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DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Während der junge Herrscher Bridei und sein...
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DAS BUCH Nordbritannien im 6. Jahrhundert nach Christus: Während der junge Herrscher Bridei und seine Feenfrau Tuala die Geschicke ihres Volkes lenken und einen Angriff gegen die gälischen Unterdrücker planen, soll die seit ihrer Kindheit am Hof von Fortriu gefangene Prinzessin Ana gegen ihren Willen an den Fürsten von Dornwald verheiratet werden. Doch schon Anas Weg in ihre neue Heimat hoch im Norden wird von dunklen Zeichen überschattet. Und auch ihr Beschützer, Brideis Leibwächter Faolan, ist nicht, was er zu sein scheint. Als Ana in Dornwald ankommt, stellt sich nicht nur heraus, dass ihr zukünftiger Bräutigam ein grausamer Tyrann ist, Ana und Faolan stoßen auf eine unglaubliche Verschwörung: der junge Piktenkönig soll verraten und ermordet werden. Als schließlich Krieg ausbricht, gerät Ana in einen schrecklichen Konflikt und sie muss sich entscheiden - zwischen ihrem Land und ihrer Liebe ... Nach »Die Königskinder« der atemberaubende zweite Roman der großen Saga um das geheimnisvolle Volk der Pikten und ihren größten König - ausgezeichnet als bester Roman mit dem renommierten Aurealis Award. DIE AUTORIN Juliet Marillier wurde in Dunedin, Neuseeland geboren. Bereits seit frühester Kindheit begeisterte sie sich für keltische Musik und irische Geschichten. Heute lebt die Mutter von vier erwachsenen Kindern mit ihrem Mann in Australien, in der Nähe von Perth. Seit ihrem ersten Roman, »Die Tochter der Wälder«, ein internationaler Bestseller, wird sie in einem Atemzug mit Marion Zimmer Bradley genannt. Heute zählt Juliet Marillier neben Elizabeth Haydon und Jennifer Fallon zu den neuen weiblichen Stars der Fantasy. Mehr über Autorin und Werk unter: www.julietmarillier.com
JULIET MARILLIER
Die Herrscher von Fortriu UNTER DEM NORDSTERN ZWEITER ROMAN Aus dem australischen Englisch von Regina Winter Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der Originalausgabe: BRIDEI CHRONICLES BOOK 2: BLADE OF FORTRIU Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Deutsche Erstausgabe 09/2006 Redaktion: Ralf Reiter Copyright © 2005 by Juliet Mariliier Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Andreas Hancock Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-52082-3 ISBN-13: 978-3-453-52082-0 http://www.heyne.de KAPITEL EINS Im Schatten eines zugigen Korridors unterhalb der Festung Dunadd in Dalriada trafen sich zwei Männer. Dieser Ort war weit entfernt von den Augen und Ohren des gälischen Hofs und für geheime Gespräche sehr geeignet. Die Informationen, die hier ausgetauscht wurden, waren gefährlich; in den falschen Händen konnten sie tödlich sein. Die Zukunft von Königreichen hing von ihnen ab. »Und, was hast du für mich?« Solche Gespräche hatten immer ein bestimmtes Muster, und der jüngere der beiden Männer, schlank, dunkelhaarig und mit verschlossener Miene, hielt sich mit der Mühelosigkeit langer Übung daran. »Einen Namen«, sagte der andere, ein hoch gewachsener Bursche im rostbraunen Hemd der Diener an König
Gabhrans Hof. »Bridei wird sich schnell in Bewegung setzen müssen, wenn er nicht von Norden und Süden her in die Zange genommen werden will.« »Erspar mir die Analyse«, knurrte der Dunkelhaarige. »Welcher Name?« »Und was bekomme ich dafür?« . Der dunkelhaarige Mann verzog den Mund zu einer schmalen Linie. »Du erhältst deine Informationen.« In dem darauf folgenden Schweigen sah sich der hoch gewachsene Mann noch einmal nach allen Seiten um. Es war -9still. Das Mondlicht, das schräg durch den weit entfernten Eingang fiel, gestattete den beiden nicht, einander genau zu sehen. In einem solchen Licht kann es schwierig sein zu wissen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt; es ist schwer zu sagen, ob man einem anderen vertrauen kann. Beide Männer waren Experten, was solche Einschätzungen anging, denn das ganze Leben eines Spions bestand aus kalkulierten Risiken. »Es geht um einen Fürsten der Caitt«, flüsterte der hoch gewachsene Mann schließlich. »Alpin von Dornwald. Er befehligt eine große Streitmacht. Der Bündnisvertrag könnte noch vor dem nächsten Frühjahr abgeschlossen werden, es sei denn, deine Leute unternehmen etwas dagegen.« Der dunkelhaarige Mann nickte. »Wer von den anderen Fürsten im Norden würde ihn unterstützen? Umbrig?« »Das glaube ich nicht. Aber sie sind verwandt. Alpin hat einen seiner Bastard-Söhne in Umbrigs Haushalt untergebracht. Ich weiß nicht, wie die anderen Fürsten zu ihm stehen. Es heißt, Alpin hat unter den Seinen sowohl Verbündete als auch Feinde.« »Ich verstehe.« »Dein König wäre gut beraten, sich schnell um Alpin zu kümmern«, sagte der hoch gewachsene Mann. »Du solltest bald mit ihm sprechen.« Die Miene des Dunkelhaarigen änderte sich nicht. »Ich bin wohl kaum in der Position, das zu veranlassen«, sagte er ruhig. »Ich verschaffe ihm nur Informationen. Ich bin kein Vertrauter des Königs.« »Da habe ich anderes gehört.« »Dann hat man dich falsch informiert«, stellte sein Gegenüber fest. »Und jetzt sag mir, was du hast.« Der Blick des Dunkelhaarigen war kälter geworden. »Gabhran sollte einen Blick auf seine östlichen Verteidigungsanlagen werfen«, sagte er. »Falls diese Sache mit den Caitt ihn - 10 nicht aufhält, könnte Bridei schon im Frühjahr des nächsten Jahres bereit sein, mit seinem großen Feldzug gegen die Galen zu beginnen. Zum Fest der Reife ist eine Ratssitzung geplant, und alle hoffen, dass Drust der Eber sich Bridei nun doch anschließen wird.« Der hoch gewachsene Mann brummte zustimmend. Es war ein gerechter Austausch von Informationen gewesen. Was sie damit anfangen würden, ging den Lieferanten nichts mehr an. Die beiden trennten sich ohne Abschiedsworte. Der dunkelhaarige Mann hatte noch einen langen Weg vor sich; der hoch gewachsene Mann war in Dunadd zu Hause, und er ging nun den dunklen Flur entlang und hinaus in den Schutz der Bäume, den Kopf schon voller Gedanken an sein Abendessen und eine angenehme Nacht im Bett einer gewissen zuvorkommenden Dame. Ein Junge, der zum Angeln hinausgegangen war, fand ihn ein paar Tage später. Die Leiche war aufgedunsen, weil sie im Wasser gelegen hatte, zum Teil unter Steine geklemmt. Man konnte gerade noch feststellen, dass er nicht ertrunken, sondern auf kundige Art mit etwas Festem und Dünnem wie einer Harfensaite stranguliert worden war. Was den Dunkelhaarigen anging, so befand er sich zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in Dunadd, sondern eilte bereits zurück über die Grenze des gälischen Territoriums von Dalriada nach Fortriu, dem Land von Bridei, König der Priteni. Den Beutel Silber, den er von seinen Herren in Dalriada erhalten hatte, hatte er gut versteckt. Er würde noch einmal bezahlt werden, wenn er Brideis Festung am Weißen Hügel erreichte. Inzwischen hatte er an einem geheimen Ort beträchtlichen Wohlstand angehäuft, den er aber wahrscheinlich nie benutzen würde, da er weder Frau noch Kinder und auch keine Geschwister hatte, zumindest keine, die er anerkannte, nicht einmal sich selbst gegenüber. - 11 Er reiste mit dem Tempo eines Mannes, der sich durch nichts von seinem Ziel ablenken lässt. Er fand es bedauerlich, dass er seinen Kontaktmann hatte unschädlich machen müssen, aber es war nicht unerwartet geschehen. Pedar war nicht dumm gewesen, und Faolan hatte gewusst, dass er früher oder später die Wahrheit über seine enge Beziehung zu Bridei herausfand. Er hatte den Informanten leben lassen, bis der Wert dessen, was Pedar lieferte, schließlich die Gefahr einer Entdeckung nicht mehr ausgleichen konnte. Faolans Herren in Dalriada mussten unbedingt glauben, dass er ihnen treu ergeben war. Er konnte nur hoffen, dass Pedar sich fest an die Regeln der Spionage gehalten und niemandem von seinem Verdacht erzählt hatte. Dennoch würde er sich nun eine Weile aus Dunadd fern halten müssen, nur um ganz sicher zu sein. Vielleicht würde Bridei ihn für einige Zeit zu Carnachs Kriegern schicken, die sich auf den großen Krieg vorbereiteten. Oder er könnte ihn nach Rabenbrunn senden, wo eine weitere Armee für den letzten Vorstoß westwärts nach Dalriada ausgebildet wurde. Es wäre angenehm, sich eine Weile der ehrlichen Kriegskunst widmen zu können. Faolan war nun schon sehr
lange am Rande von Königshöfen umhergetanzt und hatte genug davon, ständig Masken zu tragen. Nun gut, wenn das Wetter hielt, würde er den Weißen Hügel noch vor dem nächsten Vollmond erreichen. Vielleicht, dachte Faolan, während er unter dem klaren Himmel eines frischen Frühlingstags an einem See entlang weiter nach Osten eilte, konnte er auch einfach wieder in seine alte Rolle als Leibwächter schlüpfen. In den fünf Jahren, seit Bridei unter etwas ungewöhnlichen Umständen zum König gewählt worden war, war ihm niemand nahe genug gekommen, um Hand an ihn oder seine Frau zu legen. Dafür hatte Faolan gesorgt. Wenn er selbst nicht anwesend war, gab es ein von ihm selbst aufgestelltes unfehlbares System von Stellvertretern, die in seiner Abwesenheit für die Si- 12 cherheit des Königs sorgten. Dennoch, nichts war so wirkungsvoll wie seine eigene Gegenwart an Brideis Seite. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es sich beinahe anfühlte, als ginge er nach Hause. Ana war seit ihrem zehnten Lebensjahr Geisel am Hof von Fortriu gewesen. Nun, nach mehr als acht Jahren, wusste sie, dass etwas, was einmal eine Art Gefängnis gewesen war - wenn auch eines, in dem die Gefangene am Tisch des Königs aß und auf feinem Leinen und unter weicher Wolle schlief -, sich in ein Zuhause verwandelt hatte. Als Bridei seine neue Festung am Weißen Hügel baute und mit dem Hof von Fortriu dorthin umzog, war Ana mit allen anderen dorthin umgezogen. Brideis Frau Tuala war eine ihrer engsten Freundinnen. Das, dachte Ana nun, während sie Brideis winzigem Sohn folgte, der durch den geschützten Garten hinter der Festungsmauer stapfte, stellte für Bridei ein Problem dar. Schließlich dienten Geiseln wie Ana dem Zweck, Druck auf ihre Verwandten auszuüben. Sie stellte eine Sicherheit gegen eine mögliche Revolte ihres Vetters dar, der König der Hellen Inseln und ein Vasall Brideis war. In diesen acht Jahren hatte es kein Anzeichen von Unruhe auf ihren Heimatinseln gegeben, also hatte ihre Gefangenschaft offenbar die gewünschte Wirkung gezeigt. Andererseits hatte sich zu Hause kaum jemand für Anas Wohlergehen interessiert; es schien, als hätte ihre Familie sie vergessen. Dieser Tage war es die Festung auf dem Weißen Hügel, die sich wie ihr Heim anfühlte, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Bridei ihr Schaden zufügen würde, selbst wenn ihre Verwandten sich plötzlich gegen ihn wandten. »Hoppla!«, rief Ana, als Dereleis Kinderbeine umknickten und er abrupt auf sein gut gepolstertes Hinterteil fiel. Der Kleine schien einen Augenblick überrascht zu sein, schien nachzudenken, ob er nun weinen sollte oder nicht, dann - 13 streckte er ihr die Arme entgegen und machte ein Geräusch, das »Heb mich hoch!« bedeutete. »Also gut, komm.« Ana hob sich das Kind auf die Hüfte; der Junge war klein für sein Alter und hatte etwas von dem seltsamen Aussehen seiner Mutter geerbt, die Haut hell wie Milch, die Augen groß und ernst. Sein Haar hingegen war nussbraun und lockig wie das von Bridei. Wer hätte das gedacht, damals in Banmerren, als sie noch beide Schülerinnen gewesen waren? Tuala war inzwischen verheiratet und Mutter, und Ana war immer noch hier in Fortriu und unverheiratet. Von königlichem Blut von Fortriu zu sein, fühlte sich häufig mehr nach einem Fluch als nach einem Privileg an, besonders, wenn man eine Frau war. Im Land der Priteni wurde die Königswürde über die weibliche Linie vererbt: Könige wurden gewählt, und zwar nicht aus einer Gruppe von Königssöhnen - es mussten Söhne von Frauen wie Ana sein, die einer ungebrochenen Linie königlicher Frauen entstammten. Das machte sie zu einer wichtigen Figur in dem großen Spiel politischer Strategie. Wer immer Ana heiratete, konnte Vater von Königen werden. Bridei als König von Fortriu würde schließlich darüber entscheiden, wohin sie gehen würde und wann. Er würde vielleicht der Form halber die Erlaubnis ihres Vetters einholen, aber da Anas Eltern beide schon lange tot und ihre Verwandten weit weg auf den Inseln waren, war es letzten Endes Brideis Entscheidung. Als sie noch ein kleines Mädchen mit dem Kopf voller Geschichten gewesen war, hatte Ana auf Liebe gehofft. Inzwischen wusste sie, wie dumm es war, so etwas zu erwarten. Und dennoch, für einige bedeutete Liebe alles. Man brauchte sich nur Bridei und Tuala anzusehen. Dass diese beiden einmal heiraten würden, war allen unmöglich vorgekommen. Der mächtige Broichan, der Druide des Königs und Brideis Pflegevater, war dagegen gewesen. Ana schaute hinunter auf Derelei, der nun eine Strähne ihres langen - 14 Haares in der Faust hielt und seine neuen Zähne daran ausprobierte. Er erwiderte den Blick mit Augen so ernst wie die einer Eule. Es ließ sich nicht leugnen, dass er der Sohn seiner Mutter war; das Erbe der Anderwelt war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, und man sah es auch an den zierlichen Händen, an diesem ungewöhnlichen Ernst. Bridei hatte das Undenkbare getan, er hatte aus Liebe geheiratet, und daher hatte Fortriu nun eine vom Guten Volk als Königin. Ana lächelte. Tuala war eine gute Königin, stark, mutig und weise. Die Menschen hatten sie akzeptiert, so anders sie auch sein mochte, und ihr Mann liebte sie mit einer Ergebenheit, die jeder erkennen konnte, der die beiden miteinander sah. Dennoch, Bridei war König und herrschte über ein Reich voller mächtiger und gefährlicher Männer. Am Ende würde auch Ana nur eine weitere nützliche Spielfigur sein, die er im Augenblick in Reserve hielt, um sie einzusetzen, wenn das für ihn von Vorteil sein würde. »Mama!«, verkündete Derelei entschlossen, ließ Anas Haar los und drehte sich zu dem Torbogen am anderen Ende des Gartenwegs um. Es war ein sonniger Frühlingstag; Sonnenlicht fiel auf die Ranken, die die Steinmauer überzogen, und bildete ein Muster in Schattierungen von Grün. Niemand war zu sehen und es war auch nichts zu
hören außer den entfernten Stimmen der Bewaffneten auf den Zinnen und dem Zwitschern der kleinen Vögel, die in der Nähe nach Nistmaterial suchten. Das Kind jedoch starrte weiter zum Torbogen hin und zappelte vor Erwartung in Anas Armen. Sie wartete. Kurze Zeit darauf erschien Tuala durch den Torbogen, gefolgt von einer anderen Frau. »Mama!«, verkündete die Kinderstimme, und Derelei beugte sich gefährlich vor. Ana reichte ihn seiner Mutter. »Er wusste, dass du auf dem Weg warst«, sagte sie. »Er scheint es immer zu wissen.« »Ana, sieh nur, wer hier ist!«, sagte Tuala, setzte sich auf eine Steinbank und nahm ihren kleinen Sohn auf den - 15 Schoß. Die zweite Frau kam auf Ana zu, die erst jetzt erkannte, wen sie vor sich hatte. »Ferada! Wie schön, dich zu sehen! Du muss uns unbedingt gleich erzählen, was es Neues gibt!« Ferada, die Tochter des einflussreichen Fürsten von Rabenbrunn, war in den Tagen, bevor Bridei König wurde, zusammen mit Ana und Tuala unterrichtet worden. Unglückliche Umstände, deren Einzelheiten den meisten nicht bekannt waren, hatten verlangt, dass sie nach Hause zurückkehrte, um sich um den Haushalt ihres Vaters zu kümmern und ihre beiden kleinen Brüder großzuziehen, und es war lange her, dass sie Brideis Hof auf dem Weißen Hügel besucht hatte. Ferada sah älter aus; älter, als sie sollte, dachte Ana. Die beiden Jahre, die sie ihren Freundinnen voraus hatte, konnten unmöglich der Grund für die müden Falten zu beiden Seiten von Feradas Mund sein, und auch nicht für ihre ungesunde Blässe. Eins jedoch war unverändert: Feradas Kleid war makellos, ihr Haar sorgfältig frisiert, ihre Haltung kerzengerade. »Neuigkeiten?«, sagte Ferada und faltete die Hände im Schoß. »Ich fürchte, ich habe nichts Aufregendes zu erzählen. Ich habe gelernt, wie man Haushaltsbücher führt. Es ist mir gelungen, Uric und Bedo mit der Hilfe durchreisender Gelehrter ein wenig Weisheit beizubringen - ja, Tuala, ich habe mich in dieser Sache an Broichans Vorbild gehalten, denn ich wusste, welch hervorragende Arbeit deine alten Lehrer bei dir und Bridei geleistet hatten. Den Jungen geht es gut; Bedo kommt im Unterricht gut zurecht, und Uric wird immer besser. Inzwischen halten sie sich selbstverständlich für Männer, die über solch häuslichen Dingen stehen. Es geht fast nur noch um Pferde und Waffen. Vater glaubt offenbar, dass ein Aufenthalt bei Hof zu ihrer Bildung beitragen wird.« »Ich war immer der Ansicht, dass sie gutherzige kleine Jungen sind«, sagte Tuala. Derelei hatte sich auf ihrem Schoß niedergelassen und umklammerte eine Falte ihres - 16 Kleids; sie streichelte ihm mit der kleinen weißen Hand das lockige Haar. »Soll das bedeuten, dass Talorgen nun Bewerber für dich sucht, Ferada? Du weißt, dass hier bald eine große Versammlung stattfinden wird; viele Fürsten werden zum Weißen Hügel kommen, um über die Strategie für den Krieg zu debattieren. Es ist eine gute Gelegenheit...« »Ich glaube, alle, die Interesse an mir hatten, als ich sechzehn war, sind inzwischen verheiratet«, sagte Ferada. »Wenn Vater sich tatsächlich umsieht, dann unter den Älteren, die nicht mehr so verzweifelt darauf bedacht sind, so schnell wie möglich Väter einer großen Herde von Kindern zu werden.« Sie warf einen Blick zu Derelei, dann begegnete sie Tualas fragendem Blick und bemerkte ihre amüsierte Miene. »Nichts für ungut, Tuala. Du weißt, dass ich nicht dich und Bridei meine. Habt ihr beide nicht zwei quälende Jahre von der Verlobung bis zur förmlichen Handreichung gewartet? Aber Tatsache ist, Frauen wie Ana und ich werden vor allem als Zuchtstuten betrachtet, und wenn wir zwanzig sind, glauben alle, dass wir unsere beste Zeit hinter uns haben. Ich muss sagen, ich bin überrascht, dich immer noch hier zu sehen, Ana. Es freut mich selbstverständlich; ihr habt mir beide schrecklich gefehlt. Aber ich hätte erwartet, dass du schon vor vielen Jahren geheiratet hättest. Es gab sicher keinen Mangel an interessierten Bewerbern. Du warst schon mit dreizehn eine Schönheit und bist es immer noch.« Ana senkte den Blick. »Ich denke, Bridei hat jemanden im Sinn, einen Fürsten aus dem Norden, sagt er. Vielleicht im nächsten Sommer. Ich fühle mich tatsächlich, als hätte ich schon eine Ewigkeit gewartet.« Die Anmerkung darüber, die beste Zeit hinter sich zu haben, hatte sie beunruhigt, aber sie wollte nicht, dass ihre Freundinnen das bemerkten. Als Tochter der königlichen Linie musste sie ihre Pflicht stets über alles andere stellen, - 17 wie es Ferada selbst vor fünf Jahren getan hatte, als sie nach Hause zurückgekehrt war, um nichts weiter als eine Haushälterin zu sein. Während dieser Zeit hatte sie zahllose Gelegenheiten zur Ehe ausschlagen müssen. Wenn dies so weiterging, würden sie noch beide als zahnlose alte Weiber enden, ohne Mann und ohne Kinder. »Tatsächlich«, warf Tuala ein, »gab es an dieser Front neue Entwicklungen. Faolan ist wieder da, und Bridei möchte später mit dir sprechen, Ana. Soweit ich weiß, hat es mit diesem Fürsten Alpin zu tun. Ich habe nicht nach Einzelheiten gefragt; er wollte allein mit Faolan sprechen.« Ana schauderte. »Dieser Mann! Wenn ich ihn sehe, frage ich mich immer, wessen Blut er diesmal an seinen Händen hat und in welcher dunklen Ecke er demnächst lauern wird. Ich weiß nicht, wie Bridei ihm vertrauen kann.« Tuala sah sie an. »Bridei hat sich noch nie in einem Menschen getäuscht«, sagte sie leise. »Fehlinformationen, Täuschung, plötzlicher Tod, das ist nun einmal das Wesen von Faolans Arbeit. Er ist vor allem deshalb von hohem Wert, weil er solche Dinge so kundig und ohne Widerspruch erledigt.«
»Er hat sich gegen sein eigenes Volk gewandt«, sagte Ana. »Ich verstehe nicht, wie jemand so etwas tun kann.« »Nein?« Ferada zog die Brauen hoch. »Und was ist mit dir, die du zufrieden am Hof des Volks lebst, das dich als Geisel genommen hat, als du noch zu jung warst, um auch nur zu wissen, was das bedeutet? Du fühlst dich zu Hause bei Menschen, die dir die Gelegenheit genommen haben, bei deiner eigenen Familie aufzuwachsen. Das unterscheidet sich nicht so sehr davon, dass Faolan Informationen gegen die Galen sammelt.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Tuala. »Ferada, ich bewundere deine Offenheit; das habe ich immer getan. Aber nun bist du hier auf dem Weißen Hügel und du solltest dich ein wenig mäßigen, selbst unter Freunden. Ana sollte kein Ur- 18 teil über den Attentäter des Königs fällen und du keins über Ana. Am Hof hat sich viel verändert, seit Drust der Stier Ana als Geisel nahm. Man kann sie tatsächlich kaum mehr als Geisel bezeichnen; ich betrachte sie eher als eine Schwester.« »Dennoch«, sagte Ferada, »fällt mir auf, dass Bridei sie nicht nach Hause geschickt hat.« Nach Hause, dachte Ana und eine Wolke der Traurigkeit schien plötzlich über ihr zu hängen. Die Hellen Inseln. In den ersten Jahren hatte sie sich danach gesehnt, in dieses Reich zurückzukehren, wo die Seen das helle Licht des offenen Himmels widerspiegelten und die grünen Hügel sanft in Weideland übergingen. Der Ort, an dem sie aufgewachsen war, war voller alter Steinhügel und geheimnisvoller Steintürme, plötzlicher Klippen und wirbelnder Meeresvögel. Aber wenn Bridei sie jetzt zurückschickte, würde es ihr vorkommen wie ein weiteres Exil. Was die andere Möglichkeit anging, die nun unmittelbar bevorstand, so wurde ihr schon bei dem Gedanken daran kalt von schlechten Vorahnungen. Die Caitt waren vom Blut der Priteni wie ihr eigenes Inselvolk. Sie musste an den einzigen Caitt-Anführer denken, den sie seit ihrer Kindheit gesehen hatte: Umbrig von Sturmklippe, groß wie ein Bär und beinahe eben so wild und zerzaust. Umbrig war unerwartet bei den Königswahlen erschienen, hatte seine Stimme für Bridei abgegeben und ihm damit geholfen, Drust den Eber, König des südlichen Priteni-Reichs von Circinn, aus dem Feld zu schlagen. Die Leute sagten, die Caitt seien alle so riesig und wild. Ana schreckte innerlich zurück vor dem Gedanken daran, mit einem solchen Mann das Bett teilen zu müssen. »Derelei ist heute den ganzen Weg entlanggegangen und hat sich dabei nur an meiner Hand festgehalten«, wechselte sie das Thema. »Er wird es bald schon ganz allein können. Er macht dir Ehre, Tuala.« »Hin und wieder erwische ich Broichan dabei, wie er ihn - 19 ansieht und zweifellos nach unheimlichen Begabungen Ausschau hält; er will offenbar wissen, wie viel von meinem eigenen Blut unser Sohn hat und wie viel von Bridei.« »Broichan kann mir nichts vormachen«, sagte Ana. »Er betet den Jungen geradezu an, soweit der Druide eines Königs überhaupt Zuneigung zeigen kann. Du solltest ihn einmal beobachten, wenn er glaubt, dass du nicht hinsiehst. Derelei ist für ihn wie ein Enkel.« »Und, hat der Kleine welche?«, fragte Ferada und betrachtete forschend den kleinen Jungen, der still auf dem Schoß seiner Mutter saß und seine Finger ansah. »Seltsame Begabungen, meine ich?« Ana setzte zu einer Antwort an, aber Tuala war schneller. »Ich wäre froh, wenn er einen Zauber heraufbeschwören könnte, der ihm das Zahnen leichter macht«, sagte sie. »Wir bekommen leider nicht genug Schlaf. Ferada, ich sehe dir an, dass du noch mehr Neuigkeiten hast. Ich habe ein Gerücht gehört, dass Talorgen die Bekanntschaft einer gewissen schönen Witwe gemacht hat. Oder ist das nur Klatsch?« Es war interessant, dachte Ana, wie geschickt es Tuala gelang, das Gespräch von möglichen besonderen Fähigkeiten ihres Sohns abzulenken, und damit auch von ihrer eigenen Begabung zu gewissen Formen der Magie. Als Königin schien sie entschlossen zu sein, solchen Themen aus dem Weg zu gehen, als könnten sie in irgendeiner Weise gefährlich werden. Ana wusste, wie hervorragend Tuala den Blick einsetzen konnte; ihre Fähigkeit, mittels einer Schale Wasser zu sehen, was in weiter Ferne, in der Vergangenheit oder der Zukunft geschah, hatte ihr in Banmerren, der Schule für Weise Frauen, einen legendären Ruf eingebracht. Und es gab eine seltsame Geschichte über die Zeit, als Tuala davongerannt war, und über das, was sie und Bridei im Wald von Pitnochie erlebt hatten, eine Geschichte, über die keiner von beiden jemals viel sprach. Dennoch, man musste sich an die Wünsche der Königin halten. Wenn sie eine - 20 ganz gewöhnliche Frau sein wollte, wenn sie es vorzog, dass ihr Sohn nichts Außergewöhnliches an sich hatte, musste man so tun als ob, zumindest nach außen hin. Ferada seufzte. »Vater möchte um die Erlaubnis bitten, seine Ehe aufzulösen«, sagte sie finster. »Wir wissen nicht, ob Mutter immer noch lebt oder wo sie sich aufhält, nur dass sie sich nicht mehr in Fortriu befindet. Vater hat gute Gründe, das zu tun. Ich höre, es ist der Druide des Königs, der über solche Dinge entscheidet. Ich denke, Broichan wird es erlauben.« »Und?«, bohrte Ana nach. »Vater möchte wieder heiraten. Der Name der Witwe ist Brethana, sie ist noch ziemlich jung. Ich mag sie, jedenfalls so weit, wie ein Mädchen die zweite Frau ihres Vaters überhaupt mögen kann. Den Jungen ist es egal. In ihrem Alter interessieren sie sich ausschließlich für ihre eigenen Aktivitäten. Sobald Vater heiratet, wird mich in Rabenbrunn nichts mehr halten.«
Es gab eine Pause, während der Tuala und Ana einen viel sagenden Blick wechselten. »Weißt du«, sagte Tuala, »ich bin ganz sicher, dass das Nächste, was Ferada uns erzählen will, nichts mit Bewerbern und Ehen zu tun hat. Ich erkenne diesen Blick bei ihr.« »Hm«, meinte Ana, »meinst du diesen Blick, den sie immer hat, bevor sie etwas vollkommen Unmögliches von sich gibt?« »Ich bin nicht sicher, ob ich es euch schon erzählen sollte«, sagte Ferada. »Ich muss erst mit Fola sprechen.« »Fola! Willst du etwa nach Banmerren zurückkehren und eine Weise Frau werden?« In Tualas Tonfall lag der gleiche Unglaube, den Ana empfand; ihre Freundin war eine ausgesprochen kluge und begabte junge Frau, aber die beiden hatten nie den Eindruck gehabt, dass Ferada eine Zukunft im Dienst der Göttin bestimmt war. - 21 Feradas Wangen röteten sich. »Ich gehe tatsächlich nach Banmerren. Oder vielleicht werde ich auch hier auf dem Weißen Hügel mit Fola sprechen, wenn sie zur Versammlung kommt. Und nein, ich habe nicht vor, Priesterin zu werden. Ich habe einen Vorschlag für Fola. Es ärgert mich, dass so viele junge Frauen aus adligem Haus bestenfalls eine halbe Ausbildung erhalten, und auch das überwiegend in Haushaltsdingen. Ich weiß, dass Fola solche Mädchen in Banmerren aufnimmt, wie sie es bei Ana und mir getan hat. Aber dem, was dort geboten wird, fehlt es an Struktur und Tiefe, und sobald eine Schülerin anfängt, sich für etwas zu interessieren, muss sie auch schon wieder nach Hause oder an den Hof zurückkehren, um dort Männern vorgeführt zu werden, oder ins Bett irgendeines Mannes, damit er sie schwängern kann. Sieh mich nicht so an, Tuala; ich weiß, du hast andere Erfahrungen gemacht, aber glaube mir, für die meisten Mädchen ist Ehe eine brutale und willkürliche Angelegenheit. Wenn es einen Ort gäbe, wo junge Frauen ein wenig länger bleiben, ein wenig mehr lernen und vielleicht so etwas wie Weisheit entwickeln könnten, bevor man sie in diese Welt der Männer stößt, hätten sie vielleicht die Möglichkeit, sich besser um sich selbst zu kümmern und eine wirkliche Rolle in der Welt zu spielen. Und das will ich tun. Ich will eine Schule gründen, oder genauer gesagt die, die Fola bereits betreibt, erweitern, um Mädchen aufzunehmen, die keine Priesterinnen werden sollen, sondern ein Leben in der Welt führen werden. Ich habe vor, Fola zu fragen, ob sie zulassen wird, dass ich so etwas organisiere, und ob sie mir die Leitung übertragen wird. Ich bin mit Uric und Bedo recht gut zurechtgekommen. Und ich lerne rasch. Was meint ihr?« Tuala lächelte. »Eine verwegene Idee und vollkommen typisch für dich, Ferada«, sagte sie. »Es würde mich überraschen, wenn Fola kein Interesse hätte. Was sagt dein Vater dazu?« - 22 »Er fühlt sich nicht so recht wohl damit, aber seine neue Ehe ist im Augenblick für ihn das Wichtigste. Außerdem ist er mir einiges schuldig. Ich habe bei der Führung seines Haushalts und der Ausbildung der Jungen gute Arbeit geleistet; ich habe ihm fünf Jahre meines Lebens gegeben.« »Du wirst sicher auf einigen Widerstand stoßen«, sagte Tuala. »Broichan wird eine solche Idee bestimmt nicht unterstützen. Er glaubt nicht daran, dass Frauen eine Ausbildung brauchen, wenn man von denen, die der Göttin dienen sollen, einmal absieht. Viele Männer werden es für unnötig, für eine Zeitverschwendung halten. Und einige werden es für gefährlich halten. Nicht alle Männer sind wie dein Vater, der dich stets ermutigt hat, offen zu sagen, was du denkst.« »Und was soll aus dir selbst werden?«, fragte Ana. »Wie sollst du einen solchen Plan durchführen, wenn du einen Ehemann und eine Familie hast, um die du dich kümmern musst? Du hast doch nicht vor, das zu opfern ...« »Opfern?« Feradas Ton war ätzend. »O Ana! Kannst du dir denn überhaupt nicht vorstellen, dass eine Frau auch ohne einen Mann tiefere Erfüllung im Leben finden kann?« Ana spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Ich ...«, begann sie. »Es tut mir Leid«, sagte Ferada in ganz anderem Ton. »Ich habe dich gekränkt; das wollte ich nicht. Es ist so lange her, seit ich im Stande war, offen zu sprechen, und mein Kopf ist voller Ideen. Ich möchte unterrichten. Ich möchte etwas leisten. Ich möchte sicher sein, dass ich mein Leben nicht verschwende.« »Ich habe auch nicht vor, das meine zu vergeuden«, sagte Ana, die Feradas Worte nicht einfach übergehen konnte. »Dann sollest du hoffen, dass der Mann, den Bridei für dich aussucht, ein Ausbund männlicher Tugend ist«, sagte Ferada. »Tuala, wirst du mit Bridei über meine Pläne spre- 23 chen? Es würde mir gewaltig helfen, wenn er mich unterstützt.« »Selbstverständlich«, sagte Tuala. »Und du solltest ihn selbst ebenfalls fragen. Ich bin sicher, dass er dir zustimmen wird. Er bewundert dich, Ferada.« Das brachte Ferada seltsamerweise zum Schweigen, und in diesem Augenblick begann der Kleine sich zu rühren und holte mehrmals tief Luft, was wie das Vorspiel zu einem Unwetter wirkte. »Wir sollten nach drinnen gehen«, sagte Tuala, stand auf und setzte sich das Kind geschickt auf die Hüfte. »Derelei hat Hunger. Du kannst so gut mit ihm umgehen, Ana.« »Ich mag Kinder«, sagte Ana. »Es ist schön zu sehen, wie er wächst, und all die kleinen Veränderungen zu
beobachten.« »Das ist alles kein Problem, solange es anderer Leute Kinder sind«, stellte Ferada fest, »und du sie wieder abgeben kannst, wenn sie anfangen zu schreien, schmutzige Windeln haben oder mitten in der Nacht einen Wutanfall bekommen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du noch keine fünf oder sechs von ihnen am Rock hängen hast. Wenn sie uns verheiratet hätten, als sie angefangen haben, von Bewerbern zu sprechen, hätten wir jetzt jede eine solche Brut.« »Ich hätte nichts gegen ein weiteres Kind«, sagte Tuala lächelnd. »Wenn die Leuchtende mir eine Tochter gewährt, Ferada, werde ich sie ganz bestimmt zu dir schicken, damit du sie ausbilden kannst.« »Immer vorausgesetzt, Fola erwischt sie nicht vor mir«, sagte Ferada. Bevor der König seinen Hof auf den Weißen Hügel verlegte, hatte dort eine uralte Festung gestanden, die aus Steinen und gebranntem Holz gebaut gewesen war. Tief im Unterholz konnte man an den steilen Hängen des Hügels immer - 24 noch die Reste dieser Mauern sehen. Hier und da ließ ein bröckelnder Überrest bearbeiteten Steins im Schatten hoher Kiefern eine Zinne, einen Brunnenrand, ein Stück gepflasterten Wegs erahnen; der Bach, der in vielen Windungen über die Flanken des Weißen Hügels floss, plätscherte dabei in natürliche und in von Menschen erbaute Becken und Teiche. Brideis neue Festung wurde allgemein für uneinnehmbar gehalten. Die steilen Hänge des Hügels selbst, die schroffen, massiven Festungsmauern, die Aussicht, die durch strategische Lücken in dem Sichtschutz aus Bäumen gewährt wurde, gaben den Bewohnern bei der Verteidigung viele Vorteile. Von hier aus konnte man sowohl nach Norden zum Meer als auch nach Süden zu den wechselhaften Wassern des Schlangensees und den dunklen Hügeln am Rand des großen Tals schauen. Das Vorhandensein frischen Wassers, die breite, ebene Fläche oben auf der Hügelkuppe, nun mit Häusern und Hallen bebaut, und die innerhalb der Mauern liegenden Gärten und Werkstätten würden den Bewohnern erlauben, eine Belagerung so lange zu überstehen, bis die Angreifer ihrer müde wurden oder bis Verstärkung eintraf. Östlich des Weißen Hügels, an der Küste, stand die alte Festung von Caer Pridne, in der der königliche Hof von Fortriu unter Brideis Vorgänger und vielen anderen Königen vor ihm ein Heim gefunden hatte. Bridei war schon als junger Mann auf den Thron gelangt, war aber entschlossen gewesen, vieles zu verändern. Mit einundzwanzig, nach zwei Jahren der Herrschaft, waren die Bauarbeiten am Weißen Hügel beendet gewesen, und er hatte mit der Tradition gebrochen und sein Hauptquartier dorthin verlegt. Das erste Fest an seinem neuen Hof war seine Hochzeit mit der damals kaum sechzehnjährigen Tuala gewesen. Weitere Veränderungen folgten. Die Waghalsigste war Brideis Entscheidung, ein gewisses Ritual zu Beginn des Abstiegs des Jahres in die dunkle Zeit zu verändern. Als dies zum letzten - 25 Mal versucht worden war, hatte der beleidigte Gott schreckliche Wiedergutmachung gefordert. Aber die Fürsten und Ältesten akzeptierten Brideis Entschluss. Es war bekannt, dass sowohl er als auch sein Druide Broichan an Stelle des alten Ritus nun andere durchführten, die sehr fordernd waren. Die Menschen fragten nicht nach Einzelheiten. Sie vertrauten ihrem jungen König. Bridei hatte etwas an sich, das andere mitriss: leidenschaftliches Engagement und glühende Energie, gemildert von Vorsicht, Subtilität und Klugheit. Immerhin war Bridei als Broichans Pflegesohn aufgewachsen, und Broichan war ein mächtiger Magier und der wichtigste Berater sowohl des alten als auch des neuen Königs. Zu Anfang hatte es Geflüster gegeben. Broichan war nicht sehr beliebt; viele fürchteten seine Macht und misstrauten seinem geheimen Wissen. Einige behaupteten, Broichans Pflegesohn als König zu haben, wäre beinahe so, als säße der Druide selbst auf dem Thron. War dieser Bridei nicht nur eine sorgfältig geschaffene Marionette, die die Politik des Landes nach Broichans Plänen steuern sollte? Vom ersten Tag seines Königtums an war allerdings klar geworden, dass Bridei seinen eigenen Kopf hatte und unabhängige Entscheidungen traf. Er bildete einen Rat, in dem ein kluges Gleichgewicht aus älteren, erfahreneren Männern und jüngeren Fürsten herrschte, die bereit waren, neue Ideen zu unterstützen und kalkulierte Risiken einzugehen. Er brachte Druiden mit Heerführern zusammen, Gelehrte mit Männern der Tat. Gelegentlich holte er auch Frauen in seinen Beraterkreis; nicht nur die Priesterin Fola, die die Schule leitete, in der Mädchen im Dienst der Göttin ausgebildet wurden, sondern auch die Witwe des alten Königs, Rhian von Powys, und manchmal seine eigene Frau Tuala. Die Entscheidungen wurden zwar überwiegend auf dem Weißen Hügel getroffen, aber Bridei richtete auch anderswo Festungen ein. Caer Pridne hatte immer noch eine Gar- 26 nison, Stallungen, Übungshöfe und eine Rüstkammer. Rabenbrunn im Südwesten und Dornenband im Südosten waren strategische Außenposten unter der Führung einflussreicher, loyaler Anführer. Alle wussten, dass Bridei vorhatte, Fortriu genügend zu stärken, um gegen die Galen ziehen zu können. Alle wussten, dass dieser Zeitpunkt näher kam. Wann es jedoch tatsächlich passieren würde, war eine Angelegenheit für Wetten. Am Tag nach Faolans Rückkehr zum Weißen Hügel wurde Ana in die königlichen Gemächer gerufen. Derelei war draußen im Garten mit seinem Kindermädchen, und in dem Raum, den Bridei und Tuala für inoffizielle Besprechungen benutzten, saßen König und Königin und warteten auf die Geisel von den Hellen Inseln. Ihre ernsten Gesichter beunruhigten Ana. Sie hatte eine gewisse Vorstellung davon, was auf sie zukam, aber sie hatte
zumindest erwartet, dass Bridei die Nachricht als eine positive darstellen würde. Der kleine weiße Hund Ban, Brideis ständiger Begleiter, hatte neben dem Sessel des Königs gesessen, aber als Ana hereinkam, stand er auf und starrte sie aufmerksam an. Als er sie als Freundin erkannte, ließ er sich wieder nieder. Ana ging weiter in den Raum hinein und sah, dass eine vierte Person anwesend war: Faolan, Brideis Attentäter, Brideis rechte Hand, Brideis Spion lehnte an dem schmalen Fenster an der Wand, seine Gestalt im Schatten. Sein Blick erfasste sie, als sie sich an den Tisch setzte. Ana sah ihm ins Gesicht und erkannte dort keine Spur der Bewunderung, die andere Männer ihr entgegenbrachten, sondern kühles Abschätzen: Der Gäle kalkulierte ganz offen ihren Wert als vermarktbare Ware. »Ich nehme an, du weißt, warum wir dich gerufen haben«, sagte Bridei, während Tuala ihnen Met eingoss. Ana war plötzlich angespannt und nervös. Sie nickte knapp. Das hier waren ihre Freunde. Sie aß jeden Tag mit ihnen. Sie spielte mit ihrem Sohn. Dennoch, Bridei hatte - 27 solche Macht über ihre Zukunft, dass es ihr einen Augenblick lang Angst machte. »Ich schätze, Faolan hat Neuigkeiten von diesem Caitt-Fürsten Alpin gebracht«, sagte sie und versuchte, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. »Er hat vielleicht Interesse an einer Ehe gezeigt?« Kurzes Schweigen. Offensichtlich war ihre Vermutung falsch. »Wir befinden uns in einer recht schwierigen Situation«, sagte Bridei, »und deshalb möchten wir dich um Hilfe bitten, Ana. Was wir tun müssen, ist nicht einfach. Es könnte eine große Veränderung für dich bedeuten.« Ana hatte keine Ahnung, was er meinte. »Wir haben dich hierher gerufen, wo wir unter uns sind, damit wir im kleinen Kreis mit dir sprechen und dir Zeit zum Nachdenken geben können«, fuhr Bridei fort. »Heute Abend wird es eine offizielle Beratung geben, bei der wir uns in dieser Angelegenheit entscheiden müssen. Faolans neueste Nachrichten haben die Sache dringend gemacht.« »Bridei«, sagte Tuala, »ich bin sicher, Ana würde es vorziehen, wenn du einfach alles erzählst. Du verlangst viel von ihr; sie muss alles wissen.« Faolan räusperte sich. »Du weißt selbstverständlich«, begann Bridei, »von dem großen Unternehmen gegen die Galen, das wir in naher Zukunft planen. Wenn die Götter es wünschen, werden wir unsere alten Feinde ein und für alle Mal aus dem Land der Priteni vertreiben können, und ihren christlichen Glauben mit ihnen. Dabei brauchen wir alle Verbündeten, die wir bekommen können. Circinn wurde gebeten, noch vor dem Sommer zur Versammlung zu kommen, wie du ebenfalls weißt. Wir haben große Hoffnung, dass Drust der Eber dieses Mal mit uns zusammenarbeiten wird, obwohl er die Missionare des Kreuzes in sein Land gelassen hat. Ich plane auch, so viele Verbündete in den nördlichen Reichen der Priteni zu suchen wie möglich.« - 28 »Meine Verwandten auf den Hellen Inseln?« Vielleicht wollte er sie entgegen all ihren Erwartungen nach Hause schicken. »Ich habe deinen Vetter bereits um Bewaffnete gebeten. In meiner neuesten Botschaft bitte ich auch um seine offizielle Zustimmung dazu, einem bestimmten Bewerber deine Hand anzubieten.« »Ich verstehe.« »Ana«, sagte Bridei freundlich, »du wusstest schon lange, dass so etwas bevorsteht. Du bist jetzt neunzehn Jahre alt und hast das Alter, in dem du erwarten konntest zu heiraten, bereits hinter dir gelassen.« »Sag es ihr einfach, Bridei«, warf Tuala mit ungewohnter Schärfe ein. »Ich hatte vor, mir den Fürsten, den wir für dich im Sinn hatten - Alpin von Dornwald - genauer anzusehen, bevor wir ihn ansprechen«, sagte Bridei. »Bisher ist Umbrig der einzige Anführer der Caitt, der uns seine Unterstützung gegen die Galen zugesagt hat. Die Caitt sind ein seltsames, stolzes und aggressives Volk. Alpin ist vielleicht der Mächtigste unter ihnen, und er ist am schwierigsten zu erreichen, da sein Territorium nicht nur abgelegen ist, sondern sich auch in der Mitte eines beinahe undurchdringlichen Waldes befindet. Botschaften brauchen auf diese Weise viel Zeit.« Ana dachte angestrengt nach. »Halten sich die Caitt nicht im Allgemeinen aus den Auseinandersetzungen anderer heraus?«, fragte sie. »Sie kamen hin und wieder mit ihren Kriegsschiffen zu den Hellen Inseln; ich kann mich erinnern, sie am Hof meines Vetters gesehen zu haben. Er beschwichtigte sie für gewöhnlich mit Geschenken.« »Sie gehören zu unserem eigenen Volk«, warf Tuala ein. »Sie haben das gleiche Blut und die gleiche Sprache wie Priteni anderswo in Fortriu, Circinn oder auf den Hellen Inseln. Und wenn Umbrig uns Krieger versprechen kann, könnte auch Alpin das tun. Es könnte sehr wichtig für uns sein.« - 29 Ana wartete. Sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas entgangen war. »Faolan«, sagte Bridei, »jetzt erzähle Ana endlich, was du herausgefunden hast; zumindest den Teil, bei dem wir übereingekommen sind, dass es sicher ist, darüber zu sprechen.« Faolan verschränkte die Arme und starrte ins Leere. Er war ein unauffällig aussehender Mann von durchschnittlicher Größe und drahtigem Körperbau, ein Mann, der in jeder Menschenmenge problemlos verschwinden konnte. Es gab nur eins an ihm, das auffällig war: Er hatte keine Gesichtstätowierungen, was, da
er eindeutig kein Druide oder Gelehrter war, deutlich machte, dass er nicht aus dem Land der Priteni kam. Ana nahm an, dass er als Spion darauf angewiesen war, dass man sein Gesicht sofort wieder vergaß. »Ich habe gehört, dass Alpin noch ein zweites Territorium beherrscht«, sagte er, »und zwar an der Westküste, wo er über einen geschützten Ankerplatz verfügt. Wenn meine Informationen zutreffen, kann man von diesem Ort aus leicht auf dem Seeweg nach Dalriada gelangen. Dies ist die erste wichtige Information, und wir können davon ausgehen, dass wir nicht die Einzigen sind, die diesen Caitt-Fürsten mithilfe von Anreizen auf ihre Seite ziehen wollen.« Anreiz. So hatte man sie noch nie genannt. »Und die zweite Information?«, fragte sie kühl. »Du verstehst sicher«, sagte Faolan, »dass du nicht alle Einzelheiten erfahren darfst; in den falschen Händen können solche Informationen sehr gefährlich sein.« Ana war empört. »Ich mag eine Geisel sein«, sagte sie in ihrem königlichsten Tonfall, »aber man kann sich auf meine Loyalität gegenüber Bridei verlassen. Ich missbillige solche Andeutungen.« Faolan schaute durch sie hindurch. »Unter Folter kann auch die Loyalität des stärksten Mannes brechen«, sagte er tonlos. »Man wird dir sagen, was du wissen musst, und - 30 nicht mehr. Alpin ist ein mächtiger Mann, viel mächtiger, als wir zuvor angenommen haben. Ich hörte, dass er kurz davor steht, ein Bündnis mit Gabhran von Dalriada abzuschließen. Wir müssen rasch handeln. Wir können uns nicht leisten, dass dieser westliche Ankerplatz in gälische Hände fällt, und auch nicht, dass Alpins Streitmacht an der Seite unserer Feinde gegen uns in den Kampf zieht. So einfach ist das.« »Ich verstehe.« Ana bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Also habt ihr vor, ihm eine königliche Braut anzubieten?«, fragte sie Bridei. »Um diesen Mann noch mächtiger zu machen, indem ihr ihm die Möglichkeit gebt, einen König zu zeugen.« »Alpin ist wohlhabend«, sagte Bridei. »Er hat Land, Männer, Vieh und Silber. Es gibt nicht viel, was wir ihm bieten können. Wir können nur an den beiden Tatsachen ansetzen, die Faolan bei seinen Erkundungen erfahren hat. Eine ist, dass Alpin sich offenbar mehr Respekt und Status wünscht. In der Vergangenheit wurde er von den anderen Caitt-Anführern wie Umbrig nicht sehr hoch geachtet, obwohl Umbrig Alpins unehelichen Sohn in seinem Haushalt aufgenommen hat. Und zweitens ...« »Ist er nicht verheiratet«, sagte Ana. »Genau. Er ist Witwer und hat keine Kinder aus seiner ersten Ehe. Du siehst also, was für eine Möglichkeit dies darstellt.« »Bridei versteht, wie schwierig es für dich ist, Ana.« Tuala sprach mit klarer Stimme, aber sie wirkte verlegen. »Du hast eine solche Entscheidung zwar schon lange erwartet, aber es muss für dich trotzdem beunruhigend sein, dass es jetzt geschieht. Bitte stelle alle Fragen, die du hast; ich kann mir vorstellen, dass es dir jetzt, solange wir unter uns sind, leichter fallen wird als heute Abend im Rat.« Ana schluckte. »Warum ein Rat?«, fragte sie. »Steht diese Entscheidung nicht Bridei zu?« Einer Sache war sie sich - 31 sicher: Was sie selbst wollte, hatte überhaupt nichts zu bedeuten. »Meine Berater und Heerführer müssen Faolans Nachrichten aus erster Hand hören«, sagte der König. »Das ist wichtig.« Es kam Ana so vor, als hielten sie alle etwas zurück. »Es gibt noch mehr, nicht wahr?«, fragte sie und schaute von Tualas großen, sorgenvollen Augen zu Brideis ehrlichen blauen und begegnete dann Faolans finsterem, verschlossenem Blick. »Was ist es?« »Zeit«, sagte Faolan. »Wir haben keine Zeit. Du musst sofort aufbrechen. Das ist das Problem.« Ana starrte ihn an. Bridei seufzte. »Ja, das ist es, worum wir dich bitten müssen. Faolans Informationen nötigen uns zur Eile. Ich habe bereits einen Boten zu Alpin geschickt und ihm unser Angebot unterbreitet. Es ist jedoch in unserem besten Interesse, nicht auf eine schriftliche Antwort zu warten, sondern dich sofort nach Dornwald zu schicken. Du musst bis zum Sommer verheiratet und die Übereinkunft muss unterzeichnet sein. Wir müssen handeln, bevor Alpin ein Bündnis mit den Galen schließt.« »Jetzt schon - aber ...« Ana war sprachlos. Plötzlich war sie wieder zehn Jahre alt und eine aufgeregte kleine Besucherin am Hof von Fortriu, wo sie plötzlich erfuhr, dass sie eine Geisel war und nicht wieder nach Hause zurückkehren durfte. »Aber, Bridei - Tuala - wie könnt ihr mir das antun? Es bedeutet, dass ich mich schon auf den Weg machen muss, bevor ich auch nur weiß, ob er zugestimmt hat! Was, wenn ich auf seiner Schwelle stehe und ...« Sie konnte es einfach nicht in Worte fassen. Was, wenn er mich nicht haben will? Das würde eine schreckliche Schande sein! »Ana«, sagte Bridei, »ein Mann, der eine solche Braut ablehnt, wäre ein vollkommener Narr. Glaube mir. Er braucht dich nur anzusehen. Vergiss diese Zweifel. Wir sind über- 32 zeugt, dass deine körperliche Anwesenheit in Dornwald einer unserer wichtigsten Vorteile sein wird.« Das trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. »Man könnte das alles doch sicher ein wenig vorsichtiger anfangen«, widersprach sie. »Selbst wenn euer Feldzug bereits im nächsten Frühjahr beginnt,
könnten wir nicht wenigstens warten, bis der Bote mit Alpins Antwort zurückkehrt?« Alpin würde vielleicht sogar persönlich zum Weißen Hügel reisen, um sie zu holen. Auf diese Weise hätte sie zumindest ein wenig Zeit, ihn kennen zu lernen, bevor sie sich offiziell die Hände reichten. »Dann wäre immer noch Zeit für mich, vor dem nächsten Winter nach Dornwald zu gehen«, sagte sie. »Es muss jetzt sein.« Faolans Tonfall war endgültig. »Strategische Gründe. Gründe, von denen du besser nichts weiter weißt.« »Ich verstehe.« Ana zitterte; sie ballte die Fäuste und fragte sich, ob das, was sie empfand, Zorn oder Angst war. »Und wann genau ist jetzt?« Brideis Blick war voller Mitleid. »Sobald du bereit bist«, sagte der König. »Es müssen gewisse Vorbereitungen getroffen werden; jemand vom Hof wird dich begleiten, um sich die Situation in Dornwald in Ruhe anzusehen, bevor es zu einer abschließenden Übereinkunft zwischen dir und Alpin kommt. Ich werde dafür sorgen, dass du eine Eskorte erhältst. Du wirst ein wenig Zeit zur Vorbereitung von Kleidung und persönlichen Besitztümern haben. Tuala wird sich darum kümmern, dass du jede Hilfe bekommst, die du benötigst. Faolan wird später mit dir sprechen; er wird dich wissen lassen, was du brauchst. Das Gelände ist stellenweise schwierig, also wirst du nicht allzu viel mitnehmen können.« Nun schwiegen alle. Ana schaute ihre Hände an. »Jemand vom Hof«, sagte sie schließlich. »Das ist dann wohl Faolan?« Es war unmöglich, vollständig zu verbergen, wie sehr sie diesen Mann ablehnte. - 33 »Genau«, sagte Bridei. »Er ist hervorragend geeignet, die Situation einzuschätzen, wenn ihr Dornwald erreicht, und ein wahrer Experte in Angelegenheiten persönlicher Sicherheit.« Nun blickte sie auf und sah einen Ausdruck im Gesicht des Attentäters des Königs, der ihr wie ein Spiegel ihrer eigenen Gefühle vorkam. Es verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, dass dieses Arrangement auch ihm alles andere als willkommen war. »Du siehst müde aus, Ana«, sagte Tuala leise. »Du musst das alles erst einmal begreifen.« Die Freundlichkeit ihrer Freundin war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ana wusste, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen oder laut ihr Widerstreben kund zu tun. »Das ist schon in Ordnung«, sagte sie forsch. »Diese Ratssitzung heute Abend - was wird dort von mir erwartet?« »Deine offizielle Zustimmung zur Handreichung. Einige Ratsmitglieder haben vielleicht Fragen an dich oder du an sie.« »Ich verstehe.« Und sie verstand es tatsächlich - sie sah eine Zukunft, in der bestimmte Dinge geschahen, ganz gleich, was sie sich selbst wünschte; eine Zukunft, in der sie vollkommen machtlos war. Pflicht: Das war es, worum es hier ging. Sie hoffte, dass Alpin von Dornwald ein freundlicher Mann war. »Entschuldigt mich.« Mit hoch erhobenem Kopf gelang es ihr, den Raum mit unbeeinträchtigter Würde zu verlassen. Sie wartete, bis sie in ihrem Zimmer war, bevor sie sich die ersten Tränen erlaubte. »Es gefällt mir nicht«, sagte der König von Fortriu eine Weile später zu seiner Frau, als Faolan das Zimmer verlassen hatte und die beiden allein waren. »Ich hatte immer gehofft, nicht nur die richtige strategische Verbindung für Ana zu finden, sondern auch einen Mann, von dem ich wusste, - 34 dass er freundlich zu ihr sein würde. Es widerstrebt mir, jetzt alles übereilen zu müssen.« »Sie ist sehr durcheinander.« Tuala seufzte. »Sie hat ihr Bestes getan, es nicht zu zeigen - sie ist sehr gut erzogen -, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie den Tränen nahe war. Wenn es eine Möglichkeit gibt, es ihr leichter zu machen, sollten wir unser Bestes tun, diese Möglichkeit zu finden.« »Ich weiß.« Bridei streckte die Hand aus und kraulte Ban hinter den Ohren; seufzend legte der kleine Hund den Kopf auf den Fuß des Königs. Seit dem Tag, als Ban geheimnisvollerweise aus dem magischen Teich in Pitnochie erschienen war, in diesem bedeutungsschweren Winter der Königswahl, hatte er Brideis Seite kaum verlassen. »Ich weiß, wir verlangen viel von ihr. Aber Ana ist jetzt eine erwachsene Frau, und sie hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie gern eigene Kinder hätte. Es wäre gut möglich gewesen, dass man sie schon mit vierzehn oder fünfzehn verheiratet hätte, wenn zu diesem Zeitpunkt das richtige Angebot eingetroffen wäre.« »Dennoch«, sagte Tuala, »jede Frau in ihrer Situation wird sich fragen, wie es weitergeht, wenn sie Dornwald erreicht und entdecken muss, dass ihr Verlobter ein Ungeheuer ist: pockennarbig oder ein Säufer oder einer, der seine Frau schlägt. Es wäre viel besser, wenn Alpin erst herkommen könnte, damit wir herausfinden können, was für eine Art von Mann er ist. Ana ist unsere Freundin, Bridei.« Er öffnete die Augen ein wenig. Seine Frau, schlank und aufrecht, saß ihm gegenüber. Ihr dunkles Haar hatte begonnen, sich aus den ordentlichen Zöpfen zu lösen, und lockte sich um ihr Gesicht. Ihre Augen waren die gleichen wie die von Derelei, groß, hell und klar. »Ich weiß«, sagte Bridei. »Und wäre ich nur das, wäre ich nur ihr Freund, würde ich ihr raten, unsere Bitte abzulehnen. Ich würde sie davor warnen, so eine lange und gefährliche Reise an einen Ort anzutreten, wo sie sich in die Hände eines Fürsten von - 35 Alpins Ruf begibt. Aber ich bin der König. Meine Entscheidungen müssen auf dem beruhen, was das Beste für Fortriu ist.« »Bridei, du weißt, dass ich dir diese Entscheidung nicht übel nehme«, sagte Tuala leise. »Ich verstehe ebenso wie du, dass es im Interesse des großen Ganzen notwendig ist. Auch Ana weiß das. Aber sie ist erschrocken und
verängstigt, wie es jede junge Frau unter diesen Umständen wäre. Ist es wirklich so wichtig, dass sie aufbricht, bevor wir Alpins Antwort erhalten?« »Wenn man Faolan glauben darf, ja. Ich habe mit Broichan gesprochen, und er ist zu der gleichen Ansicht gelangt. Wir bereiten uns nun seit Jahren auf diesen letzten Angriff gegen die Galen vor. Alles ist an Ort und Stelle. Wir haben getan, was wir konnten, um auf alle Entwicklungen gefasst zu sein. Oder zumindest glaubten wir das. Jetzt sieht es so aus, als wäre Alpin der unberechenbare Faktor, das Element, das das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung verändern könnte. Bisher war uns nicht klar, welchen Einfluss er hatte. Wir wussten auch nicht, wie ernsthaft er ein Bündnis mit Gabhran in Erwägung zieht. Ana ist unsere Lösung, Tuala, und so weh es mir auch tut, wir müssen sie jetzt auf den Weg schicken. Jeder Tag, der vergeht, während sie hier auf dem Weißen Hügel wartet, ist einer zu viel.« »Es ist gefährlich, nicht wahr? Der Weg nach Dornwald?« »Faolan wird schon dafür sorgen, dass ihr nichts zustößt. Er wird sich ein Bild von Alpin und den Gefahren machen, und wir werden verlangen, dass zwischen Anas Eintreffen in Dornwald und der Handreichung eine gewisse Zeit liegen muss. Das wird Ana zumindest Gelegenheit geben, ihren Verlobten ein wenig kennen zu lernen.« »Sie verachtet Faolan. Das ist seltsam; Ana ist ein so liebenswertes, sanftmütiges Geschöpf, das nie ein böses Wort über irgendjemanden sagen würde, aber bei ihm kann sie offenbar nicht über die Art seiner Arbeit hinwegsehen.« - 36 Bridei verzog das Gesicht. »Dieses Gefühl scheint gegenseitig zu sein; Faolan würde selbstverständlich keinen Auftrag ablehnen, aber er hat es mehr als deutlich gemacht, dass es nicht zu seinen Lieblingstätigkeiten gehört, Kindermädchen für verwöhnte Prinzessinnen und ihre Mitgifttruhen im Caitt-Territorium zu spielen. Tatsächlich hat er mir diverse Gründe aufgezählt, wieso diese Aufgabe besser für einen anderen Mann geeignet sei.« »Verwöhnt?« Tuala lächelte. »Er kennt sie nicht sehr gut, oder?« »Er hat vor, ihr jeden Tag Reitunterricht zu erteilen, bis sie aufbrechen. Offenbar geht er davon aus, dass sie kaum im Stande ist, von einem Ende des Hofs zum anderen auf einem Pferd sitzen zu bleiben, ohne sich zu beklagen, dass sie vollkommen erschöpft ist oder Rückenschmerzen hat.« »Das gefällt mir alles überhaupt nicht, Bridei«, sagte Tuala ernst. »Die ganze Situation ist so unsicher! Du hättest Ana doch auch den wirklichen Grund nennen können, wieso alles nun so schnell passieren muss.« »Ich halte mich an Faolans Rat«, sagte Bridei. »Er glaubt, je weniger sie weiß, desto weniger wird es ihr auffallen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ich handele in Anas bestem Interesse.« »Hm«, sagte Tuala. »Ana ist nicht dumm. Männer neigen dazu, das bei einer so schönen Frau wie Ana zu übersehen. Ich nehme an, sie hat längst selbst herausgefunden, um was es geht.« Es war Abend. Ana war schlicht gekleidet, in Tunika und Rock aus blau gefärbter Wolle mit cremefarbenen Bordüren, die in dunklerem Blau bestickt waren. Das lange blonde Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Nun ging sie durch den Garten, vorbei an zwei Wachen und einen Steinflur entlang, in dem Fackeln in Eisenhaltern brannten, und gelangte schließlich zu der Eichentür des Zimmers, wo man - 37 sie erwartete. Vor der Tür stand ein Mann mit einem Speer: Breth, einer von Brideis Leibwächtern. »Sie warten auf dich«, sagte er und öffnete ihr die schwere Tür. Die Ratssitzung hatte offenbar schon eine Weile gedauert; Krüge und Becher standen auf dem Tisch, und Männer, die sich unterhalten hatten, brachen das Gespräch abrupt ab, als Ana hereinkam. Sie hielt sich sehr gerade und ließ sich das nervöse Brennen in ihrem Magen nicht anmerken. »Willkommen, Ana«, sagte der König und erhob sich. Ban, der neben Brideis Stuhl saß, gab ein leises, aber nicht besonders ernst gemeintes Knurren von sich. »Bitte setz dich.« Ana schaute in den Kreis von Gesichtern. Es war ein kleiner Rat mit ausgewählten Teilnehmern, in dem die mächtigsten von Brideis Beratern saßen. Tuala befand sich an der Seite ihres Mannes und lächelte Ana ermutigend zu. Fola, die Weise Frau, die früher am Tag eingetroffen war, sah Ana fragend an. Fola hatte Ana wegen ihrer Hakennase immer an einen kleinen Raubvogel erinnert. An der Feuerstelle stand Broichan, der Druide des Königs, ein hoch gewachsener Mann in dunklem Gewand, dessen Haar zu einer Unzahl von mit bunten Fäden durchzogenen Zöpfen geflochten war. Seine Miene verriet nichts; Broichans Gesichtsausdruck war stets undurchschaubar. Brideis Berater Aniel und Tharan saßen mit ernsten Mienen da, außerdem waren die Fürsten Carnach und Morleo und Feradas Vater Talorgen anwesend. Hinter dem Stuhl des Königs stand Faolan. Ana begegnete seinem Blick und schaute schnell wieder weg. »Also gut«, sagte Bridei. »Ich habe den Mitgliedern des Rats die Situation beschrieben, und Faolan hat über seine Reise berichtet und über die Informationen, die er erhalten hat. Es tut mir sehr Leid, dass wir dir nicht mehr Zeit geben konnten, über die Sache nachzudenken, Ana. Wenn du zustimmst, wird das Königreich Fortriu tief in deiner Schuld - 38 stehen. Du hattest ein klein wenig Zeit, um nachzudenken; hast du nun noch weitere Fragen an uns?« Ana räusperte sich. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, mit Fragen zu ringen, die sie ohnehin nicht stellen konnte, Fragen, die überhaupt nichts mit Strategie, sondern mit persönlichen Dingen zu tun hatten. »Ich möchte
gern wissen, ob einer von euch Alpin von Dornwald einmal begegnet ist. Ob es jemanden gibt, der mir ein Bild von ihm machen könnte.« Sie warf Talorgen einen Blick zu, dann Carnach. Kriegerfürsten reisten viel und begegneten vielen Menschen. »Darf ich das vielleicht beantworten?« Das war der grauhaarige Berater Aniel. Bridei nickte. »Leider müssen wir das verneinen«, sagte Aniel. »Wir kennen Alpin alle nur vom Hörensagen. Seine Leute fürchten und achten ihn. Seine Festung liegt abgelegen in dichtem Wald. Eine solche Umgebung kann leicht zu Gerüchten führen, die das natürliche Unbehagen von Menschen verstärken.« »Es ist nicht unbedingt etwas Schlimmes, wenn sich jemand entscheidet, tief im Wald zu leben«, stellte Tuala fest. »Die Territorien der Caitt sind überwiegend wild und abgeschieden, sagt man uns. Und ich nehme an, jeder Fürst ist von seinem eigenen Mantel aus Geschichten umgeben.« »Es war von Ereignissen in der Vergangenheit die Rede«, sagte Ana, die Aniels Worte wenig tröstlich fand. »Was ist geschehen?« »Nichts Besonderes«, sagte Aniel. »Einige von Faolans Gewährsleuten haben angedeutet, dass Alpin dazu neigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Isolation führt zu solchem Denken; Männer von diesem Schlag können in Kriegszeiten gefährlich sein, es mag vorkommen, dass sie ihre Bündnisse rasch wechseln. Daher müssen wir uns unbedingt mit Alpin anfreunden. Eine Heirat im Sommer und ein Erbe innerhalb eines Jahres wären unsere beste Möglichkeit, eine feste, dauerhafte Verbindung zu schmieden.« - 39 »Entweder das, oder wir eliminieren den Burschen.« Faolan hatte das ohne besonderen Nachdruck eingeworfen. »Das solltet ihr lieber sein lassen«, erwiderte Ana, »wenn ihr seine Streitmacht an eurer Seite und nicht an der eures Feindes sehen wollt.« Faolans Blick begegnete ihrem einen Moment, und sie schauderte. Seine Augen waren wie tot. Die Augen eines Mannes, der vergessen hat, wie man fühlt. »Genau«, bestätigte Talorgen. »Tatsächlich ist es von hoher Wichtigkeit zu verhindern, dass er seine Leute mit Dalriada vereint. Wir können uns nicht leisten, dass er sich mit Gabhran verbündet.« »So viel habe ich verstanden«, sagte Ana. »Broichan, dürfte ich deine Meinung zu dieser Angelegenheit hören?« Als Druide des Königs hatte Broichan das Ohr der Göttin. Wenn es tatsächlich ihr Wunsch war, dass Ana zustimmte, musste sie es ohne Zögern tun. »Ich habe vor Faolans Rückkehr eine Weissagung vorgenommen«, sagte Broichan mit seiner tiefen, befehlsgewohnten Stimme. »Mir wurde enthüllt, dass aus dem Norden Gefahr droht. Leider ist es sehr schwierig, verlässliche Informationen über die Caitt zu erhalten. Die gesamte Region ist karg und bergig, und das Wetter schreckt selbst die erfahrensten Reisenden ab.« Er betrachtete seine schlanken, knochigen Finger; an einem glitzerte ein Silberring in Form einer winzigen Schlange mit grünen Edelsteinaugen. »Das schlechte Vorgefühl, das diese Vision bei mir hervorrief, wurde von Faolans Nachrichten noch verstärkt. Als Gäle kann er sich an Orte begeben, die wir nicht betreten können. Wir müssen rasch handeln.« Ana verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Mir ist vollkommen klar, dass ich es tun muss«, sagte sie, hielt sich so aufrecht wie möglich und versuchte, ihre Würde zu bewahren. »Das bedeutet allerdings nicht, dass ich glücklich - 40 darüber bin. Was soll ich tun, wenn ich Dornwald erreiche und Alpin sich weigert? Es ist ein langer Weg für nichts.« »Er wird sich nicht weigern«, sagte Aniel und wiederholte damit Brideis Aussage vom Nachmittag. Die anderen Männer im Raum nickten oder murmelten zustimmend; Ana konnte ihre Blicke auf ihrem goldenen Haar, auf ihrer Figur in der blauen Tunika, auf ihrem Gesicht spüren, das ein leidenschaftlicher Verehrer einmal mit einer wilden Rose in Blüte verglichen hatte. Sie spürte, wie sie verlegen errötete. »Du verstehst sicher«, sagte Talorgen, »dass eine sehr gefährliche Möglichkeit, die uns im Kampf gewaltig schwächen könnte, ausgeschlossen wird, wenn du Alpin heiratest und er sich mit uns verbündet. Ich möchte dich nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber ich bin sicher, auch du erkennst, wie einfach eine Streitmacht zu Schiff, die Dalriada von Alpins Ankerplatz aus unterstützt, unsere Pläne zunichte machen könnte. Wenn wir andererseits ein gewisses Maß an Einfluss auf diesen Ankerplatz erhalten, könnte sich das deutlich zu unserem Vorteil auswirken.« Ana sah ihn an. Man hätte denken sollen, dass er als Feradas Vater besser wusste, wie sie sich fühlte. Aber zumindest hielt er sie nicht für zu dumm, mit ihr über strategische Einzelheiten zu sprechen. »Das verstehe ich«, sagte sie. »Ich weiß, um was es bei diesem Krieg geht und wieso es so wichtig ist, Alpin als Verbündeten zu gewinnen. Es geht nur alles so schnell. Ich habe kaum Zeit, mich vorzubereiten...« »Der Weg nach Dornwald ist weit.« Faolans Tonfall war neutral, distanziert. »Du wirst unterwegs mehr als genug Zeit haben, darüber nachzudenken.« »Wie lange?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Für eine Gruppe Reisender, die mit Frauen unterwegs sind, mehr als ein Mond, selbst wenn das Wetter günstig sein sollte. Krieger oder Boten kommen schneller voran.« Ana wandte sich wieder Bridei zu. »Mein König, hast du
- 41 in deiner Botschaft an Alpin erwähnt, dass ich bereits auf dem Weg bin?«, fragte sie. »Sodass er es ein paar Tage vorher erfährt und Zeit hat nachzudenken, bevor ich eintreffe?« »Das habe ich getan«, sagte der König. Nun waren ihr die Fragen ausgegangen. Alle schienen darauf zu warten, dass sie mehr sagte. Die falschen Worte lagen ihr auf der Zunge, zornige Worte, gekränkte Worte, nicht die Worte einer Prinzessin der Priteni, sondern die eines verängstigten Mädchens, das zu einem vollkommen Fremden geschickt werden soll. Sie schluckte sie herunter. »Meine Zustimmung zu dieser Sache ist selbstverständlich nur eine Formalität.« Sie hörte selbst, wie angespannt sie klang, und versuchte, das zu ändern. »Ich werde morgen mit meinen Vorbereitungen beginnen. Ich hoffe, ich kann damit unserer Sache helfen. Es würde mir nicht gefallen, wenn meine Anstrengungen umsonst wären.« Niemand sagte etwas. Ana sah Tränen in Tualas Augen und einen Ausdruck resignierten Mitgefühls in denen von Fola. »Ich wünsche euch eine gute Nacht«, sagte sie. »Ich werde mich zurückziehen. Möge die Leuchtende über eure Träume wachen.« Selbst der König stand auf, als sie den Raum verließ. »Sie will nicht gehen«, sagte Tuala zu Bridei. »Das wurde bei jedem ihrer Worte deutlich. Sie hat Angst. Wer weiß schon, als was für ein Mann sich dieser Alpin erweist?« Bridei saß nachdenklich in seinem Privatgemach am Feuer und hatte seinen kleinen Sohn auf den Knien. Die Beratung war vorüber. Die künftige Braut würde sich auf den Weg machen, sobald Faolan die Eskorte zusammengestellt hatte. Als König war Bridei daran gewöhnt, Entscheidungen nach einer sorgfältigen Einschätzung von Gefahren und Vorteilen fällen zu müssen. Aber diese Entscheidung fiel ihm schwerer als die meisten anderen. - 42 »Das ist ein Grund, warum ich Faolan mitschicke«, sagte er. An seinen Schläfen begannen die Kopfschmerzen. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück; das warme, entspannt dösende Kind auf seinem Schoss fühlte sich irgendwie tröstlich an. »Er mag diesen Auftrag für unter seiner Würde halten, aber ich verlasse mich darauf, dass er dafür sorgt, dass Ana in Sicherheit ist, bevor er Dornwald wieder verlässt. Er kennt sich gut genug aus, um einschätzen zu können, was Alpin tatsächlich vorhat, und um das künftige Verhalten des Fürsten vorherzusagen.« »Aber er wird nicht erkennen können, ob er einen guten Ehemann abgibt«, sagte Tuala leise. »Ana versteht, um was es geht«, sagte Bridei. »Sie wird so gut geschützt sein, wie es nur möglich ist. Wenn es aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten gibt, kann die Eskorte sie zum Weißen Hügel zurückbringen. Faolan nimmt zehn Bewaffnete mit. Du weißt, dass er ein fähiger Mann ist.« »Das genügt nicht. Ich mache mir Sorgen, Bridei; es fühlt sich einfach nicht richtig an. Komm, gib mir Derelei. Er gehört jetzt ins Bett.« Bridei hob das schlafende Kind hoch und legte es in ihre Arme. »Er wird Ana fehlen«, sagte Tuala. »Sie hat ihn sehr gern.« »Sie wird schon bald ein eigenes Kind haben.« Tuala trug den Jungen aus dem Zimmer. Als sie eine Weile später zurückkehrte, sah Bridei das Glitzern von Tränen in ihren Augen »Du weinst«, sagte er erschrocken. So zart sie auch aussehen mochte, Tuala verfügte über eine innere Kraft, die ihn schon beeindruckt hatte, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie ließ ihn nicht oft sehen, dass sie weinte. »Wegen Ana? Es tut mir Leid ... komm her...« Er nahm sie - 43 in die Arme und drückte die Wange an ihr dunkles Haar. »Ich bedauere sehr, dass es auf diese Weise geschehen muss, Tuala. Aber gleichzeitig weiß ich auch, dass ich es tun muss. Wenn ich nicht sofort etwas unternehme, um Alpin auf unsere Seite zu ziehen, gefährde ich damit das Leben von Hunderten von Männern.« »Es ist nur so ungerecht.« Tuala lehnte sich an ihn und schlang ihm die Arme um die Taille. »Dass sie und so viele andere Frauen sich auf solch lieblose Tauschhandel einlassen müssen, während du und ich... wir haben gegen so viele Regeln verstoßen, um Zusammensein zu können, Bridei. Wir haben uns nur von der Liebe leiten lassen. Wir haben uns Broichans Anordnungen und dem üblichen höfischen Protokoll widersetzt. Aber Ana lassen wir überhaupt keine Wahl. Sie ist eine meiner besten Freundinnen und war das schon seit jenen Tagen, als wir zum ersten Mal spürten, was Liebe bedeutet.« »In Banmerren?« Bridei lächelte. »Ich denke, ich habe es schon lange davor gespürt.« Die Erinnerungen an eine winzige Tuala mit im Wind wehendem Haar, die sich auf einer gefährlichen Felsspitze um ihre eigene Achse drehte, stand ihm lebhaft vor Augen, und er umarmte sie fester. »Außerdem haben die Götter auf unsere Heirat herabgelächelt. Selbst Druiden müssen sich einer solchen Autorität beugen.« Und als sie nicht antwortete, sagte er: »Tuala? Es tut mir wirklich Leid. Ich werde Faolan strenge Anweisungen geben. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung sein sollte, wird er Ana sofort nach Hause bringen. Er hat bis jetzt noch jeden Auftrag peinlich genau ausgeführt.« Tuala löste sich von ihm, nahm seine Hände und blickte zu ihm auf. »Ich hoffe, dein Vertrauen zu ihm ist gerechtfertigt«, sagte sie. »Ich weiß, er ist dir ein guter Freund, und er kennt sich in vielen Dingen hervorragend
aus. Aber von Frauen hat er nicht die geringste Ahnung.« - 44 KAPITEL ZWEI Es kam Ana übertrieben vor, dass Faolan sie jeden Morgen und bei jedem Wetter diese ausführlichen Übungen durchführen ließ. Sie lernte, auf ein Fingerschnippen hin in den Sattel oder vom Pferd zu steigen und ihr Pony sofort zu zügeln, wenn sie ein bestimmtes leises Pfeifen hörte. Sie hatte den Verdacht, dass Faolan seinen Ärger an ihr ausließ; es war nur zu deutlich, dass er glaubte, er sollte anderswo sein, vielleicht irgendwo im Kampf, wo er anderer Männer Blut vergoss, oder, wahrscheinlicher noch, lauernd im Schatten und mit einem großen Messer in der Hand. War das nicht, was Attentäter taten? Dieser hier jedoch war außerdem auch noch ausgesprochen begabt, wenn es darum ging, mit zusammengekniffenen Augen dazustehen und eine Feindseligkeit auszustrahlen, die man beinahe anfassen konnte. Aber schon am ersten Tag unterwegs erkannte Ana, wie wichtig die Übungen gewesen waren. Als sie am Rand der Lichtung, auf der sie ihr Lager aufschlagen wollten, vom Pferd stieg, spürte sie einen dumpfen Schmerz, der sich über den unteren Teil ihres Rückens ausbreitete. Sie konnte noch gehen, aber ihre Beine fühlten sich an wie Gelee. Faolan gab den Männern der Eskorte Befehle, und Ana bemerkte, dass er sie abschätzend ansah. Sie begegnete diesem Blick kühl, dann wandte sie sich ihrem Pferd zu. Es war - 45 nicht möglich gewesen, ihr eigenes Pony mitzunehmen; Faolan hatte erklärt, das Tier sei nicht stark genug, um mit diesem Ritt zurechtzukommen. Er hatte ihr ein zottiges, kräftiges, eher stures Pferd zugewiesen, und Ana hatte dazu geschwiegen. Sie hatte sich geschworen, sich nicht ein einziges Mal zu beschweren; diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. Es war deutlich genug, was er über sie dachte: Er hielt sie für verwöhnt und schwach und nahm an, dass sie nicht viel über die Welt außerhalb der schützenden Mauern des Hofs wusste. In der Nähe stand die Dienerin, die sich um Ana kümmern sollte, wie angewurzelt da, verzog das Gesicht und drückte die Hände auf den Rücken. Sie war mit einem der Männer zusammen geritten und sah ziemlich mitgenommen aus. Ana behielt ihre Gedanken für sich. Sie hatten darauf bestanden, dass sie eine Dienerin mitnahm. Es war bedauerlich, dass keines der Mädchen, die im Stande waren, sich um ihre Garderobe zu kümmern, reiten konnte. Sie hätten ihr lieber ein Bauernmädchen mitgeben sollen; was zählte es schon, ob sie die schöne Kleidung einer adligen Dame säubern und flicken konnte, solange sie im Stande war, sich nützlich zu machen, wenn es wirklich zählte. »Schon gut, Darva«, sagte Ana grimmig. »Du wirst dich daran gewöhnen.« Darva reagierte mit einem leisen Wimmern. Seufzend führte Ana ihr Pony zu den anderen, pflockte es an und begann es abzureiben. Einer der Männer kümmerte sich um das Füttern und Tränken der Tiere. Das mitgenommene Futter würde nicht lange reichen, aber diese kräftigen Geschöpfe waren daran gewöhnt, auf den Waldwegen und den kargen Hängen zu finden, was sie konnten, und würden die Reise gut überstehen. »Einer von uns kann das übernehmen, Herrin«, sagte der Mann und deutete auf das Sackleinen, das sie benutzte, um das feuchte Fell des Tieres abzureiben. - 46 »Ich bin fast fertig«, sagte sie. »Es ist besser, wenn einer von uns es macht.« Er nahm ihr das Tuch ab, und sie wusste, dass sie gegen eine Regel verstoßen hatte. Sie lächelte und trat zurück, denn sie wollte sich nicht streiten. Ein paar Männer machten sich mit Bögen in der Hand auf den Weg in den Wald, offensichtlich, um für das Abendessen zu sorgen. Das Lager war rasch aufgeschlagen: ein kleiner zeltartiger Unterschlupf für Ana und Darva, ein Feuer zwischen Steinen und ein Platz für Vorräte und Gepäck. Die Männer würden eine Decke vom Sattel abschnallen und im Freien schlafen. Ana fiel eine Frage ein, die ein wenig schwierig zu stellen sein würde. Aber bevor sie noch Zeit hatte, darüber nachzudenken, erschien Faolan so plötzlich an ihrer Seite, dass sie zusammenzuckte. Noch etwas, womit sich Spione auskannten, dachte sie säuerlich. »Du wirst einen Platz brauchen, wo du dich in Ruhe waschen kannst«, sagte er. »Dort unten bei den Bäumen gibt es einen Bach. Ich habe dreißig Schritte entfernt im Wald eine Wache aufgestellt. Geh jetzt, solange es noch hell ist.« »Kannst du auch höflich bitten, oder gibst du stets Befehle?« Sie bedauerte die Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte; es hatte sich unhöflich und unbeherrscht angehört. Dieser Mann förderte etwas bei ihr zu Tage, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es existierte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie. »Geh«, wiederholte Faolan, als hätte sie nichts gesagt. »Nimm die Dienerin mit. Immer vorausgesetzt, dass sie laufen kann. Und beeile dich.« Er wandte sich ab, ging quer über die Lichtung und fing an, sich um andere Dinge zu kümmern. Die Bewaffneten folgten gehorsam seinen Befehlen. In der kurzen Zeit war es nur möglich, einen behelfsmäßigen Platz im Gebüsch zu finden, sich rasch Gesicht und - 47 Hände zu waschen und Kleidung und Haar ein wenig zu ordnen. Darva musste auf Anas Arm gestützt mithinken; es würde ihr am nächsten Morgen sehr schwer fallen, in den Sattel zu steigen. Sie würden drei solche Tage haben und dann eine Unterbrechung, denn am vierten Morgen sollten sie die Festung Abertornie erreichen, das Heim des Fürsten Ged; dort würden sie richtige Betten und warmes Wasser bekommen. Ana bezweifelte sehr, dass Faolan ihnen mehr als eine Nacht in solchem Luxus gönnen würde.
