurz um und sah Sadagar auf dem Bündel des zusammengerollten Seiles stehen. Um ihn herum floß bereits der kochende Schleim. In der linken Hand hielt er fächerförmig einige seiner Wurfmesser. Er nahm eins der Messer in die Rechte und hob den Arm. »Bist du bereit?« Mythor warf den nutzlosen Rest der Planke, die er noch in der Hand hielt, zur Seite. »Wirf!« forderte er. Der Arm Sadagars zuckte kaum merklich. Das Messer verließ wirbelnd die Hand. Die Klinge drehte sich und reflektierte das flackernde Licht des Unwetters. In einem flachen Bogen flog die Waffe auf Mythor zu. Mythor knickte in den Knien ein und beobachtete scharf die Flugbahn des Wurfgeschosses. Dann fuhr plötzlich seine Hand hoch. Er spürte den Griff des Messers in der Handfläche und griff zu. »Das nächste!« forderte er. Wenige Augenblicke später hatte Mythor sämtliche zwölf Messer des Steinmanns. »Versuch dein Spiel«, rief Sadagar. »Das werde ich«, versetzte Mythor zuversichtlich. Nur etwa vier Schritt trennten Mythor von seiner Waffe, dem Gläsernen Schwert. Eine sehr kurze Entfernung, doch für
einen Sprung aus dem Stand zu groß. Nur eine Möglichkeit gab es, den stinkenden, kochenden und brodelnden Klumpen zu besiegen. Mythor nahm eins der Wurfmesser, faßte es an der Klinge, hob den Arm und schleuderte es mit aller Gewalt in die gelbe Gallerte. Einen halben Schritt vor ihm stieß die Klinge in die Masse, durchschnitt sie und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in die Schiffsplanke. Zitternd blieb das Messer stecken. Der Stahl der Klinge steckte ganz im kochenden Schleim. Nur der rauhe Hirschhorngriff ragte heraus. Ein Zittern durchlief die Masse. Kreisförmig breiteten sich Wellen um das Wurfmesser aus und rollten bis in die entferntesten Ausläufer. Wieder fuhr Mythors Arm hoch und zuckte unmittelbar darauf nach vorn. Ein weiteres Messer zitterte in der kochenden Gallerte aus. Es steckte etwa fünf Handbreit versetzt neben dem ersten. Es sah so aus, als könne der gelbe Schleim Schmerz empfinden. Nach jedem Wurf zuckte er, zog sich zusammen, ballte sich an manchen Stellen, türmte sich auf und zerfloß wieder. Vor allem um die Wurfmesser zischte und brodelte es. Zwölfmal war Mythors Wurfarm nach vorn geschnellt, zwölfmal hatte eine spitze, scharfe Klinge die Masse durchschnitten und sich fest in das Schiffsholz gebohrt. Jetzt deuteten die Griffe der Messer zwei parallele Reihen an, die von Mythor in gerader Linie auf den Bug des Schiffes zuliefen. Sechs Messer steckten in jeder Reihe, fünf Handbreit waren sie jeweils voneinander entfernt. Die kleine, noch unversehrte Insel, auf der Mythor stand, war in der Zwischenzeit stark geschrumpft. Es blieb ihm nur noch wenig Platz. Mythor hob die Schiffsplanke auf, die ihm noch vor wenigen
Minuten als Schlagwerkzeug gedient hatte. Er beugte sich vor und hieb mit dem Holz auf die Griffe der ersten Messer, die er von seinem Standplatz noch erreichen konnte. Er rammte die Klingen noch tiefer in das Deck. Ein erster Ausläufer der kochenden Masse erreichte Mythors Stiefel. Das Leder schmorte, der Pelzbesatz wurde versengt. Kleine Rauchwölkchen stiegen auf und verbreiteten einen scharfen, beißenden Gestank. »Er ist verloren!« schrie Kalathee. Ihre gellende Stimme übertönte den Sturm und das Unwetter. Mythor hob den angesengten Fuß und setzte ihn vorsichtig auf den Griff des Messers. Der Knauf drückte sich in die Sohle, aber das Messer hielt. Mit der Planke stützte sich Mythor ab und setzte den zweiten Fuß auf das nächste Messer. Mit dem linken Arm ruderte er in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten. In diesem Augenblick schlug die Masse über seinem letzten Standplatz zusammen und versengte das Holz der Planken. »Es gelingt!« jubelte Sadagar. Mit schnellen, präzisen Schritten lief Mythor über den Steg aus Wurfmessern. Unter ihm brodelte der gelbe Schleim. Hitze strahlte zu Mythor auf, bläuliche Flämmchen leckten um den unteren Teil seiner Stütze, sie verkohlte, wurde brüchiger und kürzer. Nur noch zwei Schritt hatte Mythor bis zum Bug zurückzulegen, als das Deck unter ihm nachgab. Die Masse hatte die Schiffsplanken so stark verkohlt, daß sie das Gewicht des Mannes nicht mehr tragen konnten. Ein häßliches Knirschen kündigte den Einsturz an. Im nächsten Augenblick gab das Messer unter Mythors rechtem Fuß nach. Es wurde durch das Deck gedrückt und polterte in das Schiffsinnere. Mythor warf beide Arme in die Luft. Er versuchte sich noch
auf dem linken Bein zu halten. Mit letzter Kraft rammte er sein Stützholz in die Masse, drückte sich ab und warf sich nach vorn. Sein Knie streifte die heiße Masse. Ein furchtbarer Schmerz durchfuhr sein Bein. Deutlich nahm er den Geruch nach verschmortem Fleisch wahr. Kalathee schrie auf. »Mythor!« brüllte Sadagar verzweifelt. Dann umklammerte Mythor mit beiden Händen die Reling, die spitz am Bug zusammenlief. Das Holz war feucht und kalt, Mythor preßte fest seine schweißnasse, heiße Stirn dagegen. Seine Brust hob und senkte sich schnell, aber ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung durchzog seinen Körper. Hier gab es keine brodelnde, kochende Masse mehr. Alton, das Gläserne Schwert, war ein unüberwindlicher Wall gegen den gelben Schleim des magischen Regens. * Sicher lag der Griff des Gläsernen Schwertes in Mythors Hand. Die Klinge sang ihr klagendes Lied, während Mythor auf die zähe Schleimmasse einschlug. Nottrs Krummschwert hatte gegen die Gallerte nichts ausrichten können, doch die Schneide der leuchtenden Waffe zerschnitt die Masse wie nassen Lehm. »Hierher, Mythor!« schrie Sadagar. »Es hat uns erreicht«, ergänzte Kalathee. Der Steinmann stand auf dem Bündel aus zusammengerollten Tauen und hatte den Arm schützend um Kalathee gelegt. Der Schleim nagte an den unteren Seilen und hatte sie teilweise bereits in Brand gesetzt. Noch wurden Sadagar und die Frau von dem kleinen Hügel aus Tauen geschützt, aber in wenigen Augenblicken würden sie in der brodelnden Masse versinken.
Mit kreuzweisen, schnellen Hieben schlug Mythor eine Gasse in den Schleim. Gelbe Klumpen flogen zischend durch die Luft. Doch sobald Mythor vorbei war, schloß sich die Masse wieder und verband sich von neuem. Mythor befreite Sadagar und Kalathee und bahnte ihnen einen Weg zum Heck des Schiffes, das noch frei war. »Wo ist Nottr?« fragte der Steinmann. »Er ist eingebrochen«, antwortete Mythor. »Ist… ist er…?« fragte Kalathee stockend. »Ich weiß es nicht«, antwortete Mythor. Das Tosen des Sturmes nahm ständig an Heftigkeit zu. Es schien fast so, als ob das Unwetter bisher nur mit halber Kraft auf die Kurnis und deren Besatzung eingestürmt sei. Waagerecht fegte der Regen über das Deck. Ständig brachte er neuen Schleim mit sich. Der Wind riß an der Kleidung der Menschen und wühlte in den Haaren Kalathees. Von Horizont zu Horizont war der Himmel tiefschwarz geworden. Das einzige Licht in diesem Inferno kam von Mythors leuchtendem Schwert und dem schimmernden, heißen Schleim. Die Masse zog sich zusammen und türmte sich zu einem wabbeligen, mannshohen Gebilde auf. Am oberen Teil bildeten sich Fäden, wie die Fangarme eines Polypen. Sie bewegten sich wellenförmig und tasteten in der Luft. Fließend näherte sich die leuchtende Erscheinung den drei Menschen. »Es greift an«, flüsterte Kalathee. Fast gleichzeitig spürte Mythor brennend heiß den ersten Fangarm an seiner Schulter. Schleimig und stinkend legte er sich ihm um den Hals. Die Masse hatte eine plötzliche Zähigkeit gewonnen, die Mythor überraschte. Er wirbelte herum und führte einen waagerechten Streich mit Alton aus. Es traf das Gebilde in der Mitte und durchtrennte es. Sofort bildeten sich aus dem Stumpf neue Arme.
Der abgeschnittene Teil um Mythors Hals gewann ein Eigenleben und wand sich wie eine Schlange. Mythor faßte sein Schwert am Griff und an der Spitze und schabte die brodelnde Masse von seinem Körper. Die abgetrennten Stücke schleuderte er in das tobende Wasser des Meeres. Immer neue Wesen bildeten sich und näherten sich dem Rest der kleinen Besatzung mit langsamen Bewegungen. Mythor stand vor Sadagar und Kalathee und schützte sie mit schnellen Streichen. Jeder Hieb zerschnitt mindestens einen der schleimigen Fangarme, aber die abgetrennten Stücke flossen auf dem Deck zurück, verschmolzen und formten sich zu neuen Wesen. Die Klumpen, die auf Alton klebenblieben, schleuderte Mythor mit kraftvollen Schwüngen ins Meer. Wenn sie die Oberfläche berührten, zischte es auf, und gelbe Nebelschwaden wehten über die Wellen. Sie wurden vom Sturm ergriffen und davongeweht. »Sie lösen sich auf!« rief Sadagar und versuchte mit seiner hellen Stimme das Donnern des Infernos zu übertönen. »Nicht das Wasser verdampft, wenn sie ins Meer fallen, sondern der Schleim!« Mythor konnten den Steinmann nicht verstehen. Er bemerkte lediglich mit einem schnellen Seitenblick die aufgeregten Gesten Sadagars. Er ahnte, was der Steinmann wollte. Mythor änderte seine Taktik. Stückeweise trennte er die Fangarme aus der Masse. Noch bevor sie zurückfließen konnten, spießte er sie mit Alton auf und warf sie ins Meer. Sadagar lachte und klatschte in die Hände. »Ertränk sie, vernichte sie!« brüllte er, und der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen und trug sie in die Finsternis. *
Ein schwacher Wind blies von Süden her. Flache, sanfte Wellen spielten um den Bug des Schiffes; die Kurnis trieb auf einer leichten Dünung. Das Wasser wirkte tiefblau, die Sonne sandte warme Strahlen, und über allem spannte sich ein friedlicher Himmel. »Es ist vorbei«, murmelte Sadagar. Mythor stand in der Mitte des Schiffes, den Griff des Schwertes noch immer fest umschlossen. Seine Haut über dem Knie, an manchen Stellen des Armes, der Hand und des Gesichts war gerötet und wirkte verbrannt. Sein Haar war naß und hing ihm strähnig und wirr in die Stirn. Seine hellen Augen funkelten. Er hielt die Lippen fest zusammengepreßt. Gleichmäßig hob und senkte sich seine Brust. Kalathee trat von hinten an Mythor heran und legte ihren Arm um seine Hüfte. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und schloß die Augen. So blieb sie wortlos stehen und genoß das sanfte Wiegen der Wellen. Mit dem letzten Klumpen, den Mythor in das tosende Meer geschleudert hatte, war das Inferno des magischen Regens von einer Sekunde auf die nächste erstorben. Die gelben Wolken innerhalb des kreisenden dunkelroten Ringes waren explodiert und in alle Richtungen zerstreut worden. Die nachtdunkle Schwärze des Himmels war aufgerissen, der Sturm abgeflaut, und das Wasser des Meeres hatte die blutrote Farbe verloren. Die Gewalten hatten sich wieder beruhigt. Zurückgeblieben war nur ein Schiff ohne Segel und mit einem fast völlig zerstörten Deck. Die Planken waren verkohlt und an vielen Stellen eingebrochen. Steuerlos trieb die Kurnis vor dem südlichen Wind. Vorsichtig darauf bedacht, sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen, kroch Sadagar über die morschen Planken des Bugs und sammelte seine Wurfmesser wieder ein. Er-
wischte die geschwärzten Klingen sorgfältig sauber und schob sie zurück in seinen breiten Ledergürtel. »Eins fehlt«, murmelte er. Die brüchigen Lederscharniere der vorderen Luke knirschten, als die Klappe von innen aufgestoßen wurde. Kurz darauf erschien Nottrs Kopf über dem Rand. Das Gesicht des Lorvaners war rußgeschwärzt. Sein Zopf hatte sich zum Teil aufgelöst, und lange Haarsträhnen wehten ihm um die Schultern. Mit einer Hand hielt er sich die linke Gesichtshälfte. Sie war geschwollen und an der Stirn aufgeplatzt. Nach seinem Sturz war er im Inneren des Schiffes aufgeschlagen und hatte die Besinnung verloren. Das Gesicht des Lorvaners verfinsterte sich, als er Mythor und Kalathee dicht nebeneinander auf dem Deck stehen sah. Es wurde auch nicht freundlicher, als Mythor auf ihn zuging, ihm die Hand reichte und sich anbot, ihn heraufzuziehen. »Ich schaff das schon allein«, knurrte er. Als er auf Deck stand, schleuderte er ein Wurfmesser Sadagar vor die Füße. »Das habe ich gefunden!« brummte er. Sadagar grinste und bückte sich erfreut. »Das zwölfte«, rief er. Nottr verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stolzierte breitbeinig über das zerstörte Deck. Er besah sich die Schäden und musterte den Himmel. Er tat so, als ob ihn die anderen Leute nichts angingen. Das Bild Kalathees und Mythors, die dicht nebeneinander gestanden hatten, ging ihm noch nicht aus dem Kopf. »Was denkst du?« fragte ihn Mythor. »Werden wir mit der Kurnis Lockwergen erreichen können?« »Vielleicht können wir aus Resten ein neues Segel nähen«, schlug Kalathee vor. »Unter Deck gibt es noch genügend Leinwand!« »Ich weiß!« meinte Nottr. »Ich bin schließlich lange genug
unten gewesen!« Nottr schlenderte zum Mast und trat mit voller Wucht gegen das Holz. Schwarze Asche spritzte nach allen Seiten auseinander. »Noch einen Sturm hält das Holz nicht aus«, stellte er fest. »Das Deck läßt sich leicht reparieren, aber mit diesem Mast können wir nur bei ruhiger See segeln!« »Es ist ruhige See«, sagte Sadagar. Nottr nickte. Er schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und blickte über das Meer. Als schwache weiße Silhouette zeichnete sich bereits der Mond am fernen Horizont ab. Nottr verglich den Stand des Mondes mit dem der Sonne und der Kurnis, und er runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir sind vom Kurs abgekommen«, murmelte er. »Der magische Regen hat uns weit in südwestliche Richtung getrieben.« »Und du irrst dich nicht?« fragte Kalathee. »Auf meine Augen kann ich mich verlassen«, antwortete der Lorvaner scharf. Sein Blick wechselte bedeutungsvoll zwischen Mythor und Kalathee hin und her. »Und ich sehe, daß wir vom Kurs abgetrieben worden sind!« »Und ich sehe etwas anderes«, rief Sadagar plötzlich. Er stand seitlich an der Reling und blickte nach Süden. »Ich sehe Land!« Das Land war noch weit entfernt und kaum mit bloßen Augen zu erkennen. Der Steinmann mußte Augen haben wie ein Falke. Es war erstaunlich, daß ihm das Ufer aufgefallen war. Dort, wo der Horizont das Wasser des Meeres berührte, erhob sich ein flacher, dunkler Schatten. »Das kann nicht sein«, murmelte Nottr verwirrt. »Aber es ist so«, behauptete Sadagar überzeugt. »Mit viel Glück kann man Lockwergen von Urguth aus in sechs Tagen erreichen«, erklärte Nottr. »Wir haben den Mammutfriedhof erst vor drei Tagen verlassen. Es ist unmöglich, daß schon die
Küste Yortomens vor uns liegt!« »Du hast gesagt, der magische Regen habe uns abgetrieben«, wandte Kalathee ein. »Vielleicht haben wir die tainnische Küste vor uns.« »Unmöglich«, behauptete Nottr. »Dorthin wäre der Weg noch weiter!« »Vielleicht handelt es sich um eine Insel«, meinte Mythor. »Um ein bisher unbekanntes Eiland, das noch auf keiner Karte verzeichnet ist.« Nottr blieb stumm. Er hob lediglich die Schultern. »Oder wir irren uns, und das vermeintliche Land ist nur eine ferne Nebelbank«, sagte Kalathee. Sadagar protestierte. »Unmöglich! Meine Augen trügen mich nicht!« »Unser Ziel heißt Lockwergen«, fuhr Mythor fort. »Nach der Aussage des Beinernen soll dort der Helm der Gerechten zu finden sein. Ich muß ihn finden, um den Kampf gegen die Mächte der Finsternis aufnehmen zu können. Wir dürfen nicht zögern und noch mehr Zeit verlieren. Die Herren der Dunkelzone ruhen nicht. Wir werden ein neues Segel nähen und auf den richtigen Kurs zurückkehren!« »Und es ist doch eine Insel«, behauptete Sadagar starrköpfig. »Nottr, wirst du den Hafen von Lockwergen finden?« »Ich werde euch dorthin bringen!« * Der Südwind fing sich in der Leinwand und blähte das neue Segel über der Kurnis. Die Taue spannten sich in den Halterungen und erzeugten die Geräusche, die jedes Schiff auf jeder Fahrt begleiteten. Der Bug hob sich aus dem Wasser, tauchte dann wieder ein und zerteilte die flachen Wellenkämme. Gebannt standen Mythor, Kalathee und Sadagar unter dem
Mast und starrten auf die Nähte, mit denen sie viele kleine Leinwandreste zu einem Segel verbunden hatten. »Es hält!« jubelte Sadagar. »Beim Kleinen Nadomir, wir haben es geschafft.« »Auf nach Lockwergen«, dröhnte Nottr über das Deck. Er stand am Ruder und hielt den hölzernen Griff fest umklammert. Er bestimmte den Kurs und warf das Ruder herum. Er wartete darauf, daß sich der Bug in die neue Richtung drehte. Er wartete vergeblich! »Was ist, Nottr?« fragte Sadagar. Der Lorvaner stieß einen Fluch aus und bewegte das Ruder zur anderen Seite. Doch wieder zeigte die Kurnis keine Reaktion. »Wir bewegen uns nicht«, stellte Kalathee fest. »Das Schiff wirft keine Bugwelle!« »Doch, wir bewegen uns«, verbesserte Nottr. Er lief zum Heck des Schiffes und sah ins Wasser. »Aber wir treiben gegen den Wind.« »Gegen den Wind?« »Eine Strömung muß uns ergriffen haben. Wir treiben nach Süden!« »Dann stell dich ans Ruder, steure dagegen an!« ereiferte sich Sadagar. Nottr lachte und entblößte seine großen gelben Zähne. »Versuch es doch selbst einmal!« »Können wir uns nicht aus der Strömung befreien?« Nottr blickte auf das geblähte Segel und schüttelte den Kopf. »Der Wind ist zwar nur schwach, aber er müßte ausreichen, um das Schiff voranzutreiben. Ein fahrendes Schiff ließe sich manövrieren. Doch wenn wir treiben, nützt das Ruder nichts.« »Wir nähern uns der Küste«, stellte Kalathee fest. »Wir treiben genau darauf zu.« »Also doch festes Land«, triumphierte Sadagar. »Auf meine
Augen ist Verlaß!« Der graue Schatten, den die Besatzung der Kurnis am Horizont ausgemacht hatte, nahm allmählich Konturen an. Ein weißer Strand wurde sichtbar, flache, bewaldete Hügel und in der Mitte ein kegelförmiger hoher Berg. Der Gipfel des Berges war in Wolken eingehüllt. »Es scheint eine Insel zu sein«, sagte Kalathee. »Und sie ist bewohnt«, ergänzte Sadagar. »Ich sehe eine Stadt und einen Hafen.« »Zuuk!« murmelte Nottr. Er sprach es leise aus, und bei dem Klang des Worts lief den Gefährten ein Schauder des Grauens über den Rücken. »Du kennst die Insel?« fragte Mythor. »Es gibt eine alte Legende«, begann der Lorvaner. »Sie handelt von der Insel Zuuk. Wenn sie erzählt wird, verstummen die Seefahrer aller Welten und beten zu ihren Göttern.« »Vielleicht ebenso ein Hirngespinst wie der magische Regen«, unterbrach Sadagar schnippisch. »Irgendeine Macht des Meeres soll auf dieser Insel den Sitz ihres Reiches haben«, fuhr Nottr unbeirrt fort. »Vielleicht ist es der Herr der Winde, vielleicht der Fürst der Tiefe. Doch wer auch immer, es ist ein grausamer Herrscher, und finstere Mächte stehen ihm zur Seite. Schon viele Schiffe gerieten in den schrecklichen Bann dieser Insel, wenn sie in ihre Nähe kamen. Unerbittlich wurden sie von ihr angezogen, und keine Kraft konnte sie retten: weder die Segel noch die Ruder, noch Beschwörungen und Zauber. Es heißt, daß der betrunkene Kapitän eines Frachtschiffs hochmütig die Mächte beleidigt und herausgefordert hat. Er hat das Meer verflucht und die Gewalten verhöhnt. Es geschah in der Nähe dieser Insel, die bis dahin ein friedliches Eiland war. Niemals mehr wurde dieser Kapitän gesehen, und um die Insel legte sich ein Schleier des Grauens. Man sagte, daß der Kapitän ein Sklave der Macht
wurde, die er verhöhnt hatte, und bis in alle Ewigkeiten muß er für den Hochmut zahlen. Und dann gibt es Zeiten, in denen das Blut dieses Armseligen nicht mehr ausreicht, und er wird gezwungen, Opfer zu bringen!« »Menschenopfer«, flüsterte Kalathee. »So geht die Legende«, sagte Nottr. »So wird sie von den Seeleuten erzählt. Schon viele gerieten in die Nähe der Insel, und viele kehrten nicht zurück.« Mythor stand an der Reling. Sein Blick war auf das Land gerichtet, dem sie sich in gleichmäßiger Fahrt näherten. Unaufhaltsam trieb die Kurnis darauf zu. Niemand wußte, was die Besatzung dort erwartete. Wie eine fremde Melodie klang der Name in Mythors Ohren. »Die Insel Zuuk!« Seltsame Fische tauchten neben der Kurnis auf und drückten ihre massigen Leiber gegen den Schiffsrumpf. Ihre bunt schillernden Flossen wühlten das Wasser auf und drehten allmählich das Schiff. Die Spitze des Bugs deutete jetzt auf das Land, und das Segel flatterte nutzlos im Wind. Zahllose Gebäude säumten die Ufer der Insel. Es waren fremdartig ausschauende Bauwerke, aber sie wirkten prunkvoll. Die kuppelförmigen Dächer, die von hohen Säulen gehalten wurden, glänzten golden. An ihren Rändern waren sie mit durchsichtigen, farbigen Steinen besetzt, in denen sich vielfältig das Licht der Sonne brach. Spitze Türme mit schmalen Balustraden überragten die Kuppeln und trugen an ihren höchsten Stellen seltsame Symbole. Auf schmalen Mauervorsprüngen wuchsen blühende Pflanzen, umrankten die Säulen und spannten sich wie Torbogen über die Wege und Straßen. Auf diese Weise war die gesamte Stadt von lebenden Bändern umgeben. »Eine friedliche Insel«, sagte Kalathee. Die Straßen der Stadt waren von Menschen bevölkert. Sie waren mit den verschiedensten Gewändern bekleidet und
schienen unterschiedlicher Herkunft zu sein. Die Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen, bestätigten diesen Eindruck. Es waren Schiffe aus aller Herren Länder. Mythor entdeckte die Zeichen Rukors, Salamos’ und Tainnias. Er sah Schiffe aus Dandamar und Airon. Daneben gab es solche, deren Herkunft er nicht bestimmen konnte. Sie mußten aus Ländern stammen, von denen er noch nichts erfahren hatte. An der Bugwand eines der Schiffe waren auf weißem Untergrund eine Sonne, die Silhouette eines Einhorns und darüber ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen abgebildet. Es mußte ein dandamarisches Schiff sein, wie an der Sonne und dem Einhorn zu erkennen war. Dabei erinnerte sich Mythor daran, daß Elivara, die Königin Nyrngors, einmal von einem Schiff gesprochen hatte, das seit vielen Monaten als vermißt galt. Dieses Schiff hatte Stoffe aus Tainnia holen sollen, und Elivara war der Meinung gewesen, daß es in die Hände der Caer gefallen sei. Sie hatte es nur kurz erwähnt, aber dennoch hatte sich der Name Mythor eingeprägt. Er lautete: Dandamarischer Vogel. Mythor war fest davon überzeugt, das vermißte Schiff gefunden zu haben. Die Kurnis trieb an zwei ins Wasser gelassenen Kuppeln vorbei und verlangsamte die Fahrt. Die Fische, die sie begleitet hatten, tauchten unter und verschwanden. Die Strömung ließ nach. Von einer unbekannten Macht gelenkt, fuhr die Kurnis in den Hafen und manövrierte sicher zwischen den verankerten Schiffen hindurch. Sie steuerte auf einen Steinwall zu, der als Landesteg diente, und legte an. Sadagar sprach aus, was Mythor vermutete: »Ich kenne viele der Schiffe. Für einen Wahrsager sind Hafenstädte das beste Arbeitsgebiet, und ich habe in vielen lange Jahre gelebt. Ich kannte die Schiffe und meistens auch die Mannschaft, und ich war immer der erste, der erfuhr, wenn irgendwo ein Unglück
geschehen war oder eines der Schiffe nicht zurückkam und als vermißt gemeldet wurde. Für einen Wahrsager ist es wichtig, stets genau und umfassend informiert zu sein.« Seine engen grauen Augen funkelten listig. »Viele der Schiffe, die nicht zurückkamen, sehe ich hier wieder. Ich täusche mich nicht. Ich kenne sowohl die Zeichen als auch die Takelage und Aufbauten genau.« »Es ist die Erfüllung der Legende«, warf Nottr ein. »Diese Schiffe sind in den Bann der Insel geraten. So wie die Kurnis wurden auch sie eingefangen, und die Seeleute müssen nun in furchtbaren Zeremonien dienen!« »Aber die Menschen leben«, widersprach Kalathee. »Die Straßen sind bevölkert, und die Stadt ist freundlich. Überall wachsen Blumen und leuchten herrliche Farben.« Mythor fühlte sich keineswegs beruhigt. »Sieh dir die Menschen an«, sagte er. Die Tatsache, daß die Schiffsbesatzungen die Straßen dieser Stadt bevölkerten, hatte ihn nur auf den ersten Blick beruhigt. Sehr schnell fiel ihm auf, daß sie alle in einem unwirklichen Bann standen. Die Menschen bewegten sich seltsam steif. Wenn sie den Kopf wandten, drehten sie den gesamten Oberkörper mit, als ob sie ihren Hals nicht bewegen konnten. Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet, ihre Augen wirkten glanzlos und stumpf. In den Pupillen spiegelte sich kein Leben. Die Leute gingen ständig den gleichen Weg. Sie marschierten die Straße am Hafen entlang hoch, drehten sich am Ende auf der Stelle um und liefen zurück. Dann begann das Ganze wieder von vorn. Ihre Füße bewegten sich mechanisch und gleichmäßig. Es sah so aus, als seien sie sich der übrigen Teile ihrer Körper überhaupt nicht bewußt. »Siehst du einen von ihnen sprechen?« fragte Mythor. »Hörst du irgendwelche Stimmen?«
Über den belebten Straßen einer jeden Hafenstadt liegt eine Glocke aus einem ständig an- und abschwellenden Gemurmel und Geraune. Da hinein mischen sich die Rufe und Schreie der Fischhändler, Wasserverkäufer und Seeleute. Auch wenn die Dialekte in den verschiedenen Ländern unterschiedlich sind, die Kulissen aus Tönen und Geräuschen bleiben ständig gleich. Nicht jedoch in dieser Stadt. Stumm bewegten sich die Menschen aneinander vorbei. Nicht ein einziger sprach. Nirgendwo war ein Händler oder Verkäufer zu entdecken. Die einzigen Laute, die zu hören waren, verursachte der sanfte Wind in den Takelagen der Schiffe und in den Blättern der Bäume. »Wie Tote«, flüsterte Sadagar. »Wie Tote, deren Glieder von einer fremden Macht bewegt werden.« »Irgend jemand treibt mit den Schiffbrüchigen hier ein böses Spiel«, vermutete Mythor. »Eine Macht, die diese Menschen in ihrer Gewalt hat und für sich benutzt.« »Wenn es so ist, steht uns das gleiche Schicksal bevor«, ergänzte der Lorvaner. »Vielleicht«, gab Mythor zu. »Doch noch ist es nicht soweit!« Er hob den Kopf, und sein Blick wanderte über die bewaldeten Hügel. Er sah den kegelförmigen schwarzen Berg, der aus ihnen steil und mächtig herausragte. Die kleine Wolke, die bisher den Gipfel verhüllt hatte, war verschwunden. Sie hatte die hohen, dunklen Mauern einer düsteren Burg freigegeben, die dort oben unangreifbar und drohend erschien. Ein kaltes Grauen ging von dieser Burg aus. Mythor spürte etwas Mächtiges und Böses. Er fühlte, daß dort die Herrscher von Zuuk zu finden sein würden. Nur dort oben würde er die Antwort auf seine Fragen finden können. »Gehen wir von Bord?« fragte Nottr. Mythor nickte.
* Ein leises Sirren lag plötzlich in der Luft und war überall. Die Atmosphäre war angefüllt mit einer unbekannten Spannung. Wie von unsichtbaren Händen berührt, bewegten sich die langen blonden Haare Kalathees. Sie knisterten und stellten sich auf, als blase ein starker Wind von unten. Winzige Funken lösten sich von den Spitzen. Kalathee hob den Arm, um die Haare glattzustreichen, und ein Gefühl, als werde sie von Tausenden von kleinen Nadeln gestochen, durchzuckte ihre Hand. Wie Kalathee, so spürten auch die drei Gefährten die seltsame Spannung. Ein Kitzeln, wie von einem leichten Windhauch verursacht, lief über die Arme, den Hals, das Gesicht und über alle unbedeckten Stellen ihrer Körper. Alton leuchtete auf und strahlte, wie es noch niemals vorher gestrahlt hatte. Von seiner Spitze fuhren Funken knisternd in den Boden. Das Sirren kam von dem schwarzen Bergmassiv, von der düsteren Burg auf der Spitze. Die vier Gefährten konnten es deutlich ausmachen, aber sie fanden keine Erklärung. Sie fühlten ein stetig zunehmendes Brummen und Dröhnen in ihren Köpfen und glaubten, daß sich ihre Schädel unter dem Klang ausdehnten. »Ich habe das Gefühl, als ob mein Kopf platzen wollte«, klagte Sadagar. Die vier schienen die einzigen zu sein, die die Veränderung wahrnahmen. Die anderen Menschen, die auf der Uferstraße der Kuppelstadt auf und ab gingen, reagierten nicht darauf. Sie blieben so träge und apathisch, wie sie es die ganze Zeit gewesen waren. Die vier von der Kurnis betraten den Landungssteg und näherten sich den Bewohnern Zuuks. Niemand sprach die Ankömmlinge an, niemand achtete auf sie.
»Ein träges Volk«, murrte Sadagar. »Aber so wird man wohl, wenn man den ganzen Tag dieses seltsame Summen hören muß!« Mythor hatte den gleichen Verdacht. In irgendeiner Weise mußte dieser Ton, diese Spannung in der Luft, mit dem Verhalten der Bewohner der Uferstadt zusammenhängen. Möglicherweise wurden die Sklaven so von der Burg aus geleitet. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte der Steinmann. Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. »Diesen Ton halte ich nicht mehr lange aus. Laß uns zurückkehren zum Schiff!« »Das hat keinen Sinn«, widersprach Mythor. »Wir kommen nicht gegen die Strömung an. Wir müssen versuchen herauszufinden, was auf dieser Insel geschieht. Wir müssen die Mächte dieser Insel aufspüren und wenn nötig vernichten. Nur so haben wir eine Chance, Zuuk zu verlassen.« »Kalathee!« rief Nottr plötzlich aus. »Komm zurück, wir müssen zusammenbleiben!« Jetzt erst bemerkte auch Mythor, daß sich die Frau weit von ihnen entfernt hatte. Sie hatte sich unter die Bevölkerung der Insel gemischt und bewegte sich schon fast ebenso apathisch wie sie. »Wartet hier!« befahl Mythor. Dann lief er hinter Kalathee her. Als er sie erreicht hatte, faßte er sie an der Schulter und riß sie herum. Kalathee lächelte sanft, aber ihr Blick schien durch Mythor hindurchzugehen. Sie wirkte irgendwie entrückt. Mythor schüttelte die Frau heftig, und ihr Kopf pendelte dabei kraftlos auf ihren Schultern. »Mythor«, flüsterte sie dann schläfrig. »Was ist los, Kalathee, wo wolltest du hin?« Sie lächelte, aber sie antwortete nicht. Zusehends wurde ihr Blick stumpfer. Ihre Augen verloren jeden Ausdruck. Als My-
thor sie für einen Augenblick losließ, drehte sie sich wortlos um und setzte ihren Weg fort, den ihr eine unbekannte, geheimnisvolle Macht eingab. Noch einmal lief Mythor hinter ihr her. Er hielt sie fest, hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter. Mit der leichten Last auf dem Rücken kehrte er zu den Gefährten zurück. Er brauchte nicht weit zu gehen. Sadagar und Nottr kamen ihm bereits entgegen. »Du hattest recht, Steinmann«, sagte Mythor. »Es muß mit diesem sirrenden Geräusch zusammenhängen. Es beherrscht die Gedanken der Menschen und läßt sie gefügig werden für Befehle einer Macht, die diese Insel beherrscht. Kalathee ist bereits in ihrer Gewalt. Wir müssen versuchen, die Burg zu erreichen, bevor auch wir unseren Willen verlieren!« Weder Sadagar noch Nottr reagierten auf die Worte. Stumm gingen sie an Mythor vorbei. Ihre Arme hingen schlaff herunter, ihre Oberkörper wirkten steif und unbeweglich. Im Westen versank die Sonne im Meer. * Kurz vor Sonnenaufgang belebte sich die Uferstraße der Kuppelstadt. Die Bewohner verließen ihre Häuser und begannen mit langsamen, trägen Schritten auf und ab zu gehen. Sie sprachen nicht miteinander, sie zeigten kein Mienenspiel. Wie die Puppen eines mächtigen Spielers bewegten sie sich ohne eigenen Willen. Mythor war mitten unter ihnen. Seine Arme hingen an den Schultern, als gehörten sie nicht zu ihm. Seine Bewegungen wirkten hölzern und ungelenk. Seine Augen waren halb geschlossen, seine Pupillen nicht zu erkennen. Über allem lastete dumpf eine vollkommene Teilnahmslosigkeit.
Der scharfe Knall einer Peitsche unterbrach jäh die Stille. Pferdehufe trommelten auf hartem Boden, und hölzerne Wagenräder zermalmten knirschend Steine und Sand. Ein vierspänniger Wagen durchbrach wild das vertrocknete Gebüsch, das die Kuppelstadt umschloß, und jagte in voller Fahrt auf die Uferstraße zu. Auf dem Bock des offenen, einachsigen Wagens stand der Kutscher und ließ die lange Lederpeitsche dicht vor den Ohren der abgehetzten Tiere knallen. Schaumflocken flogen von den Mäulern der Pferde, klebten in ihren Fellen und trockneten zu gelben Krusten. Der Kutscher war klein und untersetzt. Er war nicht einmal eineinhalb Schritt groß. Ein dunkelbrauner Umhang hüllte seinen Körper ein und wurde in der Hüfte von einem groben Hanfseil zusammengehalten. Darin steckten ein kurzes Breitschwert und ein zweischneidiger Dolch. Der Kopf des Mannes war übergroß und wirkte unpassend auf dem kurzen Körper. Er saß unmittelbar auf den Schultern. Die Augen standen dicht beieinander unter buschigen, verwachsenen Brauen. Sie funkelten, und ein wildes, grausames Feuer spiegelte sich darin wider. Hinter dem Kutscher hockten zwei weitere Gestalten auf dem Wagen. Sie glichen ihm in Körpergröße, Aussehen und Kleidung. Auch sie trugen Dolche und Schwerter in ihren Gürteln und hielten Peitschen in den Händen. Die Seitenwände des Wagens bestanden aus ineinander verflochtenen Weidenzweigen. Sie erinnerten stark an einen Käfig. Die Grundfläche des Gefährts maß etwa zwei mal zwei Schritt. Dicht vor den ersten Menschen auf der Uferstraße riß der Kutscher hart an den Zügeln und hielt den Wagen an. Die Pferde schlugen mit den Köpfen, verdrehten die Augen und bleckten ihre Gebisse. Ihre Felle waren von Schweiß
durchtränkt, und ihre Flanken zitterten. Die drei düsteren Gestalten sprangen vom Wagen und knallten mit ihren Peitschen in der Luft. Sie rissen ihre Münder auf und grölten und lachten. Sie mischten sich zwischen die teilnahmslosen Schiffbrüchigen und bahnten sich mit groben Stößen und Schlägen einen Weg. »Wen nehmen wir uns denn heute vor?« fragte der Kutscher. Seine Stimme klang grausam und hart. »Ja, wen?« antwortete ein anderer. »Ysider will diesmal vier!« »Soll er haben«, dröhnte der dritte. Er bewegte ruckartig seinen Arm und ließ die Peitsche durch die Luft pfeifen. Klatschend legte sich das Leder um den Hals eines Mannes, der träge mehrere Schritt vor ihm her ging. Der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ihn die Peitsche traf. Er blieb einfach stehen und wartete ab. Unbeteiligt, apathisch. »Einen habe ich«, grölte der Scherge und riß den Gefangenen mit der Peitsche zu sich heran. Er stieß ihn zum Wagen und warf ihn auf die Ladefläche. Die beiden anderen standen dem ersten Schergen in nichts nach. Sie fingen sich die Menschen aus der Menge heraus und brachten sie zum Wagen. Nur wenige Augenblicke nachdem sie erschienen waren, hockten zwei Männer und zwei Frauen auf dem Gespann. Sie saßen dort mit gesenkten Köpfen. Sie hatten nicht einmal den Anflug eines Widerstands gezeigt. Sie ließen alles mit sich geschehen. Niemand kümmerte sich um die Brutalität, mit der sie behandelt wurden. Der Betrieb auf der Uferstraße ging ungestört weiter. Es mußte eine große Macht sein, die das mit den Menschen machen konnte, die sie zu solch einer Gleichgültigkeit bringen konnte. »Wir haben genug!« brüllte der Kutscher den beiden ande-
ren zu. »Laßt uns zurückfahren!« »Warte noch!« forderte einer der Angesprochenen. »Sieh mal, was ich gefunden habe!« Der Scherge hatte noch einen Mann mit der Peitsche aus der Menge herausgefangen. Er zog ihn hinter sich her und führte ihn zum Wagen. Der Mann war noch jung, vielleicht zweiundzwanzig Jahre. Seine Haut hatte einen dunklen Ton, sie wirkte fast bronzefarben. Seine Haare waren ebenfalls dunkel, er trug sie lang bis auf die Schulter. Er war groß und schlank und besaß einen muskulösen, gut ausgebildeten Körper. Auch er wirkte unbeteiligt und teilnahmslos wie all die anderen. »Scheint mir einer von denen zu sein, die erst gestern hier angekommen sind«, sagte der Kutscher. »Ich habe ihn noch nie gesehen!« »Du hast recht«, sagte der erste. »Und auch das hast du sicherlich noch nie gesehen!« Er griff in den Gürtel des Mannes und riß das lange Schwert heraus, das dort in einer Schlaufe hing. Es war eine doppelschneidige Waffe, etwa armlang. Die Klinge wirkte transparent, fast wie aus Glas. Dazu umgab sie ein seltsames Leuchten. Im Inneren der Klinge waren drei Zeichen sichtbar: das Symbol einer Sonne, ein Fünfeck und zwei Bögen. »Eine Waffe aus Glas?« sagte der Kutscher zweifelnd. »Wie soll man damit kämpfen?« Er hob das Schwert und schlug damit gegen die Radscheibe des Wagens. Obwohl er nicht viel Kraft in den Hieb gelegt hatte, drang die Klinge tief ein. Gleichzeitig ertönte ein seltsamer Klang, wie das ferne Wehklagen einer sanften Stimme. »Welch eine Waffe!« murmelte der Scherge. Der Kutscher stieß den Knauf seiner Peitsche hart gegen die Brust des jungen Mannes. »Wo hast du diese Waffe her?«
Der Getroffene taumelte einen Schritt zurück, als ihn der heftige Stoß traf. Doch dann blieb er wieder so teilnahmslos stehen wie alle anderen Schiffbrüchigen auch. Er antwortete nicht. »Du weißt, er kann dir nicht antworten«, erinnerte der andere Scherge. »Nur Ysider kann ihn zum Sprechen bringen!« »Gib das Schwert zurück!« sagte der dritte. »Du kennst die Gebote Ysiders. Wir müssen ihm die Gefangenen so bringen, wie sie hier an Land gehen. Laß uns aufbrechen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!« Der Kutscher knurrte wütend. Aber er stieß das Schwert zurück in die Gürtelschlaufe des Besitzers. Dann versetzte er ihm einen Stoß, daß er von dem Wagen wegtaumelte. Die Peitsche knallte über den Pferden, und ihre Hufe stemmten sich in den Boden. Die wuchtigen Scheibenräder drehten sich, die Achse kreischte in den Halterungen. Eine Staubwolke stieg auf, als der Wagen mit den Gefangenen in der Richtung verschwand, aus der er gekommen war. * Mythor bewegte sich langsam die Uferstraße hinauf. Sein Kopf war gesenkt, seine Schultern hingen schlaff herab. Schleppend setze er Fuß vor Fuß. Am Ende der Straße, dort, wo der gepflasterte Teil in dichtes, dorniges Buschwerk überging, drehte er sich um und schlenderte zurück. Hunderte von anderen Menschen kamen ihm auf der Straße entgegen oder überholten ihn. Auch sie schleppten sich gebrochen vorwärts. Es war ein ständiger Kreislauf voller Stumpfsinn und Lethargie. Nicht der geringste Lebenswille schien mehr in diesen Menschen zu stecken, und Mythor glich ihnen in allem. Nein, nicht in allem! Es gab einen Unterschied: Mythors Hände waren zu Fäusten geballt!
Hinter den halb geschlossenen Lidern funkelten helle, wache Augen. Es gab nichts, was ihnen entging. In seinem Kopf formten sich Gedanken, und sie waren alles andere als von Ergebenheit und Apathie erfüllt. Der Herrscher von Zuuk hatte Mythor nicht unterwerfen können! Mythor wußte nicht genau, warum das unwirkliche Sirren, das von der schwarzen Burg ausging, nicht auf ihn gewirkt hatte. Er hatte nur einen vagen Verdacht. Es mußte irgend etwas mit seinem Schwert zu tun haben. Der Griff der Waffe hatte sich aufgeheizt, war fast glühend geworden, und Mythor hatte sich die Handflächen verbrannt, als er ihn berührte. Funken und Blitze hatten sich von der Spitze der Klinge gelöst und waren in den Boden gefahren. Vielleicht hatte sein Schwert einen Schutzschild um ihn errichtet, ihn gegen jede böse Wirkung abgeschirmt und die Macht abgelenkt. Jedenfalls war er nicht betäubt worden, sein Geist war klar und scharf geblieben. Hilflos und erschüttert hatte Mythor jedoch mit ansehen müssen, wie seine Gefährten der unbekannten Macht erlagen. Sie schienen ihn nicht mehr zu kennen, reagierten nicht mehr auf seine Worte und waren nicht mehr von all den anderen Schiffbrüchigen zu unterscheiden, die hier gefangengehalten wurden. Um nicht aufzufallen, verhielt sich Mythor wie die anderen. Kalathee näherte sich apathisch Mythor. Sie sah gebrochen und traurig aus. Ihr zartes, ätherisches Gesicht wirkte noch zerbrechlicher. »Kalathee«, flüsterte Mythor, als sie aneinander vorbeigingen. Er gab nicht auf. Immer wieder versuchte er den Zauber zu durchbrechen. Es mußte eine Möglichkeit geben. Doch die Frau schien ihn nicht zu hören. Ohne ihn anzublicken, ging sie an ihm vorbei. Stumm und mechanisch. Eine
willenlose Puppe, gelenkt von den Herren von Zuuk. Mythor drehte sich um und folgte ihr unauffällig. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er auf gleicher Höhe mit ihr war. »Hör mir zu, Kalathee! Ich bin Mythor, und ich will, daß du mir zuhörst!« Mythor sprach gedämpft und ohne den Kopf zu heben. Sein Mund stand ein wenig offen, seine Lippen bewegten sich nicht. Sadagar und Nottr kamen ihnen entgegen, und sie gingen, ohne zu reagieren, vorbei. Mythor sah ihnen nicht nach, er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Frau neben ihm. Der betäubende Zauber auf Zuuk hatte eine große Macht. Aber es mußte dennoch etwas geben, was stärker war. Mythor versuchte einen Trick. »Kalathee«, begann er noch einmal. »Hör mich an! Ich weiß, daß du viel für mich empfindest. Du empfindest soviel für mich, wie nur eine Frau für einen Mann empfinden kann. Deine Gefühle sind tief und groß, und deine Sehnsucht ist brennend!« Sie hatten das Ende der Straße erreicht, und Kalathee drehte sich auf der Stelle um. Sie ging ihren Weg zurück. Mythor lief ihr nach. »Schon lange kenne ich deine Wünsche«, fuhr er fort. »Sie waren mir nie ein Geheimnis, denn auch ich fühle ebenso.« Mythor wagte einen kurzen Seitenblick, um die Wirkung der Worte abzuschätzen. Er war sich nicht absolut sicher, aber er gewann den Eindruck, daß Kalathee ihren gleichmäßigen Schritt verzögere. Es gelingt, schoß es Mythor durch den Kopf. Der Bann läßt sich brechen.
»Nie habe ich gewagt, mich zu offenbaren«, redete Mythor weiter. »Aber heute sollst du es wissen. In dieser Stunde.« Kalathee blieb stehen. Sie wandte langsam ihren Kopf und
sah in Mythors Richtung, jedoch ohne ihn wirklich zu sehen. Noch immer war ihr Blick verschleiert und das Feuer in ihren Augen erloschen. Aber es gab eine Kraft in ihr. Eine Kraft, die stark und mächtig war und die Magie der Insel brechen konnte. Mythor hatte einen Schlüssel gefunden. »Kannst du mich hören, Kalathee?« Die Mundwinkel der Frau zuckten, aber ihre Lippen blieben verschlossen. »Nenne meinen Namen«, forderte Mythor. »Du weißt, wie ich heiße, du erkennst mich. Sprich ihn aus!« Der Mund der Frau öffnete sich. Ihre Zunge bewegte sich und befeuchtete die ausgedörrten Lippen. »Sprich«, drängte Mythor. »Sag meinen Namen!« Kalathee zitterte. Sie schloß die Augen, und ihre Lippen formten einen Laut. In ihr tobte ein furchtbarer Kampf. Welche Macht würde siegen? Plötzlich bäumte sich etwas in Kalathee auf. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und ihre Hände verkrallten sich im Stoff ihres blauen Kleides. Sie schrie kurz auf, dann sanken ihre Schultern erschöpft herab. Sie entspannte sich, der Kampf war entschieden. Stumpfsinn verschleierte ihren Blick. Sie achtete nicht mehr auf Mythor und setzte ihren Weg uninteressiert fort. Mythor schloß die Augen und preßte die Lippen aufeinander. In diesem Augenblick hätte er vor Schmerz aufschreien können. Er ballte die Hände und bemerkte nicht einmal, daß seine Nägel blutige Male in die Handflächen bohrten. Beinahe hätte er es geschafft. Er hatte verloren, aber er würde nicht mehr aufgeben. *
Im Morgengrauen des nächsten Tages kehrten die düsteren Schergen zurück. Das Knallen ihrer Peitschen, ihr Grölen und dröhnendes Lachen schollen durch die Stadt. Sie brachten die zwei Frauen und zwei Männer zurück, die sie am vergangenen Tag entführt hatten. Mythor näherte sich ihnen unauffällig. Aus halb geschlossenen Augen beobachtete er die vier Gefangenen. Äußerlich schienen sie unverletzt zu sein. Wunden jedenfalls konnte Mythor nicht an ihnen entdecken. Also war die Geschichte von den Menschenopfern, die der Lorvaner erzählt hatte, wirklich nicht mehr als eine Legende. Aber dennoch hatten sich die Gefangenen verändert. Sie wirkten noch seelenloser, noch geschwächter und apathischer. Es sah so aus, als ob ihnen jemand die Lebenskraft ausgesaugt habe. Kaum waren sie vom Wagen herunter, als sie sich auf den Boden hockten und bewegungslos sitzen blieben. »Los, bewegt euch, mischt euch unter die anderen!« brüllte der Kutscher und schlug mit der Peitsche auf die vier ein. Und obwohl das Leder blutige Striemen durch ihre Gesichter zog, rührten sie sich nicht. Die Schergen packten sie schließlich an den Haaren und zerrten sie weg. Sie schleiften sie bis zum Kai und ließen sie dort zurück. »Wollen mal sehen, wo die Neuen sind«, dröhnte der Kutscher. Breitbeinig baute er sich auf der Straße auf und ließ die Schiffbrüchigen rechts und links an sich vorbeilaufen. Wahllos schlug er von Zeit zu Zeit mit der Peitsche auf die Menschen ein. Ein furchtbarer Schreck durchfuhr Mythor. Er hatte gerade das Ende der Straße erreicht und war im Begriff zurückzugehen, als er die Worte vernahm. Die Neuen! Damit konnte nur die Besatzung der Kurnis gemeint sein. Die Schinder waren gekommen, um Kalathee, Sadagar, Nottr und ihn zu holen. Er atmete tief durch, dann drehte er sich um
und schlenderte zurück. Gut, sie sollten ihn ruhig mitnehmen. Er vermutete, daß die Fahrt zur Burg ging. Wenn er erst einmal dort war, würde sich alles Weitere ergeben. Er mußte in das Zentrum der Macht, um sie zu zerstören, und dies schien der einzige Weg zu sein. Außerdem durfte er die Gefährten nicht allein lassen. Nur er konnte ihnen jetzt noch helfen. »Hier, ich hab’ einen!« brüllte der Kutscher. Er schlug mit der Peitsche nach Sadagar und zog ihn damit zu sich heran. »Was für eine feine Jacke er trägt«, alberte ein anderer. »Sieht aus wie ein Magier!« »Wir werden mit ihm zaubern«, lachte der Kutscher. »Ich glaube, der gehörte auch dazu«, brüllte der dritte und fing den Lorvaner mit der Peitsche. »Sieht kräftig aus. Er wird uns sicher länger erhalten bleiben!« »Die Frau wohl weniger«, rief der Kutscher und fing Kalathee. Ein begehrliches Glitzern trat in seine Augen. Er packte die Frau an den Haaren, hielt sie fest und betrachtete sie. »Eigentlich zu schade!« »Sei vorsichtig«, warnte ein anderer. »Denk an Ysiders Zorn!« »So schwer es mir auch fällt, ich denke daran«, erwiderte der Kutscher. Dann warf er Kalathee mit einem brutalen Schwung auf den Wagen. Sadagar und Nottr folgten. »Ich glaub’, das war’s«, sagte der Kutscher. »War diesmal nur eine kleine Besatzung!« Ich gehöre auch dazu! Mythor hätte die Worte fast lauthals herausgeschrien. Sollten sie ihn vergessen? Es durfte nicht geschehen. Er beschleunigte seine Schritte. Der Kutscher bestieg den Bock. Die anderen Schergen kletterten hinten auf den Wagen und setzten sich so, daß die Gefangenen bei der wilden Fahrt nicht herausfallen konnten. »Alles klar?« fragte der Kutscher.
Nein! hätte Mythor am liebsten gerufen. Noch ungefähr dreißig Schritte hatte er bis zu dem Wagen zurückzulegen. Es durfte nicht sein, daß sie ohne ihn fuhren. »Alles klar!« sagte einer der Schergen. Der Kutscher ordnete die Zügel der vier Pferde. Dann nahm er sie in die linke Hand und ergriff die Peitsche. Das Leder zerschnitt die Luft und explodierte über den Ohren der ersten beiden Tiere. Die Pferde warfen die Köpfe hoch und wieherten schrill. Sie zogen an, und auch die beiden nächsten Tiere stemmten sich in das Geschirr. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Nur noch zehn Schritte hatte Mythor zurückzulegen! Der Kutscher zog die Leitpferde nach rechts, und der Wagen drehte sich auf der Stelle. Das Holz der Räder mahlte im Sand. »Vorwärts!« brüllte der Kutscher. Er schlug die Zügel auf die Kruppen der Tiere. Wie wild knallte seine Peitsche über ihnen. Das Gespann jagte auf die Buschreihe zu. Zu spät! Mythor blieb stehen und sah verbittert dem Wagen nach. Er hatte es nicht mehr geschafft. »Halt an!« Einer der Schergen war aufgestanden und blickte zurück. Mit einer Hand hielt er sich an dem Weidengeflecht fest, mit der anderen stieß er den Kutscher an. »Wir haben noch jemanden vergessen«, rief er. »Den Mann mit diesem seltsamen Schwert! Er gehört auch dazu!« Der Scherge sprang vom Wagen und lief auf Mythor zu. Er packte ihn grob und zerrte ihn hinter sich her, bis er das Gespann eingeholt hatte. »Hättest beinahe Glück gehabt, Bursche«, lachte der Kutscher höhnisch, als Mythor auf den Wagen geschoben wurde. * Als der Wald lichter wurde, zügelte der Kutscher die Pferde.
Die Tiere wurden langsamer und hielten schließlich an. Schnaubend blieben sie stehen und tänzelten auf der Stelle. »Los, vom Wagen!« brüllte einer der Schergen und stieß den Gefangenen grob mit dem Griff seiner Peitsche in den Rücken. »Bewegt eure Beine!« Mythor riß sich zusammen und bemühte sich, ebenso teilnahmslos zu erscheinen wie seine drei Gefährten. Innerlich kochte er. Er war mehr als einmal versucht, das Schwert zu ergreifen und dem grausamen Spuk ein Ende zu bereiten. Es zuckte in seinen Fingern. Aber es war fraglich, ob er dann noch Sadagar, Nottr und Kalathee würde retten können. Wo der Wald endete, begann der Berg. Der nackte Fels ragte fast senkrecht über ihnen auf. Auf dem Gipfel thronte die schwarze Burg. Drohend und uneinnehmbar. Ein schmaler Pfad lief spiralförmig um den Berg und war der einzige Zugang nach oben. Er wand sich, dicht an den Fels geschmiegt, in schwindelerregende Höhen und war nicht einmal durch Seile oder Geländer gesichert. Eine merkwürdige Erregung hielt Mythor gefangen. Sie verstärkte sich, je näher er dem Punkt kam, an dem er den Herrscher der Insel vermutete. Es war ein Gefühl, in dem sich Neugierde, Abscheu und Kampfeslust gleichermaßen verbanden. »Vorwärts!« Mit schmerzhaften Stößen und Peitschenhieben trieben die Schinder ihre vier Gefangenen wie eine Herde Schafe vor sich her. Heiße Wut brannte in Mythors Seele, als er sah, wie willenlos die Gefährten alles über sich ergehen ließen. Der Pfad war steil und schwer zu begehen. Loses Geröll, abgestürzte Felsbrocken und verdorrte Baumstämme und Äste versperrten immer wieder den Weg. Kalathee, Nottr und Sadagar jedoch überwanden mit einer traumhaften Sicherheit jedes Hindernis. Sie kümmerten sich weder um die Schläge
der finsteren Gestalten noch um den Abgrund, der sich links neben ihnen auftat. Fast senkrecht ging es hinab, und es dauerte immer länger, bis ein Stein, der ins Rollen geriet und über den Rand des Weges fiel, unten aufschlug. An manchen Stellen war der Weg so breit, daß drei Männer bequem nebeneinander gehen konnten. Andererseits wurde er auch manchmal so schmal, daß kaum ein Fuß neben dem anderen Platz hatte. Um nicht abzustürzen, preßten sich die Schergen mit dem Rücken gegen die Felswand und bewegten sich langsam seitwärts. Ihre vier Gefangenen allerdings schienen die Tiefe nicht wahrzunehmen. Unbeirrt und mit immer gleichbleibenden Schritten überwanden sie die Gefahrenstellen. Vermutlich waren die Märsche zum Burgschloß nicht immer so problemlos verlaufen. In der Tiefe schimmerten bleich zahllose menschliche Gerippe. Sie fügten sich ein in das düstere Grauen, das diesen Berg umgab. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer höher schraubte sich der Pfad, immer kürzer wurde die Zeit für eine vollständige Umrundung des Berges. Schwarze Vögel begleiteten die Gruppe der Gefangenen, stießen mit angelegten Flügeln auf sie nieder und änderten erst im letzten Augenblick ihre Flugbahn. Ihr heiseres Geschrei wirkte, als wollten sie die willenlosen Menschen verspotten. Dann endlich tauchte die schwarze Burg hinter einer Biegung vor den Gefangenen auf. Die düsteren Mauern ragten hoch in den Himmel. Sie troffen vor Nässe und waren ganz mit Moos bewachsen. Ein kalter, feuchter Wind strich um die Burg, fing sich in den Erkern und Turmchen und sang ein klagendes Lied. Das hohe, eisenbeschlagene Tor schwang auf. Die verrosteten Angeln und Scharniere kreischten. Niemand war zu sehen, der die Torflügel bewegte.
»Da hinein!« befahlen die Schergen und stießen die vier vorwärts. Hinter ihnen schlug das Burgtor wieder zu. Das Echo hallte hohl von den Mauern wider. * Die Gefangenen waren allein. Verloren standen sie in dem quadratischen Burghof. Hohe, dunkle Gebäude ohne ein einziges Fenster begrenzten ihn. Fette Ratten huschten überall umher. Ohne Scheu liefen sie um die wehrlosen Menschen. Eins der häßlichen Tiere knabberte an Kalathees Fuß. Die Frau rührte sich nicht. Es kostete Mythor viel Kraft, ruhig stehenzubleiben. Aber gerade jetzt, da er dem Zentrum der Macht so nahe war, durfte er nicht alles gefährden. Über der grauen Burg lag der Geruch nach Verwesung und Tod. Kaltes Grauen ging von diesen Mauern aus. Was alles mochte sich dahinter verbergen? Welche Mächte waren die Herren von Zuuk? Wie viele Schiffbrüchige hatten ihnen schon gedient? Mythor fühlte, daß er den Antworten auf diese Fragen sehr nahe war. Eine niedrige Tür hinter den Gefangenen schwang auf. Mythor hörte leise, unregelmäßige Schritte, die von hölzernem Klappern unterbrochen wurden. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Ein kleiner, buckliger Zwerg tauchte auf und umschlich die Gefährten. Er war nur etwa armlang, vollkommen hager und ausgemergelt. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen, viel zu großen Schlapphut. Darunter lugte ein uraltes, faltiges Gesicht hervor. Seine Haut war grau und eingefallen wie die Haut eines Toten. In der linken Gesichtshälfte prangte eine daumennagelgroße Warze. Daraus hervor sproß ein ganzes Bündel langer Haare.
