Seewölfe Taschenbuch 8
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Schi...
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Seewölfe Taschenbuch 8
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Schiffsjunge begann. Roy Palmer
Die Hölle von Malakka
Am 6. Juni 1630 erreichten wir die Küste von Sumatra. Der Golf von Bengalen und die Andamanen-See lagen jetzt weit hinter unserer Galeone „King Charles“, und auch Surat Thani, das wir verwüstet und ohne jegliche Überlebenden vorgefunden hatten, geriet allmählich in Vergessenheit. Samuel Dodds' Ruf aus dem Großmars war kaum verhallt, da waren Hamdullah und ich bereits in den Fockwanten der Steuerbordseite aufgeentert, hatten uns nebeneinander auf die Vormarsrah gehockt und hielten Ausschau nach dem fremden Land, der Insel, die nach allem, was ich bislang an Bord über sie vernommen hatte, so groß wie England sein sollte. Vielleicht war sie sogar noch ein Stückchen größer als meine Heimat, allerdings in der Form etwas langgestreckter als China-Harry mir versichert hatte. Hätte ich einen Messingkieker zur Hand gehabt wie Master Clifford Flanagan, unser Kapitän, einen besaß, so hätte ich wohl Einzelheiten schon auf diese große Entfernung ausmachen können. So aber sah ich unter meiner rechten Hand hindurch, mit der ich meine Augen gegen den Sonnenglast abschirmte, nur einen bläßlichen grauschwarzen Streifen, der nur mit allergrößter Mühe über der südlichen Kimm zu erspähen war. Die „King Charles“ lief mit rauhem Wind auf die fremde Küste zu, und zwar bekam sie den Wind aus nordwestlicher Richtung und fuhr haargenau südlichen Kurs, so daß sie auf Backbordbug liegend durch die tiefblaue See rauschte. Sie lief recht gute Fahrt – etwas mehr als sechs Knoten. Als das Stundenglas auf dem Achterdeck noch zweimal umgedreht worden war, befanden wir uns Sumatra schon so nahe, daß wir alle mühelos eine ganze Menge Details mit dem bloßen Auge zu erkennen vermochten. Master Flanagan ließ einen Kurswechsel vornehmen. Die „King Charles“ fiel ab, und jetzt segelten wir mit achterlichem Wind auf Südostkurs an der Küste entlang – so nah, „daß man fast hinüberspucken konnte“, wie Kid Holloway mit ziemlich säuerlichem Grinsen sagte. Master Flanagan hielt die „King Charles“ dicht unter Land, wohl, um die fremden Gestade mit dem Fernrohr auszukundschaften, wie ich annahm. Ich befand mich mit Hamdullah, unserem Moses, inzwischen längst wieder auf dem Hauptdeck. Wir waren damit beschäftigt, die Fallen der
Fock, des Vormars- und des Vorbramsegels neu an der vorderen Nagelbank zu klarieren, hielten aber immer wieder neugierig Ausschau nach der Insel. Unserem Auge blieb nun nichts mehr verborgen. All die üppige exotische Pracht der tropischen Vegetation, die sich hier erwartungsgemäß ausbreitete, zog an uns vorbei wie ein riesiger Vorhang aus kostbarem Samttuch. Bis ins Wasser hinein wucherten die Mangroven und Lianen, und im Binnenland schmiegte sich der dichte Bewuchs lückenlos an die Hänge, die eigentümlich gefurcht aufstrebten. Aus dem Busch drang das schrille, scheinbar spöttische Konzert von Tausenden und Abertausenden bunter Vögel hervor, und manchmal war ein Äffe zu sehen, der sich mit erstaunlichem Geschick von Ast zu Ast schwang oder interessiert zu uns herübersah. „Sidi“, fragte Hamdullah. „Laufen wir auf?“ Ich mußte unwillkürlich lächeln. Er hatte in der kurzen Zeit, die er jetzt bei uns fuhr, schon recht viele englische Wörter gelernt, aber natürlich verhaspelte und verhedderte er sich immer noch in den ihm nicht immer ganz geläufigen Begriffen, so daß manchmal echte Stilblüten entstanden, die bei allen Heiterkeit hervorriefen. Ich schloß mich da nicht aus, obwohl mir keinesfalls daran gelegen war, mich über Hamdullah lustig zu machen. Ich berichtigte ihn: „Ob wir hier landen, meintest du doch wohl, oder?“ „Ja, das, Sidi.“ „Ich glaube es nicht.“ „Wo ist unser Ziel?“ wollte er von mir wissen. „Auf Java und auf den Gewürzinseln, die auch die Molukken genannt werden“, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß. „Soviel habe ich inzwischen nun schon erfahren. Wir müssen noch ganz durch die Straße von Malakka hindurch, die sich zwischen Sumatra und der Halbinsel Malakka öffnet, und danach ist es immer noch ein ansehnliches Stück, bis wir endlich da sind.“ „Gut“, sagte er. Dann wandte er den Kopf wieder nach rechts und wies mit dem Finger auf die Insel. „Gefällt mir nicht. Ist kein gutes Land. Schlechter Platz. Böse Geister leben dort.“ Geister? Nun, daran glaubte ich nicht, wenn auch an Bord des öfteren etwas über Wasserdämonen und Nebelgespenster, über den Wassermann und andere Kreaturen des Bösen gemunkelt wurde und die tollsten Spökenkiekereien betrieben wurden. Ich war eigentlich nicht abergläubisch, das kann ich ruhigen Gewissens versichern, wie ich
auch ebenso offen gestehe, daß gewisse Dinge mir immer noch Angst einjagten. Aber was die Insel Sumatra betraf – tja, begeistert war ich nun auch nicht gerade. Mehr noch, irgendwie fühlte ich mich enttäuscht. Grün, sattes Grün, vor Feuchtigkeit triefende Wälder, die ineinander übergingen, wohin das Auge blickte. Der Dschungel vermittelte eine gleichsam menschenabweisende und feindselige Atmosphäre. Er schien eine giftige Aura auszusenden, diesen Eindruck hatte ich jedenfalls, als ich wieder und wieder zu der undurchdringlich und verfilzt wirkenden Blättermauer hinübersah. Raubtiere aller Größen, gefährliche Schlangen, die durch Bisse oder mörderisches Würgen töteten, und Millionen, ja Myriaden von Insekten hausten im Regenwald, und allein das moskitoverseuchte Klima brachte fast jeden um, der sich traute, auch nur einen Schritt dort hinein zu tun. Es gab keine willkommene Unterbrechung wie Strände oder Felsenküsten, die das Landschaftsbild irgendwie auflockerten und zum Verweilen einluden. Nur das ewige Grün schien hier zu existieren, keine Beschaulichkeit an himmlisch einsamen, paradiesischen Plätzen mit weißem Sand, leise rauschender Brandung und Palmen, die sich sanft im heißen Wind wiegten. Nein, Sumatra war nicht das Paradies auf Erden schlechthin, sondern eher die Hölle, nach allem, was sich dem Auge an diesen Ufern darbot. Aber was hatte ich denn erwartet? Freundliche Eingeborene, die uns mit Musik empfingen und nur darauf warteten, uns umarmen zu können? Nein, auf den ersten Blick schien Sumatra überhaupt nicht von Menschen bewohnt zu sein. Und die gutmütigen, gastfreundlichen und obendrein noch schönen Insulaner, von denen mancher Seemann träumen mochte, sollte es auch nur irgendwo in der fernen Südsee geben. Aber daran glaubte ich nicht so sehr, auch wenn Männer wie Kid Holloway und China-Harry es noch so steif und fest behaupteten. Sie hatten mich ja nun oft genug auf den Arm genommen. Nein, nein, es gab kein Paradies auf Erden, soviel hatte ich auf unserer langen Reise schon feststellen müssen. Die Wirklichkeit war stets hart und gnadenlos, sie präsentierte sich uns mit Stürmen und Gefechten, allen erdenklichen schrecklichen Überraschungen und der Niederträchtigkeit der Menschen, die uns begegneten.
Für einen Jungen meines Alters – vierzehn Jahre – hatte ich sehr viel von der Welt gesehen und bittere Erfahrungen hinnehmen müssen. Ich war an Bord eines Sklavenfängers geknechtet worden, hatte im Kerker der Portugiesen gesessen, war fast durch den Biß einer Muräne ums Leben gekommen und war in Arabien als Sklave verkauft worden. In Indien und im Golf von Bengalen hatte es weitere unliebsame Ereignisse gegeben, und daher hatte ich keinen Grund zu der Annahme, daß die nahe Zukunft nur mit erfreulichen Dingen winkte. Meine Laune war an diesem Tag nicht die beste. Verdrossen verrichtete ich meine Arbeit. Erst etwas später wurde mir bewußt, woran es lag, daß ich so mißmutig gestimmt war: nämlich an der Hitze. Wie eine Glocke setzten die Hitze und die Feuchtigkeit unser Schiff gefangen, daran konnte auch der Wind nichts ändern, der uns stetig vorantrieb. Es war die größte Hitze, unter der wir je gelitten hatten. So drückend schwül war es weder vor Afrikas Küsten, noch im Golf von Oman, vor Mangalore oder im Golf von Bengalen gewesen. Nie hatten die Temperaturen eine solche Höhe erreicht, denn ausgerechnet jetzt, im Beginn des tropischen Sommers, überquerten wir den fünften Breitengrad und näherten uns zielstrebig dem Äquator. Die Hitze lastete schwer auf uns allen und drückte erheblich aufs Gemüt. Jede Bewegung wurde zur Anstrengung, der ganz normale Decksdienst mutete wie Schwerstarbeit an. Auch das Denken bereitete Mühe. Nicht nur mir, sondern auch den anderen ging es so. Dies stellte ich fest, als ich mich auf dem Hauptdeck umschaute. Jede Unterhaltung verstummte, die „King Charles“ schien zu einem Geisterschiff zu werden, das sich von unsichtbarer Hand geführt an der Küste entlangbewegte und ihrem Verlauf folgte. Kid Holloway, der sonst der größte Scherzbold an Bord war, hatte es wahrhaftig die Sprache verschlagen. China-Harry blickte ausgesprochen schläfrig drein und wischte sich immer wieder den Schweiß von der Stirn. Jonny, auch „Kleine Hölle“ genannt, zeigte eine so verdrießliche Miene wie ich selbst, und nicht einmal Zebulon Prescott wartete mit einem seiner sonst unvermeidlichen Bibelsprüche auf. Sails, der Segelmacher, Gofredo, unser italienischer Koch, Jim Corcoran, der Stückmeister, Bob Costigan, der Schiffszimmermann, und ein paar andere, die gerade Freiwache hatten, waren im Vordeck verschwunden, aber ich glaubte nicht, daß sie die dickste Mittagshitze dort besser überstehen würden als wir von der Vormittagswache, die von acht bis zwölf Uhr dauerte.
Ivo Montesano, unser neapolitanischer Feldscher, lief mit einem Gesichtsausdruck herum, als sei sein Geist in weite Fernen entrückt. Kaum besser war es um Jo Blyss und Pulaski bestellt, ganz zu schweigen von Daniel Hawkins, meinem Erzfeind, Samuel Dodds, der oben im Großmars vor sich hin schwitzte, Bruce Ellerton und Lockjaw. Sie schauten so finster wie selten zuvor drein. Sogar Hamdullah, der Araberjunge, der an Wärme ja einiges gewohnt sein mußte, schwitzte. Und auch meinem Freund Mister Bunk, unserem Bootsmann, und Mister Elvin McCoy, dem Profos, brach das Wasser aus allen Poren hervor, zumal sie sich nicht ihrer Hemden entledigen durften wie wir Decksleute. Außer Mister Prescott, unserem Zweiten Steuermann, befanden sich auf dem Achterdeck Mister Terence Dexter, der Erste Steuermann, sowie Mister Anderson, unser Erster, und Mister Pickens, der Zweite Offizier, der wegen seines Leibesumfanges heimlich „Fatboy“ genannt wurde. Master Flanagan war nicht zu sehen. Er mußte sich in seine Kammer zurückgezogen haben, wo er mit aller Wahrscheinlichkeit die Tür offen gelassen und sämtliche Bleiglasfenster aufgerissen hatte, um nicht zu ersticken. Mit anderen Worten, wir hatten an diesem Tag eine wirklich großartige Stimmung an Bord. Ich dachte darüber nach, wie es wohl mit der Hitze werden würde, wenn wir uns erst tief in der Malakkastraße befanden, und während ich verschiedene andere Decksarbeiten verrichtete, kam ich nach einigen schwerfälligen Überlegungen zu dem Schluß, daß ich mit der Bezeichnung „Hölle“ ganz und gar nicht danebenliegen konnte. Es würde noch schlimmer für uns kommen, soviel stand für mich fest. Ich wußte ja gar nicht, wie recht ich mit dieser Vorausschau hatte. Gut zwei Stunden segelten wir schon an der Küste von Sumatra entlang. Um Punkt zwölf Uhr gab Mister Bunk den Wachwechsel durch Glockenschlag bekannt, und nun rückte die Nachmittagswache aus dem Vordeck an, die wiederum für die Zeit von acht Glasen ihren Dienst versehen würde. Ich hatte nun Freiwache, ebenso Hamdullah. Wir traten mit den anderen zum Backen und Banken an, aber keiner von uns hatte so rechten Hunger, obwohl die Gemüsesuppe und das besonders zubereitete Fleisch vorzüglich schmeckten. Nur Durst hatten wir – gewaltigen Durst. Die meisten tranken ihre Muck voll Wasser in einem Zug leer.
„Sauft nicht wie verrückt“, sagte Gofredo träge. „Ihr kriegt davon nur noch größeren Durst, aber mehr als die normale Wasserration gibt es nicht. Befehl vom Master höchstpersönlich.“ Lockjaws ohnehin schon häßliches Gesicht verzerrte sich zu einer wahren Fratze. „In dieser elenden Bruthitze kommen wir alle um. Bei lebendigem Leibe werden wir geröstet, das schwöre ich euch, Makkers, aber auf mich will ja keiner hören.“ „Doch, doch“, stieß Hawkins überraschend eilfertig aus. „Ich glaube dir schon, Lockjaw, Kamerad, und ich sage, es wäre besser, wenn wir uns so bald wie möglich ein, äh ... schattiges Plätzchen suchen würden. Eine Bucht beispielsweise. Hat diese verdammte Insel denn keine Buchten?“ Jonny grinste. „Ein schattiges Plätzchen findest du im Urwald, Hawkins. Du kannst den Master ja mal fragen, ob er dich drüben am Ufer absetzt. Dann kannst du deinen Schädel zwischen die Blätter stecken und deinen Hintern ins Wasser halten.“ Die anderen lachten heiser – bis auf Dodds, Lockjaw, Ellerton und Hawkins. „Euch wird das Lachen noch vergehen“, prophezeite Hawkins wütend. „Ihr wißt ja nicht, was uns noch alles bevorsteht.“ „Du vielleicht?“ fragte Jonny mit leicht zusammengekniffenen Augen. „Ich weiß nur, daß ich dir eines Tages dein vorlautes Maul stopfe“, sagte Ellerton. „Und nicht nur das. Ich werde dir auch mit meinem Messer ...“ „Still“, unterbrach ihn Dodds. „Der Bootsmann rückt an. Kein Wort mehr.“ Jeder suchte sich jetzt einen Platz zwischen Großmast und Vordeck; Hawkins ließ sich auf den Backbordniedergang sinken, der zur Back hinaufführte, und löffelte seine Mahlzeit in sich hinein wie die anderen. Über den Rand seines Napfes hinweg schoß er jedoch giftige Blicke auf Jonny, Mister Bunk und mich ab. Ellerton, der muskelbepackte Glatzkopf, hatte es „Kleine Hölle“ immer noch nicht verziehen, daß dieser ihm seinerzeit statt eines schmucken Schiffes eine Sau auf den breiten Rücken tätowiert und ihn anschließend nach allen Regeln der Kunst zusammengeschlagen hatte. Nie würde er das vergessen, ständig sann er auf Rache. Hawkins haßte mich innig, denn ich hatte auch ihm schon eine Lektion verabreicht, weil ich seine ewigen Stänkereien und Hinterhältigkeiten satt gehabt hatte. Ellerton war sein Kumpan. Schon seit langem hatte Daniel Hawkins sich auf die Seite des Trios Ellerton, Lockjaw und
Samuel Dodds geschlagen, und dieses saubere Quartett hatte zwischen der Insel Sao Tomé und der Walfischbucht jene Meuterei mit angezettelt, die dank Mister Bunks tapferem Einsatz zerschlagen und dann von Master Flanagan mit aller Strenge geahndet worden war. Zwei Männer waren dafür gehängt worden – aber Hawkins, Ellerton, Lockjaw und Dodds hatte keiner ein Mitverschulden nachweisen können. Geschickt hatten sie sich aus der Affäre gezogen. Ich aber wußte, daß sie ausgekochte Halunken waren, die jederzeit wieder eine neue Gemeinheit aushecken konnten. Selbstverständlich hatten sie also auch auf Mister Bunk einen Pik, und Jonny war ebenso ihr erklärter Feind wie auch Hamdullah, unser Moses, den man meiner Obhut anvertraut hatte. Mister Bunk nahm seine Ration entgegen, setzte sich zu Mister McCoy und nickte mir lächelnd zu. Er schob sich einen Löffel Gemüsesuppe in den Mund, blickte dabei zu Hawkins und Ellerton hinüber und sagte dann zum Profos: „Die Hitze könnte alte Wunden öffnen, meinen Sie nicht auch, Mister McCoy?“ Mister McCoy, dieser Stier von einem Mann, verzog keine Miene. „Wir werden jederzeit zu verhindern wissen, daß sie auch einen Brand an Bord entfacht“, gab er gelassen zurück. Daß das Unheil dieses Mal von einer ganz anderen Seite kommen sollte, ahnte zu jenem Zeitpunkt noch keiner von uns. * Im Mannschaftslogis ließ es sich nicht aushalten, deshalb kletterte ich während meiner Freiwache auf die Back, um von dort aus weiterhin die eintönige Inselwelt zu betrachten. Aber auch das brachte keine Abkühlung, und die Segel der „King Charles“ spendeten keinen Schatten. Ich schwitzte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Kleine Tropfen perlten meine Stirn herab, bildeten Rinnsale und liefen mir über die Wangen, in die Augen und über die Nase. Ich wischte mir immer wieder mit dem Handrücken durchs Gesicht. Ganz unerwartet trat Mister Montesano zu mir. Er blickte ebenfalls zu den Inseln hinüber. „Santo Cielo“, sagte er. Dann blickte er nach oben. „Kein Wölkchen am Himmel. Fehlt bloß noch, daß auch der Wind einschläft.“
„Mister Montesano, malen Sie den Teufel nicht an die Wand“, meinte ich. „Wir sind in der letzten Zeit oft genug in Kalmenzonen liegen geblieben.“ Ich blickte ihn von der Seite an. Von einem Neapolitaner hätte ich erwartet, daß er besser mit der Hitze vertraut war als wir Engländer, aber das schien nicht der Fall zu sein. Auch er litt erheblich. Die Schweißtropfen kullerten ihm von der Stirn, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. „Flaute“, murmelte er. „Al diavolo, Bonty, das ist noch lange nicht das Schlimmste, was uns passieren kann. Weißt du, daß wir bislang sogar unerhörtes Glück gehabt haben?“ Ich sann eine Weile über seine Worte nach, denn – wie gesagt – auch das Denken wurde in dieser Hitze zur Qual. Dann aber erwiderte ich: „Ich glaube, ich weiß, worauf Sie anspielen, Mister Montesano. Sie wollen sagen, es ist ein Segen, daß wir bisher nicht mit schweren Krankheiten zu schaffen gehabt haben, nicht wahr?“ „Si, amico mio. Sieh dir diesen Dschungel an. Eine Brutstätte für das Wechselfieber, für Beriberi, Gelbfieber und die Ruhr. Herrgott, und es gibt noch eine ganze Reihe anderer ansteckender Krankheiten in den Tropen.“ Ich wandte den Kopf. „Das Wechselfieber – ist das das Sumpffieber?“ fragte ich ihn. „Ja. Es wird auch so genannt.“ „Und es befällt die Menschen – einfach so?“ Er schüttelte den Kopf. „Per bacco, nein. Du hast es doch schon erlebt. Sie wird durch den Stich einer kleinen Mücke verursacht, soweit es der Wissenschaft bekannt ist. Aber die Beriberi zum Beispiel – die ist eine typische Mangelkrankheit wie der Skorbut. Kräfteverfall und Lähmungen sind bei der Beriberi die Anzeichen dafür, daß man Seuche hat, und ich schwöre dir, sie kann genauso schlimm sein wie die Pest.“ Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, trotz der Hitze. „Gibt es denn keine Mittel dagegen?“ fragte ich leise. „Arzneien nicht“, entgegnete unser Feldscher. „Der Mann, der eines Tages ein Elixier zur Bekämpfung dieser grausigen Geißeln Gottes erfindet, wird wie ein König gefeiert werden.“ In südländischer TheaterGrandezza hob er beide Arme zum Himmel. „Come un re ...“ „Mister Montesano“, sagte ich plötzlich. „Man kann aber doch etwas gegen den Skorbut und die Beriberi tun. Mister Gofredo hat mir mal erklärt, warum wir soviel Sauerkraut an Bord haben und warum er uns viel Obst und frisches Gemüse zu essen gibt.“
Ivo Montesano lächelte. „Wegen der Vitamine, mein Junge, wegen der Vitamine.“ „Was sind das – Vitamine?“ „Wie sie aussehen und wie sie beschaffen sind, weiß keiner genau, denn soweit ist die Wissenschaft noch nicht, verstehst du? Aber Vita, das heißt Leben, und daher stammt der Ausdruck. Ich will es so erklären: Sie sind Wirkstoffe, die uns unsere Kraft erhalten und den Widerstand unseres Körpers gegen Krankheiten festigen.“ „Und sie sind vorwiegend in frischen Nahrungsmitteln enthalten?“ „Richtig.“ „Danke, Mister Montesano“, sagte ich. „Das werde ich mir merken. Woher wissen Sie das alles?“ „Aus Büchern“, gab er grinsend zurück. „Nicht nur Zebulon Prescott kann lesen, ich kann es auch. Ich bin zwar nur ein einfacher Feldscher, amico mio, aber ich bemühe mich, mich auch ein wenig mit der großen Kunst der Ärzte vertraut zu machen.“ In fast verschwörerischem Tonfall fragte ich ihn: „Sir, darf ich bei Gelegenheit mal einen Blick in eines dieser Bücher werfen?” „Wie? Willst du damit sagen, daß du auch des Lesens mächtig bist?“ „Ja, Sir, einigermaßen.“ „Complimenti“, sagte er und zog die Augenbrauen überrascht hoch. „Donnerwetter, das hätte ich ja gar nicht gedacht.“ Vor Stolz lief ich in diesem Augenblick wohl rot an, und ich wußte auch nicht mehr, wohin ich blicken sollte. Richtig verlegen wurde ich, als er das sagte. Er sah mich an. „Natürlich darfst du in meinen Büchern blättern, es stehen ja keine Geheimnisse drin. Nur sind sie alle in italienischer Sprache verfaßt, Bonty, und darum wirst du wohl recht wenig damit anfangen können.“ „Oh. daran habe ich nicht gedacht“, sagte ich. „Schade.“ Wir hätten wohl noch so weitergeplaudert, wenn sich nicht Samuel Dodds mit einem lauten Ruf aus dem Großmars gemeldet hätte. „Deck! Bucht ho, Steuerbord voraus!“ ertönte seine Stimme über unseren Köpfen. Mister Montesano und ich sowie alle anderen Männer, die sich auf der Back, dem Hauptdeck und dem Achterdeck befanden, spähten angestrengt voraus. Erst jetzt gewahrten auch wir jene Einkerbung, die das dichtbewachsene Ufer der Insel schätzungsweise eine halbe Meile vor uns nach Süden hin öffnete. Man mußte schon genau hinschauen,
um den Einschnitt auch wirklich auszumachen, denn auf den ersten Blick wirkte es so, als beschreibe die überwucherte Küste nur eine leichte Krümmung nach rechts, um dann gleich wieder den bisherigen Verlauf zu nehmen. „Na bitte“, sagte Ivo Montesano, und um seine Lippen spielte ein spöttisches Lächeln. „Da wäre also das schattige, geborgene Plätzchen, nach dem Hawkins verlangt hat. Wie wäre es denn, wenn er jetzt einfach über Bord springt und hinüberschwimmt, um sich in der Bucht zu aalen?“ „Master Flanagan würde ihn dafür an der Rahnock aufhängen lassen, Mister Montesano.“ „Was auch kein großer Verlust wäre“, brummte der Feldscher. Kaum einer von uns konnte Daniel Hawkins leiden, das wurde immer wieder deutlich. Ich verstand es selbst nicht, warum er sich überall so unbeliebt machte. Er mußte sich doch selbst irgendwann einmal sagen, daß es besser war, kameradschaftlicher und weniger hinterlistig zu sein. Aber das schien ihm nicht in den Kopf zu wollen, und immer wieder eckte er an. Erst später sollte ich vollends begreifen, daß gewisse Menschen ihre Wesensart um keinen Deut zu ändern bereit waren – ums Verrecken nicht. Die „King Charles“ schob sich mit breiter Bugwelle an die Bucht heran und würde innerhalb der nächsten Minuten auf einer Höhe mit der Mangroven bestandenen Einfahrt sein. Unsere Blicke suchten Einlaß in das Innere zu gewinnen, aber natürlich war es wieder Dodds von seinem luftigen Posten aus, der als erster nähere Einzelheiten erspähte. „Hey!“ schrie er plötzlich. „Deck, da liegt ein Schiff in der Bucht! Mister Anderson, Mister Pickens, Sir, es ist eine große Galeone!“ Ich sah Mister Montesano verblüfft an, und dieser stieß einen leisen Pfiff der Verwunderung aus. * Mister Pickens wollte schon Master Flanagan von der Entdeckung berichten, da tauchte die Gestalt unseres Kapitäns höchstpersönlich vor der Querwand des Achterkastells auf. Er schloß das Schott, enterte auf und zog sein Spektiv aus der Jackentasche.
Natürlich hatte er Dodds' Rufe vernommen und daraufhin sofort seine Kammer verlassen. Jetzt hob er das Rohr vors Auge, blickte hindurch und versuchte, etwas von dem fremden Schiff zu erkennen. „Die Galeone scheint auf Grund gelaufen zu sein!“ meldete unser Ausguck. „Ich kann aber weder auf ihren Decks noch rundherum auch nur eine Menschenseele erkennen!“ China-Harry hatte soeben die Back erklommen und gesellte sich zu Mister Montesano und zu mir. „Da laust mich doch der Affe“, sagte er. „Eine Galeone mitten in dieser heißen Dschungelhölle. Kann mir mal einer erklären, warum die in dieser Bucht liegt?“ „Keine Ahnung“, versetzte der Feldscher. „Vielleicht geschah es ja nicht freiwillig. Ein schweres Wetter könnte den Kapitän gezwungen haben, von seinem Kurs abzuweichen und in der Bucht, die mir sehr geschützt zu sein scheint, vor Anker zu gehen.“ „Und seitdem liegt sie auf Grund?“ fragte Harry zweifelnd. „Nee, das kann mir keiner erzählen. Da is' was faul, sage ich. Wenn das man bloß keine Falle der Piraten ist.“ „Piraten“, wiederholte ich entsetzt. „Die gibt es hier?“ „Die gibt es überall“, sagte China-Harry. „Auf der ganzen Welt, Bonty. Und die Malaien, denen wir hier jederzeit begegnen können, sind mit die schlimmsten von allen. Die schneiden dir den Kopf vom Rumpf ab, ehe du richtig kapierst, was los ist.“ Der Neapolitaner drehte sich zu ihm um. „Accidenti a te, du mit deinen verdammten Übertreibungen! Du bist zu lange im Reich der Zopfmänner gewesen, das wirkt sich schlecht auf den Geist aus.“ Er beschrieb eine jener unnachahmlichen Gebärden, die außer ihm nur Gofredo beherrschte. Ihre Bedeutung hatte ich mittlerweile aber schon gelernt: China-Harry sollte sich zum Teufel scheren. Schlimme Krankheiten, Piraten, drohendes Unheil — es war schon genug geunkt worden, und ich hielt vorsichtshalber lieber meinen Mund. Man sollte den Verdruß schließlich nicht noch heraufbeschwören. „Mister Pickens“, sagte der Master zu unserem Zweiten. „Wir luven an, geien dann die Segel auf und bleiben beigedreht vor der Einfahrt der Bucht liegen. Ich will mir die Galeone genauer ansehen, vielleicht ist sie ein englisches Schiff, das in Schwierigkeiten geraten ist. Geben Sie den Befehl weiter!“ „Anluven und beidrehen!“ rief Mister Pickens dem Profos und meinem Freund Mister Bunk zu.
„Anluven!“ schrie Mister McCoy, und Mister Bunk spornte die Männer an, das Manöver rasch zu vollziehen, ehe die Einfahrt der Bucht passiert war und es umständlichen Manövrierens bedurfte, bis dorthin zurückzukehren. Wir von der Freiwache verließen unseren Aussichtsplatz an der Balustrade und packten kräftig mit zu. Wir holten die Backbordschoten und -brassen dicht, die Rahen schwangen knarrend herum, und Mister Prescott ließ das Ruderrad unter seinen schwieligen Händen wirbeln. Kurz darauf dümpelte unser Schiff immer langsamer werdend mit aufgegeiten Segeln genau auf die Mitte der nicht sonderlich breiten Einfahrt zu. Wir alle blickten nun durch die Einfahrt geradewegs in die von Dschungel und Dickicht gesäumte Bucht und konnten die fremde Galeone auf nicht mehr als eine Kabellänge Distanz daliegen sehen. Sie war leicht nach Backbord gekrängt und bot alles in allem einen jammervollen Anblick. Ich will nicht sagen, daß sie schon so verrottet wie ein richtiges Wrack war, aber ihr Schanzkleid war stellenweise zertrümmert, ihr Besanmast bestand nur noch aus einem häßlichen Stummel, und das Rigg war eine Ansammlung von schmutzigen Lumpen, die sich träge im heißen Wind bewegten. Ganz achtern, auf der Kampanje, war eine der beiden Hecklaternen weggerissen. Sie sah übler aus als die „Leviathan“, die wir seinerzeit bis nach Jafarabad geschleppt hatten, und das wollte schon allerhand heißen, denn jene „Leviathan“, die schließlich auf der Reede vor Diu Port gesunken war und den armen Mister Ryan O'Farrill mit in Gottes großen Keller hinab genommen hatte, war auch schon ein richtig verkommener Kahn gewesen. Ich wischte mir wieder den Schweiß ab. Eines war mir von vornherein klar: Die Galeone, in der Bucht ganz augenscheinlich gestrandet, hatte ein ganz anderes Schicksal erfahren als die „Leviathan“, die im Sturm vor der indischen Küste schwer angeschlagen worden war. Was wir hier erblickten, sah mir mehr nach Gefechtsschäden aus. Mister Bunk, der ganz in meiner Nähe stand, bestätigte es. „Der Kapitän und die Besatzung des Schiffes müssen eine schwere Schlacht hinter sich haben. Aber wo sind sie?“ „Vielleicht sind sie alle umgekommen“, mutmaßte Holloway. „Und wie ist die Galeone in die Bucht geraten?“ fragte ich. „Das wissen wir nicht“, erwiderte mein väterlicher Freund. „Und es wird sich wohl auch nur schwer rekonstruieren lassen.“
Wir blickten zu dem fremden Schiff hinüber. Ich konnte mich wieder eines eisigen Prickelns, das mir langsam über die Schultern und den Nacken kroch, nicht erwehren. Welches Geheimnis barg die Galeone? Was war mit ihrer Mannschaft geschehen? Unsere Erschöpfung und all die Verdrossenheit der letzten Stunden waren mit einem Schlag wie weggewischt. Unsere volle Aufmerksamkeit galt dem Schiff, und wir warteten gespannt darauf, wie Master Flanagan entscheiden würde. Sails, unser Segelmacher, baute sich breitbeinig am Steuerbordschanzkleid der Kuhl auf, betrachtete die Galeone und sagte schließlich: „So, wie die letzten Fetzen Tuch geloht sind, die an den Rahen hängen, und so, wie mir der Flögel aussieht, der im Großtopp flattert, scheint mir der Kahn kein englisches Schiff zu sein.“ Bob Costigan, der Schiffszimmermann, war dicht hinter ihn getreten und blickte über seine rechte Schulter hinweg auf die erbarmungswürdige Galeone. „Ich kann keine Flagge erkennen, und auch sonst scheint sie keine Hoheitszeichen zu führen“, sagte er. Unser Profos hatte seinen Kieker auf den fremden Segler gerichtet und erklärte: „Einen Namenszug kann ich am Heck nicht lesen. Ein Schwelbrand scheint die Lettern ausgelöscht zu haben, das halbe Achterschiff ist rußgeschwärzt.“ „Aber der Bauweise nach ist es ein Spanier oder ein Portugiese“, meinte Mister Costigan. „Das nehme ich auch an“, bestätigte Mister Bunk. „Ein englisches Schiff ist es auf keinen Fall, wir bauen ja ganz anders. Und der aufwendigen Konstruktion des Achterkastells nach zu urteilen, kann es auch kein Holländer oder Franzose sein.“ „Die Holländer und die Franzosen bauen ihre Schiffsdecks so flach wie wir“, sagte McCoy. „Aber bei dem Kameraden hier türmen sich das Vor- und Achterkastell ja geradezu auf.“ „Mister McCoy, Mister Bunk!“ rief Mister Pickens in diesem Moment. „Master Flanagans Order lautet: Wir setzen das Großsegel, die Fock und die große Blinde und laufen langsam in die Bucht ein. Dort gehen wir vor Anker, fieren unser großes Beiboot ab und setzen zu der Galeone über.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderten mein Freund und unser Profos gleichzeitig. Mister Bunk wollte die Befehle gerade weitergeben, da trat China-Harry
auf ihn zu, der sich jetzt doch veranlaßt fühlte, seine Bedenken offen anzumelden. „Sir“, wandte er sich an Mister Bunk. „Es ist gut möglich, daß wir in eine Falle der Piraten laufen, die auf Sumatra ihre Schlupfwinkel haben. Ich meine – sie könnten die Galeone absichtlich dorthin geschleppt und als Köder für vorbeisegelnde Schiffe hergerichtet haben. Beim Donner, die ganze Sache ist mir nicht geheuer, Sir. Ich weiß, daß die eingeborenen Seeräuber alle erdenklichen Tricks anwenden, um ...“ „Mister Bunk!” rief unser Zweiter Offizier. „Was ist los? Warum zögern Sie?“ Mister Bunk drehte sich zu ihm um. „China-Harry befürchtet, man könne in der Bucht über uns herfallen. Dort könnten Piraten auf der Lauer liegen. Bitte geben Sie das an den Kapitän weiter.“ Master Flanagan hatte schon verstanden, was gesprochen worden war. Seine Miene war unverändert, und seine hellblauen Augen blickten so kühl und hart wie gewohnt, aber er schlug die Warnung doch nicht in den Wind, sondern befahl: „Wir gehen Klarschiff zum Gefecht!“ Nun setzte ein emsiges Hin und Her auf dem Haupt-, Achter- und Vordeck ein, denn die Segel mußten neu gesetzt und alle Vorbereitungen für einen möglichen Kampf getroffen werden. Die Stückpforten schwangen hoch, die Brooktaue der 17-Pfünder auf dem unteren Batteriedeck wurden gelöst, und schon rannten unsere Geschützführer und ihre Helfer die schweren Kanonen aus. Auch unsere Drehbassen wurden schleunigst geladen und in ihren Drehlafetten gerichtet. Hamdullah und mir fiel wie üblich die Aufgabe zu, Sand in Kübeln heranzuschleppen und auf den Decks auszustreuen, damit die Männer einen festeren Stand hatten, falls es zur Auseinandersetzung kam und nicht so leicht Feuer ausbrechen konnte. Gofredo rammte das Kombüsenschott zu, lief zu Ivo Montesano und half diesem, in Pützen und Kübeln Seewasser von außenbords heraufzuholen, das zum Befeuchten der Wischer bereitgehalten wurde. Schritte trappelten über die Stufen der Niedergänge, die das Hauptdeck mit dem Batteriedeck verbanden. Es war ein beständiges Auf und Ab. Hamdullah und ich schafften unseren Sand hinunter und verteilten ihn so gleichmäßig wie möglich auf den Planken. Wir sahen, wie das Feuer in den Kupferbecken geschürt wurde; glühende Holzkohle zum Zünden der Geschützlunten.
Mir war alles andere als fröhlich zumute, und ich hatte ein höchst mulmiges Gefühl in der Magengegend. Hamdullahs Augen waren geweitet, er fragte mich: „Warum, Sidi? Warum in die Bucht?“ „Master Flanagan ist ein beherzter und ehrenhafter Mann“, setzte ich ihm auseinander. „Er könnte auf dem bisherigen Kurs weitersegeln und sich nicht weiter um die Galeone kümmern. Aber er hält es für seine Pflicht, sich ein genaues Bild von der Lage zu verschaffen und nach überlebenden zu suchen. Wenn jemand unsere Hilfe braucht, so will er sie ihm nicht versagen. Das ist eines der ungeschriebenen Gesetze der Seefahrt, verstehst du?“ Ich kam mir fast vor wie ein Schulmeister. „Ja, ich verstehe“, gab Hamdullah zurück, aber ich weiß nicht, ob er es damals ganz begriffen hat. Als wir wieder auf die Kuhl zurückkehrten, sahen wir das Ufer der Buchteinfahrt zu beiden Seiten der „King Charles“ vorbeiziehen. Kurze Zeit später mußten wir die Fallen von den Nagelbänken lösen und das Großsegel, die Fock und die große Blinde erneut aufgeien. Mitten in der Bucht drehte sich unser Schiff mit dem Bugspriet in den Wind, als Mister Prescott Hartruder legte, und so wandten wir der fremden Galeone, die uns ihre Heckpartie zeigte, unsere Backbordbatterie zu. Master Flanagan ließ eine Weile ausharren, und wir alle warteten jetzt darauf, daß eine johlende Bande wild aussehender und bunt kostümierter Kerle mit kleinen Schiffen oder Booten aus dem überhängenden Dickicht hervorbrach – doch alles blieb still. Schließlich ließ unser Kapitän den Buganker setzen. Mit Getöse rauschte er an seiner Kette aus, klatschte ins Wasser und senkte sich auf den Grund. Kid Holloway, China-Harry, Jo Blyss, Pulaski und ich – wir mußten die Persenning vorn großen Beiboot lösen, die Zurrings losmachen und das Boot vermittels der Taljereeps hochhieven. Wir drückten es über das Schanzkleid hinweg und fierten es dann außenbords ab. Dann ging alles sehr schnell. Sails und Daniel Hawkins brachten die Jakobsleiter aus und belegten sie an zwei Klampen des Backbordschanzkleides. Mister Bunk hatte auf Master Flanagans Befehl hin inzwischen die Männer eingeteilt, die an der Erkundungsfahrt teilnehmen sollten. Es waren Holloway, Blyss, Pulaski, Jonny, Lockjaw und ich. Mister McCoy meldete sich freiwillig und erhielt die Genehmigung, mit übersetzen zu dürfen.