Er ging kein Risiko ein, nicht einmal zu Beginn der Reise. Es gab zehn Bewaffnete, und offensichtlich würden einige von ihnen die ganze Nacht rings um das Lager Wache stehen. Ana konnte sich nicht vorstellen, welche Gefahren sie nur einen Tagesritt vom Weißen Hügel entfernt erwarteten. Nach ihrer Ansicht sollten die Männer lieber schlafen, solange sie noch Gelegenheit hatten. Sie aßen am Feuer; zu Brot und Käse vom Weißen Hügel gab es Hasenfleisch, das auf den Kohlen gebraten wurde. Die Männer sprachen nicht viel. Faolan beobachtete Ana, als sie eine saubere Serviette aus ihrem Beutel nahm und sich Fett von Mund und Fingern wischte. Dann zogen sie und Darva sich ins Bett zurück, wenn man es denn ein Bett nennen konnte; zwischen ihr und dem festen Boden lag kaum mehr als eine gefaltete Decke, und an ihrem ganzen Körper, der noch vom Ritt des Tages wehtat, schien es keine Stelle zu geben, die nicht schmerzte. Die erschöpfte Darva schlief rasch ein. Ana spähte zwischen den Decken hindurch, die vor dem Unterstand hingen. Fünf Männer lagen am Feuer, die anderen fünf standen Wache. Faolan saß da und starrte in die Flammen, die seine finsteren Züge in ein flackerndes Muster aus Licht und Schatten verwandelten. Während Ana sich rastlos hin und her wälzte, blieb er reglos sitzen. Hin und wieder schaute sie erneut nach draußen, aber er bewegte sich bis auf die Augen offenbar nicht. In diesen Augen stand - 48 etwas, das Ana nicht verstand, eine Trostlosigkeit, die sie erschreckte. Sie schlief schließlich unruhig und schreckte immer wieder aus dem Schlaf. Mitten in der Nacht, als im Wald die Nachttiere lebendig wurden, riefen, zwitscherten, schrien, huschten, raschelten, sah sie, wie er mit einer fließenden Bewegung aufstand, sich streckte und die anderen weckte. Die Wache wechselte; fünf Männer kehrten ins Lager zurück, um sich hinzulegen, und fünf gingen davon, Messer oder Speere in der Hand. Faolan blieb am niedergebrannten Feuer, nun stehend, das Gesicht im Schatten. Ana erkannte, dass er es offenbar für seine Aufgabe hielt, sie zu bewachen. Sie fand das zutiefst beunruhigend. Kurz vor der Dämmerung schlief sie zum Geräusch von Darvas anhaltendem Schnarchen wieder ein. Sie zogen nach Norden und landeinwärts. Am dritten Tag überquerten sie einen breiten Fluss, dessen Wasser bis über die Pferdebeine reichte und die Stiefel der Reiter durchtränkte. Faolan ritt von Ana aus gesehen flussabwärts und behielt sie auf ihrem Pony genau im Auge. Auf der anderen Seite stieg sie ab, um sich das Wasser aus dem Rock zu wringen, und als sie ihn in der Nähe sah, sagte sie gereizt: »Ich kann reiten; das solltest du inzwischen wissen.« »Dennoch«, sagt Faolan. »Das hier war nur die erste Furt.« Sie stieg wieder auf, und die Reise ging weiter. Eine andere Frau hätte vielleicht ein Feuer verlangt, um sich zu trocknen, dachte sie, oder Ruhe, etwas zu essen oder etwas zu trinken. Eine andere Frau würde vielleicht zu dem Schluss kommen, dass sie auf keinen Fall weiter als bis Abertornie ziehen konnte, und wenn Alpin von Dornwald sie nicht genügend haben wollte, um dorthin zu kommen und sie zu holen, würde er eben ohne sie leben müssen. Ferada hätte sich ganz bestimmt schon längst widersetzt, da - 49 war Ana sicher. Ana würde das nicht tun. Sie richtete den Blick auf den geraden, irgendwie Ablehnung ausstrahlenden Rücken von Faolan, der vor ihr ritt, um abzuschätzen, wie sicher der Weg war, und sie kam zu dem Schluss, dass sie hier etwas beweisen musste, nicht nur ihm, sondern auch sich selbst. Man hatte sie zu ausgeprägtem Pflichtgefühl erzogen. Da gab es ihre Pflicht gegenüber Bridei und Tuala, die ihr ein Zuhause und so etwas wie eine Familie gegeben hatten. Und noch wichtiger war ihre Pflicht gegenüber Fortriu. Als Frau aus der königlichen Linie war sie verpflichtet, zu heiraten und Kinder zu bekommen: Ihre Söhne würden einmal das Recht haben, sich zur Königswahl zu stellen, und die Töchter könnten strategische Ehen eingehen wie sie selbst. Ihre Familie auf den Hellen Inseln würde das von ihr erwarten. Ihre Familie ... Sie hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Ihr Vetter, Brideis Vasall, ihre älteren Brüder, das waren in ihrer Kinderwelt ohnehin nur entfernte Präsenzen gewesen. Dann gab es eine Tante, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgezogen hatte. Und ihre kleine Schwester Breda, die ihr am meisten fehlte. Ana erinnerte sich an Sommertage am Wasser, wo sie beide unter einem weiten hellen Himmel Muscheln gesammelt hatten, an Winternachmittage am Herdfeuer, wenn sie Leinentücher bestickten; Tante hatte so getan, als bliebe sie wach in ihrem Sessel, und Ana hatte heimlich Bredas schiefe Stiche berichtigt. Breda würde jetzt sechzehn sein, alt genug, um selbst zu heiraten. Vom Weißen Hügel war es nicht allzu weit bis zu den Inseln. Aber für eine Geisel waren sie eine ganze Welt entfernt. Ana verbrachte den größten Teil des Tages damit, sich von der Kälte des Winds auf ihrer feuchten Kleidung und den Schmerzen in ihren Knochen abzulenken, indem sie sich selbst Geschichten von Helden, Drachen und seltsamen Waldgeschöpfen erzählte. Sie sang auch leise vor sich hin, damit sie nicht zu oft an ihr Elend denken musste. Sie 50 lang das ganze Repertoire kleiner Lieder durch, die sie Derelei vorgesungen hatte, Zählreime, Schlaflieder, Lieder zur Aussaat, zur Ernte, zum Fischfang. Die Inseln waren voll solcher Melodien, und jede hatte ihren bestimmten Zweck. Der Ritt ging weiter; der Weg war nun steiler, die Pferde suchten sich ihren Weg über steinigen Boden. Im Westen tauchten mit Kiefern überzogene Hänge auf. Hinter dem Wald konnte Ana hohe, dunkle Berge erkennen,
einsam und mit verschneiten Gipfeln. Sie begann nun, ein längeres Lied zu summen, eine Ballade, in der es um einen Reisenden in fernen Landen und um die seltsamen, wunderbaren Völker ging, denen er unterwegs begegnete. Mit einigem Glück würden die Dutzende Strophen ausreichen, bis sie wieder ebenen Boden erreichten und Faolan beschloss, dass sie Rast machen konnten. Beträchtliche Zeit später, gerade als Ana zu der Stelle gekommen war, wo der Held den Drachen tötete, erreichten sie den Fuß des Hügels, und die Männer zügelten ihre Pferde und sammelten sich um Faolan. Als Ana näher kam, hörte sie ihn sprechen. »... gut vorangekommen. Ich denke, wir können Abertornie vor Einbruch der Dämmerung erreichen, wenn wir schnell weiterreiten. Dann brauchen wir kein Lager mehr aufzuschlagen. Und das wiederum bedeutet, dass wir noch bei gutem Wetter über die Grenze kommen können.« Die Männer nickten. Ana warf einen Blick zu Darva, die kreidebleich hinter einem hoch gewachsenen Bewaffneten auf einem Pony mit breitem Rücken saß. Darva hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sie sah aus, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren. »Wir müssen eine kurze Rast einlegen«, sagte Ana entschlossen. »Wir frieren und sind müde. Wir müssen uns strecken und etwas essen und trinken. Es braucht nicht lange zu dauern. Mir ist klar, dass wir unser Ziel erreichen - 51 müssen, solange es noch hell ist. Wir tun unser Bestes, aber wir sind nicht alle Krieger.« Faolan sah erst sie an, dann Darva, die im Sattel schwankte, dann wieder Ana. »Möchtest du lieber hier ein Lager aufschlagen?«, fragte er zu ihrer Überraschung. »Einen weiteren Tag zur Reise hinzufügen? Du willst es doch sicher auch so schnell wie möglich hinter dich bringen.« Ana blinzelte überrascht. Der Weg nach Dornwald war lang, länger als einen Mond, hatte er gesagt. »Soll das heißen, ich kann es mir aussuchen?«, fragte Ana und zog die Brauen hoch. »Wenn wir heute weiterziehen, kommen wir schneller weiter als geplant.« »Und ich bin sicher, du kannst es kaum erwarten, diesen Auftrag hinter dir zu haben.« Faolans Miene änderte sich nicht. »Dein musikalisches Repertoire ist vielleicht nicht mehr so interessant, wenn es zu häufig wiederholt wird«, sagte er. Zu ihrem gewaltigen Ärger spürte Ana, wie sie rot wurde. »Stör dich nicht daran«, sagte Faolan. »Wer bin ich schon? Und, was soll es sein? Schlagen wir ein Lager auf, oder ziehen wir weiter?« »Wir ziehen weiter«, sagte Ana grimmig. »Nachdem wir eine kurze Rast eingelegt haben. Die Aussicht auf zivilisierte Gesellschaft lässt Abertornie jeden Augenblick reizvoller erscheinen.« »Ich würde dir ja gerne noch mehr Männer mitgeben«, sagte Ged von Abertornie entschuldigend und griff nach Faolans Becher, um ihm Bier nachzugießen. »Man weiß nie, was einem in dieser Gegend begegnet. Clan gegen Clan, Freund gegen Freund, Bruder gegen Bruder. Manchmal scheinen sie aus keinem anderen Grund zu kämpfen, als weil sie es können. Denk nur, was Bridei mit solchen Männern anfangen könnte! Aber Umbrig ist der Einzige, der - 52 bisher wirkliches Interesse an einer Zusammenarbeit an den Tag legte. Die anderen sind wie ein Rudel Wildkatzen. Oder sie wären es, wenn solche Geschöpfe Rudel bilden würden. Dort im Norden steht jeder Mann für sich; es ist ein Land einsamer Jäger, die alle ihr eigenes Revier schützen. In Alpins Fall handelt es sich allerdings um ein sehr großes Revier. Groß und gut geschützt. Das ist eine jämmerliche Eskorte, die du da hast, Faolan. Das Mädchen ist verwundbar.« Faolan betrachtete schweigend seinen Becher. Die beiden saßen nach dem Abendessen in einem kleinen Nebenraum der Halle von Geds Haus in Abertornie. Die Tür war geschlossen, und auf der anderen Seite stand eine Wache. »Wie ich schon sagte«, fuhr Ged fort, »ich hätte dir helfen können, wenn du zu einem anderen Zeitpunkt eingetroffen wärst. Ich habe hier Männer, die das Gelände recht gut kennen, obwohl keiner je den ganzen Weg zu Alpins Territorium zurückgelegt hat. Verlässliche Bergführer. Du brauchst einen von denen. Aber ich kann dir keinen mitgeben. Wir ziehen alle in ein paar Tagen nach Süden. Die paar, die nicht mit mir kommen, müssen hier bleiben, um Haus, Frauen und Kinder zu bewachen.« Er seufzte ausgiebig und trank einen Schluck Bier. Ged war ein kräftig gebauter Mann und trug an diesem Abend Hemd und Hose mit einem verblüffenden Muster aus Karos und Streifen, bunt gefärbt in Scharlachrot, Grün und Blau. Seine Männer, die Faolan in den Höfen von Abertornie gesehen hatte, wo sie sich auf den Feldzug vorbereiteten, waren alle ähnlich bunt gekleidet. Wenn seine Bergführer die gleiche Uniform anhatten, dachte Faolan, würde man sie aus der Ferne schon sehen können. Der einzige Ort, an dem einem dieser Aufzug Tarnung bot, war ein bunter Blumengarten. »Es ist meine eigene Entscheidung, nicht mehr Leute mitzunehmen«, sagte er. »Sie sind alle handverlesen. Ana wird sicher sein.« - 53 »Unterschätze nicht die Wichtigkeit dessen, was du da überbringst, Junge«, sagte Ged und sah ihn nachdenklich an. »Für mich«, sagte Faolan, dem man trotz seiner Bemühungen eine gewisse Anspannung anmerkte, »ist sie nur
eine Frau. Wir sind alle ersetzbar.« »Unsinn. Diese junge Dame vom Weißen Hügel nach Dornwald zu bringen, ist so, als eskortierte man eine Ladung Goldstücke oder eine Truhe mit kostbaren Edelsteinen. Tatsächlich ist sie sogar noch wichtiger, und ganz bestimmt ist die gesamte Mission gefährlicher. Wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, stellt Alpin eine große Gefahr für unsere Sache dar. Die Verwandtschaftsverbindungen durch diese Heirat werden dem Burschen einen Status geben, den er sich nie hätte träumen lassen. Außerdem sind Anas persönliche Reize, nun, sagen wir einmal, mehr als durchschnittlich. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie Alpin auf unsere Seite ziehen kann. Das Mädchen ist buchstäblich sein Gewicht in Gold wert, Faolan. Nein, mehr als ihr Gewicht, denn sie ist eher ein schlankes Ding. Ersetzbar? Wohl kaum. Deine Aufgabe ist lebenswichtig. Das ist zweifellos der Grund, wieso Bridei sie ausgerechnet dir übertragen hat.« Faolan holte tief Luft. Was er persönlich von diesem Auftrag hielt, war irrelevant. Er hatte sich Bridei anvertraut; anderswo darüber zu sprechen, wäre illoyal. Er hatte zugestimmt, diesen Auftrag auszuführen, und daher würde er es tun. Und zwar perfekt. »Ja, und er hat es mir überlassen, was ich als Sicherheitsmaßnahmen für notwendig halte. Zehn Männer genügen. Ich erwarte, spätestens zum Mittsommer wieder am Weißen Hügel zu sein. Auf dem Rückweg werden wir ohne die Frauen erheblich schneller vorankommen.« »Selbstverständlich.« Ged beobachtete ihn immer noch genau, als hätte nichts, was Faolan gesagt hatte, ihn wirk- 54 lieh überzeugt. »Und du wirst sicher so schnell wie möglich zurückkehren wollen. Sag mir, weiß die junge Dame, was für den Sommer geplant ist?« »Es ist sicherer, wenn sie es nicht weiß. Bridei hat ihr mitgeteilt, dass strategische Gründe diese Eile verlangen. Sie versteht, dass Alpin sich auf jede Seite schlagen könnte. Und sie war klug genug, nur wenige Fragen zu stellen.« »Hm«, sagte Ged. »Ich muss zugeben, mir tut die junge Ana ein wenig Leid. Sie ist ein gutes Mädchen. Sie hat Besseres verdient.« Faolan schwieg. »Zumindest können wir dich ausrüsten«, fuhr der Herr von Abertornie fort. »Trockenfleisch, Käse, was immer deine Packtiere tragen können. Ist dir klar, dass ihr nicht den ganzen Weg reiten könnt? Ein Teil der Pfade wird verlangen, dass deine Männer die Pferde führen, und die Frauen werden zu Fuß gehen müssen. Wenn die Situation anders wäre, würdest du den Weg entlang den Seen und den Fünf Schwestern nehmen können. Dennoch, du möchtest sicher nicht einer Armee begegnen, die aus der anderen Richtung kommt. Wir leben in bedeutungsschweren Zeiten. Wer hätte gedacht, dass Bridei schon so bald zuschlagen will?« Faolan antwortete nicht, es gab nichts zu sagen. Innerhalb von zwei Monden würde er in Dornwald sein und eine junge Braut ins Haus eines Fremden führen, und Bridei würde kurz davor stehen, seine Streitmacht durch das Große Tal in den Kampf ihres Lebens zu führen. Dass Bridei es so geplant hatte, dass er die ganze Zeit schon vorgesehen hatte, dass Faolan in diesem Augenblick der Wahrheit nicht an seiner Seite sein sollte, machte die ganze Sache noch schlimmer. Faolan nahm sich vor, sich nur noch nur auf die Tatsachen zu konzentrieren. Er war ein Söldner, und er würde dafür sorgen, dass er das Silber, das sie ihm zahlten, auch wert war. Die Tür öffnete sich knarrend, und der Wachposten - 55 schaute herein. »Die junge Dame möchte mit dir sprechen, Herr.« Ana stand in der Tür. Sie war blass und bedrückt gewesen, als sie vor einiger Zeit in Abertornie angekommen waren. Nun trug sie eine saubere Tunika und einen Rock in hellem Blau, und ihr blondes Haar war zu einem Kranz von Zöpfen frisiert und glänzte im Lampenlicht. Es schien kaum der Mühe wert, dachte Faolan, da sie ja morgen wieder aufbrechen würden. Beide Männer erhoben sich. Ged sprang auf, Faolan bewegte sich langsamer. »Bitte bleibt sitzen«, sagte Ana. »Es wird nicht lange dauern.« Ged bat sie, sich hinzusetzen, und goss ihr Bier ein. Sein Blick war offen bewundernd. Verheiratet oder nicht, er war bekannt dafür, dass er die Gesellschaft schöner Frauen genoss, besonders, wenn sie auch noch klug waren. »Danke.« Ana trank einen höflichen Schluck, setzte den Kelch dann ab und sah Faolan an. »Es geht um Darva«, sagte sie. »Sie kann nicht mitkommen.« Das ließ sich nicht abstreiten. Faolan hatte gesehen, dass die Dienerin bei ihrer Ankunft mehr oder weniger vom Pferd gefallen war und ins Haus getragen werden musste. »Sie wird es nicht durchstehen«, fuhr Ana fort. »Sie sollte sich am besten hier ausruhen und dann bei einer passenden Gelegenheit zum Weißen Hügel zurückkehren.« »Wir können sie zweifellos hier in Abertornie unterbringen«, sagte Ged. »Aber...« »Ich hoffe«, sagte Faolan zu Ana, »du willst nicht vorschlagen, dass wir deshalb später aufbrechen. Ich hatte angenommen, du würdest eine Gefährtin aussuchen, die zumindest ein bisschen reiten kann.« Er sah, wie Anas Wangen sich rosig färbten; sie konnte das offenbar bewusst bewirken. »Verzeih mir«, sagte sie. »Ich bin davon ausgegangen, - 56 dass du für dieses Unternehmen zuständig bist und nicht ich. Du hast mich vor unserem Aufbruch genügend
gedrillt. Wie kommt es, dass ausgerechnet ein so verlässlicher Mann es versäumt, die Qualifikation meiner Dienerin zu überprüfen?« Selbstverständlich hatte sie Recht. Es war seine Verantwortung, und er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Er sah ihr ins Gesicht, bemerkte das kleine Stirnrunzeln, die Falte zwischen den elegant geformten Brauen. Es war von Anfang an klar gewesen, dass diese königliche Braut nicht lieber nach Dornwald reiste als er. Jetzt ignorierte sie ihn und wandte sich an Ged. »Ich wollte fragen«, sagte sie, »ob es hier in Abertornie ein Mädchen gibt, das an Darvas Stelle mit uns kommen kann. Es ist nicht so wichtig, ob sie eine fähige Dienerin ist; solche Dinge kann ich ihr mit der Zeit beibringen. Sie muss reiten können, und ich meine wirklich reiten, und sie muss im Stande sein zu lächeln, ganz gleich, wie schwierig die Situation wird.« Als wollte sie diesen Punkt noch einmal betonen, wandte sie sich Faolan zu und bedachte ihn mit einem Lächeln von berechnendem Strahlen, das irgendwie gleichzeitig von freundlicher Anerkennung und vollkommener Falschheit sprach. Unwillkürlich begannen seine Mundwinkel zu zucken. Ged brüllte vor Lachen. »Ich habe deine Frau bereits gefragt«, sagte Ana dem Fürsten, »und sie hat versprochen, ein passendes Mädchen zu finden, eins, das nichts gegen ein Abenteuer hat. Wir brauchen nur noch deine Zustimmung. Wir wollen allerdings morgen früh gleich aufbrechen. Sie wird schnell packen müssen; sie wird nicht viel Zeit haben, um sich zu entscheiden.« Wieder hatte sie Faolan überrascht. Er hatte zumindest erwartet, dass sie darum bitten würde, eine weitere Nacht bleiben zu können. Die Männer hätten nichts dagegen gehabt. - 57 »Ihr legt ein schnelles Tempo vor«, brummte Ged. »Ich bin sicher, Loura wird ein Mädchen für dich finden. Es gibt genug davon in dieser Gegend.« »Danke«, sagte Ana. »Es ist nicht so, als ob ich wirklich eine Dienerin brauchte; ich komme ganz gut allein zurecht und habe nicht viel mitgebracht, was Arbeit machen würde, da man mir befohlen hat, so viel wie möglich zurückzulassen. Ich brauche dieses Mädchen vor allem aus Gründen der Angemessenheit.« Ged grinste. »Was, mit dem da als Anführer? Keiner würde es wagen, einen falschen Schritt zu tun oder einen frechen Blick zu riskieren. Aber du hast Recht. Ich habe ihm bereits gesagt, dass die Eskorte zu klein ist. Drei oder vier Frauen, die dich bedienen, und dazu zwanzig Bewaffnete, das wäre besser. Es gibt Damen, die eine Wäscherin, eine Näherin und einen Barden zusätzlich verlangen würden.« »Sie braucht keinen Barden«, sagte Faolan zu seinem eigenen Erstaunen. »Die Dame sorgt für ihre eigene Unterhaltung.« Ana warf ihm einen erbosten Blick zu; er achtete darauf, dass seine Miene ausdruckslos blieb. Anas Singstimme war leise, aber klar, und sie traf jeden Ton präzise; nachdem er sie mit Worten, die ihm unwillkürlich über die Lippen gekommen waren, zum Schweigen gebracht hatte, mit Worten, von denen er wusste, dass sie grausam waren, waren die Lieder dennoch in seinem Kopf hängen geblieben und folgten ihm selbst in seinen kurzen Schlaf. Sie riefen Erinnerungen an ältere Lieder in einer anderen Sprache hervor, an eine Musik, die zu einem anderen Leben gehörte, einem, das er vergessen haben sollte. Er hätte sie angefleht, nicht zu singen, aber die Regeln, denen er sich selbst unterwarf, verbaten solche Ehrlichkeit. »Ich habe Recht, oder?«, fragte sie ihn jetzt. Ihre Wangen waren nicht mehr so rot und ihre grauen Augen ruhig und kühl, als sie ihn jetzt ansah. »Wir sollten so bald wie mög- 58 lieh weiterziehen, weil wir vielleicht später von schlechtem Wetter aufgehalten werden.« Er nickte. »Morgen«, sagte er. »Du wirst deinen neuen Mann so bald wie möglich kennen lernen wollen.« Etwas flackerte in ihrem Blick. »So bald wie möglich«, wiederholte sie. »Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen, und da man mir gesagt hat, dass Geschwindigkeit von Nöten ist, werde ich mich an den Marschplan halten. Das ist alles.« Faolan antwortete nicht. Anas Stimme war kühl gewesen, anders als die Stimme, mit der sie sang, um ihre Müdigkeit zu vergessen. Pflichtgefühl jedoch verstand er. Pflichterfüllung war für ihn eine recht komplexe Sache. »Es wird vielleicht gar nicht so schlimm, Mädchen«, sagte Ged, legte die Hand auf Anas Knie und zog sie mit einem Blick auf Faolan sofort wieder zurück. »Dieser Alpin ist zumindest wohlhabend. Und noch nicht zu alt. Du könntest es sehr gut getroffen haben.« Es war schwer zu sagen, ob Creisa, das neue Mädchen, für ihr Unternehmen eine Hilfe oder ein Hindernis sein würde. Sie besaß ihr eigenes Pony und ein Schultertuch in den Regenbogenfarben, die Angehörige von Geds Haushalt überall auffallen ließen, wenn sie unterwegs waren. Creisa konnte zweifellos reiten, und sie schnarchte auch nicht. Es war ihre Wirkung auf die Männer von Anas Eskorte, die Anlass zur Sorge bot. Sie war jung und hatte etwas Frisches an sich, das an eine Frühlingsprimel erinnerte: rote Wangen, volle Lippen, große braune Augen mit langen Wimpern. Ihre Figur war üppig und zeigte sich zu ihrem Vorteil, wenn sie hoch zu Pferd saß, der Rücken gerade, die Schultern beweglich, mit der unbewussten Anmut einer geborenen Reiterin. Am Abend unterhielt sie sich mit den Männern am Feuer und hielt sie vom Schlafen ab. Bei Tag scherzte sie mit ihnen, und die handverlesene Eskorte reagierte und begann um ihre , - 59 Aufmerksamkeit zu wetteifern, bis Faolan alle mit einem barschen Befehl zum Schweigen brachte. Darauf folgte
dann eine kurze Zeit von Ruhe und Ordnung, bis Creisa eine weitere beiläufige Bemerkung oder einen kichernden Vorschlag machte und alles von vorne anfing. Faolan entwickelte eine kleine Falte zwischen den Brauen, und passend dazu wurde sein Mund, der ohnehin alles andere als entspannt war, noch schmaler. Ana fand die Kabbeleien von Mädchen und Männern amüsant und harmlos - alle wussten, dass es auf einer solchen Reise nicht mehr als das geben konnte. Nachdem Faolan die Männer angefaucht hatte, fühlte sie sich versucht anzumerken, dass ihm dies doch sicher angenehmer war als ihr Gesang, aber sie hielt den Mund, denn sie wollte ihn nicht wissen lassen, dass seine Bemerkung sie gekränkt hatte. Sie hatte Derelei häufiger in den Schlaf gesungen, als sie sich erinnern konnte, und seine kindliche Wärme, sein vertrauensvolles Lächeln fehlten ihr. Vor langer Zeit hatte sie ihrer kleinen Schwester die gleichen Lieder beigebracht. Musik war Liebe, Familie, Erinnerung. Sie wusste nicht, wie jemand sie derart abtun konnte. Abertornie war das letzte Haus eines Verbündeten gewesen, die letzte Übernachtung innerhalb fester Mauern. Faolan hielt es für zu gefährlich, bei den unbekannten Bewohnern der wilden nördlichen Täler Unterkunft zu suchen, von denen es ohnehin nur wenige gab. Ein ungeplanter Besuch in der Festung eines Caitt-Anführers, besonders, wenn eine der Reisenden eine junge Frau von großem strategischen Wert war, konnte gut damit enden, dass die ganze Gruppe als Geiseln genommen wurde oder noch Schlimmeres. Es war es nicht wert, um einer bequemen Unterkunft, sauberer Kleidung oder eines besseren Abendessens willen ein solches Risiko einzugehen. Also zogen die Reisenden weiter und kamen gut voran, während der Mond erst halb voll, dann voll wurde und wieder begann abzu- 60 nehmen. Jeden Tag schienen der Weg steiler und die Wälder dunkler zu werden, das Unterholz dichter und die Hänge gefährlicher. Das Wetter war günstig für sie und blieb überwiegend trocken, wenn auch kalt. Nachts schliefen Ana und Creisa unter den gleichen Decken und hielten einander warm. »Das ist besser als nichts, Herrin«, flüsterte Creisa, als die Männer sich vor ihrem kleinen Unterschlupf rund um das Feuer niederlegten und die Nachttiere ihre geheimnisvollen Dialoge im Wald begannen. »Sicher, ich würde mich lieber an einen dieser Männer kuscheln, zum Beispiel an diesen Kinet, er hat breite Schultern und ein nettes Lächeln, oder vielleicht an Wrad - hast du bemerkt, wie dreist er mich ansieht? Wenn wir unser Ziel erreichen, wird einer von ihnen eine angenehme Überraschung erleben. Im Augenblick kann ich mich aber noch nicht entscheiden, welcher.« »Still«, zischte Ana, hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, die Dienerin zu tadeln, wie eine Herrin es tun sollte, und solch dummem Geschwätz ein Ende zu machen, und einer Art von Neid, weil das Mädchen so offen und mit so offensichtlichem Genuss über Dinge sprechen konnte, die für Ana trotz ihrer neunzehn Jahre noch immer ein Geheimnis waren. »Du solltest nicht so sprechen, Creisa. Es gehört sich nicht.« »Es tut mir Leid, Herrin«, sagte Creisa leise. Sie schwieg eine Weile, dann fing sie wieder an. »Selbstverständlich können die Stillen, Verschlossenen auch die Aufregendsten sein, wenn man es erst einmal schafft, dass sie sich für einen interessieren. Ich weiß, mit wem ich wirklich eine Nacht allein verbringen möchte. Ich denke, dieser Faolan wüsste genau, was er tun muss.« Eine Art von Schweigen hinter der Öffnung ihres behelfsmäßigen Zelts sagte Ana, dass sie jetzt sofort eine gute Antwort finden musste. »Faolan ist König Brideis persönlicher Botschafter. Er ist - 61 ein guter Freund des Königs. Du wirst nicht wieder so respektlos über ihn sprechen, Creisa. Ich hoffe, ich brauche es dir nicht zweimal zu sagen.« »Nein, Herrin.« Man hörte Creisa an, dass sie im Dunkeln lächelte. »Dennoch...« »Das reicht jetzt!«, fauchte Ana laut genug, dass jeder es hören konnte, der zufällig in der Nähe war. Creisa schwieg schließlich, und schon bald sagten ihre Atemgeräusche Ana, dass sie eingeschlafen war. Ana selbst schlief nicht. Sie dachte über Creisas Leben nach, wie es gewesen sein musste, auf Geds Bauernhof aufzuwachsen, in Küche und Gärten zu arbeiten und offenbar diverse beiläufige Affären mit eifrigen jungen Männern zu haben. Sie fragte sich, ob Creisa sich keine Gedanken machte, dass sie schwanger werden könnte. Und würde ein solch lüsternes Verhalten nicht ihre Chancen verringern, einen verlässlichen Ehemann zu finden? Aber über all die wirren Gedanken und Gefühle hinweg, die Creisas Albernheiten in ihr geweckt hatten, erkannte Ana, dass sie neidisch war: neidisch auf die Leichtigkeit, mit der die junge Dienerin von der Vereinigung von Mann und Frau sprach, und noch neidischer auf die Tatsache, dass solche Vereinigungen, wenn man denn Creisa glauben durfte, für sie nicht brutal und unwillkürlich waren, etwas, das man ertragen musste, sondern ausgesprochen angenehm, unbeschwert und natürlich. Für eine Frau ihrer eigenen Stellung, dachte Ana, war es selten so einfach. Aus Liebe zu heiraten, wie Tuala es getan hatte, war eine Möglichkeit, die Personen von königlichem Blut selten hatten. Ana wünschte sich beinahe, den freundlichen, höflichen Bridei selbst geheiratet zu haben, wie es viele, der Druide des Königs unter ihnen, vorgezogen hätten. Sie selbst hatte ebenfalls einige Zeit ernsthaft über diese Möglichkeit nachgedacht, aber nur, bis sie zum ersten Mal gehört hatte, wie Bridei Tualas Namen aussprach und Tuala den seinen. Von diesem Zeitpunkt an - 62 hatte Ana die Unvermeidlichkeit der Dinge erkannt, denn zwischen diesen beiden bestand eine Verbindung, die über das Übliche hinausging. Ein winziger verborgener Teil von Ana sehnte sich jedoch immer noch nach einer
Liebe wie in diesen alten Geschichten, machtvoll, zärtlich und leidenschaftlich. Bevor sie Dornwald erreichten, sagte sie sich grimmig, sollte sie lieber jede Spur von solcher Sehnsucht ersticken, denn diese albernen Neigungen konnten einem nur Kummer machen. Als die Reise weiterging, wurden sie alle immer schmutziger, müder und stiller, selbst Creisa. Es gab keine Gelegenheit, Kleidung zu waschen, und nur wenige Möglichkeiten, sich selbst zu säubern. Für Ana, die daran gewöhnt war, einigermaßen regelmäßig in warmem Wasser zu baden und ihre Hemden, Röcke und Unterwäsche von anderen gewaschen zu bekommen, waren dies Tage, in denen ihr die Schicht von Schmutz und Schweiß auf ihrer Haut und das damit verbundene Jucken und Kribbeln unangenehm bewusst wurden, ebenso wie die Schlammflecken am Saum ihres Rocks und - am schlimmsten - ihr strähniges, fettiges langes Haar, das sie jetzt nur noch fest geflochten und aufgesteckt tragen konnte, denn sie fand es widerwärtig, wenn es ihren Nacken berührte. Eines Nachmittags machten sie an einem tiefen Waldteich zwischen Felsen Halt, und Ana verspürte sofort das intensive Bedürfnis, sich zu waschen. Creisa war ganz dafür, sich auszuziehen und ins Wasser zu springen. Faolan erlaubte es nicht. Als Ana widersprechen wollte, schnitt er ihr scharf das Wort ab. »Es ist vielleicht Frühling, aber das Wasser ist kalt. Was, wenn du krank wirst? Das können wir nicht riskieren. Außerdem würde es uns verwundbar machen. Wenn man uns angreift, während ihr beiden im Teich planscht, wären wir im Nachteil. Die Männer haben schon genug zu tun. Mach ihre Arbeit nicht noch schwerer.« - 63 »Den Männern könnte ein Bad ebenfalls nicht schaden«, murmelte Creisa trotzig. »Planschen?«, wiederholte Ana. »Ich möchte mich nur säubern. Was glaubst du, was für einen Eindruck es machen wird, wenn ich so nach Dornwald komme, von dem Geruch gar nicht zu reden?« Faolans Mundwinkel zuckten; aber er beherrschte sich, bevor es zu einem Lächeln wurde. »Ich nehme an, du hast saubere Kleidung beiseite gelegt, etwas in diesem Bündel auf dem armen Packpferd«, sagte er. »Da wir zwischen hier und Dornwald wahrscheinlich auf keine Waschfrauen stoßen und immer noch viele Reisetage vor uns haben, schlage ich vor, du wartest, bis wir beinahe dort sind. Dann kannst du mich noch einmal danach fragen. Du hast selbstverständlich Recht; das hier ist ein Handelsunternehmen, eine Tatsache, die ich beinahe vergessen hätte. Und als Anführer bin ich dafür verantwortlich, die Ware in bestem Zustand abzuliefern.« Creisa kicherte. Zorn ließ Anas Wangen glühen; Faolans Unhöflichkeit und reine Frustration bewirkten, dass sie ihn am liebsten angekeift hätte wie ein Fischweib und ihm in sein heuchlerisches Gesicht gespuckt hätte. Zu ihrem Entsetzen kam ihre Stimme allerdings zittrig und jämmerlich heraus, als wäre sie den Tränen nahe. »Es ist nicht notwendig, so unhöflich zu sein. Ich habe nicht versucht, die Dinge für dich schwieriger zu machen. Das hier war doch sicher nicht zu viel verlangt.« In dem darauf folgenden kurzen Schweigen sah Faolan sie forschend an, und sie tat ihr Bestes, um seinem Blick ruhig zu begegnen. Wie immer hatte sie nicht die geringste Ahnung, was er dachte. Ihr eigenes Gesicht, fürchtete sie, war gerötet und schmutzig und erinnerte in nichts mehr an Rosenblüten. »Es tut mir Leid«, sagte Faolan angestrengt, drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich anderen Dingen zu. - 64 Ana starrte ihm hinterher. Eine Entschuldigung war die letzte Reaktion, die sie erwartet hätte. »Wir könnten es trotzdem tun, Herrin«, flüsterte Creisa. »Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber für sauberes Haar und eine Gelegenheit, meine Unterwäsche zu waschen, würde ich auch eine Standpauke von diesem langgesichtigen Galen ertragen können. Ich könnte ein paar Dinge auswaschen, sie über einen Busch hängen ...« »Wir müssen tun, was er sagt.« Unhöflich oder nicht, Ana zweifelte nicht daran, dass Faolan ein verlässlicher und erfahrener Anführer war und dass sie davon ausgehen mussten, dass er wusste, was das Beste wäre. »Dennoch, ich habe tatsächlich Unterwäsche zum Wechseln in meiner großen Tasche auf dem Packpferd. Ich könnte vielleicht sogar etwas für dich finden, wenn du selbst nichts hast. Lass uns zumindest die Unterwäsche waschen; wir trocknen sie, so gut wir können. Vielleicht am Feuer ...« Creisa begann wieder zu kichern. »Das wird den Männern etwas zu denken geben, Herrin. Ich hole die Tasche, und dann sehen wir, was wir tun können.« »Und Creisa?« »Ja, Herrin?« »Bitte sprich nicht von Faolan als dem langgesichtigen Galen. Es ist vielleicht die Wahrheit, aber es klingt nicht gerade respektvoll. Nur weil er seine Manieren vergisst, müssen wir es ihm nicht nachtun.« Creisas weiße Zähne blitzten zu einem entzückenden Grinsen auf. »Ja, Herrin.« Es gelang ihnen, sich aus Hemden und Unterhosen zu winden und dabei einigermaßen bedeckt zu bleiben. Faolan hatte wohl mit den Männern gesprochen, denn sie blieben auf dem Hügel außer Sichtweite und bereiteten das Lager vor, und es gab nur einen Wachposten, der den Frauen den Rücken zuwandte. Die beiden Frauen wuschen sich Gesichter und Arme, wateten bis zu den Knien in den - 65 Teich und kamen einem Bad so nahe, wie es möglich war, ohne Faolans Befehle vollkommen zu missachten. Creisa wollte nicht zulassen, dass Ana ihre Wäsche selbst wusch; sie schlug das weiche Leinen mit einem glatten, runden Stein aus, schrubbte das Tuch und wrang es mit solcher Kraft, dass sie dabei sich selbst und Ana nass spritzte. Ana saß auf einem flachen Stein und sah zu, wie Creisa mit den schweißgetränkten
Kleidungsstücken ihre Magie wirkte. Schließlich begannen die kleinen, stechenden Insekten, die sich Frühjahr und Sommer an solchen Orten aufhielten, zu schwärmen, summten um die Frauen herum, und es war Zeit, sich zurückzuziehen. In dem frisch aufgeschlagenen Lager war die Mahlzeit schon vorbereitet, und jemand hatte ein Seil zwischen Büschen aufgehängt, auf dem die Damen ihre Wäsche trocknen konnten. Creisa hängte Hemden und intimere Kleidungsstücke über diese Leine, ohne dabei auch nur im Geringsten verlegen zu wirken. Die Männer strengten sich an, die Sachen nicht anzusehen. Ana nahm an, dass Bewaffnete bei solchen Unternehmen tagein, tagaus dieselbe Kleidung trugen und ihnen nichts darüber einfiel. Sie fragte sich, ob Faolan wohl je zuvor mit Frauen gereist war. Tatsächlich fragte sie sich, ob er überhaupt irgendetwas von Frauen verstand. Er musste eine Mutter gehabt haben und vielleicht Schwestern. Eine Frau? Eine Liebste? Vielleicht hatte er sie zurückgelassen, als er sich gegen die Seinen wandte. Als er beschlossen hatte, ein Verräter zu werden. Es war beinahe unmöglich zu glauben, dass er einmal eine Familie gehabt hatte. Ana versuchte, sich einen winzigen Faolan vorzustellen, so groß wie Brideis kleiner Sohn Derelei, dem sie Schlaflieder gesungen hatte, dessen Hände sie festgehalten hatte, als er Laufen lernte. Faolan würde sich von niemandem die Hand halten lassen. Er hatte wahrscheinlich ganz allein Laufen gelernt. - 66 Tuala hatte Anweisungen für die Gästeräume am Weißen Hügel gegeben; sie hatte Mara, Broichans strenge und tüchtige Haushälterin aus Pitnochie, gebeten, die Vorbereitungen für den erwarteten Besucherstrom zu treffen. Da die Versammlung nun so kurz bevor stand, war es wichtig, alles richtig zu machen. Einige königliche Gattinnen hätten die Vorbereitung von Unterkunft, Versorgung und Unterhaltung bei einem solchen Ereignis über alles andere gestellt. Aber Tuala wusste, dass ihre Hauptpflicht darin bestand, Bridei als Stütze und Zuhörerin zu dienen. Er war stark und fähig und für einen Mann seines Alters von erstaunlicher Reife. Aber er war auch verwundbar; Tuala, die ihn ihr Leben lang gekannt und geliebt hatte, wusste um all seine schwachen Stellen, sie hatte versprochen, immer für ihn da zu sein, und Tuala brach ihre Versprechen nicht. Als Nächstes kam ihr Sohn Derelei. Weil die königliche Thronfolge über die weibliche Linie verlief, würde Derelei niemals König sein, aber er musste dennoch mit Liebe und Weisheit, Ausgeglichenheit und Urteilsvermögen aufgezogen werden, wie es jedes Kind verdiente. Er stand nur deshalb an zweiter Stelle, weil es im Augenblick auch andere gab, die ihm geben konnten, was er brauchte. Derelei wurde im Haushalt des Königs von allen geliebt. Die Frauen wetteiferten um die Gelegenheit, mit ihm zu spielen und sich um seine kleinen Bedürfnisse zu kümmern, die Männer spielten mit ihm, und häufig war es für Tuala nicht einfach, ihren Sohn einmal für sich zu haben, damit sie mit ihm sprechen, ihm vorsingen, ihm Geheimnisse ins Ohr flüstern oder einfach still dasitzen konnte, das Kind in den Armen, um über das Wunder dieses neuen Segens zu staunen, den die Götter ihr gewährt hatten. Immerhin wären sie und Bridei beinahe für immer voneinander getrennt worden. Tuala hatte kurz davor gestanden, sich in eine Welt ohne Schmerz oder Kummer zu flüchten. Wenn sie nicht einen Augenblick gezögert hätte, - 67 wenn Bridei nicht nach ihr gerufen hätte, wäre sie dorthin gegangen und unsterblich geworden. Das hatten sie ihr gesagt, ihre Besucher aus der Anderwelt, die in den dunklen Tagen und unruhigen Nächten dieser schwierigen Zeit über ihre Schritte gewacht und ihr ins Ohr geflüstert hatten. Sie hätte ewig leben können. Aber dazu hätte sie Bridei allein lassen müssen. Und es hätte keinen Derelei gegeben. Das war jetzt undenkbar. Am Ende war Bridei gekommen und hatte nach ihr gesucht, hatte sie gerettet, und die Dinge hatten den Lauf genommen, der von den Göttern bestimmt gewesen war. Tuala nahm an, dass die Leuchtende mit ihren Entscheidungen zufrieden war. Derelei war bei Vollmond auf der Welt eingetroffen, was vollkommen angemessen schien, da die Göttin von Anfang an ein besonderes Interesse an Tualas Leben gezeigt hatte. Was Bridei anging, so hatte er als König von Fortriu einen guten Anfang genommen. Nach nur fünf Jahren der Herrschaft stellte er nun seine Streitkräfte gegen die Galen auf. Wer hätte geglaubt, dass es schon so bald geschehen würde? Auch der Flammenhüter musste froh sein. Als Gott der Männer, des Muts und des tapferen Kampfs musste er sich in diesem jungen, starken Anführer wahrhaft angemessen verkörpert sehen, in dem jungen König, dessen leuchtende Augen und offenen Worte im Herzen eines jeden Mannes den Funken göttlicher Inspiration entzündeten. Bei all dem jedoch blieb für Tuala eine Frage unbeantwortet und beunruhigte sie. Sie hatte nie herausgefunden, wer sie wirklich war. Ihre Besucher aus der Anderwelt hatten ihr nicht erklärt, wer denn nun zu dem Schluss gekommen war, sie als Kind mitten im Winter auf Broichans Schwelle in Pitnochie zurückzulassen. Und sie wollte es wissen. Sicher, sie hatte sich vorgenommen, ihre magischen Begabungen des Blicks und der Verwandlung, der Kommunikation mit den Geschöpfen des Waldes, der Beschwö- 68 rung von Licht und Schatten nicht mehr anzuwenden. Wenn solche Informationsquellen in der Vergangenheit Antworten geliefert hatten, waren sie häufig rätselhaft und schwierig gewesen, eher weitere Fragen als Antworten. Das bedeutete nicht, dass Tuala nicht dennoch hin und wieder den Drang verspürte, es zu versuchen. Sie gab dem Bedürfnis einfach nicht nach. Sie wusste, wie gefährlich es war, als Frau vom Guten Volk Königin von Fortriu zu sein. Es würde immer Menschen geben, die versuchten, Brideis Autorität zu untergraben, und sie war entschlossen, diesen Personen keine Gelegenheit zu geben, sie zu diesem Zweck zu benutzen. Das hielt sie
allerdings nicht davon ab, sich nach der Wahrheit zu sehnen, einer Wahrheit, die auch ihr Sohn wissen musste, wenn er erwachsen wurde. Tuala sprach über diese Dinge nicht, nicht einmal mit Bridei. Sie flüsterte manchmal ein Gebet und hoffte, dass die Leuchtende sie erhörte, denn diese Göttin hatte stets freundlich auf sie herabgeblickt. Bisher hatte die Leuchtende ihr jedoch keine Enthüllungen beschert. Was die beiden seltsamen Geschöpfe anging, die Tuala geneckt und verlockt, schikaniert und geprüft hatten, das Mädchen Weide mit ihren seltsamen Augen und fließenden Gewändern und den Jungen Geißblatt mit der nussbraunen Haut und den Locken aus Efeu, so waren sie nie wiedergekommen. Sobald Tuala sich entschieden hatte, ein Mensch zu sein und in dieser Welt zu leben, waren die beiden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Manchmal fragte sie sich, ob dieser ganze seltsame Verlauf von Ereignissen nichts weiter als ein verrückter Traum gewesen war. Es war früher Nachmittag, und Derelei spielte wahrscheinlich im Garten unter der Obhut der jungen Dienerinnen. Mara hatte Tuala mehr oder weniger weggescheucht, als wäre sie immer noch fünf Jahre alt und nur in ihrer Phantasie Königin. Mara hatte sich seit diesen frühen Tagen wenig verändert, sie zog es vor, allein für einen Haushalt ver- 69 antwortlich zu sein, und erledigte ihre Aufgaben mit säuerlicher Tüchtigkeit. Broichans alte Haushälterin ließ sich von der Verantwortung für einen königlichen Haushalt, der so viel größer war als der in Pitnochie, nicht abschrecken. Schon scheuchte sie Diener in alle Richtungen, um frische Binsen zu holen, Böden zu schrubben, Spinnweben von der Decke zu fegen und Decken auszulüften. Tuala ging durch die Flure der Festung auf dem Weißen Hügel, vorbei an der geschlossenen Tür des Raums, in dem Bridei sich mit den Fürsten beriet. Sie bereiteten sich auf die Ankunft einer Delegation aus dem südlichen Königreich Circinn vor, Besucher, die immer eine Herausforderung und unter den derzeitigen schwierigen Umständen eine besondere Prüfung darstellten. Tuala ging einen gepflasterten Weg zwischen kleinen grasigen Bereichen und Beeten mit Kräutern, Wurmholz, Kamille und Lavendel entlang. Es gab hier Steinbänke, die so standen, dass man auf ihnen in der Nachmittagssonne sitzen konnte, und kleine Statuen von Göttern und Tieren waren um Teiche und in Nischen an der Steinmauer aufgestellt, die den Garten umgab und ihn vor dem heftigen Nordwind schützte. Es war ein Ort der Ruhe. Ana hatte den Garten gemocht; sie hatte hier viele glückliche Tage verbracht, sich mit Tuala unterhalten, mit Derelei gespielt und an ihren zarten Stickereien gearbeitet. Tuala vermisste ihre Freundin. Sie fragte sich, wie weit Ana bereits gekommen war und wie ihr die Reise gefiel. Vielleicht waren sie bereits in Dornwald. Vielleicht war Alpin ja ein freundlicher Mann, ein Mann wie Bridei. Ana hatte beim Abschied geweint, trotz ihrer offensichtlichen Anstrengungen, sich zusammenzunehmen. Sie war bereit gewesen, ihre Pflicht zu tun, aber auch traurig und verängstigt. Tuala wusste, wie ihre Freundin sich fühlte. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass es nicht notwendig gewesen wäre, Ana so schnell und so grausam wegzuschicken. Aber sie hatten es nicht vermeiden können. Die - 70 ganze Angelegenheit war zu wichtig. Sie mussten Alpin auf ihre Seite ziehen, bevor Brideis Streitmacht gegen die Galen von Dalriada antrat. Und anders, als es die Gerüchte verlauten ließen, die sie ausgegeben hatten, würde das nicht erst im nächsten Frühjahr geschehen. Die Beratung würde nicht zum Fest der Reife stattfinden, sondern zum Aufstiegsfest, wenn der Frühling sich dem Sommer zuwendete. Die Männer von Fortriu würden im Herbst marschieren, zwei Jahreszeiten eher, als ihre Feinde annahmen. Sie würden in großer Zahl nach Westen eilen, und bis Gabhran von Dalriada davon erfuhr, würde es schon zu spät sein, dass die Galen eine starke Gegenwehr aufstellen konnten, zu spät für Gabhran, seine Verwandten aus Ulaid und Tirconnell zu rufen, um seine Armee zu unterstützen. Diesmal würden sie die Galen besiegen. Diesmal würden sie sie aus Fortriu vertreiben. Selbst wenn Circinn sich weigerte, Bridei zu helfen, würde der junge König mit diesem Ziel in den Krieg ziehen. Sie hätten es Ana sagen sollen, dachte Tuala. Es nicht zu tun, war, als hielten sie diese königliche Braut für zu dumm, über Angelegenheiten von solch strategischer Wichtigkeit Schweigen zu wahren. Und nicht nur das, es ließ die Entscheidung, Ana so schnell ins Land der Caitt zu schicken, grausam und unnötig wirken. Welche Braut wollte schon ihrem vorgesehenen Ehemann vor Augen treten, bevor er der Heirat zugestimmt hatte? Damit forderte man eine Demütigung wirklich heraus. Welche junge Frau möchte einen Mann heiraten, von dem sie nichts weiß, außer dass es in seiner Vergangenheit gewissen Fragen gab? Eine arrangierte Ehe war eine Sache; das hier ging weit darüber hinaus. Tuala ging durch den Torbogen und blieb stehen. Die Dienerin war nirgendwo zu entdecken. Aber Tuala sah ihren Sohn kerzengerade im Gras sitzen, die kleinen Hände in die Luft gestreckt und in eine Art von Spiel versunken. Ihm gegenüber saß im Schneidersitz Broichan, der Druide des - 71 Königs, in seinem dunklen Gewand. Es war ein Zeichen der Macht, über die dieser Mann verfügte, dass er selbst in einer solch würdelosen Pose und nur in Gesellschaft eines kleinen Kinds distanziert, ernst und Furcht einflößend aussah. Tuala hatte die Angst vor ihm nie verloren. Sie beobachtete die beiden und ließ sich zunächst nicht sehen. Diesmal hatte Derelei ihre Nähe nicht gespürt. Sowohl Druide als auch Kind waren sehr konzentriert, und nun konnte Tuala sehen, dass Broichan eine Hand vor Derelei bewegte und die Finger auf eine bestimmte Weise bog, und dass ihr Sohn nicht ganz so zufällig in der Luft herumfuchtelte, wie es kleine Kinder tun. Derelei hatte den Blick auf Broichans Gesicht fixiert, und er kopierte die Geste des Druiden. Die winzige
Hand mit den dicklichen Fingern bewegte sich ebenso anmutig wie ein Möwenflügel, ahmte Broichans lange, knochige Finger nach, die sich bogen, streckten, vor sein Gesicht hoben. Ein Vogel landete auf der Mauer neben ihnen und plusterte sich auf. Ein anderer, kleinerer Vogel erschien einen Augenblick später und landete mit erstaunter Miene neben dem ersten. Derelei gluckste entzückt. Broichan senkte den Kopf, sodass seine langen Zöpfe nach vorn fielen und man sehen konnte, dass es zwischen den dunklen Strähnen und den bunten Fäden auch weißes Haar gab, und er sprach leise auf das Kind ein. Derelei streckte nicht die Hände aus und packte zu, wie er es für gewöhnlich tat, wenn etwas Interessantes in Reichweite kam. Er blieb, wo er war, blickte angespannt auf und sagte etwas in seiner geheimnisvollen Kindersprache. Bisher beherrschte er nur wenige erkennbare Wörter. »Ein Kreis, so ...«, sagte Broichan und benutzte erneut die Finger, um etwas vorzuführen, machte ein Zeichen, eine Handspanne oberhalb des Grases. Derelei tat es ihm nach, die kleine Hand ausgestreckt, und vollzog einen Kreis. Das Gras legte sich gehorsam nieder, und ein kleiner Ring entstand. - 72 Tuala war schockiert. Sie war wütend. Ihr erster Instinkt bestand darin, auf den Druiden zu zu eilen. Wer hat dir gestattet, meinen Sohn zu unterrichten? Wie kannst du es wagen? Bei aller Angst, die sie vor dem Mann hatte, sie hätte es getan. Dereleis Fähigkeiten überraschten sie nicht; sie hatte bereits gesehen, was er tun konnte, welche Begabung ihr eigenes Blut ihm verliehen hatte, und wenn sie gewollt hätte, dass er diese Talente so früh entwickelte, hätte sie ihn selbst unterrichtet. Dass Broichan sich hier ohne ihre oder Brideis Genehmigung einmischte, war nicht nur unverschämt, es war beunruhigend. Das hier war ihr Kind, nicht seines. Er hatte Bridei genug geschadet. Bei seinen Anstrengungen, seinen Pflegesohn zum perfekten König zu machen, hatte Broichan einen jungen Mann geschaffen, der verzweifelt allein gewesen war. Selbstverständlich ließ Bridei sich von seiner Ergebenheit gegenüber den uralten Göttern von Fortriu nicht abbringen. Er war ein ausgesprochen gelehrter Mann, er war mutig und vollkommen geeignet, dieses Königreich anzuführen - in dieser Hinsicht hatte Broichan sein Ziel vollkommen erreicht. Er war nur unfähig zu erkennen, wo seine Irrtümer lagen. Aber Tuala blieb stehen, schwieg und fühlte sich von etwas festgehalten, das sie nicht benennen konnte. Die beiden, Mann und Junge, vollzogen Geste um Geste. Sie verwandelten Blüten in leuchtende, geheimnisvolle Insekten und ließen Schatten über das Gras schleichen und sich wieder zurückziehen. Eine Kröte sprang auf Dereleis Knie, dann verschwand sie. Eine Maus lief an Broichans Arm entlang und verschwand in der Kapuze seines Gewands. Es war nicht die Magie, nicht wie leicht sie sie wirkten, was Tuala wie erstarrt stehen bleiben ließ. Es war die unwahrscheinliche Ähnlichkeit zwischen den beiden, was Haltung, Bewegung und Ausdruck anging, die Art, wie der kleine Junge sich bei allem Kontrast zwischen einem hoch gewachsenen, in ein dunkles Gewand gehüllten Magier und - 73 einem kurzbeinigen Kind in Windeln exakt so bewegte wie der Druide. Es war geradezu unheimlich. Es war beunruhigend. Was sie dort sah, war von seltsamer Schönheit und von großer Symmetrie; es war der Stoff einer unmöglichen Geschichte oder eines verstörenden Traums. Tuala spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Nacken, beinahe wie damals, als sie am dunklen Spiegel, diesem geheimen Teich im Wald, gesessen hatte und zum ersten Mal dem Guten Volk begegnet war. »Mama«, sagte Derelei nun, drehte sich zu Tuala um, und der Bann war gebrochen. Die Vögel flogen davon, und Broichan stand auf, wenn auch nicht so leichtfüßig, wie er es einmal getan hätte. Tuala war endlich fähig, sich zu bewegen, kniete sich neben ihren Sohn und sprach den Druiden höflich an. »Wo ist Orva, meine Dienerin?« »Sie ist nicht weit, sie sitzt dort an dem lang gezogenen Teich. Ich wollte sie wegschicken, aber sie weigerte sich, den Jungen aus den Augen zu lassen.« Derelei war jetzt müde; er schmiegte sich in Tualas Arme. Solch konzentrierte Übung der Magie war anstrengend. Es war zu viel für ein kleines Kind. Tuala holte Luft, um es Broichan zu sagen, und selbst jetzt noch brauchte es all ihren Mut, um sich gegen ihn zu stellen. »Es ist nur gut«, sagte Broichan, bevor sie sprechen konnte, »dass er kein Kandidat für den Thron sein kann. Dieses Kind hat eine Zukunft, vielleicht eine außergewöhnliche. Es sollte in den Nemetons erzogen werden.« »Er wird nirgendwo hingehen«, fauchte Tuala und zog ihren Sohn so fest an sich, dass er begann, erschrocken zu wimmern. »Schon gut«, murmelte sie und tätschelte ihn, »es ist alles in Ordnung.« »Es ist noch Zeit«, sagte Broichan. »Er brauchte nicht zu gehen, bevor er sechs oder sieben Jahre alt ist; die Ausbildung ist anstrengend und sollte warten, bis er stark genug - 74 ist. Du kannst nicht abstreiten, dass er über eine natürliche Begabung verfügt, Tuala.« »Das tue ich nicht«, sagte sie. »Aber er ist noch klein, und er kann alles sein, was er will, ein Gelehrter, ein Krieger, ein Reisender, ein Handwerker. Und selbstverständlich auch ein Druide, wenn das der Weg ist, für den er sich entscheidet.« »Wird er mit sechs Jahren eine weise Entscheidung fällen können? Wird diese Wahl nicht eher von denen, die älter sind als er, für ihn getroffen?« Tuala dachte an das Kind Bridei und an die Entscheidungen, die es nie hatte selbst fällen können. »Es wird wohl Sache seines Vaters und seiner Mutter sein, ihn anzuleiten«, erklärte sie entschlossen. »Ich glaube nicht, dass
Bridei es gern sehen würde, wenn sein Sohn in so jungem Alter weggeschickt wird. Seine Familie ist für ihn sehr wichtig.« Broichan schwieg einen Augenblick. Er drehte den silbernen Schlangenring und runzelte die Stirn. Er sah Tuala nicht an. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich könnte ihn unterrichten. Mit Brideis Erlaubnis. Und der deinen. Dann wäre es nicht nötig, ihn wegzuschicken, zumindest nicht, bis er alt genug ist, sich selbst zu entscheiden.« Tuala war verblüfft, und zwar ebenso darüber, dass er ihre Erlaubnis suchte, als über den Vorschlag selbst. Sie bezweifelte nicht, dass ihrem Sohn eine Zukunft bevorstand, in der er seine besonderen Talente nutzen würde. Nein, sie wollte bestimmt nicht, dass er Krieger wurde. Sie hatte die jämmerlichen, gebrochenen Überlebenden gesehen, die nach Fortrius Begegnung mit seinen Feinden nach Hause hinkten oder getragen wurden, und sie wusste nicht, wie eine Mutter es ertragen konnte, dass ihr Sohn Krieger wurde. Druide, Gelehrter, Handwerker, das waren gute Beschäftigungen. Es gab nur ein Problem. »Er ist der Sohn des Königs ...«, begann sie. - 75 »Ja«, stimmte Broichan ihr ernst zu, »und er ist dein Sohn, und wir wissen beide, was ich über dieses Thema denke, obwohl ich nicht öffentlich darüber spreche, weil ich es Bridei vor so langer Zeit versprochen habe. Es gibt keinen Grund, wieso der Sohn eines Königs nicht in den Dienst der Götter treten kann. So etwas ist schon öfter geschehen. Und wenn die Begabung, die das Kind hier heute gezeigt hat, ein wenig ... anderweltlich ist ... was wäre besser, um Aufmerksamkeit für deine eigene Herkunft zu vermeiden, als die Verantwortung für die Anleitung des Jungen in meine Hände zu legen? Ich kann dir versichern, dass er lernen wird, seine Kraft zu beherrschen und seine Fähigkeiten zu den richtigen Zwecken einzusetzen. Ich kann ihm beibringen, seine Begabung zu beherrschen und sie zum Wohl von Fortriu zu nutzen. Damit werde ich sowohl dein Kind als auch deinen eigenen Ruf schützen.« Tuala antwortete nicht. Er riss alles an sich, wie er es immer tat, er würde ihren Sohn stehlen und Derelei sein Eigen machen. Wenn er Derelei erzog, würde der Kleine die gleiche Art Kindheit erleben wie Bridei. »Du traust mir nicht. Das ist nichts Neues, und ich traue dir ebenso wenig. So ist es nun eben zwischen uns. Sprich mit deinem Mann. Stelle Bedingungen, wenn du willst. Es ist wichtig, Tuala.« »Ich möchte, dass mein Sohn glücklich ist«, sagte sie. »Ich möchte, dass er umgeben von seiner Familie aufwächst, mit Brüdern und Schwestern, wenn die Göttin sie uns gewähren sollte. Kinder brauchen nicht nur Bildung und Anleitung. Sie brauchen Liebe.« Broichan schwieg einen Augenblick. »Ich bin mir deiner Ansicht über meine Mängel als Pflegevater bewusst«, sagte er steif. »Ich kann das nicht ernst nehmen. Bridei ist alles, was er sein sollte.« Tuala nickte. »Ja«, sagte sie. »Und er ist sehr fähig, wenn es darum geht, zu verbergen, wie viel es ihn kostet. Du hast - 76 ihm seine Kindheit genommen. Ich werde nicht zulassen, dass du sie auch seinem Sohn raubst.« »Zulassen?«, zischte Broichan, und Tuala zuckte bei seinem Blick zusammen. Die Luft um ihn herum schien zu funkeln, und sein Schatten wurde größer. Derelei fing an zu weinen. »Er ist müde; er braucht sein Schläfchen«, sagte Tuala und spürte selbst, dass sie plötzlich erschöpft war. Orva, die Dienerin, kam rasch herangeeilt und wollte den Jungen nehmen, aber Tuala schickte sie auf ungewöhnlich barsche Weise weg. »Nein, Orva, ich brauche dich nicht. Geh schon, ich bin sicher, Mara wird andere Arbeit für dich finden. Ich bringe ihn jetzt nach drinnen«, fügte sie mit einem Blick zu Broichan hinzu. »Bo«, sagte Derelei deutlich und streckte die Hände nach dem Druiden aus. Er hatte einen neuen Namen gelernt. Tuala schauderte, als Broichan die eigene Hand hob und sie sanft auf die wirren braunen Locken des Kinds legte, nicht ganz ein Streicheln, aber so nah, wie ein solcher Mann einer liebevollen Geste kommen konnte. »Ich bitte dich nicht darum, weil ich mehr Macht wünsche, Tuala«, sagte der Druide leise. »Bitte sprich mit Bridei.« »Dann sag mir«, forderte Tuala, »warum du zuerst mit mir sprichst und nicht direkt zu Bridei gehst.« »Weil ich weiß, dass er nicht zustimmen wird, wenn du es nicht willst. Würdest du es vorziehen, dass ich mich selbst an ihn wende?« »Nein. Er hat im Augenblick ohnehin genug zu tun. Ebenso wie ich - er wird bald in den Krieg ziehen, und ich habe die gleichen Ängste wie alle Frauen in solchen Zeiten.« »Ja.« Broichans Stimme war wie Laut gewordener Schatten; wie ein tiefer Brunnen voller Geheimnisse. »Wirst du dich nicht versucht fühlen, ihm zu folgen und mithilfe des - 77 Blicks Trost zu suchen? Sie werden lange weg sein, eine Jahreszeit oder länger. Dies stellt doch sicher eine große Versuchung für dich dar.« »Nicht so groß, dass ich mich nicht widersetzen könnte«, erklärte Tuala finster. »Im Gegensatz zu allem, was du denkst, habe ich nie vergessen, welches Glück ich habe, dass diese Menschen mich als Brideis Frau akzeptieren. Ich habe nicht vor, ihnen Grund zu geben, an meiner Eignung für diese Aufgabe zu zweifeln. Mein Mann braucht mich. Ihm gilt meine erste Treue, ihm und dem, was er sein muss.« »Dann wäre es sehr weise von dir, meiner Bitte zuzustimmen. Du kannst den Jungen nicht selbst ausbilden, es sei denn, du nutzt diese geheimen Künste sehr viel mehr. Ich hingegen kann es tun, ohne dass sich jemand daran stieße. Solche Dinge sind für einen Druiden das tägliche Brot.«
»Es besteht keine Eile. Er ist noch ein kleines Kind.« Sie wandte sich ab, um zu gehen. »Tuala«, erklang Broichans Stimme nun sehr leise hinter ihr. In diesem Ton schwang etwas Neues mit, etwas, das bewirkte, dass sie stehen blieb. »Ich habe nicht so viel Zeit für diese Aufgabe, wie ich mir wünschen würde«, sagte er. »Lass mich dem Kind geben, was ich kann.« Und als sie über die Schulter zurückschaute, bemerkte Tuala, wie blass sein langes, schmales Gesicht war, wie die Knochen von Nase und Wange sich unter der Haut abzeichneten; sie sah die Falten zwischen Mund und Nase, die nicht immer so tief gewesen waren, die Lippen nicht so streng umgeben hatten. Es kam ihr vor, als stünde unterdrückter Schmerz in den dunklen Augen und als lehnte der Druide sich auf seinen Stab, wie ein viel älterer Mann es tun würde - zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, benutzte er diesen Stab nicht nur als Werkzeug seines Handwerks, sondern schlicht als Stütze. - 78 »Ich ...«, setzte sie an und schwieg wieder, als sie seinen Blick sah. »Wie du schon sagtest...« Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Bridei hat mit dem kommenden Krieg und der Versammlung, die eine große Herausforderung darstellen wird, viel zu tun. Wir wollen ihn zu einer solchen Zeit nicht mit anderen Sorgen belasten. Sprich mit ihm nur über seinen Sohn und darüber, was das Beste für Derelei ist.« - 79 KAPITEL DREI Faolan folgte einer Landkarte in seinem Kopf, die er zusammengesetzt hatte aus seinen eigenen wenigen Beobachtungen in dem Gelände nördlich des großen Tals und dem, was er von Informanten erfahren hatte. Außerdem ergänzte er sie ständig mithilfe seiner Aufmerksamkeit gegenüber Warnzeichen in Wetter und Gelände. Er konnte die Feuchtigkeit auch im geringsten Wind spüren, konnte spüren, was hinter einem sich bewegenden Schatten, einem Abkühlen der Luft stand. In Abertornie hatten er und Ged noch bis lange in die Nacht hinein mit einem erfahrenen Führer zusammengesessen und über den Weg gesprochen, den Faolan und seine Leute durch die Berge nehmen mussten. Sie sprachen über steile Schluchten, gefährliche Abhänge, über die man nicht reiten konnte, über die Stellen, wo man nur allzu leicht vom Weg abkam. Bisher hatte diese Vorbereitung den Reisenden gut gedient. Es gab allerdings auch einige Schatten auf Faolans Landkarte, Orte, die er im Geist nicht klar sehen konnte. Furten, die schon Leben gekostet hatten. Berghänge, an denen es häufig zu Gerölllawinen kam. Enge Täler, die für einen Hinterhalt hervorragend geeignet waren. Und am Ende würden sie den Wald selbst erreichen: den Dornwald, einen Ort, an dem angeblich sehr seltsame Dinge geschahen. Er drängte seine Gruppe, sich so schnell zu bewegen, wie - 81 sie konnten. Die Männer waren gut, und die Dienerin Creisa war zumindest fähiger als ihre Vorgängerin. Sie konnte reiten, und ihre frische Kompetenz im Lager glich ihre flinke Zunge und ihr Schäkern beinahe wieder aus. Außerdem konnte man schließlich kaum erwarten, dass eine königliche Braut nur von Männern begleitet reiste. Er wusste nicht, was er von Ana halten sollte. Manchmal forderte sie ihn heraus, zeigte Geist und Kraft. Häufiger war sie still und fügsam und nahm ihr Schicksal so resigniert hin, dass es ihn geärgert hätte, wenn solche Dinge ihn interessierten. Sie war wie ein Tier, das zum Schlachter geführt wird, ganz große Augen, goldenes Haar und auf ihre Sauberkeit bedacht, wenn sie doch kurz davor stand, einem Krieger von zweifelhaften Ruf übergeben zu werden, der sie wahrscheinlich so rau behandeln würde wie irgendein schmutziges Geschöpf am Weg... Faolan erwischte sich dabei, dass er seine Gedanken umherschweifen ließ; er verstieß gegen seine eigenen Regeln. Also ritt er an die Spitze der Gruppe und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Er hatte sie nicht missverstanden, diese kleine Spur von Feuchtigkeit in der Luft. Es würde regnen, wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann einen Tag oder zwei später. Sie waren gut vorangekommen, und er nahm an, dass sie den Dornwald kurz vor Neumond oder ein wenig danach erreichen würden, in etwa acht oder neun Tagen. Wenn er sich seine Landkarte richtig vorstellte, gab es im Nordwesten einen Fluss und eine Furt, von der Geds Mann beunruhigende Dinge erzählt hatte. Faolan wäre, wenn der Regen begann, gerne schon auf der anderen Seite gewesen. Er rief Wrad und Kinet zu sich und sprach kurz mit ihnen. Angesichts des dicht bewaldeten Lands, das sie gerade durchquerten, der kleinen Seenkette im Süden, den dunstigen Konturen der weit entfernten Berge, kamen sie alle zu dem Schluss: Es waren noch zwei Tagesritte bis zur Furt. Vielleicht würde es bis dahin noch nicht regnen. - 82 Vielleicht würden die Pferde schnell genug vorankommen. Wenn Bridei hier gewesen wäre, hätte er die Götter um ihre Hilfe bitten können, sie sicher über das Wasser und zum Dornwald zu bringen. Faolan jedoch glaubte nicht an Götter oder an Glück, nur an gute Organisation. Er sammelte die ganze Gruppe auf dem Waldweg um sich. Die Kiefern waren hier hoch, und im Schatten darunter war es seltsam still, als lauschte der Wald, als atmete, als wartete er. Faolan würde froh sein, wenn er diesen Auftrag endlich hinter sich hatte. »Wir reiten weiter, bis wir kein Licht mehr haben«, sagte er. »Heute gibt es keine Jagd; wir werden nach Einbruch der Dunkelheit ein paar von unseren Vorräten essen. Sobald es am Morgen heller wird, machen wir uns
wieder auf den Weg.« »Aber ...«, begann Creisa und schwieg, als sie seinen Blick bemerkte. »Es ist wichtig, dass wir uns rasch weiterbewegen«, sagte Faolan. Er würde nicht erklären, warum. Es hatte keinen Sinn, die Frauen zu beunruhigen. Die Männer würden es schon selbst herausfinden. »Besteht die Gefahr, dass wir hier in einen Hinterhalt geraten?«, fragte Ana zu seiner Überraschung. »Wie kommst du auf die Idee?« Sie zögerte, bevor sie sprach. »Es ist ein dichter Wald, der gute Deckung bietet. Und es heißt, es gibt hier rivalisierende Stämme, Fürsten, die miteinander im Krieg stehen ...« »Wenn er halbwegs bei Verstand ist«, sagte Faolan, der seine eigenen Worte nicht glaubte, »wird Alpin unsere Ankunft erwarten und hat bereits die notwendigen Schritte unternommen, um unseren Weg sicherer zu machen. Er sollte die Botschaft des Königs, die ihm ankündigt, dass wir auf dem Weg nach Dornwald sind, inzwischen erhalten haben.« »Selbstverständlich.« - 83 Etwas an Anas Tonfall beunruhigte ihn. Er sah sie forschend an und stellte fest, dass sie blasser war als sonst; sie sah müde aus. »Hast du verstanden?«, fragte er. »Wir müssen reiten, bis es dunkel wird; wir müssen so weit wie möglich kommen.« »Selbstverständlich verstehe ich das!«, fauchte sie und überraschte ihn erneut; sie hatte die guten Manieren einer Frau von Stand und verstieß selten dagegen, selbst wenn sie ernsthaft versucht war, wie bei der Sache mit dem Baden. »Ich bin nicht dumm. Regen steht bevor, und wir müssen eine Furt überqueren. Selbst ein Kind würde das verstehen.« Wieder wollte Creisa etwas sagen. Diesmal war es Ana, die sie mit einer scharfen Geste aufhielt. »Also gut«, sagte Faolan, »sehen wir, wie weit wir kommen, solange es noch hell genug ist.« Als die Sonne tief am Himmel stand und die dunklen Bäume lange Schatten über den schmalen Weg mit seinem Nadelteppich warfen, erreichten sie ein Flussufer. Der Weg folgte dem Fluss und wand sich zwischen Erlen und Weiden einher. Das Flussbett war breit und steinig, die Strömung stark. Faolan schickte Kinet mit einem Stab in der Hand hinein. Sie sahen zu, wie der Mann zwei vorsichtige Schritte tat, dann drei, dann stand er bis zur Taille im Wasser und musste sich anstrengen, gegen die Strömung anzukommen. Faolan und Wrad halfen ihm nach draußen. »Die Furt liegt sicher stromabwärts«, sagte Faolan und versuchte, die Stelle auf seiner vorgestellten Landkarte festzulegen. »Kommt weiter; wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit hinüber.« Das da konnte nicht der Fluss sein, von dem Geds Führer gesprochen hatte. Sie waren gut vorangekommen, aber nicht so gut. Er war sicher, dass das Haupthindernis noch Tage vor ihnen lag und sich in einem breiteren Tal als dieser waldigen Schlucht befand. »Bewegt euch!«, fauchte er, als er sah, wie die Frauen zurückfielen und offenbar nur widerstrebend weiterritten. Sie waren im - 84 Wald verschwunden, als Kinet das Wasser prüfte, und nun stiegen sie nicht sofort wieder auf die Pferde. Sie unterhielten sich leise, dann half Creisa Ana in den Sattel, bevor sie auf ihr eigenes Pony stieg. »Fallt nicht zurück«, warnte Faolan. »Wir können es uns nicht leisten, nach Einbruch der Dunkelheit hier festzusitzen. Wir müssen eine Furt finden. Bleibt in Sichtweite.« Creisa sah ihn erbost an. Ana ritt ohne ein Wort weiter. Bildete er sich nur ein, dass sie blass war? Verflucht sollte dieser Auftrag sein! Er hatte ihr Tempo bereits der Schwäche der Frauen angepasst. Mit einer Gruppe, die nur aus Männern bestand, wäre diese Reise relativ einfach gewesen, und die größte Gefahr hätte in einem Hinterhalt bestanden. Faolan war im Stande, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen. Er hatte schon früh gelernt, dass die praktischen, alltäglichen Dinge im Vergleich mit den verblüffenden Schlägen, die das Schicksal austeilen konnte, ausgesprochen banal waren. Früher einmal hatte es Menschen, Beschäftigungen, Ideen gegeben, die für ihn von Bedeutung gewesen waren. Nun gehörte so etwas der Vergangenheit an. In der Zeit, die es für eine einzige Entscheidung brauchte, mit nur einer einzigen Tat, war dieser Teil von ihm gestorben. Bevor er Bridei begegnet war, hatte er lange Zeit nichts weiter gekannt als die Notwendigkeit, den nächsten Atemzug zu tun, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich weiterzubewegen. Bridei hatte ihm ein Ziel gegeben, hatte ihm eine Freundschaft angeboten, die Faolan nicht erwidern konnte. Stattdessen gab er, was er leisten konnte: Treue und perfekte Arbeit. Daher dieser Auftrag. Er war vielleicht nicht nach seinem Geschmack, aber er würde ihn perfekt ausführen. Die Frauen waren zweifellos müde von den unbequemen Nachtlagern im Wald, aber er konnte nicht zulassen, dass sie die Gruppe aufhielten. Sie folgten dem Flussufer, während die Sonne tiefer sank und das Tal dunkler wurde. Nun gab es neben den vertrau- 85 ten Kiefern auch andere Bäume, seltsame Gewächse mit gewundenen Ästen und krallenden Zweigen, die sich über den Weg streckten, Pferde und Reiter kratzten und versuchten, sie aufzuhalten. Der Boden wurde rutschig, statt über Gras oder Kiefernnadeln bewegten sie sich nun über eine glatte, schlammige Oberfläche; hier hatte es bereits geregnet. Faolan drängte sie weiter. Sie mussten dieses Tal durchqueren und auf höheres Gelände
gelangen. Nur ein Narr würde ein Nachtlager an einer solchen Stelle aufschlagen. Ein- oder zweimal fielen die Frauen zurück, und Faolan schickte einen Mann, um sie anzutreiben. Es fiel ihm schwer, den Mund zu halten. Er gab sich allerdings nicht die Mühe, seine zornige Miene zu beherrschen. Er hoffte, er würde es nicht aussprechen müssen: Regen, ein Fluss mit viel Wasser, eine enge Schlucht im Dunkeln. Ein festgelegter Weg, bewaldete Hügel, die Deckung boten, ein perfekter Ort für einen Hinterhalt. »Bewegt euch!«, rief er erneut, und zur gleichen Zeit hörte er von weiter vorn einen Ruf. Wrad, den er ausgeschickt hatte, um sich zu überzeugen, dass der Weg frei war, rief: »Die Furt!« Hinter einer Biegung wurde der Fluss breiter, teilte sich in vier Arme, die kleine, steinige Inseln umschlossen. Auf der anderen Seite zog sich der Weg den Hügel hinauf, unter die Bäume. Sie machten Halt. Kinet, der der Größte von ihnen war, stieg vom Pferd und überquerte den Fluss zu Fuß, einer, zwei, drei, vier kleine Flussarme; er erreichte die andere Seite, ohne dass das Wasser ihm höher als bis an die Knie ging. Hinter den Kiefern ging die Sonne unter. Der Himmel wurde dunkler. »Vorwärts«, sagte Faolan. »Reitet langsam, und sobald ihr auf der anderen Seite seid, zieht direkt den Weg entlang nach oben.« Er schaute sich um und sah die Ponys der Frauen nebeneinander stehen, ihre Reiterinnen waren verschwunden. Er schluckte einen Fluch hinunter. »Wo ...« - 86 »Sie sind im Wald«, sagte ein Bewaffneter namens Benard. »Ich glaube, die junge Dame hat Bauchschmerzen. Es war vielleicht der Hase, den wir letzte Nacht gegessen haben; er war ein wenig alt.« »Bei allem, was heilig ist«, murmelte Faolan und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Wrad, du wartest bei mir; ihr anderen macht euch schon auf den Weg und sucht ein Lager für heute Abend, es wird bald dunkel sein. Macht ein Feuer.« Er und Wrad warteten scheinbar unendlich lange. Männer, Ponys und Packtier überquerten den Fluss und verschwanden den Weg entlang. Es wurde dunkler. Die Steine der Furt leuchteten blass in den Schatten. Als die Frauen wieder erschienen, stand Faolan um Haaresbreite vor einem Wutausbruch. »Das war wirklich ein hervorragender Zeitpunkt für solche Dinge«, sagte er. »Wollt ihr in diesen Wäldern zurückbleiben? Steigt wieder auf! Wir müssen den Fluss jetzt ohne weitere Verzögerung überqueren.« Noch während dieser Worte begann Ana zu schwanken, knickte in den Knien ein und fiel auf den schlammigen Boden neben ihrem Reittier. Creisa stieß einen erschrockenen Schrei aus, hockte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Faolan stieg ab und sprach die Dienerin scharf an. »Ist sie krank? Was ist los?« Creisas Ton war anklagend. »Du hättest sie nicht zwingen sollen weiterzugehen. Du kannst eine Dame nicht so behandeln, als wäre sie einer von deinen Bewaffneten. Sie hat Krämpfe. Und sie ist müde.« »Krämpfe?« Im trüber werdenden Licht war immer noch zu sehen, wie Creisa verlegen rot anlief. »Frauenangelegenheiten. Sie gehört zu denen, denen es dann wirklich schlecht geht; zu Hause würde sie mindestens zwei Tage im Bett bleiben müssen. Sie ist sehr zart. Eine echte Dame. Die Schmerzen - 87 sind schrecklich - nicht, dass du etwas darüber wüsstest. Du hättest sie nicht zwingen dürfen zu reiten.« Ana lag schlaff da, ihr Kopf auf den Knien der Dienerin, ihr Gesicht ein bleiches Oval in der Dämmerung. »Sie hätte es mir sagen sollen«, murmelte Faolan. »Wie sollte das geschehen?«, zischte Creisa. »Eine Dame spricht nicht mit Männern über solche Dinge. Ich hätte es gesagt, aber sie wollte es nicht zulassen. Und was jetzt, da du ja offenbar auf alles eine Antwort weißt?« Faolan sah sie an. »Jetzt machst du dich nützlich«, sagte er. »Wrad, komm her. Die Dame wird den Fluss mit mir überqueren müssen. Hilf mir, sie hochzuheben - vorsichtig- genau so.« Ana kam langsam wieder zu sich, aber sie konnten nicht darauf warten. Sie hoben sie seitwärts auf Faolans Pferd, und er stieg hinter ihr in den Sattel, hielt sie mit einem Arm an sich gedrückt und packte die Zügel mit der anderen Hand. »Los!«, rief er. »Wrad, du führst das Pony der Dame. Creisa, du folgst ihm und hältst den Mund. Ich muss langsam reiten, wartet nicht auf mich und geht weiter zu den anderen. Wir müssen sehen, dass wir so schnell wie möglich aus diesem Tal herauskommen.« Sie gehorchten schweigend, und ihre Pferde durchquerten mit stetigem Schritt die Flussarme. Faolan lenkte sein Tier mit den Knien vorwärts. Als sie ins Wasser kamen, rührte sich Ana in seinen Armen, streckte die Hand aus. »Was ...«, murmelte sie erschöpft, die Augen immer noch geschlossen. Faolan packte sie fester; er musste dafür sorgen, dass sie sie in ihrer Verwirrung nicht beide ins Wasser riss. Krämpfe. Sie hatte also geblutet, und er hatte sie den ganzen Tag reiten lassen. Er erinnerte sich daran, wie blass sie gewesen war und dass er bewusst nicht gefragt hatte, was los war. Er erinnerte sich, wie leichtfertig er alles als unbedeutend abgetan hatte. Er wusste nicht viel von solchen Dingen, aber die Beweise - 88 standen ihm deutlich vor Augen: ihr geisterhaft bleiches Gesicht, die umschatteten Lider, die vor Erschöpfung hohlen Wangen. Ihr Haar hatte sich zum Teil aus dem Zopf gelöst und fiel über seine Brust und sein Knie, ein Wasserfall silbrigen Mondlichts. »Wie ...«, murmelte sie. »Schon gut«, sagte er. »Wir sind beinahe drüben.« Sie hob die Hand und klammerte sich an seinen Umhang, wie sich ein Kind an seinen Vater klammert, an seine Mutter, als Trost in der Dunkelheit. Nein, es war überhaupt nicht so. Er spürte, wie sie sich bewegte, wie sie den
Kopf an seine Schulter legte und er hörte sie seufzen. Er spürte, wie sein Herz begann schneller zu schlagen, ein Rhythmus der Warnung, der unerwarteten Gefahr. Im Halbdunkel, den Arm fest um Ana geschlungen, lenkte er das Pferd weiter und erinnerte sich daran, dass er ein Mann war, der es sich nicht leisten konnte, etwas zu empfinden. Seine Aufgabe bestand darin, diese Frau nach Dornwald zu bringen. Wenn er damit fertig war, würde Bridei ihm einen anderen Auftrag erteilen. Ein Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt. Genau so, wie man eine Furt durchquerte. Er hatte nur dafür Platz und für nichts weiter. Dennoch, als sie in der Abenddämmerung weiterritten und ihr Körper dicht an seinem das einzig Warme in der Kälte des Waldtals war, erklang ein Lied in Faolans Kopf, das Flüstern einer Melodie von vor langer Zeit, aus der Zeit, die er geglaubt hatte, vergessen zu haben ... Wie Frühling war ihre rosige Haut, wie Sommer war ihr langes Haar ... und so vergaß Fionnbharr seine Reise ganz und gar... In dieser Geschichte ging es selbstverständlich um eine Feenfrau, um eine von den Daoine Sidhe. Ana war echt, sie war lebendig, er konnte ihren sanften Atem spüren, konnte ihren Duft riechen, der trotz der langen Reise süß und angenehm war. Sie war echt, und ein kleiner Teil von ihm wollte, dass diese Flussüberquerung ewig dauerte, etwas tief in ihm wünschte sich, dass es nur noch diesen Augenblick gab und nichts weiter. - 89 Ana regte sich in seinen Armen. »Ruhig«, sagte er, »bewege dich nicht. Wir sind beinahe in Sicherheit.« »Was ...« »Du hast das Bewusstsein verloren. Ich wusste nicht, dass du krank bist.« »Oh - o ihr Götter, oh, es tut mir so Leid ...« »Still.« Er verlagerte das Gewicht und schob sie zurecht, während das Pferd aus dem letzten Flussarm stapfte und begann, den steilen Pfad auf der anderen Seite hinaufzuklettern. Es gab kaum noch genug Licht, um den Weg zu erkennen. »Du hast gesungen«, sagte Ana leise, als wäre sie nicht sicher, ob sie träumte oder wach war. »Ich?«, erwiderte Faolan und fragte sich, ob er tatsächlich laut gesungen hatte und nicht nur, wie er geglaubt hatte, in seinem Kopf. »Wohl kaum. Du bist diejenige, die singt.« Er schaute nach unten, begegnete ihrem Blick, ihren grauen Augen, die trotz all der müden Schatten, die sie umgaben, groß und klar waren. Er fragte sich, ob er sie sogar im Dunklen sehen könnte. »Es tut mir so Leid«, sagte sie und versuchte sich aufzusetzen. Es war ihr unangenehm, nahm Faolan an, sich in seinen Armen wieder zu finden, als wären sie zwei Liebende, die ein Pferd teilten, nur damit ihre Körper einander berühren, sich aneinander schmiegen, die berauschende Wärme spüren konnten wie feinen Met, der noch Besseres versprach. »Ich habe uns aufgehalten«, fuhr Ana fort. »Ich werde morgen versuchen, Schritt zu halten. Ich weiß, wie wichtig es ist.« »Still«, sagte Faolan wieder. Er hörte, wie angespannt ihre Stimme war, hörte die Schmerzen, die nicht allzu tief unter der Oberfläche lagen. »Die Männer schlagen jetzt ein Lager auf. Morgen früh ist noch Zeit genug, um Entscheidungen zu treffen. Und wenn sich jemand entschuldigen muss, - 90 dann bin ich es. Ich war unachtsam. Als Anführer kann ich mir so etwas nicht erlauben. Ich bedauere es.« Es war vielleicht keine besonders gute Entschuldigung. Er hatte nicht ausgesprochen, was er wirklich sagen wollte. Aber es war ungefährlich. Es war, was er gesagt hätte, bevor sie den Fluss überquert hatten. »Wir sind beide schuld«, sagte Ana. »Und gleichzeitig auch wieder nicht, denn es ist mir klar, dass keiner von uns wirklich hier sein möchte.« Darauf fiel Faolan keine Antwort ein. Er wusste nicht mehr, worin die Antwort bestand. Es war dunkel. Die Männer waren erschöpft; man merkte ihnen die Anstrengung jetzt deutlich an. Er teilte sie in drei Schichten ein, um ihnen mehr Ruhe zu erlauben. Die, die keine Wache halten mussten, schliefen ein, sobald sie sich hingelegt hatten. Faolan selbst würde vor Morgengrauen schlafen, während Wrad und Kinet, die er für die Verlässlichsten hielt, Wache hielten. Er hatte geplant gehabt, früh aufzubrechen und rasch zum nächsten Fluss zu reiten. Das ging jetzt nicht mehr. Im Dunkeln spürte er die Kälte in der Luft, den Geschmack nach Regen. Ana lag im Unterstand, einen gewärmten Wasser schlauch auf dem Bauch. Sie tat nur so, als schliefe sie; er konnte an ihrem Atem hören, dass sie wach war und immer noch Schmerzen hatte. Creisa war in tiefen Schlaf gesunken. Die Nacht ging weiter. Die erste Wachschicht kam zurück und legte sich schlafen. Die zweite Schicht ging hinaus in die Dunkelheit. Es gab in diesem Teil des Waldes viele Vögel, Faolan wusste nicht, von welcher Art. Etwas, das nachts jagte, vielleicht Eulen. Ihre Rufe waren hohl und tief und bewirkten, dass sich seine Nackenhaare sträubten. Es gab noch andere Geräusche in diesen Wäldern, seltsame Geräusche, die er bei all seinem Wissen über die Wildnis nicht deuten konnte: Raunen, Zischen, Flüstern. Er konzentrier- 91 te sich auf die Probleme, die vor ihm lagen: der Regen, die Furt, die Frau, von der man nicht verlangen konnte, dass sie am Morgen weiterzog. Er bedauerte zutiefst, dass er keine Götter hatte, an die er glaubte, keine Gottheit und keinen Geist, den er höflich bitten konnte, den Regen noch zurückzuhalten, nur ein oder zwei Tage, damit sie sicher an den Rand des Dornwalds gelangten.
Als sie die Furt überquerten, hatte er einen Entschluss gefasst. Sie mussten mindestens einen Tag Rast einlegen und Ana Ruhe gönnen. Regen oder nicht, er konnte sie nicht weiterreiten lassen, bevor diese Krämpfe vorüber waren. Seine Aufgabe bestand nicht nur darin, innerhalb eines gewissen Zeitraums Alpins Festung zu erreichen, er musste auch einen Schatz von großem Wert und großer Zartheit dort abliefern. Wenn er zwar rechtzeitig ankam, aber mit beschädigter Fracht, würde das bedeuten, dass er seinen Auftrag nicht perfekt ausgeführt hatte, und das war undenkbar. Sie würden warten. Damit verringerten sie ihre Möglichkeiten. Wenn ein Fluss anschwoll, hatten auch alle anderen Hochwasser. Wenn es tatsächlich regnete, würden sie vielleicht in der Falle sitzen und nicht mehr vor und zurück können. Ein Kribbeln auf der Haut, ein vages Unbehagen sagte Faolan, dass sie nicht allein in diesem Wald waren. Er glaubte nicht sonderlich an Geschichten über anderweltliche Präsenzen. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass ein unternehmungslustiger hiesiger Anführer, begleitet von seinem Kriegshaufen, die Reisenden zu einem Punkt verfolgte, wo er ihnen gut auflauern konnte. »Was ist das für ein Geruch?« Das war Anas Stimme; sie richtete sich auf. Er sah, wie sie nach einem Schultertuch griff, es sich umwickelte und dann den Unterstand verließ. Sie setzte sich leise neben die schlafenden Männer ans Feuer. Ihr helles Haar leuchtete im Licht des abnehmenden Monds. Das Glühen der Holzkühle verlieh ihrem erschöpften, abgehärmten Gesicht eine falsche Rosigkeit. - 92 »Einer meiner Männer hatte Kräuter in seinem Gepäck, angeblich eine schmerzlindernde Mischung«, sagte Faolan und hob ein kleines Töpfchen vom Rand des Feuers, wo das Gebräu abgekühlt war. »Ich dachte, es könnte dir vielleicht helfen. Ist es sehr schlimm?« »Ich bin daran gewöhnt. Ich weiß nicht, ob ich trinken kann. Manchmal kann ich vor Schmerzen nichts bei mir behalten.« Faolan goss das Gebräu in einen Metallbecher. Er schwieg. »Ich werde es versuchen, wenn du willst«, sagte Ana. »Ich kann nicht schlafen. Vielleicht hilft es ja.« Er reichte ihr den Becher. Als seine Finger ihre berührten, spürte er, wie ein Schauder durch seinen Körper zuckte. Er atmete vorsichtig, versuchte, den Blick aufs Feuer zu konzentrieren. Was immer ihm bei der Flussüberquerung zugestoßen war, es war nicht nur unwillkommen. Es war unerträglich. »Es tut mir Leid, dass ich eine solche Last bin«, sagte Ana höflich und trank einen kleinen Schluck. Ihre Fingerknöchel waren weiß, als sie mit einer Hand den Becher umklammerte und mit der anderen das Tuch um sich zog. Ihr Haar war jetzt offen, vollkommen seinen üblichen Fesseln entflohen, ein schimmernder Fluss, der ihr ein etwas unwirkliches Aussehen verlieh: eine Gestalt aus einem Traum. Faolan war den größten Teil eines Monds in ihrer Gesellschaft unterwegs gewesen. Und selbstverständlich hatte er sie in den Jahren, seit er nach Fortriu gekommen war, oft genug am Hof gesehen und nicht weiter an sie gedacht. Sie war eine Geisel gewesen, ein Mädchen mit hellem Haar, Tualas Freundin. Nichts weiter. Nichts, was ihn anging. Plötzlich fiel es ihm schwer, sie nicht anzusehen. »Du entschuldigst dich oft.« Das entschlüpfte ihm gegen seinen Willen. »Wie meinst du das?« Sie klang nicht gekränkt, nur miss- 93 trauisch. Sie sprach leise, ebenso wie Faolan, um die Männer nicht zu wecken. »Es wäre vollkommen vernünftig gewesen, mich zu bitten, das Lager früher aufzuschlagen, damit du dich ausruhen kannst. Aber ich wusste es nicht. Ein Mann kann solche Dinge nicht erraten.« Ana sah ihn an. Ihre Augen erschienen ihm tief, geheimnisvoll und dennoch klar, wie ein Gezeitentümpel im Sommer, voller Geheimnisse. Ein Mann müsste ein Narr sein, dort hineinzuschauen; er lief Gefahr unterzugehen. »Du hältst mich für dumm und verwöhnt«, sagte Ana. »Dessen bin ich mir sehr bewusst. Und du hast deine Ansichten von Anfang an klar gemacht, als du darauf bestandest, dass ich Reitstunden brauche, ohne mich zu fragen, ob ich nicht vielleicht schon reiten kann. Ich habe nicht das Leben eines Mannes geführt. Ich weiß wenig vom Leben eines Mannes, wie du einer bist, eines Mannes, der seinen eigenen Regeln folgt und seine eigenen Entscheidungen trifft. Aber ich bin nicht vollkommen dumm und verfüge über ein gewisses Maß an gesundem Menschenverstand. Ich weiß, warum wir weiterziehen müssen. Ich habe schon vor zwei Tagen gerochen, dass es regnen wird. Ich habe die Geräusche im Wald gehört. Dir zu sagen, dass ich ... indisponiert war ... wäre unvernünftig und eigensüchtig gewesen. Es hätte uns wertvolle Zeit gekostet.« Faolan sah sie an. »Das wird es ohnehin tun«, stellte er fest. »Ich kann morgen weiterreiten ...« Sie brach ab, verzog das Gesicht, stellte den Becher ab und drückte sich die Hand auf den Bauch. »Unsinn«, sagte Faolan. »Das werde ich nicht zulassen. Du bist eindeutig nicht dazu in der Lage. Du brauchst mindestens noch einen Tag Ruhe, vielleicht zwei. Du hättest es mir auch gleich sagen und dir einen unangenehmen Tag ersparen können.« - 94 Eine Weile schwieg Ana. »Wie meintest du das«, fragte sie schließlich, »mit dem Entschuldigen? Man hat mir gute Manieren beigebracht, etwas, das du vielleicht öfter einsetzen könntest.« Faolan spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Er zwang sich, an Dornwald zu denken, an Alpin von den Caitt. Sein Bedürfnis zu lächeln verschwand. »Ich wollte dich nicht kränken«, sagte er, »es beunruhigt mich einfach zu sehen, wie bereitwillig du dein Schicksal akzeptierst, ganz gleich wie unangenehm, wie - geschmacklos es sein
mag. Dir gefällt der Weg nicht, den andere für dich wählten, aber du folgst ihm dennoch demütig. Du bedauerst uns zu verlangsamen, wenn jede vernünftige Person schon viel früher verlangt hätte, dass wir ein Lager aufschlagen.« »Ich bin eine Frau«, sagte Ana schlicht. »Ich bin von königlichem Blut, eine Handelsware. Ich bin es meinen Verwandten, Bridei und der Zukunft von Fortriu schuldig, das zu tun, was man mir sagt. Ich bin es den Göttern schuldig.« Faolan dachte eine Weile über diese Antwort nach. »Was würdest du tun«, fragte er, »wenn du nicht von solchen Dingen eingeschränkt wärst? Durch Geburt, durch Pflicht? Welche Entscheidungen würdest du treffen? Welchem Weg würdest du folgen?« Ana schwieg lange. Faolan beschäftigte sich mit dem Feuer, legte genügend Holz nach, um es in Gang zu halten, ohne dass es zu hoch aufflackerte. Als er wieder aufblickte, sah er das Glänzen von Tränen auf ihren Wangen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich würde sicher nicht diesen Weg gehen.« »Aber du versuchst nicht, etwas daran zu ändern.« »Ich tue, was von mir erwartet wird.« Sie blinzelte ein paar Mal, rieb sich die Wangen und richtete sich gerade auf. Das königliche Blut, dachte Faolan, war nie deutlicher in ihr als jetzt; es war trotz der Tränen, trotz ihres blassen - 95 Gesichts, trotz des ungekämmten Haars und des hastig umgelegten Tuchs sichtbar. »In meinem Fall gibt es keine Wahl«, fuhr Ana fort. »Ich nehme an, für dich ist es anders. Du kannst deine eigene Zukunft bestimmen. Du bist nur dir selbst gegenüber Rechenschaft schuldig.« Dafür gab es keine Antwort. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Dies zu tun, verstieß gegen die Regeln, die ihm halfen zu überleben. Dieses Gespräch hätte nie stattfinden dürfen. Er hatte geglaubt, den Fluss erfolgreich überquert zu haben. Nun schien es, dass er bei dieser Überquerung Hals über Kopf versunken war. »Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Ihr entging nichts; selbst im Dunkeln hatte sie gesehen, dass sich etwas in seiner Miene veränderte. »Du solltest versuchen zu schlafen«, sagte Faolan. »Ich habe hier noch mehr von diesem Gebräu; gib mir den Becher, ich fülle ihn neu.« Sie saßen noch eine Weile schweigend da und lauschten dem leisen Schnarchen der Männer und weiter draußen, hinter dem sicheren Kreis des Feuerlichts, den geheimen Geräuschen des Waldes. Ana hielt den Becher in eleganten, blassen Händen, und selbst nach dem langen Ritt, nach all diesen Lagern im Wald, waren ihre Nägel glänzende, perfekte Ovale. Seine eigenen Nägel waren abgebrochen, schmutzig und abgekaut. Die Hände eines Mörders. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das nicht so gewesen war. Es hatte Zeiten gegeben, in denen seine Hände einem anderen Handwerk dienten. »Wer war Fionnbharr?«, fragte Ana nach langem Schweigen. Ihre Frage überraschte Faolan vollkommen, und er antwortete ohne nachzudenken. »Ein Reisender. Er wurde von einer Frau der Daoine Sidhe verzaubert, einer Feenfrau, und reiste neunundneunzig Tage lang über diese Welt hinaus.« - 96 Zu spät erkannte er, was Frage und Antwort gezeigt hatten. »Aha.« Mehr sagte sie nicht. Für eine Frau war sie überraschend zurückhaltend. Dafür war er zutiefst dankbar. »Sprichst du Gälisch?«, fragte er und nahm sich vor, in Zukunft seine Zunge besser im Zaum zu halten. »Nur ein paar Worte. Wir haben zu Hause die Sprache der Priteni gesprochen, aber es gab christliche Mönche auf unserer Heimatinsel. Sie waren Galen wie du.« »Du solltest schlafen«, sagte er abermals. »Wenn du noch in den Wald gehen musst, bevor du dich wieder hinlegst, werde ich Wache für dich halten. Es ist nicht nötig, das Mädchen zu wecken.« Ana nickte. »Sie schläft sehr tief, nicht wahr? Danke. Wann wirst du schlafen?« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« »Da bin ich anderer Meinung. Immerhin bist du der Anführer dieser Gruppe, und unsere Sicherheit hängt davon ab, wie aufmerksam du bist.« Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie ihn neckte; ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, ein Grübchen zeigte sich neben ihrem Mundwinkel. Auf ihrem Gesicht waren immer noch Tränenspuren zu sehen. Es war ein merkwürdiger Anblick. Faolan fühlte sich sehr seltsam. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Was außer extremer Erschöpfung konnte ihn so durcheinander bringen? »Ich werde schlafen, wenn die letzte Schicht Wache hält. Da wir noch einen Tag pausieren werden, haben wir viel Zeit.« »Du bist auch nur ein Mensch«, sagte Ana. »Daran solltest du manchmal denken.« »Gibst du mir etwa Befehle?« »Hast du mich nicht gefügig genannt? Die Gefügigen geben keine Befehle. Ich weise dich nur darauf hin, was nütz- 97 lieh sein könnte. Du bist derjenige, der hier das Sagen hat. Sollen wir gehen?«
Sie gingen ein Stück in den Wald hinein. Er wartete, während sie verschwand, um private Dinge zu tun. Einmal zuckte er zusammen, als ein Vogel dicht an seinem Gesicht vorbeiflog; das Tier erschien so plötzlich, dass Faolan keine Zeit hatte auszuweichen. Der Vogel landete auf einem nahen Baum, ein Wirbel aus Federn und Schatten. Sein Schnabel war feindselig, sein seltsames, wildes Auge wie das eines Sehers in Trance. Als Ana zurückkehrte, sagte sie: »Hast du das gesehen? Diesen Vogel ... ich glaube, es war eine Krähe. Er flog so dicht an uns vorbei. Dieser Ort ist voller Präsenzen. Und wir sind noch nicht einmal im Dornwald.« »Wenn ein Vogel das Schlimmste ist, worauf wir stoßen, bin ich zufrieden.« Zurück im Lager dankte sie ihm auf ihre höfliche Weise und zog sich in den Unterstand zurück, um sich auf die Decken zu legen, während Faolan wieder ans Feuer ging. Es widerstrebte ihm, Kinet und Wrad zu wecken, die schwer gearbeitet hatten und todmüde waren. »Gute Nacht«, sagte er leise in die Richtung des Unterstands. »Gute Nacht, Faolan.« Ihre Stimme war leise, aber klar. Er mochte, wie sie seinen Namen aussprach. »Möge die Leuchtende deine Träume hüten.« Er kannte die richtige Antwort. Man lebte nicht an Brideis Hof, ohne sich des gesamten Musters förmlicher Grüße und Abschiedsworte und der Rituale der Priteni bewusst zu werden. Die korrekte Antwort lautete Möge der Flammenhüter dein Erwachen beleuchten. Aber er glaubte nicht an Götter, weder an die von Brideis Volk noch an die arroganten, flüchtigen Gottheiten seiner Heimat. Ein solcher Segen war in seinem Fall nicht angemessen. Keine Gottheit hatte die Macht, die dunklen Heimsuchungen seiner Näch- 98 te zu läutern. Sie waren stets bei ihm, seine selbst hergestellte Hölle. Er sollte Ana verfluchen statt sie zu segnen. Sie hatte etwas in ihm geweckt, das er nicht wollte, eine Erinnerung, die er lange mit aller Kraft niedergehalten hatte. Er konnte das nicht brauchen. Er konnte es nicht zulassen. Er wollte nur Befehle, Aufgaben, makellose Ausführung. Dann die nächsten Befehle. »Schlaf gut«, sagte er dennoch und sah, wie sie sich unter der Decke zusammenrollte, den blonden Kopf auf eine Hand gestützt. Er wartete, bis er wusste, dass sie eingeschlafen war. Dann weckte er die dritte Schicht und schickte sie auf Wache. Über ihnen, auf dem Ast eines knorrigen, verkrüppelten Baums, beobachtete eine Krähe mit glänzenden Augen jede Bewegung. Am nächsten Tag lag Ana im Unterstand und lauschte dem Geräusch des Regens auf dem geölten Tuch und den Lauten des Lagers. Kein Augenblick der unerwarteten Rast wurde verschwendet. Wild wurde gejagt, zerlegt, gebraten. Waffen wurden geschärft, Wasserschläuche gefüllt und Pferde gestriegelt. Ein paar Männer schliefen, aber nur mit Faolans Erlaubnis. Ana selbst schlief hin und wieder ein; das übel schmeckende Kräutergebräu, von dem Faolan noch mehr zubereitete, hatte tatsächlich eine beruhigende Wirkung. Als es Abend wurde, kochten sie ihr Haferbrei, und Ana stellte fest, dass sie Hunger hatte. Am nächsten Morgen brachen sie das Lager ab und ritten weiter nach Westen. Anas Krämpfe hatten nachgelassen. Sie war immer noch müde und schwach, aber sie konnte den Blick in Faolans Augen sehen und tat ihr Bestes, selbstsicher und stark zu wirken. Der Regen war nicht heftig, noch nicht. Zumindest nicht hier. Aber es war noch ein weiter Weg zum Fluss, wenn Faolans Einschätzung stimmte, und in diesem immer grimmiger werdenden Hochland rauschten viele Bäche in die Täler, schäumten über Felssimse, gurgelten durch geheime - 99 Schluchten oder breiteten sich hier und da zu Sümpfen aus, die auf Pferd und Reiter lauerten. Im Norden drängten sich dunkle Wolken. In der Luft über den Reitern erklangen die Alarmrufe vieler Vögel. So viele Vögel; es wimmelte nur so von ihnen, von solchen, die Ana kannte, Falken, Bussarden, Lerchen und anderen, die ihr neu waren. Hin und wieder sah sie einen Vogel wie den, der sie im Wald an der Furt erschreckt hatte, es musste eine Krähe sein, aber dieser Vogel hatte einen einzigartigen Blick. Seine Augen waren misstrauisch und wissend. Als sie die dichteren Regionen des Waldes verließen und dem Weg einen steilen, kargen Hang hinauf folgten, hatte sie schon dreimal einen Vogel dieser Art gesehen und fragte sich, ob es immer der Gleiche gewesen war, der ihnen folgte, einmal hoch über ihnen flog und dann wieder auf einem großen Stein am Wegesrand saß und die Reisenden mit seinem durchdringenden Blick beobachtete. Einer der Männer holte eine Schlinge heraus und hob einen Stein auf. »Nein«, sagte Faolan. »Wir haben genug Fleisch für eine paar Mahlzeiten. Lass ihn in Ruhe.« Sie hörten den Fluss schon, bevor er in Sicht kam. Zunächst war es ein Flüstern, dann ein Murmeln, dann ein beharrliches Trommeln, das beinahe ihre Stimmen übertönte. Anas Haut wurde klamm vor Angst. »Fürchte dich nicht.« Faolan kam neben sie. »Wenn das Wasser zu hoch ist, werden wir irgendwo auf dieser Seite ein Lager aufschlagen und warten. Ich werde nicht versuchen, den Fluss zu überqueren, ehe ich sicher sein kann, dass wir es auch schaffen. Ich werde unser Leben nicht aufs Spiel setzen, nur damit wir rechtzeitig unser Ziel erreichen.« »Ist es nicht wichtig, dass wir genau das tun?«, fragte Ana. »Überlass es mir einzuschätzen, was wichtig ist«, erwiderte er. Seine Miene war nun wieder starr; sie hätte nicht - 100 sagen können, was er dachte. Dieses seltsame Gespräch, das sie beide im Dunkeln geführt hatten, kam ihr immer mehr wie ein Traum vor. »Geds Führer sagte, dass man diese Furt durchqueren kann, solange man Vorsichtsmaßnahmen ergreift. Vertrau mir.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, ritt er weiter an die Spitze. »Es gibt ein Wort für solche Männer«, stellte Creisa, die hinter Ana ritt, fest. »Aber du würdest es nicht gerne hören, Herrin, also behalte ich es für mich.« »Er weiß, was er tut«, sagte Ana. »Wenn wir weiterziehen, dann weil das die beste Entscheidung ist, nachdem er alles überdacht hat.« »Ja, Herrin.« Der Tonfall legte nahe, dass Creisa alles andere als überzeugt war. Sie hatte ihren Rock ein wenig höher gezogen, als unbedingt notwendig war, um reiten zu können. Die Männer in der Nähe warfen immer wieder einen Blick auf dieses interessante Stück wohlgeformten bestrumpften Beins; wenn ihre Pferde trotzdem auf dem steinigen, schmalen und immer steiler werdenden Weg nicht ins Rutschen gerieten, war das kaum ihren Reitern zu verdanken. Ana sehnte sich ungemein danach, dass all dies vorüber wäre. Ihr Rücken tat weh, ihr war schwindelig und immer noch übel. Sie wünschte sich ein warmes Bad, frische Luft, frische Kleidung und ein bequemes Bett, in dem sie schlafen konnte, ohne dem Wetter ausgesetzt zu sein. Allein. Sobald sie sicher nach Dornwald gelangten, würde sie diese einfachen Dinge nie wieder für selbstverständlich halten. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte, dass sie, wenn sie erst mit Alpin verheiratet war, nicht mehr oft allein schlafen würde. Sie schob diesen Gedanken weg. Sie konnte einfach nicht an diese Dinge denken. Der Weg zog sich an der Flanke eines Tals entlang; hier war das Land wieder bewaldet, dunkle Kiefern weiter oben - 101 und eine Mischung aus kleineren Bäumen nahe dem Fluss, sodass man ihn nicht sehen konnte. Die Stimme des Flusses war allerdings beharrlich; irgendwo da unten musste es Stromschnellen geben. Ana hörte, wie Faolan einen Befehl gab und die Männer begannen, hinter und vor ihr schneller zu reiten. Ihr eigenes Pony tat es den größeren Tieren nach. »Die schwarze Krähe stehe uns bei!«, rief Creisa. »Ich werde blaue Flecke an Stellen haben, über die ich noch nie nachgedacht habe!« Dann rief Faolan wieder etwas, und ihnen blieb kein Atem mehr, um sich zu beschweren; auf dem schmalen Weg zu bleiben brauchte alle Energie. Ana wurde schwindelig. Sie biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Das hier war nicht der Zeitpunkt, Schwäche zu zeigen. Eine letzte Biegung, ein steiler Abstieg über einen gefährlich kiesigen Hang, und die Furt kam in Sicht, gesäumt von Weiden. Vögel schössen über das Wasser, wobei ihre Wege sich in einem kunstvollen Tanz kreuzten und wieder kreuzten. Es gab hier einen einzelnen breiten Kanal, ungebrochen von sichtbaren Felsen. Die Wasseroberfläche war glatt, die Strömung schien nicht allzu heftig zu sein. Ana dachte, dass es sicherer aussah als das schiefrige Flussbett, das sie zuvor überquert hatten. Es regnete sanft, aber anhaltend. Wenn sie den Fluss überqueren wollten, war nun wahrscheinlich ihre letzte Gelegenheit. Kinet stieg ab, nahm den Stab in die Hand, und auf Faolans Nicken watete er vorsichtig ins Wasser. Es wurde sofort deutlich, dass die Strömung hier stärker war, als es aussah. Kinet taumelte, stieß den Stab fest nach unten und gewann sein Gleichgewicht wieder. Das Wasser reichte ihm bis an die Oberschenkel. »Weiter«, rief Faolan über das Geräusch der Strömung hinweg. »Prüfe den ganzen Weg, wenn du kannst.« Es war schwierig. Dreimal wäre Kinet beinahe gestürzt, und er war ein großer, kräftiger Mann. Creisa biss sich auf - 102 die Knöchel. Schließlich erreichte Kinet die andere Seite, nass bis beinahe zur Taille. Faolan winkte ihm zu, zurückzukehren. Die Männer unterhielten sich leise, während die Frauen warteten. Auf einem gebogenen Ast, halb verborgen hinter den zarten Blättern einer Weide, saß ein Vogel, klaräugig und seltsam ruhig im Schatten. Ana starrte ihn an; sie wurde immer sicherer, dass es das gleiche Tier war, das ihnen folgte. Wenn sie über Tualas Fähigkeiten verfügt hätte, hätte sie vielleicht sagen können, was der Vogel dachte, hätte seinen Schrei interpretieren können. Sie erinnerte sich, was die Mädchen in Banmerren über ihre anderweltliche Mitschülerin gesagt hatten, wie Tuala ihnen beigebracht hatte, nach den Stimmen von Marder, Aal, Insekt und Vogel zu lauschen, oder wie man die tiefen, trägen Gedanken einer Eiche verstand. Ana verfügte nicht über solche Fähigkeiten. Der Vogel beunruhigte sie. »Was willst du?«, flüsterte sie. »Was bist du, eine Art Spion?« Der Blick des Tiers verharrte auf ihr, intensiv, ohne ein Blinzeln. Es war verstörend. Sie sah, dass Faolan ihr winkte, und ritt zu den Männern zurück, gefolgt von Creisa. »Also gut«, sagte Faolan mit strenger Miene. »Wir ...« Ana fand nie heraus, was er beschlossen hatte, ob er weiterziehen oder warten wollte. Es gab ein Schwirren und ein Klatschen, und Kinet, der gerade wieder aus dem Fluss gekommen war, fiel zu Boden, die Augen vorquellend, einen blau gefiederten Pfeil im Hals. Creisa schrie. Die Männer bewegten sich blitzschnell und bildeten einen schützenden Kreis um die Frauen, während zwei von den Pferden sprangen, um zu dem gestürzten Mann zu eilen. Ana hörte Wrad sagen: »Er ist tot«, und Creisa schluchzte unterdrückt. Einen Augenblick später kam ein zweiter Pfeil aus einer anderen Richtung und bohrte sich in Faolans Oberarm. Er warf einen Blick darauf, nahm mit kaltblütiger Distanziertheit, die Ana trotz ihrer Angst beeindruckte, den Schaft in die Hand und - 103 zog den Pfeil heraus. Die Spitze glitzerte scharlachrot. Die Männer hielten ihren Kreis, die Waffen nach außen
gerichtet. In dem Wald waren nun Geräusche zu hören, Zweige knackten, Büsche raschelten, man hörte Schritte; eine Streitmacht von beträchtlicher Größe näherte sich aus mehreren Richtungen, immer noch unsichtbar und tödlich. Es gab nur einen Ausweg. »Über den Fluss«, fauchte Faolan. »Wrad, du nimmst Creisa hinter dich. Ana, zu mir. Schnell!« Jemand hatte ihm ein Stück Tuch zugeworfen, das er sich um den Arm wickelte, noch während er sprach. Einen Augenblick später saß Ana wieder auf Faolans Pferd, diesmal hinter ihm, und er lenkte das Tier mit einer Hand. Sie ritten in den Fluss. Als wollten sie diese Entscheidung verspotten, rollten dunkle Wolken heran, und der Regen verwandelte sich von dauerhaftem Nieseln in eine Sintflut. »Halt dich fest.« Ana konnte Faolans Worte über die Stimme des Flusses und das Trommeln des Regens hinweg gerade noch hören. »Der Boden ist uneben, und das Wasser steigt.« Ana warf einen Blick über ihre Schulter. Hinter ihnen war Wrad in die Furt geritten, und Creisa klammerte sich an ihn. Benard führte das Packtier, ein anderer Mann ging neben einem Pferd, über das man die schlaffe Gestalt von Kinet gelegt hatte. Die anderen waren immer noch am Ufer, die Waffen bereit, und starrten in den Wald. Die Angreifer waren noch nicht aufgetaucht. Ana schaute wieder nach vorn, durch den Regenvorhang in das schattige Dunkel am anderen Ufer. Würden dort mehr Männer warten, um sie einen nach dem anderen zu töten, wenn sie aus der Furt ritten? Sie hoffte, dass Faolan an so etwas gedacht hatte. Schaudernd summte sie leise vor sich hin, ohne wirklich zu merken, was es für ein Lied war, nur in der Hoffnung, dass es ihr helfen würde, mutig zu sein. Eins, zwei, drei, vier, Hühner picken an der Tür. Fünf, sechs, sieben, acht, Krähen - 104 halten draußen Wacht... Es hatte geholfen, als sie klein gewesen war und sich fürchtete, wenn sie allein im Dunkeln darauf wartete, einzuschlafen. Sie schaute wieder nach hinten. Sie waren jetzt alle im Wasser. Ana glaubte, dunkel gekleidete Gestalten unter den Bäumen am östlichen Ufer zu sehen, die aus der Deckung ins Freie kamen. Es sah aus, als trügen sie blaue Stirnbänder. Durch den Regen glaubte sie einen Mann entdecken zu können, der den Bogen hob, einen Pfeil auflegte. »Sie sind direkt hinter uns«, sagte sie. »Am Ufer.« Faolan nickte. Auf ein Zeichen, das Ana nicht bemerkt hatte, bewegte sich das Pferd rascher vorwärts. Es stolperte, Ana sah, dass das Wasser noch höher angestiegen war. Faolans Körper spannte sich deutlich an, als er sich anstrengte, dem Pferd bei der Wiedererlangung seines Gleichgewichts zu helfen. Die Strömung fühlte sich an wie klammernde Hände, wie eine feindliche Macht, die versuchte, sie abwärts zu ziehen. Dann stolperte das Tier plötzlich auf einen kiesigen Strand und eine grasige Erhebung hinauf, und sie waren in Sicherheit. Faolan schwang sich aus dem Sattel, ein wenig ungeschickt mit dem verwundeten Arm. Blut drang durch den behelfsmäßigen Verband, der Ärmel seines Hemds war rot. »Führe das Pferd am Zügel. Geh höher den Weg hinauf«, sagte er. »Das Wasser steigt rasch. Hier.« Er nahm etwas von seinem Gürtel, drückte es ihr in die Hand: ein Messer ohne Scheide, eine ernsthaft aussehende Waffe mit gezähnter Klinge. »Nimm es. Wenn notwendig, benutze es. Versteck dich und warte auf uns. Geh!« »Was willst du ...« »Ana, geh!« Sie sah in seine Augen und erkannte, dass Gehorsam die einzige Möglichkeit war. Über seine Schulter hinweg konnte sie die lange Reihe von Reitern über die ganze Breite der Furt sehen. Sie kamen nur langsam voran, das Wasser war - 105 bereits sichtlich tiefer, und die Pferde hatten offensichtlich Schwierigkeiten. Sie sah zu, wie Faolan wieder zum Ufer ging und dort wartete, deutlich sichtbar für jeden, der einen weiteren Pfeil abschießen wollte. Er wartete, bis all seine Männer sicher die Flussmitte hinter sich hatten. Dann nahm Ana das Pferd am Zügel und begann, den Hügel hinaufzusteigen. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein Geräusch hörte, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie wusste nicht, was es war, nur dass es sich um die Stimme der Katastrophe handeln musste. Sie drehte sich um und spähte aus der Deckung der dichten Büsche hervor, um einen klaren Blick auf die Furt zu erhalten. Das Geräusch war ein Rauschen, ein Tosen, ein gewaltiges Grollen wie von einem sich nähernden Ungeheuer. Die Männer im Wasser schauten flussaufwärts; Ana sah ihre Gesichter in dem Augenblick, bevor es sie traf, bleich, erschrocken, in den Augen die Erkenntnis des bevorstehenden Todes. Dann kam die Welle, eine Flut, die irgendwo weiter flussaufwärts gefangen gewesen sein musste und plötzlich befreit wurde, als eine Barriere unter ihrem Druck nachgab und die Wassermasse flussabwärts rauschen ließ. Das Wasser riss alles mit, das in seinem Weg stand: massive Baumstämme mit Wurzeln wie greifende Finger, Steine, Erde, Büsche, Tiere, alles in einem wilden Wirbel. Es würde lange dauern, bis das Land hier wieder heilte. Ana sah ungläubig zu, wie die Welle über die Furt hinwegtobte; innerhalb von einem Augenblick waren Männer, Frau und Pferde darin verschwunden, ihre Schreie erstickt von dem wilden Tosen und in dem brüllenden Wahnsinn davongetragen. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen und Ana konnte klar über das Wasser zur anderen Seite schauen. Das Ufer auf der anderen Seite war unterspült. Der Fluss hatte einen gewaltigen Biss davon genommen. Es war niemand mehr zu sehen. Von einer Seite zur anderen war das Tal mit rauschendem Wasser gefüllt. - 106 -
Ana konnte das hohe, keuchende Geräusch ihres eigenen Atems hören. Sie spürte das dröhnende Klopfen ihres Herzens. Einen Augenblick stand sie da, gelähmt von der schrecklichen Endgültigkeit dessen, was geschehen war. Dann hängte sie die Zügel des Pferds über einen Zweig, raffte den Rock in den Gürtel und rannte den Weg hinunter. Das Wasser hatte die alten Grenzen des Flusses ausgelöscht. Er floss um Baumstämme und durch Dickichte und rauschte über Felsvorsprünge. Die Dinge, die er mit sich trug, bildeten eine neue Gefahr: Baumstämme rasten heran und krachten gegen die Bäume, die immer noch gegen die Flut standhielten, und lose Steine rollten in der mächtigen Strömung. Ana konnte niemanden sehen. Nicht einen einzigen Menschen. Draußen in der Flussmitte, gefangen in einem Ast, bewegte sich etwas Kleines, Buntes wild im wirbelnden Wasser: ein Fetzen von Creisas buntem Schultertuch. Ana konnte nicht weiter gehen, ohne nach den anderen zu suchen, so unwahrscheinlich es auch war, dass sie jemanden finden würde. Das Ufer war ein Albtraum, nur abbröckelnder Boden und sich verschiebende Steine, rutschige Blätter und brechende Äste. Ana suchte sich ihren Weg flussabwärts und merkte sich bestimmte Dinge am Weg: hier eine einzelne Eiche am Hang über ihr, dort einen weißen Felsen in Form einer Ziege, da eine tiefe Narbe, in den Boden gerissen, wo ein Bach seinen eigenen Beitrag zu der Vernichtung geleistet hatte. Sie rief, und ihre Stimme klang schwach und einsam vor dem triumphierenden Lied des Flusses: »Faolan! Wrad! Creisa! Ist jemand da?« Sie würde nicht darüber nachdenken, wo sie sich befand, nicht an diese Männer mit den Pfeilen, nicht daran, dass sie hier allein war und fror, dass sie durchnässt war und keinerlei Ausrüstung und keine Ahnung vom Weg hatte. Sie würde suchen, bis ihr vor der Dunkelheit gerade noch Zeit blieb, um zur Furt und zum Pferd zurückzukehren. Darüber hinaus wollte sie nicht nachdenken. - 107 Die Zeit verlor jede Bedeutung. Sie fand einen Weg, wo es scheinbar keinen gegeben hatte. Sie ignorierte die Kratzer und blauen Flecken, die sie von dornigen, zerrissenen Büschen und zerklüfteten Steinen hinnehmen musste. Ihr Hals tat ihr vom Schreien weh. Sie weinte, und ihre Nase lief. Sie ging weiter, bis sich vor ihr ein Hindernis auftat, an dem sie nicht vorbeikommen würde. Der angeschwollene Fluss stürzte in einem weißen, schäumenden Wasserfall abwärts, und zu beiden Seiten bildeten hohe Felswände eine beeindruckende Barriere. Es hatte keinen Sinn, es mit Klettern zu versuchen. Was sie suchte, würde sich am Flussufer befinden oder nirgendwo. Wenn irgendwer in dieses wirbelnde Chaos weißen Wassers gesaugt worden war, wenn irgendjemand so lange überlebt hatte, waren sie nun weit über Anas Reichweite hinaus. Es war Zeit umzukehren. Das Gefühl der Niederlage war überwältigend. Ana setzte sich auf einen Stein und starrte blicklos in den Fluss. Wenn sie nicht ohnmächtig geworden wäre, wenn Faolan ihr nicht einen Tag Ruhe gestattet hätte, wären sie sicher über den Fluss gekommen. Creisa würde noch leben, ebenso wie Wrad und Kinet und all die anderen jungen Männer. Sie waren wegen ihr gestorben. Weil sie schwach gewesen war. Und Faolan, der den Fluss sicher überquert hatte - er hätte leben können und war gestorben, weil er sich um seine Männer sorgte. Er hatte auf die anderen gewartet, und der Fluss hatte ihn mitgerissen. Seine Ergebenheit an die Pflicht hatte ihn sein Leben gekostet und das ihre gerettet. Ihr blieb nichts anderes: Sie musste umkehren. Hier konnte sie nichts mehr tun. Grimmig begann Ana über die praktischen Dinge nachzudenken. Faolans Pferd hatte Satteltaschen; vielleicht gab es dort ein paar Sachen, die sie brauchen konnte. Sie blutete immer noch. Sie musste ihr Hemd zerreißen, nass wie es war, um es als Verband zu benutzen. Alles andere hatte sich auf dem Packpony befunden: ihre Habe, die Kleidung, die sie für die Hochzeit ge- 108 packt hatte, die kleinen Kleidungsstücke, die sie im Laufe der Jahre bestickt hatte, für die Zeit, wenn sie einmal Kinder haben würde. Alles war weg. Alles weggefegt. »Mach schon, Ana«, befahl sie sich, schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie kam zittrig auf die Beine, und in diesem Augenblick flog die Krähe an ihr vorbei, so nahe an ihrem Gesicht, dass sie mit einem Keuchen zurückwich. Der Vogel flog hinunter zum Wasser und krächzte dabei laut, und als Ana ihm hinterher starrte, sah sie, was sie zuvor auf ihrem quälenden Weg an der Flanke des Tals entlang nicht bemerkt hatte. Etwas war dort zwischen ein paar zerklüfteten Felsen eingeklemmt. Der Fluss schäumte an dieser Stelle, als wäre er zornig, dass jemand gegen ihn Bestand haben sollte. Am Ufer lehnte sich ein großer Baum, halb umgerissen von der Flut, auf die felsige Insel zu und klammerte sich auf der anderen Seite immer noch an die Erde. Unter ihm hatte das Wasser das Ufer weggerissen. Hier hing eine wirre Masse von Wurzeln halb ins rauschende Nass hinab. Mehr Schutt war dort angespült, abgebrochene Äste, ausgerissene Büsche, Stöcke und Blätter. Ana schaute wieder zu den Felsen hin. Ganz unten konnte sie etwas Dunkles im Wasser erkennen, das nasse, fleckige Hemd eines Mannes. Und etwas Bleiches: ein erschöpftes, halb bewusstloses Gesicht. Eine Hand tastete, klammerte sich gegen den heftigen Sog der Strömung verzweifelt an einen festgeklemmten Ast. Sie rannte los, stolperte über die Steine, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Faolan lebte noch. Er klammerte sich fest. Es gab doch noch etwas, was sie aus diesem Albtraum retten konnte. Der Vogel setzte sich auf die oberen Äste des halb umgestürzten Baums, den Blick auf den Mann im Wasser gerichtet. Ana kletterte unter den umgekippten Stamm und rutschte über das sich auflösende Ufer. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Stelle, wo Faolan sich ver- 109 -
zweifelt an diesen Ast klammerte, befand sich zweimal ihre Körperlänge weit im Wasser; sie konnte ihn nur erreichen, wenn sie selbst hineinwatete. Aber das Wasser war tief; Faolan konnte den Boden offenbar nicht berühren und auf diese Weise hinausgelangen. Sobald seine Hände den Halt verloren, würde er mitgerissen werden. Flussabwärts gab es weitere Steilfelsen; er würde wahrscheinlich an ihnen vollkommen zerschlagen werden, noch bevor er Zeit hatte zu ertrinken. Das Wasser strömte um ihn herum, riss an seiner Kleidung, riss an seinem Haar. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht war kreidebleich. Die Zähne hatte er fest zusammengebissen, seine Hand krallte sich immer noch grimmig um den Ast. Wenn sie jetzt riefe, würde sie ihn aufschrecken? Würde er loslassen? Über ihr stieß der Vogel ein schrilles Krächzen, aus und Faolan öffnete die Augen. »Faolan, ich bin hier am Ufer! Ich kann dich erreichen!«, rief Ana mit falscher Selbstsicherheit. »Halte dich fest!« Sie sah sich nach etwas Brauchbarem um, nach irgendetwas, womit sie die Kluft überbrücken konnte. Es gab ein Durcheinander von Dingen, die sich unter den schlammigen Überhang, wo der Fluss das Ufer unterwühlt hatte, festgeklemmt hatten: Äste, Wurzeln, kleine Büsche, tote Dinge, die sie lieber nicht näher betrachten wollte. Und ... ja! Ein Stück Holz, das einmal zu einer Scheune, einem Schuppen oder einem Haus gehört hatte; bearbeitetes Holz, eine dicke Planke von vielleicht einer Handspanne Breite. Ana nahm an, dass sie lang genug war. Wenn sie ein Stück davon unter die Wurzeln klemmen konnte, die sich immer noch an das abbröckelnde Ufer klammerten, und das andere Ende dort auflegte, wo er war, hatte sie mit dieser Brücke zumindest eine Chance, dort hinauszukommen und ihm zu helfen. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie die Arme nach unten strecken und seine Hände packen würde, wie er in diesem Augenblick seinen Griff löste, um sich an ihr fest- 110 zuhalten, und die Kraft der Strömung sie beide mitreißen würde. Es würde nicht funktionieren. Sie konnte ihn gegen die Strömung nicht halten, und er würde auch nicht die Kraft haben, wieder ans Ufer zu gelangen, selbst wenn sie es konnte. Im Augenblick sah Faolan sogar noch schwächer aus, als sie sich fühlte; sie glaubte zu sehen, wie seine Finger abrutschten, wie seine Augen glasig wurden und sich wieder zu Bewusstlosigkeit verdrehten. Das Stück Holz würde stark genug sein, wenn sie es an die richtige Stelle brachte. Aber nichts war stärker als der Fluss ... Dann wusste sie es. Sie musste diese zerstörerische Strömung nutzen, um ihnen zu helfen. Sie musste ihre Brücke zu den Felsen legen, die flussabwärts von Faolan drohten, und wenn er dann losließ, würde das Wasser ihn fest gegen das Holz drücken, während sie ihn hochzog. Sie sah sich den Fluss noch einmal an, wenn auch mit Bangen, denn sie befürchtete, Faolan könnte in dem Augenblick, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete, lautlos unter der Wasseroberfläche verschwinden. Sie wusste, was geschehen konnte; sie sah es als Bild vor sich. Aber sie gestattete diesem Bild nicht, in ihrem Kopf zu verharren. »Faolan!«, rief sie so laut sie konnte, um über das rauschende Wasser verständlich zu sein. Er war zu erschöpft, um zu sprechen, er bewegte den Kopf im Versuch eines Nickens. »Beweg dich nicht!«, schrie sie und wusste gleichzeitig, wie dumm das klang. »Ich komme und hole dich!« Leicht gesagt. Das Brett war schwer; sie konnte kaum glauben, wie schwer es war. Sie balancierte an den seichteren Stellen und kam gefährlich nahe daran, ins tiefere Wasser zu rutschen, bevor es ihr endlich gelang, das Holz zu heben und es umzudrehen. Sie schob das Ende zwischen die höheren Wurzeln am Baumstamm, wählte den richtigen Winkel, damit es festhielt, und ihre Arme und Schultern brannten vor Schmerzen. So, jetzt war es so weit. Nun das - 111 andere Ende; sie musste das Holz herumschwingen, es aus dem Wasser heben, es um jeden Preis von Faolans Kopf fern halten... »Ah!«, keuchte Ana, als ihr Fuß in den Schlamm rutschte und sie auf ein Knie fiel, was ihre Hüfte gegen das Holz drückte. Die Umklammerung des Flusses war erschreckend, ihr Herz klopfte heftig. Sie kämpfte sich wieder hoch, packte die Planke erneut und manövrierte sie, bis das andere Ende mit, wie sie hoffte, so etwas wie Sicherheit zwischen den kleineren Steinen unterhalb von Faolans Position ruhte, um die das Wasser brodelte und schäumte. Sie überprüfte ihre Behelfsbrücke. Sie wackelte, schien aber zu halten. »Ich komme jetzt raus!« Es regnete immer noch. Alles war nass. Ana stieg auf die Planke, die Hände um das Holz geklammert, den Rock so weit in den Bund gestopft, wie es ging, und kroch vom Ufer weg. Das Holz war direkt über dem Wasser, und ihr Gewicht bog es tiefer nach unten, je weiter sie kroch. Die Strömung zupfte an ihr, zog an ihr, und sie spürte, wie ihr Herz so fest klopfte, dass es beinahe barst. Sie versuchte, nicht nach unten zu schauen. Hinter sich konnte sie spüren, wie sich Dinge bewegten und unter der Beanspruchung ächzten und knarrten, sie glaubte nicht, dass das Brett lange an den Baumwurzeln hängen bleiben würde. Ein wenig weiter, noch ein wenig, Hand, Knie, Hand, Knie ... Ihr Herz war eine Trommel, die einen Rhythmus schieren Entsetzens schlug. Dennoch, irgendwo tief in ihr brannte ein leidenschaftlicher Wille. Sie würde ihn retten. Sie würde es schaffen. Dann erreichte sie das Ende der Planke. Zitternd und umgeben von rauschendem Wasser, befand sie sich nun flussabwärts von Faolan. Er konnte sein Gesicht kaum mehr aus dem Wasser heben; er sah bereits halb ertrunken aus. Wie konnte sie von ihm erwarten loszulassen? Er würde wahr- 112 -
scheinlich direkt unter ihrer Planke hindurch flussabwärts gerissen werden. Ihre Rettungsaktion schien zum Versagen verurteilt. Nein, sie würde daran nicht denken. Sie hatte nur diese eine Möglichkeit, und wenn sie das Risiko nicht einging, würde sie bald auch diese Chance verlieren. »Faolan«, rief sie, »hör zu! Ich bin direkt flussabwärts, zwei Armeslängen von dir entfernt. Ich habe eine Planke vom Ufer aus über das Wasser gelegt. Lass noch nicht los. Wenn du die Planke erreichen und dich festhalten kannst, kann ich dich rausziehen. Warte, bis ich es dir sage. Kannst du deinen linken Arm überhaupt benutzen?« Der verwundete Arm bewegte sich träge im Wasser; die Hand kam hoch, die Finger bleich und verschrumpelt, um schwach nach den Wurzeln zu greifen. Sie musste die Anweisungen schlicht halten. »Gut. Du musst dich beeilen. Sei bereit, mit beiden Händen zuzufassen. Störe dich nicht daran, wenn es wehtut. Du musst mir so gut helfen wie möglich.« »Du ... fallen ...« Seine Stimm war fadendünn. »Sei nicht albern!« Sie schwankte, als sie um besseres Gleichgewicht rang; die Brücke bot nur wenig Halt, und es gab nichts anderes, woran sie sich klammern konnte. Sie steckte einen Fuß in einen Riss zwischen den Felsen unter Wasser und balancierte mit dem Bauch auf dem Holz, wodurch sie beide Arme frei hatte. Das Wasser rauschte unter ihr hindurch. »Wenn ich es dir sage, wirst du tief Luft holen und loslassen und dann mit beiden Händen zufassen. Wenn du die Arme nach oben strecken kannst, wird es einfacher sein. Hast du verstanden?« Ein Zucken auf den bleichen Zügen; sie musste es als ein Ja deuten. »Gut. Ich werde bis drei zählen.« Sie atmete so schwer, als hätte sie ein Rennen hinter sich. Das Wasser brodelte um sie herum, sie hing mehr als bis zur Hälfte im Fluss. »Eins, zwei, drei, los!« - 113 Er ließ los. Einen Augenblick später krachte er gegen die Planke und riss den Arm hoch, um sich festzuhalten. Ana packte zu und hielt ihn. Es war ein Krieg, sie gegen den Fluss, und die Beute war das Leben eines Mannes. Sie betete, ein lautloser Schrei zum Flammenhüter, tief aus ihrem Herzen. Es fühlte sich an, als würden ihre Arme aus den Gelenken gerissen, ihr Bein war kurz davor, zu brechen, wo es zwischen den Felsen steckte. Sie ließ nicht los. Es war ein Augenblick, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Sie zog und spürte Faolans verzweifelte Anstrengung, ihr mit seiner letzten, nachlassenden Kraft zu helfen. Es schien, als würde er unter die Behelfsbrücke gerissen werden, denn das Wasser rauschte über seinen Kopf hinweg, als er versuchte, beide Arme um das Holz zu schlingen. Ana hielt ihn, wo sie konnte, an einem Stück Tuch, einer Hand voll Haar, ihr Griff wechselte hektisch mit seinen Bewegungen, und dann zog er sich selbst auf die Brücke, suchte Halt auf den Felsen und dem Schutt der kleineren Insel, einer flüchtigen Zuflucht, die noch während Ana ihn am Arm nahm und irgendwie neben sich hoch zog, drohte weggespült zu werden. Dann lag er auf der Planke, die Augen geschlossen und schwer atmend. Anas eigene Atemzüge waren ein lautes Keuchen, sie spürte die Wärme von Tränen auf ihren Wangen. Ihr Rücken schmerzte. Ihre Beine waren eine Masse blutiger Schnitte. Ihre Schultern brannten, und ihre Arme fühlten sich taub an. Über ihnen sickerte das Licht aus einem bereits wolkenschweren Himmel. »Faolan!« Er lag schlaff da, die Hände offen im Wasser, gehalten nur von seinem eigenen Gewicht und ihrem schwächer werdenden Griff. Erneut stieg Entsetzen in Ana auf. Wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, waren sie so gut wie verloren. »Faolan, wach auf!« Er reagierte nicht. Irgendwo in der Nähe brach etwas und gab nach. Wasser lief über seinen Körper. - 114 »Faolan!« Ana schlug ihm fest auf die Wange. »Wach sofort auf! Du bist im Dienst, erinnerst du dich? Was ist mit deinem Auftrag?« Ein leises Stöhnen, eine geringfügige Bewegung. Anas Herz blutete für ihn, aber sie beschwor ihren herrischsten Tonfall herauf. »Mach schon, Faolan! Es ist beinahe dunkel. Ich brauche dich!« Sie krochen zurück über die zerbrechliche Brücke, Faolan als Erster, Ana hinter ihm, und immer wieder befahl sie ihm, sich zu bewegen. Faolans schwereres Gewicht bewirkte, dass die Planke sich Unheil verkündend tief ins Wasser bog, aber sie hielt. Als sie im Schlamm des unterspülten Ufers standen, brach er in die Knie. Ana zog ihn hoch, zerrte seinen unverletzten Arm um ihre Schultern. Über ihnen beugte sich der Baum nun in einem absurden Winkel auf den Fluss zu. Er grüßte seinen bevorstehenden Untergang mit einem knarrenden, ächzenden Lied der Qual. Ana hörte Flügel flattern; sie spürte die Krähe eher, als sie sie sah, als sie von ihrem Ast aufflatterte und davonflog. Ihr Auftrag, wenn sie denn einen gehabt hatte, war erfüllt. Ana wünschte sich, sie könnte das Gleiche für sich selbst sagen. »Du kannst hier nicht liegen bleiben«, fauchte sie. »Es sei denn, du willst, dass dir ein Baum auf den Kopf fällt. Wir müssen gehen. Gehen, eins, zwei, komm schon! Wir müssen das Pferd holen, einen trockenen Platz finden und Feuer machen.« Ihr Götter, sie hoffte so sehr, dass das Pferd noch da war. Dass es einen Feuerstein in der Satteltasche gab. Dass Faolan mit ihr zusammen das Pferd erreichen würde. »Komm schon, beweg dich!«, befahl sie. »Ich helfe dir, aber ich kann nicht alles tun. Ich bin nur eine verwöhnte Prinzessin, erinnerst du dich? Du bist es, der hier der Anführer sein soll. Du sollst auf mich aufpassen. Vorsicht, hier ist eine sumpfige Stelle ...« Vielleicht war ihr Gebet erhört worden. Vielleicht war es
- 115 an die Ohren des Flammenhüters gelangt, eines Gottes, der Mut und Zähigkeit schätzte. Es blieb hell genug, bis sie wieder den Weg an der Stelle erreichten, wo es einmal eine Furt gegeben hatte. Die Dämmerung senkte sich herab, als sie den Hügel hinaufkletterten, wo Faolans Pferd immer noch geduldig dort wartete, wo Ana es verlassen hatte. Es gab noch ein klein wenig Licht, als sie langsam weiter nach oben stapften, zu beiden Seiten des Pferds, getröstet von seiner Wärme, seiner Festigkeit in einer Welt, wo alles andere unsicher war. Sie fanden eine Stelle, wo eine Felswand einen Überhang bildete; darunter gab es ein wenig halbwegs trockenen Boden mit schützenden Büschen auf beiden Seiten und einer Reihe von Kiefern vor ihnen. Faolan wurde immer wieder von heftigem Schaudern geschüttelt. Als Ana die Satteltaschen abschnallte und sie zu ihm brachte, zitterten seine Hände zu sehr, als dass er ihr beim Auspacken helfen konnte. Hinter dem Sattel war eine Decke aufgerollt. Ana holte auch sie, dann pflockte sie das Pferd an und überließ es ihm selbst, etwas zu fressen zu finden. Es gab genug Gras; das Tier würde sich besser ernähren können als sie. Inzwischen dachte Ana kaum mehr über das nach, was sie tat. Ihr Körper erledigte die notwendigen Arbeiten einfach in der Reihenfolge, die er für das Beste hielt. Faolan war bleich und zitterte, und der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie löste die Schnur um die Decke; wo der Stoff fest zusammengerollt gewesen war, war er einigermaßen trocken, wahrscheinlich der trockenste Gegenstand, über den sie verfügten. Jedes einzelne Kleidungsstück, das sie trugen, war klatschnass. Und es wurde schnell kälter. »Hier«, sagte sie. »Zieh die Jacke und das Hemd aus. Wickle dich in die Decke. Und sag mir, dass es irgendwo in diesen Taschen einen Feuerstein gibt.« »Du ...«, brachte Faolan heraus, als sie ihm die Decke reichte. - 116 »Ich muss Feuer machen. Zieh dich aus. Wir sind hier nicht am Weißen Hügel. Wenn du mir überhaupt helfen willst, musst du erst einmal warm werden.« Er starrte sie an, die Augen schattendunkel in einem immer noch farblosen Gesicht. Er versuchte nicht, sich seiner nassen Kleidung zu entledigen. »Muss ich dich auch noch ausziehen wie ein Kind? Lass es mich ganz einfach ausdrücken: Ich werde es nicht allein nach Dornwald schaffen. Faolan, ich brauche dich. Und jetzt tu, was ich dir sage. Wenn ich ein Feuer machen kann, können wir unsere Sachen vielleicht ein bisschen trocknen. Wo ist der Feuerstein?« Er zeigte mit einer zitternden Hand. »Holz ... nass ...«, murmelte er und verzog das Gesicht, als er versuchte, die Jacke über den verletzten Arm zu ziehen. »Ach, sei still!«, sagte Ana, fand den Feuerstein und zu ihrer immensen Erleichterung ein Bündel trockenen Zündmaterials in einer Tasche Öltuch. »Es gibt ein wenig altes Holz hier unter dem Felssims; vor uns müssen schon andere diese Nische genutzt haben. Ich bin nicht dumm.« Es brauchte ein paar Versuche, bis das Feuer brannte; ihre eigenen Hände waren alles andere als stetig und ihre Arme so müde, dass es ihr schwer fiel, auch nur die Kraft aufzubringen, die es brauchte, um einen Funken zu erzeugen. Während der Flammenhüter hinter den Rand der Welt sank und es Nacht wurde, flackerte ihre eigene kleine Flamme auf, und das trockene Scheit, das sie in die Mitte des Bereichs unter dem Felsüberhang gezogen hatte, begann zu brennen. Sie suchte nach anderen Dingen, die als Brennstoff dienen konnten: Überall in dieser flachen Nische lagen Zweige und genug Büsche und Nadeln, die vielleicht andere für ein solches behelfsmäßiges Lager gesammelt hatten. Faolan hatte sich kaum gerührt. Sein nasses Hemd und die Jacke lagen auf einem Haufen, er hatte die Decke um die Schultern gezogen und starrte ins Feuer. Ana fragte sich, ob - 117 ihr wohl je wieder warm werden würde. Faolan hatte kein Wort über das gesagt, was geschehen war. Es war nicht notwendig, darüber zu sprechen, dachte Ana. Es stand alles in seinen Augen. Seine Satteltaschen waren die eines erfahrenen Reisenden. Ana holte heraus, was nützlich sein würde: einen vollen Wasserschlauch, ein Päckchen mit Trockenfleisch, das dunkel und ledrig aussah, ein schlichtes Hemd, das aber offenbar aus sehr gutem Leinen bestand. Eine Hose aus dunkler Wolle. Die Sachen waren alle gut eingepackt gewesen und beinahe trocken. Seine guten Sachen für Dornwald. Immerhin war er der persönliche Botschafter des Königs. »Du«, sagte Faolan, »zieh es an. Trocken.« »Ich?« Ana starrte ihn an. »Das sind deine Sachen. Und außerdem...«Irgendwo im Kopf hatte sie ein Argument, das damit zu tun hatte, was einer Dame angemessen war und was die Leute denken würden. Aber nach diesem Tag schien das sinnlos zu sein. »Du solltest es selbst anziehen«, sagte sie. »Du frierst.« »Zieh es an«, sagte Faolan. »Ich habe die Decke. Mach schon.« »Ich glaube nicht...«, widersprach sie. »Zieh es an, Ana. Ich werde nicht hinsehen.« Also zog sie die Sachen an, und es fühlte sich sehr seltsam an, wie ein Mann gekleidet zu sein, obwohl ihr die Hose eine Bewegungsfreiheit gab, die es sehr viel einfacher machte, Holz zu holen und die nasse Kleidung nahe dem Feuer aufzuhängen. Ana setzte sich neben das Feuer, ihr nasses Hemd in einer Hand und das Messer, das Faolan ihr gegeben hatte, in der anderen, und zerschnitt das Kleidungsstück in kurze, brauchbare Stücke. Zumindest diese Stücke konnten rasch getrocknet werden. Faolan beobachtete sie, eine Frage in den Augen.