Der verwachsene Wicht besaß ein paar listig funkelnde Augen. Sie lagen tief in ihren Höhlen und waren halb verdeckt von schlaffen, herunterhängenden Hautfalten. Der Hals war lang und so dünn, daß man ihm kaum zutrauen konnte, den Kopf mit dem Schlapphut zu tragen. Der Zwerg hinkte stark. Wenn er ging, stützte er sich auf einen Stab, der beinahe doppelt so groß wie er selbst war. Der obere Teil des Stabes lief spitz zu und war mit Eisen verstärkt. So konnte er leicht als Lanze dienen. »Feine Menschen, starke Menschen«, krächzte der Zwerg. Seine Stimme erinnerte an das Geräusch, das entsteht, wenn man Sand auf Glas zerreibt. Jeder der vier Gefährten wurde von ihm ausgiebig begutachtet. Er schlich humpelnd um sie herum, betastete sie und befühlte ihre Muskeln. Die Sache schien ihm zu gefallen, denn er kicherte selbstzufrieden. Vor allem Sadagar schien es ihm angetan zu haben. Er streichelte dessen Samtjacke und besah sich sorgfältig die silbernen Symbole, mit denen sie bestickt war. »Zu schade«, kicherte der Zwerg. Als die Musterung schließlich beendet war, stieß der Wicht Nottr mit dem stumpfen Ende des Stabes in den Rücken. Er drängte ihn auf die Tür zu, durch die er gekommen war. »Es geht weiter«, krächzte der Zwerg. »Noch ein kleiner Weg!« Ohne besondere Aufforderung drehten sich Sadagar und Kalathee ebenfalls um und marschierten stumm auf die Tür zu. Mythor folgte ihnen. Der Wicht sprang um sie herum wie ein Hirtenhund um die Herde. Mit dem Stab verteilte er Stöße, lenkte die Gruppe auf die Tür zu und hielt sie zusammen. Eine feuchte Kälte herrschte im Inneren der Burg. Sie drang sofort durch die Kleidung und ließ die Haut frösteln. In den Mauerecken und Ritzen wuchsen weiße Pilze. Von der Decke
hingen lange, schimmelige Fäden herab und streiften über die Gesichter. Auch hier wimmelte es von Ratten. Daneben bevölkerten Schnecken und Würmer die Gänge. Mythor hatte den Eindruck, in eine finstere Gruft hinabzusteigen. Hohl hallten ihre Schritte durch die Gewölbe. Der Zwerg humpelte vor ihnen her und bestimmte den Weg. Mit mechanischen, abgehackten Bewegungen folgten die Gefangenen. »Mir nach, mir nach«, lockte der Wicht. Der Weg führte durch einen Wirrwarr von leeren Hallen und Gängen, über ausgetretene Treppen hinauf und kurz darauf wieder hinunter. Schon sehr schnell hatte Mythor die Orientierung verloren. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte keine Anhaltspunkte entdecken, an denen sich der Weg zurückverfolgen ließ. Alles sah gleich aus, alles war grau, feucht und düster. Nur in sehr großen Abständen erhellten Ölfackeln die Dunkelheit. Es gab keine Fenster, und der Rauch der blakenden Flammen erfüllte die Gänge und erschwerte das Atmen. Ganz allmählich verlangsamte Mythor seinen Schritt und ließ sich zurückfallen. Sadagar, der bisher hinter ihm gegangen war, überholte ihn stumm und folgte gehorsam dem Wicht. Kein einziges Mal sah sich der Führer um. Kurze Zeit später konnte Mythor seine Gefährten nicht mehr sehen. Er sprang in eine Mauernische, drückte sich gegen die naßkalte Wand und lauschte mit angehaltenem Atem. »Mir nach! Folgt mir!« Die beschwörende, heisere Stimme wurde leiser, und ihr hohles Echo verklang allmählich in den Gewölben. Es wurde still um Mythor. So still, daß er seinen eigenen Herzschlag zu hören vermeinte. Irgendwo in dem Gewirr der Gänge fielen monoton Wassertropfen in eine Pfütze. Mythor war allein. *
Ysider! Der Name schoß Mythor durch den Kopf. Die Schergen in den braunen Kutten hatten diesen Namen mehrfach erwähnt. Wenn sie ihn aussprachen, taten sie das mit Furcht und Achtung. »Du kennst die Gebote Ysiders!« hörte Mythor noch einmal die Schergen sprechen. »Ysider will diesmal vier!« War Ysider der Herr von Zuuk? Es sah so aus. Mythor griff nach Alton und zog das Gläserne Schwert aus der Gürtelschlaufe. In der feuchten Kälte dieser Gewölbe beruhigte der warme Griff der Waffe und ließ Mut und Kraft auf ihn überströmen. Er würde diesen Herrscher finden. Noch wußte Mythor nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte. Die Gänge ähnelten sich zu sehr, es war kaum möglich, sich zu orientieren. Aber er wußte, daß Herrscher in der Regel die oberen Teile ihrer Residenzen bevorzugten. Mythor schlich den Gang zurück, den er gekommen war. Er hatte sich richtig erinnert, denn das Gewölbe teilte sich nach etwa dreißig Schritten, und eine enge, gewundene Treppe führte nach oben. Die Stufen waren dick mit braunem Moos bewachsen. Wahrscheinlich wurde der Aufgang nicht oft benutzt. Es entstanden saugende und schmatzende Geräusche, als Mythor die ersten Stufen betrat. Schmutziges Wasser quoll unter seinen Füßen hervor. Er brauchte nicht lange zu steigen. Schon bald erreichte er einen weiteren Quergang. Er hörte Schritte und gedämpftes Gemurmel. Er zuckte zurück und drückte sich in den Schatten einer Säule. Die Schritte näherten sich, und Worte waren zu verstehen. »… Dunkelzone. Morgen wird er abreisen. Es ist heute das letzte Mal. Es brechen fürs erste ruhigere Tage an.« »Ich werde sie genießen.« »Nicht nur du. Es ist schon lange her, daß…«
Die Gestalten waren vorbei, ihre Schritte verhallten. Es waren Wesen wie die Schergen, die die Gefangenen zur Burg gebracht hatten. Sie waren ebenso gekleidet und vom gleichen Körperbau. Sie hatten den Lauscher nicht bemerkt. Dunkelzone! Dieses Wort hämmerte in Mythors Gedanken. Er hatte es schon die ganze Zeit geahnt, aber nicht wahrhaben wollen. Die Macht, die auf Zuuk regierte, stammte nicht aus der Lichtwelt. Hier hatten dunkle Gewalten ihre Hand mit im Spiel. Was bedeuteten die Worte, die Mythor erlauscht hatte? Wer war mit »er« gemeint? War es Ysider, der abreisen wollte? Reiste er womöglich in die Schattenzone? Mythor überlegte, ob er den beiden Gestalten folgen sollte. Doch dann entschied er sich dafür, Ysider selbst aufzusuchen. Er benutzte weiter die Wendeltreppe. Die Treppe endete plötzlich, ohne daß sie in einen Gang mündete. Mythor klopfte vorsichtig die Wände ab, um eine versteckte Tür zu finden, aber er entdeckte nichts. Dafür bemerkte er, daß manche der Steinquader trockener wirkten als andere. Sie waren auch heller und weniger vermodert. Es mußte hier einmal eine Tür gegeben haben, aber sie war später zugemauert worden. Hier ging es nicht weiter. In diesem Augenblick sah er den feinen Lichtstrahl, der durch eine Mauerritze fiel und einen gelben Streifen in das Moos der Treppenstufen malte. Mythor kniete sich auf den Boden und preßte ein Auge gegen die Wand. Mörtel hatte sich im Lauf der Jahre aus der Fuge gelöst und war herausgerieselt. Jetzt ermöglichte die Ritze einen Blick in den anliegenden Raum. Der Raum war groß, und der schmale Mauerspalt ließ nur einen kleinen Ausschnitt erkennen. Doch das, was er freigab, sagte Mythor genug. Die Wände und das Gewölbe des Raumes waren pech-
schwarz und mit keinerlei Verzierung geschmückt. Hunderte von Leuchtern, die kleine Talglichter trugen, spendeten ein unruhiges, flackerndes Licht. Auch die Leuchter waren schwarz gefärbt. Den Boden bedeckte ein samtroter Teppich aus feinem, kostbarem Gewebe. An manchen Stellen wies der Stoff dunklere, bräunliche Flecken auf. Blut! fuhr es Mythor unwillkürlich durch den Kopf, und dann fiel sein Blick auf den Altar. Er war aus schwarzem Ebenholz gefertigt und glich den Altären, die Mythor schon auf den Schiffen der Caer gesehen hatte. An ihnen zelebrierten die Priester der Schattenzone ihre furchtbaren Rituale und Beschwörungen. Hier geboten sie den Dämonen und raubten ihren Opfern die Lebenskraft. Der Altar war etwa zwei Schritt lang und einen Schritt breit. Auch auf ihm brannten kleine Lichter. Ein schmales, dunkles Tuch war über ihn gebreitet und hing an beiden Seiten bis zum Boden hinab. Seltsame Geräte lagen auf einem niedrigen Schemel neben dem Altar. Es waren Knochen, hölzerne Symbole, Klammern und Zangen aus Metall und Glas und messerähnliche Gegenstände, die aus Stein gefertigt schienen. Hinter dem Altar, mit dem Rücken zu Mythor, stand eine gnomenhafte Gestalt. Sie war nicht größer als der Zwerg, der die Gefährten durch die Gewölbe der Burg geführt hatte, aber der Körper war massiger und wirkte irgendwie aufgedunsen. Der Gnom war in einen langen schwarzen Umhang gehüllt und hatte auch den Kopf unter der Kapuze verborgen. Er hielt den Kopf gesenkt. Seine Hände bewegten sich in kreisenden Bewegungen über dem Altar. Die Burg auf Zuuk war ein Stützpunkt der Schattenzone. Es gab keinen Zweifel mehr. Der schwarze Altar und die magischen Utensilien sprachen eine deutliche Sprache. War Ysider gar am Ende ein Priester der Schattenzone? Es wurde Zeit zum
Handeln. * Inzwischen waren mehrere Stunden seit ihrer Ankunft auf der Burg vergangen, und Mythor begann allmählich, sich in dem Gewirr der Gänge, Säle und Gewölbe zurechtzufinden. Er erkannte ein System und lernte, bestimmte Räumlichkeiten an unscheinbaren Dingen wiederzuerkennen. Noch war er nicht entdeckt worden. Er wunderte sich darüber, denn er hatte geglaubt, daß dem Zwerg sein Fehlen aufgefallen sein mußte. Aber es gab keinerlei Anzeichen, die darauf hindeuteten. Doch für den Fall war Mythor gewappnet. Er hielt Alton ständig kampfbereit. Das Gewölbe, das er jetzt durchstreifte, mußte tief im Inneren des Berges liegen. Die Wände waren noch nasser als an höher gelegenen Stellen. Wie steter, leichter Regen tropfte es von den Decken und rann glänzend an den Wänden herunter. Teilweise hatten sich ganze Bäche gebildet, die durch die Gewölbe rauschten und sich in manchen größeren Räumen zu unterirdischen Seen sammelten. Und noch etwas fiel Mythor auf: Je tiefer er vordrang, um so schwüler und heißer wurde die Luft. Er hatte den Eindruck, sich einem gewaltigen Feuer zu nähern, das im Inneren dieses kegelförmigen Berges ständig loderte. Eine schwere Holztür versperrte Mythor den Weg. Er legte sein Ohr dagegen und lauschte. Doch außer dem ständigen Tropfen des Wassers war nichts zu hören. Die Tür war nur angelehnt, und er stieß sie auf. Die aufschwingende Tür gab den Blick in einen riesenhaften Saal frei. Schwere Säulen, die drei Männer nicht einmal umspannen konnten, stützten die Decke ab. Der Saal war fensterlos, von der Decke hängende Talglichter spendeten ein schwa-
ches Licht. Die flackernden Flammen warfen unwirkliche Schatten, die wild über unzählige menschliche Gebeine tanzten. Die Skelette waren zu unüberschaubaren Bergen aufgetürmt. Zum Teil klebten noch faulende Kleidungsreste an den bleichen Knochen. Ein warmer Luftzug, der nach Verwesung und Moder stank, wehte Mythor entgegen. Vollgefressene Ratten kletterten über die Berge von Knochen und knabberten an stinkenden Fleischresten. Die Tiere waren so fett, daß ihr Fell über den prallen Leibern dünn und schütter wirkte. Wie viele Tote mochten hier liegen? Mythor konnte es nicht abschätzen. Ihn schauderte. Hier war nun also der Hafen für Hunderte von Seefahrern, die schon lange in ihrer Heimat vermißt wurden. Sie waren in den Sog der Insel geraten und hatten willenlos Ysider und seiner Schwarzen Magie dienen müssen. Die Mächte der Finsternis hatten ihnen die Lebenskraft genommen. Und wenn es nach dem Willen dieser Mächte ging, dann war dieser Ort auch für Mythor und seine drei Gefährten bestimmt. Niemals sollte es soweit kommen! Mythor schlug die Tür zu und lief den Gang zurück, den er gekommen war. Er fand die Gewölbe und Treppen wieder, die nach oben führten. Die Opfer des Herrschers von Zuuk hatte er gefunden. Jetzt brauchte er den Herrscher selbst! * »Mir nach! Folge mir!« Monoton und beschwörend hallten die Worte durch die Gewölbe. Mythor hörte sie, noch bevor er den Zwerg selbst erblickte. Hatte er seine Gefährten wiedergefunden? Er preßte sich mit dem Rücken gegen die Steine und schob
sich vorsichtig um die Biegung des Ganges. Er hielt Alton so, daß die Klinge von seinem Körper verdeckt wurde, damit ihn das Leuchten in dem düsteren Gang nicht verriet. »Nur ein kleiner Weg, es ist gar nicht mehr weit. Hab Mut! Folge mir!« Der Zwerg stand am Ende des Ganges unter einer Fackel, die an der Wand in einer eisernen Halterung steckte. Das Licht beleuchtete gespenstisch sein Gesicht. Nur die Augen lagen im Schatten, den die Krempe des Schlapphuts warf. Er blickte in Mythors Richtung. Der Zwerg war allein. Weder Kalathee noch Sadagar, noch Nottr waren zu sehen. Doch wen rief der Zwerg? Wem galten die Lockungen? »Sei tapfer! Hab Mut! Komm her und folge mir!« Der Zwerg sprach nicht mit den Gefährten. Er lockte nur eine Person. Aber der Gang war leer! Wen gab es hier noch außer ihm selbst? Niemanden! Außer… War es denkbar, daß er Mythor schon entdeckt hatte? Unmöglich! Mythor hatte sich leise und vorsichtig herangearbeitet. Dazu wurde er fast ganz von der Biegung des Ganges verdeckt. Außerdem befand er sich im Schatten, und der Zwerg stand im Licht. Die Fackel würde ihn blenden. Jetzt hob der Wicht einen Arm. Mit langsamen Bewegungen winkte er in Mythors Richtung. Seine langen, dünnen Finger bewegten sich wie Würmer. »Hierher, hierher! Du hast es gleich geschafft!« Es gab keinen Zweifel mehr. Mythor war entdeckt. Doch was hatte ihn verraten? Das Gläserne Schwert war noch hinter der Biegung verborgen. Sein Leuchten konnte von dort, wo der Zwerg stand, nicht gesehen werden. Waren seine Schritte zu laut gewesen? »Hierher, hierher! Ich sehe schon deine Augen! Hab Mut!« Das war die Antwort! Als Mythor um die Ecke geblickt hat-
te, mußte der Zwerg den hellen gelben Schimmer in seinen Augen bemerkt haben. Vermutlich waren sie in der Dunkelheit deutlich zu sehen gewesen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mythor löste sich von der nassen Wand und ging langsam auf den Wicht zu. Er drückte die Hand mit dem Schwert fest gegen den Körper, so daß es aussehen mußte, als ob die Waffe noch im Gürtel stecke. Sein Gang wirkte dadurch steifer und unbeweglicher. Es war der Gang eines willenlosen Menschen. »So ist es gut! Mir nach, folge mir!« Der Zwerg drehte sich um und wandte Mythor den Rücken zu. Er ging langsam das Gewölbe entlang, in der gleichen Art und Weise, in der er auch die drei Gefährten geführt hatte. War es möglich, daß er die Flucht Mythors gar nicht als solche registriert hatte? Glaubte er, daß sich Mythor nur verirrt habe, daß der Zauber, der ihn willenlos machen sollte, noch immer wirksam war? Es gab keine andere Erklärung. Aber wenn das alles zutraf, war mit Sicherheit auch noch kein Alarm ausgelöst worden. Niemand würde Mythor suchen. Schließlich gab es keinen, der von seiner Flucht berichten könnte. Keinen außer dem Zwerg! Mythor löste sich vom Boden und sprang den Wicht an. * »Wer bist du?« stammelte der Zwerg und schnappte nach Luft. Er wand sich unter dem festen Griff Mythors. Der lange Stab mit der Eisenspitze entglitt seiner Hand und polterte zu Boden. Mythor tastete den Wicht nach weiteren Waffen ab. Er fand noch einen Dolch, zog ihn ihm aus dem Gürtel und warf ihn hinter sich. Dann ließ er den Zwerg los. Der Gnom wich zurück und drückte sich gegen die Mauer,
als könne sie ihn aufnehmen und verbergen. Dabei betastete er seinen dünnen Hals da, wo Mythor ihn gepackt gehalten hatte. »Ab sofort wirst du nur noch antworten«, sagte Mythor scharf. Der Zwerg nickte schnell. Sein Schlapphut rutschte nach hinten, und die Krempe legte ein Paar angstvoll aufgerissener Augen frei. »Wer ist der Herrscher von Zuuk?« »Er ist stärker als du«, flüsterte der Wicht heiser. »Antworte! Ist es Ysider?« Der Gnom nickte. »Ja, er ist es. Aber du kannst ihn nicht bezwingen. Niemand…« »Ich habe gesagt, du sollst nur noch antworten«, fuhr Mythor dazwischen. »Ist Ysider ein Priester der Schattenzone?« »Nein! Auch er ist nur ein Diener, ein Sklave Drudins. Doch von ihm hat er alles gelernt, was nötig ist, um Macht in der Lichtwelt zu erlangen. Er hat die Instrumente und das Wissen.« »Du siehst, daß er nicht Wissen genug hat«, widersprach Mythor. »Mich hat er nicht in seine Gewalt bringen können!« »Dann wirst du sterben!« »So wie all die Schiffbrüchigen, die willenlos in der Kuppelstadt leben und Ysiders dunklen Zeremonien dienen müssen?« »Es wird für dich furchtbarer sein«, flüsterte der Zwerg. »Die seelenlosen Menschen spüren keinen Schmerz. Ysider nimmt ihnen die Lebenskraft, und sie sterben langsam, aber ohne zu leiden!« »Also lebt Ysider durch seine Opfer«, sagte Mythor. »Er muß ihnen die Lebensenergie stehlen, um selbst existieren zu können. Wie kannst du da von Macht sprechen?« Der Gnom kicherte. »Du weißt nichts«, sagte er. »Ysider ist ein Nachkomme der Königstrolle. Für sich selbst braucht er die Kraft nicht. Er stiehlt sie, wie du sagst, im Auftrag Dru-
dins. Er speichert sie in seinem Körper für die Schattenzone und gibt sie dort an die Herren ab.« Das war das Geheimnis von Zuuk! Die Legende, die der Lorvaner über die Insel erzählt hatte, war wirklich nicht mehr als eine Legende. Sie hatte richtige Ansätze, aber sie gab nicht die volle Wahrheit wieder und erklärte nicht alles. Zwar war die Legende schon grauenhaft, aber die Wirklichkeit übertraf sie bei weitem. Die Tausende von Gebeinen, die Mythor in den Kellergewölben der Burg gefunden hatte, waren die Überreste all jener Menschen, die mit ihrer Kraft die Mächte der Finsternis genährt hatten. Das gleiche Schicksal stand den noch lebenden Menschen in der Stadt bevor. Und nicht nur ihnen! »Wo hast du die Opfer hingebracht, die mit mir auf die Burg gekommen sind?« fragte Mythor. »Du kannst sie nicht mehr retten«, antwortete der Zwerg. »Wo sind sie?« »Sie sind bereits im Türm«, sagte der Gnom. In seiner Stimme schwang so etwas wie höhnischer Triumph mit. »Wahrscheinlich beginnt Ysider in diesem Augenblick mit der Zeremonie!« Mythor holte aus und schmetterte seine Faust gegen die Schläfe des Zwerges. Der kleine Körper sank in sich zusammen. Bewußtlos blieb er liegen. * Mythor hatte Ysider bereits gesehen! Mit einemmal war ihm alles klar. Er erinnerte sich wieder deutlich an die gedrungene Gestalt, die über den schwarzen Altar gebeugt gestanden hatte. Das war der Herr von Zuuk gewesen. Ein Nachkomme der
sagenumwobenen Königstrolle! Der Mörder von unzähligen Seeleuten! Ein furchtbarer Diener der finsteren Mächte! Mythor hastete durch die Gänge der Burg. Von jetzt an durfte er keine Sekunde mehr verlieren. Seine Gefährten waren in unmittelbarer Gefahr. Wenn der Zwerg die Wahrheit gesagt hatte, konnte es möglicherweise schon zu spät sein. Mythor hoffte, daß die Vorbereitungen zu den Beschwörungen und zu der Zeremonie länger dauern würden. Heisere, krächzende Stimmen näherten sich Mythor. So sprachen die Schergen in den braunen Kutten, die die Gefangenen im Wagen zur Burg brachten. Doch diesmal machte Mythor keinerlei Anstalten, sich zu verbergen. Das Versteckspiel war vorbei. Der Kampf hatte begonnen. Die beiden Gestalten tauchten vor Mythor auf und erstarrten in der Bewegung, als sie den Mann erkannten, der mit dem Gläsernen Schwert in der Faust auf sie losstürmte. »Ist das nicht…?« murmelte einer. Dann traf ihn Mythors Faustschlag im Gesicht und verschloß ihm den Mund. »Er ist es!« bestätigte Mythor trocken. Der andere griff nach seinem Schwert. Er hatte es bereits aus dem Gürtel, als Mythor herumwirbelte und sich ihm zuwandte. Der Scherge sprang vor und stach auf seinen Gegner ein. Ein schriller Kampfschrei begleitete die Attacke und wurde vom Gewölbe des Ganges als Echo zurückgeworfen. Mythor parierte mit Alton. Die beiden Klingen schlugen hart aufeinander. Mythors Faust fuhr auf den Schergen zu und traf ihn dicht über dem Hanfgürtel. Der schrille Kampfschrei verebbte und ging in ein gurgelndes Stöhnen über. Der gedrungene Körper knickte nach vorn. Mythor riß Alton zur Seite, holte aus und hämmerte den Schwertknauf auf den Hinterkopf des Schergen. Jetzt verstummte auch das Gurgeln. Lautlos brach Ysiders Soldat zusammen und blieb bewegungslos liegen.
Mythor stürmte weiter und fand eine Treppe, die in den Turm führen mußte. Hinter ihm erscholl wildes Kreischen. Der Zwerg schien aus seiner Bewußtlosigkeit aufgewacht zu sein und gab Alarm. »Fangt ihn, tötet ihn! Er ist entkommen!« Leben kam in die Schloßgänge. Türen wurden aufgerissen, und Waffen klapperten gegen Stein. Von überall her stürmten die Schergen mit gezogenen Waffen. Sie liefen planlos durch die Gänge. Noch begriffen sie nicht, was sich ereignet hatte. Andere wiederum, die zufällig Mythors Weg gekreuzt hatten, hätten Auskunft geben können. Aber sie würden noch so lange stumm bleiben, wie ihre Bewußtlosigkeit andauerte. Ysider riß beide Arme hoch. Die weiten Ärmel seines Umhangs fielen zurück und gaben aufgequollenes Fleisch frei. Nur die Finger waren dünn und wirkten krallig. Sie steckten in schwarzen Handschuhen. Sein Gesicht war aufgedunsen und stark gerötet. Seine Augen wölbten sich vor ihren Höhlen wie Froschaugen. Die fetten Lippen bewegten sich. Ysider schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und entblößte seinen runden, kahlen Schädel. Ein Netz blauvioletter Adern spannte sich dort unter der Haut. Feine Schweißperlen glänzten im Schein der Talglichter. »Legt sie auf den Altar!« Der feiste Körper Ysiders zitterte und bebte, als er die Worte aussprach. In seinem dicken Körper war die Lebensenergie von zahllosen Opfern gespeichert. Er war so voll damit, daß er sich nur schwer bewegen konnte. Zwei Diener, wie die Schergen in braune Kutten gekleidet, packten Kalathee und trugen sie zu dem schwarzen Tisch. Sie hoben sie hoch und legten sie auf das schwarze Tuch. Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie war wach, aber sie wehrte sich nicht. Noch immer hielt die geheimnisvolle Gewalt sie in ihrem Bann. Sie wirkte auf Kalathee noch ebenso stark wie auf Nottr und Sadagar, die teilnahmslos an der
Wand standen. Ysider streifte der Frau einen Metallring über die Füße. Seine schwarze Oberfläche war von einem Gewirr dunkler Symbole bedeckt. »Die Klammern!« sagte Ysider. Während er unverständliche Beschwörungen murmelte, reichten ihm seine Diener verschiedene Utensilien. Mit großen Gesten und unter lauten Anrufungen verteilte er sie über den Körper der Frau. Zum Schluß schlug er das schwarze Tuch so weit hoch, daß es gerade das Gesicht Kalathees bedeckte. »Tretet zurück!« sagte er zu den beiden Dienern. Ysider streckte beide Arme aus und spreizte die Finger. Seine Handflächen beschrieben langsam kreisende Bewegungen über Kalathee. Er berührte sie nicht, aber dennoch begann die Frau zu reagieren. Sie wand sich, als ob sie sich aus einer furchtbaren Umklammerung lösen wollte. Gegen irgend etwas kämpfte sie an. Je heftiger ihre Bewegungen wurden, desto lauter und drängender wurde das Gemurmel Ysiders. Es steigerte sich immer mehr. Zuerst ähnelte es mehr einem monotonen Singsang, doch dann wurde es zu einem drohenden, belfernden Gebrüll. Kalathee stöhnte, und ihr Körper bäumte sich auf. Die Luft wurde erfüllt von klagenden Lauten. Die Flammen der Talglichter flackerten und wurden kleiner. Ysider hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Seine Finger verkrampften sich, Bäche von Schweiß strömten über sein Gesicht und flossen auf den roten Teppich. Von dort stiegen Nebel auf, wehten um den Altar und hüllten Ysider und sein Opfer ein. Ein eisiger Lufthauch zog plötzlich durch den Raum und ließ die Schergen erzittern. Die Nebelschwaden wurden zerfetzt und vertrieben. Ysider warf den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Sie quollen hervor und drohten aus den Höh-
len zu treten. Seine geschwollenen Lippen bebten und zitterten. In diesem Augenblick flog krachend die Tür auf, und ein Mann mit einem leuchtenden Schwert sprang in den Raum. * »Ysider, zurück!« Nur zwei Schritte hatte Mythor zurückzulegen, dann hatte er den Altar erreicht. Mit dem Schwert schlug er in Ysiders Richtung, mit der Linken packte er Kalathee und zog sie hoch. Er hob sie vom Altar und legte sie auf den Boden. Sofort danach wirbelte er herum und hielt schützend Alton über den Kopf. Der Scherge stand hinter ihm, holte aus und schlug zu. Klinge traf auf Klinge. Mythor drückte den Gegner zurück und rammte ihn gegen die Wand. Mythor sah den Schatten aus den Augenwinkeln. Er duckte sich und schnellte zur Seite. Der Hieb des zweiten Dieners ging fehl. Zu einem weiteren kam er nicht mehr. Altons Schneide traf sein Handgelenk. Der Scherge brüllte auf. Er preßte die gesunde Hand auf die Wunde und trat mit dem Stiefel nach Mythor. Mit der linken Hand fing Mythor den Tritt ab. Er drehte den Fuß herum und riß den Angreifer zu Boden. Dann faßte er ihn an der Kutte, hob ihn hoch und warf ihn über den Altar. Mythor folgte ihm. Er flankte über den Opfertisch. Ysider sah ihn auf sich zukommen, aber er war unfähig, sich zu bewegen. Dann war es schon zu spät. Hart stieß Mythor den Herrscher von Zuuk gegen die rückwärtige Wand. Der aufgedunsene Körper erbebte unter dem Stoß. Mythor holte aus und schlug dreimal mit der flachen Hand zu. Dunkelrote Flecken bildeten sich sofort im Gesicht Ysiders, wo er getroffen war.
»Löse den Bann!« befahl Mythor. »Befreie die Menschen!« Ysider schnappte nach Luft. Seine Lippen bewegten sich, aber er bekam kein Wort heraus. Mythor hob sein Schwert und drückte die Spitze Altons gegen Ysiders Hals. »Tu, was ich sage!« Mythor verstärkte den Druck. Ein winziger Blutstropfen bildete sich an der Spitze der Schneide und rollte über die Klinge. »Ich… ich kann nicht!« brachte Ysider hervor. Noch einmal verstärkte Mythor den Druck des Schwertes. Ein winziger Schnitt bildete sich am Hals des Herrschers. In seinen Froschaugen waren Angst und Wut deutlich abzulesen. Schließlich gewann die Angst die Oberhand. »Ich tue, was du sagst!« Mythor verringerte ein wenig den Druck. »Ich rate es dir!« Ysider schluckte und schloß die Augen. Der kurze Kampf hatte den fetten Mann viel Kraft gekostet. »Nimm dein Schwert zurück!« Mit einem Blick vergewisserte sich Mythor, daß der Magier unbewaffnet war. Dann ließ er das Schwert sinken. Ysider verfolgte die Bewegung der Klinge. Ein gieriger Ausdruck trat in sein Gesicht. Er leckte sich über die Lippen. »Das Gläserne Schwert!« flüsterte er. »Fang an«, drängte Mythor, »sonst wirst du es aus einer Nähe kennenlernen, die dir nicht lieb ist!« Ysider riß sich zusammen und konzentrierte sich. Aus den unteren Räumen und Gängen des Schlosses schallte der Lärm des keifenden Zwerges und der aufgebrachten Schergen herauf. Noch waren sie nicht bis in den Turm vorgedrungen, da ihrer Suche jede Ordnung und jedes System fehlte. Einige wußten nicht einmal, wonach sie eigentlich suchten und was vorgefallen war.
Lange jedoch würde diese Situation nicht mehr anhalten. Die Soldaten Ysiders würden bald den Turm stürmen. Wenn es soweit war, würde es für Mythor und die Gefährten gefährlich werden. Bis dahin mußte der Bann gelöst sein. Die gleichen Gedanken schienen in diesem Augenblick auch Ysider zu kommen. Ein gemeines Grinsen verzerrte sein gequollenes Gesicht. »Vertraue nicht auf deine Schergen«, warnte Mythor. »Wenn ich sterbe, stirbst du auch!« Mythor rollte die beiden bewußtlosen Diener des Herrschers aus dem Raum und schloß die Tür. Er schob den Riegel vor. »Du hast die Wahl!« * Noch vor wenigen Minuten hatten Kalathee, Nottr und Sadagar vollkommen teilnahmslos dagestanden. Jetzt sah es so aus, als ob ihre Seelen zurückkehrten. Die Augenlider der drei begannen zu flattern, ihre Hände und Finger zuckten. Langsam bewegten sie ihre Köpfe, und es schien, als ob sie sich umblickten. Aber noch reagierte keiner von ihnen auf Mythor. Ysider stand hinter dem Altar. Er ordnete magische Zeichen und Symbole und murmelte beschwörende Worte. Er sprach in einer Zunge, die Mythor nicht verstand. Draußen vor der Tür sammelten sich Ysiders Schergen. Mit den Griffen ihrer Waffen hämmerten sie gegen das Holz. Sie schrien und brüllten durcheinander. »Ysider, gib deine Befehle!« »Wir sind hier, wir stehen zur Verfügung!« »Öffne die Tür, wir werden die Eindringlinge vernichten!« »Melde dich, Herr!« Mythor prüfte die eisernen Angeln und die Riegel. Einige Zeit noch würde die Tür dem Ansturm standhalten.
»Du bist verloren«, murmelte Ysider. »Mit mir auch der Herrscher von Zuuk«, versetzte Mythor kalt. Ysider grinste böse, dann fuhr er in seinen Beschwörungen fort. Er hob beide Fäuste an die Schläfen und konzentrierte sich auf die Gefährten Mythors. Mythor rechnete damit, daß Ysider einen Trick versuchen würde. Der Magier war hinterhältig und bösartig. Doch bisher war Alton immer eine gute Versicherung gegen Angriffe jeder Art gewesen. Mythor hob das Schwert und richtete die Spitze stoßbereit auf den Diener der Schattenzone. Mit Tritten und Stößen versuchten die Schergen die Tür aufzubrechen. Sie benutzten ihre Schwerter als Hebel und Meißel. Das Dröhnen ihrer Schläge und das Krachen und Bersten des Holzes erfüllten den Raum. Es übertönte das monotone Murmeln des Magiers. Ysider stand jetzt bewegungslos. Seine ausgestreckte Hand deutete auf Nottr. Auch der Lorvaner stand still. Er schien kaum noch zu atmen. Seine zerfurchte Haut wirkte mit einemmal noch faltiger und eingefallener. Die braungelbe Gesichtsfarbe wurde bleich und grau. Seine Schultern fielen nach vorn, die Brust zog sich zusammen. Es sah so aus, als würde er sich langsam auflösen. Ysider dagegen wirkte noch praller und aufgequollener. Seine Haut spannte sich und drohte fast zu zerreißen. Die Augen traten noch mehr hervor und ähnelten dicken, gläsernen Halbkugeln. Ein furchtbarer Verdacht überkam Mythor. Raubte Ysider den Gefährten doch die Lebensenergie? Wagte er es, den Zauber fortzuführen? Mythor kam nicht dazu, den Verdacht weiterzuverfolgen. Der Mörtel der Wand platzte heraus, als die Angeln der Tür unter den Tritten herausgerissen wurden. Die Tür krachte
nach innen. Grölend sprangen die Schergen in den Raum und schwangen wild ihre Schwerter. »Zurück!« Ysider brüllte den Befehl und taumelte gegen die hintere Wand. Die Soldaten erstarrten in der Bewegung. Augenblicklich trat atemlose Stille ein. Mit einem Sprung setzte Mythor über den Altar. Er fegte mit der Hand die magischen Utensilien zu Boden und versuchte den Magier zu packen. Doch der duckte sich und warf sich zu Boden. Ysider wand sich wie ein Wurm. Er schnaufte und stieß inartikulierte Laute aus. Sein fetter Wanst dehnte sich, als ob er mit Luft vollgepumpt würde. Doch so, wie Ysider wuchs, fielen Nottr, Sadagar und Kalathee in sich zusammen. Schon nach wenigen Sekunden fehlte ihnen die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Wortlos sanken sie in sich zusammen. Mythor bückte sich, faßte Ysider an der Kleidung und riß ihn hoch. Doch der gnomenhafte Magier schien mit einemmal über gewaltige Kräfte zu verfügen. Er stieß Mythor zurück und schleuderte ihn quer durch den Raum. Hart prallte Mythor gegen die Wand. Der Schmerz raubte ihm den Atem. Aber er griff sein Schwert fester und stürmte von neuem auf den Gegner ein. Ysider schrie und schlug sich selbst mit den Fäusten gegen den Kopf. Er wuchs noch immer, er hatte sich bereits zur doppelten Körpergröße ausgedehnt. »Ihr seid verloren!« dröhnte es aus seinem Mund. Mythor holte mit seinem Schwert aus, um dem grausamen Spuk ein Ende zu bereiten. Die Klinge Alton fuhr auf den Wanst des Magiers zu, aber sie erreichte ihn nicht. Ysider zerbarst! Der Körper des Magiers platzte auseinander wie ein bauchi-
ges Tongefäß, das von einem harten Schlag getroffen wird. Ungeheure Gewalten wurden freigesetzt. Eine Druckwelle erfaßte die Schergen und schleuderte sie durcheinander. Unerträgliches Kreischen und Schreien quälte die Trommelfelle. Schatten, die menschliche Konturen hatten, quollen aus einer dunklen Nebelwolke und verströmten in alle Richtungen. Die Steinquader der Wände erzitterten. Risse und Sprünge liefen über die Mauern. Kalk rieselte von der Decke. In panischer Flucht stürmten die Schergen aus dem Raum. Mit ihren Schwertern hieben sie aufeinander ein, um sich den Weg durch die enge Tür freizukämpfen. Angst und Verzweiflung trieben sie vorwärts. Ihre Schreie verloren sich in den weitläufigen Gängen der Burg. * Eine morsche Leiter war der einzige Weg auf das Dach der Burg. Mythor schob Alton in die Gürtelschlaufe und prüfte die Festigkeit der untersten Sprosse. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht, aber es hielt. Vorsichtig kletterte er hinauf. Nach dem Tod Ysiders war die Lebensenergie in die Körper der Gefährten zurückgekehrt. Doch der Bann war nicht gebrochen. Sie blieben teilnahmslos und apathisch und reagierten auf niemanden. Nicht Ysider hielt sie in Trance, sondern ein magisches Gerät, das Mythor schon vom Hafen aus auf den höchsten Zinnen der Burg erspäht hatte. Von dort war das unwirkliche Summen und Sirren gekommen, das die Gedanken der Gefährten betäubt hatte. Von unten stieß Mythor die Falltür auf. Helles Sonnenlicht flutete durch die viereckige Öffnung. Mythor kletterte ganz hinauf und zog sich auf das Dach. Hier oben blies ein ständiger Wind und zerrte an der Kleidung. Nach all dem modrigen Gestank im Inneren der Burg tat es gut, tief durchzuatmen.
Mythor sah sich um und scheuchte ganze Schwärme von schwarzen Vögeln auf, die hier oben ihre Nester hatten. Krächzend umkreisten sie den Eindringling. Doch der seltsame Kasten, den er hier erwartet hatte, war nicht zu sehen. »Er ist aufs Dach geflohen!« »Die Luke ist offen!« »Jetzt entkommt er uns nicht mehr!« Die Stimmen flogen durcheinander. Sie klangen wild und entschlossen. Mythor lief zurück zur Dachluke und spähte hinunter. Am Fuß der Leiter standen etwa zwanzig Schergen in den braunen Kutten und starrten herauf. Sie hielten Schwerter in den Fäusten und schwangen die Waffen über den Köpfen. »Da ist er!« »Tötet ihn!« »Stürzt ihn vom Turm!« Ein Pfeil löste sich von der Sehne und zischte auf Mythor zu. Er verfehlte ihn nur um die Breite eines Fingers. Mythor zog den Kopf zurück und zückte sein Schwert. Die Soldaten schienen die Panik, die sie nach dem Tod Ysiders ergriffen hatte, überwunden zu haben. Sie hatten sich neu gesammelt und formiert. Jetzt rüsteten sie sich, um den Eindringling, der ihnen den ganzen Ärger gebracht hatte, zu vernichten. Die Luke, die aufs Dach führte, war nicht sehr groß. Die Soldaten konnten sie jeweils nur einzeln durchklettern. Es würde nicht sonderlich schwer sein, das Dach zu verteidigen. Sie sollen nur kommen, dachte Mythor grimmig. Der erste Kopf tauchte auf. Die Augen des Soldaten spähten über den Rand und suchten den Gegner. »Weiter, weiter!« drängten die Nachfolgenden. Sie drückten mit ihren Schultern gegen den Oberen und schoben ihn vorwärts.
»Er ist nicht mehr hier!« rief der erste nach unten. »Das kann nicht sein«, kam die Antwort. »Es gibt keinen Fluchtweg!« »Klettere weiter, laß uns selbst sehen!« Der oberste Soldat fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. Er wußte, wie verwundbar er war, wenn der Gegner plötzlich angriff. Er zog sich noch ein Stück höher und hob den Arm, der sein Schwert hielt. Ängstlich sah er sich um. »Ich sehe ihn wirklich nicht!« »Hier bin ich«, rief Mythor und sprang hinter der Zinne hervor, hinter der er in Deckung gegangen war. Er ließ seinem Gegner nicht den ersten Hieb. Er hob Alton und schlug zu. Das Gläserne Schwert traf die Klinge des Soldaten. Die gewaltige Wucht des Schlages raubte ihm das Gleichgewicht. Er taumelte und verlor den Halt. Sein Kopf verschwand aus der Luke. Er stürzte zurück und riß die nachdrängenden Schergen mit sich. Die morsche Leiter brach auseinander. Polternd fiel der Turm der Angreifer in sich zusammen, und Mythor schlug die Klappe zu. * Das seltsame Sirren! Plötzlich war es wieder zu hören und dröhnte in Mythors Kopf. Wie vor drei Tagen, so heizte sich auch diesmal wieder der Griff des Schwertes auf, und eine unbekannte Spannung erfüllte die Luft. Deutlich konnte Mythor die Richtung ausmachen. Er schirmte die Augen gegen die Sonne ab, und dann fand er den eigenartigen Kasten. Er stand auf dem Südturm, halb von einer steinernen Brustwehr verborgen, etwa fünfzig Schritt von Mythors Standort entfernt. Fünfzig Schritt!
Es war keine große Entfernung, aber der Weg führte über einen nur handbreiten Grat. Rechts und links dieses schmalen Weges gähnten Abgründe. Mehr als fünfzehn Mannslängen ging es senkrecht in die Tiefe. »Es gibt keinen Fluchtweg«, hatten die Schergen gesagt. Mythor hatte die Worte noch deutlich im Ohr. Normalerweise hätten die Soldaten recht gehabt, doch Mythor hatte keine Wahl. Der Tod durch die Schwerter der Schergen war nicht schlimmer als der Sturz vom Dach der Burg. Doch wenn er die Möglichkeit nutzte, hatte er die Chance zu gewinnen; nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der Gefährten. Mythor stieß Alton in die Gürtelschlaufe und stellte sich an den Rand des Turmes. Das Krächzen der schwarzen Vögel verstummte, so als wollten sie ihn nicht in seiner Konzentration stören. Selbst der Wind schien schwächer zu werden. Tief unter Mythor rauschten wie ein grüner See die Baumwipfel des Waldes. Der Wind spielte mit den Blättern und bewegte die Äste und Zweige. Wellen liefen durch die Wipfel, die an die Wogen des Meeres erinnerten. »Es muß sein«, sagte sich Mythor. Er breitete die Arme aus, um sein Gleichgewicht besser halten zu können. Dann setzte er den ersten Fuß auf die oben abgerundete Zinne. Das weiche Leder der Stiefel gab nach, und der Fuß schmiegte sich an die Rundung. Er zog den zweiten Fuß nach. Schreckliche Bilder tauchten vor Mythor auf. Er sah das Kellergewölbe mit den Skeletten und die vollgefressenen Ratten dazwischen. Er sah die willenlos gemachten Menschen in der Stadt und die brutalen Schergen mit ihren langen Peitschen. Die Herrschaft dieser bösen Mächte mußte gebrochen werden. Zuuk war ein Stützpunkt der Schattenzone. War er vernichtet, waren die Herren der Finsternis wieder ein wenig schwächer. All das lag jetzt in seiner Hand. Für ihn gab es kein Zurück mehr.
Mythor ging ruhig und gleichmäßig. Er konzentrierte sich auf den schmalen Weg und bemühte sich, nicht in die Tiefe zu blicken. Vor Jahren hatte er Schausteller gesehen, die von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zogen und gegen ein geringes Entgelt Kunststücke und fremdartige Tiere vorführten. Sie hatten auch die Nomadenstadt Churkuuhl besucht und den jungen Mythor tief beeindruckt. Vor allem ein junger Mann, der damals nicht älter als er selbst gewesen war, kam ihm jetzt wieder in Erinnerung. Der Jüngling hatte ein kräftiges Tau zwischen den beiden höchsten Häusern der Nomadenstadt gespannt. Dann war er unter den ungläubigen Blicken der Bevölkerung über dieses Seil gelaufen. Mehrere Tage hatten sich die Schausteller in Churkuuhl aufgehalten, und jeden Tag hatte sich der junge Mann von neuem in Gefahr begeben. Es sah sicher und leicht aus, wie er dort oben in einer Höhe von mehreren Mannslängen herumspazierte. Schließlich rechnete niemand mehr damit, daß ihm irgend etwas geschehen konnte. Aber dann war es doch passiert. Am dritten Tag ihres Besuches blieb der Jüngling plötzlich in der Mitte des Seiles stehen. Er begann zu schwanken und fuhr mit den Händen in die Luft, als suche er einen Halt. Dann verlor er plötzlich das Gleichgewicht und fiel. Er fiel so schwer, daß er wenige Stunden später starb. Doch kurz vorher erlangte er noch einmal das Bewußtsein zurück, und er sprach die Worte, die alles erklärten und die Mythor seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen waren: »Ich habe gezweifelt! Ich habe plötzlich nicht mehr daran geglaubt, daß ich das andere Ende des Seiles noch erreichen könnte. Das war mein einziger Fehler!«
»Ich werde es schaffen«, sagte Mythor laut und mit fester
Stimme. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem rettenden Turm. * »Er ist auf dem Südturm!« »Zurück, er ist entkommen!« Ysiders Soldaten standen dort, wo Mythor noch vor wenigen Minuten gewesen war. Sie gestikulierten wie wild und hieben ärgerlich mit ihren Waffen in der Luft herum. »Wie hat er das geschafft?« »Ein Dämon muß ihm beigestanden haben!« »Er ist über die Zinne gelaufen!« Sie standen am Rand des Turmes und sahen zu Mythor hinüber. Niemand von ihnen wagte, ihm auf dem gefährlichen Weg zu folgen. Sie liefen zurück und sprangen wieder durch die Luke ins Innere der Burg. Sie wählten einen sichereren Weg. Mythor kümmerte sich nicht um sie. Für einige Zeit würde er noch vor ihnen sicher sein. Erstaunt besah er sich den seltsamen Kasten. Noch nie hatte er etwas Derartiges gesehen. Zwar hatte er bereits Priester und Magier davon erzählen hören, aber nie wirklich geglaubt, daß so etwas existierte. Der Kasten war würfelförmig, eine Kantenlänge betrug etwa eineinhalb Schritt. Er bestand aus einem durchsichtigen, milchig-gläsernen Material. Die Seite, die zum Meer wies, war unterbrochen. Ein etwa armlanger Trichter ragte dort heraus. Aus diesem Trichter dröhnte das betäubende Sirren und Summen. Im Inneren des Würfels befand sich eine verwirrende Vielfalt von Dingen, wie sie Mythor noch nie in seinem Leben gesehen hatte und deren Bedeutung er nicht einzuschätzen wußte. Es
sah fein gearbeitete Metallringe, die auf Holzstäben aufgezogen waren. Ringe in bunten, verschlossenen Flaschen, seltsam angeordnete Metallplatten, Gegenstände, die aussahen wie Knochen, farbige Kristalle und Schalen mit trüben, kochenden Flüssigkeiten. Die Luft flimmerte um diesen gläsernen Kasten, obwohl er keinerlei Hitze ausstrahlte. Eine magische Spannung herrschte in der Nähe dieses Würfels. Diese Spannung stellte Mythor die Haare auf und brachte sie zum Knistern, als verbrenne harziges Holz. Eine Aura von Macht und Gewalt umgab diesen Kasten. Unwirkliche Kräfte schienen in ihm wirksam zu sein, ohne daß sie sichtbar wurden. Einzig wahrnehmbar waren die Auswirkungen, die dieser Würfel auf die Menschen hatte. Er raubte ihnen die Sinne und die Seelen und betäubte sie, daß sie zu willenlosen Werkzeugen für finstere Herrscher wurden. Er war ein Werkzeug der Dunkelzone, nur geschaffen, um dem Bösen zum Sieg zu verhelfen. Er mußte zerstört werden! Mythor griff nach seinem Schwert und zog sofort die Hand erschrocken zurück. Altons Griff war glühend heiß. Es war unmöglich, das Schwert zu ziehen. Aber er brauchte eine Waffe. Mit bloßen Händen konnte er weder die Wände des Kastens einschlagen noch den gesamten Würfel bewegen und in die Tiefe stürzen. Sein Messer! Mythor riß den Dolch aus dem Gürtel und stach gegen die Wand des Kastens. Die Schneide glitt ab, ohne auch nur einen Kratzer zu verursachen. Noch einmal stach er zu. Die Klinge brach. In diesem Augenblick hörte er hinter sich das Kampfgeschrei der Schergen. Sie stürmten über die Wehrgänge heran. Den Vorsprung, den Mythor gehabt hatte, würden sie bald aufgeholt haben. Bis dahin mußte der Würfel vernichtet sein.
Aber gab es etwas, das sein Material zerstören konnte? Das Gläserne Schwert! Bisher hatte es noch nie etwas gegeben, was Altons Klinge widerstanden hätte. Es war die einzige und auch letzte Chance. Mythor riß sich die Fellweste vom Leib und wickelte sie um die rechte Hand. Dann packte er so das Schwert. Es zischte, als der Pelz den Griff berührte. Sofort roch es nach verbrannten Haaren und verbranntem Leder. Mythor zog die Waffe und schlug gegen den Würfel. Ein feiner, gläserner Span löste sich aus der Kante und flog singend davon. Alton blieb unversehrt. Noch einmal schlug er zu und noch einmal. Jedesmal kerbte er die Kante mehr ein. Aber es schien aussichtslos, den Kasten auf diese Art zerstören zu wollen. Die Zeit drängte. Die Soldaten hetzten bereits die schmale Treppe hoch, die auf die Turmplattform führte. In wenigen Augenblicken würden sie Mythor erreicht haben. Sie durften nicht siegen! Mythor schob die Klinge des Schwertes flach unter den Würfel. Er setzte Alton wie einen Hebel ein. Seine Muskeln und Sehnen spannten sich. Das mordgierige Gebrüll der Soldaten steigerte seine Kräfte und ließ das Unmögliche möglich werden. Der Kasten verrutschte. Er glitt auf die Kante des Turmes zu. Mythor triumphierte. Was eine Waffe nicht vermochte, gelang vielleicht der Tiefe. Dort sollte der magische Würfel zerbersten. Noch einmal setzte Mythor das Schwert an, und wieder näherte sich der Würfel der Kante. Der Griff Altons verbrannte das Leder, schon drang die Hitze schmerzhaft bis zu den Handflächen vor. Doch er gab nicht auf. Eine Ecke des Würfels war bereits über die Kante des Turms hinausgerutscht und
schwebte frei über den Abgrund. Es würde nicht mehr lange dauern. »Stirb, Eindringling!« Der Schrei kam aus nächster Nähe, und Mythor fuhr herum. Der erste Scherge hatte den Turm erreicht. Er hielt sein Breitschwert hoch über dem Kopf. In der anderen Hand blitzte ein zweischneidiger Dolch. Alton klemmte noch unter dem Kasten. Es gelang Mythor nicht mehr, die Waffe freizubekommen. Der Soldat war zu nahe. Mythor hörte deutlich seinen pfeifenden Atem. Der Scherge verzerrte sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen, als er die Hilflosigkeit seines Gegners bemerkte. Er blieb stehen, um seinen Sieg auszukosten. »Du bist verloren, Fremder. Mein Schwert wird dich töten!« Mythor drückte seinen Rücken gegen den Kasten und stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Seine Brust schmerzte unter der Anstrengung. Drei Fingerbreit glitt der Kasten weiter. Der Scherge erbleichte. Erst jetzt begriff er, was Mythor vorhatte. Er sprang vor und schwang sein Schwert. Die Schneide durchschnitt die Luft. Sie war auf Mythors Kopf gerichtet, sie sollte ihn spalten. Mythor stieß sich ab. Während die tödliche Waffe auf ihn zufuhr, warf er sich nach vorn. Er prallte gegen die Knie des Soldaten, genau in dem Augenblick, als er alle Kraft in den Schlag legte. Der Schwung, der Mythor töten sollte, riß jetzt den Schergen nach vorn. Er verlor den Boden unter den Füßen und stürzte über den gekrümmten Rücken Mythors. Hart schlug der Scherge gegen die scharfe Kante des magischen Würfels. Der Kasten rutschte weiter unter dem Stoß und kippte langsam über den Rand des Turmes. Der Soldat schrie auf. Er ließ sein Schwert fallen und klammerte sich an den Würfel.
»Helft mir!« brüllte er und sah sich verzweifelt nach seinen Mitkämpfern um. Doch die anderen Soldaten erreichten erst jetzt die untersten Stufen der Treppe. Der Soldat ließ den Würfel nicht los. Er schrie noch immer, auch, als der magische Kasten mit ihm längst über den Rand des Turmes hinausglitt und in die Tiefe fiel. Es dauerte lange, bis ihn Mythor unten auf den Felsen aufschlagen hörte. Er zerplatzte mit einem grellen Funkenblitz. Gleichzeitig verstummte das seltsame Summen und Sirren. Die Macht Zuuks war gebrochen. * Die Treppe war schmal, und von oben ließ sie sich gut verteidigen. Mit schnellen, kreuzweisen Schlägen hieb Mythor auf die anstürmenden Soldaten ein. Der Griff Altons war inzwischen abgekühlt, und die Waffe lag sicher in seiner Hand. Die Zerstörung des Kastens erfüllte die Schergen mit ungeahnter Wut und Kampfeslust. Sowohl ihr Herrscher als auch sein Instrument waren vernichtet. Jetzt hatten sie nichts mehr zu verlieren. Sie kämpften verzweifelt und wagten die aussichtslosesten Angriffe. Schon türmten sich die Leiber der Verwundeten und Getöteten auf den Treppenstufen und behinderten die Nachdrängenden. Dennoch gaben sie nicht auf. »Greift ihn von hinten an!« brüllte eine Stimme aus der Masse der Soldaten. »Von der Seite, kreist ihn ein!« »Macht Platz für die Leiter!« Eine Gasse bildete sich am Fuß der Treppe, und eine hölzerne Sturmleiter bewegte sich auf den Turm zu. Sie war lang genug, die Plattform auch von der anderen Seite her zu erreichen. Jubel und Siegesgeschrei brandeten auf.
»Jetzt haben wir ihn!« »Er ist verloren!« »Wir sind die Herren von Zuuk!« Sie lehnten die Leiter gegen den Turm, und sofort stürmten die ersten Schergen hinauf. Mythor sah sich nach ihnen um, aber er konnte seinen Platz an der Treppe nicht verlassen. Es war unmöglich für einen einzelnen, an zwei Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Würde das das Ende sein? Es sah so aus! Die Soldaten hatten die Leiter erklommen und schwangen sich über die steinerne Brustwehr. Ihre Augen funkelten wild. Sie bildeten eine breite Kette und stürmten im Laufschritt mit gezogenen Waffen auf Mythor los. Zwei oder drei würde er vielleicht besiegen können. Doch die Soldaten auf der Treppe drängten nun auch verstärkt nach. Um sie würde er sich nicht mehr kümmern können. Die Verzweiflung trieb Tränen in Mythors Augen. Fast alle Widrigkeiten der Insel hatte er überlisten und besiegen können. Er war stärker gewesen als die Gewalten der Finsternis und ihres schrecklichen Dieners. Ysider, den Herrscher, hatte er besiegt, doch seine Knechte schienen stärker zu sein. Mythor hob sein Schwert und ließ es wie einen Windmühlenflügel um seinen Kopf wirbeln. Drei der Soldaten gingen aufschreiend zu Boden. Mythor wich zurück. Er stellte sich mit dem Rücken gegen die Steinmauer und schlug auf seine Gegner ein. Solange er Kraft hatte, würde er kämpfen. Die Treppe war jetzt frei, und die Schergen stürmten auf die Plattform des Turmes. Sie johlten und grölten. Sie waren sich ihres Sieges sicher. Gleichzeitig drangen sie auf Mythor ein. Während Mythor zwei der Schergen mit wirbelnden Attacken zurückdrängte, versuchte ein dritter sein Breitschwert von unten in Mythors ungeschützten Leib zu rammen. Mythor erkannte die Absicht, aber es war zu spät für eine
Abwehr. Die beiden anderen drängten zu stürmisch auf ihn ein. Er preßte die Lippen aufeinander und erwartete den Schnitt des kalten Stahls in seinen Eingeweiden. Es ist vorbei, dachte er. Doch der Stich blieb aus. Der Soldat, der Mythors Schläge unterlaufen hatte, stieß plötzlich ein ächzendes Stöhnen aus. Sein Schwert fiel zu Boden, und er verkrampfte beide Hände vor der Brust. Zwischen den Fingern ragte der Griff eines Wurfmessers hervor. Sadagar!
Der Name explodierte in Mythors Kopf. War der Bann von den Gefährten genommen? Eilten sie ihm zu Hilfe? Sollte sich das Blatt doch noch wenden? Mythor raffte sich zu einer nie gekannten Kraftanstrengung auf. Sein Schwert zuckte so schnell hin und her, daß die Klinge mit den Augen kaum zu verfolgen war. Die Schergen erschraken und wichen zurück. Das Jubelgeschrei verstummte. »Willst du den Ruhm für dich allein haben, Mythor?« dröhnte Nottr. Er stand am Fuß der Treppe, sein Schwert war gezückt. Auf einer Zinne neben ihm stand Sadagar und hielt seine Wurfmesser wie einen Fächer in der linken Hand. »Kümmere du dich um die Leiter – wir nehmen die Treppe!« Mythor lachte erleichtert. »Dann los!« rief er und schwang sein Gläsernes Schwert. * In der Stadt herrschte buntes Treiben wie auf einem Jahrmarkt. Durch die Zerstörung des magischen Kastens auf der Burg war der Bann von den Schiffbrüchigen genommen worden. Jetzt wimmelten sie in der Hafenstadt umher, suchten ihre Schiffe und Gefährten. Mythor fand den Kapitän des Dandamarischen Vogels, der alle
Hände voll zu tun hatte, um Plünderer von seiner Ladung fernzuhalten. »Du kommst aus Nyrngor«, rief Mythor zu ihm hinauf. »Ich kenne das Zeichen deines Schiffes!« »Ja, ich bin aus Nyrngor«, bestätigte der Kapitän. Er war ein rauher und harter Seemann. »Aber das gibt dir kein Recht, dich hier einzuschleichen!« »Ich habe nicht vor, mich bei dir einzuschleichen«, beruhigte ihn Mythor. »Aber ich habe Nachricht aus deiner Heimat.« »Was für eine Nachricht könntest du schon haben«, höhnte der Kapitän und beförderte einen Eindringling, der die Bordwand zu erklettern versuchte, mit einem Faustschlag zurück ins Wasser. »Nachrichten von Königin Elivara«, antwortete Mythor. Der Seemann lachte. »Nyrngor hat einen König! Elivara ist seine Tochter. Was bist du für ein Scharlatan?« »König Carnen ist tot«, sagte Mythor ernst. »Er wurde ermordet. Jetzt ist seine Tochter Königin, aber sie hat kein Reich mehr!« »Was sagst du da?« »Nyrngor ist gefallen«, fuhr Mythor fort. »Die Stadt hat dem Angriff der Caer nicht standhalten können!« »Die Caer!« Er sprach es mit solch einer Verachtung aus, wie Mythor noch nie einen Mann hatte sprechen hören. »Die Bewohner haben hart gekämpft«, erzählte Mythor. »Doch diesmal waren die schwarzen Mächte stärker.« Der Kapitän ballte die Hände. »Warum sagst du mir das alles?« fragte er. »Warum machst du mir schon jetzt mein Herz schwer? Reicht es nicht, daß ich leide, wenn ich Nyrngor erreicht habe?« »Du sollst nicht leiden«, sagte Mythor. »Du sollst kämpfen. Elivara will alle Getreuen um sich sammeln und den Kampf gegen die Caer weiterführen, bis die Stadt wieder frei ist!«
»Was schlägst du also vor?« »Fahr nicht direkt nach Nyrngor«, sagte Mythor. »Leg weiter nördlich in der Nähe der Stadt an. Ich bin sicher, die Königin wird dich finden!« Der Kapitän nickte. »Ich danke dir, Fremder! Doch wenn Elivara mich nach dir ausfragt, welchen Namen soll ich ihr dann nennen?« »Grüße sie von Mythor!« Die Kurnis machte gute Fahrt. Ein neues Segel blähte sich am Mast. Der Kapitän des Dandamarischen Vogels hatte es der Besatzung geschenkt. Die Strömung, die die Schiffe viele Jahre lang zur Insel gezogen hatte, war verschwunden. Auch sie war von dem magischen Würfel erzeugt worden, den Mythor zerstört hatte. Hunderte von weißen Segeln spannten sich jetzt über dem Meer. Alle Schiffe verließen ihr Gefängnis. »Ein friedliches Bild«, sagte Kalathee. »Ich weiß nicht«, widersprach Sadagar. Er schnupperte in den Wind. »Ich rieche Gefahr!« Wie um seine Worte zu bestätigen, lag plötzlich ein drohendes Grollen in der Luft und ließ noch einmal Angst und Grauen in den Menschen aufsteigen. »Nein!« murmelte Kalathee leise und ängstlich. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie hatte in den letzten Tagen zu viel mitgemacht. Beruhigend legte ihr Mythor die Hand auf die Schulter. Die Insel Zuuk erbebte unter gewaltigen Erdstößen. Die prächtigen Gebäude der Stadt sanken in sich zusammen, und die Säulen knickten wie dünne Hölzer. Der Berg, der kegelförmig aus dem grünen Meer des Waldes aufragte, bebte. Gesteinsbrocken brachen aus den Mauern der Burg auf seiner Spitze. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schoß eine Flammenzunge aus dem Berg und schleuderte die
gesamte Burg hoch in die Luft. »Die schwarzen Mächte verwischen ihre Spuren«, murmelte Sadagar. Rotglühende Gesteinsmassen flossen zäh aus dem gezackten Rand des Berges. Sie wälzten sich die Wände des Berges hinunter und brannten breite Schneisen in den Wald. Dort, wo der Feuerstrom die Brandung des Meeres erreichte, stiegen zischend Dampfwolken in den Himmel und hüllten die Insel ein. Gewaltige Flutwellen lösten sich von der Insel und rollten hinter den davonsegelnden Schiffen her. Wie Nußschalen tanzten die Bootskörper auf den Wogen. Ein Hagel von niederstürzenden Gesteinsbrocken prasselte auf das Deck der Kurnis und peitschte das Wasser ringsum. Nottr stand wieder am Ruder und versuchte das Schiff sicher über die Wellenberge zu bringen. »Welchen Kurs nehmen wir?« fragte er. »Wir haben nur ein Ziel«, antwortete Mythor. »Den Helm des Gerechten zu finden. Nimm den Kurs, der uns nach Lockwergen bringt!« Als sich die Nebelwand über dem Meer der Spinnen auflöste, war Zuuk verschwunden. Lediglich kleine weiße Schaumkronen und aufsteigende Blasen verrieten noch für kurze Zeit, wo einmal Land gewesen war. Zuuk, die Insel des Schreckens, war für alle Zeit versunken.