So enterten wir acht mit Pistolen, Entermessern und Musketen bewaffnet in das Boot ab, ließen uns auf den Duchten nieder und warteten darauf, daß Mister Bunk die Leinen löste und sich mit einem Bootshaken von der Bordwand abstieß. Mister McCoy kauerte sich vorn im Bug nieder. Mister Bunk nahm als Bootsführer auf der achteren Ducht Platz. Das Boot schwamm frei, und wir anderen sechs griffen nun nach den Riemen und pullten an. Mister Bunk drückte die Ruderpinne herum. Wir nahmen Kurs auf die Galeone. Mit wachen Augen hielt Mister McCoy nach etwaigen Bewegungen an Bord des fremden Schiffes oder am Ufer Ausschau, aber es tat sich immer noch nichts. Jonny saß links neben mir auf der mittleren Ducht und pullte im Takt mit mir und den anderen. Kid Holloway gab den Schlagrhythmus vor. „Howard“, sagte Jonny. „Die ,King Charles' gibt uns mit ihren Geschützen die nötige Rückendeckung. Aber wenn wir angegriffen werden, dann kommt es ganz allein auf unsere Geistesgegenwart und Kampfkraft an, verstehst du?“ „Ja. Wir können uns auf die Kanonen nicht verlassen, sonst sind wir verloren, falls man uns auflauert.” „Genau das meine ich.“ „Glaubst du auch, daß es eine Falle ist?“ „Ich glaube nur, was ich sehe“, antwortete er. * Der Dschungel schloß sich ringförmig um die recht geräumige Bucht und wirkte auf mich wie eine Klaue, die sich jeden Augenblick fester zusammenziehen konnte. Irgendwann hatte das schrille Konzert der Vögel ausgesetzt, ohne daß wir es richtig zur Kenntnis genommen hatten, aber jetzt, als wir nur noch schätzungsweise zwanzig Yards von der Galeone entfernt waren, hob es mit voller Lautstärke wieder an. Das Kreischen und Zetern tönte wie ein Spottgesang in unseren Ohren. Wir spürten die Feuchtigkeit, die der Regenwald ausdünstete, jetzt körperlich. Sie legte sich wie eine atembeklemmende Schicht auf unsere Haut. Vom südlichen Ufer her tanzte eine Wolke winziger Insekten auf uns zu, schwebte eine Weile über uns, als wolle sie sich auf uns stürzen, verschwand dann aber wieder. Ich mußte an die Krankheiten denken, von denen Mister Montesano mir erzählt hatte, an die Malaria und das Gelbfieber. Mein ungutes Gefühl wuchs. Ich wünschte mir inständig, niemals in die grüne Hölle zu geraten. Der Busch an der Westküste von Afrika, durch den wir
damals nach unserer Flucht von der „Sea Cloud“ gewandert waren, konnte meiner Ansicht nach nicht halb so dicht und gefährlich gewesen sein. Außerdem hatten wir ja eine kundige Führerin gehabt: Nunumi, das dunkelhäutige Mädchen, an die ich noch oft dachte. Meine Phantasie gaukelte mir die schaurigsten Vorstellungen von dem vor, was in dem dampfenden Dschungel verborgen sein mochte, aber ich kam nicht dazu, meine Gedanken zu Ende zu stricken, weil wir jetzt an unserem Ziel angelangt waren. Wir hatten uns der Galeone von ihrer Steuerbordseite her genähert und gingen jetzt längsseits. Sie entpuppte sich als dreimastiges Schiff von ungefähr derselben Größe wie die „King Charles“. Früher mußte sie einmal ein stolzer Segler gewesen sein, aber davon war nicht mehr sehr viel übrig. Unser Boot dümpelte im flachen Wasser neben dem Schiffsrumpf. Mister McCoy hatte sich im Bug aufgerichtet, hielt Umschau und wandte sich dann zu uns um. „Der Kahn steckt fast mit seinem gesamten Vorschiff im Dickicht“, sagte er. „Er muß recht heftig aufgebrummt sein, und auch das auflaufende Wasser kann ihn nicht mehr vorn Ufer heben.“ „Können Sie den Namenszug am Bug erkennen?“ fragte Mister Bunk. „Nein, von hier aus nicht.“ Mister Bunk ließ einen kleinen Draggen an der Bordwand der Galeone empor. Der Draggen kehrte zurück und fiel ins Wasser. Beim zweiten Versuch klappte es jedoch – er krallte sich hinter der Handleiste des Schanzkleides fest, und das Tau, das an ihm befestigt war, straffte sich. Mister Bunk enterte als erster an der Bordwand auf. Unser Profos folgte ihm, und dann schlossen sich ihnen Holloway, Pulaski, Jonny, Blyss und Lockjaw an. Ich machte noch unser Boot fest, dann klomm auch ich an dem Tau hoch. Als ich oben anlangte und einen ersten Blick über das Schanzkleid hinwegriskierte, sah ich meine Kameraden wie versteinert auf der Kuhl stehen. Ich richtete mich auf dem Bergholz auf und griff nach meiner Pistole. Dann aber sah auch ich, daß wir hier keine Schußwaffen benötigten. Die, die uns an Bord der Galeone erwarteten, hegten keine feindlichen Absichten. Sie waren gar nicht in der Lage, uns anzugreifen. Ihre Gliedmaßen waren für immer erschlafft, ihre Lippen würden nie mehr auch nur ein einziges Wort formen, sei es ein gutes oder ein böses. Sie waren tot.
* Fünf verkrümmt daliegende Gestalten erfaßte mein Blick. Sie waren allesamt auf der Kuhl zusammengesunken. Den einen hatte es auf der Gräting erwischt, ein zweiter war über einer Nagelbank zusammengebrochen, ein dritter lag auf dem Rücken und hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt. Dem vierten ragte das Heft eines kurzen Säbels aus der Brust, der fünfte hatte vor der Querwand des Achterkastells den Tod gefunden, an der nun endlich der Name des Schiffes zu lesen war: „San Juan Nepomuceno“. Alle fünf waren übel zugerichtet, aber ich will mir die nähere Beschreibung dessen, was man ihnen angetan hat, ersparen. Nur das eine sei gesagt: Noch heute packt mich das Grausen, wenn ich an den Anblick zurückdenke, den die armen Teufel boten. Ich wünschte mir, daß mir dieses Bild erspart geblieben wäre. Mit steifen Beinen kletterte ich über das Schanzkleid hinweg und trat zu Mister Bunk und Jonny. Wir waren alle erschüttert, und sogar Lockjaw zerdrückte einen Fluch auf den Lippen. Die Toten waren nicht unsere Landsleute, aber ihr Schicksal ging uns trotzdem so nahe, als wären sie unsere Kameraden gewesen. Der, der über der Nagelbank hing und die Arme baumeln ließ, trug die Uniform eines spanischen Soldaten. Sein Brustpanzer war verbeult und blutig, sein Helm lag auf den Planken. Mister McCoy löste sich als erster aus seiner erstarrten Haltung. Er trat auf den Leichnam zu, der den kurzen Säbel im Leib stecken hatte, beugte sich über ihn und sagte leise: „Diese Waffe ist ein Parang, wenn mich nicht alles täuscht.“ Ich blickte zuerst Mister Bunk, dann „Kleine Hölle“ an und fragte: „Ein Parang – was ist das?“ „Der Säbel der Malaien“, erwiderte Jonny. Er ging zu dem toten Soldaten hinüber, untersuchte ihn kurz und zog ihm dann etwas aus der linken Achselhöhle, das sich für uns als ein spitzer, schlangenförmig gekrümmter Dolch entpuppte. Jonny warf ihn auf das Deck. „Und das ist ein Kris“, stellte er fest. „Ich werde China-Harry wohl nie wieder einen Spinner und alten Spökenkieker nennen. Er hatte mit seinen Befürchtungen verdammt recht, mehr, als die meisten ihm geglaubt haben! Malaiische Piraten haben dieses Schiff überfallen.“
„Aber warum haben sie es nicht versenkt, nachdem sie die Besatzung niedergemetzelt hatten?“ fragte Pulaski betroffen. Mister Bunk schaute sich nach allen Seiten um, dann versetzte er: „Ich stelle mir das so vor: Die ,San Juan' mußte in die Bucht verholen, vielleicht wegen eines Sturmes. Oder sie wurde hineingelockt. Die Piraten enterten, siegten, raubten, was es zu rauben gab und steckten das Schiff dann in Brand. Ruderlos trieb die Galeone auf das südliche Buchtufer zu und lief auf. Aus irgendeinem Grund erlosch das Feuer, und der Rumpf zog nicht genug Wasser, um das Schiff sinken zu lassen.“ „Augenblick“, sagte Mister McCoy. „Es kann auch noch etwas anders gewesen sein. Gerade das Wasser, das die Galeone in ihrem Bauch hat, verleiht dem ganzen Kahn soviel Gewicht, daß er schwer auf dem Ufer lastet und weder kentert noch bei Flut absäuft.“ „Ja“, pflichtete Mister Bunk ihm bei. „So muß es sein. Wir werden uns ja gleich davon überzeugen können. Durchsuchen wir das Schiff.“ „Glauben Sie, daß wir doch noch Überlebende finden?“ fragte ich fast zaghaft. „Nein. Aber es ist unsere Pflicht, alle möglichen Nachforschungen anzustellen.“ „Blyss“, sagte der Profos. „Du enterst aufs Achterdeck und signalisierst zur ,King Charles' hinüber, daß vorläufig keine Gefahr im Verzug ist.“ „Aye, Sir.“ „Wir anderen bilden zwei Gruppen. Die eine beginnt im Vordeck mit der Untersuchung des Schiffes, die andere nimmt sich das Achterdeck vor. So arbeiten wir uns von zwei Seiten bis in die Frachträume hinunter“, sagte McCoy. „Mister Bunk, würden Sie mich bitte begleiten?“ Jo Blyss blieb als Wachtposten auf der Kampanje der Galeone zurück, während Mister Bunk, Mister McCoy und Lockjaw sich das Achterkastell vornahmen und wir anderen vier eines der Schotts zum Vordeck öffneten und einstiegen. Blyss sollte jede Gefahr, die sich von außen näherte, unverzüglich melden, das hatten Mister Bunk und unser Profos ihm eingeschärft. Ich war hinter Kid Holloway, der als erster durch den engen Gang zum Mannschaftslogis schritt, und ich verzog das Gesicht, als ich den unangenehmen Geruch wahrnahm, der uns entgegenschlug. Es war dunkel, aber doch nicht so dunkel, daß wir das, was an Entdeckungen noch auf uns wartete, ignorieren konnten. Ich ahnte schon, was jetzt kam.
„Pfui Teufel“, sagte Pulaski, unser Glatzkopf mit den derben Fäusten und der athletischen Statur. „Keiner weiß, wie lange die armen Schweine hier schon verreckt sind, aber es muß 'ne Weile her sein, bei dem verfluchten Gestank.“ „In diesem Klima tritt die Verwesung sehr schnell ein“, sagte Jonny, der gleich hinter mir ging und sich in diesem Augenblick zu dem Glatzkopf umdrehte. „Noch am selben Tag, an dem du ins Gras beißt, Pulaski.“ „Heiliges Kanonenrohr, das ist ja nicht zum Aushalten“, wetterte Pulaski. „Dann halt dir die Nase zu“, zischte Kleine Hölle ihm zu. „Und sei still, verdammt noch mal.“ Ich hielt selbst die Luft an, um den entsetzlichen Geruch nicht mehr einatmen zu müssen. Es war viel zu eng und viel zu stickig in diesem Vordecksgang, und ich sehnte den Moment herbei, in dem wir wieder aufs Oberdeck hinaustraten. Der Schweiß brach mir aus allen Poren hervor und lief nicht in Rinnsalen, sondern in Bächen über meinen ganzen Körper. Mir war von einem Moment zum anderen hundeelend zumute. Kid Holloway strauchelte plötzlich und stieß eine Verwünschung aus. Ich verhielt gerade noch rechtzeitig, um nicht auch über den Körper zu stolpern, der vor uns auf den Planken ausgestreckt lag. Ich würgte etwas herunter, das mir im Hals steckte, machte einen langen Schritt und war über ihn hinweg. Kleine Hölle und Pulaski betrachteten auch diesen Mann, aber nur flüchtig, und sie wagten es wie Holloway und ich auch nicht, ihn zu berühren. Wieder hatten wir einen spanischen Seesoldaten gefunden, und auch dieser war so mausetot wie die anderen. Gott im Himmel, dachte ich, wie viele müssen wir denn noch entdecken? Etwas eilte raschelnd, trippelnd vor uns davon. Ich wußte, daß es eine Ratte war. Sicherlich wimmelte es auf der Galeone von Ratten und anderem Getier, aber ich wagte es nicht, weiter darüber nachzudenken. „Los, beeilen wir uns“, sagte Kid Holloway. „Bringen wir es hinter uns. Hier ist jetzt das Logis, kommt her und werft alle mal einen Blick hinein.“ Ich befolgte seine Aufforderung. Ein Stöhnen drang aus meinem Mund, ich konnte es diesmal wirklich nicht verhindern. „Allmächtiger“, stammelte ich.
Im Logis lag ein halbes Dutzend Männer. Männer, die sich im Kampf gegen die Piraten wohl bis hierher zurückgezogen hatten. Vermutlich hatten sie geglaubt, sich irgendwie verschanzen zu können, hatten darauf gebaut, daß sie sich gegen die Seeräuber behaupten konnten, wenn sie sich nur den Rücken freihielten. Aber das Logis war für sie zur tödlichen Falle geworden. Im matten Halbdunkel erkannte ich wieder einen Kris, der einem der Spanier zwischen die Rippen gerammt worden war. An Blankwaffen schien es den malaiischen Piraten wohl nicht zu mangeln, sonst hätten sie keine einzige davon an Bord der Galeone zurückgelassen. Einer der Toten lag in einer Koje, als ob er schliefe. Ein anderer saß mit dem Oberkörper seitlich gegen die hölzerne Umrandung einer Lagerstatt gelehnt auf dem Boden, und er schien uns anzuschauen, obwohl seine glasigen Augen doch völlig blicklos waren. Holloway schritt quer durch das Logis und sah sich auch diese Toten kurz an. Dann nickte er, kehrte zu uns zurück und sagte: „Weiter. Auch hier gibt es nichts mehr für uns zu tun.“ Ich wußte, er hatte sich überzeugen wollen, ob sich unter den armen Teufeln vielleicht Schwerverletzte befanden, die in tiefer Bewußtlosigkeit und unter Fieberkrämpfen noch dahinvegetierten. Aber die Piraten hatten ihr Werk mit kompromißloser Gründlichkeit vollendet. Für Mister Ivo Montesano, unseren Feldscher, würde es keine Arbeit geben. Auf dem Weg durch die anderen Vordecksräume stießen wir auf weitere Tote, insgesamt drei an der Zahl. „Trotzdem kann es nicht die ganze Besatzung sein“, meinte Kleine Hölle hinter meinem Rücken. „Dieser erbärmliche Kahn muß mindestens fünfzig, sechzig Mann an Bord gehabt haben. Mehr als die Hälfte wird von den Freibeutern ins Wasser der Bucht befördert worden sein, schätze ich.“ „Ein nasses Grab“, sagte Holloway dumpf. „Aber lange bleiben sie da nicht liegen. Die Haie oder die Krokodile, die hier überall in den Sümpfen lauern, werden inzwischen schon Mahlzeit gehalten haben. Sie machen reinen Tisch. Himmel, Bonty, sieh mich doch nicht so entsetzt an. Das ist nun mal so.“ Ich hatte keinen Spiegel zur Hand, mit dem ich meine Gesichtsfarbe überprüfen konnte, aber ich nehme fest an, daß ich damals schon recht grünlich angelaufen war. Nur mit Mühe kämpfte ich meine aufsteigende Übelkeit nieder. Ich schaffte es, indem ich voll Wut an die Teufel dachte, die dies alles hier angerichtet hatten.
Sicher, die Spanier sollten sich in ihren Kolonien auch nicht sehr rücksichtsvoll gegenüber den Eingeborenen verhalten. Aber instinktiv ergriff ich zumindest in diesem Moment doch für die Männer der „San Juan Nepomuceno” Partei, weil ich mir ausmalte, daß die Seeräuber gewiß mit uns nicht anders umspringen würden, als mit ihnen, wenn wir in eine ihrer Fallen gerieten. Wieder gingen mir schreckliche Vorstellungen durch den Kopf, und in diesem sehr aufgewühlten inneren Zustand des Zornes und des Entsetzens erreichte ich mit meinen Kameraden die Frachträume der spanischen Galeone. Es waren zwei, ein kleinerer, vorn befindlicher, und ein großer achterer Raum. Durch ein paar kopfgroße Lecks in der Backbordseite drang Licht ein, und wir vermochten in dieser streifigen, etwas unwirklich anmutenden Helligkeit alles genau zu erkennen: Kniehoch stand das Wasser in beiden Laderäumen, und hier und da schien eine Ratte schwänzelnd davonzuschwimmen. Aber nicht das war es, was unsere volle Aufmerksamkeit erregte. Vielmehr richteten wir unsere Blicke sogleich auf die vielen Fässer und Kisten, die sorgsam gestaut und festgezurrt im Schiffsbauch lagen, als warteten sie nur darauf, endlich gelöscht zu werden. „Verdammt!” sagte Pulaski. „Wenn die Piraten schon wie die Bestien gewütet haben, wieso haben sie dann ihre Beute hier zurückgelassen?“ „Das weiß der Henker!“ stieß Kleine Hölle aus. „Die Sache wird immer undurchsichtiger. He, Kid, kannst du dir einen Reim auf das Ganze machen?“ Kid Holloway tastete sich in dem Gang, der zwischen den Fässern und Kisten freigelassen war, voran, indem er sich links und rechts mit den Händen abstützte und vorsichtig vorwärtswatete. „Nehmen wir uns mal eines von den Fässern vor“, sagte er. „Wir öffnen es und sehen uns seinen Inhalt an. Vielleicht finden wir dann ja die Erklärung.“ „Ich weiß schon, worauf du hinauswillst!“ rief Pulaski, daß es in dem Frachtraum widerhallte. Er schien sehr stolz darauf zu sein, es schon jetzt begriffen zu haben. Gerade wollte ich ihn danach fragen, welchen Inhalt die Fässer und Kisten seiner Ansicht nach denn wohl hätten, da bemerkte ich eine Bewegung dicht neben Kid Holloways rechtem Bein. Etwas schien über die Oberfläche des Wassers hinwegzuhuschen, schnell und lautlos, aber es entfernte sich nicht von Holloway, sondern hielt direkt auf ihn zu.
„Vorsicht!“ rief ich, und dann zückte ich auch schon mein Messer und stach damit zu. Holloway reagierte geistesgegenwärtig. Er wich aus, fuhr herum und riß seinen Cutlass aus dem Gurt. Ich hieb zweimal mit meinem Messer ins Wasser, und dabei spritzte das Naß hoch auf. Mein Gesicht bekam einige Tropfen ab. Ich dachte, das Wesen getroffen zu haben, aber es schlängelte sich von mir fort und steuerte nun auf Kleine Hölle zu. Jonny hatte seinen Schiffshauer auch schon in der Faust und hieb blitzschnell damit zu. Kid, Pulaski und ich registrierten noch ein paar krampfartige Zuckungen der Kreatur im Wasser, dann war es vorbei, und sie lag reglos da. Kleine Hölle steckte seinen Schiffshauer weg und hob mit grimmigem Grinsen hoch, was er da soeben wahrhaftig in zwei Stücke zerhauen hatte: eine Schlange, die in ihrer gesamten Länge gut einen Yard messen mochte. „Donnerwetter“, entfuhr es Kid Holloway. „Das ist ja gerade noch mal gut gegangen. Ob die wohl giftig war?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Kleine Hölle, und auch Pulaski und ich schüttelten die Köpfe. „Egal“, sagte Holloway. „Giftig oder nicht – ich danke euch, Jungs. Wir müssen höllisch aufpassen, daß wir nicht noch von anderem Viehzeug angegriffen werden.“ Ich wischte mir das Wasser vorn Gesicht. Eine faulige Brühe, schwärzlich und übel riechend – ich fragte mich schon wieder, ob darin wohl auch die winzigen Tierchen enthalten waren, die laut Mister Montesano die gefährlichen Tropenkrankheiten übertrugen. Wir wateten weiter durch den vorderen Frachtraum und gelangten durch ein Querschott in den achteren. Ich hatte mein Messer bereit und hielt nach links und nach rechts Ausschau, ob es noch mehr Schlangen oder Ratten gab, die uns ans Leder wollten. Dann fiel mir ein, daß durch eines der Lecks vielleicht sogar ein Krokodil in die „San Juan“ eingedrungen sein konnte. Lauerte es uns auf – hinter den Frachtstücken vielleicht? Ich konnte mich eines Schauderns nicht erwehren. Noch zu frisch war die Erinnerung an das, was vor Ceylon mit dem armen Mister Everett geschehen war. Ich selbst hatte ja aus nächster Nähe miterlebt, wie er zerrissen worden war. Die Salzwasserkrokodile waren noch viel schrecklicher als die Haie gewesen, die ich in meiner Zeit als Moses und Decksmann zu sehen gekriegt hatte.
Kid Holloway erklomm einen der Kisten- und Fässerstapel, zog sein Messer hervor und werkelte damit an dem Deckel eines dickbauchigen Kastanienholzfasses herum. Es dauerte doch einige Zeit, bis er den Deckel geöffnet hatte und anheben konnte, denn dieser war mit soliden Eisennägeln versehen. Dann aber hielt Kid seinen Kopf in das Faß hinein und schnupperte eine Weile darin herum. Er hob den Kopf wieder an, sah zu uns herab und verkündete grinsend: „Ingwer, da gehe ich jede Wette ein. Und wer mal kräftig niesen will, der halte seinen Rüssel an die Kiste hier neben mir. Ich kann den Pfeffer durch das Holz hindurch riechen. Auf der Stelle krepieren will ich, wenn nicht die gesamte Schiffsladung aus Gewürzen besteht.“ „Tja“, sagte Jonny. „Und damit konnten die Piraten natürlich herzlich wenig anfangen. Während die Gewürze aus Ostindien bei uns in der Heimat heiß begehrt sind und zu hohen Preisen gehandelt werden, kriegt man sie bei den Eingeborenen Ostindiens sozusagen nachgeworfen. Ho, ich kann mir die Enttäuschung dieser wilden Hunde gut vorstellen. Sie haben für nichts gekämpft.“ „Vielleicht haben sie Munition erbeutet“, brummte Pulaski. „Schon möglich“, meinte Kid Holloway von seinem Platz hoch oben auf den Fässern. „Aber es könnte auch sein, daß sie Geiseln mitgenommen haben.“ „Geiseln?“ echote ich entgeistert. „Leute, die sie als Sklaven weiterverkaufen können“, erwiderte Jonny neben mir. „Wäre doch zumindest denkbar, oder? Vielleicht hat dieses Schiff ja Passagiere an Bord gehabt, irgendwelche einflußreichen Persönlichkeiten oder so.“ „Es ist aber nur eine Annahme“, sagte Kid Holloway. „Bonty, würdest du jetzt mal 'raufgehen zu Mister Bunk und Mister McCoy und ihnen melden, was wir hier entdeckt haben?“ „Ja.“ „Ich schätze, das ganze Zeug hier dürfte für unseren Master von höchstem Interesse sein.“ „Ich bin schon weg“, sagte ich. Die „San Juan Nepomuceno“ war zwar anders konstruiert als unsere „King Charles“, aber deswegen hatte ich trotzdem keine Schwierigkeiten, den Weg hinauf ins Achterkastell zu finden. Schön, die Niedergänge waren anders angeordnet, und an einem der sehr niedrigen Deckenbalken stieß ich mir sogar den Kopf — aber ich verlief mich nicht und war sehr schnell oben in dem Mittelgang, der vom Achterdecksschott direkt bis zur Kammer des Kapitäns führte.
Ich war heilfroh, unterwegs über keine Toten mehr gestolpert zu sein. In meiner Zeit auf See hatte ich nun zwar schon so einiges miterlebt, und in vielen Dingen hatte ich mir auch ein recht dickes Fell zugelegt, aber der Anblick einer Leiche war für mich immer wieder eine schreckliche Angelegenheit. Die Tür zur Kapitänskammer stand halb offen. Ein Lufthauch wehte mir entgegen, er kehrte den entsetzlichen Geruch fort, der in allen Ecken und Winkeln des Schiffes zu hocken schien. „Mister Bunk! Mister McCoy!“ sagte ich laut. Ich erhielt keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich der Tür, drückte mit den Fingerspitzen gegen ihr Holz und öffnete sie auf diese Weise ganz. Ich blickte in die Kammer des Kapitäns. Sie war ein holzgetäfelter Raum mit einem schönen geschnitzten Pult in der Mitte, gekreuzten Degen an den Wänden und allerlei Zierat, durch den das Ganze nach meiner Ansicht irgendwie überladen wirkte. Ich trat ganz ein. Zwei große Schränke hatte die Kammer des Schiffsführers. Aus dem einen war das gelbliche Bleiglas der Türen herausgebrochen worden, den Inhalt — Becher, Krüge, zusammengerollte Seekarten und ein Paar teure Kapitänsstiefel — hatte man auf dem Boden verstreut. Hier hatte auch ein Kampf stattgefunden, das war offensichtlich, und wer dabei der Unterlegene gewesen war, konnte ich mir leicht an meinen Fingern abzählen. Die Piraten hatten auch hier wie die Teufel gehaust, aber mit den Karten und den Stiefeln und allen anderen Utensilien des Kapitäns hatten sie augenscheinlich nichts anzufangen gewußt. Ich wandte meinen Blick nach rechts. Die Bettstatt des Kapitäns befand sich nicht in dieser Kammer, eine Tür führte in den angrenzenden Kojenraum. Auch diese Tür stand offen, und ich befürchtete schon, auf dem zerwühlten Lager, das ich von hier aus deutlich sehen konnte, die Leiche des Kapitäns zu entdecken, hatte mich darin aber getäuscht. Die Koje war leer. „Mister Bunk! Mister McCoy!“ rief ich noch einmal. Diesmal antwortete mir die Stimme meines väterlichen Freundes: „Wir sind hier draußen, Howard – auf der Heckgalerie!“ Ich atmete auf. Eben hatte ich schon angenommen, unser Bootsmann, unser Profos und Lockjaw wären in der Kammer überfallen worden, von Piraten, die sich hier versteckt hatten. Aber ich mußte vor mir
selbst gestehen, daß meine Phantasie mit mir durchgegangen war, und darüber war ich eigentlich ganz froh. Ich blickte nach links und sah die Tür, die auf die Galerie hinausführte. Mit drei Schritten war ich vor ihr, schlüpfte durch den Spalt ins Freie und trat zu Mister Bunk, Mister McCoy und Lockjaw, die alle drei an der Reling standen und mit ernsten Mienen ins Wasser hinabschauten. Mister Bunk wandte als erster den Kopf und sah mich an. „Nun, Howard? Was gibt es?“ „Ich ... wollte nur melden, daß wir in den Frachträumen die offenbar vollständige Ladung der ,San Juan' vorgefunden haben – Gewürze.“ „Danke. Blyss wird das sofort unserem Kapitän signalisieren.“ Der Profos hatte sich bei meinen Worten ebenfalls zu mir umgedreht. Jetzt hob er den Kopf, blickte zu den Hecklaternen der „San Juan Nepomuceno“ auf, von denen die eine nur noch als Fragment vorhanden war, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief: „Blyss!“ Jo Blyss schob seinen Kopf übers Schanzkleid hinweg. „Sir?“ „Hast du gehört, was Bonty gemeldet hat?“ „Nein, Sir.“ „Die Galeone ist bis unter die Ladeluken mit Gewürzen vollgestopft. Gib das sofort an die ,King Charles' weiter.“ „Aye, aye, Sir!“ rief Blyss. Er zeigte klar, wandte sich ab und begann, mit den Armen zu unserem Schiff hinüberzusignalisieren, was wir allerdings von der Galerie aus nicht verfolgen konnten. „Mister Bunk“, sagte ich jetzt zu meinem Freund, und merkwürdigerweise stockte meine Stimme wieder ein bißchen. „Darf ich Sie mal was fragen?“ „Aber sicher doch, Howard. Nur heraus damit.“ „Der Kapitän dieses Schiffes – haben ... Sie ihn gefunden?“ „Ja.“ Lockjaw fuhr mit einem hämischen Grinsen zu mir herum. „Komm her, Bonty, ich zeige ihn dir, den stolzen Don. Du willst ihn doch sehen, oder?“ Ich spürte, wie meine Züge sich verhärteten. Ich sah weder zu Mister Bunk noch zu Mister McCoy, ich fixierte jetzt nur Lockjaw und wich dem finsteren Blick seiner Augen nicht aus. Er hatte seinen linken Arm vor Jahren in irgendeinem Gefecht zur See eingebüßt, aber darum durfte man ihn auf gar keinen Fall unterschätzen. Er konnte trotz seiner starken körperlichen Behinderung jede Arbeit an Deck verrichten, konnte pullen, schwimmen, an einem
Tau aufentern – wie er ja gerade erst beim Erklettern der Bordwand erneut bewiesen hatte – und gnadenlos hart um sich schlagen. Jedes Wort, das er an mich richtete, war eine einzige Herausforderung, und ich wußte genau, daß es zwischen uns eines Tages so weit kommen würde, wie es auch zwischen Daniel Hawkins und mir gekommen war. Ich wollte ihm beweisen, daß seine gehässige, kaltschnäuzige Art mich nicht im geringsten beeindrucken konnte. „Ja“, antwortete ich ihm, und die Unsicherheit war aus meiner Stimme gewichen. „Natürlich will ich ihn sehen.“ Ich trat neben ihn an die Reling der Galerie und spähte in das flache Wasser der Bucht hinab, genau auf die Stelle, die Lockjaw mir mit der ausgestreckten Rechten bezeichnete. Mister Bunk und Mister McCoy griffen nicht ein, sie ließen uns beide gewähren. Ich ahnte schon, was mit dem Kapitän der Galeone geschehen war. Der Mann — oder das, was von ihm übrig geblieben war — lag an Backbord des Heckspiegels, und allein dies war der Grund dafür, warum wir ihn nicht schon von unserem Beiboot aus entdeckt hatten. Da wir uns von Steuerbord her dem Schiff genähert hatten, hatte sich das, was da dicht unter der Wasseroberfläche leicht hin- und herpendelte, vorerst unseren Blicken entzogen. Jetzt aber konnte man in aller Deutlichkeit sehen, wie es dem Kapitän der „San Juan“ ergangen war. Der Grund dafür, daß seine letzten Überreste nicht mit einer Strömung oder mit dem ablaufenden Wasser der vergangenen Stunden abgetrieben waren, lag darin, daß man ihm einen klobigen Stein mit einem Tampen an seinem linken Fußknöchel festgebunden hatte. So hatten sie ihn wohl von der Heckreling gestürzt — mit dem Stein am Bein. Ich konnte mir ausmalen, daß er zu jenem Zeitpunkt noch am Leben gewesen war, verletzt vielleicht nach dem Kampf mit den Piraten in seiner Kammer, aber doch noch Herr seiner Sinne. So hatten sie ihn einen grausamen Tod sterben lassen. Jämmerlich mußte er da unten ertrunken sein. Ein paar Fische glitten über den Toten hinweg. Manchmal schien er sich im Wasser ein wenig zu bewegen, so, als ob noch ein winziger Rest Leben in ihm wäre. Aber das war nur eine Einbildung, die mir meine Phantasie vorgaukelte. Ich war zutiefst erschüttert, aber nicht so schockiert, wie ich vielleicht hätte sein sollen und wie Lockjaw es sich gewünscht hatte. Langsam
wandte ich mich zu Mister Bunk und Mister McCoy um. Ich sprach kein Wort. Mister McCoy sah mich an. „Los, Lockjaw, gehen Sie aufs Hauptdeck zurück!“ sagte er dann. „Wir entern gleich wieder in unser Boot ab und kehren zur ,King Charles' zurück.“ „Aye, Sir“, murmelte der Einarmige und wandte sich ab. Nur widerstrebend schien er die Kapitänskammer zu durchqueren, vielleicht hatte er auf einen günstigen Moment gehofft, in dem er sich das eine oder andere zustecken konnte. Er gehorchte aber, denn mit Mister McCoys Neunschwänziger hatte er schon des öfteren Bekanntschaft geschlossen. „Don Pedro de Goyena?“ wiederholte ich erstaunt. Ich sah Mister Bunk an. „Das ist also der Name des spanischen Kapitäns? Wie haben Sie ihn erfahren?“ Mister Bunk legte mir seine Hand auf die Schulter. „Komm, ich will dir was zeigen“, sagte er. * Mister Elvin McCoy ließ uns in der Kapitänskammer allein. Er stieg in den großen Frachtraum der Galeone hinab, wir konnten hören, wie sich das Knarren seiner Stiefel und das Poltern seiner Schritte allmählich entfernte. Mister Bunk trat an das blankpolierte, mit reichem Schnitzwerk versehene Pult, da wie ich annehme, ganz aus feinstem Nußbaumholz bestand. Er öffnete die einzige Schublade und entnahm ihr ein großes Buch mit ledernem Einband, auf dessen Deckel ein Wort in spanischer Sprache geprägt war, das ich nicht zu deuten verstand. „Ist das das Logbuch?“ fragte ich. „Ja. Gleich auf den ersten Seiten sind die Namen sämtlicher Schiffsoffiziere und Besatzungsmitglieder eingetragen.“ Mister Bunk schlug das Buch auf. „Die Piraten wußten nichts damit anzufangen, deshalb haben sie es hier zurückgelassen. Ich habe es in der Schublade entdeckt, bevor wir auf die Heckgalerie hinausgingen.“ „Sie können lesen, was darinsteht?“ „Nicht alles. Du weißt ja, daß es mit meinen Spanischkenntnissen nicht allzu weit her ist. Aber ich habe ein wenig darin herumgeblättert und Mister McCoy und Lockjaw schon einiges übersetzt. Es sind die letzten Worte und Sätze des Kapitäns, die besonders dramatisch sind,
Howard, denn er hat sie aufgeschrieben, als der Kampf an Bord in vollem Gange war.“ Er legte das Logbuch aufgeschlagen auf die Platte des Pults, und ich konnte jetzt einen Blick auf die Eintragungen der letzten Seiten werfen, die offenbar in größter Hast niedergekritzelt worden waren. „Wie denn, Mister Bunk?“ sagte ich verblüfft. „Mitten im Gefecht hat er noch etwas zu Papier bringen können?“ Mister Bunk beugte sich über die Seiten. „Ja. Nach-, dem die Piraten das Handgemenge auf Deck bereits für sich entschieden hatten, gelang es Don Pedro, sich bis in seine Kammer zurückzuziehen. Hier wollte er seine Waffen nachladen, und ich glaube, es gelang ihm auch, noch ein paar Schüsse auf die Kerle abzufeuern, die ihm folgten und die Tür aufbrachen. Dann war es auch für ihn aus. Sie fielen über ihn her. Den Rest kannst du dir ja sicher ausmalen.“ „Und ob“, sagte ich. „Howard, Spanien und Portugal sind Englands erklärte Feinde, das weißt du. Schon seit einem halben Jahrhundert besteht diese Rivalität, und wir alle haben keinen Grund, uns in irgendeiner Weise Illusionen zu machen, was unsere Gegner betrifft. Aber das hier – das würde ich keinem unserer Feinde wünschen. Verstehst du, was ich meine?“ „Ja. Es ist ein grausiger Einzelfall, eine Sache, die uns allen an die Nieren geht. Habe ich recht, Mister Bunk?“ „Durchaus“, entgegnete mein Freund. „Dennoch sollten wir uns bemühen, die Dinge nicht zu persönlich zu sehen. Das könnte ein Fehler sein.“ „Sicher. Aber der Mensch hat doch auch Gefühle.“ „Du und ich, wir haben sie, und auch die meisten anderen an Bord der ,King Charles' sind in ihren Empfindungen bei weitem nicht so abgebrüht, wie sie vorgeben.“ Er atmete tief durch, klappte das Buch zu und schob es sich unter das Hemd. „Aber belassen wir es lieber bei dieser Feststellung. Es hat wenig Sinn, noch mehr darüber zu äußern. Nur eines, Howard: Ziehen wir eine Lehre aus dem Schicksal, das die Männer der ,San Juan' getroffen hat.“ „Ich weiß schon, was Sie jetzt sagen wollen.“ „Dann sag du es, Howard.“ „Wenn wir jemals mit den malaiischen Piraten zusammentreffen sollten, dann müssen wir mit äußerster Härte und Unnachgiebigkeit kämpfen. Es ist nicht unsere Art, Gegner zu verteufeln — aber diese Kerle haben selbst den Teufel im Leib“, sagte ich. „Hoffen wir, daß wir ihnen nie begegnen.“
„Ja. Wir sollten darum beten, daß es nicht geschieht“, murmelte ich, aber ich verspürte wieder jenes ungute Gefühl, das wie eine bittere Vorahnung war. * Master Clifford Flanagan ließ Mister Bunk und Mister McCoy zu sich aufs Achterdeck rufen, als wir uns wieder an Bord der „King Charles“ befanden. Schweigend hörte er sich ihren Bericht an und unterbrach sie kein einziges Mal. Am Ende sagte er: „Und Sie sind sicher, daß es keine überlebenden des Massakers gibt?“ Unser Bootsmann und der Profos schüttelten beide den Kopf, und Mister Bunk antwortete: „Ganz bestimmt nicht, Sir. Wir haben alle Räume und jeden Winkel der Galeone abgesucht. Falls sich jemand von der spanischen Besatzung in den Dschungel gerettet haben sollte, so wäre er bei unserem Erscheinen sicherlich aufgetaucht und hätte uns Zeichen gegeben.“ Master Flanagans Blick schweifte zu den tiefgrünen, dampfenden Wäldern ab, die sich wie eine Mauer um die Bucht legten. Er sagte nichts, aber ich, der ich ihn von der Kuhl aus beobachtete, glaubte in seinen Augen und seiner Miene zu lesen, was er jetzt dachte. In der grünen Hölle von Sumatra konnte kein normalbeschaffener Mensch länger als ein paar Stunden bestehen. Sich dort hinein zu retten, um den malaiischen Freibeutern zu entgehen, hieß, vom Regen in die Traufe zu geraten, bedeutete, sich selbst dem eigenen Untergang auszuliefern. Was die Raubtiere der „Selvas“ – wie die Spanier den Urwald nannten – nicht taten, das vollbrachten das mörderische Klima und die Seuchen, die in den Sümpfen und überall im Dickicht brüteten. Nein, es konnte keine Überlebenden geben. Unser Kapitän betrachtete noch einmal die „San Juan Nepomuceno“, die sich mit ihrer Backbordseite wie in unendlicher Trauer dem Wasser der Bucht und dem mangrovenüberwucherten Ufer entgegenneigte. „Ich frage mich, wieso die Piraten das Schiff nicht in die Luft gejagt haben“, sagte er. Mister Anderson, unser Erster Offizier, meldete sich zu Wort. „Entweder befürchteten sie, daß die Explosion weithin gehört wurde und daß folglich ein Schiffsverband aufkreuzen konnte, der sie jagen
würde – oder aber sie wollten ganz einfach kein Pulver vergeuden, weder ihr eigenes noch das auf dem Spanier erbeutete.“ „Möglich“, meinte der Master. „Sie legten also Feuer und ließen das Schiff treiben. Sie hatten nicht nur den Besanmast verkürzt und wie wild auf die Decks und das Schanzkleid eingeschlagen, sie hatten der Galeone auch einige Lecks beigebracht, ehe sie von Bord gingen. Demnach hätte die ,San Juan' nach menschlichem Ermessen sinken müssen.“ „Und wir hätten sie nie entdeckt“, sagte Mister Pickens. Der Master nickte knapp. „Aber dann geschah das Unglaubliche. Die Galeone lief bis ans Ufer, rammte sich auf dem Grund fest, und das Feuer erlosch. Möglicherweise wurde es durch einen jener kurzen, heftigen Tropenschauer gelöscht, wie wir sie ja alle zur Genüge kennen.“ „Der spanischen Mannschaft hat das wenig genützt“, meinte Mister Anderson mit unwiderlegbarer Logik. „Ob wir nun auf den Dreimaster gestoßen sind oder nicht, hat im Endeffekt keinerlei Bedeutung.“ Master Flanagan sagte: „Wir manövrieren so nah wie möglich an den Spanier heran und holen dann den noch trockenen, brauchbaren Teil seiner Ladung an Bord unseres Schiffes herüber. Wir sind zwar keine Kaperfahrer, aber die Gewürze können wir ruhigen Gewissens übernehmen, denn sie würden hier andernfalls nur verderben. Mister Anderson, Mister Pickens, Mister Bunk und Mister McCoy, sorgen Sie dafür, daß die Toten mit seemännischen Ehren bestattet werden – in der Bucht.“ „Aye, Sir“, sagte Mister Ray Anderson stellvertretend für alle vier. „Mister Prescott!“ rief der Kapitän unserem Zweiten Steuermann zu. Zebulon Prescott hob den Kopf. „Sir?“ „Sie werden eine Andacht für die Toten halten. Hier, an Bord der ‚King Charles'.“ * Der Rest jener Begebenheit in der Bucht von Sumatra ist schnell erzählt: Mit unseren beiden Beibooten holten wir die Fracht der „San Juan Nepomuceno“ herüber, und wir alle hatten alle Hände voll zu tun, die Fässer und Kisten mit den Gewürzen an Bord zu mannen und mit Hilfe von Tauen und Taljen durch die geöffneten Luken in den Schiffsbauch abzufieren.