»Frauenangelegenheiten«, sagte sie und dachte, dass et- 118 was, was gestern noch viel zu peinlich gewesen war, um es auch nur zu erwähnen, jetzt viel normaler wirkte. »Ich werde die hier noch einen oder zwei Tage brauchen.« Er schwieg. »Es tut mir Leid«, sagte er dann so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. »Was? Dass wir jetzt so offen von solchen Dingen sprechen müssen? Dass ich meine schönen Sachen für einen solch banalen Zweck zerstören muss?« Er schwieg. Das Unausgesprochene stand zwischen ihnen wie ein dunkler Schatten. »Es war nicht deine Schuld, Faolan«, sagte Ana in anderem Ton; die herrische Stimme, die sie so lange aufrechterhalten hatte, war plötzlich verschwunden. »Es ist einfach passiert. Ich könnte eher mir die Schuld geben, weil ich dafür verantwortlich war, dass wir die Furt erst so spät erreichten. Es ist alles sinnlos. Wir sind hier. Aus einem Grund, den nur die Götter wissen, haben wir überlebt. Wir müssen weitermachen. Wir können nichts anderes tun. Hier.« Sie reichte ihm einen Streifen von dem feinen Leinen. »Halte es hoch, damit es trocknet. Wir müssen deinen Arm ordentlich verbinden.« »Das ist nichts. Eine Fleischwunde.« »Dennoch, ich würde es vorziehen, sie so sauber wie möglich zu halten. Ich kann mir vorstellen, dass du deinen Arm gerne wieder vollständig benutzen möchtest. Wenn schlechte Körpersäfte in die Wunde geraten, könnte das unangenehm werden. Ich werde ihn verbinden, sobald der Stoff trocken ist.« Es gab Dinge zu tun, kleine Aufgaben, um den Zeitpunkt hinauszuschieben, an dem es nichts mehr geben würde als die Dunkelheit und die Bilder des Tages. Sie zwangen sich, etwas von dem Trockenfleisch zu essen, obwohl sie beide keinen Appetit hatten. Sie tranken aus dem Wasserschlauch. Regenwasser hinterließ hier und da zwischen den Felsen Pfützen; sie und das Gras würden für das Pferd ge- 119 nügen. Ana verband Faolans Wunde trotz seiner Behauptung, er könne das selbst tun. »Was ist das?«, fragte sie, als sie das Tuch sorgfältig um den muskulösen Arm band und sah, dass er über der zerrissenen Haut und dem blutenden Fleisch der neuen Wunde eine ältere Narbe von einer tieferen, lange schon verheilten Wunde hatte. »Das da? Als ich Bridei zum ersten Mal gesehen habe, erwischte er mich mit einem Pfeil. Zum Glück hatte er es nicht darauf angelegt, mich ernsthaft zu verwunden, er wollte mich nur verlangsamen.« »Bridei? Wieso sollte er so etwas tun?« Ana konnte sich das nicht vorstellen. Faolan war Brideis treuester Anhänger. In der Vergangenheit hatte sie das für seine einzige gute Eigenschaft gehalten. »Er mochte den Klang meiner Stimme nicht.« Faolans Tonfall war barsch; die Geschichte würde warten müssen, bis sie Bridei selbst oder Tuala fragen konnte. Nein, das würde nicht geschehen. Einen Augenblick hatte sie vergessen, wo sie war und wo sie hingehen musste. Es konnte Jahre dauern, bis sie ihre Freunde wieder sah. Abrupt kehrte alles zurück: Dornwald, Alpin, eine Zukunft unter Fremden. Die Tatsache, dass ihre eigene Familie der Heirat zugestimmt hatte, ohne auch nur wissen zu wollen, was sie selbst davon hielt. Es war, als hätte sie aufgehört zu existieren und wäre nur noch eine Spielfigur. Aber heute, angesichts von so viel Trauer und Entsetzen, hatte sie sich wirklicher gefühlt als je zuvor. »Was ist?« Faolans Blick ruhte auf ihr, als sie die Enden des Verbands verknotete und sich zurück auf die Fersen setzte. »Nichts.« Sie konnte spüren, dass sie den Tränen nahe war: Wie dumm, nach all dem jetzt noch einmal mit Weinen anzufangen. »Es muss etwas gewesen sein. Du bist bedrückt.« - 120 Sie würde ihm nicht die Wahrheit sagen; die Wahrheit wäre schwach und jämmerlich. »Diese Männer, die uns angegriffen haben - was, wenn sie uns hier finden?« Faolan dachte einen Augenblick darüber nach, bevor er antwortete. »Ich werde dich nicht mit einer Lüge trösten«, sagte er, »denn ich weiß, dass du sie durchschauen würdest. Tatsächlich bin ich im Augenblick zu schwach, um dich zu verteidigen, selbst gegen einen einzigen bewaffneten Mann. Ich würde tun, was ich könnte. Morgen werde ich stärker sein. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sie keine Verbündeten auf dieser Seite des Flusses haben. Geds Mann sagte, der Fluss sei eine Grenze zwischen den Territorien rivalisierender Anführer.« »Oh«, Ana dachte nach. »Heißt das, dass wir uns jetzt auf Alpins Land befinden? Im Dornwald?« »Wir müssen zumindest nahe daran sein. Ana, du solltest versuchen zu schlafen. Du bist erschöpft.« »Du ebenfalls. Aber das Feuer - wir müssen Wache halten ...« »Ich schlafe nie viel. Hier.« Er nahm die Decke ab, hielt sie ihr hin. Ana sagte sich, dass unter diesen Umständen der Anblick seines nackten Oberkörpers nichts Besorgniserregendes sein sollte. Sie konnte sich vorstellen, was Creisa sagen würde. Creisa ... so lebendig, so jung ... »Leg dich hin«, sagte Faolan. »Versuche zu schlafen.« Sie sah ihn an, die Decke in einer Hand, und er erwiderte den Blick. Das Feuerlicht flackerte auf seiner Haut. Er strengte sich an, sein Zittern zu unterdrücken. »Faolan«, sagte Ana. Er schlang die Arme um den Oberkörper; in diesem Augenblick sah sie einen anderen Mann vor sich, einen, der
jung war, müde und verzweifelt allein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich besser fühlst als ich«, sagte sie. »Es ist schrecklich kalt. Es wäre dumm, nur um der Angemessenheit willen an einer Erkältung zu - 121 sterben. Ich denke, wir sollten die Decke teilen. Niemand wird es je erfahren.« »Ich brauche nicht zu schlafen.« »Wenn du das glaubst, dann kann ich mir nicht vorstellen, wieso Bridei dir diese Aufgabe hier anvertraut hat. Betrachte es auf diese Weise - ich friere bis ins Mark, und ich brauche sowohl dich als auch diese Decke, um mich warm zu halten. So unangemessen und geschmacklos es auch sein mag, wenn du deinen Auftrag ausführen und mich nach Dornwald bringen willst, musst du es tun.« »Das sind die Worte einer wahren Prinzessin.« Ana spürte, dass sie rot wurde. »Ich tue nur, was meine Freundin Ferada tun würde, wenn sie hier wäre. Die alte Ana, die Fügsame, die gerne stickt und Lieder singt, das ist die echte.« Sie spürte, wie die Tränen überflössen, und hob die Hand, um sie wegzuwischen. »Ich bin bereit, Befehle zu befolgen, wenn sie vernünftig sind«, sagte Faolan. »Komm.« Es erstaunte Ana, wie gut es sich anfühlte, neben ihm zu liegen, an ihn geschmiegt, mit der Decke über ihnen beiden. Der Boden war hart. Die flache Höhle war voll flüsternder Zugluft, trotz der schützenden Bäume und des glühenden Feuers. Unwillkommene Bilder drängten sich in ihren Kopf und ließen die Tränen rasch fließen. Dennoch, es war gut. Sein Arm um sie, sein Herzschlag an ihrem Körper schienen schützende Kräfte von großer Macht zu sein. Er sagte etwas. »Was?« »Wie hast du das gemacht? Wie konntest du die Kraft haben, mich sicher hochzuziehen, gegen diese Strömung?« »Ich habe gebetet. Die Götter haben mir geholfen. Der Flammenhüter lässt einen Mann mit großem Herzen nicht so leicht gehen. Er war es, der dich gerettet hat, nicht ich.« Er schwieg. Sie konnte seinen Atem spüren, der nicht ganz gleichmäßig war; sie nahm an, die Bilder, die ihn - 122 heimsuchten, waren noch viel finsterer als ihre eigenen. Sie wusste bereits, dass er vor allem an seinen Auftrag dachte, hatte das sogar genutzt, um ihn anzuspornen, als seine Kraft nachließ. Er musste glauben, schrecklich versagt zu haben. Er hatte seinen König enttäuscht. Seinen Freund enttäuscht. »Ich verlasse mich nicht auf Götter«, sagte Faolan. »Das hält sie nicht davon ab, dir zu helfen. Oder dich zu lieben.« »Dann sind die Götter dumm. Etwas stimmt nicht mit ihrem Urteilsvermögen. Ich bin kein Mann mit großem Herzen, Ana. Ich bin nicht wie Bridei.« »Ich hoffe, eines Tages wirst du erkennen, wie sehr du dich irrst. Das hier war ein Unfall, ein schreckliches Zusammentreffen. Es ist nicht deine Schuld.« »Es gibt keine Götter«, murmelte er und drehte sich auf den Rücken. »Nicht für mich. Sie haben mich schon lange beiseite geworfen.« »Aber...« »Was heute geschehen ist, ist meine Verantwortung und nicht die von anderen. Auf meiner Berührung liegt ein Fluch, eine Finsternis.« Ana schwieg. Ihr war klar, dass er nicht von heute sprach, sondern von der Vergangenheit, von etwas, was er mitgebracht hatte, vielleicht der gleichen Sache, die ihn in all diesen Nächten am Feuer wach gehalten hatte, wo er über sie wachte, während seine Männer schliefen. Sie bat ihn nicht, es zu erklären. »Mir ist kalt«, sagte sie nach einiger Zeit. »Könntest du wieder ein wenig näher heranrücken?« Als er das tat und wieder schützend den Arm um sie legte, war die Verwirrung von Gefühlen, die sie überfiel, zu viel für sie. Sie fing an zu weinen wie ein Kind, schluchzte ohne jede Zurückhaltung. »Es ist schon gut«, sagte Faolan, und sie spürte, wie er die - 123 Hand hob, um ihr Haar zu streicheln. Er sagte noch etwas, aber es war gälisch, und sie verstand nur hier und da ein Wort von dieser Sprache. Vielleicht erzählte er eine Geschichte; der sanfte, rhythmische Fluss seiner Worte beruhigte sie, obwohl ihre Tränen noch schneller flössen. Bald schon schien sie keine Träne mehr in sich zu haben, und sie blieb still liegen, die Wärme seiner Berührung und der Klang seiner Stimme ein Schutz gegen die Unsicherheit der Nacht und des kommenden Morgens. Noch später, als er vielleicht glaubte, dass sie schlief, sang er ein paar Zeilen des gleichen Lieds, das sie schon von ihm gehört hatte, als sie diesen anderen Fluss überquerten, dieses Lied über einen Reisenden und seine Liebste aus der Anderwelt. Ana hatte zu Hause am Königshof der Hellen Inseln die besten Barden gehört. Sie hatte gehört, was sehr fähige Musiker in Brideis Haushalt am Weißen Hügel darboten. Aber nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Stimme vernommen, so süß und so voller Kummer. Es zählte nicht, dass sie die meisten Worte nicht verstand. Sie wusste, dass er von vergeblicher Hoffnung, von erschütterter jugendlicher Begeisterung sprach, vom Band der Liebe, das grausam durchtrennt wurde. Und dennoch war sein Lied etwas Verzauberndes, als käme es von der anderen Seite der
Grenze und riefe sie in eine andere Welt. Der klare, traurige Klang umhüllte sie wie ein weicher Umhang, und sie schlief ein. - 124 KAPITEL VIER König Bridei muss mich für dumm halten«, stellte Alpin von Dornwald fest und stützte das Kinn und die gerötete Wange auf eine Hand, als er in seinen Bierbecher starrte. »Glaubt er etwa, die Art seines Angebots macht einen nicht neugierig, wieso er es so eilig hat?« Der Mann, mit dem er zusammensaß, schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Er handelt in Reaktion auf Informationen, die er erhalten hat«, sagte Odhar. »Wahrscheinlich Informationen aus Dalriada. Ich frage mich, wer da geredet hat. Ich hätte nicht geglaubt, dass jemand außer uns und den Fürsten der Ui Neill von unseren Verhandlungen wüsste. Kann es im Herzen von Dunadd ein Auge für die Priteni geben? Ist König Bridei ein Magier, dass er Dinge herausfindet, die sonst vor allen geheim gehalten werden?« »Es heißt, er wurde von einem Magier aufgezogen«, sagte Alpin bedrückt. »Ein Bursche namens Broichan; mächtig und tückisch. Das lässt vermuten, dass mehr an ihm ist, als wir zunächst dachten. Könnte es sein, dass sie vorhaben, schon früher zuzuschlagen? Vielleicht schon vor dem nächsten Frühjahrstauwetter?« »Oder noch früher«, spekulierte Odhar, ein dünner Mann in der abgerissenen Kleidung eines Hausierers. Er war die Art von Mensch, dem niemand einen zweiten Blick gönnt. - 125 Er hatte sich sehr angestrengt, ein solches Aussehen zu pflegen. Alpin zog ungläubig die dunklen Brauen hoch. »Noch vor dem Winter? Das kann ich mir nicht vorstellen. Es heißt, Fortriu hat für das Fest der Reife eine Ratssitzung geplant. Sie erwarten den König von Circinn persönlich. Welchen Sinn sollte eine solch großartige Konferenz haben, wenn nicht den gemeinsamen Angriff auf Gabhran im Westen zu planen? Bridei kann das kaum im Herbst schon tun wollen, wenn er sich erst zur Erntezeit mit Drust dem Eber besprechen will.« Odhar nickte. Er trank nicht viel; er hatte noch einen langen Weg vor sich. »Das klingt vernünftig, Alpin. Dennoch, du darfst nicht vergessen, dass all dies auch eine bewusste Anstrengung sein könnte, dich zu verwirren. Ein Trick, den Brideis Berater entwickelt haben: Druiden, Magier und Weise Frauen. Sie geben schwierige Feinde ab. Dieser Kerl hat sogar eine Frau vom Guten Volk geheiratet. Was für ein König würde das tun? Es klingt, als wäre er sehr jung und dumm.« »Aber?« »Du weißt, was man flüstert. Dass dieser neue König etwas in Fortriu geweckt hat, etwas Altes und Gefährliches. Dass die Leute zu seiner Fahne strömen. Dass er derjenige sein könnte, dem gelingt, was noch kein König der Priteni geschafft hat: ein vollkommener Sieg über die Galen von Dalriada.« »Und nun bietet er mir eine Braut an, einfach so. Hält mir einen hübschen Bissen vor die Nase, um mich von einem Bündnis mit Gabhran wegzulocken. Neunzehn Jahre alt und von seltener Schönheit, steht in dem Brief. Das ist zweifellos gewaltig übertrieben. Wenn sie eine so seltene Schönheit ist, wieso ist sie nicht schon irgendwann in den letzten sechs Jahren verheiratet worden?« »Du wirst dich selbstverständlich weigern«, sagte Odhar, - 126 und das war nicht unbedingt eine Frage. »Schick sie sofort wieder zurück.« Alpin verzog die fleischigen Lippen zu einem Lächeln. »Nicht unbedingt«, sagte er. »Ich werde sie mir erst einmal ansehen. Immerhin bin ich tatsächlich unverheiratet und habe keine legitimen Erben, und wenn die Botschaft stimmt, hat dieses Mädchen eine makellose Abstammung, direkt aus der königlichen Linie von Fortriu. Ich werde vielleicht beschließen, Brideis großzügiges Geschenk zu behalten.« »Aber ...«, begann Odhar, dann überlegte er es sich anders. »Zieh keine übereilten Schlüsse, mein gälischer Freund«, sagte Alpin. »Ich bin gerissener als dieser Kindkönig. Wenn ich alles richtig mache, werde ich mein Ziel erreichen und außerdem das Recht haben, Vater eines künftigen Königs der Priteni zu werden. Wenn mir das Mädchen gefällt, werde ich sie ausprobieren und sehen, ob sie Jungen zur Welt bringt. Wenn sie mir nicht gefallen sollte, schicke ich sie nach Hause und gebe ihr einen Brief an Bridei mit, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Ich kann eigentlich nur gewinnen. Wenn ich erst mit dem Mädchen geschlafen habe, kann Bridei sie wohl kaum zurückverlangen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass ich nicht ganz der neue Freund bin, den er sich wünschen würde.« »Stellt er in seinem Brief Forderungen in Bezug auf Dalriada? Ist das Angebot daran gebunden, dass du dich vollkommen aus dem Konflikt heraus hältst?« »Das wurde nur angedeutet und nicht ausdrücklich gesagt. Wenn Bridei dieses Mädchen nicht bereits auf den Weg geschickt hat...« Ein leises Klopfen an der kleinen Tür ließ beide Männer zusammenzucken. Sie hatten ungestört miteinander sprechen wollen und eine Wache vor die Haupttür des Zimmers - 127 gestellt, in dem sie ihr Bier tranken. Odhars Besuch in Dornwald fand im Geheimen statt; nur wenige im Haushalt hatten je das Gesicht des Mannes gesehen. »Ich will nicht gestört werden«, knurrte Alpin.
Es klopfte abermals. »Ich sagte keine Störung!« Alpin erhob sich, ein Furcht erregender Bär von einem Mann, der durch sein dichtes Haar und den wallenden Bart noch bärenhafter wirkte. Er nahm einen Schlüssel aus dem Beutel, ging zu der kleinen Tür hinten im Zimmer, schloss sie auf und öffnete sie einen Spalt weit. Odhar hinter ihm zog die Kapuze vor, um sein Gesicht zu verbergen. »Ich hoffe, es ist wichtig!«, fauchte Alpin. »Ich berate mich gerade mit diesem Mann.« »Ich bedauere die Unterbrechung, Herr.« Der Mann vor der Tür war klein, kahlköpfig und hatte breite Schultern und eine breite Brust. Er trug ein langes, dunkles Gewand, an den Seiten geschlitzt, und darunter eine weite Hose. In der Hand hielt er einen Stab. »Dein Bruder will dich sehen. Er sagt, es ist dringend.« »Mein Bruder kann warten«, zischte Alpin und warf einen Blick über die Schulter zu seinem Besucher. »Du weißt, dass du mich nicht einfach bei jeder seiner Launen aufsuchen sollst, Deord. Ich komme nach dem Abendessen zu ihm, wie ich es immer tue. Es kann warten.« Deord blickte zu ihm auf. Er war ein Mann, dessen entspannte Haltung und ruhiger Blick ihn viel größer wirken ließen, als er tatsächlich war. »Er sagt, es kann nicht warten, Herr. Ich hätte dich ansonsten nicht gestört. Er sagt, es ist etwas, um das man sich sofort kümmern muss ...« »Hast du mich nicht gehört? Später!« »Reisende«, sagte Deord leise, als Alpin die Tür schon halb geschlossen hatte. »Ein Mann und ein blondes Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit. Ihre Eskorte wurde an der Furt von den Blauen überfallen.« Die Tür verharrte. »Und?«, wollte Alpin wissen. - 128 »Drustan kann es dir sagen«, sagte Deord. »Es war nicht ich, der es gesehen hat. Sie brauchen Hilfe.« Alpin fluchte leise. Deord wartete schweigend. »Sag meinem Bruder, ich komme bald«, knurrte der Fürst. Deord verbeugte sich und ging. Die Tür fiel zu. »Verfluchte Diener«, sagte Alpin. »Ich fürchte, ich muss gehen. Sind wir fertig?« »Ob wir fertig sind oder nicht, ich muss mich ebenfalls auf den Weg machen«, sagte Odhar. »Ich will wenigstens noch ein Stück weit nach Süden kommen, bevor es dunkel wird. Deine Botschaft bleibt also unverändert? Dieses Angebot von Bridei ändert nichts an deiner Entscheidung?« Alpin lächelte. Sein Blick war kalt. »Überhaupt nichts. Außer, dass ich vielleicht daran denke, meine Männer schon etwas früher als beabsichtigt zu schicken. Die Flotte wird bereit sein; meine Leute werden den Sommer über auf den Booten arbeiten. Ich erwarte schon bald weitere Informationen. Die Quellen dafür sind vielleicht schon näher, als ich dachte.« »Ich glaube nicht, dass wir uns so bald wieder sehen werden«, sagte Odhar und stand auf. »Das Schlachtfeld ist nicht meine Einflusssphäre.« »Wer weiß?« Alpins Ton war unbeschwert. »Lebe wohl. Ich wünsche dir eine sichere Reise.« Nachdem sein Gast sich verabschiedet hatte, ging der Fürst von Dornwald mit langen, ungeduldigen Schritten in den abgelegenen Teil seiner Festung, wo sein Bruder Drustan untergebracht war. Es war ein weiter Weg, vorbei an Anbauten und durch schmale Durchgänge, alle hinter dem verschlossenen Eingang, den man von seinen eigenen Privatgemächern aus erreichte. Niemand würde Drustans Quartier zufällig finden. Der letzte Teil des Weges führte Alpin einen schmalen Weg zwischen hohen Steinmauern mit schmalen Schlitzfenstern entlang. Durch jedes dieser Fenster konnte man einen kurzen Blick auf die Welt drau- 129 ßen werfen: ein wenig sonnenfleckiges Grün, das dunklere Grün der Kiefern, das Aufblitzen von Wasser unter der Frühlingssonne. Oberhalb der Mauern reckten die hohen Ulmen ihre Wipfel in den hellen Himmel. Vögel flogen zwitschernd umher. Dieses Geräusch verursachte Alpin eine Gänsehaut. Er hasste es, hierher zu kommen. Es gab zu viele Erinnerungen. Seine Hände fingen an zu zittern, und er ballte sie zu Fäusten. Wenn er dem allem doch nur ein Ende machen könnte! Weitermachen, einen neuen Anfang finden ... Eine Frau. Eine schöne, junge Frau. Das wäre ein wichtiges Werkzeug für eine Veränderung. Aber nicht, solange sein Bruder wie eine Last an seinem Hals hing. Nicht, solange Drustan hier war und ihn immer wieder nach unten zog. Warum war er auf diese Weise verflucht? Was hatte er getan, um die Götter so zu erzürnen? Die Mauern bogen sich, und der Weg folgte ihnen, bis schließlich ein eisernes Gittertor in Sicht kam, das mit Ketten und Riegeln verschlossene Tor zu dem abgeschlossenen Bereich, in dem Drustan mit seinem Hüter lebte. Alpin war der Ansicht, dass er einen guten Platz für seinen Bruder gefunden hatte, wenn man die Umstände bedachte. Der Bereich war sauber, abgeschieden und einigermaßen geräumig. Draußen gab es ein wenig Gras, eine Bank und einen kleinen Teich. Alles war selbstverständlich von Mauern umschlossen und mit einem Eisengitter abgedeckt. Das machte den kleinen Garten ein wenig dunkel. Drustan würde die Leuchtende nie wieder vollständig sehen, nur noch unterteilt von den Gittern dieser offenen Zelle. Und das war gut so. Bei Vollmond war er am unzuverlässigsten. Alpin wusste, er hätte erheblich weniger großzügig sein können. Es gab Männer, die seinen Bruder in einen Kerker geworfen hätten, damit er das Tageslicht nie wieder sah. Das Verbrechen, das er begangen hatte, verlangte eine solche Strafe. Aber Alpin hatte es nicht getan; Drustan war bei all seinen Verbrechen und seiner Seltsamkeit immer noch - 130 ein Verwandter. Sollte er den Himmel doch sehen, solange er nicht davonfliegen konnte.
Deord schloss auf Alpins Ruf die Eisentür auf und verschloss sie wieder hinter dem Anführer. »Wo ist er?« Alpin war bereits unruhig. »Ich habe nicht viel Zeit.« »Dort an der Mauer.« Alpin spähte in die schattige Ecke des Gartens, in die Deord mit dem Stab zeigte. »Ist er angekettet?« Die Spur eines Gefühls zuckte über das Gesicht des kleineren Mannes. »Wir befolgen wie stets deine Befehle, Herr.« Alpin warf ihm einen scharfen Blick zu, weil dieser beflissene Tonfall ihn misstrauisch machte, aber Deord wirkte so ruhig und entspannt wie eh und je. Für einen Mann von solch muskulösem Körperbau, einen Mann, bei dem jede Bewegung von Kraft sprach, hatte Drustans Bewacher ein erstaunlich ausgeglichenes Gemüt. Alpin hielt diese Kombination für ideal für diese Stellung. Er fragte sich manchmal, ob mehr an Deord war, als man auf den ersten Blick annahm, aber der Mann verriet nicht viel von sich. Alpin ging auf die Ecke zu, wo Drustan nun als Gestalt im Schatten sichtbar wurde, ein hoch gewachsener Mann, so groß wie sein Bruder, aber nicht annähernd so breit wie er. Dichtes, hellbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Die Finger hatte er fest verschränkt. Er lehnte sich gegen die Steinmauer, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen. In der Nähe hockten in einer Nische drei Vögel in einer Reihe und starrten ohne zu blinzeln auf Alpin nieder: eine Krähe, ein Kreuzschnabel und ein winziger Zaunkönig. Alpin starrte sie an. Er hasste die Vögel, die diesen Ort heimzusuchen schienen, die durch die kleinen Öffnungen des Gitters hinein und hinaus schlüpften; ihre unnatürliche Ruhe machte ihn nervös. Drustan bewegte sich ein wenig, als Alpin näher kam, und Metall blitzte auf. »Endlich!«, rief Drustan und öffnete die Augen, diese hel- 131 len, wilden Augen, die Alpin stets schaudern ließen. »Sie ist in Gefahr - verirrt und verängstigt - sie braucht Hilfe ...« »Immer mit der Ruhe«, versuchte Alpin einen beruhigenden Tonfall, wie man ihn gegenüber einem bekümmerten Kind oder einem temperamentvollen Pferd anschlägt, »immer langsam, Drustan. Komm, setz dich hier auf die Bank, hol tief Luft und ...« »Die Furt - die Blauen haben sie erwischt, ein Mann ist gefallen, und dann hat der Fluss sie weggerissen ...« »Drustan!« Der Tonfall hatte sich verändert; nun sprach Alpin in scharfem Kommandoton, als hätte er einen ungehorsamen Hund vor sich, und zeigte auf die Bank. Sein Bruder bewegte sich; ein metallisches Klirren folgte ihm, als die dünne Kette, die von der Verbindungskette zwischen den Eisenfesseln um seine Handgelenke ausging und auf der anderen Seite an einem Ring in der Steinwand befestigt war, sich neben ihm her schlängelte. Drustan setzte sich nicht, konnte sich vielleicht nicht setzen, denn er wurde nun sehr ruhelos und trat von einem Fuß auf den anderen, bewegte die Hände, brachte das Metall zum Klirren. »Hör auf!«, fauchte Alpin gereizt. »Also, was hast du gesehen? Erzähl es mir in einfachen Worten, als wäre es eine Geschichte. Wer war dort? Eine Frau, hat Deord gesagt. Welche Frau? Ich muss alles wissen, und langsam, Drustan.« »Eine Gruppe von Reisenden. Ein Angriff. Ich konnte ihnen nicht helfen. Ich konnte sie nicht warnen, ich habe es versucht, aber ich konnte es nicht. Die Blauen haben sie überfallen. Ein Mann ist tot, ein anderer verwundet. Eine Flut - eine schreckliche, plötzliche Welle, wie der Zorn der Knochenmutter - so viele mitgerissen, verstreut... alle weggefegt, alle flussabwärts gerissen...« »Und dann?«, fragte Alpin seufzend. »Sie war tapfer. So tapfer. So schön. Wie eine Prinzessin in einem Lied. Sie hat einen Mann gerettet. Die Knochen- 132 mutter hätte ihn beinahe geholt. Der Fluss hätte ihn beinahe verschlungen. Sie hat ihn gerettet. Alle anderen sind weg, Pferde, Männer, Gepäck, nichts ist ihnen geblieben. Sie frieren ... sie sind durchnässt... allein ... du musst ihr helfen, Alpin. Mach dich sofort auf den Weg. Sofort!« »Diese Frau. Du sagst, sie sei schön wie eine Prinzessin. War sie jung? Gut gekleidet?« Drustan schwieg. Sein Blick veränderte sich, wurde wärmer. »Drustan!« »Eine Prinzessin.« Seine Stimme war nun ruhiger. »Haar wie ein Fluss aus Gold, Augen voller Mut. Jung, ja, und traurig.« »Wo sind sie jetzt?« »Auf dem Weg hierher. Auf dem alten Weg. Eine Frau, ein Mann, ein müdes Pferd. Ein kleines Feuer bei Nacht. Du musst gehen, Bruder, gehen und sie suchen. Sie friert.« »Ein Mann. Was für ein Mann?« Drustan schwieg. »Was für ein Mann, Drustan? Die schwarze Krähe behüte uns, du hast genug zu sagen, wenn es dir passt, warum kannst du nicht einfach normale Antworten geben?« Deord verlagerte ein wenig das Gewicht. Er sah aus der Ferne zu, mit gleichmütiger Miene, den Stab in der Hand. Alpin begrüßte das. Er war nie ganz sicher, was sein Bruder tun, wie er sich bewegen würde. Und Drustan war schnell. Er war immer schnell gewesen. »Ein dunkler Mann«, sagte Drustan. »Ihr Begleiter.« »Ein Bewaffneter?« »Ihr Begleiter.«
»Gut gekleidet? Bewaffnet? Ein Krieger? Ein Höfling?« »Ein dunkler Mann«, wiederholte Drustan. »Geh jetzt, Alpin! Hilf ihr!« »Es ist seltsam«, sagte Alpin und stand auf, »aber dieses eine Mal bin ich deiner Meinung. Es muss die Braut sein, - 133 die König Bridei von Fortriu mir schicken wollte. Jung, schön und auf dem Weg hierher - ich kann mir keine andere Erklärung denken. Ich werde ihnen Leute entgegenschicken. Oder ... warum eigentlich nicht? Ich werde gehen und sie selbst hierher holen.« Sechs Nächte verbrachten sie auf diese Weise, sechs Nächte an kleinen Feuern, während derer sie sich gegenseitig unter der einzigen Decke wärmten. Faolan kam langsam wieder zu Kräften. Sein Arm heilte gut, und es half, dass Ana jeden Morgen darauf bestand, ihn frisch zu verbinden. Dass er nicht mehr die erschöpfende Verzweiflung der ersten Nacht spürte, war in gewisser Weise unbequem. Sobald diese Erschöpfung verschwunden war, meldete sich körperliches Begehren, und seine Anstrengungen, dies vor Ana zu verbergen, wenn sie sich halb schlafend an ihn schmiegte, hielten ihn lange wach. Er konnte sich kaum weigern, neben ihr zu liegen; die Nächte waren kalt. Und er konnte es ihr ganz bestimmt nicht erklären. Sie war neunzehn Jahre alt, aber immer noch unschuldig, und er war sicher, sie würde schockiert und verängstigt sein, wenn sie die Wahrheit erführe. Unter diesen Umständen wäre es nur zu einfach, sie auszunutzen. Dass er überhaupt über solche Dinge nachdachte, zeigte, wie weit seine Selbstdisziplin geschwunden war. Dann kam ein Morgen, an dem sie beide nicht den Drang spürten, weiterzuziehen. Die Taubheit nach ihren Verlusten an der Furt war im Lauf der Tage nach und nach einer Art von Akzeptieren gewichen; ihnen war klar, dass die Geschehnisse die Regeln und Zwänge ihrer Mission vollkommen geändert hatten. Es gab eine neue Offenheit bei ihren Gesprächen, ein neues Vertrauen, mit dem sie die Verantwortungen des Tages teilten. Sie hatten in einer grasigen Senke oberhalb eines kleinen Bachs ihr Lager aufgeschlagen, und die Sonne war zu einem - 134 Tag voller Frühlingsversprechen aufgegangen: Die Vögel lärmten in den Bäumen am Wasser, kleine helle Blüten zeigten sich hier und da im Gras, und in der Luft hing der frische Duft nach Neuem. Aber Faolans Herz war voll von einer neuen Schwere, belastet von etwas, das er nicht mit Worten ausdrücken wollte, nicht einmal für sich selbst. Nach seinen Berechnungen mussten sie sich nun recht nah an Alpins Festung befinden. Innerhalb von ein oder zwei Tagen sollten sie sie erreichen, und damit wäre der größte Teil seiner Mission ausgeführt. Er konnte es keinen Erfolg nennen, nicht nach solch schweren Verlusten. Aber er würde die Braut abliefern. Er würde dieses Bündnis für Bridei besiegeln und die Nachricht davon zurück zum Weißen Hügel bringen. Als er zu Ana hinschaute, die am Feuer saß und mit dem kleinen Knochenkamm, den er in seinem Gepäck gehabt hatte, versuchte, die verfilzten Stellen aus ihrem langen Haar zu kämmen, verspürte er jedoch den intensiven Wunsch, diesen Auftrag nicht auszuführen. Er wollte sie keinem Mann übergeben, den sie nicht einmal kannte, wollte nicht, dass sie den Rest ihres Lebens unter Fremden verbringen musste. Sie blickte auf, hatte vielleicht seinen Blick bemerkt. »Faolan?« »Hm?« »Wie lange wird es wohl noch dauern? Wir müssten inzwischen doch nahe am Rand des Dornwalds sein, oder?« Er versuchte ein Lächeln. »Hast du Hunger?« Ana sah ihn an. »Ich hätte sicher nichts dagegen, einmal etwas anderes als diese Lederstreifen zu essen. Aber deshalb frage ich nicht.« »Vielleicht noch zwei Tage«, sagte er. »Wir müssen durch dichten Wald ziehen; wir finden vielleicht nicht gleich den richtigen Weg und werden noch länger unterwegs sein. Das mit dem Essen tut mir Leid. Wenn ich einen Bogen mitgebracht hätte ...« - 135 »Würde der uns bei deinem verletzten Arm auch nicht viel nützen«, sagte Ana unbeschwert. »Ich habe nicht erwartet, dass du mir üppige Mahlzeiten und ein weiches Federbett lieferst, Faolan. Ich bin auf den Inseln aufgewachsen. Es war kein besonders verwöhntes Leben.« »Dennoch«, sagte er, »ich wünschte, ich könnte besser für dich sorgen. Bisher habe ich jämmerlich versagt.« »Falls es dir hilft«, sagte Ana, »kann ich dir eins verraten: Sollte ich jemals wieder eine solche Reise unternehmen müssen, bist du von allen Menschen, die ich kenne, derjenige, den ich jederzeit wieder an meiner Seite und als meinen Beschützer haben möchte. Keinen anderen.« Er schwieg. »So war es nicht, als wir vom Weisen Hügel aufbrachen. Ich habe mich über diese Reitstunden geärgert. Du hattest eine derart missbilligende Haltung, und es gefällt mir nicht, wenn Menschen mich beurteilen, die nicht einmal versucht haben, mich kennen zu lernen. Es tut mir Leid, dass du nicht länger in Dornwald bleiben kannst.« »Mir nicht«, sagte er, denn er empfand eine intensive Abneigung gegen die Aussicht, sie einen Mann heiraten zu sehen, der sie nur wegen ihrer Herkunft schätzte; er kam zu dem Schluss, dass er unterwegs offenbar ein wenig verrückt geworden sein musste, denn solche Gedanken hatten keinen Platz im Kopf eines bezahlten Leibwächters. Und nachdem er sich entschieden hatte, seine Vergangenheit vollkommen hinter sich zu lassen, war er nichts anderes.
»Oh«, sagte Ana und ließ den Kopf hängen wie eine welkende Blüte. »Ich wollte nicht - ich wollte ...« »Ich verstehe, Faolan«, sagte sie höflich und griff wieder nach dem Kamm. »Du musst zum Weißen Hügel zurückkehren. Du musst Bridei die Nachricht von unseren schrecklichen Verlusten bringen und ihn wissen lassen, dass das Bündnis mit Alpin besiegelt ist.« - 136 »Ich werde mindestens noch einen Mond bleiben. Brideis Anweisungen waren sehr präzise. Er wünscht keine offizielle Handreichung, ehe ich nicht von Alpins Loyalität überzeugt bin.« Dazu hatte Ana nichts zu sagen. »Oder falls du ... solltest du ...« Nein, er würde es nicht in Worte fassen. »Falls ich ihn nicht leiden kann? Ich glaube nicht, dass das je ein Faktor war«, sagte Ana angespannt. »Ana...« »Was?« Faolan hatte ein Blatt zwischen den Fingern; er drehte es hin und her. »Ich habe dich schon einmal gefragt, aber ich frage dich nochmals. Wenn du ... wenn es keine Pflicht gäbe, wenn du dich frei entscheiden könntest, was würdest du jetzt tun?« Sie schwieg einen Augenblick und dachte über die Frage nach. Dann sagte sie im Flüsterton: »Ich kann dich nicht belügen. Ich würde dich bitten, mich nach Hause zu bringen. Nach Hause zum Weißen Hügel. Ich glaube, ich würde lieber als Dereleis altjüngferliche Tante alt werden, als diese Reise fortzusetzen. Im Herzen bin ich ein schrecklicher Feigling. Und was ist mit dir?« »Mit mir?« »Wenn du die Wahl hättest, was würdest du tun?« »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte er. »Außerdem habe ich keine Wahl. Ich habe solche Entscheidungen schon vor langer Zeit aufgegeben.« »Um Bridei zu dienen?« Er schüttelte den Kopf. »0 nein. Das war tatsächlich eine Art von Befreiung. Ich spreche von etwas, das viel früher geschehen ist. Als ich ein Junge war.« »Wirst du es mir erzählen?« Ihre Stimme war sehr süß für seine Ohren; er spürte die Gefahr und riss sich von der Schwelle zurück. »Warum Zeit - 137 damit verschwenden?«, fragte er. »Wir haben zwei Tage; dann wirst du wieder die Herrin sein, und ich verschwinde in der Anonymität von Alpins Haushalt, um die Arbeit zu leisten, für die Bridei mich bezahlt.« »Ich bin froh, dass du noch ein Weilchen bleiben wirst«, erklärte Ana. »Bridei bezeichnete dich als einen guten Freund, und ich habe ihm gesagt, es fiele mir schwer, das zu glauben. Aber jetzt glaube ich es.« »Bridei ist nur zu bereit, auch Personen als Freunde zu bezeichnen, die nichts weiter sind als treue Diener.« »Das ist Unsinn, wie du sehr genau weißt«, sagte Ana. »Er verlässt sich auf deinen guten Rat, deine Kraft, deine Unterstützung. Er schaut hinter die Mauern, die du um dich selbst errichtest. Und ich glaube, du hast in Zeiten schweren Selbstzweifels treu an seiner Seite gestanden.« Faolan erinnerte sich an den Winter, als man ihm zum ersten Mal befohlen hatte, den jungen Bridei zu bewachen; er und die anderen Leibwächter hatten sich nach seinem ersten und letzten Opfer am Tortag, am Brunnen der Schatten, um den erschütternden, angewiderten jungen Adligen gekümmert. Er erinnerte sich an einen verzweifelten Ritt durch den Schnee von Caer Pridne nach Pitnochie, an ein tapferes altes Pferd, das ihn gerade noch rechtzeitig an Brideis Seite getragen hatte, um den künftigen König halb ertrunken aus dem Teich der Seher zu ziehen. Ana war klug; sie sah, was er für gut verborgen gehalten hatte. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie nun. »Welchen Gefallen?« »Wenn wir in zwei Tagen dort eintreffen, sollte ich versuchen, mich zu säubern. Ich wäre gerne präsentabel, wenn Alpin mich zum ersten Mal sieht. Bachabwärts gibt es einen Teich, und es fühlt sich an, als würde es heute warm werden. Ich möchte später baden, mir das Haar waschen und meine alten Kleider anziehen. Du kannst diese Sachen - 138 hier zurückhaben; sie sind sauberer als das, was du trägst. Du könntest ebenfalls neue Wäsche brauchen.« Er sah sie an und stellte sich vor, was Alpin wohl denken würde, wenn sie aus dem Wald und zum Festungstor kämen. Ana war sehr blass und ihr Gesicht verschmiert mit Asche vom Feuer. Sie trug sein Hemd und seine Hose, mit seinem Gürtel um die schmale Taille, aber sie sah dennoch wie eine Frau aus. Selbst die zu großen Kleidungsstücke konnten nicht vollkommen die anmutigen Wölbungen ihres Körpers verbergen, die hohen, runden Brüste, die geschwungenen Hüften, die wohlgeformten Oberschenkel. Jetzt war sie damit beschäftigt, ihr Haar neu zu flechten. Der Staub der Reise hatte es von seinem ursprünglichen Aschblond zur Farbe von Honig nachdunkeln lassen und seine überschäumende Lebendigkeit gebändigt, aber es war immer noch ein reizender Anblick, ein seidiger Wasserfall, ein Tuch aus lebendigem Licht, ein Umhang von Frühling. Er sah ihr in die Augen, diese ehrlichen, klaren grauen Augen, deren Blick ihm direkt ins Herz ging. »Deine Sorgen sind grundlos«, sagte er. »Alpin wird zufrieden sein, glaube mir.« Und er wollte ihr sagen: Du bist wunderschön, aber
er schluckte diese Worte herunter, bevor sie ihm über die Lippen kommen konnten. Eine zarte Röte stieg in Anas Wangen; sie sah ihn forschend an, als wollte sie herausfinden, ob er tatsächlich im Stande wäre zu lügen, nur um ihr eine Freude zu machen. »Ich würde mich trotzdem gern waschen«, sagte sie. »Um meiner selbst willen ebenso sehr wie für Alpin. So gut wie möglich auszusehen, würde mir ein wenig Mut geben.« »Du brauchst noch Mut, nach allem, was du getan hast? Nach dem, was du an der Furt geleistet hast? Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten.« Er konnte es einfach nicht glauben. Ana schaute auf ihre Hände hinunter. Als sie antwortete, klang ihre Stimme wie die eines Kindes. »Ich habe große - 139 Angst, Faolan. Ich brauche alle Hilfe, die ich bekommen kann.« Sie blieben am Bach und warteten, dass es wärmer wurde. Sie sprachen wenig, ruhten sich einfach nur aus und waren zufrieden mit der Gesellschaft des anderen. Das Pferd graste ungebunden in der Nähe; hier in dieser sanften Senke wuchs das Gras süß und üppig, und das Tier hatte keinen Grund, weiter wegzugehen. Es war ein Tag, dachte Faolan, den er in seiner Erinnerung verschließen und wie einen kostbaren Talisman aufbewahren würde, für die Zeit, wenn das hier vorbei war. Er wusste, dass es für ihn nie wieder einen solchen Tag geben würde, eine kurze Zeitspanne, die sich vollkommen außerhalb des gewöhnlichen Lebens von Mann oder Frau befand; ein Tag, der nicht Teil des turbulenten Alltagsflusses war, sondern schlicht ein Geschenk. Gegen Mittag war es warm genug, dass er Stiefel und Jacke ausziehen und sich in seinem von der Reise schmutzigen Hemd und der Hose ins Gras legen konnte. Ana saß auf den Steinen am Bach, ließ die nackten Füße ins Wasser hängen und summte vor sich hin. Faolan stand auf und wollte ihr sagen, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, wenn sie tatsächlich baden wollte. Er hatte gerade erst einen Schritt auf sie zu gemacht, als ein Geräusch ihn an Ort und Stelle erstarren ließ. Auch Ana rührte sich nicht mehr; sie hatte es ebenfalls gehört. Etwas bewegte sich im Wald hinter ihrer kleinen Zuflucht; es gab Stimmen, Hufschlag, das Klirren von Zaumzeug. Sie hatten versucht, sich auf eine Situation wie diese vorzubereiten, so müde sie in den ersten Tagen an der Furt nach der Katastrophe auch gewesen waren. Als die Reiter zwischen den Kiefern auf dem Hügel über ihnen in Sicht kamen, stand Faolan stark und trotzig da, ein Wurfmesser in der linken Hand, das kurze Schwert in der rechten, und Ana befand sich hinter ihm mit der Waffe, die er ihr gegeben hatte. - 140 Die Reiter näherten sich in einer Reihe hintereinander. Die Männer trugen nicht die blauen Stirnbänder der früheren Angreifer. Rot schien ihre Farbe zu sein, man sah es auf ihren Waffenröcken in Form eines scharlachroten Hundes, was sie als Männer eines Fürsten kennzeichnete, dessen Verwandtschaftszeichen der Hund war. Es waren große, kräftige Männer, wie es für die Caitt typisch war, hoch gewachsen, breitschultrig, mit langem Haar und dichten Bärten, die einige geflochten und andere wild und buschig trugen. Sie kamen den Hügel hinab und zügelten ihre Pferde, stellten sich so auf, dass ihr Anführer auf beiden Seiten von einem Mann flankiert war, und richteten ihre Wurfspeere und die Spitzen ihrer Schwerter präzise auf Faolans Herz. Der Gäle stand entspannt da, berechnete den Flug seines Wurfmessers und wusste, dass er es nicht benutzen würde, nicht mit Ana hinter sich. Sich jetzt zu verteidigen, würde zweifellos zu seinem eigenen Tod und ihrer Gefangenschaft führen. »Sieh mal an«, sagte der Mann in der Mitte mit schleppender Stimme und grinste. »Was haben wir denn da?« Er schien nicht vom Pferd steigen zu wollen. »Dein Name und Ansinnen?« Das kam in einem anderen Tonfall heraus, scharf und gefährlich. »Ich könnte dich das Gleiche fragen«, sagte Faolan ruhig. »Wie du siehst, habe ich eine Dame bei mir, und wir hatten einige Schwierigkeiten, nachdem wir an der Furt ein paar Tagesritte von hier entfernt ein schweres Unglück erlebten. Die Dame ist schwach und von den Entbehrungen erschöpft. Wir brauchen eure Hilfe und keine Fragen.« Der Caitt-Anführer sah ihn genauer an. Seine Miene war alles andere als freundlich. »Nur ein Narr versucht, die Furt bei Tauwetter zu überqueren«, sagte er. »Was wollt ihr hier? Wo sind deine Kriegerzeichen? Du siehst aus wie ein Gäle, und dein Akzent passt dazu. Und was ist das mit dieser Frau?« - 141 »Ich bin ...«, begann Faolan, und dann kam Ana hinter ihm vor, das Messer in der Hand, und alle Blicke richteten sich auf sie. Der Anführer der Caitt betrachtete sie von oben bis unten, abschätzend, neugierig; er zog verächtlich die Brauen hoch und die Nase kraus, als hätte er einen unangenehmen Geruch wahrgenommen. Wilder Zorn erfasste Faolan und er packte sein Messer fester. »Ich grüße dich«, sagte Ana freundlich. »Ich bin eine Verwandte von Bridei, König von Fortriu, und auf dem Weg nach Dornwald. Unser Missgeschick hatte nichts mit dem Tauwetter zu tun. Wir wurden angegriffen, und es blieb uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Furt zu überqueren. Es gab eine...« Sie wusste nicht weiter. »Eine Flutwelle«, sagte Faolan. »Unsere Eskorte wurde weggeschwemmt.« Der Anführer stieg ab; seine beiden Leibwächter blieben sitzen, die Speere weiterhin in der Hand, und hinter ihnen kamen andere näher.
»Ich ziehe es vor, mit der Dame zu sprechen«, sagte der Anführer mit einer leichten Betonung des Worts Dame, die zutiefst beleidigend war. Faolans Finger zuckten; er hätte den Mann nur zu gern mit einem raschen Schlag an die Kehle zum Schweigen gebracht. Es hätte nicht lange gedauert. »Und du heißt, meine Liebe?«, fragte der Mann. Ana holte tief Luft. »Du beleidigst mich«, sagte sie ruhig. »Ich bin niemandes >Liebe<. Ich bin Ana, Tochter des Nechtan, Prinzessin vom königlichen Blut der Hellen Inseln. Ich bin auf dem Weg nach Dornwald, wo ich die Braut des Fürsten Alpin sein soll. Ich brauche eure Hilfe, eine Eskorte bis zu seiner Festung. Wir sind unter großen Schwierigkeiten von der Furt bis hierher gelangt. Unser Gepäck haben wir verloren, und mein Begleiter ist verwundet.« »Dein Begleiter. Und wer genau ist er?« - 142 Faolan und Ana antworteten gleichzeitig. »Ich bin...« »Er ist...« Sie sahen einander an. Faolan erkannte in Anas Blick die Zweifel, die er selbst bereits spürte. Das hier konnten nicht Alpins Leute sein; sie hätten gewusst, dass Reisende vom Weißen Hügel erwartet wurden. Hier bestand Gefahr. Ana hatte sich zu erkennen gegeben - sie war zumindest eine potenzielle Geisel, eine Handelsware von großer Bedeutung, und Faolan eine mögliche Informationsquelle. Er wusste aus Erfahrung, was das bedeuten konnte. »Er ist mein Hofmusiker«, sagte Ana ruhig. Faolan erstarrte vor schierem Entsetzen, dann musste er widerstrebend anerkennen, dass sie ihn mit dieser Bemerkung vollkommen harmlos wirken ließ. »Er heißt Faolan. Der Einzige von meiner Eskorte, der die Flut überlebt hat.« Das Beben in ihrer Stimme war nicht gespielt. »Ihr dürft ihm nichts tun. Er stellt keine Gefahr für euch dar.« Der Anführer der Caitt betrachtete die Waffen in Faolans Händen, seine Haltung, die Beine leicht gespreizt, die Schultern gereckt. »Sieht für mich nicht nach einem Barden aus«, brummte er. »Mir sind keine anderen Beschützer geblieben«, sagte Ana leise. »Faolan tut, was er kann. Bitte, nehmt die Speere weg; ihr macht uns Angst.« Es war unangenehm, mit ein paar sorgfältig gewählten Worten beinahe entmannt zu werden. Dennoch, Anas Trick schien zu funktionieren. Der Anführer nickte, und seine Männer zogen die Waffen eine Handspanne oder zwei zurück. »Wenn ihr uns nicht helfen wollt«, sagte Ana, »hoffe ich, dass ihr uns erlauben werdet, unbehindert weiterzuziehen. Wir werden allein nach Dornwald gehen. Ist dies der richtige Weg?« - 143 Sie versuchte ein versöhnliches Lächeln. Faolan konnte sehen, wie verängstigt und wie zornig sie war. Der Anführer der Caitt grinste plötzlich, und weiße Zähne blitzten in einem Gesicht auf, das oberhalb des dichten Barts mit kunstvollen Tätowierungen überzogen war. Seine Arme, fest wie Baumstämme, waren auf ähnliche Art geschmückt, mit Spiralen, Kringeln und laufenden Tieren, Kampfszenen und fliegenden Vögeln. »Goban! Sieh zu, ob du ein Pferd für die Dame finden kannst. Erdig! Hilf ihr, ihre Sachen zusammenzusuchen die paar, die sie hat. Und du«, das mit einem herrischen Blick zu Faolan, »rührst dich nicht. Lass die Waffen fallen.« »Ich nehme keine Befehle von einem Mann entgegen, der mir nicht einmal seinen Namen nennt«, sagte Faolan leise und wusste, dass dies nicht die Antwort war, die man von einem Musiker erwartete, aber er konnte sich zu keiner untertänigen Reaktion durchringen. »Wie unangenehm«, sagte der Anführer, ging einen Schritt näher und legte die Hand auf sein eigenes Schwert. »Faolan!«, sagte Ana scharf. »Tu, was er sagt!« Mit Bitterkeit im Herzen ließ Faolan das Messer und das kurze Schwert fallen und hob die Hände. »Schon besser«, sagte der Anführer. »Mordec, bring diese Messer in Sicherheit. Wir wollen doch nicht, dass unser Barde hier sich schneidet, oder? Ich erwarte, dass wir später alle seine Lieder genießen können - du spielst doch die Harfe? Ich habe gehört, dass Galen dazu sehr begabt sind.« Leises Lachen erklang. »Wir haben hier in dieser Region nicht viel Gelegenheit, das zu beurteilen.« »Er ist verwundet«, sagte Ana. »Er wird eine Weile nicht spielen können. Nicht ehe...« Sie schwieg. Einer der Männer führte ein Pony nach vorn, ein gepflegtes Tier mit hellgrauem Fell, dessen Sattel und Zaumzeug aus feinem Leder gearbeitet und mit Silber geschmückt waren. Die Mähne des Tiers war geflochten, der lange Schweif zu feinem Glanz ge- 144 bürstet. Das war eindeutig ein Tier für eine Frau. Faolan sah, wie sie den Anführer anschaute. Ihr Blick war anklagend. »Du wusstest, dass wir kommen«, sagte sie. »Wer bist du? Warum spielst du mit uns?« Wieder grinste der Anführer, als wäre er ausgesprochen zufrieden mit sich, und dann ging er zu Ana und nahm ihre Hand in seine riesige Tatze. Faolan musste sich zwingen, still stehen zu bleiben. »Ah, du durchschaust meinen kleinen Scherz! Ich bin Alpin, meine Liebe, und das hier sind die Männer von Dornwald. Du bist jetzt in Sicherheit. Wir hielten es für möglich, dass du um diese Zeit in der Nähe unserer Grenzen warst, und haben uns aufgemacht, um dich willkommen zu heißen. Wir erwarteten nicht, dich ohne
Eskorte und in so aufgelöstem Zustand zu finden.« Wieder sah er sie von oben bis unten an. Jetzt, da er näher vor ihr stand, war sein Blick von etwas anderer Art. Das gefiel Faolan sogar noch weniger als die vorgebliche Abscheu, die er zuvor gezeigt hatte. »Es sieht so aus, als wäre dein Barde gezwungen gewesen, dir seine Kleidung zu leihen. Es ist nur gut, dass er ein harmloser Musiker ist. Als dein künftiger Ehemann könnte ich etwas gegen eine solch vertrauliche Geste haben.« »Ich bin nicht erfreut, dass du so mit uns gespielt hast«, sagte Ana. »Sobald du die ganze Geschichte meiner Reise hierher kennst, wird dir klar sein, dass Scherze nicht angemessen sind. Kleinigkeiten wie die Notwendigkeit, angemessene Kleidung zu tragen, zählten wenig, nachdem beinahe meine gesamte Eskorte ertrunken war. Selbstverständlich wäre ich lieber wie eine Dame gekleidet vor dir erschienen. Die Götter haben das nicht gestattet. Ich danke ihnen, dass sie mir das Leben ließen, und das von Faolan hier. Der Fluss hat an diesem Tag zehn Seelen genommen, und die Männer, die uns überfallen haben, töteten einen weiteren. Was bedeutet verglichen damit schon der - 145 Verlust einer Brauttruhe? Was bedeutet schon ein wenig Demütigung?« »Unser Humor ist vielleicht ein wenig zu plump für Verwandte von König Bridei«, sagte Alpin, und nun lächelte er nicht mehr. »Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen. Was den Rest angeht, werden dir selbstverständlich alle Annehmlichkeiten meines Haushalts zur Verfügung stehen, ebenso wie bessere Kleidung. Wir sind keine Barbaren. Es ist gut, das wir euch entgegengeritten sind. Die inneren Bereiche unseres Walds können nicht leicht von Fremden durchquert werden. Die Wege sind ausgesprochen tückisch. Lass mich dir aufs Pferd helfen. Das ist ein Vorteil von Männerkleidung; es macht dir das Reiten leichter.« Faolan hörte, wie einer der Männer leise etwas zu einem anderen sagte, eine Bemerkung darüber, dass die Dame sicher eine erfahrene Reiterin war, da sie so viel Gelegenheit gehabt hatten, des nachts mit ihrem zahmen Barden zu üben. Er sah, wie Ana beschämt scharlachrot anlief, und spürte, wie er selbst die Fäuste ballte. Einen Augenblick später war Alpin an der Seite des Mannes, die Hände auf den Hüften, und starrte ihn wütend an. »Steig ab!«, befahl er. Der Bursche gehorchte; auch er war groß und kräftig, sah aber neben seinem Fürsten jämmerlich aus. »Wiederhole, was du gerade gesagt hast«, fauchte Alpin. »Herr, ich...« »Wiederhole es!« Eine Faust traf die rechte Wange des Mannes und er stürzte gegen die Seite des Pferds. »Es tut mir Leid, Herr. Ich ...« »Bist du taub, Lutrin? Sprich deine schmutzigen Worte aus, damit die Götter sie hören können. Hast du Angst, weil du jetzt erkennst, dass es meine zukünftige Frau ist, über die du deine giftigen Bemerkungen gemacht hast?« Noch ein Schlag, diesmal nach links - es sah aus, als - 146 könne Alpin mit beiden Fäusten gleich gut umgehen. Rings um sie her saßen die Caitt-Krieger schweigend auf ihren Pferden und beobachteten das Ganze anerkennend. »Ich habe eine schmutzige Bemerkung über die Dame und ihren Barden gemacht, Herr«, sagte Lutrin leise und wich zurück. »Eine Bemerkung, die unzutreffend war. Ich bedauere das.« »Das genügt nicht«, knurrte Alpin und schlug noch einmal zu. Diesmal flog sein Opfer von dem wuchtigen Hieb rückwärts und blieb reglos auf der Wiese liegen. Sein Pferd begann nervös zu tänzeln. »Nimm sein Pferd, Barde«, sagte Alpin. »Und vergiss nicht, dass es das einzige Fleisch ist, was du in Zukunft zwischen den Beinen haben wirst. Lasst ihn liegen!«, schrie er, als sich zwei seiner Männer um den am Boden liegenden Lutrin kümmern wollten. »Soll er allein zurückfinden, wenn der Wald es ihm gestattet. Und ihr anderen, merkt euch eins: Beleidigt meine Frau, und ihr werdet euch in derselben Lage wieder finden.« Er wandte sich Ana zu, die immer noch vor Verlegenheit rot war, ebenso sehr über Alpins eigene Worte, wie Faolan wusste, wie über Lutrins schlecht beratenen Scherz. »Komm, meine Liebe«, sagte Alpin. »Wir bringen dich nach Hause.« Eine Krankheit wütete auf dem Weißen Hügel. Sie tauchte zum ersten Mal kurz nach der FrühlingsTagundnachtgleiche auf und schien es trotz vieler Gebete, des Verbrennens heilender Kräuter und der Zubereitung erprobter Heiltränke nicht eilig zu haben, den königlichen Haushalt zu verlassen. Bei Erwachsenen zeigte sie sich in Form von ein paar Tagen Fieber mit einer Halsentzündung, die das Schlucken schwer machte. Bei Kindern konnte sie tödlich sein. Die kleine Tochter von Brideis oberstem Torwächter starb am fünften Tag der Krankheit. Die Knochenmutter kehrte - 147 drei Tage später zurück, um den kleinen Sohn einer Küchenhelferin zu holen. Die Krankheit erfasste die Kinder heftig, prüfte die kleinen Körper mit schmerzhaften Hustenanfällen. Es gab acht Kinder unter zehn Jahren auf dem Weißen Hügel, oder es hatte acht gegeben, bis die Krankheit kam. Die Zwillingssöhne von Brideis Leibwächter Garth und seiner Frau Elda wurden krank und erholten sich wieder. Sie waren kräftige Jungen, gebaut wie ihr Vater. Zwei kleine Mädchen hatte man bei den ersten Anzeichen der Krankheit im Haus nach
Banmerren geschickt. Nun war auch Derelei krank. Der Junge war nicht viel älter als ein Jahr und zart gebaut wie seine Mutter. Am ersten Tag hatte er nur ein wenig rosiger ausgesehen, am zweiten Tag lag er schon auf dem Strohsack, glühte vor Fieber und rang angestrengt nach Luft. Er weinte nicht viel. Tuala wünschte sich, dass er weinen würde. Sie wünschte sich, er würde kämpfen. Die Knochenmutter konnte ihn nur zu leicht holen, dieses winzige Kind, das die Göttin innerhalb eines Herzschlags mühelos davontragen konnte. Es gab bestimmte Dinge, die man tun konnte, und Tuala tat sie wie betäubt, ihr Herz vor Schrecken gelähmt. Sie braute Heiltränke. In einem Kohlebecken verbrannte sie beruhigende Kräuter und wusch den kleinen Körper ihres Sohns mit kaltem Wasser. Sie sang ihm vor und streichelte über seine fieberheiße Stirn. Wenn er nicht atmen konnte, trug sie ihn herum, an ihre Schulter gelehnt, denn das schien es ihm ein wenig leichter zu machen. Sie betete verzweifelt zur Leuchtenden, und es waren keine förmlichen Gebete: Weißt du denn nicht, wie sehr wir ihn lieben? Er ist noch so klein! Hör auf, ihm wehzutun! Wenn Bridei da war, was so oft geschah, wie er sich von den letzten Vorbereitungen für die große Beratung losreißen konnte, versuchte Tuala vor ihrem Mann zu verbergen, wie verängstigt sie war. Es gab einen Schwärm von Diene- 148 rinnen, die helfen wollten, aber nur wenige darunter, denen sie die Fürsorge für Derelei in einer solch gefährlichen Zeit anvertrauen würde. Mara, die Haushälterin aus Pitnochie, befand sich immer noch auf dem Weißen Hügel. Mara bot nicht an, sich um Derelei zu kümmern, sie hatte nie gern mit kleinen Kindern zu tun gehabt. Sie übernahm einfach den größten Teil von Tualas anderen Verpflichtungen und kümmerte sich auf die gleiche säuerlich-effiziente Weise um den Haushalt, wie sie es mit Broichans Anwesen getan hatte, als Bridei und Tuala selbst noch Kinder gewesen waren. Am Abend erschien sie an Tualas Tür mit einem gewürzten Getränk oder mit zurechtgeschnittenen Stücken von Brot und Käse auf einem Teller und befahl der Königin von Fortriu, die Füße hochzulegen. »Du wirst niemandem helfen können, wenn du vom Schlafmangel vollkommen erschöpft bist.« Auch Bridei war schwindelig vor Erschöpfung. Am Tag saß er mit seinen Beratern zusammen, und sie bereiteten sich nicht nur auf die bevorstehende Versammlung vor - im Gegensatz zu dem, was seine Spione verbreiteten, würde sie nicht zur Erntezeit, sondern noch vor Mittsommer stattfinden -, sondern vor allem auf das große Unternehmen, von dem sie alle wussten, dass es im Herbst folgen würde, ob der König von Circinn sie nun unterstützte oder nicht. Die Versammlung würde von höchster Wichtigkeit sein. Es war das erste Mal, seit Bridei den Christen Drust bei der Königswahl besiegt hatte, dass Drust der Eber sich hatte überreden lassen, Brideis Hof aufzusuchen. Drust hatte gehofft, beide Reiche beherrschen zu können; das hätte das lange gewünschte Ergebnis gehabt, Fortriu und Circinn wieder zu vereinen, aber unter Drusts christlichem Glauben. Und das wäre eine Katastrophe gewesen, eine schändliche Leugnung des alten Glaubens der Priteni, des Glaubens, dem Bridei seit seiner Kindheit in Broichans Haus eisern treu geblieben war. - 149 In den fünf Jahren seiner Herrschaft hatte Bridei angestrengt an einem vorsichtigen Frieden mit Drust dem Eber gearbeitet. Dass der König aus dem Süden zugestimmt hatte, zu dieser Versammlung zu reisen, wurde als großer Erfolg betrachtet und allgemein als ein Zeichen gewertet, dass Drust bereit war, den bewaffneten Kampf gegen Dalriada, einen gemeinsamen Feind, zu unterstützen. Auch andere würden mit dem König von Circinn kommen, zum Beispiel sein einflussreicher Berater Bargoit. Die Fürsten von Fortriu sprachen darüber, wer bei dieser Gelegenheit was sagen würde; sie arbeiteten ihre Strategie bis in die kleinste Einzelheit aus. Sie arbeiteten lange Stunden. Selbst Tharan sah müde aus. Des Nachts, wenn Derelei gegen den Husten kämpfte, blieben Bridei und Tuala wach. Bridei ging mit seinem Sohn in den Armen auf und ab und tätschelte dem Jungen den Rücken. Tuala wiegte Derelei auf ihren Knien, meist neben einem Becken sitzend, in dem aromatische Blätter, Minze und Fenchel, in heißem Wasser schwammen. Der Dampf half dem Kind beim Atmen. Wenn Derelei zumindest für kurze Zeit die Augen schloss, wagte keiner seiner Eltern zu schlafen, damit er nicht unbemerkt davonging. Sie lauschten seinen leisen Atemzügen, hielten einander an der Hand und wussten, welche Prüfungen die Götter ihnen auch in der Vergangenheit geschickt haben mochten, es war nichts verglichen mit dem, was sie nun gerade durchmachten. Am dritten Tag von Dereleis Krankheit musste Bridei nach Caer Pridne reiten und sollte dort zumindest ein paar Tage bleiben. Die Küstenfestung war nun das Hauptquartier der militärischen Unternehmungen des Königs, überwacht von seinem Verwandten und militärischen Anführer Carnach von Dornenband. Es war hier, wo das große Unternehmen gegen die Galen von Dalriada vorbereitet wurde. Und es würde notwendig sein, dass der König sich persönlich zeigte, um jene, die schon allzu bald ihr Blut für seine - 150 Sache geben sollten, zu ermutigen und zu inspirieren. Tuala wusste, dass Bridei nicht gehen wollte, nicht jetzt. Aber sie wusste auch, dass er gehen musste. Sie tröstete ihn, so gut sie konnte. »Es scheint Derelei heute früh ein wenig besser zu gehen. Er atmet leichter; ich glaube, die Kräuter helfen. Versuche, dir nicht zu viele Sorgen zu machen, Liebster.« Bridei küsste sie auf die Stirn, dann berührte er mit dem Finger die weiche, hektisch gerötete Wange seines
kleinen Sohns. Dann ging er. Er war blass und abgehärmt; es kam Tuala so vor, als hätte er jenes Stadium der Erschöpfung erreicht, in dem man kaum mehr verstand, was andere sagten, und wo auch die eigenen Worte nicht mehr besonders sinnvoll waren. Zumindest würde er in Caer Pridne vielleicht ein paar Nächte schlafen können. Sie hatte nicht mit ihm über Broichan gesprochen. Broichan kannte sich als Druide hervorragend mit Kräuterkunde aus. Er hatte den alten König viele Monde über den Zeitpunkt hinweg am Leben erhalten, an dem die meisten anderen seinen Tod erwarteten. Auf diese Weise hatte er dafür gesorgt, dass sein Pflegesohn Bridei bereit zur Königswahl sein würde, wenn die Gelegenheit sich ergab. Tuala wusste, dass Broichan sich auch um andere Opfer dieser Krankheit gekümmert hatte. Er war ein mächtiger Seher und hatte das Ohr der Götter. Warum ihn nicht um Hilfe bitten? Aber Bridei hatte so etwas nicht vorgeschlagen, nicht einmal, als sein kleiner Sohn in seinen Armen glühte. Er brauchte es nicht auszusprechen. Tuala hatte Angst vor Broichan. Es gab Gründe dafür, alte Gründe und neue. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, dem Druiden zu vertrauen, besonders nicht mit ihrem Sohn. Sie würde ihn nicht um Hilfe bitten, und Bridei, der das wusste, bat ihn ebenfalls nicht. Nachdem Bridei gegangen war, fühlte sich Tuala sehr allein, obwohl es in der Festung viele Menschen gab. Sie sehnte sich nach Ana. Anas Anwesenheit war im- 151 mer so beruhigend gewesen; sie ging ruhig ihren Arbeiten nach und verbreitete dabei eine Atmosphäre der Wärme, und sie liebte Derelei, als wäre er ihr eigenes Kind. Wenn Ana hier gewesen wäre, hätte Tuala sich gehen lassen und weinen können, ohne sich zu fühlen, als enttäuschte sie alle irgendwie. Sie wünschte sich aus ganzem Herzen, dass Bridei Ana nicht weggeschickt hätte. Und sie wünschte sich auch, dass er Faolan nicht geschickt hätte. Breth war als Brideis Leibwächter mit nach Caer Pridne gegangen, aber Tuala glaubte nicht, dass ihr Mann wirklich in Sicherheit war, solange Faolan sich nicht in der Nähe befand. Da die Versammlung kurz bevorstand, befürchtete sie Messer im Dunkeln, plötzliche Pfeile, vergiftete Kelche. Selbst der beliebteste König hatte seine Feinde. Es war ein schlechter Tag. Derelei wollte nicht essen, und Tualas Brüste schmerzten und waren voller Milch. Sie benutzte einen Lappen, um ein paar Tropfen kaltes Wasser in den Mund des Kinds zu träufeln, aber was der Kleine schluckte, kam kurz darauf in würgenden, schmerzhaften Krämpfen wieder heraus, nach denen er schlaff und erschöpft war. Mara kam, und diesmal blieb sie, sorgte für eine ununterbrochene Zufuhr kühlender Tücher und kümmerte sich ums Feuer, während Tuala mit Derelei in den Armen auf und ab ging. Der Raum roch nach Krankheit und nach Verzweiflung. Hin und wieder versuchte Tuala, das Kind an die Brust zu legen, und hin und wieder schniefte Derelei und bewegte den Kopf, als wäre er hungrig, und Tuala schöpfte neue Hoffnung, die aber gleich wieder zerstört wurde, wenn er den Kopf wegdrehte, zu müde, um zu saugen. Sie versuchten noch einmal, ihm Wasser einzuflößen, und sie wuschen ihn ab; Tuala hielt ihn fest, während Mara das feuchte Tuch auf die heiße Haut drückte. Tuala konnte sehen, wie die Züge ihres Sohnes sich veränderten, der Blick wurde starr, die Haut nahm eine gräuliche Färbung an, die runden Wangen waren hohl. Er sah aus wie - 152 der Geist eines Kindes. Das Wasser in Maras Schale schlug kleine Wellen, als die Haushälterin das Tuch eintauchte. Rasch wandte Tuala den Blick ab. Mara schwieg, aber es kam Tuala so vor, als stünde eine Botschaft in ihren Augen. Bitte ihn, zu helfen. Du bist dumm, wenn du es nicht tust, denn du hast nichts zu verlieren. Und Tuala wusste, wenn sie nicht mehr tat als bisher - das geduldige Auf-und-Ab-Gehen, die Bäder, die Kräuter -, würde ihr Sohn das nächste Morgengrauen nicht erleben. »Ich gehe und hole Broichan«, sagte sie. »Ich werde gehen, sobald wir Derelei wieder eingepackt haben.« »Ja«, sagte Mara. »Tu das. Wahrscheinlich wartet er schon auf dich. Geh sofort; ich kümmere mich um das Kind. Du hast zu lange gewartet. Ich hätte nie gedacht, dass du dumm genug wärst, wegen deines Stolzes dein Kind in Gefahr zu bringen.« Und als Tuala sie kalt vor Schrecken anstarrte, sagte Mara: »Mach die Augen auf, Mädchen! Du bist nicht die Einzige, die den kleinen Jungen gern hat. Bridei hätte Broichan schon vor zwei Tagen gerufen, wenn er nicht gewusst hätte, dass du dagegen bist. Sieh mich nicht so an. Geh schon und hole ihn. Vielleicht haben wir immer noch Zeit.« Es war die längste Ansprache, die Tuala je von Mara gehört hatte. Sie schluckte die wirren Gefühle hinunter, die in ihr aufstiegen, und eilte von ihren eigenen Gemächern zu Broichans Kammer, ohne überhaupt zu merken, dass sie sich bewegte. Es war nicht nötig, an die Tür zu klopfen. Sie öffnete sich, als Tuala näher kam, und dort stand der Druide, hoch gewachsen und ernst, in seinem dunklen Gewand und mit einem flachen Korb am Arm, in den diverse Gegenstände gepackt waren: ein Bund Kräuter, Kerzen, Birkenstäbchen, kleine Phiolen und verschlossene Tiegel. Tuala sah ihn an und erkannte in seinen Zügen die gleiche Erschöpfung und Unruhe, die Brideis Gesicht gezeichnet hatten, als er nach - 153 Caer Pridne aufgebrochen war. Sie sah, dass Mara Recht hatte. Broichan hatte darauf gewartet, dass sie ihn um Hilfe bat, hatte verzweifelt darauf gewartet und befürchtet, dass sie ihn zu spät rufen würde, um Brideis Sohn retten zu können. »Ich brauche deine Hilfe.« Es kam als ein Flüstern heraus. Broichan nickte ohne ein Wort und ging mit ihr zurück zu ihren eigenen Gemächern. »Ich habe alles getan, was ich kann«, sagte sie. »Alles. Und es geht ihm immer noch nicht besser.«
»Alles?«, fragte Broichan ruhig. »Hast du in den Spiegel geschaut, um seine Zukunft zu sehen? Hast du das gewagt?« Tuala schauderte. »Nein. Das nicht. Du weißt, dass ich diese Dinge nicht anwende; es gehört sich nicht für eine Königin, auf solche Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem könnte ich das nicht. Nicht in dieser Situation. Nicht, wenn ich vielleicht sehen würde ...« Dann hatte sie eine schreckliche Idee. War Broichan deshalb nicht zuvor erschienen? »Hast... hast du es getan? Hast du gesehen ...« Sie würde es nicht laut aussprechen. Hast du den Tod meines Sohnes gesehen und möchtest dich deshalb nicht gegen den Willen der Knochenmutter stellen? »Nein, Tuala.« Broichans Stimme war dunkler Wohlklang, tief und tragend. »So stark bin ich nicht. Wenn ich für dieses Kind in den Kampf ziehen soll, dann will ich mit Hoffnung bewaffnet sein. Die Schale, die ich für den Blick benutze, ist zugedeckt, und das wird sie bleiben, bis diese Geißel vom Weißen Hügel verschwunden ist.« »Kannst du ihn retten?« Tuala hörte, wie ihre Stimme zitterte. Sie waren nun an der Tür ihrer Gemächer. Drinnen konnten sie hören, wie Mara sich bewegte und leise vor sich hin murmelte. Von Derelei kam kein Laut. »Die Frage ist nicht so sehr, ob ich ihn retten kann«, sagte Broichan und öffnete die Tür, »sondern ob du mir er- 154 lauben wirst, ihn zu behandeln. In unserer Vergangenheit herrschte tiefes Misstrauen zwischen uns, das weiß ich. Weshalb sonst hättest du sonst so lange gewartet, bis die Krankheit fast nicht mehr zu behandeln ist?« Er stand nun neben dem Strohsack, auf dem der Kleine sich in ruhelosem Halbschlaf hin und her warf. Mara wrang ein Tuch aus und beobachtete ihn mit sorgfältig neutralem Blick. Broichan legte die Hand auf Dereleis Stirn. »Hier helfen keine Kräuter und Tränke mehr«, sagte er. »Die Flammen dieses Fiebers verbrennen ihn; das Herz ist bis zum Bersten beansprucht. Vertraust du mir?« »Ja.« Ein Flüstern. »Also gut. Ich muss das Kind in Schlaf versetzen, einen Schlaf so tief, dass es dir vorkommen wird, als stünde Derelei kurz davor, von uns zu gehen. Hab keine Angst. Ich werde an seiner Seite bleiben und die Situation unter Kontrolle behalten. Der Schlaf wird seinem kleinen Körper gestatten, die Ruhe zu finden, die er so verzweifelt braucht, Tuala. Er hat seine Kraft im Kampf gegen die Krankheit beinahe aufgebraucht. Ich werde ihn ein wenig den Händen der Leuchtenden überlassen. Es kann allerdings schwer sein, dabei zuzusehen. Du möchtest dich vielleicht zurückziehen und selbst ein wenig ruhen. Mara kann mir alle Hilfe geben, die ich brauche.« »Nein«, krächzte Tuala. »Ich verlasse ihn nicht.« Broichan betrachtete sie sachlich. »Also gut. Du wirst sehen, wie ein Schatten über uns hinwegzieht. Du wirst vielleicht Kälte spüren. Das ist zu erwarten. Vertraue mir, Tuala. Ich lasse ihn nicht gehen.« Wieder betrachtete sie seine verschlossenen Züge, die dunklen, undurchschaubaren Augen, die kargen Flächen von Wangen und Kinn. Broichan zeigte nur selten, was er empfand. Nun legte er die schmalen Hände an beide Seiten des geröteten Kindergesichts und sprach mit einer Stimme, die leise und tief war, beinahe wie Gesang. - 155 »Derelei, schlafe jetzt, Kleiner. Taube und Eule fliegen mit dir, Lachs und Otter schwimmen an deiner Seite, Hirsch und Hase zeigen dir ihre geheimen Wege. Schlafe jetzt, Derelei, die Leuchtende wacht über dich und schenkt dir schöne Träume.« Seine Daumen bewegten sich über das kleine Gesicht; in seinen Augen stand nun ein anderer Ausdruck, sie waren voller Liebe, aber auch erfüllt von der Kraft des Zaubers. Tuala, die ihn beobachtete, wurde plötzlich klar, wie grausam es gewesen war, ihn auszuschließen. Sie sah, dass ihr Kind dem Druiden tatsächlich ebenso wichtig war wie ihr und Bridei. Den Grund dafür kannte sie nicht, aber sie wusste, dass es nichts mit Macht oder Ehrgeiz zu tun hatte, nichts mit Broichans üblichen Spielen. Es war eine echte Liebe, eine ehrliche Liebe, und sie hatte kein Recht, ihr im Weg zu stehen. »Schlafe jetzt, Tapferer. Ruhe dich aus von deinem großen Kampf. Ruhe dich aus, geschützt und sicher. Sammle deine Kraft. Vor dir liegen gute Zeiten.« Derelei war entspannt, die Augen geschlossen, der Mund ein wenig offen. Er hatte die Arme ausgestreckt, die kleinen Finger gebogen, als hielte er Geheimnisse in seinen Händen. Broichan begann über dem Gesicht des Kindes Zeichen in die Luft zu malen und rezitierte etwas in einer Tuala unbekannten Sprache. Es schien dunkel zu werden, und es wurde kalt, als wäre ein eisiger Atem durch die festen Wände gedrungen. Tuala biss die Zähne zusammen und musste an einen Tortag denken, an dem die Finsternis, die sie in ihrer Schale gesehen hatte, beinahe zu unerträglich geworden war. Broichan war nicht unfehlbar. Was, wenn er sich irrte? Sie konnte die Klauen der schwarzen Krähe in der stillen Kammer beinahe spüren; sie konnte beinahe das Flattern der dunklen Flügel hören. Derelei lag hilflos auf dem Strohsack, und er sah so klein aus. Sein Gesicht schien blasser zu werden, als würde das Leben aus ihm herausgesaugt, und Tuala sah, wie seine angestrengten Atemzüge - 156 langsamer wurden, bis sie kaum mehr zu erkennen waren. Ganz von selbst gingen eine nach der anderen die Kerzen im Raum aus. In dem trüben Licht wirkte Dereleis Haut grau und tot. Er sah nun nicht mehr entspannt und friedlich aus, sondern lag da wie ein Opfer, das auf das Messer wartete. Mara schürte das Feuer, dessen unruhiges Licht kaum die dunklen Ecken des Raums berührte. Broichan rezitierte weiter; seine Worte drangen in Tualas Kopf, erfüllten sie mit ihrer Kraft, bis auch sie überwältigende Müdigkeit verspürte, einen tiefen Wunsch, sich der Obhut der Göttin zu überlassen, zu ruhen, zu heilen, in eine Zeit der Dunkelheit einzugehen, die ein kleiner Tod war. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen.