Horst Hoffmann
DIE PEITSCHENBRÜDER Die Fahrt war diesmal ruhig verlaufen. Kein Sturm hatte die Kurnis erfaßt und im aufgepeitschten Meer von ihrem Kurs abgebracht. Kein magischer Zauber war über das Boot und seine Besatzung gekommen, um Mythor und seine drei Gefährten erneut in die Irre zu führen. Die Insel Zuuk existierte nicht mehr. Für alle Zeiten war sie vom Meer der Spinnen verschlungen worden. Diesmal konnte es keinen Zweifel geben, als sich im Licht der ersten Sonnenstrahlen Land vor dem Bug der Kurnis abzeichnete. Dies war die Küste von Yortomen. Eine seltsame Erregung hatte Mythor erfaßt, als er nun im Boot stand und versuchte, erste Einzelheiten zu erkennen. Noch lag der Nebel vor der Küste, doch wo er aufriß, waren Häuser zu sehen, dann ein Teil eines Hafens mit Schiffen und Booten: Lockwergen, die Stadt an der Ostküste Yortomens. Der Himmel war klar an diesem kühlen Herbstmorgen, und doch hatte Mythor das Gefühl, als würden sich düstere Wolken über der Stadt zusammenbrauen. Der dunkelhaarige junge Mann machte sich keine Illusionen. Er hatte lernen müssen, dem ersten Eindruck nicht zu trauen. Die Kurnis trieb in den Nebel vor der Küste hinein. Mythor drehte sich zu Kalathee, Nottr und Sadagar um. Sie machten sich schon bereit, an Land zu gehen. Kalathee fing Mythors Blick auf und versuchte zu lächeln. Es war, als wolle sie zeigen, daß sie keine Angst vor dem hatte, was das unbekannte Land für sie bereithalten mochte. Sadagar schien es besonders eilig zu haben, die Kurnis zu verlassen. Er hatte genug vom Meer und den in ihm lauernden
Gefahren. Er schien zu hoffen, auf der Insel endlich Sicherheit zu finden. Mythor konnte diese Zuversicht nicht teilen. Er wurde immer unruhiger, je näher sie der Küste kamen, und als das Boot aus dem Nebel heraustrieb, wußte er, daß ihn seine Ahnung nicht getäuscht hatte. Vor ihnen lag der Hafen mit einer schier unübersehbaren Zahl von Schiffen und Fischerbooten. Und eines hatten die Schiffe und Boote mit den Hafenanlagen und den Häusern an der Küstenstraße gemeinsam: Sie waren verlassen. Keine Menschenseele war zu sehen, keine streunenden Hunde, nichts Lebendes. Mythor wußte mit einemmal, was ihn die ganzen letzten Stunden über gestört hatte. Es gab keine Vögel, deren Schreie einem jeden Seefahrer die Nähe des Landes ankündigten, die in Schwärmen über die einlaufenden Schiffe herfielen, um ein Stück Nahrung zu ergattern. Es gab kein Leben im Hafen. »Wie ausgestorben«, knurrte Nottr, der jetzt direkt hinter Mythor stand, mit heiserer Stimme. »Die ganze Stadt.« Lockwergen war vergleichsweise riesig. Es war von See aus kaum zu überblicken. Dennoch nickte Mythor. Wieder versuchte er vergeblich, entlang der Küstenstraße, soweit sie von der Kurnis aus einzusehen war, eine Spur von Leben zu entdecken. Alles machte einen außerordentlich sauberen und gepflegten Eindruck, gerade so, als hätten die Bewohner von Lockwergen ihre Stadt für ein besonderes Ereignis herausgeputzt. Mythor fröstelte. Kalathee drängte sich zwischen ihn und Nottr, in dessen Augen es kurz aufblitzte, als die schöne, zierliche junge Frau ihre Hände um Mythors Arm schlang und sich wie schutzsuchend an ihn schmiegte. Steinmann Sadagar sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Jetzt spürten sie es alle. Lockwergen, wo sie sich sichere Un-
terkunft, eine kräftige Mahlzeit und neue Ausrüstung erhofft hatten, war verlassen. Eine Geisterstadt. »Vielleicht haben sie sich ins Zentrum zurückgezogen«, kam es von Sadagar. »Vielleicht feiern sie etwas.« Mythor schüttelte stumm den Kopf. Sadagar versuchte, sich etwas einzureden. Irgendein Laut, das Gebell von Hunden oder das Kreischen von Möwen hätte zu hören sein müssen. Und niemand ließ sein Schiff ganz ohne Bewachung zurück. Nottr legte die Hände an den Mund und brüllte: »Heda! Ist da jemand? Kommt heraus aus euren Löchern!« Keine Antwort. Kalathee umklammerte Mythors Arm noch fester. Ihre Augen suchten seinen Blick. Ihre Hände waren eiskalt. »Wir können an einer anderen Stelle der Küste anlegen«, flüsterte sie. »Laß uns umkehren und einen anderen Ankerplatz suchen, Mythor.« Und das, was sich hier ereignet hatte, ignorieren? Die Bedrohung, die Mythor nun so deutlich spürte, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um sie zu greifen? Sein Gesicht verfinsterte sich. Er blickte Nottr von der Seite her an und sah grimmige Entschlossenheit im Blick des Lorvaners. Mythors Hand umklammerte den Griff des Gläsernen Schwertes. »Wir werden an Land gehen, Kalathee«, sagte er. »Hier. Ich will wissen, was aus den Bewohnern der Stadt geworden ist, und ich will keinen Gegner im Rücken haben, den ich nicht kenne.« Die Frau schwieg. Mythor löste sich behutsam von ihr, verließ den Bug und griff in das Ruder. An verlassenen Schiffen und Booten vorbei glitt die Kurnis in den Hafen. Und jeder der Gefährten schien zu spüren, daß das, was über Lockwergen und seine Bewohner gekommen war, schrecklicher war als alle Magie aus der Dunkelzone, die sie auf ihrem Weg hierher kennengelernt hatten. Der klare Himmel lag wie ein schillerndes Leichentuch über
der Stadt, als die Kurnis anlegte. * Nur zögernd verließen die vier das Schiff. Die Beklommenheit, die sich ihrer bemächtigt hatte, schien ihre Schritte zu lähmen. Irgend etwas in Mythor schien zu sagen: »Nicht weitergehen! Kehrt um, bevor es zu spät ist!«
Das Gläserne Schwert Alton funkelte in Mythors Hand. Kalathee und Sadagar waren dicht hinter ihm. Nottr bildete den Abschluß. Sie gingen den Pier entlang, blickten immer wieder hinüber zu den verlassenen Schiffen, die aus allen Teilen der Welt stammen mußten. Die meisten waren Handelsschiffe, möglicherweise noch mit wertvoller Fracht an Bord. Niemand war da, um sie zu löschen oder Tauschgüter zu bringen. Immer stärker wurde der Eindruck, als habe sich eine unsichtbare Glocke entsetzlicher Stille über Lockwergen gestülpt und jede Regung des Lebens unter sich erstickt. Aber die vielen tausend Bewohner der Stadt, die hier einst arbeiteten und lebten, konnten doch nicht einfach von einem Augenblick zum andern verschwunden sein – und doch sah es genauso aus, und dieser Eindruck verstärkte sich nun, als Mythor durch die Gassen des Hafenviertels schritt, durch offene Fenster und Türen in leere Räume spähte und verschlossene Türen mit Alton aufbrach. Es wirkte, als sei alles Lebendige gerade in diesem Augenblick verschwunden. Es gab keine Anzeichen von Flucht, Panik oder einer Katastrophe. Alles – bis auf das Fehlen von Leben und die unheimliche Stille – wirkte völlig normal. Kalathee beherrschte sich tapfer. Sie ging an Mythors Seite, und sie würde mit ihm durch alle Höllen gehen, nur um bei dem Mann zu sein, in den sie unsterblich verliebt war. Sadagar redete leise vor sich hin, wohl um wenigstens den Klang sei-
ner eigenen Stimme neben den Schritten der Gefährten hören zu können. Was war über Lockwergen gekommen? Das wenige, was Mythor bis jetzt von der Stadt gesehen hatte, reichte aus, um sich eine Vorstellung zu machen, daß sie einst Sitz und Ausgangspunkt von Handel, Wandel und Zufriedenheit gewesen war. Die Menschen, die hier gelebt und gelacht, gefeiert und getrunken hatten, mußten glücklich und ohne Sorgen gewesen sein. Eine solche Stadt entwickelte sich in Zeiten des Friedens. Es gab keine Berge von Unrat, keine beschmutzten Hauswände. Jedes einzelne Haus mußte der Stolz seines Besitzers gewesen sein. Eine solche Stadt verließ man nicht freiwillig. Die Gefährten erreichten einen großen Park hinter dem Hafenviertel. Blühende Bäume und Blumen, wie die vier sie noch niemals gesehen hatten. Bänke um einen Springbrunnen gruppiert. Auf der anderen Seite gab es Geschäfts- und Wirtshäuser. Im Westen ragten die Türme eines Palastes in den klaren Himmel. Mythor deutete mit dem Schwert auf eines der Wirtshäuser. »Wir werden jeden Winkel der Stadt durchsuchen, bis wir etwas gefunden haben, und wir beginnen dort.« Nottr nickte grimmig. Sadagar, der offensichtlich gehofft hatte, daß Mythor seinen Entschluß doch noch ändern und die Rückkehr zum Hafen befehlen werde, wollte protestieren, doch sah er ein, daß er damit nichts erreichen würde. Kalathee würde bei Mythor bleiben und Nottr ebenfalls. Die Gefährten hatten den Springbrunnen im Zentrum des Parks noch nicht erreicht, als sie das Geräusch hörten. Mythor erstarrte mitten in der Bewegung. »Was war das?« fragte Kalathee flüsternd. »Es…« »Still!« Mythor sah sie nicht an. Sein Blick war starr in die Richtung gerichtet, aus der der Laut gekommen war. Aber die anderen hatten es auch gehört. Lebte doch noch et-
was in dieser Geisterstadt? Da war es wieder. Ein leises, ersticktes Weinen in der absoluten Stille. Es kam von einer Häusergruppe zur Rechten. »Aber das ist… ein Kind!« entfuhr es Sadagar. Und Kinder waren es bestimmt nicht gewesen, die Lockwergen entvölkert hatten. Der Verdacht, der sich Mythor aufgedrängt hatte, schien also unbegründet gewesen zu sein. »Kommt!« rief er den anderen zu. Nottr war bereits auf dem Weg zu den Häusern. Das Weinen verstummte. Erst als die Gefährten auf einer breiten Straße zwischen dem Park und den Gebäuden standen, hörten sie es wieder, diesmal ganz nah. Es kam aus einem rot angestrichenen Backsteinhaus, dessen Tür offenstand. Mythor drang ohne Zögern in das Haus ein und durchsuchte die Räume des Erdgeschosses. Wieder war das Weinen verstummt. Nottr fand eine Tür, die in einen Hinterhof führte. Nach einer Minute kam er zurück und schüttelte den Kopf. »Nichts. Wir müssen nach oben.« Eine Holztreppe mit verziertem, metallenem Geländer führte zu den oberen Stockwerken hinauf. An den Wänden hingen gerahmte Bilder, die Landschaften und Menschen bei der Arbeit zeigten, in erster Linie Fischer. Menschen, die lachten. Gemeinsam durchsuchten die Reisenden Raum für Raum, und immer wieder fanden sie sich achselzuckend auf den Fluren zusammen, bis nur noch ein Stockwerk übrigblieb. Kalathee fand das Kind in einer Ecke eines kleinen Zimmers kauernd. Sie rief nach den anderen. Als Mythor erschien, zitterte Kalathee am ganzen Körper. »Die Augen«, brachte sie kaum hörbar hervor. »Sieh dir ihre Augen an, Mythor. Sie… sind nicht von dieser Welt.« Das Mädchen war schätzungsweise sieben Jahre alt und unglaublich mager. In ihren schmutzigen Kleidern hatte sie gar keine Ähnlichkeit mit den Bewohnern von Lockwergen, wie
sie auf den Bildern dargestellt waren: kräftige Männer und wunderschöne Frauen in kostbaren Gewändern. Doch das interessierte Mythor im Moment nicht. Hier hatten sie jemanden gefunden, der die Katastrophe – oder was immer über Lockwergen hereingebrochen war – überstanden hatte. Jemand, der Antwort auf die vielen quälenden Fragen geben konnte. Mythor kniete vor dem Kind nieder und legte ihm behutsam die Hände auf die Schultern. Er brachte ein Lächeln zustande. Das Mädchen nahm ihn nicht einmal wahr. Sein Blick war ins Leere gerichtet, und es schien Dinge zu sehen, die Mythor und seinen Begleitern verborgen blieben. Wieder weinte das Mädchen. Dann schien es so, als wolle es nach jemandem rufen. Die Lippen wollten Worte formen, doch heraus kam nur unverständliches Gestammel. Es war nicht an Mythor gerichtet. Mythor beobachtete das Gesicht des Kindes schweigend, und es überlief ihn eiskalt, wenn er in die großen Kinderaugen sah, die ein Ziel jenseits des Greifbaren erfaßt zu haben schienen. Es war, als wolle das Mädchen mit jemandem reden, der in diesem Raum war und der nicht Mythor, Kalathee, Sadagar oder Nottr hieß. Alle Versuche Mythors, das Mädchen durch Rütteln an den Schultern oder durch eindringliche Worte in die Realität zurückzuholen, scheiterten. Sie sah ihn nicht, hörte und spürte ihn nicht. Allmählich erstarb das Schluchzen ganz. Das Kind kauerte sich noch fester zusammengekrümmt in seine Ecke, die Augen unverändert in die Ferne gerichtet. Nicht von dieser Welt…
Erschüttert richtete Mythor sich auf. »Wir suchen weiter!« entschied er. Steinmann Sadagar schüttelte heftig den Kopf. »Laß uns umkehren, bevor es zu spät dazu ist, Mythor. Was immer
Lockwergen heimgesucht hat, ist schlimmer als der Tod! Und es wird auch uns ereilen, falls wir…« »Möchtest du es im Rücken haben?« unterbrach Mythor den Steinmann barsch. »Möchtest du, daß es jederzeit wieder geschehen kann, ganz egal, wo wir uns gerade befinden?« »Glaubst du denn, die verschwundenen Menschen zurückbringen zu können, indem wir hier unser Leben aufs Spiel setzen? Glaubst du, du kannst sie retten?« Mythor sah finster aus dem einzigen Fenster des Zimmers, hinab auf den Park, auf leere Straßen und Häuser. Im Westen war von hier aus ein Teil des Palastes zu erkennen, dessen Türme er schon gesehen hatte. »Sie nicht, Steinmann. Aber vielleicht andere. Vielleicht uns.« Mythor dachte an die Caer und ihre Priester. Im Hafen hatten keine Caer-Schiffe gelegen, es sei denn, ihre Besatzungen hätten sie gut versteckt. Doch auf dieser Insel lag das Machtzentrum der Caer. Alles, was Mythor bisher von Lockwergen gesehen hatte, sprach dagegen, daß die Stadt in der Vergangenheit Kontakt mit den finsteren Mächten aus der Dunkelzone gehabt hatte. Doch jetzt fragte sich Mythor, ob es überhaupt noch einen Ort auf der Welt gebe, der vor diesen unheimlichen Mächten der Finsternis und ihren Werkzeugen sicher sein konnte. * Während Mythor, Kalathee, Nottr und Sadagar sich daranmachten, möglichst viele Gebäude Lockwergens zu durchsuchen, näherte sich der Stadt von Süden her auf dem Landweg eine wilde, zusammengewürfelte Horde, eine Spur aus Tod und Verwüstung nach sich ziehend. Woher sie kam, brannten ganze Dörfer und lagen einsame Gehöfte in Trümmern. Sie bestand aus Männern und Frauen übelster Sorte, Banditen und
Plünderern, Räubern und Mördern, die vielen verschiedenen Völkern entstammten. An ihren Waffen klebte das Blut jener, die nicht frühzeitig genug davor gewarnt worden waren, daß der Einäugige Goltan mit seinen Peitschenbrüdern wieder auf Raubzug war. An der Spitze der Horde marschierte ein Gigant, dessen Körper allein aus Muskelpaketen und Fettmassen zu bestehen schien. Er hatte nur ein Auge. Wo das andere sitzen sollte, klaffte eine häßliche, leere Höhle. Er war bekleidet mit dem Fell eines grauen Bären, das seine Brust zur Hälfte bedeckte und bis zu den Knien reichte. Es wurde von einem handbreiten Ledergürtel gehalten. Der Kopf des Giganten war kahlgeschoren. Schweiß glänzte im Licht der Sonne. Dieser Mann war Goltan – Goltan, der Einäugige, Goltan mit der Peitsche. Jedes der fünfzig Mitglieder seiner Bande trug eine Peitsche, doch sie alle waren nur erbärmliche Nachbildungen der Waffe in Goltans Hand. Es ging das Gerücht, daß Goltans Peitsche einstmals ein magisches Werkzeug des Lichtes gewesen sei, das in den Händen des Riesen unter dessen schrecklichem Einfluß zu einem grausamen Werkzeug geworden war. Hatten ihr einmal positive magische Kräfte innegewohnt, so hatten sich diese in ihr Gegenteil verkehrt. Der Griff der Peitsche bestand aus hartem Metall und war glatt und wie poliert von Goltans schwieligen Händen. Aus diesem Griff heraus sproß ein zehn Schritt langer, fingerdicker Faden, völlig farblos, aber unzerreißbar und auch mit einem Schwert nicht zu durchtrennen. Dazu war er in der Lage, Schwertklingen und Schilde zu durchschlagen. Es gab nichts, was dieser Peitsche widerstehen konnte, wenn sie in Goltans Hand lebendig wurde. Mit ihr war Goltan unbezwingbar und gefürchtet im ganzen nördlichen Yortomen. Nur mit vorgehaltener Hand sprach man von ihm und den Peitschenbrüdern.
Und Goltans zweifelhafter Ruhm war es gewesen, der die fünfzig, die nun mit ihm zogen, dazu bewogen hatte, sich ihm anzuschließen. Es gab kein Dorf, das vor ihnen sicher war. Selbst mit einer kleineren Stadt nahmen sie es auf. Nur nach Lockwergen hatten sie sich noch nicht gewagt, denn die Stadtwachen und die Krieger des Königs Nadar waren selbst für sie zu stark. Nun aber hatten sie erfahren, daß Lockwergen verlassen sein sollte. Das Gerücht ging um, die Caer hätten dort leine so schreckliche Waffe eingesetzt, daß sie mitsamt den 1 Bewohnern der Hauptstadt Yortomens von ihr vernichtet worden seien. Drudin selbst habe daraufhin den weiteren Umgang mit dieser magischen Waffe untersagt. Auf einer Anhöhe ließ Goltan die Peitschenbrüder halten. Lockwergen war noch weit, die Turme der Stadtmauern waren noch nicht am Horizont zu sehen. Es war Vormittag, und beim letzten Nachtlager waren die letzten Vorräte der Bande aufgebraucht worden. Den Banditen knurrte der Magen. Goltan erspähte einen einsam gelegenen Bauernhof in einem Tal. »Wir versorgen uns dort unten!« rief er mit dröhnender Stimme. »Wir machen eine Rast von ein paar Stunden!« Einige Männer und Frauen hinter ihm murmelten ihre Zustimmung. Zusätzliche Beute auf dem Weg zur Hauptstadt war ihnen nur willkommen. Andere schüttelten finster die Köpfe. Ein Mann von etwa vierzig Jahren und mit einem von Narben entstellten Gesicht boxte sich zu Goltan durch und knurrte: »Wozu brauchen wir eine Rast? Wir können Lockwergen in ein paar Stunden erreichen. Mir wäre es lieber, wenn wir im Hellen ankämen.« Goltan entgegnete nichts. Für ihn antwortete eine noch junge Frau, deren rotes Haar in fettigen Strähnen über ihre Augen und weit über die Schultern fiel. Ihre Kleidung bestand aus bunten, zusammengenähten Fetzen, die gerade ihre Blößen
bedeckten, und kniehohen Schaftstiefeln. Früher mochte sie einmal sehr schön gewesen sein. Goldene Reifen zierten ihre Handgelenke. An den Fingern trug sie wulstige Ringe. Seit dem Aufbruch der Peitschenbrüder von ihrem Unterschlupf in den Bergen des Nordens war sie nicht von Goltans Seite gewichen. »Du hast gehört, was Goltan sagte, Jesserk. Haben dir die Schauergeschichten über Lockwergen den Mut geraubt?« Sie lachte schallend, als der Mann beim Klang ihrer Stimme zusammenzuckte. »Seht ihn euch an, Brüder!« rief sie. »Wir haben einen Feigling unter uns, der sich vor der Dunkelheit fürchtet!« Sie spuckte ihm vor die Füße. Jesserk fuhr herum. In seinen Augen blitzte es zornig auf. »Hexe!« schrie er. »Verfluchte Hexe! Eines Tages werde ich dir…« »Was wirst du, eh?« In der Hand der Rothaarigen blitzte ein Messer. So schnell, daß niemand die Bewegung richtig wahrnahm, war es an Jesserks Kehle. »Sag es! Was wirst du tun?« »Das reicht!« Goltan riß den Mann von ihr fort. »Er hat mich eine Hexe genannt!« schrie sie. »Ich werde ihm die Zunge aus dem Hals schneiden. Gib ihn mir, Goltan!« »Schweig, Sar!« Goltans Stimme war wie ferner Donner. Noch zuckte kein Muskel in seinem Gesicht, als er sich zu Jesserk umdrehte. »Du hältst meine Entscheidung für falsch? Du bist feige geworden?« »Die Hexe hat das gesagt! Ich…« Die Rothaarige stieß einen schrillen Schrei aus und wollte sich erneut auf Jesserk stürzen. Goltan packte sie am Schopf und stieß sie zurück. Sar landete auf dem Rücken. »Zehn Schritte, Jesserk«, sagte Goltan, immer noch ruhig. Die Augen des Mannes weiteten sich. »Du willst…? Nein, Goltan! Du hast recht! Wir brauchen eine Rast! Lockwergen
läuft uns nicht davon. Wir…« »Zehn Schritte!« Jesserk warf sich vor dem Hünen auf die Knie und umklammerte dessen Beine. Goltan winkte zwei Männer heran. »Packt ihn. Zehn Schritte!« Sie rissen Jesserk von ihm los und zerrten ihn mit sich, zehn Schritte vom Einäugigen fort. Dann ließen sie ihn liegen und sahen zu, daß sie sich schnellstens in Sicherheit brachten. Goltan hob die Hand mit der Peitsche, die noch aufgewickelt war. »Nein!« schrie Jesserk. Er sprang auf die Beine, streckte abwehrend die Hände aus. Goltans Arm fuhr in die Höhe und zuckte kaum merklich nach vorn. Sirrend schoß die Peitschenschnur durch die Luft und fand ihr Ziel. Ungläubig starrte Jesserk auf seine linke Hand, an der jetzt ein Finger fehlte. »Gehen wir!« rief der Einäugige, ohne sich weiter um den Unglücklichen zu kümmern. Sar war neben ihm, als er an der Spitze der Peitschenbrüder den Hügel hinabging. Eine Frau blieb zurück und kümmerte sich um Jesserks Hand. »Diese Hexe!« heulte Jesserk. »Ich werde Goltans verdammte Hure töten, noch bevor wir in Lockwergen sind!« »Sei still, du Narr! Vergiß Sar und denk an die Beute, die wir in der Geisterstadt machen können.« »Das kann ich nicht.« Jesserk preßte die Lippen aufeinander und wartete, bis die Frau die Blutung zum Stillstand gebracht hatte. »Ihr habt doch auch Angst vor dem, was in Lockwergen auf uns…« Sie drehte sich um und ging den anderen nach. Noch einmal blieb sie stehen und drehte sich zu Jesserk um. »Sar hat recht!« sagte sie verächtlich. »Du bist ein Feigling, Jesserk.« Jesserk knurrte etwas Unverständliches in seinen spärlichen Bart und folgte ihr in einiger Entfernung, um sich erst im Tal
wieder den Peitschenbrüdern anzuschließen. Und sie haben doch Angst! dachte er. Jesserk war kein Feigling. Er hätte es mit jedem Kämpfer aus Fleisch und Blut aufgenommen. Aber bei dem Gedanken an das, was die Gaer mit Lockwergen gemacht hatten, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. * Nach Goltans Anweisungen umzingelten die Banditen den Bauernhof, der aus einem Wohnhaus und mehreren großen Ställen bestand. Von der Sippe des Bauern war nichts zu sehen. In den Ställen schrien Tiere. Goltan stand auf einer kleinen Anhöhe und dirigierte die Peitschenbrüder mit seinen mächtigen Armen. Vermutlich war der Hof verlassen. Seine Bewohner mochten die Feuer in der Ferne gesehen oder von Reitern, die den Peitschenbrüdern entkommen waren, vom Raubzug der berüchtigten Bande gehört haben. Goltan konnte es recht sein. Auf sein Zeichen hin begannen rund um das Gehöft herum die Peitschen zu knallen, einfache Nachbildungen von Goltans Peitsche, aus Holz und Lederriemen. Doch auch sie waren tödliche Waffen in den Händen der Plünderer. Wer am besten mit ihnen umgehen konnte, nahm in der Hierarchie der Bande einen Platz gleich hinter Goltan ein. Der Kampf mit der Peitsche war zu einem Kult geworden. Zwar waren die Bandenmitglieder auch mit Messern, Dolchen und Speeren bis an die Zähne bewaffnet, doch davon machten sie erst dann Gebrauch, wenn sie ihre Peitschen im Kampf verloren oder auf Gegner trafen, gegen die sie mit ihnen nichts ausrichten konnten. Das kam jedoch selten vor. Wie bei einer Treibjagd zog sich der Ring der Peitschenbrüder um den Hof zusammen. Kein Mensch erschien, um ihnen
Widerstand zu leisten. Unter dem Knallen der Peitschen drangen sie in das Wohngebäude und die Ställe ein. Die Bauern waren geflohen. Alle Ponys, die bevorzugten Reittiere in Yortomen, hatten sie mitgenommen. Kühe mit prallen Eutern brüllten vor Schmerzen. Sie waren tagelang nicht gemolken worden. Die Peitschenbrüder verschafften ihnen Erleichterung und stillten ihren Durst. Goltans Peitsche trennte einem Ochsen den Kopf ab. Kurz darauf brannten zwei Feuer zwischen den Ställen, über denen das Fleisch gebraten wurde. Sar drang mit einem halben Dutzend Männern ins Wohngebäude ein. Kein Stein blieb auf dem andern, bis sie alles gefunden hatten, was die Bauern an wertvollen Dingen zurückgelassen hatten. Es war nicht der Rede wert. Goltan verteilte das Geschmeide an die Frauen, wobei Sar wie immer den größten Anteil bekam, und die Waffen an die Männer. Sie rasteten drei Stunden, schlugen sich die Bäuche voll und versorgten sich mit Proviant. Ein Faß von selbstgekeltertem Wein sorgte dafür, daß die Bande in der richtigen Stimmung war, um den Weg nach Lockwergen fortzusetzen. Bevor sie aufbrachen, steckten sie die Ställe in Brand und trieben das Vieh hinaus. Ohne Zwischenfall erreichten sie in den frühen Abend stunden die Hauptstadt an der Küste. Und tatsächlich war es so, wie die Leute in den Dörfern um Thormain herum, ganz nahe an der Elvenbrücke, gesagt hatten. Lockwergen war verlassen. Die Peitschenbrüder sahen eine Geisterstadt vor sich, in der es keine lebende Seele mehr zu geben schien. Goltan triumphierte. »Vorwärts, Brüder und Schwestern!« brüllte er. »Die Stadt gehört jetzt uns! Wir werden Beute machen wie noch nie und uns für alle Zeiten gesundstoßen! Zuerst die Stadt, dann plündern wir den Palast!« Die Aussicht auf die Schätze, die in Lockwergen auf sie war-
teten, ließ die ohnehin berauschten Peitschenbrüder alle Gerüchte um die unheimliche Waffe der Caer vergessen. Mit Goltan an der Spitze drangen sie grölend und mit den Peitschen knallend in die Außenbezirke ein. Selbst Jesserk vergaß seine Furcht und sein Vorhaben, Sar zu töten. Das hatte Zeit. Er wollte nicht zu kurz kommen. * Am späten Nachmittag hatten Mythor, Kalathee, Nottr und Sadagar eine Handvoll verschieden alte Menschen entdeckt, Männer und Frauen, die sich ebenso wie das Mädchen in die hintersten Winkel ihrer Häuser zurückgezogen hatten und dort auf irgend etwas zu warten schienen. Sie antworteten nicht auf Fragen, saßen nur da und starrten ins Leere. Mythor wußte nicht, ob sie nicht reden und ihn und die Freunde nicht sehen konnten oder wollten. Jeder von ihnen schien in einer anderen Welt zu leben. Alle hatten den gleichen starren Blick und bewegten hin und wieder die Lippen, als ob sie mit jemandem redeten, der sich, nur für sie sichtbar, in jenseitigen Räumen befand. Vielleicht können sie ihre Angehörigen sehen, dachte Mythor. Nicht wirklich mit den Augen, sondern auf andere, unbegreifliche und erschreckende Weise. Wieder, immer wieder stellte er sich die Frage, was in dieser Stadt geschehen sei. Inzwischen hatten sich die Gefährten einen genaueren Eindruck von Lockwergen verschaffen können. Sie hatten ihr Quartier in einem verlassenen Gasthaus am großen freien Marktplatz, dem Zentrum der Stadt, bezogen. Hier trafen sie sich, wenn sie von ihren Ausflügen zurückkehrten, da es ihnen erfolgversprechender erschien, getrennt weiterzusuchen. Sie bezweifelten allerdings, daß sie noch etwas anderes finden würden als apathisch dasitzende Menschen, die die Katastro-
phe überlebt hatten. Mythor, der im Gasthaus auf die Rückkehr der drei anderen wartete, schüttelte den Kopf. Von einem Überleben konnte man kaum sprechen. Es gab keine Leichen in Lockwergen. Mythor schätzte, daß hier zehn-, vielleicht zwanzigtausend Bürger gelebt hatten – und das nicht schlecht. Lockwergen war eine Stadt des Wohlstands gewesen. Die Männer und Frauen, die die Freunde gefunden hatten, waren noch prächtiger gekleidet als die Menschen auf den Bildern, die in jedem Raum hingen. Eine Stadt des blühenden Handels und der Künste. Eine Herausforderung an die dunklen Mächte, dachte Mythor grimmig. Aber was hatten sie davon, alle Bewohner verschwinden zu lassen? Befand sich eine Caer-Armee in diesen Augenblicken auf dem Weg hierher, um eine Stadt einzunehmen, die ihnen keinen Widerstand mehr leisten konnte? Inzwischen hatte die über der Stadt lastende Stille für Mythor einen Teil ihres Schreckens verloren, doch der dunkelhaarige junge Mann hütete sich davor, unvorsichtig zu werden. Mit der Zeit konnte man sich auch an die unheimlichste Umgebung gewöhnen, und diese Gewöhnung konnte tödlich sein. Die Gefährten mußten ebenso empfinden, wenn selbst Steinmann Sadagar sich allein in die Gassen der Stadt wagte. Und Sadagar war es auch, der nach Mythor als erster von der Suche zurückkehrte. Er war erstaunt, Kalathee und Nottr noch nicht vorzufinden. »Ich habe sie nirgendwo gesehen«, antwortete er auf eine entsprechende Frage Mythors. Mythor sah durch die offene Tür auf den Marktplatz hinaus. Es begann schon leicht zu dämmern. Er wollte, daß sie alle vier zusammen waren, wenn die Dunkelheit hereinbrach, denn sollte das Verschwinden der Stadtbewohner nur ein Vorspiel zu etwas anderem, noch Schrecklicherem gewesen sein,
dann schlug das Unbekannte vielleicht im Dunkeln zu. Wieder waren es Gefühle, die Mythors Denken bestimmten, doch er hatte gelernt, Gefühlen und Vorahnungen den richtigen Stellenwert zuzuordnen. Er konnte sich nicht erklären, warum es ihn so beunruhigte, daß ausgerechnet Kalathee und Nottr jetzt noch als letzte dort draußen waren. Es war, als ob es einen blinden Fleck in seinem Denken gebe. Mythor machte sich manchmal Vorwürfe, daß er Kalathee nicht das geben konnte, was sie sich so sehnlich erhoffte. Er erwiderte ihre Liebe nicht. Sein Herz gehörte einer anderen, jener Unbekannten, deren Bild sein kostbarster Schatz war und der er sich mit Leib und Seele verschrieben hatte. Er wischte diese Gedanken beiseite und schenkte sich von dem reichlich vorhandenen Wein ein. »Wir warten, bis die Sonne untergeht«, sagte er. »Dann suchen wir nach ihnen.« Mythor bedauerte jetzt, keinen der apathischen Yortomer mit in ihr Quartier genommen zu haben. Sollten sich seine schlimmen Befürchtungen bewahrheiten, so hätten die Apathischen ihn und die Gefährten vielleicht auf die eine oder andere Weise warnen können. Von irgendwoher kam ein langgezogener Schrei. Sadagar zuckte zusammen und hatte die Hände an seinen Messern. »Einer von ihnen«, sagte Mythor. Sie hatten diese Schreie schon mehrmals gehört. Sie hatten sie zu den Apathischen geführt. Doch jetzt ertappte sich Mythor dabei, wie er selbst leicht zusammenfuhr. Das Gläserne Schwert lag griffbereit vor ihm auf dem Tisch. Draußen wurden die Schatten länger. Der Schrei verstummte. Die Stadt war wieder still. * Kalathee schrak zusammen, als sie die Schritte hörte. Sie be-
fand sich im oberen Stockwerk eines stolzen Bürgerhauses, in einer Kammer am Ende eines langen Korridors. Sie wußte, daß sie längst zum Quartier zurückgekehrt sein sollte, doch vor ihr auf dem Boden kauerte eine junge Frau wie sie, in samtene Gewänder gehüllt, die sie sich zerrissen hatte. Es war nicht nur das Gefühl, hier jemanden gefunden zu haben, der einmal genauso gewesen sein könnte wie sie, mit den gleichen Ängsten, Hoffnungen und Sehnsüchten. Einige Male hatte Kalathee den Eindruck gehabt, daß das Mädchen sich aus dem Bann dessen, was es in dieser nur erahnbaren anderen Welt gefangenhielt, für kurze Augenblicke befreien und sie wahrnehmen konnte. Sie hatte sie angeblickt, in ihre Augen gesehen und nicht durch sie hindurch. Die Schritte kamen von unten. Wer immer das Haus betreten hatte, kam jetzt langsam die Treppen herauf. Die schweren Schritte eines Mannes. Mythor? Nottr? Für Sadagar klangen die Schritte zu schwer. Aber die Gefährten hatten abgemacht, daß jeder von ihnen ein anderes Viertel durchsuchen sollte. Suchten sie nach ihr, weil es schon zu dämmern begann? Kalathee spürte, wie ihre Hände und Füße eiskalt wurden. Ihr Herz schien sich zusammenziehen zu wollen. Schweiß brach aus ihren Poren. Es konnte jemand anders sein, ein Fremder… Die Schritte hallten nun auf dem Korridor des nächstunteren Stockwerks. Dann kamen sie von der Treppe, die heraufführte. Langsam und schwer. Kalathee riß den kleinen Dolch aus der Schnur, die ihr blaues, enges Kleid hielt. Die Waffe hatte sie dem Mädchen vor ihr aus der Hand genommen in der Befürchtung, es könne sich damit umbringen wollen. Jetzt umklammerte sie den Griff des Dolches und drückte sich an der Korridorwand vorbei, bis sie hinter dem Treppenaufgang war. Mit angehaltenem Atem
stand sie dicht an die Wand gepreßt, bis sie endlich sah, wer der Unbekannte war. Zuerst tauchte der Hinterkopf auf, mit dem langen Zopf, der über den mit dickem schwarzem Bärenfell bewachsenen Rücken bis zu den Hüften reichte. »Nottr!« entfuhr es Kalathee in einem erstickten Ausruf der Erleichterung. Der Lorvaner befand sich auf den letzten Stufen der Treppe. Er fuhr herum, die eigene Waffe zum Schlag erhoben. Einen Augenblick starrten sich beide an – die zierliche, ätherisch schöne junge Frau und der narbengesichtige Barbar aus den Wildländern. Kalathee faßte sich als erste wieder. Sie ließ die Hand mit dem Dolch sinken und sagte vorwurfsvoll: »Du hast mich erschreckt, Nottr! Wieso bist du hier? Du solltest bei den anderen sein.« »Wieso bist du hier, schöne Kalathee?« stellte Nottr die Gegenfrage. »Ich habe nach dir gesucht. Ich machte mir Sorgen. Es wird dunkel.« Kalathee nickte, ging wieder an der Treppe vorbei und führte den Lorvaner in die Kammer mit dem Mädchen. Sie deutete auf die Kauernde. »Darum bin ich noch hier. Vielleicht sollten wir sie mitnehmen. Sie scheint anders zu sein als die übrigen, die wir gefunden haben.« »Sie ist sehr schön«, sagte Nottr leise. Er betrachtete die junge Yortomerin einen Augenblick lang. Es war mittlerweile schwer, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Dann drehte er sich ganz plötzlich zu Kalathee um und legte seine Hände auf ihre Arme. »Ich habe nicht die Wahrheit gesagt, Kalathee«, gestand er. »Ich war noch nicht im Quartier und konnte nicht wissen, daß du noch nicht zurück warst. Ich habe dich lange beobachtet, und als ich dich in diesem Haus verschwinden und nicht zurückkommen sah…«
»Ja, Nottr?« fragte Kalathee, verwundert über die Art und Weise, wie der Barbar sie hielt und zu ihr sprach. »Es…« Nottr schloß die Augen und holte tief Luft. »Es ist so schwer, Kalathee!« Er drehte sich zu der Apathischen um, ohne sie loszulassen, und flüsterte: »Sie ist sehr schön, Kalathee, aber lange nicht so schön wie du. Spürst du es denn nicht? Kannst du es nicht fühlen, daß ich…« Wie oft hatte er sich die Worte zurechtgelegt, die er ihr sagen wollte, sobald er mit ihr allein war. Wie oft hatte er von diesem Augenblick geträumt. Jetzt stand er da wie ein Kind, das keinen zusammenhängenden Satz über die Lippen brachte. Er ließ sie los und hielt die Hände vor ihr Gesicht. »Siehst du diese Hände, Kalathee? Mit ihnen habe ich Männer erwürgt. Nun zittern sie. Die Schönheit einer Frau läßt sie zittern, Kalathee. Deine Schönheit. Diese Hände lege ich dir zu Füßen. Sie sollen nur deinem Befehl gehorchen!« »Nein, Nottr!« Die zierliche Frau sah den Lorvaner aus ihren großen dunklen Augen an und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Nein, so darfst du nicht reden!« »Aber ich muß!« brach es aus Nottr heraus. »Ich kann es nicht mehr länger ertragen, in deiner Nähe zu sein und doch so fern von dir. Warum war ich immer bei dir, wenn uns Gefahr drohte, Kalathee? Weil ich dich liebe!« Es war heraus. Bebend stand Nottr vor Kalathee, in deren Gesicht sich Unglauben und Entsetzen widerspiegelten. »Das ist nicht wahr, Nottr«, flüsterte sie. »Sag, daß es nicht wahr ist, weil es nicht sein darf!« »Warum nicht?« schrie der Barbar in tiefer Seelenqual. Aus Kalathees Blick sprach jetzt Verständnis, aber auch Ablehnung und Angst. »Weil du nur Augen für ihn hast? Weil du Mythor liebst? Aber er liebt dich nicht! Er liebt keine Frau außer der, deren Bild ich ihm gab!« Nottr steigerte sich immer mehr in eine Erregung hinein, die Kalathee angst machte und sie wei-
ter vor ihm zurückweichen ließ. »Komm mit mir, Kalathee! Wir werden eine neue Heimat finden und…« »Nein!« schrie sie schrill. »Niemals, Nottr! Ich liebe dich nicht. Ich werde niemals einen anderen als Mythor lieben!« Nottr starrte sie an, am ganzen Körper bebend. Kalathee lief es eiskalt über den Rücken. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als weit weg von diesem Ort zu sein, weit weg von dem Barbaren, der ihr eine solche Angst einjagte. In dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, war Nottr zu allem fähig. Aber er sah sie nur an, schien nicht fassen zu können, daß sie ihn abgewiesen hatte. Dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus und rannte an ihr vorbei aus der Kammer. Vor der Treppe blieb er stehen, schüttelte die Faust und brüllte: »Dann geh mit deinem Mythor ins Verderben!« Er rannte die Treppe hinunter. Kalathee rief ihm nach, er solle doch versuchen, sie zu verstehen, und zur Vernunft kommen. Sie lief zum Fenster und sah ihn in der Dämmerung aus dem Haus kommen und davonrennen, als wären tausend Dämonen hinter ihm her. Nottr verschwand in der einsetzenden Dunkelheit. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, zurück zum Quartier am Marktplatz zu kommen. * Mythor wußte, welche Häuserblocks Kalathee durchsuchen wollte. Wie er es angekündigt hatte, hatten er und Sadagar die Suche nach ihr und Nottr aufgenommen, als die Sonne unterging. Der Steinmann versuchte, den Lorvaner zu finden, während Mythor in den Straßen nach Kalathee rief. Er verstummte, als er plötzlich Laute zu hören glaubte. Er lauschte. Nichts. Seine Phantasie mußte ihm schon Streiche
spielen. Es dunkelte nun schneller. Ein paar Straßen weiter rief Sadagar nach Nottr. Nun wirkte Lockwergen noch gespenstischer. Aus keinem der Häuser kam Licht. Es gab keine Schatten, nur die dunklen Umrisse der Gebäude. Kein Geräusch außer Mythors und Sadagars Stimmen. Doch! Diesmal war Mythor sicher, daß er sich nicht täuschte. Da war etwas anderes. Es kam aus dem Süden der Stadt und klang nun wie entferntes Gejohle und wildes Grölen. Dann hörte er Knallen wie von vielen Peitschen. Irgend jemand war in die Stadt eingedrungen oder hatte sich über Tag versteckt gehalten, um nun im Dunkel der Nacht zu neuem Leben zu erwachen. Mythors Herz schlug schneller. Wieder rief er nach Kalathee, wissend, daß er sich und die Gefährten dadurch verraten und die Unbekannten anlocken konnte. »Sadagar!« brüllte er. »Komm zurück!« Was es war, das ihn die Suche abbrechen ließ, wußte er nicht. Er wußte nur, daß sie jetzt zusammenbleiben mußten, wenigstens die, die sich noch gegenseitig hören konnten. Plötzlich war eine Bewegung vor ihm. Mythor umklammerte den Griff des Schwertes fester und preßte sich in einen Hauseingang. Dann schalt er sich einen Narren. Das schwache Leuchten der Klinge mußte ihn längst dem, der ihm da entgegenkam, verraten haben. Mythor trat wieder auf die Gasse hinaus, bereit, sich dem Unbekannten zu stellen. Und wieder schalt er sich einen Dummkopf, als er sah, wer dieser »Unbekannte« war – niemand anders als Kalathee, die nun auf ihn zustürzte und sich weinend in seine Arme warf. Mythor redete beruhigend auf sie ein. Was immer sie erlebt hatte, jetzt war keine Zeit für Fragen. Das Gejohle und Knallen kam näher, und Mythor glaubte, einzelne Stimmen heraushören zu können. Aber das waren nicht die Stimmen von Caer.
Mythor hatte eher den Eindruck, als ziehe da eine wilde Horde brandschatzend und plündernd durch Lockwergens Straßen. Ein roter Schein am Himmel im Süden bestärkte ihn darin. Wer immer sie waren – sie kamen näher. »Mythor«, flüsterte Kalathee weinend. »Mythor, ich…« »Sprich jetzt nicht«, sagte Mythor schnell. Er hörte Sadagar rufen und stieß einen Fluch aus. Kalathee mit sich ziehend, lief er zum Rand des großen Marktplatzes zurück, wo der Steinmann wartete. »Keine Spur von Nottr«, berichtete Sadagar schnell, und seine Augen versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Hörst du es? Sie kommen, um uns zu holen!« »Unsinn! Kommt schnell!« Die Gefährten liefen in das Gasthaus zurück. Mythor kauerte sich hinter einem Fenster auf den Boden, so daß er gerade hinaus auf den Platz sehen konnte, und forderte Sadagar auf, es ihm gleichzutun. Kalathee kauerte neben ihm, die Arme um seine Hüften geschlungen. Mythor hielt das Gläserne Schwert gesenkt, so daß sein Leuchten sie nicht an die verraten konnte, die lärmend immer näher kamen, aus der Richtung, in der der Himmel nun zu brennen schien. Dort mußten ganze Häuserblocks in Flammen stehen. Immer noch hoffte Mythor, Nottr würde zu ihnen stoßen, bevor die Fremden den Marktplatz erreichten. Kein Gegner, der die Macht hatte, die Bevölkerung einer ganzen Stadt verschwinden zu lassen, würde einen solchen Lärm veranstalten. Plünderer. Voller Zorn dachte der junge Held daran, daß in den brennenden Häusern noch Menschen gelebt haben könnten, die unfähig waren, vor dem Feuer zu fliehen. Nottr kam nicht. Kalathee schwieg und hatte ihren Kopf nun dicht neben den Mythors gebracht, um hinaussehen zu können. Die Finsternis war mittlerweile vollkommen, und die Frem-
den kamen mit Fackeln und Peitschen. Sie quollen aus den Gassen um den Marktplatz herum, grölten und ließen die Peitschen knallen. Sie waren betrunken. Fackeln flogen in offene Fenster. Andere wurden in der Mitte des Platzes niedergelegt und erhellten die Szene. Mythor legte die Hand sanft auf Kalathees Mund, als das Mädchen schreien wollte. Leise sprach er auf sie ein, doch sie nahm ihn kaum wahr. Voller Entsetzen blickte sie auf das Bild, das sich ihren Augen bot. Sadagar hatte zwei Messer in den Händen. »Still«, flüsterte Mythor. »Sadagar, warte, bis ich dir ein Zeichen gebe.« »Es sind viele«, kam es leise vom Steinmann zurück. »Zu viele für uns, Mythor.« Mythor gab keine Antwort. Er hatte nur noch Augen für den glatzköpfigen Giganten, der die anderen Gestalten um zwei Köpfe überragte. Altons Griff war warm in Mythors Hand. Er schien mit ihr zu verschmelzen und ihm neue Kraft zu geben. Mit diesem Mann, wußte Mythor, würde er es aufzunehmen haben. Mit dem Giganten, dessen Peitsche über den Platz tanzte und in diesem Augenblick eine massive steinerne Statue in Stücke schnitt. * Schwer polterten die Trümmerstücke des Standbilds zu Boden. Goltans Peitsche trennte zuerst den Kopf, dann das Schwert, die Arme und schließlich den Rumpf ab. Die Peitschenbrüder waren verstummt. Fast ehrfürchtig blickten sie zu ihrem Anführer auf. Goltan genoß es. »Wir übernachten in Lockwergen und plündern morgen den Palast!« verkündete er dröhnend. »Ihr habt gesehen, daß es
keine Geister und Dämonen hier gibt. Ihr habt gesehen, daß es sich lohnt, Goltan zu folgen! Ein Teil von euch wird morgen Reit- und Lasttiere besorgen, die unsere Beute schleppen können. Sucht sie außerhalb der Stadt. Steckt keine Häuser mehr in Brand!« Goltan grinste dämonisch, und im Licht der am Boden liegenden Fackeln war sein Gesicht das einer Kreatur, die gerade der tiefsten Hölle entstiegen war. Lippen, Kinn und Nase warfen schwarze Schatten, und sein einziges Auge funkelte. Menschen, die Goltan so gesehen hatten, waren ohnmächtig geworden. Andere, die ihm und seiner Peitsche entkommen waren, hatten dazu beigetragen, daß jedermann in Yortomen in Goltan ein dämonisches Wesen sah. Dazu kamen die abenteuerlichen Geschichten darüber, wie die magische Peitsche in die Hände des Einäugigen gefallen war. Alte Leute wollten wissen, daß sie einstmals zu dem gehört hatte, was der Lichtbote auf der Welt zurückließ. »Erfüllst du mir einen Wunsch, Goltan?« fragte Sar. »Jeden Wunsch, du kleines Luder. Heute ist Goltan großzügig!« »Dann gib mir Jesserk, den Hund, der mich eine Hexe nannte!« Goltans Gesicht verfinsterte sich. Er starrte in die Flammen, die nun hoch aus den brennenden Häusern schlugen. Es wurde heiß, und der Schein des Feuers machte die Nacht zum Tag. »Jesserk hat seine Strafe erhalten«, knurrte Goltan. »Du läßt die Hände von ihm.« »Aber er hat…!« »Du hast gehört, was ich dir sagte! Jesserk gehört zu uns! Wir bringen unsere Brüder nicht um!« »Aber du hast gesagt, ich könnte…« »Schweig!« Goltan stieß Sar von sich. Irgend etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Drei Peitschenbrüder hatten den
Marktplatz überquert, um in den Häusern auf der anderen Seite nach geeigneten Quartieren für die Nacht zu suchen. Jetzt standen sie vor einem großen Gasthof und wichen vor etwas zurück, was Goltan noch nicht sehen konnte. Sie stießen erschreckte Schreie aus. »Geht zur Seite, ihr Narren!« brüllte der Einäugige. Er sah zuerst nur ein schwaches Leuchten, das von einem Stab oder etwas Ähnlichem auszugehen schien. Dann, als sein Auge sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah er die Gestalt eines Mannes im Eingang des Gasthofs. Das Leuchten kam von einem Schwert in seiner Hand. Der Mann trat aus dem Gasthof, das Schwert noch gesenkt. »Packt ihn euch!« schrie Goltan seinen Männern zu. »Worauf wartet ihr? Bringt ihn her! Ich will sehen, wer außer uns noch etwas in der Geisterstadt zu suchen hat!« Die Gestalt mit dem Schwert trat langsam vor. »Auf ihn, Storkh!« brüllte Goltan. Der mit dem Namen Storkh Angerufene schwang die Peitsche, ebenso ein zweiter. Bevor die Riemen den Fremden treffen konnten, zuckte dessen Arm mit dem Schwert in die Höhe und durchschnitt die Schnüre in der Luft. Goltan hörte einen seltsamen Ton, der wie fernes Wehklagen klang. »Ich glaube, Sar«, sagte der Einäugige, »du wirst dein Geschenk doch noch bekommen.« * Mythors stille Hoffnung, die Plünderer könnten in eine andere Richtung weiterziehen, so daß er und Sadagar ihnen heimlich folgen und sie beobachten konnten, erfüllte sich nicht. Inzwischen nämlich hegte der Sohn des Kometen den Verdacht, Nottr könne in die Hände der Peitschenschwingenden gefallen und von ihnen in einem Quartier der Bande hilflos zurückge-
lassen worden sein. Was sonst hätte den Lorvaner davon abhalten können, rechtzeitig vor Anbruch der Nacht ins Gasthaus zurückzukehren? Kalathee hätte Mythor eine Antwort geben können, doch sie schwieg über den Vorfall mit Nottr. Vielleicht aus Scham, vielleicht aus Zorn. Vielleicht ganz einfach deshalb, weil sie Nottrs Nähe nicht hätte ertragen können. Sie wußte es selbst nicht. Mythors Sorge um den Barbaren schmerzte sie. Doch sie redete sich ein, daß Nottr stark und umsichtig genug sei, selbst auf sich aufzupassen – auch wenn er wie von Sinnen gewesen war, als er aus dem Haus rannte. Die Gedanken an Nottr quälten sie, und so war sie fast froh darüber, daß die draußen aufgetauchte Bande ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Insgeheim aber befürchtete sie, daß Nottr irgendwo in den dunklen Gassen erschlagen dalag. Und Mythor rechnete vielleicht mit ihm. Die Schuldgefühle verschlossen Kalathee den Mund. Sie klammerte sich an Mythor, als sie nun sehen mußte, wie drei der Männer über den Platz auf das Gasthaus zukamen. Und Mythor blieb keine Wahl. Er mußte sich den Gegnern stellen und verhindern, daß sie ganz Lockwergen niederbrannten. Der Glatzköpfige war das Haupt der Bande. Wenn es ihm gelang, diesen Mann unschädlich zu machen, hatte er so gut wie gewonnen. Die Art und Weise, wie die Plünderer ihn bejubelten, gleichzeitig aber ungeheuren Respekt vor ihm zeigten, ließ darauf schließen, daß es nur seine Kraft und die unheimliche Waffe in seiner Hand waren, die sie zusammenhielten. Das einzige Gesetz, das sie akzeptierten, war das Gesetz der Stärke. Wenn Mythor den Giganten im Zweikampf besiegte, konnte es gut sein, daß die Bande zu ihm überlaufen würde. Mythor konnte gern auf solche Gesellschaft verzichten, doch im Augenblick sah er keine andere Möglichkeit, seine und die Haut
der Gefährten zu retten. Vielleicht wartete Nottr, der die Brandschatzer kommen gehört hatte, als er gerade auf dem Weg hierher war, tatsächlich irgendwo im verborgenen darauf, von der anderen Seite her angreifen zu können. Mythor nickte grimmig, als er sah, daß die drei Fremden, heruntergekommene Gestalten und, wie es aussah, in ihre primitiven Peitschen geradezu verliebt, den Gebäuden zur Linken und zur Rechten keine Beachtung schenkten und direkt auf das Versteck zukamen. »Ihr bleibt hier, bis ich euch rufe«, flüsterte Mythor Kalathee und Sadagar zu. »Sie sollen erst einmal glauben, es nur mit einem Mann zu tun zu haben.« Insgeheim hoffte Mythor auf die Wirkung, die das Gläserne Schwert auf die Plünderer haben mochte. Mythor wollte versuchen, die Bande zu vertreiben, ohne daß es zu einem Blutvergießen kam. Er richtete sich auf und ging zur Tür. Kalathee klammerte sich an ihn. Sanft stieß er sie zurück. »Bleib in Deckung«, flüsterte er. Sie nickte. Mythor sah Tränen auf ihren Wangen. »Du mußt jetzt tapfer sein. Halte dich versteckt, solange es geht.« Dann trat er in den Eingang des Gasthofes. Die Plünderer sahen ihn und stießen johlende Schreie aus. Mythor sah, wie der Kopf des Giganten herumfuhr, und nun erst erkannte er im Licht des Feuers, daß der Hüne nur ein Auge hatte. Mythor ging langsam auf die drei Männer zu. Er sah ihnen in die Augen. Sie wichen zurück. »Geht mir aus dem Weg!« befahl Mythor ihnen schneidend. »Lauft zu eurem Anführer und sagt ihm, daß ich…« Die dröhnende Stimme des Einäugigen schnitt ihm das Wort ab. Einen Augenblick lang zögerten die drei Banditen vor ihm,
dann lösten sie ihre Blicke vom Gläsernen Schwert und griffen an. Zwei Peitschenriemen zuckten heran. Mythors Arm mit Alton fuhr hoch und durchtrennte sie mühelos. Mythor nutzte die Verblüffung der Plünderer und schlug dem dritten, der mit der Peitsche ausholte, den Schwertknauf gegen die Schläfe. Die anderen beiden wichen unwillkürlich zurück, als er die Spitze Altons auf sie richtete. »Komm heraus, Sadagar!« rief Mythor, die Banditen nicht aus den Augen lassend. Der Steinmann erschien hinter ihm im Eingang, seine Messer fächerförmig und wurfbereit in der Linken. Das war das Signal für den Einäugigen. Er stieß einen entsetzlichen Schrei aus und stürmte los, gefolgt von seiner Bande. Peitschen knallten und übertönten das Knistern der Feuer und das Krachen eines einfallenden Dachstuhls. Mythor nickte Sadagar zu. Die Bande war schneller als ihr Anführer. Mythor und Sadagar waren in Sekundenschnelle umringt. Von allen Seiten her kamen die Peitschen. Gebrüll aus heiseren Kehlen hallte Mythor in den Ohren. Die Plünderer griffen auch mit Schwertern und Messern an. Mythor parierte ihre Hiebe, und Sadagar schleuderte zielsicher seine Messer. Mythor hatte nur Augen für den Giganten, der am Rand des Marktplatzes stehengeblieben war und ihn zu erwarten schien. Er bahnte sich mit Alton seinen Weg, während Sadagar verzweifelt seine letzten Messer verschleuderte. Mythor hatte keine Zeit, sich nach Kalathee umzusehen. Die Plünderer machten ihm den Weg frei, als der Einäugige wieder etwas schrie. Dieser Mann mit dem Schwert, das schwach leuchtend die blutrote Nacht durchschnitt, gehörte Goltan! Dann waren die Bandenmitglieder hinter Mythor. Keiner griff ihn von hinten an. Sadagar schrie schrill und kämpfte weiter. Er wußte, was Mythor vorhatte, und riß einem der To-
ten die Peitsche aus der Hand. Mythor stand allein vor Goltan. Sekundenlang sahen die beiden Männer sich in die Augen – der dunkelhaarige, kräftige junge Mann mit dem schwach leuchtenden Schwert und der einäugige Gigant aus Fett und Muskeln mit der Peitsche. Dann stieß Goltan sein schreckliches Lachen aus. Mythor ignorierte es. Er kannte diesen alten Trick, einen Gegner abzulenken und dann plötzlich anzugreifen. Und während Goltan noch lachte, zuckte die Hand mit der Peitsche hoch. Mythor sprang blitzschnell zur Seite. Dort, wo er gestanden hatte, fuhr der fingerdicke Strang singend in den Boden und durchschnitt den Stein. Goltan zog die Peitsche zurück. Es war, als ob sie sich von selbst aufrolle. Langsam, wie ein sich anschleichender Tiger, begann der Einäugige, Mythor zu umkreisen, der den nächsten Angriff äußerlich gelassen erwartete. Mythor hörte Sadagars Stimme, und solange er sie hörte, lebte der Gefährte. Mythors Blick klebte an Goltans Hand. »Du hast keine Angst?« knurrte der Einäugige, als Mythor sich immer nur so weit drehte, daß er ihm die Brust zuwandte. »Keine Angst vor Goltan, eh?« Er schrie: »Meine Peitsche wird dich das Zittern lehren! Gebrauche dein Schwert! Wenn du um Gnade winselst, wird es Goltan gehören!« Die rothaarige Frau, die Mythor schon vom Gasthaus aus an der Seite des Hünen gesehen hatte, war plötzlich bei Goltan und feuerte ihn an. »Töte ihn! Worauf wartest du?« »Ja!« Goltans Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern, als er Mythor weiter umkreiste. »Das werde ich. Paß auf, Knabe. Zuerst schneide ich dir die Ohren ab. Du hast gesehen, was ich mit dem Standbild machte? Die Ohren, dann…« Mythor drehte sich schweigend mit Goltan, das Schwert gesenkt. Die Peitsche zuckte vor. Mythor sprang, und diesmal ver-
fehlte der tödliche Riemen seine Schulter nur um Haaresbreite. Er spürte einen brennenden Schmerz am linken Ellbogen und biß die Zähne zusammen. Aber er mußte warten – warten, bis der Einäugige die Fassung verlor. Goltan rollte die Peitsche nicht wieder auf. Er schwang sie jetzt mit der ganzen Kraft seines Armes, ließ sie in der Luft knallen und griff wieder an. Mythor sah den kaum wahrnehmbaren Blick des Hünen auf seine Füße und sprang instinktiv in die Höhe. Unter seinen Stiefeln durchschnitt der Riemen singend die Luft. »Kämpfe, du Feigling! Bleib stehen und kämpfe wie ein Mann!« Goltan geriet in Rage. Er schwang die Peitsche hin und her, ließ sie über dem Boden tanzen, immer ein Stückchen höher. Mythor sprang zurück und außer Reichweite des Riemens. Goltans Gesicht war tiefrot vor Zorn. Noch ein paar Schläge, dann hatte Mythor ihn soweit. »Töte ihn!« schrie Sar hysterisch, als Mythor immer weiter vor der tanzenden Peitsche zurückwich. »Töte ihn endlich!« Mit einem ohrenbetäubenden Schrei sprang der Einäugige vor. Mythor konnte diesmal nicht ausweichen. Er sah, wie Goltan weit ausholte, und wußte, daß sein Leben nun allein von Alton abhing. Wenn diese magische Peitsche auch das Gläserne Schwert bezwingen konnte… Mythor setzte alles auf eine Karte. Er sah den Riemen heranzucken und riß Alton hoch. Mit aller Kraft umklammerte er den Griff des Schwertes, als die Peitschenschnur sich um die Klinge wickelte und die Wucht des Schlages es ihm aus der Hand zu reißen drohte. Mythor stemmte sich mit beiden Beinen fest gegen den Boden, die linke Hand um die Parierstange gelegt. Alton war unversehrt. Goltan brüllte wie ein verwundetes Raubtier und zog mit all seiner Kraft. Dicke Schweißperlen liefen über seine Glatze und sein Gesicht. Mythor hielt das Schwert, doch der Kraft des Giganten war er nicht gewachsen.
Er sprang vor, auf den überraschten Einäugigen zu, und stieß ihm die Klinge in die linke Schulter. Blitzschnell zog er sie zurück. Der Peitschenriemen wickelte sich ab. Goltan stand einen Augenblick wie versteinert da, konnte nicht fassen, was mit ihm. geschehen war. Seine linke Hand fuhr zur verwundeten Schulter. Von den Fingern tropfte Blut. Sar schrie schrill auf, und nun griff Goltan mit der Wucht eines verwundeten Stieres an. Er war blind vor Zorn und Haß. Mythor hätte seine Brust mühelos durchbohren können, als er erstarrt dastand und sich für Augenblicke eine Blöße gab. Aber er wollte Goltans Tod nicht. Goltan sollte gedemütigt werden, in den Augen seiner Anhänger ganz klein werden. Sie standen nun um die Kämpfenden herum, bildeten einen Kreis aus gierigen Gesichtern. Augen, die Mythors Blut sehen wollten. Goltan wurde angefeuert. Daß die Banditen hier waren, konnte nur bedeuten, daß sie Sadagar besiegt hatten. Der Gedanke daran trieb Mythor das Blut in den Kopf. Er wich dem anrennenden Hünen aus, drehte sich blitzschnell um und fing die Peitsche wieder mit Alton auf. Diesmal versuchte er, sie Goltan mit einem Ruck aus der Hand zu ziehen, doch dieser, schlauer geworden, löste sie mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung von der Klinge. Wieder umschlichen die beiden Zweikämpfer sich. Goltan lachte nicht mehr. Auch die Banditen waren verstummt. Wahrscheinlich hatten sie noch nie erlebt, daß ein Gegner so lange gegen ihren Anführer bestehen konnte. »Stoß zu!« knirschte Goltan. »Stoß endlich zu!« Damit du ausweichen und in meinen Rücken kommen kannst! dachte Mythor. Die ständige absolute Konzentration auf Goltans Auge und Hände, das Wissen, daß die kleinste Unvorsichtigkeit ihn das Leben kosten würde, zehrten an seinen Kräften. Auch Mythor schwitzte. Das Ausweichen, Zurückund wieder Vorspringen erschöpfte ihn. Aller Augen waren
auf ihn und Goltan gerichtet. Jetzt mußte er angreifen. Goltan sprang völlig überraschend in die Höhe, fintierte einen Schlag mit der Peitsche, ließ sie dicht neben Mythors Kopf knallen und sprang. Mit seinem ganzen Gewicht landete er auf dem überraschten Kometensohn und riß ihn zu Boden. Sofort begannen Goltans Banditen wieder zu grölen und ihn anzufeuern. Sars schrille Stimme übertönte alle anderen. Diese Frau ist besessen! durchfuhr es Mythor, der sich mit aller Kraft seiner Arme gegen den auf ihm knienden Hünen wehrte. Alton war ihm aus der Hand gefallen. Goltans Knie saßen auf Mythors Schultern. Langsam näherten sich die beiden klobigen Hände des Einäugigen, zwischen ihnen der Riemen der Peitsche, die Steine durchschnitt. Mythor geriet in Panik. Seine Beine versuchten, Goltan von ihm abzuwälzen. Wenige Zentimeter neben Mythors Kopf lag das Schwert, und er konnte nicht nach ihm greifen. Er bekam mit einem übermenschlichen Kraftakt seine Hände frei und umklammerte Goltans Hals. Der Gigant lachte dröhnend und schnitt eine häßliche Grimasse. Sein einziges Auge funkelte, als sich seine Hände mit dem Peitschenriemen Mythors Kehle immer mehr näherten. Der feuerrote Himmel schien Goltans Schädel in ein Meer aus Blut zu tauchen. Mythor biß die Zähne aufeinander und versuchte, den Gegner zu würgen. Seine Hände gruben sich in Fettmassen und rutschten an schweißnasser Haut ab. Die Peitschenschnur kam näher! Mythor rang verzweifelt nach Atem. In diesem Augenblick war es, als ergreife eine fremde Macht von Mythor Besitz. Noch einmal bäumte er sich auf. Goltan wankte nur. Seine Hände kamen näher, immer näher. Die Peitschenschnur war an Mythors Hals. Er sah es in Goltans Auge aufblitzen. An das, was dann geschah, konnte er sich hinterher nur schwach erinnern.