Hamdullah und ich gehörten mit zu der Gruppe von Männern, die in unserem Laderaum für ein ordnungsgemäßes Stauen und Festzurren der Ladung zu sorgen hatten. Wir arbeiteten im Schweiße unseres Angesichts, und wir konnten bei dieser Tätigkeit, die uns viel Kraft abverlangte, eigentlich nur über eines froh sein – daß nämlich die größte Hitze des Tages im Abklingen begriffen war und jetzt allmählich die Dämmerung eintrat, die ein wenig Abkühlung brachte. China-Harry, der dicht neben uns schuftete, erklärte mir, welche Gewürze in den Fässern und Kisten enthalten waren, und ich geriet ehrlich ins Staunen. Hamdullah verstand nicht alles von dem, was Harry sagte, und deshalb setzte ich ihm anschließend noch einmal alles auseinander, und zwar in dem langsamen, besonders akzentuierten Tonfall, dem er am besten folgen konnte. Wie viele Sorten von Spezereien es doch gab! Pfeffer, Nelken, Thymian, Majoran, Oregano, Muskatnuß, Zimt, Ingwer, Koriander, Safran, Kardamon und Chinarinde – das waren die zwölf Arten duftender Kostbarkeiten, die wir jetzt mit unserer bisherigen Ladung, den Geschützen und dem Werkzeug, mitführten. Nach einigen der fremdländischen Namen mußte ich mich immer wieder erkundigen, weil ich sie rasch wieder vergaß. Doch im Laufe der Zeit prägte ich sie mir ganz genau ein. Ich wollte soviel wie irgend möglich über Ostindien und die Gewürzinseln lernen, wollte immer mehr über die Menschen erfahren, die dort lebten, über die Tier- und Pflanzenwelt und die seltsamen, uns so völlig fremden Bräuche, die dort herrschten. Hamdullah lächelte, als ich ganz aufgeregt mit China-Harry über die Verwendungsmöglichkeiten der Gewürze sprach und jeden Hinweis begierig in mich aufnahm. „Viele Spezereien im Orient“, sagte unser Moses. „Auch arabische Küche reich davon. Wuuunderbares Essen!“ Er geriet fast in Verzückung darüber. „Auch Gofredo weiß mit den Gewürzen umzugehen“, meinte ChinaHarry. „Ihr werdet staunen, was er jetzt bald, wo wir das Zeug an Bord haben, für Gerichte zaubert! Bonty und Hamdullah, ihr werdet es nicht glauben – aber je schärfer und reichhaltiger ein Essen gerade in heißen Ländern zubereitet ist, desto besser schirmt es uns gegen Krankheiten ab.“ „Ist das wirklich wahr?“ fragte ich verblüfft. „Du kannst es ruhig glauben“, meinte Kid Holloway, unser Spaßvogel. „Und Ivo, unser Feldscher, glaubt gelesen zu haben, daß man aus der
Chinarinde sogar ein Mittel gegen das verdammte Wechselfieber zu gewinnen versucht.“ „Ja, das stimmt“, pflichtete China-Harry ihm bei. „Im Land der Zopfmänner gibt es diese Arznei schon.“ „Ach“, sagte ich. „Ihr wollt mir ja nur wieder einen Bären aufbinden.“ Holloway schüttelte den Kopf, und ich vermißte diesmal auch das verdächtige Zucken, das immer um seine Mundwinkel spielte, wenn er sein dickes Seemannsgarn an den Mann zu bringen versuchte. „Du brauchst es uns nicht zu glauben. Frag Montesano nachher selbst, der wird es dir bestätigen.“ „Jawohl“, sagte ich. „Das werde ich auch tun.“ Als alle Fässer und Kisten, die vom Seewasser in den Frachträumen der „San Juan“ nicht angegriffen worden waren, im Rumpf unserer Galeone verschwunden waren, pullten die Bootsmannschaften noch einmal zu dem Wrack hinüber und begaben sich zum letztenmal an Bord, um die Toten in Segeltuch einzunähen und dem etwas tieferen Wasser der Bucht zu übergeben. Nachdem sie zu uns zurückgekehrt waren, bestand Mister Montesano darauf, daß sie alle sich die Hände in einer von ihm eigens dafür zubereiteten, säuerlich riechenden Lösung wuschen. „Das ist gegen die Infektion“, erklärte er. „Gegen die Ansteckung. Damit sich keine Krankheiten hei uns an Bord einschleichen.“ Ich sollte später noch erfahren, daß das mit den schlimmen Tropenkrankheiten durchaus keine fixe Idee von ihm war. Man konnte gar nicht genug dagegen tun. Anschließend versammelten wir uns alle auf Befehl des Masters auf dem Hauptdeck, und Mister Zebulon Prescott, dieser Riese von einem Mann, schlug die Bibel auf und begann daraus zu lesen. „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarme dich“, sagte er mit seiner tiefen, wohltönenden Stimme, und wir bekreuzigten uns. * „Wir hören aus dem neunzigsten Psalm der Heiligen Schrift: Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom: sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt. Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Wer glaubt aber, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem, deinem Grimm? Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ Zebulon Prescott klappte seine Bibel zu. Langsam ließ er seine Blicke über uns wandern und unwillkürlich duckten wir uns alle unter den Augen dieses Riesen, als abermals seine tiefe Stimme ertönte: „Herr, erbarme dich dieser Sünder, nimm sie zu dir in dein Reich, vergib ihnen ihre Schuld. Denn wer von uns allen hätte keine Schuld auf sich gehäuft und wer von uns allen lebt nicht ständig in Sünde. Herr, erbarme dich dieser Toten und halte deine schützenden Hände über uns, die wir leben. Lasse dein Angesicht über uns leuchten und schütze uns vor allem Übel. Amen.“ * „Amen“, wiederholten wir alle, und auch Hawkins, Ellerton, Dodds, Lockjaw und die anderen zwielichtigen Kerle bekreuzigten sich. „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet“, sagte Zebulon Prescott auf eine Weise, die mir ganz besonders nahe ging. Wieder einmal mußte ich an den Tod von Mister Bunks Vorgänger, Mister Ryan O'Farrill, denken. Ich wünschte mir inständig, daß er jetzt endlich Frieden gefunden haben mochte und daß er keine Schmerzen mehr zu erleiden hatte, wie es zu seinen Lebzeiten gewesen war. Ich senkte den Kopf und betete auch für meine Mom, von der ich hoffte, daß sie noch am Leben war und daß es ihr gut ging. Ja, und auch meinen Vater schloß ich in das Gebet ein.
Zebulon Prescott hob seine Stimme: „Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Laß sie schauen in dein Angesicht und begnade sie mit der himmlischen Herrlichkeit. Durch Jesum Christum, deinen lieben Sohn, unsern Herrn. Amen.“ „Amen“, sagten die Männer der Crew, die Männer vorn Achterdeck und auch Master Flanagan höchstpersönlich. Dann ließ unser Kapitän eine der achteren Drehbassen zünden, und das Geräusch des Böllers ging mir durch Mark und Bein. Zebulon Prescott stand noch eine Weile mit gefalteten Händen da. Ich will an dieser Stelle noch einmal hervorheben, daß Zebulon Prescott keineswegs ein bigotter, also blindgläubiger Mann war, sondern genau das Gegenteil davon. Er war offen und ehrlich, ein rechtschaffener Mann, Seemann durch und durch, und guter Kamerad, unerschütterlich in seinem tiefen Glauben, durch den er auch das schlimmste Leid und die größten Entbehrungen mit erhobenem Haupt zu durchstehen vermochte. Er war alles in allem ein echter Gewinn für unsere Mannschaft, darüber waren sich alle einig. Zusammen mit Sails, unserem Segelmacher, und den anderen Männern, die Master Flanagan von der gesunkenen „Leviathan“ übernommen hatte, war er zu uns herübergekommen, als wir vor Jafarabad gelegen hatten. Seither hatten wir also einen neuen Zweiten Steuermann, und Mister Bunk war damals zum Bootsmann befördert worden. Ich blickte immer noch auf die Bibel zwischen Zebulon Prescotts gefalteten Händen. Mir fiel wieder das Logbuch des Kapitäns Don Pedro de Goyena ein. Was stand wohl noch alles darin? Ich sollte es später noch erfahren. Vorerst kam ich nicht dazu, Mister Bunk nach dem Logbuch zu fragen. Master Flanagan gab jetzt seine Befehle, und gleich darauf hatten wir alle Hände voll zu tun. Der Buganker wurde gelichtet. Wir setzten die Segel, und Mister Prescott kehrte schleunigst auf seinen Platz am Ruderrad zurück. Noch in der Abenddämmerung verließen wir die Bucht des Grauens, denn der Wind wehte immer noch sehr günstig für uns aus Nordwesten und briste ein wenig auf. Nur eine flache Dünung kräuselte die See. Bald lief die „King Charles“ unter vollem Zeug auf Kurs Südost und schob eine hohe Bugwelle vor sich her, die wegen ihrem Gischt wie ein weißer Bart anmutete. Hamdullah, der mit mir das Geschützdeck klarierte, während Mister Corcoran und seine Helfer die Siebzehnpfünder wieder hereinholten und festzurrten - Hamdullah atmete jetzt auf.
„Ein Glück“, sagte er. „Schlechtes Bucht mit böse Geistern liegt achter uns. Ein Glück.“ „Hamdullah, vergiß nicht, daß wir jetzt geradewegs in die Malakkastraße hineinsegeln“, gab ich ihm zu bedenken. „Da können die bösen Geister, wie du sie nennst, auch hausen.“ „Willst du Hamdullah Angst machen?“ fragte er mit großen Augen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, wie Mister Bunk das immer bei mir zu tun pflegte. „Ich will dich nicht erschrecken, Hamdullah. Aber wir müssen höllisch vor den Piraten auf der Hut sein. Wenn sie auch in der Bucht nicht über uns hergefallen sind, so können sie doch überall lauern.“ Er nickte hastig. „Wir müssen alle auf der Hut sein, jawohl, Sidi.“ Nach verrichteter Arbeit traten wir wieder zum Bakken und Banken an, und jetzt, in der angenehmen Kühle der einsetzenden Nacht, verspürten wir gewaltigen Hunger. Gofredo, unser Koch, hatte auf die ganz offizielle Genehmigung von Master Flanagan hin schon einige der Gewürze benutzen dürfen, und er hatte eine Mahlzeit gezaubert, die er stolz „Pesce alla livornese“ nannte, also Fisch auf livornesische Art. Gofredo stammte ja selbst aus Livorno – oder aus Leghorn, wie wir Engländer die toskanische Hafenstadt nannten –, und gerade Fischgerichte waren seine ganz große Spezialität. Da war er in seinem Element, und er konnte sich mächtig freuen, wenn er sah, daß uns das Essen mundete. So stand er auch jetzt im offenen Kombüsenschott, durch das man die Holzkohlenfeuer flackern sehen konnte, und rieb sich die Hände; ein kräftig und auffallend sehnig gebauter Mann mit kantigen, leicht verkniffenen Zügen, in denen der Schalk nistete. Es war ein altes Vorurteil, daß alle Italiener dunkelhaarig waren und schwarze Augen hatten. Gofredo strafte es durch seine Person Lügen: Seine Augen waren blau, sein schütteres Haupthaar blond, und auch sein Vollbart hatte dieselbe blonde Farbe wie seine wenigen Haare auf dem Kopf. Eigentlich sah er eher wie ein Mann aus dem hohen Norden Europas aus, aber in der Toskana sollte es viele Typen wie ihn geben, hatte er uns schon des öfteren erzählt. Dieser Fisch auf livornesische Art war mit einer kräftigen, würzigen Soße zubereitet; er schwamm darin. Ich schlang den Fisch richtig heißhungrig in mich hinein, und anschließend tunkte ich Brotstücke in die Soße und löffelte sie zum Schluß noch aus. „Großartig“, sagte Kid Holloway. „Mensch, Gofredo, in diese Soße könnte ich mich glatt hineinsetzen, so gut schmeckt sie.“
Gofredo deutete eine Verbeugung zu ihm hin an. „Mille grazie, tausend Dank, Mister Holloway. Es ist mir eine große Ehre, das aus deinem Mund zu hören.“ „Aber der Fisch muß schwimmen“, sagte Pulaski. „Er schwimmt doch in der Soße“, meinte China-Harry, obwohl er durch sein Grinsen schon andeutete, daß er wußte, worauf der Glatzkopf hinauswollte. „Er soll auch in meinem Magen weiterschwimmen“, sagte Pulaski grunzend. „Und das geht mit der Soße nicht, Hölle noch mal. Ich will auf Grund laufen, wenn es nicht ein besseres Gesöff gibt als dieses ewige Wasser.“ Mister Bunk hatte die Unterhaltung schmunzelnd verfolgt, und wenig später wandte er sich mit einer Bitte an Mister Pickens und Mister Anderson. Unser Erster verschwand im Achterkastell, um mit Master Flanagan zu sprechen, kehrte aber schon kurze Zeit später zurück und sagte: „Also gut, Mister Bunk, der Kapitän gibt seine Erlaubnis. Aber Sie und Mister McCoy überwachen die Angelegenheit.“ „Aye, Sir“, sagte mein Freund. Die „Angelegenheit“ entpuppte sich als eine Sonderration Dünnbier und Ruin für die am Nachmittag geleistete Arbeit. Gofredo durfte jedem Mann den Becher zweimal mit Bier füllen und jedem einen doppelten Schnaps einschenken. Nur Hamdullah kriegte keinen Rum, aber er schien auch nicht sonderlich darauf versessen zu sein. Nicht einmal an das Dünnbier wollte er so richtig heran. Ich nehme an, der Genuß von alkoholhaltigen Getränken ließ sich mit seinem Glauben nicht vereinbaren. Aus demselben Grund aß er auch kein Schweinefleisch. Ich konnte ihn aber überzeugen, daß es besser war, wenn er wenigstens an seiner Muck voll Bier nippte. Gofredo wurde leicht beleidigt, wenn jemand sich allzu „krüsch“ anstellte oder sich als Kostverächter gab. Und ich kannte ja auch Hawkins, Ellerton, Lockjaw und Dodds, die keine Gelegenheit ausließen, um Hamdullah als Memme und Araber-Bastard zu bezeichnen, der überhaupt nichts vertrug. Unser Koch trank selbst Bier und führte sich ein Gläschen Rum zu Gemüte. Danach gab er einen seufzenden Laut der Zufriedenheit von sich und blickte zu Mister Bunk. „Danke, Sir. Wirklich eine gute Idee haben Sie da gehabt.“ „Besser könnte es einem im Moment nicht gehen“, meinte Jonny. „Mann, so ein prima Essen. Wie nennt man das doch gleich bei dir zu Hause, Gofredo?“
„Cena – Abendbrot.“ „Ja“, sagte nun Mister Montesano. „Auch bei uns in Napoli sagt man Cena, aber diesen Fisch hätte man dort ganz anders zubereitet, soviel steht fest.“ Gofredos Kopf ruckte herum, und er musterte den hageren, mittelgroßen Neapolitaner, in dessen Leib mehr Energien steckten, als man vermuten mochte, angriffslustig. Ich wußte schon, was jetzt kam. Ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, und so ging es auch den anderen, die in meiner Nähe saßen: China-Harry, Kid Holloway, Pulaski, Kleine Hölle, Hamdullah und Mister Bunk. „Besser zubereitet, wolltest du doch wohl sagen, wie?“ fragte Gofredo mit zuckersüßer Stimme. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und legte den Kopf ein wenig schief. Ivo Montesano nahm noch einen Happen von dem Fisch zu sich, kaute wie prüfend darauf herum, blickte zum Nachthimmel auf und dann zu seinem Landsmann und erwiderte nach einigem Nachdenken: „Nun, das sollte doch eigentlich klar sein. Selbstverständlich ist die neapolitanische Küche besser als die von Livorno, besonders, was den Fisch betrifft. Da besteht ein Unterschied wie Tag und Nacht, würde ich sagen. Diesen Barsch hier zum Beispiel hätte man bei uns ...“ „Es ist mir doch piepegal, was man bei euch mit meinem schönen Barsch gemacht hätte“, unterbrach Gofredo ihn. „Hier bin ich der Koch, amico, und deshalb wird nach toskanischer Tradition gekocht, solange der Master nicht sagt, daß ...“ Montesano fiel ihm ins Wort: „Das ist ein Jammer.“ „Ein Jammer? Willst du ...“ „Behaupten, daß es dieser Soße an Fondo, an Basis, mangelt?” rief unser Feldscher. „Sissignore, jawohl, mein Herr, genau das will ich. Fad schmeckt sie, deine Soße!“ „Fad? Meine Soße?“ „Schrei mich nicht an!“ rief Mister Montesano. „Ich schreie?“ stieß Gofredo empört aus. „Du brüllst mich an, merkst du das nicht?“ Ivo Montesano stellte seinen Essensnapf weg und trat drohend auf den Koch zu. Er gestikulierte ihm wild vor dem Gesicht herum und schrie: „Vergiß nicht, daß ich anderthalb Monate älter bin als du! Ich bitte mir mehr Respekt aus!“ „Respekt, puuuach!“ Gofredo kam jetzt auch so richtig in Fahrt. „Daß ich nicht lache. Von dir lasse ich mir gar nichts sagen.“
„Schreib dir das eine hinter die Ohren: die neapolitanische Küche ist die beste in ganz Italien.“ „Italien?“ rief Gofredo. „Seit wann gehört dieses verdreckte Neapel denn zu Italien?“ „Das weißt du ganz genau!“ „Neapel ist ein Königreich für sich, und das ist auch gut so“, sagte unser Koch mit hämischer Miene. „Die Toskana ist das Zentrum, das Herz von Italien, und wenn überhaupt ein Herzogtum oder eine Republik Anspruch darauf hat, eines Tages die Einigung herbeizuführen, so ...“ „ ... so werdet das bestimmt nicht ihr verbohrten, dickschädeligen Toskaner sein!“ fuhr Mister Montesano ihn an. „Das werden wir ja sehen!“ „Weißt du, was du mit deinem verdammten Barsch machen kannst?“ „Ich kann's mir vorstellen, aber ...“ „Du kannst ihn dir ...“ „Du kannst dir deinen elenden Stolz in den Mors schieben!“ brüllte Gofredo, daß es uns in den Ohren tönte. So ging das noch eine ganze Zeit lang weiter, und jeden Moment sah es so aus, als wollten die beiden Streithähne übereinander herfallen. Aber es sah eben nur so aus. So sehr sie sich auch zankten und so wüst ihr Geschimpfe auch ausfiel, es war noch nie vorgekommen, daß sie handgreiflich geworden waren. Im Grunde waren sie nämlich doch ein Herz und eine Seele. * Der Zufall wollte es, daß Mister Bunk, Gofredo und ich in dieser Nacht die Mittelwache gemeinsam versahen. Außer uns dreien waren noch Bob Costigan, Jonny und Sails eingeteilt, und auf dem Achterdeck stand jetzt Mister Terence Dexter, unser Erster Steuermann, am Ruderrad. Die Mittelwache, auch Hundewache genannt, war die zweite der drei Nachtwachen an Bod eines Segelschiffes, sie dauerte von Mitternacht bis vier Uhr morgens, also acht Glasen wie alle anderen Wachen. Der Wind drehte ein bißchen und wehte nun aus Nordnordwest, daher mußte die Segelstellung korrigiert werden. Nachdem wir die Segel neu getrimmt und die Schoten, Brassen, Fallen und Bulienen klariert hatten, fand Mister Bunk die Zeit, zu Gofredo zu treten und mit ihm zu sprechen.
„Ich habe das Logbuch der ,San Juan Nepomuceno’“, sagte er leise. „Würden Sie für uns übersetzen, was darinsteht, Gofredo?“ „Aber sicher doch. Nur .... ich weiß nicht, ob das zulässig ist.“ „Ich gestatte es“, sagte mein Freund. „Und solange wir dadurch die Decksarbeit nicht vernachlässig en, wird es niemand unangenehm auffallen, daß wir ein wenig in dem Buch blättern.“ Ich stand in ihrer Nähe und sagte: „Ach bitte, Mister Gofredo, tun Sie uns doch den Gefallen. Keiner kann das besser als Sie.“ Gofredo lächelte mir zu. Er fühlte sich ein bißchen geschmeichelt, aber es stimmte auch, was ich gesagt hatte. Er beherrschte alle romanischen Sprachen, also außer seiner Muttersprache Spanisch, Portugiesisch und Französisch, ja, sogar ein wenig Griechisch, und Master Flanagan setzte ihn bei Bedarf gern als Dolmetscher ein. Gofredo räusperte sich. „Zeigen Sie mir das Buch doch mal, Mister Bunk.“ Mein Freund zog es aus seinem Hemd hervor und händigte es ihm aus. Gofredo drehte und wendete es und betrachtete es von allen Seiten, als sei es eine Kostbarkeit von unschätzbarem Wert. Dann schlug er den Einband auf und las die technischen Daten und die Besatzungsliste der spanischen Galeone vor. Fließend übersetzte er alle Ausdrücke, die auch Mister Bunk nicht kannte, ins Englische. Ich will mir hier die weniger wichtigen Details ersparen. Erwähnt sei nur, daß die „San Juan Nepomuceno“ ein 400-Tonnen-Schiff war, deren Besatzung mit dem Kapitän achtundfünfzig Mann stark gewesen war. Ihr Heimathafen war Cadiz, ihr Bestimmungshafen Manila auf den Philippinen, und bis dorthin war sie – wie aus den nachfolgenden Aufzeichnungen hervorging – auch gelangt, um sieben Tage später wieder auszulaufen und Kurs zurück in die Heimat zu nehmen. Sie war ohne Geleitschutz gesegelt, weil man geglaubt hatte, für eine Schiffsladung Gewürze einen aufwendigen Konvoi von Kriegsschiffen durchaus entbehren zu können. In der Tat gingen ja alle seefahrenden Nationen mehr und mehr dazu über, ihre Kauffahrer lieber entsprechend zu armieren als ihnen Kriegssegler zum Schutz mit auf die Reise zu geben. Letzteres war nicht „lukrativ“, wie es in der Fachsprache der Kaufleute hieß, also nicht gewinnbringend, sondern nur kostensteigernd. Die „San Juan“ hatte — auch das erfuhren wir etwas später — auf der Hinreise die Sunda-Straße benutzt, um bis zu den Philippinen hinaufzugelangen. Die Rückfahrt hingegen hatte der Kapitän Don
Pedro de Goyena lieber durch die Malakkastraße unternommen, aus Gründen, die uns vorerst schleierhaft blieben. Vielleicht hatte er vor den Holländern und den Engländern Angst gehabt, die auf Java saßen, vielleicht war er aber auch vor Piraten gewarnt worden, als er in Manila eingetroffen war. Wie auch immer, er hatte eine fatale Fehlentscheidung getroffen, denn auf der Halbinsel Malakka und auf Sumatra schien es von Piratennestern wirklich zu wimmeln. Die Galeone war zwar hindurchgesegelt, aber am Ende hatte sie doch das furchtbarste aller Schicksale ereilt, das man sich vorstellen konnte. Gofredo hatte die ersten Seiten langsam umgeblättert. „Die Aufzählung der einzelnen Besatzungsmitglieder können Sie sich ersparen, Gofredo“, sagte Mister Bunk nun. „Die habe ich selbst schon durchgelesen.“ „Ist Ihnen dabei aufgefallen, daß die Liste einen Nachtrag hat, Sir?“ „Nämlich?“ fragte Mister Bunk verwundert. „Nun, es werden hier zwei Passagiere erwähnt, die in Manila an Bord gingen und an der Heimreise nach Cadiz teilnahmen: Doctor Francisco Rodriguez Martin und Juliana Rodriguez Martin.“ „Das habe ich glatt übersehen“, sagte Mister Bunk. „Mein Gott“, hauchte ich. „Eine Frau an Bord des Schiffes, das von den malaiischen Piraten in die Falle gelockt wurde. Das heißt, sie haben auch sie ...“ „Schweig“, unterbrach mich der Koch. „Ich mag gar nicht daran denken.“ „Diese beiden — war das ein Ehepaar?“ wollte mein Freund, Mister Bunk, wissen. „Wahrscheinlich, Sir, aber das geht aus der Liste nicht hervor“, entgegnete Gofredo. „Ich sehe jetzt mal die Eintragungen durch, dann wird es sich wohl herausstellen, wer sie sind ... oder waren.“ Er kam vorläufig aber nicht dazu, denn der Dienst auf Deck forderte uns wieder, und so gab Gofredo das Logbuch an Mister Bank zurück, und dieser steckte es sich wieder unters Hemd. Erst nach der Wache, also um vier Uhr morgens, als schon fast die Sonne aufging, fanden wir wieder die Zeit dazu, uns mit dem Buch zu befassen. Jetzt gesellte sich auch Jonny zu uns, und wir vier erklommen die Back und setzten uns auf der Back zusammen, wo wir ungestört waren. Wir beugten uns wie Verschwörer, die einen geheimnisvollen Plan studierten, über das aufgeschlagene Buch. Mister Bunk hatte eine
Öllampe mitgebracht, in deren dämmrigem Schein Gofredo die mit Tinte und Federkiel zu Papier gebrachten Schriftzüge des spanischen Kapitäns besser zu entziffern vermochte. Die Schilderung des Reiseverlaufs begann im Dezember 1629 in Cadiz, wo Don Pedro, der vorher ein anderes Schiff befehligt hatte, im Namen der „Casa de Contratación” die „San Juan Nepomuceno“ übernommen hatte. Mit dem Auslaufen des Dreimasters aus dem spanischen Hafen begann ein chronologischer Bericht, in dem kein Tag ausgelassen war und der mit größter Pedanterie und Gewissenhaftigkeit geführt worden war. Es handelte sich jedoch zum größten Teil um Angaben über das Wetter, die Position und die navigatorischen Berechnungen des Kapitäns, nüchterne Fakten, die uns kaum zu fesseln vermochten. „Nur weiter, Gofredo“, sagte Mister Bunk. „Sie brauchen nicht alles Wort für Wort zu übersetzen. Ich schlage sogar vor, Sie überspringen die unwichtigen Aufzeichnungen.“ „Ja, Sir.“ „Sonst brauchen wir nämlich noch einen ganzen Tag und vielleicht eine weitere Nacht dazu, um das Buch zu lesen“, meinte Kleine Hölle, der die Dicke des Bandes mit einem raschen Blick taxierte. Gofredo nickte und bemühte sich nun, einen kurzen Abriß der Überfahrt von Cadiz nach Manila zu liefern. Drei oder vier Stürme hatte die „San Juan“ abwettern müssen, genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie war mit knapper Not einem holländischen Schiffsverband entgangen, der sich ihr querab von Madagaskar drohend genähert hatte, aber sonst hatte sich nicht viel von Belang ereignet. Wenn man objektiv urteilen will, so muß man sagen, daß es eine verhältnismäßig ruhige Reise um den afrikanischen Kontinent herum und quer durch den Indischen Ozean bis zu den Philippinen hinauf gewesen war. So sprach denn auch aus den Eintragungen, die de Goyena am Tag seines Eintreffens in Manila gemacht hatte, eine gewisse Ausgelassenheit, ja, fast so etwas wie Euphorie, denn er hatte sich bestimmt vor Augen gehalten, daß er ausgesprochenes Glück gehabt hatte. Endlich einmal hatte er sich zu ein paar Sätzen hinreißen lassen, die mehr ausdrückten als die Daten der vergangenen Tage, Wochen und Monate. Es waren Worte, die mich in gewisser Weise bewegten und faszinierten. *
Manila am 15. Mai im Jahre des Herrn 1630. Endlich haben wir es geschafft, und ich muß gestehen, die Überfahrt ist weitaus besser verlaufen, als ich es mir ursprünglich. vorgestellt hatte. Es ist dies nicht meine erste Reise dieser Art, und darum hatte ich von Anfang an größere Verluste einkalkuliert, die sich jedoch erfreulicherweise in Maßen gehalten haben. Nur sieben Männer der Besatzung haben die Beschwernisse und Strapazen unserer nahezu sechs Monate währenden Fahrt nicht lebend überstanden: die Decksleute Larra, Obligado, Sastre, Ortega -und Faustino sowie Marco, mein Aufklarer und Moses, und Azorin, der Kombüsengehilfe. Sie erlagen der Entkräftung und dem Skorbut, bis auf Obligado, der im zweiten Sturm über Bord gerissen wurde und trotz aller unserer Bemühungen nicht wieder gefunden ward. Zwei Kühe haben wir unterwegs notschlachten müssen, wie an anderer Stelle schon vermerkt, denn sie brachen sich im schweren Wetter die Vorderbeine. Ein Schwein kam uns abhanden. Außerdem haben wir noch ein paar leichtere Schäden am Schiff zu beheben, wozu wir jetzt, hier im Hafen von Manila, innerhalb der nächsten Woche genügend Zeit zur Verfügung haben. Wir werden unsere Ladung in aller Ruhe löschen können, und was ich statt der Waffen, der Munition und der Werkzeuge als Rückladung übernehmen soll, werde ich von der Hafenkommandantur noch rechtzeitig erfahren, wie mir der Hafenkapitän, der uns empfangen hat, versichert hat. Gold und Silber werden es wohl nicht sein. Manila nun, die Perle der Philippinen! Ich bin zum drittenmal hier, und das Bild dieser bezaubernden Stadt und seiner Menschen begeistert mich wie nie zuvor. Ein azurblauer Himmel dehnt sich über den Häusern, den Hafenanlagen und den Hügeln des Hinterlandes. Die Luft duftet, und ich kann die Beschwingtheit spüren, die von der Stadt, ihren Bewohnern und der ganzen Umgebung, ausgeht. Selbstverständlich werde ich allen meinen Männern umschichtig Landurlaub gewähren, und sie sollen sich nach der langen Überfahrt ruhig ein wenig austoben – ohne dabei über die Stränge zu schlagen, versteht sich. Ich glaube, wir werden diese sechs, sieben Tage in Manila nach Herzenslust genießen. * Wir sahen uns untereinander an, als Gofredo nach dem Übersetzen dieser Eintragung eine kurze Pause einlegte. Wieder spürten wir die
Erschütterung darüber, daß Don Pedro de Goyena und seine Leute ein so grausames Ende gefunden hatten. Hätte es uns nicht genauso ergehen können? Jonny brach als erster das Schweigen. „Ein guter Kapitän, dieser de Goyena“, sagte er. „Ich kann mir vorstellen, daß er bei seiner Mannschaft beliebt war. Mein Gott, wenn er geahnt hätte, was ihm noch bevorstand!“ „Manche Menschen würden etwas darum geben, wenn sie in die Zukunft blicken könnten“, meinte Mister Bunk. „Aber ich glaube, daß es sie nicht glücklich machen würde, im Gegenteil. Es ist gut, nie zu wissen, was vor uns liegt, denn wir alle würden verzweifeln, wenn wir unser Ende vorhersehen könnten. Eines Tages schlägt uns allen die entscheidende Stunde, doch was uns aufrechthält, ist die Hoffnung, daß wir doch noch viele Jahre leben könnten.“ „Wenn wir Glück haben“, murmelte Gofredo. „Soll ich jetzt weiterlesen?“ Mister Bunk nickte ihm aufmunternd zu. „Nur zu. Ich hoffe, noch etwas Genaueres über die beiden Passagiere zu erfahren.“ Unser Koch fuhr mit dem Zeigefinger über die Eintragungen, blätterte die Seiten um und gab zusammenfassend wieder, was sich während des „Urlaubs bis zum Wecken“ in der ersten Nacht im Hafen von Manila ereignet hatte. Ein Decksmann war zu spät zurückgekehrt, aber Kapitän de Goyena hatte es bei einer scharfen Verwarnung bewenden lassen. Fünf Hiebe mit der neunschwänzigen Katze hatte sich hingegen ein anderer Mann eingefangen, der im Zustand der Volltrunkenheit in einer der Hafenkaschemmen einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Ein dritter war spurlos verschwunden. Am 16. Mai hatte sich nichts von Bedeutung ereignet, auch am Tag darauf nicht. Am 18. Mai hatte eine berittene Patrouille der Stadtgarde im Binnenland den verschwundenen Seemann wieder gefunden. Unbekannte, von denen jede Spur fehlte, hatten ihn niedergestochen und ihm alles geraubt, was er auf dem Leibe gehabt hatte. Diese Begebenheit hatte Don Pedros Frohsinn einen erheblichen Dämpfer aufgesetzt — auch das war aus dem Logbuch herauszulesen. Am 19. und am 20. Mai hatte der Kapitän alle Formalitäten zur Übernahme der neuen Ladung für Cadiz geregelt, und am 21. Mai, einem Montag, hatte er die Fässer und Kisten mit den Gewürzen übernommen.