»Hier, Mädchen.« Mara schob einen Hocker an den Fuß des Strohsacks, und Tuala sackte darauf zusammen, während die Rezitation weiterging. Nun vollzog Broichan ein Ritual rings um das tief schlafende Kind: Er streute Kräuter auf Dereleis Brust und Lenden und über seine Hände, rieb seine Stirn mit einem durchdringend riechenden Öl ein und legte zwei kleine Blüten auf seine Lider. Tuala schauderte und dachte an Tod. Sie musste Vertrauen haben, sie hatte die Liebe in Broichans Blick gesehen. Jetzt öffnete der Druide einen winzigen Tiegel, nahm eine Prise eines rötlichen Pulvers heraus und streute es rings um die schlafende Gestalt des Kindes, ein Schutz gegen Eindringlinge, eine Sicherheitsgrenze. Der Geruch des Krauts hätte Tuala beinahe zum Niesen gebracht. Derelei regte sich nicht, er lag still da, als würde er sich nie wieder bewegen. Im Halbdunkel konnte Tuala das schwache Heben und Senken seiner Brust nicht erkennen. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, denn er wirkte schlaff, leblos, wie ein weggeworfenes Spielzeug. Broichan packte sie rasch am Handgelenk und hielt sie zurück. Die Rezitation ging dabei ohne Unterbrechung weiter. Tuala spürte, wie ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. Sie schloss die Augen und be- 157 gann selbst zur Leuchtenden zu beten. Die Göttin hatte immer über sie gewacht, selbst dann, wenn sie geglaubt hatte, keine Freunde mehr zu haben. Wie könnte die Leuchtende weniger für Derelei tun? »Hoffnung«, hatte Broichan gesagt. »Ich werde mit Hoffnung bewaffnet kämpfen«. Die Rezitation wurde langsamer, nahm den Rhythmus eines Schlaflieds an, und Broichan, der sein Ritual beendet hatte, ließ sich an der Seite des Kinds auf den Knien nieder. Mara hielt einen Span ins Feuer und begann die Kerzen eine nach der anderen wieder anzuzünden. Kurz darauf breitete sich in dem stillen Raum ein weiches Leuchten aus. »Wir müssen das Kind jetzt ruhen lassen«, sagte Broichan schließlich. »Berühre ihn nicht; siehst du, er atmet immer noch, wenn auch langsam. Das hier ist ein tieferer Schlaf, als Männer und Frauen ihn kennen, ein Schlaf am Rande des Todes. Wir müssen warten. Ich werde über ihn wachen. Du solltest dich ausruhen. Du kannst im Augenblick hier nichts tun. Nicht, bevor er sich wieder regt.« Tuala hatte zornige Worte auf der Zunge, aber sie verbiss sie sich, schluckte die Kränkung herunter. »Ich werde dennoch bleiben«, sagte sie leise. »Du brauchst nicht allein Wache zu halten.« Broichan sah sie an, dann wandte er den Blick ab. Ihm war nicht anzumerken, was er dachte. »Wie lange?«, fragte Tuala. »Das kann ich nicht sagen. Du siehst erschöpft aus. Es war eine schwere Zeit für dich. Ruh dich aus, solange du kannst.« »Auch du scheinst müde zu sein«, sagte Tuala. »Ich glaube, nicht nur Bridei und ich und unser Sohn sind geprüft worden. Ich werde bei dir bleiben. Mara, würdest du eine der Frauen bitten, Met und etwas zu essen zu bringen? Und danke, dass du hier gewesen bist. Dass du solche Geduld hattest. Du musst jetzt schlafen gehen.« »Geduld?«, wiederholte Mara. »Ich weiß nicht, ob ich es - 158 so nennen würde. Ich weiß, wann ich sprechen und wann ich lieber meinen Mund halten soll, das ist alles. Ich werde jetzt gehen. Einige von uns weisen eine Gelegenheit für ein wenig Rast nicht ab, wenn sie angeboten wird. Ich schicke jemanden mit Abendessen für euch beide.« Tief unter der Festung von Caer Pridne, dem uralten Sitz der Könige von Fortriu, gab es einen Ort, an dem lange ein finsteres Ritual vollzogen worden war. Der Gott, dessen Macht diese eisige Höhle bewohnte, hatte keinen Namen, oder zumindest keinen, der ausgesprochen wurde. Er stand außerhalb des Pantheon von Göttern, die das tägliche Leben von Brideis Volk beherrschten: die Leuchtende, deren Reise über den Nachthimmel die Gezeiten in allen lebenden Dingen regelte; der Flammenhüter, der mutige und loyale Männer liebte; die schöne, jungfräuliche Blütenreiche und die Knochenmutter, die Hüterin der Träume. Dieser dunkle Gott hatte ein kleines Spiegelbild in jedem Mann, verborgen in einem Teil von ihnen, den nur wenige zugeben würden. Er war die Kehrseite des Flammenhüters, der Schatten, ohne den keine Substanz sein kann, das Chaos hinter der Ordnung, die Unruhe tief im Herzen jeder Existenz. Jahr um Jahr war der Brunnen der Schatten Zeuge des Todes einer jungen Frau geworden, die den Hunger des Namenlosen stillen sollte. Jahr um Jahr hatte die Oberpriesterin von Banmerren das Opfer vorbereitet, und der König von Fortriu hatte mit seinem Druiden an seiner Seite das Opfer ausgeführt. Bis Bridei König geworden war. Er war nur einmal bei dieser Zeremonie anwesend gewesen. Er hatte es gesehen, hatte daran teilgenommen und hatte gewusst, dass er es nie wieder geschehen lassen würde. Nun gab es auf dem Weißen Hügel ein anderes Ritual zum Tortag, und dabei wurde kein Blut vergossen, kein junges Leben verschwendet, es gab keine schreckliche Forderung, die Pflicht höher zu stellen als das verzweifel- 159 te Schlagen eines menschlichen Herzens. Nur wenige bezweifelten, dass diese Veränderung einen Preis haben würde. Nur einmal zuvor hatte ein König sich dem dunklen Gott widersetzt. Erschreckende Wiedergutmachung war die Folge gewesen, eine Strafe, die die Priteni beinahe gänzlich ausgelöscht hatte. Bridei, aufgewachsen mit der Überlieferung und zu makelloser Loyalität gegenüber den Göttern seiner Ahnen erzogen, wusste dennoch tief im Herzen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn es Konsequenzen gab, würde er sie tragen. Der Brunnen der Schatten war nun verschlossen, und ein Eisentor riegelte den gefährlichen schmalen Pfad ab,
der tief in den Hügel hineinführte. Bridei wartete, während Breth das Tor für ihn öffnete. Er ging hindurch, begleitet von dem kleinen Hund Ban, und wartete erneut, während Breth das Tor hinter ihm schloss. »Wirst du hier warten?«, fragte er seinen Leibwächter. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.« »Ich werde hier sein.« Breth stellte sich ans Tor, eine solide, tröstliche Präsenz. Weiter oben am Weg, an einem der steilen Hänge, war eine Fackel angebracht. Der frische Wind vom Meer ließ sie flackern und spucken. Bridei ging die Treppe hinunter, eine kleinere Fackel in der Hand. Der Brunnen befand sich tief unter dem Hügel und konnte nur auf diesem unmöglich steilen Weg erreicht werden. Die unteren Bereiche der Höhle waren tief dunkel, und unnatürliche Kälte stieg hier auf. Ban blieb schaudernd auf der Treppe stehen. Bridei warf ihm einen Blick zu. »Halte hier Wache!« Es ließ Ban eine gewisse Würde, wenn er eine Pflicht zu erfüllen hatte. Dem kleinen Tier fehlte es nicht an Mut; seine lange Geschichte zeigte das. Die Brunnenkammer zu betreten war jedoch mehr, als man von irgendeinem Lebewesen erwarten konnte. Ban ließ sich nieder, ein weißer Fleck auf der dunklen Steintreppe, und hielt Wache. Bridei ging weiter nach unten. - 160 Er konnte nicht hierher kommen, ohne sich an das erste Mal zu erinnern: das tintenschwarze Wasser, die Fackeln, die dunkel gekleideten Männer und das einzelne Mädchen, wie eine helle Blüte in ihrem Ritualgewand. Der alte König war schon todkrank gewesen, und selbst seine eiserne Willenskraft hatte nicht mehr ausgereicht, um seinen schwächer werdenden Körper vollkommen zu beherrschen. Broichan, hoch gewachsen und finster, war zum Gefäß für die schreckliche Macht des namenlosen Gottes geworden. Und dann war der Augenblick gekommen, als König Drust um Hilfe gebeten hatte und er, Bridei, der Einzige gewesen war, der vorgetreten war. Der Augenblick, in dem er geholfen hatte, ein Mädchen zu ertränken ... Er steckte die Fackel in den eisernen Halter am Eingang und kniete sich neben das Wasser. Der rechteckige Teich war eine Handspanne oberhalb der schwarzen Oberfläche von einem schmalen Steinsims umgeben. Es gab hier einen kalten Atem, etwas Tödliches, das in den Ecken der Kammer summte und flüsterte. Bridei schloss die Augen und streckte in Meditationshaltung die Arme nach den Seiten aus. Er zwang sich, vollkommen reglos zu verharren. Während der Himmel draußen das Violett der Dämmerung und das Taubengrau einer Frühlingsnacht annahm, kniete er in stiller Wache. Sowohl Bridei als auch Broichan taten dies jedes Mal, wenn sie Caer Pridne besuchten, denn sie glaubten, dass dieser stille Gehorsam von König und Druide den Zorn der Gottheit darüber lindern konnte, dass sie keine Opfer in Form von heißem Blut und blühendem Fleisch mehr erhielt. Bridei kannte sich mit der Durchführung von Ritualen aus. Broichan hatte ihn am Mittsommerabend wach bleiben lassen, seit er kaum vier Jahre alt gewesen war, und hatte dafür gesorgt, dass sein Pflegesohn ebenso intensiv in der Überlieferung unterrichtet wurde wie ein Druide. An diesem Abend jedoch fand er sich einer besonderen Herausforderung gegenüber. Derelei lag im Sterben; das wusste - 161 Bridei, so sehr Tuala sich auch um tröstliche Worte bemüht hatte. Es gab bestimmte Gebete, die hier gesprochen werden mussten, Worte, die diesem gefährlichsten aller Götter gefielen, aber in Brideis Herz erklang eine wirre Art von Gebet, die nichts mit Ritualen zu tun hatte. Er kämpfte dagegen an, beruhigte seinen Atem, hielt seine reglose Pose, und konzentrierte sich auf die Sequenz von Worten, die Broichan ihm für diese Zeit und diesen Ort beigebracht hatte: Ich atme ins Dunkle. Ich atme in die Stille. Ich atme in die Mitte der Dunkelheit. Ich biege mich wie Weizenhalme vor dem Wind. Ich biege mich wie Birken vor dem Sturm. Ich biege mich unter deinem Atem. Ältester von allen ... Aber unterhalb der feierlichen Worte rangen andere darum, gehört zu werden; unter dem stetigen Heben und Senken seiner Brust lag der chaotische Atem der Angst; unter dem gleichmäßigen Schlag des meditierenden Herzens lag das wilde, erschrockene Hämmern bevor stehenden Verlusts, lagen die Dinge, denen ein König keinen Ausdruck verleiht, nicht einmal, wenn er ein junger Vater war und sein Sohn nur um Haaresbreite von der langen Umarmung der Knochenmutter entfernt. Unter der Erde liegt der große Stein. Unter dem Stein liegt das Feuer. Unter dem Feuer liegt die Asche, der Staub. Unter dem Staub der Atem. Heben und Senken. Die Worte kamen frei, stetig und sicher heraus; Bridei war hervorragend ausgebildet. Die Tränen, die über seine Wan- 162 gen liefen, gehörten allerdings nicht zu dem, was Broichan ihm beigebracht hatte. Läutere, Feuer, Verbrenne alles bis auf die Knochen.
Ertränke, Flut, Tiefer als der Weg des Wals. Peitsche, Wind, Blase alles fort. Verschlinge, Stein, Bringe alle Geschichten zum Schweigen. Bahnt einen Weg für ihn: Den Schattenmeister. Ältester von allen. Die Worte halfen ihm. Er hatte ihre Muster so gut gelernt, dass sie beinahe ohne ihn flössen. Schon als Kind hatte er erfahren, dass solche Disziplin auch gegen die mächtigsten Angriffe standhalten konnte. Schließlich waren die Worte alle gesprochen, und es gab nur noch die Kammer, das Wasser und die Stille. Bridei hielt seine Pose, gerader Rücken, ausgestreckte Arme; das Fackellicht warf seine Schatten durch die Höhle, ein Adler, ein Schwertgriff, ein Kreuz. Kalte Zugluft bewegte sich rings um ihn her, murmelte in seinen Ohren. Er ist gegangen. Er ist nicht mehr. Und er hörte die Antwort seiner eigenen Stimme, ihr Ton nicht mehr die stetige, gleichmäßige Rezitation eines förmlichen Gebets und auch nicht das gequälte Schreien seines Herzens, sondern ein Flüstern. »Ich versuche nicht zu feilschen; mir ist klar, dass das nicht möglich ist. Wisse nur, dass ich treu zu dir stehe. Ich liebe die Götter von Fortriu und habe geschworen, dafür zu sorgen, dass mein Volk auf dem alten Weg bleibt. Ich bitte nicht um eine Gunst. Warum sollte das Leben meines Sohns von größerem Wert sein als die Leben anderer Kin- 163 der, die die Seuche bereits genommen hat? Ich sage dir einfach nur, dass er mein Sohn ist und dass ich ihn liebe. Und dass er unschuldig ist. Er ist nicht nur mein Sohn, sondern auch der von Tuala; auch sie wird tödlich verwundet sein, sie, die immer eine geliebte Tochter der Leuchtenden war.« In seinem Kopf hörte Bridei die Antwort darauf: Sie hat von Anfang an gewusst, dass du König sein würdest. Sie hat verstanden, was es bedeutete, dich zu lieben. Bridei schluckte und fuhr fort. »Wenn dies die Strafe ist, die du mir dafür auferlegt hast, dass ich die Tradition nicht aufrechterhalte, dann muss ich sie akzeptieren. Und ich sage dir, dass sie an Grausamkeit dem Opfer selbst gleichkommt, denn ich sehe die Vernichtung eines frischen und guten Lebens. Der Gehorsam, den du von mir verlangst, ist ein schweres Joch. Aber ich bin König und ich werde es tragen.« - 164 KAPITEL FÜNF Es war dumm von ihr gewesen, Faolan als ihren Barden auszugeben, dachte Ana. Faolan hätte als persönlicher Bote des Königs Brideis Bedingungen verkünden und dafür sorgen sollen, dass der Fürst der Caitt zustimmte, sich nicht mit den Galen zu verbünden. Er sollte ihr den Weg ebnen und dafür sorgen, dass die offizielle Handreichung nicht stattfand, bevor der Vertrag besiegelt war. Nun würde er nichts davon tun können. Aber der Ausdruck in den Augen dieser Männer hatte ihr nicht gefallen, denn er schien entweder von Hinrichtung oder dem Erzwingen eines Geständnisses zu sprechen, egal mit welchen Mitteln. Sie hatte Faolan nur schützen wollen. Jetzt waren sie beinahe in Dornwald, und Ana erkannte erschrocken, dass sie alle Verhandlungen selbst führen musste. Die Kiefern hier waren so hoch wie Türme, die Hänge schwierig und der Boden mit bizarren Felsen bedeckt, die an märchenhafte Geschöpfe erinnerten: grinsende Kobolde, Erddrachen, geduckte Ungeheuer. Manchmal glaubte Ana zu sehen, wie sie sich bewegten, einen Klauenfinger ausstreckten, mit einem Stummelschwanz zuckten, pelzige Ohren spitzten. Manchmal glaubte sie zu hören, wie Wesen über ihrem Kopf von Baum zu Baum flogen, Wesen, die zweifellos keine Vögel waren, denn sie knurrten und heulten, wenn sie vorbeikamen. Es gab selbstverständlich auch - 165 Vögel, viele, viele Vögel aller Arten. Krähen hockten neben dem Weg und grüßten die Reisenden mit höhnischem Krächzen. Pieper und Zaunkönige hüpften durch das Unterholz. Weiter oben konnte man hin und wieder die Rufe von Zeisig und Kreuzschnabel hören. In den Büschen raschelte es ununterbrochen, und Ana sah kleine Pelztiere, die pfeilschnell an den Kiefern hinauf und hinunter huschten. In der Luft summten zahllose Insekten; kein Wunder, dass sich die Vögel hier sammelten. Der Weg war nicht einfach. Häufig machten die Männer Halt, um sich kurz zu besprechen, bevor es weiterging, obwohl sie doch mit diesem Wald vertraut sein mussten. Manchmal schien es überhaupt keinen Weg zu geben, nur steinige Hänge oder ein sumpfiges Stück voll umgestürzter Bäume oder eine enge Kluft zwischen wirren Dornenbüschen. Die Landschaft war von einer wilden, gefährlichen Schönheit. Ana fragte sich, wie sie und Faolan sich hier wohl allein zurechtgefunden hätten. Sie konnte Faolan jetzt nicht sehen. Alpin hatte darauf bestanden, dass sie nahe der Spitze ritt, direkt hinter ihm, und ihren Barden hatte man nach hinten geschickt. Am Weißen Hügel und am Hof ihres Vetters auf den Hellen Inseln wurden fähige Musiker hoch geachtet - waren sie nicht die Weber von Träumen und Verkünder tiefster Wahrheiten? Man glaubte, die Besten von ihnen hätten das Ohr der Götter. Offensichtlich sah man das in
Dornwald vollkommen anders. Es hieß, die Caitt seien ein wildes, kriegerisches Volk. Vielleicht kannten sie keine Musik. Ana schauderte. Die breiten, in Leder gekleideten Schultern ihres künftigen Ehemanns waren ununterbrochen in ihrem Blickfeld, als sie hinter ihm her ritt. Sein dunkelbraunes Haar, lang und dicht, hing ihm über den Rücken, nicht vollkommen ungekämmt, aber ein weiteres Anzeichen einer Eigenschaft, die sie bereits bei seinen Fragen an Faolan und seinen unangenehmen Scherzen bemerkt hatte. Er schien kein besonders - 166 kultivierter Mann zu sein. Ana fragte sich, wie viele Frauen es wohl in Dornwald gab und wer sie waren. Vielleicht hatte Alpin Schwestern und eine Mutter. Einige dieser Krieger waren sicher verheiratet. Vielleicht konnten diese Frauen ihr sagen, wie es möglich war, mit solchen Männern zu leben. Der Wald klammerte sich fest an die Steinmauern von Alpins Festung. Strohgedeckte Dächer kamen in Sicht, als die Reisenden über einen Hügel ritten, und ganz in der Nähe sah man kurz einen See aufblitzen, der dann wieder verschwand, als sie hügelabwärts ritten. Näher an der Festung gab es mehr dunkle Eichen und hohe Ulmen als Kiefern, und hier entfalteten sich neue Blätter im Frühjahrssonnenschein. Ana hatte plötzlich ein Bild im Kopf: Faolan, wie er entspannt in Hemdsärmeln auf der Wiese lag, und sie selbst, wie sie die nackten Füße in den Bach hängte, als wäre sie ein Kind, das einen schulfreien Tag genoss. Sie staunte darüber, dass das Bild zum gleichen Tag gehörte wie dieser Ritt, diese seltsamen Krieger, diese hohen, Furcht erregenden Mauern. Dieser raue Fremde, den zu ertragen sie sich irgendwie beibringen musste. Mit dem sie nur zu bald ihr Bett teilen würde. Sie erreichten das Tor, das auf Alpins Ruf hin von innen aufgeschwungen wurde, und betraten einen von Steingebäuden umgebenen Hof: ein großes Wohnhaus, eine Scheune, Platz für Vieh und Vorräte und, wie Ana annahm, alles was man brauchte, um an diesem ungewöhnlich abgelegenen Ort einen großen Haushalt zu unterhalten. Die hohen Mauern umschlossen all das, schlössen den Wald aus, obwohl hier und da die Ulmen ihre Köpfe über die oberste Steinreihe reckten. Alpin half ihr vom Pferd. Ana gefiel nicht, dass seine Hände auf ihrem Körper verharrten, und auch nicht, wie er über ihr Unbehagen grinste. Sie stand sehr still da und wartete, bis er seine Hände wegnahm. Sie versuchte, ihm nicht in die - 167 Augen zu sehen, sondern schaute an ihm vorbei zu den anderen Reitern, die sich um sie gesammelt hatten. Ihr Blick begegnete dem von Faolan. Seine Miene ließ sie schaudern, denn Faolan war ein Mann, der seine Züge hervorragend beherrschte. Ana wusste das, weil Tuala es ihr erklärt hatte -ein Mann, der von Beruf Spion und Attentäter war, musste lernen, unsichtbar zu sein. Er mochte Gefühle haben, aber er lernte, sie nicht zu zeigen. Faolan hielt sich jetzt nicht an diese Regeln. Seine Augen blitzten vor Zorn. Ana wandte sich ab. Er musste lernen, das Spiel auf andere Weise zu spielen. Er würde sich den neuen Regeln anpassen müssen, die sie aufgestellt hatte, als sie ihn als ihren Barden bezeichnete und ihm damit die Autorität nahm. Daran trug niemand außer ihr die Schuld. »Ich bin sehr erschöpft«, sagte sie. Alpin hatte endlich ihre Taille losgelassen und sah sie ein wenig fragend an. Schmutzig, ungepflegt und erschöpft, wie sie war, von ihrer Männerkleidung gar nicht zu sprechen, schien es wichtig zu sein, die Initiative früh zu übernehmen. »Wäre es möglich, die Hilfe einer Dienerin zu haben ... ein ruhiges Zimmer ... ein wenig heißes Wasser ...« »Meine eigenen Gemächer stehen dir selbstverständlich zur Verfügung«, sagte Alpin. Hinter dem aalglatten Ton lag eine Spur von Spott, die Ana zutiefst beunruhigte. »Danke, aber das wäre nicht angemessen. Ich werde später mit dir über Brideis Bedingungen sprechen. Aber nicht, bevor ich gebadet, meine Kleidung gewechselt und mich ausgeruht habe. Ich brauche mein eigenes Gemach. Ein Zimmer von vernünftiger Größe. Eine Tür mit einem Riegel. Und ich erwarte, dass man sich gut um meinen Barden kümmert. Er wurde verwundet und wäre beinahe ertrunken. Ich möchte, dass du mir versicherst, dass er nicht nur in Sicherheit sein wird, sondern auch gutes Essen und eine bequeme Unterkunft erhält.« »Du bist sehr besorgt um sein Wohlergehen.« - 168 »Fürst«, sagte Ana, »ich bin mit einer Eskorte von zwölf Männern und einer Dienerin von Brideis Hof am Weißen Hügel aufgebrochen. Dieser Mann ist alles, was mir geblieben ist. Natürlich bin ich besorgt. Ich würde mir ernstlich missfallen, wenn du meine Wünsche nicht erfüllen könntest oder wolltest.« Sie hatte nicht erwartet, dass es notwendig wäre, ihm das alles zu sagen, und sie stellte fest, das ihre Hände zitterten. Angst und Zorn machten es ihr immer schwerer, ruhig zu bleiben. »Ein Riegel, wie? Ein Riegel an der Innenseite?« Alpin sah sich unter seinen Männern um. »Jungs, sie kennt mich erst einen Nachmittag, und schon traut sie mir nicht!« Die Krieger lachten. »Nun ja, wahrscheinlich habe ich vergessen, wie man eine Dame behandelt. Wenn du gebadet hast und wir diesen Aufzug auf den Mist geworfen haben, wird es mir vielleicht leichter fallen, mich wieder daran zu gewöhnen.« Nun kamen Diener und Dienerinnen aus dem Haus, und Alpin schnippte mit den Fingern in ihre Richtung. »Orna! Diese Dame braucht deine Hilfe. Bring sie nach drinnen und kümmere dich um sie; such ihr eine Zofe. Die Dame möchte ihr eigenes Zimmer. Bring sie in dem Raum neben meinem unter.« »Ja, Herr.« Orna war so groß und breit wie die Männer, und ihre Züge waren ebenso Furcht erregend. Sie hatte sich das Haar mit einem Leinentuch von zweifelhafter Sauberkeit zurückgebunden.
»Danke«, sagte Ana höflich. »Es ist mir eine Freude, meine Liebe.« Alpins Ton konnte nur als unangenehm vertraulich beschrieben werden, und das verursachte Ana eine Gänsehaut. Da sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte, drehte sie sich um und folgte Orna ins Haus. Einige Zeit später saß Ana auf einer Bank, während ein nervöses Mädchen ihr das frisch gewaschene Haar kämmte, - 169 und sie war gezwungen zuzugeben, dass ihr zukünftiger Ehemann ihr tatsächlich alles gegeben hatte, was sie gefordert hatte. Es war ihr nun peinlich, so scharfe Worte benutzt zu haben. Sobald sie im Haus gewesen waren, das bedrückend dunkel, aber groß war, hatte Orna eine Reihe von Befehlen gegeben, und die Diener hatten sich beeilt zu gehorchen. Man hatte Ana in ein Zimmer geführt, in dem ein relativ großes Bett, eine Eichentruhe und zwei Bänke standen. Das einzige Fenster war ein winziger Schlitz, und es gab keine Feuerstelle, aber es war einigermaßen warm, denn an den Wänden hingen staubige Wandbehänge, deren Muster zu einem gleichförmigen Braun verblasst waren. Diener brachten eine Eisenwanne und genügend heißes und kaltes Wasser. Die Seife war rau, die Handtücher rauer. Aber es gab einen Kamm, duftende Öle und Kerzen in schweren Haltern. Man brachte ihr auch Kräuter fürs Bad: Kamille und Pfefferminz. Und eine Zofe, schüchtern und jung. Ludha konnte gut mit Krug und Schöpflöffel umgehen und schrubbte Anas Haut, bis sie kribbelte. Es war wunderbar, endlich sauber zu sein, aber nicht ganz so wunderbar, wie sie es sich während der müden Reisetage vorgestellt hatte, wenn der Gedanke an warmes Wasser und ein weiches Bett sie aufrechterhalten hatten. Wie konnte sie sich den Freuden des Kämmens, dem Gefühl von frischem Leinen auf ihrer Haut, dem süßen Duft von Lavendel an ihrer Schläfe hingeben, wo Ludha ein Tröpfchen Öl verrieben hatte, wenn es so viel gab, um das sie sich Gedanken machen musste? Der Vertrag, ihre Lüge, Faolan. Und Alpin. Wie könnte man einen Mann heiraten, wenn einen schon seine Berührung angewidert zusammenzucken ließ? »Ludha?«, fragte Ana. »Ja, Herrin?« Die Stimme war beinahe nur ein Flüstern. Der Kamm bewegte sich sanft weiter. »Der Mann, der mit mir hierher gekommen ist, mein Barde Faolan - weißt du, wo man ihn untergebracht hat?« - 170 »Nein, Herrin. Willst du nach ihm schicken?« »Nein, Ludha.« Ana versuchte, Autorität zu zeigen. »Selbstverständlich kann er nicht in mein Privatgemach kommen. Ich möchte mich einfach nur überzeugen, dass er in Sicherheit ist.« »Sicherheit?« Ludha klang erstaunt. »O ja, Herrin, er wird hier in Sicherheit sein. Dornwald ist sehr gut verteidigt. Mein ...« Sie errötete. »Mein Freund Foldec sagt, niemand kann uns hier erreichen. Fürst Alpin hat die größte Armee im ganzen Norden.« Dann schwieg die Zofe abrupt wieder. »Erzähl mir mehr«, sagte Ana. »Dieser Foldec, ist er ein Krieger?« »Ja, Herrin.« Ludha, der ihr Stolz nun anzusehen war, lächelte liebenswert. »Er ist Bogenschütze in der Armee unseres Herrn. Er ist gerade im Westen; Foldec hat seine Kriegerzeichen schon seit drei Jahren, er hat sie sich verdient, als er gerade erst fünfzehn war.« »Dann muss er sehr mutig sein«, sagte Ana mit einem ermutigenden Lächeln. »O ja, das ist er.« »Und was tust du, während du darauf wartest, dass er nach Hause zurückkehrt, Ludha?« »Ich nähe, Herrin. Es gibt viele Frauen, die die einfachen Arbeiten erledigen können, säumen und flicken und Hemden und andere Sachen für die Männer herstellen. Aber ich wurde von meiner Mutter unterrichtet; sie war die Schneiderin einer hohen Dame. Sie geben mir all die feine Arbeit.« »Hast du das hier hergestellt?« Die Kleidung, die man Ana gegeben hatte, war schlicht, aber von guter Qualität, eine Tunika und ein Rock aus feiner rostbraun gefärbter Wolle mit Borten mit gestickten Blüten. Sie hatte auch neue Unterwäsche und weiche Pantoffeln aus Ziegenleder bekommen. »Nein, Herrin. Orna hatte diese Sachen in einer Truhe. Sie gehörten einem Mädchen, das einmal hier wohnte, einer - 171 Zofe von Fürst Alpins erster Frau.« Dann wusste Ludha nicht mehr weiter. »Verzeih, Herrin«, murmelte sie. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Ana. »Ich weiß, dass Fürst Alpin schon einmal verheiratet war. Sag mir, hat er irgendwelche Verwandten, abgesehen von dem unehelichen Sohn, der, soweit ich weiß, nicht hier in Dornwald lebt? Ich weiß, dass es keine Kinder aus dieser ersten Ehe gab, aber vielleicht hat Alpin Schwestern oder Brüder?« Seltsamerweise lief Ludha scharlachrot an. »Ich weiß es wirklich nicht, Herrin.« Wieder beschäftigte sie sich mit dem Kamm; diesmal war sie weniger vorsichtig, und Ana zuckte zusammen. »Ich werde mich selbst weiterkämmen, Ludha, ich bin daran gewöhnt, es ohne Hilfe zu tun. Ich hoffe, dass du mir irgendwann deine Arbeiten zeigen kannst; ich interessiere mich sehr für Stickerei. Ich hatte eine Sammlung kleiner Hemden und anderer Babykleidung. Sie gingen alle bei der Durchquerung der Furt verloren, als meine Eskorte vom Fluss weggeschwemmt wurde. Es sollte unwichtig sein, angesichts des Verlusts von so vielen Leben ist es eine Kleinigkeit. Aber es macht mich dennoch traurig. In diesen Stichen lag sehr viel Liebe.« Ludha nickte mitfühlend. »Ja, Herrin. Aber eine Mutter liebt ihr Kind auch, wenn sie es nur in Lumpen kleiden
kann.« Plötzlich war Ana den Tränen nahe. »Ja, nun«, sagte sie schließlich, »vielleicht können wir beide zusammen nähen. Wie du siehst, habe ich überhaupt nichts anzuziehen. Nichts Eigenes.« »Es wäre mir ein Vergnügen, dir zu helfen, Herrin«, sagte Ludha. »Wo kann ich herausfinden, welches Tuch es gibt?« »Sprich mit Orna«, riet Ludha. »Sie mag einen mürrischen Eindruck machen, aber sie wird dir so gut wie mög- 172 lieh helfen. Alle werden das tun. Sie sagen alle ...« Sie zögerte. »Was sagen sie?« »Es steht mir nicht zu, das zu wiederholen, Herrin, aber sie sagen, dass eine neue Frau für den Fürsten das Beste sein könnte, was hier seit Jahren passiert ist. Orna erledigt alles im Haus. Sie gibt alle Befehle. Aber selbst sie würde lieber für eine wirkliche Dame arbeiten. Und wir haben alle sofort gesehen, dass du eine bist.« Ana dachte darüber nach. »Warst du hier, als Fürst Alpins erste Frau noch lebte, Ludha? Kannst du mir von ihr erzählen?« »Ich bin erst nach ihrem Tod hierher gekommen, Herrin. Ich musste einen neuen Platz finden, nachdem meine Mutter am Fieber gestorben war. Orna hat mich eingestellt, nachdem sie gesehen hat, welch gute Arbeit ich leiste.« »Das mit deiner Mutter tut mir Leid. Gibt es hier viele, die sie gekannt haben? Alpins erste Frau?« Ludha war plötzlich sehr damit beschäftigt, aufzuräumen, faltete Tücher, beschäftigte sich mit den Badesachen. »Ludha?« »Die Leute sprechen nicht viel darüber.« »Wie ist sie gestorben?« Keine Antwort. Ludha begann, das Badewasser wieder in die Krüge und Eimer zu schöpfen, damit es leichter weggebracht werden konnte. »Wie ist sie gestorben, Ludha?« »Das weiß ich nicht wirklich, Herrin. Sie war schwanger, das sagen sie alle. Sie und das Kind sind zusammen gestorben. Es ist lange her, mindestens sechs oder sieben Jahre.« »Oh.« Das war sicher die wahrscheinlichste Erklärung. Ein solcher Tod, wenn auch doppelt traurig, war nichts Ungewöhnliches. Ana konnte sogar so etwas wie Mitleid für Alpin empfinden. Er musste sie sehr geliebt und lange um sie getrauert haben, wenn er so lange gewartet hatte, bevor - 173 er eine andere Frau, eine andere Chance auf Kinder suchte. Aber andererseits hatte er nicht direkt nach Ana gesucht. Es war eher andersherum gewesen. »Du wirst dich ausruhen wollen«, sagte Ludha. »Ich rufe einen Jungen, der diese Sachen wegbringt, und lasse dich dann allein, wenn du das willst.« »Was?« Ana hatte nicht zugehört. »0 ja, selbstverständlich. Wirst du kommen und mich holen, wenn es Zeit zum Abendessen ist? Du hast Recht, ich bin sehr müde.« Aber sie konnte nicht schlafen, trotz der weichen Matratze und der guten Bettwäsche. In ihrem Hinterkopf waren die Furt, die Welle, die zerschlagenen Körper und der herzzerreißende Schreck darüber, ganz allein zu sein, noch zu deutlich. Ana fürchtete, dass ihr das für den Rest ihres Lebens erhalten bliebe. Und dann gab es da die unmittelbareren Sorgen. Sie ging wieder und wieder durch, was sie zu Alpin sagen würde und wie sie es tun sollte. Die Heirat hing davon ab, dass er sich mit Bridei verbündete und nicht mit Gabhran von Dalriada. Bridei bat ihn nicht, zusammen mit den Männern von Fortriu zu kämpfen, obwohl ein anderer Caitt-Anführer, Umbrig, bereits angekündigt hatte, seine Leute zu diesem Zweck zu schicken. Das, dachte Ana, sollte sie Alpin gegenüber lieber nicht erwähnen. Aber er musste verstehen, dass von ihm eine feierliche Zustimmung gefordert war, wenn möglich schriftlich, dass er und seine Männer nicht die Waffen gegen Bridei erheben würden, sei es zu Land oder zu Wasser. Der »Zu Wasser« -Teil war das Wichtigste; Alpins Zugang zum westlichen Seeweg nach Dalriada machte ihn zu einem ausgesprochen nützlichen Verbündeten. Wenn Alpin Brideis Bedingungen zustimmte, würde Faolan die Nachricht davon zurück zum Weißen Hügel bringen, und die Handreichung konnte stattfinden. Ana wünschte sich sehr, darüber mit Faolan sprechen zu können, bevor sie das Thema bei Alpin anschnitt. Schließlich kannte sie nur die groben Grundlagen der ganzen An- 174 gelegenheit. Es gab erheblich mehr Einzelheiten, die Brideis persönlicher Botschafter im Kopf hatte und die beinahe mit Sicherheit schrecklich wichtig waren. Das Schicksal von Armeen hing davon ab, alles richtig zu machen und es schnell zu erledigen. Je länger Ana darüber nachdachte, desto zorniger wurde sie auf sich selbst es war eine so dumme Idee gewesen, Faolan mit einer Lüge schützen zu wollen. Sie hatte wirklich alles durcheinander gebracht. Sie musste sich anstrengen, von nun an alles perfekt zu machen. Sie versuchte sich vorzustellen, was Alpin sie fragen würde. Wenn es um Strategie ging, konnte sie ehrlich sein und erklären, dass sie wenig über diese Dinge wusste. Was, wenn er sie nach der Alternative fragte? Wenn er das Angebot ablehnte, was konnte sie tun? Sie konnte wohl kaum zusammen mit Faolan davonreiten und versuchen, den langen Heimweg anzutreten, vor allem, da sie zusammen nur ein Pferd hatten und die Furt immer noch
unpassierbar war, von diesen blaugekleideten Angreifern gar nicht zu reden. Sie würde zumindest so lange hier bleiben müssen, bis das Hochwasser vorüber war, und Alpin dann um eine Eskorte durch das gefährliche Gelände bitten. Vielleicht wäre es ja das Beste, die Wahrheit zu sagen: gestehen, dass sie gelogen hatte und warum, und Faolan die Arbeit tun lassen, für die er hergekommen war. Ana dachte darüber nach. Ja, das wäre vernünftig; es wäre wahrscheinlich, was ihre Freundin Ferada vorschlagen würde. Sei nicht albern, Ana, sag dem Mann einfach die Wahrheit. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Dennoch, sie zögerte. Von der Tatsache einmal abgesehen, dass Alpin sie für leichtfertig und dumm halten würde, beunruhigte sie die ganze Art des Caitt-Fürsten. Hier lag eine Gefahr, das spürte sie einfach. Ein leises Geräusch von dem schlitzartigen Fenster her riss Ana aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Im Fenster - 175 hockte ein winziger Vogel, ein Zaunkönig mit seinem ordentlichen braunen und cremefarbenen Gefieder. Er saß dort reglos, den Kopf leicht schief gelegt, den klaren Blick auf Ana gerichtet. Sie war entzückt. Der kleine Vogel schien so furchtlos; normalerweise wagten sich Waldvögel nicht so nahe an menschliche Behausungen. Tatsächlich war diese Festung ein besonders unwahrscheinlicher Ort für Vögel: Auf dem Weg vom Tor bis zu ihrem Zimmer hatte Ana neun Katzen gezählt, die meisten von der gleichen Art wie die Männer und Frauen von Dornwald, kräftig und muskulös. Ana setzte sich hin, schlang die Arme um die Knie und betrachtete ihren kleinen Besucher. Sie pfiff leise. Der Zaunkönig bewegte den Kopf, ließ sie aber nicht aus den Augen. Nun, da Ana darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie diesen Blick schon öfter gesehen hatte, so konzentriert und wachsam, als hätte der kleine Vogel allen Grund, sie aufzusuchen. Hatte ihr nicht auch die Krähe an der Furt ihren durchdringenden Blick mit solcher Konzentration zugewandt? Das hatte sie beunruhigt. Aber die Krähe hatte sich als Freund erwiesen. Ohne ihre Hilfe hätte sie Faolan verloren. »Was bist du?«, murmelte sie und stand vorsichtig vom Bett auf, um den kleinen Vogel nicht durch plötzliche Bewegungen zu erschrecken. »Wo kommst du her?« Der Zaunkönig hüpfte über das Fensterbrett; das war nicht weit, da das Fenster so schmal war. Ana hatte zuvor nicht hinausgeschaut. Jetzt ging sie näher zum Fenster. Der Zaunkönig blieb, wo er war. Sie hätte die Hand ausstrecken und seine weichen Federn berühren können. Ana fragte sich, ob der kleine Vogel vielleicht einmal ein Haustier gewesen war. Wahrscheinlich nicht; man konnte den Blick in diesem strahlenden Auge kaum zahm nennen. »Wer hat dich geschickt?«, flüsterte sie und schaute aus dem Fenster. Das Zimmer war hoch gelegen; sie hatte ein paar Steintreppen hinaufgehen müssen, um es zu errei- 176 chen. Von hier aus konnte sie ein Stück Wald sehen, Eichen und Ulmen, einen Ausschnitt des hellblauen Himmels und, wenn sie ein Stück zur Seite trat, einen Teil der langen, hohen Mauer, die offenbar die gesamte Festung umgab. Ludha hatte gesagt, dass Dornwald ein sehr sicherer Ort war. Dem konnte man offenbar nicht widersprechen; ohne Alpins Genehmigung würde hier niemand hinein- oder herauskommen. Ana wurde plötzlich kalt. Der Zaunkönig zwitscherte, und so schnell, wie er erschienen war, sprang er nun aus dem Fenster und flog davon. Ana reckte den Hals, um ihm hinterher zuschauen, als er an der Mauer entlang pfeilgerade weiterflog und dann nach unten, aus ihrem Blickfeld heraus. Wo immer er hinwollte, er war nicht in den Wald zurückgekehrt, sondern an einen Ort innerhalb der Festung. »Seltsam«, murmelte Ana. »Sehr seltsam.« Sie fragte sich, ob Alpin Druiden oder Weise Frauen in seinem Haushalt hatte. Das hätte die Anwesenheit des Vogels erklären können. Diese Menschen, die sich der Heilkunde, dem Blick in die Zukunft und der Magie widmeten, standen ihren Tieren häufig sehr nahe. Fola hatte einmal einen riesigen Kater mit Namen Schatten besessen, der zwar keinen besonders magischen Eindruck gemacht hatte, mit dem die Weise Frau aber zweifellos eng verbunden gewesen war. Wenn diese Vögel tatsächlich die Gefährten von Alpins Druiden oder seiner Priesterin waren, hoffte Ana, bald eine Erklärung dafür zu erhalten, wieso sie zu ihr kamen. Bis zum Abendessen hatte Faolan sich bereits mit dem Aufbau von Alpins Festung vertraut gemacht. Die Festung von Dornwald hatte drei Ebenen: Vorratskeller, Wohn- und Arbeitsbereiche im Erdgeschoss und ein paar höher gelegene Räume, zu denen auch die Gemächer des Fürsten zählten. Ana hatte man direkt neben Alpin untergebracht. Faolan hatte einen Strohsack im Quartier der Diener erhalten. So- 177 bald sie gehört hatten, dass er ein Barde war, hatten Alpins Bewaffnete angefangen, ihn als eine amüsante Neuheit zu betrachten und nicht mehr als eine wirklich ernst zu nehmende Person. Den Schlafraum mit Stallknechten und Köchen zu teilen, würde sich wahrscheinlich als nützlich erweisen; von solchen Leuten konnte man häufig viel erfahren. Der Haupthof war von Gebäuden umgeben, die mit der Rückseite zur riesigen Mauer rings um die Festung wiesen. Es gab eine Schmiede, eine Gerberei, ein Backhaus, einen Zwinger voller Jagdhunde von Furcht erregendem Aussehen, einen Kornspeicher und eine Waffenkammer. Weiter hinten standen Scheunen und Ställe;
es schien, dass kaum etwas in diesem Haushalt nicht innerhalb des Schutzes der Mauern stattfand. Faolan zeichnete in seinem Kopf eine neue Landkarte: Er merkte sich den Verlauf der Mauer, jedes einzelne Gebäude und die Stellen, an denen die Bäume hoch genug waren, um auch über die Mauer sichtbar zu sein und die Menschen drinnen daran zu erinnern, dass sie nur einen Steinwurf von der großen Welt entfernt waren. Er hielt Ausschau nach Ein- und Ausgängen; irgendwo musste es auch eine unwichtigere Öffnung in der Mauer geben, eine Hintertür sozusagen. Vielleicht ein Abwassergraben? Eine Stelle, an der etwas in die Festung geschafft werden konnte, ohne jedes Mal die großen Tore öffnen zu müssen? Die Fragen, die er laut stellte, hatten mit solchen Dingen nichts zu tun. Was immer er sagte, war sorgfältig darauf angelegt, harmlos zu wirken und bald wieder vergessen zu werden. Seine Fragen waren dazu gedacht, die Menschen zu ermutigen, ihm zu geben, was er brauchte, ohne auch nur zu wissen, was sie taten. Faolan war schon lange Spion und kannte sich gut damit aus. Es war nicht möglich, an diesem ersten Tag viel zu erreichen. Sie waren am späten Nachmittag in Dornwald eingetroffen; der letzte Teil des Ritts war schneller verlaufen, als - 178 er erwartet hatte, aber bis Faolan ein Quartier erhalten und im Stall nachgesehen hatte, wie es seinem Pferd ging, und ein Wort oder zwei mit den Männern wechseln konnte, die dort arbeiteten, wurde es bereits dunkel. Er würde sich nächtliche Erkundungsgänge aufsparen, bis diese Leute sich ein wenig an ihn gewöhnt hatten. Er hatte eine Ecke der Festung erspäht, die seine Aufmerksamkeit erregte, eine Stelle, an der es so aussah, als gäbe es dort eine doppelte Mauer und dadurch einen Bereich, der auf beiden Seiten von hohen Steinbarrieren umgeben war. Es war kein offensichtlicher Eingang zu diesem Gelände zu erkennen, aber die Mauer bog sich etwa fünfzehn Schritte weit leicht nach innen; Faolan nahm an, dass es dahinter genügend Platz für einen verborgenen Innenhof oder einen Raum gab. Was war so wichtig, dass es auf eine solche Weise geschützt wurde? Ein Waffenlager? Gewürze oder Seide, die man einem mächtigen Feind zur Bestechung anbieten konnte? Oder vielleicht befand sich etwas ganz anderes hinter diesem seltsamen Mauerbogen. Vielleicht schützte der Stein hier nicht gegen Eindringlinge, sondern verhinderte, dass etwas nach draußen geriet, etwas, das zu gefährlich war, um in einem Stall, einem Zwinger oder im Keller untergebracht zu werden. Ein Kerker? Sicherlich nicht. Was für ein Gefangener musste auf solch komplizierte Art verborgen werden? Fesseln und ein großer, kräftiger Wächter oder zwei waren alles, was ein fähiger Anführer brauchte, um Männer gefangen zu halten. Sicher, ein oder zwei Mal war Faolan selbst aus dieser Art von Gefängnis entflohen, aber er betrachtete sich auch nicht als einen gewöhnlichen Gefangenen. Es war seine Aufgabe, immer ein bisschen besser zu sein als die anderen; das gehörte zu den Dingen, die sein Überleben sicherten. Nun gut, er würde Zeit haben, die Wahrheit über diesen Bereich und andere interessante Dinge herauszufinden. Er hatte Zeit, immer vorausgesetzt, dass es Ana gelang, ihrem künftigen Ehe- 179 mann zu vermitteln, dass er sie nur zu Brideis Bedingungen haben konnte. Sie musste genug Kraft aufbringen, um auf einer Verzögerung der Heirat zu bestehen und alle Versuche Alpins, sie in sein Bett zu holen, abwehren, bis Faolan sicher war, dass der Mann seine Versprechen halten würde. Als Barde sollte es ihm nicht schwer fallen herauszufinden, was er wissen musste. In dieser Hinsicht hatte Ana ihm einen Gefallen getan. Er hoffte nur, dass niemand ihn bitten würde zu spielen. Es war ihm nun allerdings unmöglich, Ana bei den eigentlichen Verhandlungen zu helfen. Faolan hatte mit Bridei genau geplant, welche Informationen er zur Antwort auf Alpins unvermeidliche Fragen preisgeben würde. Einiges davon würde falsch und irreführend und dazu gedacht sein, die Dinge zu bestätigen, die er bereits in der gälischen Festung Dunadd in Umlauf gesetzt hatte, bevor er sich mit einem Mann namens Pedar getroffen hatte und gezwungen gewesen war, ihn zum Schweigen zu bringen. Bridei wollte, dass die Galen einen frühen Schlag befürchteten: Sie sollten glauben, dass die Beratung mit Drust von Circinn zum herbstlichen Erntefest stattfand und der Angriff selbst um die Zeit des Jungferntanzes geplant war, des Fests zu Frühlingsbeginn. Dieses Gerücht sollte den wahren Zeitpunkt für das Unternehmen verbergen, der viel früher lag. Dalriada würde die Zähne von Fortriu spüren, sobald die Blätter sich golden färbten; wenn die Knochenmutter die Hügel des großen Tals in ihren eisigen Griff nahm, würde der Feldzug bereits vorüber sein. Die Strategie war gut: Es gab nichts, was besser dazu geeignet war, die Wahrheit zu verbergen, als Fehlinformationen, die sehr nahe an dieser Wahrheit lagen, aber in einem wichtigen Punkt unzutreffend waren. Faolan bezweifelte, dass König Gabhran von Dalriada auch nur die geringste Ahnung hatte, wie kurz Bridei davor stand, zuzuschlagen. Ana war eine gefährliche Spielerin in diesem Spiel, denn - 180 man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie Informationen zurückhielt, deren strategische Wichtigkeit sie nicht verstand; zum Beispiel die Namen von Brideis Verbündeten, darunter den des Caitt-Fürsten Umbrig. Faolan war froh, dass sie nie ausführlicher mit ihr darüber gesprochen hatten, denn er machte sich keine Illusionen über die Methoden, die ein Mann wie Alpin auch bei Frauen anwenden würde, um zu erfahren, was er wissen wollte. Ana hatte bei den Verhandlungen einen einzigen Vorteil: Die glühenden Blicke und grabschenden Hände dieses elenden Alpin machten klar, dass er sie wirklich haben wollte. Der Gedanke daran bewirkte, dass Faolan übel wurde. Er hatte sich unter einer Pumpe gewaschen und die schlichte Kleidung angezogen, die einer der Männer in der
Küche ihm gegeben hatte, einfaches, praktisches Zeug aus grob gewebtem Stoff in Braun und Grau. Seine eigenen Stiefel waren im Wald geblieben; sie gaben ihm ein paar uralte Schuhe mit reißendem Leder und aufgerissenen Nähten, und er zog sie ohne Protest an. Da die Lüge ausgesprochen war und nicht mehr zurückgenommen werden konnte, würde er sie zu seinem Vorteil nutzen. Je weniger er wie ein königlicher Botschafter wirkte, desto besser. In dieser Kleidung sollte er ohne große Schwierigkeiten wie ein Diener des Haushalts aussehen können. Es war gut für ihn. Es würde ihn daran erinnern, dass Frauen wie Ana in einer anderen Welt lebten als Männer wie er. Beim Abendessen platzierten sie ihn ganz unten an den langen Tisch, so weit wie möglich entfernt vom Kopf, wo Ana rechts von Alpin saß, blass und abgehärmt in ihrer sauberen Kleidung. Sie hatte sich das Haar geflochten und zu einer Krone aufgesteckt, und sie saß gerade aufgerichtet und königlich da. Alpin konnte den Blick kaum von ihr abwenden. Faolan, der sonst nie Bier trank, wenn er arbeitete, leerte seinen Becher in einem Zug und gestattete einer Frau, ihn wieder zu füllen. Alpin lachte, er tätschelte Anas - 181 Hand mit seiner großen, rauen Tatze. Faolan sah, wie sie zusammenzuckte. Er konzentrierte den Blick auf seine Platte mit Hammelbraten; er spießte ein Stück mit seinem geliehenen Messer auf und begann zu kauen. Er beobachtete die Leute in seiner Nähe, und hin und wieder warf er unauffällig einen Blick in die Ecken von Alpins Halle, sah die Eingänge, die von Wandbehängen verborgen waren, die breiten Feuerstellen an beiden Enden. Es hieß, die Winter im Land der Caitt seien unerträglich kalt. Diese Leute waren laut und rüpelhaft und schienen Scherze zu mögen, die sich um ihre eigenen Erfolge in den Betten üppiger Frauen oder um Schlägereien mit anderen Männern drehten. Sie aßen und tranken mit robustem Appetit, und zunächst überschütteten sie Faolan mit Fragen: Wie hieß er, wo kam er her, hatte er eine Frau und was machte ein Gäle am Hof von Fortriu? Er antwortete knapp, höflich und bewusst langweilig und wurde damit belohnt, dass sich die Gespräche bald anderen Themen zuwandten. Er zählte, wie viele Bewaffnete anwesend waren, er versuchte abzuschätzen, wie viele Wache standen, und verglich das Ergebnis mit der Kapazität der Schlafquartiere für Krieger, eines Bereichs, den er zuvor in aller Stille untersucht hatte. In Alpins Festung gab es Raum für eine Truppe von achtzig Mann. Es waren vielleicht dreißig anwesend, die Wachposten eingeschlossen. Faolan und Bridei wussten bereits, dass Alpin einen Außenposten an der Westküste hatte, wo seine Schiffe vor Anker lagen, aber zurzeit hatten sie keinerlei Informationen über die Größe dieses Hafens. Diese Dinge würde Faolan herausfinden müssen. Er würde irgendwo in Dornwald eine Schwachstelle finden, er kannte sich damit aus, wie man das tat - ein Mann, der einen Groll hegte, eine einsame Frau, ein Kind, das zufällig etwas mit angehört hatte, was geheim sein sollte. Er würde mit der Zeit schon alles erfahren, was er wissen musste. Dann warf er einen kurzen Blick den Tisch entlang zu - 182 Ana; in diesem Augenblick sah sie ihn ebenfalls an, und in ihren Augen stand eine Entschuldigung. Er gestattete sich ein bestätigendes Nicken, sah, wie sie ihre Lippen zu einem beinahe unmerklichen Lächeln verzog. Dann wandte sie sich wieder Alpin zu und gestikulierte, ihre Miene war ernst. Sie arbeitete angestrengt an ihrem eigenen Auftrag: ihre Zukunft im Dienst von Königen zu verkaufen, die sie ihr halbes Leben als Geisel gehalten hatten. Es war falsch, es war bitterlich falsch. Sie war wie eine Prinzessin aus einer alten Geschichte, die ihr Glück finden sollte, ihr eigenes Königreich, oder zumindest einen gewaltigen Triumph entgegen aller Widrigkeiten. Das hier war kein Triumph. Mit jeder Neigung ihres reizenden Kopfs, mit jedem Blick ihrer strahlenden grauen Augen, mit jeder ausdrucksvollen Geste machte sie einen Schritt darauf zu, sich mit diesem Rüpel zu verbinden, der neben ihr saß. Keiner von diesen Leuten war fähig, ihren wahren Wert zu erkennen ... »Du bist also ein Hofbarde?«, fragte jemand. »Irgendwo hier gibt es eine alte Harfe, die einem Burschen gehörte, der ein bisschen spielen konnte ... vor langer Zeit, wie hieß er noch? Ein paar Lieder nach dem Abendessen wären eine gute Idee.« Eine Harfe. Faolan wurde kalt. »Irgendwann später vielleicht«, sagte er beschwichtigend. »Ich wurde auf dem Weg hierher am Arm verletzt. Es wird eine Weile dauern, bis ich wieder spielen kann. Und ich nehme an, das Instrument braucht ein bisschen Arbeit, wenn es eine Weile nicht benutzt wurde.« »Ich schicke einen Jungen, um die Harfe zu suchen, dann kannst du sie dir einmal ansehen. Du musst wissen, dass wir hier nicht viel Zerstreuung haben. Normalerweise kommen keine Barden hier vorbei. Die Frauen würden gerne einmal ein oder zwei Lieder hören.« »Ich stehe im Dienst meiner Herrin«, sagte Faolan. »Wenn - 183 sie zustimmt, werde ich selbstverständlich gehorchen. Aber es wird Zeit brauchen. Ein Kerl mit einem blauen Stirnband hat mir einen Pfeil in den Arm geschossen. Hielt mich wohl für einen Krieger. Muss kurzsichtig gewesen sein.« Rings um ihn lachten alle. »Zeig uns die Wunde«, sagte einer. »Sie ist verbunden.« »Zeig sie uns.« Er konnte nur gehorchen. Faolan rollte vorsichtig den Ärmel bis zu der neuen Wunde hoch, damit niemand die ältere Narbe darüber sehen konnte. Das ein Musiker eine solche Verletzung hatte, ließ sich nur durch einen
unglücklichen Unfall erklären. Mehr Narben jedoch würden Misstrauen erregen. »Die Blauen, wie?«, sagte ein älterer Mann, auf dessen linker Wange sich Reihe um Reihe nun verblasster Kriegerzeichen befanden. »Die Leute sagen, sie haben die Eskorte deiner Herrin an der Furt angegriffen. Alpin wird das nicht auf sich sitzen lassen.« »Die Blauen?« Faolan gab sich unwissend. »Wer sind sie? Nachbarn?« »Das könnte man sagen. Dendrists Territorium liegt östlich von Dornwald am Blauen See. Er ist ein Mann, der sich nie mit existierenden Grenzen zufrieden gibt.« »Ah.« »Der Weg über diese Furt ist nicht gerade der sicherste«, stellte ein Mann fest, der einen recht scharfsinnigen Eindruck machte. »Wer immer auch eure Gruppe anführte, muss ein Narr gewesen sein. Ihr wärt am besten an den Seen entlang und über die westlichen Wege gekommen.« »Mit solchen Dingen kenne ich mich nicht aus«, sagte Faolan, dessen ununterbrochene Beobachtung der Geschehnisse in der Halle auf der Suche nach etwas Nützlichem endlich belohnt worden war. Auf einem Steinsims an der Seite standen Teller, und außer den Dienern, die Tabletts zum - 184 Tisch und wieder weg brachten, war dort jetzt ein Mann damit beschäftigt, ein kleines Tablett mit Essen zu beladen, genug für vielleicht zwei Personen. Das an sich war nicht überraschend; er brachte wahrscheinlich eine Mahlzeit zu einem der Männer auf Wache oder er kümmerte sich um einen Kranken oder Alten. Es war der Mann selbst, der Faolan auffiel. Er war nicht besonders groß, aber untersetzt, und er hatte eine breite Brust und extrem breite Schultern. Dieser Körperbau wurde noch durch das knöchellange Gewand betont, das er trug. Sein Kopf war vollkommen kahl, und anders als die haarigen Caitt-Krieger war er glatt rasiert und hatte zwar Kriegerzeichen, aber keine Verwandtschaftszeichen auf den Wangen; also ein erfahrener Kämpfer von PriteniBlut, aber kein Mann von Adel. Seine ganze Haltung kündete von Kraft. In dieser gemessenen Energie lag eine Beherrschung, die Faolan den Atem verschlug. Wie kam ein solcher Mann dazu, kleine Tabletts mit Braten und Bier herumzutragen, als wäre er ein gewöhnlicher Diener? Der kahle Mann drehte den Kopf, und Faolan bemerkte eine Markierung hinter seinem rechten Ohr, eine kleine, grob ausgeführte Tätowierung in Form eines Sterns. Ein helles, undurchschaubares Augenpaar begegnete kurz Faolans Blick, dann nahm der Mann sein Tablett und ging. Faolan merkte sich den Weg, den er genommen hatte; es war der Ausgang, der Alpins Privatgemächern am nächsten lag. »Barde!«, rief der Fürst. Von schlechten Vorahnungen erfüllt stand Faolan auf. »Komm her!« Er ging an den Kopf des Tisches und verbeugte sich tief und untertänig, als er Alpin erreichte. »Herr.« »Keine Musik heute Abend?«, fragte Alpin grinsend. »Keine kleinen Liedchen, um uns zu unterhalten?« »Er wurde ver ...«, begann Ana. »Lass den Burschen für sich selbst sprechen, meine Liebe. Er hat eine Zunge; ich habe gehört, wie er sie benutzte.« - 185 »Ich hoffe, Euch bald unterhalten zu können, Fürst«, sagte Faolan und versuchte, unterwürfig zu klingen. »Auch wenn das sicherlich nicht annähernd genug Dank dafür sein kann, dass Ihr so umsichtig wart, uns entgegenzureiten. Leider ist mein Arm verletzt, und ich kann derzeit nicht spielen. Außerdem habe ich bei der Tragödie, die wir erlitten, meine Instrumente verloren.« »Zum Singen brauchst du weder Instrumente noch deinen Arm«, knurrte Alpin. »Das ist wahr. Aber heute Abend bin ich sehr müde. Ich glaube nicht, dass meine Herrin Musik von mir verlangen wird, nachdem wir gerade erst solche Verluste erlitten haben. Es ist schwer, fröhliche Lieder zu singen, wenn das Herz voller Kummer ist.« »Selbstverständlich brauchst du heute Abend nicht für uns zu singen, Faolan«, sagte Ana. »Später vielleicht.« »Du hast doch nicht vor, den Burschen dauerhaft zu behalten, oder?«, fragte Alpin herausfordernd. »Ich will keine Galen in meinem Haushalt; das macht die Leute nur misstrauisch.« Anas Wangen hatten sich rosig verfärbt. »Faolan ist vollkommen zuverlässig. Ein Musiker steht außerhalb politischer Bündnisse. Ich hoffe, dass er noch einige Zeit hier bleiben wird. Zumindest so lange, bis unsere Verhandlungen abgeschlossen sind. Ich hatte gehofft, dass er ...« »Bei der Hochzeit spielen könnte«, sagte Faolan durch zusammengebissene Zähne. »Danach werde ich zum Weißen Hügel zurückkehren.« Nach kurzem Schweigen hob Ana die Hand, um ein Gähnen zu verbergen. »Würdest du mich jetzt bitte entschuldigen? Ich bin sehr müde und würde mich gerne zurückziehen.« »Selbstverständlich.« Alpins Blicke klebten an ihr. Faolan fühlte sich, als könnte er die Gedanken des Mannes lesen; er sah das Bild, das Alpin gerade im Kopf hatte, beinahe greif- 186 bar vor sich: Ana auf ihrem Bett, entspannt in einem weichen Nachthemd, die Wölbungen ihres Körpers verlockend, das flackernde Kerzenlicht auf ihrer hellen Haut und dem schimmernden Haar. »Hab schöne Träume, meine Liebe.«
»Es gibt nur noch eins«, sagte Ana, als sie aufstand. »Ich brauche deine Zusicherung, dass wir bald Gelegenheit haben werden, über Brideis Bedingungen für die Heirat zu sprechen. Ich möchte, dass diese Dinge erledigt sind, bevor ich weitere Entscheidungen treffe. Und ich würde es vorziehen, wenn Faolan bei unseren Verhandlungen anwesend wäre, denn er ist der Einzige, der von meiner Eskorte übrig geblieben ist. Er hat zwar keine Erfahrung in solchen Dingen, aber ich nehme an, er wird derjenige sein, der König Bridei den Bericht über unsere Verhandlungen überbringt. Es wäre dumm, einen anderen Boten zu schicken, wenn Faolan ohnehin diesen Weg zurücklegt.« Alpin sah sie an, die vollen Lippen zu einem sardonischen Lächeln verzogen. Er schien hin und her gerissen zwischen Heiterkeit und Ärger. »Ich bin nicht daran gewöhnt, dass Frauen mir Befehle geben«, sagte er. »Es ist kein Befehl«, sagte Ana. »Die Flut hat mir zusammen mit vielen Freunden auch einen erfahrenen Unterhändler genommen. Du willst doch sicherlich nicht, dass König Bridei glaubt, du hättest den Vorteil ausgenutzt, den dieses unglückliche Ereignis dir mir gegenüber gibt. Selbstverständlich wirst du wegen der sehr unangenehmen Position, in der ich mich befinde, Zugeständnisse machen wollen.« Faolan musste sich beherrschen, damit er nicht applaudierte. Das hatte sie sehr gut gemacht! Sie überraschte ihn immer wieder. Das Gespräch hatte die Aufmerksamkeit aller Männer und Frauen erregt, die in Alpins Nähe saßen; sie schauten nun von einem zur anderen, mit dem gespannten Interesse von Leuten, die einen guten Kampf betrachten. Faolan, immer noch auf den Knien, setzte eine ausdruckslose Miene auf. - 187 »Gespräche, Verhandlungen, wozu brauchen wir das?« Alpin spreizte die Finger. »Ich weiß, was ich will.« Er zwinkerte den Männern in seiner Nähe zu. »Ich glaube nicht, meine Liebe, dass du diesen langen Weg zurückgelegt hast, ohne zu wissen, was am Ende geschieht, Eskorte oder nicht. Wir brauchen nur einen Tag oder zwei, um einander kennen zu lernen, und einen Druiden für die Handreichung, und dein Barde hier kann wieder zum Weißen Hügel zurückkehren, bevor er noch Gelegenheit hatte, seinen Finger auf eine Saite zu legen.« »Faolan«, sagte Ana, »bitte steh auf. Alpin, ich bin viel zu müde, um jetzt über solch schwierige Dinge nachdenken zu können. Ich weiß nur, dass Bridei für dieses Arrangement präzise Bedingungen stellt. Ich bin verpflichtet, dir diese Bedingungen vorzulegen. Wenn du darauf keine Rücksicht nehmen kannst, dann bin ich ... dann sind wir gezwungen, sofort wieder zum Weißen Hügel zurückzukehren.« Wieder schwiegen alle. Alpin stocherte sich mit einem Knochensplitter zwischen den Zähnen herum. »Tatsächlich«, sagte er schließlich. Hinter dem Wort standen der Fluss mit seinem Hochwasser, die Angreifer, der lange, lange Weg zurück nach Südosten. Eine Frau unterwegs mit nur einem Musiker, um sie zu schützen. Die Tatsache, dass hier in Dornwald Alpin der Herr war. »Ja«, sagte Ana. Ihre fest geballten Fäuste straften ihren höflichen Tonfall Lügen. »Nun gut«, sagte Alpin. »Es ist spät. Du hast einen langen Weg hinter dir. Es ist weise, dich zurückzuziehen, und vergiss nicht, die Tür zu verriegeln, meine Liebe. Man kann diesen Barden nicht trauen, sie haben all diese unmöglichen Geschichten im Kopf, in denen Schweinehirten Könige werden und Sklaven mit Prinzessinnen schlafen.« Die Männer lachten. »Gute Nacht, meine Liebe. Sieh mich nicht so an, es war nur ein Scherz. Barde, du kannst gehen. Ich - 188 hoffe, du kennst auch Lieder in unserer eigenen Sprache und nicht nur in diesem elenden Gälisch.« »Ich werde mein Bestes tun, Herr, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte.« Faolan kehrte an seinen Platz zurück, und Ana verließ die Tafel, dicht gefolgt von ihrer Zofe. Faolan hoffte, sie würde wirklich nicht vergessen, die Zimmertür zu verriegeln. Dieser Alpin war schlau, erheblich schlauer, als sein wildes, lautes Getue vermuten ließ. Er würde ihn im Auge behalten müssen. Nun stand auch Alpin auf, und nach einem oder zwei Worten zu seinen Männern folgte er Ana durch die Tür, die zu den Quartieren der Familie führte. Wenn der Mann glaubte, dass Ana ihn heute Nacht hereinlassen würde, war er verrückt. »Der Herr zieht sich früh zurück«, murmelte Faolan ein wenig später zu Gerdic, dem Diener, der ihm zuvor mit Kleidung und Unterkunft geholfen hatte und nun neben ihm am Tisch saß. »Er wird wiederkommen«, sagte Gerdic. Also wartete Faolan, beobachtete das Kommen und Gehen in der Halle und lauschte dem Klatsch. Ein paar Männer holten Spielbretter heraus - sie waren also nicht alle ungebildete Barbaren -, und Faolan beobachtete und machte hilfreiche Vorschläge, spielte aber nicht. Später begannen einige vor der Feuerstelle zu ringen, und die Männer schlössen Wetten auf ihre Kameraden ab. Faolan wettete mit und achtete darauf, zu verlieren. Nicht, dass es viel zu verlieren gab, da er außer einem Pferd, das ihm nicht zustand einzusetzen, an diesem Ort keinen weltlichen Besitz hatte. »Ich habe hier zuvor einen Burschen gesehen, der bei einem solchen Kampf einen starken Gegner abgeben würde«, stellte er irgendwann fest. Gerdic machte einen freundlichen Eindruck, und Faolan ging davon aus, dass er eine solch beiläufige Bemerkung riskieren konnte. »Ein kahler Mann mit breiten Schultern. Sah aus wie ein Kämpfer. Glaube nicht, das er jetzt hier ist.« - 189 Er sah sich um, als suchte er nach dem Mann. »Das ist Deord.« Mehr sagte Gerdic nicht. »Deord? Ist er ein Krieger?«
»Nicht genau.« Gerdic wirkte ein wenig nervös. »Er ist Alpins besondere Wache. Wir sehen hier nicht viel von ihm. Er hält sich zurück. Nur jemand, der sich umbringen will, würde einen Kampf mit Deord riskieren.« »Mhm.« Faolan fragte nicht: Was bewacht er denn? Wo kommt er her Er wusste genau, wann er Fragen stellen und wann er sich zurückhalten musste. Und er spürte ein gewisses Widerstreben. Am Morgen würde er sich weiter umsehen; er würde alles herausfinden, was Bridei wissen wollte. Und wahrscheinlich würde er sich auch daran machen müssen, eine Harfe zu reparieren. Er konnte nicht schlafen. Es war seltsam, dass er, der so lange seine Nächte allein oder wachend neben dem wachen Bridei verbracht hatte, nun im Dunkeln lag und Anas Abwesenheit wie einen scharfen Schmerz in seiner Brust spürte. Sechs Nächte lang hatte er sie in den Armen gehalten, hatte sie geschützt und gewärmt, hatte diese starke, sanftmütige Frau an seinem Herzen gewiegt. Dann hatte er sich nach einem Ende der Reise gesehnt, damit er sich nicht eingestehen musste, wie sehr er sie begehrte. Gleichzeitig hatte er sich gewünscht, dass sie nie ihr Ziel erreichen würden, dass ihre Reise in ein Lied überginge, eine Geschichte, eine Erinnerung an beinahe überwältigende Freude und tiefstes Bedauern. Das war jetzt vorüber, und dieser Verlust machte seinen Strohsack zum einsamsten Bett, in dem er je gelegen hatte. Nein, vielleicht nicht ganz. Es hatte eine Nacht gegeben, in der er die Götter angefleht hatte, ihn sterben zu lassen. Nur dass er bereits die bittere Lektion gelernt hatte, dass solche Entscheidungen stets außerhalb der Reichweite von Menschen lagen. Außerdem wollte er jetzt nicht sterben. Es gab noch viel zu tun. - 190 Die Sonne stieg höher in den klaren, hellen Himmel, und die Flut verursachte ein sanftes, eindringliches Murmeln am Fuß der großen Küstenfestung, als die Krieger von Fortriu begannen, sich auf der offenen Fläche auf der obersten Ebene von Caer Pridne zu versammeln, um ihren König sprechen zu hören. Viele waren zu diesem Anlass auch aus den Außenposten gekommen. Es wimmelte nur so von Kämpfern und Waffen. Viele Männer waren in zeltartigen Unterkünften hinter den Mauern untergebracht, und auf der Gezeitenebene zwischen der Festung und dem Haus der Weisen Frauen an der Bucht waren Reiter unterwegs. Der Besuch des Königs hier war lange geplant gewesen; Bridei konnte seine Leute unmöglich enttäuschen. Der König von Fortriu hatte nicht geschlafen. Nach dem Ritual hatte er stillschweigend auf seinem Bett gelegen, mit Ban zu seinen Füssen, während Breth sich eine kurze Weile erschöpften Schlafs gönnte. Faolan hatte einmal gesagt, dass die wichtigste Qualifikation für einen Leibwächter von Bridei in der Fähigkeit bestand, ohne Schlaf zurechtzukommen, und der junge König war sich unangenehm bewusst, wie Recht der Gäle damit hatte; Faolan, Breth und Garth waren treue Freunde, die in ihrer Fürsorge für ihn weit mehr als nur ihre Pflicht taten. Nachdem Faolan nun unterwegs und Garth mit seiner Frau und den Söhnen am Weißen Hügel geblieben war - er hatte angeboten, mit nach Caer Pridne zu kommen, und Bridei hatte es abgelehnt -, blieben Breth als Verstärkung nur die Männer aus Pitnochie, die alle nicht als Leibwächter ausgebildet waren, und der große, kräftige Mann war entsprechend erschöpft. Bridei fragte sich, wie Faolan wohl mit seiner Aufgabe zurechtkam und ob Alpin von Dornwald bereit war, die seltene Gabe, die sie ihm geschickt hatten, zu akzeptieren. Faolan, dieser rätselhafte, beinahe widerwillige Freund ... Es war unmöglich, ihn mit ins Tal zu nehmen, unmöglich, von einem Mann zu verlangen, gegen sein eigenes Volk in - 191 den Krieg zu ziehen, wem auch immer er die Treue halten mochte. Faolan wusste das natürlich; er hatte Bridei sofort durchschaut. Dem Mann entging nichts. Und er hätte den Auftrag ohnehin akzeptiert. Nachdem er sich entschieden hatte, nichts weiter zu sein als ein bezahlter Leibwächter, konnte er sich wohl kaum einem Befehl seines Königs widersetzen. Wenn Faolan und die anderen aus Dornwald zurückkehrten, würde Bridei bereits unterwegs sein. Die Armee würde sich nach Westen bewegen und das große Unternehmen beginnen. Wenn sich die Blätter rostbraun, rot und golden verfärbten, würde das Blut der Galen das Land beflecken, das sie gestohlen hatten. Bis zum nächsten Tortag sollte der Krieg vorüber sein. Und es war Brideis Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieser Sieg die Anstrengungen all jener, die ihm vertrauten, wert war. Die Götter hatten ihm diesen Auftrag erteilt, und er musste ihn ihrem Willen entsprechend ausführen. Er musste tief im Herzen glauben, dass es möglich war, dass die Priteni schließlich über die gälische Heimsuchung triumphieren könnten, die das Land im Westen seit drei Generationen geißelte. Er musste glauben, dass sie die wachsende Gefahr durch die neue Religion bannen konnten. Es würde einen hohen Preis an Menschenleben kosten. Bridei betete, dass er nicht zu hoch sein würde. Er seufzte und dachte wieder an Ana und die grausame Notwendigkeit, sie wegzuschicken. Er hoffte, dass man sie in ihrem neuen Zuhause willkommen hieß und ihr Mann sich über seine reizende junge Frau freute. Er wollte lieber nicht an die Tatsache denken, dass er nach dem Krieg eine neue Geisel brauchen würde, um sie zu ersetzen. Er lag still da, während draußen die Sonne aufging und die Geräusche der Vögel von vereinzelten Rufen über geschäftiges Zwitschern zu einem lauten Begrüßungschor anschwollen. Er dachte an Derelei: an den wunderbaren Morgen seiner Geburt, seinen ersten leisen Schrei, seine winzigen klam- 192 mernden Hände und die strahlenden Augen. Das feuchte, dunkle Haar. Die Zerbrechlichkeit des kleinen Schädels darunter. Tualas Lächeln erschöpften Triumphs und seine eigenen Tränen. Er konnte das warme Gewicht seines Sohns in seinen Armen spüren, er konnte die Süße von Dereleis Atem riechen und hörte die
kleinen schnüffelnden Geräusche, die sein Sohn nachts von sich gab. Er erinnerte sich an Dereleis erstauntes Keuchen, als er sich zum ersten Mal selbst umgedreht hatte, an sein großäugiges Staunen, als Bridei ihn nach draußen getragen hatte, damit er dort den Vollmond sehen konnte, und an seine stolpernden, tapferen Versuche zu laufen. Er sah sein Gesicht vor sich, wenn er schlief, die kleine Gestalt zusammengerollt auf Tualas Schoß. Sein Körper geschüttelt von Fieber, die Wangen hektisch gerötet, die Stimme heiser wie der Schrei einer Krähe. So klein auf seinem Strohsack, so winzig klein ... Als es draußen hell wurde, stand Bridei auf und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. Breth erwachte wie stets sofort und holte die gute Kleidung, die der König brauchen würde, zusammen mit ein wenig Brot, getrocknetem Obst und einem Kräuteraufguss, den Broichan alle Leibwächter des Königs zu brauen gelehrt hatte. Bridei hatte keinen Appetit, aber er aß und trank dennoch, denn er wusste, dass Breth wartend neben ihm sein würde, bis sein König tat, was von ihm erwartet wurde. »Er könnte durchkommen«, sagte Breth schließlich leise. »Garths Jungen haben es geschafft.« Bridei sagte nichts. Garths Jungen waren groß und kräftig für ihr Alter, stark und robust. Und selbst sie waren dem Tod sehr nahe gewesen. »Glaubst du, du wirst schaffen, was du heute früh zu tun hast?« Wenn sie mit ihm allein waren, vergaßen Brideis Leibwächter die förmlichen Floskeln. »Ich muss es tun.« Das Brot schmeckte nach Asche, und das Getränk war bitter in seinem Mund. - 193 »Wenn wir uns danach schnell auf den Weg machen«, sagte Breth, »könnten wir es bis zum Abend nach Hause schaffen.« Bridei gelang ein Lächeln. Er steckte den Rest seines Brots Ban zu, der unter dem Tisch saß. »Wir werden sehen«, sagte er. »Also komm, ich nehme an, sie warten schon auf mich.« In diesem Augenblick erschien Carnach in der Tür, gekleidet, wie es bei einem solchen Ereignis erwartet wurde: Er trug eine Tunika aus schöner, dunkler Wolle mit einem silberbeschlagenen Ledergürtel, darunter ein Hemd aus weißem, gut geglättetem Leinen, eine Wollhose und frisch gewichste Stiefel. Die Tunika hatte eine bestickte Bordüre, schwarz auf rot, ein Muster aus winzigen Kriegern auf dem Pferderücken, und die ovale Brosche, mit der der Fürst seinen kurzen Umhang zusammengesteckt hatte, zeigte einen sich aufbäumenden Hengst in Silber. Der Umhang war dunkelblau eingefärbt, die Farbe seiner Familie. Wie Bridei stammte auch Carnach aus der königlichen Linie von Fortriu. Carnachs rotes Haar war ordentlich zu einem Zopf geflochten, und sein Gesicht schmückte ein beeindruckendes Muster von Tätowierungen, denn er hatte Brideis Leute und seine eigenen Männer in all diesen Jahren, in denen er der oberste Heerführer des Königs gewesen war, in zahlreichen Scharmützeln gegen seine Feinde geführt, sowohl gegen Galen als auch gegen unruhige nähere Nachbarn. »Die Männer sind versammelt, Herr«, sagte Carnach auf die förmliche Weise, die ein solcher Anlass erforderte. »Sie sind ein wenig bedrückt, seit wir gehört haben, dass eine Gruppe von Fokels Männern im Norden in einen Hinterhalt geraten ist und neun Krieger umgekommen sind. Einige hatten Freunde unter den Getöteten. Dein Besuch wird ihnen neuen Mut geben.« Bridei nickte, und Breth half ihm, seinen Umhang mit der silbernen Adlerschließe zusammenzustecken, die der alte - 194 König ihm vor Jahren in Anerkennung seines Muts gegeben hatte. Er fragte sich, wie er nun anderen Männern neuen Mut geben sollte, wenn sein Herz so zerrissen und voller Schmerz war. Wie konnte er nach draußen gehen und die Männer im Namen von Fortriu zusammenrufen, wenn er sie in Wahrheit bat, für ihn zu sterben? Er schloss die Augen. »Also, komm«, sagte Breth leise. »Je früher du anfängst, desto eher können wir uns wieder auf den Heimweg machen.« Ban saß auf Brideis Fuß. Als der König sich vorbeugte, blickten besorgte Augen zu ihm auf, und die kleine Zunge leckte seine Finger. »Es tut mir Leid, von deinem Sohn zu hören, Bridei«, sagte Carnach in anderem Tonfall. »Man hat mir heute früh erzählt, wie krank er ist. Eine schreckliche Sache.« »Ja.« Mehr brachte Bridei im Augenblick nicht heraus. »Wir sollten lieber gehen. Sie warten auf dich.« »Ja.« »Männer von Fortriu!« Die Stimme des Königs hallte kräftig und klar über einen Hof, in dem Krieger dicht gedrängt Schulter an Schulter standen. Auch überall auf dem Wehrgang und der obersten Ebene der Festung warteten weitere Männer schweigend und schauten zu dem Steinpodium, auf dem Bridei mit ihren Anführern stand, ein gut aussehender junger Mann in schlichter, guter Kleidung. Er war ein Krieger unter Kriegern, der auf seinem jungen Gesicht ebenfalls Kriegszeichen trug, vor allem die Zeichen der ersten großen Schlacht bei Galanys Höhe, wo sein Erfolg Stoff für eine ganze Anzahl epischer Gedichte und bewegender Lieder geliefert hatte. Er war ihr König, aber er war auch einer von ihnen, und das gefiel den Männern. »Ich stehe hier heute vor euch, um euch zu bitten, euch auf das größte Unternehmen eures Lebens vorzubereiten. Ich grüße euch - 195 als euer Anführer und euer Bruder. Wir sind alle Söhne dieses schönen Landes, geboren aus seiner Erde,
aufgewachsen in seiner klaren Luft, genährt von dem süßen Wasser seiner vielen Quellen und inspiriert vom lebenden Feuer des Flammenhüters, dessen Licht im Herzen jedes mutigen Mannes strahlt. Der Gott schaut voller Liebe und Stolz auf euch herab, meine Brüder. Ich sehe seine Kraft in euren Augen; ich sehe seine Stetigkeit in eurer Haltung; ich sehe seine Tapferkeit in euren Herzen. Bald schon werden wir zu einem Unternehmen aufbrechen, das uns bis an die Grenzen belasten wird. Der schleichende Parasit Dalriada breitet sich nun schon zu lange in unserem Land aus.« Ein paar zustimmende Pfiffe erklangen. »Zu viele unserer Besten sind im Kampf gegen diesen Feind gefallen, zu viele tapfere Männer wurden getötet.« Ban stand sehr still zu Brideis Füßen, den Schwanz starr in die Luft gereckt, den Blick auf die Menge gerichtet. »Es ist Zeit, ihnen ein letztes Mal entgegenzutreten, ihnen zu sagen >Nie wieder<. Es ist Zeit, diese Eindringlinge ein und für alle Mal aus unserer Heimat zu vertreiben. Männer, unser größter Kampf und unser größter Sieg stehen bevor.« Rufe hallten im Hof wider; Füße stampften, Hände klatschten, Stimmen erhoben sich zustimmend. »Ich habe vollstes Vertrauen in jeden Einzelnen von euch«, fuhr Bridei fort, »und zu euren Anführern. Carnach wird dafür sorgen, dass ihr hier in jeder Hinsicht vorbereitet werdet, um diesen Kampf vor die Tür des Feinds und darüber hinaus zu tragen; er wird an eurer Seite stehen, solange noch Atem in seinem Körper ist. Ihr könnt sicher sein: Weder er noch ich noch ein anderer Fürst von Fortriu wird zulassen, dass nach der nächsten HerbstTagundnachtgleiche noch Galen in unserem Land sind. Der Westen wird wieder uns gehören, und die Banner unserer großen Häuser werden wieder über den Territorien wehen, die von unseren Feinden geplündert wurden. Wir werden sie im Wind flattern sehen: die Farben - 196 von Langwasser und Rabenbrunn, Dornenband und Abertornie, der Stern und die Schlange der alten Festung von Galany und das tapfere Weiß und Blau der Könige von Fortriu. Gabhran von Dalriada wird vor mir knien und seinen Anspruch auf die Territorien, die er sich genommen hat, aufgeben. Er wird dieses Land für immer verlassen.« »Das ist zu gut für ihn!«, rief jemand, und zahlreiche zustimmende Stimmen erklangen. »Das mag sein«, sagte Bridei. »Aber ich werde nicht zulassen, dass jemand sagt, es fehle den Männern von Fortriu an Großmut gegenüber ihren Feinden, dass sie einen Feind, der sich bereits ergeben hat und hilflos ist, kaltblütig niedermetzeln. Alle, die uns auf dem Feld entgegentreten, müssen mit dem Tod rechnen. Zweifelt nicht daran, Krieger von Fortriu. Wir marschieren in den Krieg mit den Namen unserer getöteten Väter, unser verlorenen Brüder, unser verstümmelten Kameraden auf den Lippen, einem Lied von Blut und Sieg. Wir reiten mit den Stimmen unserer alten Götter in den Herzen, singen die große Geschichte der Priteni. Und wenn wir sterben, sterben wir voller Mut, Treue und Liebe, denn wir sind die Verkörperung des Flammenhüters, und jeder von uns, jung oder alt, ergrauter Veteran mit vielen Narben oder klaräugiger Junge, der gerade erst gelernt hat, mit den Waffen umzugehen, ist der Sohn des Gottes.« Lauter Jubel erklang. Ein paar Männer schlugen ihren Freunden auf die Schultern, und mehr als nur ein paar wischten sich die Augen. »Ihr habt schwer gearbeitet«, fuhr Bridei nun leiser fort, sodass die Menge gezwungen war zu schweigen, um ihn hören zu können. »Von euren Anführern höre ich über euer Verhalten in diesem Lager und an euren anderen Sammelplätzen nur Gutes. Ihr seid ein guter Haufen, vereint in Freundschaft, in Wettbewerb, in dem Willen, euch hervorzutun und bei der großen Mission, die uns bevorsteht, Er- 197 folg zu haben. Dafür danke ich euch aus ganzem Herzen. Und ich sage euch, für jeden geschickten Schwertkämpfer, jeden tapferen Speerkämpfer, für jeden scharfäugigen Bogenschützen gibt es einen Ehemann mit einer jungen Frau, die er zurückgelassen hat, einen Vater mit heranwachsenden Kindern, einen Mann mit einem Gerstenfeld und einem Fischerboot, um die er sich kümmern muss. Diese Dinge sind echt, sie sind unser Leben, Männer, sind mehr Teil von uns, als jeder berauschende Ruf zum Krieg jemals sein könnte. Im Augenblick jedoch müsst ihr sie beiseite schieben. Schiebt sie in euren Herzen beiseite; sie werden auf euch warten, wenn es vorbei ist. Ich bitte euch um eine Jahreszeit, eine Jahreszeit des Heldentums, des Kampfes und des Blutes. Einige von uns werden sterben. Ihr werdet sehen, wie euer Kamerad neben euch niedergestreckt, euer Waffenbruder von einem gälischen Speer aufgespießt wird, wie euer Freund seit der Kindheit in euren Armen röchelt und um ein schnelles Ende bittet. Männer, wir sind Krieger. Wir sind die treue Armee des Flammenhüters, und unser Mut wird uns nicht verlassen. Wir werden die Augen unserer Gefallenen schließen und sie zur Ruhe betten, und dann werden wir weiter vorwärts stürmen, die Waffen in der Hand, und auf den Lippen den Ruf unserer Ahnen: Fortriu!« Der König stieß die Faust in die Luft, und ein Wald von Armen erhob sich vor ihm. Der Ruf von tausend Stimmen stieg wie der Schrei des Gottes selbst in die klare Frühlingsluft auf: »Fortriu!« Es zeigte sich schon bald, dass ein rascher Abschied aus Caer Pridne und ein schneller Ritt zum Weißen Hügel nicht möglich sein würden. Männer drängten sich um das Podest, Ban begann hektisch zu bellen, und Breth drängte sich vor und schob sich zwischen Bridei und jene, die ihm nahe kommen wollten. »Lass sie durch«, sagte Bridei. »Sie wollen mit mir spre- 198 chen, das ist alles.« Er stieg in die Menge hinab, schüttelte hier eine Hand, berührte dort eine Schulter, bewunderte eine schöne Waffe, erinnerte sich an eine geteilte Mahlzeit, hörte von einer Heirat, einem guten
Kampf oder einem lahmen Pferd und zeigte das Interesse und die Aufmerksamkeit, die die Männer brauchten. Breth tat sein Bestes, um einen gewissen Bereich um den König frei zu halten; Ban knurrte Knie an und schnappte nach Knöcheln. Bis die Männer in Caer Pridne zufrieden waren und begannen, den Hof zu verlassen, hatte die Sonne ihren Höchststand längst hinter sich. Es blieb nicht mehr genug Zeit, noch vor Einbruch der Nacht nach Hause zu reiten, nicht einmal mit den besten Pferden in ganz Fortriu. »Vielleicht ist es besser so«, murmelte Breth, als sie mit Carnach nach drinnen gingen. »Zumindest kannst du ein wenig schlafen.« Bridei nickte. Er konnte nicht aussprechen, was ihn bedrückte. So dumm es klingt, es kommt mir so vor, als würde er für immer davongleiten, wenn ich meine Augen auch nur für einen Augenblick schließe. »Mir passt es besser, wenn du erst morgen gehst«, sagte Carnach. »Ich möchte mit dir ein paar Ideen besprechen, ein paar neue Taktiken, an denen ich gearbeitet habe. Und die Männer haben gehofft, dass du sie später beim Drill beobachtest; sie haben eine kleine Vorführung für dich geplant ...« Während Bridei einsam am Brunnen der Schatten Wache gehalten hatte, waren auch andere die Nacht über wach geblieben. In den Gemächern des Königs am Weißen Hügel hatten Broichan und Tuala an Dereleis Bett gesessen und hatten aufmerksam nach der geringsten Veränderung im Zustand des Kindes Ausschau gehalten. Aber die einzige Veränderung war die in den Mustern auf den Steinwänden, Bilder von Licht und Schatten, heraufbeschworen vom Fla- 199 ckern des Feuers und den vom Durchzug bewegten Kerzenflammen. Zwei- oder dreimal brachte jemand Essen und Getränke herein, und Broichan und Tuala überredeten sich gegenseitig zu essen. Einmal schlief Tuala ein und erwachte auf dem Boden am Bett sitzend, den Kopf gegen die Strohmatratze gelehnt, der Hals steif und schmerzend. Broichan hatte kein Auge zugetan. Er stand, saß oder kniete stets so, dass er Derelei im Auge behalten konnte, und manchmal betete er oder erzählte Geschichten, die Art von Geschichten, die ein kleines Kind mochte. Aber die meiste Zeit verharrte der Druide reglos auf eine Art, die über die Fähigkeiten normaler Menschen hinauszugehen schien. Er betete lautlos. Tuala spürte die Kraft dieser Gebete. Es gab Fragen, die sie hätte stellen können. Wie konnte ein kleines Kind überleben, wenn es einen Tag und eine Nacht nicht einmal Milch zu sich nahm? Die Schmerzen in ihren Brüsten sagten ihr, wie hungrig ihr Sohn sein musste. Warum deckte Broichan Derelei nicht zu, Fieber oder nicht? Mit der Nacht war es kühl im Raum geworden. Sollten sie ihn nicht mit feuchten Tüchern kühlen, ihn wiegen, ihn halten? Würde ihr Sohn nicht ohne diese tröstlichen Berührungen seinen Weg auf der dunklen Straße, der er folgte, verlieren? Wenn dann die Knochenmutter winkte, würde dieser kleine Reisende vielleicht mit ausgestreckten Armen auf sie zustolpern. Tuala fragte nicht. Fragen hätte nicht nur bedeutet, an Broichan selbst zu zweifeln, sondern auch an den Göttern, denen er vertraute. Schließlich wurde es wieder hell, das Morgengrauen sichtbar durch das Rauchloch über der Feuerstelle, und mit dem Morgen kam Mara, ein Becken mit warmem Wasser in der Hand und ein sauberes Tuch über dem Arm. Sie sagte nichts, sondern stellte einfach alles am Feuer ab und kam zum Bett, um sich das Kind anzusehen. Broichan und Tuala standen zu beiden Seiten des Betts, den Blick auf Dereleis geschlossene Lider, seinen Rosenknospenmund, die - 200 kleinen ausgestreckten Arme gerichtet. Mara streckte den Arm an Tuala vorbei und legte die raue, gerötete Hand auf die Stirn des Jungen, und Broichan tat nichts, um sie aufzuhalten. »Das Fieber ist gebrochen.« Maras Stimme klang erstaunlich fest. »Er wird sehr hungrig sein, wenn er aufwacht. Dagegen wirst du zweifellos nichts haben; es kann sehr wehtun, sie abzustillen. Ich habe es bei Brenna gesehen, als du selbst ein so winziges Ding warst.« Broichan atmete in einem langen Seufzer aus und wandte sich abrupt ab. Was immer sich auf seinem Gesicht zeigte, er wollte nicht, dass Tuala es sah. Sie schaute wieder ihren Sohn an, sah seine Lider flattern, seine Arme sich bewegen, sah die winzigen Hände, die sich zu Fäusten schlössen und wieder öffneten. Er wand sich, bewegte die Beine, und die Linie aus farbigem Pulver, das Broichan um ihn herum gestreut hatte, brach. Die Blüten fielen von seinen Lidern, und statt ihres zarten Blaus zeigte sich nun eine noch schönere Farbe, die der Augen des Kindes, noch ein wenig verschlafen, aber klar und hell. Derelei streckte die Arme nach seiner Mutter aus, und als er anfing zu weinen, hob sie ihn hoch. Bis sie ihn zu der Bank am Feuer gebracht hatte, ihr Mieder gelöst und das hungrige Kind an die Brust gelegt hatte, war Broichan bereits verschwunden. Er hatte sich lebhafte Schaukämpfe mit Stäben angesehen, einen Bogenschützenwettbewerb und eine Demonstration der Reitkunst. Er hatte Ställe, Waffenkammern und Schmieden inspiziert und alle gelobt, die dort arbeiteten. Er hatte zusammen mit Carnach und seinen Hauptleuten gegessen und einer Gruppe von Kriegern gelauscht, die eine Begabung zum Singen hatten. Nun war der lange Tag vorüber, und die Leuchtende hing sicheldünn im schattigen Feld des Nachthimmels. Bridei stand auf dem Wehrgang vor seinem Quartier, dem gleichen Quartier, das er bei jenem bedeut- 201 samen Besuch vor seiner Wahl zum König mit seinen Wachen geteilt hatte. Erinnerungen erfüllten diesen Ort, und der Schatten seines Pflegevaters Broichan war hier besonders stark - Broichan, ohne den er nie König geworden wäre; Broichan, der es am Ende beinahe verhindert hätte. Broichan, das Nächste, was er an einem
Vater hatte; Broichan, der den jungen Mann, der so sehr sein Geschöpf war, nie wirklich verstanden hatte. Und Tuala ... Ihr Götter, er war erst einen Tag von zu Hause weg, und ihre Abwesenheit verursachte ihm bereits wilden Schmerz in der Brust. Wie hatte er sie allein lassen können, um mit all dem fertig zu werden? Derelei... »Herr.« Das war Carnachs Leibwächter Gwrad, der die Treppe von der oberen Ebene herunterkam. »Ein Bote. Vom Weißen Hügel.« In Brideis Bauch zog sich fest und kalt etwas zusammen, in Vorbereitung auf einen tödlichen Schlag. Er konnte kein Wort herausbringen. Hinter Gwrads untersetzter Gestalt stand ein zweiter Mann; es war einer der Krieger aus Pitnochie, Uven, der am Weißen Hügel geblieben war. Plötzlich stand Breth neben Bridei. Carnachs Wachen hielten Distanz. »Also sag es schon«, bat Breth mit seltsam gedämpfter Stimme. »Dein Sohn ...« Uven war atemlos. Bridei stand sehr still da, als das kalte Ding in ihm träge seine Tentakel zu seinem Herzen ausstreckte. »Um der Götter willen«, fauchte Breth, »spuck es aus, Mann!« »Herr, das Fieber deines Sohns ist gebrochen«, keuchte Uven. »Es geht ihm erheblich besser, und er sollte bald nieder gesund sein ...« Brideis Knie begannen plötzlich zu zittern. Ihm war schwindelig; er streckte die Hand aus, wollte sich an der Mauer stützen und spürte bereits Arme um seine Schultern. - 202 »Der Flammenhüter sei gepriesen«, sagte Breth leise, »das sind willkommene Nachrichten. Du solltest jetzt gehen und dich ausruhen, Uven, es muss ein anstrengender Ritt gewesen sein. Wenn du noch mehr zu sagen hast, kannst du vielleicht später zurückkommen und mit dem König sprechen.« Nachdem Gwrad den Boten weggebracht hatte, irgendwohin, wo es ein Feuer und etwas zu essen für ihn geben würde, nahm Breth Brideis Arm und wollte ihn nach drinnen führen. »Nein«, sagte Bridei. »Nein, ich werde eine Weile hier bleiben, unter dem Blick der Leuchtenden. Ich sollte beten ...« »Du magst ein König sein, aber du bist immer noch ein Mensch«, sagte Breth barsch. »Lass es raus. Lache, weine, schreie, was immer du willst. Ich bin der Einzige, der dich hier sieht. Ich habe selbst keine Söhne, aber ich kann mir vorstellen, wie es sich anfühlt.« »Es geht mir gut«, sagte Bridei und setzte sich plötzlich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Mauer, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Gut...« Ban stellte die Vorderpfoten auf die Schultern seines Herrn und versuchte, sein Gesicht zu lecken. »Ich war immer der Ansicht«, sagte der große, kräftige Leibwächter und ließ sich neben seinem Schutzbefohlenen nieder, »dass die Götter wissen, was in deinem Herzen vorgeht, ohne dass du es ihnen noch sagen musst. Und es würde mich nicht wundern, wenn das für dich noch mehr gilt als für andere.« - 203 KAPITEL SECHS Am Morgen nach Anas Ankunft, nicht lange, nachdem sie aufgestanden war, sich gewaschen und mit Ludhas Hilfe angekleidet hatte, erschien die Haushälterin an ihrer Tür. »Mein Herr wünscht, dass du mit ihm in seinen Gemächern frühstückst«, sagte Orna. »Selbstverständlich in Gegenwart deiner Zofe. Ludha, du begleitest deine Herrin und setzt dich still in eine Ecke. Nimm eine Näharbeit mit.« Es war eine durchaus vernünftige Bitte. Ana fragte sich, ob Alpin vorhatte, über einer Schale Haferbrei Brideis Bedingungen durchzugehen. Sie hoffte, dass das nicht der Fall war. Sie hatte schlecht geschlafen und kämpfte gegen Kopfschmerzen an. Alpins Gemach war geräumig, und es hatte zwei schmale Fenster wie das in ihrem Zimmer nebenan. Es gab ein großes Bett, dessen Decken immer noch auf einem unordentlichen Haufen lagen, und einen Eichentisch mit zwei langen Bänken. Hier war Platz für acht Personen, die sich miteinander beraten oder einfach etwas essen konnten. In einer Feuerstelle brannte ein Feuer; es gab Wandbehänge mit Kampf- und Jagdszenen, deren Farben lebhaft im Licht von Öllampen auf zwei massiven Eichentruhen leuchteten. Neben der Feuerstelle befand sich eine kleine Tür, von der Ana annahm, dass sie zu einer Latrine oder einem Vorratsraum führte. Sie war erleichtert zu sehen, dass Alpin bereits - 205 vollständig angekleidet war; er stand am Tisch und sprach mit zwei anderen Männern. Sie schwiegen, als sie hereinkam. »Ah, Ana, meine Liebe! Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das Zimmer ist sehr angenehm. Ich bin nach der Reise immer noch nicht ganz ich selbst, aber das liegt nicht an deiner Gastfreundschaft.« Alpin lachte laut, was ihre Kopfschmerzen nicht besser machte. »Deine Manieren sind wirklich makellos«, sagte er. »Mordec, Erdig, ihr habe eure Befehle. Wir treffen uns im Hof, wenn ich hier fertig bin. Haltet euch bereit, sofort aufzubrechen.« Nachdem die beiden Männer weg waren, führte Alpin Ana zum Tisch. »Setz dich, meine Liebe. Du bist noch müde. Ich hätte dich schlafen lassen sollen.« »Ich bin schon seit dem Morgengrauen wach.« Sie würde ihm nicht sagen, dass ein weiterer kleiner Vogel bei
Sonnenaufgang auf ihr Fenstersims gekommen war, ein Kreuzschnabel mit dunkelrotem Gefieder, der sie auf die gleiche dreiste, abschätzende Art angesehen hatte wie ihre anderen geflügelten Besucher. Sie hatte ihn wegfliegen sehen, hatte gesehen, dass er an der gleichen Stelle verschwunden war wie der andere Vogel, innerhalb der Mauer, auf der Nordseite der Festung. »Ich habe allerdings ein wenig Kopfschmerzen; vielleicht vergehen sie, wenn ich etwas esse.« Auf dem Tisch stand Haferbrei bereit, und dazu gab es gutes Brot und eine Schale mit Honig. Alpin löffelte mit ruhigen, geschickten Händen den Haferbrei in ihre Schale. »Versuch das hier«, sagte er mit einem Seitenblick. »Ich hoffe, es macht deine Wangen ein wenig rosiger. Ich dachte, ich sollte mich vielleicht entschuldigen.« »Oh?« »Ich sehe, dass du wirklich eine Dame und nicht an unsere Art gewöhnt bist. Es ist lange her, dass wir eine echte - 206 Dame hier hatten. Ich habe mich so daran gewöhnt, unter Männern zu leben, dass ich nicht mehr aufpasse, was ich sage.« In der Ecke hatte sich Ludha auf einen Hocker gesetzt und tat so, als stickte sie. Ana sah ihn fragend an. »Aber es gibt viele andere Frauen hier in Dornwald. Nicht nur Dienerinnen, sondern die Frauen deiner Krieger, von denen einige gestern Abend mit uns am Tisch gesessen haben. Und was ist mit deinen Verwandten?« Alpin ließ sich mit der Antwort Zeit; er stürzte sich mit mürrischer Miene auf seinen Haferbrei. »Ich habe nur eine Schwester«, sagte er schließlich, »und sie hat einen Fürsten weit oben im Norden geheiratet; ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Was die Ehefrauen angeht, so haben wir uns eine bestimmte Art einfach angewöhnt, und sie haben es ertragen. Sie sind nicht wie du. Du bist ein Edelstein, ein Stern, etwas so Seltenes wie feine Seide.« Er legte seine Hand auf ihre, die auf dem Tisch lag, und Ana widerstand der Versuchung, die Finger wegzuziehen. »Ja, ich bin an schöne Worte gewöhnt«, sagte sie, »aber ich kenne mich auch gut genug damit aus, um einschätzen zu können, ob die Männer, die sie sprechen, sie auch ernst meinen. Du kennst mich nicht, Alpin. Fühle dich nicht verpflichtet, solche Dinge zu sagen, nur weil du denkst, dass sie mich erfreuen werden.« Alpin verzog das Gesicht und zog die Hand zurück. »Du vergisst«, sagte er, »diese geringfügige Angelegenheit mit der Heirat.« »Einer möglichen Heirat. Es gibt noch einige Einzelheiten zu besprechen, bevor wir genau wissen, ob diese Heirat überhaupt stattfinden wird.« »Oh, sie wird schon stattfinden.« Alpin riss ein Stück Brot ab und benutzte sein Messer, um Honig darauf zu schmieren. »Aber ich fürchte, ich bedränge dich zu sehr. Ich ver- 207 gesse wieder einmal, was für eine Prinzessin du bist. Du hast noch nie bei einem Mann gelegen, oder?« Ana spürte eine Flut von Hitze in ihrem Gesicht. Sie war sprachlos vor Scham. In ihrer Ecke stieß Ludha ein leises, schockiertes Keuchen aus. »Ja, ich sehe, du bist noch Jungfrau«, sagte Alpin zufrieden. »Das gibt dir bei den Verhandlungen größeres Gewicht; daran hattest du wahrscheinlich nicht gedacht. Du errötest leicht, wie?« Er hob die Hand und legte sie an ihre Wange. Sie schloss die Augen und erstarrte wie ein Tier, das versucht, der Aufmerksamkeit eines Raubtiers zu entgehen. Ihr Herz schlug laut. Alpins Finger bewegten sich über ihre weiße Haut und streichelten sie. »Das gefällt mir«, murmelte er. »Du hast bei all deiner guten Erziehung auch Leidenschaft in dir. Es ist nicht nötig, dich vor der Ehe zu fürchten. Du bist alt genug, um bei einem Mann zu liegen, alt genug, um dabei großes Vergnügen zu empfinden. Hast du Angst vor mir?« Das war schwer zu beantworten. Es war keine Angst, die sie bei seiner Berührung empfand, sondern Abscheu. Und das konnte sie ihm ja wohl kaum sagen. »Nach allem, was wir auf unserer Reise durchgemacht haben«, sagte sie, »bin ich nicht sicher, ob ich im Augenblick noch etwas empfinden kann. Aber bin ich als Braut hergekommen; es wäre töricht, jetzt Bedenken zu haben. Ich werde allerdings ein wenig Zeit brauchen, um mich in Dornwald einzugewöhnen. Und um ehrlich zu sein, finde ich solch offene Gespräche über derart... intime Angelegenheiten ... nicht recht. Es ist ein wenig früh dafür.« Ihr Götter, sie hoffte, Ludha neigte nicht zum Klatsch; dieses Gespräch würde in den Dienstbotenquartieren den besten Gesprächsstoff abgeben. »Es ist lange her, seit meine erste Frau starb«, sagte Alpin, nahm die Hand von ihrem Gesicht und frühstückte weiter. »Ich mag eine Frau in meinem Bett; ich wache nicht gern - 208 allein auf. Vielleicht bin ich im Lauf der Jahre ein wenig ungehobelt geworden.« Er grinste bedauernd; es ließ ihn aussehen wie einen Jungen, der bei einem Streich erwischt wurde. Einen Augenblick lang wirkte er beinahe liebenswert. »Da du keine junge Braut von zwölf oder dreizehn mehr bist, denke ich, dass wir schneller vorankommen können. Wenn es nach mir ginge, würden wir uns noch heute offiziell die Hände reichen. Ich bin ungeduldig. Nun, nachdem du gewaschen und anständig gekleidet bist, sieht man, dass du ein hübsches Mädchen bist. Und ich mag die Art, wie du mich so kühl abtust, als wärst du die Königin und ich nur ein Küchenjunge.