Seine Hände ließen den Hals des Giganten los. Mythor bohrte blitzschnell die Finger der Rechten in die leere Augenhöhle, während die Linke Goltans Hände wegstieß. Der Einäugige stieß ein markerschütterndes Geheul aus und kippte zur Seite. Mythor zog die Beine an und wälzte den schweren Körper von sich. Seine Hand griff nach Alton. Er kam taumelnd in die Höhe. Unwillkürlich zogen sich die Banditen um einige Meter zurück. Nur Sar sprang in den Kreis und half Goltan, sich aufzurichten. Sie flüsterte etwas in sein Ohr, was den Einäugigen anzustacheln schien. Auch Goltan taumelte. Die linke Hand war vor die leere Augenhöhle gepreßt. Mythor erwartete den letzten Angriff. Goltan holte weit aus und schwang die Peitsche, um Mythors Oberkörper vom Rumpf zu trennen. Das Gläserne Schwert war in der Luft und durchschnitt den Riemen wie eine einfache Kordel. Goltan riß den Mund auf, doch kein Laut kam über seine Lippen. Ungläubig starrte er auf das, was von seiner Peitsche geblieben war. Und nun griff Mythor an. Er ließ Goltan keine Zeit, zu sich zu kommen. Eine wie aus weiter Ferne kommende, klagende Stimme lag in der Luft, als die schwach leuchtende Klinge die jetzt nur noch abwehrend geschwungene Peitsche in Stücke zerschnitt. Eine Kraft, die aus dem Gläsernen Schwert selbst kam, lenkte Mythors Arm, bis Goltan nur noch den Stiel der Peitsche in der Hand hielt. Goltan stand da wie zu Stein erstarrt. Mythors Schwert war auf ihn gerichtet, doch Mythor stach nicht zu. Die Peitschenbrüder flohen! Fassungslos sah Goltan von Mythor zu ihnen, dann wieder auf den dunkelhaarigen Mann, der ihn und seine unbesiegbare Peitsche bezwungen hatte. Mythor hielt sich mit allerletzter Kraft auf den Beinen. Goltan wartete auf den tödlichen Stoß. Erst als er merkte, daß Mythor ihn die ganze Zeit über hätte umbringen können und ihn aus welchen Gründen auch immer
schonte, ergriff er die Flucht. Von Sar gestützt, humpelte er seinen Anhängern nach, die schreiend in der Nacht verschwanden. »Wir sehen uns wieder!« rief Goltan, ohne sich umzudrehen. Mythor schaffte es, aufrecht stehen zu bleiben, bis auch Goltan und die Rothaarige außer Sichtweite waren. Hätte er auch nur im entferntesten gezeigt, wie geschwächt er war, wäre dies sein Tod gewesen. Nun brach er zusammen. Das Schwert fest umklammert, sank er zu Boden und blieb schwer atmend auf dem Rücken liegen. Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er endlich neue Kraft spürte. Sein linker Arm schmerzte. Verkrustetes Blut kennzeichnete die Stelle, an der Goltans Peitsche ihn gestreift hatte. Die Banditen waren nicht zurückgekehrt. Wo war Sadagar? Wo Kalathee? Mythor kannte die Antwort, bevor er das Gasthaus betrat. Das Quartier war verlassen. Mythor durchsuchte den Gastraum, die beiden großen Säle und die Räume in den oberen Stockwerken, bis zuletzt von der verzweifelten Hoffnung beseelt, Kalathee könnte sich irgendwo in einen stillen Winkel geflüchtet haben und von den Plünderern unentdeckt geblieben sein. Dieser Illusion beraubt, kehrte er nach unten zurück, wo er schließlich ein Stück Stoff von Kalathees blauem Kleid fand. Sie hatte ihren Entführern also Widerstand geleistet. War sie unfreiwillig unter den Zuschauern gewesen, als er gegen Goltan kämpfte? Auch von Sadagar fehlte jede Spur. Mythor suchte draußen, auf der Straße zwischen Marktplatz und Gebäuden und dem Platz selbst. Er fand nur die Leichen von Plünderern. Sadagar und Kalathee in Goltans Hand! Es bedurfte keiner
besonderen Phantasie, um sich auszumalen, daß der Einäugige sich an ihnen für die Schmach rächen würde, die er durch Mythor erlitten hatte. Mythor wagte nicht daran zu denken, was Kalathee erwarten mochte, wenn die Bande erst einmal wieder in ihrem Schlupfwinkel war. Mythor hatte keine Ahnung, wo dieser lag. Er wußte nur, daß er die Bande erwischen mußte, bevor sie ihn erreichte. Denn dann war jeder Befreiungsversuch so gut wie aussichtslos. Gegen aus dem Hinterhalt abgeschossene Pfeile war auch er machtlos. Mythor machte sich Vorwürfe. War es richtig gewesen, Kalathee allein zu lassen? Er wußte, daß er nicht anders hätte handeln dürfen. Hinter seinen Selbstvorwürfen steckte mehr – das Wissen darum, daß Kalathee an seiner Seite litt, weil er ihre Liebe nicht erwiderte. Als er sich kräftig genug fühlte, die Suche aufzunehmen, deckte er sich mit Brot, Fleisch und Wein aus der Küche des Gasthofs ein. Das Brot war noch frisch, als sei es eben erst aus dem Ofen des Bäckers gekommen. Der Überfall der Peitschenbande hatte Mythor und seine Gefährten daran gehindert, weiter nach der Ursache des Verschwindens der Bürger von Lockwergen zu suchen. Er wußte, daß er vorerst nicht dazu kommen würde, diese Suche fortzuführen. Und doch hatte er das Gefühl, die Lösung des Rätsels fast greifen zu können. Befanden die Verschwundenen sich wirklich in einer anderen Welt, von der aus sie auf ihre Heimatstadt herabsehen konnten? Hatten die Apathischen die Möglichkeit, ihn zu sehen und zu hören? Mythor verscheuchte die Gedanken und verließ das Gasthaus. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes waren inzwischen völlig niedergebrannt. Dunkelrote Glut breitete sich von dort aus. Es ging kein Wind, so
daß das Feuer nicht auf andere Gebäude übergegriffen hatte. Goltan hatte davon gesprochen, daß die Bande sich Reittiere besorgen und den Königspalast plündern wolle, dessen Türme Mythor im Westen der Stadt gesehen hatte. Es war nun die Frage, ob sie ihr Vorhaben noch immer in die Tat umsetzen oder zusehen würden, daß sie Lockwergen so schnell wie möglich hinter sich brachten. Auf jeden Fall brauchte Mythor selbst ein Reittier, um bei der Verfolgung schneller voranzukommen. Und das fand er weder in der Stadt selbst noch im Palast. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mühsam die Spur der Bande zu verfolgen. Ihr Stützpunkt konnte im Süden sowohl wie im Norden liegen. Die Berge im Norden, die Mythor gestern von einem hohen Gebäude aus gesehen hatte, waren für ihre Zwecke sicher besser geeignet. Aber bloße Spekulationen führten zu nichts. Er begann mit der Suche. Er hatte gesehen, in welche Richtung die Plünderer geflohen waren. Doch noch bevor er die entsprechende Straße erreichte, geschah etwas, mit dem er am allerwenigsten gerechnet hatte. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich das kleine magere Mädchen aus dem Haus am Hafen vor ihm. Sie sah ihn an, mit dem gleichen weltentrückten Blick wie zuvor. Doch jetzt hatte er zumindest das Gefühl, daß sie ihn wahrnahm. Er schritt auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke. »Geh zurück in dein Haus«, sagte er, ihren Blick suchend, der nun auf die Häuserruinen gerichtet war. »Hörst du mich?« Sie antwortete nicht. Nichts verriet, ob sie seine Worte verstand oder überhaupt hörte. Mythor schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hatte keine Zeit, sich mit ihr abzugeben. Aber warum war sie hierhergekommen? Durch den Lärm angelockt? Wieder schüttelte er sie und wieder ohne Ergebnis.
Er richtete sich auf. Hier gab es nichts, was ihr gefährlich werden konnte. Vielleicht suchte sie unbewußt nach ihren verschwundenen Eltern. Er konnte ihr dabei nicht helfen. Mythor wandte sich zum Gehen. Er hatte erst einige Schritte gemacht, als er feststellen mußte, daß das Mädchen ihm folgte. Verärgert rief er: »Geh zurück! Ich kann dich nicht brauchen!« Sie wartete, bis er weiterging, dann folgte sie ihm, immer in einem gewissen Abstand. Mythor seufzte. Er konnte sie nicht festbinden. Mit der Zeit würde sie müde werden. Er ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Straße hatte keine Abzweigungen. So wie sie verliefen ein halbes Dutzend andere sternförmig zum Marktplatz. Die Dunkelheit erschwerte die Suche nach Spuren, als Mythor einen der vielen Parks Lockwergens erreichte. Hier hörte die Straße auf. Andere führten in verschiedene Richtungen. Immer wieder anhaltend und sich bückend, überquerte Mythor die Grünfläche. Er sah die tiefen Eindrücke von gestiefelten Füßen. Die nächste Straße. Es hatte tatsächlich den Anschein, als hätten die Banditen Lockwergen auf geradem Weg in nördlicher Richtung verlassen. Das Mädchen war immer noch hinter Mythor. Auf dem Pflaster liegende Lederbeutel, Schnüre, leere Wasserschläuche und Stoffetzen wiesen ihm den Weg bis in die Außenbezirke. Immer wieder kleine blaue Stoffetzen. Irgendwie mußte es Kalathee gelungen sein, von ihren Entführern unbemerkt winzige Stücke aus ihrem Kleid zu reißen und fallen zu lassen. Also lebte sie noch. Mythor dachte wieder an Nottr, doch bisher deutete nichts darauf hin, daß der Barbar aus den Wildländern ebenfalls in Gefangenschaft geraten war. Als die letzten Gebäude der Stadt hinter Mythor lagen, begann es im Osten zu dämmern. Vor seinen Augen erstreckte
sich hügeliges Gelände. Im weichen Boden waren jetzt wieder die Spuren der Banditen zu sehen, und der Feuerschein hinter einem der nächstgelegenen Hügel nahm Mythor endgültig alle Zweifel an ihrem Ziel. Nach Norden! dachte er grimmig. Und damit immer weiter weg von Althars Wolkenhort. Das Mädchen stand hinter ihm und sah ihn blicklos an. »Nun verschwinde endlich!« schrie Mythor sie an. Sofort verfluchte er seine Heftigkeit. »Du kannst doch nicht mitkommen«, versuchte er es in geduldigem Tonfall. »Du mußt in der Stadt bleiben. Die Wildnis hier draußen ist nichts für dich!« Das Mädchen machte zur Antwort einen weiteren Schritt auf ihn zu, zaghaft, als wolle es brüchiges Eis betreten. Aber sie dachte offensichtlich nicht daran, auf ihn zu hören. »Dann komm!« murmelte er kopfschüttelnd. »Du hast mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt. Wir haben beide keinen Menschen mehr, ja? Spürst du das? Willst du deshalb mit mir kommen?« Von plötzlichem Mitleid gepackt, nahm Mythor das Kind auf seine Schultern. Irgendwo, so hoffte er, würde er vielleicht ein paar Bauern oder Dorfbewohner finden, die die Kleine aufnahmen. Nur durfte es nicht mehr zu lange dauern. Er, der rennen sollte, marschierte nun mit dem Kind nach Norden, in jene Richtung, aus der der Rauch kam. * Als Mythor den Bauernhof erreichte, sah er nur noch nachglühende Ruinen. Alle Ställe waren abgebrannt. Die beiden Wohnhäuser aus Stein und Lehm waren häßliche schwarze Skelette. Mythor setzte das Mädchen am Fuß des Hügels ab und schärfte ihm ein, hierzubleiben, bis er zurückkäme. Wider
Erwarten gehorchte sie. Kühe und Schafe hatten sich weit über die angrenzenden Felder verteilt. Mythor näherte sich vorsichtig mit der Klinge in der Faust den Ruinen. Hier gab es Tiere, und hier hatte es Menschen gegeben. Mythor fragte sich, wo die unsichtbare Grenze verlief, jenseits deren alles Leben verschwunden war. Er drang in eines der Gebäude ein, als er leises Stöhnen hörte. Nach kurzer Suche fand er einen alten Mann neben der verkohlten Leiche einer Frau. Der Alte hatte eine Wunde in der Hüfte. Seine Stoffkleidung war mit Blut getränkt und klebte an seinem Körper. Offensichtlich war es ihm gelungen, den Flammen zu entkommen, und erst vor kurzem hatte er das Gebäude wieder betreten. Aus seinen Augen sprach blankes Entsetzen, und er wich in panischer Angst zurück, als er Mythor plötzlich vor sich stehen sah. Das Grauen, das er hilflos miterleben mußte, hatte ihn halb wahnsinnig gemacht. Er kroch auf dem Rücken in eine Ecke, den Blick starr auf Mythor gerichtet. »Geh fort!« röchelte er. »Geh! Ihr habt uns doch alles genommen! Geh oder töte mich wie…« »Sei still.« Mythor kniete sich neben den Mann und untersuchte behutsam die Wunde, die weniger schlimm war, als sie aussah. Der Alte wehrte sich nicht. Aus großen, leeren Augen verfolgte er, was Mythor mit ihm tat. Allmählich begann er zu begreifen, daß er nicht zu den Plünderern gehörte, die seinen Hof niedergebrannt und das Leben seiner Frau und vielleicht weiterer Menschen auf dem Gewissen hatten. Jetzt kam zum erstenmal etwas wie Leben in seinen Blick. Er starrte Mythor immer noch an, doch das Entsetzen und die Furcht waren abergläubischer Scheu gewichen. »Du bist…«, begann er zu stammeln, und der Blick des Alten ähnelte jetzt jenem, mit dem Nyala von Elvinon Mythor bei
ihrer ersten Begegnung angesehen hatte. »Du bist nicht wie sie. Du… du bist nicht von hier. Du bist… das Licht…« Mythor zuckte zusammen. Er sah dem Alten in die Augen. Redete er wirr, oder wußte er wahrhaftig um Dinge, die einem einfachen Bauern kaum zugänglich waren? »Sprich jetzt nicht«, sagte Mythor. »Ich muß die Wunde reinigen. Es wird schmerzen.« »Tu, was du tun mußt«, flüsterte der Alte. »Lebt außer dir noch jemand?« »Sie sind geflohen, meine Söhne, die Knechte und die Mägde. Nur wir«, der Alte blickte hinüber zur verkohlten Leiche, »blieben zurück, als wir die Peitschen hörten.« Mythor sah sich um und fand ein Messer. Er lief aus dem Gebäude, um die Klinge in den noch glühenden Steinen zu erhitzen. Der alte Mann preßte die Zähne aufeinander und gab keinen Laut von sich, als Mythor die Wunde ausbrannte. »Hattest du Reittiere?« fragte Mythor. »Ponys«, brachte der Alte heiser hervor. »Sie haben sie alle genommen. Es waren zweiundvierzig Tiere.« Zweiundvierzig Ponys, dachte Mythor. Alle Mitglieder der Bande waren also jetzt beritten. Durch die Beute, die sie mitschleppten, kamen sie langsamer vorwärts als ohne Ballast, aber immer noch viel schneller als ein Mann zu Fuß. Als ein Mann mit einem Kind. »Ich werde deine Frau bestatten«, sagte Mythor. »Kannst du aufstehen?« Der Alte nickte dankbar und ließ sich von Mythor auf die Beine helfen. Er mußte unsagbare Schmerzen haben, und dennoch waren diese nichts gegen den Schmerz in seiner Brust. Tränen liefen die faltigen, eingefallenen Wangen herab. Ja, Goltan, dachte Mythor grimmig. Wir werden uns wiedersehen, und wenn ich dich auf der ganzen Insel suchen muß! Eine Stunde später war die Frau begraben. Mythor häufte
schwere Steine über das Grab. Er wartete, bis der Alte wieder ansprechbar war. Es kostete ihn Überwindung, ihn jetzt weiter auszufragen. »Du kennst Goltan und seine Banditen?« »Jeder kennt Goltan und die Peitschenbrüder.« »Dann weißt du, wo sich ihr Versteck befindet?« »Nein, Fremder. Es liegt irgendwo in den Bergen, ein ganzes Stück weiter im Norden, aber wo genau, das weiß niemand.« Mythor sah weitere brennende Gehöfte vor seinem geistigen Auge, brennende Dörfer und weitere Leichen, die ihm den Weg weisen würden. »Du wirst sie bestrafen«, sagte der Alte unvermittelt, und wieder hatte er diesen fast ehrfürchtigen Blick in den Augen. »Dazu muß ich sie erst finden.« Mythor sah hinüber zum Fuß des Hügels hinter den Feldern, wo das Mädchen noch immer wartete. Er deutete auf sie. »Kannst du sie bei dir aufnehmen, bis jemand kommt, der sich besser um sie kümmern kann?« Der Alte nickte zögernd. »Meine Söhne und das Gesinde werden zurückkommen, wenn sie Goltans Spur verloren haben.« Mythor gab keine Antwort darauf. Er hoffte, daß die Geflohenen klug genug waren, Goltans Bande nicht zu verfolgen. Wie groß mußte die Angst der Yortomer vor den Peitschenbrüdern sein, wenn Söhne ihre alten Eltern verließen, die so den Räubern schutzlos ausgeliefert waren! Der Alte schien Mythors Gedanken erraten zu haben. »Wir schickten sie fort. Sie wollten uns mitnehmen, aber wir wollten nicht von unserem Hof.« Der Alte machte den Eindruck, als wolle er über dieses Thema nicht weiter reden. Mythor drängte die Zeit. Er mußte weiter und vor allem ein Pony finden. »Es gibt wilde Ponys in den Hügeln«, sagte der Alte auf eine
entsprechende Frage. Er zeigte in eine bestimmte Richtung. »Ich danke dir.« Mythor winkte das Mädchen heran. Sie gehorchte. Doch eine Frage bedrückte ihn noch. »Du sagtest, ich sei das Licht. Was meintest du damit?« »Es kommt aus dir heraus.« Der Bauer sah in die Richtung, in der Lockwergen lag. »Du warst in der Stadt? Stimmt es, daß sich eine Wolke über Lockwergen legte, aus der ein Licht fuhr, das alles Leben verschlang?« Mythor, in Gedanken schon wieder bei Goltan und seiner Bande, starrte den Alten ungläubig an. »Eine Wolke, sagst du? Ein Licht, das alles Lebendige verschlang? Hast du es gesehen?« »Nicht ich«, antwortete der Mann, plötzlich sehr müde. »Aber andere, die an meinem Hof vorbeikamen und den Blick jener in den Augen hatten, die den Teufel gesehen haben. Auch sie wirst du in den Hügeln finden.« »Was haben sie noch gesagt? Entstand diese Wolke plötzlich oder allmählich? Sahen sie Caer?« »Jene, die nahe genug an der Stadt waren, um zu beobachten, und doch nicht zu nahe, um das grausame Schicksal der Bewohner von Lockwergen teilen zu müssen, sind nicht mehr bei klarem Verstand.« Der Bauer sah Mythor in die Augen. Aus seinem Blick sprach Dankbarkeit, aber auch der Wunsch, jetzt allein gelassen zu werden. »Suche sie in den Bergen. Ich kann dir nicht mehr sagen.« Mythor nickte. Er erklärte dem Mädchen noch einmal eindringlich, daß es bei diesem alten Mann bleiben mußte, bis sich jemand anders fand, der es aufnahm. Er wußte nicht, ob sie ihn verstand, doch als er, die guten Wünsche und Dankesbezeigungen des Alten noch im Ohr und mit einem Seil um die Schultern, das der Mann ihm mitgegeben hatte, den Hof verließ, folgte sie ihm nicht mehr. Er konnte nichts mehr für den Alten tun. Er war sicher, daß
seine Leute oder Dorfbewohner, die den Rauch gesehen hatten, sich um ihn kümmern würden, sobald die Kunde ihren Weg gemacht hatte, daß die Peitschenbrüder sich in die Berge zurückgezogen hatten. Ein Pony! dachte Mythor, der nun allein viel schneller vorwärts kam. Vielleicht war es ganz gut gewesen, daß er das Mädchen mitschleppen mußte und sich nicht zu früh zuviel zugemutet hatte, denn immer noch spürte er die Erschöpfung vom Kampf. Mythor folgte dem Lauf eines Flüßchens, mit dessen klarem Wasser er sich von Zeit zu Zeit erfrischte. Die Hügel wurden schroffer und felsiger. Als Mythor nach Stunden weder wilde Ponys noch die wahnsinnig Gewordenen zu Gesicht bekommen hatte, von denen der alte Bauer gesprochen hatte, erklomm er den höchsten Hügel im Umkreis. Von seiner Kuppe aus hatte er gute Sicht über mehrere Kilometer hinweg. Er trank Wein aus dem mitgeführten Schlauch. Dann sah er die Herde. Es war ein gutes Dutzend wilder Ponys. Mythor stieg den Hügel hinab ins Tal und schlich sich vorsichtig an. Die Tiere wirkten scheu, was bedeuten konnte, daß die Peitschenbrüderbande hier vorbeigekommen war und versuchte hatte, sich zusätzliche Lasttiere einzufangen. Noch immer war es windstill und der Himmel so klar wie seit der Ankunft in Lockwergen. Mythor machte an einem Ende seines Seiles eine Schlinge. Eines der Tiere, ein weißes, struppiges Pony, befand sich etwas abseits der Herde. Als Mythor bis auf knapp fünfzig Meter heran war, hob es witternd den Kopf. Mythor sprang auf und stürmte los. Das kleine Pferd wieherte und alarmierte die anderen. Doch Mythor war schon heran, als es davongaloppieren wollte. Er warf die Schlinge um den Hals des Ponys und riß es zu Boden, hielt es von hinten gepackt und ließ es strampeln, bis ihm die Puste ausging. Die Hufe traten ins Leere. My-
thor redete beruhigend auf das Tier ein, bis es endlich aufgab. Mythor ließ es sich aufrichten und schwang sich auf seinen Rücken. Die anderen Ponys waren längst hinter dem nächsten Hügel verschwunden. Nach kurzer Zeit hatte Mythor das Pony völlig unter seiner Kontrolle. Leichtfüßig galoppierte es mit ihm nach Norden. Es galt nun, die Spur der Banditen wiederzufinden. Auch wenn diese durch ihre mitgeführte Beute und womöglich durch Widerstand, den Sadagar und Kalathee leisteten, langsamer vorwärts kamen als nun er, mußte ihr Vorsprung doch mehrere Stunden betragen. Es war Mittag, und Mythor hoffte, die Peitschenbrüder vor Anbruch der Dunkelheit eingeholt zu haben. Mythor gönnte sich und dem Pony keine Rast. Er ritt ununterbrochen nach Norden. Einmal fand er die Spur der Bande und konnte ihr bis zu einer felsigen Hügelkette folgen. Er sah, daß Goltans Leute mehrere Male abgesessen waren und gerastet hatten. Wieder fand er kleine blaue Stoffetzen. Doch auf den Felsen verlor sich die Spur wieder. Daß die Banditen nicht auf geradem Weg weitergeritten waren, zeigte, daß sie mit einer Verfolgung rechneten. Und da war noch etwas, das Mythor einiges Kopfzerbrechen bereitete. Die Spur eines einzelnen Reiters, der der Bande einige Kilometer weit gefolgt war, um dann nach links auszubrechen. Gab es noch einen weiteren Verfolger? Das Gelände wurde immer unwirtlicher. Nun kam leichter Wind auf, und bald zeigten sich erste dunkle Wolken am Himmel, die der Wind vom Meer herübertrieb. Ein Unwetter war jetzt das letzte, was Mythor brauchen konnte. Er suchte vergeblich nach weiteren Spuren, bis er weit vor sich Kampfgeschrei hörte. Sein erster Gedanke war, daß die Bande wieder einen Bauernhof oder ein Dorf überfallen hatte. Aber er sah keinen Rauch, und es schien zu den Gewohnheiten der Plünderer zu
gehören, überall, wo sie auftauchten, nur brennende und verkohlte Ruinen zu hinterlassen. Es war jetzt Nachmittag. Mythor schätzte, daß ihm noch etwa drei Stunden bis zur Dämmerung blieben. Er trieb das Pony an, auf eine felsige Anhöhe hinauf. Als das Kampfgeschrei ganz nah war, stieg er ab und band das Tier an einen Baum. Vorsichtig schlich er weiter, jeden unnötigen Laut vermeidend, bis er den Rand der Anhöhe erreichte. Unter ihm befand sich eine Schlucht, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. * Nottr war ruhelos durch Lockwergen gezogen, nachdem er in seiner maßlosen Enttäuschung und in wildem Schmerz davongerannt war wie ein Kind, das nicht gleich das bekam, was es sich wünschte. Verzweifelt und sich selbst für seine Unbeherrschtheit verfluchend, hatte er die dunklen Straßen durchquert, nur von dem Gedanken besessen, so weit wie möglich von Mythor, Sadagar und Kalathee fortzukommen. Nie wieder wollte er ihnen unter die Augen treten, nie mehr die Seelenqualen erdulden und der furchtbaren innerlichen Zerreißprobe ausgeliefert sein, einerseits Seite an Seite mit Mythor zu kämpfen, ihn aber andererseits dafür zu hassen, daß ihm die Liebe der Frau gehörte, die er selbst so sehr begehrte. Er hatte sich benommen wie ein Schwachkopf. Der Gram und das Wissen, die einzigen Freunde verloren zu haben, die er besaß, trieben ihn in die Raserei. Er wollte vergessen, sich sinnlos betrinken und dann nach einer Möglichkeit suchen, in seine Heimat, die Wildländer des Ostens, zurückzukehren. Schließlich hatte er den Königspalast vor sich gesehen, still und verlassen wie alle anderen Gebäude Lockwergens. Er drang ein, tobte sich aus, zerschlug Tische und Stühle und
fand endlich das, wonach er gesucht hatte. Nottr betrank sich, bis er kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Er wollte sich irgendwo hinlegen, seinen Rausch ausschlafen und vergessen, alles vergessen. Er fand jedoch keine Ruhe. Im Gegenteil, der Wein trieb ihn noch weiter in seine Raserei hinein. Erst jetzt erkannte er in vollem Ausmaß, was er angerichtet hatte und wie töricht er sich benommen hatte. Vielleicht suchte Mythor nach ihm. Mythor würde ihn verstehen können, denn er fühlte ja selbst diese unstillbare Sehnsucht in seiner Brust nach jener Unbekannten von überweltlicher Schönheit. Er hatte ihn und die anderen im Stich gelassen, allein in der Geisterstadt, die durch den Einfluß des Weines ihre Schrecken für Nottr verloren hatte. So hatte er den Palast verlassen, nachdem er an Waffen an sich genommen hatte, was er gerade mit sich schleppen konnte, Speere, einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Nottr wollte zurück zum Quartier, um die anderen wenigstens aus der Ferne beobachten zu können. Auf halbem Weg hörte er das Schreien und Gejohle der Plünderer, die in nördlicher Richtung aus der Stadt flohen. Neugierig geworden und eine Chance witternd, seinen Zorn an ihnen abreagieren zu können, hatte er sich auf ihre Fersen geheftet, bis er den Zug der Banditen von einem Versteck aus sehen konnte, und was er sah, brachte ihn fast um den Verstand: Kalathee und Sadagar, von kräftigen Kerlen gehalten und immer wieder vorangestoßen, wenn sie sich sträubten. Von Mythor war nichts zu sehen. Nottrs erster Impuls war, sich brüllend auf die Banditen zu stürzen und Kalathee aus ihren Händen zu befreien. Doch mit dem letzten Rest klaren Verstandes, der ihm geblieben war, mußte er erkennen, daß er gegen diese peitschenschwingende Übermacht keine Chance hatte und nur Kalathees Leben aufs Spiel setzen würde, wenn er jetzt angriff. So folgte er den Ban-
diten aus der Stadt hinaus. Als er sah, daß sie einen Bauernhof angriffen und sich Reittiere besorgten, wußte er, was er zu tun hatte. Er schlich um die Bande herum und legte sich hinter einem umgestürzten Baum auf die Lauer. Es gab nur einen Weg, den die Plünderer nehmen konnten, wenn sie weiter nach Norden zogen, und der führte zwischen zwei Hügeln hindurch. Nottr mußte mit aller Gewalt gegen den Drang ankämpfen, den Bauersleuten zu Hilfe zu kommen und so viele der Mörder in den Tod zu schicken wie möglich, bevor er selbst starb. Es hatte keinen Sinn. Den Überfallenen war nicht mehr zu helfen. Die Bande belud einige Ponys mit dem, was sie in der Stadt und auf ihrem Weg nach Lockwergen erbeutet hatte, schwere Säcke, die sie bis jetzt mühsam mit sich geschleppt hatten, und bestieg die übrigen Tiere. Kalathee und Sadagar wurden auf ihre Reittiere gefesselt. Nottr wartete, bis die Plünderer an ihm vorbeigezogen waren. Dann stürmte er aus seinem Versteck und sprang einen Banditen an, der etwas zurückhängend hinter den anderen herritt, und betäubte ihn. Die vor ihm Reitenden merkten nichts und verschwanden hinter einem Hügel. Nottr sprang auf das Pony und folgte den Banditen in sicherem Abstand. Er mußte warten, bis sich ihm eine wirklich erfolgversprechende Gelegenheit zur Befreiung Kalathees und Sadagars bot. Und immer wieder dachte er an Mythor, daran, daß der Kampfgefährte jetzt vielleicht tot irgendwo in Lockwergen lag und er die Katastrophe hätte verhindern können, wenn er bei ihm gewesen wäre. Er konnte keinen Triumph darüber empfinden, daß mit Mythors Tod der einzige Nebenbuhler um Kalathees Gunst aus dem Weg geräumt war. Vielleicht hätte er gegen ihn gekämpft, um Kalathee zu bekommen, aber Mythors Tod hätte niemals der Preis für sie sein können!
Es wurde Nachmittag, bis sich die erhoffte Gelegenheit endlich bot. Das Gelände war unwegsamer geworden. Immer wieder hatte er aus sicherer Entfernung beobachten können, wie die Plünderer von ihren Tieren steigen mußten, um einen felsigen Grat zu überwinden oder im Gänsemarsch schmale Schluchten zu durchqueren. Nottr sah die nächste Schlucht und wußte, daß die Banditen hindurchmußten. Er schlug die Fersen hart in die Flanken seines Ponys und erreichte die Schlucht trotz eines Umwegs von der anderen Seite aus vor der Bande. Nottr hatte Zeit, sich einen geeigneten Platz für einen Überraschungsschlag aus dem Hinterhalt zu suchen. Dann waren sie heran. Diesmal blieben sie auf ihren Ponys, doch Nottr war das recht. Von dieser Stelle der Schlucht aus führte ein schmaler, zwischen hohem und dichtem Nadelgehölz versteckter Hohlweg in einen Wald, in dem Nottr gute Chancen hatte, mit Kalathee und Sadagar zu entkommen, falls ihm die Befreiung gelang. Nottr wartete, bis der einäugige Gigant, der an der Spitze ritt, und die nächsten zehn Banditen an ihm vorbei waren. Er hockte auf einem kleinen Felsvorsprung etwa zwei Meter über dem Boden der Schlucht. Dann kamen Kalathee und Sadagar, auf die Ponys gefesselt und von jeweils zwei Mann bewacht. Nottr schoß schnell hintereinander zwei Pfeile ab, die ihr Ziel fanden. Kalathees Bewacher fielen von den Ponys. Die anderen Banditen und Goltan hielten ihre Tiere an und fuhren herum. Nottr warf den Bogen fort. Er hatte sich hoch aufgerichtet und sah nun die erschrockenen und wütenden Blicke der Banditen auf sich. Mit einem furchtbaren Schrei riß er das Krummschwert aus dem Gürtel und sprang direkt zwischen die Ponys, auf denen Kalathee und Sadagar saßen. Nottr durchschnitt geschickt die Fesseln des Mädchens. Doch bevor
er Sadagar erreichen konnte, waren die Peitschenbrüder heran. Nottr durchschnitt einen der heranschießenden Riemen mit dem Schwert. Der nächste legte sich um seine Brust, der dritte riß ihm das Krummschwert aus der Hand. Nottr brüllte und trat nach allem, was ihm zu nahe kam. Kalathee und Sadagar wurden schnell aus seiner Reichweite gebracht. Nottr hatte noch einen Arm frei, ergriff einen Peitschenriemen in der Luft und riß die Frau, in deren Hand der Griff lag, vom Reittier. Er kämpfte wie ein Berserker, obwohl sich jetzt immer mehr Schnüre um seinen Körper legten und schließlich auch den rechten Arm an den Oberkörper fesselten. Dann wurden ihm die Beine weggerissen. Nottr fiel schwer und schlug mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Er war bewußtlos, als Goltan seine Anhänger zur Seite schob und Nottr eingehend betrachtete. »Er stammt nicht aus dieser Gegend«, sagte der Gigant. »Und er wollte die beiden Gefangenen befreien. Er gehört zu ihnen. Legt ihn auf ein Pony und nehmt ihn mit!« »Was werden wir mit ihm machen?« fragte Sar, die längst wieder an Goltans Seite stand. Sie fuhr sich bezeichnend mit dem Zeigefinger über die Kehle. Ihre Augen funkelten vor Mordlust. »Du wirst auf deine Kosten kommen, meine kleine Hexe!« lachte Goltan dröhnend, als habe er einen besonders guten Scherz gemacht. Sofort verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Wir alle kommen auf unsere Kosten, wenn wir in den Bergen sind.« Goltan ging wieder zu dem Pony, dessen Rücken sich unter der Schwere seines Körpers bog. Sar folgte ihm. Als sie an Kalathee vorbeikam, blieb sie kurz stehen und spuckte ihr ins Gesicht. »Und dir werde ich die Augen auskratzen«, drohte sie, »wenn du dich auch nur einmal von Goltan anfassen läßt! Er
gehört mir allein, verstehst du?« Die Peitschenbrüder setzten ihren Weg fort. Nottr lag, an Händen und Füßen gefesselt, quer über dem Rücken eines Ponys, das mit Beute beladen war. * Niemand sah Mythor, der den Kopf über die Klippe weit über der Schlucht geschoben hatte und, zur Untätigkeit verdammt, mit ansehen mußte, wie auch Nottr in die Hände der Banditen fiel. Ein Sprung in die an dieser Stelle zwanzig Meter tiefe Schlucht wäre der sichere Tod gewesen. Zurückzulaufen und seitlich in sie einzudringen hätte viel zuviel Zeit gekostet. Die Peitschenbrüder wären mit ihren Gefangenen längst über alle Berge gewesen. Was hätte es genützt, wenn er sich gezeigt und damit verraten hätte? Mythor starrte grimmig nach Westen, wo sich die dunklen Wolken jetzt immer dichter zusammenzogen. Irgend etwas braute sich zusammen. Die Peitschenbrüder spürten es auch. Sie trieben ihre Ponys an. Mit Sicherheit mußten auch sie jetzt versuchen, ihren Schlupfwinkel vor Anbruch der Nacht zu erreichen. Sehr weit konnte es bis dorthin also nicht mehr sein. Mythor ging zu seinem Pony zurück, band es los und schwang sich auf seinen Rücken. Er mußte seinen Plan ändern. Nottr hatte eine denkbar günstige Ausgangsposition für seinen Befreiungsversuch gehabt und war doch gescheitert. Unterwegs, wo die ganze Bande beieinander war, war ihr nicht beizukommen. Mythor mußte warten, bis sie im Räubernest waren, und dann versuchen, sich im Schutz der Dunkelheit anzuschleichen. Die Plünderer waren laut genug. Er konnte ihnen aus siche-
rer Entfernung folgen. Hier, zwischen den schroffen und immer steiler werdenden Hügeln, gab es nicht viele Wege. Er konnte es sich leisten, ein gutes Stück hinter ihnen zurückzubleiben. Allmählich begann das eigentliche Gebirge. Ferne Gipfel ragten in die dunklen Wolken hinein. Irgend etwas erregte Mythors Aufmerksamkeit. Ein Rascheln in den Büschen zu seiner Rechten, als er ein grünes Tal durchritt. Die Hänge der Hügel waren hier bis dicht unterhalb ihrer felsigen Kuppen mit dunklen Nadelhölzern bewachsen. Immer größere Wegstrecken führten nun durch Tannen- und Fichtenwald. Vereinzelte Birken ragten erhaben in die Höhe. Dann und wann führte der ausgetretene Pfad an dichten Sträuchern mit Waldbeeren vorbei. Mythor brachte sein Pony zum Stehen. Er sah sich um und lauschte. Einige Vögel raschelten im Gebüsch und flogen davon, als er sich vom Pony gleiten ließ und ein paar Steine warf. Er hatte ein anderes Geräusch gehört. Irgend etwas Größeres war in der Nähe. Vielleicht ein Bär. Wölfe hatten sich durch ihr Geheul verraten und wären den Banditen gefolgt, der größeren Beute. Wieder hörte er das Geräusch. Das Pony am Seil mit sich ziehend, bahnte er sich mit dem Gläsernen Schwert eine Gasse durch das Gestrüpp, bis er die beiden Frauen fand. Sie hatten sich in einer winzigen Lichtung zwischen Waldbeersträuchern versteckt und versuchten nun, als sie ihn kommen hörten und sahen, durch das Dickicht zu entkommen. Lange Dornen bohrten sich in ihr Fleisch und hinterließen blutige Striemen. »Bleibt doch!« rief Mythor. »Ich tue euch nichts.« Sie hörten nicht auf ihn, sondern drangen noch tiefer in das Gebüsch ein. Mythor fiel etwas ein. »Ich komme aus Lockwergen wie ihr.« Es war ein Schuß ins Blaue gewesen, doch er traf. Mit weit
aufgerissenen Augen drehten die Frauen sich zu ihm um. Er nickte und versuchte zu lächeln. »Kommt her! Ihr reißt euch ja das letzte vom Leib, was ihr noch habt.« Tatsächlich trugen sie nur noch Fetzen einstmals prächtiger Kleider. Ihre Haare hingen in Strähnen in ihre Gesichter. Unzählige dünne rote Linien bedeckten ihre Arme und Beine. Wie lange mochten sie schon in diesen Dornbüschen stecken? Langsam und vorsichtig, Mythors Schwert nicht aus den Augen lassend, kamen sie näher. Mythor dachte kurz daran, daß der Vorsprung der Peitschenbrüder wieder größer wurde, aber sie konnten ihm jetzt nicht mehr entkommen. Er brauchte nur den geraden Weg nach Norden zu nehmen, um unweigerlich wieder auf sie zu stoßen. »Aus Lockwergen, sagst du?« fragte die Jüngere der beiden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein dünnes Krächzen. Mythor schätzte sie auf zwanzig Jahre, die andere doppelt so alt. Sie lachte irr. »Dann kommst du aus dem Reich der Toten, wie?« Was zunächst nur eine Vermutung gewesen war, bestätigte sich. Mythor hatte zwei der Wahnsinnigen vor sich, von denen der alte Bauer gesprochen hatte. Aber wie waren sie zu Fuß so weit nach Norden gekommen, noch dazu ohne etwas an den Füßen? Die Ältere hatte Mythors Beutel und den Schlauch erspäht. Dünne, gierige Finger griffen danach. »Gib uns zu essen!« Wortlos machte Mythor die Beutel los und ließ sie von seinem Wein trinken. Sie tranken gierig. Die kostbare Flüssigkeit rann ihnen das Kinn und den Hals hinunter. Diese noch vor Tagen stolzen Frauen waren vollkommen verwildert. Ihr Blick war gebrochen und zeugte von dem Unheimlichen, das sie gesehen haben mußten. Sie rissen Brot und Fleisch aus den Beuteln und aßen laut schmatzend. Mythor überlief es kalt, als er sah, wie sie sich um das Essen stritten. Geduldig und beherrscht wartete er.
Immer wieder sah er zum Himmel auf. Über den Bäumen, die von ersten leichten Böen geschüttelt wurden, braute sich das Unwetter zusammen, das er befürchtet hatte. Ein Gewitter, vielleicht ein Schneesturm, hier im kühlen Norden. Jedenfalls war es besser, in der Nähe des Bandenunterschlupfs zu sein, wenn es losbrach. »Genug jetzt!« sagte er barsch. »Ihr wart also in der Nähe der Stadt, als es geschah. Was habt ihr gesehen? Eine Wolke?« »Eine Wolke!« Die Frauen stießen sich mit den Ellbogen an und kicherten. Nicht das geringste erinnerte noch an die stolzen Bewohnerinnen Lockwergens, die Mythor auf den vielen Bildern gesehen hatte. Sie hatten wahrscheinlich vergessen, wer sie einmal gewesen waren. »Das sind Wolken!« Die Jüngere hob die Hand und zeigte zum Himmel. »Es war anders, ganz anders.« Wieder lachte sie schrill. »Viel heller, verstehst du?« Sie fuhr mit den Fingern vor Mythors Gesicht umher, als wolle sie ein Bild in die Luft malen. »Der Himmel… riß auf, und aus ihm kam das Licht… und mit dem Licht…« Plötzlich schrie sie gellend auf und warf sich der anderen in die Arme. Sie weinte, und Mythor konnte nur einige unzusammenhängende Wortfetzen aus ihrem Geheul verstehen. Eine Wolke, wie sie noch nie eines Menschen Auge gesehen hatte, aus der ein Licht drang, das nicht von dieser Welt war. Mythor hörte das Heulen des Sturmes. In der Ferne blitzte es. Er hatte keine Zeit mehr, zu warten, bis die beiden sich beruhigt hatten oder in der Lage waren, klare Antworten zu geben. Nur eines wollte er noch wissen: »Waren Männer in der Nähe? Haben Fremde die Stadt besucht, bevor es geschah?« Er gab eine Beschreibung von Caer-Kriegern und Priestern. »Keine Männer!« schrie die Zwanzigjährige. »Es gibt keine Männer mehr! Sie sind alle verschwunden. Du bist verschwunden! Es gibt dich nicht! Geh! Geh doch endlich!«
Wieder warfen sie sich in die Dornbüsche. Resigniert ging Mythor den Weg zurück, den er gekommen war, nicht viel schlauer als zuvor, und fragte sich, wie viele solcher bedauernswerten Geschöpfe es noch in den Wäldern geben mochte. Er stieg auf sein Pony und ritt davon. Es war rasch dunkler geworden. Der Himmel war finster, und durch die Äste der Bäume fiel kaum Licht auf den Pfad. Mythor trieb sein Reittier an, gönnte ihm keine Rast, ritt über Hügel und durch weite Täler zwischen steil aufragenden Felsen, immer dem Pfad nach, bis er einen anderen Pfad fand, der quer über den Weg führte, den die Plünderer genommen hatten. Irgend etwas hinderte Mythor daran, weiterzureiten. Er stieg ab und trat schweigend vor den riesigen behauenen Stein, der tief in den Boden eingelassen war. Es war nicht der einzige. Wie auf einer Straße für Riesen lagen die Quader, in einer geraden Reihe angeordnet, im Boden, von Gestrüpp überwuchert und seit langer Zeit nicht mehr begangen. Das mußte der Titanenpfad sein! Mythor hatte die Legenden gehört, denen zufolge es auf der Insel einen gewaltigen Pfad gab, der im Norden direkt aus dem Meer kommen und bis nach Gianton führen sollte, der geheimnisvollen Titanenstadt der Caer, die nicht mit dem Herzogssitz Caer selbst identisch war. Nun, als er vor den riesigen Steinquadern stand und mit dem Schwert eine Bresche in das überwucherte Gestrüpp schlug, spürte er eine Ahnung von etwas Gewaltigem, Erhabenem, und er fragte sich, welche Wesen hier in grauer Vorzeit einmal gewandelt sein mochten. Jeder Stein ein Schritt… Sie lagen in Abständen von zwei bis drei Metern voneinander entfernt. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Steinquader waren verwittert und teilweise mit dickem Moos bewachsen. Mythor sprang von einem Quader auf den nächsten.
Und er hatte das Gefühl, hier nicht sein zu dürfen, ein Sakrileg zu begehen. Diese Steine und der aus ihnen gebildete Pfad waren für Menschen tabu. Er war seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden. Selbst die Peitschenbrüder, die Hölle und Dämonen nicht zu fürchten schienen und bei ihren Raubzügen jedesmal den Titanenpfad überqueren mußten, hatten ihn unberührt gelassen, ebenso wie die Tiere der Wildnis, wie das Gestrüpp bewies. Mythor hatte plötzlich das Gefühl, nicht allein hierzusein. Es war, als beobachteten ihn große, dunkle Augen aus dem Unterholz zu beiden Seiten des Pfades, dunkle Augen, die zu riesigen Gestalten gehörten. Der Sturm bewegte die Bäume und ließ sie in der Dunkelheit wie schwankende Riesen aussehen. Sein Rauschen schwoll an und klang in Mythors Ohren wie das Geheul klagender Stimmen. Mythor beeilte sich, wieder auf sein Pony zu kommen und die geheimnisvollen Steine, die wankenden Schatten und die heulenden Stimmen hinter sich zu lassen. Erste Regentropfen klatschten auf seine Stirn, als er aus dem Wald herausritt und wieder freies Gelände vor sich hatte. Schroffe Felsen, Berge zu beiden Seiten des Pfades und schmale Täler. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Blitze fuhren krachend in die Bäume. Mächtiger Donner rollte über den Himmel. Der Wolkenbruch verwischte alle Spuren, die die Bande hinterlassen hatte, innerhalb weniger Minuten, und der Sturm peitschte den Regen in Mythors Gesicht. Der Boden wurde schnell schlammig und rutschig. Mythor begrub seine Hoffnung, noch an diesem Tag den Schlupfwinkel der Peitschenbrüder erreichen zu können. Wahrscheinlich lag er viel weiter im Norden, als er bisher angenommen hatte. Er mußte einen Platz zum Übernachten finden. Die Blitze zuckten nun überall um ihn herum in die Fel-
sen und Bäume. Gewaltige Tannen wurden geknickt wie Grashalme. Die Blitze machten die Nacht zum Tag, und die Donnerschläge schienen die Welt erbeben zu lassen. Einer Eingebung folgend, brachte Mythor das Pony, das er nur mit Mühe unter Kontrolle halten konnte, zum Stehen und drehte sich um. Ein gutes Stück hinter ihm, dort, wo der Titanenpfad verlief, schien der Wald zu brennen. Es gab aber keine Flammen. Wo der Blitz die Bäume in Brand setzte, erloschen sie in den vom Himmel kommenden Wassermassen innerhalb von Sekunden. Es war ein anderes, unheimliches Feuer, das wie eine Wand aus kaltem Licht von links, hinter einem Berg hervorkommend, quer über das Tal verlief und sich schnell nach rechts fortpflanzte. Mythor hielt den Atem an, als ihm klar wurde, was er da sah. Das kalte Feuer lief den Titanenpfad entlang, sprang von einem der mächtigen Steinquader auf den nächsten über, immer weiter, bis eine einzige Lichtwand im Tal stand, hoch über den Bäumen. Ein riesiger Regenbogen stand am Himmel und verlor sich in der Unendlichkeit. Und wieder hörte Mythor die Stimme des Sturmes, die jetzt wie das Ächzen erwachender Riesen klang. Ein Blitz fuhr wenige Meter neben Mythor in die Erde. Das Pony scheute und warf seinen Reiter ab, der nur Augen für das gewaltige Schauspiel gehabt hatte. Bevor Mythor auf die Beine kam, war es hinter einer Wegbiegung verschwunden. Mythor vergaß die Feuerwand und den Titanenpfad und rannte hinter dem Pony her. Das Tier blieb verschwunden, gerade so, als habe sich die Erde aufgetan und es verschlungen. Verzweifelt sah Mythor sich um. Hier stand er in einer unbekannten Wildnis, dem Unwetter schutzlos ausgeliefert, nur das Gläserne Schwert in der Hand, das bei jedem Regentrop-
fen, der auf die Klinge klatschte, kurz aufblitzte. Überall hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Mythor watete durch kleine Tümpel, deren Wasser ihm bis zu den Knien reichte. Er mußte die Peitschenbrüder vorerst vergessen und zusehen, daß er so schnell wie möglich einen Unterschlupf fand. Hier würde es kaum noch Gehöfte oder kleine Siedlungen geben. Mythor kletterte, immer wieder abrutschend, den nächsten Hang hinauf. Nach einer Viertelstunde sah er weiter oben eine Höhle. Den Griff des Schwertes fest umklammert, arbeitete er sich die Felsen hinauf. Die mit Moos bewachsenen Steine waren schlüpfrig, und der Sturm zerrte an Mythors Körper, als wolle er ihn mit sich nehmen. Auf allen vieren erreichte Mythor die kleine Felsplattform neben dem Höhleneingang. Er richtete sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen den glitschigen Fels und atmete tief durch. Immer noch stand die Lichtwand über dem Titanenpfad. Mythor erschauerte. Jetzt erst konnte er erkennen, daß die Blitze von den Steinquadern wie magisch angezogen wurden. Er befand sich hoch über den Tannen und Fichten und konnte die Bresche sehen, die die Blitze entlang dem Titanenpfad in die Bäume geschlagen hatten. Es war geradeso, als arbeiteten die Naturgewalten, von einer geheimnisvollen Macht gelenkt, in ihrem Wüten zusammen. Die Blitze schlugen in die Stämme der Bäume, und der Sturm riß sie um. An einigen Stellen schien der Waldboden zu glühen, und Mythor wußte, daß es die Steinquader waren, die die tobenden Kräfte in sich aufsogen. Dies war eine Nacht, in der die Toten aus ihren Gräbern stiegen, dachte Mythor. Er spürte, wie sein Herzschlag ihm das Blut in die Schläfen trieb, wo es dumpf hämmerte. Dies war eine Nacht, in der die Vergangenheit lebendig wurde, Titanen wieder über die Welt zogen.
Mythor kämpfte gegen die unerträgliche Angst an, die ihn erfaßt hatte. Er redete sich ein, daß er Gespenster sah, daß seine überreizte Phantasie ihm böse Streiche spiele. Er mußte sich von dem, was er sah und hörte, losreißen, wenn er nicht ebenso wahnsinnig werden wollte wie jene, die jetzt irgendwo in der Wildnis Schutz suchten, den sie nicht finden konnten. Mythor dachte kurz an die beiden Frauen aus Lockwergen. Sie hatten kaum Chancen, das Unwetter zu überleben. Die Höhle! Mythor besann sich im letzten Augenblick darauf, daß vor ihm schon andere in ihr Schutz gesucht haben könnten. Er schob vorsichtig seinen Kopf an den Felsen des Eingangs vorbei und spähte hinein, als die Blitze die Dunkelheit wieder zerrissen. Er konnte nur einen Teil der Höhle übersehen. Es half nichts, er mußte hinein. Alton zum Stoß ausgestreckt, drang er ein. Es war feucht, und die Luft stank nach Verfaultem. Mythor bückte sich nach einem Stein und warf ihn weiter in die Höhle hinein. Nichts rührte sich. Langsam ging er weiter. Die Höhle verengte sich bis zu einem armdicken Spalt, hinter dem in großer Tiefe Wasser rauschte. Einigermaßen beruhigt suchte Mythor nach einem Platz zum Übernachten. Er trat auf etwas Weiches, und im Lichtschein der Blitze sah er jetzt eine zusammengerollte Decke am Boden liegen. Und er brauchte sich nicht lange zu fragen, wie sie hierhergekommen war. In einer Felsmulde lagen die Gebeine eines Menschen. Zerfetzte Kleidung hing noch an den Knochen. Also war die Höhle doch bewohnt, und der Herr des Hauses konnte jeden Moment zurückkehren. Mythor war zu müde, um noch einmal nach einem Unterschlupf zu suchen. Draußen tobte der Gewittersturm mit unverminderter Stärke. In den Regen mischte sich Hagel. Der
Sturm trieb größere Körner in die Höhle. Mythor griff nach der Decke, rollte sie auf und schüttelte sie aus. Sie stank erbärmlich, aber es gab nichts anderes, was ihn wärmen konnte. Die Pelzstiefel und der Fellrock troffen vor Nässe. Mythor fand einige trockene Hölzer und schabte vom Höhleneingang Moder zusammen. Nach wenigen Minuten hatte er so viele trockene Zweige, die der Wind in die Höhle geweht hatte, beisammen, daß er ein Feuer entfachen konnte. Der Bär, der die Höhle offensichtlich bewohnte, und andere, die draußen nach Schutz suchten, konnten von seinem Schein angelockt werden, aber Mythor hatte sein Schwert und war fest entschlossen, die Höhle für diese Nacht zu verteidigen. Als das kleine Feuer auf dem trockenen Gestein in der Mitte der Höhle brannte und knisterte, zog er sich die nasse Kleidung aus und legte sie daneben. Der Rauch zog nach oben ab. Mythor zitterte vor Kälte. Er hockte sich vor das Feuer, weitere Holzscheite griffbereit neben sich, und wickelte sich, seinen Ekel überwindend, in die verfilzte Decke, nachdem seine Haut einigermaßen trocken war. Immer ein Auge auf den Eingang gerichtet, hockte er da und starrte in die Flammen. Erst jetzt spürte er die ganze Erschöpfung. Er kämpfte gegen die aufsteigende Müdigkeit an. Schlafen durfte er nicht. Wo steckten die Peitschenbrüder mit Kalathee, Sadagar und Nottr? Hatten auch sie einen Unterschlupf gefunden? Waren sie doch schon in ihrem Räubernest? Mythor konnte es sich nicht vorstellen. Sie konnten im Unwetter kaum vorankommen. Wenn nur die Gefährten sicher waren! Jetzt, da er einigermaßen zur Ruhe gekommen und zum Warten auf den Morgen und eine Wetterbesserung verurteilt war, kamen die quälenden Gedanken wieder. Lockwergen – welche furchtbare Waffe mochten die Caer,
vielleicht Drudin selbst, gegen die Stadt und ihre Bevölkerung eingesetzt haben? Unter einer Wolke und blendend hellem Licht konnte er sich nicht viel vorstellen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, daß tatsächlich nur Drudin selbst für eine solche Katastrophe verantwortlich sein konnte. Der Dämonenpriester, der nach allem, was er bisher gehört und erfahren hatte, das mächtigste Werkzeug der Mächte aus der Dunkelzone war. Vielleicht ein Geschöpf aus der Dunkelzone selbst. Drudin – wann würde er ihm begegnen und unter welchen Umständen? Es mußte über kurz oder lang zu dieser Begegnung kommen, denn Drudin war die Verkörperung der dunklen Mächte, denen Mythor den Kampf angesagt hatte. Würde er dann im Besitz weiterer Waffen sein, weiterer Hinterlassenschaften des Lichtboten? Mythor betrachtete das Gläserne Schwert Alton, das neben dem Pergament mit dem Bildnis jener Unbekannten von überweltlicher Schönheit lag, der Göttin, die so große Ähnlichkeit mit Mythor selbst hatte. Sieben Fixpunkte. Und der zweite, an dem der Helm der Gerechten aufbewahrt sein sollte, rückte in immer weitere Ferne. Von der Hoffnung, bald schon vor Althars Wolkenhort zu stehen, die Mythor nach Lockwergen getrieben hatte, war kaum noch etwas geblieben. Der Weg dorthin war steiniger und gefahrvoller, als Mythor erwartet hatte, obwohl er sich von Anfang an keine übertriebenen Illusionen gemacht hatte. Und Althars Wolkenhort war erst der zweite von sieben über die Welt verstreuten Fixpunkten! Mythors Gedanken kehrten nach Lockwergen zurück. Stand das gleiche Schicksal auch anderen Städten der Lichtwelt bevor? So vor sich hin brütend, vergaß Mythor die Gefahren, die draußen lauerten. Das ewige Auf und Ab des Sturmes, der
eintönig gegen den Fels klatschende Regen und Hagel und das Rauschen der Sturzbäche lullten ihn in einen tiefen Schlaf. Mythor erwachte erst wieder durch ein schabendes Geräusch am Höhleneingang. Er sprang auf. Das Feuer war längst erloschen. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er sah zwei leuchtende Punkte, dann den schwarzen Schatten, der sich riesig vor den Höhleneingang schob. Blitzschnell bückte er sich und kam mit dem Gläsernen Schwert in der Hand wieder hoch. Matt leuchtete es in der Dunkelheit. Der riesige Bär stand auf den Hinterbeinen aufgerichtet im Höhleneingang, die gewaltigen Pranken vorgestreckt. Mythor, völlig nackt und schutzlos, zögerte keinen Augenblick. Er sprang vor und ließ dem Tier keine Chance, zuerst anzugreifen. Das Gläserne Schwert bohrte sich bis zum Heft in die Brust des Bären. Blitzschnell zog Mythor es heraus, sprang zurück, bevor die Pranken sich um ihn schließen konnten. Der Bär stieß einen langgezogenen, markerschütternden Schrei aus. Tödlich verwundet, stand er noch aufrecht wie ein Fels und machte einen Schritt auf Mythor zu. Mythor nahm einen kurzen Anlauf und rammte ihm die Schulter gegen die blutüberströmte Brust. Die Pranken schlugen über seinem Kopf zusammen. Der Bär taumelte. Mythor trat zurück und versetzte ihm einen zweiten Stoß, legte sein ganzes Körpergewicht hinein und stieß den Herrn der Höhle über die Felsplatte in den Abgrund. Nach Luft ringend, trat er auf die Platte hinaus und sah zu, wie der schwere Körper tief unten aufschlug. Der Bär rührte sich nicht mehr. Mythor kehrte in die Höhle zurück. Seine Kleidung war noch feucht, aber draußen hatte es zu regnen aufgehört. Er legte sie an und warf die Decke in eine Ecke. Das Pergament verstaute er wieder sicher.