Hier die Niederschrift, die wir wieder mit gespannten Mienen aus Gofredos Mund vernahmen: * Manila am 21. Mai im Jahre des Heils 1630. Eben haben wir sämtliche Kolli an Bord genommen und ordnungsgemäß in unseren beiden Frachträumen gestaut. Ich habe die Dokumente geprüft, für einwandfrei befunden und vorschriftsmäßig gebündelt — und dann hat es eine Überraschung gegeben. Der Hafenkommandant persönlich hat uns einen Besuch abgestattet, und aus der Pinasse, mit der er sich hat übersetzen lassen, sind außer einem Sargento und zwei Soldaten noch zwei andere Personen mit an Bord der ‚San Juan Nepomuceno` aufgeentert. Ich muß sagen, ich bin offen erstaunt und alles andere als begeistert, denn diese zwei, die mir von dem Hafenkommandanten Don Nunez de Arce als Doctor Francisco Rodriguez Martin und dessen Tochter Juliane Rod.riguez Martin vorgestellt werden, sollen uns sage und schreibe auf unserer Rückreise nach Cadiz begleiten! Hätte sie mir Don Nunez höchstpersönlich nicht als seine Freunde empfohlen und es als seinen innigen Wunsch ausgedrückt, daß ich ihnen die Überfahrt gestatte, so hätte ich dies gewiß abgelehnt. Aus einem einfachen Grund: Es ist nicht statthaft, daß auch nur eine einzige Frau auf einem Schiff dieser Ordnung mitfährt. Zudem ist die Tochter des Doktors eine außergewöhnlich hübsche, gut gewachsene Person, und das macht alles nur noch schlimmer. Noch nehmen meine Leute nicht allzu viel Notiz von ihr, doch wie wird es auf der langen Seereise werden? Dann wird sich wieder ihr unbändiger Hunger nach einem weiblichen Wesen einstellen, und sie werden das Mädchen mit ihren Blicken verschlingen. Ich weiß genau, daß es zu Spannungen kommen wird, ja: Eine Meuterei wird zu befürchten sein. Aber ich muß einwilligen. Doctor Francisco Rodriguez Martin ist ein angesehener Arzt, wie Don Nunez de Arce mir mitteilt. Das Schicksal hat diesen Mann hart gegeißelt, denn vor nicht mehr als zwei Wochen hat er seine Frau verloren. Sie ist am Gelbfieber gestorben, das sie so schwer gepackt hatte, daß selbst die hohe ärztliche Kunst ihres Ehemannes nichts mehr hatte ausrichten können.
Nun hält den Doktor und seine Tochter nichts mehr in Manila. Aus Grant verlassen sie die Stadt und die Inseln mit dem ersten Schiff, das sie in ihre Heimat zurückbringen kann. Dieses Schiff ist die ,San Juan Nepomuceno`. Von der menschlichen Warte her kann ich den großen Kummer und die daraus herrührende Entscheidung des Doctors Rodriguez Martin wohl verstehen. Und mir tut auch seine Tochter von Herzen leid, die unter dem jähen Verlust ihrer Mutter noch immer schrecklich zu leiden scheint. Doch man versetze sich in meine Lage: Ich muß nun ein zartes und zerbrechliches, obendrein bildhübsches Geschöpf mit ihrem Vater zusammen wohlbehalten quer über die Ozeane nach Cadiz geleiten und muß bei meiner Ehre versichern, daß ihnen nichts zustößt. Wie aber soll ich dies Don Nunez garantieren? Ich muß mich entscheiden. Von Bord weisen kann ich die beiden nicht. ich würde mir nicht nur Don Nunez' Zorn zuziehen, ich hätte auch mit ernsten Konsequenzen für meine Karriere und mein Amt als Kapitän zu rechnen, denn Don Nunez ist nicht nur in Manila und auf den Philippinen, sondern auch daheim in Spanien ein einflußreicher Mann, dessen Wort selbst bei Hof Gewicht. hat. Ich fasse nun meinen Beschluß. Ich werde bei allem, was mir heilig ist, schwören, daß dem Doktor und seiner Tochter nur über meine Leiche etwas Schlimmes geschehen kann. Dies ist der höchste Eid, den ein Mann meines Ranges leisten kann – und ich werde dafür einstehen. Morgen, am Dienstag, dem 22. Mai 1630, gehen wir ankerauf und laufen aus dem Hafen von Manila aus, vorausgesetzt, es tritt. keine Verschlechterung des Wetters ein. * Wieder blickten wir uns an. „Ich schätze, jeder von uns kann sich in die Lage des Kapitäns de Goyena versetzen“, sagte Mister Bunk. „Und was seinen Schwur betrifft, so hat er ihn eingehalten, scheint mir, aber retten konnte er seine Passagiere dadurch auch nicht mehr.“ „Ein schönes Mädchen“, flüsterte Kleine Hölle. „Blutjung wahrscheinlich und nach allem, was de Goyena über sie sagt, ein bezauberndes Wesen. Herrgott, wenn ich mir vorstelle, was die Piraten mit ihr ...“ „Jonny, bitte“, unterbrach ich ihn. „Das ist zu furchtbar! Bitte, sprich nicht weiter.“
Er hob die Hand in einer beruhigenden Geste. „Schon gut, Howard. Ich selbst mag es mir nicht ausmalen. Ich will nur das eine sagen: ich hoffe, daß sie rasch und ohne viele Schmerzen ihren Tod gefunden hat.“ Gofredo sah zuerst mich, dann Kleine Hölle an. „Moment mal. Und wenn sie nun doch nicht tot ist? Wenn die Malaien sie verschleppt haben?“ „Das wäre noch schlimmer für sie“, sagte Mister Bunk leise. Unser Koch schüttelte sich ein wenig, so, als wäre es ihm plötzlich kalt geworden. Aber ich wußte, daß es das Grauen war, das ihn erschauern ließ. Rasch beugte er sich wieder über das Logbuch, blätterte die nächste Seite um und fuhr fort, die letzten Niederschriften des spanischen Kapitäns in unsere Sprache zu übertragen. Ich will an dieser Stelle raffen, was sich weiter zutrug: In den folgenden Tagen lief die „San Juan Nepomuceno“ bei günstigen Winden südwestlichen Kurs, erreichte am 28. Mai die Malaien-See und wandte sich dann auf Don Pedros Entscheidung hin der Malakkastraße zu. Das Wetter verschlechterte sich, und der Kapitän der Galeone befürchtete, zwischen Kalimantan und Java in einen schweren Sturm zu geraten, den er nicht abreiten konnte. Da er den Kurs durch die Straße von Malakka für weniger riskant hielt, weil sie geschützter lag, hatte er also beschlossen, in die Andamanen-See hinüberzusegeln und von dort aus in den Indischen Ozean vorzustoßen. Am 29. und 30. Mai mußte die Galeone gegen widrige Winde kreuzen und mit schwerem Seegang kämpfen, doch am 31. Mai war sie an Bengkalis vorbei und der Wind holte nach Osten herum und blies nun also günstiger für sie. Am 1. Juni mußte sie in etwa die Position erreicht haben, an der wir uns jetzt befanden, und Don Pedro äußerte sich in seinen Aufzeichnungen recht zuversichtlich darüber, daß man das Schlimmste vorläufig wohl bewältigt hatte. In jener Nacht jedoch gab es wieder einen Wetterumschwung. Schwere Brecher rollten gegen die „San Juan“ an und machten ihr zu schaffen. Die ganze Nacht über bäumte das Schiff sich gegen den Sturm auf, aber am Morgen ließ das Wetter immer noch nicht nach, so daß de Goyena sich entschloß, eine Bucht an der Küste von Sumatra anzulaufen, die der Ausguck entdeckt hatte, dort hinein zu verholen und das Abklingen des Sturmes abzuwarten. Ich fühlte ein unangenehmes Prickeln auf meinem Rücken. Am 2. Juni also hatten sie die Bucht des Grauens aufgesucht – vor vier Tagen!
Und nun folgten die dramatischen Sequenzen, die allerletzten Sätze aus dem Logbuch, mit denen Don Pedro das Unabwendbare in unerschütterlicher Pflichterfüllung festgehalten hatte. Mit verhaltenem Atem lauschte ich Gofredo, der jetzt leiser, fast stockend sprach, und auch Mister Bunk und Kleine Hölle hockten wie gebannt da. Dies ist das Zeugnis des gräßlichen Schicksals, dem die „San Juan Nepomuceno“ nicht mehr zu entweichen vermochte, weil sie in der Bucht wie in einer Falle festlag: * 2. Juni 1630. Der Herrgott stehe uns allen bei. Wir haben. soeben in der Bucht ankern wollen, die uns wie eine rettende Oase in der Wüste der Verdammnis erschien, doch wieder scheint es einen. Zwischenfall zu geben. Ich höre en Ausguck schreien, und jetzt trappeln Schritte über Deck. Aufgeregte Rufe werden laut. Ich muß die Feder niederlegen, mit der ich bei diesem Seegang, der auch hier in der Bucht herrscht, nur schwerlich zu schreiben vermag .. . Schritte vor meiner Kammertür. Jemand klopft an, ruft. Ich lasse ihn ein. Es ist Pereira, mein Primero, der Erste Offizier. Er meldet mir, daß sich kleine ein- und zweimastige Schiffe aus derer Mangrovendickicht gelöst haben und auf uns zuhalten. Vermutlich haben sie in den Sümpfen auf Lauer gelegen. Piraten – daran besteht kein Zweifel. Einige Schiffe haben drehbare Geschütze am. Bug und am Heck montiert, wohl Beutewaffen. Bei den Fahrzeugen handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Prahos, die wendigen Boote der malaiischen Freibeuter. Ich breche hier ab. Wir müssen Klarschiff zum Gefecht rüsten aber ich weiß nicht, ob wir es noch schaffen. Die Gegner sind schnell, unheimlich schnell. Da – ein Schuß donnert. Die Kugel heult heran. Ich ... Hier brach der Text, der zuletzt ungelenk und hastig zu Papier gebracht worden war, plötzlich ab. Gofredo schlug die nächste Seite um, strich sie so behutsam glatt, als könne sie unter seinen Fingern zerbrechen, und fuhr nun in den bruchstückhaften Notizen fort: ... alles ist jetzt aus, alles verloren. Sie haben es geschafft zu entern. Mindestens zwölf Prahos und eine Hundertschaft von wüsten,
gräßlichen Kerlen, die über uns hergefallen sind wie die leibhaftigen Teufel. ... an Deck alles zerstört. Meine Leute tot. Wir haben gekämpft und verloren, wir alle. Nur ich ... bin zurück in meine Kammer. Munition, ich brauche Munition! Ich lade meine Waffen nach. Der Medico, Doctor Francisco, hat sich in seiner Kammer verstecken können. Juliana, sie ist hier. Ich gebe ihr ein Zeichen. Sie zieht sich in den Kojenraum zurück. Schließt die Tür. Zittert vor Angst. Sie darf sich nicht rühren. Sie dürfen sie nicht finden. Ich halte meinen Schwur. Er ist mir heilig. Die Pistole ist nachgeladen, jetzt die Muskete! Aber sie kommen, die Schritte dröhnen im Gang. Sie sind da. Hauen mit ihren Fäusten gegen die Tür. Ihre Schreie, fürchterlich! Sie sind wie die Tiere. Schwere Schläge gegen die Tür. Sie wollen sie einrammen, nieder rennen. Ich schieße. Ein Todesschrei vor der Tür. Und jetzt keine Schläge mehr. Sie scheinen zurückzuweichen. Ich kann aufstehen und eine zweite Pistole aus dem Schrank holen. Ich habe die Pistole. Wieder drücke ich ab. Die Tür erbebt unter schwersten Hieben. Diesmal scheine ich nicht getroffen zu haben. Die Tür, sie gibt nach! Gleich fliegt sie auf, gleich kommen sie hereingestürmt, um mich niederzumachen! Ich schließe. Der Herr stehe mir bei und rette das arme Mädchen! Nur über meine Leiche bekommen sie sie. Nur über meine Leiche. Gott Vater, Jesus Christus und Heiliger Geist, Heilige Mutter Gottes, steht mir bei und helft mir. Mein Logbuch. Ich verberge es in der Schublade des Pultes, ehe ich mich erhebe und die Muskete anlege, auf den ersten, auf ihren Anführer, den grausamsten von allen.. Mit diesen Worten endeten die Logbuchaufzeichnungen des Kapitäns Don Pedro de Goyena. Und wieder schwiegen wir. Keiner von uns mochte ein Wort sagen, denn wir waren in unseren Gedanken bei der Endphase des verzweifelten Kampfes und malten uns aus, wie das Eindringen der malaiischen Piraten in die Kapitänskammer der „San Juan“ sich wohl abgespielt haben mochte.
Mister Bunk war es beim erstenmal, als er in den Logbuchaufzeichnungen geblättert hatte, wegen seiner mangelnden spanischen Sprachkenntnisse entgangen, daß auch das Mädchen Juliana bei Don Pedro in der Kammer gewesen war. Er hatte nicht herausgelesen, daß sowohl das Mädchen als auch ihr Vater zu dem Zeitpunkt der letzten Eintragungen beide noch am Leben gewesen waren. Es gab kein Zeugnis mehr über die letzte schreckliche Mordtat der Seeräuber, doch so mochte es vor sich gegangen sein: Die Malaien hatten die Tür aufgebrochen. Don Pedro hatte noch einen von ihnen niederschießen können, dann hatte er seinen Degen gezückt und sich auf ein aussichtsloses Handgemenge eingelassen, an dessen Ende er schwerverletzt zusammengebrochen war. Sie hatten ihm einen Stein ans Bein gebunden und ihn über die Reling der Heckgalerie in die Bucht geworfen, danach hatten sie Juliana Rodriguez Martin gesucht und gefunden, auch ihren Vater in dessen Kammer entdeckt und beide aus dem Achterkastell aufs Hauptdeck gezerrt, um sie dort zu töten und ebenfalls ins Wasser zu befördern. Die „San Juan Nepomuceno“ mußte zu diesem Zeitpunkt bereits aufs Ufer gelaufen sein – nicht später, wie Master Flanagan vermutet hatte –, denn sonst hätten wir die Leiche des Kapitäns auf dem Grund des flachen Wassers nicht an jener Stelle unter der Heckgalerie, sondern woanders gefunden, oder wir wären überhaupt nicht darauf gestoßen. Daß es sich um die sterblichen Überreste des armen de Goyena gehandelt hatte, daran bestand kein Zweifel, denn seine Stiefel, die er noch an den Füßen getragen hatte, waren laut Mister Bunk eindeutig das Schuhwerk eines spanischen Schiffsführers. Die Piraten hatten noch die Leichen ihrer Spießgesellen aufgehoben und von Bord der Galeone geschafft, dann hatten sie das Feuer gelegt. In ihren Prahos hatten sie die Bucht verlassen und hatten sich ausgerechnet, daß die Flammen den Dreimaster wohl ganz vernichten würden. Den Rest hätte die Flut besorgt, die den Bauch des lodernden Rumpfes mit Wasser gefüllt und zum Sinken gebracht hätte. So hatten sie gedacht, aber sie hatten sich eben gründlich verkalkuliert. Ich weiß nicht, ob ich die geradezu verbissene Pedanterie, mit der Don Pedro die letzten Einzelheiten des Gefechts für die Nachwelt festgehalten hatte, bewundern oder kritisieren soll. Welchen Nutzen hatte es denn gehabt, daß er diesen wirklichkeitsgetreuen Bericht noch kurz vor seinem Tod fast völlig zu Ende geschrieben hatte? Sicher, wir wußten jetzt mit Sicherheit, daß es malaiische Piraten gewesen waren,
die das Schiff aus dem Hinterhalt überfallen hatten, wir wußten, daß es zwölf Prahos gewesen waren, mit gut hundert wüsten Kerlen an Bord – aber konnten wir damit vielleicht etwas Konkretes anfangen? Die Freibeuter waren seit vier Tagen auf und davon, sie waren spurlos verschwunden, und selbst, wenn wir ihnen eine gehörige Lektion hätten erteilen wollen, so hätten wir uns nach ihnen tot suchen können, wir hätten sie doch nicht aufgestöbert. Ich will ganz ehrlich sein. Ich hätte es für richtiger gehalten, wenn Don Pedro dem Goyena seine sämtlichen Waffen mit Juliana Rodriguez Martins Unterstützung geladen und dann nacheinander abgefeuert hätte. Gesiegt hätte er auch so nicht, denn es waren immer noch viel zu viele, die auf sie eindrangen. Aber wenigstens hätte er noch ein paar mehr von diesen mordlustigen Teufeln mit auf die Reise ins Jenseits genommen. Mister Bunk hatte dieselbe Überlegung angestellt, er sagte: „Don Pedros arme Seele ruhe in Frieden, aber ich kann mit meiner Meinung doch nicht hinterm Berg halten. Hätte er auch den Vater des Mädchens mit in die Kammer geholt und hätten sie alle drei mit vereinten Kräften gegen die Piraten geschossen und gefochten, so hätten die Malaien zumindest weniger leichtes Spiel mit ihnen gehabt.“ „Ich glaube, dieser Kapitän Goyena war kein allzu erfahrener Kämpfer, Sir“, sagte Kleine Hölle zu Mister Bunk gewandt. „Mit seiner Besatzung und mit der Armierung, die die ,San Juan' laut dem Logbuch hatte, hätte er diese malaiischen Schnapphähne und Beutegeier doch kurz und klein schießen müssen.“ Gofredo schloß das Logbuch und nickte eifrig zu Jonnys Bemerkung. „Aber sicher doch. Ich schätze, wir zum Beispiel wären mit diesen Halunken wohl fertig geworden.“ „Vorsicht“, warnte Mister Bunk. „Jetzt halten Sie aber mal die Luft an, Gofredo. Wir sollten uns nicht selbst überschätzen, denn das könnte sehr verhängnisvoll für uns enden.“ Ich sagte: „Übermut tut selten gut, oder?“ „Na, ja“, meinte unser italienischer Koch und kratzte sich etwas verlegen in seinem blonden Bartgeflecht. „Ganz so dick wollte ich auch nicht auftragen. Mit Malaien hab' ich noch nicht zu tun gehabt. Nach allem, was wir hier erfahren haben, scheinen sie besonders wild und tückisch zu sein.“ „Eben“, sagte Mister Bunk. „Und ich fühle mich verpflichtet, dies alles dem Master zu melden.“
„Da ist noch was“, brummte Jonny. „Es geht uns eigentlich nichts an, und man sollte sich mit dem Gedanken daran wohl auch nicht 'rumquälen. Aber dieser spanische Arzt und seine Tochter – wir haben ihre Leichen nicht gefunden. Wir wissen nicht, ob sie nun wirklich tot sind, oder ob die Malaien sie verschleppt haben.“ „Um sie als Sklaven zu verkaufen?“ fragte ich. „Ja, vielleicht.“ „Machen wir uns nichts vor“, sagte Gofredo. „Sie liegen da unten auf dem Grund der Bucht und sind so tot wie all die anderen, so leid es mir auch tut.“ Mister Bunk richtete sich auf. Die ersten grauen Streifen des Morgenlichts ließen seine Züge deutlicher erscheinen. Er löschte die Öllampe, nahm das Logbuch aus Gofredos Hand entgegen und steckte es sich wieder zu. „Nach dem Wecken spreche ich mit Master Flanagan“, sagte er. „Ich werde ihn fragen, wie seine Meinung zu der ganzen Angelegenheit lautet.“ * Dort, wo die Halbinsel Malakka liegen mußte, stieg die Sonne glutrot auf, so rasch, wie sie nur in den tropischen Gegenden aufzugehen vermochte. Von einem Augenblick zum anderen war sie wieder da mit ihren sengenden Strahlen und der Hitze, die schon jetzt, in den frühen Morgenstunden, wie ein großes, klebriges Ungetüm an Bord unseres Schiffes kroch. Wir entledigten uns nun wieder unserer Hemden, aber das nützte uns auch nicht viel. In Bächen rann uns der Schweiß über die Leiber. Aber wir konnten trotzdem noch von Glück sprechen, denn der Wind blies weiterhin handig bis frisch aus Nordnordwest und schlief den ganzen Tag über nicht ein. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, war, in eine Kalmenzone zu geraten wie seinerzeit nördlich der Amiranten, denn das hätte bedeutet, daß wir in der unglaublichen Hitze wirklich geröstet worden wären und daß wir mit den Beibooten unsere „King Charles“ ins Schlepp hätten nehmen müssen, was für die Rudergasten eine außerordentlich harte, schweißtreibende Arbeit gewesen wäre. Auch sonst schien uns der Herrgott wohlgesonnen zu sein, denn wir trafen weder mit feindlichen Schiffsverbänden noch mit den Piratenmeuten zusammen, die in diesen Regionen jede Stunde überraschend auftauchen konnten.
Ich hatte nach acht Glasen Freiwache nun wieder Dienst und versah mit Jonny, China-Harry, Pulaski, Ellerton, Lockjaw, Daniel Hawkins, Hamdullah und einigen anderen die Vormittagswache. Mister Bunk war im Achterdeck verschwunden, das hatte ich sehr wohl beobachtet, und ich wartete gespannt das Ergebnis seiner Unterredung mit Master Flanagan ab. Um kurz nach neun Uhr trat Mister Bunk wieder aufs Hauptdeck und kam zu uns herüber. Aber ich las schon seiner Miene ab, daß sein Bericht über die Eintragungen im Logbuch Don Pedro de Goyenas bei unserem Kapitän keinen großen Eindruck hinterlassen haben konnten. Mein Freund trat zu Jonny, China-Harry, Pulaski und mir und sagte: „Der Master hat mich zwar empfangen und hat mir auch zugehört, aber er hat meine Vermutung, daß Doktor Francisco Rodriquez Martin und dessen Tochter noch am Leben sein könnten, gleich zurückgewiesen. Das sei ausgeschlossen, meint er. Aber selbst wenn sie noch am Leben wären, könnte er keine Zeit damit vergeuden, nach ihnen zu suchen. Wir haben genug Zeit verloren. Die Company kann es sich nicht leisten, sich derart für wildfremde Menschen einzusetzen, die nicht einmal Landsleute von uns sind.“ „Eben“, brummte China-Harry. „Das hab' ich mir gedacht.“ „Lassen wir's also, uns über das Schicksal der beiden Spanier den Kopf zu zerbrechen“, sagte Jonny. „Es kommt ja doch nichts dabei 'raus, beim Donner.“ Ich war richtig erschüttert über diesen barschen Bescheid des Masters. Mister Bunk muß mir das wohl angesehen haben, denn er nahm mich beiseite und sprach verhalten auf mich ein. „Howard, mein Junge, ich weiß, daß dir diese Worte unseres Kapitäns mal wieder grenzenlos hart vorkommen. Aber du wirst es auch noch einsehen, daß er aus seiner Sicht durchaus recht hat und stets die richtige Entscheidung trifft.“ „Sicher, Mister Bunk. Und man darf die Dinge ja auch nicht zu persönlich nehmen, nicht wahr?“ „Richtig.“ „Sonst werde ich nie ein richtig hartgesottener Seemann, oder?“ Mister Bunk lächelte jetzt. „Du hast uns schon mehrfach bewiesen, daß du auf dem besten Weg dazu bist und daß es dir auch an dem nötigen Rüstzeug nicht fehlt. So, und nun an die Arbeit, Mister Bonty!“ Ich kehrte auf meinen Posten zurück. An jenem Morgen hatte ich auf der Back zu tun; es galt, ein paar alte Taue aufzudrehen und daraus Schiemannsgarn zu verfertigen, mit dem man später wiederum Taue betakeln konnte. Ich zog also die einzelnen Garne heraus, knüpfte sie
zusammen und rollte sie über die Hand zu Knäueln zusammen. Hamdullah, der jetzt zunächst den Kombüsendienst versah und mit dem Putzen von Gemüse beschäftigt war, sollte mir später dabei helfen, das Garn aufzuschießen und zu teeren, danach würden wir die Enden zusammenbinden und sämtliche Knäuel auf eine Woid drehen. Ich war froh darüber, diese Arbeit zugeteilt bekommen zu haben, denn sie gehörte mit zu meinen Spezialitäten. Zu Hause in Bristol hatte ich diese Fertigkeiten und alles andere, was mit zum Job eines Seilers gehört, von klein auf erlernen müssen. Ich arbeitete und dachte nach. Ja, natürlich, sagte ich mir im stillen, der Master hat ja recht. Was würde denn wohl aus uns und aus dem Schiff werden, wenn wir nach allen mutmaßlichen Verschleppten und Schiffbrüchigen suchen würden, die nicht zu unserer Crew gehören? Die „King Charles“ wäre wohl mit drei, vier Monaten oder noch mehr Verspätung an ihrem Ziel eingetroffen – oder sie wäre dort niemals angekommen. Ein Kapitän war kein Heiliger oder barmherziger Samariter, der sich um alle Begebenheiten kümmern konnte, die ihn nur indirekt während seiner Reise berührten. Die Company hätte ihm ein solch allzu menschliches Verhalten schlecht gelohnt, oder, anders ausgedrückt, sie hätte ihn wohl achtkantig gefeuert. Master Flanagan war kein Freund von unterlassener Hilfeleistung, aber er konnte nicht mehr tun, als in seinen Kräften stand. Er hatte schon genug unternommen, indem er in die Bucht des Grauens eingelaufen war und die „San Juan Nepomuceno“ untersucht hatte. Was jetzt noch zählte, war nur die Tatsache, daß wir eine Menge Gewürze an Bord gemannt hatten, die einen echten Gewinn für die Ostindien-Company darstellten. So lautete die nüchterne Wirklichkeit. Und da war noch etwas: Was hätten denn wohl Spanier, Portugiesen, Holländer, Franzosen oder auch unsere eigenen Landsleute groß für uns getan, wenn wir mit der „King Charles“ im Dschungel verschollen gewesen, oder von Piraten verschleppt worden wären? Keiner hätte groß die Finger für uns gerührt, das war auch eine Tatsache, mit der ich mich abfinden mußte. Man hörte eben nie auf, neue Erfahrungen zu machen, und so lernte auch ich jeden Tag an Bord der „King Charles“ hinzu. Es war wohl das Ratsamste, das Logbuch und das Rätsel, das es in bezug auf den Doktor Rodriguez Martin und seine Tochter Juliana aufgab, schleunigst zu vergessen. Jonny, China-Harry und die anderen Freunde hatten schon recht, wenn sie sagten, daß es keinen Zweck
hatte, noch weiter darüber herumzugrübeln, was aus den zwei armen Teufeln wohl geworden sein mochte. Ich war derart tief in meine verschiedenen Überlegungen verstrickt, daß ich das Auftauchen von Hawkins, Ellerton und Lockjaw erst bemerkte, als sie bereits vor mir standen und mich spöttisch und voller Verachtung musterten. Sie waren von der Kuhl heraufgekommen, obwohl sie dort unten genug zu tun hatten. Sie hatten es mal wieder auf mich abgesehen, das war mir von vornherein klar. Aber ich gab mich so gelassen wie möglich, als ich sie erblickte, und fuhr mit ruhigen Bewegungen in meiner Arbeit fort. Hawkins stocherte mal wieder mit einem Hölzchen in seinen angefaulten Zahnstummeln herum, eine Angewohnheit, die ich ganz besonders gut an ihm leiden konnte. „Sieh mal an“, sagte er in seiner unangenehmen, höhnischen Art. „Da sitzt er nun großspurig 'rum und sagt uns nicht mal anständig guten Morgen, unser Schlauberger und Musterknabe.“ „Er hat mal 'ne kräftige Abreibung nötig, damit er nicht zu hoch auftrumpft“, fügte Bruce Ellerton sofort hinzu. „Backbrassen und die Ohren anlegen, Bengel, sonst erlebst du noch dein blaues Wunder auf diesem Kübel.“ Lockjaw grinste mich an. „Seitdem der Master ihn zum Decksmann ernannt hat, ist es besonders schlimm mit ihm geworden“, meinte er. „Dabei vergißt der Bastard, daß er hier nur der Rustabout ist, die kleinste Nummer nach dem Moses, das Mädchen für alles. Hey, Bonty, wie ist es nun, willst du nich' was Nettes zu uns sagen?“ Ich sah sie der Reihe nach an und dachte nicht daran, ihren Blicken auszuweichen. „Einen schönen heißen Tag wünsche ich euch“, antwortete ich. Ich grinste sogar zurück, denn genauso, wie ich es satt hatte, dauernd von Hawkins gereizt zu werden, so war ich es auch leid, von den anderen beiden Himmelhunden getriezt zu werden. „Hört euch das an“, zischte Lockjaw. „Und seht mal, wie frech der Bursche grinst. Ho, Bonty, soll ich dir gleich eins über die Rippen ziehen?“ „Drei gegen einen“, sagte ich kalt. „Da fühlst du dich besonders stark, was, Lockjaw?“ Lockjaw wollte auf mich zurücken, aber Ellerton hielt ihn am Arm zurück. „Nicht“, sagte er. „Laß es lieber. Der Profos guckt schon schief zu uns rauf, wir müssen wieder runter auf die Kuhl.“
„Wenn schon“, meinte Hawkins. „Erst müssen wir wissen, was es mit dem verdammten Logbuch auf sich hat. Bonty, sagst du es freiwillig oder sollen wir dich dazu zwingen?“ „Zwingen?“ Ich lachte auf. „Ich dachte, ihr wißt, was der Kapitän der spanischen Galeone alles aufgeschrieben hat. Lockjaw war doch dabei, als Mister Bunk das Buch fand.“ „Yeah“, sagte der Einarmige gedehnt. „Aber viel hat Bunk, dein lieber Freund, ja nicht herauslesen können. Die richtige Übersetzung hat erst Gofredo, dieser eingebildete Makkaronischwenker, besorgt. Glaubst du denn, wir hätten das nicht mitgekriegt, wie ihr euch letzte Nacht zusammengehockt habt? Was soll denn die ganze Geheimniskrämerei? Wir haben das gleiche Recht wie alle anderen, von dem zu erfahren, was der Don da 'reingeschmiert hat, kapiert, Bonty?“ „Aber die Schufte wissen schon, warum sie nicht damit rausrücken“, zischelte Hawkins. „Sie haben die ganz große Sache aufgedeckt, würde ich sagen, und jetzt sehen sie zu, daß sie zuallererst ihr Schäfchen ins trockene bringen.“ Ich sah ihn überrascht an. „Tu nicht so scheinheilig“, fuhr er mich an. „Wir haben genug Grips, daß wir uns ausmalen können, was für ein Geheimnis ihr da aufgedeckt habt.“ Jetzt dämmerte es mir. Ich mußte wieder lachen. Wirklich, ich fand die Sache plötzlich lustig. „Ihr scheint mir alle drei zusammen nicht genügend Grips im Kopf zu haben“, sagte ich, und das kam mir jetzt doch ein wenig zu forsch vor, so daß ich lieber gleich anknüpfte: „Aber ich will euch alles erzählen, und hinterher könnt ihr zu Mister Bunk, zu Jonny, China-Harry, Gofredo oder dem Master höchstpersönlich gehen und es euch bestätigen lassen.“ Ich berichtete ihnen das Wesentliche aus den Aufzeichnungen des Don Pedro de Goyena, und dabei konnte ich deutlich verfolgen, wie ihre Mienen alle Anzeichen der Enttäuschung annahmen. „Was habt ihr denn geglaubt?” fragte ich sie am Ende. „Daß das Logbuch den Lageplan eines verborgenen Schatzes enthält? Ja, ich habe es aus euren Mienen gelesen, aber ihr habt euch schwer getäuscht. Don Pedro de Goyena war ein eher biederer Mann, der Werkzeug, Baumaterialien, Waffen, Munition und Gewürze zwischen Cadiz und Manila hin- und herbeförderte und von Gold, Silber und Juwelen nie etwas zu sehen bekam.“ „Der Teufel soll ihn holen“, sagte Hawkins.