Solange du verstehst, wer wirklich der Herr hier in Dornwald ist.« Ana räusperte sich und versuchte, die richtigen Worte in einem Strudel von Emotionen zu finden, von denen die heftigste Zorn zu sein schien. »Ich habe Neuigkeiten, die dich freuen werden«, fuhr Alpin fort. »Der Angriff auf dich und deine Leute an der Furt hat mich beleidigt. Diejenigen, die dafür verantwortlich waren, werden dafür zahlen. Ich werde heute früh zu einem Vergeltungsschlag aufbrechen; fünf oder sechs Tage, länger sollte es nicht dauern. Das macht dich doch sicher froh.« »Ich ...« Ana suchte nach Worten. »Ihr seid kriegerische Nachbarn hier im Land der Caitt«, stellte sie schließlich fest. »Ich bin für rasche Entscheidungen und schnelle Gerechtigkeit. Das hier tue ich für dich, für die Verluste und Entbehrungen, die du ertragen musstest. Nimm es als Zeichen meiner ehrlichen Wertschätzung, hübsche Worte oder nicht. Ich schätze dich. Ich will dich haben. Schlichter und weniger hübsch als das geht es nicht.« Ana konnte ihn nicht ansehen. »Ich bin nicht daran gewöhnt, dass Brautgeschenke in Menschenblut gezahlt werden«, brachte sie schließlich heraus. »Hier im Norden«, sagte Alpin, »sind wir echte Männer.« Der Appetit war ihr vergangen. Sie nippte an ihrem Met - 209 und versuchte, nicht zu weit voraus zu denken. Wenn Alpin und viele seiner Männer aus dem Haus waren, würde sie sicher allein mit Faolan sprechen können. Er konnte sie beraten; sie konnte sich dafür entschuldigen, dass sie auf so dumme Weise gelogen hatte, um ihn zu beschützen. Wenn der Fürst von Dornwald weg war, würde Faolan besser herausfinden können, was er wissen musste. »Oh, und übrigens«, sagte Alpin und wischte sich den Mund mit dem Handrücken, »werde ich deinen Barden mitnehmen, wie heißt er noch, Finian? Das könnte sehr nützlich für ihn sein.« Ana versuchte zu verbergen, wie beunruhigt sie war. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte sie eilig. »Faolan hat sich tapfer gehalten, als ihr uns im Wald begegnet seid. Aber er ist kein Krieger. Er würde dir nur im Weg sein...« »Das werde ich selbst beurteilen.« Alpin stand auf und streckte die Hand auf, um ihr aufzuhelfen. »Danke, meine Liebe, das hat mir gefallen. Du errötest wunderschön. Mach es dir gemütlich, solange ich weg bin. Sieh dich überall um, entscheide, was du ändern möchtest, lerne die Leute hier kennen. Orna ist sehr fähig; sie wird dir alles besorgen, was du brauchst.« »Aber ...« Ein letztes Flehen drängte auf ihre Lippen. »Wir werden sofort aufbrechen«, sagte Alpin. »Es wäre mir lieb, wenn du in den Hof kämst, um uns zu verabschieden. Und sorge dafür, dass dein Abschiedskuss deinem Verlobten gilt und nicht diesem Barden. Du scheinst dich viel zu sehr an diesen Kerl zu klammern.« »Ach, so ist es wirklich nicht...« Ana stand auf. Warum entschuldigte sie sich vor diesem Rüpel? »Ich bin froh, das zu hören. Dann achte darauf, dass dein Verhalten vor meinem Haushalt das widerspiegelt, und wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« - 210 Ana stand auf der Treppe, als die Männer sich verabschiedeten, und als Alpin sich zu ihr beugte, drückte sie ihm einen züchtigen Kuss auf die Wange. Alpin schien ihre Anstrengung sehr amüsant zu finden, und nach dem allgemeinen Grinsen und Zwinkern zu schließen, ging es dem Rest des Haushalts nicht anders. Ana strengte sich sehr an, Faolan nicht öfter anzusehen als angemessen war. Er saß auf dem Pferd, das sie ihm zugewiesen hatten, und sein Blick verriet nichts. Er schien überhaupt keine Waffen bei sich zu haben. Zwischen den schwer bewaffneten Caitt-Kriegern mit ihren wilden Locken, borstigen Barten und Tätowierungen sah er aus wie ein Schaf unter Wölfen. Als die Männer noch einmal den Hof umkreisten, bevor sie mit Faolan in ihrer Mitte durch das große Tor ritten, kam es Ana so vor, als sähe ihr Barde eher wie ein Gefangener mit bewaffneter Eskorte aus als wie ein Besucher in königlichem Auftrag. Dennoch nahm sie an, wenn überhaupt irgendjemand auf sich aufpassen konnte, dann war es Faolan. Und in seiner Abwesenheit hatte sie zu tun. Da man ihm die Gelegenheit genommen hatte, würde sie sich selbst als Spionin versuchen. »Orna«, sagte Ana beiläufig, »wohin führt diese kleine Tür neben der Feuerstelle in Alpins Kammer?« Es war Brauch bei den Frauen von Dornwald, die Nachmittage in einem lang gezogenen Raum zu verbringen, in dem sie nähten und spönnen. Dieser Arbeitsraum war ein frei stehendes Gebäude an einem geschützten Hof, in dem man Steinbänke aufgestellt hatte, damit die Frauen die kühle Sonne hier im Norden genießen konnten. Der Hof draußen war nicht mit dem gepflegten Garten am Weißen Hügel zu vergleichen; hier wuchs nicht viel mehr als schlaffes Gras, das sich zwischen Pflastersteinen hervorkämpfte, und in einem kleinen Fleck Erde gab es einen traurig aussehenden Birnbaum. Auf einer Seite erhob sich die hohe Außen- 211 mauer der Festung. Eine kleinere Mauer, immer noch zu hoch, um darüber hinwegschauen zu können, zog sich von dort zur Steinwand des Nähraums. Ana fand die Atmosphäre im Arbeitsraum entmutigend. Diese Frauen schlössen nicht schnell Freundschaften, und das machte es schwer, irgendetwas Nützliches zu erfahren. Es war der dritte Tag nach Alpins Aufbruch, und sie hatte herausgefunden, dass innerhalb der Festung bestimmte Wege bewacht waren und bestimmte Türen
verschlossen blieben. Sie war sehr früh am Morgen, bevor der Haushalt sich rührte, in Alpins Gemach geschlichen und hatte die kleine Tür ausprobiert, aber ohne einen Schlüssel ließ sie sich nicht öffnen. Das erweckte ihre Neugier. Der Ort, an dem die Vögel verschwunden waren, befand sich irgendwo hinter dem Familienbereich des Hauses, tiefer drunten. Die fragliche Tür schien in die gleiche Richtung zu führen. »Dort gibt es nichts, was dich interessieren könnte.« Ornas Lippen waren schmal, und sie hatte den Blick auf ihre Handarbeit gerichtet. »Nur ein paar Lagerräume und Schuppen; jedes Haus hat einen solchen Bereich.« »Wer hat den Schlüssel?«, fragte Ana. Ornas Finger hörten auf sich zu bewegen. »Alpin«, sagte sie. »Glaub mir, das ist kein Teil des Hauses, den du sehen möchtest.« Etwas im Schweigen der anderen Frauen sagte Ana, dass sie sich auf gefährlichem Boden befand. »Und es gibt dort zweifellos noch eine weitere Person«, sagte sie in ihrem königlichsten Tonfall. »Ich habe diesen untersetzten kahlen Mann in dem langen Gewand gesehen, wie er mit einem Tablett mit Essen in Alpins Gemach ging, obwohl Alpin weg ist. Das erscheint mir recht seltsam, so etwas in einen Schuppen zu bringen. Wie heißt der Mann?« »Deord, Herrin«, antwortete jemand. »Deord«, wiederholte Ana. »Vielleicht werde ich einmal mit ihm sprechen. Alpin möchte, dass ich alle im Haushalt - 212 kennen lerne. Orna, vielleicht würdest du veranlassen, dass dieser Deord mich aufsucht.« Es herrschte gespanntes Schweigen, und keine der Frauen wagte es, eine andere anzusehen. Alle Blicke waren auf Spindeln und Spinnrocken gerichtet, auf Nadel und Faden, auf Webtäfelchen oder zu kämmende Wolle, aber keine arbeitete wirklich. »Orna?«, fragte Ana leise. »Wohnt jemand in diesem Teil des Hauses?« »Du solltest am besten Alpin fragen, Herrin«, sagte Orna streng. »Er hat sicher vor, es dir irgendwann zu sagen.« »Mir was zu sagen?« »Du solltest es lieber von ihm hören. Er wird in ein paar Tagen wieder da sein; er hat bestimmt vor, mit dir darüber zu sprechen.« »Und in der Zwischenzeit spreche ich mit Deord.« »Ja, Herrin.« Aber einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Deord ist kein besonders gesprächiger Mann. Ich bezweifle, dass er dir helfen kann.« »Was ist er? Ein Krieger? Er bewegt sich wie ein Kämpfer.« »Ein Wächter, Herrin, ein besonderer Wächter.« »Was bewacht er?« »Er bewacht, was am besten bleibt, wo es ist, nicht zu sehen und weitab von allen Fragen.« Orna war jetzt beinahe zornig. »Es tut mir Leid, Herrin; manchmal ist es besser, nicht zu fragen. Aber ich wollte dir sagen, es gibt einen Ballen feiner Wolle, den wir gefunden haben, in sehr angenehmem Himmelblau. Die Farbe würde dir gut stehen. Ich denke, wir sollten Sorala hier bitten, dir eine Tunika und ein Hemd oder einen Rock zu machen, und Ludha kann sich um die Feinheiten kümmern. Was hältst du davon?« Wenn sie glaubten, dass sie sich so leicht ablenken ließe, hatten sie sich geirrt. »Das klingt ideal«, sagte Ana. »Ich danke euch; ihr seid alle sehr großzügig. Ich würde Deord gerne heute vor dem Mittagessen sehen, Orna. Könntest du - 213 dafür sorgen, dass er in Alpins Zimmer kommt? Ludha, ich brauche dich dort ebenfalls.« »Ich werde tun, was ich kann«, sagte Orna. »Deord hat seinen eigenen Stundenplan und folgt seinen eigenen Regeln. Es könnte sein, dass er zu diesem Zeitpunkt sehr beschäftigt ist.« »Versuche es bitte dennoch.« Zum vereinbarten Zeitpunkt wartete sie, aber Deord tauchte nicht auf. Als sie Orna später danach fragte, sagte die Haushälterin, sie habe ihn gebeten, aber er stehe heute nicht zur Verfügung. »Also morgen.« Ana war recht verärgert über den andauernden Mangel an Antworten. »Wenn er kann, Herrin.« »Das kommt mir seltsam vor.« Ana sah der Haushälterin direkt in die Augen. »Erhalten die Wachen hier keine Befehle von ihren Herren? Ist es unvernünftig, wenn ich als Alpins künftige Gemahlin erwarte, dass die Leute in Dornwald meinen Wünschen folgen? Er hat einen ganzen Tag Zeit, um sich darauf einzustellen.« »Herrin«, sagte Orna, »glaub mir, wir sind alle froh, dass du hier bist. Wir haben lange gehofft, dass Alpin wieder heiraten und anfangen würde, sein Leben in Ordnung zu bringen. Was Erisa zugestoßen ist, war ein schrecklicher Schlag. Du solltest dich unter uns nicht unbehaglich oder unwillkommen fühlen. Aber wir haben hier unsere eigene Art, und die ist vielleicht nicht immer so, wie du es von König Brideis Hof gewöhnt bist. Glaub mir, es gibt hinter dieser kleinen Tür nur ein paar staubige alte Schuppen, und alles andere, was du darüber wissen musst, oder über Deord, sollte unser Herr dir sagen. Ich bin sicher, dass er das tun wird.« »Also gut, Orna. Danke. Ich weiß, du versuchst zu helfen.« »Ja, Herrin.« - 214 -
Es war noch nicht dunkel. Die Tage wurden länger, und die hohen Wipfel der Ulmen mit ihren Krähennestern zeichneten sich vor dem kühlen, hellen Abendhimmel ab. Ana stand an ihrem Fenster, kämmte sich das Haar und beobachtete, wie die Waldvögel zu ihren Nestern zurückkehrten. Vielleicht zählte es wirklich nicht: die kleine Tür, die eifersüchtig bewachten Schlüssel, Deord und sein Essenstablett für zwei Personen. Es war wie etwas aus einer Geschichte, ein kleines Geheimnis, eine Einzelheit, die nicht recht stimmen wollte und an die man immer wieder denken musste. Ana würde den anderen tatsächlich dumm vorkommen, wenn sie weiterhin darauf bestand, durch diese Tür zu gehen und dahinter genau das fand, was Orna erwähnt hatte: staubige Lagerräume und vernachlässigte Schuppen. Und Alpin würde in ein paar Tagen wieder da sein. In den Geschichten fanden junge Frauen, die sich von ihrer Neugier überwältigen ließen, im Allgemeinen ein schnelles, unangenehmes Ende. Nein, das war albern. Sie sollte sich auf die Art von Informationen konzentrieren, die Faolan zurück zu Bridei bringen wollte, Beobachtungen über Männer, Bewaffnung und Stellungen, und sich nicht um das kümmern, was dieser Haushalt eindeutig geheim halten wollte. Dann flatterte etwas vor ihr auf dem Fensterbrett, keine zwei Handspannen entfernt, eine Krähe, sicherlich die gleiche, die ihnen an der Furt geholfen hatte und ihnen dann durch den Wald gefolgt war. Sie schien auf der Suche nach Nistmaterial zu sein, denn etwas Weiches, Helles hing in ihrem scharfen Schnabel. »Du bist also wieder da«, sagte Ana leise. »Du bist spät dran mit dem Nestbau; die anderen Krähen sind offenbar schon lange fertig. Und ich frage mich, was du hier willst? Was versucht ihr mir zu sagen, du und deine Freunde?« Der Vogel machte einen Sprung ins Zimmer und landete auf der Truhe nahe dem Fenster. Die ordentlichen grauen Federn auf dem Rücken ließen ihn bescheiden wirken; sei- 215 ne Augen waren durchdringend klar, und es kam Ana so vor, als hätten sie einen fragenden Ausdruck. »Ich habe keine Antworten für dich, selbst wenn ich wüsste, was du wolltest«, sagte sie. »Ich habe nur Fragen.« Die Krähe senkte den Kopf und legte ihre Last auf die Truhe vor ihre Füße, dann sah sie Ana wieder an. »Was hast du denn da?« Ana beugte sich näher heran; der klaräugige Blick wich nicht von ihr. Sie griff nach dem, was die Krähe im Schnabel gehalten hatte, und hielt es in das schwächer werdende Licht aus dem Fenster. Es waren Haare; Haare, wie sie sie auf keinem Kopf hier in Dornwald gesehen hatte, denn sie hatten eine ungewöhnlich helle rotbraune Farbe, waren wellig und dick und schimmerten im Licht. Die Strähne war lang und ringelte sich um ihre Finger. »Wessen Haar ist das?«, fragte Ana und wusste doch, dass es keine Antwort geben würde, nicht ehe sie sich auf den Weg machte, um eine zu finden. Die Krähe sah sie mit schief gelegtem Kopf an; sie wartete. Ana wurde klar, dass es nur eine Reaktion auf diese seltsame Herausforderung geben konnte. Sie riss sich selbst drei Haare aus, hellblond und doppelt so lang wie die, die der Vogel gebracht hatte, und legte sie über ihre Handfläche. Schnell wie ein Blitz griff die Krähe danach, flog auf und flatterte davon. Anas Handfläche brannte; der Vogel hatte einen scharfen Schnabel. In dieser Nacht waren ihre Träume voll dunkler Flure und lauernder Präsenzen, voller Schritte, Stufen, die abwärts ins Nichts führten, und Riegel, die nicht geöffnet werden konnten. Sie erwachte im Morgengrauen mit trockenem Mund und laut klopfendem Herzen. Sie beschloss, den Tag mit häuslichen Aufgaben zu verbringen und sich um nichts weiter zu kümmern. Als sie nach einem Morgen, an dem sie mit den vielen Handwerkern des Haushalts gesprochen hatte - Orna hatte sie jedem Einzelnen vorgestellt -, und einem Nachmittag - 216 mit Anproben für ihre neue Kleidung in ihr Zimmer zurückkehrte, wartete sehr zu ihrer Überraschung Deord im Flur vor Alpins Gemach. Ana hatte Ludha bereits weggeschickt und war allein. »Du wolltest mich sehen.« Deords Tonfall war ruhig; Ana hatte noch nie einen Mann gesehen, der so ruhig wirkte. Und dennoch machte er gleichzeitig einen gefährlichen Eindruck. Er war so kräftig gebaut wie ein Eber, sein Körper unter diesem weiten Gewand war muskulös und fest. »Ja.« Nun, da er hier war, wusste sie nicht genau, wo sie anfangen sollte. Ohne Ludhas Anwesenheit konnte sie kaum mit einem Mann allein in Alpins Gemach sprechen. Sie würde es hier im Flur tun müssen. »Ich wollte alle kennen lernen, die hier in Dornwald leben. Ich nehme an, du weißt, dass die Möglichkeit besteht, dass ich Alpin heirate. Du heißt Deord?« Er nickte ohne ein weiteres Wort. »Ich höre, du bist ein besonderer Wächter.« »Eher ein Hüter, Herrin.« Seine Augen waren hell, sein Blick gelassen, und seine Haltung erinnerte sie ein wenig an Faolan. Sie bewirkte, dass Ana sich ungeschickt und unhöflich vorkam. »Mir ist aufgefallen, dass dein Arbeitsplatz sich offenbar hinter der kleinen Tür in Alpins Privatgemach befindet. Stimmt das?« »Ja, Herrin.« Ana räusperte sich. »Orna sagt, hinter dieser Tür gebe es nur Lagerräume. Alte Schuppen. Ich frage mich, ob es vielleicht in diesen Schuppen auch Vögel gibt?« Die Spur eines Ausdrucks zuckte über die gut beherrschten Züge. »Das ist möglich, Herrin.« »Deine?« Deord lächelte. »Nein, Herrin.«
»Deord«, sagte Ana, »es ist offenbar sehr schwer, direkte Antworten auf meine Fragen über diese Tür und das, was - 217 sich dahinter befindet, zu erhalten. Bist du im Stande, mir diese Antworten zu geben?« Er sah sie ruhig an. »Wenn ich die Wahrheit nicht aussprechen kann«, sagte er, »schweige ich. Es gibt Schuppen. Es gibt auch Wohnquartiere, darunter das meine. Und meinen Arbeitsplatz. Alpin hat mich eingestellt, um für die Sicherheit zwischen diesem Teil des Hauses und den anderen zu sorgen, und ich leiste diese Arbeit nun seit sieben Jahren. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Wenn du mehr wissen willst, musst du mit deinem Mann sprechen.« Ana zuckte bei diesem Tonfall zusammen. »Das hat Orna auch gesagt. Und er ist nicht mein Mann.« »Noch nicht.« »Noch nicht, und vielleicht wird er es auch nicht sein. Es gibt bestimmte Bedingungen für diese Heirat.« Warum sagte sie ihm das, warum versuchte sie, sich vor einem Diener zu rechtfertigen? »Also gut, Deord, da du deutlich gemacht hast, dass du mir nicht mehr sagen wirst, darfst du gehen. Du musst dich sicher um ein Essenstablett kümmern.« »Ja, Herrin.« Er drehte sich um und ging. »Komm nach drinnen«, sagte Deord. »Du musst etwas essen. Ich habe Gerstenbrot und guten Käse. Komm schon, Drustan. Was hält dich da draußen?« Er hatte die schlichte Mahlzeit auf ihrem kleinen Tisch bereitgestellt. Ihre Wohnung bestand aus zwei Räumen, diesem Zimmer mit der Feuerstelle, einer Bank und einer Truhe, und einem weiteren Zimmer mit zwei Betten. Es war alles sehr schlicht, es gab keine Wandbehänge und nur eine einzelne Lampe. Auf dem Boden aus gestampfter Erde lagen Binsen. In einer kleinen Nische in der inneren Wand gab es eine Latrine, die tief in den Boden gegraben war, und daneben stand ein Eimer mit Asche und einer Schaufel. Deord hielt alles makel- 218 los sauber. Das war Teil seiner persönlichen Disziplin, schwer erlernt und nie vergessen. »Drustan!«, rief er abermals. »Die Suppe wird kalt.« Sein Schutzbefohlener erschien in der Tür, wobei er sich beinahe lautlos bewegte. Die Krähe saß auf einer seiner Schultern, der Kreuzschnabel auf der anderen. Der Zaunkönig hockte auf seinem Kopf, beinahe verborgen in dem wirren hellen Haar. Drustans Blick beunruhigte seinen Hüter sehr; in seinen Augen stand unterdrückte Erregung. »Was ist los?«, fragte Deord und sah Drustan forschend an. »Nichts«, erwiderte Drustan, steckte eine Hand in die Tasche und setzte sich an den Tisch. »Deord?« »Ja?« »Ich muss nach draußen. Heute Abend oder morgen. Es ist wie eine Flut, die in mir aufsteigt, ein Feuer, das sich ausbreitet. Es ist wie ein Schrei, der versucht, nach draußen zu gelangen. Wann können wir wieder nach draußen gehen?« Deord sah ihn ruhig an. »Du willst es immer mehr, das ist deutlich zu erkennen«, sagte er. »Aber heute Abend geht es nicht. Ich habe etwas gegen Spaziergänge im Dunkeln. Und der Mond nimmt ab. Man verliert sich im Wald zu leicht aus den Augen; du weißt, was passieren kann, wenn wir uns nicht an die Regeln halten. Morgen vielleicht, wenn das Wetter schön bleibt.« »Hast du sie gesehen?«, fragte Drustan. Er hatte ein Stück Käse zwischen den Fingern, aß aber nicht. Die Krähe bewegte sich langsam seinen Arm hinab. »Ich bringe dir nicht dieses gute Essen, nur um mit anzusehen, wie die Vögel es fressen«, sagte Deord. »Iss, Drustan. Du musst bei Kräften bleiben.« »Wozu?« Der Mund war plötzlich ernst, das Leuchten in den seltsamen Augen verschwunden. »Für die Zukunft. Eines Tages wird sich etwas ändern. Das hier ist nicht für immer.« - 219 »Alpin wird sich nicht ändern. Ich werde mich nicht ändern. Wie kann ich je etwas anderes sein als ein Gefangener?« Deord kaute auf einer Kruste Haferbrot. »Leben ist Veränderung«, sagte er. »Ja, ich habe sie und den Burschen, der mit ihr kam, gesehen. Die beiden bedeuten Ärger, sie mit ihrem goldenen Haar und ihren Fragen und er ...« »Und er?« Die Krähe hatte sich den Käse geschnappt und kehrte auf Drustans Schulter zurück, um ihn zu fressen. »Er ist von einer Art, wie ich sie hier in Dornwald nicht erwartet hätte«, sagte Deord. »Von welcher Art? Ein Zauberer? Ein Priester?« »Nein«, sagte Deord. »Er ist von der gleichen Art wie ich.« Drustan sah ihn schweigend an. Nach einiger Zeit begann er seine Suppe zu essen. »Was das bedeuten soll, weiß ich nicht«, sagte Deord. »Alpin ist mit ein paar Leuten unterwegs, um sich an den Blauen zu rächen, und hat ihn mitgenommen.« »Du hast sie gesehen«, sagte Drustan. »Geht es ihr jetzt besser? Ist sie glücklich? Du sprichst von Fragen. Welche Fragen?«
Deords Miene war fragend. »Komm schon, Drustan«, sagte er. »Bist du nicht besser in der Lage, das zu beantworten, mit all deinen Spionen hier? Sie waren in den letzten Tagen sehr beschäftigt.« »Sag es mir«, forderte Drustan. »Welche Fragen?« »Sie hat mich zu einem kurzen Gespräch zu sich gerufen. Es war nicht unvernünftig, denn immerhin wird sie deinen Bruder heiraten und dann Herrin von Dornwald sein. Sie hat mich nach Türen und Schlüsseln gefragt und wollte wissen, wer in diesem Teil der Festung lebt. Er hat es ihr offensichtlich noch nicht gesagt, und ich ebenfalls nicht. Oh, und sie hat sich auch ganz beiläufig nach Vögeln erkundigt.« Drustan lächelte. Es hellte seine Züge auf und verlieh seinen Augen ein deutliches Strahlen. - 220 »Drustan«, sagte Deord leise, »ich muss dich warnen. Halte dich heraus, lass dich nicht in diese Situation verwickeln. Alpin und diese Frau, die Heirat, der Vertrag, den sie abschließen wollen, dieser Bursche, der offensichtlich nicht der Barde ist, als der er sich ausgibt... für dich ist das gefährlicher Boden. Dein Bruder hat getan, worum du ihn gebeten hast. Er ist in den Wald geritten und hat das Mädchen gerettet. Sei froh darüber und halte dich von nun an heraus. Denke an sie, wenn dir das hilft. Sie ist jung und voller Hoffnung, und sie weiß nichts von dem, was hier in der Vergangenheit geschehen ist. Sie ist die beste Chance für eine anständige Zukunft, die dein Bruder hat. Gefährde das nicht durch deine Einmischung.« »Wie heißt sie?«, fragte Drustan leise. »Ana. Sie stammt von den Hellen Inseln, lebte aber lange an Brideis Hof. Makellose Abstammung, königliches Blut, und wie ich zugeben muss, nicht nur schön und offenbar tugendhaft, sondern auch klug. Ihr einziger Makel scheint in übermäßiger Neugier zu bestehen. Sobald Alpin ihr die Wahrheit gesagt hat, sollte das kein Problem mehr darstellen. Hoffen wir, dass er es bald tut.« »Ana ...« Drustans Finger spielten in der Tasche mit etwas herum, das die Krähe ihm am Abend zuvor gebracht hatte. »Also«, sagte Deord, »hoffen wir, dass es morgen gutes Wetter gibt. Und nun iss weiter, oder du wirst nicht einmal die Kraft haben, hinüber zu deinem Bett zu gehen, vom Wald gar nicht zu reden.« Alpins Trupp ritt nach Nordosten, und als sie den Fluss überquerten, taten sie das nicht an einer Furt, sondern über eine gefährliche Plankenbrücke, hoch über einer Stelle, wo das Wasser zwischen felsigen Ufern hindurchrauschte. Sie verbanden den Pferden die Augen und führten eins nach dem anderen hinüber. Es schien der ideale Platz für einen - 221 Überraschungsangriff zu sein, aber Faolan sagte nichts dazu. Er hielt die Ohren offen und den Mund geschlossen. Sie ritten rasch weiter. Beim dritten Sonnenaufgang nahm Faolan an, dass ein Kampf mit den Blauen kurz bevorstand. Alpins Männer sprachen nicht viel, aber in ihren Augen stand ein Blick, den Faolan erkannte: Diese Jäger hatten Blut gewittert. Niemand bot ihm eine Waffe an, mit der er sich verteidigen konnte, und er bat auch nicht darum. Stattdessen entwickelte er Strategien gegen die sehr reale Möglichkeit, dass Alpin ihn mitgenommen hatte, um sich seiner an einem Ort zu entledigen, wo Ana es nicht sehen konnte. Dein Barde ist im Kampf gefallen, meine Liebe. Seine Fähigkeiten als Krieger waren, wie man erwarten würde, nicht ganz adäquat. In einer Lichtung am Bach stießen sie auf die Blauen. Sie näherten sich leise und zu Fuß. Auf diesem Gelände wäre ein Angriff zu Pferd chaotisch gewesen, die Vorteile von Höhe und Tempo ausgeglichen durch die Möglichkeit für den Feind, auszuweichen und an Stellen zu flüchten, wo Pferde nicht leicht folgen konnten. Sie hatten ihre Reittiere ein Stück entfernt zurückgelassen. Faolan hatte gehofft, man würde ihm die Aufgabe übertragen, auf sie aufzupassen, aber Alpin hatte ihn mit breitem Grinsen aufgefordert, mit ihm und den Männern zu kommen. »Wir werden dir etwas zeigen, worüber du Lieder schreiben kannst, Barde!« Immer noch bot ihm keiner einen Dolch oder ein Messer an. Sobald es begonnen hatte, war keine Zeit mehr, an Lieder zu denken. Der Angriff war schnell und blutig. Die Blauen, in ihrem behelfsmäßigen Lager überrascht, verteidigten sich wild, aber sie konnten gegen die Schwerter und Keulen, die Speere und Messer von Alpins Leuten nicht ankommen. Die Waldlichtung war voll ungewohnter Geräusche: das Klirren von Metall auf Metall, das Gurgeln eines Mannes, der an seinem eigenen Blut erstickte, der Schrei eines anderen, der eine Hand verloren hatte. Faolan tat sein - 222 Bestes zu sehen, was geschah, während er so tat, als versteckte er sich hinter einem Baum, dankbar, dass seine graubraune Dienerkleidung ihn unauffällig machte. Die Geräusche veränderten sich nach einer Weile, es gab weniger Schreien und Grunzen von Verwundeten und mehr von den systematischen Klängen zuschlagender Schwerter oder zustechender Speere, als Alpins Krieger den Feinden ein Ende machten. Faolan sah, wie der Fürst von Dornwald die Faust hoch in die Luft reckte und einen Siegesschrei ausstieß, und dann erklang ein Geräusch, das ihm die Haare sträubte. Überall ringsumher hörte er rasche Schritte. Das Klirren und Scheppern von Metall kam unter den Bäumen näher. Verstärkung war eingetroffen. Es gab nur einen Weg: aufwärts und außer Reichweite.
Faolan sprang hoch, packte einen Ast mit beiden Händen und schwang sich alles andere als anmutig auf die Birke, die ihm bisher Deckung gegeben hatte. Er tat das gerade noch rechtzeitig. Ein schriller Kampfschrei erklang auf allen Seiten, als eine neue Gruppe von Blauen, nach Faolans Einschätzung mehr als zwanzig, mit Speeren aus dem Wald her angriff. Alpins Männer hatten bereits einen engen Kreis gebildet und die Waffen nach außen gestreckt. Sie waren kein barbarischer Haufen, sondern eine disziplinierte Truppe; kein Wunder, dass die Galen Alpin als Verbündeten umwarben. Faolan verlagerte das Gewicht auf seinem Ast und spähte zwischen den zarten neuen Birkenblättern hervor. Er nahm eine Hand vom Baum; man musste auf alles vorbereitet sein. Wenn es nötig wurde, würde er höher klettern. Es gab keinen Grund, wieso ein Barde nicht über ein gewisses Maß an athletischen Fähigkeiten verfügen sollte. Eine Weile konnte Alpins kleine Truppe die Angreifer abwehren, aber die Männer aus Dornwald hatten keine Möglichkeit, sich zurückziehen; wenn einer von ihnen sich von - 223 seinen Kameraden löste und in den Kreis der Blauen rannte, wurde er sofort niedergemäht. Die Blauen waren zornig. Die Lichtung war übersät mit den Leichen ihrer Kameraden, niedergemetzelt beim ersten Angriff. Sie würden nicht zurückweichen, ehe sie ihre Entschädigung in Form von Blut erhalten hatten. Unter solchen Umständen sollte ein Barde still auf seinem Baum bleiben und sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Er sollte warten, bis Alpins Männer müde wurden und anfingen Fehler zu machen, und dann zusehen, wie sie niedergemetzelt wurden. Nichts tun, einfach zusehen, wie Alpin starb. Und Ana zurück nach Hause bringen ... nein, das war nicht möglich. Der Vertrag stand an erster Stelle. Also musste er handeln. Alpin retten. Sich die Anerkennung der Männer und damit die Freiheit verschaffen, all das herauszufinden, was Bridei wissen wollte. Er hatte ein kleines Werkzeug, das er benutzen konnte ... Alpin half ihm, ohne es zu wissen. Der Fürst von Dornwald, rot angelaufen und schwitzend, hielt sein schweres Schwert mit beiden Händen vor sich und verhöhnte mit lauter Stimme einen der Blauen, einen untersetzten, rotbärtigen Burschen. »Überfällst du jetzt schon unschuldige Reisende, Dendrist? Das war meine Frau, die du an der Furt beinahe getötet hättest! Es war ihre Eskorte, auf die deine Schurken sich gestürzt haben! Du wirst für diesen Fehler teuer bezahlen! Niemand wendet sich ungestraft gegen Alpin von Dornwald!« Der Anführer der Blauen stand ein wenig hinter seinen Männern. Er hatte sein Schwert nicht einmal gezogen. Offenbar gab er sich damit zufrieden, seine Untergebenen die schmutzige Arbeit leisten zu lassen. »Frau? Was, noch eine?«, spottete er. »Dann hatte sie Glück zu ertrinken. Besser ein rascher Tod im Wasser als das Schicksal, das Ehefrauen in dem gottverlassenen Stein- 224 häufen erleiden, den du dein Zuhause nennst. Du kannst dir die Sprüche sparen, Alpin. Ich habe in dieser Flut zehn meiner eigenen Männer verloren. Außerdem hörte ich, dass unter den Reisenden zwei Frauen waren. Wer war die andere? Eine Frau für deinen Bruder?« Dendrists Männer lachten höhnisch bei dieser Bemerkung. Alpin gab ein Fauchen reinen Hasses von sich und stieß mit dem Schwert zu. Einer der Blauen stach mit dem Speer zu; Alpin bewegte sich rasch außer Reichweite. Bisher hatte sich sein Zorn noch nicht über seine Vernunft hinweggesetzt. »Ist das alles, was du deinem Sohn beibringst?«, fragte Alpin und betrachtete den jungen Mann mit dem Speer. »Wie man hilflose Frauen in den Tod schickt, wie man seine Kämpfe mit billigem Spott ausficht? Zweifellos wächst er nach deinem Vorbild heran, Dendrist, ein Feigling mit nichts anderem im Kopf als kleinlicher Gier nach allem, was ihm nicht gehört. Der Vater ein Wiesel, der Sohn ein Hermelin.« Wieder stieß der junge Mann zu, diesmal ein wenig wütender. Alpin stand nun still da, und die Männer hielten inne und warteten auf eine Reaktion. Faolan nutzte den Augenblick, er nahm den Gegenstand heraus, den er in seinem Stiefel verborgen hatte, bevor sie die Festung verließen, kniff die Augen zusammen und warf. Der junge Mann brach in die Knie und ließ den Speer fallen. Einen Augenblick später befand sich Alpins Schwert in der Hand des Mannes neben ihm, Mordec, und Alpin selbst hatte Dendrists Sohn an sich gezogen, ein Messer an seiner Kehle, während Blut aus einer Wunde an der Schulter des jungen Mannes floss und seine Tunika rot färbte. Das Gesicht des Jungen war grau von Schock. »Wie wäre es mit einem kleinen Handel?«, fragte Alpin ruhig. Nach einem kurzen verblüfften Blick nach oben in die Birke hatte er Faolan nicht mehr angesehen. - 225 Dendrist kam einen Schritt näher; er war ebenfalls blass geworden. »Lass ihn gehen!«, befahl er. »Deine Männer können nirgendwo hin! Wir sind euch zahlenmäßig überlegen, ihr habt verloren. Lass meinen Sohn gehen.« »Warum würde ich so etwas Dummes tun? Siehst du, wie er blutet? Du solltest einen Heiler holen oder ihn zumindest verbinden, damit er nicht noch mehr Blut verliert. Und du solltest es dir nicht zu lange überlegen.« »Alpin, du Abschaum...« »Ich werde ihm ein schnelles Ende machen, wenn du das vorziehst. Ich habe die Möglichkeit hier, und ich kenne
mich aus. Siehst du?« Das Messer verursachte eine dünne rote Linie am Hals des Jungen, der schaudernd Luft holte. »Das würdest du nicht wagen!« Dendrists Stimme war verzerrt von Zorn und Angst. »Fordere uns nicht heraus, Dendrist. Bin ich für meine Zurückhaltung bekannt? Nein, befiehl deinen Männern, nicht anzugreifen. Wenn einer von ihnen uns angreift, muss ich dem Jungen sofort die Kehle durchschneiden, damit ich beide Arme frei habe, um mich zu verteidigen. Ihr Götter, das ist eine schmutzige Angelegenheit, ich bin schon ganz blutig! Also was diesen Handel angeht...« »Du Schwein«, murmelte Dendrist. »Stell deine Bedingungen, aber lass den Jungen gehen. Bei allem, was heilig ist, dafür wirst du zahlen.« »Nimm ihn, verschwinde hier und sorge dafür, dass man sich um ihn kümmert«, sagte Alpin. »Und schick nicht die Hälfte deiner Männer zurück, um uns niederzumetzeln, sobald wir dir den Rücken zuwenden. Greif meine Männer nicht an, sobald ich den Jungen gehen lasse. Dazu hast du keine Zeit, nicht so, wie er blutet. Gibst du mir dein Wort?« »Ich gebe dir mein Wort«, sagte Dendrist durch zusammengebissene Zähne. »Und jetzt lass ihn los.« »Befiehl deinen Männern, die Waffen wegzustecken und fünf Schritte zurückzutreten. Macht den Weg für uns frei.« - 226 Alpin hatte seinen Griff um den jungen Mann nicht gelockert, und seine Männer standen immer noch mit den Waffen in der Hand da. »Tut, was er sagt.« Die Blauen fluchten und warfen Alpin wütende Blicke zu, aber sie steckten die Waffen ein. »Lass meinen Sohn gehen!« »Noch nicht«, sagte Alpin. »Ich glaube nicht, dass ich dir vertrauen kann, Dendrist. Gib mir zwei deiner Männer. Wir nehmen sie und den Jungen bis zum Leuchtfeuerhügel mit, dann ziehen wir weiter nach Hause, und deine Männer können deinen Sohn zu dir bringen. Das verringert deine Möglichkeit für schmutzige Tricks.« »Bis dahin könnte er tot sein!«, schrie Dendrist, der das Gesicht seines Sohnes anstarrte, aus dem die Farbe beängstigend gewichen war. Alpin lächelte. »Und würde es dir dann nicht Leid tun, dass du dir so lange Zeit gelassen hast, dich zu entscheiden? Also wie lange willst du dieses unterhaltsame Gespräch noch fortsetzen?« »Domnach, Omnist, ihr geht mit ihm. Die Sicherheit meines Sohnes ist für mich das Wichtigste. Wir warten an der Kreuzung am kleinen Bach auf euch. Ich schicke einen Mann nach einem Heiler. Und jetzt geht!« Der Kreis der Blauen zog sich weiter zurück. Alpin und seine Männer setzten sich in Bewegung, hielten aber eine defensive Formation aufrecht, mit dem verwundeten, von zwei Männern aus Dornwald gestützten Jungen in der Mitte. Er würde nicht verbluten. Faolan wusste das, und er nahm an, dass auch Alpin es wusste. Die Lage der Wunde sorgte für zunächst spektakulären Blutfluss, aber solange sie bald verbunden wurde, würde der Junge sich wahrscheinlich vollständig erholen. Nun befanden sich die Blauen auf einer Seite der Lichtung und die Männer aus Dornwald auf der anderen, wo sie - 227 sich unter die Bäume zurückzogen, die Letzten mit immer noch auf den Feind gerichteten Speeren. Faolan räusperte sich; alle Augen wanden sich ihm zu, und ein Blauer mit einem Bogen griff nach seinen Pfeilen. »Ah«, sagte Alpin beiläufig, »wir hätten beinahe unseren Barden vergessen. Komm herunter, Finian. Es ist alles vorbei.« Faolan schwang sich vom Baum und ging zu Alpins Gruppe, wobei er den unsicheren Gang eines Mannes imitierte, der vollkommen verängstigt ist, weil er seinen ersten Kampf mit ansehen musste. Er war ein wenig erleichtert, dass niemand lachte. Als sich Alpins Gruppe, begleitet von den beiden Blauen, in Richtung Heimat davonmachte, begannen Dendrists Männer mit der grimmigen Arbeit, ihre gefallenen Kameraden aufzulesen. Alpins Racheakt würde zweifellos später zu weiteren Vergeltungsaktionen führen und den Fürsten von Dornwald zwingen, abermals zu reagieren. Die Leute sagten, es läge im Wesen der Caitt, so zu kämpfen; Faolan hatte heute selbst gesehen, dass dies der Wahrheit entsprach. An der Stelle, wo die Pferde angebunden waren, befahl Alpin zu warten, und sie schnitten die Tunika des jungen Mannes und das Hemd auf, um die Wunde zu untersuchen. Gerdic zog die Waffe heraus, die noch in der Schulter des Jungen steckte, und ein Mann, der offenbar wusste, was er tat, drückte ein paar Leinentücher auf die Wunde und band sie fest. Der Junge biss die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. Offenbar waren sie hier im Norden wirklich zäh. Alpin hielt die blutige Waffe in der Hand und runzelte die Stirn. Er blickte auf und sah Faolan an. »Das ist eines unserer Küchenmesser«, sagte Mordec überrascht. »Siehst du dein Zeichen am Griff?« »Man hat es mir gegeben, damit ich es bei Tisch benutze«, sagte Faolan mit künstlich zitternder Stimme. »Ich - 228 hatte nicht erwartet, es auf diese Weise einsetzen zu müssen.« »Es ist ein wenig schärfer, als unsere Küchenmesser üblicherweise sind«, stellte Alpin fest. »Ich hatte kein Werkzeug, um die Harfe zu reparieren, Herr«, sagte Faolan. »Ein Musiker kann seine
Instrumente nicht mit einem stumpfen Messer in Ordnung halten.« »Und wo lernt ein Barde, mit solch einer Genauigkeit zu werfen?« Faolan versuchte ein nervöses Lachen. »Ich habe mich selbst überrascht, Herr. Ich bin erstaunt, dass mein Beitrag so hilfreich war. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe einfach die Augen zugemacht und ... na ja, geworfen.« Die Männer lachten leise. Alpin grinste, aber sein Blick war abschätzend. »Nun, jetzt hast du etwas, worüber du ein Lied schreiben kannst, wenn wir nach Hause zurückkehren. Ist der Junge ordentlich verbunden? Erdig, er kann vor dir bis zum Leuchtfeuerhügel reiten. Diese Burschen hier werden laufen müssen, wenn sie mit uns kommen wollen. Dann ziehen wir weiter nach Hause. Eine hübsche junge Frau wartet dort auf mich, und ich verspüre ein Bedürfnis, das befriedigt werden muss.« Faolan wünschte sich intensiv, ein wenig anders gezielt und das Messer direkt in Alpins Kehle geworfen zu haben. Bis auf die unangenehme Tatsache, dass sie in diesem Fall wahrscheinlich alle niedergemetzelt worden wären, war dieser Gedanke äußerst reizvoll. »Guter Wurf, Barde« sagte einer der Krieger. »Mit geschlossenen Augen? Wohl kaum.« »Wenn das reines Glück war«, schnaubte Mordec, »esse ich meine Pferdedecke. Es war eine ziemlich große Entfernung.« »Ich gebe es ungern zu«, sagte der andere Mann, »aber dieser Musiker hier hat uns gerade allen das Leben gerettet.« - 229 Noch bevor die Sonne ihren Höchststand erreichte, trafen sie an dem Ort ein, den sie Leuchtfeuerhügel nannten. Dendrists Männer waren weit zurückgeblieben, als Alpins Truppe weiterritt. Sie hoben Dendrists Sohn ohne weitere Umstände von Erdigs Pferd, und der junge Mann brach sofort auf den Steinen am Weg zusammen. Er war kreidebleich, hatte die Lippen fest zusammengekniffen und schwieg. »Sag deinem Vater«, verlangte Alpin »dass es Zeit ist, sich von allem, was mir gehört, fern zu halten, sei es Land, Vieh oder Frauen. Er sollte inzwischen wissen, dass ich es ihm zurückzahle.« Er hatte jetzt den Dolch in der Hand; er stieg ab und ging zu dem jungen Mann. »Wenn meine künftige Frau tatsächlich ertrunken wäre, würden die Männer deines Vaters hier keinen verwundeten Jungen finden, sondern einen Klumpen Fleisch, in den der Name von Alpin von Dornwald eingeschnitzt wäre. Aber sie hat überlebt, also wirst auch du leben. Jedenfalls diesmal.« Das Messer befand sich eine Handspanne vom Gesicht des Jungen entfernt und bewegte sich nicht. Faolan hielt den Atem an. »Sieht aus, als müsstest du allein warten. Ich hoffe, sie werden bald hier sein; du blutest durch deinen Verband. Kommt, Männer! Ich will bis zum Einbruch der Dunkelheit noch mindestens den halben Weg zur Brücke zurücklegen. Ich kann nicht ruhig schlafen, ehe wir unsere eigene Grenze hinter uns haben.« »Wir könnten warten«, schlug Mordec vor. »Und diese beiden Kerle erledigen, wenn sie hier eintreffen.« »Diesmal nicht«, sagte Alpin. »Sie haben ihren Preis gezahlt. Nicht, dass es mir keinen Spaß machen würde, die beiden aufzuhängen und sie zum Zielschießen zu benutzen. Aber ich habe auch nicht vor, weiteres Öl in dieses Feuer zu gießen. Nur zu bald werden wir wichtigere Dinge im Kopf haben. Dendrist und die Seinen sind auch hinterher noch da.« - 230 Faolan dachte auf dem Heimweg über diese Worte nach. Wichtigere Dinge. Einen aktiven Anteil am kommenden Krieg? Auf welcher Seite? Der Schlüssel lag in diesem Territorium im Westen, da war er sicher. Da Alpin die Bedingungen von Brideis Vertrag immer noch nicht genau kannte, befürchtete Faolan Betrug und Lügen. Er würde es erfahren; je länger er sich als harmloser Musiker ausgeben konnte, desto besser war seine Chance, die Wahrheit herauszufinden, bevor es zu spät sein würde. Am Tag, nachdem Ana mit Deord gesprochen hatte, brachte die Krähe ihr einen Schlüssel. Der Vogel kam früh am Morgen und weckte sie kurz nach der Dämmerung mit tippenden, kratzenden Geräuschen, als er vom Fensterbrett zur Truhe hüpfte und dann sein Geschenk auf das polierte Holz fallen ließ, sodass es leise klirrte. »Was ...«, murmelte Ana verschlafen und rieb sich die Augen. Ihr Besucher stieß ein heiseres Krächzen aus. Ana setzte sich, schaute zu dem Vogel hin und sah, was er ihr gebracht hatte. Sie war sofort hellwach. Sie zweifelte nicht daran, welche Tür dieser Schlüssel öffnen würde. Sie griff nach ihrem Schultertuch, und ihre Gedanken überschlugen sich. »Jemand will, dass ich mir heute diese Lagerräume ansehe.« Die Krähe hatte den Kopf schief gelegt. Sie wirkte irgendwie erwartungsvoll. »Ich soll eine Antwort schicken? Ich wüsste nicht was.« Sie würde noch so kahl wie eine Zwiebel werden, wenn der Austausch von Haaren die einzige Möglichkeit war, mit dieser unbekannten Person zu kommunizieren. Sie sollte den Vogel wegscheuchen und Alpin den Schlüssel geben, wenn er zurückkehrte. Ein vernünftiges Mädchen, das am Hof eines Königs erzogen worden war, sollte nicht zögern, genau das zu tun. Ana nahm den Schlüssel in die Hand. »Da«, sagte sie. »Aber ich kann nichts versprechen.« Als wäre sie mit diesen Worten zufrieden, hüpfte die Krähe wieder aufs - 231 Fensterbrett und verschwand mit kräftigem Schlagen der dunklen Flügel im hellen Morgen. Jetzt, dachte Ana mit laut pochendem Herzen. Sie musste es jetzt gleich tun. Es war so früh, dass selbst die Männer und Frauen in der Küche wahrscheinlich noch schliefen. Und was Deord anging, er war ein Diener, wie
Furcht erregend auch immer. Wenn sie durch die Tür ginge und ihm begegnete, würde sie einfach verlangen, dass er ihr seinen Arbeitsplatz zeigte. Sie hatte alle Handwerker in Dornwald kennen gelernt. Das hier war nichts anderes, sagte sie sich, obwohl sie es selbst nicht glaubte. Sie konnte an ihr Ziel gelangen und wieder zurück sein, bevor ihre Abwesenheit jemandem auffiel. Alpin war nicht hier, ebenso wenig wie Faolan. Als sie rasch Rock, Hemd und die weichen Schuhe anzog, die man ihr gegeben hatte, fiel ihr ein, dass Faolan ihr Handeln wahrscheinlich nicht billigen würde. Was sich hinter dieser Tür befand, konnte gefährlich sein. Wieder griff sie nach dem kleinen Schlüssel und schlüpfte aus ihrem Zimmer. Ihr war klar, dass sie sich vor der Reise nach Dornwald nie hätte träumen lassen, so etwas zu versuchen. Etwas hatte sich in ihr verändert, etwas Tiefes, Wichtiges. Sie schlich rasch durch den Flur zu Alpins Tür, öffnete sie und ging hinein. Sie versuchte so zu tun, als hätte sie jedes Recht dazu. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihr künftiger Mann hörte, dass sie in seinem Haus herumgeschlichen war, Geheimnisse ausspioniert und gegen seine Anordnungen verstoßen hatte. Der Schlüssel drehte sich lautlos im Schloss der kleinen Tür. Ana holte tief Luft, zog die Tür auf und ging hindurch. Sie befand sich in einem Raum mit Steinwänden, in dem Stapel von Säcken, alte Ledereimer und rostige Eisenwerkzeuge lagen. Es war dunkel; Schatten krochen aus den Ecken, und Spinnennetze hingen von den Deckenbalken. Eine schwarze Katze schlief auf den Säcken, ihr Schwanz zuckte, als sie träumte. Eine andere hockte unter einer zer- 232 brochenen Bank, von ihr waren nur ein paar glühende Augen und eine Andeutung von grauen Streifen zu sehen. Ana war irgendwie enttäuscht. Sie war nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber bestimmt nicht das hier. Irgendwo hinter dem Lagerraum zwitscherte ein Vogel, und Flügelflattern war zu hören. Die schwarze Katze erwachte plötzlich und hob den Kopf. »Nein, das wirst du nicht tun«, flüsterte Ana, folgte den Geräuschen und fand einen Weg durch das Durcheinander in einen zweiten winzigen Raum, in dem es kaum mehr als leere Regale und viel Staub gab. Es wurde heller; sie erreichte eine Türöffnung, die zu einer steilen Treppe führte, die sich zwischen hoch aufragenden Mauern nach unten zog. In einer der Mauern gab es kleine Fenster, Ana zählte sie im Vorbeigehen. Eins: In der Ferne war Wasser zu sehen, ein silberner Spiegel im Morgenlicht. Zwei: Die Stämme von Ulmen, von der aufgehenden Sonne mit Gold überzogen. Ihre von Krähen bewohnten Wipfel waren oberhalb der Mauer zu sehen. Es handelte sich also um die Außenmauer der Festung. Aber was hatte diese innere Mauer zu bedeuten, die so hoch und so dick war? Welchen Zweck hatten sie und dieser seltsam enge Raum zwischen ihr und der Außenmauer? Drei: Nun befand sie sich ein ganzes Stück weiter unten, und durch diesen Schlitz erspähte sie die dunklen Schatten unter den Kiefern, dort, wo der Wald bis dicht an Alpins Festung heranreichte. Ana nahm an, dass sie sich jetzt auf der gleichen Ebene befand wie die Gebäude im Hof - die Halle, das Nähzimmer, die Küche und die Brauräume, die Waffenkammer und die Schmiede. Vier: Es ging immer noch tiefer, der untere Rand dieses Fensters lag auf gleicher Ebene wie der Boden, Dornbüsche drängten sich an die Wand, ihre scharfen Finger versuchten, in diesen einsamen Pfad einzudringen, und klammerten sich an den Stein, als wollten sie prüfen, wie gut sich Alpins Verteidigungsanlagen gegen die Kraft des wilden Waldes hiel- 233 ten. Diese Öffnung würde von draußen zu sehen sein. Fünf: Eine Art verborgenes Fenster in einer kleine Senke. Auch hier gab es Pflanzen, sich windende Ranken, Farnwedel, zarte Blätter. Der Kreuzschnabel wartete auf dem Sims, ein roter Fleck vor dem üppigen Grün. Die Katzen hatten sich nicht über die letzte Tür hinausgewagt. »Ich bin hier«, sagte Ana leise. »Wohin bringst du mich?« Am Ende der Treppe ging der Weg weiter, folgte der Biegung der Außenmauer und zog sich immer noch nach unten. Die Mauern auf beiden Seiten waren von beeindruckender Höhe. Ana dachte an uralte Steine; an Geschichten von Gefangenen in hohen Türmen oder hinter undurchdringlichen Hecken, von Helden, die Mauern emporkletterten oder sich durch Dornengebüsch hackten, um ihre wahre Liebe zu befreien. Sie befürchtete, dass es für jede dieser Geschichten von Liebe und Rettung eine andere gab, in der einsame Gefangene in Vergessenheit gerieten und schöne junge Damen Falten bekamen und alt wurden, während sie auf eine Rettung warteten, die nie kam. Der Kreuzschnabel führte sie weiter, ein kurzer schwirrender Flug, ein Augenblick des Wartens, dann sah er sich nach ihr um, ob sie noch folgte. Schließlich kamen sie um eine weitere Biegung, und vor ihnen befand sich ein eisernes Gitter, höher als ein hoch gewachsener Mann, so breit wie der Weg und offenbar fest verschlossen. Dahinter lag eine Art Hof oder Garten. Der Vogel landete auf einer Querstange des Tors, schaute zu ihr zurück und flog dann nach drinnen, ein Aufblitzen von Scharlachrot. Einen Augenblick später erschien ein Zaunkönig an seiner Stelle. Ana wog den Schlüssel in ihrer Hand. Sie ging zum Gitter und spähte nach drinnen, und der Zaunkönig landete auf ihrer Schulter. Es gab einen kleinen Garten, begrenzt von der gebogenen Außenmauer und überdacht von engen, alten Gittern. Es war dunkel dort, denn der Hof lag tief hinter - 234 den Mauern, und die Morgensonne erreichte ihn nicht. Mit einiger Mühe konnte sie einen Fleck Gras erkennen, eine Steinbank und Pflastersteine. An der Innenseite gab es eine Art von Gebäude, in dessen Eingang eine grob gewebte Decke hing. War diese unterirdische Behausung Deords Quartier? Und wenn ja, warum brauchte er ein
solches Tor und die Decke aus Eisengittern? Es war wie ein Käfig. Ana musste an wilde Tiere denken. Vielleicht war Alpin einer dieser exzentrischen Männer, die sich zu ihrem Vergnügen exotische Tiere hielten und versuchten, damit ihren Status zu erhöhen. Eine Wildkatze, ein Drache, ein Mantikor ... sicherlich nicht. Würden diese Vögel so frei ein und ausfliegen, wenn sich der Tod nur ein Zuschnappen entfernt befand? Andererseits wäre es vielleicht übermäßig mutig, dieses Tor aufzuschließen - immer vorausgesetzt, dass sie das konnte - und einfach hineinzumarschieren. »Ist da jemand? Deord?«, rief sie, unsicher, wie sie reagieren würde, wenn jemand antwortete. Ihre Stimme klang hier seltsam hohl und hallend, als gäbe es an diesem Ort nur wenige Besucher und als könnte er sich nicht ganz an ihre Gegenwart gewöhnen. »Hallo?« Keine Antwort. Der Zaunkönig saß dicht an ihrem Ohr und hatte begonnen, sich zu putzen, und der Kreuzschnabel war nicht mehr zu sehen. »Hallo?«, rief sie abermals, aber niemand kam. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Das Eisentor öffnete sich lautlos, und Ana ging hinein und schloss es wieder hinter sich. Sie brauchte nicht lange, um sich alles in dem traurigen kleinen Hof anzusehen. Es gab kein direktes Sonnenlicht. Das Gras war schlaff und gelblich, der Teich wurde von schleimigem Kraut erstickt, und schwarzes Moos überzog den gerissenen Rand. Wo es Pflastersteine gab, waren sie sauber gefegt. Ana ging hinüber zur Bank und stolperte, als ihr Fuß ein Hindernis berührte. Metall klirrte, und beide Vögel zwitscherten wie zur Antwort. Ana schaute nach un- 235 ten. Eine lange Kette war an einem schweren Eisenring angebracht, der in die Bank eingelassen war. Die Kette führte bis hinüber zur Außenmauer, wo es in der Mauer ein winziges Fenster gab, eine Öffnung im Stein so dick wie die Länge eines Männerarms. Die Kette endete in einer Armfessel von tückischem Entwurf. Auf einen Blick konnte sie erkennen, wie diese Fessel fest um das Handgelenk oder den Fußknöchel eines Mannes gelegt und mit einem Bolzen verschlossen werden konnte, und wie ein anderer diese Fessel lösen konnte, um den Gefangenen zu befreien. Ana wurde kalt. Wer lebte hier? Wer war es, den Alpin so scharf bewachen ließ? Und wo war er jetzt? Es war dumm von ihr gewesen, hierher zu kommen, schrecklich dumm ... Sie dachte über die Position der Fesseln nach, die unter dem schmalen Fenster lagen, als hätte der Gefangene dort gestanden und die Welt hinter seiner Zelle beobachtet. Was hatte er gesehen? Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch die winzige Öffnung. Dieser ganze Bereich befand sich so tief unten, dass der untere Teil des Fensters unterhalb des Bodens lag. Durch den schmalen Raum darüber konnte man, wenn man schräg nach oben schaute, eine einzelne wunderschöne Eiche erkennen, deren Frühlingslaub im Licht der frühen Morgensonne in reinem Grün leuchtete. Ein Chor von Vögeln sang auf ihren Ästen, ihr Lied eine Hymne an die Freiheit, und noch während Ana hinsah, erhoben sie sich in einem großen Schwärm in den Himmel und flogen in den neuen Tag. Hatte ein Mann hier geweint, getobt, die Götter angefleht? Nein, sie ließ ihrer Phantasie zu freien Lauf und schob ihre eigenen Gedanken in den Kopf eines anderen. Und die Zeit verging rasch. Sie würde noch schnell nach drinnen schauen und dann zurück in ihr Zimmer eilen, bevor Ludha erschien, um ihr beim Waschen und Ankleiden zu helfen. Ein Tisch, ein Sims, eine Bank. Ein Behälter für Wasser. An der Wand ein weiterer Eisenring, etwa in Taillenhöhe - 236 eines Mannes - aß dieser Gefangene seine Mahlzeiten angekettet? Ein Reisigbesen, ein Eimer, gefaltete Kleidung, alles ordentlich und sauber. Nichts zu essen, nur ein leeres Tablett, eine Platte, zwei Schalen, zwei Becher, zwei Löffel. Kein Messer. Ana wagte sich in den inneren Raum, und nun kam zu dem Zaunkönig, der auf ihrer rechten Schulter hockte, noch der Kreuzschnabel, der sich auf ihrer linken niederließ. Es gab hier so wenig Licht, dass sie zum größeren Raum zurückkehrte, um das Tuch über der Tür zu heben, bevor sie den Raum weiter untersuchte: eine Lampe auf einem Steinsims, nicht angezündet, daneben ein Krug Öl, zwei schlichte Betten mit Strohsäcken und guten Wolldecken, die allerdings sehr abgewetzt waren. Die Betten waren ordentlich gemacht, und der Boden war dick mit frischen Binsen bestreut: zweifellos Deords Tat. Über einem der Betten gab es einen weiteren Eisenring. Sie schauderte bei diesem Anblick. »Es ist ein Mensch, den sie hier festhalten«, sagte sie zu den Vögeln. »Man braucht kein Bett mit einer Decke für ein Tier und füttert es auch nicht aus irdenem Geschirr. Stellt euch das vor: gefesselt schlafen, sodass er sich selbst in seinen Träumen nicht frei bewegen kann ... Er muss doch den Verstand verlieren vor Sehnsucht nach dem offenen Himmel und dem Gefühl des Winds auf seinem Gesicht.« Dieses ordentliche Wohnquartier war auf seine eigen Weise ein so trauriger Ort wie der düstere Hof davor. Der Schlüssel, den man ihr gegeben hatte, hatte zu nichts weiter geführt als zu mehr unbeantworteten Fragen. Es war Zeit zu gehen. Als Ana sich gerade umdrehen wollte, flogen beide Vögel gemeinsam hinunter zu den Binsen in der Ecke, wo sie begannen, geschäftig zu picken. »Was ...« Ana ging einen Schritt auf die Vögel zu. Plötzlich gab es keinen Boden mehr unter ihrem Fuß. Rasch wich sie zurück, dann kniete sie sich hin und zog die Binsen weg. Ihr Herz raste. - 237 Dielen lagen über einer Öffnung. Sie schob sie beiseite, spähte tiefer hinein. Es war ein Tunnel; kein hastig gegrabenes Loch, sondern ein solide gearbeiteter Ausgang, groß genug, dass sich auch ein kräftig gebauter Mann
wie Deord ohne Schwierigkeit hindurchbewegen konnte. Die Öffnung und die Dielen darauf waren vollkommen unter den Binsen verborgen gewesen. So wie es aussah, befand sich dieser Ausgang schon lange hier. Die Wände waren gemauert, nicht Teil der ursprünglichen Festung, nahm Ana an, sondern später von jemandem errichtet, der wusste, was er tat. Licht fiel vom anderen Ende in den unterirdischen Gang. Es war ein Durchgang nach draußen, ein Weg, der unter der großen Mauer von Alpins Festung hindurchführte und dessen Ausgang wahrscheinlich von dichtem Unterholz verborgen wurde. Das war wirklich seltsam. Der Gefangene konnte also fliehen, wenn er wollte. Es wurde jeden Augenblick merkwürdiger. Ana zögerte am Rand des Abstiegs. Es war immer noch früh, aber nicht mehr so früh, dass nicht der eine oder andere Diener bereits unterwegs sein würde, um die Feuer anzuzünden und sich um Pferde oder Hunde zu kümmern. Sie hatte den Schlüssel. Vielleicht sollte diese Erkundung auf einen anderen Tag warten. Aber ... Der winzige Zaunkönig schoss in das Loch und verschwand in dem unterirdischen Weg. Der Kreuzschnabel trippelte unruhig hin und her und plusterte sich auf. »Aber nur bis zum Ausgang«, murmelte Ana. »Nur bis zum anderen Ende, nicht weiter. Ich schätze, diese Leute haben gute Gründe für ihre starken Mauern.« Sie war groß für ein Mädchen, aber dieser Gang war für kräftige Männer gebaut, und es fiel ihr leicht, ihn zu benutzen. Der Vogel flog vor ihr her, und bald schon erreichten sie das andere Ende des Tunnels in einer Senke am Fuß der Festungsmauer, einer Stelle, die gut mit Dornenhecken und Ranken überwuchert war und noch besser verbor- 238 gen wurde durch einen Steinhaufen, vielleicht die verfallenen Überreste einer früheren Festungsmauer. Ana atmete schwer, mehr von der Spannung als vor Anstrengung. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, und ihr Licht fiel sanft auf das Laub über ihr. Kreuzschnabel und Zaunkönig saßen Seite an Seite auf einem Dornenzweig am Rand der Senke und warteten offensichtlich. Ana brachte es einfach nicht über sich, sich einfach umzudrehen und zurückzukehren, wie sie sich selbst versprochen hatte. Diese beiden würden sie sicher zu den Antworten führen, die sie brauchte. Sie stieg nach oben und warf einen ängstlichen Blick zur Mauerkrone, denn vielleicht patrouillierten dort Wachen auf einem Wehrgang, von dem aus sie in den Wald schauen konnten. Aber im Augenblick war niemand in Sicht. »Also gut«, flüsterte sie. »Führt mich weiter, aber beeilt euch, oder es wird schwierig für mich, unbemerkt zurückzukehren.« Falls es einen Weg in den Wald gab, war er nur leichten Fußes benutzt worden, denn es war kaum ein Pfad zu erkennen. Ana suchte sich ihren Weg zwischen den Büschen mit ihren spitzen Dornen und den Brombeerranken, die an ihr rissen, und folgte dem hellen Rot des Kreuzschnabels. Den Zaunkönig konnte sie in diesem ruhelosen, sich stets veränderten Wandbehang aus Blättern und Sonnenlicht kaum erkennen. Schon bald lag der Weg in tiefem Schatten. Sie befanden sich unter Eichen, und das Licht wurde durch einen Wipfel aus wachsendem Grün gefiltert. Das dornige Unterholz wich Moos und Farn, und hier und da wand sich ein kleines Rinnsal entlang. Unzählige winzige, Feuchtigkeit liebende Pflanzen breiteten kleine Decken über umgestürzte Stämme und abgebrochene Äste. Das Laub vom letzten Herbst bildete eine üppige, dunkle Mischung, und Ana spürte die Arbeit kriechender Geschöpfe in seiner Tiefe, die den Erdboden zum Leben erweckten. Ein Schwärm - 239 Zeisige schoss mit lautem Gezänk über ihr zwischen den Bäumen umher. Dann zog sich der Weg hügelaufwärts zwischen großen Steinen hindurch, über die sich Brombeerranken streckten, um sich zu dichten Käfigen zu verknoten. Später im Jahr konnte man hier eine gute Beerenernte erwarten. Wenn sie im Sommer immer noch in Dornwald war, würde sie mit Ludha hier herauskommen und Beeren sammeln. Wenn sie Alpin heiratete ... Anas Gedanken schreckten vor dieser Möglichkeit zurück. Sie verzog das Gesicht, raffte den Rock und stieg auf den Hügel. Dort warteten die Vögel wieder Seite an Seite auf einem Zweig. Ana hielt inne, um zu lauschen. Der Wald war voll leiser Geräusche, Zwitschern, Rufen, Rascheln, das Plätschern des Wassers. Aber es gab nun auch noch etwas anderes, ein Schnaufen, ein Knurren, das nicht von den kleinen Waldgeschöpfen hervorgerufen wurde. Ana musste an Wildschweine denken und überlegte, was sie tun sollte, wenn ein solches Tier erschien, mit seinen Hauern, den Borsten und der gewaltigen Kraft seiner Muskeln auf sicherem Klauenfuß. Schreien? Davonlaufen? Auf einen Baum klettern und auf Rettung warten? Sie errötete, als sie daran dachte, was Faolan davon halten würde, dass sie hier allein umherwanderte. Sie hatte nicht einmal das Messer mitgenommen, das er ihr gegeben hatte. Die Geräusche kamen von der anderen Seite des Hügels, wo der Weg sich wieder nach unten zog. Es war eine Stelle, die gut außer Sichtweite von Alpins Wachposten lag. Dieser Hügel und der dichte Wald machten den Bereich zu hervorragendem Gelände für jemanden, der sich insgeheim anschleichen wollte. Faolans Männer hatten einander häufig Geschichten darüber erzählt, wie Reisende sich in den Wäldern der Caitt verlaufen hatten und nie gefunden wurden; sie hatten von plötzlichen, unerklärlichen Toden gesprochen; von Wegen, die breit und gerade begannen und in ge- 240 wundenen Albträumen endeten, die einen Mann im Kreis herumführten, bis er vor Kälte, Durst oder schierem Entsetzen starb. Und sie waren tatsächlich umgekommen, jeder Einzelne von ihnen, aber daran trugen nur die
Blauen und die grausame Jahreszeit die Schuld. Dennoch, Ana hatte gesehen, wie weit Dornwald von anderen Siedlungen entfernt lag. Sie hatte gehört, wie Alpin von den Gefahren dieses Waldes sprach und ihm sofort geglaubt. Sie stand reglos da und versuchte die Geräusche zu interpretieren, bis die Vögel wieder aufflatterten und sie den Hügel hinabführten. Sie setzte ihre Schritte vorsichtig. Was immer sich vor ihr befinden mochte, sie hatte nicht vor, sich zu zeigen, bis sie die Gelegenheit gehabt hatte, die Gefahr einzuschätzen. Sie kam auf eine Lichtung, die von kleineren Bäumen umgeben war: Hier wuchsen Holunder und Weiden, und das Plätschern eines verborgenen Bachs erklang irgendwo in ihrem Schatten. Ana ging noch einen Schritt weiter und blieb dann abrupt stehen. Zwei Männer rangen auf dem flachen Boden, in unentrinnbarer Umarmung verschlungen, Muskeln drückten fest gegen Muskeln, Köpfe waren gesenkt wie die kämpfender Hirsche, Füße standen fest auf dem Boden, obwohl jeder Kämpfer versuchte, den anderen umzustoßen. Sie waren nackt bis zur Taille und glänzten vom Schweiß ihrer Anstrengung. Auf der Wiese daneben lagen ein Gewand aus grob gewebtem Stoff und andere Kleidungsstücke, Gürtel, Hemden. Einen Mann erkannte sie, denn er war untersetzt, kahl und breitschultrig: Deord. Vielleicht verbrachten Alpins besonderer Wächter und einer seiner Kameraden auf diese Weise ihre Freizeit. Das da war Deords Gewand, und an dem Gürtel, der halb darunter lag, hingen seine Schlüssel, zu denen beinahe mit Sicherheit auch der gehört hatte, der sich nun in ihrer Tasche befand. Die Krähe hockte auf einem niedrigen Ast nicht weit von diesen Dingen entfernt, als bewachte sie sie. - 241 Was den zweiten Mann anging, so war er hoch gewachsen, das sah Ana gleich, als die beiden einander losließen, sich rasch umkreisten und erneut packten. Der zweite Mann hatte breite Schultern und eine schmale Taille, er war langbeinig und hatte erstaunlich geschmeidige Bewegungen. Er war schnell; immer wieder konnte er Deords machtvollem Griff ausweichen, bis er für ihn bereit war. Dieser Mann hatte ausgeprägte Züge, die ihr vage vertraut vorkamen. Die Haut war ungezeichnet, er trug weder Verwandtschafts- noch Kriegszeichen. Wie Deord war er glatt rasiert, aber sein Haar war lang und üppig und hatte die bräunlichrote Farbe von Adlerfedern, von Sonnenlicht auf Herbsteichen, vom Fell eines roten Fuchses. Seine Augen waren hell, und ob es nun der schöne Morgen oder seine Freude am Sport war, oder ob er ganz allgemein zum Lachen neigte, in diesen Augen stand das ganze Strahlen des Morgens und breitete sich über seine Züge aus. Ana musste sich daran erinnern, zu atmen. Er war schlicht und einfach das Schönste, was sie je gesehen hatte. Plötzlich war es sehr wichtig für sie, nicht gesehen zu werden. Sie hatte einen Ort betreten, an dem sie nicht sein sollte, und sie hatte etwas sehr Privates beobachtet. Sie huschte zurück in die Deckung der Büsche. Die Krähe stieß ein heiseres Krächzen aus, und im gleichen Augenblick flogen Zaunkönig und Kreuzschnabel auf und auf die Männer zu. Plötzlich war alles still. Die Kämpfer lösten sich voneinander, richteten sich auf und wandten sich Ana zu. Der Zaunkönig landete auf dem Kopf des hoch gewachsenen Mannes, der Kreuzschnabel auf seiner Schulter. Es war zu spät, um zu fliehen; sie musste diese Situation irgendwie bewältigen, musste erklären, wieso sie hier war. Sie atmete viel zu heftig, und ihre Handflächen waren schweißnass. Deord stapfte nun auf sie zu und sagte etwas, aber sie verstand es nicht, denn der andere Mann sah sie an, und der - 242 Ausdruck seiner Augen ließ alles in den Hintergrund treten bis auf das Bedürfnis, den Blick zu erwidern und in diese Augen zu schauen, zu schauen und zu schauen, bis sie glaubte zu ertrinken ... Oh, wie er sie anstarrte! Seine Augen waren wie Sterne, wie Teiche im Mondlicht, wie tiefe Brunnen voller Träume, und sie konnte ihren Blick nicht abwenden, sondern musste dastehen wie ein dummes Mädchen, das kein einziges Wort herausbrachte, unfähig sich zu fassen und sich so zu benehmen, wie es sich für eine Frau von königlichem Blut gehörte. Sie konnte seinen tiefen Blick in sich spüren, fühlte, wie er sie glühen und schmelzen und zittern ließ. Was war er, ein Zauberer, dass er solche Macht über sie besaß? »Herrin«, sagte Deord, als er sie erreichte, »du solltest nicht hier sein. Wie bist du...« Er beherrschte sich gut, aber Ana konnte sowohl den Zorn als auch den Schrecken in seiner Stimme wahrnehmen. »Ich ...« Sie fand ihre Stimme immer noch nicht. Sie verschränkte die Finger fest und rang um Selbstbeherrschung, als der Mann mit dem rötlichbrauen Haar auf sie zukam und sich neben Deord stellte, keine drei Schritte von ihr entfernt. Während dieser Bewegung hatte er sie weiter angesehen. Bei allem Leuchten in diesen strahlenden, wunderbaren, erschreckenden Augen war sein Mund ernst, seine Haltung wachsam. »Du hast uns gefunden«, sagte er leise. Deord erstarrte. »Drustan«, fragte er, »was hast du getan?« Und dann sagte er zu Ana: »Wie bist du hier herausgekommen? Warum bist du hier?« Sein Verhalten war nicht das eines Dieners gegenüber seiner Herrin, aber Ana war sich nur zu bewusst, dass sie es war, die an diesem Morgen gegen alle Regeln verstoßen hatte. Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Tasche, hielt ihn auf der Handfläche. Deord griff danach, aber sie schloss die Finger um das Metall. - 243 »Woher hast du den? Alpin hat ihn dir sicher nicht gegeben ...« »Ich denke, es ist deiner«, sagte Ana. »Er wurde mir im Morgengrauen von einem kleinen Besucher gebracht. Jemand wollte, dass ich hierher komme.« »Wir gehen nach drinnen.« Deords Ton war scharf, ein Befehl. »Drustan, zieh dich an. Ich habe dir doch gesagt,
du sollst dich nicht einmischen. Deine Dummheit bringt dich heute um deine Zeit in der Sonne, und vielleicht wirst du noch erheblich schärfer bestraft. Die Dame muss sofort ins Haus zurückkehren.« Sein Begleiter regte sich nicht. Sein Blick ruhte immer noch auf Ana. »Noch nicht«, sagte er. »Sofort«, sagte Deord. »Beeil dich. Kein Widerspruch.« Als der andere Mann dazu ansetzte, seine Kleidung aufzusammeln und Ana mit seinem Gehorsam überraschte, sprach Deord sie erneut an. »Da du so weit gekommen bist, wirst du nun Fragen haben. Ich werde sie beantworten, wenn ich kann, aber nicht hier und nicht jetzt. Wenn man uns außerhalb der Mauern entdeckt, oder wenn du Alpin von diesem Morgen erzählst, werden wir die geringe Freiheit verlieren, die wir haben. Du hast uns mit deiner Neugier schweren Schaden zugefügt. Und Drustan und seine Vögel sind ebenfalls schuldig. Wir müssen sofort zurückkehren.« »Aber ...« Ana sprach nicht weiter. Der Mann namens Drustan hatte sein Hemd übergezogen, es aber nicht zugeknöpft, und nun griff er nach einer Kette mit einer eisernen Fessel. Am anderen Ende, das bis auf den Boden hing, befand sich ebenfalls ein eisernes Band; Ana schaute entsetzt zu, wie der Mann mit dem rotbraunen Haar einen dieser Ringe um sein Handgelenk legte und dann ruhig stehen blieb, während Deord es schloss. Dann zog der Wächter sein Gewand über, band seinen Gürtel und schloss die andere Fessel um seinen eigenen Arm. Ana blieb schweigend - 244 stehen. Das hier war also das wilde Tier, der gefährliche Gefangene, dieser reizende junge Mann mit dem offenen Gesicht, der schüchternen Stimme und den Augen, die leuchteten wie Sterne. Ein Gefangener, der scheinbar willig aus der frischen Luft und dem Sonnenlicht in sein dunkles Gefängnis zurückkehrte, an diesen Ort, an dem hohe Mauern den Morgen ausschlössen. Sie hatte gesehen, wie sein Blick sich veränderte, als er sich die Fessel anlegte. »Noch nicht«, sagte sie und legte die Hand auf Deords Arm. »Bitte. Lass ihn die Sonne ein wenig länger genießen. Ich wollte nicht...« Deord kniff missbilligend die Lippen zusammen. »Das hier ist kein Spiel für hochgeborene junge Damen. Es war dumm von dir, hierher zu kommen. Alpin zu erzürnen ist gefährlich.« Plötzlich war sie im Stande, den Kopf zu heben, tief Luft zu holen und zu sprechen, wie es sich für eine königliche Tochter gehörte. »Noch ist Alpin nicht mein Mann«, sagte sie kühl. »Und niemand erteilt mir Befehle. Ich wollte nichts Böses; tatsächlich hat Alpin selbst mich gebeten, mich in seiner Abwesenheit mit allem vertraut zu machen. Die Festung zu erforschen, wie es mir gefällt.« »Es wird ihm nicht gefallen, wenn du allein im Wald umherwanderst und Türen aufschließt, von denen du nichts wissen sollst«, sagte Deord. »Du mischst dich in gefährliche Dinge ein. Du könntest großen Schaden anrichten. Wir müssen jetzt gehen.« »Deord.« Drustan sprach immer noch leise, aber nun lag etwas in seiner Stimme, dass Ana innehalten ließ. Wo lag das Gleichgewicht zwischen diesen beiden? Ein Mann, der gefangen gehalten wurde, konnte doch sicher mit seinem Bewacher nicht in diesem Ton sprechen. »Nur noch einen Augenblick. Wir haben noch Zeit.« Deord schwieg. Schließlich wandte er ihnen den Rücken zu und starrte in den Wald hinaus. »Beeile dich«, sagte er. - 245 »Du weißt, was ich denke. Was im Namen von allem, was heilig ist, hast du dir dabei gedacht? Und erzähl mir nicht, dass einer deiner Freunde hier meinen Schlüssel ohne dein Wissen genommen hat; ich sehe dir an, dass es nicht so war.« »Ich habe eine Tür geöffnet«, sagte Drustan. Die Kette zwischen den beiden Männern war angespannt. Deord hielt sie mit seiner freien Hand, als wäre er bereit, Drustan zurückzureißen, wenn sich Ana zu weit näherte. Ana sah den Gefangenen an, und er erwiderte ihren Blick. Seine Augen waren wechselhaft, ihre Farben spiegelten die vielen Farben des Waldes, grüne Blätter mit hellen Sonnenflecken, entferntes schattenhaftes Grau. Er sagte nichts mehr. Vielleicht fehlten ihm nun die Worte, so, wie es ihr zuvor ergangen war. Sie fand, dass er sich irgendwie verhielt wie ein Tier kurz vor der Flucht, fasziniert, aber misstrauisch. »Es tut mir Leid«, brachte sie schließlich hervor, und ihr heftig klopfendes Herz ließ ihre Stimme unsicher werden. Das war alles so seltsam; es kam ihr vor, als wären die üblichen Verhaltensregeln plötzlich alle weggefegt worden. »Wenn ich euch beide in Gefahr gebracht habe, tut mir das sehr Leid ... Ich wusste nicht...« »Geht es dir gut?«, fragte Drustan. Er beherrschte seine Stimme nicht besser als sie die ihre. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Es war schrecklich, als deine Begleiter vom Wasser weggeschwemmt wurden; ein finsterer Tag für dich.« »Du weißt davon?« Er hielt einen Augenblick inne, dann sagte er: »Deord und ich haben darüber gesprochen.« »Hast du sie geschickt?«, fragte Ana. »Die Vögel?« Ein Nicken, ein flüchtiges Lächeln, das ein Grübchen in seinem Mundwinkel verursachte. »Warum hast du das getan?« Ana suchte nach Hinweisen, - 246 welche Fragen sie stellen sollte, denn es gab so viele, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Drustan antwortete nicht. Ana begann sich tatsächlich zu fragen, ob sein Geist ein wenig verwirrt war. Bei all der
deutlichen Intelligenz in seinem Blick war sein Verhalten doch mehr als nur ein wenig seltsam. Hatte die lange Gefangenschaft ihn die Konventionen eines Haushalts vergessen lassen, sodass er sprach, wie und wann er wollte, ohne sich den Zwängen höflichen Verhaltens zu unterwerfen? Oder existierte Drustan auf einer Ebene außerhalb dieser Muster und kümmerte sich nicht um Konventionen? »Bist du böse auf mich, Ana?«, flüsterte er. Als er ihren Namen aussprach, spürte sie, wie sich etwas tief in ihr rührte, an einem Ort, an dem das Blut am heftigsten rauschte. »Nein«, sagte sie, »nur verwirrt. Bist du ein Druide oder ein Zauberer, dass die Tiere tun, um was du sie bittest? Warum hält man dich hier gefangen?« Er senkte den Blick; seine Finger spielten unwillkürlich mit den Fesseln. Er hielt sich nicht mehr so gerade wie zuvor. »Aus Notwendigkeit«, sagte er. »Es wäre gefährlich, es nicht zu tun.« Und dann, einen Augenblick später: »Hast du Angst vor mir?« Wie konnte sie ehrlich antworten? Sie konnte ihm nicht sagen, dass seine Augen bewirkten, dass ihr heiß und kalt und schwach wurde, dass sie sie einfingen und in einen Traum rissen. Wenn es hier irgendetwas gab, was ihr Angst machte, dann das. »Ich kann das nicht beantworten, Drustan - ist das dein Name?«, fragte sie und sah, wie er sich anspannte, als sie ihn aussprach. »Ich weiß nichts von dir, nichts außer dem, was ich sehe.« Nun blickte er wieder auf. »Was siehst du?«, fragte er. Das war in der Tat tiefstes Wasser. »Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete Ana. Sie kehrten schweigend zum Tunnel zurück, eine seltsame Prozession. Deord verlangte, dass Ana voranging; er - 247 folgte ihr, und sein Gefangener kam hinter ihm, mit der ganzen Länge der Kette zwischen ihnen. Es kam Ana, die einen Blick zurückwarf, so vor, als hätten diese beiden das schon oft getan, als hielten sie sich an bestimmte Verhaltensregeln, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Sie erkannte, dass Deord nicht wollte, dass Drustan ihr zu nahe kam. Aus den Fesseln, den verschlossenen Türen, den Gittern musste sie schließen, dass dieser Gefangene gefährlich war, aber sie konnte ihn sich beim besten Willen nicht als gewalttätigen Mann vorstellen. Würde dieser winzige Zaunkönig in seinem Haar sitzen, würden die anderen Vögel vertrauensvoll auf seinen Schultern hocken, wenn er zu Ausbrüchen von Zorn oder Verrücktheit neigte? Als sie in dem schattigen Hof waren, fesselte Deord seinen Schutzbefohlenen an die Kette, die in der Bank eingelassen war, bevor er die Fesseln löste, die die beiden Männer miteinander verbanden. Drustan sah Ana jetzt nicht an. Er stand im Schatten an der Wand, den Kopf gesenkt, und sagte kein Wort. »Komm«, sagte Deord. »ich bringe dich bis zur Tür und sorge dafür, dass man dich nicht sieht. Gib mir den Schlüssel.« Ana sah ihn an. »Ohne den Schlüssel«, sagte Deord ruhig, »sind wir beide hier gefangen und können uns nicht einmal etwas zu essen oder frisches Wasser holen. Wir gehen nicht oft nach draußen. Diese Ausflüge hinter die Mauer sind geheim. Vielleicht hast du das nicht verstanden.« »Du hast mich bereits gebeten, es Alpin nicht zu sagen«, sagte Ana. »Du erwartest sicher, dass ich dir den Schlüssel gebe und den Mund halte, als hätte ich hier nichts gesehen. Das werde ich nicht tun, Deord.« Ihre Drohung schien ihn nicht zu beeindrucken. »Ich werde dir den Schlüssel abnehmen, wenn ich muss. Er würde es vorziehen, wenn du ihn mir freiwillig gibst. Er muss - 248 beschützt werden. Du mischst dich in eine Sache ein, die du nicht verstehst.« »Dann erkläre es mir«, verlangte Ana. »Sag mir, wer er ist und warum er hier gefangen gehalten wird. Sag mir, warum niemand da draußen es erwähnt hat. Was für ein Verbrechen muss ein Mann begehen, um eine solche Gefangenschaft zu verdienen?« »Nicht hier. Du musst jetzt gehen.« Er schob sie bereits auf das Gittertor zu. Drustan hinter ihnen hatte sich nicht gerührt. Ihn so bedrückt zu sehen, das Licht in seinen Augen erloschen, beunruhigte Ana gewaltig. Ohne die Sonne und den Wald schien er nur der Schatten des Mannes zu sein, den sie auf der Lichtung beobachtet hatte, ein Geschöpf so schön wie ein Vogel im Flug. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde gehen, aber du musst mir die Geschichte später erzählen. Und du musst mich hierher zurückkehren lassen.« »Niemand kommt hierher«, sagte Deord tonlos. »Es ist gefährlich. Alpins Regeln. Wenn du daran etwas ändern willst, musst du mit ihm darüber reden. Und jetzt bewege dich.« Ana war nicht daran gewöhnt, dass man so mit ihr sprach, und es ärgerte sie, aber Deord hatte Recht, wenn er sie drängte, denn die Sonne schlich sich am Himmel höher; sie war schon viel zu lange hier draußen gewesen. »Gib mir einen Augenblick«, sagte sie, und ohne auf eine Reaktion zu warten, ging sie rasch an ihm vorbei und stellte sich neben den schweigenden Drustan, nahe genug, um ihn zu berühren. »Nein!«, sagte Deord scharf, aber Ana verschloss ihre Ohren vor seiner Stimme. Sie streckte die Hand aus und nahm die gefesselte Hand in ihre. Die Berührung entsandte einen Schauder durch ihren ganzen Körper, erschreckend und berauschend. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie und blickte zu dem Gefangenen auf. »Es tut mir Leid, dass ich deine Zeit der Frei- 249 -
heit verkürzt habe. Wenn es etwas gibt, was ich tun kann, um dir zu helfen ...« »Genug«, sagte Deord und packte Anas Arm, um sie wegzuziehen. Drustan hob die Hand so schnell, dass Ana erschrak. Er hielt das Handgelenk seines Hüters umklammert, bis Deords Finger sich lösten und er Ana losließ. In diesem Augenblick erkannte sie Drustans Furcht erregende Kraft. »Fass sie nicht an«, sagte Drustan leise zu Deord. »Sie wird freiwillig mit dir gehen; du brauchst sie nicht zu zwingen. Lebe wohl, Ana. Es hat mich glücklich gemacht, dich zu sehen.« Ana verspürte seltsamerweise so etwas wie Trauer. Sie verstand das nicht, schließlich waren sie einander fremd. »Lebe wohl«, sagte sie. »Ich hoffe, ich kann wieder mit dir sprechen. Ganz gleich, was du getan hast, das hier hast du sicher nicht verdient.« Sie wollte ihre Hand zurückziehen; Drustan hob sie stattdessen, zog sie an die Lippen und schloss einen Moment die Augen. Ana spürte, wie das Blut in ihre Wangen rauschte, und sah, wie auch Drustan errötete, ein perfektes Spiegelbild. Dann ließ er sie los und wandte sich ab. Die seltsame Begegnung war vorüber. »Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen«, sagte Deord leise, als sie die kleine Tür zu Alpins Zimmer erreichten, und seufzend legte Ana ihm den Schlüssel in die ausgestreckte Hand. »Man wird es bemerken, wenn ich vom Muster meines Tags abweiche. Ich werde vor dem Essen zu dir kommen.« »Wenn meine Zofe anwesend ist, werde ich die Antworten, die ich brauche, nicht erhalten können«, sagte Ana. »Das ist deine Entscheidung.« »Nein«, sagte sie, »es ist offenbar Alpins Entscheidung, diesen Gefangen wegzuschließen und ihn hinter einem Netz von Geheimnissen noch weiter zu verbergen. Was immer er getan hat, Drustan kann doch sicher Besucher haben. Er scheint nicht gefährlich zu sein.« - 250 »Nein, das scheint er nicht«, sagte Deord, öffnete die Tür und ging vor ihr hindurch, um sich zu überzeugen, dass niemand in der Nähe war. »Aber ich kenne ihn. Du bist hier fremd.« »Also gut«, sagte Ana. »Ich werde später mit dir sprechen. Du kannst dich auf meine Diskretion verlassen. Bitte sag das auch Drustan. Es tut mir ehrlich Leid, dass ihr beiden wegen mir früher hereinkommen musstet. Ich verstehe, wie kostbar diese Ausflüge für euch sein müssen.« Deord nickte höflich. Einen Augenblick später war er durch die kleine Tür verschwunden und schloss sie vor ihrer Nase. - 251 KAPITEL SIEBEN Es war Nachmittag. Ana saß mit den anderen Frauen zusammen im Nähzimmer und versuchte, sich aufs Säumen zu konzentrieren, aber es fiel ihr schwer, an etwas anderes zu denken als an Drustans lichterfüllte Augen, seine leise Stimme, seine kräftigen Hände. Die Erinnerung an seine Berührung trieb erneut das Blut in ihre Wangen. Ihre Hände zitterten, und sie hätte beinahe die Nadel fallen lassen. »Geht es dir nicht gut, Herrin?«, fragte Ludha leise mit besorgtem Blick. »Ich bin vollkommen in Ordnung, Ludha, nur ein wenig müde. Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen.« »Ich könnte diese Arbeit für dich beenden ...« »Ich schaffe das schon!« Ana hörte, wie schroff ihre Stimme klang. Es war ungerecht, dass ihre kleine Zofe darunter leiden sollte, dass sie sich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte; sie benahm sich wie ein dummes junges Mädchen, das keinen gut aussehenden Mann anblicken konnte, ohne dass ihre Knie weich wurden. Sie richtete sich gerade auf und sprach mit der Stimme einer königlichen Tochter zu sich selbst: Man wird nicht umsonst in Ketten gelegt. Drustan muss etwas Schreckliches getan haben. Es schien nicht viel zu helfen. Ihr Körper war immer noch ruhelos, ihre Gedanken voll von seinem Bild. Sie ver- 253 suchte es noch einmal: Ich bin hier, um ein Bündnis für Bridei zu schließen. Ich sollte mir nicht gestatten, mich ablenken zu lassen. Und schließlich fügte sie noch hinzu: Faolan wäre entsetzt über das, was ich getan habe. Er würde mich für sehr dumm halten. Dann endlich war es möglich, ihre Aufmerksamkeit eine Weile wieder ihrer Arbeit zuzuwenden und festzustellen, wie schief ihre letzten paar Stiche ausgefallen waren. Seufzend trennte sie sie wieder auf und merkte, dass ihr jemand den Stoff sanft aus den Händen nahm. »Bitte«, sagte Ludha. »Lass mich helfen. Das ist so ein hübsches kleines Gewand, es wäre schade, es zu verderben.« Ana nickte. »Ich dachte, ich sollte anfangen, die Babykleidung zu ersetzen, die im Fluss verloren ging. Aber meine Stiche sind heute alle krumm.« »Das ist gleich, Herrin.« Ludha trennte die verdorbene Arbeit bereits auf, die Lippen vor Konzentration geschürzt, die Augen zusammengekniffen. »Ich könnte das hier mit einer Bordüre abschließen, wenn es dir gefällt. Ich habe sehr fein gesponnene bunte Fäden in Braun, Blau und einem melierten Grün. Vielleicht ein paar Blüten?« Ana lächelte zerstreut. »Wie wäre es mit Vögeln?«, fragte sie. »Vögel? Was für eine Art von Vögeln?« Ein Zaunkönig, ein Kreuzschnabel und eine Krähe. »Das überlasse ich dir«, sagte Ana. »Ich bin sicher, du wirst es wunderschön machen, Ludha.«
»Danke, Herrin.« Drustan umklammerte das Gittertor so fest, dass seine Knöchel sich weiß verfärbten. Das rhythmische Scheppern des Metalls erfüllte den kleinen Hof, ein Trommelschlag des Schmerzes; die Vögel versteckten sich hoch oben in einer kleinen Nische unter dem vergitterten Dach. Jedes Mal, - 254 wenn Drustan mit dem Kopf gegen das Eisen stieß, schauderten die Vögel, als spürten sie den Schlag in ihren eigenen zierlichen Körpern. Auf der anderen Seite des Hofes kehrte Deord ungerührt die Pflastersteine. Er behielt seinen Gefangenen allerdings im Auge. Das Tor klapperte gewaltig; Drustan war stark. Eines Tages würde er es herausreißen. Aber das würde ihm wahrscheinlich nicht viel nützen. Deord war selten gezwungen, seine ganze Kraft einzusetzen, aber man hatte ihn eingestellt, weil er mit einer solchen Situation fertig werden konnte, und wenn es sein musste, würde er damit fertig werden. Er hoffte allerdings, dass es nicht dazu käme. Es gab andere Möglichkeiten, diesen Gefangenen zu beherrschen, bessere Wege, während der langen Gefangenschaft dafür zu sorgen, dass er körperlich und geistig einigermaßen bei Gesundheit blieb. Deord fegte weiter und beobachtete weiter, und nach einiger Zeit wurde der Rhythmus langsamer, dann hörte das Scheppern auf, und nur noch Drustans schwerer Atem war zu hören, ein Keuchen wie das eines Kindes, das all seine Tränen geweint hat. Deord hörte auf zu fegen. »Drustan?«, fragte er leise. Drustan drehte sich um. Sein Blick war wild. Der Schmerz in diesen Augen traf Deord wie ein Schlag vor die Brust. »Ich will nach draußen!« Drustans Stimme war heiser und ungleichmäßig. »Ich will hier raus! Ich will, dass es vorüber ist!« Er ging auf Deord zu, die Hände hoch erhoben, als wollte er seinen Wärter erwürgen. »Komm«, sagte Deord, stellte den Besen weg und ging zur Bank. »Setz dich zu mir. Atme langsamer.« Er streckte die Arme aus, packte Drustans Hände und führte ihn zur Bank. »Du machst den Vögeln Angst.« Drustan schlug die Hände vors Gesicht. Er krallte die Finger in die rötlichen Haarsträhnen. Sein ganzer Körper bebte vor Spannung. »Atme langsam, wie wir es geübt haben«, sagte Deord - 255 wieder. »Es wird vorübergehen.« Er versuchte nicht, seinem Schutzbefohlenen die Fesseln wieder anzulegen; die Kette lag schlaff unter der Bank. »Sitz still; lass dich von deinem Atem beruhigen. Vertrau mir, Drustan. Es wird vergehen.« Eine Weile sprach er mit leiser Stimme auf diese Weise weiter. Schließlich wurde Drustans Atem etwas leichter. Es war klar, dass er sich anstrengte, sich wieder zu beherrschen. Schließlich hob er den Kopf, setzte sich aufrecht hin, nahm die Hände aus dem Haar und schlang die Arme um den Oberkörper, als wäre ihm kalt bis ins Mark. Ohne ein Wort stand Deord auf und holte eine Decke aus dem Schlafzimmer. Als er zurückkam, waren die Vögel aus ihrem Versteck gekommen und saßen auf Drustans Kopf und Schultern. »Hier«, sagte Deord und wickelte die Decke um den Gefangenen; die Vögel flatterten kurz auf und ließen sich dann wieder nieder. »Das Mädchen hat dich aufgeregt. Du hättest ihre Neugier nicht ermutigen dürfen. All das wird wahrscheinlich nur deinen Bruder zornig machen, nicht nur auf uns beide, sondern auch auf sie.« »Sie wird es ihm nicht sagen.« »Du bist vertrauensselig wie ein Kind, Drustan. Sie hat es vielleicht wirklich nicht vor. Aber ich habe ihren Blick gesehen, als sie mir den Schlüssel zurückgab. Sie glaubt, dass deine Gefangenschaft ungerecht ist, und es wird ihr schwer fallen, nicht mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Wie kann sie das Alpin erklären, wenn er glaubt, dass sie nichts von deiner Existenz weiß?« Drustan sah ihn nüchtern an. »Er ist nicht ihr Mann«, sagte er. »Er wird es sein«, erwiderte Deord. »Er will sie haben. Sie sagen, er versucht nicht einmal, das zu verbergen. Sie ist hübscher als die meisten. Und sie ist hier, um ein Bündnis - 256 zwischen Alpin und Bridei von Fortriu zu besiegeln. Es wird geschehen.« Drustan griff nach oben, und der Zaunkönig sprang auf seinen Finger. Mit der anderen Hand streichelte er vorsichtig die weichen Federn. »Deord?« »Was ist?« »Ana sollte meinen Bruder nicht heiraten.« »Ach ja? Was soll das? Du weißt, dass solche Entscheidungen nur mit Strategiebündnissen und territorialen Vorteilen zu tun haben. Bridei und dein Bruder halten es offensichtlich beide für angemessen, dass es zu dieser Heirat kommt. Du hättest dich nicht mit ihr abgeben sollen.« »Sie sollte ihn nicht heiraten. Ihr Licht wird getrübt, ihr Geist erdrückt werden.« Deord sah ihn neugierig an. »Du warst es, der Alpin ausgeschickt hat, um sie von der Straße zu holen«, sagte er. Ein kurzes Wiederaufflackern seines vorherigen Zorns ließ Drustan plötzlich gefährlich aussehen. »Wie sonst konnten wir ihr helfen?«, fragte er herausfordernd. »Wäre ich frei gewesen, selbst zu gehen, hätte ich ihr gesagt... ich hätte sie gewarnt...« »Still«, sagte Deord. »Du gehst zu weit. Es ist eine gute Heirat für deinen Bruder. Er und dieses Mädchen sollten
gut genug miteinander auskommen. Sicher, sie ist ein wenig zu vornehm, um sich hier so richtig zu Hause zu fühlen, aber sie ist nicht dumm, und sie hat gezeigt, dass sie sich wehren kann. Außerdem zählen deine und meine Meinung in solchen Dingen nicht. Du hättest dich nicht einmischen dürfen.« »Sie wird es ihm nicht verraten.« »Tatsächlich hat sie mich gebeten, dir eine Botschaft mit genau diesem Inhalt zu überbringen«, sagte Deord. »Sie lässt dir ausrichten, dass wir uns auf ihre Diskretion verlassen können.« Drustan lächelte, der Zorn war verschwunden. - 257 »Sie meint es gut«, fuhr Deord fort. »Aber wer weiß, ob sie in der Lage sein wird, diese Diskretion aufrechtzuerhalten, sobald Alpin ihr die Wahrheit sagt. Dein Bruder wird Ana so weit von dir fern halten wollen wie möglich. Du kannst wohl kaum etwas anderes erwarten.« Drustan antwortete nicht. Das Lächeln war rasch wieder verschwunden. Nach einer Weile sagte er: »Ich könnte ihr nie wehtun.« Seine Stimme war angespannt. »Niemals. Das weiß sie.« Deord sah seinen Schutzbefohlenen mitleidig an. »Sie ist naiv«, erklärte er, »wenn sie so schnell ein Urteil über einen Menschen fällt. Sie glaubt vielleicht zu wissen, was du tun wirst oder nicht. Aber du weißt es selbst nicht. Du kannst niemals sicher sein, ebenso wenig wie dein Bruder. Aus diesem Grund musst du dich heraushalten. Du musst es den beiden überlassen, ihr eigenes Leben zu führen, ihre eigenen Fehler zu machen und sie wieder zu beheben.« Drustan sah seinem Hüter direkt in die Augen. »Und was denkst du?«, fragte er leise. »Glaubst du, ich würde ihr wehtun? Was siehst du in mir?« »Einen Mann mit vielen guten Eigenschaften.« »Aber du vertraust mir immer noch nicht.« »Du vertraust dir tief drinnen selbst nicht. Du hast getan, was du getan hast. Alpin glaubt, dass es wieder geschehen kann. Wenn du nicht sein Blutsverwandter gewesen wärst, hätte er dich schon vor sieben Jahren zum Tode verurteilt. Dann hätte keine Notwendigkeit für meine Dienste bestanden.« Drustan schaute seine Hände an, die offen in seinem Schoß lagen, und den kleinen Zaunkönig, der sich vertrauensvoll auf seiner Handfläche niedergelassen hatte. »Das hier ist auch eine Art von Tod«, sagte er. »Hätte ich ein Messer, dann wäre ich heute nur um Haaresbreite davon entfernt gewesen, dieser Gefangenschaft ein Ende zu machen, mir die Pulsadern aufzuschneiden und mich von der Kno- 258 chenmutter holen zu lassen. Ich habe sieben Winter ertragen. Ich kann es hier nicht für immer aushalten.« »Du wärst überrascht, was ein Mann aushalten kann«, sagte Deord. »Du bist stark. Du wirst es schaffen.« Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Glaub nicht, dass ich nicht in Versuchung geraten wäre, bei Vollmond im Wald. Glaub nicht, dass ich nicht daran gedacht hätte, dir einen Augenblick den Rücken zuzukehren und dich verschwinden zu lassen.« »Dann würde er dich bestrafen. Er würde dich umbringen.« »Es fehlt mir nicht an körperlicher Kraft. Deshalb hat er mich schließlich eingestellt.« »Mein Bruder hat viele treue Männer, und sie alle lieben die Jagd. Selbst du könntest nicht entkommen.« »Die Frage ist belanglos«, sagte Deord. »Du würdest zurückkehren. Das tust du immer.« »Hundert Jahre wären ihm nicht lange genug, um ihn für das zu entschädigen, was ich getan habe.« Drustans Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich kann nicht riskieren, dass ich diese Tat vielleicht wiederhole.« Drustan hob die Hände, und der winzige Vogel flog zum Eisentor und ließ sich dort nieder. »Warum gehst du nicht einfach, Deord? Selbst der schwerste Beutel ist keine Entschädigung für ein solches Dasein. Mich zu bewachen, verdammt auch dich zu lebenslanger Gefangenschaft.« »Still«, sagte Deord und stand auf. »Ich tue, was ich tue, und ebenso wie du träume ich davon, dass es eines Tages ein Ende finden wird. Ein Ende, das nichts mit Messern und aufgeschnittenen Adern zu tun hat.« Drustan saß lange Zeit still da. Kreuzschnabel und Krähe hielten Wache, ein Vogel auf jeder Schulter. Deord fing an aufzuräumen. Die Sonne stieg höher. Ihr schwaches Licht fiel kurz auf nackte Pflastersteine, dunkles Wasser und - 259 Steinmauern und war beinahe schon wieder verschwunden, bevor es Zeit hatte, diesen tief liegenden Ort zu berühren. Schließlich stand Drustan auf und ging zu dem kleinen Fenster, starrte hinaus zu dem Baum, der von Mauern gerahmt war, die allen Belagerungswaffen widerstehen sollten. Licht streifte den breiten Wipfel der Eiche; die Farbe leuchtete. »Eine Blüte, die achtlos gepflückt und dann dem Welken überlassen wird«, sagte er leise. »Ein Waldvogel, an eine Stange gebunden und gezwungen zu singen. Wie können wir daneben stehen und zusehen? Sie sollte ihn nicht heiraten.« Aber es war niemand da, der ihn hörte, außer den beiden Vögeln, und falls sie eine Ansicht zu diesem Thema hatten, behielten sie sie für sich. Während Alpins Trupp wieder zurück nach Dornwald ritt, arbeitete Faolan an seiner Bardenrolle: Ein wenig erschüttert, aber überrascht und erfreut, dass er im Stande gewesen war, den Kriegern bei ihrem Scharmützel zu helfen. Sie schlugen über Nacht ein behelfsmäßiges Lager auf, dann ritten sie rasch weiter über die kaum kenntlichen Pfade, die sich wie ein Irrgarten durch diesen Wald wanden. Als sie anhielten, um kurz miteinander
zu sprechen, bevor sie die schwierige Brücke überquerten, die die Grenze zu Alpins eigenem Land kennzeichnete, bemerkte Faolan, dass der Wasserstand des Flusses zwar immer noch gefährlich hoch war, aber erheblich niedriger als vor ein paar Tagen, als sie hier vorbeigekommen waren. Bald schon würde sich die Furt wieder sicherer überqueren lassen, falls die Flut nicht zu viele Löcher ins Flussbett gerissen hatte. Ana wartete auf ihren künftigen Ehemann, als der Trupp durch die Tore in die Festung ritt. Sie wirkte zerstreut, als sie Alpin begrüßte, als dächte sie an etwas vollkommen anderes. Sie gönnte Faolan keinen einzigen Blick. Er übergab sein Pferd einem Stallburschen und ging ins Schlaf quartier. - 260 Jemand hatte die Harfe gefunden. Sie lag auf dem Strohsack, den man ihm zugewiesen hatte, ein traurig aussehendes Instrument, dessen gebrochene Wirbel und fehlende Saiten von langer Vernachlässigung sprachen. Das Bild einer anderen Harfe erschien vor Faolans geistigem Auge, eine, deren Kurven und Linien die Hände des Barden genau kannten, deren Saiten seine Berührung erkannten wie die eines Liebenden, deren Rahmen in seinen Armen bebte, wenn das Instrument von Leidenschaft, Tod oder Freude erzählte. Dieses jämmerliche Überbleibsel der Vergangenheit würde nie ein solches Lied spielen. »Kannst du sie reparieren?« Gerdic kam auf dem Weg zur Pumpe vorbei, einen Eimer in jeder Hand. »Wenn ich das Material dazu erhalte, könnte ich etwas daraus machen.« Das Bedürfnis, einfach Nein zu sagen, war stark, aber er durfte Alpin nicht vergessen und wie viel davon abhing, das Vertrauen des Fürsten zu gewinnen. »Ich muss mindestens drei Saiten ersetzen und auch ein paar neue Wirbel schnitzen. Wenn es hier passendes Holz und ein paar Werkzeuge gibt, die ich mir leihen kann, könnte ich morgen damit anfangen. Wo finde ich Schafsdärme?« Faolan konnte beim Abendessen nicht mit Ana allein sprechen, und auch nicht hinterher. Er saß auf seinem Platz bei den Dienern und beobachtete sie unauffällig, während sie aß. Sie hörte Alpin und den Männern zu, die in seiner Gunst standen, als diese von ihrem Sieg über die Blauen erzählten. Sie wirkte wie eine kleine Insel der Ruhe unter den wilden Caitt mit ihren groben Scherzen, ihren ausladenden Gesten und ihrer robusten Begeisterung für ihr Bier und ihr Fleisch. Faolan fragte sich, ob sie sich je hier zu Hause fühlen würde. Er stellte sie sich als alte Frau vor; sie würde immer noch schön sein. Sie würde still dasitzen, während der Haushalt rings um sie her rülpste und schrie und grölte. Sie - 261 würde zusehen, wie ihre Kinder und Enkel nacheinander Teil dieses wilden, undisziplinierten Haufens würden. Undiszipliniert - nein, das traf nicht zu. Beim Kampf waren diese Krieger kein wirrer Haufen. Ihr Anführer war aufmerksam und entschlossen, die Männer zeigten sich mutig, beherrscht und kundig. Sie könnten eine Gefahr für Bridei darstellen, aber auch einen beträchtlichen Vorteil. Das durfte er nicht aus den Augen verlieren. Faolan wandte seine Aufmerksamkeit der breitschultrigen Gestalt des kahlen Dieners Deord zu, der mit seinem kleinen Tablett hereingekommen war und es am Tisch an der Seite belud. Ein kleiner Laib Brot, ein runder Krug, Braten auf einer Platte, etwas Dampfendes in einer Schale. Deord ging methodisch vor; er brauchte nicht lange. Einen Augenblick, als er sich umdrehte, um sich wieder in die Familienräume zurückzuziehen, begegnete sein Blick dem von Faolan, und es stand Erkennen in seinen Augen, die Anerkennung einer Gemeinsamkeit. Einen Augenblick später war er weg. Nach der Mahlzeit wurden die Tische und Bänke beiseite geschoben, und die Männer rangen, und danach ließen sie die Hunde kämpfen. Faolan zwang sich, in der Halle zu bleiben und zuzusehen. Er tat so, als tränke er sein Bier. Er tat sein Bestes, die gurgelnden, fauchenden Schreie nicht zu hören, als der stärkere Hund den anderen langsam in Stücke riss. Er schloss sich dem Applaus für den Besitzer des Siegers an, einen streitsüchtig aussehenden Burschen mit Stiernacken und einem Netz von Narben, das sich über seine Kriegerzeichen zog. Ana war in der Halle geblieben. Sie war kreidebleich, ihre Züge waren spitz vor Entsetzen. Viele andere Frauen hatten den Raum verlassen, bevor der Hundekampf begann, und nur eine oder zwei waren geblieben, um sich zu den Männern in ihren eifrigen, bewegten Kreis um die Kämpfenden zu gesellen. Faolan hatte gesehen, wie Alpin die Hand um - 262 Anas Arm schloss, als sie versuchte, sich zu entschuldigen, und ihm war vor Zorn kalt geworden. Der Herr von Dornwald war nicht nur ein Rüpel, er war grausam. Die Unterhaltung ging weiter, und Leute machten sich daran, das blutige Stroh wegzuräumen. Faolan setzte sich eine Weile zu Gerdic und den anderen und dachte darüber nach, was es wohl war, das ein solch grausamer Sport in einem Menschen ansprach. Er dachte an Bridei und den Gott des Brunnens der Schatten, einen Gott, der ein jährliches Opfer als Demonstration des Gehorsams seiner Anbeter erwartete: kein Huhn, kein Lamm und keine Ziege, sondern eine junge, unschuldige Frau. Bridei sprach nicht viel darüber; Gespräche über diese Gottheit und ihre Forderungen waren bei den Priteni verboten. Aber Faolan hatte Brideis Gesicht in der Nacht gesehen, als ein Mädchen vom alten König und seinen Druiden umgebracht worden war, um den Namenlosen zufrieden zu stellen. Und Bridei hatte ihm erzählt, was Männer empfanden, wenn dieser Gott in seiner finsteren Macht erwachte: Nicht nur Ehrfurcht, Entsetzen und Abscheu, sondern auch Erregung, ein aufregendes Gefühl, das gleichzeitig Freude und tiefste Scham war. Alle Männer trugen dieses Gefühl in sich, sagte Bridei, obwohl es im Allgemeinen tief verborgen lag und nur wenige bereit waren, seine Existenz zuzugeben. Insgeheim bezweifelte
Faolan sehr, dass Bridei je Freude dabei empfunden hatte, das Blut von Machtlosen zu vergießen. Bridei war für ihn die Verkörperung alles Gerechten und Guten und glich die Autorität eines Königs mit Freundlichkeit und Großzügigkeit aus. In der Tat hatte er diese extreme Form des Tortag-Opfers nach seiner Thronbesteigung abgeschafft. Für ihn war einmal mehr als genug gewesen. Was andere Männer anging, so wusste Faolan bereits von der Finsternis, die ihnen innewohnte, dem Bedürfnis, nicht nur Blut zu vergießen, sondern dabei das Messer auch noch herumzudrehen. Seine persönliche Lektion über die Un- 263 menschlichkeit von Menschen war unvergesslich gewesen. Als er an diesem Abend zusah, wie die Männer von Dornwald beim langsamen Tod eines Hundes grölten und jubelten, verspürte er zutiefst das Bedürfnis, zum Weißen Hügel zurückzukehren. Er wollte Ruhe. Er wollte Zeit nachzudenken. Vor allem wollte er nicht hier sitzen, Zeuge von Anas Verzweiflung werden und selbst unfähig sein, ihr zu helfen. Was die Harfe anging, die auf seine fachmännische Aufmerksamkeit wartete, so versuchte er diesen Gedanken von sich zu schieben, denn das war auf seine Weise das Beunruhigendste von allem. »Barde!«, rief Alpin plötzlich. Faolan ging zu der Stelle, wo der Fürst an Anas Seite saß, und beugte demütig das Knie. »Herr.« »Morgen früh wird deine Anwesenheit erwünscht«, sagte Alpin. »Deine Herrin möchte, dass du dabei bist, wenn wir unsere offiziellen Gespräche über die Heirat beginnen. Ich selbst sehe nicht ein, wieso das notwendig sein sollte, aber wir müssen dafür sorgen, dass wir es den Frauen recht machen, nicht wahr?« Er tätschelte Anas Hand und zwinkerte. Faolan starrte ihn ausdruckslos an. »Da ich es sein werde, der deine Antwort zu König Bridei bringt, scheint die Bitte der Dame nur angemessen.« Alpin verzog das Gesicht. »Deine Meinung interessiert uns nicht, Barde. Das ist alles. Man wird dich rufen, wenn es Zeit ist.« Es war klar, dass alle Dankbarkeit, die der Fürst von Dornwald vielleicht für das strategisch geworfene Messer empfunden hatte, verschwunden war, sobald er sich wieder auf eigenem Boden befand. »Ja, Herr.« Faolan zog sich zurück; er spürte die Blicke von Alpins Männern, während er das tat - nicht unbedingt feindselig, nur interessiert. Sie interessierten sich nach dem Vorfall mit dem Messer vielleicht mehr für ihn, als wünschenswert wäre. Aber das war gleich. Es war erfreulich, - 264 dass die Verhandlungen so bald stattfinden sollten. Wenn er es so schnell hinter sich brachte, bestand eine gewisse Chance, den Weißen Hügel zu erreichen, bevor Bridei aufbrach. Er hatte vorgehabt zu bleiben, bis Ana sich, wenn schon nicht glücklich, so doch sicher niedergelassen hatte. Seine Begeisterung für seinen Auftrag, die nie besonders intensiv gewesen war, wurde jeden Augenblick geringer. Eigentlich wollte er nur eins: sie auf der Stelle aus Dornwald wegbringen, sie nach Hause bringen und nie wieder hierher zurückkehren. Das jedoch war nur ein Traum und aus so vielen Gründen unmöglich, dass er kaum glauben konnte, dass ein Teil seiner Gedanken immer noch darum kreiste. Wenn er seine Gefühle nicht von der Situation ablösen konnte, wäre Ana zweifellos ohne ihn besser dran. Sie trafen sich zu der Beratung in Alpins Gemach. Faolan gefiel dieser Raum nicht; er konnte das breite Bett mit seinen üppigen Pelzdecken nicht ansehen, ohne sich vorzustellen, was Alpin darauf mit seiner neuen Frau tun würde, und das machte es ihm schwer, die Haltung beizubehalten, die er für diese Besprechung für angemessen hielt: ruhig, still und vielleicht ein wenig ehrfürchtig, denn was weiß ein schlichter Musiker schon von gewichtigen strategischen Angelegenheiten? Zumindest war es das, was Alpin denken würde. Ein solcher Mann würde die Verbindung zwischen dem Repertoire eines Barden und dem Wissen um den Lauf der Dinge nicht erkennen. Und das, dachte Faolan, war nur gut so. Wenn sie ihn schließlich zwangen zu singen, würde er ihnen ein vergnügtes Liedchen über Jagd, Met und willige Frauen bieten und sie mit einigem Glück damit zufrieden stellen. Ein Bewaffneter hatte Faolan hereingelassen. Alpin, der schon am Tisch saß, nahm seine Anwesenheit mit einem Grunzen zur Kenntnis, forderte ihn aber nicht auf, sich hin- 265 zusetzen. Faolan stand entspannt da, die Hände auf dem Rücken, den Blick in mittlere Entfernung gerichtet. Ein zweiter Bewaffneter stand hinter dem Fürsten, und ein weiterer Mann saß am Tisch. Sie warteten. Bier wurde eingegossen, aber Alpin bot Faolan nichts davon an. Nach beträchtlicher Zeit klopfte es an der Tür, und Ana kam herein, begleitet von ihrer Zofe. »Du wirst das Mädchen nicht brauchen«, sagte Alpin sofort. »Ludha, das wäre alles ...« »Bleib, Ludha.« Ana war bleich, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, entweder von einer durchwachten Nacht oder von unerwünschten Träumen. Ihr Tonfall jedoch war der einer Prinzessin. »Eine schlichte Sache der Angemessenheit, Herr. Es ist nicht recht, dass ich hier mit Männern zusammensitze, ohne dass meine Zofe dabei ist. Ich bin an gewisse Maßstäbe gewöhnt, und ich habe nicht vor, sie schleifen zu lassen, nur weil ich nun vielleicht ein neues Zuhause haben werde.« Sie zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Nein, meine Liebe, wir dürfen die Maßstäbe auf keinen Fall schleifen lassen.« Dann plusterte Alpin sich auf. »Du bist spät. Ich verzeihe dir das, denn ich kann sehen, dass du deine Zeit nicht verschwendet hast.« Sein Blick glitt bewundernd von ihrem kunstvoll geflochtenen Haar zu der ordentlich geglätteten Tunika und dem Rock bis
zu ihren weichen Ziegeniederpantoffeln. Es wurde Faolan sehr deutlich, dass der Fürst die reizvollen Wölbungen und Linien der Figur unter diesem bescheidenen Gewand abschätzte. Er sah Alpins selbstzufriedene Miene. Der Mann war sich seines Sieges sehr sicher und machte kein Geheimnis aus seiner Gier nach dem Preis. Faolan wandte den Blick ab. »Du kannst dich auf die Bank an der kleinen Tür dort setzen, Ludha«, sagte Ana und trat zu Alpin an den Tisch. »Werden diese Männer hier bleiben, Herr?« - 266 »Das ist nur gerecht«, sagte Alpin grinsend. »Du bekommst deinen Barden, und ich habe Dregard hier, der mich berät. Wir können doch nicht zulassen, dass der Gäle zu Bridei zurückrennt und ihm berichtet, dass es hier unangemessen zugeht.« »Und die anderen?«, fragte Ana mit einem Blick zu den Bewaffneten. »Du musst doch an Diener gewöhnt sein«, sagte Alpin. »Warst du nicht seit deiner Kindheit eine Geisel? Wenn ich mich recht erinnere, ging das aus Brideis rätselhaftem Brief hervor. Ich nahm das als verschleierte Zusicherung an, dass meine Braut mich in unberührtem Zustand erreichen würde.« Böse Worte drangen auf Faolans Lippen und wurde heruntergeschluckt, als Ana ihn stirnrunzelnd ansah. »Welche Gefahr könnte uns denn in einer Festung wie der deinen drohen?«, fragte sie Alpin mit einem beiläufigen Blick zu der kleinen Tür. Während des darauf folgenden Schweigens bemerkte Faolan eine Spannung im Raum, die er nicht benennen konnte, etwas Unausgesprochenes und zutiefst Gefährliches. »Die Wachen sind zu deiner eigenen Sicherheit hier, meine Liebe«, sagte Alpin. »Und zu meiner. Wir mögen hier keine Überraschungen, und wir wissen, wie wir uns darauf vorbereiten sollen. Nun, wo waren wir stehen geblieben?« Ana räusperte sich. »Wie du weißt, ist Brideis offizieller Sprecher an der Furt ertrunken. Er hatte ein paar Briefe bei sich, auch diese gingen verloren ...« »Wie hieß der Mann?« Die Frage war scharf. »Kinet«, sagte Faolan, bevor Ana antworten konnte. »Ki-net aus dem Haus Fortrenn. Er wurde von dem Pfeil eines Blauen niedergestreckt.« »Wenn ich wünsche, dass du sprichst, werde ich es dir - 267 mitteilen«, fauchte Alpin. »Die Dame braucht beim Beantworten schlichter Fragen nicht deine Hilfe. War dieser Botschafter ein Verwandter von Bridei? Ein Krieger?« »Bei dieser Besprechung geht es um die Bedingungen einer Übereinkunft«, sagte Ana leise. »Es ist kein Verhör. Kinet war ein guter Mann, ein Krieger und ein Höfling, ein Freund des Königs und ein Freund von mir. Und er ist tot. Ich werde Brideis Bedingungen so gut ich kann umreißen. Und ich möchte dich bitten, dass du mir gestattest, dies ohne Unterbrechung zu tun. Faolan wird mir mit ein paar Einzelheiten helfen müssen; wir haben einen großen Teil des Wegs hierher in Gesellschaft des königlichen Gesandten zurückgelegt und oft mit ihm über diese Dinge gesprochen. Außerdem bin ich eine persönliche Freundin von Königin Tuala und ...« »Wir?« Alpins Blick war plötzlich eisig geworden, und er kniff seine vollen Lippen zu einer gefährlichen Linie zusammen. »Es ist die Aufgabe eines Barden, seine Herrin zu unterhalten«, sagte Ana. »Er soll sie ermutigen und aufmuntern. Wir waren eine Gruppe von dreizehn; keine große Reisegesellschaft. Es war unvermeidlich, dass Faolan bestimmte Dinge erfuhr.« »Aha.« »Darf ich jetzt also die Bedingungen nennen?« »Selbstverständlich.« Alpin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Sein Berater, Dregard, stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Faolan, du darfst dich setzen«, sagte Ana, und einen kurzen Augenblick spürte er die ganze Wärme ihres Blicks. Er setzte sich schweigend hin. Sie leistete recht gute Arbeit, wenn man bedachte, dass es Gesichtspunkte der Situation gab, von denen sie nichts wusste. Sie erklärte, dass Bridei sich als Feind der Galen von Dalriada Alpin unbedingt als Verbündeten sichern wollte, - 268 dass er dafür sorgen wollte, dass Dornwald sich nicht mit den Eindringlingen im Westen zusammentat. Der König wusste, erklärte Ana, dass die Lage von Alpins Territorium, so nah an Ausläufern des Gälenlands im Territorium der Priteni, ihn zweifellos zum Ziel für Angebote von Seiten Gabhrans machen würde. Aber da sowohl die Caitt als auch die Menschen von Fortriu Priteni waren und Abstammung, Sprache und Glauben teilten, hielt es Bridei für wahrscheinlicher, dass Alpin sich zu einem Bündnis mit dem Weißen Hügel entscheiden würde. »Wie viele andere Caitt-Anführer sind bereits mit ihm verbündet?«, fragte Alpin. Sein Blick war schärfer geworden. Wieder einmal verblüffte es Faolan, dass sich hinter der barbarischen Fassade ein so guter Stratege verbergen sollte. Erwähne Umbrig nicht, bat er Ana in Gedanken. Aber es gab keine Möglichkeit, sie zu warnen. Alpin verfolgte jeden Blick, den sie wechselten.
»Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte Ana. »Kannst du nicht oder willst du nicht?« Alpins Tonfall grenzte nun an offene Unhöflichkeit. Faolan sah, wie Ana ein wenig zusammenzuckte, und mischte sich rasch ein. »Es ist doch wohl unwahrscheinlich, dass eine Dame über solche Informationen verfügt«, erklärte er. »Es ist lange her, seit einer deiner Fürstenkollegen den Weißen Hügel besuchte. Du kannst doch wohl kaum glauben ...« »Schweig!«, brüllte Alpin. »Du bist hier nur geduldet, und wenn ich möchte, dass du den Mund öffnest, werde ich es dir mitteilen. Die Frage war schlicht genug, selbst für eine Frau. Nun?« »Ich kann es dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß.« Anas Stimme war nun weniger fest. Man sah ihr ihren Abscheu deutlicher an. »Darüber hat Brideis Gesandter nicht mit mir gesprochen. Und es gab immerhin nur eine einzige Braut, die der König schicken konnte.« Sie beschwor ein Lächeln herauf, begegnete Alpins Unhöflichkeit mit Geist und - 269 Charme. Nach einem Augenblick verblüfften Schweigens brach der Fürst von Dornwald in Gelächter aus. Faolan wagte nicht, sich zu rühren, damit sich sein Zorn nicht über die Notwendigkeit hinwegsetzte, weiter die Bardenrolle zu spielen. Er war nur um Haaresbreite davon entfernt, aufzuspringen und Alpin die Wahrheit zu sagen, denn wie konnte er weiter zusehen, wie dieser Mann seine zukünftige Frau auf solche Weise beleidigte und demütigte? Sah er denn nicht, was Ana war, die seltenste und schönste Frau, die je die Täler von Fortriu durch wandelt hatte, so gerecht und ehrlich und gut, dass sie den besten König zum Mann verdiente, nicht einen pöbelnden Barbaren, der nicht einmal versuchen konnte, höflich zu sein? Faolan ballte unwillkürlich die Fäuste; dann holte er tief Luft und löste sie wieder. Er wünschte sich, dass ihm ein paar von Brideis Druidentricks zur Verfügung stünden. »Ich habe eine Frage.« Das war dieser Dregard. Er trug ein graues Wollgewand und nicht Hemd, Hose und Stiefel eines Kriegers. Er wirkte wie jemand, der sein Handwerk im Haus betreibt, denn er war blass, und ununterbrochenes Stirnrunzeln hatte eine tiefe Falte in seine hohe Stirn gegraben. »Sprich, Dregard«, sagte Alpin. »Ich bin sicher, Ana wird uns gern alles sagen, was sie weiß, so wenig das auch zu sein scheint.« »Strebt Bridei eine Vergrößerung seiner Streitmacht an?«, fragte der Mann im grauen Gewand. »Es ist gut bekannt, dass die Armeen der Caitt Furcht erregend sind, besonders die von Fürst Alpin. Solche Angebote sind ihm kaum neu. Bittet der König von Fortriu also darum, dass wir ihm Männer und Waffen für einen Feldzug stellen? Zum Beispiel für einen größeren Vorstoß gegen Dalriada? Und wann soll ein solcher Feldzug stattfinden?« Ana holte tief Luft. »Das sind mindestens vier Fragen«, sagte sie. »Soweit ich es verstehe - und selbstverständlich hast du Recht, Alpin, mein Verständnis ist begrenzt -, glau- 270 be ich, dass Bridei nur deine Zusicherung erwartet, dass die Männer von Dornwald nicht die Waffen gegen ihn erheben werden. Er bittet nicht um einen Beitrag der Caitt zu seinen eigenen Streitkräften. Ich kann euch nicht sagen, ob ein Feldzug geplant ist oder für welchen Zeitpunkt. Ich habe versucht, Fragen zu solchen Themen zu stellen, als ich erfuhr, dass man mich nach Dornwald schicken wollte. Ich erhielt keine zufrieden stellende Antwort.« Das war dicht an der Wahrheit; Faolan hätte nicht geglaubt, dass sie ein solch gefährliches Spiel wagen würde. »Du bist neugierig genug«, stellte Alpin mit einem dünnen Lächeln fest. »Aber das ist vielleicht bei einer jungen Frau nicht überraschend.« Ana antwortete nicht. »Wäre ich an deiner Stelle gewesen«, sagte Alpin, »hätte ich Bridei gefragt, wieso er nicht auf eine Antwort auf seinen Brief wartet, bevor er dich auf deine Reise schickt. Warum solche Eile? Das ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich und nicht besonders angenehm für dich. Hält man diesen jungen König nicht im Allgemeinen für ein Vorbild an Gerechtigkeit und Güte, als wäre er tatsächlich eine menschliche Verkörperung des Flammenhüters?« Er kratzte sich am Bart. »Oder ist es nur eine Geschichte, die von seinen Freunden, dem Druiden Broichan und anderen in Umlauf gesetzt wird, um uns andere daran zu erinnern, wer nun die wahre Macht im Land der Priteni innehat? Der Druide ist bei der Wahl tückisch vorgegangen, hat man mir gesagt.« Ana sah Faolan fragend an. »Darf ich sprechen?« Faolan richtete die Frage direkt an sie. »Bitte, Faolan«, sagte Ana. Dann wandte sie sich den anderen zu. »Faolan hat einige Zeit an Brideis Hof verbracht; er hatte Gelegenheit, den König zu beobachten, wenn er unter Männern war.« »Was sie über Bridei sagen, ist wahr«, erklärte Faolan ru- 271 hig. »Man nennt ihn nicht umsonst den Adler. Er verfügt über große Voraussicht, Kraft und tiefste Ergebenheit an die alten Götter der Priteni. In der letzten Zeit hat man ihm einen neuen Namen gegeben, einen, der zu seinen Plänen für die Zukunft seines Volkes passt.« »Und was wäre das für ein Name?« Alpin war gegen seinen Willen neugierig. »Sie nennen ihn das Schwert von Fortriu; sie glauben, er wird die gälischen Eindringlinge aus dem Land im Westen fegen.«
»Aha.« Alpin betrachtete ihn interessiert. »Du sagst das auf eine Weise, als interessierte dich das alles nicht besonders. Und dennoch bist du ein Gäle, und wenn ich mich nicht irre, ein Gäle von hoher Geburt. Warum zupfst du deine Saiten und spielst deine Flöte nicht am Hof des Königs von Dalriada in Dunadd oder über dem Wasser in Ulaid? Die Ui Neill würden deine Dienste sicher zu schätzen wissen.« »Ich stehe im Dienst dieser Dame, bis sie sich in Dornwald eingelebt hat. Zu diesem Zeitpunkt werde ich, falls es keinen anderen Boten gibt, den Bericht über das, was hier geschehen ist, für sie zum Weißen Hügel bringen. Meine Vergangenheit ist unwichtig. Ich habe den Westen schon vor langer Zeit verlassen und nicht vor zurückzukehren.« Alpin war der Wahrheit schmerzlich nahe gekommen; alle Fragen in dieser Richtung mussten schnellstens abgewehrt werden. »Was die andere Frage angeht«, warf Ana ein, »so war ich tatsächlich verstört über die Forderung, dass ich hierher reise, bevor der König deine Antwort erhalten hat. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sich eine junge Frau in solch einer Situation fühlt.« Sie errötete. Faolan glaubte einen verrückten Augenblick lang, dass sie seine eigene Verwirrung bemerkt und sich eingemischt hatte, um Alpins Aufmerksamkeit von ihm abzulenken. »Eine Frau zieht es vor zu wissen, - 272 ob sie willkommen ist«, fuhr Ana fort. »Sie zieht es vor zu heiraten, wenn sie sich der Zustimmung ihres künftigen Gemahls sicher sein kann. Dass wir nichts über deine Gefühle in dieser Sache wussten, hat mich auf dem Weg hierher sehr beunruhigt, aber als wir am Hochwasser so viele verloren ... wurde mir klar, wie unwichtig solch kleinliche Sorgen waren ... es tut mir Leid ...« Sie hob die Hand, um sich Tränen abzuwischen. Einen Augenblick später erschien Ludha, die Zofe, mit einem sauberen Taschentuch und leisen Worten an ihrer Seite. »Danke, Ludha. Ich muss mich entschuldigen.« Ana hob den Kopf und richtete sich wieder gerade auf. »Wie du siehst, habe ich mich von dieser Erfahrung noch nicht ganz erholt.« »Du solltest der Dame mehr Zeit geben.« Faolan konnte einfach nicht schweigen. »Dieses Gespräch kann doch sicherlich warten ...« »Nein, Faolan«, sagte Ana. »Wir sollten zumindest Brideis Bedingungen nennen. Das sind wir jenen schuldig, die bei dieser Mission umgekommen sind.« »Mission?«, wiederholte Dregard. »Seit wann ist die Reise einer Braut eine Mission?« »Sie wird dazu, wenn die Eheschließung von einem niedergeschriebenen und bezeugten Vertrag abhängt«, erklärte Ana entschlossen. »Das ist es, was Bridei verlangt. Die Bedingungen sollen von einem Schreiber aufgezeichnet und von einer unabhängigen Partei wie einem Druiden bezeugt werden; da ohnehin ein Druide für die Handreichung gerufen werden muss, sollte das möglich sein. Fürst Alpin stimmt zu, dass Dornwald weder Waffen gegen Bridei erheben noch sich mit den Galen verbünden wird. Das muss schriftlich festgehalten werden. Im Gegenzug wird dann die Hochzeit zwischen mir und Fürst Alpin stattfinden.« Ihre Stimme hatte plötzlich den selbstsicheren Unterton verloren, aber sie machte grimmig weiter. »Ich dachte nicht, dass ich mich je auf diese Weise vorstellen muss, aber of- 273 fenbar ist es der Fall. Ich entstamme der königlichen Linie der Priteni, und zwar über jenen Zweig, von dem die Könige des Volks abstammen, die Vasallen des Königs von Fortriu sind. Mein Vetter ist König der Hellen Inseln. Ich stamme aus einer gesunden und fruchtbaren Familie. Ich bin neunzehn Jahre alt und habe seit meinem zehnten Jahr am Hof des Königs von Fortriu gelebt. Was Brideis Gründe dafür angeht, unsere Gruppe zu diesem Zeitpunkt auf den Weg zu schicken, so hat man sie mir nicht mitgeteilt. Nach Jahren als königliche Geisel bin ich daran gewöhnt, die Befehle des Königs zu befolgen und nicht zu viele Fragen zu stellen. Ich bin vielleicht übermäßig neugierig, aber ich würde nie erlauben, dass dies die Leben anderer Menschen in Gefahr bringt, und auch nicht mein eigenes.« Alle schwiegen einen Augenblick, dann begann Alpin langsam zu applaudieren. Ana errötete noch tiefer. »Verspottest du mich, Herr?« Ihre Stimme zitterte nun. Jede Faser von Faolans Körper war angespannt, obwohl er selbst nicht hätte sagen können, welches Bedürfnis stärker war - er sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, aber er wollte diesem haarigen Mistkerl auch unbedingt auf der Stelle den Hals umdrehen. Er blieb reglos sitzen und strengte sich an, sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen. In seinem Handwerk war es ausgesprochen wichtig, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er konnte nicht viel gegen den Aufruhr in seinem Herzen tun, aber er konnte zumindest dafür sorgen, dass er in seinem Herzen abgeschlossen und unsichtbar blieb. »Nicht im Geringsten, meine Liebe«, sagte Alpin. »Lass mich dir ein wenig Bier eingießen. Du scheinst bedrückt zu sein. Meine Bewunderung ist vollkommen echt. Du befindest dich hier in einer ausgesprochen unangenehmen Situation, und ich muss leider zugeben, dass es recht unterhaltsam ist zuzusehen, wie du damit zurechtkommst. Aber - 274 du tust es sehr geschickt für eine junge Frau. Es ist mir klar, dass du nicht viel über die Spiele der Männer weißt. Ich nehme an, du bist nur darin unterrichtet worden, wie man schöne Stickereien anfertigt und Obst und Honig einmacht.« Ana sah ihn einen Augenblick lang schweigend an. Faolan erinnerte sich, dass sie zusammen mit einer außergewöhnlichen Gruppe junger Frauen, darunter auch Tuala und Talorgens Tochter Ferada, in Folas Schule
in Banmerren ausgebildet worden war. Fola war für ihre Gelehrsamkeit und ihre geistige Strenge bekannt. »Stickerei gehört tatsächlich zu meinen Hauptinteressen«, sagte Ana kühl. »Und nun zurück zum Vertrag. Brauchst du eine gewisse Zeit, um dich zu entscheiden? Hast du weitere Fragen?« Sie zog königlich die Brauen hoch, und in diesem Augenblick bewunderte Faolan sie mehr als je zuvor, denn sie verwandelte eine Demütigung in einen Triumph. Einen Moment begegnete sie seinem Blick, und er gestattete sich ein kaum merkliches Nicken, die Spur eines kleinen Lächelns. »Darf ich sprechen, Herrin?«, fragte er sie erneut. »Selbstverständlich, Faolan.« »Ich glaube, es gibt noch einen Punkt, der deutlich gemacht werden muss«, sagte er und zog die Schultern ein wenig vor, auf die Art eines Mannes, der nicht daran gewöhnt ist, in Gesellschaft von Höhergestellten zu sprechen. Er hoffte, dass er es nicht übertrieb. »Welcher Punkt ist das?«, fragte Alpin barsch. »Sprich weiter, Faolan.« Ana spielte mit. »Es ist durchaus möglich, dass du am Weißen Hügel etwas Wichtiges gehört hast, das mir nicht zugänglich war. Männer sprechen, so viel ich weiß, ausführlicher über diese Dinge, wenn keine Frauen anwesend sind.« »Es war etwas, was Kinet erwähnte«, sagte Faolan, dessen Gedanken sich überschlugen. »Etwas über ein anderes Ter- 275 ritorium von Fürst Alpin, das sich an der Westküste befindet, und die Notwendigkeit, sich mit diesem Vertrag der Treue beider Haushalte zu versichern.« »An der Westküste?«, fragte Ana nachdenklich, die sehr genau wusste, wie bedeutsam dies war. »Warum sollte oh, ich verstehe. Es würde einen Seeweg nach Dalriada bieten ... ja, ich bin sicher, Bridei würde wünschen, dass die Übereinkunft sich auf all deine Territorien bezieht, Alpin. Mir war nicht bewusst, dass du außer Dornwald noch anderes Territorium besitzt. Es ist ein weiter Weg bis zur Westküste, nicht wahr?« »Weit genug«, sagte Alpin kalt. »Das Land dort, das Träumende Tal, gehört nicht mir, sondern meinem Bruder.« Es gelang Faolan, seine Überraschung zu verbergen. Am Weißen Hügel hatte niemand einen Bruder erwähnt, und wenn es bekannt gewesen wäre, hätte Bridei mit Sicherheit Nachforschungen darüber angestellt, bevor er seine Bedingungen formulierte. Er suchte immer noch nach der richtigen Frage, als Ana sich wieder zu Wort meldete. »Du hast einen Bruder? Du hast ihn nicht erwähnt, als ich dich nach deiner Familie fragte. Oder vielleicht habe ich mich verhört. Ich nehme an, er hält sich im Westen auf. Alpin, die Heirat muss selbstverständlich warten, bis wir mit diesem Bruder gesprochen haben. Bridei wird euer beider Zustimmung benötigen. Ich sage es ungern, aber es sieht so aus, als betrachtete er euch beide als mögliche Gefahr oder, wie zu hoffen ist, als bedeutende Verbündete.« Sie wagte viel. Faolan hoffte, dass sie es nicht übertrieben hatte, denn wenn Alpin jetzt zornig reagierte, würde er seine eigene Reaktion wohl kaum beherrschen können. Aber die Antwort überraschte ihn. Der Fürst von Dornwald brach in bitteres, selbstironisches Lachen aus. »Meinen Bruder konsultieren? Das glaube ich nicht. Von ihm bekämet ihr nichts als Unsinn zu hören. Ich spreche in solchen Dingen für ihn.« - 276 Alle schwiegen. Ana und Faolan sahen Alpin an und warteten auf mehr. Zum ersten Mal wirkte Alpin beinahe verlegen. Seine breiten Wangen hatten sich gerötet, und er wich allen Blicken aus und konzentrierte sich stattdessen vorgeblich auf seinen Bierbecher, ein schönes Stück mit roten Steinen nahe dem Rand und einem Muster aus Hunden in Silberdrahtarbeit. f»Das verstehe ich nicht«, sagte Ana, nachdem offensichtlich wurde, dass Alpin nichts weiter sagen würde. »Du behauptest, du sprichst für ihn, aber wenn dieses Territorium, dieses Träumende Tal, ihm gehört, dann ist doch sicher er es, der die dortigen Streitkräfte befehligt. Wie meinst du das, Herr?« »Dornwald war das Territorium unseres Vaters«, sagte Alpin. Sein Widerstreben, sich zu diesem Thema zu äußern, war offensichtlich; er war unruhig geworden, verlagerte das Gewicht, bewegte ununterbrochen die Finger. »Das Träumende Tal wurde meinem Bruder direkt von unserem Großvater mütterlicherseits vererbt. Aber leider ist mein Bruder nicht im Stande, die Verantwortung für Ländereien oder Männer zu übernehmen. Er ist... er ist sehr krank.« »Es tut mir Leid, das zu hören«, sagte Ana. »Ich hoffe, es wird ihm bald besser gehen. Vielleicht könnten wir einen Boten nach Westen schicken, um seine Zustimmung zu dem Vertrag zu erhalten. Wenn er krank ist, wird er nicht reisen können. Es ist ein langer, schwieriger Weg ...« »Oh, ihr könntet mich hinschicken«, bot Faolan hilfreich an. Dregard räusperte sich, als wollte er etwas sagen. »Diese Sache ist nichts, wovon wir hier in Dornwald gerne offen sprechen«, sagte Alpin angespannt. »Ich hätte lieber mit Ana unter vier Augen darüber gesprochen. Es ist eine Familienangelegenheit von recht schwieriger Art.« Ana und Faolan schwiegen weiter und warteten. »Tatsächlich«, fuhr Alpin fort, »hält sich mein Bruder
- 277 nicht im Träumenden Tal auf, er ist hier und das schon seit ... seit seine Krankheit ausbrach. Diese Krankheit ist leider unheilbar.« »Dein Bruder ist hier?«, rief Ana. »Aber warum ... ist er zu krank, um Besucher zu empfangen? Wie traurig für dich!« Jetzt spielte sie nicht mehr, denn ihre Worte waren von echtem Mitleid geprägt. »Was hat er denn, die Fallsucht?« Alpin lächelte grimmig. »Ich wünschte, es wäre eine Krankheit, mit der man so einfach zurechtkommen kann, meine Liebe. Ich fürchte, Drustan leidet unter etwas, das ihn für sich selbst und für andere gefährlich macht. Es hat sich als notwendig erwiesen, ihn ... ihn einzusperren. Er ist... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Er ist nicht richtig im Kopf, und das war er nie.« Faolans Aufmerksamkeit war nun ganz auf Anas Gesicht gerichtet, denn während dieser letzten Worte hatte sich etwas in ihrer Miene verändert. Sie schien von Alpins Worten seltsam erschüttert. »Entschuldigt mich«, sagte sie abrupt. »Ich fühle mich ein wenig unwohl. Können wir dieses Gespräch später fortsetzen? Ludha, komm mit.« Sie drehte sich um und verließ den Raum, und die Zofe eilte hinter ihr her. Einen Augenblick lang sagte keiner der Männer etwas. Dann griff Alpin nach dem Bierkrug, goss sich und Dregard nach, und nach einem Augenblick des Zögerns goss er einen dritten Becher ein und schob ihn in Faolans Richtung. »Ich habe die Dame verärgert«, erklärte der Fürst. »Solche Nachrichten werden nie gut aufgenommen und ganz bestimmt nicht von einer jungen Braut. Welches Mädchen möchte schon erfahren, dass sie in eine Familie heiratet, in der jemand wahnsinnig ist? Es gibt Wege, Leuten so etwas zu sagen, und das hier war nicht der beste Weg.« »Es tut mir Leid«, sagte Faolan leise und meinte es ernst. Nicht, dass ihn Alpin interessierte, aber er hätte viel dafür gegeben, wenn diese Sache Ana nicht so durcheinander ge- 278 bracht hätte. Ihre Reaktion hatte ihn überrascht. Sie hatte Alpins verschleierte Beleidigungen mit dem Urteilsvermögen eines fachkundigen Beraters und den guten Manieren einer Dame hingenommen. Aber diese Nachricht hatte sie erschüttert. »Sie wird sich schon wieder beruhigen, Herr«, sagte Dregard. »Das hoffe ich«, erwiderte Alpin und trank einen Schluck Bier, »denn ich muss zugeben, ich verspüre den intensiven Wunsch - ein Barde würde vielleicht von einem leidenschaftlichen Begehren sprechen -, dass diese Heirat zu Stande kommt. Diese Frau kann mir schöne Söhne schenken, und schon die Zeugung dieser Söhne wird viel Spaß machen. Ich kann sehen, dass sie lebhafter ist, als ihre zurückhaltende Art vermuten lässt. Ich hatte gehofft, dass wir hier schneller vorankommen. Ich habe bereits nach einem Druiden geschickt, gleich an dem Tag, als ihr eingetroffen seid.« Das mit einem Seitenblick zu Faolan. »Er sollte innerhalb eines Monds hier sein, vielleicht sogar schneller, wenn das Wetter es gestattet. Es gibt nicht so viele Druiden hier im Norden, und sie neigen dazu, sich an unzugänglichen Orten niederzulassen: in Höhlen, auf halbem Weg eine Steilwand hinauf, auf kaum zugänglichen Inselchen oder in verborgenen Schluchten tief im Wald. Es gibt eine kleine Gemeinschaft von ihnen weit im Norden von Umbrigs Land; dorthin habe ich meine Botschaft gesandt. Hoffen wir, dass sie jemanden schicken, der schreiben kann. Ich habe hier keinen Haushaltsschreiber. Das gesprochene Wort genügt für einen Treueschwur unter den Caitt.« »Soweit ich weiß, waren König Brideis Bedingungen sehr präzise, Herr«, sagte Faolan. »Eine schriftliche, bezeugte Erklärung, die zurück zum Weißen Hügel gebracht werden muss.« »Wer wird in Brideis Namen unterzeichnen?« Alpin kniff die Augen zusammen. - 279 »Du wirst feststellen, dass die Dame Latein beherrscht und schreiben kann.« Es bereitete Faolan außerordentliches Vergnügen, Alpins Gesicht bei diesen Worten zu beobachten. »Sie hat eine gute Ausbildung genossen. Für eine Frau.« »Ich verstehe. Eine Gelehrte, wie? Dennoch, ich gehe davon aus, dass ich ihr sicher noch ein paar neue Tricks beibringen kann.« »Ja, Herr«, sagte Faolan durch zusammengebissene Zähne. »Du stehst ihr nahe«, stellte Alpin fest. »Ich arbeite schon eine Weile für sie, Herr. Aber ich bin nichts weiter als ein Diener.« »Hm. Also gut, du kannst gehen. Ich habe im Augenblick kein Interesse, weiter über diese Dinge zu sprechen. Ich werde dem Bündnis in Drustans Namen zustimmen. Er ist nicht fähig, solche Entscheidungen zu treffen. Der Wert der Dame geht für mich weit über Kleinigkeiten wie Bündnisse hinaus. Wenn Bridei will, dass wir seine Streitkräfte in Ruhe lassen, werden wir das tun. Wir haben hier genug eigene Probleme, ohne uns noch im Süden in Auseinandersetzungen verwickeln zu lassen. Sobald der Druide hier ist, werden wir die Angelegenheit abschließen, und du kannst dich auf den Heimweg machen, Junge. Bring diese Harfe in Ordnung, und dann kannst du uns unterhalten, während wir auf seine Ankunft warten. Ein neues Lied jeden Abend wird dich in Übung halten.« »Ja, Herr.« Alpin stand auf. Er überragte alle anderen Männer im Raum. »Halte dich von ihr fern«, sagte er, und nun hatte seine Stimme hatte einen ganz neuen Unterton. »Keine privaten Gespräche. Nichts weiter als ein Diener genügt
mir nicht. Sie gehört mir, und jeder Mann, der sie berührt oder auf eine Weise anschaut, die mir nicht gefällt, wird sich in einer Schlinge über meinem Haupttor wieder finden, mit einem gewissen Körperteil im Mund. Ist das klar genug?« - 280 »Ja, Herr.« Faolan kochte vor Zorn. »Und jetzt verschwinde.« Es gelang Faolan, Alpins Zimmer in angemessen ergebener Haltung zu verlassen. Noch ein ganzer Monat, dachte er, als er an der Tür zu dem Zimmer vorbeikam, in dem Ana sich aufhielt. Es würde eine Prüfung sein. Vielleicht war es gut, dass ihm verboten war, sie allein zu sehen, denn sein Herz würde ihn am Ende vielleicht veranlassen, Dinge zu sagen, die er bitter bedauern würde. Er würde sie vielleicht anflehen, mit ihm nach Hause zu kommen; er würde sein Bestes tun, sie davon zu überzeugen, dass sie keinen Mann heiraten durfte, der sie nicht glücklich machen konnte. Faolan fand eine Stelle, wo er allein sein konnte, oben auf dem Wehrgang hinter der Mauer, und stand dort lange Zeit nachdenklich, während die Sonne weiterzog und die Schatten im Dornwald sich in ihrem gewaltigen Muster aus Grün, Braun und Grau veränderten. Das Bündnis war beinahe gesichert. Seine Mission war beinahe zu Ende. Warum dann diese lächerliche Sehnsucht, in die Vergangenheit zurückzukehren, wieder müde, hungrig und frierend an einem winzigen Feuer zu sitzen, nur mit Ana als Gesellschaft? Dieses Bedürfnis erfasste ihn so heftig, dass es körperlich wehtat. Das kannst du nicht haben, sagte er sich. Nicht jetzt, und zuvor war es ebenfalls unmöglich. Lass sie gehen. Tu deine Arbeit. Tu das Einzige, was du kannst. Nach einer Weile kehrte er in sein Schlaf quartier zurück, suchte das Material zusammen, das er brauchte, und machte sich mit Messer und Holz daran, Wirbel für die Harfe herzustellen. Ana verbrachte den Tag in ihrem Zimmer, nur mit Ludha zur Gesellschaft. Sie wollte Alpins Erklärungen nicht hören, obwohl er dreimal an die Tür geklopft hatte, um sich zu erkundigen, wie es ihr ginge. Sein Bruder. Drustan war Alpins Bruder. Wie war das möglich? Wie konnte dieser sanfte, rei- 281 zende Mann mit den strahlenden Augen der Bruder eines so ungehobelten Menschen sein, der grausamen, blutigen Sport betrieb und Frauen zu seiner Unterhaltung verhöhnte? Und selbst wenn Drustan tatsächlich krank im Geist war, wie konnte Alpin ihn anketten wie einen wilden Hund, abgeschnitten vom Licht? Außerdem war Drustan ihr nicht krank erschienen. Er hatte eine etwas seltsame Art zu reden, war ihr aber ansonsten vollkommen vernünftig vorgekommen. Während sie in dem kleinen Zimmer auf und ab ging, hin und her gerissen zwischen Verwirrung und Empörung, kam sie zu dem Schluss, dass lange Gefangenschaft sich wohl unvermeidlich so auswirken würde, dass man ein wenig seltsam wurde. Würde Drustan nicht gekränkt, zornig und verängstigt sein? Sie hatte gesehen, wie seine Augen aufleuchteten, als er draußen im Wald war, frei, in der Lage, die Sonne auf dem Gesicht zu spüren und sich auszustrecken. Sie hatte den Schatten gesehen, der sich über ihn legte wie ein dunkler Umhang, als er sein finsteres Gefängnis wieder betrat. Vielleicht war er überhaupt nicht besonders krank. Warum versuchte Alpin nicht, seinem Bruder zu helfen, statt so zu tun, als gäbe es ihn nicht? Warum suchte er nicht nach Möglichkeiten, Drustan zu heilen? Deord hätte ihr Antworten geben können, hätte es tun sollen, wie er es versprochen hatte, als er den Schlüssel zurücknahm. Bisher war er ihr allerdings aus dem Weg gegangen, hatte etwas darüber gemurmelt, dass Drustan ihn brauchte und er keine Zeit hatte. Und jetzt war Alpin wieder da, und Ana hatte keine Möglichkeit mehr, mit Drustans Hüter zu sprechen. »Was ist denn, Herrin?«, fragte Ludha mindestens zum zehnten Mal und betrachtete ihre Herrin mit wachsender Unruhe. »Fühlst du dich nicht wohl? Es quält mich, dich so zu sehen.« Ana setzte dazu an, erneut zu sagen, dass es nichts war, dann zögerte sie. Es war ungerecht, Ludha in eine solche - 282 Angelegenheit zu verwickeln, aber es gab sonst niemanden, der helfen konnte. Sie konnte Faolan nicht erreichen, und ihr war klar, dass Alpin private Gespräche zwischen ihr und dem Barden ohnehin nicht gestatten würde. »Ludha«, sagte sie, »du hast gehört, was Fürst Alpin uns über den Gefangenen, seinen Bruder Drustan, gesagt hat.« Es verursachte ihr das seltsamste Gefühl, seinen Namen auszusprechen, eine Wärme tief in ihrer Brust. »Ja, Herrin.« Ludha sah sie nicht an, sie arbeitete fleißig weiter an ihrer Stickerei. Über den Saum des winzigen Gewands, das Ana ihr zur Fertigstellung überlassen hatte, zog sich nun eine Girlande aus Waldgrün und Veilchenblau. »Du wusstest bereits von diesem Gefangenen? Dass Alpins eigener Bruder hier in der Festung in einem Gefängnis sitzt?« »Das wissen alle, Herrin. Man hat uns angewiesen, es nicht zu erwähnen, bevor der Herr Gelegenheit hatte, es dir selbst zu erklären. Damit du dich nicht aufregst oder Angst bekommst. Es ist nicht gefährlich. Dieser Mann, Deord, kümmert sich um ihn.« »Ich mache mir keine Sorgen um meine Sicherheit, Ludha. Ich bin schockiert und bekümmert, dass Alpin seinen eigenen Bruder so behandelt. Dass er ihn wegschließt in solch einem ...« Ana schwieg. Sie würde nicht verraten, was sie gesehen hatte, nicht einmal Ludha. Es gab hier eine Verschwörung des Schweigens, und die Zofe war Teil davon. Wer wusste schon, ob sie nicht zu Orna oder zu Alpin selbst rennen würde, um ihnen alles zu
verraten, was Ana ihr mitteilte? »Es ist grausam, wenn ein Mann sein Leben lang eingesperrt ist. Ich nehme an, man hält ihn an diesem Ort gefangen, an den Deord immer geht, hinter Alpins Schlafzimmer.« »So heißt es, Herrin.« »Was ist er für ein Mensch, dieser Drustan? Alpin sagte, er sei... wirr im Geist. Er sagt, er würde nur Unsinn reden.« - 283 Und da sie bereits wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, war vielleicht der Rest der Geschichte auch eine Lüge. »Ich weiß es nicht, Herrin. Sie lassen ihn nie nach draußen. Sie sagen, er ist verrückt. Gewalttätig. Er hat Anfälle, und dann bricht der Wahnsinn über ihn herein. Deord ist der Einzige, der stark genug ist, um mit ihm fertig zu werden. Das sagen sie jedenfalls.« Ana wurde kalt. »Aber du bist hier seit sechs Jahren. Willst du behaupten, dass Alpins Bruder in der ganzen Zeit nie seine Zelle verlassen hat? Nicht ein einziges Mal?« »Nein, Herrin. Orna sagt, es ist viel zu gefährlich. Ich selbst weiß es nicht. Es gibt nicht viele Leute hier, die ihn vorher kannten.« »Vor was?« Ludha schwieg. Sie beugte sich über ihre Handarbeit und schürzte die Lippen. »Vor was, Ludha?« Ana dachte wütend, wenn sie einfach immer weiter fragte, würden diese Leute ihr vielleicht irgendwann einmal sagen, was sie wissen musste. »Sprich!« Als Ludha aufblickte und deutlich wurde, dass sie Tränen in den Augen hatte, erkannte Ana zu spät, wie scharf ihr Tonfall gewesen war. »Es tut mir Leid, Ludha. Ich bin nicht böse auf dich, ich ärgere mich nur, dass man einen Mann so behandelt, wenn er doch kaum etwas für seinen Zustand kann. Ich bin nicht daran gewöhnt, dass die Menschen in meiner Umgebung so viele Geheimnisse haben. Bitte sag mir einfach nur, was du weißt. Ich würde Drustan gern helfen, wenn ich kann. Tatsächlich glaube ich, wenn ich als Alpins Frau hier bleiben soll, ist es meine Pflicht, das zu tun.« »Er hat etwas Schlimmes getan, als er vom Wahnsinn befallen wurde«, flüsterte Ludha. »Also musste Alpin ihn einsperren. Die meisten Leute, die in dieser Zeit hier gearbeitet haben, sind weg. Kaum einer mehr weiß, was passiert ist, und die Leute reden nicht darüber. Aber es war schreck- 284 lieh genug, dass man den Bruder des Herrn nie freilassen kann, niemals. Mehr weiß ich nicht.« Ana dachte darüber nach. »Und was war zuvor?«, fragte sie. »Als er ein Kind war, ein Junge? Wer würde das wissen?« Ludha schüttelte den Kopf. »Niemand. Nur Alpin und seine Schwester, die nie hierher kommt. Und ...« »Und wer?« »Es gibt eine alte Frau, von der sie manchmal sprechen, die allein draußen im Wald lebt. Sie heißt Bela. Sie war einmal die Kinderfrau von Alpin, seinem Bruder und seiner Schwester. Aber niemand weiß wirklich, wo sie ist, oder auch nur, ob sie noch lebt.« »Ich dachte, dieser Wald wäre gefährlich. Voll von unheimlichen Präsenzen, nicht zu reden von streitsüchtigen Nachbarn. Warum lebt diese alte Dienerin nicht in der Sicherheit der Festungsmauern?« »Das weiß ich nicht, Herrin. Alte Leute können störrisch sein. Mein Großvater ist am Ende sehr schwierig gewesen. Er hat immer Hühner mit ins Haus gebracht. Das hat meine Mutter wahnsinnig gemacht. Vielleicht hatte diese alte Dame einfach genug davon, unter Menschen zu sein.« Ana war zu einem Entschluss gekommen. »Ludha?« »Ja, Herrin?« »Ich muss wissen, ob ich dir vertrauen kann. Ich muss wissen, ob du hinter meinem Rücken mit Orna sprichst, oder mit Alpin, oder mit irgendwem sonst, auch wenn ich dir sage, dass du es nicht tun sollst. Du arbeitest jetzt für mich. Zofe und Freundin. Was sagst du dazu?« »Herrin ...« Ludha hielt inne und starrte an Ana vorbei zu der schmalen Fensteröffnung. Flügel flatterten, und als Ana sich umdrehte, flog der Kreuzschnabel auf sie zu und landete auf ihrer Schulter. Er hielt eine kleine blaue Blüte im Schnabel. »Oh«, sagte Ludha leise und machte mit den Fingern ein - 285 schützendes Zeichen. Ihre rosigen Wangen waren bleich geworden. »Es heißt... sie sagen ...« »Dass die Vögel von Drustan kommen?«, fragte Ana. Ludha nickte und sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie der Kreuzschnabel anfing, sich zu putzen, und sich offenbar ganz wie zu Hause fühlte. »Das ist nicht der erste solche Besuch in meinem Zimmer. Fliegen diese Vögel frei überall herum?« »Nein, Herrin. Aber die Leute reden über sie. Über ihn und seine Vögel. Ich habe nie zuvor einen gesehen. Es gibt hier viele Katzen, und sie sind alle gute Jäger.« »Und jetzt, Ludha, beantworte meine andere Frage. Ich muss wissen, ob du den Mund halten kannst. Wenn die Antwort Ja lautet, will ich, dass du mir hilfst. Ich weiß, dass du ein gutes Mädchen bist, ein freundliches Mädchen, und ich hoffe, du wirst auf meiner Seite stehen, denn ich habe sonst niemanden.« Ludha legte ihre Stickerei hin. »Ja«, sagte sie. »Was soll ich tun?«
»Nichts Gefährliches. Als Erstes sage Orna, dass ich Kopfschmerzen habe und den Rest des Tages in meinem Zimmer bleiben werde. Du wirst mir ein Tablett mit Essen bringen. Ich will Fürst Alpin jetzt auf keinen Fall sehen.« »Ja, Herrin.« »Und dann, wenn alle beim Abendessen sind, musst du für mich Wache halten.« »Wache halten? Wo?« »Vor Fürst Alpins Zimmer. Es ist schon in Ordnung, Ludha, schau nicht so schockiert drein. Ich muss Deord nur ein paar Fragen stellen. Er hätte mir die Antworten schon vor langer Zeit geben sollen.« Deord hatte diese Arbeit als Wächter nicht ohne Grund erhalten. Als er die kleine, innere Tür öffnete und in Alpins Schlafzimmer kam, das Essenstablett in der Hand, machte - 286 Ana, die im Schatten gestanden hatte, einen Schritt auf ihn zu, und plötzlich wurde sie herumgerissen, und beide Arme wurden ihr in einem Knochen zerbrechenden Griff auf ihren Rücken gedreht. Das Tablett fiel herunter, und was darauf gestanden hatte, landete auf dem Boden. Deord hatte sich so schnell bewegt, dass er Ana gepackt hatte, bevor sie auch nur einmal Luft holen konnte. Einen Augenblick später ließ er sie wieder los. Ana rieb sich die Handgelenke und verzog das Gesicht. Der Vogel war durch die Tür geflogen, sobald sie geöffnet wurde. »Das war dumm.« Deord klang ruhig wie immer. »Ich muss auf jede mögliche Gefahr sofort reagieren. Es war keine Zeit, festzustellen, wer da auf mich zukam. Du solltest nicht hier sein.« »Im Schlafzimmer meines zukünftigen Ehemannes? Geht dich das etwas an?« Deord sah sie kühl an. »Ich arbeite hier als Wächter«, sagte er. »Als Beschützer. Inzwischen wird Alpin dir alle Erklärungen gegeben haben, die du brauchst. Ich muss gehen. Meine Pflichten müssen genauestens erfüllt werden.« »Du warst es, von dem ich Antworten wollte.« »Es ging Drustan an diesem Abend nicht gut. Ich habe es dir schon gesagt. Ich konnte ihn nicht lange allein lassen.« »Vielleicht ist es die Gefangenschaft, die ihn krank macht. Ich glaube, solch lange Zeiten im Halbdunkel würden selbst den gesündesten Mann verrückt machen.« Er schwieg und hob die heruntergefallenen Gegenstände auf, Platte, Schalen, Löffel. »Bitte«, sagte Ana. »Alpin hat mir nichts weiter gesagt, nur dass Drustan sein Bruder ist und eine Krankheit hat, die ihn unfähig macht, ein normales Leben zu führen. Ich will, dass du mir erzählst, warum. Warum ist er eingeschlossen? Ist er wirklich gefährlich? Womit hat das alles angefangen?« Sie hob zwei Becher auf und stellte sie aufs Tablett. »Bitte, Deord. Ich will Drustan helfen. Ich kann nicht glauben, - 287 dass seine Krankheit unheilbar ist. Er kam mir so höflich vor, so ... so gut.« »Er ist ein gut aussehender Mann«, stellte Deord ohne besondere Betonung fest. Anas Wangen glühten. »Das hat nichts damit zu tun!«, zischte sie. »Und jetzt beantworte meine Fragen.« »Wenn ich Befehle entgegennehme, dann von Alpin.« »Antworte mir, oder ich werde ihm sagen, dass ich euch vor der Mauer gesehen habe.« Ihre Stimme zitterte. Sie hoffte, dass ihm nicht klar war, dass sie das ganz bestimmt nicht tun würde, nicht, wenn es das Ende der wenigen Augenblicke der Freiheit bedeutete, die dem Gefangenen vergönnt waren. »Komm.« Deord stellte das Tablett ab, öffnete die kleine Tür, zog Ana am Arm hindurch und schloss die Tür hinter ihnen, sodass sie in dem dunklen Lagerraum dahinter standen. »Wir müssen uns beeilen. Indem du dich so einmischst, setzt du unsere Sicherheit und deine eigene aufs Spiel. Alpin weiß alles, was es zu wissen gibt. Er ist derjenige, den du heiratest, und seine Antworten sind es, die du brauchst.« »Ich will deine.« »Warum?«, fragte er tonlos. »Weil ich glaube, wenn du mir etwas sagen wirst, wird es die Wahrheit sein. Weil ich glaube, dass du Drustans Freund bist. Ist er wirklich krank? Verrückt?« Deord zögerte. »Sein Geist ist nicht wie deiner oder meiner«, sagte er. »Einige Leute betrachten es als Wahnsinn.« »Und wie betrachtest du es, Deord?« »Ich bin nur ein Wächter; meine Ansicht ist unbedeutend.« Es war, als spräche man mit Faolan, wenn er am schwierigsten war. »Glaubst du, Drustan hat den Verstand verloren? Ist diese Frage klar genug für dich?« »Vielleicht hat er ihn verloren, vielleicht hat er mehr davon als wir gewöhnlichen Leute. Er und ich teilen uns die- 288 ses Quartier jetzt schon lange. Eingeschlossen zu sein - das verändert die Ansicht eines Mannes über die Welt und die Menschen darin. Vielleicht ist niemand wirklich gesund. Vielleicht gibt es nur unterschiedliche Grade von Verrücktheit. Du solltest dich nicht einmischen. Das hier geht tief, zwischen ihm und Alpin. So wie es jetzt
ist, ist es vielleicht das Beste für beide.« »Das Beste?« Ana war empört. »Einen Mann in ein finsteres Loch einschließen, ihm verbieten, die Sonne und das offene Land zu sehen, ihn von anderen Menschen fern halten, als wäre er ein gefährliches Tier - das ist ein ziemlich jämmerliches Bestes.« »Du weißt wenig über solche Dinge«, sagte Deord, »wenn du glaubst, das hier sei eine grausame Form von Gefangenschaft. Frag deinen Bardenfreund, was er über Gefängnisse weiß.« »Faolan? Wie meinst du das? Kennst du ihn?« »Ich habe ihn nie gesehen, bevor er nach Dornwald kam. Dennoch haben wir einen Teil der Vergangenheit gemeinsam. Ich bin sicher, dass Faolan dir sagen wird, dass Alpins Behandlung seines Bruders unter den Umständen ausgesprochen großzügig ist. Sprich mit deinem Barden über ein Gefängnis, das als der FelsentalKerker bekannt ist, in Ulaid. Ein Ort, mit dem er ebenso vertraut ist, wie ich es bin.« »Ich kann nicht mit Faolan sprechen«, sagte Ana tonlos. »Alpin erlaubt nicht, dass wir uns unter vier Augen sehen.« Sie war bitter enttäuscht, dass Deord ihr nicht mehr sagen konnte. Als sie an diesem Morgen im Wald das Spiel des Lichts auf nackter Haut und das Ringen der beiden miteinander beobachtet hatte, war es ihr vorgekommen, als gäbe es eine Verbindung zwischen Wärter und Gefangenem, die über reine Gewohnheit hinausging. Sie hatte geglaubt, dass er und Drustan Freunde wären. Was diese Sache mit dem Gefängnis anging, so war sie nicht überrascht, dass es in Faolans Vergangenheit solche Geschichten gab. - 289 »Ich kann dir nicht helfen«, sagte Deord. »Du lässt uns am besten in Ruhe. Dein Eintreffen hat Drustan aufgeregt; es hat Träume geweckt, die er sich nicht leisten kann. Es macht alles nur schwieriger...« Die Tür wurde aufgerissen. Alpin stand vor ihnen, die Hände auf den Hüften, das Gesicht vor Wut verzerrt, und als Ana zurückzuckte, entdeckte sie Ludha am anderen Ende des Schlafzimmers, wo sie sich an die gegenüberliegende Wand drückte. Die Zofe hatte einen roten Fleck auf der Wange. Der Fürst von Dornwald kam in den Lagerraum gestürmt und wollte Ana an der Schulter packen. Innerhalb eines Herzschlags war Deord zwischen ihnen, hatte eine Hand flach gegen die Wand gestützt und bildete eine Barriere zwischen Alpin und seiner zukünftigen Frau. Anas Herz klopfte heftig. Kalter Schweiß brach ihr aus. Deord hatte sich vollkommen lautlos bewegt. »Was soll das?«, brüllte Alpin. »Was tust du hier mit ihm? Wer hat dir den Schlüssel gegeben?« Ana schluckte hinter der schützenden Linie von Deords muskulösem Arm. »Ich wollte diesem Mann eine Frage stellen«, sagte sie. »Das hier ist nicht Deords Schuld; er hat sein Bestes getan, nicht mit mir zu sprechen. Er bestand darauf, dass du der Einzige bist, der mir Antworten geben kann. Vielleicht wirst du das jetzt tun. Es wäre dort drüben am Tisch erheblich bequemer. Und wir können Deord seine Arbeit machen lassen. Dein Bruder wird Hunger haben.« Ihr Götter, sie zitterte wie Laub im Wind. Alpin ballte die Fäuste und löste sie wieder, als stünde er kurz davor, Deord oder sie selbst oder sie beide gleichzeitig anzugreifen. Ihr fiel nichts anderes ein, als so zu tun, als wäre alles vollkommen normal. »Danke, Deord. Ich bin jetzt in Sicherheit. Du kannst gehen.« Deord senkte die Arme sehr langsam, sein ruhiger Blick begegnete Alpins zornigem. Der Fürst von Dornwald trat einen Schritt zurück. - 290 »Ich fühle mich immer noch ein wenig krank und würde mich lieber hinsetzen«, brachte Ana heraus und ging dann zum Tisch. »Ludha, geh und drücke ein kaltes Tuch auf diesen Fleck, und du solltest Orna bitten, dir zu helfen. Ich werde hier bleiben, bis du zurückkommst.« Ludha floh. Deord, das Tablett in der Hand, verließ mit einem Flüstern des langen Gewands auf den Steinfliesen des Bodens das Zimmer. Alpin stand mitten im Zimmer, die Beine leicht gespreizt, und starrte Ana wütend an. »Hast du meine Zofe geschlagen?«, fragte Ana, um ihm zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Ihre Zähne klapperten, doch sie biss sie fest zusammen, zog die Brauen hoch und versuchte die königliche Miene aufzusetzen, die ihr häufig in der Vergangenheit mehr Selbstvertrauen gegeben hatte. »Was hast du hier drin mit ihm gemacht?« Alpin ignorierte ihre Frage. Er sah nicht aus, als wollte er sich zu ihr an den Tisch setzen. »Meine Frau verbringt keine Zeit allein mit einem anderen Mann, ganz gleich, ob das nun ein Barde, ein Höfling oder ein Diener ist, verstanden? Wenn dieser Bursche nicht so wertvoll wäre, würde ich ihn auspeitschen lassen, weil er gegen diese Regel verstoßen hat...« »Alpin, setz dich hin.« Ana kämpfte gegen ihren Zorn an und zwang sich zu einem Lächeln. »Bitte. Ich war so erschrocken, als ich von deinem Bruder und seiner Krankheit erfuhr. Ich hätte dich gebeten, mir zu erklären ... aber es war mir peinlich. Also habe ich Deord gefragt, da mir aufgefallen ist, dass er so etwas wie ein Wärter ist. Es tut mir Leid, wenn ich gegen eine Regel verstoßen habe, von der ich nichts wusste. Du vertraust mir offenbar sehr wenig, wenn du es für nötig hältst, meine Freiheit so einzuschränken. Ich bin nicht daran gewöhnt, behandelt zu werden, als wäre ich nicht vertrauenswürdig.« Alpin setzte sich ihr gegenüber, die großen Hände auf dem Tisch gefaltet, das Gesicht mürrisch verzogen. - 291 »Ich möchte einfach nur, dass du mir alles erklärst«, fuhr Ana fort. »Aber als Erstes muss ich dir sagen, dass Ludha, da sie nun als meine Zofe arbeitet, sich nur mir gegenüber zu verantworten hat und nicht vor dir. Das bedeutet, wenn ein Tadel von Nöten ist, eine ... Disziplinierung ... werde ich selbst dafür sorgen. Ich weiß, wie man mit Dienern umgeht, Alpin. Ich bin in einem königlichen Haushalt aufgewachsen, ich habe viele Jahre am
Hof von Drust dem Stier in Caer Pridne verbracht und später bei Bridei am Weißen Hügel.« Wo, wie sie nicht hinzufügte, die Diener höflich und gerecht behandelt wurden. Sie konnte sich nicht an einen einzigen Fall von körperlicher Gewalt erinnern. »Ich misstraue nicht dir, meine Liebe«, knurrte Alpin, »es sind die Männer. Du siehst nicht, wie reizend du bist, aber sie bemerken es, jeder Einzelne von ihnen. In den Augen deines Faolan steht jedes Mal, wenn er dich ansieht, ein glühender Blick, und der Bursche ist immerhin Gäle. Ich würde ihm alles zutrauen. Was Deord angeht, so nehme ich an, es geht ihm wie den meisten Männern, die nicht viel Zeit in Gesellschaft von Frauen verbringen. Ich möchte nicht, dass du mit einem von ihnen allein bist. Nicht jetzt und niemals.« Ana wies ihn nicht darauf hin, dass sie noch nicht verheiratet waren. Sie musste Fragen stellen, und sie musste dabei vorsichtig vorgehen und dafür sorgen, dass er zufrieden war, wenn sie Antworten erhalten wollte. Ludha kam wieder hereingeschlüpft, ein Stück Tuch auf die Wange gedrückt. Ana lächelte ihr tröstend zu. Das Mädchen war mutig. Alpin war ein großer, kräftiger Mann, und sein Zorn war Furcht erregend. »Du hast von der Krankheit deines Bruders gesprochen«, sagte Ana. »Ich sollte dir sagen, dass ich in deiner Abwesenheit Deord mit seinen Tabletts beobachtet habe und mir die Frauen sagten, dass er als eine Art besonderer Wächter arbeitet. Mir war klar, dass diese kleine Tür an einen Ort - 292 führen musste, an dem Gefangene gehalten wurden, oder vielleicht nur ein einziger Gefangener, da Deord für gewöhnlich Essen für zwei Personen mitnahm. Ich habe schon zuvor versucht, ihm Fragen zu stellen, aber er wollte nicht mit mir sprechen. Orna sagte mir, ich sollte warten und dich fragen.« »Da hat sie dir einen guten Rat gegeben. Schade, dass du ihn nicht befolgt hast. Du hättest uns allen einigen Kummer ersparen können.« Alpins Blick zuckte zu der schweigenden Zofe und dann wieder zu Ana. »Warum bist du in Deords Bereich gegangen? Warum warst du in meinem Schlafzimmer? Es war eine Lüge, nicht wahr, dass es dir heute schlecht ging? Mir kommst du vollkommen gesund vor. Was soll das alles?« Wieder wurde er zornig; sie sah es deutlich an seinem angespannten Kinn, den geballten Fäusten, und hörte es an seiner Stimme, die immer lauter wurde. Ana streckte die Hand aus und legte sie auf seine. Das beruhigte ihn sofort. »Ich hatte nicht vor, dich zu hintergehen, Alpin«, sagte sie und zwang sich, ein wenig zögernd zu sprechen. »Ich dachte, du magst solche Spiele, Spiele, wie sie Männer und Frauen spielen. Ich fühlte mich tatsächlich heute früh höchst unwohl. Ein Mädchen hört nicht gerne solche Dinge über ihre zukünftige Familie. Aber ich muss gestehen, ich habe Ludha an der Tür aufgestellt, damit sie Wache hält, und dann habe ich Deord aufgelauert, weil ich ihn fragen wollte, ob es stimmt, dass dein eigener Bruder tatsächlich hier in Dornwald wie ein Gefangener gehalten wird, und alles nur, weil er das Unglück hatte, von einer Krankheit befallen zu werden, für die noch niemand nach Heilung gesucht hat. Es tut mir Leid, wenn ich dich verärgert habe, Alpin.« Sie bog sanft ihre Hand um seine, legte den Kopf ein wenig schief und lächelte auf eine, wie sie hoffte, beschwichtigende Weise. Sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass er sofort durchschauen würde, wie gekünstelt all das war, und einen neuen Wutanfall erlitt, aber - 293 stattdessen legte Alpin seine andere Hand auf ihre und wurde erheblich freundlicher. »Möchtest du deine Zofe nach ein wenig Met und etwas zu essen schicken? Du hast seit heute früh nichts zu dir genommen.« »Selbstverständlich. Ludha, könntest du einen der Männer bitten, uns etwas zu bringen? Danke.« Sie warteten. Ana war klar, dass er nicht weitersprechen würde, bevor sie wieder ungestört waren. Er hielt einfach ihre Hand und lächelte, und sie fand das beinahe schwerer zu ertragen als seinen Zorn, denn seine Berührung war ihr sehr unangenehm, selbst wenn er es sanft tat. Das Wissen, dass sie ihn diesmal selbst dazu verleitet hatte, machte es noch schlimmer. Es war, als hätte sie sich irgendwie besudelt. Ein Diener brachte etwas zu essen und zu trinken. Nicht lange danach ging Deord wieder mit seinem diesmal beladenen Tablett durchs Zimmer und verschwand durch die kleine Tür, ohne ihnen einen weiteren Blick zu gönnen. Ludha kehrte an ihren Platz zurück. »Es überrascht mich nicht, dass diese Geschichte dich verstört hat«, sagte Alpin. »Du denkst wahrscheinlich an unsere Kinder, daran, dass so etwas erblich sein könnte. Du fürchtest, dass deine eigene reine Blutlinie von etwas Wildem und Unvorhersehbarem verdorben wird. Das ist möglich. Ich kann es nicht abstreiten. Ich war schon einmal verheiratet, wie du wohl weißt. Ich hätte einen Sohn gehabt. Er lebte nicht lange genug, um zur Welt zu kommen. Ich habe nie erfahren, was er gewesen wäre, künftiger Anführer oder tobender Verrückter.« Er senkte den Kopf. »Das tut mir Leid«, sagte Ana. »Ich hörte, dass du ein Kind verloren hast, ebenso wie deine erste Frau. Das ist schrecklich traurig. Und - verzeih mir, wenn es dir unangenehm ist, darüber zu sprechen - ich höre auch, dass du einen natürlichen Sohn hast?« - 294 Alpin nickte. »Er ist in Pflege. Er kann jedoch nicht erben. Du brauchst dir um seinetwillen keine Gedanken zu machen. Für ihn ist gesorgt. Und kein Anzeichen von Wahnsinn, wenn du das meintest.« »Ich muss zugeben, dass es nicht einmal so sehr die Aussicht auf das Weitervererben dieser Krankheit ist, das mich beunruhigt«, sagte Ana. »Es ist - es ist der Gedanke daran, dass dein Bruder all diese Jahre hier eingeschlossen war, ohne auch nur die geringste Hoffnung auf Freiheit zu haben. Was genau stimmt mit ihm
nicht? Kann man denn nichts für ihn tun?« »Nein, es gibt keine Hilfe für ihn.« Alpins Tonfall war niederschmetternd endgültig, aber Ana bohrte störrisch weiter. »Hast du den Rat erfahrener Heiler gesucht? Broichan, der Druide des Königs, ist bekannt für seine Fähigkeiten...« Ana brach abrupt ab, als Alpin mit der Faust auf den Tisch schlug, dass es Becher und Messer klirren ließ. »Erzähl mir nichts von Heilung und Rat! Drustan ist eine Gefahr für jeden, der lebt und atmet! Er darf nie freigelassen werden!« Ana holte tief Luft und wartete, bis ihr Herzschlag ein wenig langsamer geworden war. »Ich verstehe«, sagte sie, obwohl er bisher noch nichts erklärt hatte. »Bei Vollmond ist er am schlimmsten«, murmelte Alpin. »Wild wie ein tollwütiger Hund, vollkommen unberechenbar und unzugänglich. Und er ist stark. Bei Vollmond muss er fest weggeschlossen werden, damit er den Himmel nicht sehen kann. Zu anderen Zeiten sind die Anfälle nicht so heftig, aber es macht ihn immer noch schwierig. Und es schlägt ganz plötzlich zu. Ihn freizulassen wäre unverantwortlich. Niemand weiß, was er tun und wem er Schaden zufügen könnte.« Er trank einen großen Schluck Met. »Das wollte ich dir überhaupt nicht sagen. Ich wollte keine Einzelheiten verraten. Ich dachte, je weniger du wüsstest, desto glücklicher würdest du sein.« - 295 Ana widersprach ihm nicht. Ihr Herz war schwer. Sie glaubte, endlich die Wahrheit in seinem Blick zu erkennen, und stellte fest, dass sie sie nun doch nicht hören wollte. »Aber...«, begann sie wieder, »du könntest seine Gefangenschaft doch zumindest erträglicher machen. Am Tag könnte er doch sicher irgendwo sein, wo er den offenen Himmel sehen kann, den Wald ... wo die Sonne ihn erreichen kann, ohne Gitter dazwischen. Für immer an diesem finsteren Ort eingeschlossen zu sein, für einen Wahnsinn, der ihn ohne sein eigenes Zutun befallen hat, ist... das ist grausam, Alpin. Es ist barbarisch. Er ist dein Bruder.« Dann brachte sie kein Wort mehr heraus. Der Blick, den er nun auf sie richtete, war kalt, und seine Miene erschreckte sie. »Du weißt doch angeblich nichts davon, wie er untergebracht ist.« Seine Stimme war so ruhig noch bedrohlicher, als wenn er schrie. »Du hast mir selbst gesagt, dass niemand dir etwas verraten wollte. Warum sprichst du von einem Ort, an dem der Gefangene den Wald nicht sehen kann, einem Ort, an dem der Himmel nur durch Gitter sichtbar ist? Alles, was du gesehen hast, ist eine Tür und ein Weg durch Lagerräume. Oder hast du mich belogen?« »Ich ... ich meine...« Sie konnte die Worte, die sie brauchte, nicht finden. »Antworte mir!«, fauchte Alpin und kam halb auf die Beine. Er hob die Faust. Worte kamen, aber es waren die falschen. Wenn du mich schlägst, wird Faolan dich umbringen. »Ich muss dir mitteilen«, brachte sie im damenhaftesten Tonfall heraus, »dass du dir jede Chance nimmst, dass ich einer Heirat zustimme, wenn du jetzt eine Hand gegen mich erhebst. Ich habe nicht vor zu dulden, dass du deinen Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt an mir auslässt. Bitte setz dich wieder hin.« »Sag mir die Wahrheit!«, schrie Alpin, aber er hatte die Hand gesenkt. »Wer hat dich hineingelassen? Du hast ihn gesehen, nicht wahr? Du warst bei ihm!« - 296 Ana spürte, wie sie errötete - vielleicht das Schlimmste, was in einem solchen Augenblick geschehen konnte. Die gesegnete Blütenreiche stehe ihr bei, sie war nur noch eine Haaresbreite davon entfernt, Brideis Chancen auf einen Vertrag zunichte zu machen und sich und Faolan in eine noch gefährlichere Position zu bringen, nicht zu reden von Drustan und dem treuen Deord. »Das habe ich nicht«, sagte sie, »aber ich muss dir tatsächlich etwas gestehen. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen, mein Lieber.« Es gelang ihr, nicht an den Worten zu ersticken. »Und was wäre das?«, zischte Alpin. »Als du weg warst, habe ich mich durch die kleine Tür gewagt und bin zu der Stelle gegangen, wo dein Bruder gefangen ist. Ich habe durch das Eisentor geschaut. Niemand war zu sehen. Dein Bruder und sein Wärter müssen an diesem Tag drinnen gewesen sein. Ich habe mich schnell zurückgezogen, denn ich wollte nicht einen Ort betreten, an dem ich nicht sein sollte.« »Du lügst«, sagte Alpin tonlos. »Nein, Herr.« »Wie konntest du bis zum Tor gelangen? Deord hat einen Schlüssel, und ich habe den anderen. Sag mir nicht, dass er die Tür nicht abgeschlossen hat.« »Nein. Es war sehr seltsam. Ein Vogel hat mir einen Schlüssel gebracht. Er kam zu meinem Fenster und hat ihn neben meinem Bett fallen lassen. Ich erwarte nicht, dass du das glaubst, aber es ist die Wahrheit.« Alpin griff nach dem Fleischmesser und stieß es fest in die eichene Tischplatte. »Dieser heimtückische Mistkerl!«, murmelte er. »Wie kann er es wagen?« »Ich habe den Schlüssel am Eisentor gelassen«, sagt Ana, »wo Deord ihn sicher finden würde. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht.« Alpin sah sie an. »Es ist nur gut, dass Deord ihn gefunden hat«, sagte er, »und nicht mein Bruder. Es ist offensicht- 297 lieh, dass du keine Ahnung hattest, in welcher Gefahr du warst.«
»Es tut mir Leid. Es war nur weibliche Neugier. Ich werde es nicht wieder tun.« »Hm«, grunzte Alpin. »Du wirst deine Neugier in Dornwald zügeln müssen. Es geht hier nicht um ein Spiel, es ist eine Tragödie, und die Gefahren sind vollkommen echt. Ich will ganz offen mit dir sein. Wenn Drustan nicht mein Blutsverwandter wäre, hätte ich ihn für das, was er getan hat, am Tor aufgehängt.« »Was hat er denn getan?« Ana verspürte ein Kribbeln auf dem Rücken. Sie war sicher, dass sie das, was nun kam, nicht hören wollte. »Er hat sie umgebracht«, sagte Alpin mit einer Stimme, die scheinbar ruhig war, die Stimme eines Mannes, der Zorn und Trauer hinter sich gelassen hat. »Meine Frau, Erisa. Meinen ungeborenen Sohn. In einem Anfall seines Wahnsinns hat er sie beide in den Tod getrieben. Er hat Erisa durch den Wald verfolgt. Sie stürzte von einer Klippe, die sich über einen Wasserfall erhebt. Sie hat sich das Genick gebrochen. Wir haben drei Tage gebraucht, um ihre Leiche aus der Schlucht holen zu können.« Ana wurde eiskalt. »Aber ... aber warum?«, flüsterte sie. »Bei einem Verrückten gibt es kein Warum.« Sie rang nach Worten. »Gab es Zeugen? Bist du sicher, dass er...« »Es gab nur eine Zeugin, eine alte Frau, unsere alte Kinderfrau. Bela ist nicht mehr bei uns. Aber es besteht kein Zweifel. Er hat zugegeben, was er getan hat.« Ana blieb stumm. »Ich habe ihn an dem Tag eingeschlossen, als wir die Leiche meiner Frau zurückbrachten. Unser Sohn hätte einen Mond später zur Welt kommen sollen. Ich wollte Drustan meinen Dolch ins Herz stechen und ihm ein Ende machen. Aber ein Mann tötet seinen Bruder nicht. Stattdessen habe - 298 ich dieses Gefängnis bauen lassen und Deord als Hüter eingestellt. Blutsbande sind stark. Ich werde diese Last mein ganzes Leben lang tragen.« Ana war entsetzt. Sie wollte widersprechen, wollte sagen, dass das unmöglich war - Drustan konnte unmöglich eine so grausige Tat begangen haben. Aber sie erinnerte sich auch an Deords Worte: Unter den Umständen ist diese Behandlung sehr großzügig. Deords verschleierte Andeutungen auf Gefahr wiesen ebenfalls darauf hin, dass die Geschichte stimmte. Und irgendwo gab es eine Zeugin. Alpin hatte vollkommen Recht, sie hatte sich in Dinge eingemischt, die sie nichts angingen, und hatte damit nur erreicht, ein Durcheinander aus Qual und Trauer wieder aufzurühren. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie. »Ich bedauere all das mehr, als ich dir sagen könnte.« Ludha drüben an der Wand regte sich nicht. Aus ihrer Miene ging deutlich hervor, dass sie die ganze Geschichte noch nie gehört hatte. »Ich nehme an, Bridei hätte dich nicht so bereifwillig hierher geschickt, wenn er unsere traurige Geschichte gekannt hätte«, sagte Alpin. »Ich zweifle nicht daran, dass du bessere Angebote von Fürsten ohne solch finstere Geheimnisse hattest.« »In der Tat«, erwiderte Ana. »Dennoch, ich bin hier in Dornwald, und ich denke, wir müssen das Beste daraus machen. Ich danke dir, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich ziehe Ehrlichkeit vor, ganz gleich, wie unangenehm die Tatsachen sein mögen. Ich werde mich in diese Geschichte nicht mehr einmischen. Aber ich erwarte im Gegenzug, dass du keine Geheimnisse vor mir hast; nicht, wenn ich deine Frau bin.« Sie sprach durch zusammengebissene Zähne. Die Tatsache, dass Alpin endlich ehrlich gewesen war, verringerte ihre körperliche Abscheu vor ihm nicht. Er hatte Ludha geschlagen, und er hätte sie selbst nicht besser be- 299 handelt. Die Aussicht, das Bett mit ihm zu teilen, ließ sie schaudern. »Lass uns darauf trinken«, sagte Alpin und goss mehr Met ein. »Auf die Hochzeit und auf die Zukunft. Wenn die Götter uns gnädig sind, werden wir im nächsten Frühjahr einen Sohn haben.« Ana lächelte und versuchte, das Bild zu ignorieren, das ihr nicht aus dem Kopf ging: Drustan im Wald, sein schöner, starker Körper, die wilde Flamme seines Haars, die strahlenden Augen, die Lebensfreude. Die Vögel, die sich so vertrauensvoll in seine Nähe wagten. Seine sanfte Stimme. Dieser Mann war ein wahnsinniger Mörder. Sie hätte alles dafür gegeben, dass diese Geschichte nicht wahr wäre. Aber sie konnte sie nicht durch ihre Wünsche allein zu einer Lüge machen. Alpin hatte berichtet, dass sein Bruder die Tat gestanden hatte. Drustan hatte dieses Geständnis im Grunde wiederholt, als Ana ihn fragte, warum er eingeschlossen war, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie es nicht verstanden. »Es wäre gefährlich, wenn ich es nicht wäre.« Also musste es stimmen. Ihr Herz schrie, dass es einfach nicht so sein konnte. Ferada sagte immer, das Herz sei ein unzuverlässiger Führer, und vernünftige Menschen sollten den Forderungen des Geistes folgen. Sie wünschte sich, dass Ferada jetzt hier wäre. »Auf die Heirat«, sagte Ana grimmig und hob den Becher. - 300 KAPITEL ACHT Am Abend des Festes des Aufstiegs kam Drust der Eber, König des südlichen Königreichs Circinn, mit seinen Beratern und einer bescheidenen Eskorte von Bewaffneten zum Weißen Hügel, um an Brideis Versammlung teilzunehmen. Schon am zweiten Tag wussten alle im Haushalt, dass die Verhandlungen zu nichts führen würden. Drust hatte nicht vor, Bridei gegen Dalriada zu unterstützen, sei es nun mit einer größeren Streitmacht
oder auch nur auf weniger praktische, mehr symbolische Weise. Es zählte nicht, dass er im Lauf der letzten zwei Jahre Botschafter mit Bridei ausgetauscht und langsam die Arbeit an gemeinsamem Boden begonnen hatte. Jemand hatte ihm abgeraten, eine einflussreiche Person, und nun ließ der König von Circinn sich von seinem Standpunkt nicht mehr abbringen. Die territorialen Streitigkeiten mit den Galen waren ein lokales Problem, erklärte er den versammelten Fürsten von Fortriu. Darum mussten sie sich selbst kümmern. Seine Leute hatten in ihrem eigenen Land mehr als genug zu tun und brauchten nicht noch den ganzen Weg nach Westen zu marschieren. Außerdem war das Unternehmen wahnwitzig. Die Galen hatten sich zu gut eingegraben, um noch vertrieben zu werden. In ihren Siedlungen wuchs inzwischen die dritte Generation heran. Drusts Berater Bargoit drehte das - 301 Messer in der Wunde, indem er erklärte, dass jene Bewohner der westlichen Regionen, die aufhörten, gegen die Galen zu kämpfen, ihnen erlaubten, sich anzusiedeln, Priteni-Frauen zu heiraten und Halbblutkinder zu zeugen, damit nur zeigten, wie vernünftig sie waren. Es war Zeit zu akzeptieren, dass die Galen hier bleiben würden, und mit ihnen der christliche Glaube. Das war empörend, und Bridei hatte sich anstrengen müssen, so gefasst zu bleiben, wie seine Position es verlangte. Andere waren offener gewesen. Broichan hatte kurz davor gestanden, Drust zu verfluchen, und Talorgen hatte Stimme und Faust erhoben. Die Versammlung war so gut wie beendet, bevor sie auch nur richtig begonnen hatte. Drust der Eber würde dennoch eine Weile an Brideis Hof bleiben. Man musste die Geste, dass er die lange Reise von Circinn zurückgelegt hatte, anerkennen, selbst wenn seine Entscheidung ungünstig war. Er und seine Leute mussten am Weißen Hügel untergebracht und unterhalten werden, und es gab auch andere Dinge, über die gesprochen werden sollte, Angelegenheiten, die mit Handel und Grenzen zu tun hatten. Aber es wurde deutlich, dass Brideis Berater, nachdem sie ihr erstes Ziel so schnell und so eindeutig nicht erreichen konnten, kaum mehr das Interesse aufbrachten, weiter mit der Versammlung fortzufahren. Tagsüber setzen sich die beiden Vertreter der Königreiche am Beratungstisch zusammen und verhielten sich diplomatisch. Freizeitaktivitäten wurden organisiert: Jagd, Reiten, Sport. Am Abend gab es Festessen und Musik. Gleichzeitig traf sich der König von Fortriu hinter verschlossenen Türen mit seinem inneren Kreis, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Sie hatten ihren Vormarsch für die Zeit des Erntefestes geplant. Das schiere Ausmaß des Unternehmens verlangte, dass die Männer sich bald in Bewegung setzten. Es würde keinen Marsch von Massen durch das Tal - 302 geben und auch keinen mutigen Vorstoß in Booten. Die Armee der Priteni würde sich in mehrere große Abteilungen aufteilen, jede mit ihren eigenen Anführern, und wenn es Zeit war, würden sie Dalriada aus mehreren Richtungen gleichzeitig angreifen. Sie würden die Galen immer weiter nach Südwesten drängen. So etwas konnte nicht übereilt begonnen werden, selbst wenn die Geheimhaltung nicht so wichtig gewesen wäre. Ohne die Unterstützung Circinns weiterzumachen war ein Glücksspiel. Eine Niederlage würde Bridei nicht nur viele Menschenleben und vielleicht weiteres Land kosten. Es würde auch einen Rückschlag für seinen langfristigen Plan, seinen Traum bedeuten: die Galen vollkommen aus Fortriu zu vertreiben und das gesamte Priteni-Land unter den alten Göttern zu vereinen. Eine Niederlage würde seinem strahlenden Bild bei seinem Volk gewaltig schaden und die Chance auf weitere Erfolge verringern. Die Frage war allerdings, ob sich Drust der Eber, wenn sie die ganze Sache noch ein oder zwei Jahre verzögerten, eher überreden ließe und sie doch noch unterstützen würde. Wenn die Armee von Circinn an der Seite von Fortriu kämpfte, hätten sie erheblich größere Aussichten auf einen Sieg. »Er wird nicht nachgeben«, sagte Talorgen tonlos. Sie saßen in einem kleinen, fensterlosen Beratungszimmer. Überall waren Lampen aufgestellt und zeigten die Gesichter der Männer als flackernde Masken, Bridei beherrscht, Talorgen zornig, Aniel nachdenklich. Broichans Miene war ausdruckslos, sein Blick unergründlich wie immer. Tharan, Aniels Beraterkollege, war ruhelos, er verschränkte die Arme, schlug die Beine übereinander, nahm Gegenstände vom Tisch und legte sie wieder hin. Brideis Heerführer Carnach stand mit den Händen auf den Hüften da. Er würde an diesem Tag erfahren, ob er eine Jahreszeit auf dem Marsch und am Ende eine blutige Auseinandersetzung erleben oder ob die Streitmacht, die er mit so viel Hingabe - 303 zusammengestellt und vorbereitet hatte, aufgelöst würde. Wäre die Wahl vor fünf Jahren anders verlaufen, dann wäre Carnach nun vielleicht selbst König gewesen, und Bridei würde ein ruhiges Leben als Gelehrter führen. Die Götter hatten sich in dieser Zeit der Veränderung jedoch entschieden, Bridei ihre Gunst zu schenken. Was die Götter nun wünschten, konnten die Männer in diesem kleinen Zimmer bestenfalls erraten. »Dahinter steckt Bargoit.« Tharans Ton war bitter. »Dieses Wiesel war immer im Stande, Drust in die eine oder andere Richtung zu lenken. Außerdem wimmelt es, wenn unsere Informationen korrekt sind, in Circinn nur so von christlichen Missionaren. Drusts religiöse Berater werden Bargoits Argumenten zugestimmt haben. Sie haben Drust wahrscheinlich unter Druck gesetzt, sich auf keinen Konflikt mit den Galen einzulassen, da beide dem gleichen fehlgeleiteten Glauben folgen. Ich hatte gehofft, der König von Circinn würde endlich die Kraft aufbringen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und sich dem giftigen Netz falscher Berater zu entziehen,
das immer dichter um ihn gewoben wird.« »Etwas hat sich verändert«, sagte Bridei. »Noch vor zwei Jahreszeiten stand er kurz davor, zuzustimmen. Ich habe von ihm eine Botschaft in dieser Richtung erhalten. Leider wurde sie nicht niedergeschrieben; es wäre schwierig, ihn jetzt daran zu binden. Gibt es irgendeinen neuen Einfluss auf ihn?« »Wir sollten versuchen, mehr darüber herauszufinden, wenn es Gelegenheit dazu gibt«, sagte Aniel. »Aber inzwischen müssen wir uns fragen, ob wir es wagen können, ohne ihn weiterzumachen. Für uns steht viel auf dem Spiel.« Bridei sah vor seinem geistigen Auge die leuchtenden Augen, die entschlossenen Blicke der Soldaten, vor denen er in Caer Pridne gesprochen hatte, jeder von ihnen bereit zu kämpfen und für die große Sache ihres Königs zu sterben. - 304 Einige waren kaum mehr als Jungen, einige junge Väter, einige Veteranen vieler Kriege mit entsprechenden Narben. Wenn er die Situation falsch einschätzte, dann würden sie den Preis für seinen Stolz zahlen. Aber wenn er den Vorstoß nicht unternahm, warf er vielleicht die beste Gelegenheit weg, die Zukunft von Fortriu zu sichern. Es war allgemein bekannt, dass Gabhran von Dalriada vorhatte, mit der Zeit alles Land im Norden zu erobern. Gabhran als König bedeutete, dass den Priteni ein fremdes Joch auferlegt würde. Da sich der christliche Glaube unter Drusts schwacher Herrschaft schnell in Circinn ausbreitete und die Galen im Westen ebenfalls Kreuze errichteten, war Fortriu ohnehin in Bedrängnis. Wenn Gabhran sich weiter näherte, würde nicht nur Land verloren gehen. Eine gälische Herrschaft bedeutete den Tod der alten Götter. »Die Zeit bleibt nicht stehen«, sagte er. »Wir müssen uns schnell entscheiden, so oder so.« »Wenn wir jetzt nichts unternehmen«, sagte Carnach, »verlieren wir nicht nur den Schwung, den wir mit einer Jahreszeit entschlossener Vorbereitung gewonnen haben, wir opfern auch das Überraschungselement, für das unsere Spione und die guten Sicherheitsmaßnahmen gesorgt haben. Wenn wir ein Jahr warten, hat der Feind ein weiteres Jahr, um Informationen über Zeitpunkt, Art und Ausmaß unserer Operation zu erhalten.« »Das stimmt«, sagte Talorgen. »Wir können uns nicht leisten, die Männer noch länger auf Messers Schneide zu lassen. Sie erwarten, innerhalb eines Mondes aufzubrechen, um sich in ihre Aufmarschgebiete zu begeben. Sie erwarten den vollen Angriff zum Fest der Reife. Sie zerren bereits an den Leinen. Wenn wir nicht vorgehen wie geplant, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Armeen aufzulösen und die Männer wieder nach Hause zu schicken. Es wird doppelt so schwierig sein, die Kriegswerkzeuge im nächsten Jahr erneut zu schärfen, wenn dieses Jahr nichts geschieht.« - 305 »Aber wenn wir sie nach Hause schicken, werden sie weiterleben, um ihre Ernten anzupflanzen, Kinder zu zeugen und ihrem Handwerk nachzugehen.« Bridei wirkte ruhig, denn man hatte ihn gut dazu ausgebildet, zu verbergen, was er empfand. »Wenn wir weitermachen und bei unserem großen Unternehmen versagen, wie viele von ihnen werden dann in ihr Dorf, auf ihren Bauernhof oder in ihre Fürstenhalle zurückkehren? Es ist möglich, dass die Streitmacht, die wir versammelt haben, so beeindruckend sie sein mag, nicht genügen wird, diese Arbeit zu leisten.« . »Wir haben die Unterstützung der Caitt«, warf Aniel ein. »Umbrig hat eine beträchtliche Truppe versprochen, und ihr kennt seinen Ruf.« »Ich fange an zu bedauern, dass ich Alpin von Dornwald nicht darum gebeten habe, Bewaffnete zu schicken, statt meine Bedingungen auf einen Waffenstillstand zu beschränken«, sagte Bridei. »Jetzt ist es zu spät dazu, es sei denn, Faolan kehrt schneller als angenommen hierher zurück. Wir müssen uns einfach darauf verlassen, dass die Übereinkunft unterzeichnet und besiegelt wurde. Wenn wir unseren Vorstoß bis zum nächsten Jahr verschieben, hätten wir Zeit, uns aus dieser Richtung praktische Hilfe zu verschaffen. Bis dahin wird Ana, wenn die Götter es wollen, Alpin einen Sohn geschenkt haben.« »Ich habe heute früh mit Ged gesprochen«, sagte Talorgen. »Und mit Morleo. Sie waren beide nicht entzückt darüber, diese Besprechung zu verpassen, aber ich wies sie darauf hin, dass wir jemanden brauchen, der Drust den Eber und seine Leute beschäftigt hält, während wir uns hier vertraulich unterhalten. Ich glaube, sie haben ihn mit zum Angeln genommen. Ged ist dafür, dass wir weitermachen wie geplant. Er glaubt, die Begeisterung der Männer ist unsere größte Stärke, und eine Verspätung würde es schwer machen, wieder solchen Schwung zu schaffen. Morleo war vorsichtiger, aber er glaubt, dass wir genügend Leute haben.« - 306 »Ich möchte sie nicht in den sicheren Tod führen, wie begeistert sie auch sein mögen«, sagte Bridei. »Wir kennen die strategischen Argumente; wir haben sie während der langen Vorbereitungszeit wieder und wieder gegeneinander abgewogen. Jetzt brauchen wir mehr. Wir brauchen Anleitung, die über unser eigenes Wissen hinausgeht. Vielleicht wäre Broichan in diesem Fall der beste Berater.« Alle sahen den Druiden an, eine hoch gewachsene bleiche Gestalt in dunklem Gewand. Er war während der Debatte ungewöhnlich still gewesen. »Ich werde versuchen, die Vorzeichen zu deuten.« Broichans Stimme, sonst immer die tiefste und entschlossenste am Weißen Hügel, klang heute beinahe zögernd. Das ließ nichts Gutes ahnen. »Wir müssen die Weisheit der Götter suchen. Bisher hat ihre Anleitung uns auf den Konflikt zu gelenkt; das Licht des Flammenhüters hat über Bridei und dem ganzen Unternehmen geleuchtet. Es ist schwer zu glauben, dass sich das verändern sollte, nur weil der König von Circinn nicht den Mut hat, sich auf unsere Seite zu stellen.« »Wirst du die Birkenstäbchen hier werfen?«, fragte Bridei. »Dann können wir alle sehen, in welche Muster sie
fallen, und deine Deutung aus erster Hand hören.« Einen Augenblick lang schwieg Broichan. Die anderen nickten zustimmend, denn man konnte sich im Allgemeinen auf eine solche Prophezeiung verlassen, wenn man die Absichten des Flammenhüters und der Leuchtenden verstehen wollte, deren Wünsche jeden Schritt in der langen Geschichte der Priteni gelenkt hatten. »Nicht jetzt«, sagte der Druide. »Das ist eine zu gewichtige Angelegenheit, um von einem Seher allein entschieden zu werden, ob er nun der Druide des Königs ist oder nicht. Wir sollten es am besten unter dem Blick der Leuchtenden vollziehen, und Fola sollte ebenfalls anwesend sein. Ich glaube, die Göttin wird den Weg deutlicher zeigen, wenn ihre Oberpriesterin - 307 beim Ritual hilft. Nach dem Abendessen, wenn Drust der Eber mit dem besten Met des Weißen Hügels und der schönsten Musik beschäftigt ist, werden wir im oberen Hof die Stäbchen werfen. Hoffen wir, dass die Götter uns klare Antworten geben, denn wir brauchen sie unbedingt.« Wolken zogen über die Leuchtende und verdunkelten das Muster, das auf dem Steintisch lag. Die Göttin beanspruchte sowohl den Druiden als auch die Weise Frau bis an die Grenze ihrer beträchtlichen Fähigkeiten. Broichan hatte zwei Königen als Druide gedient und war überall im Land der Priteni als ein Mann von hoher Gelehrsamkeit, seltenen Fähigkeiten und gefährlicher Macht bekannt. Fola leitete die Schule in Banmerren, in der Frauen alles lernten, was es brauchte, um der Leuchtenden als Priesterinnen zu dienen. Sie war klug, subtil und hatte den Ruf, stets ehrlich zu sein. Wenn diese beiden alten Freunde eine Botschaft der Götter nicht deuten konnten, musste man annehmen, dass die Götter ihre Weisheit bewusst zurückhielten. Tuala hatte sich bereits das Muster angeschaut und ihre eigene Meinung über seine Bedeutung gebildet. Sie hatte nur einen Augenblick gebraucht. Zu solchen Dingen war sie von Natur aus begabt, wie mit allem, was den Blick anging: Die Antworten schienen ihr vollständig ausformuliert in den Kopf zu springen, beinahe noch bevor sie die Fragen stellte. Aber sie schwieg. Später, wenn sie und Bridei allein waren, würde sie ihm sagen, was die Götter wollten. Die kleine Gruppe sah zu, wie Broichan und Fola um den Tisch herumgingen und sich die Stäbchen genauer ansahen. Jeder kleine Birkenstab war mit uralten Symbolen versehen, jeder hatte seine eigene Spannweite von Bedeutungen. Für jeden Wurf gab es eine Unzahl möglicher Auslegungen. Die wahre Arbeit des Sehers bestand aber darin, herauszufinden, welche von ihnen für die gestellte Frage zutraf. Die Götter von Fortriu waren komplizierte Geschöp- 308 fe, und ihr Rat kam nur selten in schlichten, eindeutigen Worten. Fola hatte ihre Stellvertreterin Derila mitgebracht. Es war gut, dass beide sich bereits für die Beratungen am Weißen Hügel befanden. Abgesehen von den Weisen Frauen, dem Druiden, Tuala und Bridei selbst waren noch Brideis Leibwächter Garth und der alte Gelehrte Wid anwesend, der sich auf seinen Stab stützte und die Augen zusammenkniff, um die Stäbchen in dem wechselhaften Licht besser sehen zu können. Wid hatte nie behauptet, dass die Götter durch ihn sprächen. Er war ein Experte für weltlichere Dinge, wie die Deutung von Gesten und Blicken von Menschen, die Interpretation des Schweigens zwischen ihren Worten. Bridei und Tuala hatten viel von ihm gelernt. Später würde er vielleicht Derelei unterrichten, denn derzeit verbrachte der Kleine einen Teil des Nachmittags mit Broichan und neigte seit Neuestem dazu, abends beim Einschlafen auf eine Weise zu singen, die die Schatten seltsam in den Ecken tanzen und Frösche aus dem Holzkorb springen ließ. »Vieles bleibt mir verborgen«, sagte Fola. »Nach meiner Deutung gibt es zwei Wege, von denen jeder über weitere Abzweigungen verfügt. Ich kann absolut nicht feststellen, welcher der wichtigere ist. Es geht nur um Hunde und Vögel, von einer Armee kann ich nichts erkennen. Was sagst du dazu, alter Freund?« Das Mondlicht machte Broichans Gesicht geisterhaft bleich. Tuala konnte die Falten in diesem Gesicht erkennen, mehr Falten, als ein Mann seines Alters haben sollte. »Ich sehe hier Tod«, sagte er. »Aber das ist zu erwarten. Bei unserer Frage ging es um Krieg, und Kriege können ohne den Verlust von Leben nicht gewonnen werden. Ich bin ganz deiner Meinung, Fola, die Vögel scheinen im Vordergrund zu stehen. Der Adler blickt von Osten nach Westen; das kann nur als positives Zeichen gewertet werden. Der Schatten liegt hinter ihm. Vor ihm ... vor ihm - 309 liegt eine Auswahl von Wegen, und hier wird die Auslegung zu einer Herausforderung.« »Vielleicht ist es deshalb chaotisch, weil Kriege immer so sind.« Das war die junge Priesterin Derila, die die Stimme erhoben hatte. Sie war in Folas Schule rasch aufgestiegen und wurde für ihre Gelehrsamkeit hoch geachtet. »Ich sehe sowohl Sonne als auch Mond im Westen. Trotz der Tatsache, dass der Adler von diesen anderen Stäben eingeengt wird, würde ich diese Platzierung als Zeichen werten, dass sowohl der Flammenhüter als auch die Leuchtende sich für einen Feldzug gegen die Galen aussprechen.« »Ich stimme dir zu, Derila.« Bridei beugte sich vor, um das Muster genauer zu betrachten. »Aber ich sehe hier nichts, das deutlich macht, ob dieser Feldzug jetzt oder später stattfinden sollte.« Er warf einen Blick über die Schulter zu Tuala. Er würde sie nicht bitten, etwas dazu zu sagen. »Tuala«, sagte Fola, »du befindest dich hier unter Freunden, also warum sagst du uns nicht, was du denkst? Du bist jung und hast scharfe Augen. Vielleicht siehst du etwas, das wir nicht erkennen können.« Broichan öffnete den Mund, dann klappte er ihn zu wie eine Falle.