Draußen begann es schwach zu dämmern. Mythor schalt sich einen Narren für seinen Leichtsinn. Ein Tier, das sich lautloser angeschlichen hätte, hätte ihn im Schlaf überrascht und ihm keine Chance gelassen. So verließ er die Höhle und machte sich an den Abstieg. Ohne Reittier hatte er einen schweren Weg vor sich. Er konnte nur hoffen, daß die Peitschenbrüder ihren Schlupfwinkel nicht gleich wieder verließen, möglicherweise um Kalathee, Sadagar und Nottr gegen neue Schätze zu verkaufen. Wer konnte wissen, welches Gesindel sich in diesen Bergen außer den Banditen noch herumtrieb? Der Titanenpfad leuchtete nicht mehr. Der Sturm hatte sich gelegt. Nach einer Stunde ging die Sonne auf, und der Himmel war so klar wie am Tag der Ankunft in Lockwergen. Das Tal war eine einzige Wasserlache. Mythor watete hindurch, wenn er keinen anderen Weg fand. Immer weiter nach Norden. Überall regte sich Leben. Kleine Tiere, die vor dem Unwetter in ihren Schlupfwinkeln Schutz gesucht hatten, kamen zum Vorschein. Ein frischer, würziger Geruch lag in der Luft. Mythor bedauerte jetzt, seine mitgeführten Vorräte den beiden Frauen aus Lockwergen überlassen zu haben. Seinen Durst konnte er an den klaren Bächen stillen. Zur Jagd hatte er aber keine Zeit. Ohne Rast marschierte er weiter nach Norden, sich seinen Weg zwischen schroffen Felsen und unwegsamem Gelände suchend, das von Dornbüschen überwuchert war. Die Angst um seine Gefährten trieb ihn unermüdlich vorwärts. Nur an günstigen Stellen reichte die Sicht jetzt noch mehr als einige hundert Schritt weit. Meistens war sie jedoch durch Klippen, Sträucher oder Nadelbäume versperrt. Eine Landschaft, wie geschaffen für einen Hinterhalt. Mythor konnte jetzt nur noch hoffen, daß die Peitschenbrüderbande ihren Un-
terschlupf erreicht haben würde, wenn er in ihre Nähe kam. Vielleicht glaubten sie, Nottr sei der einzige Verfolger gewesen. Mythor verließ sich nicht allein auf sein Glück. Immer häufiger kletterte er nun an besonders unübersichtlichen Stellen auf Felsen, von denen aus er einen besseren Überblick auf das Land vor ihm hatte. Die Peitschenbrüder konnten weit vor ihm sein. Andererseits mochte sie das Unwetter weit mehr als ihn aufgehalten haben. Auch mochte es sein, daß einige von ihnen an einem für einen Hinterhalt besonders geeigneten Ort zurückgeblieben waren, um ihm den Garaus zu machen. Noch einmal würde sich niemand in die Reichweite seines Schwertes wagen. Immer noch hatte er es mit fast vierzig Banditen zu tun. Andererseits waren da drei Gefangene, die darauf hoffen mußten, daß er ihnen folgte, und die ihrerseits losschlagen würden, sobald sie von ihren Fesseln befreit waren. Mythor schüttelte den Kopf. Zwei, dachte er in der Hoffnung, daß Kalathee schlau genug war, sich zurückzuhalten. Allerdings war ihre Reaktion angesichts dessen, was ihr von den Männern der Bande wahrscheinlich drohte, nicht vorherzusehen. * Die dezimierte Horde zog langsam mit ihren Gefangenen nordwärts. Goltan trieb sie immer wieder zu größerer Eile an, und Sar verschaffte seinen Worten mit ihrer Peitsche Nachdruck. Haßerfüllte Blicke schlugen ihr entgegen, und nur der Umstand, daß sie Goltans Schutz genoß, bewahrte sie davor, von ihrem Pony gezerrt und erschlagen zu werden. Ihre Peitsche knallte auf die Rücken der Männer, die durch das Unwetter ihre Reittiere verloren hatten und nun zu Fuß neben den anderen hergehen mußten und dabei den Zug erheblich ver-
langsamten. Fast die Hälfte der Beute war dem Sturm zum Opfer gefallen. Auch jetzt, als der Regen aufgehört hatte, klebte die Kleidung noch naß an den Körpern der Banditen. Immer wieder mußten die zu Fuß Gehenden eine Pause einlegen, um das Wasser aus ihren Stiefeln zu schütten. Jedes Stehenbleiben brachte ihnen Striemen von Sars Peitsche ein. Goltan nahm wenig Rücksicht auf sie. Sie mußten rennen, um nicht den Anschluß an die Reiter zu verlieren. Wer erschöpft umfiel und liegenblieb, wurde auf ein Pony gebunden, und ein anderer mußte für ihn weitermarschieren. Der Wein war längst ausgegangen, und die meisten der Banditen hatten schwere Köpfe. Goltan schonte niemanden. Für ihn gab es nur den Schlupfwinkel, und ihn mußte er so schnell wie möglich erreichen, um sich neu zu bewaffnen. Die Strapazen des Weges hinderten seine Anhänger noch daran, sich Gedanken zu machen. Wenn sie wieder so weit erholt waren, um über den Kampf in Lockwergen und die erbärmliche Rolle Goltans nachzudenken, und unerwünschte Schlüsse ziehen konnten, mußte er wieder der überlegene Führer sein. Notfalls wollte er den Messerwerfer opfern, um den Zorn der Banditen abzubauen und ihnen etwas zu geben, an dem sie ihre Wut abreagieren konnten. Mit dem Mädchen und dem Barbaren hatte er andere Pläne. Der Barbar war ein Kämpfer, wie Goltan ihn sich an seiner Seite wünschte. Und er glaubte zu wissen, wie er ihn an sich binden konnte. Das Mädchen sollte die Männer auf andere Gedanken bringen, bevor er es für seine Pläne benutzen wollte. Die Frauen zu beruhigen, ihren Zorn über den Verlust der halben Beute zu besänftigen war etwas anderes und bereitete Goltan weniger Sorgen. Was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, war der Verlust seiner unbezwingbaren Peitsche – unbezwingbar, bis sie auf eine
Waffe getroffen war, die noch stärker war als sie, was für Goltan nur bedeuten konnte, daß in diesem Gläsernen Schwert des fremden Recken eine noch größere Magie wohnte als in der Peitsche, von der er nur noch den Griff besaß. Dieses Schwert mußte er besitzen! Goltan machte den anderen darüber keine Andeutungen, aber er war sicher, daß der Dunkelhaarige die Bande verfolgte, um seine Gefährten zu befreien. Einmal im Versteck, würde er ihn erwarten. Und diesmal würde er vorsichtiger sein. Mit dem Gläsernen Schwert war er noch überlegener. Niemand würde auf den Gedanken kommen, seinen Platz einzunehmen. Es wurde Mittag, dann Nachmittag. Noch wenige Stunden bis zu den Hütten. Goltan sah, wie Sar mit der Peitsehe arbeitete. Manchmal verachtete er sie, dann wieder hatte er seine Freude an der rothaarigen Hexe. Die letzten Kilometer bis zum Räubernest mußten die Banditen zu Fuß zurücklegen. Die Ponys behinderten jetzt nur. Das war der Grund, weshalb Goltan vor langer Zeit schon auf Reittiere verzichtet hatte. Wenn er mit den Peitschenbrüdern auf Raubzug ging, brauchte er sie nicht. Einmal aus den unwegsamen Bergen heraus, gab es genügend Höfe, deren Betreiber Ponys und Pferde besaßen. Der Abend begann bereits wieder zu dämmern, als am Ende einer langen, tiefen Schlucht die Felsen zur Seite wichen und den Blick auf das versteckte Tal freigaben, in dem die primitiven Behausungen der Peitschenbande standen. Im Norden wurde es von sanften grünen Hügeln begrenzt. Die Männer und Frauen brachen in Triumphgeschrei aus. Die Strapazen des Weges waren vergessen, als sie auf die Hütten zurannten, in Gedanken schon beim Fest, wie es nach jedem erfolgreichen Raubzug gefeiert wurde. Alles in allem betrachtet hatte sich der Zug trotz der verlorenen Beuteteile und der Toten gelohnt.
* Nottr wurde in eine der fünfzehn primitiven Hütten gebracht, an Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich mit einem dicken Seil an einen der drei kräftigen Stützbalken in der Mitte gebunden. Er trat nach jedem, der in seine Nähe kam, und steckte dafür Faustschläge ein. Kalathee und Sadagar waren in andere Hütten gebracht worden. Die Trennung von Kalathee schmerzte Nottr mehr als alle Mißhandlungen durch die Banditen, bei denen sich vor allem die Frauen hervortaten. Mit Sadagar war er ebenso fertig wie mit Mythor. Nottr verfluchte sich für diesen mißlungenen Befreiungsversuch. Auf dem Weg hierher hatte er mit ihnen nur wenige Worte wechseln können, doch das hatte ihm gereicht. Kalathee hatte Sadagar davon berichtet, daß er sich ihr erklärt hatte und dann geflohen war, woraufhin der Steinmann ihn als einen Verräter und Feigling beschimpfte, der seine Freunde im Stich gelassen hatte. Außerdem wußte Nottr jetzt in etwa, was sich auf dem Marktplatz in Lockwergen zugetragen hatte und daß Mythor nach dem Sieg über Goltan nur dagestanden und nicht daran gedacht hatte, die Gefährten herauszuhauen. So stellte sich ihm Mythors Rolle zumindest nach den wenigen Gesprächsfetzen dar, die er von Kalathee und Sadagar aufgeschnappt hatte. Und Kalathee hatte begonnen, an Mythor zu zweifeln! Sie zeigte es nicht offen, doch für Nottr war es offensichtlich. Sein Wunschdenken überwog alle vernünftigen Gedanken. Für Nottr gab es nur noch eines: Er mußte entweder mit Kalathee fliehen oder sie auf andere Weise vor den Banditen retten und für alle Zeiten an sich ketten. Nottr steigerte sich immer mehr in seine finstere Stimmung hinein. Und so hatte er ein offenes Ohr, als nach etwa einer
Stunde Goltan in der Hütte erschien und die Wachen hinausschickte, wo sie in das Gegröle der anderen einfielen, die inzwischen draußen, auf dem von den Hütten eingerahmten freien Platz, einen Höllenspektakel aufführten. »Ich habe die Beute unter ihnen aufgeteilt und ihnen Wein gegeben«, sagte Goltan, als er sich im Schneidersitz vor dem Angebundenen niederließ. Nottr blickte durch die schmale Tür. Draußen brannten Feuer, die es jedem Verfolger leichtmachten, das Tal zu finden, wenn er über die Berge kam. Goltan schien Nottrs Gedanken zu lesen. Er grinste verschlagen. Das Licht der auf dem Boden aufgestellten Talgkerzen warf schwarze Schatten über sein Gesicht. »Du glaubst, daß er kommen wird, dein dunkelhaariger Freund?« fragte Goltan amüsiert. Nottr biß die Zähne aufeinander und knirschte: »Und wennschon. Wir hätten seine Hilfe früher brauchen können.« Der Barbar aus den Wildländern sah Goltan finster ins einzige Auge. »Aber du bist nicht hier, um mich das zu fragen. Du rechnest damit, daß er kommt. Deshalb die großen Feuer. Was willst du also?« Goltan ließ sich mit der Antwort Zeit. Wie in Gedanken starrte er durch die Türöffnung. Dann zeigte er wieder sein unheimliches Lächeln. »Sie feiern. Sie haben Wein und werden das, was geschah, für eine Weile vergessen.« Goltan sah Nottr wieder an. »Aber dann werden sie nach den Gefangenen schreien. Vor allem nach der Frau. Die Männer sind hungrig, weißt du, und haben genug von den Schlampen um sie herum.« »Hör auf!« brüllte Nottr. Goltan fuhr ungerührt fort: »Die Frauen dagegen sind neidisch auf die Kleine. Sie hassen sie, weil sie reich ist… oder einmal war und all das hatte, wonach sie sich sehnen. Sar glaubt in ihr eine Rivalin zu sehen.« Goltan lachte rauh. »Sie
hat keinen Grund dazu. Aber Sar ist eifersüchtig und würde der Kleinen lieber jetzt als später die Augen auskratzen.« Der Einäugige machte wieder eine Pause. »Und genau das wird sie tun, wenn ich sie nicht daran hindere. Sie wird es tun, Barbar.« Nottr schrie auf und zerrte an den Fesseln. Er warf sich nach vorne auf die Knie, auf Goltan zu, bis das Seil ihn hielt. Goltans Gesicht wurde ernst. »Hör auf zu schreien! Es hilft dir ebensowenig wie ihr. Aber du kannst sie vor Sar bewahren.« »Was?« brüllte Nottr. »Was soll ich tun, du Fettklotz?« Goltan lachte, als hätte Nottr ihm ein Kompliment gemacht. »Du bist stark und, wie ich sehen konnte, ein guter Kämpfer. Ich habe Leute verloren und könnte einen wie dich gut brauchen.« Goltan versuchte, in Nottrs flammenden Augen zu lesen. »Ich müßte sicher sein können, daß du mir nicht bei der nächstbesten Gelegenheit in den Rücken fällst. Dann würde es mir um dich und die Kleine leid tun. Viele haben geglaubt, klüger als Goltan zu sein.« Mit einer verächtlichen Geste deutete der Hüne nach draußen. »Ihre Knochen verfaulen irgendwo in den Bergen.« Nottr ließ sich zurückfallen und blieb, an den Stützbalken gelehnt, still sitzen. Er atmete schwer und hielt Goltans Blick stand. »Du willst sagen, daß du sie freiläßt, wenn ich mich dir anschließe?« »Ich könnte mit dem Gedanken spielen. Aber zuvor solltest du wissen, was mit denen geschieht, die sich Goltan einmal verschrieben haben und dann eines Tages vergessen, daß sie ihm mit Leib und Seele gehören. Als Mitglied der Peitschenbrüder hättest du mir allein zu folgen. Und würde ich dir befehlen, für mich in den Tod zu gehen, müßtest du gehorchen, ohne zu zögern. Würde ich dir befehlen, deinen eigenen Bruder zu erschlagen, dürftest du keinen Augenblick zaudern. Tust du das nicht, wird meine Peitsche dich in Stücke schnei-
den.« »Du hast keine Peitsche mehr«, knurrte Nottr, nur halb bei der Sache. In Gedanken war er bei Kalathee und dem, was ihr bevorstand, falls er den Vorschlag, den Goltan ihm offenbar unterbreiten wollte, ablehnte. Über sein eigenes Schicksal in diesem Fall machte er sich ohnehin keine Illusionen. So waren seine bitteren Worte schon jetzt nicht viel mehr als ein Rückzugsgefecht. »Keine Peitsche mehr«, stimmte Goltan ohne erkennbare Gefühlsregung zu. »Aber dafür bald eine noch schrecklichere Waffe.« »Mythors Schwert Alton?« Nottr lachte rauh. »Du wirst es niemals schwingen können.« »Laß das meine Sache sein. Nun hör zu. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Männer die Kleine losbinden. Du kannst es verhindern. Kämpfe an meiner Seite, und ich schenke sie dir. Aber sei gewarnt, Barbar! Beim ersten Anzeichen von Verrat, beim ersten Ungehorsam wird sie für dich büßen müssen!« Nottr verstand gut. Damit hatte der Einäugige ihn in seiner Gewalt. Wahrscheinlich würde er eine Handvoll Wachen auf Kalathee und ihn ansetzen. Der Gedanke an Flucht würde ihm gar nicht erst kommen können. Vorerst nicht… Nottr war innerlich viel zu aufgewühlt, viel zu sehr in Angst um die geliebte Frau, um der Verlockung lange widerstehen zu können. Wenn er erst einmal Goltans Vertrauen gewonnen hatte, sagte er sich schwach, konnte er sich eine Flucht immer noch überlegen. »Ich bin einverstanden«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Binde mich los und führe mich zu ihr, bevor…« »Immer langsam, Barbar!« Goltan lachte schallend. »Du kannst es nicht erwarten, eh? Aber ich sehe dir an, daß du ver-
stehst. Willst du mir bedingungslos gehorchen, notfalls dein Leben für mich opfern?« »Ja!« schrie Nottr. »Du weißt, daß du mich in der Hand hast. Wozu also noch die Fragen?« »Weil ich deinen Ton in meinem Lager nicht gewohnt und auch nicht zu dulden gewillt bin.« Goltan rief zwei Namen. Eine Frau und ein Mann kamen in die Hütte, offensichtlich schon stark berauscht. »Bindet ihn los!« befahl Goltan. »Und dann führt ihn hinaus und haltet ihn gut fest.« Zu Nottr sagte er grinsend: »Du wirst dich doch nicht wehren, Barbar, oder?« »Ich weiß nicht, was das soll!« »Du wirst eine erste Lektion in Gehorsam erhalten!« schrie der Einäugige. »Alle sollen sehen, daß du dich Goltan zu Füßen wirfst! Ob es die letzte Lektion sein wird, hängt von dir selbst ab!« Die Fesseln wurden gelöst. Kichernd und lallend führten die beiden Nottr hinaus auf den Platz zwischen den Feuern. Sie hielten seine Handgelenke fest. »Sar!« schrie Goltan. Aus einer Gruppe von Feiernden löste sich die Rothaarige. Goltan zwinkerte Nottr zu. »Ich muß ihr einen Ersatz bieten, verstehst du? Sie hatte sich schon darauf gefreut, der Kleinen das Fell über die Ohren zu ziehen.« Sar hob eine Peitsche vom Boden auf und kam heran. Ihre Augen funkelten, als sie Goltan fragend ansah. »Zeig ihm, was wir mit solchen machen, die den Mund zu weit aufreißen, Sar!« rief der Hüne laut. Überall standen Banditen auf und bildeten einen Kreis um die Gruppe. Und Sar schwang die Peitsche. Blutige Striemen erschienen auf Nottrs Rücken, als die Haut unter dem Bärenfell aufplatzte. Der Barbar biß die Zähne zusammen und hoffte inbrünstig, daß Kalathee ihn jetzt nicht so sehen konnte. Er zuckte kaum
mit den Augenlidern. Er hatte gelernt, Schmerzen klaglos zu ertragen. Ein paar weitere Narben, das war alles. Wenn er nur Kalathee gewann! Er brach zusammen, als Goltan Sar in den Arm fiel. »Geh und amüsiere dich weiter«, sagte er zu ihr. Dann trat er mit dem Stiefel in Nottrs Seite. »Steh auf, Barbar.« Nottr gehorchte. Als er schwankend vor Goltan stand, drückte dieser ihm ein Messer in die Hand. »Nun geh und befreie die Kleine. Nimm sie mit in die Hütte. Aber denke immer daran, daß ich sie keinen Augenblick aus den Augen lasse.« Mit verächtlichem Blick sah der Einäugige zu den Trinkenden hinüber. »Sie können sich besaufen, soviel sie wollen. Goltan bleibt wach und wartet.« »Was geschieht mit Sadagar?« Nottr war selbst überrascht, als er sich diese Frage stellen hörte. »Er hat eine ganze Anzahl von uns getötet. Er wird so sterben wie sie, nur viel langsamer.« Einige der Banditen waren dabei, einen mächtigen Holzpflock in die Erde zu treiben, genau zwischen den Feuern. Nottr ging schwankend an ihnen vorbei, als sie innehielten, um Goltans mächtige Stimme zu vernehmen, der allen im Lager erklärte, daß Nottr jetzt einer von ihnen sei und jeder die Hände von ihm und Kalathee zu lassen habe. Sar starrte Goltan wütend an. »Aber du…« »Ich habe versprochen, daß du deinen Spaß bekommen würdest«, herrschte der Gigant sie an. Er zeigte auf den Pflock. »Du wirst ihn haben. Goltan hält seine Versprechen.« Der letzte Satz hallte Nottr noch unheilverkündend in den Ohren, als er die Hütte betrat, in der Kalathee ebenso wie bis vor kurzem er selbst an einen Stützbalken gebunden war. Er stand mit dem Messer in der Hand vor ihr und blickte von ihr zum Eingang und wieder zurück. Sie hatte alles mit ansehen und hören können.
Kalathees schönes Gesicht war vor Ekel verzerrt. Sie spuckte Nottr vor die Füße. »Faß mich nicht an, Verräter«, flüsterte sie mit einer Stimme, die dem Lorvaner einen kalten Schauer über den wunden Rücken fahren ließ. »Du wirst mich nie besitzen. Und ich schwöre dir, daß Mythor dich bestrafen wird.« Der Klang dieses Namens erfüllte Nottr mit Zorn. Er packte Kalathee am Arm und riß sie unsanft in die Höhe. Dann schnitt er ihre Fesseln durch. Sie trat und kratzte. »Versuche mich doch zu verstehen, Kalathee!« bat er. »Ich tue es nicht für mich. Ich…« »Lieber würde ich dort zwischen den Feuern sterben, zusammen mit Sadagar, als mit dir zu gehen!« Sekundenlang starrte Nottr das Mädchen an, sah, wie es litt und wie sehr es ihn verabscheute. Er wollte alles, was ihn so sehr quälte, vor ihr ausbreiten in der Hoffnung, daß sie ihn doch verstand. Dann packte ihn die Wut von neuem. Er wußte vor Verzweiflung kaum noch, was er tat, als er Kalathee grob an sich riß und sie mit sich aus der Hütte zerrte, auf die andere zu, in der er gefangengehalten worden war. Kalathee beschimpfte ihn, schrie Mythors Namen, begann schließlich wie ein kleines Kind zu weinen und leistete keinen Widerstand mehr. Vor dem Eingang der Hütte wartete Sar. Sie hielt etwas in der Hand. Nottr blieb stehen und sah ein kleines gläsernes Gefäß mit einer dunkelroten Flüssigkeit darin. Sar hielt es ihm entgegen. »Gib ihr das, Bruder«, sagte sie. »Sie wird dann keinen anderen Mann als dich mehr begehren.« Unwillkürlich wollte Nottr nach dem Gefäß greifen. Seine Hand zuckte zurück. Er starrte wütend in Sars Augen und fuhr sie an: »Verschwinde, Hexe! Verschwinde mit deinem Teufelstrank, bevor ich dich…«
Nottr verschluckte den Rest des Satzes, als er an Goltans Warnung dachte. Sar lachte schrill. »Andere haben dafür bezahlt, daß sie mich eine Hexe nannten. Jesserk wird noch bezahlen müssen, doch dir verzeihe ich für dieses Mal. Bevor die Nacht vorüber ist, wirst du zu mir kommen und mich um den Trank bitten. Du wirst ihn bekommen.« Unverhohlen musterte sie seinen muskulösen Körper. »Und vielleicht etwas anderes, wenn dir die Kleine zu langweilig wird. Goltan hat jetzt nur dieses Gläserne Schwert im Sinn. Denk an mich, Barbar!« Von Nottrs Flüchen begleitet, ging sie lachend davon. Und der, dem Goltans Gedanken galten, sah, wie Nottr die schluchzende Kalathee in die Hütte zerrte. * Lange bevor er die Schlucht erreichte, hörte Mythor das Grölen der betrunkenen Banditen. Vorsichtig arbeitete er sich zwischen den Bäumen am Hang eines Hügels bis zur Mündung der Schlucht vor. Das Lärmen kam vom anderen Ende. Dort also lag der Schlupfwinkel der Peitschenbrüder. Endlich war Mythor am Ziel. Er sah Feuerschein und lachte grimmig in sich hinein. Die Schlucht war für einen Hinterhalt wie geschaffen. Überall gab es Felsvorsprünge, auf denen Heckenschützen sitzen und darauf warten konnten, ihre Pfeile auf ihn abzuschießen. Mythor wollte ihnen den Gefallen nicht tun, in ihre Falle zu gehen. So einfach sollten sie es mit ihm nicht haben. Er ruhte sich eine halbe Stunde aus, nachdem er den ganzen Tag über marschiert war. Dann sah er sich nach einem günstigen Aufstieg um. Die Schlucht schnitt sich in ein breites, etwa fünfzig Meter hoch aufragendes Felsplateau hinein. Nach einigem Suchen fand Mythor einen durch Sturzwasser im Lauf der Zeiten ent-
standenen Weg nach oben. Er zwängte sich in die Rinne, fand mit den Händen und Füßen Halt auf kleinen Vorsprüngen und arbeitete sich mit zusammengebissenen Zähnen höher. Seine Haut war an vielen Stellen aufgerissen, als er endlich auf dem Plateau stand. Es war völlig eben, als habe das Schwert eines Titanen in grauer Vorzeit die Kuppe des Steinhügels abgetrennt. Kleine Wasserlachen befanden sich noch in Felsvertiefungen. In Ritzen wuchs niedriges Gras. Ansonsten gab es nur kahlen Fels. Mythor ging aufrecht auf den Feuerschein zu, bis er nach einigen hundert Schritten den Rand des Plateaus erreichte. Vor ihm breiteten sich wieder bewaldete Hügel aus, hinter denen Bergriesen in den Himmel stachen. Direkt unter ihm befand sich das Tal, dessen einziger Zugang vom Süden her die Schlucht war, wollte man sich nicht der mühsamen Kletterpartie unterziehen. Mythor legte sich flach auf den Bauch und kroch bis zum Abgrund. Das Schwert Alton hielt er so, daß sein Leuchten ihn nicht verraten konnte. Er schob den Kopf über den Rand des Plateaus und sah die von den großen Feuern beleuchteten Hütten der Peitschenbande um den freien Platz herum, in dessen Mitte ein Pfahl in die Erde getrieben wurde. Das Versteck der Bande befand sich etwa dreißig Meter unter ihm. Dreißig Meter, die er an schier unerklimmbar erscheinenden Felswänden hinabklettern mußte, um hinter die Hütten zu gelangen. Doch vorerst beobachtete er nur. Mythor sah, daß die meisten der Banditen betrunken waren. Das nahm er nur am Rande wahr, denn zwischen den Feuern stand Goltan. Er war allein und hatte den Blick starr auf die Schlucht gerichtet. Doch auch Goltan vergaß er, als Nottr und Kalathee aus einer der Hütten traten.
Mythor konnte kaum etwas von dem verstehen, was dort unten geschrien wurde. Aber was er sah, genügte ihm. Nottr schleifte Kalathee grob zu einer anderen Hütte. Nottr sprach mit Sar, der Rothaarigen, lange und, wie es schien, eindringlich. Dann stieß er Kalathee unsanft in die Hütte und schlug die Tür von innen zu. Nottr!
Er bewegte sich frei unter den Banditen, sprach mit ihnen und benutzte ihre Behausungen, als wohne er schon lange hier. Mythor konnte es nicht fassen. Nottr, der unverwüstliche Wildländer, der Kampfgefährte und Freund, war zum Verräter geworden und behandelte die zarte Kalathee wie ein Stück Vieh! Unbändiger Zorn ließ Mythor am ganzen Körper erbeben und drohte ihm den letzten Rest von Selbstbeherrschung zu rauben. Wo war Sadagar? War der Pfahl für ihn bestimmt? Nottr und Kalathee! Mythors Gedanken kreisten wild um diese beiden, den Verräter und das wehrlose Mädchen. Und Nottrs Verhalten lieferte ihm jetzt die Erklärung für so vieles, was ihm bisher undurchsichtig erschienen war. Nottrs finstere Blicke, wenn Kalathee sich an ihn geschmiegt hatte. Die Art und Weise, wie der Barbar immer wieder ihre Nähe gesucht hatte. Nottrs Verschwinden in Lockwergen. Kalathee hatte ihm etwas sagen wollen, als er sie in den toten Gassen fand. Betraf es Nottr? Die Flamme der Leidenschaft mußte tief im Lorvaner gelodert haben, der zusehen mußte, daß Kalathee nur Augen für ihn hatte. War sie nun der Preis dafür, daß er die Gefährten verriet und sich Goltan anschloß? Mythor kämpfte immer noch gegen seine Gefühle an, doch als er dann Kalathees Schrei und gleich darauf Sars schrilles Lachen hörte, war es mit seiner Beherrschung endgültig vor-
bei. Er sprang auf die Beine und ließ sich auf den nächsten Felsvorsprung gleiten. Mit geschwungenem Schwert fiel er mehr die Steilwand hinunter, als daß er kletterte. Alle Banditen verstummten und sahen zu ihm auf. Goltan brüllte triumphierend. Mythor bemerkte es nicht einmal. Er war von Sinnen. Seine Hände und Füße fanden wie von unsichtbarer Hand gelenkt Halt in den Felsen. Er sah nicht einmal, wohin er sie setzte. Wie ein Sturmgewitter kam er die Wand herab und über die ersten Banditen, die sich ihm entgegenwarfen. Er sah nur die Hütte, in die Nottr Kalathee verschleppt hatte, und kannte nur den einen Gedanken, die beiden dort herauszuholen und Nottr für seinen Verrat und das, was er Kalathee angetan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Peitschen knallten. Mythor durchtrennte die auf ihn zuschnellenden Riemen mit dem Schwert und schlug mit der Linken Plünderer zu Boden. Von allen Seiten stürmten sie heran, von Sars hysterischem Geschrei angetrieben. Mythor kämpfte mit dem Schwert, der freien Hand und den Füßen. Er rammte einem Mann, der vor ihm auftauchte und ein Krummschwert weit über dem Kopf schwang, um es auf ihn niedersausen zu lassen, den Schädel gegen die Brust. Als er sich wieder aufrichtete, stand Goltan vor ihm. Mythor sah nur einen kurzen Augenblick lang in das einzige Auge des Giganten. Dann fuhr eine mächtige Faust heran. Mythor sah sie, wollte ihr ausweichen, doch es war zu spät. Goltan streckte ihn mit einem einzigen furchtbaren Schlag nieder. * Goltan hatte es gewußt. Ein Mann wie dieser junge Recke ließ seine Gefährten nicht einfach im Stich. Er hatte ihn in seinem Rücken gespürt, den ganzen Weg von Lockwergen hierher.
Und sein Plan war aufgegangen. Seine Leute waren betrunken und glaubten sich jedem Gegner überlegen. In nüchternem Zustand wären sie beim Anblick des schwarzen Wirbelwinds, der da die Felsen herab über sie gekommen war, wahrscheinlich Hals über Kopf in alle Richtungen geflohen. Mythor gehörte zu jener Art von Männern, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um eine schöne Frau aus den Klauen von Entführern zu befreien. Sein ganzes Verhalten in Lockwergen hatte dies deutlich gezeigt. Goltan hielt nichts von Edelmut. Der Bandit hatte von Anfang an nicht damit gerechnet, daß der Dunkelhaarige durch die Schlucht kommen würde. Dazu war er zu gerissen. Goltan hatte gewußt, daß er über das Plateau kommen würde. Und er hatte dafür gesorgt, daß er dort oben etwas geboten bekäme. Natürlich wollte Goltan den Barbaren aus den Wildländern als Verbündeten haben, doch nicht nur darum hatte er ihm das Mädchen überlassen. Ihre Schreie waren es gewesen, die den jungen Krieger die Umsicht hatten vergessen lassen, durch die allein er ihn in Lockwergen hatte besiegen können. Durch sie und das Schwert in seiner Hand. Nun lag er vor Goltan im Schmutz und wand sich langsam auf den Rücken. Die leicht gelblich schimmernden Augen richteten sich auf seinen Bezwinger. Sie jagten Goltan keine Angst mehr ein. Der Anblick des gefallenen Helden ließ Goltan in Euphorie geraten. Seine Anhänger standen um ihn herum und sahen ihn erwartungsvoll an, soweit sie noch in der Lage waren, zu begreifen, was vorging. Nein, er würde sich nicht einfach bücken und dem Dunkelhaarigen das Schwert aus der Hand reißen. Er würde es ihm im Kampf abnehmen, und Goltans einzige Waffen würden seine Fäuste sein. Sar, die er als einzige ins Vertrauen gezogen und die bis zu diesem Augenblick daran gezweifelt hatte, daß Mythor, wie der Barbar den Dunkelhaarigen genannt hatte, tatsächlich hier
auftauchen würde, kam mit einem Krug in den Händen heran. Mythors Augen blitzten. Goltan entging dieses Signal nicht. Bevor Mythor aufspringen konnte, versetzte er ihm einen Tritt in die Seite. Mythor schrie gellend auf und rang nach Luft. »Schafft Platz für uns!« brüllte der Einäugige seine Anhänger an. »Es wird einen zweiten Kampf zwischen Goltan und diesem Mann mit dem leuchtenden Schwert geben! Ihr alle sollt sehen, wer der Mächtigere ist!« Und niemand sollte auf den Gedanken kommen, er sei bezwingbar! Nicht mehr, wenn er mit Mythor fertig war. Begeistertes Gejohle war die Antwort. Goltan behielt den Eingang der Hütte im Auge, in der sich der Barbar und das Mädchen befanden. Noch traute er Nottr nicht über den Weg. Der Messerwerfer lag bewacht und gefesselt in einer anderen Hütte. Sein Tod wurde durch den Kampf nur hinausgezögert. Goltan war mit sich zufrieden. Von Zeit zu Zeit war es gut, wenn er den Peitschenbrüdern etwas bot. Und in dieser Nacht hatte er ihnen sehr viel zu bieten. Er nahm Sar den Krug aus den Händen. Dann versetzte er Mythor einen weiteren Tritt, diesmal genau in die Rippen. Das Schwert fiel nicht aus seiner Hand. Fast schien es, als sei es mit ihm verwachsen. Auch gut, dachte Goltan. Er würde es trotzdem bekommen. »Hier!« rief er. »Trink, damit du zu Kräften kommst, um es mit Goltan noch einmal aufzunehmen. Niemand soll sagen können, Goltan hätte einen Schwachen besiegt!« Mythor versuchte wieder, sich aufzurichten. Er wälzte sich auf die Seite, stützte sich auf den rechten Ellenbogen und spuckte dem Giganten vor die Füße. »Verschwinde mit dem Teufelszeug! Wenn du kämpfen willst, dann laß mich auf die Beine kommen.« »Du sollst trinken!« Mythor spuckte wieder aus. Goltan rief nach einigen Män-
nern, die schnell über Mythor waren, ihn in die Höhe zerrten und seinen Kopf in den Nacken rissen. Mit Gewalt flößte Goltan ihm den Trank ein. Mythor wurde losgelassen, fiel zu Boden und schüttelte sich. Sar, die den Trank selbst zubereitet hatte, rieb sich die Hände. Goltan ließ Mythor liegen und trat zwischen die Feuer. »Reißt den Pfahl wieder heraus!« befahl er einigen Betrunkenen. »Der Messerwerfer ist erst später an der Reihe.« Er drehte sich zu Mythor um. »Wenn du glaubst, es noch einmal mit Goltan aufnehmen zu können, dann komm her! Du siehst, ich bin unbewaffnet. Kämpfe mit deinem Schwert gegen mich!« Mythor richtete sich schwerfällig auf. Die Welt schien sich um ihn herum zu drehen. Er sah das grinsende Gesicht der Rothaarigen vor sich, wie sie ihn mit ihren dünnen Fingern lockte, und wußte, von welcher Art der Trank gewesen war. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und jeder Schritt auf Goltan zu kostete fast übermenschliche Kraft. Mythor zwang sich, die Kreiselbewegungen um ihn herum zu ignorieren. Dort stand sein Gegner, seines Triumphes sicher. Mythor trat zwischen die Feuer. Er wartete, sah Goltan ins Auge und holte tief Luft. Als er das Schwert hob, wußte er, daß er keine Chance hatte. * Nottr ging das, was draußen vorging, nichts an. Sicher fielen die betrunkenen Banditen übereinander her oder tobten sich sonstwie aus. Es konnte ihm egal sein. Für ihn gab es nur Kalathee. Wieder fühlte er sich ähnlich hilflos wie in jenem verlassenen Haus in Lockwergen, als er nun vor ihr saß und ihr Gesicht im Licht der Talgkerzen beobachtete. Jetzt schien Kalathee in einer anderen Welt zu leben, sich in sie hineingeflüchtet zu haben, weg von ihm, von dem Gesicht, das sie
nicht mehr länger ertragen konnte, der Stimme, den rauhen Händen, die verzweifelt gestikulierend um Verständnis baten. Nottr empfand Ekel vor sich selbst. Seine Gedanken und Gefühle wechselten von Augenblick zu Augenblick. Manchmal war er nahe daran, auf Sars Angebot zurückzugreifen und sich Kalathee mit dem Liebestrank gefügig zu machen. Dann wieder wollte er ihr Gesicht, dieses so ungeheuer zarte Gesicht, in seine Hände nehmen und es streicheln, sie für alles, was er ihr angetan hatte, um Verzeihung anflehen. Hier saß er allein mit ihr in der Hütte. Er hätte sie sich nur zu greifen brauchen, aber jetzt, da er einigermaßen zur Ruhe gekommen war, konnte er es nicht mehr. Wieder wollte er sie ansprechen, doch schon nach den ersten Worten merkte er, daß sie ihn nicht hörte. Sie war entrückt, nahm nichts mehr wahr. Draußen wurde geschrien. Das war kein Kampf unter Betrunkenen mehr. Draußen wurde um Leben und Tod gekämpft. Und jetzt, als es in der Hütte völlig still war, hörte Nottr jene Stimme, die er unter Tausenden erkannt hätte. Kalathees Blick klärte sich. Ungläubig starrte sie Nottr an. Wie lange hatte der Lorvaner darauf gewartet, doch jetzt bemerkte er es kaum. Dort draußen befand sich Mythor! Und er kämpfte gegen eine Übermacht! Nottr hätte später nicht zu sagen gewußt, was in diesem Augenblick in ihm vorging, in dem er den ehemaligen Freund, den Mann, den er zu bewundern und im stillen zu hassen gelernt hatte, in tödlicher Gefahr gewahrte. Er wußte nur eines, und dieses Ziel stand klarer vor ihm als alles andere. Er konnte Mythor nicht im Stich lassen. Alles, was er sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, wurde unwichtig. Es war ihm nicht egal, was mit Mythor geschah, nicht egal, was aus Sadagar wurde. In diesem Moment erkannte der Barbar aus den Wildländern
in voller Konsequenz, welch schändlichen Verrat er begangen hatte. Er hörte, wie Goltan Mythor anschrie, und hörte Mythors unverständliche Antwort. Das Blut schien ihm in den Adern gefrieren zu wollen, bis er hörte, daß Goltan gegen Mythor kämpfen wollte. Das würde nie und nimmer ein fairer Kampf werden, aber es verschaffte Nottr Zeit, etwas zu unternehmen. Er und Kalathee waren frei. Die Wachen, von denen Goltan gesprochen hatte, hatten nun bestimmt nur noch Augen für den bevorstehenden Zweikampf, falls sie nicht ohnehin schon betrunken neben der Hütte lagen. Und Goltan selbst war in seinem Haß auf Mythor blind für alles andere. Davon ging der Lorvaner aus, und als er nun sah, daß Kalathee schreien wollte, war er bei ihr und drückte seine Hand auf ihren Mund. »Bitte, hör mit jetzt genau zu«, flüsterte er in ihr Ohr. »Ich weiß, daß ich etwas Schreckliches getan habe. Aber ich will es wiedergutmachen. Du kannst mir dabei nur helfen, indem du still hier sitzen bleibst und…« Nottr zögerte. Er sah Kalathee in die Augen und sah, daß sie ihm nicht glaubte. Aber er mußte es riskieren, mußte sie davon überzeugen, daß er es ernst meinte, auf die Gefahr hin, daß sie ihm in den Rücken fiel. »Du kannst etwas Besseres tun. Du hast gesehen, wohin die Bande ihre Ponys gebracht hat. Sie stehen angepflockt zwischen den Bäumen hinter den Hütten, am Hang des Hügels zur Rechten. In der Dunkelheit sieht dich niemand. Das Licht der Feuer reicht nicht bis dorthin. Kalathee, ich verlange jetzt sehr viel von dir. Es wird auf Augenblicke ankommen. Ich muß hinaus, um zu verhindern, daß Goltan Mythor erschlägt wie einen Hund. Mythor ist geschwächt, und Goltan riskiert einen Kampf gegen ihn nur dann, wenn er sich seiner Sache vollkommen sicher ist. Wahrscheinlich hat Mythor einen von
Sars Teufelstränken im Leib. Ich hörte, wie Goltan ihn zum Trinken zwang. Kalathee…« Nottr blickte dem Mädchen ernst in die Augen und glaubte sehen zu können, daß die Ablehnung ein wenig gewichen war. »Traust du dir zu, dich zu den Pferden zu schleichen, wenn ich dich aus der Hütte bringe, und sie bis auf vier davonzujagen?« Sie starrte ihn immer noch an. Endlich nickte sie. »Dann wartest du dort auf uns. Wenn wir scheitern, sterben wir sowieso. Nur du kannst dich vielleicht auf einem Pony in Sicherheit bringen. Bevor die Peitschenbrüder ihre Reittiere wieder eingefangen haben, kannst du aus der Schlucht sein. Wenn du siehst, daß Mythor und ich unterliegen, dann flieh! Sieh nicht mehr zurück! Wenigstens du mußt leben! Ich versuche, Mythor herauszuhauen und Sadagar zu befreien. Wir kommen zu dir.« Nottr nahm seine Hand von Kalathees Mund. Sie schrie nicht. Ungläubigkeit sprach aus ihrem Blick. »Nottr, du…« »Sei jetzt still. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Tu, was ich dir gesagt habe, auch wenn es noch so schwer ist. Versprichst du mir das?« Nach Augenblicken, die Nottr wie eine Ewigkeit vorkamen, nickte sie wieder, und doch wußte er, daß sie das Tal nicht ohne die Freunde verlassen würde. Aber Nottr gab nicht auf. Er lauschte. Das Grölen der betrunkenen Peitschenbrüder kündigte den Beginn des Kampfes an. Immer wieder verhöhnte Goltan Mythor. Nottr schlich sich zur Tür und öffnete sie einen winzigen Spaltbreit. Keine Wachen standen davor. Mythor stand zwischen den Feuern, sah Goltan an und griff an. Er stürmte nicht auf den Einäugigen zu, sondern taumelte. Es war, wie Nottr befürchtet hatte. Schnell war er wieder bei Kalathee. Er hatte noch das Messer, mit dem er sie von den Fesseln befreit hatte, und begann, damit kleinere Äste und Bast aus der hinteren Wand der Hütte zu lösen und den Boden
aufzukratzen. Er schwitzte. Wenn nun nicht alle Banditen dem Zweikampf zusahen? Bald war ein Loch unter der Wand entstanden, groß genug für Kalathee, um hindurchzuschlüpfen. Nottr rannte zur Tür und sah durch den Spalt, daß Mythor am Boden lag. Goltan stand breitbeinig vor ihm und verhöhnte ihn. Die Banditen gerieten in Raserei. Sie feuerten Goltan an. Mythor richtete sich auf. Das wievielte Mal seit Beginn des Kampfes? Nottr sah blutige Schrammen an Mythors Stirn. Goltan wollte ihn quälen, mit ihm spielen. Nottr lief zu Kalathee und nahm ihre Hände. Sie zitterte leicht, aber in ihren Augen stand kein Abscheu mehr. Ein wenig Zweifel, aber in der Hauptsache Angst und Schrecken. »Du mußt jetzt gehen, Kalathee. Versuche zu tun, was ich dir gesagt habe. Du allein kannst uns retten, wenn wir das da…«, er deutete mit dem Daumen über die Schulter, »… lebend überstehen. Warte auf uns oder reite los, wenn du Goltans Triumphschrei hörst. Und dann reite wie der Wind!« »Nottr, ich…« »Es ist gut, Kalathee. Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen. Du versuchst mich zu verstehen, und ich versuche dich zu begreifen. Und nun geh schnell und laß dich nicht sehen! Bleib im Schatten der Hütten, bis du bei den Bäumen bist!« Sie wollte noch etwas sagen, aber dann drehte sie sich abrupt um, ließ sich auf die Knie fallen und schob sich durch die Öffnung aus der Hütte heraus. Nottr wartete. Erst als er nichts hörte, rannte er wieder zur Tür. Mythor stand vor Goltan, schwankend, aber das Schwert nach wie vor fest in der Hand. Goltan kämpfte mit Fäusten und Füßen. Immer wieder wich er geschickt aus, wenn Alton vorstieß, und nutzte jede Blöße, die Mythor sich gab, um ihn
niederzuschlagen. Nottr steckte sich das Messer zwischen die Zähne. Er konnte nicht einfach in den Kreis laufen und über Goltan herfallen. Eine von hinten heranschwirrende Peitsche, die sich um seinen Hals legte, hätte seinem Gastspiel ein schnelles Ende bereitet. Nein, nur mit Mythor zusammen hatte er eine Chance – und mit Sadagar. Als er Sar in eine Hütte schleichen sah, wußte er, was er zu tun hatte. In dieser Hütte lag Sadagar gefesselt. Offensichtlich wollte Sar ihn töten, bevor Goltan es sich wieder anders überlegen konnte. Vorsichtig öffnete Nottr die Tür, nur so weit, um sich hindurchzuzwängen. Niemand sah ihn. Er stieß sie wieder zu und schlich im Rücken der in die Hände klatschenden Männer und Frauen hinüber zu der anderen Hütte, in der Sar verschwunden war. Er blieb wie erstarrt stehen, als er zwischen einigen Köpfen hindurch sehen konnte, wie Goltan einen furchtbaren Schlag gegen Mythors Brust landete. Wieder fiel Mythor, und wieder fand er die Kraft, sich aufzurichten. Wenn er nur lange genug durchhielt und Goltan nicht zu früh sein »Spiel« beendete. Jeder nächste Schlag des Einäugigen mochte tödlich sein. Sar hatte die Tür offengelassen. Nottr überraschte sie dabei, wie sie einen Dolch aus den Fetzen an ihrem Leib zog. Mit einem Satz war er über ihr und riß sie zu Boden. Sadagar stieß einen erstickten Laut aus. Nottr bedeutete ihm, still zu sein, während er eine Hand auf Sars Mund preßte. Sie bäumte sich auf, trat nach ihm und biß. Nottr setzte die Spitze seines Messers an ihre Kehle. »Du weißt, daß ich dich jetzt töten werde, Hexe!« zischte er ihr zu. »So, wie du ihn töten wolltest. Ganz langsam, Sar, wenn du mir nicht auf der Stelle das Gegenmittel gibst!« Es war ein Schuß ins Blaue. Nottr vermutete lediglich, daß die in der Herstellung von allem möglichen Höllengebräu of-
fenbar so versierte Rothaarige zu jedem Trunk ein Gegengift kennen mußte. Sie biß wieder zu. Nottr spürte den Schmerz kaum. Er drückte die Messerspitze fester gegen ihre Kehle. Sie war ganz still. Jede Bewegung hätte die spitze Klinge in ihre Kehle bohren können. »Ich habe nichts mehr zu verlieren, Sar«, sagte Nottr. »Deine Freunde töten mich, wenn wir nicht von hier fliehen können. Es spielt keine Rolle, ob du vorher stirbst. Gibst du mir das Gegenmittel?« Sar gab auf, nicht weil sie plötzlich Mitleid mit den Gefangenen gehabt hätte, sondern weil sie spürte, wie ernst Nottr es meinte. Sie nickte ganz langsam, um nicht weiter verletzt zu werden. »Binde ihn los!« flüsterte Nottr. »Ich warne dich. Falls du Dummheiten machst, bist du vor ihm tot!« Sekunden später war Sadagar frei. Der Steinmann kam noch benommen auf die Beine und rieb sich die Gelenke. Nottr hatte in zweifacher Hinsicht Glück. Diese Hütte bewohnte niemand anders als Sar selbst. Er sah es an den vielen Utensilien ihrer zweifelhaften Kunst, an kleinen Gefäßen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten darin und an Schatullen mit geraubtem Geschmeide. Und da sie die Hütte mit anderen Bandenmitgliedern teilte, fand Sadagar innerhalb kürzester Zeit eine Handvoll scharfer, spitzer Messer. Sar erkannte, daß sie verloren hatte. Nottr ging mit ihr zu einer Truhe, auf der Gefäße standen. Er nahm das Messer nicht von ihrer Kehle. Sadagar spähte nach draußen. »Ich warne dich nochmals, Sar. Wenn ich Mythor den Trank bringe, nehme ich dich mit. Du stirbst in dem Augenblick, in dem ich merke, daß du mir ein wertloses Gebräu gegeben hast.« »Nein!« krächzte die Rothaarige. »Ich tue alles, was du
willst, aber laß mir mein Leben!« Sie gab von verschiedenen Flüssigkeiten in ein leeres Gefäß, tat einige Kräuter dazu und rührte alles um. Über einer Kerzenflamme erhitzte sie das Ganze und nickte endlich. »Wenn er das trinkt, wird er Goltan schlagen können.« Nottr fragte sich zweifelnd, wieweit er ihr vertrauen konnte. Sie war Goltans Gefährtin. Würde sie seinen Tod in Kauf nehmen, als Preis für ihr Leben? Oder spielte sie mit dem Gedanken, Mythor für sich erobern zu können, indem sie ihn rettete? Sar liebte die Stärke, und wenn es einen Stärkeren als Goltan gab, versuchte sie, sich bei ihm anzuhängen. Wie auch immer, er mußte das Risiko eingehen. Er nahm das Gefäß und zerrte Sar mit der anderen Hand mit sich. Das Messer warf er Sadagar zu, der Sar nicht aus den Augen ließ. »Hör gut zu«, flüsterte Nottr. »Du deckst mir den Rücken. Ich renne mit ihr und dem Gebräu zu Mythor. Goltan wird ihn auf der Stelle töten wollen, wenn er merkt, daß wir frei sind. Alles muß schnell gehen. Hebe dir ein Messer für Goltan auf und eines für Sar!« »Nicht für mich«, krächzte die Rothaarige. »Ich betrüge euch nicht. Aber nehmt mich mit, wenn ihr flieht.« »Wir werden sehen«, sagte Nottr ausweichend. Er trat an die Tür, wartete, bis Mythor den nächsten Schlag einstecken mußte, und gab Sadagar das Zeichen. Sie stürmten aus der Hütte. Die ersten Banditen fuhren herum. Der Anblick der beiden Männer und Sars ließ sie erstarren. Nottr stieß drei von ihnen zu Boden, bevor sie begriffen, was geschah. Dann erfüllte wütendes Geheul das Tal. Nottr war fast durch den Ring der Zuschauer, als diese sich zu wehren begannen. Sadagar stand vor der Hütte und ließ niemanden zu nahe an Nottr und die Rothaarige herankommen. Sar leiste-
te nicht den erwarteten Widerstand. Goltan wich unwillkürlich einen Schritt von Mythor zurück, der gerade dabei war, sich aufzurichten. Nottr nutzte diese Sekunden der heillosen Verwirrung. Er war über Mythor und redete auf ihn ein, sah, daß der Freund ihn erkannte, und flößte ihm die Flüssigkeit ein. Haß loderte in Mythors Augen auf, als er Sar neben Nottr knien sah. Der gleiche Haß, der Goltan nun zum Angriff trieb. Nottr kniete noch neben Mythor, hatte nicht die Zeit, ihm alles zu erklären, sah Goltan auf sich zustürmen und spürte, wie Sar jetzt plötzlich aufsprang und sich losriß. Sie wollte Goltan etwas zurufen, doch der Gigant stürzte wie ein Baum. Nottr sah das Messer in seinem Knie stecken. Sar schrie schrill. Nottr sprang auf, entriß einem Banditen, der sich auf ihn stürzen wollte, die Peitsche und schlug auf Goltan ein, der sich das linke Knie hielt. Alles ging jetzt viel zu schnell, um noch gezielt handeln zu können. Die Banditen waren plötzlich überall zwischen den Feuern. Sadagar hatte auch eine Peitsche in der Hand und kämpfte. Nottr wußte nicht, woher er plötzlich sein Krummschwert hatte, das die Peitschenbrüder ihm bei seiner Gefangennahme abgenommen hatten. Er hielt es in der Hand und spürte die Kraft, die es ihm gab. Mythor richtete sich auf, noch benommen, aber sein Blick klärte sich. Jeder schien gegen jeden zu kämpfen. Das Geschrei der Banditen hallte in Nottrs Ohren. Er schlug einen Mann zu Boden, der sich von hinten auf Mythor stürzen wollte, und brachte den Mund an Mythors Ohr. »Kalathee wartet bei den Ponys auf uns!« rief er. »Stell jetzt keine Fragen! Sadagar ist frei. Wir müssen uns zu den Bäumen hinter den Hütten durchschlagen!« Mythor stand aufrecht. Blitzschnell wehrte er einen Angreifer ab. Erleichtert erkannte Nottr, daß er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war und daß er ihm vertraute.
Sadagar tauchte neben ihm auf. Peitschen knallten, und Klingen schlugen klirrend gegeneinander. Die Banditen hatten ihre Schwerter und Messer in den Händen und rückten vor. Das Gläserne Schwert ließ sie jedoch Abstand halten. Nottrs Klinge streckte zwei Gegner nieder. Sadagar kämpfte mit der Peitsche. In der Linken hatte er noch ein einziges Messer, welches für Sar bestimmt war. Er brauchte es nicht mehr. Die Banditen wichen zusehends vor den drei im wahrsten Sinne des Wortes entfesselt kämpfenden Freunden zurück. Die ersten flohen. Nottr erschrak, als er an Kalathee dachte. Wenn die Banditen zu den Ponys wollten, war sie verloren. »Wir müssen zu ihr!« schrie er, um den Kampfeslärm zu übertönen. Mythor und Sadagar verstanden sofort, was er meinte. Mythor kämpfte wie ein Wirbelwind. Das Gläserne Schwert durchschnitt die Luft und teilte Klingen und Peitschenriemen. Nottr wütete unter den Plünderern. Die drei Gefährten arbeiteten sich in die Richtung vor, in der Kalathee mit den Ponys wartete, bis plötzlich nur noch ein Mann vor ihnen stand. Goltan hatte ein Schwert in der Hand. So schnell, daß die Bewegung kaum wahrzunehmen war, schwang er es, um Mythors Schädel zu spalten. Sadagar war noch schneller. Er schleuderte sein letztes Messer. Ein schriller Schrei erfüllte das Tal. Erschüttert sah Nottr das Messer in Sars Brust stecken, die sich schützend vor den Giganten geworfen hatte. Goltan stand da wie vom Blitz getroffen. Bevor er sich fangen konnte, traf ihn Mythors Faust an der Schläfe. Er brach zusammen. »Weg hier!« brüllte Mythor. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte er los, dicht gefolgt von Nottr und Sadagar. Kein Bandit folgte ihnen. Goltans Fall hatte ihnen den Rest gegeben.
Schreiend stoben sie in alle Richtungen auseinander. Mythor, Nottr und Sadagar waren zwischen den Hütten hindurch, erreichten das Wäldchen am Fuß eines der Hügel, die das Tal nach Norden hin begrenzten, und sahen Kalathee mit den vier Ponys. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, als es auf Mythor zustürzte und sich in seine Arme warf. Mythor hob sie auf eines der Tiere. Sadagar und Nottr waren schon auf ihren Reittieren. Von den anderen Ponys war weit und breit nichts zu sehen. Sekunden später ritten vier Menschen wie der Teufel aus dem Tal, in die Schlucht hinein und in die Freiheit. Mythor ritt dicht neben Kalathee, die sich mit letzten Kräften auf ihrem Pony hielt. Fliehende Banditen wichen entsetzt vor ihnen zurück. * Als die Sonne aufging, lag das Tal weit hinter den Gefährten. Sie rasteten auf der Kuppe eines sanften, bewaldeten Hügels. Sadagar war auf Jagd gegangen, denn den Freunden knurrte der Magen. Sie hatten keine Vorräte bei sich. Alles, was sie besaßen, waren die Ponys, ihre Kleider und die Waffen. Mythor und Nottr hatten nicht wenig gestaunt, als Sadagar plötzlich grinsend zwölf Messer unter dem breiten Ledergürtel hervorgezogen hatte. Nottr hatte geglaubt, er habe alle Messer geworfen. Es schien, als fühle der Steinmann sich nur dann wohl in seiner Haut, wenn er immer genau zwölf Messer im Gürtel stecken hatte – nicht mehr und nicht weniger. Kalathees schönes Gesicht war von dem gezeichnet, was sie an Grauen erlebt hatte. Wie die anderen drei brauchte sie bei nächster Gelegenheit ein Bad. In ihrem hellblauen Kleid fehlten einige Stücke, jene Fetzen, die sie herausgerissen hatte, um
eine Spur zu legen. Sie hoffte, sich in Lockwergen neue Kleidung besorgen zu können. Denn wieder war Lockwergen das Ziel der Gefährten. Auf dem Weg nach Süden, wo Althars Wolkenhort lag, mußten sie entweder noch einmal durch die Geisterstadt oder nahe daran vorbei. Mythor hatte schon jetzt den Entschluß gefaßt, sich noch einmal in der Hafenstadt umzusehen, diesmal mit mehr Ruhe, glaubte er. Er sollte schon bald merken, wie sehr er sich irrte. Nottr saß etwas abseits, den Kopf gesenkt und blicklos vor sich hin starrend. Er hatte nach der geglückten Flucht kaum geredet, sich noch einmal bei Kalathee und Mythor entschuldigt und ihnen seine Gefühle und Beweggründe erklärt. Nun gab es zumindest kein Geheimnis mehr zwischen ihnen, was ihre Gefühle füreinander betraf. Nottr schien sich endgültig damit abgefunden zu haben, daß Kalathee seine Liebe nicht erwiderte und nur Mythor liebte. Mythor machte ihm keine Vorwürfe. Er verstand ihn besser, als Nottr glaubte. Ihn und Kalathee. Dennoch bereitete ihm das Mädchen Sorgen. Er dachte an Goltan und die Peitschenbrüder, die den Kampf im Tal überlebt hatten. Goltan würde vielleicht bis an sein Lebensende ein Krüppel sein, und die Banditen würden ihm kaum länger folgen. Sar hatte sich geopfert. Ihre letzte Tat hatte gezeigt, daß nicht nur Böses in ihr steckte. Die Yortomer, die diesen rauhen Landstrich bewohnten, brauchten in Zukunft nicht mehr um ihre Habseligkeiten und ihr Leben zu fürchten. Zumindest nicht, was die Peitschenbrüder betraf. Aber vielleicht schwebten sie, ohne es zu ahnen, in einer viel größeren Gefahr, einer Gefahr, die der ganzen Lichtwelt drohte. Steinmann Sadagar kam mit drei Hasen zurück. Die Gefährten machten ein kleines Feuer, rösteten das Fleisch und aßen. Ihren Durst löschten sie in den klaren Bächen.
Sie rasteten noch einige Stunden, bis sie sich kräftig genug fühlten, den Weg nach Süden fortzusetzen. Die Peitschennarben in Nottrs Rückenfell hatten sich zum Glück nicht entzündet. Sie würden mit der Zeit verheilen, ebenso wie die Schrammen und Narben, die Mythor davongetragen hatte. Als die Sonne hoch am Himmel stand, brachen die vier auf. Mythor war schweigsam. Er hatte sie wieder, diese böse Vorahnung. Er versuchte sich einzureden, daß es Lockwergen war, das ihm Sorgen bereitete, die Aussicht darauf, wieder durch leblose Straßen und Gassen gehen zu müssen. Er wußte, daß er sich etwas vormachte. Etwas anderes kam auf sie zu, etwas, das mit dem zusammenhing, was mit der Hauptstadt geschehen war. Und sie mußten sich dieser gefühlsmäßig erfaßbaren neuen Bedrohung stellen, wenn sie Althars Wolkenhort erreichen wollten. * Das Schiff war vollkommen schwarz, selbst die Segel und die Taue. Langsam und schwer im Wasser liegend, lief der Dreimaster in den Hafen von Lockwergen ein, vorbei an den in den Wellen schlingernden Booten und den verlassenen Handelsschiffen. Nichts hatte sich verändert, seitdem Mythor und seine Gefährten hier an Land gegangen waren. An jeder Seite des schwarzen Schiffes hingen zwanzig Ruder ins Wasser, die nun nicht mehr bewegt wurden. Auf einem der hohen Decksaufbauten, vor dem für magische Opferungen bestimmten Altar, stand eine ungewöhnlich große und unglaublich dürre Gestalt in einem langen, schwarzen, silberverzierten Mantel. Unter dem hohen, spitzen Helm mit den bemalten Hörnern und Tierknochen saßen zwei finstere Augen tief in ihren Höhlen. Die Haut, die sich über spitz her-
vorstehende Wangenknochen wie altes Pergament spannte, wirkte gläsern. Der Mann trug keine Gesichtsmaske wie die anderen Caer-Priester. Sein pechschwarzes Haar war lang und klebte fettig aneinander. Die Augenbrauen waren dicht zusammengezogen. Dies war Drundyr, jener Caer-Priester, der im Kampf um die Stadt Elvinon Mythor, Nyala von Elvinon und deren Vater, den Herzog Krude, gefangengenommen hatte. Nur Mythor hatte ihm entkommen können, nachdem er auf der Goldenen Galeere jenen Verrat an Herzog Krude begangen hatte, der seither wie ein Fluch auf ihm lastete. Neben Drundyr stand Nyala. Kaum etwas an ihr erinnerte jetzt noch an die junge Herzogstochter, die sich nach dem Untergang der Nomadenstadt Churkuuhl um Mythor gekümmert und deren Liebe zu ihm sich nun in Haß verwandelt hatte. Sie war Drundyr hörig geworden und stand nun völlig unter seinem finsteren Einfluß. Und Drundyr genoß es, sich mit dieser in ihrer Besessenheit immer noch schönen Frau an seiner Seite zu zeigen. Nyalas Augen waren blicklos in die Ferne gerichtet, als das Schiff mit den einhundertfünfzig Caer-Kriegern an Bord anlegte, die unter Drundyrs Befehl standen. Drundyr lächelte, als er den Blick von den verlassenen Schiffen und Hafenstraßen abwandte und Nyala ansah. Es war wie das Lächeln des Todes und ebenso gespielt wie die Zuvorkommenheit, mit der er Nyala anredete. Drundyr stand völlig unter der Kontrolle des Dämons, der in ihm saß. Jede nur halbwegs menschliche Gefühlsregung war genau kalkuliert. »Sorgen, meine Schöne?« fragte Drundyr. »Wegen der Stadt?« »Es ist nicht wegen der Stadt«, sagte Nyala kaum hörbar, ohne den Priester anzusehen. »Dann sorgst du dich um deinen Vater?« Drundyr lachte un-
terdrückt. »Du weißt, daß er in guten Händen ist. Unsere Priester behandeln ihn mit aller gebotenen Sorgfalt.« Drundyrs Lächeln gefror. »Und in Caer ist er sicherer als an irgendeinem Ort der Lichtwelt.« Das Wort »Lichtwelt« kam verächtlich über seine dünnen Lippen, geradeso, als ob er sagen wolle: »… in der NochLichtwelt…« Denn die Mächte der Dunkelheit waren auf dem Vormarsch, und nichts sollte diesen Vormarsch aufhalten. Drundyr war hier, um Lockwergen zu untersuchen und herauszufinden, was bei dem gewaltigsten Einsatz von Magie in der Geschichte der Welt nicht nach Plan gelaufen war. Drudin selbst hatte ihn mit dem Auftrag hierhergeschickt, einen genauen Bericht abzugeben, vor allem über die bei dem Vorgang ebenfalls verschwundenen Caer-Priester. Nur Drudin wußte, was hier wirklich geschehen war. Und selbst Drundyr erschauerte leicht, als er nun das entseelte Lockwergen vor sich sah. Doch der Dämon in ihm trieb ihn voran. Er mußte herausfinden, was nicht nach Wunsch gelaufen war, um beim nächsten Mal – falls es ein nächstes Mal gab, da Drudin alle weiteren Versuche mit dieser geheimnisvollen magischen Waffe untersagt hatte – mehr Erfolg zu haben. Drundyr kreischte mit seiner unangenehm hohen Stimme Befehle. Die Krieger versammelten sich an Deck und machten sich bereit, an Land zu gehen. Nyala von Elvinon fühlte sich zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Ihre unfreiwillige Zuneigung zum Caer-Priester wurde immer wieder für kurze Zeit von Momenten der Unschlüssigkeit und des Unbehagens unterbrochen. Ein solches Unbehagen beschlich sie jetzt, als sie sah, wie die
Krieger die letzten Vorbereitungen trafen und Drundyr sie wie die gestaltgewordene Finsternis lenkte. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater. War Herzog Krude in Caer wirklich am rechten Ort? War das, was die CaerPriester mit und aus ihm machten, recht? Wieder sah sie sich mit ihm und Drundyr an Bord der Goldenen Galeere, jenes geheimnisumwitterten Schiffes, das nun wieder allein rastlos über die Meere zog, mit dem Prinzen Nigomir und seiner schrecklichen Besatzung an Bord, nachdem es Drundyr gelungen war, ihn dazu zu bringen, sie, ihren Vater und ihn an der Küste des Inselteils von Tainnia abzusetzen. Es war ihr, als versinke sie in bodenlose Schwärze, immer tiefer und immer weiter weg vom Licht der Welt. Als Drundyr wieder zu ihr sprach, verflogen diese Gedanken, alle Zweifel und alles Unbehagen. Sie fühlte sich wieder unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Er verkörperte die Macht. Er war ihr Herr. Ihm allein gehörte sie, wollte sie gehören. Die Caer verließen das Schiff und strömten in die Hafenstraßen. Drundyr nahm Nyalas Hand. »Komm!« sagte er. Nyala folgte ihm. Die Untersuchung von Lockwergen durch die Caer-Truppe begann. Und irgendwo im Norden befanden sich vier Kampfgefährten auf dem Weg in die Geisterstadt, ohne auch nur ahnen zu können, wer sich nun in ihr breitmachte. Mythors düstere Vorahnung hatte ihn auch diesmal nicht getrogen. Der Zusammenstoß erschien unvermeidlich. Und noch hatte Drundyr Zeit. Die Aktivitäten der Caer beschränkten sich nicht allein auf die Durchsuchung der Stadt. Einige von ihnen trugen eine gut verhüllte Statue – die Statue des Dämons Corchwll. Nyala wußte nicht, was Drundyr mit ihr bezweckte. Sie wußte nur, daß die Statue auf dem Marktplatz der Stadt aufgestellt werden sollte und daß irgend
etwas geschehen würde, wenn sie enthüllt wurde. Irgend etwas in der langen Reihe der Schrecken, die Nyala kennengelernt hatte. Sie fürchtete sich nicht davor, denn was es auch war – Drundyr war Herr darüber. An seiner Seite betrat sie die Stadt.