„Das hat er ja wohl schon getan“, äußerte ich kalt. „Und zur Hölle sollen auch diese beiden idiotischen Passagiere fahren“, meinte er jetzt. „Dieser Arzt und sein Töchterchen. Hoffentlich sind sie krepiert. Recht so! Je weniger Dons es auf der Welt gibt, desto besser ist es.“ Lockjaw setzte eine verzerrte, gemeine Miene auf. „Ich will aber stark hoffen, daß die malaiischen Piraten die kleine Hure noch kräftig über die Planken geschoben haben, ehe sie ihr den Hals umgedreht haben. Ja, ich will's den Halunken wirklich wünschen, daß sie noch ihren Riesenspaß mit ihr gehabt haben.“ Ich legte das Schiemannsgarn beiseite und trat sehr nah vor ihn hin. „Ja, das kann ich mir von dir vorstellen“, sagte ich. „Und weißt du auch, warum, Lockjaw?“ „Verrat's mir doch.“ „Weil du genauso grausam, schmutzig und verkommen wie diese Freibeuter bist“, sagte ich ihm ins Gesicht. Er machte Anstalten, sich jetzt wirklich auf mich zu stürzen, nichts schien ihn mehr zurückhalten zu können. Sein Gesicht verzog sich zu einer furchterregenden, kadaverhaften Fratze, und sein rechter Arm schwang hoch, um auf mich einzuschlagen. Ich duckte mich und breitete die Arme aus, bereit, seine ersten Hiebe abzuwehren. „Das ist unfair“, sagte Hawkins keifend. „Bonty, du dreckiger BristolBastard, nimm gefälligst die linke Hand auf den Rücken, damit ihr dieselben Chancen habt.“ Ich sah ihm deutlich an, daß er noch etwas hinzufügen wollte, aber jedes weitere Wort blieb ihm im Hals stecken. Hawkins' Kopf ruckte herum, und auch Bruce Ellerton blickte mit einemmal zum Backbordniedergang, der das Vorkastell mit der Kuhl verband. Nur Lockjaw stand sprungbereit und wandte nicht den Kopf. Kalter Haß loderte in seinen Augen. Über seine rechte Schulter hinweg vermochte nun auch ich die Gestalt des großen Mannes zu erkennen, der den Niedergang aufgeentert war und jetzt auf der Back stand. Es war Mister McCoy, unser Profos. Nur einmal zog er seine Neunschwänzige durch die Luft, daß es pfiff und knallte, und sofort stand auch Lockjaw wie angewurzelt da. „Hawkins, Ellerton und Lockjaw!“ rief er. „Zurück auf eure Posten! Wer hat euch die Erlaubnis gegeben, die Back zu entern und Maulaffen feilzuhalten?“
„Niemand, Sir“, beeilte sich Hawkins zu sagen. Ich bemerkte, wie jetzt wieder diese seltsame Veränderung mit ihm vorging. Eben noch hatte er Gift und Galle gespuckt und sich äußerst feindselig verhalten, aber jetzt wurde er übergangslos kleinlaut und geradezu widerwärtig unterwürfig. Immer, wenn Mister McCoy oder Mister Bunk auftauchten, benahm er sich so, und auch damals auf der „Black Devil“ und auf der „Sea Cloud“ war es so gewesen, wenn ihn ein Vorgesetzter zusammengestaucht hatte. Fast schämte ich selbst mich für ihn, wenn ich ihn so sah, denn es gab nichts, was ich mehr verachtete als eine solche Stiefelleckerei und miese Kriecherei. „Dann ab mit euch, zurück aufs Hauptdeck!“ schrie Mister McCoy voll Wut und schritt auf uns zu. „Die Brassen und die Fallen müssen einwandfrei klariert werden, und ich will die ganze Arbeit nicht erst kurz vor dem Wachwechsel fertig gestellt sehen, verstanden?“ „Aye, Sir“, murmelten Hawkins und Ellerton. Lockjaw warf mir noch einen Blick zu, in dem aller Haß dieser Welt lag, dann zog auch er sich zurück. „Wir sprechen uns noch ausführlich, Bonty“, sagte er aber noch. „Und dann wirst du es bereuen, jemals geboren worden zu sein, du freche Rotznase. So was wie eben hat mir noch keiner gesagt. Das zahle ich dir heim, doppelt und dreifach.“ Daß es früher oder später zu einer ernsten Auseinandersetzung zwischen uns kommen würde, glaubte ich ihm aufs Wort. Was ich ihm allerdings nicht abnahm, war seine Behauptung, daß ihn noch niemand so beleidigt hatte wie ich. Ich war überzeugt, daß er wegen seiner heimtückischen und verschlagenen Wesensart schon ganz andere Sachen an den Kopf geworfen bekommen hatte, und das nicht so knapp. Außerdem hatte ich ja oft genug miterlebt, wie Mister McCoy und alle anderen, die an Bord was zu sagen hatten, mit ihm umsprangen. Aber ich mußte von jetzt an höllisch auf diesen einarmigen Schurken aufpassen, und – ehrlich gesagt – etwas Angst vor meinem eigenen Schneid kriegte ich in diesem Moment doch. Der Profos war ein rauhbeiniger Mann mit einem rauschenden schwarzen Vollbart, ein gerechter Mann, der aber sehr schnell wütend wurde, wenn die Borddisziplin nicht gewahrt wurde. Dann langte er „fix mal zu“ – und das tat er auch jetzt. Er scheute sich nicht, den drei Kerlen eins mit der Neunschwänzigen überzuziehen, o, ganz gewiß nicht! So mußten Hawkins, Lockjaw und der Glatzkopf Ellerton es sich gefallen lassen, daß er sie handgreiflich von der Back verscheuchte. Sie stöhnten auf, als die Riemen der
Peitsche ihre nackten Rückenpartien trafen, und dann verschwanden sie wie der Blitz und kehrten schleunigst auf die Kuhl zurück. So ein Hieb mit der neunschwänzigen Katze war ziemlich das Schimpflichste, was ein Mann auf der „King Charles“ hinzunehmen hatte – aber sie hatten ja selbst schuld. Ich verkniff mir ein schadenfrohes Grinsen und wandte mich mit grimmiger Miene wieder meiner Arbeit zu, um nicht auch noch gemaßregelt zu werden. Mister McCoy baute sich breitbeinig vor mir auf. „Raus mit der Sprache, Bonty“, sagte er. „Was wollten die drei von dir?“ „Sie wollten nur wissen, was in dem Logbuch des Spaniers stand“, antwortete ich, und dabei blickte ich ihn offen an. Ich bemühte mich, meine Züge etwas entspannter aussehen zu lassen. „Und das hast du ihnen erzählt?“ „Ja, Sir.” „Nun, warum auch nicht“, brummte er. „Sonst wollten sie nichts von dir?“ „Ganz bestimmt nicht, Sir“, versetzte ich. Er kniff die Augen ein wenig zusammen. „Nun gut. Ich nehme dir das zwar nicht ganz ab, aber es ist eure Sache, wie ihr euch zurechtrauft. Nimm dich jedoch vor Lockjaw in acht. Er ist noch gefährlicher als Hawkins, wenn du verstehst, was ich meine.“ „Ich verstehe, Sir. Danke.“ Er wandte sich ab und verließ die Back, wobei er sein rechtes Bein wieder wie üblich etwas nachzog. Ich dachte: Ich werde es nicht zulassen, daß Lockjaw sich in den nächsten Tagen erneut mit mir anlegen kann. Ich werde ihm aus dem Weg gehen, das ist besser so. Und so verhielt ich mich auch. * Am 8. Juni 1630 blies der Wind immer noch aus nordwestlichen Richtungen, und wir drangen nun tief in die Malakkastraße vor. Master Flanagan ließ anluven, und an diesem Vormittag lagen wir also höher am Wind als an den Vortagen und entfernten uns um einige Meilen mehr von der Küste von Sumatra. Gegen Mittag gingen wir auf unseren alten südöstlichen Kurs zurück. Zu diesem Zeitpunkt konnten Samuel Dodds, unser Ausguck im
Großmars, und Jo Blyss, der als Fockmastgast in den Vormars aufgeentert war, die dicht bewaldeten Gestade von Sumatra immer noch als schwärzliche Linie an Steuerbord unseres Schiffes erkennen, allerdings nur unter Zuhilfenahme des Kiekers. An Backbord indes schob sich über der hitzedurchglühten Kimm die Küste von Malakka empor – eine Entdeckung, die keinen großen Jubel auslöste. Master Flanagan hatte den Vormars seit seinem Gespräch mit Mister Bunk besetzen lassen, denn die Logbuchaufzeichnungen des Don Pedro de Goyena hatten ihm doch zu denken gegeben. Vielleicht hatte er die malaiischen Piraten vorher unterschätzt – jetzt aber wußte er, wie stark ihr Verband war und daß er auch uns schwer zusetzen konnte, falls wir in seine Fänge gerieten. Da es nicht ausgeschlossen war, daß auch wir den Prahos begegneten, die überall zwischen Malakka und Sumatra überraschend auftauchen konnten, hielt unser Kapitän die „King Charles“ jetzt auch unter ständiger Gefechtsbereitschaft. Die schweren Siebzehnpfünder und auch die Drehbassen des Vor- und Achterdecks waren ständig geladen, der Sand auf dem Geschützdeck ausgestreut. Es brauchten im Ernstfall nur die Stückpforten geöffnet und die Feuer in den Kupferbecken entfacht zu werden, und schon konnte unsere Galeone aus allen Rohren feuern. Am 9. Juni passierten wir eine Insel, die Sumatra vorgelagert war, sie trug den Namen „Pulau Rupat“ und kündigte uns an, daß wir Bengkalis, einer Kolonie der Spanier und Portugiesen auf Sumatra, nun nicht mehr fern waren. Wir hatten am späten Nachmittag dieses Tages nun fast vierhundert Seemeilen zwischen uns und die Bucht des Grauens gelegt, und beim Dunkelwerden rauschten wir nördlich querab von Bengkalis dahin, wobei unsere Ausguckposten ein waches Auge auf die Richtung hatten, in der sich nach Mister Andersons und Mister Pickens' Angaben die Kolonie befinden mußte. Es erschienen aber keine feindlichen Schiffe, jedenfalls waren sie nicht auszumachen. Den Spaniern und Portugiesen war es unmöglich, die Straße von Malakka etwa zu blockieren, dazu hatten sie nicht genug Schiffe. Sie besaßen schon lange nicht mehr die Macht zur See, die sie in den vergangenen Jahrzehnten einmal ausgeübt hatten. Wer uns das erzählte? Nun, es war wieder Mister Pickens, unser beliebter „Fatboy“, der Zweite Offizier. Er besaß ein nahezu umfassendes Wissen auf fast allen Gebieten und geizte nicht damit, viele wichtige Informationen an die Mannschaft weiterzugeben. Manchmal mußte er deswegen von Master Flanagan oder von Mister
Anderson sogar einen Anschnauzer einstecken, denn der Kapitän und der Erste wollten nicht, daß Mister Pickens sich uns gegenüber zu freundschaftlich verhielt. Außerdem sahen sie es als falsch an, das Schiffsvolk über zu viele Einzelheiten ausführlich zu unterrichten. Aber Mister Pickens dachte in diesem Punkt anders und hatte eben auch seinen eigenen Dickschädel. Mir antwortete er besonders bereitwillig, wenn ich Fragen an ihn richtete, und so erfuhr ich auch, daß es an der Südküste von Sumatra eine englische Hilfsfaktorei gab – ähnlich der in Abu Bara am Golf von Oman –, die gerade erst aufgebaut worden war. Es gehörte jedoch nicht zu unserem Auftrag, auch diese Faktorei anzulaufen, und darum hatte Master Flanagan sich bei seinen Planungen für den Kurs durch die Malakkastraße entschieden, für den kürzesten Weg also, wenn man aus dem Golf von Bengalen kam und nach Java segeln wollte. Ich hatte mein Wissen also wieder ein bißchen angereichert. Inzwischen hatte ich übrigens auch die Zeit und die Gelegenheit gefunden, noch einmal mit Mister Montesano zu sprechen und ihn über die geheimnisvolle Chinarinde auszufragen. „Ja“, hatte er zu meinem Erstaunen an diesem Vormittag entgegnet. „Die Chinesen, die uns auf vielen Gebieten ganz einfach überlegen sind, haben tatsächlich aus dieser Rinde ein Arzneimittel gegen die Malaria entwickelt. Das Rezept halten sie aber streng geheim, und es ist bis heute keinem Europäer gelungen, es ihnen zu entlocken oder abzukaufen.“ „Aber die Alchimisten und all die anderen Wissenschaftler bei uns zu Hause werden es doch auch selbst schaffen, hinter das Geheimnis zu kommen, nicht wahr, Mister Montesano?“ „Die Alchimisten wohl weniger, die wollen immer nur Gold aus einfachen Steinen machen“, hatte er lächelnd erwidert. „Aber die anderen, die ernsthafteren Forscher und Mediziner – ja, ich glaube, sie werden schon noch auf die Lösung stoßen.“ Wir diskutierten noch eine Weile hin und her, manchmal brachen wir auch in schallendes Gelächter aus, zu dem uns Mister Pickens oft ungewollt verhalf. Aber uns allen sollte das Lachen noch gründlich vergehen. Nur ahnte das zu diesem Zeitpunkt keiner von uns. Und das Unheil, das schon wie ein drohendes Schwert der Verdammnis über uns schwebte und noch in jener Nacht über uns hereinbrach, kam uns mit jeder Meile, die wir dahinsegelten, näher. Wie hatte Mister Bunk doch so richtig gesagt? Es war gut, daß die Menschen nicht in die Zukunft blicken konnten. Das kann ich heute nur
bestätigen, aber damals wäre es doch gut für uns gewesen, wenn wir einen richtigen Wahrsager bei uns an Bord der „King Charles“ gehabt hätten. Hätte der nämlich prophezeit, was uns bevorstand, so hätte Master Clifford Flanagan ganz bestimmt halsen lassen und wäre gegen den Wind bis zurück in die Andamanen-See gekreuzt. * Es geschah um kurz nach zehn Uhr, und wir hatten Bengkalis zu dieser Zeit etwa siebzig bis achtzig Meilen Steuerbord achteraus liegen gelassen. Eine frische Brise, jetzt aus Westen wehend, drückte die „King Charles“ beharrlich voran und brachte uns ein wenig Abkühlung. Ich hatte Freiwache und war in meine Koje im Mannschaftslogis geklettert, um mich von dem recht harten Nachmittagsdienst zu erholen. Lockjaw, Ellerton und Hawkins hatten die Mittelwache mit sechs anderen Männern zusammen, und auch Samuel Dodds hockte wieder oben in seinem Mastkorb, während im Vormars diesmal nicht. Jo Blyss, sondern Pulaski, der gutmütige Glatzkopf, saß. Ich hatte damals den Eindruck, daß Mister Bunk und Mister McCoy im Einverständnis mit. Mister Pickens es absichtlich so eingerichtet hatten, daß unsere schlimmen Vier immer dann Dienst hatten, wenn ich mich auf der Freiwache befand – und umgekehrt. Heute weiß ich, daß es wirklich so war. Sie taten das nicht nur, um mich vor einem heimtückischen Angriff von Lockjaw, Ellerton, Dodds und Hawkins zu bewahren, denn schließlich war ich ja nicht ihr Günstling, der Protektion benötigte. Nein, es gab einen viel triftigeren Grund dafür: Alle Männer hatten ständig auf der Hut zu sein und durften sich durch nichts, aber auch gar nichts von dem ablenken lassen, was rund um die „King Charles“ herum geschah. Befehl von Master Flanagan! Eine Schlägerei, die sonst sicherlich geduldet worden wäre, solange sie nicht ausgeartet wäre, durfte es nicht geben, bevor wir nicht aus der Straße von Malakka heraus waren. Ich hatte einen scheußlichen Traum, in dem ein langhaariges weißes Mädchen namens Juliana und eine Afrikanerin namens Nunumi von einer Horde wilder Kerle verfolgt wurden – quer über eine winzige Insel, auf der es keine Versteckmöglichkeiten gab. Ich sah alles mit an, konnte aber nichts tun, weil ich an einen Baum gefesselt war. Ich schrie vor Wut und Entsetzen, als die Schlagetots und Galgenstricke die Mädchen packten und schüttelten, aber ich konnte nichts für sie tun,
nichts. Und dann rückte ein finsterer Kerl mit einem Parang und einem Kris auf mich zu, mit dem kurzen Schwert und dem Krummdolch der Malaien. Ich wachte schweißgebadet auf, fuhr hoch und stieß mir fast den Kopf an der Koje über mir. „Heiliges Kanonenrohr!“ brummelte zu meiner Linken eine Stimme, die ich als die von Kid Holloway erkannte. „Was, zur Hölle, ist los? Haben dich die Sumpfmücken gestochen oder was?“ „Nein! O je, bloß nicht“, stammelte ich. „Warum stöhnst und sabbelst du dann herum und läßt die anderen nicht schlafen?“ hörte ich China-Harry fragen. Gofredo lachte leise. „Ich wette, er hat wieder mal von der Muräne geträumt – wie er sie am Schwanz gezogen hat und wie sie sich dafür bedankt hat. Ist es nicht so, Bonty?“ Er spielte damit auf die Begebenheit im Korallenmeer an, aber die lag jetzt schon ziemlich weit hinter mir, und ich hatte sie so gut wie verarbeitet, obwohl es damals ganz verdammt um mein Leben gegangen war. „Nein“, antwortete ich. „Das war es nicht. Es war was anderes – was viel Schlimmeres.“ „Holla!“ stieß unser Koch aus. „Jetzt wird's spannend. Ich wette ein silbernes Achterstück, daß es ein Dschungeltraum war. O Bonty, amico caro, warte einen Augenblick, ehe du es uns erzählst. Wer wettet mit mir – he, wer? Makker, überlegt es euch, es geht um ein ,Piece of eight`, nicht nur um ein paar billige Copper.“ „Mann“, begann Harry zu wettern, „halt bloß deinen Rand, du elender Heringsbändiger. Wir wollen hier an der Koje horchen und eine tüchtige Mütze voll Schlaf nehmen, keine blödsinnigen Wetten abschließen.“ „Du traust dich nur nicht“, stichelte Gofredo. „Hast ja bloß Angst zu verlieren. Na, was ist? Wer hält mit?“ Seine Leidenschaft für Wetten war ja hinreichend bekannt. Er ließ keine Gelegenheit aus, wenn es darum ging, rasch ein paar Münzen einzusacken, aber dennoch war er kein so gerissener und durchtriebener Spielhai wie Hawkins, Dodds, Ellerton oder Lockjaw. Für ihn war das Ganze eher ein Spaß, und man mußte immer wieder staunen, wie er sich für eine solche Wette begeistern und sich eine richtig kindliche Freude daraus bereiten konnte. Ich streckte die Beine von der Koje und setzte sie auf die Planken. „Nein, es war kein Dschungeltraum“, sagte ich.
„Dio mio, per carità, was dann?“ wisperte der Koch. „Un momento, attenzione, per favore, nun laßt mich mal richtig nachdenken. Ha, jetzt habe ich's! Ich lege noch mal fünf Copper auf mein Achterstück und behaupte ...“ „Hör doch auf“, sagte Jonny, der sich jetzt auch zu regen begann. „Es macht ja doch keiner mit.“ „Doch, ich“, meldete sich nun wieder Kid Holloway zu Wort. „Gofredo, du armer Tropf, dies ist deine Niederlage.“ Ich glaubte zu hören, wie der Mann aus Livorno sich eilfertig die Hände rieb. „Das sagst du in deinem grenzenlosen Leichtsinn, Kid, Makker, Kamerad, aber du wirst noch sehen, was du dir eingebrockt hast. Ich weiß nämlich ganz genau, was es mit dem Traum unseres lieben Howard auf sich hatte. Seine Zeit als Sklave bei dem dicken Suleiman – die Erinnerung daran hat ihn so hin- und hergeworfen und stöhnen und schreien lassen.“ „So?“ Kid lachte leise. „Ich halte dagegen.“ Ich war aufgestanden und ging leicht taumelnd durchs Logis. Ich wußte, daß ich nicht wieder einnicken würde, wenn ich vorher nicht ein wenig frische Luft schnappte. „Der Einsatz“, drängte Gofredo. „Na los, wie viel, Kid, amico, wieviel?“ „Meine alte Decksmütze, die ich sowieso schon wegschmeißen wollte“, sagte Holloway todernst. „Und die Kakerlake, die eben durch meine Koje marschiert. Na, ist das ein Einsatz, Gofredo?“ China-Harry und Kleine Hölle begannen zu lachen, aber Gofredo fand das Ganze gar nicht so witzig, wenigstens hatte es den Anschein. „Maledetto“, zischte er. „Laß deine blöden Scherze weg, Kid, und wette auf anständige, ehrliche Art und Weise. Du ...“ „Mit dir nicht“, unterbrach ihn Kid. „Du haust mich ja doch nur übers Ohr, außerdem will Howard uns gar nicht verraten, was er geträumt hat. Stimmt's, Howard?“ „Stimmt“, murmelte ich ziemlich verwirrt und tappte auf den Vordecksgang hinaus. „Kid“, raunte unser Koch hinter meinem Rücken. „Treib's bloß nicht zu weit! Mit mir ist nicht gut Kirschen essen, wenn sich einer über mich lustig macht, das weißt du doch.“ Natürlich meinte er das nicht ernst, aber es war nun mal seine Art, mit den anderen herumzuflachsen. „Die Kakerlake“, wisperte Kid Holloway drohend. „Sie schwimmt morgen früh in deiner Suppe, du Kombüsenhengst, wenn du glaubst, du könntest mir drohen. Wetten, daß du dann eine Stunde brauchst, um sie wieder rauszufischen? Und wetten, daß anschließend keiner
von uns die Brühe anrührt, wenn ich verbreite, daß schon eine Kakerlake darin Schwimmübungen gemacht hat?“ „Vielleicht ist's ja auch ein Kakerlak“, meinte China-Harry kichernd. „Weibchen oder Männchen, wer kann das im Dunkeln schon feststellen?“ „Es ist ein Weibchen, sage ich“, brummte Kid. Gofredo stieß einen verzweifelten Seufzer aus. „Da sieht man, wie ich euch verwöhnt habe, ihr elenden Kerle! Früher, als ihr mich noch nicht hattet, hättet ihr euch alle zehn Finger nach einem Fraß geleckt, in dem als einzige Fleischeinlage mindestens zehn bis zwanzig Kakerlaken wimmelten. Heute ...“ „Jetzt übertreibst du aber“, meinte Kleine Hölle. „Das finde ich auch“, ließ sich eine weitere Stimme vernehmen – die von Mister Montesano. Er schien soeben erst erwacht zu sein. „Es geht also wieder mal ums Essen, wie? Nun, du brauchst dich gar nicht so zu brüsten, Gofredo, denn auch deine Suppen sind nicht das, was...“ „Fängst du wieder an?“ stieß unser Koch zornbebend hervor. „Eines Tages säble ich dich in Stücke, Napoletano, und deine freche Zunge bereite ich als erste zu – ,alla livornese`, auf livornesische Art, wenn du's genau wissen willst.” Mister Montesano wollte nun aufbrausen und ganz gewaltig loslegen, und es hätte sich wohl ein lautstarker Zank entwickelt, wenn ich, der ich inzwischen im Gang entlang stolperte, um auf die Kuhl hinauszutreten, die fünf nicht plötzlich unterbrochen hätte. Ich hörte einen Ruf – und gleich darauf noch einen. „Deck! Deck! Segler ho, Backbord achteraus!“ Das war zweifellos Samuel Dodds, ich identifizierte seine Stimme einwandfrei. „Deck! Obacht – ho, hey, Mister Bunk, Mister McCoy, sie kommen auch von vorn, da, Backbord und Steuerbord voraus kann ich gleich zwei erkennen, nein: drei!“ Dies war Pulaski, den so leicht nichts aus der Ruhe werfen konnte, der jetzt aber ziemlich aus dem Häuschen zu geraten schien. Ich fuhr zu meinen Kameraden im Logis herum. Nein, sie hatten es noch nicht gehört, denn sie waren viel zu sehr vertieft in ihre Diskussion. „Heda“, sagte ich deshalb. „Es ist was im Busch, es gibt Verdruß, und zwar ganz dicken, glaube ich!“ Ich merkte schon, wie mir das Herz heftiger zu schlagen anfing, bis in den Hals hinauf. Und dann kam es auch schon von draußen, diesmal viel lauter als vorher, wieder von Dodds ausgestoßen:
„Prahos! Ein halbes Dutzend in unserem Kielwasser!“ „Mehr als ein Dutzend mit denen, die von vorn kommen!” brüllte Pulaski. „Hölle und Teufel!“ Jetzt wurde es sehr lebendig im Logis; jetzt rumpelte und polterte es, jemand fluchte, jemand schien auszurutschen, und die komplette Freiwache stürzte aus dem Schlafraum in den Gang hinaus, so schnell sie konnte. Da wurden keine Hemden übergestreift und keine Stiefel mehr angezogen, jeder rannte so heraus, wie er gerade war, die Hauptsache war, in aller Hast die Waffen an sich zu reißen. Kid Holloway trug nur eine kurze Hose, aber wen kümmerte das schon? Hier ging es um Augenblicke, das hatten jetzt alle schlagartig begriffen. Auch ich war hellwach und stürzte ins Logis zurück, um mein Messer und eine Pistole zu holen. Ich stopfte mir beides in den Gurt, fuhr herum und kehrte in den Gang zurück, um hinter Mister Gofredo herzurennen, der fluchend als letzter in der Gruppe nach achtern auf das Vordecksschott zuhetzte. Das Schott flog auf und knallte gegen die Querwand der Back; Kid Holloway hatte es aufgestoßen und lief nun als erster von der Freiwache auf Mister Bunk zu, der links des Großmastes stand und genau in diesem Moment schrie: „Alle Mann an Deck!“ „Sind schon da, Sir!“ rief Kid zurück. „Alle Mann auf Gefechtsstation!“ brüllte nun Mister McCoy, der etwas weiter achtern bei der Nagelbank unweit des Niederganges zum Quarterdeck stand. „Willig, hastig, wir haben sie schon dicht im Nacken, die Hunde! Öffnet die Stückpforten, rennt aus die Geschütze! Heizt an die Feuer und dann klar bei Lunten, verdammt noch mal!“ Mister Corcoran, unser Stückmeister, raste wie der Leibhaftige höchstpersönlich an mir vorbei, und ich befürchtete schon, er würde auf dem Niedergang zum Batteriedeck hinunter ausgleiten und die Stufen hinabstürzen, aber das geschah zum Glück nicht. Gewandt wie eine Katze enterte er ab, war als erster unten, und die Männer folgten ihm mit trappelnden Schritten. Hamdullah war plötzlich neben mir und sah mich aus seinen kohlschwarzen Kulleraugen an. In dem Brüllen und Fluchen der Männer auf Deck und dem Rumpeln der ausrollenden Kanonen fragte er mich entsetzt: „Was los, Sich? Geht ganzes Schiff gleich unter?“ „Unsinn“, entgegnete ich. „Wir haben nur die Piraten am Hals. Denen werden wir es aber zeigen!“ Damit zerrte ich ihn mit mir fort, und auch wir hasteten zum Batteriedeck hinab. Wir wußten schon, was wir zu tun hatten, nämlich,
die Holzkohlenfeuer in den Becken zu schüren und dafür zu sorgen, daß die Kübel und Putzen mit dem Seewasser auch ordnungsgemäß und an ihren richtigen Plätzen bereitstanden. Wir rannten zwischen den Gestalten der Männer im düsteren Geschützdeck auf und ab, und manches Mal drohten wir mit dem einen oder anderen zusammenzustoßen. Um ein Haar strauchelte ich über Ellertons linkes Bein -. das hätte mir gerade noch gefehlt! Ich weiß nicht, ob der Kerl mich absichtlich zum Stolpern bringen wollte, oder ob es nur ein Zufall war, aber wie auch immer, es war mir verdammt egal, denn ich wußte, daß wir jetzt ein Gefecht geliefert bekamen, wie wir es bislang noch nicht erlebt hatten. Es ging aufs Ganze. Hamdullah spürte das auch an der Hektik der Männer, und er glaubte mir natürlich kein Wort. Nur die Piraten hatten wir am Hals — ich hatte das gesagt, als ob wir im Handumdrehen mit ihnen aufräumen würden, aber ich hätte selbst darüber gelacht, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Gewiß, ich hatte unseren Moses ein wenig beschwichtigen wollen, damit seine Angst nicht allzugroß war, aber sehr überzeugend hatten meine Worte ja doch nicht geklungen. „Drehbassen!“ tönte über unseren Köpfen die Stimme von Mister Anderson, der inzwischen wie der Master, der Zweite Offizier und der Erste Steuermann auf den Beinen war und sich einen kurzen Überblick über die Situation verschafft hatte. „Klar bei Lunten, klar zum Feuern!“ „Aye, Sir!” schrien die Männer zurück, die vorn und achtern an unseren Drehbassen Aufstellung genommen hatten. Die Situation – sie ist schnell geschildert, denn wenn ich nun gestehe, daß die Prahos der malaiischen Piraten wie ein Spuk aus der Nacht aufgetaucht waren und uns umzingelt hatten, was soll ich dann noch groß hinzufügen? Nein, man konnte unseren beiden Ausguckposten Dodds und Pulaski nicht anlasten, daß sie geschlafen und nicht aufgepaßt hatten. Sie hatten diese kleinen, wendigen Schiffe einfach nicht eher ausmachen können. Ich weiß heute nicht mehr, wie die Piraten es fertig gebracht hatten, uns ausfindig zu machen und so schnell einzukreisen. Unsere Hecklaterne brannte in dieser Nacht nur auf winziger Flamme, und auf eine größere Entfernung als drei Seemeilen war ihr Licht gewiß nicht auszumachen. Daher konnten die Gegner uns weder von einem ihrer Schlupfwinkel aus gesichtet haben – die Küsten von Sumatra und von der Halbinsel Malakka lagen nämlich jeweils mehr als dreißig, vierzig Meilen entfernt –, noch so blitzschnell ausgelaufen sein, daß sie uns einholen und umringen konnten. Ich hatte mir damals auch schon
soviel seemännisches Verständnis und Gespür angeeignet, daß ich es mir ausrechnen konnte. Aber auch die Theorie, daß sie uns vielleicht schon seit Tagen verfolgt hatten, stand auf höchst wackligen Beinen. Dodds oder Pulaski, die beide wirklich sehr gute Augen hatten, oder auch Blyss, der ebenfalls einen ausgezeichneten Ausguck abgab, hätten wenigstens die Mastspitzen eines einzigen Prahos an der Kimm erspähen müssen. Möglich ist, daß der Piratenverband in dieser Nacht unterwegs war, um die Malakkastraße zu durchqueren und – nach einigen Kaperfahrten und Raubzügen der vergangenen Tage – nun in sein Versteck zurückkehren wollte. Je länger ich heute darüber nachsinne, desto wahrscheinlicher kommt mir dies vor. Demnach hatten sie also aus purem Zufall das Licht unserer Hecklaterne ausgemacht – und das war das Fatalste an dieser Begegnung. Andererseits konnte Master Flanagan auch nicht ganz ohne Licht durch die Nacht segeln, denn das hätte den Vorschriften widersprochen, die die Ostindien Company für die Besatzungen ihrer Schiffe erlassen hatte. „Bonty und Hamdullah!“ schrie Mister McCoy ins Batteriedeck herunter. „Seid ihr fertig da unten?“ „Aye, Sir“, meldete ich. „Dann ab mit euch aufs Vordeck! Ihr müßt die Geschützführer an den Drehbasen als Ladenummern unterstützen, sie sind nur zu zweit und schaffen es allein nicht, die Stücke schnell genug nachzuladen!“ „Sofort, Sir!“ rief ich. Dann flitzte ich los, zum vorderen Niedergang, der aufs Hauptdeck hinaufführte. Hamdullah folgte mir in demselben Affentempo, und so langten wir fast gleichzeitig auf der Back an, zwar etwas außer Atem, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die Geschützführer an den drei vorderen Hinterladern waren Jonny und Sails. Ich war aus zwei Gründen erleichtert: erstens, weil wir es nicht mit Hawkins, Lockjaw oder einem der anderen unangenehmen Zeitgenossen zu tun bekamen; zweitens, weil wir das untere Batteriedeck verlassen durften. Ich warf einen Blick über die vordere Schmuckbalustrade hinweg, auf deren Handleiste die Drehbassen in ihren Gabellafetten montiert waren, und sah mindestens acht, neun Prahos. Ein- und Zweimaster, wie Don Pedro de Goyena sie beschrieben hatte – und sie waren uns fast zum Greifen nahe, so erschien es mir jedenfalls!
Ich wußte nicht, ob es dieselben malaiischen Freibeuter waren, die auch die „San Juan Nepomuceno“ überfallen hatten, aber das hatte auch keine Bedeutung bei all dem, was jetzt geschah. Weniger grausam als jene, die die ganze Mannschaft der spanischen Galeone dahingemetzelt hatten, waren diese hier auch ganz bestimmt nicht, soviel war mir von vornherein klar. Der erste Schuß krachte. Einer der Prahos backbord vor uns hatte ihn mit einem Geschütz abgefeuert, das in seinem Vorschiff angebracht war, wie ich ausmachen konnte. Der Mündungsblitz stach wie ein grellgelber Schlitz in die Nacht, so, als würde ein schwarzer Samtmantel zerrissen - und die Kugel heulte heran und trieb eine gischtende Wasserfontäne genau vor dem Bug unserer „King Charles“ hoch. „Das ist die Kriegserklärung“, sagte Kleine Hölle grimmig. „Dann mal los - auf sie mit Gebrüll und ja nicht zimperlich sein, Jungs!“ Ja, das hatte mir auch schon Mister Bunk zu verstehen gegeben, und ich hatte es begriffen. Wer die Gebote der Fairneß und Ritterlichkeit im Kampf gegen eine Piratenhorde wie diese wahren wollte, der mußte zwangsläufig untergehen. Ich sollte noch sehen, wie sehr das zutraf. „Vordere Drehbassen - Feuer!“ schallte Mister Andersons Stimme über Deck. Hamdullah und ich hatten die Glut in den Kupferbecken schon kräftig aufgestochert und geschürt. Jonny und Sails tunkten jetzt die Lunten hinein, hoben die Luntenstöcke an und senkten sie auf die Bodenstücke der ersten zwei Hinterlader. Es knisterte, als sich die Glut durch das Pulver im Zündkanal bis auf das Zündkraut durchfraß - und dann donnerten die Drehbassen gleichzeitig los. Sofort im Anschluß daran feuerte Kleine Hölle auch die dritte vordere Drehbasse ab, und auch diese spuckte dröhnend ihre Ladung gegen die Angreifer aus. Gleich darauf war der Teufel los – die große Hölle, wie ich voll bitterer Ironie dachte. * Wer nun der Meinung ist, daß es Hamdullah und mir auf dem unteren Batteriedeck viel besser ergangen wäre, dem möchte ich etwas auseinandersetzen, was ich auch in einem der früheren Bände schon erklärt habe: Das Batteriedeck war alles andere als ein sicherer Platz, denn die zurückruckenden Geschütze konnte einen glatt überrollen und
einem die Beine und den Leib zerquetschen, wenn man nicht scharf achtgab. In der Finsternis konnte man leicht mit einem Geschützführer oder seinen Helfern ins Gehege geraten, und – last not least – falls die „King Charles“ von gegnerischen Kugeln getroffen wurde, konnte es ganz schnell passieren, daß man unter den Trümmern des unteren Decks begraben wurde und vielleicht auch noch einen der Deckenbalken auf den Schädel geknallt kriegte. All diese Gefahren bestanden hier oben auf der Back nicht, denn die Sichtverhältnisse waren unter dem schalen Licht des Mondes recht gut und wir konnten uns kaum gegenseitig über den Haufen rennen. Die Drehbassen waren fest in ihren Drehlafetten montiert und ruckten nicht zurück, und unter Trümmern würden wir nur verschüttet werden, wenn die Masten und das Rigg der „King Charles“ zerfetzt wurden und man uns die ganze Galeone zerstückelte. Natürlich konnten wir von den feindlichen Kugeln erwischt werden, aber diese Möglichkeit bestand überall, an jedem Platz des Schiffes, selbst unten in der Vorpiek, wenn uns ein Treffer unterhalb der Wasserlinie erwischte, oder hoch oben in den Mastkörben und Toppen, wenn ein Geschoß bis dorthinauf raste. Sicher war man nirgends. Gerade diese Erkenntnis jagte Neulingen auf einem Segelschiff die Angst bis tief in die Knochen, wenn sie ihr erstes Gefecht erlebten. So abgebrüht, daß ich alles mit Gelassenheit ertrug, war auch ich noch lange nicht, und Hamdullah zitterten die Hände sogar ganz erheblich, als er Sails Pulver und Kugel hinaufreichte. Ich bediente Kleine Hölle, und er grinste mir hart zu, als er sich umdrehte und von mir das Geschoß in Empfang nahm, das als nächstes im Lauf der linken der drei Drehbassen verschwinden sollte. „Ruhig Blut, mein Jung“, sagte er. „Ohren anlegen und hart anbrassen und bloß keine Panik. Den ersten dieser Himmelhunde haben wir schon angeknackt, und gleich ist der nächste dran. Wirf mal einen Blick voraus!“ Ich tat es und sah auch, daß es den vordersten Praho, der den ersten Schuß vor unseren Bug gesetzt hatte, ziemlich schwer erwischt hatte. Seinen einzigen Mast hatte es weggeknickt, und auf seinem Deck herrschte die größte Wuhling, die man sich vorstellen kann. Gleich zwei Drehbassenkugeln mußten ihn getroffen haben. Es hatte Tote und Verletzte gegeben, und die Malaien schrien wie besessen. Aber siegesgewiß konnte mich diese Beobachtung nun wirklich nicht stimmen. Und es ging mir in diesem Moment auch auf, daß Jonny mich über den wahren Sachverhalt hinwegtäuschen wollte, so, wie ich es bei
Hamdullah hatte tun wollen. Aber ich nahm es ihm genauso wenig ab, wie unser Moses es mir auch nicht abgekauft hatte. Wir hatten nicht den geringsten Anlaß zum Triumphieren, denn gut zwanzig Prahos wimmelten um unsere Galeone herum, und jedes der Boote war mit schätzungsweise zehn, zwölf Männern besetzt. Also hatten wir zweihundert Piraten oder noch mehr gegen uns! Man vergesse auch nicht, daß wir nach wie vor relativ schlecht bemannt waren. Wenn wir auch die Männer der „Leviathan“ mit angemustert hatten, so war unsere Zahl doch nicht groß genug, um in einem Kampf dieser Art die dominierende Rolle zu übernehmen. Ich will auch genau erklären, warum das so war. Wir hatten zwar genug Leute, um gleichzeitig aus beiden Geschützbatterien zu feuern und die erforderlichen Segelmanöver zu vollführen, aber es mangelte uns an Männern, die mit Musketen und Tromblons auf dem Hauptdeck bereitstanden. Wir hatten auf jeder Schiffsseite ein Dutzend Culverinen, also insgesamt vierundzwanzig Siebzehnpfünder auf dem unteren Batteriedeck. Hinzu kamen die zwölf Drehbassen, so daß wir also über sechsunddreißig Kanonen verfügten. Das hört sich eindrucksvoll, ja, überwältigend an, aber in einem Gefecht wie diesem war es das durchaus nicht. Mehr Chancen hätten wir in einem reellen Seegefecht gegen Galeonen, Karavellen und Karacken gehabt, denn so eine Schlacht verlief nach anderen Regeln. Hier aber waren die Prahos: Beinah winzig im Vergleich zur „King Charles“, schossen sie von allen Seiten heran. Sie waren so schnell, daß wir sie nicht abhängen konnten. Ja, sie waren sogar dazu imstande, uns zu überholen und uns zu schneiden, denn ihre eigentümlichen Segel verliehen ihnen hervorragende Am-Wind-Eigenschaften. Es handelte sich um eine Mischung aus Lateiner- und Gaffelsegeln, die keiner ganz richtig zu definieren vermochte. Jedenfalls ging das Herumholen der Segel von einer Schiffsseite auf die andere und das Schiften der Taue mit einer solchen Geschwindigkeit vor sich, und die Prahos gehorchten so flink und gefügig jedem Manöver der Piraten, daß wir bei aller Wut und allem Entsetzen über den Angriff doch auch noch staunen mußten. Die Geschütze der malaiischen Freibeuter waren Drehbassen und Serpentinen, die sie bei früheren Kämpfen gegen europäische Schiffe erbeutet haben mochten. Alle anderen Kanonentypen, selbst DemiCulverinen, Minions und Falkons, wären noch zu groß und zu schwer für die zerbrechlich wirkenden Prahos gewesen, so daß die Kerle also
augenscheinlich aus voller Absicht darauf verzichtet hatten, ihre Fahrzeuge stärker zu armieren. An Geschützen waren sie uns also unterlegen – aber was nützte uns das? Die Backbordbatterie unserer „King Charles“ spuckte auf Mister McCoys Ruf hin die erste Hälfte ihrer Kugeln aus; es waren die vorderen sechs Geschütze, die losdonnerten, daß die Decks erbebten und der Hall in unseren Ohren dröhnte. Schwer wälzte sich der Feuerrauch über die See, und als er sich etwas verzog, mußten wir zu unserer Erschütterung feststellen, daß wir nur einen Prahos getroffen hatten. Ja, so war es: Die halbe Breitseite hatte zu hoch gelegen, die Piratenschiffe glitten einfach unter unserem Feuer hindurch. Sie schoben sich von achtern heran, gingen aber auch von vorn auf uns los, von beiden Seiten, um erst im buchstäblich letzten Augenblick dann herumzuschwenken und längsseits unserer Bordwände zu gehen. Das alles geschah unter dem ohrenbetäubenden Geschrei der wilden Kerle, unter dem Brüllen und Fluchen unserer Crew und dem Wummern der Geschütze. Damals wurde mir zum erstenmal richtig bewußt, warum sich die meisten Piraten kleinerer Schiffstypen bedienten, um fremde Segler anzugreifen. Manchmal hatten sie nur Schaluppen und Pinassen, aber damit brachten sie schier Unbegreifliches zustande, trauten sich an die größten und bestarmierten Segler heran und schafften es auch tatsächlich, diese aufzubringen. Das Entern war ihre Spezialität, immer legten sie es darauf an, rasch so nah wie möglich an ihre Opfer heranzugelangen. Dabei konnten sie einige Männer verlieren, denn bei allem Wagemut mußten sie doch immer damit rechnen, mit einem massiven Geschoßhagel empfangen zu werden, sobald sie an den Bordwänden hochzuklimmen versuchten. Doch viel größer waren die Verluste, wenn die Freibeuter sich auf ein Gefecht mit Geschützen einließen, denn dabei zogen sie meistens den Kürzeren. Sie legten es von vornherein darauf an, in einem zünftigen Handgemenge das gegnerische Deck freizufegen. So auch in dieser Nacht, bei der Attacke auf die „King Charles“. Ehe wir es uns versahen, hatten schon drei Prahos die Feuerbarriere durchdrungen und schoren bei uns längsseits, zwei an Backbord des Achterschiffes, der dritte Kahn an Steuerbord, etwas weiter vorn. Enterhaken flogen und klammerten sich am Schanzkleid unserer Galeone fest. Das Geschrei der Malaien gellte in unseren Ohren,
schien jetzt schon auf Deck zu sein. Entsetzt fuhren wir vier, also Jonny, Sails, Hamdullah und ich, herum. „Musketen und Tromblons'„ schrie Master Flanagan, der jetzt quer übers Quarterdeck zum Backbordschanzkleid stürmte und seinen Degen zückte. „Feuer frei auf diese Teufel!“ brüllte er noch, und zum erstenmal schien er seine kühle Abgeklärtheit und Distanz etwas verloren zu haben. Auf dem Hauptdeck ließen die Männer von den Culverinen ab, denn mit denen war jetzt nichts mehr gegen die Piraten auszurichten. Nicht einmal die zweite Hälfte der Backbordbatterie kam zum Einsatz, denn es galt, sich mit den Handfeuerwaffen gegen die Kerle zu wenden, die bereits mit dem Entern begonnen hatten. Die anderen, die noch weiter draußen mit ihren Prahos neben der „King Charles“ hersegelten, stellten in diesem Augenblick die weniger große Gefahr für uns dar. Noch ein viertes Seeräuberschiff ging längsseits, und schon flogen auch von dort aus die Enterhaken. Master Flanagan beugte sich übers Schanzkleid hinweg und kappte ein paar der gegnerischen Taue, so daß einige Kerle brüllend ins Wasser oder auf die Decks ihrer Prahos zurückstürzten, doch die kleinen Fahrzeuge blieben weiterhin an unserer Galeone kleben wie die Schiffshalter am Bauch eines Haies, und immer wieder packten die Enterhaken zu, schoben sich neue Gestalten an den Bordwänden empor. Kleine Hölle, Sails, Hamdullah und ich griffen uns die Langwaffen, die gleich neben den Drehbassen lagen; es waren zwei Musketen und zwei Tromblons. Jonny und ich hatten die Tromblons, auch Blunderbusses genannt, Sails und unser Moses packten die Musketen und rannten hinter uns her, den Niedergang hinab auf die Kuhl und dann ans Backbordschanzkleid, wo der heftigste Andrang der Freibeuter stattfand. Unserem Moses stand es eigentlich nicht zu, sich mit einer richtigen Flinte am Gefecht zu beteiligen, aber ich nahm das auf meine Kappe. Jedes Rohr mußte jetzt abgefeuert werden, und auch unser Hamdullah wurde zu einem vollwertigen Schützen, der die Waffe zu gebrauchen verstand. Heimlich hatte ich ihm nämlich beigebracht, wie man mit so einer Muskete, mit einer Blunderbüchse oder einer Pistole umging. Ohne Munition, das versteht sich, aber ich hatte ihm auch schon eingeschärft, daß er im Ernstfall den starken Rückstoß mit der Schulter abzufangen verstehen mußte.