»Ich bin zu nahe an dem, was geschieht«, sagte Tuala und unterdrückte ein Schaudern. Sie wirkte ruhig, denn sie hatte von Königin Rhian gelernt, ihren Tonfall und ihren Gesichtsausdruck zu beherrschen. »Welche Frau, die sich zu einer solchen Frage äußern soll, würde nicht die Interpretation geben, die am ehesten dazu geeignet ist, ihren Mann von jedem Schaden fern zu halten? Ihr wisst, was ihr tut. Vielleicht braucht ihr nur ein wenig mehr Zeit, um nachzudenken.« »Aber wir haben keine Zeit!«, fauchte Broichan. Es war ungewöhnlich für ihn, sich so verärgert zu zeigen, und Bridei sah ihn überrascht an. »Wir haben zumindest den Rest der Nacht«, sagte der Kö- 310 nig leise. »Wenn wir hier keine weiteren Antworten finden können, dann sollten wir alle eine Weile allein versuchen, die Weisheit der Götter zu verstehen, und sehen, welche Einsicht uns gewährt wird. Wir werden morgen wieder miteinander sprechen, und danach werde ich meine Entscheidung treffen.« Später, als sie allein waren, sagte Tuala Bridei, was sie gesehen hatte: Ein sicheres Zeichen von der Leuchtenden, dass er jetzt gehen musste, aber auch die deutliche Ankündigung, dass er damit ein viel größeres Risiko einging, als sie alle berechnen konnten. »Es gab etwas Verborgenes«, sagte sie, als sie in ihrem Gemach vor dem Feuer standen. »Etwas, was wir nicht sehen sollten. Vielleicht ist es selbst den Göttern noch verborgen. Aber was immer es ist, es ist gefährlich. Ich wünschte, du könntest Faolan mitnehmen.« »Du glaubst, dieses Zeichen bedeutet Gefahr für mich persönlich? Das ist der Art von Gefahr vorzuziehen, die meine Armee treffen könnte, wie zum Beispiel ein gewaltiges Unwetter, eine Seuche oder eine Möglichkeit für den Feind, sich wichtige Informationen zu verschaffen.« »Tu nicht so erfreut«, sagte Tuala trocken. »Du magst dich wenig für deine eigene Sicherheit interessieren. Aber anderen ist dein Leben wichtiger.« »Wenn ich glaubte, dass es Fortriu den Westen zurückgewinnen würde«, sagte Bridei, »würde ich mein Leben leichten Herzens geben.« »Ohne dich werden sie keinen Erfolg haben«, sagte Tuala. »Du bist ihr Herz, Bridei. Du bist das Schwert von Fortriu. Ich weiß, dass es andere gute Anführer gibt, Männer, die an deine Stelle treten könnten, insbesondere Carnach. Aber du bist es, den diese Männer lieben. Du bist es, dem sie bis in den Tod folgen werden. Die Göttin erlegt dir eine schwierige Prüfung auf. Sie wünscht, dass du dich selbst in Gefahr begibst. Wenn du das tust, kannst du vielleicht die verlore- 311 nen Ländereien zurückgewinnen. Oder du wirst alles verlieren, und man wird sich an dich als an den König von fünf hellen Sommern erinnern. Das konnte ich vor den anderen nicht aussprechen. Aber es kommt mir so vor, als zeigten die Stäbchen zwei mögliche Wege, und sie beginnen beide auf die gleiche Art: mit einem Feldzug nach Westen zu Ende des Sommers. Du hast den Göttern die falsche Frage gestellt. Sie bieten dir keine Wahl an, was den Zeitpunkt des Unternehmens angeht, nur das Wissen, dass du, bevor die Blätter von den Eichen fallen, entweder triumphieren oder sterben wirst.« Der Mond nahm zu und wieder ab, und die Tage begannen dahinzueilen, einer verschwamm mit dem nächsten. Bei jedem Sonnenaufgang wusste Ana, dass ihre Handreichung mit Alpin einen Tag näher lag. Sie begann der Göttin für jeden Tag zu danken, an dem der Druide noch nicht erschienen war, begann zu beten, dass er nie kommen würde. Alpin versuchte ihr das Gefühl zu geben, dass sie in Dornwald zu Hause war. Er machte ihr kleine Geschenke, frühstückte jeden Morgen mit ihr und strengte sich an, seine Sprache zu mäßigen, womit er nicht immer Erfolg hatte. Ana versuchte die Tatsache zu verbergen, dass seine Berührung sie immer noch schaudern ließ und seine Konversation sie entweder langweilte oder gegen ihn aufbrachte. Mit grimmiger Entschlossenheit ertrug sie seine Küsse und wandte das Gesicht ab, damit sie nicht ihren Mund erreichten. Sie lauschte geduldig seinen weitschweifigen Geschichten über erjagte Hirsche und in die Flucht geschlagene Feinde. Sie aß nur wenig von den gewaltigen Mahlzeiten und unternahm einiges, um die Bequemlichkeit des Nähzimmers und ihres eigenen Gemachs zu verbessern. Es würde wichtig sein, weiterhin einen eigenen Raum zu haben, auch wenn sie verheiratet war: Ohne eine Möglichkeit, sich von Alpin zurückzuziehen, würde sie zweifellos den - 312 Verstand verlieren. Sie war entschlossen, Drustan, Deord und das ganze betrübliche Durcheinander in ihren Hinterkopf zu schieben und aus den Dingen das Beste zu machen. In all dieser Zeit erhielt sie nie Gelegenheit, mit Faolan allein zu sprechen. Sie sah ihn dieser Tage nur beim Abendessen, und da Alpin jedem Mann gedroht hatte, der auch nur wagte sie anzusehen, strengte sich Ana an, den Blick des Barden zu meiden. Bisher hatte man ihm nicht befohlen zu singen. Sie fing an zu denken, dass Alpin ihn vergessen hatte, und war froh darüber, obwohl sie gerne eine Gelegenheit gehabt hätte, Faolans Rat zu suchen. Auf ihrem Weg nach Dornwald war er zu einem Freund geworden. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen und sich auf ihn verlassen konnte, und sie ging davon aus, dass sie in Dornwald nicht viele Freunde haben würde. Und sie hätte ihn gerne nach dem Felsental-Kerker gefragt. Sie bemühte sich, ihren unseligen Versuch zu spionieren und sein unangenehmes Nachspiel zu vergessen. Es war nicht, als gäbe es sonst nichts zu tun. Hochzeitskleidung musste hergestellt werden, zusammen mit anderen Kleidungsstücken für sie selbst und einem schönen neuen Hemd für ihren künftigen Ehemann mit einer Bordüre
aus Hunden, die Ana selbst entwerfen und sticken wollte. Ludha erledigte die feineren Arbeiten am Hochzeitskleid, nachdem sie mit dem Babygewand fertig war. Der Blick in den Augen ihrer Zofe, als sie ihr das winzige, hervorragend gearbeitete Kleidungsstück überreichte, sagte Ana ohne Worte, dass Ludha die Zwiespältigkeit ihrer Herrin verstand, was die bevorstehende Heirat anging. Die Vögel kamen weiterhin. Sie brachten eine ganze Reihe winziger Geschenke: eine zarte Blüte, eine weiche graue Feder, Wollfäden von einer Decke, kunstvoll zu einem kleinen Kreis geflochten. Ana widerstand der Versuchung, etwas zurückzuschicken. Dieser Mann war ein Mörder, und sie hatte geschworen, sich herauszuhalten. Manchmal ka- 313 men die Krähe, der Kreuzschnabel oder der Zaunkönig auch einfach hereingeflogen, setzten sich auf das Fensterbrett oder die Stuhllehne und beobachteten Ana eine Weile mit glänzenden Augen. Manchmal, wenn Ludha nicht da war, erwischte sich Ana dabei, mit diesen Besuchern zu sprechen, und zwang sich aufzuhören, denn es kam ihr beinahe so vor, als spräche sie mit Drustan, und das zu tun bedeutete, mit dem Feuer zu spielen. Die Stickerei für Alpins Hochzeitshemd wollte nicht richtig von der Hand gehen. Ana fertigte auf einem kleinen Stück Leinen eine Reihe von Mustern an, um das Hundemotiv zu verbessern, aber die Stiche flössen einfach nicht, und die kleinen Hunde sahen immer zähnefletschend und garstig aus. Ludha beobachtete ihre Herrin, sagte aber nichts, obwohl ihr deutlich anzusehen war, dass sie nur zu gerne Hilfe angeboten hätte. Die Braut hatte angeboten, das Hemd ihres Mannes mit eigenen Händen herzustellen. Die Symbolik dieser Geste war eindeutig, und Ana durfte bei dieser Aufgabe nicht versagen. Grimmig produzierte sie ein nicht zufrieden stellendes Muster nach dem anderen, bis sie an einem besonders warmen Nachmittag, einen Mond nach ihrem Eintreffen in Dornwald, zusammen mit Ludha ihre Handarbeit in einen kleinen geschützten Hof auf der obersten Ebene der Festung brachte, einen Ort, den man über eine Treppe erreichte, die so steil und gefährlich war, dass die meisten Frauen sie überhaupt nicht benutzten, trotz der Verlockung einer Aussicht auf Bäume und eines geschützten sonnigen Fleckchens, an dem man arbeiten und sich unterhalten konnte. Die beiden ließen sich in freundschaftlichem Schweigen nieder, jede auf einer Steinbank für sich und ihren Arbeitskorb. Im Wald zwitscherten unzählige Vögel. Ludha begann leise vor sich hin zu summen, ein Lied, das Ana als die Geschichte von Liebenden erkannte, die lange getrennt waren und am Ende freudig miteinander vereint wurden; - 314 zweifellos hatte die Zofe dabei ihren abwesenden Bogenschützen Foldec im Sinn. Als Ana das nächste Mal den Refrain erreichte, schloss sich Ana an und sang eine tiefere Stimme. Ludha lächelte entzückt und begann mit der nächsten Strophe. Kurze Zeit schien es möglich, alles beiseite zu schieben: die Hochzeit, die erschreckende Aussicht, das Bett mit Alpin teilen zu müssen, die gesamte Zukunft, die sie an seiner Seite verbringen würde, die Gesellschaft seiner rüpelhaften Freunde. Drustan und seine Krankheit, den Mord an den Unschuldigen, das Abgeschlossensein hinter Steinmauern und Eisengittern. Bridei und seinen lebenswichtigen Vertrag. Faolan, an dessen Sicherheit sie oft dachte. Faolan, mit dem sie nicht allein sprechen durfte. Ana sang weiter, und dabei stickte sie und stellte ein weiteres kleines Motiv auf einem weiteren kleinen Tuchstück her. Diesmal zeigte es jedoch keinen Hund. Die Fäden waren scharlachrot und dunkelbraun, und das Geschöpf, das vom Tuch her zu ihr zurückschaute, als Lied und Stickerei fertig waren, war ein Kreuzschnabel, der eine Strähne rötlichen Haars im Schnabel trug. Ana starrte es an, denn sie hatte sich selbst erschreckt. Ihr Instinkt riet ihr, das kleine Stoffstück rasch in den Korb zu stecken, als Ludha zu ihr herüberschaute, es zu verstecken, als wäre es ein belastender Beweis. Aber sie kämpfte dagegen an. Sie hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, nicht im Geringsten. »Was für ein wunderschönes Muster!«, rief Ludha, die näher gekommen war, um sich die Stickerei anzusehen. »Das wäre reizend für ein kleines Kinderhemd. Du könntest es auf die Brust sticken und das Rot in der Bordüre wieder aufnehmen.« »Hm«, sagte Ana unschlüssig und wählte einen hellen Faden, um den Rand ihrer winzigen Stickerei zu säumen. Sie war heute nicht sie selbst. Ihr Geist spielte ihr gefährliche Streiche, denn das Kind, das sie sich bei Ludhas Worten in - 315 einem solchen kleinen Hemd vorgestellt hatte, hatte flammend rotes Haar und Augen so strahlend wie die Sterne. »Ich sollte Hunde sticken, aber ich kann es einfach nicht richtig. Und die Zeit vergeht, Ludha. Sie vergeht nur zu schnell. Dieser Druide könnte jederzeit eintreffen.« »Der Vogel ist entzückend«, sagte Ludha leise. »Du bist so begabt, Herrin. Darf ich dir etwas zeigen, woran ich gearbeitet habe?« »Ja, bitte.« Ludha nahm einen ordentlich gefalteten Tuchstreifen aus ihrem eigenen Korb. »Ich habe das hier abends bei Kerzenlicht gemacht. Du brauchst meinen Entwurf nicht zu benutzen, aber ich dachte, er könnte dir helfen. Es steht mir nicht zu, das weiß ich, aber ...« Und da war es, das Hundemuster, hervorragend ausgeführt und von einer noblen Regelmäßigkeit, die Alpin bei der Darstellung seines Verwandtschaftszeichens sicher bevorzugen würde. Spiralen und Kreuzstich verbanden die kleinen Hunde zu einer gleichmäßigen, fließenden Borte. Es war nur ein Beispiel, zwei Hunde, drei
Verbindungsstücke, aber man konnte deutlich sehen, wie gut es auf dem rot gefärbten Stoff des neuen Hemdes des Bräutigams aussehen würde. Ana seufzte leise. »Ich hoffe, ich habe dich nicht verärgert, Herrin, es ist nur ... ich konnte sehen, wie sehr du dich damit quälst. Manchmal geht es mir ebenso. Ich weiß, dass ich etwas tun kann, aber ich finde einfach den Anfang nicht.« Ana lächelte. »Ich bin überhaupt nicht verärgert, ich bin dir sehr dankbar, Ludha. Wenn du mich diesen Entwurf verwenden lässt, werde ich schon morgen mit der Bordüre anfangen.« Ludha nickte. »Und es gibt drei Vögel«, sagte sie und beobachtete, wie Ana die Ecke des kleinen Stoffstücks säumte. »Du könntest... jedenfalls wenn du möchtest...« - 316 »Hm«, sagte Ana und dachte, dass es nur gut war, dass sie beide heute hier allein waren, in diesem abgelegenen Teil von Alpins Festung. »Selbstverständlich nur zu meinem eigenen Vergnügen. Dir ist klar, dass solche Muster, so, wie die Dinge liegen, nie auf Kinderkleidung in Dornwald erscheinen dürften.« »Nein, Herrin. Obwohl es eine Schande ist, nicht wahr?« Sie war fertig mit dem Saum, und nachdem sie den Faden abgebissen hatte, fragte sie: »Kennst du das Lied über den großen Fergal, der ein Riese war? Darüber, wie er den monströsen Wurm zähmte?« »Ich habe es vor langer Zeit oft mit meiner Schwester gesungen. Du fängst an, und ich singe, woran ich mich noch erinnern kann.« Das Singen, der Sonnenschein und die Abgeschiedenheit dieses kleinen Hofes beruhigten Ana, und ihre Hände begannen beinahe wie von selbst mit einem zweiten kleinen Stück Stoff, diesmal mit einer Stickerei in Schwarz und Grau. Gegen Ende der Ballade über ein Mädchen, das sich in eine Kröte verliebte, begannen sich die feinen Härchen in ihrem Nacken zu sträuben, und sie hielt inne. Sie sah Ludha an, die auf der gegenüberstehenden Bank erstarrt war. Ihre Stimmen wurden leiser, und dadurch war die eines dritten Sängers deutlich zu hören, dessen tiefere, zögerndere Version der »Jungfrau aus dem Tal« sie nun seltsamerweise von irgendwo unterhalb der Pflastersteine ihrer kleinen Zuflucht erreichte. Als sie aufhörten zu singen, fuhr die Stimme noch ein wenig fort: »So seufzte sie, doch meine Liebste ist im Schattenland.« Dann erkannte der Sänger, dass er der Einzige war, der noch sang, und auch er verstummte abrupt. Ana räusperte sich. Ludha hatte beide Hände vor den Mund geschlagen, als wäre sie zu schockiert, auch nur ein Wort zu sagen. Rasch vollzog Ana ein paar Berechnungen, was die Anlage der Festung und die Bewegung der Sonne - 317 anging. Sie schaute noch einmal über die Mauer hinaus und sah, gerahmt von den oberen Ästen der Ulmen, leicht ansteigenden Boden mit einer einzigen majestätischen Eiche. Vögel flatterten auf und ließen sich in ihren weiten Wipfeln nieder. Ana schluckte. »Ludha?« Es war nur ein Flüstern. »Mhm?« »Welche Räume liegen unter diesem Hof?« »Nur Lagerräume. Herrin. Ein abgeschlossener Teil des Hauses. Und...« »Und Deords Quartier. Direkt unter uns.« Er musste so sein; selbst wenn ihre rasche Berechnung von Entfernungen und Richtungen nicht zu diesem Ergebnis geführt hätte, wusste sie doch, wessen Stimme es gewesen war. Eine Stimme, die sie nachts in ihren Träumen hörte. Das vergitterte Dach von Drustans Gefängnis musste westlich unter ihnen liegen, verborgen von der hohen Mauer auf dieser Seite des Hofes. Und der Schlafraum befand sich beinahe direkt unter ihnen. Irgendetwas daran, wie er gebaut war, machte es möglich, trotz des Höhenunterschieds gut zu hören, was oben und unten vorging. Anas Herz wurde lästig, denn es begann so schnell zu schlagen, als wäre sie ein Rennen gelaufen. Sie spürte das Glühen in ihren Wangen. Die Vernunft sagte ganz eindeutig: Nimm deine Arbeit und geh, und tu es schweigend. In der Hand hielt sie immer noch das kleine Stoffstück, auf dem die Krähe halb gestickt war, das ordentliche Gefieder glänzend in bestem Seidengarn gearbeitet. Sie fuhr mit einer Hand über das Vogelbild, die nicht so stetig war, wie es hätte sein sollen. »Herrin!«, zischte Ludha und wies mit dem Kinn auf die Treppe. Sie war blass geworden; Angst stand in ihren Augen. »Noch nicht, Ludha«, sagte Ana. »Ich denke, wir sind hier noch ein wenig länger in Sicherheit. Lass uns zumindest das Lied beenden und Linia wieder mit ihrem warzigen Liebsten vereinen. Wo waren wir?« >»Am Frühlingsmorgen zog sie aus ...<« Ludha klang, als - 318 sänge sie durch zusammengebissene Zähne, aber sie hatte wieder begonnen zu arbeiten und nähte mit grimmiger Entschlossenheit. »Verließ im Morgengraun das Haus ...<« Ana sang und fragte sich, warum sie einen Kloß in der Kehle und Tränen in den Augen hatte. >»Den Dorn sie nimmt, und fest und gut<«, erklang nun auch die zögernde Stimme von unten wieder, nicht so klar und sicher wie die von Faolan, sondern die Stimme eines Mannes, der beinahe vergessen hatte, wie man singt. So lang war es her, seit er Gelegenheit oder Neigung dazu gehabt hatte. >»Sie sticht sich, bis man sieht ihr Blut<«, sangen alle drei Stimmen gemeinsam und vermischten sich zu einem süßen Klang, der den sonnigen Hof erfüllte. Die Ballade erzählte, wie Linia ihren Geliebten durch ein kleines
Opfer und gut platzierte Herdmagie zurückgewann. Während sie sangen, versuchte Ana herauszufinden, an welcher Stelle sie die dritte Stimme am deutlichsten hören konnte. Als sie fertig waren, kniete sie sich neben einen Riss zwischen Pflastersteinen und innerer Mauer. »Drustan?«, fragte sie leise. Ludha starrte sie an - ob entweder erschrocken oder beeindruckt, hätte Ana nicht sagen können. »Ana?« Seine Stimme klang unsicher. Vielleicht glaubte er, dass sie davonlaufen und nie wieder zurückkehren würde, sobald sie wusste, dass er es war. »Wo bist du?« Eine Pause. »Wo sollte ich sein außer hier?«, fragte er. »Wo genau? Ist Deord bei dir?« »Ich bin im Schlafraum. Ich hörte euch singen. Und reden. Es tut mir Leid, wenn ich dich verärgert habe ...« »Und Deord?« »Holt Wasser. Ich werde wissen, wenn er zurückkommt. Das Tor knarrt.« - 319 Dann wusste Ana plötzlich nicht mehr, was sie sagen wollte. Die einzige Frage in ihrem Kopf war: Hast du es getan, hast du sie wirklich umgebracht? Aber das konnte nicht ausgesprochen werden, nicht so direkt. Nein, überhaupt nicht. »Geht es dir gut?«, flüsterte Drustan. »Deord sagte, Alpin sei zornig gewesen. Dass er dich beinahe geschlagen hätte.« »Deord hat das verhindert«, brachte sie heraus. »Aber nicht, bevor dein Bruder meine Zofe schlug. Dein Bewacher ist ein sehr fähiger Mann. Alpin hatte Grund, wütend auf mich zu sein, aber nicht auf Ludha. Ich hatte gegen eine Regel verstoßen. Gegen mehr als eine. Er hat mir deine Geschichte erzählt, Drustan.« Nun kam keine Antwort mehr. Ana warf einen Blick zu Ludha und bemerkte, dass ihre Zofe eher fasziniert als entsetzt war. Sie war schon viel zu weit gegangen; sie konnte nur hoffen, dass Ludha vertrauenswürdig war. »Er hat mir etwas Schreckliches erzählt. Über das, was vor all diesen Jahren passiert ist.« Wieder Stille. »Drustan, sprich mit mir.« »Was kann ich sagen?« Er klang erschöpft. Tränen brannten in Anas Augen. Trotz ihrer Anstrengungen brach die Wahrheit aus ihr heraus: »Ich glaube, ich hoffe, dass du mir sagst, es sei eine Lüge. Dass du es nicht getan hast. Es ist etwas, dass ich einfach nicht glauben möchte.« Nach einer Weile sagte er: »Du bist bedrückt. Du solltest lieber nicht mit mir sprechen. Das sagt Deord auch.« Ana spürte, wie sie zornig wurde. »Es steht weder Deord noch einem anderen zu, diese Entscheidung für mich zu treffen. Es sei denn selbstverständlich, du möchtest nicht mit mir sprechen...« »Ich möchte dich nicht traurig machen. Ich möchte dich nicht verängstigen. Es war ein finsterer Tag. Er warf einen Schatten über Dornwald, der sich nie wieder heben wird.« - 320 Anas Herz raste immer noch. Sie zwang sich, tief Luft zu holen. »Wirst du mir davon erzählen? Stimmt es, was Alpin sagt?« »Was hat mein Bruder dir erzählt?« Ana biss die Zähne zusammen, denn sie wollte die Worte nicht laut aussprechen. »Ana? Was hat er gesagt?« »Er sagte mir, dass du ... dass du so etwas wie Wahnsinnsanfälle hast. Dass sie dich hin und wieder überwältigen und du dich dann verhältst, als wärst du verrückt. Er sagte, du hast seine Frau getötet. Dass du ... sie in den Tod getrieben hast.« »Ein Mann lügt nicht, wenn es um Dinge geht, die seinem Herzen so nahe sind.« Die Stimme klang nun tonlos. »W-was sagst du da, Drustan?« »Ich würde viel dafür geben, wenn ich dir sagen könnte, dass mein Bruder lügt. Aber das kann ich nicht.« Ihr Herz war wie ein Bleigewicht. Sie schloss die Augen, unfähig zu sprechen. Warum das alles so wichtig war, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie kannte diesen Mann kaum. Und dennoch schien es ein ungemein schwerer Schlag zu sein. »Ich danke dir, dass du so ehrlich bist«, sagte sie, als sie ihre Stimme wieder fand. »Aber deine Worte machen mich traurig. Ich konnte einfach nicht glauben, dass es wahr war. Du bist mir nicht vorgekommen wie ein ...« »Wie ein Ungeheuer? Ein Verrückter? Sie haben mich mit vielen Bezeichnungen bedacht, einige viel schlimmer als diese. Mein Bruder hat mich besser behandelt, als ich es verdiene.« Ana griff nach ihrer Arbeit und packte Leinen und Nadeln in den Weidenkorb. Auf der anderen Bank tat Ludha das Gleiche. Das Schweigen dauerte an. »Dein Gesang hat mir Licht gegeben«, flüsterte Drustan schließlich. »Ich danke dir. Ich hatte vergessen, dass es so etwas Schönes gibt.« - 321 Ana kämpfte gegen das drängende Bedürfnis an, weitere Fragen zu stellen. Etwas in ihr wollte die Wahrheit über diesen Gefangenen immer noch nicht akzeptieren, obwohl er nun auch ihr seine Tat gestanden hatte. Sie durfte
nicht zulassen, dass sich diese Empfindungen über ihre Vernunft hinwegsetzten. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte sie. »Es ist spät, und es wird kalt hier oben.« »Wirst du wiederkommen?« In dieser Frage lag ein betrübter Unterton, der Ana sagte, wie klar ihm war, dass die Antwort Nein lauten musste. »Ich ... ich weiß es nicht«, flüsterte Ana und hasste die Schwäche, die ihr nicht gestattete, ihm eine eindeutige Antwort zu geben: Ich kann nicht wiederkommen. »Sag es.« Drustans Stimme hatte sich verändert: Jetzt war sie herausfordernd. »Sag mir die Wahrheit. Du wirst nicht kommen, weil du mich verabscheust. Weil du vor mir zurückweichst. Sprich es aus!« »Das stimmt nicht! Ich verabscheue dich nicht!« Wieder standen ihr Tränen in den Augen. »Wirst du also kommen?« »Was ist mit Deord?« Sie verfluchte sich, weil sie einfach nicht den Mund halten und davongehen konnte, wie es eine vernünftige Frau tun würde. »Manchmal ist er hier, manchmal irgendwo anders im Haus, denn er muss holen, was wir brauchen. Wenn ich dich höre, werde ich wissen, dass du da bist. Wenn ich spreche, wirst du wissen, dass wir sicher sind.« Ana schaute zur ihrer Zofe hin. Es hing viel von Ludhas Treue ab. Das Mädchen nickte. »Eine Freundin hat mir einmal geraten«, sagte Ana zu ihrem unsichtbaren Zuhörer, »mich mehr auf den Intellekt zu verlassen als auf meine Gefühle. Es war ein weiser Ratschlag. Wenn ich ihn beherzigen würde, würde ich dir jetzt sagen, dass ich nicht hierher zurückkehren kann. Dein Bru- 322 der hat jedem Mann sofortige grausame Bestrafung angedroht, der mich auch nur auf eine Weise ansieht, die ihm nicht passt. Ich kann mir vorstellen, dass er unsere Begegnungen ähnlich betrachten würde. Das hier noch einmal zu tun, wäre dumm, gefährlich und vollkommen unangemessen.« Schweigen zeigte, dass Drustan auf mehr wartete. »Ich komme, wenn ich kann.« »Ich werde auf dich warten«, sagte Drustan. »Lebe wohl, Ana.« An diesem Abend gab Ana dem Kreuzschnabel sein Porträt in feiner Seide und erhielt im Gegenzug einen kleinen Steinsplitter zum Geschenk, in den der Umriss eines Herzens gekratzt war. Sie hatte sich bisher vielleicht geweigert, vor sich selbst zuzugeben, dass ihr Interesse an Drustan über Neugier, Mitleid und ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit hinausging, aber als der Vogel dieses kleine Zeichen auf den Tisch in ihrem Schlafzimmer legte, war sie gezwungen, es zuzugeben. Ludha hatte sich schon zurückgezogen; der Vogel war zu ihrem Fenster geflogen, als es draußen schon dunkel war, wartete dann in sicherer Entfernung von der Kerze und sah zu, wie Ana das Geschenk unter ihr Kopfkissen legte. Als er weg war, legte sie sich auf ihr Bett und dachte an Alpin, der sie nach dem Abendessen an die Wand gedrückt und dreist und beharrlich geküsst hatte. Sie hatte es über sich ergehen lassen und sich die ganze Zeit vorgestellt, wie es wäre, wenn ein anderer Mann sie im Arm hielte, ein Mann, dessen Kuss so sanft sein würde wie dieser hier rau, so liebevoll wie dieser brutal. Alpins Umarmung machte ihr Angst; sie wusste, der andere Kuss würde glühende Wärme durch ihren Körper entsenden, ihre Knie weich werden und ihr Herz vor Aufregung laut schlagen lassen. Es war etwas, das nie geschehen würde: der Stoff gefährlicher Phantasien. - 323 Sie sehnte sich mehr danach, als sie sich je zuvor nach etwas gesehnt hatte. Der Druide ließ sich Zeit. Als ein Mond in den nächsten überging, erkannte Ana die Verspätung als eine Art Geschenk und begann einen komplizierten Tanz, einen Tanz mit einem unsichtbaren Partner. Jeder Schritt, jede Bewegung war mit Gefahr belastet. Häufig wurden die Muster unterbrochen, denn Ana konnte nicht jeden Tag in dem kleinen Hof sitzen, ohne dass es auffiel, und wenn sie tatsächlich dorthin ging, schwieg Drustan häufig, was bedeutete, dass Deord bei ihm war. Ana hielt es für wahrscheinlich, dass Deord bereits Verdacht geschöpft hatte, denn es war anzunehmen, dass er sich in all diesen Jahren einmal zufällig im Schlafraum aufgehalten hatte, wenn Leute sich oben im Hof unterhielten, und er daher das Geheimnis des Gebäudes kannte. Aber Alpins besonderer Wächter ging weiterhin mit seinen Essenstabletts hin und her und wandte seinen ruhigen Blick diskret von der künftigen Frau des Fürsten ab. Er tat nichts, was von seiner üblichen Routine abgewichen wäre, und Anas Herz beruhigte sich nach und nach. Ihre Tage kreisten um diese kurzen Augenblicke, diese magischen Zeiten, in denen sie mit Drustan sprechen, ihm in sein ungesehenes Ohr flüstern und sich an die Wand drücken konnte, um seine leisen Antworten zu hören. Sie beendete die zweite kleine Stickerei und gab sie der Krähe, als der Vogel zu Besuch kam. Sie plante eine dritte, hatte aber noch nicht damit angefangen, da sie nicht über die richtigen Farben verfügte, um das Gefieder des kleinsten Vogels exakt wiederzugeben. Außerdem musste sie sich um Alpins Hochzeitshemd kümmern und nun, da Ludha ein Muster geliefert hatte, gab es keine Ausrede, damit keine Fortschritte zu machen. Es war diese Arbeit, mit der sie eines Nachmittags beschäftigt war, als Ludha vergessen hatte, ein bestimmtes Band in ihren Arbeitskorb zu packen und nach unten ins Nähzimmer gehen musste, um es zu holen. - 324 Ana war zum ersten Mal mit Drustan allein. Sie war bisher mit dem, was sie zu ihm sagte, vorsichtig gewesen. Kein Wort über ihre Begegnung im Wald war gefallen, und sie hatte auch nichts erwähnt, das darauf hinwies, dass er und Deord die Möglichkeit hatten, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Ludha sprach nie darüber, was
sie davon hielt, dass Ana sich so schnell mit ihrem künftigen Schwager anfreundete. Häufig sangen sie zusammen, sangen zu dritt, und ein- oder zweimal tauschten sie alte Geschichten und Kinderverse aus. Bei einer Gelegenheit fragte Ana Drustan nach den Vögeln, wollte wissen, wie es kam, dass sie ihm so nah waren und wie sie in einem Haus voller Katzen in Sicherheit blieben. Seine Antwort war rätselhaft; es war schwierig, seine Worte zu interpretieren. Sie erzählte ihm ein wenig über ihre Kindheit auf den Hellen Inseln und darüber, wie sie Geisel geworden war. Als der Sommer näher kam, fand sie leichter einen Vorwand, sich in dem kleinen Hof niederzulassen. Sie fragte Drustan nach seiner Kindheit und hörte von einem Jungen, der häufig allein, aber nie einsam gewesen war. Tiere waren seine Gefährten gewesen; Träume hatten ihn genährt. Er war mit seinem Bruder und seiner Schwester in Dornwald aufgewachsen, bis er sieben Jahre alt gewesen war. Dann hatte man ihn nach Westen geschickt, ins Haus seines Großvaters, ein Haus, das später ihm selbst gehört hatte, bevor man ihn einsperrte. »Dieser Ort heißt Träumendes Tal«, sagte er mit schüchternem Stolz. »Er ist voller Licht, einem Licht wie man es sonst nirgendwo im Land der Caitt findet. Es ist wie ein Segen aus einer anderen Welt, und ich dachte immer, dass die Götter selbst dieses geschützte Tal berührt haben mussten, dieses stille Wasser. Es gibt zwei Seen in der Nähe meines Hauses; ich hatte meine eigenen Namen für sie, Namen, die ich ihnen gab, als mein Großvater mich zum ersten Mal dort hinbrachte.« - 325 »Wie hast du sie genannt?« »Der See nahe dem Haus ist von Birken umgeben, deren Blätter im Wind beben. Er scheint über ein Strahlen zu verfügen, das über eine Spiegelung von Sonne und Mond hinausgeht, als leuchtete er aus eigener Kraft. Ich habe ihn Himmelsbecher genannt. Der andere ist ein Ort, an dem selbst an heißen Tagen Nebel über dem Wasser liegt. Pflanzen mit breiten Blättern treiben auf seiner Oberfläche, und im Sommer haben sie weiße Blüten. Langbeinige Vögel schreiten aus dem Nebel und wieder hinein, wie Besucher aus einer anderen Welt. Diesen See nannte ich Taubecher. Kindernamen.« »Diese Namen malen ein Bild für mich. Ich würde das Träumende Tal eines Tages wirklich gerne sehen. Drustan, warum hat man dich dort hingeschickt, als du noch klein warst?« »Es gab für mich hier keinen Platz. Meine Eltern schämten sich meiner, mein Bruder und meine Schwester verachteten mich. Mein Großvater hat mir einen Platz gegeben.« Er fragte sie nach der geplanten Hochzeit, und sie antwortete wachsam. Sie wusste nicht, ob das Durcheinander ihrer Gefühle, die Sehnsucht, ihn zu sehen, das Bedürfnis, ihn zu berühren - eine so unmögliche, lächerliche Idee -, in ihrer Stimme deutlich wurde. Sie glaubte, ein Echo davon in seinem Ton zu vernehmen, tat es aber als Sehnsucht nach Gesellschaft ab, die diese endlosen Tage des Gefangenseins ein wenig aufhellte. Aber an diesem Tag war Ludha nicht da, und plötzlich fühlte sie sich ganz anders. »Drustan?« »Ja, Ana?« »Ludha ist weg, sie holt etwas aus dem Haus. Wir sind eine Weile allein.« Er antwortete nicht sofort. - 326 »Eine Weile ist kaum genug, um zu beginnen«, erklang seine Stimme schließlich. »Um die ersten Worte zu finden.« »Ich weiß«, sagte Ana leise. Sie hatte sich auf die Pflastersteine am Fuß der Mauer gesetzt und die Knie unter den Rock gezogen. Selbst an diesem Sommertag waren die Steine kalt. Darunter würde es bitter kalt sein. »Ich wünschte, ich könnte richtig mit dir sprechen. Ich wünschte, ich könnte dich sehen.« »Das darf nicht sein.« »Ich weiß. Ich weiß, was passiert ist. Ich habe es von Alpin gehört und von dir. Es ist... es ist, als wollte ich die Vergangenheit ändern. Aber selbst die Götter können das nicht für uns tun.« »Wünschst du dir, du wärst nie nach Dornwald gekommen? Vielleicht, dass du einen Mann von den Hellen Inseln oder aus Fortriu geheiratet und diese beiden umnachteten Caitt-Brüder nie kennen gelernt hättest?« »Nein«, sagte Ana und schlang die Arme um den Oberkörper, um sich zu trösten. »Das wünsche ich mir nicht. Nur, dass sich das, was hier geschehen ist, irgendwie ändern ließe. Ich weiß, es ist dumm, aber ich sehne mich immer noch danach, dass du mir sagst, es sei nicht die Wahrheit. Aber selbst, wenn es so war, könnte es mir niemals Leid tun, dir begegnet zu sein, Drustan. Wenn du tatsächlich etwas so Schreckliches getan hast, finde ich, du hast inzwischen dafür bezahlt. Du musst dich doch sicher verändert haben. Ich kann nicht glauben, dass der Mann, den ich jetzt kenne, im Stande wäre, so etwas zu tun.« Sie spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg, und war froh, dass er sie nicht sehen konnte. »Meine Geschenke sind jämmerlich«, sagte Drustan. »Wenn ich könnte, würde ich dir Schätze geben, gesponnen aus Licht und Lachen, aus Farbe und Schatten, aus Leben und Atem. Ich würde dich in einen Umhang aus Mondlicht hüllen und dir Pantoffeln aus fließendem Wasser zu Füßen - 327 legen. Ich würde ...« Er hielt inne. Ana saß reglos und wie gebannt da. »Ich würde dich berühren und Freude erwecken«, flüsterte er. »Das wusste ich vom ersten Augenblick an, als ich dich sah, allein an diesem angeschwollenen Fluss, mit so viel Angst und Mut in deinen Augen. Ich wusste es, als ich sah, wie du an deinem
kleinen Feuer schliefst und der Körper eines anderen Mannes dich wärmte. Ich wollte selbst dieser Mann sein, denn ich wollte dich halten, wie er es tat. Ich wusste es, als du uns im Wald sahst, an dem Tag, an dem du erfahren musstest, was ich getan habe. Es war eine vergebliche Hoffnung. Und dennoch war ich nicht im Stande, diese Sehnsucht abzutöten, und ich spüre sie in jedem wachen Augenblick. Und in meinen Träumen schreitet sie neben mir.« Ana brachte kein Wort heraus. »Deine Freundin wird bald zurückkehren«, sagte Drustan. »Verschwende diese Zeit nicht mit Schweigen. Sprich mit mir, sag etwas. Lass mich deine Stimme hören.« Anas Kopf war voll mit den Dingen, die sie ihm sagen wollte, mit all den Botschaften ihres Herzens, aber die Gewohnheiten eines ganzen Lebens in königlichen Haushalten ließen sich nicht einfach abstreifen. Sie konnte nicht aussprechen, was sie empfand, nein, sie war mit einem anderen Mann verlobt, und dann gab es da noch den Vertrag. »Ich - wie konntest du mich sehen, damals an der Furt?«, fragte sie. »Die Krähe war da, aber ...« »Manchmal sehe ich durch andere Augen«, antwortete er. »Wir sind verbunden, meine Freunde und ich. Wir helfen einander. Ohne sie, ohne meine Kleinen wäre ich trotz Deords geduldiger Fürsorge nicht mehr am Leben. Ich habe sie ausgeschickt, denn sie lassen mich über mein Gefängnis hinweg reisen.« »Haben deine Vögel Namen?« Ihr Götter, sie verschwendete kostbare Zeit. »Hoffnung«, sagte Drustan. »Flamme. Herz.« - 328 »Das ist wunderschön.« »Sie sind ein Teil von mir. Und auch du bist ein Teil von mir, Ana. Ich will nicht, dass du meinen Bruder heiratest.« Sie hielt die Luft an. »Du solltest so etwas nicht sagen«, meinte sie. »Diese Hochzeit besiegelt einen Vertrag. Deshalb hat König Bridei mich hierher geschickt. Ich hatte keine Wahl.« »Heirate ihn nicht, Ana.« Seine Stimme war jetzt nicht mehr sanft, sondern warnend. »Wenn du ein Vogel wärst, würde ich dich bitten davonzufliegen, solange du noch kannst.« »Drustan, ich sitze hier mit dem Hochzeitshemd deines Bruders, an dem ich nähe. Ein Druide ist bereits auf dem Weg hierher, um die Handreichung zu vollziehen und den Vertrag niederzuschreiben. Wenn er hier wäre, wären wir bereits verheiratet. Alpin hat allen Bedingungen des Königs zugestimmt. Ich kann das nicht ändern.« »Ist es das, was du willst? Zu sehen, wie dein Licht gelöscht wird, dein Herz erdrückt, wie deine Freiheit verloren geht? Willst du wirklich einen Mann heiraten, den du nicht lieben kannst?« Ana schloss die Augen. »Was ich will, ist dabei nicht wesentlich«, sagte sie. »Ich habe immer gewusst, dass so etwas meine Zukunft sein würde. Mein Blut, das Blut der königlichen Linie, ist zu wertvoll, um mir die Freiheit der Wahl zu lassen. Eine Frau aus der königlichen Familie heiratet nicht um der Liebe willen.« Ihre Stimme bebte, als sie das Wort »Liebe« aussprach. »Ich glaube, ich kann Ludha zurückkehren hören. Wir dürfen nicht länger über diese Dinge sprechen.« »Ludha ist immer noch im Nähzimmer und sucht nach ihrem Band«, sagte Drustan ruhig. »Du hast Zeit, mir zu sagen, was du denkst, was du empfindest. Du hast Zeit, mir die Wahrheit zu sagen.« »Woher kannst du wissen - oh. Ein Vogel. Das beunruhigt - 329 mich. Dein kleiner Zaunkönig hat auf meinem Fensterbrett gesessen und zugesehen, wie ich mich abends auszog. Wie ich einschlief. Dein Kreuzschnabel hat mir Geschenke gebracht, wenn ich erwachte. Es scheint, als könnte ich deinem Blick nicht entkommen, wo ich auch bin, was ich auch tue. Das ist... es ist eine andere Form von Gefangenschaft.« »So ist es nicht, Ana. Ich würde dich nie beobachten, wenn ich denke, dass es dich unglücklich macht. Ich benutze die Vögel nicht oft auf diese Weise. Nur, wenn es notwendig ist. Sagst du, dass du dich nicht vor mir ausziehen möchtest?« »Ich ...« Diese mutige Frage, sehr zögernd vorgebracht, brachte jede Faser in ihrem Körper zum Erbeben. Sie spürte, wie das Blut ihr in die Wangen rauschte, und konnte nicht antworten. »Das würde dich nicht freuen?« »Ich kann diese Frage nicht beantworten, Drustan. Es ... es gehört sich einfach nicht. Es gibt zahllose Gründe, weshalb ich nicht mit dir über solche Dinge sprechen sollte, selbst vorausgesetzt, dass ich wollte.« Sie holte tief Luft und zwang sich aufzuhören, bevor sie etwas vollkommen Törichtes äußerte. »Aber ich möchte jetzt dir eine Frage stellen. Du wirst sie vielleicht noch schwieriger finden als ich die deine. Aber da du von schon von Wahrheiten gesprochen hast, möchte ich, dass du mir diese Frage vollkommen ehrlich beantwortest.« »Ich habe dich nie angelogen. Ich weiß, du wünschst dir, ich hätte es getan.« »Dann sag mir, was an dem Tag passiert ist, an dem Tag, als Erisa starb. Sag mir, warum du getan hast, was du tatest.« Er schwieg. Dann sagte er: »Wenn ich deine Frage wahrheitsgemäß beantworte, beantwortest du dann meine?« »Das ist nur gerecht.« Ana schauderte vor Erwartung, denn nun würde sie die Wahrheit hören, die ganze Wahr- 330 heit, und sie wusste nicht, ob es ihr helfen würde, die Dinge zu verstehen, oder einfach ihr Herz bräche. »Schnell
jetzt, Ludha kann nicht den ganzen Nachmittag brauchen, um ein Band zu holen. Ich weiß, es ist schwer für dich. Sag mir einfach, was passiert ist.« Sie hörte, wie Drustan tief Luft holte und schaudernd wieder ausatmete. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, sagte er. »Fang einfach an dem Tag an, an dem es passiert ist, und erzähle mir, was du getan hast.« Anas Herz klopfte heftig; sie bat ihn immerhin, ihr von einem Mord zu erzählen. Dieser Handel war der ungerechteste, den sie sich vorstellen konnte. »Ich muss als Erstes erklären, dass ... dass ich mich, wenn ich dort hingehe, hinterher nicht immer erinnern kann. Manchmal sehe ich es vollkommen klar, manchmal ist die Erinnerung daran verloren, und ich kann sie nie wiedererlangen.« »Wie meinst du das? Ich verstehe dich nicht. Du gehst wohin?« »An den anderen Ort.« »Welchen Ort?« »Den, an den ich mich begebe, wenn ... wenn der Anfall, wie mein Bruder es nennt... über mich kommt. Er irrt sich, es so zu bezeichnen. Ich würde nicht von einem Anfall, sondern von einer Reise sprechen. Dennoch, ich bin dieser Sache ausgeliefert, was immer es sein mag. Wenn es mich zu einem Verrückten macht, wie es die Leute sagen, dann bin ich der Letzte, der widersprechen kann, da man jedes meiner Worte bezweifeln muss.« »Aber wie passierte es? Wie fühlt es sich an?« Er schwieg lange. »Drustan? Kannst du es mir sagen?« »Es ist, als würde ich lebendig«, flüsterte er. »Als erwachte ich aus langem Schlaf. Wie frisches Wasser für einen - 331 Mann, der vor Durst stirbt. Wie die erste Berührung der Sonne. Es ist eine Befreiung. Aber es hat mich etwas Schreckliches tun lassen. Es hat mich gefährlich gemacht. Sie sagen mir, ich würde wieder töten, wenn man mich freiließe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben. Warum sollten sie lügen?« Ana war vollkommen verwirrt. »Aber Deord hat dich freigelassen«, sagte sie. »Ihr wart draußen im Wald, als ich dich sah, und du warst nicht gefesselt.« Als ich dich sah und dachte, dass du der schönste Mann auf der Welt bist. »Deord ist sehr stark und sehr schnell«, sagte Drustan. »Aber er geht ein Risiko ein. Er weiß, dass ich ohne diese kurzen Fluchten in die Freiheit tatsächlich wahnsinnig würde. Er vertraut darauf, dass ich mit ihm zurückkehre, und ich habe ihn nie enttäuscht, nicht in sieben Jahren. Er versteht, was es bedeutet, eingesperrt zu sein. Ohne ihn hätte die Verzweiflung mich schon lange dahingerafft.« »Ich ...« Ana zwang sich, zu warten und sich wieder zu fassen. »Ich will nicht so tun, als verstünde ich alles, was du gerade gesagt hast, Drustan. Es verstört und verwirrt mich. Erinnerst du dich daran, was an dem Tag geschah, als Erisa starb? Kannst du mir etwas davon erzählen?« »Ich war aus dem Westen nach Dornwald gekommen, um meinen Bruder zu besuchen. Ich war im Wald. Ich ging morgens früh hinaus. Es gab Nebel, er zog sich kalt um die Bäume, schlich in die Höhlen von Wolf und Dachs, zog sich entlang der Wege von Marder und Hase. Es war beinahe Winter. Sie schrie. Sie lief. Sie fiel. Ich ging davon. Als ich von meiner Reise zurückkehrte, hatten sie ihre Leiche gefunden.« Atme langsam, sagte sich Ana. »Das ist es, was du ihnen gesagt hast, als du zurückkehrtest? Nur das?« »Das ist, woran ich mich erinnerte.« »Was war zuvor? Warum hat Erisa geschrien? Alpin sagte, du ...« Nein, sie konnte es nicht aussprechen. - 332 »Mein Bruder sagt, ich hätte seine Frau in den Tod getrieben. Hätte sie dazu gebracht, zu stürzen. Das waren seine Worte.« »Und wie lauten deine, Drustan? Das will ich hören, und es scheint dir schwer zu fallen, das Geschehene in schlichte Worte zu fassen.« »Ich nehme an, was mein Bruder erzählt, ist wahr.« »Was willst du mir sagen? Dass du dich nicht erinnern kannst, was geschehen ist?« Es war erschreckend, aber plötzlich war eine absurde Hoffnung in ihr erwacht. »Ich war an dem anderen Ort. Das, woran ich mich erinnere, ist... anders. Wenn ich dort bin, sehe ich nicht auf die gleiche Weise. Ich kann es nicht in Worte fassen, die du begreifen würdest oder die Alpin verstehen könnte oder irgendein Mann oder eine Frau, die mich um einen Bericht bitten. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was ich getan habe, bevor ich Erisas Schrei hörte, bevor ich sah, wie sie durch den Wald floh. Ich erinnere mich nicht daran, ihr wehgetan zu haben. Aber es gibt auch andere Dinge, von anderen solchen Reisen, an die ich mich nicht erinnere. Sie sagen, ich hätte sie getötet. Sie sagen, dass die alte Frau es gesehen hat und so erschrocken war, dass sie kurz danach in den Wald geflohen ist. Was Alpin dir erzählt hat, ist wahr.« Tränen zogen heiße Pfade über ihre Wangen. »Drustan«, sagte sie, »wie kannst du das tun? Wie kannst du mir in einem Atemzug sagen, dass du ... dass du mich berühren willst, dass du mir nahe sein willst, und mit dem nächsten Atemzug erklärst du, dass du zu gefährlich bist, um freigelassen zu werden? Was erwartest du von mir? Wie soll ich darauf reagieren?« »Ich weiß es nicht, Ana«, sagte er leise. »Vielleicht ist es ein weiteres Zeichen meines Wahnsinns, dass ich dich
so quäle. Wirst du jetzt meine Fragen beantworten? Ich höre das Tor knarren, Deord kommt zurück.« - 333 »0 ihr Götter, Drustan, wie kannst du eine Antwort darauf erwarten, nachdem ... also gut, die Antwort lautet: Wenn ich nicht mit deinem Bruder verlobt wäre, würde das, was du vorschlägst, mir durchaus Freude machen, wenn ich mich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hätte. Aber da ich Alpin heiraten werde, kann ich mir auf keine Weise vorstellen, dass so etwas geschieht, und schon gar nicht weiter darüber sprechen. Wir müssen damit aufhören. Lebe wohl, Drustan.« »Lebe wohl, mein Licht.« Ana schloss die Augen, es war einfach zu viel. Es war zu schwer. Sie wollte nach Hause zum Weißen Hügel, wollte, dass all dies sich als schlechter Traum erwies. Und dennoch ... was sie ihm gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er mochte ein Mörder und ein Verrückter sein, aber sie würde sich niemals wünschen, dass sie Drustan nie begegnet wäre, obwohl sie wusste, dass all das nur in schrecklichem Kummer enden konnte. Bevor sie ihm begegnet war, war sie nicht wirklich am Leben gewesen. »Lebe wohl, mein Liebster«, flüsterte Ana, aber sie achtete darauf, dass es so leise herauskam, dass Drustan sie auf keinen Fall hören konnte, und dann stand sie auf und kehrte zu ihrer Bank zurück. Als Ludha nicht lange danach die Treppe hinaufkam, war ihre Herrin eifrig damit beschäftigt, kleine Hunde auf das schöne neue Hemd ihres Verlobten zu sticken, und die Zofe machte keine Bemerkung darüber, dass Anas Augen gerötet waren. - 334 KAPITEL NEUN Das Wetter war gut. Der Sommerwald hüllte Alpins Festung in ein weiches Gewand aus vielen Grüntönen, und der Fürst von Dornwald verkündete beim Abendessen, dass sein Haushalt am nächsten Morgen auf die Jagd gehen würde. Faolan war fleißig gewesen. Dass der Druide so lange auf sich warten ließ, gab ihm mehr Zeit, als er erwartet hatte, und er hatte das Vertrauen mehrerer Angehöriger von Alpins Haushalt gewonnen. Er sorgte dafür, dass die Harfe schwer zu flicken war, und entkam der Anforderung zu singen, indem er sich einen anhaltenden Husten zuzog, was man der Tatsache zuschrieb, dass er an der Furt zu lange im Wasser gewesen war. Er verbrachte viel Zeit damit, zuzuhören, und noch mehr mit Nachdenken. Die Menschen in Dornwald waren wie Haselnüsse: schwer zu knacken, und dann nicht besonders ergiebig. Faolan konnte sich nicht erinnern, dass es je zuvor so lange gedauert hatte, so wenige nützliche Dinge herauszufinden. Ana war unglücklich, unruhig, nervös, das sah er ihrem Gesicht an, und er war dank Alpins scharfem Auge und der erklärten Absicht des Anführers, jeden Mann zu bestrafen, der sie auch nur anschaute, machtlos und konnte nichts für sie tun. Als er sie beim Abendessen unauffällig beobachte- 335 te, kam Faolan zu dem Schluss, dass sie Alpin offenbar bat, sie von der Jagd zu entschuldigen. Sie sagte vielleicht, dass solch blutiger Sport nie zu ihren Vorlieben gehört hatte oder dass es im Haus wichtige Dinge zu tun gab. Bitterkeit stieg in Faolan auf, als er zusah, wie Alpin schallend lachte, seiner künftigen Braut die schwere Hand auf die zarte Schulter legte und den Kopf schüttelte. Offenbar sagte er ihr, dass sie mitkommen musste, es würde ihr gefallen, und außerdem, welch bessere Gelegenheit gab es, das Territorium ihres künftigen Mannes kennen zu lernen? »Sei bloß vorsichtig, mein Freund«, riet Gerdic, der neben Faolan auf der Bank saß. »Du steckst das Messer in diesen Käse, als wollte er dich angreifen. Passt auf eure Finger auf, Jungs, unser Barde ist heute Abend nicht in bester Stimmung.« »Der hat nur eine Stimmung«, stellte ein anderer fest. »Mürrisch. Typisch Gäle.« Faolan antwortete nicht, und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu, vor allem der bevorstehenden Jagd. Es würde Wild im Topf geben; Gerdic und die anderen Küchenhelfer hatten einen langen Tag vor sich. Die Bewaffneten, die weiter oben am Tisch saßen, spekulierten darüber, was man so früh im Jahr jagen konnte. Sicher kein Rotwild, aber die Hunde würden vielleicht das eine oder andere Wildschwein aufscheuchen, und mit der Hilfe von Beizvögeln konnten sie Auerhähne oder anderes Wildgeflügel erlegen, obwohl die Tiere wahrscheinlich um diese Jahreszeit nicht viel Fleisch auf den Knochen hatten. Faolan schnitt demonstrativ Käse und Brot ab, hackte eine Zwiebel in Scheiben. Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Alpin den Arm um Anas schmale Taille legte und dann die Hand nach oben gleiten ließ, sodass sie durch die schöne taubengraue Wolle ihrer Tunika die untere Wölbung ihrer Brust berührte. Auf jeder ihrer Wangen erschien ein kleiner roter Fleck. - 336 »Jagd, wie?«, sagte Gerdic nachdenklich. »Keine Beschäftigung für einen Barden, würde ich sagen.« »Oh, er erwartet sicher, dass ich mitkomme.« Faolans Ton war so finster wie seine Stimmung. »Warte, es dauert noch ein wenig, dann ruft er mich zu sich und lässt mich kriechen, und dann teilt er mir mit, dass er mir die Freundlichkeit erweist, mich bei diesem Unternehmen einzuschließen, und wenn wir nach Hause zurückkehren, ein Lied darüber erwartet.« »Still«, zischte Gerdic. »Lass ihn nicht hören, dass du so von ihm sprichst, und auch keinen seiner Krieger.« »Er wird mich nicht hören. Und du wirst es nicht weitersagen.« Gerdic sah ihn nervös an. »Nicht, wenn du mich so anstarrst, ganz bestimmt nicht. Aber pass auf.«
»Das tue ich.« »Und was, wenn er wirklich tut, was du sagst? Bist du mit der Harfe fertig?« »Sie ist so bereit, wie sie sein kann«, erklärte Faolan säuerlich. »Ich muss nur aufpassen, dass mich morgen kein Eberspeer erwischt, und dieses Käsemesser heute Abend vorsichtig benutzen, und dann bleiben mir vielleicht genügend Finger übrig, um ein Liedchen über die Leistungen eures Fürsten bei der Verfolgung des größten Ebers im Norden zu singen. Meine Stimme ist allerdings eine andere Sache.« »Bau einen guten Refrain ein«, riet Gerdic ernsthaft. »Schreib eins von diesen Liedern, an die man sich leicht erinnern kann, du weißt schon, so, dass es einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Auf diese Weise können wir alle mitsingen und dir ein wenig helfen.« Faolan kam einem Lächeln so nahe, wie es ihm möglich war. »Danke«, sagte er, »ich kann alle Hilfe brauchen.« Das war selbstverständlich alles Teil eines gut eingeübten Spiels. Faolan erledigte seine Aufträge ohne jede Hilfe, denn so war es erheblich einfacher. Er zog es vor, sich ausschließ- 337 lieh auf sich selbst zu verlassen. Es verringerte die Risiken. Wenn es ihm passte, nett zu Gerdic zu sein, der hin und wieder Informationen weitergab, die Faolan woanders nicht erhalten konnte, würde er freundlich zu ihm sein. Wenn es notwendig wäre, an diesem Abend ein Barde zu sein, würde er zum Barden werden. Ana hätte sich sicher nie vorstellen können, welche Prüfung sie ihm auferlegte, als sie im Wald log, um ihn zu schützen. Er hätte lieber nackt und ohne Waffen vor einem Kreis von Alpins fähigsten Kriegern gestanden, als seine Hände an diese Harfe zu legen und in einer überfüllten Halle zu musizieren. Es würde sein, als hängte er sein Herz an einen Metallhaken. Es würde jeden Funken seiner beträchtlichen Selbstbeherrschung brauchen, diese Erfahrung mit intakter Fassade zu überleben. Aber das war nicht Anas Schuld. Woher hätte sie wissen sollen, dass ausgerechnet so etwas ihn bis ins Mark erschütterte? Er hatte am Weißen Hügel sein Bestes getan, um kalt und distanziert zu sein, ein fähiges Werkzeug, ein Mann, der sich einfach dem anschloss, der ihm den schwersten Silberbeutel bot. Er hatte im Lauf der Zeit begonnen, selbst an diese sorgfältig geschaffene Rolle zu glauben. Diese Maske hatte dafür gesorgt, dass er in Sicherheit blieb; sicher vor seinen Erinnerungen. Die Harfe würde sie alle zurückbringen. Nun gut, diese Prüfung würde ihm erst am Abend bevorstehen. Am Tag würden sie jagen, und das war eine Gelegenheit, die er nutzen musste. Er würde sich außerhalb der Mauern befinden, er würde diesmal sein eigenes Pferd reiten, und die Art, wie sie jagten, würde ihm gestatten, sich für einige Zeit ungesehen davonzumachen, wenn er es richtig anfing. Es gab einen Bereich der Festung, den er noch nicht untersucht hatte, und dieser Tag gab ihm die Gelegenheit dazu. Er konnte nicht seine Sachen packen und zum Weißen Hügel zurückkehren, ohne sich Alpins Treue gegenüber Bridei vollkommen sicher zu sein. Eine - 338 Krakelei auf Pergament, ein Schwur, so etwas war wertlos, wenn der Mann, von dem es kam, kein Ehrgefühl hatte. Alpins seltsame Familie faszinierte Faolan und machte ihn misstrauisch. Zwei Brüder, zwei Territorien. Ein Bruder eines schrecklichen Verbrechens bezichtigt und sein Leben lang unter entschieden bizarren Umständen eingesperrt. Der andere Bruder daher Herr über beide Territorien, darunter auch den strategisch wichtigen Ankerplatz. Das war Grund genug für Zweifel, und Alpins Verhalten trug wenig dazu bei, sie zu mildern. Da niemand im Haushalt bereit war, über Drustan zu sprechen, musste Faolan sich direkt an die Quelle wenden. Und dann gab es da Deord. Ein Mann aus Felsental wie Faolan selbst, einer der wenigen Überlebenden dieser finsteren Grube. Wenn ein Mann aus diesem Ort entkam, wie es Faolan selbst gelungen war, wäre sicher die letzte Beschäftigung, die er sich wählen würde, die eines Gefängniswärters. Darüber dachte er nach, als er einen steilen Hang unter hohen Fichten hinabritt, hinter der lang gezogenen Reihe von Alpins Jagdgesellschaft her. Sieben Jahre, hieß es, war Deord schon hier. Sieben Jahre finsterer Erinnerungen, sieben Jahre Albträume. Warum hatte sich Deord nicht irgendwo niedergelassen, eine Frau gefunden und eine Familie gegründet? Warum ging er nicht in einem sicheren Dorf, so weit entfernt vom Einfluss der Ui Neill wie möglich, einem Handwerk nach? Sich zurück in ein Gefängnis zu begeben, war die Tat eines Wahnsinnigen. Nun, wenn es stimmte, was die Leute sagten, bewachte Deord einen Wahnsinnigen. Vielleicht passten die beiden ja zueinander. Der Wald spielte ihnen heute Streiche. Die Geschichten, die Faolan gehört hatte, legten nahe, dass es hier Präsenzen gab, die weder Mensch noch Tier waren: Geschöpfe aus Knochen und Dunkelheit, langzähnige Ungeheuer mit greifenden Armen, uralte Weiber mit kleinen Beuteln gefähr- 339 licher Amulette, wilde Krieger, bewaffnet mit tödlichen unsichtbaren Waffen. Dann gab es die Bäume selbst, die gewundenen Wege und den unheimlichen Nebel. Wenn man die Leute reden hörte, konnte man glauben, dass selbst die Steine Beine und Augen hatten und Ärger machen konnten. Faolan tat solche Geschichten ab, denn er wusste, wie sehr die Menschen dazu neigten, zu übertreiben, aus einem Knarren im Dunkeln ein schreckliches Ungeheuer zu machen und aus einem huschenden Schatten einen wilden Dämon. Nach seiner eigenen Ansicht waren die Missetaten von Menschen erheblich beunruhigender als solche Phantome, die aus einem schlechten Traum oder zu viel Met aufstiegen. Dennoch, diese Wege waren gefährlich. Immer häufiger hielt die Jagdgesellschaft auf einer Lichtung oder am Ufer eines Baches an und man beriet, welche Abzweigung man nehmen, welchem Weg man folgen würde.
Ana ritt mit Alpin an der Spitze, und Faolan war weit hinten bei den letzten Reitern der Gruppe, überwiegend Dienern, die Packpferde führten und deren Aufgabe es sein würde, die Beute des Tages im Triumph nach Hause zu bringen. Faolan schwieg, machte sich so unauffällig wie möglich und merkte sich jede Wendung, jede Abzweigung des Weges. Mit einigem Glück würde es kaum auffallen, wenn er eine Weile verschwand, denn sobald die Hunde die Wildschweine witterten, würde keiner mehr darüber nachdenken, wie viele Männer sich in der Gruppe befanden und wo sie sich genau aufhielten. Er hoffte, dass sie nicht zu weit reiten würden, bevor sich diese Gelegenheit ergab. Sein eigenes Wild befand sich nicht im Wald, sondern in der Festung. Er hatte vor, Deord zu suchen und ein paar Wahrheiten aus ihm herauszuholen. Zwischen Männern ihrer Art bestand eine Verbindung, geschmiedet durch Entbehrungen und Überleben. Sie waren verpflichtet, einander zu helfen, ob es ihnen nun passte oder nicht. Und wenn sein Wächter nicht sprechen wollte, würde es Drustan vielleicht tun. - 340 Als die Gruppe abermals Halt machte, sah er Ana, die still wartete, während Alpin seinen Männern etwas erklärte. Die Jagdhunde huschten zwischen den Pferden umher und drehten ihre Köpfe bei jedem Rascheln im Farnkraut; es waren langbeinige, zottige Tiere, größer als die Hunde am Weißen Hügel, und ihr Aussehen legte nahe, dass ein Wildschwein für sie leichte Beute darstellte. Ana sah blass und müde aus. Als sie weiterzogen, gestattete Faolan nach und nach erst einem, dann einem weiteren Reiter, ihn zu überholen, bis er sich hinter den Packpferden befand. Schon bald brachen die Hunde in lautes Gebell aus, und Alpins Jäger ließen sie los. Die Hunde verschwanden im Wald, jeder eine Ramme aus reiner Muskelkraft. Die Reiter folgten ihnen. Die Wege waren schmal und überwachsen. Innerhalb von ein paar Atemzügen war die Jagdgesellschaft so weit verteilt, dass niemand mehr als einen oder zwei andere Reiter sehen konnte, und die Hunde waren weit voran und trieben ihr Wild an eine Stelle, wo es sich umdrehen und ihnen verzweifelt zuwenden musste. Die Männer mit den Packpferden fanden eine kleine Lichtung und blieben dort, um zu warten. Während sie ihre Ausrüstung abluden und die Pferde zum Grasen anpflockten, kehrte Faolan in den Schutz der Bäume zurück, was ihm dank seines gehorsamen Pferdes nicht schwer fiel. Rasch nahm er den Weg zurück, den er gekommen war. So weit, so gut. Er hatte ohnehin keine Lust zu sehen, wie die Tiere erlegt wurden. Er hatte in seiner Laufbahn genug gewaltsame Tode gesehen, hatte tatsächlich viele von ihnen mit eigener Hand verursacht. Der Kampf eines wilden Ebers gegen dieses gerissene Rudel reizte ihn kein bisschen. Er war heute selbst auf der Jagd, und er musste sich beeilen, denn er würde sich der Gruppe so unsichtbar wieder anschließen müssen, wie er sie verlassen hatte, und sich dann einen detaillierten Bericht geben lassen, um ein Lied zu schreiben. - 341 Sobald er weit genug von Alpins Jägern entfernt war, begann er leise vor sich hin zu summen, die Anfänge eines dieser Lieder, die einem nicht mehr aus dem Kopf gingen. Gerdic hatte Recht: Diese Leute würden sich am meisten über etwas Schlichtes freuen, und er selbst wäre erheblich sicherer mit einem solchen Liedchen, einem unbeschwerten Gesang ohne große Emotionen oder gewaltige Themen. Aber das Lied, das er nun nicht mehr los wurde und dessen Melodie er leise vor sich hin summte, war die Ballade, die er gesungen hatte, als er Alpins Braut über eine Furt trug: die Geschichte eines Mannes, den eine Feenfrau verzaubert hatte, eines Mannes, der nie wieder sein würde wie zuvor. Deord war müde. Wenn Drustan eine schlechte Nacht hatte, bekamen sie beide keinen Schlaf. Die letzte Nacht war eine der schlimmsten gewesen, denn sein Schutzbefohlener war im Dunkeln im Hof auf und ab gegangen, hatte gegen das Eisentor gehämmert und mit den Fäusten gegen die Steinwände geschlagen, bis seine Hände bluteten, hatte mit den Armen über dem Kopf dagehockt und war dann wieder aufgesprungen, um sich am Gitterdach ihres Käfigs festzuklammern, als könnte er diese Grenzen mit seiner Willenskraft brechen. Später hatte Drustan eine Decke in Streifen gerissen und diese mit finsterer Entschlossenheit miteinander verknotet, und Deord war ernstlich versucht gewesen, ihm die Handschellen anzulegen, damit er sich nichts antat. Aber das hatte er nicht getan. Es mochte ja sein, dass diese schlimmen Nächte wie das Produkt eines verwirrten Geistes wirkten, aber es war die Gefangenschaft, die sie provozierte; Drustan zu binden, wenn er in dieser Stimmung war, wäre besonders grausam. Sein Gefängnis war nach Deords Maßstäben eher geräumig und bequem. Jeder, der den Höllenschlund des Felsental-Kerkers erlebt hatte, musste Alpins Behandlung seines Bruders für großzügig und gerecht halten. Aber Drustan war kein gewöhnlicher Mann, und - 342 seine Gefangenschaft war für ihn eine ebenso schauerliche Folter, wie diese feuchten, stinkenden Zellen im geheimen Gefängnis der Ui-Neill-Fürsten es für Deord gewesen waren. Drustan die Sonne, den Himmel, die Freiheit des Waldes zu verweigern, war so schlimm wie die Schläge und die Erniedrigungen, die Deord von den Händen seiner gälischen Wärter hatte erdulden müssen. Ein Mann vergaß solche Erfahrungen nicht. Sie hatten ihm das Licht genommen, damit er jedes Gefühl für Tag und Nacht verlor. Sie hatten ihn mit Fackeln, Lärm und plötzlichen Güssen mit eiskaltem Wasser endlos wach gehalten. Sie hatten ihn an den Händen oder an den Füßen aufgehängt. Sie hatten andere Dinge getan, die er tief in seiner Erinnerung verschlossen hatte, hinter undurchdringlichen Mauern. Wenn ein Mann stark genug war, zu überleben und zu fliehen, konnte er es sich nicht erlauben, von Bitterkeit verschlungen zu werden. Es gab nicht viele, die das Felsental-Zeichen wieder in die Welt hinaustrugen. Eine Lektion hatte sich Deord vor allen anderen gemerkt: wie leicht das Böse sich in jedermann erheben konnte, wenn er zu viel Macht über einen anderen erhielt. Er hatte es bei den Wärtern im Kerker gesehen, von denen viele als gewöhnliche Männer mit den
besten Absichten begannen, sich aber schnell veränderten. Nach einer Weile hatte Deord keine Anstrengung mehr unternommen, sich mit neuen Gefangenen anzufreunden, und er hatte aufgehört, ihnen beim Überleben zu helfen. Zuzusehen, wie seine Kameraden nach und nach zerstört wurden, einer nach dem anderen, hatte seine eigene Entschlossenheit geschwächt. Am Ende hatte es in seinem Kopf nur noch Raum für eines gegeben: einen leidenschaftlichen, selbstsüchtigen Überlebenswillen. Er vergaß die Vergangenheit, er dachte nicht an eine Zukunft, die über diesen einzelnen Gedanken hinausging, diesen Talisman: Flucht. Er machte sich blind gegenüber der Gegenwart, die voll mit Blut, Schreien und stiller Verzweiflung - 343 war. Am Ende hatte sich eine Gelegenheit ergeben, und er hatte sie ergriffen. Er wusste, wenn er seine schwächer werdende Energie damit verschwendet hätte, anderen zu helfen, hätten sie alle nicht überlebt. Er erlaubte sich kein Bedauern. Aber nun Drustan: Der arme, schöne, umnachtete Drustan, der die ganze Nacht schrie und schlug und weinte, Drustan, den er immer nur kurze Zeit allein lassen konnte, damit er seinem Leben kein Ende machte ... was konnte er für Drustan tun? Alles Mitgefühl, das Deord als Gefangener unterdrückt hatte, ließ er nun wieder zu, da er selbst Gefängniswärter war. Er wusste, was sein Schutzbefohlener getan hatte - ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen. Er kannte Drustans Wildheit, sein Anderssein vielleicht besser als jeder andere. Deord hatte gelernt, stark an Körper und Geist zu sein, und er verfügte über wahrhaft Furcht erregende Selbstbeherrschung. Nun setzte er diese Kraft ein, um seinem Gefangenen so viel Freiheit zu geben, wie er konnte. Er verstieß gegen Alpins Regeln, aber er tat es vorsichtig, damit dieser unglückliche Gefangene, der bei all seinem Wahnsinn ein Mann von seltener Begabung, großem Charme und beträchtlicher Intelligenz war, nicht noch schwerer bestraft wurde. Er fragte sich, ob Alpin in sieben Jahren abendlicher Besuche je daran gedacht hatte, Drustan um Rat zu bitten, was Handelsangelegenheiten, Bündnisse, Kriege oder die Verwaltung von zwei beträchtlichen Territorien anging. Er hatte nie gehört, dass sie über solche Dinge sprachen. Es schien, als wäre Alpin zu dem Schluss gekommen, dass sein Bruder nicht nur Anfälle erlitt, sondern dass sein Geist überhaupt nicht mehr funktionierte, dass er trotz seiner im Allgemeinen vernünftigen Art zu einem gewissen Grad schwachsinnig geworden war. Er war blind gegenüber Drustans Menschlichkeit. Vor dem Morgengrauen war es Deord gelungen, Drustan in einen Zustand relativer Ruhe zu reden. Er hatte ihn nach - 344 drinnen geholt, ihm eine Decke um die Schultern gelegt und ihn dazu gebracht, einen Becher Wasser zu trinken. Um dies zu erreichen, hatte er ihm einen Ausflug vor die Mauern versprechen müssen, eine kurze Flucht in die Freiheit. Alpin würde auf Jagd sein, ebenso wie die meisten seiner Männer. Es würde sicherer sein als je zuvor, immer vorausgesetzt, sie blieben nicht zu lange weg und hielten sich an ihre selbst auferlegten Regeln. Nach diesem Versprechen hatte sich Drustan erheblich beruhigt, und die Vögel waren wieder aus ihren Verstecken hoch in einer Ecke unter dem Dach gekommen, um in seiner Nähe zu sein. Das war ein unfehlbares Zeichen, dass der Anfall im Augenblick vorüber war. Es war ein warmer, sonniger Tag. Deord hatte sein Gewand ordentlich gefaltet und auf den Boden neben seinen Stab gelegt, und nun vollführte er die vorbereitenden Bewegungen für eine bestimmte Form unbewaffneten Zweikampfs, die er vor langen Jahren von einem bronzehäutigen Seemann in einem südlichen Hafen gelernt hatte. Solche Übungen waren wichtig, um körperlich bereit zum Handeln und geistig schnell zu sein; in seinem Beruf wusste man nie, wann es Ärger geben würde. Er hatte Drustan diese Art zu kämpfen beigebracht, ebenso wie andere Dinge, denn er wusste, wie bald ein Mann die Hoffnung verlor, wenn er zuließ, dass sein Körper im Gefängnis schlaff und weich wurde. Es war kein Wunder, dass Drustan sich so schnell bewegen konnte, schnell genug, um seinen Bruder zu erschrecken. Es war keine Überraschung, wenn man die Kraft seiner Glieder bedachte, dass der Gefangene hochspringen, sich an der Gitterdecke seines Gefängnisses festhalten und sich ganz nach oben ziehen konnte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Drustan zu erlauben, seinen Körper so wirkungsvoll zu stählen. Wenn die Frustration ihn verrückt machte, gestattete diese Kraft ihm, sich noch mehr Schaden - 345 zuzufügen. Wie bei all seinen Entscheidungen hatte Deord auch über diese lange nachgedacht, und inzwischen war er überzeugt, dass Drustan ohne ihre gemeinsamen Übungen schon lange vor Verzweiflung gestorben wäre. Was ihn selbst anging, so hatte es damals in den ersten Monaten oft Zeiten gegeben, in denen er nahe daran gewesen war, Alpin zu sagen, dass er diese Arbeit nicht mehr leisten konnte. Nach Felsental war er nur ein einziges Mal zu Hause gewesen. Er hatte es versucht. Ein Mann musste es versuchen. Aber es war ihm einfach nicht gelungen. Diese Zeit der Dunkelheit hatte etwas aus ihm herausgesaugt, etwas, das ein Mann brauchte, um ein Ehemann, ein Vater, ein Bruder zu sein. Eine Weile war er umhergezogen. Und dann kamen Dornwald und dieser seltsame, faszinierende Gefangene, und er hatte es nicht mehr fertig gebracht weiterzuziehen. Drustan brauchte ihn, und zu seiner Überraschung schien auch er Drustan zu brauchen. Nach dem Blut, dem Tod und der Verzweiflung von Felsental gaben seine Pflichten in Dornwald ihm die Möglichkeit, etwas zu beweisen. Was das genau war, wusste er nicht. Vielleicht, dass es auch an einem Ort der Schatten Mitgefühl geben konnte. Vielleicht, dass nicht jeder Gefängniswärter seine Fähigkeit zu Freundlichkeit, nicht jeder Gefangene seine Fähigkeit zu hoffen verlieren musste.
Deord drehte sich herum, trat zu, blockierte mit einem Arm. Dann in die andere Richtung: Er duckte sich tief, überschlug sich, kam mit einer Drehung wieder auf die Beine, die es ihm ermöglichte, einem eingebildeten Gegner zu entkommen. Heute übte er nicht mit Drustan zusammen, denn es war Drustans Zeit der Freiheit. Die Fesseln lagen auf dem Boden neben dem zusammengelegten Gewand und der präzise aufgerollten Kette. Zwei Vögel hockten Seite an Seite auf einem Holunderzweig und sahen zu, wie Deord seine anmutige Sequenz von Bewegungen vollführte. Drustan war nirgendwo zu sehen. Er würde zurückkehren. Das war ihre - 346 Vereinbarung. Der Gefangene erkannte die Gefahr, die er für andere darstellte. Schon bald würde er freiwillig zu den Fesseln und der Dunkelheit zurückkehren. Faolan war nicht sicher, wer den anderen zuerst sah. Er führte sein Pferd am Zügel und bewegte sich nun mit extremer Vorsicht, da er sich wieder in Sichtweite der hohen Mauern von Alpins Festung befand, denn einige Bewaffnete hielten dort immer noch Wache. Er hatte vor, eine gewisse Öffnung zu benutzen, die er entdeckt hatte, einen gemauerten Abflussgraben, der auf der Südseite durch die Mauer führte. Von dort aus würde er ein wenig klettern müssen und dann oberhalb der Gitterdecke des Quartiers auftauchen, das Alpins Bruder mit seinem Wärter teilte. Danach würde er improvisieren und hoffen müssen, dass Deord nicht mit einem Speer zustieß, bevor er die Möglichkeit hatte, sich zu identifizieren. Es war gefährlich, aber nicht allzu sehr. Faolan war darin geübt, wenn es darum ging, Gefahr gegen Möglichkeit abzuwägen. Einen Augenblick lang blendete ihn die Sonne, als er unter rauschenden Birken weiter vorwärts ging. Er hob die Hand, um die Augen abzuschirmen, und dann sah er es, eine blitzschnelle Bewegung auf der Lichtung, die vor ihm lag, und dann plötzliche Reglosigkeit, als der Mann dort seinerseits begriff, dass er nicht mehr allein war. Drei Schritte vorwärts, und Faolan erkannte, wer dort in der sonnigen Senke zwischen den Bäumen stand: Deord, gekleidet in eine bequeme, weite Hose und mit nacktem Oberkörper. In der Hand hielt er ein langes Messer, das er einen Augenblick zuvor noch nicht gehabt hatte. Faolan ging weiter auf ihn zu, aber er hob die Hände hoch, eine immer noch mit den Zügeln des Pferdes, um zu zeigen, dass er nichts Böses wollte. Das Messer blieb. Ein ernster Blick bohrte sich in Faolans Augen, der Blick eines Mannes, der sich seiner eigenen Fähigkeiten so sicher ist, dass er nur Weniges fürchtet. - 347 »Was willst du hier?«, fragte Deord, als Faolan neben dem Stab und der gefalteten Kleidung stehen blieb. »Ist die Jagdgesellschaft schon zurückgekehrt?« »Alpin ist immer noch da draußen und verfolgt Wildschweine«, sagte Faolan und schlang die Zügel um einen Ast. »Ich bin der Einzige, der zurückgekehrt ist, und ich werde mich ihnen sobald ich kann wieder anschließen. Eher als ich plante. Du hast es mir erspart, durch stinkendes Wasser kriechen und eine Mauer hochklettern zu müssen. Du kannst das Messer hinlegen.« Bei diesen Worten strich Faolan sein Haar ein wenig zurück und drehte sich, sodass der andere Mann die winzige sternförmige Tätowierung hinter seinem rechten Ohr sehen konnte, eine Kopie des Zeichens, das Deord selbst an der gleichen Stelle trug. Deord senkte das Messer und steckte es in den Gürtel. Er griff nach seinem Gewand. »Das habe ich schon entdeckt«, sagte er. »Hab danach Ausschau gehalten, sobald ich sah, wie du dich bewegst, und einen gewissen Ausdruck in deinen Augen bemerkte. Wann warst du dort?« »Vor langer Zeit. Ich war jung. Und du?« »Ich? Lange bevor ich hierher kam; vor acht Jahren. Muss nach deiner Zeit gewesen sein. Du hast mir heute keinen Gefallen getan. Was, wenn Alpin merkt, dass du weg bist, und dir Leute hinterherschickt?« Faolan sah ihn fragend an. »Warum sollte dich das beunruhigen?«, fragte er. »Ein Mann kann an seinem freien Tag ja wohl einen Spaziergang im Wald machen, ohne dass er dabei ständig über die Schulter schauen muss.« »Du hast keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Deord. »Und jetzt schnell; es ist mir nicht recht, dass du hier bist, aber es sieht aus, als wärst du zurückgekehrt, um mit mir zu sprechen. Oder mit Drustan. Was willst du?« »Ich werde dich nicht in Gefahr bringen. Als Felsental-Mann hoffe ich allerdings, dass du mir helfen wirst. Was du mir geben kannst, werde ich dir, wenn ich kann, gerne zu- 348 rückzahlen. Ich will Informationen. Meine Fragen betreffen Alpin von Dornwald, deinen Herrn. Ich muss herausfinden, ob er ein Mann ist, der sein Wort hält.« »Herr? Als solchen betrachte ich ihn nicht, Barde.« »Ich heiße Faolan.« Deord kniff die Augen zusammen. »Das weiß ich. Und du bist Gäle: vom gleichen Volk wie jene, die diese Hölle auf Erden eingerichtet haben, die wir beide erlebten. Tatsächlich siehst du einigen Kerlen sehr ähnlich, die sich mit durchgeschnittener Kehle wieder finden werden, wenn ich je Gelegenheit haben sollte, in ihre Nähe zu gelangen. Das stört mich, Faolan. Und ich finde es interessant, dass du als Hofmusiker hierher gekommen bist. Wenn diese Hände je ein Stück Darm hielten, dann eher, um einen Feind damit zu strangulieren, als schöne Musik zu produzieren.« »Ich habe viele Begabungen«, sagte Faolan. »Was meine Herkunft angeht, so ist sie irrelevant. Meine einzige Treue gilt dem, der mich bezahlt, und im Augenblick ist dieser Mann Bridei, der König von Fortriu. Du sagtest, du hättest es eilig. Habe ich mich geirrt, als ich annahm, dass heute dein freier Tag ist?« Deord lächelte finster. »Ich habe keine freien Tage. Es gibt niemanden, der meine Stelle einnehmen kann.«
»Ich verstehe.« Faolans Blick zuckte zu den Fesseln, zu der ordentlich aufgerollten Kette. »Du hast keine freien Tage, aber dein Gefangener schon?« »Ich weiß, was ich tue«, sagte Deord. »Er ist nicht weit weg und wird rechtzeitig zurückkehren. Immer vorausgesetzt, dass du nicht dafür gesorgt hast, dass dir die Hälfte von Alpins Männern folgt. Unser Fürst behält dich im Auge, Gäle. Das muss dir aufgefallen sein.« »Ja. Ich werde versuchen, diesen Blick heute Abend ein wenig von mir abzuwenden, indem ich mich glaubwürdig als Barde präsentiere.« Deord lächelte. Diesmal schien er ehrlich amüsiert. »Das - 349 wird ein interessantes Abendessen. Sag mir, wie passt die Dame in dieses Bild?« Faolan konnte trotz seiner besten Anstrengungen nicht verhindern, dass sich sein aufsteigender Zorn auf seiner Miene abzeichnete. »Sie ist genau das, was sie zu sein behauptet«, erklärte er. »Und ich bin derjenige, der hier die dringenden Fragen hat. Du weißt von dem Vertrag, von dessen Unterzeichnung diese Ehe abhängt. Du bist der einzige Überlebende von Felsental, dem ich je außerhalb der Mauern dieses Höllenlochs begegnet bin. Der Einzige, von dem ich weiß, dass er überlebt hat. Außer mir. Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht redest? Besonders, dass du Alpin nicht von diesem Gespräch erzählst?« »Du überraschst mich«, sagte Deord. »Wenn ich an diesem Ort etwas gelernt habe, dann bestimmt nicht Selbstlosigkeit.« »Wir sind herausgekommen. Wir haben überlebt. Wir sind es einander schuldig, weiter zu überleben.« Deord schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Du hast mein Wort.« Faolan nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. Er hatte immer mehr das seltsame Gefühl, als hätte der Wald rings um ihn her Augen und als wären all diese Augen auf ihn gerichtet. Er konnte die Geschichten über Hexen, Ungeheuer und bösen Zauber abtun. Aber dieser Wald war zweifellos ein beunruhigender Ort. Faolan war froh, ihn bald hinter sich lassen zu können. »Meine Aufgabe besteht darin, für Bridei herauszufinden, ob Alpin sich an die Bedingungen halten wird.« »Er hat ihnen zugestimmt, oder?« Faolan antwortete nicht. »Du fragst mich, ob er ein Lügner ist? Mich, einen bezahlten Wächter? Du hast gesehen, wie selten ich mich unter die anderen mische. Ich habe kaum Gelegenheit herauszufinden, ob der Mann lieber Fleisch als Käse isst, nicht - 350 davon zu reden, wozu er in politischer Hinsicht neigt. Wie kann ich so etwas einschätzen?« »Vielleicht kannst du das nicht. Aber was ist mit Drustan? Ein Bruder hat eine ziemlich gute Vorstellung, was im Kopf seines Bruders vorgeht; seine Vertrauenswürdigkeit, sein Ehrgeiz, die Dinge, die ihm wichtig sind. Besucht Alpin Drustan nicht jeden Abend nach dem Abendessen? Das hat dir doch sicher ein paar Hinweise gegeben.« »Meine Aufgabe besteht darin, auf Drustan aufzupassen«, sagte Deord. »Was zwischen den beiden passiert, ist ihre eigene Sache.« Faolan seufzte. »Schade«, murmelte er. »Wenn du mir ein paar Antworten gegeben hättest, hätte ich schnell wieder aufbrechen können und eine bessere Möglichkeit, zur Jagdgesellschaft zurückzukehren, bevor ihnen auffällt, dass ich weg bin. Ich habe nicht vor, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, aus Gründen, die du sicher verstehen wirst. Aber es scheint, als müsste ich hier warten, bis dein Gefangener zurückkehrt. Falls er zurückkehrt. Ich möchte hören, was er mir über den Fürsten von Dornwald sagen kann.« Deord war stets ein Ausbund an Selbstbeherrschung, selbst wenn er herausgefordert wurde. Nun aber wirkte er zum ersten Mal, seit Faolan aufgetaucht war, nervös. »Du kannst nicht bleiben«, sagte er. »Wie lange ist es her, seit du nach Dornwald gekommen bist? Nach meinen Berechnungen beinahe zwei Monde. Lange genug, dass ein Mann von deinem Kaliber herausfinden kann, was der Fürst für ein Mensch ist. Du bist ein Idiot, wenn du glaubst, dass deine Abwesenheit heute nicht auffällt. Und du bist ein selbstmörderischer Idiot, wenn du länger hier bleibst als unbedingt nötig.« »Wie unangenehm, dass dein Schutzbefohlener nicht hier ist und seine Fesseln ausgerechnet an dem Tag gelöst wurden, an dem sein Bruder nicht zu Hause war.« »Ich hoffe, du drohst uns nicht, Barde.« Deords Stimme - 351 war sehr ruhig. »Die Dame hat bereits versucht, mir auf diese Weise Informationen zu entlocken, und das hat mir nicht besonders gefallen. Erzähle Alpin, wo du uns heute gefunden hast, und du verstößt gegen deine eigenen Regeln. Du hast gerade Felsental als Grund genannt, dass ich dir helfen soll. Und jetzt deutest du an, dass du mich verraten willst.« Faolan hatte über einen bestimmten Punkt hinaus nichts von dieser Ansprache gehört. »Was hast du über Ana gesagt?« Er hörte die Schärfe in seiner eigenen Stimme. »Wie könnte sie...« »Sie hat selbst ein bisschen spioniert«, sagte Deord. »Ich dachte, sie hätte es dir erzählt ... die Leute behaupten ja, dass Damen und ihre Barden sich sehr nahe stehen. Nun gut, Alpin ist ein eifersüchtiger Mann. Hör auf, die Fäuste zu ballen, Gäle. Ich kenne dich. Ihr beiden solltet euch aus Drustans Leben heraushalten. Sie hat ihn
bereits genug aufgeregt, hat ihn ruhelos und unberechenbar gemacht. Mach du jetzt nicht noch alles schlimmer. Jetzt will ich wirklich, dass du gehst.« »Wann?«, wollte Faolan wissen. »Wann hat Ana spioniert? Was genau hat sie getan? Du sagtest, sie ist dem Gefangenen begegnet. Was hat sie dich gefragt?« Bei allem, was heilig war, wie konnte ihm das entgangen sein? »Sie hat sich nicht lange, nachdem ihr beiden eingetroffen seid, einen Schlüssel zu unserem Quartier verschafft. Sie kam früh am Morgen hier heraus. Sie sah mich, und sie sah Drustan. Ich sorgte dafür, dass nur wenige Worte gewechselt wurden. Ich nahm ihr den Schlüssel ab und sagte ihr, sie dürfe nicht zurückkehren, vor allem um ihrer selbst willen. Ich bin sicher, dass Alpin es nicht erfahren hat.« Faolan lauschte stumm. Etwas bewegte sich rings um die Lichtung: Vögel kamen und ließen sich auf den gebogenen Ästen der Holunderbüsche und in den Wipfeln der Ulmen nieder, nicht ein zusammenhängender Schwärm, sondern - 352 viele Vögel unterschiedlicher Art. Ein winziger Zaunkönig schoss an ihm vorbei, um neben den beiden zu landen, die still auf ihrem Ast in der Nähe von Deord sitzen geblieben waren: ein Kreuzschnabel und eine Krähe. Faolans Pferd war unruhig geworden, zuckte mit den Ohren und tänzelte im Unterholz. Über ihnen bewegten sich die Äste einer jüngeren Eiche, breitere Flügel wurden sichtbar, rötlich-braunes Gefieder blitzte kurz im Sonnenlicht auf. Ein Falke, die Augen durchdringend hell, hockte nun da und starrte auf sie herab. Die kleineren Vögel schienen sich seltsamerweise an der Gefahr nicht zu stören. Faolan spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Ihr Besuch hat Drustan sehr verstört«, sagte Deord. »Seine Stimmungen sind wechselhaft. Es hat ihn bedrückt. Ich will nicht, dass er sich wieder aufregt. Du kannst nicht mit ihm reden. Ich habe der Dame beim zweiten Mal alles gesagt, was ich konnte.« »Beim zweiten Mal«, wiederholte Faolan. »Und wann war das?« »Vor einer Weile, nicht lange, nachdem sie ihm begegnet war. Sie drohte, unser Geheimnis zu verraten, wenn ich ihr nicht alles erzählte. Sie war schockiert, dass Alpin seinen Bruder zu lebenslanger Gefangenschaft verdammt hat. Frauen haben weiche Herzen. Sie verstehen solche Dinge nicht.« »Ana hat dir gedroht? Das kann nicht wahr sein.« Deord hob die Kette und die Fesseln auf. Er schien bereit zu sein, sich auf den Weg zu machen. »Dennoch«, sagte er, »genau das hat sie getan, und nach meiner Ansicht meinte sie es vollkommen ernst. Ich hätte ihr sonst nicht gegeben, was sie wollte. Ich kenne die Dame nicht so gut wie du. Drustan sagte, dass sie auf dem Weg von der Furt hierher in deinen Armen schlief. Vielleicht war ihre Drohung nichts weiter als ein Bluff.« »Drustan hat dir gesagt...« - 353 »Dein Geheimnis ist bei uns sicher«, erklärte Deord grimmig. »Drustan sieht, was andere nicht sehen. Du hast getan, was du tun musstest; die Nächte hier im Norden sind kalt. Wir haben beide gefährliche Geheimnisse, du und ich, und nun kennen wir die des anderen. Vielleicht verpflichtet Felsental uns, uns gegenseitig zu helfen, aber ich werde dir nichts sagen, was Drustan in Gefahr bringt. Ich bitte dich jetzt zu gehen. Dein eigenes Überleben hängt davon ab, ebenso wie das meine und das von Drustan. Wenn du die Gelegenheit dazu erhältst, bitte die Dame, sich fern zu halten. Er träumt von ihr. Das kann ihm nicht helfen.« »Wie konnte er wissen ...« »Geh«, sagte Deord, und seine Züge waren plötzlich sehr streng. »Geh jetzt, Gäle. Deine Anwesenheit hier bringt uns alle in Gefahr.« Wieder hatte Faolan dieses unheimliche Gefühl, dass ihn rings um die Lichtung viele Augen beobachteten, angespannt vor Erwartung. Faolan bemerkte, dass er den Atem anhielt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann wich er zurück, als mit einen Flügelschwirren, einem plötzlichen Niederstoßen und dann Schnabel und sichelscharfen Krallen der Falke eine Handspanne von seinem Gesicht entfernt vorbeischoss. Faolan hob unwillkürlich die Hände, kniff die Augen zu und trat einen Schritt zurück. Das Pferd wieherte schrill. Als Faolan die Augen wieder öffnete, stand ein zweiter Mann neben Deord. Die Krähe und der Kreuzschnabel waren ungerührt auf ihrem Ast sitzen geblieben. Der winzige Zaunkönig, den er zuvor gesehen hatte, schoss nach oben, um sich in den wilden rotbraunen Locken des Mannes niederzulassen. Von dem Falken gab es keine Spur. Faolan atmete bebend ein; er wusste nicht, ob das, was gerade geschehen war, Einbildung war, ein schlauer Trick oder etwas, das er nie zuvor für möglich gehalten hatte: eine Manifestation echter Magie. Er brachte kein Wort heraus. - 354 »Setz dich eine Weile, Drustan«, sagte Deord ruhig. »Komm wieder zu Atem. Wie du siehst, haben wir einen Besucher. Er stellt keine Gefahr für uns dar. Tatsächlich wollte er gerade gehen.« Dann wandte er sich Faolan zu, während der rothaarige Mann sich auf einen umgestürzten Stamm setzte und die langen Beine vor sich ausstreckte. »Es ist besser, wenn du gehst. Er wird eine Weile schwach und verwirrt sein. Er wird nicht im Stande sein, mit dir zu sprechen. Es ist anstrengend für ihn. Sobald er sich erholt hat, müssen wir zurückkehren. Ich bitte dich noch einmal zu gehen. Als Felsental-Mann solltest du verstehen, wie wichtig diese Zeiten der Freiheit für uns sind und was es bedeuten würde, wenn wir sie verlieren.« Deord beugte sich vor, legte eine Hand auf Drustans Schulter und murmelte beruhigende Worte. Der rothaarige Mann schauderte, ein rasches
fiebriges Vibrieren, das durch seinen ganzen Körper ging, aber als er den Kopf drehte und Faolan ansah, waren seine Augen durchdringend hell und von einer beinahe Furcht erregenden Intelligenz erfüllt. Faolan brachte immer noch kein Wort hervor. Sein Kopf tat sein Bestes zu erklären, was hier geschehen war, und die Einzelteile auf eine Weise zusammenzusetzen, dass sie in seine eigene Vorstellung von der Welt passten. Dann kamen die Erinnerungen: Brideis Zauber, mit dem er sie beide verborgen hatte und es ihnen ermöglichte, spät in der Nacht ungesehen aus einer Festung herauszukommen; ein kühner Besuch an einem Ort, der als der Dunkle Spiegel bekannt war, und das sehr seltsame Auftauchen eines kleinen Hundes aus dem tiefen Wasser. Nein, dies war nicht seine erste Begegnung mit Kräften, die über das schnell Erklärbare hinausgingen. Aber was hier geschehen war, unterschied sich von diesen geringeren Manifestationen. Anfälle, Verrücktheit, Wahnsinn: das konnte er verstehen. Aber ein Vogel, der zu einem Mann wurde? Das war der Stoff seltsamer Geschichten, alter Balladen von Wundern - 355 6686 und Zauberei. Er kannte genug davon; in der Überlieferung seiner Heimat gab es Geschichten von Prinzessinnen, die in Schwäne verwandelt wurden, von einer schönen Dame, die die Gestalt einer Fliege annahm, von Geschöpfen, die teils Eines, teils das Andere waren. Aber das, was hier direkt vor seiner Nase ... Eins war ihm allerdings vollkommen klar: Was immer es sein mochte, mit Wahnsinn hatte es nichts zu tun. »Ich werde warten«, sagte er und setzte sich neben den rothaarigen Mann auf den Boden. Drustan versuchte angestrengt, seinen Atem zu beherrschen und die Verkrampfungen loszuwerden, er streckte sich, bewegte die Finger, drehte die Schultern vorsichtig. Faolan erlebte einen Augenblick reinen Neids: Welcher Mensch hatte noch nicht vom Fliegen geträumt? »Du warst ihr Begleiter auf der Reise«, sagte Drustan. Seine Stimme war leise, aber zwingend; sie klang, als beherrschte er sie bereits vollkommen, obwohl er an seinem Körper noch weiter arbeitete, Arme und Beine bog und versuchte, den Nacken zu entspannen, wie man es nach heftiger Anstrengung tut. »Ihr Beschützer an den kleinen Lagerfeuern in der Nacht. Teils Musiker, teils Spion, teils Attentäter. Du hast gut auf sie aufgepasst.« »Drustan.« In Deords Stimme lag ein warnender Unterton. »Wir müssen uns beeilen. Faolan hat die Jagdgesellschaft deines Bruders insgeheim verlassen und muss zu ihr zurückkehren, bevor es auffällt. Und wir beide müssen wieder hinter den Mauern sein, bevor jemand nach uns sucht.« Drustan warf ihm einen Blick zu, dann sah er die beiden Vögel an, die auf dem Ast saßen. »Geht«, sagte er, und einen Augenblick später flogen beide Vögel auf und verschwanden im Schatten des Waldes. Er sah Faolan an. »Sie werden uns warnen, wenn wir Warnungen brauchen«, sagte er. »Mein Kleinster hier«, er zeigte auf den Zaunkönig, der im- 356 mer noch in seinem Haar hockte, »wird dich auf deinem Rückweg begleiten. Du bist ein Risiko eingegangen.« »So wie du und dein Hüter«, sagte Faolan und fragte sich, wie irgendjemand glauben konnte, dass dieser höfliche Mann mit seiner leisen Stimme verrückt war. »Es heißt, Alpin hat beschlossen, dich nie wieder freizulassen. Und dass du Tag und Nacht angekettet bist.« »Wenn er mich sieht, bin ich angekettet. Wenn er mich sieht, bin ich innerhalb dieser Mauern, die er um mich errichtet hat. Was willst du von mir, Faolan?« »Du kennst bereits meinen Namen. Das überrascht mich nicht. Du hast offenbar erheblich mehr gesehen, als möglich sein sollte. Was bist du, eine Art Magier?« Drustan lächelte, sein Gesicht war wirklich von seltener Schönheit und schien über ein inneres Leuchten zu verfügen, das beinahe anderweltlich wirkte. Faolan war nicht daran gewöhnt, Menschen oder Gegenstände nach ihrer Schönheit zu beurteilen, mit vielleicht einer einzigen Ausnahme. Im Allgemeinen bewertete er seine Erfahrungen nur anhand ihrer Position auf einer Skala von Risiken und Möglichkeiten für seinen jeweiligen Auftrag. Er hatte einmal Schönheit hoch geschätzt, aber an einem bestimmten Punkt in seinem Leben hatte sie aufgehört, von Bedeutung zu sein. Die Züge dieses Mannes waren jedoch verblüffend; wenn man ihn zum ersten Mal sah, konnte man für eine kleine Weile das Atmen vergessen. »Ich bin kein Magier, aber ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, ich sehe durch mehr Augen als nur meine eigenen. Ich kann auf gewisse Art reisen, selbst wenn ich mich innerhalb der Gefängnismauern befinde. Wenn Deord es erlaubt, habe ich Zeit für einen Flug; bei diesen Gelegenheiten halte ich mich an einem anderen Ort auf. Meine Gestalt innerhalb der Schranken des Gefängnisses zu verändern, das mein Bruder für mich gebaut hat, könnte katastrophal enden. Deord und ich sind übereingekommen, dass wir ein - 357 solches Risiko meiden wollen. Diese Veränderungen sind gefährlich. Wenn Deord kein so mitfühlender Mensch wäre, würde er mir solche Dinge nicht erlauben. Dann würde ich wohl tatsächlich den Verstand verlieren, denn sie sind ebenso Teil von mir wie mein Kopf und mein Herz. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Faolan.« »Einen Gefallen?« Faolan konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte. Er rang immer noch darum, zu begreifen, dass er selbst und dieses Wesen mit der sanften Stimme und den hellen Augen, teils Mann, teils Vogel, Seite an Seite in der gleichen Welt stehen konnten. »Dann sag mir, was du willst. Ich habe meinerseits ein paar Fragen an dich.« »Wenn ich kann, werde ich helfen.« Drustan stand auf, wenn auch ein wenig schwankend. Er war einen ganzen
Kopf größer als Faolan, tatsächlich erinnerte er damit an seinen Bruder, der ein sehr hoch gewachsener Mann war. Aber alles, was an Alpins Äußerem rau, grob und dick war, schien bei seinem Bruder subtiler zu sein: Drustans Augen waren größer und klarer, seine Nase schmaler, sein Mund feiner. Seine dichte, bis über die Schultern fallende Haarmähne, bräunlich rot, wo Alpins Haar von mattem Braun war, schien die Sonne einzufangen und leuchtete, als hätte sie ein eigenes Leben. Drustan war auch nicht übermäßig breit wie Alpin, sondern gut proportioniert und von athletischem Körperbau. Seine Muskeln waren beeindruckend. Faolan fragte sich, wie es einem Mann, der sieben Jahre gefangen gewesen war, gelungen war, sie zu entwickeln. »Um was wolltest du mich bitten?«, fuhr Drustan fort. »Wir sollten uns wirklich beeilen, Deord hat mit seiner Warnung nicht Unrecht.« Deord schwieg nun und widersprach nicht mehr. Das Gleichgewicht der Macht hatte sich mit Drustans ersten Worten verschoben. Faolan zweifelte nicht daran, dass es - 358 nun der rothaarige Mann war, der die Situation beherrschte. Das verwirrte ihn noch mehr. »Du willst mich nach meinem Bruder fragen?« Der Bursche war ein bisschen zu scharfsinnig. Tatsächlich gab es eine andere Frage, die alle weiteren verdrängte. »Ich habe gesehen, was gerade geschehen ist, wie du dich verändert hast. Wenn du das willentlich tun kannst, Mann zu Vogel, Vogel zu Mann, was um alles in der Welt veranlasst dich, hier zu bleiben? Warum fliegst du nicht einfach davon, irgendwo hin, wo dein Bruder dich nicht erreichen kann? Niemand könnte dich finden.« Drustans Miene änderte sich, seine Züge wurden verschlossener. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Was ich getan habe, geschah, als ich diese andere Gestalt hatte. Manchmal erinnere ich mich nicht klar an solche Zeiten, wenn ich zurückkehre. Manchmal habe ich, wenn ich mich an dem anderen Ort befinde, nur trübe Erinnerungen an meinen menschlichen Zustand. Eine Wiederholung einer solch schrecklichen Tat zu riskieren wäre unverantwortlich. Ich darf nicht frei sein. Nicht über die kurzen Zeiten hinaus, in denen Deord es mir gestattet.« »Wenn ich dich richtig verstehe, hast du genug Bewusstsein deiner selbst, um zu Deord zurückzukehren, und stets rechtzeitig. Vielleicht unterschätzt du dich.« »Ich beherrsche meine Fähigkeiten nun besser, das ist wahr«, sagte Drustan. »Aber ich werde nicht um meiner eigenen Freiheit willen die Sicherheit Unschuldiger aufs Spiel setzen. Ich habe einmal getötet und bin ohne Erinnerung daran zurückgekehrt. Wer kann schon sicher sagen, dass so etwas nicht wieder geschehen würde? Außerdem bin ich kein wildes Tier. Ich bin ein Mensch, der ein wenig ... anders ist. Ich kann nicht mein ganzes Leben in dieser anderen Gestalt zubringen.« »Ich verstehe«, sagte Faolan, hin und her gerissen zwischen Bewunderung für Drustans Willenskraft und Stau- 359 nen darüber, dass er eine solche Entscheidung getroffen hatte. »Aber das war nicht die Frage, die du stellen wolltest«, stellte Drustan fest. »Ich wollte über Alpin sprechen«, sagte Faolan. »Er hat einem Vertrag zugestimmt. Kennst du dich mit der Situation zwischen Fortriu und Dalriada aus? Du warst schon eingesperrt, als Bridei König wurde ...« Drustan nickte ernst. »Ich weiß, wie es steht. Mein eigenes Territorium, das Träumende Tal im Westen, ist von strategischer Bedeutung, was das von den Galen eroberte Land angeht. Das macht meinen Bruder zu einem beliebten Mann. Sowohl Dalriada als auch Fortriu haben Grund, ihn zu umwerben und ihm Anreize zu bieten.« »In der Tat.« Faolan war erleichtert, dass sein Instinkt ihn nicht getäuscht hatte. Dieser Mann wusste tatsächlich sehr genau, was er verloren hatte, als sein Bruder ihn für verrückt erklärte und einsperrte. »Und diesmal ist es ein sehr seltener Anreiz: eine junge Frau vom königlichen Blut der Priteni, was bedeutet, dass Alpins Sohn eines Tages König von Fortriu werden könnte. Dein Bruder hat im Gegenzug einem Vertrag zugestimmt. Er wird schwören, Bridei von keinem seiner Territorien aus anzugreifen, sei es Dornwald oder das Träumende Tal, und sich außerdem nicht mit Gabhran von Dalriada zu verbünden.« »Das ist, was alle erwarten würden«, warf Deord ein. »Es ist klar, wo die Gefahr für Bridei liegt: an diesem westlichen Ankerplatz.« »Waren die Galen hier?«, fragte Faolan ganz offen, denn die Zeit verging schnell. Es dauerte nicht so sehr lange, ein Wildschwein in die Enge zu treiben, zu töten und den Kadaver wieder ins Lager zu bringen. »Haben sie ihm ebenfalls ein Angebot gemacht?« Deord und Drustan wechselten einen Blick. »Ich kann nicht mit dir über diese Dinge sprechen«, erklärte Drustan. - 360 »Alpin ist mein Bruder. Blut gebietet eine gewisse Loyalität. Du verlangst doch sicher nicht von mir, dass ich ihn einem Angriff aussetze.« »Falls irgendwelche Boten von Gabhran hier waren«, sagte Deord »ist das insgeheim geschehen. Alpin ist nicht dumm.« Sein Blick lud Faolan ein, diese sorgfältig formulierten Worte zu interpretieren, wie er wollte. »Aha. Ihr müsst verstehen, ich muss sicher sein, dass Alpin sich an sein Wort halten wird. Ich werde Ana nicht hier lassen, bis ich überzeugt bin, dass er sich an die Bedingungen des Vertrages hält.« »Du wirst es nicht tun?«, fragte Deord leise. »Ich bin Brideis Botschafter«, sagte Faolan. Sein Instinkt sagte ihm, dass er sich auf Deords Wort verlassen
konnte; das Wort eines Überlebenden von Felsental war von Leid besiegelt. Was Drustan anging, so würde er das Wagnis eben eingehen müssen. »Die Umstände haben Ana dazu verleitet, mich bei unserer Ankunft hier als Barden vorzustellen. Alpin gab uns keinen Grund, ihm zu vertrauen. Sie glaubte, mein Leben sei in Gefahr.« »Das ist es auch jetzt, wenn du nicht zur Jagd zurückkehrst«, sagte Deord. »Alpin hat harsche Regeln für jene, die nur Besucher in seinem Haus sind.« »Wenn ich dir sagte ...« Drustans Stimme war jetzt sehr leise, und er sah Faolan nicht mehr in die Augen, sondern starrte in den Wald. »Wenn ich dir sagte, ich hielte es für wahrscheinlich, dass mein Bruder seine Entscheidungen vollkommen ungeachtet zuvor gegebener Versprechen trifft, was würdest du dann tun? Würdest du Ana aus Dornwald wegbringen?« »Drustan ...«, versuchte Deord zu unterbrechen, aber Faolan hatte alle Aufmerksamkeit auf Drustans Gesicht gerichtet: Alpins Bruder sah nun plötzlich wie ein sehr verzweifelter Mann aus. Ein kalter Schauder überlief den Galen. - 361 »Wenn ich sicher wäre, dass das stimmt, würde ich dafür sorgen, dass die Handreichung nicht stattfindet«, sagte er vorsichtig. »Ja, ich würde sie zurück zum Weißen Hügel bringen. Ich würde nicht zulassen, dass sie für ein Bündnis geopfert wird, das nichts als Betrug ist.« »Geopfert ...« Drustans Stimme war nur noch ein Flüstern. Faolan schwieg. Er würde nicht einmal gegenüber einem Mann aus Felsental zugeben, dass ein kleiner Teil von ihm sich wünschte, Alpin würde sich als unzuverlässig erweisen, wünschte, dass der Vertrag wertlos war, sodass es einen Grund gab, die Heirat aufzuhalten. Er würde nicht zugeben, wie sehr er sich danach sehnte, Ana sicher nach Hause zu bringen, an einen Ort, an dem sie lächeln, lachen und singen konnte, nach Hause in ein Bett, das sie nicht mit diesem großen, barschen Rüpel teilen musste, der sie nur verletzen und demütigen würde. Diese Gedanken durften niemals laut ausgesprochen werden, denn sie liefen dem Auftrag, den Bridei ihm gegeben hatte, vollkommen zuwider. Und am Ende war seine Treue gegenüber Bridei alles, was zählte. »Du liebst sie«, stellte Drustan mit einem wissenden Blick auf Faolan fest. Faolan spürte die Worte wie eine kalte Hand um sein Herz. Zum ersten Mal sah er einen Ausdruck in Drustans Gesicht, der schlicht gefährlich war. »Sag die Wahrheit«, sagte Drustan. »Wir werden dir nicht helfen, wenn du uns anlügst. Wir haben keine Geduld für solche Spiele.« Faolan holte tief Luft. »Ich bin nur ein Leibwächter«, sagte er mit einem Blick zu Deord. »Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt, Bridei bezahlt mich. Ich habe diese Reise als Beschützer der Dame und als persönlicher Botschafter des Königs begonnen, da er seltsamerweise der Ansicht war, ich sei für diese Aufgabe am besten geeignet. Dass ein Mann - 362 wie ich solche Gefühle hegen sollte, besonders für eine Dame von königlichem Blut der Priteni, ist vollkommen ...« Er war nicht sicher, welches Wort am besten passte: lächerlich? erbärmlich? »Es ist die Wahrheit«, sagte Drustan. »Du hast deine eigenen Gründe dafür, diese Hochzeit verhindern zu wollen. Du kannst dich auf deine Instinkte verlassen. Aber ich werde dir nicht sagen, dass mein Bruder ein Lügner ist. Ich habe ihm schrecklich Unrecht getan; ich werde das nicht noch schlimmer machen, indem ich ihm ein Messer in den Rücken stoße.« »Ist dir je aufgefallen«, wagte sich Faolan vor, denn er war zornig darüber, dass der andere mit seinen Worten eine offene Wunde in einem Teil von ihm entblößt hatte, den er für unberührbar gehalten hatte, »dass es für deinen Bruder sehr vorteilhaft ist, dass man dich für unfähig hält, dein eigenes Territorium zu verwalten? Dass es ihm hervorragend passt, dich aus der Welt von Strategie, Handel und Bündnissen zu entfernen? Wie nützlich für ihn, dieses günstig gelegene Land an der Westküste ebenso zu besitzen wie sein eigenes großes Territorium und eine beträchtliche Armee! Kein Wunder, dass wichtige Männer ihn mit Geschenken umwerben. Beunruhigt dich das nicht, wenn du nachts wach liegst, Drustan?« Drustan sah ihn an, die Augen so klar wie Teiche unter einem offenen Himmel. Der Zorn war verschwunden. »Ich sehne mich danach, ins Träumende Tal zurückzukehren«, sagte er. »Ich sehne mich danach, dass alles wieder so ist wie zuvor. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Wenn wir einmal geliebt haben, können unsere Herzen nie wieder klein werden. Wenn wir einmal getötet haben, haftet unserer Seele dieser Makel für alle Zeiten an. Ich werde nie wieder in meine Heimat im Westen zurückkehren. Ich habe sie aus meinen Träumen verbannt.« Die Krähe flog dicht an ihnen vorbei, es gelang Faolan, - 363 nicht zusammenzuzucken. Sie landete sicher auf Drustans linker Schulter. »Geh jetzt«, sagte Drustan, »und du wirst Zeit haben, dich ihnen ungesehen wieder anzuschließen. Wenn du noch länger wartest, wird Alpin deine Abwesenheit bemerken, ebenso wie deine Rückkehr. Das solltest du nicht riskieren. Er ist ein gewalttätiger Mann.« Faolan fragte nicht, welch lautloses Gespräch zwischen Mann und Vogel stattgefunden hatte, das ging weit über sein Begreifen hinaus. Er stieg in den Sattel, aber dann erinnerte er sich an etwas. »Du sagtest, du wolltest mich um einen Gefallen bitten«, sagte er zu Drustan.