Horst Hoffmann
DER WOLFSMANN Caer! Der Anblick war ein Schock. Er ließ den Atem der Gefährten stocken. Caer in Lockwergen! In der Stadt ohne Leben! Noch hatten sie sie nicht gesehen. Mythor griff nach Kalathees Arm und zog sie schnell mit sich in den Schatten eines Hauseingangs. Nottr und Steinmann Sadagar hatten sich mit dem Rücken an die grauen Backsteine gepreßt und folgten ihnen lautlos. »Wir hätten einen Bogen um die Stadt machen sollen«, knurrte Nottr. Der Barbar aus den Wildländern schob den Kopf so weit vor, daß er die drei aus der Seitenstraße gekommenen Krieger gerade noch sehen konnte. »Wir hätten es wissen müssen. Erst haben sie die Stadt entseelt, und nun sind sie hier, um sie für sich in Besitz zu nehmen. Laß uns verschwinden, Mythor! Gegen eine Caer-Armee sind wir machtlos.« Mythor schwieg. Er dachte an die finsteren Vorahnungen auf dem Weg hierher. Er hatte gespürt, daß irgend etwas auf ihn zukommen würde, so, wie er vor der Ankunft in Lockwergen gespürt hatte, daß sie etwas Schreckliches, nicht Greifbares in der Hauptstadt Yortomens erwartete. Was immer auch während ihrer Abwesenheit in Lockwergen geschehen war, er konnte sich nicht vorstellen, daß lediglich eine Caer-Armee erschienen war, um die wehrlose Stadt zu besetzen. Es mußte mehr dahinterstecken. Wo Schiffe der Caer landeten, war zumeist auch einer ihrer Priester in der Nähe. Sie befanden sich in den nördlichen Außenbezirken der Hafenstadt. Am Hafen und im Zentrum mochte es von Caer wimmeln.
Kalathee schmiegte sich schutzsuchend an Mythor. Sadagar hatte die Hände am Gürtel, in dem die Messer steckten. Der Steinmann blickte Mythor fragend an. Auch ihm war anzusehen, daß sich alles in ihm dagegen sträubte, sich noch einmal in der verlassenen Stadt umzusehen. »Der Weg zu Althars Wolkenhorst führt nicht durch Lockwergen, Mythor«, erinnerte er den Freund. »Drudins Magie«, sagte Mythor wie zu sich selbst. »Es wäre gut zu wissen, was hier vorgeht.« »Du meinst, daß die Caer in Drudins Auftrag hier sind?« fragte Nottr leise. Die drei Krieger kamen langsam, einen Blick in jedes verlassene Haus werfend, die Straße herauf, die vom Stadtrand schnurgerade zum großen Marktplatz führte. Offensichtlich hatten sie den Auftrag, jeden Winkel der Stadt abzusuchen. »Daß der Oberschurke vielleicht selbst in Lockwergen steckt?« In Nottrs Blick wechselte Angst mit Unternehmungslust. Drudin! Überall begegneten sie diesem Namen. Drudin war der höchste Priester in Caer, der Schlachtenlenker aus dem Hintergrund, der Statthalter der finsteren Mächte aus der Dunkelzone in der Welt des Lichts. Mythor schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Nottr. Es würde nicht zu ihm passen. Aber es war zu erwarten, daß früher oder später Caer hier auftauchen würden, um sich von dem zu überzeugen, was sie mit ihrer magischen Waffe erreicht haben. Vielleicht war die Entseelung der Stadt nur das Vorspiel zu etwas anderem.« Mythor spähte über Nottrs Kopf hinweg vorsichtig auf die Straße hinaus. Die Krieger waren nur noch einige Häuser entfernt und kamen näher. Immer verschwand einer von ihnen für einige Minuten in einem der verlassenen Gebäude, während die anderen die Straße im Auge behielten. »Wir müssen wissen, was hier geschieht.«
Sadagar seufzte. Nottr fluchte unterdrückt. »Bitte nicht, Mythor«, flehte Kalathee. »Laß uns fliehen, solange noch Zeit ist!« »Wir haben die Zeit nicht mehr«, antwortete der dunkelhaarige junge Mann scheinbar ruhig. »Wir können nicht mehr auf die Straße, ohne von ihnen gesehen zu werden. Und gleich sind sie hier.« »Ich könnte…«, begann Nottr, doch Mythor winkte ab. Immer noch litt der Lorvaner unter seinem schändlichen Verrat an den Gefährten. Er würde sich für sie opfern, um wiedergutzumachen, was er getan hatte – vielleicht auch, um Kalathee endgültig vergessen zu können. »Hör auf damit, Nottr«, flüsterte Mythor. »Niemandem wäre damit gedient, wenn wir dich verlören. Vergiß endlich, was in den Bergen geschah.« Er bedeutete den Freunden zu schweigen. Das nächste Haus. Die Caer kamen weiter heran. Ihre Schritte waren das einzige Geräusch in der Geisterstadt. Keine Stimmen, keine Rufe. Die anderen Caer-Trupps mußten weit weg sein. Die Gefährten wären ihnen ahnungslos in die Arme gelaufen, hätten sie die drei Krieger nicht rechtzeitig gesehen, die ebensowenig wie sie in die Stadt paßten. Alles, was lebte, war ein Fremdkörper in dieser Insel des Schweigens. Mythor wandte sich an Sadagar. »Du hast lange nicht mehr gezaubert, wie du das nennst. Kannst du die drei Caer mit einem Trick in den Hausflur locken?« »Ich habe lange nicht mehr gezaubert, wie du das nennst«, flüsterte Sadagar, nicht gerade begeistert von Mythors Vorschlag. »Nur ein paar plumpe Tricks, um sie fürs erste zu verwirren, so daß sie nicht gleich nach den anderen schreien. Wir verstecken uns hier und überwältigen sie, wenn du Hilfe brauchst.« Lächelnd fügte Mythor hinzu: »Wir passen schon auf, daß dir
nichts passiert.« Sadagar verstand. Und die Aussicht darauf, ein paar stolze Caer narren zu können, ließ ihn zaghaft nicken. »Allerdings könnten sie mich erkennen.« Er blickte an seiner Kleidung hinab. »Nicht viele Männer laufen so herum wie ich.« »Ich sagte doch, daß wir aufpassen. Beschwöre den Kleinen Nadomir, sage ihnen, daß du ihre Zukunft voraussagen kannst, was weiß ich. Die Caer sind empfänglich für Magie.« Und können bestimmt besser als alle anderen zwischen echter und falscher Magie unterscheiden, las er in Sadagars Blick. Doch wieder nickte der Steinmann. »Fahrna, wie sehr fehlst du mir«, seufzte er halblaut. Er grinste gequält. »Ich will’s versuchen, aber versprechen kann ich nichts.« »Das erwartet niemand«, sagte Mythor. Der Steinmann holte tief Luft, rückte sich die Samtjacke zurecht und holte einen kleinen Beutel aus seiner Innentasche, den er im Ärmel verschwinden ließ. Dann trat er aus dem Schatten des Eingangs. Die Caer sahen ihn sofort. Einen Augenblick standen sie wie erstarrt da, dann fuhren ihre Arme mit den Schwertern in die Höhe. Einer von ihnen drehte sich um und legte die Hände an den Mund, wie um etwas zu brüllen. Sadagar rief schnell: »Haltet ein, stolze Krieger von Caer! Es ist eine Fügung der Götter, daß ich euch fand, bevor die Geister, die ihr heraufbeschworen habt, auch euch verschlingen konnten!« Der mit den Händen am Mund drehte sich langsam um. Die beiden anderen waren mit schnellen Schritten bei Sadagar und bedrohten ihn mit den Schwertern. Sadagar zwang sich dazu, sich nicht umzudrehen, um sich zu vergewissern, daß die Gefährten ihm Rückendeckung ga-
ben. Er hätte sie nicht sehen können – allenfalls verraten. Er mußte dies allein durchstehen. Unmerklich bewegte er die Finger der linken Hand. Eine schwarze Rauchwolke schien ihn im nächsten Augenblick einzuhüllen. Die Caer wichen einen Schritt zurück. Ihre Mienen waren unverändert finster, als der Spuk vorbei war. Andere wären bei dem kleinen Schauspiel in alle Winde davongerannt. Sie nicht. Wieder sah Sadagar die Spitzen der Schwerter auf sich gerichtet. Zwei Caer standen neben, der dritte vor ihm. »Wer bist du?« fragte der Krieger. »Wie kommst du in die Geisterstadt? Du bist nicht von hier!« »Wahrlich, das bin ich nicht«, antwortete Sadagar mit gekünstelt klingender Stimme. Seine Hände hoben sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen, und mit ausgestreckten Fingern beschrieb er Kreise in der Luft, von denen er hoffte, daß sie magisch wirkten. »Der Kleine Nadomir führte mich in diese Stadt, und nun weiß ich, daß es richtig war, auf ihn zu hören. Ihr befindet euch in großer Gefahr. Ihr und eure Kameraden.« Sadagar zwang sich dazu, die Schwerter zu mißachten, und blickte in den klaren Himmel. Er zitterte leicht und hoffte inbrünstig, die Caer merkten ihm nichts an. Wenn sie nur nicht nach Verstärkung schrien! »Der… was?« fragte der Mann vor ihm ungehalten. »Wenn du versuchst, uns zum Narren zu halten, dann…« »Er sagte mir, daß ihr mit einem Schiff gekommen seid, um zu sehen, ob die magische Waffe des großen Drudin Erfolg hatte. Er sagte mir, daß Drudin euch schickte. Er sagte mir, daß…« Sadagar zuckte zusammen und riß die Augen weit auf, als ob das, was nur er am Himmel sehen konnte, ihm gerade eine schreckliche Eröffnung gemacht habe. Unwillkürlich blickten zwei der Krieger ebenfalls zum
Himmel auf. Natürlich war da nichts zu entdecken. »Hör zu!« begann der Caer wieder, doch erneut unterbrach Sadagar ihn. Er stieß einen unterdrückten Schrei des Entsetzens aus. »Es ist näher, als ich glaubte! Ihr müßt eure Kameraden warnen! Euch bleibt nicht viel Zeit! Nadomir, zeige mir die Zukunft! Öffne das magische Tor!« Bei diesen letzten Worten hatte Sadagar die Handflächen so gedreht, als wolle er irgend etwas auffangen, was im nächsten Augenblick vom Himmel fallen sollte. Nur halb befriedigt registrierte er, daß die Caer nun doch unsicher wurden. »Er spielt uns etwas vor!« knurrte einer von ihnen. »Packt ihn! Wir bringen ihn zu Drundyr. Der wird wissen, was wir mit ihm anzufangen haben. Wenn es eine Gefahr für uns gibt, weiß Drundyr davon!« Drundyr! Aus den Augenwinkeln heraus sah Sadagar, daß die beiden neben ihm zögerten, der Aufforderung nachzukommen. Drundyr! Mythor hatte oft von diesem Caer-Priester erzählt, der Nyala von Elvinon in seine Gewalt gebracht hatte. Drundyr, der erste dämonenbeseelte Caer-Priester, mit dem Mythor es nach dem Untergang der Nomadenstadt zu tun bekommen hatte. Jetzt mußte Sadagar die Caer zu Mythor bringen. »Auch Drundyr muß gewarnt werden«, sagte er beschwörend. »Der Kleine Nadomir sagt mir, daß auch er ahnungslos ist.« Sadagar gab einen Schuß ins Blaue ab, denn bisher waren es nur Gerüchte, die darauf hinwiesen, daß bei der Entseelung Lockwergens auch die Caer-Priester verschwunden waren, die in Drudins Auftrag das Verhängnis über die Stadt gebracht hatten. »Drundyr ist ebenso ahnungslos wie eure verschwundenen Priester.« Das wirkte. Die Caer hatten immer noch die Schwerter auf ihn gerichtet, aber ihre Arme schienen ihnen nicht mehr zu gehören. Sie
starrten in den Himmel, dann wieder auf ihn. »Welche Gefahr ist es, in der wir schweben?« fragte der Mann vor ihm. »Es ist… Ich kann es noch nicht sehen.« Wieder hob Sadagar beschwörend die Hände, und wieder fuhr eine dunkle Wolke aus seinem Ärmel, was für die Caer so aussah, als entstünde sie aus dem Nichts. »Ich brauchte zusätzliche magische Werkzeuge, um das Tor in die Zukunft zu öffnen«, verkündete der Steinmann geheimnisvoll. Die Angst war fast verflogen. Sadagar registrierte befriedigt, daß die Caer ihn nun fast ehrfürchtig ansahen, wenngleich sie noch zweifelten. Es begann ihm immer mehr Spaß zu machen, diese Krieger an der Nase herumzuführen. »Ich muß zurück in dieses Haus«, sagte er und deutete auf den Eingang, aus dem er gekommen war. »Bevor ich euch bitte, mich zum mächtigen Drundyr zu führen, muß ich einen Blick in die Zukunft getan haben. Und ich sage euch, ihr werdet eure Zukunft kennen, noch ehe wir das Haus wieder verlassen haben, das mir als Unterschlupf diente, bevor ich euch kommen sah.« »Wir kommen mit!« sagte der Sprecher der Caer. Natürlich, dachte Sadagar. Das sollt ihr ja! Dennoch war er von den Schwertern, die sich jetzt wieder leicht in seine verzierte Samtjacke bohrten, unangenehm berührt. Die Caer blieben mißtrauisch. Vielleicht spielten sie mit ihm und wollten sich nur noch vergewissern, was er versteckt hatte, bevor sie ihn zu Drundyr brachten. Aber was allein zählte, war, daß sie noch keine Verstärkung herbeigerufen hatten. Er wurde nicht schlau aus ihnen. Hoffentlich hatten Mythor und Nottr sich gut überlegt, was sie tun wollten. Die Schwerter der Caer waren ihm näher als die Fäuste der Freunde den Kriegern.
Sadagar mußte vor dem Hauseingang warten. Der Wortführer der drei betrat vor ihm den Korridor und warf Blicke in die angrenzenden Räume. Sadagar begann zu schwitzen. Endlich kam er zurück und winkte mit dem Schwert. Sadagar ließ sich in der Mitte des Korridors auf die Knie nieder und berührte den Boden mit gespreizten Fingern. »Nun hole deine magischen Instrumente!« befahl der Wortführer. Sadagar spürte die Schwertspitzen auf den Rippen. Er war mit seiner Zauberei am Ende. Wo waren die Freunde? »Kleiner Nadomir«, begann er gedehnt zu sprechen. »Nun öffne das magische Tor zur Zukunft und zeige mir…« »Wo sind deine Instrumente?« hörte er die barsche Stimme des Caer. »Stört mich jetzt nicht, ihr Narren!« fuhr Sadagar auf. »Sie sind unsichtbar für eure Augen!« Mit beiden Händen formte er nun Kreise in der Luft und tat so, als ließe er sie an verborgenen Kästchen entlanggleiten. »Kleiner Nadomir! Vor den Augen dieser Ungläubigen lasse deine Kräfte in mich überströmen und zeige dich durch mich! Ihr mächtigen Geister, zeigt euch!« Keine Reaktion. Nichts geschah. Nur Sadagars Hände streichelten liebevoll die Luft. Die Caer wurden ungeduldig. »Du hast keine magischen Instrumente!« herrschte der Wortführer ihn an. Mit seinem Schwert teilte er die Luft zwischen Sadagars Händen. »Ha! Wenn du unsichtbare Instrumente hast, dann hebe sie auf und nimm sie mit! Steh auf, Alter!« »Wartet!« schrie Sadagar verzweifelt. Noch lauter rief er: »So zeigt euch endlich, ihr Geister!« Der Caer stieß einen Fluch aus und packte ihn im Nacken. Sadagar schwitzte Blut und Wasser, strampelte und trat. Die Caer lachten schallend und hoben ihn zu dritt in die Luft. »Ihr Geister!« schrie Sadagar. »Bei Godh und Erain, kommt
schon!« Und sie kamen. Fast hätte Sadagar sie und sich zu früh verraten, als er Mythor und Nottr am Ende des Korridors auftauchen sah. Im letzten Moment besann er sich und trat, kratzte und spuckte, lenkte die ganze Aufmerksamkeit der Caer auf sich, bis die Gefährten nahe genug heran waren. »Wir sind hier, großer Magier!« dröhnte Nottrs Stimme. Die Caer ließen Sadagar los, so daß er unsanft auf seinem verlängerten Rücken landete, und fuhren herum. Sie sahen zwei Fäuste heranschießen. Mythor und Nottr betäubten jeweils einen der Krieger. Der dritte stand hinter Sadagar und wollte auf die Straße hinauslaufen. Sadagar bildete eine Beinschere und brachte ihn zu Fall. Mythor schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Gut gemacht, Steinmann.« »Ihr hättet auch früher kommen können«, beklagte sich Sadagar und rieb sich den Rücken. Mythor war bereits dabei, den Caer in die Höhe zu zerren, der ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Er hielt ihn am Kragen der Fellweste gepackt und schüttelte ihn. »Wo ist Drundyr?« fragte er mit einer Stimme, die Sadagar und Nottr erschauern ließ. »Wo ist Drundyr, und was wollt ihr in Lockwergen? Was habt ihr mit der Stadt gemacht?« Der Caer preßte die Lippen aufeinander. Er versuchte, Mythors flammendem Blick standzuhalten, dann schlug er die Augen nieder. »Ich werde ihn zum Reden bringen!« knurrte Nottr und riß sein Krummschwert heraus. »Überlaß ihn mir, Mythor!« »Nein, Nottr. Wir wären nicht besser als sie, wenn wir ihn foltern würden. Er wird nichts sagen. Sieh in seine Augen.« Aus ihnen sprach grenzenlose Angst, und es war nicht die Angst vor den Männern, die ihn gefangen hatten. Es war nicht
die Angst vor dem Tod. Der Caer fürchtete Schlimmeres: Drundyrs Strafe für einen Verrat. »Er wird nichts sagen«, wiederholte Mythor. So schnell, daß der Krieger seine Hand nicht kommen sah, schlug er ihm die Faust gegen die Schläfe und legte ihn auf den harten Steinboden. »Drundyr kann nur im Hafen oder im Zentrum der Stadt sein«, sagte er, »auf dem Marktplatz. Wir kennen das Gelände und werden uns heranpirschen. Wir fesseln diese drei.« Mythor nahm das Seil, das er um seine Schulter gewickelt getragen hatte, und ließ es von Nottr in drei Stücke schneiden. Er hatte es mit sich genommen, nachdem sie ihre Reittiere zurücklassen mußten, weil sie keinen Meter weit in die Stadt hineinzubewegen gewesen waren. Die Tiere hatten das Fremde gespürt, das von den leeren Häusern und Straßen ausging, das noch immer wie eine stumme Drohung über Lockwergen hing. Nottr, Sadagar und Mythor fesselten die Caer und knebelten sie mit Stoffetzen, die sie aus einem der vielen Kleider gerissen hatten, die unberührt in den Schränken der prachtvoll eingerichteten Zimmer hingen. Unberührt wie alles, was den Bürgern der Hauptstadt gehört hatte und nur darauf zu warten schien, daß die Besitzer zurückkämen. »Kalathee!« rief Mythor. Das zierliche, hellhaarige Mädchen kam eine Treppe herunter. Unsicher sah sie sich um und machte einen Bogen um die Caer. Die Gefährten sahen sich einen Augenblick schweigend an. Dann gab Mythor das Zeichen zum Aufbruch. Er überlegte, ob er Kalathee und Nottr in einem Versteck zurücklassen und mit Sadagar allein zum Zentrum gehen sollte. Aber egal, wo sie sich verschanzten, Caer-Truppen konnten sie überall finden. Solange sie in Lockwergen waren, war Kalathee nirgendwo
außer Gefahr, und wenn es zum Kampf kam, mußten die Gefährten Zusammensein. Vorsichtig traten sie auf die Straße hinaus. Vor jeder Seitenstraße warteten sie und überzeugten sich davon, daß keine Caer aus ihnen kommen konnten. Mythor hatte nur noch einen Gedanken: Drundyr in Lockwergen! Der Mann, der Nyala in seine dämonische Gewalt gebracht hatte und indirekt dafür verantwortlich war, daß ihr Vater, Herzog Krude von Elvinon, seine Lebenskraft an die Seelenlosen auf der Goldenen Galeere verloren hatte. Mythor unterdrückte die aufkeimende Hoffnung, Nyala in Lockwergen wiederzusehen. Was sie getan hatte, konnte er ihr nicht zum Vorwurf machen. Letztlich war er es gewesen, der sie durch seinen unseligen Handel mit Prinz Nigomir in Drundyrs Klauen getrieben hatte. Aber die Gefühle, die er ihr entgegengebracht hatte, waren erloschen. Drundyrs Hiersein konnte nur mit der Magie Drudins in Zusammenhang stehen. Mythor bot sich die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wenn es ihm gelang, an Drundyr heranzukommen. Über die Schwierigkeiten dieses Unterfangens machte er sich keine Illusionen. Es war fast unmöglich. Vielleicht erfuhr er etwas über das Schicksal des Herzogs und seiner Tochter und gleichzeitig, was die Caer mit Lockwergen gemacht hatten oder noch planten. Als die Gefährten den Marktplatz fast erreicht hatten, hörten sie das Geschrei vieler Krieger. Es war fast eine Art Gesang, der nichts Gutes verhieß. Einige Male hatten sie sich vor CaerTrupps verstecken müssen. Nun deutete Mythor mit dem Gläsernen Schwert auf ein Haus, das um einige Stockwerke höher war als die umliegenden. »Von dort oben haben wir freie Sicht auf den Marktplatz«, sagte er. Sie betraten es.
Mythor hatte sich in der letzten halben Stunde alles mögliche in Gedanken zurechtgelegt und geglaubt, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Als er nun aus einem Fenster des obersten Geschosses blickte, glaubte er, sein Herz müsse stehenbleiben. Was er sah, jagte ihm einen eisigen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Nottr fluchte unterdrückt, und Kalathee stieß einen heiseren Schrei aus. Und doch war das, was die vier mit ansehen mußten, nur das Vorspiel zu etwas viel Grauenvollerem. Während Mythor fassungslos auf den Marktplatz starrte und das, was sich seinen Augen bot, zu erfassen versuchte, näherte es sich der Stadt auf leisen Sohlen. Doch Mythor hatte jetzt nur Augen für den hageren, schwarzgekleideten Mann in der Mitte des Platzes, für die Frau an seiner Seite und die Statue, die er in der beginnenden Dämmerung nur undeutlich erkennen konnte. * Die Statue war noch verhüllt. Die Krieger, die sie vom Schiff aus ins Zentrum der Stadt getragen hatten, warteten schweigend neben ihr auf das Zeichen ihres Priesters. Drundyr stand groß und hager vor einem Altar, den andere Caer an Land gebracht hatten. Tief eingefallene, finstere Augen blickten unter dem bemalten und mit Tierknochen verzierten Helm hervor. Schwarz war der Mantel, schwarz waren die Stiefel und Handschuhe, schwarz die ganze Erscheinung. Nur das Gesicht wirkte wie aus Glas. Über das Kinn und die spitz hervortretenden Wangenknochen spannte sich keine Haut wie bei anderen Menschen. Es war eine Schicht wie aus altem Pergament, eingerahmt von langem, schwarzem, fettig aneinanderklebendem Haar. Drundyr trug im Gegensatz zu den anderen Caer-Priestern keine Gesichtsmaske.
Neben ihm stand Nyala von Elvinon mit geistesabwesend wirkendem Blick. Die hochgewachsene, üppige Tochter Herzog Krudes von Elvinon trug nun Caer-Kleidung, einen kurzen Waffenrock und eine knappe Fellbluse. Das lange schwarze Haar hing lose über ihre Schultern. Kaum etwas erinnerte noch an das stolze, leidenschaftliche Mädchen, das Mythor ins Schloß seines Vaters gebracht und das ihm den Weg gewiesen hatte, der fortan sein Leben bestimmen sollte. Nyala befand sich völlig im Bann des Caer-Priesters und damit im Bann dessen Dämons. Sie hatte dieses Schicksal selbst gewählt, nachdem ihre Liebe zu Mythor sich in Haß verwandelt hatte, als sie von Mythors Verrat an ihrem Vater erfuhr. Auf eine gewisse Art war sie immer noch schön, obwohl sie dunkle Ringe um die Augen und kein Blut mehr in ihren einstmals vollen und leidenschaftlichen Lippen hatte. Ihr schönes Gesicht war eingefallen und aschfahl geworden. Nyala gehörte zu Drundyr. Sie war gefesselt von ihm, und Drundyr genoß es, sich mit ihr an seiner Seite zu zeigen. Wo immer er auftrat, war sie bei ihm. Nur manchmal schien es so, als trüge sie tief in ihrem Inneren einen Kampf mit sich aus, als wolle der Funke, der noch von der alten Nyala in ihr war, an die Oberfläche brechen und sie dem Bann entreißen. Es begann zu dämmern. Drundyr hob den Kopf etwas und sah zum Himmel auf. Dann betrachtete er wieder gedankenversunken die verlassenen Häuser um den großen Marktplatz herum. Es herrschte jetzt völlige Stille. Die Krieger sangen nicht mehr. Aller Augen waren auf Drundyr gerichtet. Der Priester blickte noch einmal zu den Häuserruinen hinüber und fragte sich zum wiederholten Mal, wer dort einen Brand gelegt habe. Vor einem Gasthaus hatten seine Krieger die Leichen von Männern und Frauen gefunden, die offensichtlich als Plünderer in die verlassene Stadt gekommen waren. Wer hatte sie getötet?
Es war Drundyrs Aufgabe, herauszufinden, was sich in Lockwergen ereignet hatte, warum auch die Caer verschwunden waren, die in Drudins Auftrag die magische Waffe gegen die Bewohner der Stadt eingesetzt hatten, deren Wirkung so furchtbar gewesen war, daß Drudin selbst ihre weitere Anwendung vorerst untersagt hatte, bis die unvorhergesehenen Auswirkungen studiert und unter Kontrolle waren. Und Drundyr hatte auch dafür zu sorgen, daß sich das, was sich vor seiner Ankunft hier ereignet hatte, nicht wiederholen konnte. Niemand mehr sollte die Stadt, die nun Caer gehörte, betreten können. Er blickte Nyala an und sagte mit seiner unangenehm hellen Stimme: »In wenigen Minuten wird es ganz dunkel sein, Nyala. Dann ist Corchwlls Stunde da.« Sie nickte wie geistesabwesend. Ihre Augen waren blicklos auf die noch verhüllte, drei Meter große Statue gerichtet. »Wer ist Corchwll?« fragte sie zum wiederholten Mal. Und diesmal antwortete Drundyr: »Ein Dämon aus der Dunkelzone, der fortan über Lockwergen wachen wird. Warte ab, schöne Nyala. Du wirst ihn sehen, wenn seine Zeit gekommen ist.« Irgend etwas daran, wie Drundyr die Worte betonte, störte sie. Doch sie stellte keine weiteren Fragen und wartete an der Seite des Priesters, bis die Dunkelheit sich ganz über Lockwergen gesenkt hatte. Die Häuser verhinderten, daß weit im Süden jenes weißliche Glühen am Himmel zu sehen war, das das Ende der Welt markierte. Nur die Pechfackeln der Krieger, die um Drundyr und Nyala, die Statue und die neben ihr wartenden Caer einen Kreis bildeten, spendeten Licht. Die verlassenen Häuser und Straßen wirkten jetzt noch unheimlicher. Sie waren Schatten mit schwarzen Augen. Tausende von Augen, die die Caer und Nyala anklagend anstarrten,
als seien die Seelen der Verschwundenen in den rechteckigen Löchern der Fenster erschienen. Nyala fröstelte. Unwillkürlich schob sie sich noch näher an Drundyr heran – in den Schutz der Macht, die er verkörperte. Drundyr hob beide Hände. Wie schwarze Klauen waren sie dem Himmel entgegengestreckt. Eine Weile schien der Priester in sich zu gehen, Kraft aus dem Dämon zu schöpfen, der ihn beherrschte. Dann rief er schrill, ohne die Hände zu senken: »Nun enthüllt die Statue Corchwlls!« Die Krieger erwachten zum Leben. Kräftige Arme packten Seile und rissen mit ihnen die schwarzen Tücher herunter, die die Statue verhüllten. Ein Kopf wurde sichtbar, doch nicht der Kopf eines menschlichen oder menschenähnlichen Wesens. Nyala stieß einen erstickten Laut aus. Die letzten Tücher wurden heruntergerissen. Zu dem Kopf eines Wolfes gehörte der mißgestaltete Körper eines kräftigen Mannes, klobig und raubtierhaft. Was Nyala für Augenblicke so entsetzte, war, daß es sich nicht um einen Wolfskopf handelte, der lediglich einem menschlichen Körper aufgepfropft war. Der Kopf gehörte zum Körper, bildete mit ihm eine Einheit, abgerundet in seiner Häßlichkeit. Die Statue des Corchwll zeigte einen Tiermenschen. Nur für Sekunden fühlte Nyala sich abgestoßen. Dann gewann der Anblick etwas Faszinierendes für sie. Das Abbild eines Wesens aus den Tiefen der Finsternis. Nyala ließ den Eindruck auf sich wirken und spürte die bösartigen Impulse, die von der Statue ausgingen. Jeder spürte sie. Die Caer zogen sich von der Statue zurück und reihten sich in den Kreis um sie, den Priester und Nyala ein. Das Schweigen wurde noch vollkommener. Es schien, daß die Krieger selbst das Atmen fürchteten. Dunkel und in ihrer Monstrosität erhaben, stand die Statue des Dämons auf dem Marktplatz der Geisterstadt. Drundyr
verließ seinen Platz vor dem Altar und ging langsam, mit weit von sich gestreckten Armen auf sie zu. Nyala folgte ihm wie in Trance. In ihren Händen befanden sich einige der magischen Werkzeuge, die eben noch auf dem Altar gelegen hatten. Sie blieb vor der Statue stehen, als Drundyr diese umrundete und magische Formeln sprach. Er warf Asche vor Corchwlls Abbild auf den Boden. Drundyr kam zu Nyala zurück und tauchte den Zeigefinger der rechten Hand in ein kleines Gefäß mit blutroter Farbe, das sie ihm reichte. Vielleicht war es auch echtes Blut, Menschenblut, Nyala wußte es nicht. Sie hatte nur Augen für das, was Drundyr tat, und dieser löste den Blick nicht mehr von der Statue. Mit dem Zeigefinger fuhr er an überall in das schwarze Holz geritzten und geschnittenen magischen Symbolen entlang, unaufhörlich vor sich hin murmelnd. Immer wieder mußte Nyala ihm das Gefäß hinhalten, bis er mit diesem Teil der Prozedur fertig war. Dann stand er wieder schweigend und mit gesenktem Kopf vor dem Standbild, um neue Kraft aus dem Dämon in sich zu schöpfen. Er begann einen seltsamen Singsang, und die Stimme, die aus seiner Kehle kam, schien nicht mehr seine eigene zu sein. Sie war dunkel und eindringlicher, als Drundyrs Stimme jemals gewesen war. Nyala reichte ihm, was er brauchte. Sie tat es gerade so, als hätte sie ihm zeit ihres Lebens als Handreicherin gedient. Drundyr legte Tierknochen – oder die von Menschen? – in einem Halbkreis vor der Statue auf den Boden. Wieder stand er hoch aufgerichtet davor und hob die Arme zum Himmel. Seine Finger wurden zu Krallen, die in die Dunkelheit griffen und sie herabzuziehen schienen. Und tatsächlich wurde das Licht der Fackeln in den Händen der Krieger schwächer. Einige flackerten und erloschen. Die
Dunkelheit verschluckte alles. Drundyr, Corchwll, Nyala und der Altar wurden den Blicken der Krieger durch schwarze Rauchschwaden entrückt, die direkt aus dem Boden aufstiegen und sie einhüllten. Nur der Kopf des Dämons war jetzt noch sichtbar. Die schwarze Wolke erreichte auch ihn, als sie sich langsam hob. Drundyr und Nyala wurden wieder sichtbar, nur der Wolfskopf blieb nun hinter ihr verborgen. Bis er rot zu glühen begann! »Erwache, mächtiger Corchwll!« war Drundyrs helle Stimme bis weit in die verlassenen Straßen der Stadt hinein zu hören. »Erwache und leihe deine Kraft denen, die dir dienen sollen! Steig auf aus der Finsternis und lebe! Lebe!« Vollkommene Stille. Drundyr nahm Nyalas Hand und ging mit ihr zum Altar zurück, das Gesicht dem rotglühenden Wolfskopf zugewandt. Durch die Wolke, die jetzt wie dichter Nebel um ihn war, wirkte er noch monströser, noch größer und gewaltiger. Und die bösartigen Impulse wurden stärker. Das, was von der Statue ausging, drang in die Gehirne der Caer, ließ sie selbst zu Statuen werden, brannte jeden inneren Widerstand gnadenlos aus. Niemand wagte zu sprechen. Drundyr und Nyala standen völlig still hinter dem Altar und schienen auf etwas zu warten. »Erwache, mächtiger Corchwll!« wiederholte Drundyr schließlich seine Beschwörung. »Steig aus der Finsternis und lebe!« Und jetzt erhielt er eine Antwort. Plötzlich ertönte aus der Ferne gespenstisches Geheul und Gejaule. Die Körper der Caer zuckten, doch das, was ihre Gehirne umklammert hielt, ließ sie nicht los. Wie Marionetten drehten sie sich und starrten blicklos in die Nacht. Das Geheul schwoll an. Es mußte aus Dutzenden von Kehlen kommen. Es näherte sich, steigerte sich zu einem einzigen
langgezogenen, durchdringenden Ton, der die Trommelfelle der Caer gepeinigt hätte, wenn sie jetzt in der Lage gewesen wären, Schmerzen zu empfinden. Plötzlich waren sie da. Von allen Seiten strömten riesige schwarze Wölfe heran, quollen aus den sternförmig auf den Marktplatz zulaufenden Straßen und kleineren Gassen, rannten zwischen den Caer-Kriegern hindurch und versammelten sich hechelnd und heulend um die Statue. Immer mehr wurden es, bis der Marktplatz voll von ihnen war. Dämonisch leuchtende gelbe Augen blitzten überall in der Dunkelheit auf und bewegten sich wie glühende Edelsteine. Die Wölfe umkreisten die Statue und den Altar mit Drundyr und Nyala. Rastlos hasteten sie umher, sprangen an der Statue hoch und fletschten die Fänge. Wieder begann Drundyr mit seinem monotonen Gesang, und wieder war es nicht die Stimme des Caer-Priesters. Je lauter sie wurde, desto ruhiger wurden die schwarzen Wölfe. Sie schlichen bald nur noch um die Statue herum, hechelnd und mit glühenden Augen, bis sich die ersten von ihnen setzten. Das Auftauchen der Bestien war noch nicht der Höhepunkt der Zeremonie gewesen. Es leitete ihn lediglich ein. Drundyrs Gesang steigerte sich immer noch, bis auch der letzte Wolf saß. Dann verstummte er abrupt. »Nun komme selbst, mächtiger Dämon!« rief Drundyr aus. Und er kam. Die Wölfe sprangen heulend auf. Sie und die Caer bildeten eine Gasse. * Mythors Herz schlug wild. Kalathee hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen, um nicht länger mit ansehen zu müssen, was draußen geschah. Sie weinte leise. Sadagar war bei ihr und redete auf sie ein – er fand nicht die Worte, um sie zu be-
ruhigen. Sadagar war selbst froh, einen Grund gefunden zu haben, nicht aus dem Fenster blicken zu müssen. Mythor und Nottr hockten nebeneinander vor der breiten Fensterbank, auf der noch verwelkte Blumen standen. Selbst der Barbar aus den Wildländern fand keine Flüche mehr. Die Zornesadern auf seiner Stirn waren geschwollen. In seinen Augen stand die nackte Angst. Und Mythor? Er hatte in der Zeit, die vergangen war, seitdem er durch den Untergang der Nomadenstadt Churkuuhl seines sicheren Zuhauses beraubt und in eine noch weitgehend fremde Welt gestoßen worden war, schon zuviel Zauberei, zuviel Schwarze Magie erlebt, um die Szenerie, die sich ihm auf dem Marktplatz bot, in ihrer ganzen Schrecklichkeit zu empfinden. Irgend etwas in ihm war fast dagegen abgestumpft. Doch auch er spürte die Angst sein Rückgrat heraufkriechen und mußte um sein klares Denken ringen. Es war nicht die Angst vor dem, was Drundyr tat, nicht das schreckliche Erleben der finsteren Magie, die der Caer-Priester über den in ihm sitzenden Dämon direkt aus der Dunkelzone bezog. Es war vielmehr die Angst vor den Geschöpfen, die er gerufen hatte. Die Angst, eingeschlossen zu sein in einer Stadt, die von den schwarzen Schatten beherrscht wurde, die immer noch Zulauf aus den toten Straßen erhielten. Angst um Nyala von Elvinon. Der furchtbare Schock, als er erkennen mußte, daß sie Drundyr und damit den Mächten der Finsternis mit Leib und Seele hörig war. Er hatte damit rechnen müssen. Aber die schlimmsten Befürchtungen in Gedanken zu hegen war etwas anderes, als die Frau, die er einst geliebt hatte, nun an der Seite des Dämonenpriesters zu sehen. Dennoch war ihm, als lege sich eine unsichtbare, eiskalte Hand um sein Herz, um es ihm aus der Brust zu reißen, als nun die Gestalt in der Gasse erschien, die die Krieger und die
schwarzen Wölfe für sie bildeten. Mythor kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Obwohl er die Gestalt noch nicht genau erkennen konnte, spürte er das Grauen, das von ihr ausging. Sie war wie eine Ballung aus fleischgewordener Schwärze, groß, mächtig und drohender als alles, was Mythor auf seinem bisherigen Weg begegnet war. Sie kam durch die Gasse – woher, konnte Mythor nicht sagen. Es war gerade so, als habe die Erde sie ausgespien. Die Wölfe, an denen sie vorbeischritt, verstummten und legten sich flach auf den Bauch, wie um sie anzubeten. Dieses Geschöpf, das sich Drundyr und Nyala nun näherte, war ihr Herr. Ihm gehorchten sie. Plötzlich verschwand die schwarze Wolke, die den leuchtenden Kopf der Statue umhüllte. Sie löste sich einfach auf, und das plötzlich frei gewordene rote Licht beschien den Mann, der jetzt im Kreis der Caer und Wölfe vor Drundyr stand. Es war kein Mann. Nottr unterdrückte einen Aufschrei. Mythor zwang sich, den Blick auf die Kreatur gerichtet zu halten, die jetzt in ihrer ganzen Monstrosität zu erkennen war. Drundyrs helle Stimme hallte über den Platz: »So bist du gekommen, Sohn der Finsternis, um Besitz zu ergreifen von deinen Dienern und der Stadt, die fortan dein Reich sein soll!« Sohn der Finsternis! Ja, dieses Geschöpf war die Finsternis, aus ihr geboren, angelockt durch Drundyrs dunklen Zauber und die Statue, die ihr Abbild war. Mythor blickte von der Statue zu der Kreatur und wieder zurück. Der Mann hatte ebensoviel von den Wölfen, die um ihn herum kauerten, wie von den finsteren Kriegern der Caer. Der Kopf eines Wolfes auf dem massiven, mißgestalteten Körper eines Menschen. Er war die fleischgewordene Statue. »Corchwll«, flüsterte Nottr tonlos, aschfahl im Gesicht. Seine
rechte Hand umklammerte den Griff seines Krummschwerts. Mythor sagte nichts. Er war verwirrt. Er hatte angenommen, daß Drundyr seine finsteren Verbündeten mit Hilfe des Dämons Corchwll, dessen Statue auf dem Marktplatzstand, beschwören wollte. Nun stand der Wolfsmann vor ihm. Dann aber war der Dämon Corchwll selbst? »Dein sei diese Stadt, mächtiger Corchwll!« hallte Drundyrs Stimme wieder weit über den Platz. »Halte sie mit deinen schwarzen Wölfen für die Dunklen Mächte besetzt, denen wir Lockwergen zu Füßen legen! Mache sie zur uneinnehmbaren Bastion der Finsternis! Herrsche über sie, Corchwll!« Die Worte des Priesters beseitigten Mythors Zweifel. Der Wolfsmann war Corchwll, der Dämon aus der Dunkelzone. Daß der hier überhaupt existieren konnte, verdankte er zweifellos den magischen Kräften des Bösen, die aus der Statue strömten. Drundyr und der Wolfsmann schienen sich jetzt leiser zu unterhalten. Mythor und die Gefährten waren viel zu weit weg, um etwas von dem, was zwischen ihnen gesprochen wurde, verstehen zu können. »Was werden wir tun, Mythor?« fragte Nottr, ohne sich abzuwenden. »Wir sind eingeschlossen. Wir können von Glück sagen, daß die Bestien unsere Witterung nicht aufgenommen haben, als sie in die Stadt kamen. Sie werden uns zerfetzen, sobald wir das Haus zu verlassen versuchen, und diese Kreatur…« Mythor versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, aber es war unsagbar schwer. Er umklammerte den Griff des Gläsernen Schwertes, als könne ihm Alton die Kraft geben, die er brauchen würde, um sich diesem unheimlichen Gegner zu stellen. Sadagar war neben ihm und starrte aus dem Fenster. »Warte ab!« flüsterte Mythor. »Ich glaube, die Zusammen-
hänge zu verstehen.« Das Sprechen fiel ihm schwer. Es war, als lähme irgend etwas seine Stimmbänder. Alles in ihm sträubte sich gegen das, was er mit ansehen mußte. Lockwergen durfte nicht zu einem Hort des Bösen gemacht werden. Nur das wußte er. Aber wie sollten er und die Freunde etwas dagegen tun können? »Die Caer sind nicht mit einer großen Streitmacht gekommen, wahrscheinlich nur mit einem einzigen Schiff. Sie brauchen ihre Krieger an anderen Brennpunkten viel zu dringend, als sie zur Besetzung einer verlassenen Stadt abzustellen. Deshalb rief Drundyr den Dämon.« Während der Caer-Priester und der Wolfsmann noch immer leise miteinander redeten, hatte Mythor die schreckliche Vision von besetzten Städten, von denen aus sich die Mächte der Finsternis wie eine bösartige Geschwulst in die Welt des Lichtes fraßen, sie mit einem Netz überzogen, sie erstickten. »Mythor!« Nottrs halblauter Zuruf brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Lorvaner zeigte auf den Marktplatz. Seine Finger zitterten. Mit dem Verschwinden der schwarzen Wolke war gleichzeitig das Licht der Pechfackeln wieder heller geworden. Und wenn Mythor geglaubt hatte, daß ihn nun nichts mehr schrecken konnte, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Er wollte schreien, die Treppen hinunterstürzen und auf die Straße hinauslaufen, direkt zum Marktplatz. Nottr hielt ihn mit beiden Armen umklammert. Kalathee schrie schrill auf. Doch die gelben Augen der schwarzen Wölfe richteten sich nicht auf ihr Fenster. Drundyr und der Wolfsmann sahen nicht auf. Mythor wünschte sich, sie hätten es getan. Die Gesten des Caer-Priesters waren eindeutig, als er Nyala von Elvinon nun bei der Hand nahm und auf den Wolfsmann zuführte. Dann ließ er ihre Hand los, packte sie mit schwarzen
Klauen im Nacken und zwang sie vor dem Ungeheuer in die Knie. »Möge sie unseren Pakt besiegeln, Corchwll!« Mythor wollte diese Stimme nicht mehr hören, doch sie war da, drang in sein Gehirn und hallte in seinem Bewußtsein nach. »Nimm dieses Menschenweib als das Geschenk der Priester von Caer! Ich bezahle den zwischen uns ausgemachten Preis! Nun herrsche über Lockwergen!« Fassungslos, unfähig, das Offensichtliche zu akzeptieren, sah Mythor zu, wie Drundyr zurücktrat und den Kriegern ein Zeichen gab. Die Caer erwachten aus ihrer Starre und formierten sich in einer langen Reihe. Inzwischen waren, wie erst jetzt zu erkennen war, die in alle Teile der Stadt ausgesandten Truppen zurückgekehrt. Vier Caer trugen den Altar und Drundyrs magische Werkzeuge. Seine Aufgabe in Lockwergen war erledigt – nicht ganz, denn die Durchsuchung der Stadt hatte keinerlei Aufschluß darüber ergeben, was beim Einsatz der magischen Waffe nicht nach Wunsch verlaufen war. Drundyr setzte sich an die Spitze der Krieger. Noch einmal blickte er sich nach Corchwll um, der still neben seiner Statue stand, Nyala zu seinen Füßen, dann gab er den Befehl zum Abmarsch. Das alles nahm Mythor wie hinter Schleiern wahr. Er war unfähig zu denken. Bleierne Schwere hatte sich auf seine Glieder gelegt, und der Wahnsinn griff nach seinem Bewußtsein. Nottr hielt ihn immer noch umklammert. »Sie haben das Fehlen der drei Caer, die wir fesselten, noch nicht bemerkt«, murmelte der Barbar wie zu sich selbst. Auch er war nicht bei der Sache. Mit zusammengepreßten Zähnen blickte er auf den Marktplatz, auf dem nun nur die Wölfe mit ihrem dämonischen Herrn und dessen Sklavin zurückblieben. »Wir werden kämpfen, Nyala«, preßte Mythor hervor, doch es war, als ob ihm ein anderer die Worte in den Mund lege.
»Du darfst dein Leben wegen einer Frau nicht aufs Spiel setzen, Mythor«, knurrte Nottr. »Denk an die Verantwortung, die du trägst.« Endlich klärte sich Mythors Blick. Er sah Nottr in die Augen. Von ihm hätte er am wenigsten erwartet, daß er ihn jetzt daran erinnerte. Doch die Worte des Lorvaners hatten eine unerwartete Wirkung. Sie weckten etwas in ihm. Mythor hatte das Gefühl, aus unendlicher Tiefe kommend im Licht der Welt aufzutauchen und wieder frei atmen zu können. Er zwang sich, auf den Marktplatz zu blicken, wo nun nur noch der Kopf der Statue blutrotes Licht spendete. Er sah hin, nahm die Szenerie in sich auf, sah Nyala wie eine Hündin vor den Füßen ihres Herrn kauern. Er zwang sich dazu, zu akzeptieren, was geschehen war. Es kostete ihn fast übermenschliche Überwindung. Drundyr hatte neue, schreckliche Tatsachen geschaffen. Die Caer waren unterwegs zum Hafen und nicht länger ihre direkten Gegner. Die Gegner, mit denen sie es aufzunehmen hatten, füllten den Marktplatz. Die schwarzen Wölfe hatten sich erhoben und schlichen hechelnd, nach Beute witternd, umher, liefen in die dunklen Straßen und verschwanden darin. »Wir werden nicht vor ihnen fliehen!« sagte Mythor. Seine Stimme war fest. In seinen Augen funkelte es entschlossen. »Wir werden kämpfen, Nottr, um diese Frau und für das Licht! Wenn wir Lockwergen dem Dämon überließen, wäre dies der Anfang einer nie endenden Flucht vor den Mächten der Finsternis. Nein, Nottr! Sollte es meine Bestimmung sein, die Lichtwelt vor der um sich greifenden Finsternis zu bewahren, dann kann es keine Wahl geben.« Nottr blickte ihn skeptisch und unsicher an. Und Mythor dachte an den Helm der Gerechten und die anderen Hinterlassenschaften des Lichtboten, die er finden sollte, um sich selbst und seine Ausrüstung zu vervollkommnen.
Alles, was er bisher hatte, war das Gläserne Schwert, und selbst dies war in seinen Händen immer noch mit einem Makel behaftet. Doch er mußte mit dem kämpfen, was er zur Verfügung hatte. »Und wie?« fragte Nottr. Mythor sah, daß nun auch Kalathee am Fenster stand. Offensichtlich war sie durch die Unterhaltung der Männer auf das, was sie sehen würde, vorbereitet genug, um nicht schreiend zusammenzubrechen. Sie begegnete Mythors Blick, und Mythor sah in ihrem Gesicht außer der Angst etwas, das er nicht deuten konnte. Es beunruhigte ihn. »Ich kann und will euch nicht zwingen, euer Leben aufs Spiel zu setzen, um…« »Red keinen Unsinn!« flüsterte Sadagar. Mythor nickte grimmig. »Dann hört mir zu!« * Nyala von Elvinon war ein Name aus längst vergessener Vergangenheit. Er bedeutete ihr nichts mehr. Was war Elvinon mehr als eine Station ihres Lebens, eine Stadt, in der sie herangewachsen war und die nun den Caer gehörte? Sie war Nyala, die Gefährtin Corchwlls, war an seiner Seite Herrin über die schwarzen Wölfe. Auch Drundyr war ein für sie abgeschlossenes Kapitel. Er war mächtig gewesen, doch die Macht des Corchwll war ungleich größer. Nyala ging ganz in seiner Ausstrahlung auf, die fast alle Zweifel, die sie in Drundyrs Nähe hin und wieder noch beschlichen hatten, auslöschte. Sie hatte kein eigenes Ich mehr. Sie war Werkzeug und Teil eines gewaltigen Planes. Auch Herzog Krude war nur noch ein abstrakter Begriff. Nyala hatte keinen Vater mehr. Ihr Körper war aus Fleisch
geboren, ihre Seele aus der Dunkelheit. Sie sah, noch am Boden kauernd, zu Corchwll auf. Der Wolfsmann reichte ihr eine Hand, bepelzt wie sein ganzer muskulöser Körper. Sie ergriff sie und ließ sich von ihr hochziehen. Corchwll überragte sie um zwei Köpfe. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit gelb wie die seiner Wölfe. Die spitzen Ohren bewegten sich, um den Geräuschen der Umgebung zu lauschen. Corchwll verstand die Sprache seiner Wölfe. Er war einer von ihnen, ihr Gebieter. Er antwortete auf ihr Heulen, und es war vom Heulen der Wölfe nicht zu unterscheiden. Die schwarzen Schatten ergossen sich in die verlassenen Straßen, auf der Jagd nach Leben, das in Lockwergen nichts mehr zu suchen hatte. Dann senkte Corchwll den mächtigen Kopf. Sie sah, wie er die Lefzen schürzte. Mächtige Reißzähne traten zum Vorschein, die Nyala keine Furcht einjagten. Ganz im Gegenteil war sie von Corchwlls Aussehen in Bann geschlagen. Sie wollte sein wie er. Als habe der Wolfsmann ihre Gedanken gelesen, kam es heiser und krächzend aus seinem Rachen: »So bist du meine Gefährtin, doch Drundyr gab dich mir unvollkommen. Du wirst Vollkommenheit erhalten, Menschenweib. Bevor die Nacht zweimal dem Tage weicht, wirst du sein wie ich.« »Wie du?« hauchte sie. »Die Schwester der schwarzen Wölfe!« bestätigte Corchwll in der Sprache der Menschen, die diesen Teil der Welt bewohnten. Der Wolfsmann beugte sich über sie herab. Eine zweite Hand schob sich unter Nyalas Beine. Sie ließ sich willig von Corchwll hochheben und in seinen Armen davontragen, den heißen Atem des Tiermenschen im Gesicht.
Der Platz und die Stadt gehörten den Wölfen. Heulend sprangen sie Hauswände an und verschwanden in dunklen Korridoren. Die Jagd war freigegeben. Irgendwo in den toten Häusern der Stadt hockten jene, die vom Großen Verschwinden nicht betroffen worden waren, entrückt und den Blick in eine andere Welt gerichtet. Die Wölfe witterten sie. * Mit geballten Händen mußten die drei Männer ansehen, wie der Wolfsmann mit Nyala auf den Armen in der Dunkelheit verschwand. Sie konnten es nicht verhindern. Mythor versuchte sich mit der Überlegung zu trösten, daß Corchwll sich nicht weit von seiner Statue entfernen konnte, die ihm die Kraft des Bösen gab, die er zum Leben benötigte. Er würde ihn wiederfinden, und wenn er jedes einzelne Gebäude in der Nähe des Marktplatzes durchsuchen müßte. Schwach reifte ein weitaus verwegenerer Plan in Mythor heran. Doch er verscheuchte den Gedanken daran. Sie konnten nichts gegen Corchwll direkt unternehmen, solange seine Wölfe die Stadt durchstreiften. »Jene Menschen, die die Katastrophe überstanden«, sagte Mythor nach längerer Pause. Er hatte den Gefährten dargelegt, wie etwa er sich ihr Vorgehen vorstelle. Nun, als er die Wölfe in den Straßen Lockwergens verschwinden und in die ersten Häuser eindringen sah, merkte er, daß sie etwas übersehen hatten. »Sie haben keine Chance gegen die Bestien. Sie leben in einer anderen Welt. Wir müssen zuerst an sie denken… an diejenigen, die wir gefunden haben.« »Vielleicht wäre der Tod eine Erlösung für sie«, sagte Sadagar niedergeschlagen. Mythor schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Steinmann. Noch
leben sie, und eines Tages müssen sie aus ihrer Starre erwachen. Wir wissen, wo wir sie fanden. Ein halbes Dutzend. Das Mädchen aus dem Hafenviertel ist in Sicherheit. Wir müssen ohnehin hier heraus. Wo wir beginnen, spielt keine Rolle. Die Wölfe sind überall.« »Ja«, knurrte Nottr. »Überall, Mythor. Sie sind hier!« Von unten, aus den tiefer gelegenen Teilen des Hauses, war wütendes Knurren und Heulen zu hören. Das Hecheln mordlüsterner Bestien. Mit dem Gläsernen Schwert in der Hand lief er auf den Korridor bis zum Treppenhaus und spähte ins Dunkel hinab. Noch hatten die schwarzen Wölfe die oberen Stockwerke nicht erreicht, aber ihr Hecheln kam näher. Dumpf schlugen ihre Pfoten auf die Stufen. »Sadagar, komm!« Der Wahrsager hatte sechs seiner Messer wurfgerecht mit den Spitzen zwischen Daumen und Fingern der linken Hand. »Dorthin!« Mythor dirigierte ihn an die Wand hinter dem Treppenschacht. Er selbst blieb davor stehen, um die Wölfe mit Alton in Empfang zu nehmen. »Du bleibst bei Kalathee, Nottr! Schlag die Tür zu!« Nur widerwillig gehorchte der Barbar aus den Wildländern. Kalathee sträubte sich nicht. Mythor und Sadagar warteten allein auf die Tiere. Gelbe Augenpaare waren jetzt am unteren Ende der Treppe zu sehen. Das Gläserne Schwert leuchtete schwach in der fast vollständigen Dunkelheit. Nur durch zwei Fenster am anderen Ende des Korridors fiel fahles Licht ein, gerade genug, um die beiden Schatten zu sehen, die in mächtigen Sätzen über die Treppe heraufkamen. Mythor empfing sie mit dem Schwert. Er wußte, daß nur ein Augenblick des Zögerns ihn und die Gefährten das Leben kosten würde. Er stieß zu, als der erste Wolf sprang. Altons Klin-
ge bohrte sich tief in die Brust des schwarzen Schattens. Die Bestie war auf der Stelle tot. Doch Mythor konnte das Schwert nicht schnell genug aus dem schweren Körper herausziehen. Der Griff wurde ihm aus der Hand gerissen, als der Wolf neben ihm zu Boden fiel. Und der zweite war heran. Mit einem Aufschrei sprang Mythor zurück – nicht weit genug. Er wollte sich blitzschnell bücken, als er die beiden glühenden Augen wie brennende Pfeile auf sich zuschießen sah. Mit wütendem Knurren war die Bestie über ihm und riß ihn mit ihrem ganzen Gewicht zu Boden. Mächtige Fänge schnappten nach ihm. Auf dem Rücken liegend, bekam Mythor den Hals des Wolfes zu fassen, doch schon waren dessen Fänge an seiner Schulter und bissen sich in sein Fleisch. Mythor ließ den Hals los und packte die Kiefer der Bestie. Er rang nach Luft, den stinkenden Atem des Tieres im Gesicht. Immer näher arbeiteten sich die Fänge an seinen Hals heran. Verzweifelt versuchte er, die Kiefer aufzubrechen, doch sie gaben nicht nach. »Sadagar!« schrie er in panischer Angst. »Die Messer!« »Ich… ich könnte dich treffen, Mythor!« Die Stimme des Steinmanns lenkte den Wolf für den Bruchteil einer Sekunde ab. Mythor stieß ihn mit aller Kraft von sich fort, kam unter ihm hervor und sprang auf die Beine. Blind vor Wut, setzte der schwarze Wolf wieder zum Sprung an, doch diesmal war Mythor schneller. Er wich zur Seite aus und packte das ins Leere springende Tier am Schweif. Mythor warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht zurück, drehte sich einmal um seine Achse und schleuderte den Wolf gegen eine Wand. Jaulend ging die Bestie zu Boden. Doch blitzschnell war sie wieder auf den Läufen, fuhr herum wie ein lebendes Bündel reiner Energie. Augen funkelten Mythor einen Moment lang an, als ob sie ihn durchdringen und feststellen wollten, wer derjenige war, der ihr einen solchen Kampf lieferte. Steinmann Sadagar löste sich von der Wand und schleuderte
zielsicher alle sechs Messer in den Hals und in die Brust des Wolfes. Mit einem letzten Aufheulen starb das mächtige Tier. Mythor glaubte, in diesem klagenden Heulen so etwas wie maßloses Erstaunen gehört zu haben. Ihm kam es fast selbst wie ein Wunder vor, daß sie noch lebten. Wo auch immer diese schwarzen Wölfe herkamen, sie hatten offensichtlich noch niemals gegen Menschen den kürzeren gezogen. Mythor rief nach Nottr und Kalathee, während Sadagar sich seine Messer zurückholte, sie im Fell des Wolfes vom Blut säuberte und in den Gürtel zurücksteckte. »Wir müssen hinunter«, sagte Mythor. Er blutete leicht aus den Schulterwunden, doch die Verletzungen waren zum Glück weit weniger schlimm, als er geglaubt hatte. »Wenn andere Wölfe aufmerksam geworden sind, können wir sie unten besser empfangen. Hier riskieren wir nur, daß sie in Rudeln ins Haus eindringen und uns hier oben festsetzen.« Er zog Alton aus dem Leib des von ihm getöteten Tieres. Erst jetzt sah er, wie groß diese schwarzen Wölfe wirklich waren, und er machte sich nicht die geringsten Illusionen. Hier hatten sie einen Vorteil gehabt. Auf offener Straße wäre der Kampf anders verlaufen. Von irgendwoher drang ein schrecklicher, langgezogener Schrei an ihren Ohren, der Todesschrei eines Menschen. »Da hörst du es!« sagte Nottr. »Die Menschen haben keine Chance. Keiner von ihnen lebt mehr, wenn wir das Haus verlassen haben. Die Bestien spüren sie überall auf, genau wie uns. Vielleicht war dies gerade schon der letzte, den sie erwischt haben.« Mythor wurde von unbändigem Grimm erfüllt. Er machte sich Vorwürfe, daß er und die Gefährten jene bedauernswerten Menschen, die sie in verschiedenen Häusern der Stadt aufgespürt hatten, nicht zusammen in ein sicheres Versteck gebracht hatten, bevor Goltan mit seinen Peitschenbrüdern er-
schienen war. »Wir müssen hinunter!« Mythor nahm Kalathee bei der Hand und betrat vorsichtig die nach unten führende Treppe. Im Haus war nichts zu hören. Offenbar hatten die anderen Wölfe den Kampf nicht bemerkt. Vielleicht, dachte Mythor, lenkte der Dämon sie und ließ sie gezielt vorgehen, so daß jeweils ein oder zwei sich gemeinsam ein Gebäude vornahmen. Sie erreichten die nächstuntere Etage. Das Stockwerk war leer und finster wie alle anderen. Wieder eine Treppe hinab. Fernes Geheul zerriß die Stille der Nacht. Dann war es wieder ganz nah. Ein Blick durch ein Fenster zeigte den Gefährten, daß immer noch ein halbes Dutzend schwarzer Wölfe über den Marktplatz schlichen. »Sie bewachen die Statue«, vermutete Steinmann Sadagar. »Wenn sie zerstört würde, wäre dies das Ende für den Dämon.« Mythor nickte. Auch ihm war dieser Gedanke gekommen. Aber sie kamen nicht an die Statue heran – zumindest vorerst nicht. Es sah so aus, als hätten sie sich für die nächste Zeit auf einen Partisanenkampf einzustellen. Jedenfalls hatte Mythor dies vorgeschlagen, und keiner der anderen hatte eine erfolgversprechendere Idee gehabt. Sich ein Versteck in den Straßen suchen, einem einsam dahertrabenden Wolf auflauern, ihn überfallen und ihm den Garaus machen. Und das immer wieder. Immer von neuem das Leben riskieren, bis keine der Bestien mehr übrig war. Mythor wußte, daß diese Vorstellung illusorisch war. Es waren viel zu viele Wölfe in der Stadt, und nur die Götter mochten wissen, woher sie gekommen waren. Aber die Freunde konnten sie dezimieren und am Ende vielleicht Corchwll aus der Reserve locken. Wie er gegen den Dämon kämpfen sollte,
darüber machte Mythor sich noch keine Gedanken. Die Gefährten erreichten endlich das Erdgeschoß. Mythors Hoffnungen erfüllten sich. Es befanden sich keine Wölfe in unmittelbarer Nähe. »Wir warten in der Nähe des Eingangs, bis wir einen erwischen können«, sagte er. * Sie streiften in den Straßen umher, drangen in Häuser ein und durchsuchten jeden Winkel. Es ging kein Wind, der ihnen die Witterung der Menschen zugetragen hätte, und doch fanden sie die Überlebenden. Nur wenige von ihnen waren noch am Leben, als die Wölfe erschienen. Die meisten waren verhungert oder verdurstet. Wenige Stunden nach dem Auftritt des Wolfsmanns gab es kein menschliches Leben mehr in der Stadt mit Ausnahme von Mythor, Nottr, Sadagar und Kalathee. Dann und wann blieben die schwarzen Wölfe stehen und lauschten. Dies geschah gleichzeitig überall in Lockwergen. Es war, als warteten sie auf Befehle ihres Meisters. Dann liefen sie auf leisen Sohlen hechelnd weiter gierig und hungrig. In ganz Lockwergen gab es nichts mehr für sie als verfaultes Fleisch in den Küchen der Häuser und in den Vorratskellern der Gasthöfe. Meister! drang ihr Heulen durch die leeren Straßen. Gib uns Nahrung! Wenn Corchwll antwortete, so war diese Antwort nicht zu hören. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Vorbereitung des Rituals, durch das Nyala zur Frau des Wolfsmanns gemacht werden sollte. Es war allerdings nur eine Frage der Zeit, bis er die vier entdeckte.