Auf dem Batteriedeck steckten unsere Kameraden die Waffenläufe durch die Stückpforten ins Freie und drückten auf die wilden, halbnackten Kerle ab, die sie von dort aus sehen konnten. Es krachte und blaffte, die Mündungsblitze zuckten in kurzen Abständen voneinander auf, und Schwaden von Rauch stiegen außenbords auf und nebelten die Gestalten der Kerle ein, die schon höher heraufgeklommen waren. Spitze Schreie verkündeten uns, daß mehrere Piraten getroffen worden waren, aber auch auf dem Batteriedeck vernahmen wir gellende Schmerzenslaute. Mister Bunk, Mister McCoy, Mister Prescott und ein paar andere waren ganz in unserer Nähe, und wir eröffneten das Feuer, sobald die ersten Köpfe sich von außen über das Schanzkleid hinweg schoben. Ein schwarzmähniger Pirat, der ein Messer zwischen den Zähnen hatte und soeben seine Pistole über das Schanzkleid hinausstreckte, wollte auf Mister McCoy abdrücken, aber dieser kam ihm zuvor. Sein Musketenschuß raffte den Angreifer von der Handleiste weg, und wir hörten noch einen lang gezogenen Todesschrei, als er in die Tiefe stürzte. Ich sah gleich zwei Kerle rechts von mir auftauchen und fuhr zu ihnen herum. Auge um Auge, Zahn um Zahn ging es jetzt, wie Zebulon Prescott es in seinen Bibelzitaten verkündete, und ich zögerte nicht, den Abzug meines Tromblons zu bedienen. Die Waffe brüllte los und ruckte in meinen Fäusten, und der Kolben rammte sich so schwer gegen meine Schulter, als habe mir jemand einen Tritt verpaßt. Eine weißliche Wolke stob hoch und gab mir den Blick frei auf die Piraten. Ich sah sie noch blutüberströmt weg sinken. Es war ein Anblick, den ich nicht vergessen werde, noch heute habe ich es vor Augen, wie gräßlich ihr Tod war. Ein Tromblon ist auf kurze Distanz eine gleichsam höllische Waffe, denn es hat eine trichterförmig erweiterte Mündung, und die Ladung besteht zumeist nicht aus einer Kugel, sondern aus gehacktem Blei, Eisen und Glas. Kid Holloway hatte mir mal gesagt, man könne mit so einem Ding halbe Schiffsdecks leerfegen, und ich begreife jetzt, daß er mir mit jener Behauptung keinen Bären aufgebunden hatte. Aber was nützen die besten Blunderbüchsen und Musketen, wenn eine Übermacht von Gegnern an Deck quillt? Schon setzten die anderen nach, schon krochen sie übers Schanzkleid hinweg, um uns den Garaus zu machen; wüste Kerle mit Kopftüchern und Ohrringen, mit schwarzen Bärten und weit aufgerissenen Mündern, aus denen das schreckliche Geheul drang.
Ich warf mein Tromblon einfach weg, denn es blieb ja keine Zeit, um es nachzuladen, und es war auch keiner da, der es für mich erledigen konnte, während ich mich ihnen entgegenwarf. Ich zog meine Pistole. Jonny schoß, und zwei oder drei Angreifer brachen schreiend zusammen. Sails drückte auch auf sie ab, und dann war Hamdullah an der Reihe, der es zu meinem wahren Stolz fertig brachte, einen der Malaien mit einem Loch im Kopf auf die Planken zu schicken. Mister Bunk, Mister Prescott und auch alle anderen von unserer Besatzung feuerten ihre Musketen und Tromblons leer, dann griffen auch sie zu den Pistolen. Wir schossen wieder gezielt, aber dann waren auch die Pistolen leer, und wir erkannten, daß wir auf verlorenem Posten kämpften. Immer mehr Piraten drängten nach, sprangen über die Leiber ihrer gefallenen Kumpane hinweg und drangen mit gezückten, hoch erhobenen Parangs und Krummdolchen auf uns ein. Ich zückte mein Messer, drehte es in der Hand so um, daß ich die Klinge zwischen den Fingern hielt und schleuderte es dann auf eine Weise, wie Mister Montesano sie mich gelehrt hatte. Er selbst war ein ausgezeichneter Messerkämpfer. Aber ich hätte noch sehr viel mehr Übung gebraucht, wie ich jetzt zu meinem Entsetzen feststellen sollte! Um gut zwei Handspannen flog meine Waffe an einem anrückenden Malaien vorbei und blieb im Schanzkleid stecken. Der Kerl lachte grell auf, tänzelte an Hamdullah und Sails vorbei und ließ seinen Parang vor meinem Gesicht hin- und herzischen. Ich dachte: Jetzt ist es aus mit dir. Ich wich zurück, aber er kam mir mit der gleichen Schnelligkeit nach und schnitt immer wieder mit der scharfen Klinge quer durch die Luft. Ich wußte, er machte sich einen Spaß daraus, mich hinzuhalten und erst quer übers Deck zu treiben, ehe er mir den Rest gab. Weder Jonny noch Sails, noch Hamdullah konnten mir helfen, und mein väterlicher Freund Mister Bunk schien weit von mir entfernt zu sein. Sie alle hatten selbst genug damit zu tun, sich die Kerle vom Leib zu halten. Ich war auf mich allein gestellt, und meine Lage war verzweifelt, denn ich hatte keine Waffe mehr. Plötzlich stieß ich mit dem Rücken gegen die Nagelbank hinter dem Großmast. Ich erkannte meine Chance, griff mit der Hand hinter mich und zog einen der Koffeynägel aus der Bank hervor. Schnell riß ich ihn hoch und wehrte somit den Krummsäbelhieb ab, der sonst tödlich für mich ausgefallen wäre. Die Klinge sauste durch die
Luft, sie sollte meinen Hals treffen. Jetzt aber hackte sie in den Belegnagel und schnitt eine beachtliche Kerbe hinein. Ich ließ den Belegnagel los, wirbelte herum, sprang hinter die Bank und sah, wie der Pirat wütend an seinem Parang herumzerrte, um ihn von dem Koffeynagel freizubekommen. Er schaffte es, und das Holz polterte auf die Planken – aber ich hatte Zeit genug, währenddessen zwei weitere Koffeynägel aus der Bank zu reißen. Wieder schob der Kerl sich auf mich zu und vollführte wilde Bewegungen mit seinem Parang. Jeder Streich war von einem Schrei begleitet. Mir schlug das Herz so heftig in der Brust, daß ich glaubte, es müsse mir zerspringen. Ich gestehe auch, daß mir die Knie gehörig schlotterten und daß ich Angst hatte, blanke, nackte Angst, die meine Bewegungen zu lähmen drohte. Dann aber bezwang ich mich selbst und schleuderte ihm einen der Koffeynägel entgegen. Er nahm den Kopf ein wenig zur Seite, und das Ding verfehlte ihn – aber er hatte nicht damit gerechnet, daß ich den nächsten Nagel gleich hinterher pfeffern würde. Diesmal hatte ich endlich Erfolg. Er kriegte das Holz genau gegen die linke Seite des Kopfes, und dann sank er auch schon zusammen. Nein, er streckte sich nicht lang auf dem Deck aus, das war wohl zuviel verlangt. Aber für eine Weile kauerte er wenigstens benommen da und starrte aus glasigen Augen vor sich hin. In diesem Moment hatte ich die Gelegenheit, ihn eingehend zu betrachten. Er war groß und muskelbepackt, sein Oberkörper war ganz unbekleidet bis auf einen Gurt, den er quer von der linken Schulter bis zur Hüfte hinab trug. In seinem Hosenbund steckte eine kostbare Radschloßpistole, die, wie ich vermutete, bereits leergefeuert war. Der Pirat hatte schulterlange schwarze Haare und einen schwarzen Schnurrbart, der ihm lang über die Mundwinkel nach unten hing. Aber das Markanteste an ihm war wohl das rote Tuch mit den schwarzen Streifen, das er sich um die Stirn gewunden hatte und dessen eines Ende wie eine Schärpe an seinem Oberkörper herunterhing. Für kurze Zeit stand ich wie erstarrt inmitten des Handgemenges, das rund um mich über das Hauptdeck bis zum Quarterdeck hinauf tobte. Ein anderer Freibeuter hätte mich leicht erledigen können, ich wäre in diesem Augenblick ein leichtes Ziel für ihn gewesen – aber, so absurd es klingt, im allgemeinen Durcheinander schien mich keiner so recht zu beachten.
Ich verlieh mir einen inneren Ruck und blickte mich um. Nicht weit von mir entfernt lag einer der ehemaligen Decksleute der „Leviathan“. Ich kann mich an seinen Namen jetzt, da ich dies niederschreibe, nicht mehr erinnern. Ich entsinne mich aber noch genau, daß er alle viere weit von sich streckte und daß er mit dem schweren Schiffshauer, den er noch in seiner rechten Hand hielt, weiß Gott nichts mehr anfangen konnte, denn er hatte ein Loch mitten in der Brust und war so tot, wie ein Mann nur tot sein konnte. Ich schüttelte mein Grauen ab und lief zu ihm. Bückte mich, riß den Griff des Schiffshauers aus seinen Fingern, richtete mich wieder auf und sah mich nach dem Malaien um. Der war fort, als hätte es ihn nie gegeben. Er mußte sehr schnell wieder in den vollen Besitz seiner fünf Sinne gelangt sein, hatte sich vom Deck erhoben und dann dem dichteren Schlachtgetümmel vor dem Backbordniedergang zum Quarterdeck zugewandt, um dort seine Spießgesellen zu unterstützen, die sich anschickten, das Quarter- und Achterdeck zu erstürmen. Ich wollte mich nun auch in diese Wuhling mischen, aber ich fuhr gerade noch rechtzeitig genug zur anderen Seite herum, um die Kerle zu sehen, die nun von der Steuerbordseite her auf die Kuhl kletterten. Sie stimmten schon ein wahres Siegesgeheul an, denn all unsere Abwehr konzentrierte sich auf die andere Schiffsseite, wo jeder Mann gebraucht wurde. Himmel, es war außer mir keiner da, der ihnen Einhalt gebieten konnte! Ich schäme mich nicht zuzugeben, daß ich plötzlich am ganzen Leib zitterte. Wie viele von ihnen konnte ich stoppen? Zwei? Drei? Es waren mindestens zwei Dutzend Kerle, die nun schon auf Deck standen, und weitere Leiber quollen über das Schanzkleid hinweg, wie eine wabernde Masse, wie ein einziges Ungeheuer, das einer gigantischen Qualle gleich das Oberdeck der „King Charles“ zu überfluten drohte. Ich schritt gegen sie vor und schwang meinen Schiffshauer, wie der Malaie mit dem roten Kopftuch vorher seinen Parang hatte kreisen lassen. Ich stieß die schlimmsten Verwünschungen aus, die mir einfielen, schrie, wie ich noch nie zuvor geschrien hatte, aber dies alles schien keinen großen Eindruck bei ihnen zu hinterlassen. Grölend und lachend rückten sie auf mich zu. Dann geschah etwas, was mir damals wie ein richtiges Wunder des Himmels erschien. Plötzlich schwang etwas drohend über meinen Kopf hinweg, etwas Schattenhaftes, Schemenartiges. Ich duckte mich sofort,
weil ich glaubte, einer der Feinde würde mir nun in den Nacken springen. Doch ich sollte meine Annahme gleich darauf revidieren. Es waren nämlich Pulaski und Dodds, die da an zwei Fallen über mich hinwegsetzten und sich mit ihren Leibern den Piraten entgegen warfen. Bei Beginn des Entermanövers der Piraten hatten sie vom Groß- und Vormars aus ihre Schußwaffen auf die Gegner leergefeuert. Dann war Pulaski, unser gutmütiger Glatzkopf, in die Fockwanten der Leeseite hinabgeturnt, hatte sich an einer Pardune festgeklammert und war bis in die Leehauptwanten weitergehangelt, um mit Samuel Dodds zusammen, der inzwischen hier angelangt war, einen mutigen Angriff auf die Malaien an der Steuerbordseite unseres Schiffes zu starten. Sie rammten ein paar Kerlen die Füße gegen die Brust und warfen sie um, ließen sich auf die Planken fallen, rissen ihre Cutlasses hoch und fochten fluchend los. Ich lief zu ihnen und leistete ihnen meinen Beistand, so gut ich irgend konnte. Pulaski kämpfte wie ein Berserker, und auch Dodds schlug sich hervorragend, das muß ich ihm lassen. Ich habe den spindeldürren Mann nie leiden können, das ist nun wohl hinlänglich bekannt, und auch er konnte mich nicht ausstehen, aber in diesen schrecklichen Augenblicken des Kampfes war die beiderseitige Animosität wie weggewischt. Er schlug sich für Pulaski und um seiner eigenen Haut willen, aber auch für mich. Ich meinerseits half ihm und dem Glatzkopf, denn ich brachte es fertig, einen Piraten niederzusäbeln, der ihnen in die Seite fallen wollte. Wir nahmen es wahrhaftig mit der ganzen Meute von mehr als zwei Dutzend Kerle auf, und solange wir uns den Rücken freizuhalten verstanden, hatten wir auch keinen schlechten Stand in dem Gefecht. Dann aber sah ich mich plötzlich von Malaien umzingelt. Der Schreck fuhr mir wieder kalt durch die Knochen, und ich hätte fast meinen Schiffshauer losgelassen, als ich sah, wie viele es waren, die nun auch von Backbord her gegen uns andrängten. Ich konnte nicht anders, ich mußte bis zum Schanzkleid hin ausweichen. Mit dem Rücken lehnte ich mich dagegen und zog den Schiffshauer mit aller Kraft von links nach rechts und andersherum durch die Luft, um keinen an mich heranzulassen. Aber ich wußte, daß jeden Augenblick hinter mir einer der Kerle aus den Prahos hochgeklettert kommen konnte. Dann war es endgültig aus mit mir, denn er konnte mich mit einem Parang oder Kris mühelos niederstechen oder mir einfach die Gurgel durchschneiden.
* Der liebe Gott schien mir so etwas wie eine Karenzzeit bis zum unabwendbaren Ende meines kurzen Lebens eingeräumt zu haben, denn – so sehr es mir auch in der Rückenhaut kribbelte – von hinten legte sich mir vorläufig noch keine Hand auf die Schulter, bohrte sich keine scharfe Klinge zwischen meine Rippen. Es mußten nun wohl alle Piraten aus den Prahos aufgeentert sein, und das war mein Glück. Doch die Gefahr, die mir von vorn nahte, war genauso drohend und unaufhaltsam. Sechs oder sieben Kerle hatte ich gegen mich. Sie warteten nur darauf, daß ich mir eine Blöße gab, um zustechen zu können. Dodds und Pulaski konnte ich jetzt nicht mehr sehen, die Malaien versperrten mir den Blick auf ihre Gestalten. Und was Mister Bunk, Mister McCoy, Jonny, Sails, Hamdullah, China-Harry, Kid Holloway und all die anderen betraf, so hatte ich den Eindruck, daß ihr Geschrei in dem ohrenbetäubenden Heulen der Piraten unterging, daß sie im Getümmel regelrecht untergegraben wurden – daß die Partie also für uns verloren und das Ende gekommen war. Vor mir blitzten die Klingen der Malaienwaffen, und ein paar Hiebe waren schon so nah, daß ich ihren Luftzug zu verspüren glaubte. Ich konnte mich nicht mehr halten. Meine Kraft ließ nach. Ein Schiffshauer war kein Degen, sondern ein Ding, so schwer wie ein Klotz, ich fühlte, daß ich nicht mehr lange damit in der Luft herumfuhrwerken konnte. Meine Deckung brach auf – gleich, jetzt gleich war es auch für mich soweit. Aber ich wollte nicht sterben! Und wenn es auch nichts mehr gab, das sich retten ließ, wenn die ganze Welt jetzt auch unterging und mit ihr die „King Charles“ samt ihrer tapferen Mannschaft. – Himmel noch mal, ich hatte meiner Mom doch insgeheim geschworen, daß ich eines Tages nach Bristol heimkehren würde, um zu sehen, was aus ihr geworden war, und um ihr zu zeigen, daß ihr Howard wohlauf und guter Dinge war! Ich hob mein rechtes Bein, legte es aufs Schanzkleid, klomm hoch, nahm den Schiffshauer in die linke Hand, griff mit rechts nach den Webeleinen der Hauptwanten, zog mich ganz empor und drosch dabei so wild auf meine Gegner ein, daß sie sich wenigstens für den Moment noch nicht vollends an mich heranwagten.
Ich traf sogar einen von ihnen in die Schulter, und das löste ein neues entsetzliches Geheul bei den Kerlen aus. Ich stand über ihnen und hatte die bessere Position, und für kurze Zeit sah es so aus, als könnte ich ihnen so was wie Respekt einflößen. Dann aber unternahmen sie einen Ausfall gegen mich. Urplötzlich sprangen sie vor. Die Parangs blinkten matt im Mondlicht, ihre Klingen hackten auf meine Beine und auf meine nackten Füße ein. Meine Todfeinde hatten beschlossen, dem Spielchen, das schon viel zu lange gedauert hatte, ein Ende zu bereiten. Ich wich ein Stück nach rechts aus, aber das nützte mir auch nichts. Sie rückten von allen Seiten auf mich zu und schnitten mir den Fluchtweg über die Handleiste des Schanzkleides sowohl nach vorn als auch nach achtern ab. Ich wehrte mich, so gut es eben noch ging, und versuchte in den Webeleinen der Großwanten aufzuentern. Doch auch das vereitelten sie mir, denn mit einemmal säbelten sie mit ihren Parangs und Krisen am Want herum. Ja, sie schnitten es wirklich ganz durch – und jäh schwang der obere Teil genau auf den Großmast zu, während die wenigen unteren Webeleinen, die noch mit den Rüsten verbunden waren, schlaff über das Schanzkleid sanken. Ich ließ im allerletzten Augenblick los, so daß ich nicht mit dem oberen Teil des Wants mitten in die grölende Horde hineingerissen wurde. Ich mußte jetzt aber armrudernd um mein Gleichgewicht kämpfen, drohte vornüberzukippen und doch noch zwischen ihnen zu landen. Sie johlten und lachten und versuchten wieder, meine Beine zu treffen. Mein Alptraum war Wirklichkeit geworden, wenigstens zu einem Teil. Ich war wie an einen Baum gefesselt, und ich konnte nichts mehr gegen sie unternehmen, war ihnen ausgeliefert. So nahm ich die letzte Möglichkeit war, die mir blieb. Ich brauchte nur einen langen Schritt rückwärts zu tun, um mich vor ihnen zu retten. Ich trat ins Leere, fiel vom Schanzkleid und sauste an den Großrüsten vorbei in die Tiefe. Es gelang mir, mich ein wenig zu drehen, die Beine nach oben zu strecken und den Kopf nach unten zu nehmen, und so tauchte ich in die schwarzen Fluten der Malakkastraße ein. Als das Naß klatschend über mir zusammenschlug, hielt ich den Schiffshauer immer noch in meiner Hand. Ich hätte ihn lieber losgelassen, um beide Arme für die Schwimmbewegungen frei zu haben, aber ich sagte mir auch, daß es gut war, wenn ich diese Waffe weiterhin bei mir behielt.
Noch lebte ich und war unverletzt, und ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich mein Dasein auch weiterhin verteidigen mußte. * Ich bewegte mich ein Stück unter Wasser voran und versuchte dabei, den Schiffshauer zwischen meine Zähne zu nehmen. Aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen, er war viel zu schwer dazu. Ich riskierte es, mir meine bislang noch untadelig gewachsenen Kauwerkzeuge zu ruinieren oder mir die Mundwinkel aufzuschneiden, denn der Widerstand des Wassers preßte noch zusätzlich gegen den großen Säbel und bewirkte, daß mir die Klinge immer tiefer in den Mund gedrückt wurde. Folglich schob ich mir die Waffe in den Hüftgurt. Ich mußte höllisch aufpassen, daß die Klinge mir nicht das Bein aufschlitzte, denn ich hatte ja keine Scheide für den Schiffshauer. Ich strampelte eine Weile unter Wasser herum, dann, als mir die Atemluft knapp wurde, ließ ich mich von der Auftriebskraft des Wassers mitnehmen und steckte meinen Kopf über die Oberfläche hinaus. Mit den Beinen trat ich energisch nach unten aus, so daß ich mich in dieser Lage halten konnte. Nicht weit von mir entfernt lag der Praho an der Bordwand der „King Charles“, von dem aus ein Teil der Piratenbande auf unser Deck geentert war. Ich preßte die Lippen zusammen, dachte kurz nach. Dann hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Nein, ich wollte kein Feigling sein und meine Kameraden von der „King Charles“ jetzt einfach im Stich lassen. In dieser Rolle wäre ich mir allzu erbärmlich vorgekommen. Ich wollte zurück an Bord meines Schiffes und erneut gegen die Malaien kämpfen. Vielleicht hatte ich diesmal sogar eine bessere Ausgangsposition, denn wahrscheinlich rechneten sie nicht damit, daß ein Junge wie ich den Mumm aufbrachte, an einem der Entertaue hochzuhangeln. Um jedoch aufentern zu können, mußte ich erst an Bord des Prahos klettern, anders ging es nicht. Ich schwamm also hin, tastete mich ein Stück an der Steuerbordseite entlang und fand eine niedrige Stelle, an der ich ohne weitere Hilfsmittel hochklimmen und mich an Bord ziehen konnte. Im nächsten Moment aber schrie ich vor Schreck auf. Über mir war eine Gestalt aufgetaucht. Förmlich hochgeschossen war sie hinter dem Schanzkleid des Piratenschiffes, und ich nehme heute
an, daß sie schon einige Zeit dort gelauert hatte. Ein großer, breitschultriger Kerl war das, der kaum Haare auf dem Kopf hatte, dafür aber einen dichten schwarzen Schnauzbart. Er hob seinen Parang und ließ ihn auf mich niedersausen, und dann vernahm ich außer seiner Stimme, die unverständliche Worte brüllte, auch noch die Stimme eines anderen, der jetzt vom Mitteldeck des Prahos herübergeeilt kam. O, wie unbedarft war ich doch damals noch! Natürlich hatten die Piraten Deckswachen auf ihren Schiffen zurückgelassen, und selbstverständlich hatten diese Männer auch meinen Sturz vom Schanzkleid der „King Charles“ mitverfolgt. Grinsend und hände reibend mußten sie auf mich gewartet haben, so stellte ich es mir jedenfalls vor. Jetzt machten sie sich einen Spaß daraus, mir einen gehörigen Schreck einzujagen und mich umzubringen. Ich ließ von der Bordwand ab. Der Schlag des Parangs ging ins Leere, und der Malaie quittierte dies mit einem heiseren Ausruf, der wohl eine üble Verwünschung war. Ich schwamm in Rückenlange, bewegte die Beine, wirbelte mit. meinen Füßen schäumendes Wasser auf. Ich brachte Abstand zwischen mich und den Prahos, aber wenn ich mir einbildete, die Seeräuber würden mich so einfach davonschwimmen lassen, hatte ich mich getäuscht. Der erste Kerl jumpte über das Schanzkleid hinweg, landete mit einem hallenden Klatscher im Wasser und schwamm hinter mir her. Der andere bewegte wild die Hände und rief seinem Kumpan etwas zu, was ich auch wieder nicht verstand. Es hörte sich an wie eine Anfeuerung. Der Pirat schwamm auf mich zu. Er schwamm bei weitem schneller als ich. Rein instinktiv tat ich das einzig Richtige: Ich zog mich wieder unter die Wasseroberfläche zurück. Auf einem Kampf mit ihm durfte ich mich nicht einlassen, ich würde dabei auf jeden Fall unterliegen. Meine Chance bestand darin, daß ich ein sehr guter Schwimmer war. Das hatte ich als kleiner Junge schon im Bristol-Kanal gelernt. Unter Wasser was es stockfinster. Ich nutzte das zu meinem Vorteil aus, tauchte vor dem Malaien weg und unter dem Heck des Prahos hindurch und stieß dann ohne Aufenthalt immer weiter vor, bis unter den Heckspiegel unserer Galeone. Hier schob ich mich ganz vorsichtig wieder hoch und schöpfte Luft. Ich gab mir Mühe, dabei nicht zu japsen, denn – obwohl von oben immer noch die Kampfgeräusche der Piraten und meiner Kameraden ertönten – jeder Laut von mir hätte den beiden Kerlen vom Prahos meinen jetzigen Aufenthaltsort verraten können.
Mein Verfolger schien an Bord des Prahos zurückgekehrt zu sein. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hörte, wie er mit seinem Kumpanen herumdebattierte. Ich suchte nach einer Möglichkeit, am Heck der „King Charles“ emporzuklimmen. Wenn ich mir viel Mühe gab, konnte ich vielleicht am Ruderblatt hochklettern, bis zum Rudersteven, und mich dann durchs Hennegat zwängen. Aber dieser Plan wurde auch wieder zerschlagen, denn der Praho löste sich jetzt zu meinem hellen Entsetzen von der Bordwand der Galeone, holte herum und näherte sich mir in einer engen Schleife. Ich mußte wieder tauchen. Fort, nichts wie fort! sagte ich mir immer wieder. Vom Ruder der „King Charles” hätten sie mich durch einen gut gezielten Schuß herunterholen können, also hatte es gar keinen Zweck, daß ich das Unternehmen überhaupt erst begann. Die Kerle waren zäh darauf aus, es mir zu besorgen, sie ließen nicht von mir ab. Ich erreichte die Backbordseite der „King Charles“ und drückte mich an den Prahos der Piraten entlang, die dort festgemacht hatten. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß die „King Charles“ nur noch ganz langsame Fahrt lief. Der Grund dafür konnte nur sein, daß jemand die Segel aufgegeit hatte – aber bei diesem Jemand handelte es sich gewiß nicht um meine Kameraden! Auch auf den Prahos, die ich jetzt vor mir hatte, erschienen die Gestalten von Bordwachen, und wieder wurde es brenzlig für mich. Sie begannen zu schreien und mit den Fingern auf mich zu deuten, als ich einmal kurz auftauchte, um Luft zu schnappen, und so gab ich jetzt auch den Schiffshauer auf, der mich nur behinderte, tauchte erneut unter und schwamm mit größerer Behändigkeit und Geschwindigkeit von den Piratenschiffen fort. Die anderen Prahos, die noch weiter von der „King Charles“ entfernt waren, jetzt jedoch auch alle heranstaffelten, nahmen bald an der Jagd auf mich teil, denn von Bord zu Bord schrien die Malaien sich offenbar zu, daß es einen Flüchtling gab, den man fassen mußte. Warum sie geradezu versessen darauf waren, mich zu erwischen, war mir nicht ganz klar. Ich konnte doch sowieso nichts mehr gegen sie unternehmen, konnte auch niemand zu Hilfe rufen, der es mit ihnen aufnahm. Warum ließen sie mich nicht entkommen? Es war eines der obersten Prinzipien ihres Anführers, keinen Gegner entweichen zu lassen, das sollte ich etwas später noch erfahren. Und bald sollte ich auch wissen, wer der Kopf dieser grausamen Bande war.
Als ich wieder hochkam, um Atem zu schöpfen, blickte ich kurz über meine rechte Schulter zur „King Charles“ zurück. Dort schien der Kampf auf Deck doch noch zu toben, es wurde gebrüllt und geflucht, und einmal krachte noch ein einzelner Pistolenschuß. Plötzlich sah ich eine Gestalt vom Schanzkleid der Kuhl in die Tiefe wirbeln. Ich verharrte einen Moment und beobachtete. Wer war der Mann? Mister Bunk etwa, Kid Holloway, Jonny oder einer meiner anderen Freunde? Nachdem er im Wasser gelandet und wieder aufgetaucht war, vernahm ich seine Stimme. „Hilfe!“ kreischte er. „Herbei, holt mich hier 'raus, ich ersaufe!“ Und ob ich ihn jetzt erkannte! Das war Daniel Hawkins, wie er leibte und lebte, und die Panik mußte ihm derart zusetzen, daß er in diesem Augenblick sogar vergaß, daß er schwimmen konnte. Eine andere Möglichkeit war, daß er verwundet war und sich deshalb nicht über Wasser halten konnte. Wie auch immer, er lenkte die Aufmerksamkeit der Piraten sofort voll auf sich, und zwei Prahos schoben sich auf ihn zu, um ihn zu übernehmen - oder um ihn sofort zwischen den Bordwänden der Schiffe zu zerquetschen, ihn unterzutauchen, bis er ertrank, oder ihn mit einem Parang zu töten. Hawkins' Geschrei verstummte plötzlich. Schlagartig trat eine geradezu gespenstische Stille ein, denn auch an Bord der „King Charles“ war der Gefechtslärm jetzt verebbt. Wie ein Schock traf mich die Erkenntnis, daß jetzt wohl alle Männer der Galeone umgekommen waren. Ich ging fast unter, schluckte Wasser und hustete, und am liebsten hätte ich geheult, denn ich dachte daran, daß ich jetzt Mister Bunk, Hamdullah, Kleine Hölle, Holloway, ChinaHarry und all die anderen, die ich ins Herz geschlossen hatte, nie mehr wiedersehen würde. Auch den Master und die anderen vom Achterdeck nicht - es war der furchtbarste Schlag für mich, den ich je erlitten hatte. Ich tauchte unter und kam wieder hoch, und dann sah ich, wie einige Prahos zu mir herübergesegelt kamen. Also nahmen die Piraten die Jagd nach mir wieder auf! Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, auch mir den Garaus zu machen, nur Hawkins hatte sie durch sein Überbordfallen für kurze Zeit von mir abgelenkt. Gott sei auch seiner armen Seele gnädig, dachte ich. Dann schwamm ich wieder, schwamm um mein Leben. Der Selbsterhaltungstrieb überwog in mir und siegte über meinen Schock, meinen Schmerz.
Ich geriet immer weiter von der „King Charles“ ab und stieß durch Zufall auf eine große Planke, die von einem der Prahos stammen mußte, den unsere Kugeln getroffen hatten. Daran klammerte ich mich nun fest, denn meine Kräfte drohten mich erneut zu verlassen. Eine Strömung erfaßte mich und die Planke und nahm mich mit in nördlicher Richtung, nach der Halbinsel Malakka hinüber also. Hinter mir waren die Prahos, deren Besatzungen unablässig nach mir weiterforschten. Aber die Nacht war mein großer Verbündeter. Die Dunkelheit schützte mich wie ein Tarnmantel, und das weißliche Licht des Mondes reichte nicht aus, um den Piraten meinen Kopf zu zeigen, der aus dem Wasser hervorragte. * Ich will mich nicht lange mit der Schilderung der Stunden aufhalten, die ich im Wasser verbrachte. Hilflos hing ich an meiner Planke, brachte mich manchmal durch Beinarbeit voran, setzte wieder aus, um frische Energien schöpfen zu können, hörte hinter meinem Rücken die leiser werdenden Rufe der Piraten. Das Wasser der Malakkastraße war angenehm warm, aber ich haßte es. wie ich dieses Land und alle Umstände, die zu dieser schrecklichen, blutigen Begebenheit geführt hatten, haßte. Ja, ich weinte auch um meine verlorenen Freunde und Kameraden, aber bald hörte ich doch damit auf, denn ein neuer entsetzlicher Gedanke war mir gekommen. Die Haie! Es gab sie hier wie auch anderswo in den tropischen und subtropischen Gebieten, mehr noch, diese Wasserregion sollte geradezu haiverseucht sein, wie China-Harry mir gesagt hatte. Wenn sie mich entdeckten, war ich verloren. Ich schlug mich mit diesen entnervenden Gedanken fast die ganze Nacht über herum und sagte mir sogar schon, daß es besser für mich gewesen wäre, wenn auch ich im Kampf gefallen wäre – bis dann etwas eintrat, womit ich absolut nicht gerechnet hatte. Meine Augen sahen es erst, als ich schon ganz dicht davor war. Wie eine schwarze Wand erhob sich der Dschungel vor mir, ein dichter Vorhang aus Mangroven und Lianen und anderen Gewächsen, deren Namen ich weiß Gott nicht kannte. Ich hatte Malakka erreicht, die Strömung hatte mich bis hierher getragen. Und jetzt, am frühen Morgen dieses verhängnisvollen 9. Juni 1630, stieg ich also aus dem flachen
Wasser vor dem Ufer, gab meine Planke auf und watete durch die Brandung an Land. Erschöpft ließ ich mich in ein Dickicht sinken. Ich dachte weder an Schlangen noch an Krokodile, auch nicht an die Moskitos und an all das andere winzige Viehzeug, das hier nisten mochte – ich wollte nur noch dasitzen und verschnaufen und nicht mehr an all das Gräßliche denken, das hinter mir lag. Darüber schlief ich ein. Ich erwachte durch die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht und meinen nackten Oberkörper kitzelten. Verwirrt richtete ich mich auf. Sofort kehrte die Erinnerung zurück; ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Gesicht und stieß einen trockenen Schluchzer aus. Hier saß ich nun – mutterseelenallein und von Gott und der Welt verlassen. So ähnlich war es damals auf der Insel der Kannibalen gewesen, aber da hatte es mich doch nicht so schlimm getroffen, denn ich war bald darauf wieder Mister Bunk, meinem besten Freund, begegnet. Aber jetzt war Mister Jeremias Bunk vermutlich tot. Von Piraten erstochen! In meinem Geist sah ich ihn reglos daliegen, und mir wurde bei diesem Gedanken so hundeübel, daß ich mich beinahe übergeben mußte. Mühsam erhob ich mich. Meine Bewegungen waren wie die eines alten Mannes. Ich stolperte eine Weile im flachen Wasser herum, schöpfte ein wenig Naß mit den Händen und wusch mir damit das Gesicht ab. Dann kehrte ich wieder ans Ufer zurück, wandte mich nach links, also nach Südosten, und wanderte der Sonne entgegen. Ohne ein Ziel zu haben, folgte ich dem Verlauf der Küste. Wohin wollte ich überhaupt? Ich blieb stehen, um darüber nachzugrübeln. Allmächtiger, durchfuhr es mich, bist du schon verrückt? Bist du ganz durchgedreht? Ich stand da, und es wirbelte und dröhnte mir im Schädel. Mir wurde so schwindlig, daß ich um ein Haar zu Boden stürzte. Mir war so entsetzlich elend zumute. Dann aber fielen mir zum Glück wieder jene Worte Mister Bunks ein, die mir schon öfter geholfen hatten. „Meistens ist alles nur halb so schlimm, wie es aussieht, Howard“, hatte er damals an Bord der „Black Devil“ zu mir gesagt. „Man darf sich nur niemals selber aufgeben, dann wird man mit allem fertig.“ Jawohl, dachte ich.