* Wieder war es Nottr, der den schwarzen Schatten zuerst ausmachte. Der Lorvaner stieß Mythor und Sadagar an und zeigte in die Richtung, aus der er kam. Kalathee schloß sich, wie zuvor abgesprochen, in einem der Zimmer am Hauptkorridor ein. Der schwarze Wolf kam näher. Er strich durch die Straße, ohne sich um die umliegenden Häuser zu kümmern. »Paßt auf!« flüsterte Mythor Nottr und Sadagar zu. »Er darf nicht entkommen!« Er richtete sich auf und trat aus dem Eingang. Breitbeinig stand er auf der Straße, und wieder blickten sich Mensch und Bestie in die Augen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Der riesige Wolf knurrte wild und stieß ein markerschütterndes Geheul aus, nahm Anlauf und sprang. Mythor hatte aus seinem Fehler gelernt. Er wich geschickt zur Seite aus und wollte dem Wolf im Sprung den Kopf abtrennen. Doch immer noch unterschätzte er die Wendigkeit der Tiere. Der Wolf drehte sich noch in der Luft und entging dem tödlichen Schlag. Er kam auf, fuhr herum, fletschte die Fangzähne und rannte Mythor diesmal an. Mythor konnte wieder ausweichen, doch der schwere Körper streifte ihn und ließ ihn zurücktaumeln. Er schwang das Schwert, den Griff mit beiden Händen umklammert. Schon wieder war der Wolf heran, stoppte blitzschnell ab, als die schwach leuchtende Klinge eine Handbreit vor seinem Schädel die Luft teilte, und sprang aus dem Stand. Mythor reagierte ebenso schnell. Er sah das aufgerissene Maul auf sich zukommen und hielt das Schwert schützend vor sein Gesicht. Die Fänge schlossen sich um die Klinge. Mythor
zog sie blitzschnell heraus und drehte sie dabei, um den Wolf auf diese Weise von den Läufen zu hebeln. Doch die Bestie verfügte über übernatürliche Kräfte. Sie griff wieder an, ehe Mythor noch in Abwehrstellung gehen konnte. Der schwere Körper landete auf ihm und warf ihn zu Boden. Blitzschnell zog er die Beine an und stemmte den Wolf von sich. Er kam auf die Knie, sah die glühenden gelben Augen dicht vor seinem Gesicht und stieß blind zu. Markerschütterndes Geheul wurde von den Häusern zu beiden Seiten der Straße zurückgeworfen. Der Wolf stand wie erstarrt, aber immer noch sicher auf den Beinen vor Mythor. Blut sickerte aus einer Schulterwunde durch das schwarze Fell. In diesem Augenblick sah Mythor es beim Hauseingang aufblitzen. Drei Messer flogen heran und trafen das Tier in den Hals. Der Wolf schwankte. Seine Vorderläufe knickten ein. Fast sah es so aus, als kniete er vor Mythor nieder, der wieder sicher auf den Beinen stand und das Gläserne Schwert zum tödlichen Stoß bereithielt. Diese Augen… Mythor durfte nicht hineinsehen. Irgend etwas war in ihnen, was seine Hand zu lähmen drohte. Er stieß zu. Zweimal drang die Klinge des Gläsernen Schwertes tief in die Schulter des Wolfes. Erst dann erlosch das Licht in diesen furchtbaren Augen. Mythor atmete auf. Er drehte sich zum Eingang des Verstecks um und wollte Sadagar herbeirufen, damit er seine Messer holen konnte, als ihn das Geheul herumfahren ließ. Der Wolf war tot! Es gab keinen Zweifel daran. Und doch stieß er noch im Tod ein Heulen aus, das durch Mark und Bein ging. Mythor trennte seinen Kopf mit einem Schlag vom Leib. Immer noch hallte das Heulen in der Straße nach.
»Er ruft die anderen!« schrie Nottr. Wie ein Sturmwind brach er aus dem Hauseingang und sah sich nach allen Richtungen um. »Wir müssen fort! Hier sind wir keinen Augenblick länger sicher!« Mythor zögerte nicht. Sadagar erschien mit Kalathee an der Hand und riß seine drei Messer aus dem Hals des Wolfes. Die Gefährten begannen zu rennen. Die Richtung spielte keine Rolle, nur zum Marktplatz durften sie nicht. Noch bevor sie die nächste Seitenstraße erreicht hatten, sahen sie drei Schatten. »Es hat keinen Sinn!« brüllte Nottr. »Wir werden mit ihnen nicht fertig! Hier hinein!« Er rannte auf die nächste offene Tür zu und wartete, bis die anderen an ihm vorbei waren, dicht gefolgt von den schwarzen Wölfen. Er schlug die schwere Holztür zu und verriegelte sie von innen. Wütendes Geheul drang von außen ins Haus. Krallen scharrten an der Tür, und schwere Körper warfen sich dagegen. »Sie werden durch die Fenster kommen!« rief Mythor. »Wir haben keine Zeit, sie zu verbarrikadieren. Lauft die Treppen hinauf! Wir müssen bis nach ganz oben!« »Da sitzen wir ebenso in der Falle wie vorhin!« kam es von Nottr. »Wir müssen aufs Dach und irgendwie in andere Häuser kommen!« Sie rannten die Stufen hinauf. Im zweiten Stockwerk angelangt, blieb Mythor an einem Fenster stehen und sah auf die Straße hinab. Mindestens ein Dutzend der schwarzen Schatten wüteten dort unten. Und immer weitere kamen heran, aus allen Richtungen. Unten zersplitterten die dünnen Fensterläden. Mythor hastete den Freunden hinterher. Die Jäger waren ihnen dicht auf
den Fersen. Das oberste Geschoß! Am Treppendurchgang befand sich eine massive Klappe. Mythor warf sie zu, nachdem er als letzter oben angelangt war – fast schon auf die Köpfe der Wölfe. Er stellte sich darauf und spürte, wie etwas mit ungestümer Kraft von unten dagegen drückte. Allein konnte er die Wölfe nicht zurückhalten. »Sadagar!« rief er. »Komm her und stell dich neben mich. Kalathee, du auch. Zusammen werden wir schwer genug sein. Nottr, hol einen Schrank oder was du gerade findest. Nur muß es schwer sein!« »Ich sehe kaum meine Hände vor den Augen!« brüllte Nottr. Er entdeckte dennoch eine Truhe und schob sie mit Hilfe der zupackenden Männer auf die Klappe. Eine Öffnung entstand genau zwischen Mythors und Kalathees Füßen. Holzspäne flogen aus der Platte. Eine schwarze Pranke schob sich hindurch. Mythor schlug mit der flachen Klinge zu. Das Heulen und Bellen wurde nur noch wütender. Kalathee hielt sich die Ohren zu. Sie zitterte am ganzen Körper. »Das Holz ist morsch! Wir brauchen noch etwas, Nottr!« Mythor schob die schwere Truhe über die in die Platte gerissene Öffnung. »Sadagar, geh mit ihm!« Nur zögernd setzte sich der Steinmann in Bewegung. Er und Nottr verschwanden in einem der angrenzenden Räume und kamen kurz darauf ächzend mit einem Schrank zurück. Sie schoben ihn neben die Truhe. »Das müßte reichen«, sagte Mythor. Er zog Kalathee mit sich. Die beiden Möbelstücke bedeckten die Platte, die sich nun nur noch um ein kleines Stückchen hob und senkte. »Es hält sie auf, bis wir einen Weg aufs Dach gefunden haben.« Kalathees Augen schimmerten in der Dunkelheit, aber sie hielt die Tränen zurück. Ihre Handflächen waren naßgeschwitzt. Mythor fragte sich, wie lange das tapfere Mädchen
diese Nervenbelastung noch ertragen konnte. Auch wenn er ihre Liebe nicht erwiderte, war sie für ihn wie eine Schwester geworden, eine kleine, zarte Schwester, und er gäbe vieles dafür, ihr das, was noch auf sie zukommen würde, ersparen zu können. Es gab keinen Weg aus der besetzten Stadt heraus. Weder für Kalathee noch für Mythor, Nottr und Sadagar. Mythor schätzte, daß seit dem Erscheinen Corchwlls acht Stunden vergangen waren. Die Hälfte dieser Zeit hatten sie mit Warten auf einen einsam daherkommenden Wolf verbracht und sich die Köpfe über ihre Situation zerbrochen. »Wir müssen uns einen Unterschlupf für den Tag suchen«, sagte er. »Warum?« wollte Nottr wissen. »Wir können die Wölfe am Tag genauso gut jagen wie bei Nacht, wenn nicht besser! Sie sind Nachtjäger.« »Es geht nicht mehr darum, wahllos zu jagen, Nottr.« Mythor betrat ein Zimmer, nachdem er sich nach der Platte über dem Treppendurchgang umgesehen hatte. Die Wölfe stemmten sich von unten mit ihrer ganzen Kraft dagegen. Das Geheul und Knurren nahm Mythor kaum mehr wahr. Wie viele mochten es jetzt schon sein? Die Geräusche ignorierend, suchten die vier nach einem Weg auf den Dachstuhl. Die Dächer der meisten Häuser Lockwergens waren steile Satteldächer und geziegelt. »Kommt hierher!« rief Sadagar, als die meisten Räume schon durchsucht waren. Die anderen kamen über den Korridor und sahen, daß sich die Platte immer mehr hob. Der Schrank begann bedenklich zu wanken. »Dort oben!« Sadagar deutete auf eine Klappe an der Decke, gerade groß genug, daß sich ein erwachsener Mann hindurchzwängen konnte. An der Wand lehnte eine Holzleiter, die direkt unter der Klappe eingehängt werden konnte. Sadagar hat-
te sie schon gepackt und brachte sie an. Nottr war bei ihm und stieß ihn sanft zur Seite. Er prüfte die Leiter auf ihren festen Halt und stieg die Sprossen hinauf, bis er mit dem Kopf an die Decke stieß. Er versuchte, die Platte hochzuheben. Es ging nicht. Nottr stieß eine Verwünschung aus und betastete ihren Rand mit den Fingern, bis er einen Riegel fand. Er zog ihn aus der Halterung. Ein paar kräftige Stöße mit dem Knauf des Schwertes, und die Klappe ließ sich öffnen. Nottr stieß sie auf, bis sie gegen einen Balken des Dachstuhls stieß. Nottrs tastende Finger fanden einen Haken und die Öse, in die er paßte. Die Platte hielt. »Ihr könnt heraufkommen!« rief er. Im gleichen Augenblick war aus dem Korridor ein Krachen zu hören. Der Schrank war umgekippt. Das Knurren und Heulen wurde noch wütender. Die Truhe konnte die Wölfe nur noch einige Atemzüge lang aufhalten. Mythor schob Kalathee auf die Leiter. Nottr war schon durch die Öffnung und zog sie auf den Dachstuhl. Sadagar folgte, und Mythor hatte den Fuß auf der ersten Leitersprosse, als die Klappe über dem Treppendurchgang aus den Angeln flog. Die Wölfe waren da. Mythor kletterte, zwängte sich durch die Deckenöffnung, fühlte, wie sich kräftige Hände um seine Armgelenke legten und ihn hochzogen, als die schwarzen Wölfe die Leiter erreicht hatten. Ein letzter Blick nach unten ließ Mythor erschauern. Nacheinander sprangen die schwarzen Schatten die Leiter an. Sie brachten ihre Pranken auf die Sprossen, rutschten ab, kletterten übereinander. Dutzende von gelben Augenpaaren glühten dort unten. Eine Welle von Haß und Gier schlug Mythor entgegen. Er stand auf dem Dachstuhl, hatte das Schwert in der Hand und hieb nach den Schnauzen der Bestien, die über die Rücken ihrer Artgenossen die Öffnung erreicht hat-
ten. Ein einziger Alptraum aus gebleckten Fängen, glühenden Augen und heißem Atem. »Nottr!« schrie Mythor, vollauf damit beschäftigt, die Tiere zurückzuhalten. »Die Leiter!« Der Lorvaner kniete sich neben die Öffnung und wartete, bis Mythors Schwert den Hals eines Wolfs durchbohrt hatte. Wie eine Pyramide aus wütend bellenden, wild anspringenden Körpern sanken die Wölfe von der Leiter, vom Gewicht des toten Tieres nach unten gerissen. Nottrs Finger waren an den Haken der Leiter und hoben sie aus den Verankerungen. Er kippte sie schnell um, bevor die Bestien eine neue Pyramide gebildet hatten. »Da!« brüllte er. »Freßt das Holz!« Die Klappe fiel über die Öffnung. Unten sprangen die Wölfe nach der Decke. Ihr Wutgeheul steigerte sich immer mehr. Sie dachten nicht daran, die Beute aufzugeben. Nottr und Mythor blieben auf der Platte stehen. Die Gefährten sahen sich auf dem Dachstuhl um. Ein kleines Fenster in Kopfhöhe, durch das spärliches Mondlicht einfiel. Es ließ sich nach außen öffnen. Sadagar schob seinen Kopf hindurch und schrie unterdrückt. »Die Straßen sind voll von ihnen!« »Damit war zu rechnen«, sagte Mythor. »Steinmann, klettere hindurch und hilf dann Kalathee aufs Dach!« Mythor und Nottr warteten, bis zuerst Sadagar und dann Kalathee, vom Steinmann an den Händen gepackt, durch das Dachfenster verschwunden waren und Sadagars Gesicht wieder darin erschien. »Ihr könnt kommen. Es gibt Leisten.« Mythor nickte Nottr zu. Der schüttelte energisch den Kopf. »Allmählich fange ich an, mir überflüssig vorzukommen«, sagte er. »Geh du zuerst!« Mythor hob die Schultern und ließ sich von Sadagar aufs Dach helfen. Nottr stieß ein paarmal aufs Geratewohl mit dem
Krummschwert durch die Ritzen zwischen den Holzdielen der Platte. Dann rannte er los. Kaum hatte er seine Füße durch die Fensteröffnung nachgezogen, als ein Wolf, wie von einem Katapult abgefeuert, durch die Platte krachte. Weitere folgten ihm. Mythor fand Halt unter den Füßen. Mehrere schmale, aber feste Leisten führten über das schräg abfallende Ziegeldach zu den gleich hohen Nebenhäusern. Sadagar und Nottr hatten Kalathee in die Mitte genommen und befanden sich schon einige Meter vom Fenster weg. Der Kopf eines Wolfes erschien darin, dann schwarze Pranken. Mit übernatürlicher Kraft arbeitete die Bestie sich durch die Öffnung. Mythor wartete zwei Meter entfernt, das Schwert vorgestreckt. »Geht vorsichtig weiter!« rief er den Gefährten zu. Er sah sich nicht um. Plötzlich war der Wolf vor ihm. Mythor wartete nicht, bis er festen Halt gefunden hatte. Er stieß zu, zog das Schwert zurück und schlug mit der flachen Klinge gegen den Hals der schwarzen Bestie. Er legte all seine Kraft in diesen Hieb. Der Wolf verlor den Halt und stürzte erbärmlich jaulend in die Tiefe, wo er zwischen den wartenden Schatten auf der Straße aufschlug. Der nächste arbeitete sich durch die Öffnung. Mythor deckte den Rückzug. Vorsichtig, mit dem Rücken auf den Dachziegeln liegend, arbeiteten sie sich weiter zum Nachbargebäude vor. Die Wölfe kamen einer nach dem anderen aus der Dachfensteröffnung. Mythor schickte sie in die Tiefe, sobald sie nahe genug heran waren. Sadagar fand ein Fenster auf dem Nachbardach. Er fluchte. »Es ist von innen zugenagelt! Ich bekomme es nicht auf!« Der Schweiß klebte kalt an Mythors Körper. Sie kamen nicht weiter. Jeder falsche Schritt konnte den Sturz in den Tod bedeuten. Immer mehr Wölfe schoben sich aus der Öffnung im Dach und näher an die Gefährten heran. Mythor spürte, wie sein Arm allmählich zu erlahmen begann. Seine Bewegungen
hatten etwas Mechanisches an sich. Mit den Füßen gegen die Leiste gestemmt, mit dem Rücken an den Ziegeln und mit der linken Hand Halt suchend, beförderte er weitere Wölfe in den Tod. Für jeden, der sich überschlagend in die Tiefe stürzte, kamen zwei der Bestien nach. Lange konnten sich die Gefährten so nicht mehr halten. Unten gähnte die von Wölfen überfüllte Straße, von rechts kamen die Jäger, die nun ihre Taktik änderten. Die quer über die Dächer verlaufenden Leisten befanden sich in einem Abstand von etwa anderthalb Schritt zueinander. Für jeden Wolf, der sich denen anschloß, die Mythor und die Gefährten bedrängten, kletterte jetzt ein anderer um das Dachfenster herum auf die nächsthöhere Leiste. Mit ihren vier Beinen fanden sie viel leichter Halt auf den trockenen Ziegeln als die Menschen. Sie kamen nun von zwei Seiten direkt von der Dachöffnung und zusätzlich von oben. »Das ist das Ende«, preßte Nottr zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. »Wir können uns nicht gegen alle wehren!« Die ersten Wölfe erreichten das Nachbardach und kamen von der anderen Seite heran. Der Fluchtweg war endgültig versperrt. Aus! dachte Mythor, als wieder ein Tier, von der Wucht seines Stoßes aus dem Gleichgewicht geworfen, über den Dachrand auf die Straße fiel und sich das Genick brach. Sie waren in die Zange genommen. Mythor mobilisierte seine letzten Kraftreserven, um das Ende so lange wie möglich hinauszuzögern. Solange er lebte, mußte er hoffen. Doch Wunder geschahen nicht auf Bestellung. Nottr und Sadagar hatten sich ihrer Haut zu wehren begonnen. Die Messer des Steinmanns fanden ihre Ziele, bis er alle bis auf vier verschleudert hatte. Nottr versuchte, nun mit dem
Bauch auf den Ziegeln liegend, die von oben kommenden Bestien mit dem Krummschwert zu erreichen. Kalathee rührte sich nicht mehr. Sie hatte sich aus der Wirklichkeit geflüchtet. Dann sprang der erste Wolf von oben. Sein schwerer Körper landete auf Nottr. Die Wucht des Aufpralls ließ den Barbaren den Halt verlieren. Er stieß einen furchtbaren Schrei aus, rutschte an den Ziegeln ab über den Rand des Daches. Corchwll lauschte dem Geheul aus den Straßen, hörte die Stimmen seiner Wölfe und was sie ihm zu sagen hatten. Die Menschen waren gestellt. Kein Ausweg blieb ihnen mehr. Der Wolfsmann hatte die Jagd verfolgt. Der Kampf war etwas noch nie Dagewesenes. Und Corchwll fragte sich, wer diese vier seien, daß sie den Wölfen so lange hatten trotzen können. Das, was sich dort draußen tat, schlug ihn so sehr in seinen Bann, daß er seine unvollkommene Gefährtin fast völlig vergaß. Und nun, als das Schicksal der Menschen besiegelt war, wollte er wissen, mit wem er es zu tun hatte. Sie mußten etwas Besonderes sein. Keine gewöhnlichen Sterblichen, wie sie Corchwll in der Vergangenheit begegnet waren, würden noch am Leben sein. Sie hatten keine Chance, aus Lockwergen zu entkommen. Dies wissend, gab Corchwll den schwarzen Wölfen den Befehl zum Rückzug. Er traf auf Widerstand. Zu groß war die Blutgier der rasenden Wölfe, um jetzt ohne weiteres aufzugeben. Der Dämon entfaltete seine ganze Macht, sog sie aus der Statue auf dem Marktplatz und schleuderte sie den Wölfen entgegen. Und sie gehorchten. Wut, eine letzte Spur von Aufsässigkeit und Unverständnis sprachen aus ihrem Geheul. Warum nimmst du uns unsere Beute, Meister?
Corchwll antwortete und gab Anweisungen. Aus dem bishe-
rigen Verhalten der Menschen hatte er erkannt, daß sie ihn aus seiner Reserve locken wollten. Nun, das sollte ihnen gelingen. Corchwll schärfte den schwarzen Wölfen genau ein, was sie zu tun hatten. Zusätzlich befahl er ihnen, die Statue noch besser als bisher zu bewachen. Die vier Fremden sollten vorübergehend ihre Bewegungsfreiheit zurückerhalten, doch keine Gelegenheit bekommen, in die Nähe der Statue zu gelangen. Als er sich davon überzeugt hatte, daß die Wölfe seine Befehle genau befolgten, wandte er sich wieder der Frau zu. Die eigentliche Umwandlung zur Wolfsfrau sollte erst in der kommenden Nacht beginnen. Einen Großteil der Vorbereitungen zum Ritual hatte Corchwll bereits getroffen. Insgeheim hoffte er, daß Drudin persönlich erscheinen würde, um daran teilzunehmen. Die magische Ausstrahlung dessen, was in Lockwergen in die Wege geleitet wurde, mußte bis nach Caer dringen. Und je mehr dunkle Macht den Ort der Umwandlung erfüllte, desto fester wurde die Bindung der Gefährtin an ihn. Schon jetzt gehörte sie ihm. Die neue Gefährtin hatte damit begonnen, ihn nachzuahmen in der Art, wie er sprach, sich bewegte und das Gesicht verzog. Sie tat das unbewußt, aber es zeigte Corchwll, wie sehr sie danach fieberte, zur Wolfsfrau zu werden. Ihre Augen waren zu Schlitzen geworden. Die Lippen hatte sie geschürzt, doch noch waren ihre Zähne die der Menschen. Noch war ihr Gesicht haarlos und hell, saßen zarte Finger an ihren Händen. All das sollte sich ändern. »Wann ist es soweit?« krächzte sie mit heiserer Stimme. »Hab Geduld!« antwortete der Wolfsmann. Und wieder lauschte er dem Geheul der Wölfe, die rastlos durch die Straßen streiften und einen undurchdringlichen Gürtel um das Viertel gezogen hatten, in dem sich die vier Menschen aufhielten. Der Morgen begann zu dämmern. Corchwlls Gedanken wa-
ren wieder bei den Menschen. Ihre Lebenskraft sollte den Pakt zwischen ihm, der Gefährtin und den Mächten der Finsternis besiegeln. * Mythor sah, wie Nottr über das Dach nach unten glitt, verzweifelt darum bemüht, einen Halt zu finden. Der Wolf hing in seinem Nacken. Nottrs Beine rutschten über die Dachkante. Sein ganzer Körper verschwand. Für Sekunden lähmte das Entsetzen das Denken der Gefährten. Dann sah Mythor die Finger an der stabilen Dachrinne. Er vergaß die Wölfe um sich herum. Nottr hing an der Rinne fest, den schweren Wolf im Rücken. Die Finger rutschten ganz langsam ab. Sadagar reagierte blitzschnell. Er setzte sein Leben aufs Spiel, als er sich auf dem Hosenboden bis zur Rinne gleiten ließ, um seine Messer schleudern zu können. Er tötete den Wolf durch gezielte Würfe genau in die Augen und die Halsschlagadern. Nottr schrie. Sadagar rutschte weiter, bis er mit einem Fuß den Wolf, der sich noch im Tod an Nottr klammerte, in die Tiefe stoßen konnte. Mythor half ihm, den Lorvaner hochzuziehen. Erst als sie alle drei wieder festen Halt hatten, fuhr er herum. Kalathee! Sie hatten sie vergessen, sie und die Wölfe! Doch die Wölfe waren verschwunden! Fassungslos sahen die Männer sich an. Kalathee hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Verloren saß sie auf dem Dach, als gehöre sie nicht hierher. Mythor riskierte einen Blick in die Tiefe. Seltsamerweise erstaunte es ihn nicht mehr sonderlich, auch die Straßen leer vorzufinden. Nur einige Nachzügler, wohl jene Wölfe, die ins Haus zurück- und von dort auf die Straße gelaufen waren, sah
er noch in der beginnenden Morgendämmerung verschwinden. »Was ist los?« fragte Nottr keuchend. Der Lorvaner hatte sein Schwert verloren und rieb sich jetzt die Armgelenke. »Er hat sie zurückgerufen«, vermutete Mythor. »Wer? Der Wolfsmann?« »Der Dämon. Sie haben ganz zweifellos ein Signal bekommen.« »Aber wozu? Sie hatten uns in der Zange. Wir hätten keine weitere Minute überlebt!« »Er muß andere Pläne mit uns haben«, murmelte Sadagar. Der Steinmann blickte unsicher in Richtung Marktplatz. »Das alles kann nur bedeuten: Er weiß, daß wir hier sind.« Mythor versuchte, sich einen Reim auf den Abzug der schwarzen Wölfe zu machen, doch die Beweggründe des Dämons blieben im dunkeln. »Ich… ich danke euch«, sagte Nottr in das finstere Schweigen hinein. »Ihr habt mir das Leben gerettet.« Er sagte es nicht so, wie man eine Tatsache feststellte, sondern eher, als wolle er Mythor und Sadagar klarmachen, was sie gerade getan hatten. Mir, der euch verraten hat… »Was sagst du dazu, Mythor?« fragte der Steinmann. »Werfen wir ihn wieder hinunter?« Nottr fuhr herum. »Was?« »Hör endlich mit den alten Geschichten auf, Nottr«, sagte Mythor kopfschüttelnd. »Jeder macht einmal einen Fehler, und außerdem hast du uns im Lager der Plünderer das Leben gerettet.« »Ja«, stimmte der Steinmann zu. »Und anstatt tiefschürfende Reden zu führen, sollten wir sehen, wie wir von hier fortkommen.« Er sah zu Kalathee hinauf, die zusammengekauert dasaß, die Augen nun geschlossen. Ihr Zittern kam nicht nur von der
Kälte. »Wir steigen in das Haus zurück«, sagte Mythor. »Die Wölfe kommen vorerst nicht wieder.« * Sie befanden sich wieder im Erdgeschoß in einem Zimmer, das außer der Tür zum Korridor ein Fenster hatte, welches auf eine schmale Gasse zeigte, die wiederum zu einem Hinterhof führte. Ein besseres Versteck gab es nicht – falls man von einem Versteck überhaupt reden konnte, wenn Corchwll ohnehin wußte, wo sie steckten. Mythor war davon überzeugt, daß die schwarzen Wölfe hinter jeder Straßenecke lauerten und jede ihrer Bewegungen an ihren Herrn weitermeldeten. Sadagar hatte etwas zu essen gefunden, eingesalzenen Fisch und Früchte. Zwei Krüge mit Wein löschten den Durst der Freunde und gaben ihnen ihre Lebensgeister zurück. Vor allem Kalathee taute nach den ersten Schlucken regelrecht auf. Es zeigte sich, daß sie tatsächlich von dem, was auf dem Dach passiert war, so gut wie nichts mitbekommen hatte. »Immerhin haben wir ein Ziel erreicht«, sagte Mythor. »Corchwll ist auf uns aufmerksam geworden.« Nottr lachte rauh. »Das soll gut für uns sein? Er hat uns in der Falle. Ein Befehl an seine schwarzen Bestien, und sie sind zurück und reißen uns in Stücke!« »Sie hätten es auf dem Dach tun können. Daß Corchwll es verhinderte, zeigt, daß er, aus welchen Gründen auch immer, Interesse an uns gefunden hat.« »Ja«, murmelte Sadagar. »Das Interesse einer Katze an der Maus.« »Wir leben«, stellte Kalathee fest. Überrascht sah Mythor sie an. Es waren die ersten Worte, die er seit Stunden von ihr ge-
hört hatte. »Wir müssen an ihn heran«, sagte Mythor. »Es war von Anfang an unser Ziel, ihn aus seinem Versteck zu locken. Wenn er uns haben will, muß er persönlich kommen. Er weiß, daß wir uns nicht von den Wölfen zu ihm schleppen lassen.« Niemand antwortete darauf. Die Angriffe der schwarzen Wölfe hatten die ganze Energie der Freunde gefordert. Nun kehrten ihre Gedanken zu Corchwll zurück. Sie sahen die Szene wieder vor sich, wie die Kreatur der Finsternis aus der Gasse getreten war, und ihre Blicke zeigten Mythor nur zu deutlich, was sie davon hielten, sich dem Dämon auszuliefern. Doch dann war es Nottr, der sagte: »Was soll’s? Wir kommen nicht aus Lockwergen heraus. Also greifen wir an. Wir müssen den Feind im Herzen treffen. Ich bin sicher, daß die Wölfe sich verziehen, sobald Corchwll nicht mehr lebt!« Mythor lachte humorlos. Er hatte gesehen, wie Dämonen aus Körpern von Besessenen fuhren, wenn diese getötet wurden. Die Dämonen verloren ihre Wirtskörper, aber sie starben nicht. Sie kehrten direkt in die Dunkelzone zurück. Und Corchwll? Wenn der Wolfsmann kein Besessener, sondern der Dämon selbst war, was sollte ihn töten können? »Wir haben keine Wahl«, stellte er fest. »Wir müssen ihn noch mehr provozieren. Wenn wir nur Kalathee in Sicherheit bringen könnten.« »Ich bleibe an deiner Seite, Mythor!« sagte das Mädchen entschlossen. Mythor wußte es. »Und wenn Corchwll nur daraufwartet, daß wir wieder einen Wolf erlegen?« fragte Sadagar. »Vielleicht tut er das. Wir müssen das Risiko eingehen. Geht jetzt und holt eure Waffen von der Straße.« »Aber…!« »Es werden keine Wölfe dasein.« Nottr und Sadagar verlie-
ßen den Raum. Sie hatten Angst davor, den Mann mit dem Wolfskopf plötzlich leibhaftig vor sich stehen zu sehen. Kalathee warf sich in Mythors Arme. Sie schluchzte. Mythor strich sanft über ihr Haar und versuchte, sie zu trösten. »Ich will nicht sterben«, brachte sie weinend hervor. »Nicht hier und nicht in den Händen dieses Ungeheuers. Was wird aus uns, Mythor?« Er konnte ihr keine Antwort geben. Flüchtig dachte er an sein Ziel, an Althars Wolkenhort und die anderen Fixpunkte, zu denen er mußte, wollte er für den Kampf gegen die Mächte der Finsternis gewappnet sein. Der Wolkenhort und der Helm des Gerechten rückten in immer weitere Ferne. Nottr und Sadagar kamen zurück. Der Lorvaner hatte sein Krummschwert in der Hand, und die Messer des Steinmanns steckten wieder sauber abgewaschen im Gürtel mit der magischen Schnalle. »Keine Wölfe«, sagte Nottr. Und doch waren sie da und beobachteten. Mythor faßte einen Entschluß. Wenn das eintrat, was er insgeheim erhoffte und zugleich fürchtete, wollte er die Herausforderung annehmen. Ganz gleich, über welche magischen Kräfte der Wolfsmann verfügte, er mußte sich ihm stellen. Früher oder später würde er dazu gezwungen werden, doch es hatte keinen Sinn, dem Wahnsinn durch weiteres Abwarten eine Chance zu geben, nach den Gehirnen der Gefährten zu greifen. Und noch hatte Mythor die Gelegenheit, den Ort des Kampfes zu bestimmen. Das glaubte er wenigstens. Als der einzelne Wolf kam, waren die Gefährten wieder bereit. Es war, wie Mythor erwartet hatte. Dieser Wolf war ein Vorbote, der Herausforderer. Es hatte bis zum Nachmittag gedauert, bis er sich blicken ließ. Offensichtlich hatte Corchwll die Hoffnung aufgegeben, die Menschen zum Marktplatz zu
locken, wo seine Macht am stärksten war. Die Gefährten hatten das Haus nicht verlassen. Es war so gut wie jedes andere. Diesmal stellten sich Mythor und Nottr der Bestie zusammen entgegen. Der Wolf sprang sie an. Sie wichen aus, und zwei Schwerter töteten den vermeintlichen Einzelgänger im Sprung. Irgend etwas war anders, als Mythor es sich vorgestellt hatte. Es war viel zu schnell gegangen. Was geschah jetzt? Von allen Seiten aufbrausendes Geheul beantwortete die Frage. Sie waren da, kamen wie aus dem Nichts, aus Häusereingängen und Gassen, waren heran, bevor die Männer Sadagar und Kalathee eine Warnung zuschreien konnten. Es gab keine Gegenwehr. Dutzende von schweren schwarzen Körpern begruben die beiden Recken unter sich. Eine ganze Wolfsmeute drang ins Haus ein. Mythor konnte sich nicht bewegen. Das Schwert war ihm aus der Hand gerissen worden. Er konnte Nottr nicht sehen, nur glühende Augen und gebleckte Fänge. Mächtige Kiefer packten ihn. Fänge schlugen sich in seine Schultern, Arme und Beine. Mythor rang nach Luft. Er hörte Kalathees verzweifelten Schrei. Plötzlich mischte sich ein anderer Ton in das Geheul. Ein Wolfsheulen, aber anders als das der tobenden schwarzen Bestien über und um Mythor. Es kam nicht aus der Kehle eines Wolfes. Mythor bekam den Blick nach oben frei. Die Wölfe wichen zurück. Nur die, die ihre Fänge in seine Gliedmaßen geschlagen hatten, blieben. Mythor drehte den Kopf und sah Nottr in der gleichen Lage. Und nun zerrten die Wölfe Kalathee und den Steinmann aus dem Haus. Sie brachten sie zu ihm und Nottr, aber sie zerrissen sie nicht. Eine Stimme wie aus einem Alptraum ließ Mythor seinen Kopf in die Höhe bringen, soweit es die Wölfe zuließen. Er sah
direkt in die Fratze des Wolfsmanns Corchwll. Der Tiermensch musterte die Gefangenen lange und eindringlich. Riesig und auf eine grauenvolle Weise erhaben stand er da, breitbeinig inmitten seiner schwarzen Wölfe. Er verzog das Gesicht. Ein Grinsen? Sein Kopf war fast doppelt so groß wie die der Wölfe und saß ansatzlos auf den mächtigen Schultern, die wie der ganze Körper von pechschwarzem, dichtem Fell bedeckt waren. Corchwll hatte keine Waffen. Er brauchte keine. Alles, was er bei sich trug, waren vier dicke Stricke. »Wo ist Nyala?« schrie Mythor, von sich selbst überrascht. Hier lagen sie zwischen den Wölfen, hilflos dem Dämon ausgeliefert, und er hatte keinen anderen Gedanken als den an Nyala von Elvinon, die sich im Haß von ihm abgewandt hatte. Der Wolfsmann gab keine Antwort. Er knurrte den Wölfen etwas zu, und sie machten ihm den Weg frei. Er begann damit, Sadagar als ersten zu fesseln. Mythor versuchte sich loszureißen. »Halte still, du!« herrschte ihn Corchwll an. »Du willst doch leben, um die Frau zu sehen!« Mythors Kraft erlahmte. Er kam sich wie ein Narr vor. Was hatte er denn erwartet? Einen Kampf Mann gegen Mann? War er wirklich so töricht gewesen? Mythor mußte zusehen, wie auch Kalathee und Nottr gefesselt wurden. Nottr hatte versucht, sich zu wehren, bis ihm die Fänge der Wölfe Wunden in die Schultern gerissen hatten. Dann war er selbst an der Reihe. Corchwll stand über ihm, breitbeinig und massiv. Seine Beine waren die eines Menschen und doch nicht menschlich, seine Hände schwarze Klauen. Der Gedanke daran, daß Nyala, wie sie sich auch immer verändert hatte, dazu bestimmt war, an der Seite dieses Monstrums zu leben, trieb ihm das Blut in den Kopf. »Wo ist sie?« schrie er den Wolfsmann an, als sich die Fes-
seln um seine Beine legten. Er wurde regelrecht verschnürt wie ein Bündel. »Was hast du mit ihr gemacht, Dämon?« Corchwlls Lachen klang wie Donner, in den sich das Heulen von Wölfen mischte. Heißer, stinkender Atem schlug Mythor entgegen. »Du wirst sie sehen, Wurm!« kam es abgehackt aus dem Rachen des Wolfsmanns. »Und erleben, wie sie zur Frau des Wolfsmanns wird… zur Wolfsfrau, seiner würdigen Gefährtin!« Mythor glaubte in diesem Augenblick, den Verstand verlieren zu müssen. Alles hatte er befürchtet, Nyalas Tod, ihr Ende in den Fängen des Ungeheuers, ihre Opferung für die Mächte der Dunkelheit. Doch was Corchwll mit ihr vorhatte, war tausendmal schlimmer! Noch einmal wollte sich Mythor aufbäumen. Es war ihm egal, ob er dabei von den Wölfen zerrissen wurde. Alles in ihm drängte nur noch darauf, diese Bestie, die schlimmer war als die Wölfe, die ihr dienten, zu vernichten. Doch er konnte sich nicht mehr bewegen. Die Arme waren fest an den Körper gefesselt, die Beine zusammengeschnürt. Der Wolfsmann richtete sich auf und trat zurück. »Ihr werdet zur Statue gebracht, wo ich eure Lebenskraft nehmen werde, um den Pakt zu bekräftigen. Deine Worte sagen mir, daß du die Frau kennst, Schwarzhaariger! Du sollst sehen, wie sie zur Frau des Wolfsmanns wird.« Plötzlich fiel es Mythor wie Schuppen von den Augen. Dieser Tiermensch war nicht Corchwll! Er sprach vom Wolfsmann, nicht von Corchwll, wenn er von sich sprach. Und Nyala von Elvinon sollte zur Wolfsfrau gemacht werden, in einem magischen Ritual. Der Dämon steckte in ihm. Der Tiermensch war nur der Besessene, der ihn trug, vor langer Zeit einmal ein Mensch wie Mythor. Ein bedauernswertes Wesen, dem die Dunklen Mäch-
te furchtbar mitgespielt hatten. Mythor starrte ihn an, als die Wölfe ihn fortzerrten, zusammen mit Kalathee, Nottr und Sadagar. Er hielt dem Blick des Dämons im Wolfsmann stand, glaubte direkt in die abgrundtiefe Finsternis seiner Seele blicken zu können. Nein! dachte er verzweifelt, zwischen Mitleid und Grauen hin und her gerissen. Diese Kreatur vor ihm war kein bedauernswerter Mensch mehr. Er war Corchwll, stand völlig unter der Kontrolle des Dämons, der in ihm steckte. Ein Verlorener, der nur durch den Tod die Erlösung finden wurde. Mythor schob alle Gedanken außer jene an Nyalas grauenvolles Schicksal aus seinem Verstand. Er mußte es verhindern. Er war am ganzen Körper gefesselt, konnte nicht einmal die Hände bewegen, aber er mußte es verhindern! Er hatte keine Chance. Mit seiner und der Gefährten Lebenskraft sollte das Ungeheuerliche vollzogen werden. Mythor wußte, was das bedeutete. Er war erst wieder in der Lage, seine Umgebung bewußt wahrzunehmen, als er auf dem großen Marktplatz lag. Über ihm ragte die Statue des Dämons auf, die nicht den Dämon selbst, sondern den Wolfsmann zeigte. Dies gab Mythor eine vage Ahnung davon, wie lange der Wolfsmann und sein Dämon schon eine Einheit bildeten. Corchwll identifizierte sich mit dem Wolfsmann. Wer Statuen von Corchwll schuf, tat das nach dem Ebenbild des Wolfsmanns. Er mußte unsterblich sein. Und Nyala sollte seine unsterbliche Gefährtin werden. Nyala von Elvinon, deren fratzenhaft verzerrtes Gesicht er jetzt über sich sah. * Es war dunkel geworden. Wieder einmal hatte sich die Nacht über die Stadt gesenkt, und Wölfe und Wolfsmann schienen
aus dem Dunkel neue Kraft zu schöpfen. Waren sie schon bei Tage schrecklich genug, so ging nun noch spürbarer jene Aura von ihnen aus, die sie als Geschöpfe der Finsternis kennzeichnete. Mythor fragte sich mehr als einmal, ob die schwarzen Wölfe vielleicht ebenso wie Corchwll direkt aus der Dunkelzone nach Lockwergen gekommen waren. Er lag, nach wie vor gefesselt, zwischen Kalathee, Nottr und Steinmann Sadagar in einem Halbkreis, etwa zehn Meter vor der Statue entfernt, deren Kopf mit Anbruch der Dunkelheit wieder zu leuchten begonnen hatte. Zum erstenmal hatte Mythor den Eindruck, als brenne in ihr ein furchtbares Feuer, das durch den hohlen, aus dünnerem Holz geschnitzten Kopf des Standbilds drang und so das Leuchten verursachte. Zusätzlich hatte der Wolfsmann auf dem Marktplatz Pechfackeln in die Erde gesteckt und angezündet. Die Wölfe waren überall – auf dem Platz, in den Straßen, selbst auf den Dächern niedrigerer Häuser. Nur die Mitte des Platzes war frei von ihnen. Er war eine Arena von dreißig Schritten Durchmesser, und die schwarzen Wölfe füllten die Zuschauerränge bis auf den letzten Platz, harrten begierig dessen, was geschehen würde. Nyala von Elvinon, das noch menschliche Wesen, das einmal eine wunderschöne Prinzessin gewesen war, stand ganz dicht bei der Statue. Sie hatte sich nicht bewegt, seit die Gefangenen auf den Marktplatz geschafft worden waren. Der Wolfsmann hatte Mythor und den Gefährten schwere Steine unter Kopf und Schultern gelegt, so daß sie die Statue und ihre Umgebung sehen konnten. Nyala hatte Mythor keinen einzigen Blick geschenkt. Überhaupt schien sie seltsam entrückt zu sein. Einmal hatte sie mit dem Wolfsmann gesprochen, leise nur, aber was Mythor hören konnte, war dazu angetan, die letzten Hoffnungen darauf zu begraben, Nyala vor ihrem schrecklichen Schicksal zu bewah-
ren. Sie stand hoch aufgerichtet neben der Statue, in Fellbluse und kurzen Waffenrock gekleidet, und bereitete sich allem Anschein nach innerlich auf die Verwandlung zur Wolfsfrau vor. Vor der Statue hatte der Wolfsmann eine Art Altar aus Steinen errichtet. Das Gläserne Schwert, Sadagars Messer und Nottrs Waffe lagen daneben am Boden. Die Wölfe heulten nicht mehr, als Corchwll nun wieder in den freien Raum trat. Vorher war er für eine halbe Stunde verschwunden gewesen, um sich, wie Mythor jetzt sehen konnte, einige Dinge zu holen, die er nun auf dem Steinaltar ablegte. Nyalas Blick richtete sich auf ihn. Er blieb vor dem Altar stehen. Mythors Herz klopfte wild. Ein schneller Blick auf die Gefährten zeigte ihm, daß sie alle drei gebannt zur Statue schauten. Nottr schwieg. Keine Tränen rannen über Kalathees Wangen. Irgendwo gab es eine Grenze, jenseits deren sich der menschliche Geist weigerte, eine Realität zu akzeptieren, an der er sonst zerbrechen mußte. Aber Mythor mußte bei Sinnen bleiben! Die Ankündigung Corchwlls, den Pakt, was immer er damit auch meinen mochte, durch die Lebenskraft der Gefährten zu besiegeln, war eindeutig. Doch noch lebten sie, und solange Mythor lebte, mußte er Hoffnung haben. Endlich kam wieder Leben in den Wolfsmann. Er hob langsam die Arme und streckte die Hände beschwörend der Statue entgegen. Als er zu sprechen begann, schienen die schwarzen Wölfe zu erstarren. Mythor drehte den Kopf, so weit es ihm möglich war. Und es stimmte. Überall hatten die Tiere sich niedergekauert. Ihre Augen leuchteten nur noch schwach. »Erwache!« hallte die heisere Stimme des Wolfsmanns weit über den Platz. »Kraft der Finsternis, erfülle deinen Diener und das Geschöpf, das auf ewig dein sein soll! Erwache und
gib deine Kraft!« Mythors Gedanken überschlugen sich. Zweifellos war der Dämon dafür verantwortlich, daß aus dem Mann am Altar der Tiermensch geworden war. Bisher hatte Nyala immer nur unter dem Einfluß eines Besessenen gestanden – zuerst Drundyr, nun der Wolfsmann. Sollte jetzt auch sie von einem Dämon beseelt werden? Das wäre das Ende. Dann würde nur noch der Tod sie erlösen können. »Drudin! Auch dich rufe ich! Erscheine, um Zeuge des Paktes zwischen der Frau und der Kraft der Schatten zu sein!« Selbst der Name des höchsten Caer-Priesters konnte Mythor jetzt nicht mehr beeindrucken. Drudin erschien nicht – zumindest vorerst nicht. Corchwll verließ seinen Platz vor dem Steinaltar und legte Nyala ein Stück Wolfspelz um die Schultern, hängte eine Kette aus Wolfszähnen um ihren Hals und bestrich ihr Gesicht und den Brustteil der Fellbluse mit Blut. Er kehrte an den Altar zurück. »Nun ströme aus, Kraft der Finsternis. Nimm deine Dienerin und mache sie zu deinem Geschöpf!« Der Wolfsmann versank in die gleiche Starre wie die Wölfe. Alles um Mythor herum wirkte wie tot. Er schien der einzige zu sein, der noch lebte, dachte und sah. Wenn er jetzt frei gewesen wäre… Die Zeit verstrich. Die Stille war vollkommen. Dann veränderte sich das Glühen des Statuenkopfes. Es wurde eine Spur schwächer. Plötzlich fiel dunkelrotes Licht auf Nyala. Es war nicht sehr hell, und doch schmerzten Mythors Augen, als er sich zwang, Nyala anzusehen. Er hielt den Atem an, zerrte wider besseres Wissen an seinen Fesseln. In diesem Augenblick, erkannte er, griff die von Corchwll beschworene Macht nach ihr. Und Nyala begann sich zu bewegen.
* Dunkelheit. Kraft und Macht. Geborgenheit in der bodenlosen Tiefe dessen, das sie einhüllte und lockte. Nyalas Konzentration war an ihrem Höhepunkt angelangt. Sie hatte getan, was Corchwll sie geheißen hatte. Alle äußeren Einflüsse waren abgeschirmt. Nichts mehr drang an sie heran, außer der Ausstrahlung des Dämons. So sollte es sein. Öffne deine Seele! Vergiß, wer du gewesen bist! Öffne dich ganz der Kraft, die in dich dringen wird! Nimm sie auf, atme sie! Koste sie wie süßen Wein! Rufe sie!
Nyala dachte diese Worte, immer wieder. Es gab nur noch sie. Sie waren der Mittelpunkt ihres Denkens und ihres Lebens. Nyala war bereit, die Kraft anzunehmen. Sie gierte nicht mehr danach. Alle Gefühle waren ausgeschaltet. Ihr Bewußtsein war weit offen für das, was kommen und von ihr Besitz ergreifen würde. Doch als es kam, war das, was sie überflutete, so heftig, daß es für einen kurzen Augenblick die Barrieren zerriß, die Nyala um sich herum aufgebaut hatte. Stechender Schmerz durchfuhr ihr Bewußtsein. Wie siedendheißes Öl brannte es sich in die Kanäle ihres Denkens, ließ sie stumm aufschreien. Es kam zu schnell, viel zu heftig! Irgend etwas explodierte in ihr. Die Schwärze wurde aufgerissen. Risse entstanden und ließen Licht eindringen, das noch mehr schmerzte als das Fremde. Nyala von Elvinon erwachte aus ihrer Trance. Sie sah: den Wolfsmann, die schreckliche Statue, eben noch Zentrum all ihres Sehnens. Und vor ihr ein Gesicht aus einer Welt, die einmal die ihre gewesen war. Ein Name flammte in ihr auf. Mythor! Nyala wußte nicht, was sie tat, als sie ihren Platz verließ. Es war kein bewußtes Handeln, als sie sich nach einem der neben
dem Altar liegenden Messer bückte. Irgend etwas lenkte sie, was tief aus ihr herauskam und für Augenblicke stärker war als das, was mit aller Macht versuchte, sie wieder in seine Gewalt zu bringen. Wie eine Marionette bewegte sie sich auf Mythor zu. Er rief ihren Namen, als sie sich über ihn beugte. Seine Worte wurden von der Dunkelheit in ihr geschluckt. Nyalas Hände gehörten ihr nicht mehr, und als sie an ihren Platz neben der Statue zurückkehrte, war keine Erinnerung an das in ihr, was sie getan hatte. Die Dunkelheit breitete sich wieder in ihr aus, kroch in ihr Bewußtsein, verschlang das Licht, das sie für Augenblicke zurückgewonnen hatte. Öffne deine Seele! Öffne dich ganz der Kraft, die in dich dringen wird! Nimm sie auf, atme sie! Koste sie wie süßen Wein! Werde nicht müde, sie zu rufen! * Mythor war unfähig, sich zu bewegen. Fassungslos sah er, wie Nyala sich wieder neben die Statue stellte, genau in den Kegel roten Lichtes aus dem hölzernen Wolfsschädel. Er war frei! Mit aller Kraft seines Willens zwang er sich dazu, den Blick von Nyala zu nehmen, die Gedanken daran, was mit ihr vorgegangen war, zu verscheuchen. Er war frei. Die Fesseln waren durchschnitten. Das Messer lag in seiner Hand. Und Corchwll hatte nichts bemerkt. Die Wölfe kauerten nach wie vor wie scheintot um den freien Platz herum. Mythor zögerte nicht länger. Dies war seine Chance, auf die zu hoffen er nie aufgehört hatte. Die Zeit war knapp. Wenn der Wolfsmann aus der Trance erwachte, nützte ihm die Frei-
heit nichts mehr. Mythor durchtrennte mit einigen schnellen Schnitten auch die Beinfesseln, sprang auf und befreite Nottr. Der Barbar wußte nicht, wie ihm geschah. Mythor rüttelte an seinen Schultern, bis sein Blick sich klärte. »Was… Mythor! Was ist…?« »Still!« flüsterte Mythor, bereits dabei, Sadagars Fesseln zu durchschneiden. »Hol unsere Waffen und kümmere dich um Kalathee!« Nottr sprang auf, ohne zu begreifen, was um ihn herum vorging. Er lief zum Altar, kam mit seinem Krummschwert, Alton und einigen Messern zurück und durchtrennte Kalathees Fesseln. Mythor nahm das Gläserne Schwert. Es fiel ihm schwer zu stehen. Tausend kleine Tiere schienen durch seine Adern zu kriechen, als die durch die Fesseln behinderte Durchblutung der Gliedmaßen wieder voll einsetzte. Der Wolfsmann begann sich zu bewegen. Mit einem schnellen Blick überzeugte Mythor sich davon, daß Sadagar und Kalathee zu sich kamen. Nottr hatte den Schock überwunden. Kampfbereit stand er neben Mythor. Ein schrecklicher Schrei hallte über den Marktplatz. Mythors Herz drohte stehenzubleiben. Corchwll drehte sich zu ihnen um, erfaßte die neue Situation blitzschnell und sah zu Nyala hinüber. Mythor erkannte seine Absicht. Er stürmte los, erreichte Corchwll auf halbem Weg zu Nyala und stieß ihm mit der ganzen Kraft seines Körpers die linke Schulter in den Leib. Der Wolfsmann wurde zurückgeworfen und geriet ins Taumeln. Nottr war mit dem Schwert heran. Er hieb die Klinge dem Wolfsmann quer über den Rücken. Aufschreiend wie ein verwundetes Tier drehte sich Corchwll dem neuen Gegner zu. Mythor hatte Nyala erreicht und zog sie am Arm aus dem roten Lichtkegel. Sie wehrte sich nicht. Aus ihren Augen sprach Verständnislosigkeit. Mythor zerrte
sie vom Altar weg und nahm sie auf seine Arme. Jetzt begann sie zu zappeln und nach ihm zu schlagen. Sadagar war beim Altar und sammelte seine restlichen Messer auf. Nottr wich vor dem anstürmenden Corchwll zurück, der in blinder Wut Nyala für Sekunden vergessen hatte und nur den Mann mit dem Schwert sah. Er war unsicher auf den Beinen, obwohl ihn Nottrs Streich nicht ernsthaft verletzt haben konnte. Nottr schlug wieder zu, zog diesmal die Klinge quer über Corchwlls Brust. »Weiter, Nottr!« rief Mythor. »Beschäftige ihn!« Die Wölfe rührten sich nicht. Aber Mythor war sicher, daß ein einziger Befehl von Corchwll genügte, um ihnen die ganze Meute wieder auf den Hals zu hetzen. Nottr mußte dafür sorgen, daß er nicht zu früh auf den Gedanken kam. Zweifellos befand sich der Wolfsmann noch immer in Trance, sonst hätte der Barbar keine Chance gegen ihn gehabt. »Sadagar! Kalathee!« Mythor winkte die beiden heran, während er sich der tobenden und schreienden Nyala zu erwehren hatte. »Die Statue!« Sadagar verstand. Sie mußte zerstört werden, solange sich diese einmalige Gelegenheit bot. Der Steinmann warf sich mit dem Rücken gegen das Standbild. Corchwll schrie grauenhaft. Er begriff, was die Menschen vorhatten. Nottr bearbeitete ihn mit dem Schwert, doch der Wolfsmann schien die Hiebe nicht mehr zu spüren. Er taumelte auf die Statue zu, um Sadagar zurückzureißen. Nottr sprang auf seinen Rücken und legte beide Hände um seinen Hals. Corchwll kam zum Stehen. Er wird seine Wölfe rufen! durchfuhr es Mythor. Und Sadagar konnte die Statue mit seinem geringen Körpergewicht nicht umstürzen. Mythor legte die strampelnde, kratzende und tretende Nyala
ab und rannte zusammen mit Sadagar gegen das Standbild. Es wankte leicht auf dem Steinsockel. »Kalathee!« Sie kam und half den Männern. Alles ging in wenigen Atemzügen vor sich. Noch beschäftigte Nottr den Wolfsmann, und noch kauerten die Wölfe. Ein zweites Anrennen. Mythor gab das knappe Kommando, und mit ihm zusammen warfen sich Kalathee und Sadagar gegen die Statue. Sie schwankte wieder und rutschte um Zentimeter auf dem Sockel nach hinten. Mythor gelang es, das Gläserne Schwert in den Spalt zu stecken. Die Füße gegen den Boden gestemmt und mit dem Rücken am Standbild, versuchten die drei, es vom Sockel zu stürzen. Mythor half mit dem Schwert nach, so gut es ging. Corchwll war heran. Mythor rief instinktiv: »Spring ab, Nottr!« Und der Wolfsmann stürmte auf sie zu. Mythor riß Kalathee zur Seite und warf sich mit Sadagar im gleichen Augenblick noch einmal gegen die Statue, als Corchwll, blind vor Haß, Angst und Wut, dort gegen sie prallte, wo Kalathee noch eben gestanden hatte. Langsam kippte die Statue. Corchwll stand erstarrt da und streckte die Hände aus, um sie zu halten. Er gab ihr statt dessen den letzten, entscheidenden Stoß. Die Statue kippte weiter und rutschte vom Sockel ab. Der Länge nach krachte sie auf den Boden des Marktplatzes, und ein Schreien war in der Luft, das weder von den Wölfen noch von Corchwll kam. Geschrei wie von tausend Dämonen, die im glühenden Inneren der hohlen Statue tobten. So hell war das Glühen, daß Mythor und die Freunde geblendet zurücktaumelten. Mythor stolperte fast über Nyala, die nun reglos am Boden lag, die weit aufgerissenen Augen blicklos in die Ferne gerichtet. Was nun geschah, war ein Alptraum. Die Statue lag am Bo-
den. Auf den ersten Blick sah es so aus, als versinke sie darin. Doch es waren die in ihr wütenden Feuer, die sich ins Pflaster fraßen und sich immer tiefer in die Erde brannten. Ein gewaltiges Loch entstand, in dem das Standbild versank. Schon war es nicht mehr zu sehen, und es sank immer noch, gerade so, als wollten sich die magischen Feuer, die der Statue selbst nichts anhaben konnten, bis in die tiefste Hölle durchbrennen. Plötzlich gab der Boden unter den Füßen der Gefährten nach. Mythor schrie eine Warnung, hob Nyala auf und rannte mit ihr vom Krater fort, direkt in die Reihen der Wölfe hinein. Kalathee, Sadagar und Nottr kamen hinzu und sahen fassungslos mit an, wie Erdmassen in die Tiefe stürzten. Es gab ein Geräusch wie von einem schweren Aufschlag. Auf der anderen Seite des Kraters hatte sich Corchwll in Sicherheit gebracht. Der Boden unten den Füßen der Freunde bebte. Kein Wolf reagierte darauf. Dann war der Spuk zu Ende. Lähmende Stille breitete sich aus. Der Wolfsmann rührte sich nicht. Er stand da wie vom Blitz getroffen. Mythor versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Das Geräusch eines Aufschlags. Und auch wie die Erdmassen in die Tiefe gestürzt waren – es hatte hohl geklungen, als ob Erde und Standbild in einen gewaltigen Hohlraum unter dem Marktplatz gestürzt seien. Mythor sah sich schnell um. Um ihn herum das Meer aus schwarzen Leibern, die jeden Augenblick zum Leben erwachen konnten, und vor ihm… »Hier«, sagte er hastig zu Nottr. »Nimm du sie!« Der Lorvaner nahm ihm Nyala ab. Mythor ging vorsichtig auf die Einsturzstelle zu, erreichte den Rand und sah hinab. Er hatte sich nicht getäuscht. Das mußten riesige Katakomben unter diesem Teil der Stadt sein, vielleicht unter ganz Lockwergen.
Er erfaßte blitzschnell die Chance, die sich ihm und den Gefährten hier bot. Corchwll sah ihn an, aber er schien noch nicht begriffen zu haben, was geschehen war. Von der Statue war nichts mehr zu sehen, nur ein großes Loch im Boden der unterirdischen Gewölbe erweckte den Eindruck, als habe sie sich immer weiter in unbekannte Tiefen durchgefressen. Sie war fort. Deshalb war Corchwll wie gelähmt. Aber längst noch nicht tot! »Kommt her!« rief Mythor. Nur Kalathee zögerte. Sadagar hob sie kurzerhand auf seine Arme und stürmte los. Zusammen mit Nottr, der Nyala trug, erreichten sie das Loch, den Einstieg in eine geheimnisvolle Unterwelt, in die Erde gebrannt vom Feuer der Statue. Mythor sprang als letzter in die Tiefe, über die eingestürzten Erdmassen hinab bis auf den Boden der Katakomben. Nottr wartete, bis alle anderen bei ihm waren. Dann rannten sie los, hinein ins Unbekannte, nur weg von Corchwll und seinen Wölfen. Und keinen Augenblick zu früh. Als habe das Verschwinden der Menschen und der zukünftigen Gefährtin den Wolfsmann wieder zum Leben erweckt, warf er sich in die Brust, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein markerschütterndes Geheul aus. In die Wölfe kam Leben. Sie sprangen auf und umringten ihn knurrend und jaulend. »Worauf wartet ihr?« schrie der Wolfsmann in der Sprache der Menschen. »Hinter ihnen her! Jagt sie! Laßt keinen von ihnen entkommen! Zerreißt sie, aber bringt mir die Gefährtin lebend!« Die schwarze Meute ergoß sich in die Tiefe. Corchwll folgte ihnen, ein Wolf unter Wölfen. Er hetzte seine Armee und schonte sich selbst nicht. Er setzte sich an ihre Spitze, getrieben von Haß, Panik und blanker Angst um die eigene Existenz. Denn nicht nur die kraftspendenden Ströme aus der Statue
blieben aus. Tief in seinem Inneren fühlte der Wolfsmann, daß etwas mit ihm geschah. * Drundyrs Schiff hatte nicht sofort abgelegt, um nach Akinborg zu segeln, nachdem der Caer-Priester und seine Krieger den Hafen erreicht hatten. Drundyr hatte den Befehl gegeben, noch zwei weitere Tage zu warten. Dann sollten einige Krieger noch einmal in die Stadt gehen, um sich davon zu überzeugen, daß Corchwll tatsächlich mit seinen Wölfen Herr der Lage war. Diese Vorsichtsmaßnahme erschien den Kriegern überflüssig. Doch Drundyr hatte seine Gründe. Erst nach der Ankunft am Hafen hatte sich herausgestellt, daß drei der besten Krieger fehlten. Es gehörte zum Pakt zwischen ihm und dem Dämon, daß die Wölfe keine Caer verletzen durften. Also gab es andere Gegner, irgendwo in Lockwergen versteckt. Drundyr mochte übervorsichtig sein, aber die Angst vor einem weiteren Versagen und Drudins Strafe war groß. Und er hatte versagt, was den einen Teil seines Auftrags anging. Mit leeren Händen würde er vor Drudin stehen, wenn dieser Aufklärung darüber verlangte, was beim Einsatz der magischen Waffe gegen Lockwergen mit den Caer-Priestern geschehen war. Als Drundyr nun das Geschrei, das Krachen und Mahlen und das plötzliche Heulen Hunderter von schwarzen Wölfen vom Marktplatz her hörte, ahnte er, daß seine Vorsicht berechtigt gewesen war. Er selbst verließ mit seinen Kriegern das schwarze Schiff, um in der Stadt nach dem Rechten zu sehen. Nur wenige Männer blieben an Bord zurück. Kurz darauf standen sie vor dem Krater. Fernes Geheul kam
aus der Tiefe, wo diffuses Licht aus den nicht von den Erdmassen verschütteten unterirdischen Räumen drang. Drundyr war weit davon entfernt, zu ahnen, wer für das verantwortlich war, was sich hier abgespielt hatte. Aber Corchwll und seine Wölfe waren nicht mehr in der Stadt. Sie waren dort unten, in den Katakomben, von deren Existenz Drundyr bisher nichts bekannt gewesen war, und machten Jagd auf jemanden. Nur so konnte es sein. Corchwll war mächtig, aber auch er hätte es nicht gewagt, den Pakt zu brechen und auf diesem Weg die Stadt zu verlassen. Drundyr wußte nicht, was ihn dort unten erwartete, doch schrecklicher als eine Bestrafung durch Drudin konnte es nicht sein. Er mußte den Wölfen und Corchwll nachgehen, um sich Gewißheit über das Vorgefallene zu verschaffen. An der Spitze seiner Krieger stieg Drundyr in die Tiefe. Die Caer trugen brennende Pechfackeln, die die Katakomben erhellten. Das Geheul der Wölfe wies ihnen den Weg. * Corchwll versagten die Beine mitten im Laufen den Dienst. Er stürzte der Länge nach hin und wurde von einigen Wölfen überrannt, bevor er wieder die Kraft fand, sich aufzurichten. Jagt sie weiter! befahl er der Meute. Der Wolfsmann preßte sich eng an eine Wand, um die schwarzen Schatten vorbeizulassen. Die Panik griff nach seinem Bewußtsein. Irgend etwas geschah mit ihm. Unsichtbare Hände schienen in sein Gehirn greifen zu wollen. Er sah seine Wölfe nur noch undeutlich an sich vorbeihuschen. Ganz deutlich aber sah er die Blicke, die sie ihm zuwarfen! Es breitete sich eine Leere in ihm aus, seit die Statue verschwunden war. Eine furchtbare Leere! Corchwlls Kraft schwand dahin, und er spürte, daß er die Gewalt über die
Wölfe verlor. Er begann zu zittern. Immer mehr Wölfe zögerten nun, wenn sie an ihm vorbeikamen. Bald würden sie stehenbleiben. Irgend jemand heulte, und der Wolfsmann begriff, daß er selbst es war. Doch es war nicht seine Stimme. Es war die des Dämons. Das Entsetzen lähmte den Herrn der Wölfe. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte er sich wieder als lebendes Geschöpf, das nicht Corchwll war – nicht das, was von seiner Seele Besitz ergriffen hatte, mit ihm eins geworden war und ihn jetzt freigab! Der Dämon kämpfte ums eigene Überleben. Er wütete in seinem Körper und nahm keine Rücksicht mehr auf ihn. Der Wolfsmann bäumte sich auf und sank zusammen. Seine Hände fuhren über sein Gesicht. Er verwandelte sich zurück! Seine Schreie erstarben. Er hob die Hände vor die Augen und sah, daß sie fast unbehaart waren. Die Hände eines Menschen. Und plötzlich standen sie vor ihm. Die Dutzend Wölfe mit leuchtenden Augen und gebleckten Fängen. Noch zögerten sie. Sie knurrten drohend, schoben sich vor ihm umher, kreisten ihn ein. »Nein!« schrie er in höchster Todesangst. Eine Welt stürzte für ihn ein. Er sah sich wieder als Jüngling, dessen Leben beendet worden war, als ihn die Diener der Finsternis auf den Altar fesselten. »Nein! Bleibt zurück! Geht weg! Neeeiin!« Sein letzter Schrei hallte weit durch die Gänge und ging in wütendem Knurren und Geheul unter. Die Wölfe waren über ihm. Das, was sie zerfetzten, war nur noch eine körperliche Hülle. Der Schock über die Erkenntnis hatte ihr Opfer schon vorher getötet. Doch in dem sterbenden Geschöpf schrie Corchwll. So furchtbar waren seine Schreie, daß die Wölfe mit eingezogenen Schwänzen zurückwichen und klagend jaulten. Der Dä-
mon fuhr aus dem zerfetzten Körper und entschwand vor ihren Augen. Er kehrte in die Schattenzone zurück. Seine Schreie hallten noch durch die Katakomben. Der Herr der Wölfe aber war nicht mehr. Sie spürten es alle, hielten für Augenblicke inne und lauschten dem, was nicht mehr kam. Dann rannten sie weiter durch die Katakomben, jetzt allein von der Gier nach Beute getrieben. Was zurückblieb, war der zerrissene Leichnam eines Menschen, dessen Seele im Tod ihre Freiheit wiedererlangt hatte. * Sie hatten einen Vorsprung, nicht sehr groß, aber er mußte reichen, um für einige Augenblicke zu rasten. Seit dem Sturz der Statue waren die Freunde nicht zur Ruhe gekommen. Ihr Atem ging hastig. Sie konnten nicht immer weiter ziellos fliehen. Vielleicht lagen die eigentlichen Katakomben schon hinter ihnen, riesige unterirdische Hohlräume, zahllose Pfeiler und aus Steinen aufeinandergesetzte Bögen und Zwischenwände, die die Decken stützten. Über ihnen lagen die Straßen und Häuser der Stadt. In diesem Teil der geheimnisvollen Unterwelt wären die Gefährten den Wölfen ebenso schutzlos ausgeliefert gewesen wie auf dem Marktplatz. Mythor bezweifelte, daß die Bürger Lockwergens von den Katakomben überhaupt etwas gewußt hatten. Hier war in den letzten hundert Jahren niemand mehr gewesen. Nun befanden sie sich in einem relativ engen Felskorridor, von dem sie nicht wußten, wohin er führte. Den Eingang hatten sie mit schweren Steinen verbarrikadiert, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wölfe sie beiseite geschafft hatten. Sie saßen schnaufend und schwitzend auf dem nackten Fels des Bodens. Das einzige, was diesen Gang und die Gewölbe
der Katakomben zu verbinden schien, waren die riesigen Steinplatten, die einen Pfad auf dem Boden bildeten, wie Mythor einen ähnlichen noch vor wenigen Tagen nördlich von Lockwergen gesehen hatte. Ihm waren sie gefolgt, von der Einsturzstelle an, und Mythor war sicher, daß er sie noch viel tiefer in das unterirdische Reich führen würde. »Du glaubst, daß dies ein Teil des legendären Titanenpfads sein könnte?« fragte Sadagar. Mythor hatte den Freunden auf dem Weg nach Lockwergen von seiner Entdeckung erzählt. Er hob die Schultern. »Möglich«, murmelte er, nur halb bei der Sache. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Nyala, die stumm neben ihm saß. Nottr und er hatten sie abwechselnd bis hierher getragen. In Nyalas Augen war eine schreckliche Leere. Manchmal zuckte sie zusammen, vor allem dann, wenn das Geheul der blind gegen die Barrikade anrennenden Wölfe besonders laut war. Dann wieder bewegten sich ihre Lippen leicht, aber sie brachten keine Worte hervor. Mythor hatte es aufgegeben, zu versuchen, sie anzusprechen. Sie reagierte nicht. Vielleicht quälte er sie dadurch nur. Sie war aus dem Bann des Dämons gerissen, nur das war wichtig. Sie würde viel Zeit brauchen, um wieder zu sich selbst zu finden – falls dies jemals möglich sein sollte. Mythor hatte ihr die Kette mit den Wolfszähnen und den Wolfspelz abgenommen und das Blut von ihrem Gesicht gewischt. Mehr konnte er jetzt nicht tun. Kalathee saß ihr gegenüber. Ihre Augen verrieten Mitleid mit Nyala, die sie in ihrer wahren Schönheit nie gesehen hatte. Dennoch erkannte Mythor auch wieder eine Spur von Eifersucht in Kalathees Blick. »Wenn es der Titanenpfad ist«, sagte Sadagar beharrlich, »muß er nach Süden bis zur Titanenstadt der Caer verlaufen.« »Nach Gianton«, stimmte Mythor zu, den Blick auf die
Steinquader im Boden gerichtet. Vielleicht irrten sie sich, und sie waren von den Unbekannten hier aus dem Fels gehauen worden, die einstmals die Katakomben geschaffen und bewohnt hatten. Für letzteres hatte es bisher keinen Hinweis gegeben. Vielleicht waren sie aber wirklich das Werk jener geheimnisvollen, uralten Baumeister, die den Titanenpfad angelegt hatten. »Was interessiert es uns, ob es der Titanenpfad ist oder nicht«, knurrte Nottr. »Es ist ein Weg, und irgendwo muß es einen Ausgang nach oben geben, hoffentlich weit weg von Lockwergen.« Mythor fragte sich, wie weit sie gelaufen waren. War über ihnen schon freies Gelände? Bisher hatte überall, in den Katakombengewölben und selbst hier im Felskorridor, ein ungewisses Licht geherrscht, dessen Quelle verschiedene strahlende Steine waren, die als große Quader in den Wänden eingelassen waren. Mythor sah sich wieder in den Bergen, als er Schutz vor dem Gewittersturm gesucht und gesehen hatte, wie sich von dort, wo Blitze in den Titanenpfad eingeschlagen waren, grelles Licht den Pfad entlangfraß, von einem Quader zum anderen überspringend. Es war wohl von Bedeutung, wer diese Katakomben und Gänge geschaffen hatte. Mythor erwartete selbstverständlich nicht, daß diese Unbekannten plötzlich leibhaftig vor ihnen auftauchten, aber sie mochten Fallen errichtet haben, um Unbefugte am Betreten ihres Reiches zu hindern. Allein deshalb drängte es Mythor wieder nach oben, ans Licht der Welt. Solange die Wölfe auf ihrer Spur waren, blieb nur die Flucht. »Wir müssen weiter«, drängte Nottr und warf einen vielsagenden Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Steine polterten laut hallend zu Boden. Das Geheul der Wölfe wurde lauter. »Sie können jeden Moment durchbrechen.« Die Gefährten flohen weiter. Mythor trug Nyala. Kalathee
hielt noch tapfer mit. Früher oder später würde Nottr auch sie tragen müssen. Nach einigen hundert Schritten verbreiterte sich der Gang. Dann öffnete er sich wieder in ein Gewölbe. Die leuchtenden Steine saßen in den Wänden und der hohen Decke. Fernes Wasserrauschen war zu hören. Der Pfad führte zwischen Tropfsteinen hindurch. Nun wurde die Luft stickiger und feuchter. Das Geheul der Wölfe kam näher und sorgte dafür, daß die Schritte der Gefährten nicht erlahmten. Immer weiter, über die Steinquader. Nur nicht stehenbleiben! Kalathee mußte getragen werden. Sadagar biß die Zähne zusammen. Er war schwächer als Mythor und Nottr, aber er fiel nicht zurück. Dann endete der Pfad. Vor den Fliehenden breitete sich ein unterirdischer See aus, über dem sich die Wände und Decke des Gewölbes zu einer gewaltigen Kuppel vereinten. Überall waren die schimmernden Steine und tauchten die Wasseroberfläche in gespenstisches Licht. Die Steinquader führten direkt in den See. Es gab kein anderes Ufer. Das Wasser reichte bis an die Wände des Gewölbes. Kein Weg als der, den die Freunde gekommen waren, führte hier heraus. Und jetzt erschienen die Wölfe. Hechelnd, die Beute sicher vor ihren Augen, stürmten sie heran. »Ins Wasser!« rief Mythor. »Der Pfad kann hier nicht zu Ende sein! Auf der anderen Seite, unter der Wasseroberfläche, muß sich eine Öffnung in der Wand befinden! Wir müssen tauchen und danach suchen!« Mit Nyala auf dem Arm ließ sich Mythor ins Wässer gleiten. Es war eisig kalt. Nottr, Kalathee und Sadagar folgten ihm. Schwimmend erreichten sie die Mitte des Sees, als die ersten Wölfe ins Wasser stürzten. Auf breiter Front rückten sie an, eine schwarze Flutwelle, die alles unter sich begraben würde.
Und noch etwas geschah, unbemerkt von Jägern und Gejagten: Überall am Ufer des Sees, an jenem Halbkreis also, der der Felswand, die das Ende der Katakomben zu bilden schien, gegenüberlag und wo das Wasser seicht war, befanden sich in Abständen von wenigen Schritten grüne Fladen, die nur knapp aus dem Wasser hervorragten. Mythor und die Gefährten hatten sie für Pflanzen gehalten und ihnen keine Beachtung geschenkt. Nun kam Bewegung in die Fladen. Langsam zogen sie sich vom Ufer zurück und verschwanden im Wässer, glitten am felsigen Grund immer tiefer und rollten sich an dem, was man für Wurzeln hätte halten können, auf. Diese grünblauen Stränge liefen weiter bis zu der Stelle, wo der See am tiefsten war. Und dort saß das Wesen, zu dem sie gehörten und dessen Sinne auf jene gerichtet waren, die über ihm an der Oberfläche schwammen. Noch lagen die langen Fangarme still auf dem Grund, die Enden mit den Saugnäpfen aufgerollt. Noch war nicht alles Leben im See. Weder Menschen noch Wölfe ahnten etwas von der Gefahr, in der sie schwebten. Die Wölfe näherten sich, mit allen vieren paddelnd, der Mitte des Gewässers. »Zu den Felsen!« rief Mythor. »Dort können wir sie empfangen!« Dicht gefolgt von den schwarzen Bestien, erreichten die fünf die Wand und fanden in Spalten und auf Vorsprüngen unter der Wasseroberfläche Halt. Mythor klammerte sich mit der linken Hand an einen Vorsprung und stand sicher auf einer Felsleiste. Die Rechte fuhr hoch und brachte mit dem Gläsernen Schwert den Tod über die ersten Angreifer. Immer wieder fuhr Alton in die Höhe, dann herab und spaltete die schwarzen Wolfsschädel. Das Wasser färbte sich rot, und die Wölfe gerieten in einen wahren
Blutrausch. Das Wasser schäumte. Unermüdlich kämpften Mythor und Nottr, der Steinmann, die beiden Frauen mit ihren Körpern und Schwertern abschirmend. Die grenzenlose Blutgier der Bestien kam den Bedrängten zu Hilfe. Tote Wölfe wurden von ihren Artgenossen zerrissen. Mehrere Wölfe kämpften um ihre Beute. Einige schwammen mit schweren Brocken aus Fleisch, Knochen und schwarzem Fell in den Mäulern zum Ufer zurück. Doch es waren zu viele. Diejenigen, die nichts abbekamen, bedrängten Mythor und die Gefährten weiter. Nottr stöhnte und fluchte, und seine Bewegungen erlahmten zusehends. Auch Mythor spürte bleierne Schwere im Arm. Sie konnten sich nicht mehr lange halten. Er mußte tauchen und versuchen, den Durchgang zu finden, der aus der Höhle heraus in einen anderen Teil des unterirdischen Reiches führte. Mythor konnte nur hoffen, daß dieser andere Teil über Wasser lag. Fest stand für ihn, daß der Pfad hier nicht aufhören konnte. Niemand bemerkte in dem Getümmel, daß immer wieder Wolfskörper einfach verschwanden, tote wie lebende, die sich mit aller Kraft und unter verzweifeltem Heulen und Winseln gegen das wehrten, was sie in die Tiefe zog. »Nottr!« rief Mythor, als ein halbes Dutzend erschlagener Wölfe wie ein Sperrgürtel im Wasser vor ihnen trieb und ihre Artgenossen für eine Weile beschäftigen würde. »Ich tauche und versuche, den Stollen zu finden! Halte durch, bis ich wieder auftauche!« »Und wenn du nichts findest?« »Es ist unsere einzige Hoffnung!« Mythor erledigte noch einen Angreifer. Dann ließ er sich ins Wasser sinken. Er hörte nicht, was Nottr noch schrie. An der Felswand entlang arbeitete er sich nach unten. Der See war hier tiefer, als er erwartet hatte. Der Pfad mußte in dieser Höhle einen steilen Knick nach unten gemacht haben, aber es mußte einfach eine andere Seite
und einen Durchgang geben! Mythor fand ihn schon nach kurzer Zeit. Noch hatte er Luft. Über ihm schäumte das Wasser. Es war zu dunkel, um viel erkennen zu können. Ein Stollen unter dem See, direkt über dem Grund, wie Mythor es erwartet hatte. Er schwamm hinein, die Hand mit dem Schwert vorgestreckt und damit tastend. Der Stollen war groß genug, daß Riesen aufrecht darin gehen konnten. Mythor schwamm weiter, immer weiter. Kein Licht zeigte ein Ende an. Die Luft wurde knapp. Mythor konnte nicht mehr zurück. Er mußte weiter, bis er die andere Seite erreichte oder erstickte. Endlich sah er einen schwachen Lichtschimmer voraus. Seine Lungen schienen platzen zu wollen. Mythor sah helle, tanzende Punkte vor den Augen. Und dann war das Licht über ihm. Die Felsen wichen zurück. Mit letzter Kraft tauchte Mythor auf. Ein kleinerer See. Das Ufer war nur zwanzig Schritt entfernt, und genau gegenüber der Felswand setzte sich der Quaderpfad fort. Mythor befand sich in einer gewaltigen Höhle. Meterlange Tropfsteine hingen wie gewaltige Lanzen von der Decke herab. Kein Ende der Höhle war zu erkennen. Mythor holte tief Luft und tauchte wieder durch den Unterwassertunnel. Er sah die schäumende Oberfläche im spärlichen Licht der Kristalle über sich und wollte sich vom Grund des Sees abstoßen. Irgend etwas legte sich um sein linkes Bein. Es gab einen furchtbaren Ruck, und Mythor glaubte, sein Körper würde auseinandergerissen. Er sah einen riesigen Fangarm, dann einen zweiten, der wie aus dem Nichts heranschoß und sich um den linken Arm legte. Panik stieg in ihm auf. Er hatte nur noch wenig Luft. Mythor wand sich und versuchte sich zu befreien und sah entsetzt, wie ein dritter Fangarm dicht neben ihm in die Höhe schoß und kurz darauf mit einem toten Wolf zurück
in die Tiefe sank, weg von ihm, dorthin, wo das Ungeheuer saß, zu dem es gehörte. Mythor holte mit dem Gläsernen Schwert aus. Atemnot und Wasser behinderten den Schwung. Dennoch gelang es ihm, den Fangarm um den linken Arm zu durchtrennen. Es zog ihn dennoch weiter in die Tiefe, zur Mitte des Sees hin. Mythor versuchte in höchster Verzweiflung, den Fangarm am Bein mit Alton zu erreichen. Doch immer, wenn er glaubte, zum Schlag ausholen zu können, gab es einen neuen Ruck, und er wurde im Wasser herumgewirbelt. Mythor spürte, wie alle Kraft aus ihm wich. Er machte heftige Schwimmbewegungen, doch der Fangarm hielt ihn fest umklammert. Und jetzt sah er den Leib, zu dem die Arme gehörten. Es war das letzte, was er erblickte, bevor er das Bewußtsein verlor. * »Die Wölfe!« Sadagars Stimme kam Nottr kaum zum Bewußtsein. Wie ein Besessener ließ er sein Schwert auf die schwarzen Körper herabsausen, die längst tot waren. Verzweifelt versuchte er, in der Tiefe etwas zu erkennen. Mythor mußte längst zurück sein, auch wenn er einen Tunnel gefunden hatte. »Sie fliehen, Nottr!« Der Barbar aus den Wildländern hielt mitten im Schlag inne. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen, aber Sadagar hatte recht. Sie schwammen zum Ufer zurück. Sie flohen! Und Nottr erkannte den Grund dafür. Grünlich schimmernde, glatte Arme tauchten aus dem Wasser auf, legten sich um die Körper von toten und in Panik fliehenden Tieren und zogen sie gnadenlos in die Tiefe. »Ein Krake!« rief Sadagar. »Ein Riesenungeheuer! Und My-
thor ist dort unten!« Nottr stieß einen unartikulierten Schrei aus, in dem sein ganzes Entsetzen lag. Mythor mußte längst zurück sein, es sei denn… Ein plötzlich an der Oberfläche treibender Fangarm beseitigte die letzten Zweifel. Er war nur zwei Schritt lang, also nur die Spitze. Und er war mit einem Schwert abgetrennt worden. »Dann ist er jetzt dort unten und kämpft um sein Leben!« schrie der Lorvaner. »Bleib bei den Frauen, Steinmann!« Bevor Sadagar ihn zurückhalten konnte, war Nottr untergetaucht. Die Wölfe stellten im Augenblick keine Gefahr mehr da, dafür aber das Ungeheuer in der Tiefe. Vielleicht lebte Mythor schon nicht mehr. Der Gedanke daran trieb Nottr in die Raserei. Er konnte kaum etwas sehen. Immer tiefer tauchte er, zur Mitte des Sees hin. Plötzlich waren sie da. Zwei Fangarme, die auf ihn zuschossen. Nottr reagierte blitzschnell. Sein Krummschwert durchtrennte sie. Das Wasser um ihn herum färbte sich dunkel. Nottr tauchte weiter. Dann sah er Mythor, verschwommen nur, ein Schatten zwischen anderen, aber in seiner Hand schimmerte das Gläserne Schwert. Nottr machte zwei kräftige Schwimmstöße, durchtrennte einen heranschießenden Fangarm und zerschlug denjenigen um Mythors Bein. Nottr packte den Freund am Nacken und zog ihn von dem dunklen Klumpen fort, den er undeutlich am Grund des Sees sah. Ein einziges, leuchtendes Auge sah ihn drohend an. Zur Oberfläche! Er hatte er sie fast erreicht, als sich etwas um seinen Fuß wickelte. Nottr brachte den Kopf mit einer übermenschlichen Anstrengung über Wasser und holte tief Luft. Für einen kurzen Augenblick sah er Sadagar und die Frauen am Fels. Das,
was ihn in die Tiefe zog, ließ ihm keine Zeit, etwas zu rufen. Er stieß Mythor an die Oberfläche und tauchte wieder. Der Fangarm zog ihn schneller auf das Ungeheuer am Grund zu, als er es selbst schwimmend geschafft hätte. Nottr hoffte, daß Sadagar sich um Mythor kümmern konnte, bevor das Monstrum erneut nach ihm griff. Er selbst hatte nur ein Ziel. Das Ungeheuer mußte getötet werden, wenn er und die Freunde nicht für immer in dieser Höhle festsitzen wollten. Sollte er dabei ums Leben kommen, dann in der Gewißheit, den Freunden wenigstens ein Stückchen weitergeholfen zu haben. Doch noch war es nicht soweit, und Nottr würde seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Noch hatte er Luft und Kraft genug, das Schwert zu führen. Das riesige Zyklopenauge tauchte vor ihm auf. Nottr durchtrennte den Fangarm um seinen Fuß, machte einige kräftige Schwimmbewegungen und war heran. Mit beiden Händen den Griff des Krummschwerts umklammernd, schlug er es in dieses furchtbare Auge. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das Wasser um ihn herum in ein einziges Chaos aus peitschenden und zuckenden Armen. Nottr sah einen gewaltigen zuckenden Schlund vor sich, in dem noch die Körper von Wölfen steckten, zur Hälfte verschlungen. Nottr kämpfte wie ein Berserker, achtete nicht auf die Fangarme, die sich um ihn legten, schlug zu, immer wieder und überall da, wo sich die Gelegenheit bot. Sein Schwert zerfetzte den Rand des Schlundes, bohrte sich immer wieder in den unförmigen Körper, dessen Auge erloschen war. Das Ungeheuer bebte. Fangarme schossen ziellos an Nottr vorbei in die Höhe. Er schlug weiter zu, zerteilte sie, wenn sein Schwert sie erreichen konnte. Das Monstrum lag in den letzten Zuckungen. Nottr kämpfte noch, als sich die Schwärze der
Bewußtlosigkeit über ihn senkte. Mythor schlug die Augen auf. Jemand schwamm neben ihm und hielt seinen Kopf über Wasser. Mythor schnappte nach Luft, sog sie gierig in seine Lungen, bis sein Blick sich endlich klärte. Er sah Sadagar, aufgepeitschtes Wasser, überall um ihn herum grüne Spitzen von Fangarmen, die ziellos hin und her zuckten. »Nottr ist dort unten!« schrie der Steinmann. »Er brachte dich herauf!« Einen Augenblick lang starrte Mythor Sadagar verständnislos an. Er sah, daß Kalathee und Nyala sich an den Fels geklammert hatten. Die überlebenden Wölfe waren ans Ufer gelangt und umschlichen den See hechelnd, aber keiner wagte mehr, auch nur eine Pfote ins Wasser zu stecken. Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück. Mythor begriff endlich. »Schwimm zu den beiden zurück, Steinmann!« sagte Mythor schnell. Er holte tief Luft und tauchte. Zum zweitenmal verhallten Sadagars Proteste ungehört. Wieder war er allein mit den beiden Frauen, Auge in Auge mit den lauernden Wölfen, geradezu auf Tuchfühlung mit etwas, das aus der Tiefe kam und zu dem sich Nottr und Mythor hinabbegeben hatten, ohne daß er etwas tun konnte, um ihnen zu helfen. Er mußte bei den Frauen bleiben. Die Zeit zog sich endlos lang hin. Sadagar war an der Felswand zwischen Nyala und Kalathee. Vor ihm schäumte das Wasser im fahlen Licht der leuchtenden Steine. Immer weniger der grünen Pfeile schossen an die Oberfläche, zuckten in der Luft und fielen klatschend und schlaff ins Wasser zurück. Was dort unten in der Tiefe saß, starb. Es lag in den letzten Zuckungen. Nottr hatte sich geopfert, dachte Sadagar erschüttert: Das, was er, Mythor und Kalathee so sehr gefürchtet hatten, war eingetreten.
Steinmann Sadagar stieß einen Freudenschrei aus, als er seinen Irrtum erkannte. Mythors Kopf tauchte auf, daneben Nottr. Diesmal war es umgekehrt. Mythor kam mit dem bewußtlosen Lorvaner herangeschwommen. Sadagar packte mit an. Zusammen mit Mythor brachte er den Barbaren auf den Felsvorsprung unter Wasser, auf dem sie standen. »Das Biest stört uns nicht mehr«, sagte Mythor, während er Nottr ins Bewußtsein zurückzubringen versuchte. »Ich habe einen Tunnel entdeckt. Auf der anderen Seite sind wir vor den Wölfen sicher.« Mythor sagte es ohne großen Optimismus. Sadagar kannte den Grund. Vor den Wölfen sicher, aber immer noch gefangen in diesem unterirdischen Labyrinth, das vielleicht erst einen Teil seiner Schrecken offenbart, vielleicht nur einen kleinen Vorgeschmack gegeben hatte. Außerdem würden die Wölfe nach einem anderen Weg aus der Höhle suchen. Nottr kam zu sich. Er hustete und spuckte Wasser aus. Dann schlug er endlich die Augen auf. »Was ist…?« Mythor und Sadagar erklärten ihm, was geschehen war, daß Mythor ihn bewußtlos in den Fangarmen des Ungeheuers gefunden hatte und ihn im letzten Augenblick aus der Umklammerung befreien und an die Oberfläche bringen konnte. »Dann hast du mir das Leben gerettet«, murmelte Nottr. »Schon wieder.« »Du hast mich gerettet, Barbar. Wir sind quitt.« Mythor zwinkerte Sadagar zu und sagte noch: »Schon wieder.« In gut gespielter Verzweiflung schüttelte der Steinmann den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie jemand in unserer Lage scherzen kann«, beschwerte er sich. »Wie sieht es auf der anderen Seite aus, Mythor? Wie lang ist der Tunnel?« Mythor verstand, was er meinte. Er und Nottr waren gute Taucher. Sadagar machte sich auch keine Sorgen um sich selbst. Aber
die Frauen? Kalathee nickte tapfer und brachte ein Lächeln zustande. Doch Nyala hatte den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. »Wir nehmen sie in die Mitte, Nottr«, sagte Mythor. »Wir werden sie durchbringen!« »Und wenn sie nicht atmet? Wenn sie den Tod suchte?« »Sie wird atmen.« Nottr fluchte leise vor sich hin. Er sah an sich hinab. Keine Wunden, nur rote Stellen, wo die Fangarme in sein Fleisch geschnitten hatten. »Wartet!« knurrte er und tauchte. »Was ist jetzt schon wieder?« fragte Sadagar irritiert und gereizt. Nottr selbst gab die Antwort. Nach kurzer Zeit kehrte er an die Oberfläche zurück, sein Krummschwert triumphierend in der Hand. »Das Ding dort unten braucht kein Andenken an mich«, sagte er grinsend. »Von mir aus kann es losgehen.« Mythor und Nottr packten Nyala an den Armen. Sie holten tief Luft. Nottr wollte sich schon ins Wasser gleiten lassen, als Mythor den Kopf schüttelte. Nyala hatte nicht einmal leicht Luft geholt. »Und sie wird atmen«, sagte Mythor finster. »Laß sie noch einmal los, Nottr.« Mythor nahm Nyala in den linken Arm und tauchte ihren Kopf unter Wasser. Als er sie hochzog, schnappte sie schreiend nach Luft. Mythor ließ sie tief einatmen, dann legte er ihr die Hand vor Mund und Nase. »Jetzt, Nottr!« Der Lorvaner hatte sein Schwert wie Mythor in den Gürtel gesteckt und griff wieder zu. Nyala verdrehte die Augen, als die Männer sie mit sich in die Tiefe zogen. Sadagar folgte mit Kalathee. Diesmal brauchte Mythor nicht lange zu suchen. Mit der sich windenden Nyala zwischen sich tauchten er und Nottr in den Tunnel. Endlich kam Nyala zur Ruhe. Mythor und Nottr ver-
langten sich das Letzte ab, um so schnell wie möglich wieder aufzutauchen. Kalathee und Sadagar folgten in Sichtweite, soweit man von »Sicht« sprechen konnte. Alles, was in der fast vollkommenen Dunkelheit zu erkennen war, war der leichte Schimmer von Mythors Gläsernem Schwert Alton. Auch sie hatten sich bei den Händen gepackt. Kalathee hielt tapfer mit. Sadagar brauchte sie nicht zu ziehen. Dennoch glaubte er, seine Lungen müßten platzen, als sie endlich wieder einen Lichtschimmer über sich sahen. Neben den anderen tauchten sie auf. Der kleine See war vollkommen ruhig. Nichts deutete darauf hin, daß in ihm ähnliches Leben existierte wie auf der anderen Seite des Tunnels. Mythor und Nottr zogen Nyala auf den Quaderpfad und legten sie ab. Sie atmete und war bei Bewußtsein. Die Luft war hier stickiger. Von der Decke tropfendes Wasser rann in kleinen Rinnsalen von allen Seiten in den See. Der Pfad stieg wieder leicht an, was den Gefährten die Hoffnung gab, daß sie schon bald einen Weg an die Oberfläche finden würden, wenn auch kein Ende der riesigen Tropfsteinhöhle in Sicht war. »Wir dürfen nicht rasten«, mahnte Mythor. »Die Luft ist viel zu schlecht. Wir würden hier ersticken.« Als Nyala keine Anstalten machte, ihnen zu folgen, warf Mythor sie sich kurzerhand über die Schulter. Sie marschierten weiter. Es war kalt, und die nassen Kleider klebten an ihren Körpern. Immer wieder sah Mythor skeptisch nach oben. Die Decke selbst war in der Mitte der Höhle mindestens zehn Mannslängen hoch. Am Boden liegende, zersprungene Tropfsteine sprachen eine deutliche Warnung. Mythor dachte wieder daran, daß die unbekannten Baumeister dieses unterirdischen Rei-
ches, des Pfades und der Katakomben, Fallen errichtet haben könnten, um Eindringlinge daran zu hindern, an Orte zu gelangen, die nicht für sie bestimmt waren. Vielleicht hatte das getötete Monstrum eine Art Wächterfunktion zu erfüllen gehabt. Andere hätten vielleicht an Schätze gedacht, die es hier irgendwo zu finden gab, das Vermächtnis einer uralten Kultur. Mythors Bestreben ging einzig und allein dahin, die Gefährten und sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, ans Tageslicht, irgendwo weit außerhalb der Stadtmauern von Lockwergen. Kein Wolfsgeheul war mehr zu hören. Die bis auf das Tropfen und Plätschern von Wasser und die Schritte der Menschen vollkommene Stille war fast noch bedrückender. Endlich, nach fast einer Stunde ununterbrochenen Marschierens, war das Ende der Höhle erreicht. Der Boden stieg nun stärker an, und voraus klaffte dunkel eine Öffnung im Fels vor den Freunden, in die der Titanenpfad mündete. Mythor bedeutete den Gefährten stehenzubleiben. Er blickte sich um. Vom See war längst nichts mehr zu sehen, aber die Höhle lag nun ein gutes Stück tiefer als der Stollen. Wenn der Pfad weiter nach oben verlief, mußte es irgendwo einen Ausgang an die Oberfläche geben. »Was ist, Mythor?« fragte Kalathee. Sadagar hatte seine Samtjacke ausgezogen und sie ihr über die Schultern gehängt. Dennoch zitterte sie. Mythor deutete nach oben. Fast genau über dem Eingang des Stollens hing in etwa drei Mannslängen Höhe ein Tropfstein. »Eine Falle?« fragte Nottr mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht.« Mythor versuchte die Entfernung bis zum Stolleneingang abzuschätzen. Gute zwanzig Schritt. Einer der Quader konnte
den unbekannten Mechanismus auslösen, sobald er mit einem Gewicht belastet wurde. Wer ahnungslos über die Steine schritt, würde zermalmt werden, bevor er richtig begriff, was geschah. »Wir gehen um die Quader herum«, sagte Mythor. »Wir rennen!« Sadagar und Kalathee liefen als erste los, dann Nottr und als letzter Mythor mit Nyala über der Schulter. Drei Felsquader befanden sich zwischen ihnen und dem Gang. Mythor erreichte die Gefährten und übergab Nyala an Nottr. »Was hast du vor?« Nottr beantwortete seine Frage selbst: »Das ist Leichtsinn, Mythor. Was hast du davon, wenn…?« »Gewißheit, Nottr. Und wenn ich recht behalte, versperren wir den Wölfen den Weg, falls sie doch noch eine Möglichkeit finden sollten, uns bis hierher zu folgen.« Der Lorvaner protestierte nicht mehr. Sadagars Warnung blieb unausgesprochen, aber seine Blicke sprachen Bände. Mythor ging wieder um die drei Quader herum den Weg zurück. Dann holte er tief Luft und rannte los. Mit seinem vollen Gewicht landete er auf dem ersten Felsquader. Von irgendwoher kam ein krachendes, mahlendes Geräusch. Mythor sah kurz hoch und rannte weiter. Der Tropfstein löste sich knirschend und kam herab, unmittelbar vor dem Stolleneingang, nur einen Herzschlag nachdem Mythor sicher bei den Gefährten war. Staub wirbelte auf und zog in den Gang. Der Stein zersplitterte in tausend Teile. Ihm folgte eine Geröllawine und verschüttete den Eingang. Mythor nickte grimmig. »Das war sehr schlau von dir«, tadelte Sadagar ihn. »Jetzt wissen diejenigen, die den Pfad anlegten, wenigstens, daß sich jemand in ihrem Reich herumtreibt.« »Sie leben nicht mehr, Steinmann. Und sollte es weitere
Wächter geben, müssen sie denken, wir seien hier zermalmt worden. Gehen wir weiter.« »Ja«, murmelte Sadagar. »Und sie kommen vielleicht, um nachzusehen, ob wir auch alle begraben worden sind. Und auch die Wölfe werden es gehört haben, und überhaupt…« Niemand verstand mehr, was der Steinmann brummte. Das Gefangensein in diesem Labyrinth zerrte an seinen und der Gefährten Nerven. Sie sahen schon Gespenster und begannen Stimmen zu hören, die nicht da waren. Durch die leuchtenden Steine in den Wänden kam es hin und wieder zu gespenstischen Schattenspielen. Schatten, die so schwach waren, daß es aussah, als färbten sich die Felsen nur um eine winzige Spur dunkler, als die fünf an ihnen vorbeigingen. Nyala war wieder selbst auf den Beinen und trottete willenlos neben den anderen her. Der Stollen schien kein Ende nehmen zu wollen. Mythor beobachtete die Wände. Die leuchtenden Steine staken in einer ganz bestimmten Anordnung in den Wänden. Mythor gewann immer mehr die Überzeugung, daß sie in die Felsen hineingesetzt worden und nicht auf natürliche Weise gewachsen waren. Die Gefährten rasteten, obwohl die Luft noch schlechter geworden war. Anschließend setzten sie ihren Weg fort, und endlich erreichten sie das Ende des Ganges und damit gleichzeitig das Ende des Pfades. »Verschüttet«, stellte Sadagar trocken fest. »Und nun?« Mythor sah nach oben. Von der Decke des Stollens waren Unmengen an Gestein herabgekommen und hatten den Gang völlig verschüttet. Keine Maus konnte durch die aufgetürmten Brocken schlüpfen. Wo das Gestein sich gelöst hatte, klaffte ein Spalt in der Decke, mehrere Schritt lang, aber nur etwa einen halben breit. Mythor glaubte, daß die Luft hier etwas frischer sei. Spärliches Licht erfüllte den Spalt, ohne daß Leuchtsteine
zu erkennen waren. Dann war das der Weg nach oben? Mythor hütete sich vor übereiltem Optimismus. Er wußte nur eines. »Wir müssen klettern«, murmelte er. Und er wußte, was Sadagar sagen würde, noch bevor dieser den Mund aufmachte. »Zurück können wir nicht, dank deiner… Neugier. Wenn der Spalt sich nach oben hin weiter verengt, sitzen wir fest und sind lebendig begraben. Niemand holt uns hier heraus.« »Wir versuchen es.« Mythor überzeugte sich davon, daß das Schwert fest in seinem Gürtel saß, und begann, an den herabgekommenen Felsen hinaufzuklettern, bis er den Oberkörper in den Spalt stecken konnte. Seine tastenden Finger fanden einen Halt. Er zog sich weiter in die Höhe, setzte die Füße auf Vorsprünge und arbeitete sich hinauf, bis der Spalt sich etwas verbreiterte und er auf einem schmalen Vorsprung stehen konnte. »Kommt jetzt nach!« rief er nach unten. Seine Stimme wurde hallend von oben zurückgeworfen. Also mußte es dort zumindest einen größeren Hohlraum geben. »Nottr, zuerst Nyala. Schiebe sie zu mir herauf, wenn es sein muß. Ich nehme sie in Empfang.« Einige Minuten später stand sie neben ihm auf dem Vorsprung. Für einen weiteren Menschen bot der Spalt an dieser Stelle keinen Raum. Mythor mußte weiter nach oben klettern, als Nottrs Oberkörper erschien. Der Lorvaner kümmerte sich um Nyala, während Mythor wieder kletterte und von unten Sadagar und Kalathee folgten. Elle um Elle arbeitete Mythor sich weiter aufwärts. Wieder verengte sich der Spalt, so daß er Mühe hatte, seinen Körper hindurchzuzwängen. Allmählich wurde es heller und die Luft immer besser. Dann schob Mythor den Kopf in den von ihm vermuteten Hohlraum. Er kletterte aus dem Spalt. Der Hohlraum war groß
genug, um alle fünf aufzunehmen. In der Decke befand sich eine Kaminöffnung, die weiter aufwärts führte. Doch Mythor glaubte nicht, daß eine weitere Kletterpartie vonnöten sei. In einer der Wände befand sich eine schrittbreite und mannshohe Öffnung, für einen Menschen geradezu wie geschaffen. Mythor spähte hindurch. Vor seinen Augen breiteten sich wieder Katakomben aus. Mythor erschrak. Waren sie am Ende im Kreis gegangen und wieder unter dem Zentrum Lockwergens? Aber das war unmöglich. Der Quaderpfad hatte sich schnurgerade in eine Richtung hingezogen. Wenn es hier wieder Katakomben gab, konnte das vielmehr bedeuten, daß sie tatsächlich dem Ausstieg an die Oberfläche ganz nahe waren. Mythor ging zum Felsspalt zurück und rief den Gefährten zu, was er entdeckt hatte und daß sie heraufkommen sollten. Gleich darauf waren sie wieder alle fünf beisammen. Mythors Zuversicht wurde allerdings durch Geräusche getrübt, die er inzwischen aus den Katakomben gehört hatte. Wolfsgeheul. Noch war es entfernt, aber da war noch etwas anderes, was sich hineinmischte. Die Gefährten mußten eine Weile warten, bis sie Gewißheit hatten. Stimmen von Männern und Schreie. Das war Kampfeslärm. Während die Freunde noch fassungslos darüber rätselten, wie die Wölfe so schnell einen anderen Weg aus der großen Höhle heraus hatten finden und spüren können, wohin die Gejagten marschiert waren, quollen sie aus den in die Katakombenhalle mündenden Gängen. Wölfe und… Caer! Nottr unterdrückte einen Aufschrei. Keiner der Gefährten verstand, was sich nun vor ihren Augen abspielte. Aus ihrem noch sicheren Versteck heraus beobachteten sie, wie immer mehr Wölfe und Caer-Krieger in die Katakomben drangen und sich einen Kampf auf Leben und Tod lieferten.
Corchwlls Wölfe gegen Drundyrs Caer. Es waren die Krieger, die mit Drundyr auf dem Marktplatz von Lockwergen den Dämon erwartet hatten und eigentlich längst auf See sein müßten, denn jetzt war auch Drundyr zu erkennen, der, von einem Dutzend Krieger abgeschirmt, die Caer dirigierte. Die Wölfe hatten eine neue Beute gefunden. Rasend vor Gier, zerfetzten sie einen Caer nach dem anderen. Höllenhunde starben durch die Schwerter der Krieger, doch immer noch schien ihre Zahl unbegrenzt. Was Mythor vermutet hatte, wurde nun zur Gewißheit. Corchwll war nirgendwo zu sehen. Auch in der Höhle hatten sich nur seine Wölfe befunden. Dies und das Verschwinden der Statue, aus der sein Dämon die Lebenskraft bezog, konnten nur bedeuten, daß der Wolfsmann tot war, und Mythor ahnte, welches grausame Ende er gefunden hatte. Darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Der Weg durch die Katakomben war versperrt. Noch hatten die Wölfe ihre Witterung nicht aufgenommen und sie nicht entdeckt. Die Gefährten mußten nun doch weiterklettern, durch den Kamin in die Freiheit, solange der Kampf in den Katakomben tobte, ein Kampf, an dessen Ende es wahrscheinlich nur wenige Überlebende geben würde. Auch das magische Geschrei Drundyrs half seinen Kriegern nicht. Die Wölfe hatten nur einem Herrn gehorcht, und der war nicht mehr. »Kommt«, flüsterte Mythor. Er sah zur Decke auf. »Nottr, du mußt mich hochstemmen, damit ich…« Mythor kam nicht weiter. Nyala schien aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Einen Augenblick lang unbeobachtet, hatte sie sich beim Anblick Drundyrs in Bewegung gesetzt und rannte aus dem Versteck in die Katakomben, bevor einer der Gefährten sie zurückhalten konnte. Sie schrie und lief direkt auf den Caer-Priester zu.
Der fuhr herum, sah sie und handelte augenblicklich. Ein halbes Dutzend Caer-Krieger war bei ihr, bevor die aufmerksam gewordenen Wölfe sie erreichten. Drundyr riß sie an sich und starrte über ihre Schulter geradewegs auf die Öffnung in der Wand, aus der sie gekommen war. Der Priester lachte höhnisch. Sein Gelächter wurde von den Felswänden zurückgeworfen, als er sich Nyala über die Schulter warf, ein weiteres Dutzend Krieger zu sich befahl und die Faust triumphierend denjenigen entgegenschüttelte, denen Nyala entkommen war und von denen er immer noch nicht wissen konnte, wer sie waren. Dann warf er sich herum und rannte, abgeschirmt von den verbissen kämpfenden Kriegern, auf einen der Gänge zu, aus denen Caer und Wölfe gekommen waren, während die anderen Krieger weiter gegen die Bestien kämpften. * Mythor hatte der Schock für wertvolle Augenblicke gelähmt. Als er zu sich kam, schien es für Nyala zu spät zu sein. Doch er war nicht gewillt, sie in den Klauen des Priesters zu lassen, solange es eine Chance gab, ihn noch einzuholen. »Ihr bleibt hier!« sagte er befehlend zu den anderen. »Wartet, bis ich zurück bin! Nottr und Sadagar, ihr seid für Kalathee verantwortlich!« »Nein!« schrie Kalathee. »Mythor, bleib!« Mythor rannte bereits über eine kleine Geröllhalde in die Katakomben hinab. Er stolperte, fing sich, stürmte weiter mit erhobenem Schwert auf Drundyr zu, der den Gang fast erreicht hatte. Keine Wölfe stürzten sich auf Mythor und das Versteck der Freunde. Sie hatten nur Augen für die Caer. Aber Drundyr war stehengeblieben, als habe ihn der Blitz getroffen, als er Kalathee Mythors Namen schreien hörte. Er
fuhr herum, Nyala mit einer Hand auf der Schulter haltend. Mehrere Herzschläge lang war er wie gelähmt. Aus geweiteten Augen starrte er den Mann an, der mit dem Gläsernen Schwert auf ihn zustürmte. Seine Lippen formten seinen Namen. Drundyr überwand den Schock, bevor Mythor heran war. Mit seinen Kriegern und Nyala rannte er zum Eingang des Stollens. Mythor rannte hinterher, durchquerte mit großen Schritten die Katakomben, achtete nicht auf die zu beiden Seiten Kämpfenden, trennte im Laufen einem anspringenden Wolf den Kopf vom Rumpfund sah Drundyr im Gang verschwinden. »Bleib stehen!« brüllte er. »Nyala!« Drundyr tat ihm nicht den Gefallen, und Nyala dachte nicht daran, auf ihn zu hören. Mythor hatte den Gang fast erreicht, als die Erde zu beben begann. Steinmassen lösten sich aus der Decke und verschütteten in Sekunden den Eingang des Stollens. Und noch durch die Steine hindurch war Drundyrs Lachen zu hören, obwohl einige seiner Krieger von den Felsen erschlagen und begraben worden waren. Mythor stand, von rasender Wut gepackt, vor dem verschütteten Eingang und spaltete Steine mit dem Schwert. So groß war seine Verzweiflung, daß er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum geschah, bis eine kräftige Hand sich auf seinen Arm legte. »Es ist sinnlos«, sagte Nottr. »Hör auf damit, Mythor. Du machst es nicht ungeschehen.« Mythor starrte den Freund an, unfähig, etwas zu sagen. Mit zusammengepreßten Lippen betrachtete er die Steinmassen. »Das war Drundyrs Magie«, sagte Nottr finster. »Du wirst ihn nicht einholen können, nicht auf diesem Weg und nicht auf einem anderen. Komm mit mir, Mythor. Wir warten auf dich.«
Der Lorvaner sprach mit so sanfter Stimme, wie Mythor sie bei ihm noch nie gehört hatte. Mit verschlossener Miene nickte er. Drundyrs Anblick allein hatte genügt, um Nyala sofort wieder in den Bann des Priesters zu ziehen. Wie töricht war es gewesen, anzunehmen, daß sie davon befreit werden konnte, wenn sie für gewisse Zeit von Drundyr und dessen Dämon getrennt war. Mythor und Nottr mußten sich ihren Weg zurück zu den Gefährten erkämpfen. Die Wölfe stürzten sich nun auch auf sie. Seite an Seite kämpften die beiden Recken. Die Caer griffen sie nicht an. Jetzt, da sie sich von ihrem Priester verraten sahen, kämpften sie verzweifelt ums nackte Leben, und Mythor sollte nie erfahren, ob sie oder die Wölfe am Ende Sieger blieben. Seine Bewegungen waren mechanisch. Ein Wolf nach dem anderen fand den Tod durch das Gläserne Schwert. Nottr focht mit der Rechten. Mit der Linken zerrte er Mythor mit sich. Wie im Traum bewegte Mythor sich durch die Katakomben und führte die Klinge mit solcher Kraft und Verbissenheit, daß ein, zwei Schläge genügten, um Wölfe niederzustrecken. Erst als Nottr ihn in das Versteck stieß, kam er zu sich. Kalathee warf sich in seine Arme. In ihrem Blick war keine Spur von Triumph darüber, daß die Nebenbuhlerin nicht mehr bei ihnen war. Nichts brachte Nyala wieder zurück. Wenn er Drundyr jemals stellen wollte, mußte Mythor an die Oberfläche. Er zweifelte nicht daran, daß der Priester mit Nyala schon auf dem Weg ins Freie war. »Klettert in den Kamin«, sagte er mit tonloser Stimme. »Nottr und ich halten die Wölfe zurück.« Mythor stellte sich in den Spalt zwischen Hohlraum und Katakomben und wehrte die Wölfe ab, die von den Caer abgelassen hatten, um sich der neuen Beute zuzuwenden. Nottr hob Sadagar auf seine Schultern, so daß der Steinmann im Felska-
min Halt fand und sich in ihm hochziehen konnte, bis er die Hand ausstreckte, um Kalathee in Empfang zu nehmen. Mythor tötete noch zwei Wölfe, dann folgten er und Nottr den anderen. Sie kletterten immer höher in den Kamin hinauf – in die Freiheit oder in ein neues Labyrinth. * Der Anblick des schwarzen Schiffes hätte Drundyr Erleichterung verspüren lassen sollen, ihm das Gefühl von Sicherheit geben müssen, nachdem auch sein Leben in den Katakomben in Gefahr gewesen war, als er mit seinen Kriegern unvermittelt auf die herrenlose Wolfsmeute gestoßen war. Drundyr hätte Triumph darüber empfinden müssen, daß er Nyala von Elvinon denen wieder abgejagt hatte, die für Corchwlls Ende verantwortlich waren. Mythor!
Der Schock saß noch in den Gliedern des Caer-Prie-sters. In den Stunden, die er mit Nyala und den ihm verbliebenen Kriegern für den Weg zurück in die Katakomben unter Lockwergen und zum Hafen gebraucht hatte, waren seine Gedanken nur um diesen Mann gekreist, den er für tot gehalten hatte. Mythor war nicht nur den Spinnenungeheuern im Meer entkommen, sondern auch den Barbaren an der Küste von Dandamar. Mehr noch – er mußte Kampfgefährten gefunden haben, denn allein hätte auch er nichts gegen Corchwll ausrichten können. Er war schuld, daß Drundyr nun mit leeren Händen vor Drudin hintreten mußte. Weder hatte er etwas über die gefährlichen Nebenwirkungen der magischen Waffe herausgefunden, noch war es ihm gelungen, mit der Beschwörung Corchwlls und seiner Wölfe Lockwergen zu einer Bastion der Dunklen Mächte zu machen.
Dieser doppelte Mißerfolg würde ihn bei Drudin mehr als nur in Ungnade fallen lassen. Jetzt mußte er nicht nur befürchten, in der Hierarchie der Priester zurückgestuft zu werden, sondern gar, daß Drudin ihn mit dem Verlust seiner magischen Kraft bestrafte. Drundyr bemerkte die fragenden Blicke der Krieger, die darauf warteten, daß er als erster das Schiff betrat. Drundyr faßte einen verwegenen Entschluß. Sofort meldete sich der Dämon in ihm, doch unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihm, ihn vorerst noch zurückzudrängen, bis er allein war. »Geht allein an Bord!« befahl er den Kriegern. »Ich bleibe mit der Frau zurück und warte ab, ob unsere Männer die Wolfsmeute besiegen konnten. Allein würden sie verloren sein.« »Aber großer Drundyr«, wagte einer der Krieger einzuwenden. »Drudin erwartet deinen Bericht, und es…« »Schweig!« herrschte Drundyr den Mann an. »Ihr habt meine Befehle zu befolgen, nichts weiter! Segelt nach Akinborg. Ich werde mit den Überlebenden versuchen, mich auf dem Landweg zum von Caer beherrschten Teil Tainnias durchzuschlagen!« Die Krieger wagten nicht mehr zu widersprechen. Wortlos gingen sie an Bord des schwarzen Schiffes und nahmen ihre Plätze ein. Ein leichter Wind war aufgekommen und blähte die Segel. Nur diesem Umstand war es zu verdanken, daß das Schiff überhaupt den Hafen mit kaum zwanzig Mann Besatzung verlassen konnte. Nur wenige Ruder wurden bewegt. Drundyr und Nyala warteten, bis das Schiff im offenen Meer war. Nyala blickte ihn erwartungsvoll an. Zumindest diese Genugtuung hatte Drundyr, daß sie sich kaum verändert hatte und ihm sofort wieder hörig war. Der Wolfsmann hatte ihm Andeutungen darüber gemacht, daß er sie zur Wolfsfrau umwandeln wolle. Er war nicht dazu gekommen.
Drundyr dachte nicht daran, nach Tainnia zurückzukehren, wie er es den Kriegern gesagt hatte. Unter den gegebenen Umständen wäre es sein persönliches Verderben gewesen. Er konnte Drudin nicht unter die Augen treten – jetzt nicht. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit zur Ehrenrettung. Auf jeden Fall mußte er einen Weg finden, der Bestrafung durch Drudin zu entgehen. Er brauchte Zeit. Und der Dämon wußte, was er vorhatte. Nun griff er mit aller Macht nach Drundyrs Bewußtsein. Der Caer-Priester stöhnte, griff sich an die Schläfen und mußte sich auf eine Truhe setzen, eines der vielen Frachtgüter, die für die verlassenen Handelsschiffe im Hafen bestimmt gewesen und nie an Bord gelangt waren. »Was ist mit dir?« fragte Nyala. In ihrer Stimme lag die Angst um den Mann, der allein sie jetzt schützen konnte. »Sieh mich nicht an!« befahl Drundyr barsch. Seine helle Stimme überschlug sich. Noch fester preßte er die Hände gegen die Schläfen und schloß die Augen. Der Dämon in ihm wollte mit aller Kraft seine Pläne durchkreuzen. Er gehörte zu den Mächten des Dunkels und wußte, daß Drundyr für sein Versagen bestraft und daß Drudin über das Vorgefallene in Kenntnis gesetzt werden mußte. Unter Aufbietung all seines Willens gelang es Drundyr nach einer Weile, die Kräfte des Dämons zu unterdrücken. Er wußte, daß es von nun an aller Wachsamkeit und Willenskraft bedurfte, um den Dämon unter Kontrolle zu halten. Er stand auf und nahm Nyala bei der Hand. Er wartete nicht auf zurückkommende Krieger. Es würden keine Caer aus den Katakomben zurückkehren. Drundyr zog Nyala mit sich. Willig folgte sie ihm. Drundyrs Weg führte nach Süden, und in seinem Inneren keimte nun ein ebenso reizvoller wie scheinbar absurder Gedanke. Warum sollte er nicht versuchen, sich dem dunkelhaarigen
Heroen anzuschließen? Warum sollte er sich die unheimliche Kraft, die Mythor innezuwohnen schien, nicht zunutze machen? Wenn überhaupt, konnte er sich in Mythors Nähe Hilfe und vielleicht seine Rettung erhoffen, bevor er wieder voll in den Bann seines Dämons geriet, wenn dieser seine Absichten gänzlich durchschaute. Noch konnte er sie vor ihm verborgen halten. Aber irgendwann würde seine Kraft erlahmen. Der Gedanke war nur scheinbar paradox. Er, der Priester der Caer, beabsichtigte, sich einem Mann anzuschließen, der ganz offensichtlich auf der anderen Seite kämpfte – auf der des Lichtes. Und doch trieb ihn etwas in seinem Inneren dazu. Es gab keine andere Möglichkeit. Hier stand er allein auf weiter Flur, und seine Weigerung, mit den Kriegern zu segeln, würde Drudin nicht länger zögern lassen, allerhärteste Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Drundyr schritt kräftiger aus. Nyala blieb folgsam an seiner Seite. Er marschierte weiter nach Süden. Und irgendwo dort hoffte er, Mythor und seine Gefährten zu finden. * Mythor hatte geglaubt, die Katakomben lägen nur wenige Meter unter der Oberfläche, so, wie es in Lockwergen der Fall gewesen war. Folglich mußte auch der Felskamin nur wenige, schlimmstenfalls ein halbes Dutzend Mannslängen hoch sein. Das war ein Irrtum gewesen. Obwohl es immer heller und die Luft immer frischer wurde, schien die kraftraubende Kletterei kein Ende nehmen zu wollen. Mythor schwitzte, und immer häufiger rutschten seine Hände an knappen Vorsprüngen ab. Aber er war wie besessen. Irgendwo dort oben, so sagte er sich, steckte Drundyr, und vielleicht war sein Schiff noch nicht ausgelaufen. Vielleicht hatte er nur noch wenige Männer
bei sich und mußte sich eine neue Besatzung aus den um Lockwergen herum liegenden Dörfern rekrutieren. Mythor wußte, daß er sich unsinnigen Hoffnungen hingab, aber diesmal kämpfte er nicht dagegen an, denn sie gaben ihm die Kraft, sich bis zum Letzten zu verausgaben. Irgendwo mußte dieser Kamin ein Ende haben. Mythor hatte viel Zeit zum Nachdenken, als er sich allein nach oben arbeitete, und er machte sich schwere Vorwürfe. Er hätte wissen müssen, wie Drundyrs Anblick oder der Klang seiner Stimme auf Nyala wirken würde. Nicht nur die einstmals begehrte Frau war wieder in den Klauen des Caer. Mythor begriff erst jetzt richtig, wie wertvoll sie für ihn hätte sein können, wenn es gelungen wäre, sie zu sich zu bringen. Vielleicht stand sie unter einer magischen Sperre, die verhinderte, daß sie über das sprach, was ihr und ihrem Vater widerfahren war und was sie über die Caer, ihre Kriegspläne und ihre Geheimnisse erfahren hatte. Möglicherweise aber hätte sie Mythor Wissen von unschätzbarem Wert liefern können. Diese Chance war vertan. Mythor kletterte weiter. Nur dann und wann hielt er inne, um nach unten zu hören, wo die Gefährten folgten. Mythor hatte erklärt, er wolle voransteigen, um an der Oberfläche mögliche Gefahren auszukundschaften. In Wahrheit wollte er für eine Weile mit sich und seinen Gedanken allein sein. Mechanisch setzte er eine Hand über die andere, suchte und fand mit den Füßen Halt auf kleinen Vorsprüngen im Fels oder in Spalten. Zweimal konnte er sich nur mit allergrößter Kraft und Geschicklichkeit durch eine Verengung im Kamin zwängen. Endlich sah er die Felsen über sich nach allen Seiten zurückweichen und war überrascht, denn das Licht war nicht so hell, wie es hätte sein sollen. Mythor kletterte weiter, schob seinen Oberkörper ins Freie und schalt sich einen Narren.
Es konnte nicht heller sein. Dichter Morgennebel verhüllte die Landschaft. Mythor konnte keine dreißig Schritt weit sehen. Aber er wußte eines: Er war nicht in Lockwergen, sondern irgendwo weit außerhalb der Stadt. Er stieg ganz aus dem Kamin und rief den Freunden zu, daß auch sie es bald geschafft hätten. Er stand auf der Kuppe eines kleinen Erdhügels. Auf dem Boden, der sich im Lauf der Jahrhunderte auf den Felsen angesammelt hatte, wuchs Gras. Jetzt verstand Mythor, weshalb die Kletterei so lange gedauert hatte. Er atmete die frische, würzige Luft und starrte einige Augenblicke in den Nebel. Er genoß es, keine Gewölbe aus Stein über seinem Kopf zu haben, nicht befürchten zu müssen, daß plötzlich Wolfsrudel aus dem Nebel brachen oder andere Gegner auftauchten. Hier war alles ruhig. Ein neuer Tag zog herauf. Er kehrte zum Kamin zurück und half den Gefährten heraus. Bald standen sie alle vier nebeneinander. Allmählich hob sich der Morgennebel. Saftige Wiesen nach allen Richtungen. Die Freunde hatten keine Ahnung, wo und wie weit von Lockwergen entfernt sie sich befanden. Nicht im Norden, denn dort war das Gelände rauher. Im Süden, vermutete Mythor, der kaum noch daran zweifelte, daß sie dem Titanenpfad gefolgt waren und vielleicht schon bald wieder auf diesen stoßen würden, wenn er an der Oberfläche der Welt weiter verlief, immer weiter nach Süden, bis nach Gianton, der Titanenstadt der Caer. Doch nicht Gianton durfte Mythors Ziel sein. Es war, als seien mit dem Tageslicht alle finsteren Gedanken an das, was sich in den Katakomben ereignet hatte, weggefegt worden. Mythor gab seinen Vorsatz auf, nach einer Spur Drundyrs zu suchen. Er wertete es als Omen, beim Anbruch eines neuen Tages in
die Freiheit zurückgefunden zu haben. Was geschehen war, mußte er hinter sich lassen. Vielleicht lief ihm Drundyr früher wieder über den Weg, als er jetzt ahnen konnte. Ein neuer Tag, ein neuer Anlauf. »Althars Wolkenhort«, murmelte der dunkelhaarige Recke. »Jetzt können wir von neuem mit der Suche beginnen, Freunde.« Was mit Lockwergen und seinen Bewohnern geschehen war, würde vermutlich immer ein Geheimnis bleiben. Aber nun spürte Mythor, daß er seinem Ziel nahe war, näher als je zuvor. Der Helm der Gerechten wartete auf ihn, wartete darauf, erobert zu werden. ENDE
Der nächste MYTHOR-Band Mythor und seine Gefährten haben sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort gemacht – auf einen gefährlichen Weg, wie sich bald zeigt. Denn gefährliche Feinde lauern auf sie: Der haßerfüllte Dämonenpriester Drundyr folgt ihnen mit Nyala, um sie zu töten. Und der Alptraumritter Coerl O’Marn, gegen den Mythor bereits einmal kämpfen mußte, ist ebenfalls in derselben Gegend unterwegs. Dazu kommen die ausgedehnten Urwälder rings um den Wolkenhort, die voller Gefahren stecken. Der Wolkenhort selbst, ein riesiger bronzener Turm, scheint unbezwingbar. Doch irgendwo darin befindet sich der Helm der Gerechten, der zweite magische Ausrüstungsgegenstand des Lichtboten, den Mythor für seinen Kampf benötigt. Also muß er zwangsläufig in den Turm eindringen und innen von Stockwerk zu Stockwerk hochsteigen, obwohl die Gefahr ständig zunimmt. Wobei das nicht einmal die schlimmste Prüfung ist, die auf den jungen Abenteurer wartet. Die Gefährten müssen irgendwie die uralte Elvenbrücke erreichen. Und nach dieser wartet die Piratenstadt Thormain auf die kleine Gruppe. Welche neuen Überraschungen auf Mythor und seine Gefährten warten, erzählen Ihnen die Autoren im nächsten Band der MYTHOR-Serie:
ALTHARS WOLKENHORT