Ich gab mir einen heftigen Ruck, meine Gestalt straffte sich. Hölle und Teufel, Howard Bonty, sagte ich mir im stillen, du bist doch nun kein kleines Kind mehr, verdammt noch mal! Du bist vom Moses zum Decksmann aufgestiegen und hast dir ein Paar Seebeine wachsen lassen, die dir einen sicheren Stand verleihen sollen! Reiß dich gefälligst zusammen! Ein salzgewässertes Rauhbein würde dich glatt auslachen, wenn es dich in diesem Zustand hier sehen würde! Ich marschierte weiter und murmelte: „Eine Faktorei müßtest du finden, dann könntest du den Überfall auf die ,King Charles' melden und dafür sorgen, daß die Piraten gejagt und bestraft werden. Jawohl, eine Faktorei muß her, und zwar so schnell wie möglich!“ Aber herzaubern konnte ich sie auch nicht, und Malakka war ein Riesenland, in dem es von Forts, Faktoreien und Hilfsfaktoreien nicht gerade wimmelte. Und noch etwas: Hatte Mister Pickens mir denn nicht auch erzählt, daß es nur an der Südküste von Sumatra eine englische Hilfsfaktorei gab, die gerade im Aufbau war? Dies hier war Malakka und nicht Sumatra. Sumatra lag so weit von mir entfernt wie Irland von England, Das mußte ich mir erst einmal vor Augen halten. Noch einmal blieb ich ernüchtert stehen und blickte mich nach allen Seiten um. Glaubte ich denn wirklich, daß irgendwo an dieser versumpften, dschungelbewachsenen Flachküste gleich ein Kahlschlag auftauchen würde, auf dem hinter stattlichen Palisaden eckige Bauten aufragten – daß sich mir Tore öffneten, als hätte man nur darauf gewartet, mich begrüßen zu können? Dies alles war illusorisch. Aber wenn doch ein Wunder geschehen wäre und ich nach einigen Meilen Marsch plötzlich vor einem schützenden, gut befestigten und entsprechend armierten Fort gestanden hätte, dann wäre dieses – bei dem sagenhaften Glück, das ich hatte – bestimmt kein englisches, sondern ein holländisches oder spanischportugiesisches gewesen. Da wäre ich garantiert nicht mit offenen Armen empfangen worden, denn die Spanier und die Portugiesen waren unsere Feinde, und auch mit den Holländern war nicht gut Kirschen essen, denn sie betrachteten uns Briten als eine gefährliche Konkurrenz und bekämpften uns seit Jahren schon, wo sie konnten. Nur eines konnte mir in dem Fall helfen, nämlich daß ich wichtige Hinweise lieferte, aufgrund derer Englands Gegner die Piraten jagen und stellen konnten. Die malaiischen Freibeuter hatten gewiß auch den Portugiesen, Spaniern und Holländern schon gehörig zugesetzt, und darum konnte ich unter diesem Gesichtspunkt sozusagen ein gutes
Werk leisten. Denn in etwa war mir die Position, an der wir uns zur Zeit des nächtlichen Überfalls befunden hatten, bekannt. Ja, bestimmt waren alle europäischen Nationen, die hier in Malakka und in ganz Ostindien vertreten waren, höchst interessiert daran, die Freibeuter zu vernichten. Daran klammerte ich mich fest, wie ich es bei meinem unfreiwilligen Bad in der See mit der Planke getan hatte, und allein der Gedanke daran, daß die Piratenhorde vielleicht doch noch ihre gerechte Strafe kriegte, hielt mich aufrecht. Ich war der einzige Überlebende, der einzige Zeuge des Massakers, sagte ich mir. Nur ich konnte etwas tun, damit es eine Vergeltung für diese Bluttat gab. Entschlossen drang ich weiter vor. Ich strebte hart am Uferrand entlang und mußte mir meinen Weg durch Dickicht und Luftwurzeln bahnen, die nach meinen Beinen zu greifen schienen. Ich wäre froh gewesen, wenn ich doch noch meinen Schiffshauer gehabt hätte, denn damit hätte ich die pflanzlichen Hindernisse beseitigen können, statt immer wieder ins Wasser ausweichen zu müssen. Aber alles Wenn und Hätte half mir nicht weiter, ich mußte zusehen, daß ich so zurechtkam. Wohin das Auge blickte, reichte der Urwald bis ans Wasser heran, üppig und Feuchtigkeit ausschwitzend, und nirgends war auch nur ein schmaler Streifen Strand auszumachen. Ich war vielleicht eine Stunde oder auch schon länger vorangestolpert, da wandte ich meinen Blick glücklicherweise nach rechts und gewahrte an der Kimm, die eine undeutliche Linie zwischen Himmel und Wasser war, die Mastspitzen eines Schiffes. Ich erschrak und versteckte mich sofort im Dickicht. Meiner festen Überzeugung nach war der nahende Segler eher ein Feind als ein“ Freund – und damit sollte ich auch recht behalten. Er entpuppte sich beim Näher kommen als ein zweimastiger Praho. Also sind sie dir immer noch auf den Fersen, dachte ich entsetzt. Ja, ich glaubte in dem Schiff sogar eines von denen wieder zu erkennen, die uns in der Nacht zugesetzt hatten. Seine stark gelohten Segel blähten sich im Wind, es lag über Steuerbordbug und schob eine schaumgekrönte Bugwelle vor sich her, wie ich bald mit bloßem Auge erkennen konnte. Die Haie hatte mich während der Nacht gnädigerweise verschont – aber jetzt nahten wieder die schlimmeren, die zweibeinigen Mörderhaie, die grimmig nach mir fahndeten, um mich doch noch umzubringen.
Ich sah es schon bildhaft vor mir, wie sie mich auf ihr Schiffsdeck zerrten und mir dort den Kopf abschlugen. Hatte China-Harry das nicht prophezeit? Ja, er hatte es von Anfang an gesagt, seitdem wir die Küste von Sumatra gesichtet hatten: Sie würden uns eine Falle legen und uns alle töten. Ich schüttelte mich vor Grauen. Dann wandte ich mich ab und drang tiefer in den Urwald vor. Vielleicht ahnten die Piraten, daß ich ihnen auf indirekte Weise noch gefährlich werden konnte, daß ich Helfer fand, die ihnen nachstellen würden. Also mußten sie mich erwischen, und ihr Anführer hatte wohl eine Art Patrouille losgeschickt, die mich aufstöbern sollte. Sie würden die ganze Küste absuchen, denn sie ahnten wohl, daß die Strömung mich bis hierher befördert hatte. Die Planke fiel mir ein. Mein Gott – es war zu spät, sie aus dem Wasser zu holen! Wenn die Kerle sie fanden, hatte ich eben wieder verdammtes Pech gehabt. Sie würden sich schon den richtigen Reim darauf machen, daß da ein Stück Holz von einem ihrer angeschossenen Schiffe vor dem Urwald von Malakka herumtrieb, aber, Teufel noch mal, ich konnte es nicht mehr ändern. Ich preßte die Lippen fest zusammen und biß die Zähne aufeinander. Mit den Händen schob ich das dichte Gestrüpp vor mir auseinander, zwängte mich hindurch, stolperte auch einmal und kam der Länge nach zu Fall, rappelte mich aber gleich wieder auf und hastete weiter. Jetzt war ich also doch in dem Dschungel gelandet, den ich um keinen Preis der Welt allein hatte betreten wollen, und ich hatte nicht einmal ein Messer, das ich als Buschhauer benutzen konnte, geschweige denn eine Waffe, die mir zu meiner Verteidigung diente. Ich war inmitten all der seltsamen und unheimlichen Geräusche, die dieser Wald hervorbrachte, sie fingen mich ein und schrillten mir in den Ohren. Da war das Keckern und Kreischen der Affen, das Krächzen und Zetern der Papageien, das Maunzen, Zischen, Schnattern und Grunzen anderen Getiers, und Wolken von Mücken und anderen Insekten empfingen mich und gaben mich nicht mehr frei. Ihr Summen vervollständigte das Konzert, aber dies war keine Begrüßungsmusik, sondern eine einzige Verachtung, der Hohn der Natur und gleichzeitig eine Warnung an mich. Wenn ich hier schon eingedrungen war, ohne darum gebeten worden zu sein, so sollte ich auch schleunigst wieder verschwinden, schienen mir die Tiere zuzuschreien. Ich war ohnehin schon schmutzig und zerschunden, aber jetzt bekam ich auch noch Insektenstiche ab und zerkratzte mir das Gesicht und
den Oberkörper an den Dornenranken, die mir entgegenpeitschten. Meine Verzweiflung wuchs. Lange konnte ich hier nicht bestehen, das wußte ich – doch ich wollte lieber hier sterben als von den Piraten gefangen genommen und umgebracht zu werden. Mit meinen vierzehn Jahren war ich zwar keineswegs feige, aber auch alles andere als ein Held. Die Gefahr, die hier körperlich zu spüren war, überwältigte mich fast. Der Gifthauch des Dschungels war allgegenwärtig, er lastete mit jedem Schritt, den ich tat, drückender auf mir. Menschenfeindlich und grausam war diese grüne Hölle, die Hölle von Malakka. Der Schweiß lief mir in Bächen den ganzen Körper herab. Ich taumelte. Mir wurde wieder schwindlig, und mir fielen auch wieder die Krankheiten ein, von denen Mister Montesano, unser Feldscher, mir berichtet hatte. Wie lange hatte ich noch zu leben? * Es muß um die Mittagsstunde herum gewesen sein, als ich plötzlich auf den Wasserlauf stieß. Breit und fast majestätisch unter den Bäumen und Büschen an seinen Ufern dehnte er sich vor mir aus, lehmigbraune Fluten wälzten sich dem Meer entgegen. In welcher Richtung ich nun genau gegangen war, wußte ich nicht mehr, ich hatte die Orientierung verloren. Ich stand erschöpft da und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht. Die brütende Mittagshitze zwang mich fast in die Knie. Es flimmerte mir vor den Augen, und wieder machten mir Schwindelgefühle und Übelkeit zu schaffen. Überqueren konnte ich den Fluß nicht. Ich hätte wahnsinnig sein müssen, um mich in seine Fluten zu trauen, aber der Irrsinn hatte mich doch noch nicht völlig gepackt. Ich dachte an die Krokodile und die anderen Bestien, die in den Sümpfen am Ufer lauern mochten, und trotz all der Hitze kroch mir wieder ein eisiger Schauer über den Rücken. Vorsichtig tastete ich mich am Ufer entlang, und zwar in der der Strömung entgegengesetzten Richtung. Irgendwann, so rechnete ich mir aus, würde der Fluß schmaler werden, vielleicht verschwand er auch irgendwo im Urwald, und es würde der Zeitpunkt kommen, an dem ich ihn überqueren konnte. Ich arbeitete mich mühselig voran. Meine Füße patschten durch Pfützen und drohten hier und da in dem morastigen Untergrund einzusinken. Ich sah dicke Schlangen, die gelassen ins Wasser glitten
und einmal auch ein Krokodil, das – einem Baumstamm ähnlicher als einem Lebewesen – nur einen Steinwurf entfernt vorbeitrieb. Der Ekel packte mich, und ich wünschte mir inständig, niemals der Preßgang der „Black Devil“ in die Hände gefallen zu sein, die mich aus Bristol verschleppt hatte. Gewiß, ich hatte seit jenem Tag schon Geschmack an der Seefahrt gefunden, aber das hier hatte mit Seefahrt nichts zu tun und war mehr, als ein Junge meines Alters ertragen konnte. Trotzdem hielt ich mich auf den Beinen. Nie zuvor. hatte ich so deutlich erfahren, wie groß der Lebenswille eines Menschen war und welche Widerstandskraft er aufbringen konnte. Am frühen Nachmittag gab es wieder eine üble Überraschung. Wie gut, daß ich mich so weit vorn Ufer des Flußlaufes entfernt hielt, daß ich jederzeit im Dickicht untertauchen und mich damit für jeden Beobachter unsichtbar machen konnte! Der Praho mit den zwei Masten war wieder da. Er segelte gegen die Strömung an, machte nur wenig Fahrt, war aber da, um mich weiterzuverfolgen und meinem ohnehin schon stark angekratzten seelischen Zustand von neuem zuzusetzen. Hörte das denn nie auf? Ich kauerte mich in das Gestrüpp der Mangroven und verfolgte durch eine winzige Lücke im Blattwerk, was weiter geschah. Der Praho glitt heran und war jetzt fast auf einer Höhe mit mir. Ich konnte schon die abenteuerlich wilden, bunt gekleideten Gestalten auf seinen Decks ausmachen. Angestrengt hielten sie nach allen Seiten Ausschau. Oben im Krähennest des Großmastes hockte ein halbnackter Kerl, der ein Spektiv zwischen den Fäusten hielt und pausenlos hindurchspähte. Ich bückte mich so tief, daß ich fast ganz im schwarzen Morast saß. Die Mangroven waren über mir und deckten meinen Leib zu. Niemand konnte mich hier entdecken. Der Praho der Piraten war vorbei, aber ich wagte mich aus meinem Versteck nicht hervor. Lieber wartete ich ab. Wenig später kehrte er zurück und fuhr zügig mit der Strömung an mir vorbei. Noch einmal stand ich Minuten der Angst durch, dann aber verschwand das Schiff hinter der nächsten Biegung des Flusses, und ich war wieder allein mit mir und der moskitoverseuchten Dschungelwelt. Ich erhob mich und atmete auf. Gefunden hatten die Kerle mich also nicht, und vielleicht gaben sie es jetzt ja auf. Irgendwann mußte auch ihre zähe Geduld vergehen. Ich setzte meinen ziellosen Marsch durch das Dickicht fort.
Einmal, in den späteren Nachmittagsstunden, kam mir der Gedanke, daß ich mir vielleicht ein Floß bauen sollte, um darauf über den Fluß hinwegzupaddeln. Aber ich verwarf diese Idee gleich wieder. Ohne Werkzeug war das ein Ding der Unmöglichkeit, ich vergeudete viel zu viele Energien, wenn ich Äste und Zweige mit den bloßen Händen losbrechen wollte, um sie dann mit Lianen zu einem primitiven Fahrzeug zusammenzubinden. Hätte ich noch meinen Schiffshauer gehabt, so hätte ich es zumindest versuchen können, so aber war es von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Und die Krokodile? Die hätten es in ihrer Gier nach Beute durchaus fertig gebracht, mich von dem Floß zu zerren. Bildete ich mir vielleicht ein, es mit ihnen aufnehmen zu können? Und überhaupt – warum wollte ich den Fluß eigentlich überqueren? Lag dort drüben, am anderen Ufer, vielleicht die Rettung vor allem Übel? War es von dort aus nicht mehr weit zu dem Fort oder der Faktorei, die aller Wahrscheinlichkeit nur in meiner Einbildung existierte? Mit verbissener Miene stapfte ich weiter voran. Wieder stieg Verzweiflung in mir auf, aber wenig später packte mich die Wut über mich selbst. Dreh nicht durch, hämmerte ich mir ein, gib doch jetzt nicht auf! Du bist den Piraten zum zweitenmal entkommen, ist das vielleicht nichts? Du bist unverletzt und bislang noch gesund, ist das kein Gewinn? Ich richtete mich innerlich wieder ein wenig auf. Ja, ich begann sogar eine Art grimmigen Vertrauens zu dem Dschungel zu fassen und ihn mit anderen Augen zu sehen. Bis hierher war ich gekommen, ohne behelligt worden zu sein. Vielleicht wollten die Hitze, der Morast und das Getier mich gar nicht umbringen, vielleicht hatte ich ja so was wie einen Schutzengel, der mich vor Schlangenbiß und Raubtierangriffen bewahrte. Ich folgte dem Verlauf des Flußufers, und als das Gewässer zusehends schmaler wurde und dann als winziger Bach ganz im Urwald verschwand, schöpfte ich ein bißchen Hoffnung, doch noch Herr meines Schicksals zu werden. Ich schritt durch sumpfiges Gelände, gelangte dann aber auf etwas trockeneren Boden und wußte, daß ich das Quellgebiet des Flusses hinter mir hatte. Ich war auf der anderen Seite, war nun fast gespannt darauf, was mich hier erwartete. Die Dämmerung kam, und gleich darauf fast übergangslos die Dunkelheit, die mir wieder all die dumpfen Fragen und düsteren
Trugbilder bescherte, die mich auch in der vorherigen Nacht gequält hatten. * Das Konzert der Urwaldtiere setzte für kurze Zeit aus, aber dann vernahm ich das Zirpen von Zikaden, das rasch anschwoll und sich mit dem Quietschen und Jaulen, dem Quaken und Grunzen, Keckern und Stöhnen der übrigen Dickichtbewohner vermischte. Große Augen schienen mich da und dort aus der Finsternis anzustarren, fragend und drohend zugleich, und manchmal hatte ich das Gefühl, daß sich aus dem Gestrüpp heraus Klauen nach mir ausstreckten, um mich festzuhalten. Die Furcht war wieder da, sie kroch mir über den Körper wie eine riesenhafte Spinne und drang in mein Inneres ein. Ich sah mich immer öfter nach allen Seiten um. Das Gesträuch lichtete sich ein wenig, und ich kam nun schneller voran, aber ich wußte in meinem Zustand der Angst und Beklemmung nicht, ob das wirklich ein Gewinn war. Ich taumelte weiter, obwohl ich müde war und mich nach Schlaf sehnte. Ich wollte nicht stehen bleiben, denn die Rast würde den Tod bringen, das spürte ich. Als ich schon eine ganze Zeitlang durch die Dunkelheit gewandert war, hörte ich hinter meinem Rücken ein bedrohliches Knacken – so, als ob jemand auf einen Zweig oder eine Wurzel getreten war. Ich warf einen Blick über meine Schulter zurück, konnte aber nichts erkennen, das Anlaß zur Panik gab. Dennoch beschleunigte ich meine Schritte. Kurze Zeit später vernahm ich zum erstenmal jenes unterschwellige Grollen, das alle anderen Laute verstummen ließ und meinen Herzschlag rasend beschleunigte. Ich mußte an mich halten, um nicht einen Schrei auszustoßen. Ich ahnte, wer der Urheber des unheimlichen Lautes war, aber ich wollte es noch nicht wahrhaben. Aber bei dem zweiten tiefen Grollen begann ich zu laufen und nach einem Baum Ausschau zu halten, auf den ich klettern konnte. Ich entdeckte ihn, umklammerte seinen Stamm mit beiden Händen und klomm daran hinauf, so schnell, wie ich in meinen schlimmsten Zeiten zur See nicht in den Wanten aufgeentert war, um die Segel zu setzen oder das Tuch zu bergen. Ich arbeitete mich so hoch hinauf, wie es mir möglich war, kauerte mich auf einen dicken Ast, der sich vor mir gabelte, und hielt den Atem an. Die Angst hatte mich hier
heraufbegleitet, sie war mein einziger treuer Partner, der mich nicht im Stich ließ. Unter mir war eine schwache Bewegung, aber ich hörte jetzt keine Geräusche mehr, kein verräterisches Knacken, kein Grollen, kein Schnauben oder Fauchen. Trotzdem wußte ich, daß er da war. Der Tiger. An Bord der „King Charles“ hatte ich die tollsten Geschichten über Begegnungen mit einem Tiger vernommen, und ich hatte sie alle für Hirngespinste gehalten wie viele der haarsträubenden Stories, die China-Harry, Kid Holloway oder auch Gofredo verbreiteten. Aber Mister Bunk hatte es mir bestätigt, daß es die große gestreifte Raubkatze in diesen Ländern Asiens gab, und von da an hatte ich es geglaubt und voll Respekt und unterdrückter Furcht den Erzählungen gelauscht. Der Tiger war der größte und gefährlichste aller Dschungelräuber, und viele Eingeborenenstämme, die im oder am Urwald lebten, hatten schon mit den sogenannten „Man-eatern“ zu tun bekommen, alten, verbitterten Einzelgängern, die auf Menschen losgingen und sie manchmal aus Hunger, manchmal aus reiner Mordlust rissen. Mit einem einzigen Hieb seiner riesigen krallenbewehrten Tatze konnte ein Tiger einem ausgewachsenem Mann einen Arm oder ein Bein vom Leib fetzen oder ihm den Körper von oben bis unten aufreißen. Ich zitterte und wäre beinahe von meinem Ast. gefallen, wenn ich mich nicht im letzten Moment mit beiden Händen festgeklammert. hätte. Unter mir glaubte ich einen Leib auszumachen; eine gestreifte Masse aus Muskeln und Fell, und dann war da wieder eine schwache Bewegung, und zwei gelbe, geschlitzte Lichter funkelten mich in der Dunkelheit an. Ja, ich war überzeugt und halte auch heute noch daran fest, daß der Tiger in diesem entsetzlichen Moment zu mir heraufschaute. Ich spürte meinen Herzschlag als jagenden Rhythmus in meinem ganzen Körper, und in meinem Kopf war ein Dröhnen wie von bronzenen Glocken. Ich betete zu Gott und versuchte, mich an Mister Prescotts schöne Bibelverse zu erinnern, die mir vielleicht die Erlösung von dem Grauen brachten, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich flehte auf meine einfache Art die himmlische Dreifaltigkeit an, sie möge mir um alles in der Welt beistehen. Wieder kam das furchterregende Gebrüll, das zeitweilig auch einem dumpfen Grollen glich. Es drang von unten bis zu mir herauf, schien den Boden erbeben und die Bäume und Büsche des Dschungels
erzittern zu lassen, und mir jagte es eine Gänsehaut über den ganzen Leib. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so da hockte und um Gnade flehte. Ich bin nur sicher, daß er mich länger als eine halbe Stunde belauerte und sich wohl überlegte, ob er zu mir heraufklettern sollte oder nicht. Ganz bestimmt konnte er mich die ganze Zeit über wittern, denn der Geruchssinn ist bei allen Katzen ganz besonders gut ausgeprägt. O ja, er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß ich hier oben saß und auf mein Ende wartete. Aber er rührte sich doch nicht vom Fleck. Blickte nur unausgesetzt zu mir herauf. Ich wagte es bald nicht mehr, zu ihm hinunterzuschauen, und so bemerkte ich wohl erst sehr viel später, als er schon seit einiger Zeit im Dickicht untergetaucht sein mußte, daß er nun doch verschwunden war. Ich schluckte heftig und stieß ein paar würgende Laute aus, kämpfte das nachträgliche Entsetzen nieder. Ich hatte wieder unerhörtes Glück gehabt, wie mit den Piraten – ganz so schlimm schien es mit meiner Pechsträhne also doch nicht zu sein. Aber vielleicht kehrte der Tiger zurück? Ich blieb mit all meinen furchtbaren Zweifeln und Ängsten auf der Astgabel hocken und richtete es mir so gemütlich ein, wie es irgend ging. Es gelang mir, mich mit dem Rücken gegen den Baumstamm zu lehnen, während ich die Beine ausbreitete und weit von mir streckte, um ausreichend Halt auf dem Ast zu erlangen und nicht in die Tiefe abzukippen. Meine Müdigkeit war größer als meine Furcht vor dem Tiger. Sie übermannte mich. Ich nickte ein. Aber ich sank mehr in einen Zustand traumdurchwebten Dahindämmerns, richtiger Schlaf war es nicht. * Ein Pfiff weckte mich. Ich fuhr sofort hoch, mußte im nächsten Augenblick aber um mein Gleichgewicht kämpfen, sonst wäre ich nun doch noch von meinem Hochsitz geglitten und höchst unsanft auf dem Waldboden gelandet. Ich nahm natürlich an, daß es Laut eines Urwaldvogels gewesen war, der mich aus meinen Alpträumen hochgescheucht hatte, aber das sollte sich gleich als Irrtum herausstellen.
Noch ein Pfiff ertönte – von der Art, wie ihn nur Menschen ausstoßen können, wenn sie sich nämlich zwei Finger in den Mund schieben und kräftig in die entstehende Lücke blasen. Entsetzt sah ich mich nach allen Seiten um. Ein Mensch – hier, in der Fieberhölle des Dschungels? Ich konnte es einfach nicht glauben. Das Morgengrauen schob sich mit streifigem Licht durch das Blätterdach, und so konnte ich die Gestalt ausmachen, die direkt unter mir am Stamm des Baumes stand. Wieder stockte mir der Atem, wieder glaubte ich an ein Unheil, denn dieser junge Mann dort, der zu mir heraufsah, war ein Eingeborener. Er trug nur einen Lendenschurz, war braunhäutig und schwarzhaarig und blickte mir aus Augen, die so schwarz waren wie die von Hamdullah, genau ins Gesicht. In seiner rechten Hand hielt er einen Bogen, und von seiner Hüfte hing ein Köcher mit Pfeilen herunter. Ein Pirat schien er nicht zu sein, aber ich dachte trotzdem: Gleich zückt er seinen Pfeil, legt damit auf dich an und holt dich von deinem Baum herunter. Was hatte ich denn sonst zu erwarten? Jetzt aber geschah das schier Unglaubliche. Er hob die linke Hand, winkte mir zu und lächelte. Was aber das Ungeheuerlichste an der ganzen Sache war: Er öffnete seinen breiten Mund und rief zu mir herauf: „Amigo — Freund!“ Dabei schlug er sich mit der linken Hand gegen die Brust. Ein halbnackter Malaie, der obendrein noch spanisch sprach, hier, mitten im Busch! Ich mußte es erst einmal verarbeiten, und ich wußte auch nicht, ob er es ehrlich meinte oder mich nur hereinlegen wollte. Deshalb blieb ich erst einmal hübsch vorsichtig an meinem Platz sitzen und überlegte krampfhaft, was nun zu tun sei. Aber ich hatte einen neuen Freund gefunden, ob ich es nun glauben wollte oder nicht. Er hieß Tihanu. * Er konnte nicht nur ein paar Brocken Spanisch, er beherrschte ansatzweise auch die holländische und die englische Sprache. In diesem und in anderen Punkten war er ein echtes Naturtalent. Bald hatte er mich davon überzeugt, daß er mir wirklich nichts zuleide tun
wollte, und ich kletterte also zu ihm hinunter, schüttelte die Hand, die er mir hinhielt, und sagte ihm meinen Namen. Ein paar spanische, portugiesische und holländische Vokabeln konnte ich auch, und so verständigten wir uns in einem grauenvollen Kauderwelsch aus drei, vier Sprachen und gestikulierten obendrein noch, wie es Mister Gofredo und Mister Montesano nicht besser vermocht hätten. Tihanu erfuhr, wie es mir ergangen war, und ich hörte mir seine Geschichte an. Er war in einem Fischerdorf aufgewachsen, das keine zehn Meilen entfernt gestanden hatte. Heute existierte es nicht mehr, denn die Piraten, die auch die „King Charles“ geentert hatten, hatten es vor vier oder fünf Jahren angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht. Tihanu war einer der wenigen gewesen, die in den Dschungel hatten fliehen können, alle anderen Bewohner des Dorfes, darunter auch seine Eltern und Brüder, waren getötet worden. Später war er von Holländern aufgegriffen und als Sklave auf eine Insel verschleppt worden, wo er in einer Faktorei hart arbeiten mußte. Aus dieser Zeit stammten seine Sprachkenntnisse. Die Holländer hatten einmal portugiesische und englische Gefangene bei sich eingesperrt, Schiffbrüchige, deren Galeonen bei einem schweren Sturm, der in der Malakkastraße getobt hatte, vernichtet worden waren. So erklärte es sich, warum Tihanu auch auf portugiesisch, spanisch und englisch radebrechen konnte, denn er hatte seinerzeit den Gefangenen das Essen bringen müssen, und sie hatten versucht, sich mit ihm zu unterhalten. Als diese Männer eines Nachts aus der Faktorei ausgebrochen waren, hatte er sich ihnen angeschlossen und war im Dschungel untergetaucht, der für ihn wie ein zweites Zuhause war. Wenn ich ihn richtig verstand, lebte er jetzt schon seit über einem Jahr hier, ernährte sich von dem, was ihm die Natur bot, und war ständig auf der Suche nach den Piraten, die damals so grausam in seinem Dorf gewütet hatten. Ich beschrieb ihm den Kerl, mit dem ich mir an Bord der „King Charles“ den kurzen Zweikampf geliefert hatte, und Tihanus Züge veränderten sich. Sie wurden hart, wie aus Stein gemeißelt. „Dabro Sli“, sagte er. „Dabro Sli?“ wiederholte ich. „Heißt er so?“ „Ja. Ist Cabeza, der Kopf, Chief von ganzes Bande, du verstehst?“ „Ich verstehe“, murmelte ich. „Mein Gott, dann habe ich mich also mit dem Anführer herumgeschlagen, ohne es zu wissen.“
„Dabro Sli — Asesino“, zischte Tihanu. „Mörder meiner Eltern und meiner Brüder.“ Ich war erschüttert. Während Tihanu mich jetzt mit sich fortzog und mich durch den Dschungel führte — auf Pfaden, von deren Vorhandensein ich nicht einmal etwas geahnt hatte —, gab er mir einen hastigen, stockenden Bericht von all dem, was Dabro Sli und dessen malaiische Seeräuberbande in den vergangenen Jahren an Verbrechen begangen hatten. Eines Tages hatten sie sich zusammengerottet, und so war aus kleinen, unbedeutenden Grüppchen eine wirklich gefährliche Meute von Schnapphähnen und Galgenstricken geworden, die vor nichts zurückschreckte. Diese Kerle kaperten nicht nur Schiffe, die die Malakkastraße durchsegelten und weiter hinauf ins Südchinesische Meer und in den Golf von Siam fuhren, sie überfielen auch die Siedlungen der Eingeborenen, plünderten sie, vergewaltigten Mädchen und Frauen und löschten danach alles Leben aus und brannten die Dörfer nieder. So raubten und brandschatzten sie nun seit drei oder vier Jahren, wie ich herausbekam, und zwar die ganze Malakkastraße entlang zwischen Sumatra und der Halbinsel Malakka. Weder die Spanier und Portugiesen noch die Holländer, Franzosen oder Engländer, die Atjehs und Bataks von Sumatra oder die Malaien hatten es bisher fertig gebracht, diese gefährliche Bande, die über insgesamt zwei Dutzend Prahos verfügte, zu stellen und zu besiegen. Tihanus Haß gegen Dabro Sli und dessen Horde kannte keine Grenzen. Er blieb stehen, drehte sich zu mir um und sagte: „How-ard, Freund – wir müssen rächen, du deine Leute, ich die meinen. I know, ich weiß, wo Refugio, Versteck der Bande.“ Ich hob meine Augenbrauen. „Wirklich?“ „Du mit mir – dorthin?“ „Natürlich“, sagte ich entschlossen, aber plötzlich hielt ich ihn am Arm fest und blickte mich nach allen Seiten um, weil ich wieder ein unheimliches Knacken vernommen hatte. „Tihanu“, flüsterte ich. „Der Tiger! Er war heute nacht da, und jetzt kommt er wieder. Er hat mich belauert. Verstehst du, was ich sage?“ „Yes, si, ja, amigo“, versetzte er, doch er lächelte dabei. „Tihanu schlauer als der Tiger. Komm.“ Wir liefen, er voran und ich hinter ihm her, und ich weiß beim besten Willen nicht mehr, in welche Himmelsrichtungen uns die Pfade führten, die er kreuz und quer in dieser Dschungelregion angelegt hatte und nun benutzte. Ich glaubte, in einem Irrgarten zu sein.
Endlich erreichten wir eine winzige Lichtung, von deren Zentrum sich ein gewaltiger Baum mit ausladenden Ästen und riesiger Krone erhob. Ich ließ meine Blicke daran emporwandern und gewahrte eine Art Hütte aus Laub und Zweigen, die geschickt in einer Gabelung von Ästen errichtet worden war. Tihanu lachte. „Mein Haus. My home. Komm, Howard. Komm!“ Wir kletterten hinauf, und er zeigte mir, wie er die Strickleiter, die er selbst gebastelt hatte, aufrollte und barg. So verwandelte sich seine Behausung in eine kleine Festung, von der aus er jeden Verfolger, der heraufzuklimmen trachtete, durch einen Pfeilschuß erledigen konnte. Und der Tiger? Nun, Tihanu hatte den ganzen Baumstamm mit dem Extrakt einer Urwaldpflanze eingerieben, deren Geruch die Raubkatze verscheuchte. Wer dies liest, wird wahrscheinlich glauben, daß ich jetzt ein Märchen erzähle und auch schon anfange, Seemannsgarn zu spinnen. Aber es ist wahr: Der Tiger haßte und mied die üblen Düfte dieser Pflanze wie die Pest. Tihanu gab mir ein Messer aus Hartholz und eine Keule als Waffen, dann steckte auch er sich ein Messer zu und schob so viele Pfeile in seinen Köcher, wie hineinpaßten. Anschließend verließen wir die Baumwohnung gleich wieder, und erneut liefen wir quer durch den Dschungel – bis wir an einen Wasserlauf gerieten. Hier lag sorgsam mit Zweigen und Blättern getarnt ein Einbaum. Tihanu bedeutete mir, mich hineinzusetzen. Ich befolgte seine Aufforderung, hielt aber die ganze Zeit über, während er die Leine löste und zu mir ins Boot kletterte, die Augen nach den Krokodilen offen. Plötzlich entdeckte ich eines: Es ließ sich aus dem Uferdickicht ins Wasser gleiten und paddelte mit seinen kurzen Beinen auf uns zu. „Tihanu“, sagte ich entsetzt. Der junge Malaie – er war nach meinen Schätzungen zwei, höchstens drei Jahre älter als ich – richtete sich hoch auf und schaute in die Richtung, die ich ihm mit meinem Finger wies. Tihanu holte mit erstaunlicher Schnelligkeit einen Pfeil aus seinem Köcher hervor, legte ihn mit seinem Ende an die Bogensehne, hob den Bogen, zielte kurz und ließ den Pfeil dann abschwirren. Die Spitze des Pfeils bohrte sich in den Rücken der Echse. Töten konnte er sie nicht, aber er bereitete ihr wohl doch zumindest einige Schmerzen. Das Krokodil öffnete seinen Rachen, gab einen grunzenden Laut von sich, machte dann kehrt und verschwand dort, wo es sich vorher versteckt gehalten hatte.
Ich atmete auf und griff zu einem der zwei Paddel, die auf dem Boden des Einbaums lagen. Tihanu kannte sich im Dschungel aus und wußte seinen Gefahren zu trotzen. Wen er nicht bekämpfen konnte, dem wich er aus; er riskierte nicht zu viel, handelte aber schnell und entschlossen, wenn es darauf ankam. Nur so konnte man in dieser grünen Hölle überleben. Der Fluß war nicht so breit wie der erste, an den ich am Vortag geraten war, doch die Strömung war in seiner Mitte so stark, daß wir die Paddel nur noch zum Steuern unseres einfachen Gefährts zu benutzen brauchten. Ich drehte mich zu meinem neuen Freund um. Wie er mich überhaupt gefunden hatte, hatte ich ihn nicht gefragt, aber das erübrigte sich auch wohl. Bestimmt hatte er mich schon eine ganze Weile beobachtet, ehe er dann am frühen Morgen dieses Tages beschlossen hatte, mich offen anzusprechen. Seine Empfindungen mußten ihm suggeriert haben, daß ich kein Feind für ihn sein konnte. „Tihanu“, fragte ich ihn jetzt. „Wohin fahren wir?“ „Zu Dabro Sli“, erwiderte er, und wieder verhärteten sich seine Züge. „Aber – was können wir beide schon ausrichten?“ „Tihanu allein wenig – wir zwei schon mucho, much, viel mehr“, radebrechte er. „Tihanu – es sind zweihundert Piraten oder noch mehr.“ „Ja. Hab keine Angst.“ Die hatte ich zwar, aber ich verschwieg es ihm. Nur gab ich ihm zu bedenken: „Wenn wir Pech haben und sie uns gleich erwischen, wer soll dann noch für Vergeltung sorgen? Können wir denn keine Hilfe holen, Verstärkung, von irgendwoher?“ Er schüttelte nur den Kopf. „Wie steht es mit den Malaien, deinen Landsleuten aus den Fischerdörfern in der Nähe?” Er lächelte freudlos. „Nächstes Dorf zu weit entfernt – achtzig Milos, Meilen. Leute auch Angst haben. Viel Angst vor Dabro Sli. Keine Hilfe für uns.“ „Und die holländische Faktorei, in der du gefangen warst?“ „Niemals!“ Er beschrieb eine abwehrende Gebärde. „Niemals dort zurück, ich nicht, How-ard!“ Er wurde richtig wütend, aber ich beschwichtigte ihn gleich wieder durch meine nächsten Worte. „Ich sage ja nicht, daß du mit den Holländern sprechen sollst. Du kannst dich irgendwo verstecken. Ich rede mit ihnen, mir werden sie
nichts tun, und dann laufen sie mit einem starken Schiffsverband aus und überraschen Dabro Sli und die Piraten in ihrem Versteck.“ „Nein“, sagte er. „Warum nicht?“ „Holländer mißtrauisch gegen Engländer wie du, How-ard. Glauben, du Spion. Glauben, eine Falle. Sie dich in Kerker schmeißen.“ Ich schwieg und dachte darüber nach. Eigentlich war es gar nicht so unlogisch, was Tihanu mir da auseinanderzusetzen versuchte. Und schließlich war er schon bei den Holländern gewesen und hatte seine üblen Erfahrungen gemacht. Was wurde denn aus mir, wenn sie mich wirklich gefangen nahmen und womöglich noch als Sklaven zum Arbeiten zwangen? Dann konnte ich es mir aus dem Kopf schlagen, jemals wieder mit den Piraten zusammenzutreffen und mich für das, was den Männern der „King Charles“ widerfahren war, zu rächen. Außerdem hatte ich mir ja geschworen, nie wieder in meinem Leben das Dasein eines Sklaven zu fristen. Ich hatte das schon hinter mir, Tihanu auch, und wir verstanden uns in diesem Punkt. Wir wurden uns auch in allen anderen Dingen einig, und bald verwarf ich den Gedanken, die Holländer um Hilfe zu ersuchen. Bei einem solchen Versuch hätte ich auch viel zuviel Zeit verloren, wie ich kurze Zeit später erfuhr. Unser Einbaum geriet in die Mündung des Flusses, und wenig später waren wir auf See und folgten dem Verlauf der Küste in östlicher Richtung. Tihanu gab mir zu verstehen, daß wir durch die Sümpfe weiter nach Norden hinauf müßten, er kannte den Weg. Er machte mich auch darauf aufmerksam, daß steuerbord von uns, also im Süden, eine große Insel lag, deren Ufer ich etwas später als dunkle Linie über dem Horizont erkennen konnte. „Singapur“, sagte er. „Nennt ihr die Insel so?“ fragte ich ihn. „Ja, meine Sprache. Sprache der Malaien.“ „Befindet sich auf Singapur die Faktorei der Holländer?“ „Ja. Aber an Südküste, Southern Coast – eine Tagesreise bis dorthin“, antwortete er mir. Ich gab meinen Plan, mit den Holländern ein Abkommen zu treffen nun vollends auf. Fleißig unterstützte ich Tihanu beim Paddeln, und so gelangten wir nach einiger Zeit wieder an eine Einkerbung in der dschungelüberwucherten Küste, die es uns gestattete, das Meer zu verlassen und wieder ins Landesinnere vorzudringen.
Ich hielt Ausschau nach den Prahos der Piraten, aber die tauchten vorläufig nicht wieder auf. Dabro Slis Männer hatten es wohl doch als aussichtsloses Unterfangen erkannt, hinter mir herzujagen. Der Zweimaster, den ich am Vortag gesichtet hatte, war mittlerweile bestimmt zu dem Verband zurückgekehrt, und die ganze Bande war jetzt auf der Reise in ihren Schlupfwinkel. So hoffte ich jedenfalls. Die Einkerbung entpuppte sich als eine richtige Bucht, die tief in den Urwald hinein verlief. An ihrem Ende gab es wiederum eine Flußmündung, und wir benutzten diesen Fluß, um weiter nach Norden vorzustoßen. Sungei Johore nannte Tihanu diesen Wasserlauf, und ich wiederholte den Namen so oft wie möglich, um ihn zu behalten und eines Tages aufschreiben zu können. Wir waren den ganzen Tag über unterwegs, aßen und tranken von dem bißchen Proviant, das Tihanu in einem Rohlederbeutel aus seiner Baumhütte mitgenommen hatte, und legten auch bei Dunkelwerden keine Rast ein. In der Nacht erreichten wir die Sümpfe, von denen Tihanu gesprochen hatte. Traumhaft sicher steuerte er den Einbaum hindurch, ohne daß wir auf Untiefen liefen und irgendwo im Morast stecken blieben. Es gab winzige Kanäle, die für ein normales Schiffsbeiboot schon zu schmal gewesen wären, durch die unser Einbaum aber mühelos hindurch glitt. Mit Krokodilen hatten wir in dieser Nacht keine Schwierigkeiten. Erst am nächsten Morgen schwamm wieder eines auf uns zu, doch Tihanu verscheuchte es mit einem Pfeil. Wieder erhob sich ein heißer Tag über Malakka, aber ich fing an, mich an die hohen Temperaturen und die stickige Feuchtigkeit zu gewöhnen. Ich gewann die Orientierung wieder, indem ich mich nach dem Stand der Sonne richtete. Wir paddelten jetzt in nordöstlicher Richtung die Sumpfkanäle hinauf, und meiner Berechnung nach mußten wir irgendwann die östliche Küste der Halbinsel erreichen. Auf der „King Charles“ hatte ich mal einen Blick auf eine Karte werfen dürfen, die Mister Pickens Mister Dexter und Mister Prescott gezeigt hatte, und daher konnte ich mich noch genau entsinnen, welche Form Malakka hatte. Ich war am südlichen Zipfel der Halbinsel gelandet, und diesem Zipfel vorgelagert war die Insel, die Tihanu Singapur nannte. Unsere Reise führte uns also tatsächlich an die östliche Seite der Peninsula, und zwar auf die Höhe, auf der auch die kleine Insel Pulau Sibu lag, wie ich später erfahren sollte. Das Versteck der Piraten hingegen lag am Ufer einer geschützten, gut hinter dschungelbewachsenen Landzungen verborgenen Bucht.
Es sollte Abend werden, ehe wir dort anlangten. Es war der 11. Juni 1630, ein Tag, der zunächst sehr eintönig verlief, dann aber in einem wahren Höllentanz enden sollte. * Dort, wo die Sümpfe endeten und es keine Möglichkeit mehr gab, mit dem Einbaum weiter voranzukommen, stiegen wir in der Dämmerung aus und vertäuten und tarnten unser Fahrzeug mit großter Sorgfalt. Dann schlichen wir durch den Urwald voran, stets auf der Hut vor überraschend auftauchenden Gegnern. Bis hierher war unser Unternehmen erstaunlich reibungslos verlaufen, aber wenn ich auch nur entfernt annahm, daß es so weitergehen würde, dann hatte ich mich getäuscht. Auf Tihanus Zeichen hin erkletterte ich mit ihm zusammen einen großen Baum, der mit seinem Wipfel etwas über das Blätterdach des Dschungels hinausragte. In der ausklingenden Abenddämmerung konnten wir von hier aus eben noch die Bucht erspähen, die sich schätzungsweise eine Meile von uns entfernt inmitten des Regenwaldes abzeichnete. Sie hatte die Form einer langen krummen Gurke, will ich mal sagen, oder – wenn sich das zu witzig anhört – einer Banane, und die Zufahrt zur See war so schmal, daß sich gerade ein großes Segelschiff hindurchmanövrieren konnte. Tihanu griff nach meinem Arm und drückte ihn fest. „Sieh doch“, raunte er mir zu. Ja, unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Mein Freund, der junge Malaie, hatte sich in der Lage des Schlupfwinkels nicht geirrt. Dies hier war das Lager von Dabro Sli und dessen Bande. Tihanu hatte, wie er mir erzählte, diese Entdeckung erst vor zwei Wochen gemacht, nachdem er monatelang ergebnislos im Dschungel umhergestreift war. Als er aber zum erstenmal hier an der Bucht umhergepirscht war, hatte nur ein Praho im Wasser vor Anker gelegen und nur ein paar Kerle hatten sich vor den flachen Mattenhütten herumgedrückt. Dabro Sli war nicht zugegen gewesen, sonst hätte Tihanu ihn durch einen Pfeil getötet. Dabro Sli hatte sich mit seiner Meute auf Raubzug befunden und nur ein paar Wachen an der Bucht zurückgelassen. Anders an diesem Abend: Sie waren alle da, dreiundzwanzig Prahos konnte ich in der Bucht zählen. Ein oder zwei fehlten, weil sie nach der
Schlacht gegen die „King Charles“ wohl gesunken waren, sonst wären es vollständige zwei Dutzend oder noch mehr gewesen. Aber jetzt das Unglaubliche: Mitten zwischen diesen Ein- und Zweimastern ankerte unser Schiff, die „King Charles“! Mir wurde bei diesem Anblick ganz weh ums Herz zumute, und am liebsten hätte ich laut losgeheult. Mit einer Prisenmannschaft hatten die Malaien die Galeone also besetzt und bis hierher gesegelt! Warum sie sie nicht versenkt hatten, war mir ein Rätsel. Ich grübelte nicht weiter darüber herum. Ich dachte nur noch, daß es eine bodenlose Dreistigkeit des Piratenführers war, seinen Schlupfwinkel hier, keine vier Tagesreisen von der holländischen Faktorei Singapur entfernt, einzurichten. Wahrscheinlich rechneten die Holländer wirklich nicht damit, daß er ihnen so dicht vor der Nase saß, und deshalb suchten sie in dieser Gegend auch gar nicht nach ihm. Aus diesem Grund durfte er sich völlig sicher fühlen und war bislang auch noch nicht aufgestöbert und angegriffen worden. Zwischen den Mattenhütten wurden jetzt kleine Feuer angezündet, und wir konnten das Lachen der Kerle vernehmen. Ja, sie waren sogar so frech, Lagerfeuer zu entfachen – so geborgen kamen sie sich hier vor. Und jetzt feierten sie wohl den Sieg über die Männer der „King Charles” und betranken sich – obwohl sie ja eigentlich mit dem Schiff und seiner Ladung keinen großen Fang gemacht hatten. Was sollten sie mit den Gewürzen schon anfangen? Nun, vielleicht hatten sie vor, die Galeone zu behalten oder irgendwo zu veräußern. Wir verließen unseren luftigen Aussichtsplatz und schlichen weiter – näher an das Lager der Bande heran, aus dem uns Lachen und Grölen entgegen klangen. * Wir kauerten rund zwanzig, dreißig Schritte von einer der Mattenhütten entfernt im dichtesten Gestrüpp und überlegten uns noch, was wir tun konnten, um an Dabro Sli heranzukommen und ihn als ersten zu töten, da geschah etwas, das den weiteren Verlauf der Dinge erheblich beeinflußte. Als erstes vernahmen wir den erstickten Schrei eines Mädchens. Dann drang das Johlen und Kichern von mehreren Männern an unsere Ohren, und die Laute kamen rasch näher. Wir duckten uns noch tiefer in das Dickicht und verhielten uns mucksmäuschenstill. Tihanu schuf
mit seinen Händen nur eine kleine Öffnung im Gesträuch, durch die wir alles beobachten konnten, was sich jetzt abspielte. Drei Piraten schleppten ein weißes Mädchen an uns vorbei, das sich mit Händen und Füßen wehrte, aber nicht die geringste Chance hatte, ihnen zu entkommen. Sie faßten sie hart an, und einer hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht schreien konnte. Sie war jung und hübsch, hatte lange schwarze Haare, soviel vermochte ich trotz der zunehmenden Dunkelheit zu erkennen. Ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf, aber er wurde noch nicht zur Gewißheit. Ich hatte auch keine Zeit, weiter nachzudenken, denn Tihanu zupfte mich an meinem Hosenbein und bedeutete mir, daß er ihre Verfolgung aufnehmen wollte. Wir pirschten den Kerlen und dem Mädchen also nach, wobei ich die größten Schwierigkeiten hatte, keine Geräusche zu verursachen. Tihanu bewegte sich mit der Gewandtheit eines Dschungeltieres voran, ich aber hatte kaum Erfahrungen auf dem Gebiet des Anschleichens. Doch die Piraten bemerkten uns trotzdem nicht. Sie waren sicher, nicht behelligt zu werden, machten selbst eine Menge Lärm und schienen mir überdies schon gehörig angetrunken zu sein. Wir waren dicht hinter ihnen, als sie das Mädchen auf eine kleine Lichtung zerrten und dort zu Boden stießen. Zwei der grinsenden Kerle hielten sie an den Armen und an den Beinen fest, der dritte kniete sich vor sie hin und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie trug außer der Bluse einen grobleinenen Rock, und auch an dessen Bund und Saum nestelte er nun schon herum. Auch mit meinen vierzehn Jahren wußte ich natürlich schon, was geschehen sollte. Ich wollte aufspringen und mich auf die Kerle stürzen, doch Tihanu gab mir wieder einen Wink. Ich sollte nach rechts ausweichen und einen kleinen Bogen schlagen, er kroch indes nach links und legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens. Das Mädchen wimmerte vor sich hin, während ihr einer der gemeinen Kerle immer noch den Mund zuhielt. Der dritte hatte ihre Bluse inzwischen soweit geöffnet, daß auch ich ihre festen hellen Brüste sehen konnte. Daß die Kerle sich an diesem Anblick weideten und anzüglich lachten und die Finger nach ihr ausstreckten, versetzte mich wieder in solche Wut, daß ich am liebsten sofort auf die Lichtung gerannt wäre. Aber Tihanu kannte die Regeln, die wir einhalten mußten, wenn wir im Kampf gegen dieses brutale Trio siegen wollten. Ich gehorchte also seiner Anweisung, robbte nach rechts ins Dickicht und wartete ab.
Ich dachte schon, die Schurken würden dem Mädchen auch noch den Rock ausziehen und ihr ernsthaft was zuleide tun, da zischte der erste Pfeil heran und traf den Piraten, der vor dem armen Mädchen kniete. Der Kerl warf die Arme hoch. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. Er stieß noch einen gurgelnden Laut aus, dann kippte er zur Seite weg und blieb reglos liegen. Zu diesem Zeitpunkt waren die anderen beiden bereits aufgesprungen und hatten ihre Parangs gezückt. Aber ehe sie begriffen, was sich hier tat, huschte schon der zweite Pfeil, von Tihanus Bogensehne geschnellt, über die Lichtung und grub sich dem zweiten Kerl in die Brust. Dann kam der dritte Pfeil – Tihanu war unvorstellbar schnell –, aber der dritte Pirat vollführte eine rasche Bewegung, so daß er nicht getroffen wurde. Jetzt aber stürmte ich aus dem Gebüsch auf ihn zu und hieb ihm meine Keule gegen den Kopf. Ich dachte, er würde gleich wegsacken und bewußtlos werden, aber da war ich mal wieder einem Irrtum erlegen, denn er schien eine Menge einstecken zu können. Er krümmte sich nur ein bißchen und stöhnte, aber im nächsten Moment zuckte sein Parang vor – auf meinen Unterleib zu. Das Mädchen schnellte vom Boden hoch und umklammerte mit einem blitzschnellen Griff, den ich ihr gar nicht zugetraut hätte, die Beine des Kerls. Dadurch geriet er ins Straucheln. Ich trat rasch zur Seite, entging dem Parangstich, knallte ihm nun noch einmal die Keule auf den Schädel und hoffte, daß er jetzt genug hatte. Aber er rollte sich auf dem Boden ab, riß sich von dem Mädchen los, rappelte sich wieder auf und zückte nun die Pistole, die in seinem Gürtel steckte. Er hob sie, spannte den Hahn und wollte schon auf mich abdrücken – da traf ihn der vierte Pfeil. Der Pirat sank zusammen, und er konnte keinen Schrei mehr ausstoßen, durch den er die anderen im Lager gewarnt hätte. Tihanu trat aus dem Dickicht hervor. Ich beugte mich zu dem Mädchen herab. „Sind Sie – Spanierin?“ fragte ich sie atemlos. „Ja“, keuchte sie. Mit fahrigen Bewegungen knöpfte sie ihre Bluse wieder zu. „Aber ich kann auch etwas Englisch. Wir können auf englisch sprechen. Du bist doch Engländer, oder?“ „Ja, aus Bristol. Ich meine ... wir von der ,King Charles'...“ Ich geriet ins Stottern und wußte nicht mehr weiter, was mir außerordentlich peinlich war.
Sie sagte: „Mein Name ist Juliana Rodriguez Martin.“ „Das habe ich mir gedacht“, entfuhr es mir. Jetzt fehlten ihr die Worte, und sie blickte mich überrascht an. „Wir haben die ,San Juan Nepomuceno' gefunden“, erklärte ich ihr. „Und das Logbuch von Don Pedro de Goyena.“ „Jetzt begreife ich“, murmelte sie. „Ich lag gefesselt an Bord von Dabro Slis Praho, als euer Schiff angegriffen wurde, Junge ... wie heißt du überhaupt?“ „Howard. Howard Bonty“, stammelte ich. „Gut, Howard. Ich konnte also fast jede Phase des Kampfes mitverfolgen, aber später hatte ich einfach keine Gelegenheit, mit deinen Kameraden zu sprechen, die mir sicherlich von eurer Begegnung mit der ,San Juan' berichtet hätten. Und mein Vater, Francisco Rodriguez Martin, hat sich mit ihnen auch noch nicht unterhalten können, seitdem wir hierher, in den Schlupfwinkel, geschafft worden sind. Mein Vater und ich, wir wurden nämlich in eine separate Hütte gesperrt.“ „Meine Kameraden“, stotterte ich. „Master Flanagan und all die anderen ... sie sind doch tot.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Viele von ihnen leben. Einige sind verwundet, aber nicht sehr schlimm. Warum? Nun, mein Vater hat es von Dabro Sli erfahren: Einige Piraten der Bande sind bei einem früheren Raid auf Java den Engländern in die Hände gefallen und sitzen noch heute als Gefangene dort. Als Dabro Sli nun merkte, daß er ein englisches Schiff aufgebracht hatte, legte er es sofort darauf an, die Besatzung als Geiseln zu nehmen. Er schlug sich bis zu eurem Kapitän durch, hielt ihn seinen Parang an die Gurgel und zwang dadurch die anderen, die Waffen fortzuwerfen und sich zu ergeben.“ So war der Kampf also ausgegangen! Nachdem Dabro Sli sich auf der „King Charles“ von mir abgewandt hatte, hatte er sich bis zum Quarterdeck vorgekämpft und dort schließlich unseren Master überwältigt! Zu dieser Zeit hatte ich mich längst im Wasser der Malakkastraße befunden und mich vor den den Piraten in den Prahos retten müssen. Herr im Himmel, dachte ich voll erfurcht und Dankbarkeit, ich danke dir, denn du hast mein Flehen erhört! *
Tihanu hatte sich davon überzeugt, daß von den drei Piraten keiner mehr am Leben war. Jetzt kam er zu uns gehuscht und sagte: „Rasch! Wir ihre Kleidung und ihre Waffen nehmen. Comprendido, verstanden?“ „Ja“, hauchte Juliana und ich. Wir verkleideten und also als Freibeuter, so gut es irgend ging. Das war keine sehr appetitliche, aber notwendige Angelegenheit. Das Zeug der Kerle war alles andere als sauber, doch ich sah es ein, daß wir nur so den Vorstoß in das Lager wagen durften. Wir nahmen ihre Pistolen, Parangs und Krise an und, dann zerrten wir ihre Leichen ins Gebüsch und versteckten sie dort. So begaben wir uns nun ins Versteck der Piraten, und Juliana, die bildhübsche Spanierin, gab uns alle erforderlichen Erklärungen. Ihr Vater war also in eine der Mattenhütten gesperrt worden. Meine Landsleute von der „King Charles“ hingegen hatte man allesamt in eine große Palisade gepfercht, die Dabro Sli offenbar in der weisen Voraussicht, daß er eines Tages mal Geiseln nehmen würde, hatte errichten lassen. Er wollte Master Flanagan und die anderen also gegen seine Kumpane, die in der englischen Faktorei von Java gefangensaßen, austauschen. Was Juliana betrifft, so fragte ich mich in diesem Moment, ob sie wohl vorher schon von den Piraten vergewaltigt worden war. Später sollte ich aber erfahren, daß das nicht der Fall gewesen war. Nicht etwa, weil die Kerle Rücksicht hatten walten lassen, sondern aus einem anderen Grund. Juliana hatte ihnen ein paar Anfälle von Fallsucht vorgetäuscht, und das hatte sie zutiefst erschreckt. Doktor Francisco Rodriguez Martin seinerseits hatte ihnen auseinandersetzen können, daß das Mädchen schwer krank und die Sache ansteckend sei, wenn man Juliana berührte. So hatten sie ihre Finger von ihr gelassen, hatten sie aber doch nicht getötet, weil Dabro Sli hoffte, sie ihre Schönheit wegen als Sklavin zu verkaufen. Doktor Rodriguez Martin hatte er auch verschont, aber nicht aus einem Anflug von Menschlichkeit heraus, sondern weil Rodriguez Martin sich ihm als Arzt zu erkennen gegeben hatte. Da Dabro Sli für einige seiner Männer, die am Wechselfieber erkrankt waren, einen „Wunderheiler“ suchte, glaubte er in dem Spanier den richtigen Mann gefunden zu haben. Natürlich konnte auch Doktor Rodriguez Martin nichts gegen das Wechselfieber ausrichten, aber er hatte durch die Behauptung,
zumindest sein leben um einige Tage verlängern und hatte bei seiner Tochter bleiben können. An diesem Abend jedoch hatten die drei Piraten, die ohnehin schon seit einiger Zeit an der vorgetäuschten Epilepsie des Mädchens zweifelten, Juliana einfach geschnappt und in den Dschungel entführt, ohne das Dabro Sli etwas davon gemerkt hatte. Sie hätten sie furchtbar zugerichtet, und ich bin noch heute unendlich dankbar dafür, daß wir es damals schafften, sie aus den Händen dieser wüsten Kerle zu befreien. Mister Bunk hatte also recht gehabt: Der Arzt und seine Tochter waren bei dem Massaker an Bord der „San Juan Nepomuceno“ doch nicht getötet worden. Dabro Sli, der mit den Gewürzen in den Frachträumen nichts anzufangen wußte, hatte sich doch zumindest von dem Verkauf des Mädchens und vielleicht auch ihres Vaters - als „Wunderheiler“ Profit versprochen. Soweit die Begleitumstände - aber nun zurück zu Endphase unseres Abenteuer, in die wir drei mit dem Mut der Verzweiflung einstiegen, und ganz sicher auch deshalb, weil es gar keine andere Möglichkeit für uns zu überleben, gab. * Wir gelangten bis an die hintere, dem Wald zugewandte Seite der Palisade, ohne von den Piraten aufgehalten zu werden. Die fühlten sich nach wie vor sicher und grölten bei Reiswein und Schnaps an den Lagerfeuern. Von dem Verschwinden ihrer drei Kumpane schienen sie noch nichts bemerkt zu haben, und das mußten wir ausnutzen. Von vorn konnten wir nicht an die Palisade heran, denn ihr einzigstes Tor lag genau dem Versammlungsplatz der Freibeuter zugewandt, so daß wir den Kerlen gleich in die Fänge gelaufen wären, wenn wir versucht hätten, das Tor aufzubringen. Nein, wir mußten es ganz anders beginnen. Tihanu säbelte mit dem Parang, den er erbeutet hatte, ein paar Lianen los. Ich half ihm, aus diesen Lianen Stricke zu drehen und sie zusammenzuknoten, wobei mir natürlich wieder meine Erfahrung als Seiler zugute kam. Juliana arbeitete auch mit, und so schafften wir es in relativ kurzer Zeit, ein richtiges Tau herzustellen, daß wir über die Palisadenwand hinweg ins Innere schleuderten. Wir hofften inständig, daß in der Palisade keine Wachtposten der Piraten aufgestellt sein mochte. Weiter setzen wir darauf, daß meine
Kameraden von der „King Charles“ die Liane entdecken und entsprechend handelten. Sie taten es - ein Ruck ging durch unser Tau, und ich wußte, daß sie es ergriffen hatten und festhielten. Tihanu nickte mir aufmunternd zu, und so kletterte ich mittels der Liane an der Außenseite der Palisade empor, schwang mich über die Oberkante hinweg und rutschte auf der anderen Seite zu Boden. Ich hatte fast aufgeschrien vor Freude: Kid Holloway, China-Harry, Kleine Hölle und Mister Bunk hatten sich mit vereinten Kräften an das untere Ende des Taues gehängt, obwohl sie an Händen und Füßen gefesselt waren. „Howard, Junge“, sagte Mister Bunk, und ich hörte ganz deutlich, wie seine Stimme dabei bebte. „Mit allem haben wir gerechnet, aber nicht damit, daß wir dich noch wiedersehen!“ Ich begann, mit meinem Beutekris an seinen Fesseln herumzusäbeln. Himmel, wie froh war ich, daß die Piraten meine Kameraden nur mit Hanfstricken verschnürt und nicht etwa in Ketten gelegt hatten! Gegen Ketten hätte ich nun weiß Gott nichts ausrichten können! Mister Bunk war frei und nahm aus meiner Hand den Parang entgegen, den ich einem der toten Malaien von der Lichtung abgenommen hatte. Während ich Jonnys, Harrys und Kids Fesseln durchtrennte, huschte er zu Master Flanagan und den Schiffsoffizieren hinüber, die mitten zwischen den Decksbauten auf dem Boden hockten und erwartungsvoll dreinschauten. Für Erklärungen meinerseits war jetzt nicht die Zeit, wir mußten uns höllisch beeilen. Ich hastete weiter, ein schmutziger, zersauster Bengel, der obendrein noch als Pirat kostümiert war und wohl auch ein wenig stank, und ich war eigentlich froh, daß ich Master Flanagan, Mister Anderson und Mister Pickens in diesem Zustand nicht so nahe kommen mußte. Ich kümmerte mich vielmehr um Sails, Blyss, Gofredo, Ivo Montesano, Costigan, Corcoran und Pulaski, ja sogar um meinen alten Freund Daniel Hawkins, den die Piraten doch nicht umgebracht, sondern auch dem Wasser gezogen hatten, als er außenbords geflogen war. Hawkins seinerseits bemühte sich nun um die Befreiung von Dodds, Lockjaw und Ellerton. Kein Wort des Dankes bekam ich von ihm zu hören, aber darauf legte ich auch keinen Wert. Jawohl, die ganze Mannschaft der „King Charles“ war noch vollständig bis auf zwei arme Teufel, die im Kampf den Tod gefunden hatten. Der eine war der gewesen, dem ich den Schiffshauer abgenommen hatte,
der andere war auch ein Ex-Decksmann der „Leviathan“ gewesen. Gott sei ihren Seelen gnädig und lasse sie in Frieden ruhen! Abgesehen davon, daß Pulaski eine Schnittwunde am rechten Oberarm hatte, daß unser Koch auf dem linken Bein ein bißchen humpelte und zwei, drei andere auch ein paar Schnitte und Stiche abgekriegt hatten, waren alle noch wohlauf. Als alle von ihren Fesseln befreit waren, durfte ich als erster wieder an die Außenseite der Palisade zurückkehren. Tihanu und Juliana betätigten sich dieses Mal als „Gegengewicht“. Sobald ich wieder bei ihnen war, hängte auch ich mich an das Lianentau, und als nächster erschien Mister Bunk oben auf der spitzen Kante des Holzzaunes. Nach ihm klommen Mister McCoy, Holloway, China-Harry, Jonny und ein paar andere Decksleute in die Freiheit, und dann kamen erst mal unser Kapitän und die Offiziere an die Reihe. Bald standen wir alle vor der Palisade, und ich konnte kurz erklären, welche Rolle Tihanu in dem ganzen Manöver gespielt hatte. Master Flanagan nickte meinem neuen Freund sogar zu, was für einen Mann seines Charakters und seiner Reserviertheit eine ganze Menge bedeutete. Juliana Rodriguez Martin wandte sich direkt an den Master, denn brauchte ja die Gesetze der Borddisziplin nicht zu achten, die es jedem Nicht-Offizier untersagten, den Kapitän überhaupt anzusprechen. „Sir“, sagte sie in ihrem fast fehlerfreien, jedoch stark akzentuierten Englisch. „Ich flehe Sie an - bitte befreien Sie jetzt meinen Vater. Wenn es nicht sofort geschieht, werden die Kerle als erstes ihn umbringen, sobald sie bemerken, was hier geschieht.“ „Wir untenehmen einen Blitzangriff auf das lager“, sagte Master Clifford Flanagan so ruhig, als redete er über die allgemeine Wetterlage. „Wir wissen, wo die Handfeuerwaffen sind, die die Piraten von uns erbeutet haben. Wir legen alles darauf an, diese Musketen und Tromblons in die Hände zu kriegen. Gleichzeitig dringt ein kleiner Stoßtrupp von hinten zu der Hütte vor, in der Doktor Rodriguez Martin gefangen gehalten wir. Wir schießen nieder, wen wir treffen können, brechen bis zum Ufer durch, besetzen ein paar Boote der Freibeuter und rudern zur „King Charles“ hinüber.“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. Mister Bunk wurde zum Führer des Stoßkommandos bestimmt. Ich trat neben ihn und sagte: „Mister Bunk, ich melde mich freiwillig zu Ihrer Gruppe.“ „Danke, Howard, ich nehme das Angebot an.“
„Ich auch mit“, sagte Tihanu und sah mich dabei bittend an. Ganz wohl war ihm inmitten all dieser englischen Gentleman und unserer beiden Italiener anscheinend doch nicht, er wünschte sich lieber in seinen Dschungel und zu seiner Baumhütte zurück, das sah ich ihm an. „Genehmigt“, sagte Mister Bunk und schüttelte dem tapferen Jungen die Hand. „Lassen Sie mich auch mitgehen“, raunte Juliana. „Ich muß zu meinem Vater. Bitte...“ „Genehmigt“, sagte Mister Bunk auch zu ihr und lächelte ihr dabei automatisch zu. * So setzte sich also unsere Gruppe zusammen. Mister Bunk, Tihanu, Juliana, Kleine Hölle, Kid Holloway und ich. Wir hatten drei Pistolen, drei Krise, drei Parangs, und eine Keule als Waffen. So huschten wir geduckt durchs Dickicht und näherten uns schließlich der Hütte, in der nach Julianas Angaben der Arzt festgehalten wurde, von achtern. Zur selben zeit pirschten Master Flanagan und die übrigen Männer der „King Charles“ mitten in das Lager hinein, um sich die Handfeuerwaffen zu greifen, die pyramidenförmig in der Nähe der Feuer aufgestellt waren. Auch Hamdullah, unser Moses, war bei ihnen. Ich hätte ihn lieber bei mir gehabt, um ein bißchen auf ihn aufzupassen, aber Mister Bunk hatte entschieden, daß er dieses Mal unter China-Harrys und Pulaskis Obhut bleiben sollte. Wir hatten Pech. Ein Wachposten - ein Klotz von einem Kerl mit zwei Pistolen und einem Messer in seinem Brustgürtel - trat um die hintere rechte Ecke der Mattenhütte herum, als wir uns gerade anschickten, mit den Parangs ein Loch in die Rückwand zu schneiden. Mister Bunk, Kleine Hölle und Kid tauschten ganz fix wieder im Dickicht unter, wie wir es für den Fall eines Falles verabredet hatten. Tihanu, Juliana und ich bleiben stehen, und Tihanu besaß die Kaltblütigkeit, auf den Piraten zuzutreten und dabei die Finger gegen die Lippen zu legen. Der Kerl blickte uns drei verwundert an. Im Dunkeln mußte er uns ja zumindest auf den ersten Blick für seine Kumpane halten. Mühe genug hatten wir uns mit unserer Maskerade gegeben. Tihanu war dicht genug an ihn heran, und ich sah jetzt nur noch den Kris in seiner Hand aufblinken - und dann ging alles sehr schnell. Tihanu schien dem Seeräuber plötzlich am Brustkasten festzukleben,
er umklammerte in fest und stach zweimal zu. Dann sank der Kerl unter ihm zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wir anderen verloren keine Zeit. Ich trennte die Rückwand der Hütte bereits mit meinem Beuteparang auf. Die Klinge ging durch das Schilfmattengeflecht hindurch wie durch das Gemüse, das ich als Moses bei Gofredo in der Kombüse hatte schneiden müssen. Ein rechteckiges Loch klaffte in der Wand, und ich stieg als erster ein, dann folgte Mister Bunk, und die anderen rückten nach. Draußen krachte der erste Schuß. Ein gellender Schrei ertönte. Ich hätte es vor mir selbst nicht beschwören können, aber ich glaubte fest daran, daß es der Todeslaut eines Malaien gewesen war, nicht der Schrei eines unserer Männer! Ich bückte mich nach der Gestalt des Mannes, der vor uns verkrümmt am Boden lag. Ein großer Mann mit breiten Schultern, eine stattliche Erscheinung mit markanten Zügen und einem schwarzen Vollbart Doktor Francisco Rodriguez Martin. Sie hatten auch ihn so verschnürt, daß er sich kaum noch rühren konnte. Aber mit meinem Kris hatte ich seine Hand- und Fußfesseln schnell aufgeschlitzt. Juliana stürzte zu ihm, kniete sich vor ihn hin, als er sich aufrichtete, und dann umarmten sie sich. Ich glaube, sie weinten wohl beide, und das konnte ich bestens verstehen. Vor dem offenen Hütteneingang war eine Regung. Einer der Wachposten steckte seinen Kopf herein, wohl, weil Dabro Sli ihm vom Lagerfeuer aus etwas zugerufen hatte. Tihanu handelte schneller als die anderen unseres Trupps. Er schoß über meinen Rücken einen Pfeil auf den Piraten ab, und dieser zog sich schreiend zurück. Als wir alle jetzt ins Freie drängten um zum Ufer der Bucht zu rennen, sahen wir ihn noch einmal. Er wälzte sich auf den Boden und preßte sich die Hände vors Gesicht. Ich sah Master Flanagan und die anderen von der „King Charles“ mit Musketen und Tromblons schießen und vordringen. Ich sah Piraten zusammenbrechen und in die Lagerfeuer stürzen, und überall war jetzt beißender Pulverrauch und Feuerqualm, der uns husten ließ. Ein gnadenloser Kampf tobte. Und diesmal ging es auch für uns um Kopf und Kragen, denn die Malaien bekamen von Dabro Sli bestimmt nicht Anweisung, unser Leben zu schonen. Die Hölle schien ihre Tore geöffnet zu haben. Master Flanagan, Mister Bunk, Kleine Hölle und Kid Holloway feuerten Pistolen ab, die wir ihnen überlassen hatten. Der Riese Zebulon Prescott trieb seine Gegner zu Paaren vor sich her, und er bot dabei einen so furchterregenden
Anblick, daß ich ihn nie in meinem Leben vergessen konnte. So fromm und gottesfürchtig er war, wenn es ums Kämpfen ging, dann hielt er es mit dem Alten Testament: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Wir stürmten voran, hieben und kämpften uns den Weg zu den Booten frei und schafften den Druchbruch. Wir hatten mit Master Flanagan und allen anderen zusammen fast die Beiboote der „King Charles“ erreicht, da tauchte hinter unseren Rücken plötzlich die Gestalt des schlimmsten aller Teufel auf. Wir fuhren herum und sahen ihn in voller Größe - Dabro Sli. Er brüllte wie besessen und schwang seinen Parang. Mit seinem Einsatz wollte er seinen Kerlen ein Beispiel liefern, sie sollten nachrücken und uns daran hindern, in die Boote zu steigen. Doch irgendetwas schien nicht zu klappen. Die Malaien zögerten, ihre Bewegung geriet ins Stocken. Sie waren zu schockiert über unseren völlig unerwarteten Angriff, mußten erst ihre Fassung wiedererlangen und sich auf dem Lagerplatz sammeln. Sie verloren Zeit. Dabro Sli stand mir am nächsten. Ich wich seinem ersten Paranghieb aus und begegnete dem zweiten mit meiner Beutewaffe. Die Klingen klirrten gegeneinander. Ich wußte, daß ich gegen ihn keine Chance hatte - er war der bessere Kämpfer, war mir an Kraft, Erfahrung und Ausdauer haushoch überlegen. Mit einem dritten Hieb gegen meinen Parang, der mit voller Wucht geführt war, schleuderte er mich zu Boden. Er hätte mir seinen Parang in den Leib gerammt, wenn er nicht durch die Pfeile aufgehalten worden wäre. In rasend schneller Folge ließ Tihanu sie von der Bogensehne sirren, traumhaft gewandt riß er Pfeil um Pfeil aus dem Köcher, legte an und schoß. Bei jedem Treffer stieß er einen Schrei des Hasses und der Vergeltung aus, und später erfuhr ich, was er in seiner Muttersprache gerufen hatte: „Für meine Mutter! Für meinen Vater! Für meine Brüder!“ Dabro Sli sank getroffen hintenüber und blieb auf dem schmalen Streifen Strand am Ufer der Bucht liegen. Wir kletterten in aller Hast in die Boote und setzten zur „King Charles“ über. Es ging nun alles rasend schnell. Wir gingen längstseits, enterten an der bereithängenden Jakobsleiter auf, rangen zwei Deckswachen der Bande nieder, die sich auf der Kuhl auf uns stürzten, und beförderten sie außenbords. Dann begab sich jeder auf seinen Posten, die Befehle gellten über Deck, und binnen kürzester Zeit war der Anker gelichtet und jede Gefechtsstation besetzt und klar zum Schuß. „Feuer!“ Master Flanagans Befehl schallte über die Bucht.
Die Backbordbatterie der „King Charles“ spuckte als erste ihre Ladung aus, denn unsere Galeone lag mit dem Vorschiff zur nordöstlichen Ausfahrt der Bucht hin versetzt und hatte ihre Backbordseite also dem Ufer zugewandt. Er jetzt setzte das wahre Inferno für die Piraten ein, denn Master Flanagan ließ ihre Hütten erbarmungslos zerschießen und gab das Feuer frei auf jeden Kerl, den er noch zwischen den Büschen hin- und herlaufen sah. Er manövrierte unseren Dreimaster sehr geschickt im tieferen Wasser der Bucht, ließ auch mit den Drehbassen feuern, und gleich darauf entbot auch die Steuerbordbatterie den Piraten unseren Eisengruß. Die Prahos ließ Master Flanagan durch Fackeln in Flammen setzen, und Tihanu beteiligte sich an den Feuerzauber, indem er Brandpfeile auf die Schiffe der Freibeuter abschoß. Die Bucht verwandelte sich in eine lodernde Hölle. Die überlebenden Piraten flohen kopflos in den Dschungel. Die „King Charles“ verließ die Bucht und ging auf neuen Kurs auf Kalimantan und die Straße von Karimata, noch in dieser Nacht. Sie gehörte jetzt wieder ihren rechtmäßigen Kapitän und der Ostindischen Company, und ihre Crew war wieder vollzählig an Bord versammelt bis auf die beiden armen Teufel, die bei der Schlacht in der Malakkastraße mit ihrem Leben bezahlt hatten. Tihanu ging querab der Insel Pulau Sibu von Bord. Er schwamm ans Ufer, nachdem er sich herzlich von uns verabschiedet hatte. Dort, auf der Insel, würde er sich nun einen neuen Einbaum bauen und damit in „seinen Dschungel“ zurückkehren. Seine Rache war vollzogen worden, aber er mußte achtgeben, nicht mit den Piraten zusammenzutreffen, die den Kampf überlebt hatten. Bald würden auch sie verschwunden sein, aber er tat gut daran, wenn er das Sumpfgebiet, in dem wir unseren Einbaum hatten liegen lassen, vorerst mied. Ich blickte ihm nach, wie er durch die Nacht davonschwamm. Hatte er denn keine Angst vor den Haien? Nein - und notfalls würde er auch den Kampf mit einem Hai aufnehmen. Tihanu fürchtete weder Tod noch Teufel, er war so, wie ich einmal werden wollte. In zwei oder drei Jahren, wenn ich so alt war wie er, hatte ich vielleicht dieselbe Courage wie er. Die Trennung von diesem neuen Freund fiel mir schwer, aber hinausschieben ließ sie sich nicht, das war mir bewußt. Jemand trat neben mich an die Backbordschanzkleid der Kuhl und legte mir eine Hand auf die Schulter. Zuerst dachte ich, es wäre wohl
Mister Bunk, aber den wandte ich den Kopf und stellte fest, daß Juliana aus dem Achterkastell zu mir herausgekommen war. Ihr Vater und sie hatten dort vorläufig von Master Flanagan eine Kammer zugewiesen bekommen. „Howard Bonty“, sagte sie. „Darf ich mich bei dir für meine Lebensrettung bedanken - so, wie man es bei mir zu Hause, in Spanien, tun würde?“ „Ich wüßte gar nicht, warum du dich ausgerechnet bei mir bedanken solltest“, antwortete ich verwirrt. „Soviel habe ich doch gar nicht...“ Sie unterbrach mich. Als erstes drückte sie mir einen Kuß auf die linke Wange, dann einen auf die rechte. Der dritte Kuß erreichte weich und warm meine Lippen. Verwirrt blieb ich zurück, als Juliana sich endlich von mir löste. Sie lächelte mir noch einmal zu, dann verschwand sie im Achterschiff. Mister Bunk, mein väterlicher Freund, trat auf mich zu. „Du solltest dich in einer halben Stunde bei Master Flanagan melden, Howard. Der Master hat sich über dein mutiges und umsichtiges Verhalten sehr anerkennend geäußert, und ich glaube, er will dir persönlich seine Anerkennung aussprechen. Ich stand wie erstarrt. Aber Mister Bunk lächelte mir nur noch einmal zu, dann ging er weiter in Richtung Back. Himmel! Der Master hatte mich zu sich befohlen. das war mir an Bord der „King Charles“ noch nie passiert, und ich spürte, wie mein Herz in der Brust wie wild zu schlagen begann. Aber was hatte ich denn eigentlich wirklich getan? Der Mann, dem das Lob Master Flanagans hätte gelten müssen, der befand sich nicht mehr an Bord. Tihanu mein malaiischer Freund, dem wir alle unsere Freiheit verdankten. Ich beschloß, dem Master das in Erinnerung zu rufen, denn nicht ich, sondern Tihanu gebührte der Dank der ganzen Crew der „King Charles“. Die Unterredung mit Master Flanagan sollte allerdings gänzlich anders verlaufen, als ich mir das in diesem Moment vorstellte. ENDE