»Ich bitte dich, Ana nichts von dem zu sagen, was du heute hier gesehen hast«, sagte Drustan, und plötzlich war sein Blick bekümmert. »Ich möchte nicht, dass sie von meinem... ungewöhnlichen Problem erfährt.« Das war unerwartet und mehr als nur ein wenig seltsam. »Ich werde wahrscheinlich ohnehin keine Gelegenheit erhalten, mit ihr vertraulich zu sprechen«, erklärte Faolan, »da Alpin etwas dagegen hat, wenn ein anderer Mann sie auch nur ansieht. Ich habe während der ganzen Zeit, seit wir in Dornwald eintrafen, nie unbeaufsichtigt mit ihr gesprochen.« »Sag es ihr nicht. Versprich es mir.« Drustans Tonfall war plötzlich eisenhart, die Veränderung war beunruhigend. »Also gut, ich verspreche es. Wenn sie deinen Bruder heiratet und hier leben wird, wird sie es irgendwann ohnehin herausfinden, und ich wüsste nicht, wieso es wichtig sein sollte ... aber ja, ich gebe dir mein Wort.« Er konnte kaum weniger tun, da Drustan ihm bessere Antworten gegeben hatte, als er hätte hoffen können. Dennoch, die ganze Begegnung hatte ihn nervös gemacht, und es war nicht nur die Magie, deren Zeuge er geworden war, die ihn beunruhigte. »Du sagst, Mord hinterlässt einen Makel an einem Mann«, sagte er und holte tief Luft. »Du deutest an, - 364 dass du lebenslange Gefangenschaft für eine gerechte Strafe für deine Taten hältst. Ich habe ein paar Monde im Gefängnis verbracht. Vor Felsental hatte ich nur einen einzigen Mann getötet. Nur einen. Aber was ich tat, zerstörte eine ganze Familie. Es machte allem, was meinem Leben Bedeutung gegeben hatte, ein Ende. Es war ein Verbrechen der unaussprechlichsten Art. Deine eigene Missetat ist damit verglichen eine Kleinigkeit, Drustan. Und dennoch war ich nicht für den Mord im Gefängnis der Ui Neill, sondern nur für meine Weigerung, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Dein Hüter hier«, er nickte Deord zu, ein Zeichen des Respekts und des Erkennens, »weiß selbst nur zu gut, wie leicht ein Mann die Missbilligung der mächtigen Fürsten von Ulaid erregen kann. Was ich getan habe, hat mich gezeichnet. Es hat mich für immer verändert. Aber es hat mich nicht davon abgehalten, mein Leben zu führen. Vielleicht beurteilst du dich zu streng. Vielleicht ist dein Bruder weniger gerecht, als du glaubst.« »Geh jetzt«, war alles, was Drustan sagte. »Geh, solange du noch kannst.« Als er wieder in den Wald ritt, klopfte Faolans Herz wie eine Kriegstrommel. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und bereitete sich darauf vor, unauffällig wieder in Alpins Jagdgesellschaft aufzutauchen. Er strengte sich an, die Gespenster seiner Vergangenheit wieder in den abgeschlossenen Teil seines Kopfes zu verbannen, den Teil, der so lange hinter einer Mauer verborgen gewesen war, dass er geglaubt hatte, ihn vielleicht vergessen zu können. Heute war das erste Mal in all diesen Jahren, dass er von diesem Tag gesprochen hatte, das allererste Mal, und nun waren sie alle hier neben ihm, seine Mutter kreidebleich, sein Vater schweigend, Äine im Nachthemd, entsetzt und mit großen Augen. Und Dubhän. Dubhän, der lächelte und sagte: Tu es, und dann das Blut. - 365 Sie waren endlich auf dem Weg nach Hause und schleppten triumphierend die Kadaver zweier Wildschweine mit, große Tiere mit klaffenden Mäulern, großen Hauern und stinkendem, blutverkrustetem Fell. Ludha ritt auf einem kräftigen Pony neben ihrer Herrin. Auf ihren jungen Zügen lag ein besorgter Ausdruck. »Du bist sehr blass, Herrin. Geht es dir nicht gut?« Nach dem scheußlichen, kläffenden Spektakel des Tötens, nachdem heißes Blut auf die Wangen und Stirnen von jedem, der teilgenommen hatte, verspritzt worden war, und dem unmissverständlichen Beginn der Krämpfe in ihrem Bauch, hielt Ana es für wenig überraschend, dass sie unwohl aussah. Es war gut, dass ihre Blutungen noch nicht begonnen hatten; sie würde zumindest im Stande sein, in die Festung zurückzukehren, bevor die Schmerzen unerträglich wurden. »Es geht mir gut«, sagte sie, und als Alpin sich nach ihnen umdrehte, beschwor sie für ihren künftigen Mann ein harmloses Lächeln herauf. »Wir werden heute Abend ein Festessen haben«, stellte sie fest. »Du magst also Wildschwein?« Das verschmierte Blut auf Alpins breiten Zügen trocknete zu braun und passte beinahe zu seinem Bart. »Ja es wird ein großartiger Abend werden. Schade, dass es nicht in einer kleinen persönlichen Feier enden kann, nur wir beide, ein warmes Feuer im Schlafzimmer, eine gemütliche Decke, ein Krug gewürzter Met... dafür würde ich gern den Schweinebraten und alles andere aufgeben. Was meinst du?« Er streckte die Hand aus, legte sie auf Anas Oberschenkel und drückte ein wenig. Es gelang ihr, nicht vor Schmerzen aufzuschreien. »Das klingt... angenehm, Herr. Ich fürchte allerdings, ich werde nicht dazu in der Lage sein; ich spüre, dass meine Krämpfe beginnen. Nur das Übliche ...« »Aha«, brummte Alpin eindeutig verlegen. »Schade. Wenn du das Abendessen verpasst, wirst du auch die Mu- 366 sik nicht hören. Dein Barde - wo ist er, ah da, bei den anderen Dienern - hat mir einen guten Bericht über die Jagd dieses Tages versprochen, gesungen zur Begleitung der Harfe. Es ist Jahre her, seit wir hier solche Unterhaltung hatten. Nicht, dass ich das andere nicht vorziehen würde. Du bist eine reizende Frau, Ana. Ich wünschte, dieser verflixte Druide würde endlich kommen, ich habe langsam genug vom Warten.« »Ich werde versuchen, zum Abendessen wieder in der Halle zu sein«, sagte Ana, der sein Blick überhaupt nicht gefiel. »Dein Mut bei der Jagd verdient nichts Geringeres. Es ist klar, dass du dich bei diesem Sport sehr
hervortust.« Alpin grinste breit und schlug sich auf den Schenkel. »So ist es, meine Liebe. Und du wirst schon bald herausfinden, dass es nicht das einzige Freizeitvergnügen ist, für das ich besonders begabt bin. Wie, Jungs?« Ana hörte das Lachen der Männer kaum. In ihren Gedanken war wenig Platz für Alpin, die Heirat oder den Vertrag, der so wichtig war. Bei allem, was Deord ihr über Drustans Situation gesagt hatte, und trotz Drustans eigenem Eingeständnis seiner Schuld, konnte sie sich immer noch nicht überwinden zu glauben, dass er wirklich ein solches Verbrechen begangen haben sollte. Ana hatte sich immer für eine ruhige Person gehalten, die ihre Entscheidungen mit Bedacht traf. Sie wusste, dass sie jetzt dachte wie ein dummes, kleines Mädchen, das sein ganzes Leben für Liebe wegwirft, oder genauer gesagt für ihre Vorstellung davon. Und dennoch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken: Drustan, der Mord, dieser seltsame Tag ... es hatte eine Zeugin gegeben. Diese alte Frau, Bela, war in der Nähe gewesen. Wenn man sie nur finden könnte ... Wenn Bela Alpins Bericht über diesen Tag bestätigte, würde Ana es akzeptieren müssen. Sie würde aufgeben, Alpin heiraten und ihm die Söhne schenken, die er sich wünschte. Sie würde genau die Art von Zukunft haben, von der sie immer ge- 367 wusst hatte, dass sie ihr bevorstand. Wenn Bela eine andere Geschichte erzählte ... Ana schauderte. Ihre Zukunft war unveränderlich. Drustans Schuld oder Unschuld hatte keinen Einfluss auf Eheschließung, Vertrag oder die nicht abzustreitende Tatsache, dass der Druide irgendwann eintreffen musste, und dann würde es keine Ausrede mehr geben, die Handreichung noch weiter zu verschieben. Falls sich irgendwie herausstellen sollte, dass Drustan unschuldig war, würde er wieder frei sein können; das würde sie freuen. Aber es änderte nichts an ihrer eigenen Zukunft, konnte nichts daran ändern. Sie musste aufhören, an diese andere Version einer Zukunft zu denken, die wunderbare, verlockende Zukunft, die sie in ihren Träumen sah, seit Alpins Bruder sie mit seiner sanften Stimme und seinen strahlenden Augen in Bann geschlagen hatte. Und mit seinem schönen Körper. Solche Gedanken waren in der Tat gefährlich, sie musste sie verbannen. - 368 KAPITEL ZEHN König Bridei und sein Druide Broichan feierten das Mittsommerfest am Weißen Hügel, und die Leute erzählten hinterher, dass das Ritual zu den größten und anrührendsten gehörte, die sie je miterlebt hatten. Welche Zeit des Jahres wäre besser geeignet gewesen, um die Kraft des Flammenhüters für den geplanten Krieg herabzubeschwören und mit dem Ritual alle Männer in ihrer Tapferkeit, Weisheit und Lebendigkeit zu ehren, als der Tag, an dem er seinen höchsten Stand erreichte? Nachdem die Zeremonie vorüber war, wendete sich das Jahr nur zu bald dem Fest der Reife zu, aber es waren die alten Männer, die Jungen und die Frauen, die diesmal die Ernte einbringen mussten. Aus jeder Ecke von Fortriu begannen sich Gruppen von Kriegern langsam, vorsichtig und kontrolliert in die Richtung von Dalriada in Bewegung zu setzen. Es war wie eine träge Flut, die nach Westen floss, beherrscht mit aller Subtilität, die die Anführer aufbringen konnten, denn je länger die Galen nichts von Brideis Plänen wussten, desto wahrscheinlicher waren seine Chancen für einen überwältigenden Erfolg, wenn die beiden alten Feinde einander schließlich gegenüberstanden. Der Umfang von Brideis Unternehmen hätte selbst einen erfahrenen Anführer mit Sorge erfüllt. Carnach führte eine größere Streitmacht aus Caer Pridne, dem uralten Sitz der - 369 Könige von Fortriu. Er befehligte seine eigenen Bewaffneten aus seinem Territorium Dornenband an der Grenze zu Circinn, aber auch eine Anzahl anderer Stammesfürsten hatten sich ihm angeschlossen und gut ausgebildete Krieger mitgebracht. Diese Männer hatten nur den Drill gebraucht, der ihnen im Lager im Norden zuteil wurde, um kampfbereit zu sein. Wredech, ebenfalls ein Verwandter des alten Königs, ritt an Carnachs Seite mit einer Truppe hervorragender Bogenschützen in seinen Farben. Talorgen war nach Hause, nach Rabenbrunn, zurückgekehrt, das im Großen Tal am Ufer des Jungfernsees lag. Zum verabredeten Zeitpunkt führte er seine eigene Armee in eine Richtung, die die Galen zweifellos nicht erwarteten: Er wandte sich ein wenig nach Nordwesten und gelangte über verlassene Pässe und durch einsame Täler zu einer gewissen Küstenfestung, wo ein Anführer namens Uerb Schiffe vorbereitet und Männer ausgebildet hatte, die sie segeln sollten. Im wilden Land nördlich der großen Schlucht erhoben sich die hohen Felsen der Fünf Schwestern. Aus einem abgelegenen Lager in diesem Gebirge brach Fokel von Galany, vertriebener Fürst eines derzeit von den Galen besetzten Territoriums, mit seiner viel kleineren Streitmacht zu ihrer eigenen Mission auf. Diese Krieger hatten in den langen Jahren ihres Exils besondere Fertigkeiten entwickelt: Sie waren hervorragende Jäger und Fährtensucher, sie konnten sich schnell und beinahe unsichtbar über lange Strecken und durch schwieriges Gelände bewegen, und sie verfügten über die Begabung, originelle Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme zu finden. Es gab Leute, die Fokels Methoden als fragwürdig bezeichneten. Die Ergebnisse sprachen allerdings für sich. Bridei selbst machte sich ebenfalls eher unauffällig auf den Weg. Es würde einen Zeitpunkt für aufrührende Ansprachen und heroische Taten geben, und wenn dieser Zeitpunkt kam, würde er seinen Leuten beides geben, wie sie es - 370 von ihrem König erwarteten. Aber von dem Augenblick an, als er seine Entscheidung traf und den Befehl gab, den Vormarsch in Bewegung zu setzen, wurde er mehr Heerführer als Monarch, und er ritt davon wie ein
erfahrener Krieger, mit einem Minimum an Aufsehen. Der Hauptteil der Armee von Fortriu befand sich bereits auf dem Weg; der König brach zusammen mit zwölf Bewaffneten auf, viele von ihnen alte Freunde aus Broichans Haushalt in Pitnochie, und mit einer Anzahl anderer Männer mit besonderen Fähigkeiten. Als Leibwächter nahm Bridei Breth mit. Die Männer aus Pitnochie konnten ihn ablösen. Garth hatte gebeten, ebenfalls mitkommen zu dürfen, und erklärt, dass sein Können am Weißen Hügel verschwendet sei, dass er mehr als fünf Jahre treu gedient habe und jeder Mann aus Fortriu es den Göttern schuldig sei, an einem solch großen Unternehmen teilzunehmen. Er behauptete, sein Schwertarm sehne sich nach einem oder drei Gälenhälsen. Bridei erklärte freundlich, aber entschieden, wenn Garth ebenfalls ginge, würde kein einziger seiner treuesten Männer am Weißen Hügel bleiben, um Tuala und Derelei zu bewachen. Er konnte nicht ruhigen Herzens in den Kampf ziehen, solange nicht entweder Breth oder Garth dort blieben, um diesen Dienst zu leisten, zumindest bis Faolan nach Hause kam, und niemand wusste, wann das geschehen würde. Es war nicht notwendig, dass Garth fragte, warum Bridei Breth ausgewählt hatte, mit ihm zu kommen, und er selbst bleiben musste. Er hatte eine Frau und Kinder, Breth hatte das nicht. »Ich vertraue dir als Freund. Ich weiß, du bist der beste Mann für diese besondere Aufgabe«, hatte der König leise gesagt. »Bewache meine Lieben gut und pass auch auf deine eigenen auf.« »Ja, Herr.« Der Leibwächter hatte seinen König fest umarmt, sie waren alte Freunde. - 371 Die Hänge des Weißen Hügels waren unterhalb der hoch aufragenden Mauern der königlichen Festung dicht bewaldet. Von der Stelle aus, wo Tuala mit ihrem Sohn in den Armen stand und trockenen Augen zusah, wie ihr Mann den Gefahren und Unsicherheiten eines Krieges entgegenritt, war der Weg nur noch ein kurzes Stück hügelabwärts zu erkennen. Sie sah, wie Bridei zu ihr aufblickte und eine Hand zum Gruß und zum Abschied hob. Er lächelte. Einen Augenblick später war er verschwunden, und sein Pferd, Schneefeuer, nur noch als ein hellerer Fleck in all dem Grün sichtbar. Ban rannte von einer Stelle des oberen Hofs zur anderen und winselte verzweifelt. Es war klar, dass er sich mit jeder Faser wünschte, seinem Herrn nicht gehorchen zu müssen und ihm folgen zu können. Sein Herz, viel größer als sein winziger Körper, sehnte sich danach, an Brideis Seite in den Kampf zu reiten. »Papa«, sagte Derelei beiläufig und wand sich, weil er heruntergelassen werden wollte. »Papa ist weg«, sagte Tuala. »Und wir gehen jetzt nach drinnen.« Und ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich abrupt um und ging quer über den Hof, ihren Sohn in den Armen. »Sie wird nicht vor anderen weinen«, sagte Fola zu ihrem alten Freund Broichan, der neben ihr stand und zusah, wie die Letzten von Brideis Truppe im Schatten der Kiefern verschwanden. »Ferada sollte heute Nachmittag eintreffen. Ich habe nach ihr geschickt, sie kommt mit einer Eskorte aus Banmerren herüber. Es ist nicht gut, dass Tuala alles in sich hineinfrisst. Sie braucht eine Freundin.« »Hm«, murmelte Broichan. Es war offensichtlich, dass er nichts von Folas Worten gehört hatte. »Du hast mich überrascht.« Folas Tonfall war neutral. »Was?« Jetzt war er aufmerksam geworden. »Ich war sicher, dass du mit ihm gehen würdest. Dieser Feldzug ist mindestens ebenso dein Traum wie der seine, - 372 der nun Wirklichkeit wird. In all den Jahren, in denen du ihn aufgezogen hast, hast du auf dieses Unternehmen hingearbeitet. Du bist oft genug mit Drust dem Stier in die Schlacht geritten und hast ihm mit deinem Rat zur Seite gestanden. Ein König braucht in solchen Zeiten seinen Druiden.« »Es sind Jahre vergangen, seit Drust König war, und noch längere Zeit, seit er zum letzten Mal in den Krieg ritt«, sagte Broichan entschieden. »Und dennoch«, erwiderte Fola und legte die kleinen, gepflegten Hände auf die Mauerbrüstung vor sich. »Du bist noch kein alter Mann.« Broichan schwieg und starrte über die Bäume hinweg. Er war stets ein sehr beherrschter Mann gewesen, der seine Gedanken und Gefühle selbst vor jenen, die ihm nahe standen, verbarg. Und es gab nur wenige solche Personen; sein Pflegesohn Bridei war eine davon und Fola eine andere. »Wenn du früher bekannt gegeben hättest, dass du nicht mit ihm kommst«, sagte die Weise Frau, »hätten die Druiden einen jüngeren, gesünderen Mann finden können, der deinen Platz einnimmt.« »Gesünder?« Fola sah ihren alten Freund an. Ihre dunklen Augen waren scharf, ihr entging nicht viel. »Ich glaube nicht, dass es das Alter ist, was dich davon abhält, Teil dieses heroischen Vorstoßes in den Westen zu sein«, sagte sie leise. »Es ist etwas anderes. Etwas, das du vor Bridei verborgen hast und nur widerstrebend öffentlich zugeben willst, denn du betrachtest es als eine Art von Versagen.« Wieder schwieg der Druide. Fola bemerkte nur, dass sich seine Hand, die auf der Brüstung lag, ein wenig anspannte. »Wir kennen uns nun schon sehr lange, mein Lieber«, sagte sie. »Wenn du krank bist, solltest du es mir sagen. Ich könnte dir vielleicht helfen. Wir haben eine sehr fähige Kräuterkundige in Banmerren. Ich wünschte, Uist wäre im- 373 mer noch bei uns. Seine heilenden Hände waren unvergleichlich und wurden vielleicht nur von deinen eigenen
übertroffen.« »Es geht mir gut. Hör auf, mich zu bemuttern, Fola.« »Bemuttern?«, wiederholte sie, die Brauen hochgezogen. »Wann hätte ich dich je bemuttert? Ich schlage einfach vor, dass du zugibst, was mir und Tuala jeden Tag deutlicher wird, und etwas dagegen unternimmst.« »Tuala? Was hat sie damit zu tun?« »Immer mit der Ruhe, Broichan. Hast du nach all diesen Jahren immer noch nicht deinen Frieden mit dem Mädchen gemacht?« »Ich war mir nicht bewusst, dass wir im Krieg standen.« Fola seufzte. »Tuala erwähnte mir gegenüber schon vor einiger Zeit, dass du vielleicht Schmerzen hättest. Sie hatte den Eindruck, dass deine Gesundheit nachlässt. Sie wusste, dass du es vor Bridei verbergen möchtest, also hat sie nicht mit ihm darüber gesprochen.« »Es gab ein paar Worte zwischen uns über Derelei und die Aussichten für seine Ausbildung. Es scheint, sie hat mich besser verstanden, als mir zu diesem Zeitpunkt klar war.« »Ich frage mich wirklich, warum ihr beiden euch selbst jetzt noch immer nicht trauen könnt. Warum ihr keine Freunde werden könnt.« »Das ist nicht notwendig. Zwischen uns liegen Welten.« »Unsinn«, sagte Fola energisch. »Ihr fürchtet einander nicht aus diesem Grund, sondern wegen des vollkommenen Gegenteils. Sie ist so begabt, ich habe nur die ersten Spuren ihrer Kräfte gesehen, als sie bei uns in Banmerren war. Wegen ihrer Stellung hier erlaubt sie sich nicht, diese auch nur im Geringsten zu nutzen, und das verstehe ich, denn sie muss sich selbst und Bridei vor dem ätzenden Einfluss von Klatsch und Andeutungen schützen. Aber wegen dir will sie ihre Fähigkeiten zur Prophezeiung und - 374 für den Blick nicht einmal hinter geschlossenen Türen und unter Freunden einsetzen. Und das, fürchte ich, nimmt uns ein Werkzeug, das in der Zukunft noch entscheidend sein könnte.« »Unsinn. Was ist mit dir selbst und den Fähigeren deiner Priesterinnen in Banmerren? Was ist mit den Walddruiden? Warum würden wir die Einmischung von einer ... einer von der anderen Art brauchen?« »Selbst ich kann keine Visionen erzwingen«, sagte Fola. »Mir bleibt nur die Auslegung dessen, was mir gezeigt wird. Tualas Fähigkeiten gehen weit darüber hinaus. Sie verfügt in diesen Dingen über eine Sicherheit, die nicht mehr hinterfragt werden kann. Man könnte glauben, dass das, was sie sieht und ausspricht, ihr direkt von der Göttin eingegeben wurde.« Broichan verschränkte die Arme, seine knochigen Züge bildeten eine unversöhnliche Maske. »Es ist eine rohe Begabung«, sagte er, »unbeherrscht, ungeschult und gefährlich. Ich erkenne ihre Treue zu Bridei und dem Kind an. Aber man darf die Tatsache ihrer Herkunft keinen Augenblick vergessen. Sie ist nicht von unserer Art. Unberechenbarkeit ist der Kern ihres Wesens. Man könnte ebenso gut den Visionen eines Irrlichts trauen.« »Und woher, glaubst du, hat Derelei seine erstaunlichen Fähigkeiten, Broichan? Wie kommt es, dass du in deinem Herzen Platz für ihn finden kannst, nicht davon zu reden, ihm einen beträchtlichen Teil deiner Zeit zu widmen, während du seine Mutter mit verächtlichen Worten abtust? Und davon einmal abgesehen - wessen Schuld ist es, dass Tuala nicht ausgebildet wurde? Sie war nicht einmal ein Jahr bei uns in Banmerren. In deinem Haushalt lebte sie beinahe dreizehn Jahre lang. Denke nur, wie viel du ihr hättest beibringen können.« Einen Augenblick später sagte der Druide: »Was ich lehren kann, wäre an ein Mädchen verschwendet. Sie saugen - 375 die Gelehrsamkeit eine Weile auf, aber sobald sie alt genug für einen Mann und Kinder sind, verlieren sie das Interesse.« Sein Tonfall war abfällig. »Talorgens Tochter hat bereits das Gegenteil bewiesen«, sagte Fola ruhig. »Sie hat Ehrgeiz für ihre Schule und für sich selbst und strengt sich sehr an nachzuholen, was sie in den letzten Jahren versäumten musste. Im Augenblick beaufsichtigt sie die Bauarbeiten und erwartet ihre ersten Schülerinnen im Herbst. Ferada hätte heiraten können, gut heiraten. Sie hat einen anderen Weg gewählt.« Broichan zog nur still die Brauen hoch. »Wäre ich die Art von Mann, die zum Wetten neigt«, sagte er, »würde ich eine Hand voll Silberstücke gegen eine Kornähre setzen, dass Ferada innerhalb der nächsten zwei Jahre den Antrag eines Fürsten annehmen und ihren gesamten Plan zur Erziehung junger Damen fallen lassen wird. Wenn ich geglaubt hätte, dass sie dabei bleibt, hätte ich nie meine Zustimmung zu ihrem Plan gegeben. Alle jungen Frauen sind gleich: Im Herzen sehnen sie sich vor allem nach Herd und Familie.« »Ich habe es anders erlebt.« Broichan nickte ihr höflich zu. »Ich nehme selbstverständlich jene aus, die in den Dienst der Leuchtenden treten. Aber Ferada ist nicht nur aus guter Familie, sondern auch noch jung und hübsch.« Beide schwiegen eine Weile. »Du hast eine solch taktvolle Art, dich auszudrücken, Broichan«, sagte Fola schließlich. »Ob du es glaubst oder nicht, in unserer Jugend waren Uist und ich so nahe daran«, sie hob die Hand, Daumen und Zeigefinger um Haaresbreite entfernt, »unsere Pflicht um der Liebe willen aufzugeben. Wir waren alle einmal jung und hübsch. Selbst du, nehme ich an.« Er antwortete nicht darauf, aber nach einer Weile sagte er: »Du hast gefragt, wieso ich mein Herz öffne. Welch
bes- 376 seren Grund brauche ich, den Jungen zu unterrichten, als dass er Brideis Sohn ist?« Fola setzte dazu an, etwas zu sagen, dann hielt sie inne. Sie zog sich den Umhang um die Schultern, als wolle sie gehen. »Was?« Broichans Ton war scharf. »Was wolltest du sagen?« Sie seufzte. »Einige Dinge sollten lieber nicht ausgesprochen werden. Komm, es ist kühl hier oben. Wir haben ihn verabschiedet. Das Unternehmen liegt jetzt in den Händen des Flammenhüters.« »Fola«, sagte Broichan, »was wolltest du sagen?« »Etwas, das du nicht hören willst.« Er wartete, hoch gewachsen und bleich in seinem schwarzen Gewand. »Also gut. Er ist Brideis Sohn. Aber er ähnelt auch dir wie eine Erbse der anderen, trotz seiner braunen Locken und der seltsamen hellen Augen. Er äfft deine Gesten nach, als wärt ihr beide ein Geschöpf. Er kopiert deinen Tonfall, obwohl er noch zu klein ist, um die Worte zu bilden, er sitzt sogar auf die gleiche Weise wie du. Die Ähnlichkeit wird mit den Jahren intensiver werden, und auch andere werden anfangen, darüber zu sprechen, Leute, die weniger aufmerksam sind als Tuala oder ich.« Broichan sagte kein Wort und regte sich nicht. Es war beinahe, als hätte er nicht gehört, was Fola sagte. »Ich wusste, dass es dir nicht gefallen würde«, stellte die Weise Frau trocken fest. »Und mehr wollte ich ohnehin nicht dazu sagen. Es ist vielleicht keine so schlechte Sache, wenn Derelei beschließt, Druide zu werden. Der Hof mag nicht der beste Ort für ihn sein. Ich zweifle nicht daran, dass das, was er heute schon ahnen lässt, zu großem Talent erblühen wird. Einem Talent ähnlich wie deinem eigenen. Er muss beschützt werden.« Und als sie sah, dass der Druide nichts mehr dazu sagen - 377 würde, drehte sich Fola um und kehrte rasch in ihr Zimmer zurück, wobei sie sich fragte, ob sie gerade einen brennenden Span an etwas gehalten hatte, was sich irgendwann zu einem tosenden Lauffeuer ausbreiten könnte. »Da«, sagte Tuala und putzte sich die Nase mit einem Leinentuch, »ich habe für einen Abend genug geweint. Wir wussten alle, dass dieser Zeitpunkt kommen würde; ich bin so stolz auf das, was Bridei tut, dass es lächerlich ist, über die Tatsache zu weinen, dass er dafür weggehen muss. Lächerlich und eigensüchtig.« »Nicht im Geringsten«, widersprach Ferada, die ihrer Freundin in den Privatgemächern des Königs gegenübersaß. Vor der Feuerstelle lag Derelei auf einem Schaffell und untersuchte einen rasselnden Ball an einer Schnur, den er von Garths und Eldas Zwillingen geerbt hatte. »Es ist vollkommen natürlich, dass eine Frau trauert, wenn ihr Mann in den Krieg reitet. Und es ist noch verständlicher, wenn die fragliche Frau zur Prophezeiung begabt ist. Ich nehme an, du hast etwas in Brideis Zukunft gesehen, das dich beunruhigt, und jetzt strengst du dich gewaltig an, es niemandem gegenüber zu erwähnen.« Tuala gelang ein Lächeln. »Sieht man mir das so deutlich an?« »Nur deine Freunde. Es ist schon gut, du brauchst es mir nicht zu erzählen. Ich weiß, du möchtest dich den Menschen von Fortriu als gewöhnliche Frau präsentieren, genau wie jede andere Frau und Mutter, ohne eine besondere Begabung. Und als gewöhnliche Frau und Mutter hast du das Recht auf ein paar Tränen, wenn dein Mann sich auf ein solch gefährliches Unternehmen begibt. Es macht mich ausgesprochen froh, dass ich keinen Mann habe, um den ich mir Sorgen machen muss, es sei denn, du zählst meinen Vater, und er hat so viele Schlachten überlebt, dass ich es aufgegeben habe, mir um ihn Gedanken zu machen. Ich dan- 378 ke den Göttern, dass meine Brüder mit zwölf und dreizehn noch zu jung sind, um in den Krieg zu ziehen.« »Diesmal besteht besondere Gefahr für Bridei.« Tuala sprach sehr leise. »Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist durchaus möglich, dass er für die Vertreibung der Galen mit seinem Leben bezahlen muss. Ich habe das gesehen, als Broichan die Birkenstäbchen warf, aber ich sah auch Sieg.« »Hast du darüber gesprochen?« »Mit Bridei. Mit niemandem sonst.« »Und er ist trotzdem losgezogen?« »Die Freiheit von Fortriu ist ihm viel wichtiger als sein eigenes Leben. Ich muss mich darauf verlassen, dass die Leuchtende ihre schützenden Hände über ihn hält und ihn zu uns zurückbringt, wenn der Krieg vorüber ist.« Tuala warf einen Blick auf ihren Sohn, der den hölzernen Ball sehr still in den Händen hielt; das Ding rasselte trotzdem vergnügt. »Und jetzt sag mir, wie es dir ergangen ist, Ferada. Wie verlaufen die Bauarbeiten?« »Sehr gut, danke. Oh, und das erinnert mich - ich habe Derelei ein kleines Geschenk gebracht. Lass es mich aus meiner Tasche holen.« Ferada stand auf und ging zu dem Bündel, das sie auf die Truhe bei der schmalen Fensteröffnung gelegt hatte. Sie trug jetzt praktischere Kleidung als die eleganten Gewänder von früher, und ihr rotbraunes Haar war schlichter frisiert, aber Tuala bemerkte mit einem Lächeln, dass ihre Freundin so makellos gepflegt war wie eh und je und sich immer noch absolut gerade hielt. Die neuen Schülerinnen würden von ihr so eingeschüchtert sein, dass sie nicht wagen würden, auch nur im Geringsten vom vorgeschriebenen Weg abzuweichen. »Hier«, sagte Ferada und holte einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche. »Ich dachte, es würde Derelei gefallen. Garvan hat es hergestellt. Er ist mit Steinmetzarbeiten für Fola beschäftigt, und er wollte dieses kleine
Stück Stein nicht verschwenden. Darf ich es Derelei geben?« - 379 »Selbstverständlich.« Tuala sah zu, wie ihre Freundin sich auf den Boden kniete, das kleine Pferd unter ihrem Rock versteckte und es erscheinen und verschwinden ließ, bis Derelei den rasselnden Ball weglegte und mit dem triumphierenden Schrei »Hund!« nach dem Pferdchen griff. Vielleicht würde Ferada die Schülerinnen doch nicht so einschüchtern, zumindest nicht, wenn sie sie erst einmal besser kennen gelernt hatten. »Es ist eine wunderbare Arbeit«, stellte Tuala fest, »wie man es vom Steinmetz des Königs erwarten würde. Sieh dir das kleine Satteltuch an, mit winzigen Symbolen bedeckt! Und der Ausdruck des Tiers; es erinnert mich an Donais alten Glückspilz. Dieses Pferd sieht aus, als würde es gleich anfangen zu lachen. Ich wusste nicht, das Garvan solchen Sinn für Humor hat. Nicht, dass er viel Zeit hätte, Spielsachen für Kinder herzustellen.« Sie schaute von dem Kind und seinem neuen Spielzeug zu Ferada, die noch auf dem Boden saß. Ferada trug an einer feinen Schnur ein Schmuckstück um den Hals: einen winzigen Fuchs, der sehr detailliert gearbeitet war, diesmal nicht aus Stein, sondern aus dunklem Holz, vielleicht aus dem Herz der Eiche. Tuala war ziemlich sicher, dieses entzückende Schmuckstück noch nie zuvor an ihrer Freundin gesehen zu haben. In der Vergangenheit hatte Talorgens Tochter Schmuck aus feinem Silber mit kostbaren Steinen bevorzugt. »Hat Garvan nebenbei noch Zeit zum Schnitzen?«, fragte Tuala. Ferada hob rasch die Hand, um die kleine Füchsin zu verbergen, dann legte sie die Hände in den Schoß. »Fang nicht an zu spekulieren, Tuala«, sagte sie streng. »Es muss doch möglich sein, mit einem Mann einfach nur befreundet zu sein, ohne dass es den Leuten Stoff zum Klatschen bietet.« »Wer klatscht denn hier?«, fragte Tuala mit einem unbeschwerten Lächeln. »Ich verspreche, ich werde kein Wort - 380 darüber verlieren. Was macht er für Fola - Götterstatuen und Tiere?« »Er meißelt Symbole in einen Bogengang, der den Hauptgarten von Banmerren mit dem Garten des neuen Flügels verbindet«, sagte Ferada. »Mit meinem Flügel. Der größte Teil der Steinmetzarbeiten ist bereits beendet. Garvan und sein Helfer kümmern sich nur um die Dekoration. Und um ein paar Statuen. Es ist ein großer Auftrag.« »Mhm«, sagte Tuala. »Lass das!«, fauchte Ferada. »Ich habe zu viel zu tun, um an Männer zu denken. Ich wollte nie welche, und daran hat sich nichts geändert. Ich habe Besseres zu tun, als meine Energie an sie zu verschwenden.« »Das tut mir Leid«, sagte Tuala. »Wirklich. Und ich meinte auch nicht Männer im Allgemeinen, sondern einen ganz bestimmten.« »Wenn du von Garvan sprichst, so hat er sich nur für eine einzige Frau interessiert, und zwar für dich, Tuala. Nachdem du ihn abgewiesen hast, hat er seine Energie in seine Arbeit gesteckt.« »Abgewiesen? Ich war damals kaum dreizehn und ich kann mich glücklich schätzen, dass Fola mir eine Alternative zur Ehe bot. Aber ich hielt Garvan schon damals für einen freundlichen und ausgesprochen klugen Mann, auch wenn man ihn sicher nicht als gut aussehend bezeichnen könnte.« Ferada grinste. »Sehr taktvoll ausgedrückt, Tuala. Nein, er ist kein schöner Mann. Garvan selbst wäre der Erste, der das zugäbe. Unsere Freundin Ana würde sagen, es ist nicht das Aussehen, das zählt, sondern das Innere.« »Und was sagst du?« Ferada antwortete nicht. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Derelei zu, der nun bäuchlings auf dem Teppich lag und beide Hände zu dem kleinen Steinpferd ausstreckte. Hinter ihm surrte die Rassel leise weiter und zeigte, dass sie nicht - 381 vollkommen vergessen war, aber die Aufmerksamkeit des Kindes galt nun dem gemeißelten Geschöpf. Als er winkte, hob es erst einen zarten Huf, dann den anderen, warf den Kopf zurück und wieherte leise, dann begann es, neugierig an dem Schaffell zu knabbern. »Er tut so etwas manchmal«, sagte Tuala entschuldigend. »Hat Broichan ihm das beigebracht?«, flüsterte Ferada und starrte das kleine Tier an, das nun um den Teppich herumtrabte. »Broichan lehrt ihn, seine natürlichen Fähigkeiten zu beherrschen«, sagte Tuala. »Was immer ich von dem Druiden halten mag, es war weise von ihm zu erkennen, dass so etwas notwendig ist. Derelei handelt, ohne darüber nachzudenken. Er hat vielleicht erstaunliche Fähigkeiten, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er nicht einmal zwei Jahre alt ist.« Ferada sah wie gebannt zu, als das winzige Pferd seine Umkreisung des Schaffells beendete, an die Seite des Kinds zurückkehrte und liebevoll mit der Schnauze seine Wange berührte. Derelei kicherte. Einen Augenblick später bewegte er die Hand in einer kontrollierten Geste, die so überhaupt nicht die eines Kindes war, und der kleine Hengst war wieder nichts weiter als ein hervorragend gemeißeltes Kunstwerk aus glattem Stein. »Tuala ...«, begann sie vorsichtig, dann hielt sie inne. »Lass mich dir einen Becher Met einschenken«, sagte die Königin von Fortriu. »Ich habe hier sehr guten, nur für besondere Gelegenheiten. Ich werde dir einen Krug davon mit nach Hause geben. Du kannst ihn mit dem Steinmetz teilen; ein langer Tag mit Hammer und Meißel macht einen Mann sehr durstig.«
»Hör auf damit!« Ferada stand auf und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Ja, trinken wir Met, es gibt in Banmerren nicht viel davon. Dein Sohn erinnert mich an jemanden, aber ich bin nicht sicher, an wen.« - 382 »Bridei, nehme ich an. Er hat das gleiche Haar.« »Es ist mehr ein Eindruck, nichts so Offensichtliches. Er hat vielleicht Brideis Locken und ruhige Art geerbt, aber es ist das Erbe von deiner Seite, das ihn so faszinierend macht; die Fähigkeiten, die du auf keinen Fall zeigen willst. Wenn er älter ist, wird Derelei nach seinen Ursprüngen fragen, Tuala. Was hast du vor, ihm zu sagen?« Tuala goss den Met in zwei schöne Kelche aus blauem Glas, die das Geschenk eines Fürsten aus dem Süden gewesen waren. »Ich habe keine Antworten für ihn«, sagte sie. Sie hatte Ferada nie von ihren beiden Besuchern aus der Anderwelt erzählt, die sie in den späten Jahren ihrer Kindheit sowohl getröstet als auch gequält hatten. Sie hatten ihr versprochen, dass sie die Wahrheit über ihre Eltern herausfinden würde, und ihr diese Aussicht wieder genommen, als Tuala sich entschied, bei Bridei zu bleiben und die Welt auf der anderen Seite der Grenze aufzugeben. Sie hatte in letzter Zeit viel an die beiden gedacht, seit sie belauscht hatte, dass ihr Sohn sich mit offenbar unsichtbaren Gefährten unterhielt. Derelei konnte noch nicht viel sprechen: Papa und Mama, Broichan, eine Hand voll anderer Wörter. Es gab zwei neue Namen, die er immer häufiger benutzte, Namen, die er mit seiner Kinderzunge als Wei und Geiba aussprach. Tuala hatte sie sofort erkannt. Es war der Beweis dafür, dass das Gute Volk, das so schlau und grausam mit ihrem und Brideis Leben gespielt hatte, sich auch in das ihres Sohnes einmischte. Derelei war noch klein, bei all seiner erstaunlichen Begabung war er schrecklich verwundbar. »Ich muss mich darauf verlassen, dass Broichan ihn beschützen wird, während er aufwächst«, sagte sie zu Ferada. »Garth ist hier, um die weltlichen Gefahren fern zu halten, und auch Faolan sollte bald wieder zurück sein. Der Druide des Königs hat die Macht und die Fähigkeit, andere Arten von Gefahren abzuwenden. Aber ich mache mir Sorgen um meinen Sohn. Mir ist nur zu klar, dass ich ihn auf einen - 383 schwierigen Weg geschickt habe. Seine unheimliche Begabung hat er von mir. Wegen meiner Entscheidungen muss er seinen Weg in der Welt der Menschen finden. Und als Sohn des Königs wird er oft in der Öffentlichkeit stehen. Die Leute werden reden.« »Wenn du willst, dass er unsichtbar ist, solltest du ihn am besten zu den Druiden schicken.« Tuala runzelte die Stirn und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Derelei hatte sich auf den Rücken gelegt und er schien einzuschlafen. »Ich will nicht, dass er weggeht«, sagte sie. »Bridei braucht seine Familie. Wir sind seine Kraft. Selbst Broichan zieht es vor, dass Derelei zunächst am Hof erzogen wird. Er scheint ihn tatsächlich recht gern zu haben. Beinahe wie ein Großvater. Ich hätte nie geglaubt, dass er dazu fähig ist.« »Interessant«, sagte Ferada. »Vielleicht wird es alles leichter werden, wenn du mehr Kinder hast.« »Nicht, wenn sie so sind wie er.« Derelei sang nun leise vor sich hin, eine wortlose Melodie. Die beiden Frauen hatten nicht gesehen, wie es sich bewegte, aber das Steinpferd hatte nun eine schlafende Haltung eingenommen, lag am Boden, die Beine unter sich gezogen, die Augen geschlossen. Die Rassel vibrierte leise, eine Handspanne von Dere-leis ausgestrecktem Arm entfernt. »Nun, ich habe es dir schon zuvor gesagt: Alle kleinen Mädchen, die ihr beiden in die Welt setzt, werden in meiner Schule sehr willkommen sein. Sollte sich zeigen, dass sie mehr zur Magie als zur Gelehrsamkeit begabt sind, schicke ich sie zu Fola.« »Bis dahin hast du vielleicht selbst ein oder zwei Kinder«, sagte Tuala grinsend. »Hättest du diesen Met gern im Ausschnitt?« »Ich würde ihn viel lieber trinken. Ich verspreche dir, nicht wieder von solchen Dingen zu sprechen; zumindest nicht heute Abend. Es ist so schön, dich glücklich zu sehen, Fera- 384 da. Ich muss dich einfach necken, nur um diese Funken in deinen Augen zu sehen, wie du sie früher hattest, bevor ... bevor all das passiert ist.« Tuala wurde plötzlich ernst. »Ja«, erwiderte Ferada nüchtern. »Es ist vielleicht seltsam, das zu sagen, aber ich denke, wenn sie sehen könnte, was ich jetzt tue, wäre meine Mutter recht stolz auf mich. Ich bin allerdings nicht sicher, ob mich das freut oder mir Angst macht.« »Du bist nicht wie sie«, sagte Tuala. »Oder doch nur auf eine gute Weise. Was deine Kraft und deine Entschlossenheit angeht. Und deinen unbeirrbaren guten Geschmack.« Ferada hatte die Hand um den kleinen hölzernen Fuchs geschlossen. »Ich hatte solche Angst vor ihr«, sagte sie mit plötzlich trostloser Miene. »Wenn ich je eine Tochter hätte, wäre es schrecklich, wenn sie mir gegenüber so empfinden würde.« Tuala antwortete nicht. Derelei war beinahe eingeschlafen; sie hob ihn hoch und brachte ihn ins Bett. Als sie zurückkehrte, hatte Ferada ihnen Met nachgegossen und sich wieder beruhigt. »Weißt du«, sagte Tuala, »das war das erste Mal, dass du von Mutterschaft auch nur als entfernter Möglichkeit sprachst.« . »Das habe ich nicht ernst gemeint. Ich habe vor, allein alt zu werden, so wie Fola.« »Mhm. Du wirst deine eigenen Entscheidungen treffen, so viel ist klar. Und du brauchst nicht zu befürchten,
dass du wirst wie deine Mutter, Ferada. Du bist so sehr du selbst: stark, gut und klug. Eine echte Freundin.« »Danke«, sagte Ferada nach einem Augenblick ehrlich überrascht. »Ich nehme an, dass es Ana ist, die als Nächste Kinder bekommen wird. Ich frage mich, ob sie irgendwann wieder hierher kommen und uns besuchen wird. Mit ihrem gut aussehenden Fürsten aus dem Norden an der Seite und einer Brut winziger Caitt-Krieger an ihrem Rock.« - 385 »Ich sehe Ana mit Töchtern«, sagte Tuala und starrte nachdenklich in den Met. Ferada warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du meinst, weil sie ein so sanftes, feminines Mädchen ist? Oder hast du tatsächlich etwas in ihrer Zukunft gesehen? Weißt du, ob sie glücklich ist?« Tuala zögerte. »Nein. Es war nur ein kurzer Blick, etwas Seltsames ... ich kann es wirklich nicht sagen. Ich tue das nicht mehr.« Sie wich Feradas Blick aus. »Wegen dem, was du sehen könntest? Für Bridei?« »Es ist komplizierter als das. Hin und wieder sehe ich zufällig etwas. Ich mache mir große Sorgen um Ana. Diese kurzen Blicke zeigten sie weinend, nervös und verängstigt. Selbstverständlich können diese Bilder ebenso gut aus der Vergangenheit oder der Zukunft stammen wie aus der Gegenwart. Und ... ich sah Faolan, der Harfe spielte.« Ferada schnaubte. »Also das halte ich für reine Phantasie. Ich glaube, du hast zu viel Met im Haus. Es ist meine Pflicht als Freundin, dir zu helfen, diesen Krug zu leeren. Lass uns einen Trinkspruch ausbringen: Auf abwesende Freunde -mögen die Götter über sie wachen und sie sicher wieder nach Hause zurückbringen.« »Möge die Leuchtende ihnen heute Nacht schöne Träume schenken und möge der Flammenhüter über ihrem Erwachen leuchten«, sagte Tuala, aber in ihren Augen stand ein Schatten: Wie oft würden sie noch so aufwachen, bis der Krieg begann, bis die Knochenmutter über ein Feld aus Blut und Schmerz schritt und ihre Söhne zum längsten Schlaf sammelte? Faolan hätte ebenso gut Kriegslieder spielen können, solch martialische Unterhaltung hätte gut zu seinem Herzschlag gepasst. Seine Haut war feucht und kalt vor nervösem Schweiß und es würde seinen Fingern schwer fallen, die Harfensaiten sauber zu zupfen. Die festen Regeln, die er in - 386 all den langen Jahren seit dem Abend, an dem sein Leben sich für immer verändert hatte, seinem Verhalten und seinen Gefühlen auferlegt hatte, würden ihm an diesem Abend nicht das Geringste nützen. Sobald er die Hände an die Harfe legte, sobald er den Mund zum Singen öffnete, würde er sich wieder verwundbar machen. Wie konnte er auch nur ein einziges Lied hinter sich bringen, ganz zu schweigen von der Anzahl, die ein festliches Abendessen nach einer Jagd erforderte? Ana sah ihn an. Sie wirkte krank und sie war noch blasser als zuvor, ihre Wangen wirkten hohl, der schöne Mund angespannt, als versuchte sie, ihre Schmerzen zu beherrschen. Sie nickte ihm ernst zu. Faolan sah in ihrem Blick das Eingeständnis, dass sie sich in ihrem Urteil geirrt hatte, und die Erkenntnis, dass er es war, der dafür leiden würde, obwohl sie nicht das gesamte Ausmaß verstand, da er ihr nie seine Geschichte erzählt hatte und es auch nie tun würde. Er sah, dass es ihr sehr Leid tat, und er verzieh ihr sofort. Er erwiderte das Nicken, es war die höfliche Geste eines Dieners gegenüber seiner Herrin, steif und förmlich und so berechnet, dass sie Alpin in keiner Weise gegen ihn aufbringen konnte. Dann räusperte er sich und begann. Sie mochten das Jagdlied. Gerdic griff, wie er versprochen hatte, den mitreißenden Refrain mit und führte die Versammelten jedes Mal beim Gesang an. Faolan war bei seinen Nachforschungen extrem vorsichtig gewesen. Niemand in der Halle wäre auf die Idee gekommen, dass er nicht anwesend gewesen war, als Alpins Speer ins Herz des ersten Ebers drang oder als das zweite Wildschwein unerwartet aus dem Unterholz brach und beinahe den Helfer des Jägers von Dornwald entmannt hätte, bevor die Hunde sich auf es stürzten. Am Ende des Lieds es war ein langes mit insgesamt zwölf Strophen - sang Alpin ebenso mit wie alle anderen, und Anas Miene konnte nur als verdutzt bezeichnet werden. - 387 Er hatte das Jagdlied unbegleitet vorgetragen, wenn man von einem rhythmischen Stampfen und Klatschen absah. Faolan spürte, wie ihm der Schweiß in den Nacken lief, es war, als hätte er ganz allein eine Schlacht ausgefochten. Und in gewisser Hinsicht war es auch so gewesen: eine Schlacht gegen sich selbst. Er war sich unangenehm bewusst, dass ihm die wahre Prüfung noch bevorstand. »Lass uns die Harfe hören, Junge!«, rief Alpin strahlend. Der Fürst war sehr erfreut, die Tatsache, dass er Faolan nicht »Gäle« genannt hatte, bewies das. »Sing uns etwas für die Damen. Wie wäre es mit einem Liebeslied? Das würde dir doch gefallen, meine Liebe, oder?« Er tätschelte Anas anmutige Hand mit seiner massiven Tatze. Faolan zwang sich, langsamer zu atmen. Er stellte die Harfe auf sein Knie und ließ sich Zeit mit dem Stimmen, obwohl das Instrument bereits perfekt gestimmt war, denn er hatte es immer wieder überprüft, bevor er die Halle betrat. »Faolan«, erklang Anas Stimme klar und leise durch die Halle mit den vielen Menschen, »ich mag diese Ballade über den Mann, der sich in eine Feenfrau verliebt hat, du weißt schon, welches Lied ich meine.« Sie wandte sich Alpin zu. »Es ist in Gälisch, aber das stört dich doch nicht, oder, mein Lieber? Ich mag die Melodie, obwohl ich die Worte nicht verstehen kann.« Sie glaubte, Faolan zu helfen, indem sie zu einem Lied riet, das er bereits kannte, da sie gehört hatte, wie er es an
der Furt summte. Vielleicht dachte sie, es sei das einzige in seinem Repertoire. Alpin machte eine barsche Bemerkung, die widerstrebende Zustimmung ausdrückte, und legte einen fleischigen Arm um die schlanken Schultern seiner Verlobten. Faolans Hände bewegten sich, hielten inne, dann bewegten sie sich erneut selbstsicher über die Saiten. Der Klang war mutig und wahr und brachte jede Zunge in der Halle zum Schweigen. Sein Herz zitterte und bebte mit - 388 dem Rahmen der Harfe, eine plötzliche Flut von Empfindungen drohte ihn vollkommen zu entmannen. Es war so lange her, seit sich solch mächtige Gefühle in ihm gerührt hatten. Er musste es tun, diesmal konnte er sich nicht verbergen, er konnte nicht davonlaufen. Faolan holte Luft und fing an zu singen. Sie verstand selbstverständlich Gälisch. Genug davon, dass er, hätte er nicht jeden Funken seiner Kraft gebraucht, damit seine Erinnerungen ihn nicht überwältigten und zusammenbrechen ließen, diese Gelegenheit hätte nutzen können, um ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, sie davor zu warnen, dass Alpin wahrscheinlich ein Lügner war und dass sie vielleicht rasch fliehen mussten. Er hätte ihre Schönheit und ihren Mut preisen und ihr sagen können, was er ihr niemals außerhalb der sicheren Grenzen einer erfundenen Geschichte von Leidenschaft und gebrochenen Herzen sagen konnte. Aber Faolan konnte nur die Harfe für sich sprechen lassen, übermittelte in der zarten Abfolge von Tönen die wunderbare Liebe von Fionnbharr zu Aoife, dem Mädchen von den Sidhe, und die quälende Leere, die er verspürte, nachdem er sie verloren hatte. Der Gesang kam beinahe ohne sein Zutun heraus. Seine Stimme schwankte ein- oder zweimal, aber sein Publikum schien das nicht zu bemerken. Kelche verharrten zwischen Tisch und Mund, Schweineknochen wurden reglos in fettigen Fingern gehalten. Die Diener standen wie angewurzelt da, Tabletts in den Händen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein kräftiger, kahlköpfiger Mann mit breiten Schultern und lauschte angespannt. Sein Blick war ungerührt, und um seine Mundwinkel zuckte ein kleines ironisches Lächeln. Schließlich war es vorüber. Wilder Applaus brach aus, und ein paar Männer gaben schrille Pfiffe von sich und hämmerten auf die Tische. Gerdic klopfte auf Faolans Schulter und hätte ihm beinahe die Harfe aus den Händen geschla- 389 gen; ein anderer Mann schob ihm einen vollen Bierbecher in die Hand. »Trink aus und dann sing weiter. Aber nichts mehr von diesem tränenreichen, langsamen Zeug, denn die Damen haben es vollkommen verschlungen - sieh dir meine Frau an, sie schnieft, als wäre gerade ihre Mutter gestorben. Sing uns etwas mit einem Rhythmus, ein Marschlied oder so. Und dann noch mal das erste. Wir kennen es inzwischen.« »Barde!«, rief Alpin. »Nichts mehr von diesem weichen, gälischen Unsinn, dafür habe ich keine Geduld. Lass uns Worte hören, die wir verstehen können. Und sing uns ein Lied für Männer, denn wir haben heute Eberblut vergossen, und wir brauchen Unterhaltung, die zu diesem Ereignis passt. Spiel uns etwas Freches, Mitreißendes.« Faolan trank einen Schluck Bier, stellte den Becher ab und begann erneut. Es war nicht schwer, die richtige Art Lied zu finden; er kannte Hunderte. Das Spielen war nicht die Herausforderung, obwohl seine Finger länger, als er sich erinnern wollte, ungeübt geblieben waren. Die Techniken fielen ihm bald wieder zu, und die vernachlässigte Harfe stellte sich der Herausforderung bemerkenswert gut. Hätte Faolan sich von der schmerzlichen Rückkehr der Erinnerungen abschneiden können, wäre das Ergebnis des Ganzen für ihn nicht schlimmer ausgefallen als ein paar Blasen an den Fingern. Er machte weiter und war froh, dass die Anwesenden fröhliche, rhythmische Lieder vorzogen, denn es waren die traurigen und tief schürfenden, die ihn wahrscheinlicher in den Zusammenbruch treiben würden. Nach relativ kurzer Zeit entschuldigte sich Ana und zog sich ins Bett zurück. Es war Faolan klar, dass sie sich anstrengte, ihre Verblüffung zu verbergen und, wie er annahm, auch ihre Erleichterung: Sie hatte wahrhaftig nicht erwartet, dass er sich als kompetenter Musiker erwies. Die Männer erlaubten ihm eine kurze Rast, während der ihm Essen und Bier gereicht wurde. Er sprach mit Gerdic und ein - 390 paar anderen. Später konnte er sich nicht an ein einziges Wort erinnern, das er gesagt hatte. Er versuchte, in einem Muster zu atmen, etwas, was er bei Bridei beobachtet hatte, wenn der König sich sehr beansprucht fühlte, und stellte fest, dass es ein wenig half. Die Flut von Erinnerungen wütete immer noch in ihm, aber er war im Stande, ihre körperlichen Manifestationen zurückzuhalten: zitternde Hände, eine unsichere Stimme, wütende Tränen. Der lange Abend ging endlich zu Ende; Alpin rief nach einem letzten Lied. Als seine Finger die Saiten erneut berührten, hatte sich Faolan noch nicht entschieden, was er ihnen singen würde. Die Vernunft sprach für etwas Kurzes, Banales und Fröhliches, um sie lächelnd in die Betten zu schicken und ihnen angenehme Träume zu schenken. Im letzten Augenblick entschied er sich gegen seine eigenen Vorsätze und begann mit der Einführung zu einem viel größeren Lied, dem Bericht über einen heroischen Kampf, Gäle gegen Gäle, in dem ein großer Anführer seine Truppen zu einem unwahrscheinlichen Sieg inspirierte. Er sang dieses Lied allerdings nicht in seiner eigenen Sprache, sondern in der seines Publikums, und statt des rothaarigen Fürsten von Ulaid war sein Held ein junger König von Fortriu, der noch nicht lange auf dem Thron saß, ein Mann, dessen Zeichen der Adler war und auf dessen großes Unternehmen der Flammenhüter mit
wohlwollender Wärme und tiefstem Stolz herabblickte. Er sprach den Namen Bridei nicht wirklich aus, aber es würde in der Halle keinen Mann und keine Frau geben, die nicht erkannten, wer gemeint war. Es sang davon, wie alte Männer ihre Gehstöcke und ihre Becher beiseite legten, um zu jubeln, wenn der junge Anführer vorbeikam. Wie die kampffähigen Männer zu Hunderten zu seinen Fahnen strömten und Jungen, kaum alt genug, um die schützenden Arme ihrer Mütter zu verlassen, die rostigen Schwerter toter Ahnen ergriffen und davon marschierten, um in den Dienst des neuen Königs zu treten. Er sang da- 391 rüber, wie in diesem jungen Anführer der Mut, die Weisheit und die Kraft des ursprünglichen Ahnen Pridne wieder neu geboren schien. Das Lied endete mit einer bewegenden Melodie, nur von der Harfe gespielt, und einem einzelnen hellen Ton der höchsten Saite. Faolan ließ diesen Ton in der Stille verklingen, bis er bis fünf gezählt hatte, dann senkte er den Kopf, und tosender Beifall erklang. Er hatte das ganze Lied gesungen, ohne noch einmal nachzudenken; es schien zu fließen, nicht wegen ihm, sondern beinahe gegen seinen Willen. Früher einmal, als er jung gewesen war und noch mit der Technik zu kämpfen hatte, hätte er für eine solche intuitive Schöpfung viel gegeben. An diesem Abend war er sich nur bewusst, wie es sich anfühlte, nachdem es vorüber war: als hätte man ihn über Steine geschleift. Er fühlte sich blutig und wund wie ein geschlagener Hund, sein Herz duckte sich, bebte von dem Angriff, den es hatte ertragen müssen, denn er hatte eine Tür geöffnet, die lange verschlossen und verriegelt gewesen war und mehr hereingelassen, als er ertragen konnte. »Komm her, Barde.« Alpin war aufgestanden, bereit sich zurückzuziehen, Bänke kratzten über Pflastersteine, als der Haushalt sich mit ihm erhob. Faolans Füße vollzogen die notwendigen Bewegungen, trugen ihn durch die Halle vor den Fürsten von Dornwald. Er stellte fest, dass seine Knie nicht mehr bereit waren, sich zu biegen. Es schien nicht mehr möglich, sich höflich zu geben. Es gelang ihm, den Kopf zu senken, denn falls er Tränen in den Augen hatte, wollte er auf keinen Fall, dass dieser Mann sie sah. »Du hast mich überrascht.« Alpins Ton war nicht feindselig, eher neugierig. »Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass du spielen kannst. Die Dame hat also nicht gelogen.« Faolan blickte auf, die Tränen vergessen. »Sie lügt nicht«, sagte er kühl. - 392 Alpin verzog das Gesicht. »Nun gut«, sagte er, »du magst Harfe spielen und schlaue kleine Lieder singen können, aber wenn du ein Hofbarde bist, dann werde ich die nächste Katze, die mir über den Weg läuft, häuten und sie zum Frühstück essen, Knochen und alles.« »Ja, Herr.« Faolan krallte die Hände um den Harfenrahmen. »Ich bin müde«, sagte Alpin. »Die Dame fühlt sich nicht wohl; ich werde vielleicht bei ihr vorbeischauen und sehen, ob sie etwas braucht. Ich hoffe, sie neigt nicht zum Kränkeln. Ich brauche Söhne, Barde. Hübscher Gesang wird ihr dazu nicht verhelfen. Und jetzt geh. Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, du siehst ebenso blass im Gesicht und zittrig in den Knien aus wie deine Herrin. Was ist los mit euch Leuten aus dem Süden? Gerdic, bring diesen Burschen in sein Schlafquartier, bevor er noch mitten in der Halle ohnmächtig wird und das Instrument fallen lässt. Wir brauchen ihn in einem Stück, und die Harfe brauchen wir auch. Die Frauen wollen morgen bestimmt noch mehr weinerliche Balladen hören. Gute Nacht, Männer. Der Flammenhüter möge euch Träume von getötetem Wild und gewonnenen Schlachten schenken. Und eine willige Frau in eurem Bett.« Faolan hatte einmal vor mehr als fünf Jahren eine lange wache Nacht an Brideis Seite verbracht. Er erinnerte sich daran, wie Bridei sich so heftig übergeben hatte, dass nichts mehr in seinem Magen geblieben war, wie er gegen ein Zittern angekämpft hatte, das seinen ganzen Körper schüttelte, wie es ihm dennoch gelungen war, ruhig zu bleiben und die Tränen zurückzuhalten. Sie waren alle in dieser schrecklichen Nacht des Tortag-Opfers für ihn da gewesen, er selbst, Breth und Garth, und sie hatten sich ebenso aus Liebe wie aus Pflichtgefühl um ihren künftigen König gekümmert. An diesem Abend war es Faolan selbst, der kurz davor stand, Opfer eines Unmaßes finsterer Gefühle zu werden, und selbst wenn es einen Kameraden in der Nähe ge- 393 geben hätte, der ihm hätte helfen wollen, hätte er ihn weggeschickt. Tatsächlich glaubte er nicht, dass ein Mann wie er so etwas wie einen Freund haben könnte; von seinem ganzen Wesen her hatte er so etwas nicht verdient. Es gab keine Seele auf der Welt, der er gestatten würde, Zeuge seiner Schwäche zu werden. Es gab keinen lebenden Menschen, dem er seine Geschichte gestehen würde. Nicht einmal Bridei. Was er Drustan und Deord gegenüber enthüllt hatte, war nur eine Spur der Wahrheit, und selbst diese Vertraulichkeit bedauerte er. Solche Dinge sollte man am besten lassen, wo sie waren, tief drinnen verschlossen und beinahe, aber nicht ganz vergessen. Also entschuldigte er sich bei Gerdic und den anderen, die sich ohnehin mehr dafür interessierten, einen Vorrat Bier mit ins Schlafquartier zu nehmen und die Festlichkeiten des Abends fortzusetzen. Faolan ging allein hinauf in diesen kleinen Hof, wo Ana, wie er wusste, manchmal nachmittags mit ihrer Stickerei saß. Es gab Wachposten auf den Wehrgängen, und sie behielten ihn im Auge, wie es ihre Aufgabe war, aber sie versuchten nicht, ihn davon abzuhalten, die schmalen Steinstufen hinaufzugehen. Er hielt seine Dämonen zurück - ah, Dubhän, bester aller Brüder, und das heiße Blut, das spritzte und seine eigenen Hände scharlachrot färbte -, bis er eine Ecke im Schatten erreichte, wo das Licht von den Fackeln, die hier und da in eisernen Haltern steckten,
nicht auf ihn fallen würde. Dort hockte er sich nieder, verbarg den Kopf in den Armen wie ein Kind, das sich verlaufen hat, und weinte lautlos. »Du siehst heute früh besser aus«, sagte Alpin durch einen Mund Haferbrei. Ana hatte angefangen, wieder mit ihm zu frühstücken, sobald die Blutungen nachgelassen hatten und ihr Bauch frei von Krämpfen war. »Ein wenig Farbe in den Wangen, das ist schon besser. Ich habe Neuigkeiten.« »Oh?« Ana nahm sich Brot und kalten Hammelbraten. Sie - 394 wollte einen entspannten, gesunden Eindruck machen, obwohl ihr Herz vor Nervosität laut klopfte. Sie musste ihrem Verlobten eine Frage stellen, und sie war nicht sicher, ob ihm das gefallen würde. »Ja. Dieser Druide wird wahrscheinlich in den nächsten Tagen hier eintreffen. Man hat gesehen, wie er den Hügelpfad entlangkam, und einer meiner Leute hat einen Läufer losgeschickt, um mich zu unterrichten. Wir brauchen jetzt nicht mehr lange zu warten.« »Oh. Gut«, war das Beste, was sie herausbringen konnte. Zwei Tage. So bald. Aber wie lange es auch dauern würde bis zu dieser Hochzeit, es würde immer zu bald für sie sein. Sie konnte Drustans leise Stimme in ihrem Kopf hören: Ich will nicht, dass du meinen Bruder heiratest. »Lächle«, sagte Alpin und beobachtete sie genau. »Überzeuge mich davon, dass du dich freust.« Ana war verblüfft, war ihr ihre Stimmung so leicht anzusehen? »Ich bin erfreut«, sagte sie, konnte sich aber nicht zu einem Lächeln durchringen. »Aber ich denke, ich bin ein wenig nervös. Es tut mir Leid, wenn sich das in meinem Verhalten zeigt.« »Du bist jetzt lange genug hier, um dich eingewöhnt zu haben.« Alpin saß mit leicht gespreizten Beinen da, die Arme auf der Tischplatte verschränkt, und beugte sich auf sie zu. »Und du hattest Gelegenheit, dich an mich und an den Gedanken an die Ehe zu gewöhnen. Du musst dich ein wenig entspannen; es ist nicht notwendig, so steif und züchtig zu sein, wenn du mit mir allein bist. Komm her, setz dich zu mir. Ja, genau. Noch näher.« Er legte den Arm um ihre Schulter, und mit der anderen Hand schob er plötzlich ihren Rock hoch, und dann drängte er diese Hand mit einiger Dreistigkeit zwischen ihre Oberschenkel. Ana keuchte. »Immer mit der Ruhe«, sagte Alpin, als hätte er es mit einem nervösen Tier zu tun. »Ein bisschen Übung kann nicht schaden ... es wird es in der Nacht viel einfacher machen, - 395 das verspreche ich dir ...« Die Hand erreichte rasch eine Stelle, wo sie sie aufhalten musste. Die andere Hand war zu ihrer Brust weitergewandert, knetete sie aufs Unangenehmste, und seine Lippen befanden sich an ihrem Hals und saugten. Sein Atem war schneller geworden. Ana spürte starre Abscheu im ganzen Körper. Sie sollte ihn in zwei Tagen heiraten. In zwei Tagen. Und wenn er nicht auf der Stelle aufhörte, würde sie schreien oder sich übergeben; sie konnte nicht anders. Pflichtbewusstsein half ihr, starr sitzen zu bleiben und zu schweigen, während Ekel sie in kalten Wellen durchflutete. Sie versuchte, daran zu denken, was Ferada wohl in einer solchen Situation tun würde, aber ihr fiel nichts ein. Ihr war klar, dass Ferada nie erlaubt hätte, dass die Dinge überhaupt diesen Punkt erreichten. Wenn Ferada jemals zulassen würde, dass ein Mann sie auf diese Art berührte, würde es einer sein, den sie sich selbst nach rigorosen Prüfungen gewählt hatte. Alpin drückte und tastete, dann schob er ihre Unterwäsche beiseite ... Ana wand sich ein wenig und versuchte nicht zusammenzuzucken, als seine Finger die nackte Haut ihrer intimsten Stellen berührte. Sie rückte ein bisschen von ihm ab und zwang sich, ihn auf den Mund zu küssen, eine rasche, aber nicht allzu jüngferliche Anstrengung, denn sie durfte ihn nicht wissen lassen, wie sehr sie all das anwiderte. Dann rutschte sie von ihm weg und zog ihren Rock wieder herunter. »Wenn du willst, dass es mir gut geht, mein Lieber«, und nun gelang es ihr zu lächeln, »musst du mir erlauben, mein Frühstück zu beenden.« Alpin lachte. Nun war er es, der rot angelaufen war. »Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, Mädchen, wer hätte gedacht, dass zwei Tage mehr nach all dieser Zeit so lange sein könnten! Ich hoffe, du weißt, wie schwer das für einen Mann ist. Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich begehre. Dir stehen ein paar gute Nächte bevor, das verspre- 396 che ich dir. Hier, nimm dir eine Hand voll.« Er packte ihre Hand, und bevor sie erkannte, was er vorhatte, hatte er sie auch schon fest zwischen seine Beine geschoben und drückte sie nach unten, sodass die erschreckend aufrechte Form seiner Männlichkeit sich fest gegen ihre Handfläche presste. »Sie sagen, ich sei gebaut wie ein Stier«, stellte Alpin selbstzufrieden fest, dann ließ er Anas Hand los und wandte sich wieder dem Haferbrei zu. »Ich werde dir viele Söhne schenken. Und Freuden, die du dir nie hättest träumen lassen. Es wird hier und da ein paar blaue Flecken geben, aber das werden gute sein. Iss. Du hast Recht, wir brauchen unsere Kraft.« Wenn er geglaubt hatte, sie zu beruhigen, hatte er schlechte Arbeit geleistet. Einige Zeit aßen sie schweigend weiter, dann holte Ana tief Luft und begann: »Ich hoffe, du wirst mir nicht böse sein, mein Lieber, aber ich muss dich um etwas bitten.« »Ach, ja? Und was ist das?« »Ich bin immer noch ein wenig... bedrückt wegen der Situation deiner Familie. Wegen deines Bruders, der zwar eingeschlossen ist, sich aber immer noch hier im Haus befindet. Es kommt mir so vor, als werfe das einen Schatten der Traurigkeit über Dornwald, einen Schatten aus der Vergangenheit, der auf uns alle fällt. Ich mache
mir deshalb Sorgen, Alpin. Du sprichst von Söhnen. Ich sorge mich, dass meine Kinder an einem Ort mit einem so schrecklichen Geheimnis aufwachsen.« Alpin aß weiter und Ana betrachtete das als gutes Zeichen. »Was erwartest du von mir?«, fragte er. »Soll ich ihn wegschicken?« »O nein, das meinte ich nicht«, sagte Ana hastig. »Ich will einfach nur die Situation besser verstehen und vielleicht ein paar Wunden heilen. Man hat mir gesagt, dass du die meisten Leute, die damals hier gearbeitet haben, weggeschickt hast... damals, als diese schreckliche Sache passierte.« - 397 »Man hat es dir gesagt. Wer hat dir etwas gesagt?« Nun lag etwas in seiner Stimme, das ihr überhaupt nicht gefiel. »Ich verbringe jeden Nachmittag beim Nähen mit den anderen Frauen, Alpin. Frauen klatschen.« »Hm. Sie sollten sich ihr Geschwätz lieber für angemessenere Themen aufheben. Es geht niemanden etwas an, wen ich hier behalte und wen ich wegschicke.« »Ich hörte, dass es eine alte Frau gab, die sich um dich und deinen Bruder und deine Schwester kümmerte, als ihr Kinder wart. Dass sie irgendwo ganz allein im Wald lebt.« »Mhm.« »Es kommt mir eher traurig vor, dass du eine so treue alte Dienerin nicht unter deinem Dach beherbergst. Ist es nicht gefährlich, wenn sie allein da draußen ist?« Alpin sah sie fragend an. »Was willst du?«, fragte er. »Ich würde sie gern besuchen«, sagte Ana, deren Handflächen inzwischen schweißnass waren. »Ich möchte mit ihr sprechen und versuchen, diese Familie, in die ich einheirate, ein wenig besser zu verstehen. Wenn deine Schwester hier wäre oder deine Mutter noch lebte, würde ich sie fragen. Wenn Orna gesprächiger wäre, würde ich Orna fragen. Aber sie spricht nicht über diese Dinge.« »Du kannst Bela nicht besuchen.« Alpin griff nach seinem Messer, legte es wieder hin, trank einen Schluck Met und goss sich mehr nach. »Man hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie könnte tot oder weit weg sein.« »Hat sie denn kein Haus? Keine Hütte? Wie überlebt sie da draußen ganz allein?«, drängte Ana störrisch weiter, unwillig zu akzeptieren, dass auch aus ihrer letzten Hoffnung auf einen Beweis nichts werden sollte. »Ich habe keine Ahnung.« Alpin warf ihr einen scharfen Blick zu. »Warum dieses plötzliche Interesse an der alten Bela?« »Ich ...« Ana dachte rasch weiter. »Ich dachte an unsere eigenen Kinder, die, die wir haben werden. Wir werden eine - 398 Kinderfrau brauchen, und da sie eine verlässliche Dienerin der Familie ...« »Sie ist ein verrücktes altes Weib«, sagte Alpin abfällig. »Wir werden eine neue Kinderfrau für unsere Jungen finden. Eine junge, energische. Wir können es nicht zulassen, dass du dich zu sehr erschöpfst, meine Liebe, ich will, dass du frisch und eifrig bist. Ihr Götter, es fühlt sich an, als hätte ich ein Leben lang darauf gewartet! Wenn du mir Freude machst, wirst du feststellen, dass ich ein guter Ehemann bin, das schwöre ich. Es gibt nichts, was ich dir nicht geben würde.« Ana konnte ihm nicht in die Augen sehen und sie starrte den Tisch an. »Ich hoffe, dass ich dich erfreuen werde, Herr«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. »Wie du weißt, bin ich in Angelegenheiten des Schlafzimmers vollkommen unerfahren.« »Genau, was ein Mann von einer neuen Frau erwartet«, sagte Alpin leichthin. »Du wirst lernen. Ich werde dir zeigen, was du tun sollst, und ich werde dich lehren, es zu genießen. Es ist wie bei allem Neuen: Reiten, Beizjagd, Bogenschießen. Nichts, wovor man Angst haben müsste. Aber du hast Angst, nicht wahr? Warum ist das so?« Sie konnte ihm wohl kaum sagen, dass seine Berührung sie erschreckte und anwiderte. »Ich bin ein wenig durcheinander heute«, sagte sie. »Ich bin traurig, dass keiner meiner eigenen Leute zur Hochzeit hier sein wird.« »Du hast deinen Barden.« »Ein Diener ist kein Ersatz für Verwandte«, sagte Ana, froh, dass Faolan sie nicht hören konnte. »Ich werde dich dafür entschädigen«, sagte Alpin. »Später einmal werden wir reisen und sie besuchen. Und sie hierher einladen. Das wird vorteilhaft sein, sehr vorteilhaft.« »Ich denke, wir sollten versuchen, Bela zu finden«, sagte Ana, »damit sie angemessen versorgt ist. Könntest du nicht - 399 jemanden schicken, der nach ihr sieht? Ich würde so gern mit ihr sprechen, Alpin. Es ist beinahe niemand hier, der mir von den alten Zeiten erzählen kann.« Er kniff die Augen zusammen. »Und warum solltest du etwas darüber wissen wollen?« »Es ist nur ... ich nehme an, es hat mit Drustan zu tun.« Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht die plötzliche Wärme verriet, die sie empfand, als sie seinen Namen aussprach. »Mit seiner Krankheit. Ich dachte, seine alte Kinderfrau könnte mir vielleicht erzählen, wie Drustan als Junge gewesen ist. Wenn ich deine Kinder zur Welt bringen soll, muss ich wissen, wie diese Krankheit sich zeigt.«
»Damit du was tun kannst? Sie ersäufen wie schwache Welpen?« Ana wich zurück. »Nein, selbstverständlich nicht. Aber zumindest schon früh den Rat eines Heilers suchen.« »Der beste Jäger in Dornwald kann diese alte Frau nicht finden, Ana. Sie ist verschwunden. Es gibt keine Hütte. Es gibt kein Feuer, von dem viel sagende Rauchfahnen aufziehen. Niemand weiß, wo sie ist, und dieser Wald ist tückisch.« »Oh.« »Was Drustan angeht, so ist seine Geschichte schnell erzählt. Er war schon als kleines Kind anders. Störrisch. Seltsam. Schwierig. Wir konnten ihn nicht hier behalten. Er ging zu unserem Großvater, als er sieben war. Dort wuchs er abgeschieden auf und konnte meine Schwester oder mich nicht in Gefahr bringen. Unser Großvater starb, als Drustan zwanzig war. Er hat ihm das gesamte Land am Träumenden Tal hinterlassen, darunter auch die Gewässer einer engen, geschützten Bucht. Das erwies sich als ausgesprochen dumm, da sich zu diesem Zeitpunkt der Wahnsinn meines Bruders schon sehr deutlich zeigte. Man hat ihn dort in seinem eigenen Haus verwöhnt; es war ein Fehler, ihn gehen zu lassen. Jahre vergingen. Meine Schwester heiratete und - 400 verließ das Haus. Mein Vater starb, und ich wurde hier der Herr. Ich sah Drustan sehr selten, und das war mir nur recht. Ich hatte beinahe begonnen zu glauben, dass mein Leben einem stetigen Kurs folgen könnte; meine Ehe bestärkte nur meine wachsende Überzeugung, dass es so sein würde. Für kurze Zeit war ich glücklich, glücklicher, als ich je gewesen war. Dann kam Drustan hierher, angeblich, um über die Benutzung seines Ankerplatzes durch meine Streitkräfte zu verhandeln. Und es geschah.« Ana zwang sich ruhig zu bleiben. »Er hat deine Frau umgebracht«, sagte sie. »Wegen nichts. Einfach so.« »Einfach so. Er hat Erisa durch den Wald zum Wasserfall verfolgt, wo der Bach in die tieferen Teile des Waldes abstürzt, an einen Ort, wo die Bäume so dicht wachsen, dass es keinen Weg hinein oder heraus gibt. Sie ist auf den Steinen am Rand der Klippe ausgerutscht und gefallen. Einen Herzschlag nach ihrem Sturz war Drustan nirgendwo zu sehen.« »Er ...« Ana verbiss sich die Worte. Er sagt, er kann sich nicht erinnern. »Ich kann nicht verstehen, warum er so etwas tun sollte.« »Du suchst Erklärungen, wo es keine gibt.« Alpin steckte mit einer plötzlichen Bewegung sein Messer ein. »Nur noch eins.« Ana sah, wie Alpin die dichten Brauen mürrisch zusammenzog. Sie musste schnell zu einem Ende kommen. »Wie kommt es, dass Erisa auf dem Weg zu diesem Ort, dem Wasserfall, schneller war als Drustan? Sie war hochschwanger. Er war - nehme ich an - ein körperlich gesunder Mann wie du. Er hätte sie doch sicher einholen können.« »Er wollte sie nicht einholen.« Alpins Ton war bleiern. »Er wollte sie über die Klippe des Wasserfalls treiben. Und genau das hat er auch getan. Bela war in der Nähe, und das war die Geschichte, die sie mir erzählte, bevor sie im Wald verschwand. Drustan hat es nie abgestritten.« - 401 Eine kalte Hand schloss sich um Anas Herz. »Ich genieße es nicht, diese Geschichte zu erzählen«, sagte Alpin ernst. »Aber du hast Recht, da wir heiraten werden, hast du verdient, alles zu hören. Du bist durcheinander, das verstehe ich. Wenn du willst, dass ich ihn wegschicke, sobald wir eigene Kinder haben, werde ich das tun. Es schien angemessen, ihn hier zu behalten. Er ist immerhin mein Bruder und auf diese Weise kann ich ihn besser bewachen.« »Du musst tun, was du für das Beste hältst«, sagte Ana und hörte selbst, wie gekränkt sie klang. Sie verstand es einfach nicht. Wie konnte Drustan zwei Menschen sein, dieser sanftmütige Mann, den sie kannte, und dieser andere, gewalttätig und unberechenbar? Aber warum sollte Alpin lügen? Er sagte etwas, doch sie hatte ihn nicht gehört. »Was war das?« »Ich sagte, mach dir lieber einen ruhigen Tag. Wir wollen doch nicht, dass du bei der Hochzeit müde bist.« »Das ist eine gute Idee, Alpin.« »Wir werden vielleicht heute Abend zusammen essen, nur wir beide.« »Ich freue mich darauf«, log Ana. Was sollte sie tun? Den einfacheren, grausameren Weg gehen und einfach nie wieder mit Drustan sprechen? Nie wieder zu diesem kleinen Hof zurückkehren, diesem Ort des Flüsterns und der Geheimnisse? Oder den Nachmittag benutzen, um mit ihm zu sprechen, ihm zu sagen ... was zu sagen? Dass die einzige Zeugin nicht gefunden werden konnte und sie gezwungen war zu glauben, dass er tatsächlich schuldig war, einfach, weil es keine Beweise des Gegenteils gab? Eins war sicher: Sobald sie verheiratet war, durfte es diese geheimen Gespräche nicht mehr geben, diese wunderbaren Zeiten der Lieder, Geschichten und liebevollen Gespräche, nach denen sie sich so sehnte. Seine Vögel mit ihren leuchtenden Augen und ihren kleinen Geschenken durften nicht mehr zu ihr - 402 kommen. Sie würde ihre Stickmuster auf Hunde beschränken. Und dennoch ... und dennoch liebte sie ihn... da, jetzt hatte sie es ausgesprochen, wenn auch nur in Gedanken: dumm, lächerlich gefährlich und dennoch wahrer als jede Wahrheit. Er war offensichtlich ein Mörder; er hatte Anfälle von wilder Wut, und dennoch war er der einzige Mann auf der Welt, den sie je lieben würde, der einzige Mann, von dem sie wollte, dass er sie berührte, wie ein Mann seine Frau berührt...
Ana schloss die Augen einen Moment und holte tief Luft, dann seufzte sie tief. Sie war ungerecht gegenüber Alpin, schrecklich ungerecht. Er hatte seine Frau und seinen Sohn verloren. Sicher, er war eher rüpelhaft und ein wenig zu bereit, die Faust zu heben, aber alles, was er wollte, war eine weitere Gelegenheit zu einer Familie. Das war vollkommen vernünftig. Man hatte sie nur zu dem Zweck hergeschickt, ihn zu heiraten, und sie hatte sich nicht widersetzt. Wenn sie sich nun in einen anderen Mann verliebt hatte, den unpassendsten Mann, den sie finden konnte, war das ihre eigene Dummheit. Sie durfte Alpins Gelegenheit, glücklich zu werden, nicht für etwas aufs Spiel setzen, das nie geschehen würde, für eine Liebe, die keine Zukunft hatte. Die meisten Frauen heirateten ohne Liebe; die meisten Ehen hatten Bestand. Eine Frau hatte immerhin ihre Kinder und den Haushalt. Toleranz und Freundschaft waren die Grundlagen für eine lebenslange Partnerschaft. Nicht alle konnten sein wie Bridei und Tuala, die all diese Dinge hatten und darüber hinaus wahre Liebe. Aber bei all dem, bei all diesen vernünftigen, praktischen Argumenten, waren es die Gedanken an Drustan, die ihr Herz und ihren Kopf erfüllten. Sie wollte ihn haben, sie brauchte ihn, sie sehnte sich nach ihm. Nichts würde daran etwas ändern, auch nicht ihre Heirat mit seinem Bruder. Die Zukunft, befürchtete sie, würde ihr nicht die gemütliche Häuslichkeit bringen, nach der sie sich einmal -- 403 gesehnt hatte, sondern einen Albtraum gebrochener Versprechen und Herzen. Faolan hatte ein System aufgebaut, das ihn über alles Kommen und Gehen in Dornwald informierte. Es gab einen Helfer im Hundezwinger, der keinen besonderen Grund hatte, Alpin zu mögen, da der Fürst seinen Zorn an ihm ausgelassen hatte, nachdem der Junge einen Welpen gerettet hatte, der nicht das perfekte Exemplar war, das der Fürst für seine Zucht haben wollte. Der Junge hatte die Hündin nicht ertränkt, wie man ihm befohlen hatte, sondern sie insgeheim großgezogen, und nun folgte sie ihm überall hin und liebte ihn abgöttisch. Dovard übernahm es gern, für Faolan den kleinen Ausgang nahe dem Zwinger zu überwachen. Im Gegenzug erwartete er nur, dass man seine Hündin hinter den Ohren kraulte und feststellte, was für ein hübsches Tier sie war. Also hörte Faolan noch vor dem Herrn des Hauses, dass ein gewisser Besucher unerwartet eingetroffen war: ein blasser Mann im Kapuzenumhang mit dem Aussehen und Akzent eines Galen. Dovard kannte den Namen dieses Mannes nicht, er wusste nur, dass er doch schon mehrmals in Dornwald gewesen war und dass niemand außer Alpin oder Dregard wissen sollte, dass er hier war. Der Besucher folgte bestimmten Mustern, sagte Dovard: Er wartete im Gemach des Fürsten und besprach sich mit ihm unter vier Augen, wenn Alpin von seinem Morgenritt zurückkehrte. Später am Tag würde der Mann ungesehen wieder verschwinden. Ein Gäle. Faolan wünschte sich einen Augenblick Kräfte ähnlich denen von Drustan, die ihm gestatteten, sich in eine Fliege oder ein Insekt an der Wand von Alpins Zimmer zu verwandeln und das Gespräch der beiden zu belauschen. Das könnte ihm genau die Informationen verschaffen, die er brauchte, um die Gezeiten zu wenden, um den - 404 Heiratsvertrag als Betrug zu entlarven und Ana aus Dornwald wegzubringen, bevor es zu spät war. Man erwartete den Druiden an diesem Abend. Am nächsten Tag würde Ana Alpins Frau werden, und dann gab es kein Zurück mehr. Kein Zurück ... er wollte nicht zurück, nicht zu diesem Teil seiner eigenen Geschichte, der voller Blut, Entsetzen und unmöglicher Entscheidungen war. Aber der Weiße Hügel bot ihm einen Platz und ein Ziel. Er war jetzt seit mehr als fünf Jahren bei Bridei, und er wusste, dass seine Verbindung zu dem jungen König viel tiefer ging, als er je vorgehabt hatte zu erlauben. Nun stand diese Hochzeit beinahe bevor, und wenn die Dinge verliefen, wie Bridei es wünschte, könnte Faolan in zwei Tagen wieder auf dem Rückweg zum Weißen Hügel sein, um zu berichten, dass der Vertrag abgeschlossen war, dass Ana diesen Rüpel von einem Mann geheiratet hatte und nur die Kleinigkeit des Verlusts seiner gesamten Eskorte einem unzweifelhaften Erfolg ein wenig Abbruch tat. Welche Beweise hatte er denn, um anzunehmen, dass Alpins bereitwilliges Friedensversprechen weniger war, als es schien? Er hatte zwei Monde lang sein Bestes getan, um herauszufinden, was es herauszufinden gab, und dabei gute Arbeit geleistet. Aber alles, was er hatte, waren die Worte eines Mannes, den man für verrückt hielt und der ihm gesagt hatte, dass Alpin seine Entscheidungen ohne Rücksicht auf Verträge fällte, und eine sehr vage Andeutung von Deord, einem Mann, der nur sprach, wann es ihm passte. Das genügte nicht. Bridei brauchte diese Heirat; er musste Alpin auf diese Weise an sich binden. Faolan würde die Handreichung nicht ohne guten Grund aufhalten können. Er brauchte schlüssige Beweise, und er war gezwungen zuzugeben, dass es offenbar keine gab. Er hatte genug Zeit gehabt, die Wahrheit auszugraben, wenn es denn eine Wahrheit gab. Falls Alpin wirklich vorhatte, den König von Fortriu zu verraten, dann - 405 wusste niemand in der Festung davon außer dem Fürsten selbst - das hätte Faolan schwören können. Wenn ein solcher Plan existierte, hatte Alpin ihn sehr geschickt verborgen. Bis jetzt. Ein Gäle, eine geheime Besprechung, eine von vielen. Das musste etwas zu bedeuten haben. Leider konnte selbst der fähigste Spion in ganz Fortriu sich nicht in Alpins Privatgemach schleichen, nicht vorbei an schwer bewaffneten Wachen. Es gab selbstverständlich noch diese andere Tür, die zu den verborgenen Gemächern von Deord und Drustan führte. Faolan dachte an eine Variante der Übung, die er zuvor geplant hatte, ein wenig Mauerklettern, ein Eindringen durch das vergitterte Dach und die Forderung, dass Deord ihm erlaubte, die Gespräche in Alpins Zimmer durch diese kleine Tür zu belauschen. Aber das würde nicht funktionieren.
Alpin hatte an diesem Tag viele Wachen aufgestellt; es wimmelte auf dem Wehrgang nur so vor ihnen. Außerdem würden die Frauen wahrscheinlich am Nachmittag mit ihrer Handarbeit dort oben sein; er konnte sich vorstellen, wie sie reagieren würden, wenn er plötzlich über die Wand ihres geschützten Hofs sprang. Der Plan war zu gefährlich. Es war nicht einmal sicher, dass er von dort drinnen etwas hören könnte. Er fluchte leise vor sich hin und beugte sich vor, um den Hund zu streicheln, der ihn - die Götter allein wussten warum - offenbar mochte. »Sie mag dich«, stellte Dovard fest, der gerade dabei war, das Fleisch für die Jagdhunde zu zerkleinern. In ihrem Gehege an der Rückseite des Zwingers rannten sie umher und winselten voller Erwartung. »Sie duldet mich«, sagte Faolan. »Du bist Sonne und Mond für sie.« »Nun ja.« Es war offensichtlich, dass diese Bemerkung den Jungen erfreute und zugleich verlegen machte. »Sie ist ein guter Hund.« Mit einem Schulterzucken drehte Dovard - 406 Faolan den Rücken zu und ging zum Gehege, wo er von aufgeregtem Bellen begrüßt wurde. Sein eigener Hund stahl heimlich einen Streifen Fleisch von der Platte. Der Blick in ihren Augen bat Faolan, diese schlaue Tat zu loben. »Ich sollte lieber gehen«, sagte Faolan. »Danke für deine Hilfe. Behalte dieses Festmahl im Auge, oder es wird bald nichts mehr übrig sein.« Als er nach draußen in den Haupthof kam, fiel ihm eine weitere Variante seines Plans ein, eine, die nur verlangte, dass Deord mindestens einmal vor der geheimen Besprechung in die Halle kam und wieder in sein Quartier zurückkehrte; das und die Möglichkeit, mit ihm allein zu sprechen. Schlicht, aber wirkungsvoll. Er würde die Informationen erhalten, die er wollte, ohne irgendwen zu gefährden. Und wenn er wirklich vor allem wollte, dass Brideis Vertrag nicht zu Stande kam, sodass die liebreizendste Frau in ganz Fortriu diesen brutalen Wilden nicht zu heiraten brauchte, würde das außer ihm nie jemand erfahren. Es war ein Gedanke, der einem Boten des Königs vollkommen unwürdig war. Welche Zukunft Ana auch bevorstand, der Mann an ihrer Seite würde nicht Faolan sein. Er war niemand, nur ein Werkzeug, das die Aufträge anderer ausführte. Ana hatte ihm gezeigt, dass sein Schutzschild nicht undurchdringlich war; er hatte keine Kontrolle über seine Träume. Aber er hatte immer sowohl seine Worte als auch seine Taten beherrscht und das musste er auch jetzt tun und den Gedanken an die Heirat, den Gedanken an Ana in seinen Hinterkopf schieben. - 407 KAPITEL ELF Der König von Fortriu befand sich in Rabenbrunn, Talorgens Haus am Jungfernsee. Das Wesen ihrer Mission verlangte, dass sie selbst die letzten Spielfiguren waren, die bei diesem großen Kriegsspiel an Ort und Stelle gerückt wurden. Während Talorgen selbst sich Uerbs Angriff zur See auf die Küstenregionen von Dalriada anschloss, würde Ged seine Streitmacht mit der von Morleo zusammentun und insgeheim nach Süden ziehen, um Gabhran zu umzingeln und ihn in seinem Herzland anzugreifen. Die Hauptmasse von Priteni-Kriegern unter Carnachs Befehl war bereits nach Westen gezogen und hatte sich in kleinere Gruppen aufgeteilt. Inzwischen sollten sie ihre Lager in den Hügeln aufgeschlagen haben, bereit, die kleineren Festungen und Siedlungen der Galen zwischen Gabhrans Festung in Dunadd und seine nördliche Grenze anzugreifen. Bridei selbst würde warten, bis alle anderen an Ort und Stelle sein sollten. An einem vorherbestimmten Tag, gezählt von Mittsommer an, würde seine Gruppe nach Galanys Höhe marschieren, sich dort mit Fokels Kämpfern zusammentun und die befestigte Siedlung erneut erobern, in der der junge Bridei vor nun mehr als fünf Jahren seine erste Kampferfahrung gesammelt hatte. Von dort aus würden sie weiter nach Süden ziehen, um sich erst mit Talorgen, dann mit Carnach zu treffen. Das Kontingent von Caitt-Kriegern, die Umbrig - 409 anführte, sollte sich ihnen unterwegs anschließen. Von den Hellen Inseln war niemand erschienen. Brideis Vasallenkönig hatte die Forderung des Königs nach Hilfe ignoriert. Es würde notwendig sein, eine andere Geisel zu nehmen. Dennoch, wenn die Armee von Fortriu Dunadd erreichte, würde sie in der Tat eine mächtige Streitmacht sein. Bridei stand im Hof von Rabenbrunn und schaute zwischen den dunklen Kiefern zu dem kalten Glanz des Jungfernsees hinab. Er schauderte von dem Wissen, dass die Zeit verging, und der Erkenntnis, dass es innerhalb der großen Kreise von Geburt, Leben und Tod und Wiedergeburt andere Kreise gab, andere Wiederholungen. Wenn man daraus nichts lernte, war man zu einem verschwendeten Leben verurteilt. Er hatte einmal hier an der gleichen Stelle gestanden, zusammen mit einem alten treuen Freund, einem Freund, der nicht lange darauf an Brideis Stelle gestorben war. Die Schuldgefühle, die ihm das verursachte, hatte er nie ganz ablegen können. Er hatte Faolan weggeschickt, Faolan, den einzigen Menschen, der vielleicht ein wenig von Donais Platz in seinem Leben eingenommen hatte. Er erinnerte sich daran, wie er mit Faolan über seine Erwartung gesprochen hatte, dass sie Freunde würden, und an die kühle Antwort des Galen, dass es ihm nicht gegeben sei, mehr zu sein als ein Mann, der eine Arbeit erledigt und dafür bezahlt wird. Es war Bridei, der am Ende Recht gehabt hatte, obwohl Faolan das nie zugeben würde. Der Leibwächter hatte den Auftrag, nach Dornwald zu gehen, angenommen, wie ein Diener einen Befehl entgegennimmt. Ihm war deutlich anzusehen gewesen, dass er diese Mission für unter seiner Würde hielt. Bridei fragte sich, warum er Faolan gezwungen hatte zu gehen. Sicher, er hatte dem Galen ersparen wollen, entweder gegen sein eigenes Volk zu kämpfen oder beim Schutz seines Königs
und Arbeitgebers zu versagen. Aber der wahre Grund hatte wahrscheinlich darin bestanden, dass er ihn schützen wollte. Es bestand eine sehr reale Möglichkeit, dass - 410 der Leibwächter des Königs auf dem gefährlichen Kurs, den die Männer aus Fortriu in diesem Herbst nahmen, im Dienst seines Herrn fiel. Vielleicht, dachte Bridei, waren seine Beweggründe vollkommen eigensüchtig gewesen. Er schreckte davor zurück, der Last, die er bereits trug, noch einen weiteren geopferten Freund hinzuzufügen. Dennoch, im Augenblick wünschte er sich, dass Faolan hier wäre. Breth war ein guter Mann, er war stark, und er wusste, was er tat. Auf seine Art war auch er ein Freund. Aber es war der Gäle, der Bridei in seinen schwächsten Stunden, in seinen verwundbarsten Augenblicken gesehen hatte. Wenn sie sich in dieser Männerwelt eines Feldzugs befanden, hatte er Tuala nicht an seiner Seite, die sich seine Ängste und Probleme anhörte und ihm die ernsten, weisen Ratschläge gab, die er so dringend brauchte. Zu solchen Zeiten war es Faolan, dem er sein Herz öffnete, wenn Zweifel und Unsicherheit ihn quälten. Faolans Antworten fielen mitunter eher trocken aus; er schien häufig unfähig zu sein, etwas zu empfinden. Aber man konnte sich darauf verlassen, dass er vollkommen ehrlich war. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass er es als Spion überwiegend mit Tarnung und Heimtücke zu tun hatte. Seinem König gegenüber war der Gäle unbedingt ehrlich. Brideis scharfe Ohren nahmen eine Bewegung weiter unten am Hügel wahr: Jemand näherte sich zu Fuß, zwei oder drei Männer. Breth hatte ein wenig Abstand gehalten, denn er wusste, dass Bridei allein sein wollte. Nun winkte der König ihn zu sich. Zusammen spähten sie im Mondlicht den Hügel hinab, konnten aber nur wenig erkennen. »Es ist spät für einen Boten«, murmelte Bridei. Einen Augenblick später fingen die Hunde an zu bellen, die Wachposten riefen eine Herausforderung, und Stimmen antworteten auf dem Weg unter den dunklen Kiefern. »Boten von Umbrig, dem Caitt!«, rief jemand. »Wir kommen in friedlicher Absicht, Wölfe haben unser Eintreffen - 411 verspätet. Ich heiße Orbenn, mein Kamerad heißt Hargest, und wir stammen beide aus Umbrigs Haushalt. Könnt ihr uns hier Unterkunft gewähren?« »Kommt zum Tor!«, befahl der Wachposten. »Näher. Stellt euch ins Fackellicht. Jetzt lasst die Waffen fallen. Alle Waffen. Dreht euch um. Und jetzt kniet euch hin und rührt euch nicht, bis man es euch sagt.« Das war die übliche Vorgehensweise. Rabenbrunn war nur einen Steinwurf von der Grenze nach Dalriada entfernt, und von dort drangen häufig Spione nach Westen ein. Daher wurden nur selten Besucher ohne Überprüfung in Talorgens Festung eingelassen. Bridei und Breth gingen nach drinnen ins Ratszimmer. Es dauerte nicht lange, bevor die Wachen zwei junge Männer hereinbrachten. Zwei sehr junge Männer. Bridei hätte sie als Jungen bezeichnet, nur dass diese Jungen so groß und kräftig waren, dass man es kaum gewagt hätte, ihre Männlichkeit auf diese Weise zu beleidigen. Sie trugen die kurzen Fellumhänge, die die Caitt bevorzugten, und ihre frischen, bartlosen Gesichter waren bereits mit ersten Kriegertätowierungen geschmückt. Die kunstvollen Einzelheiten des Musters kennzeichneten die Träger sofort als die Leute aus dem Norden, als die sie sich ausgegeben hatten. Einer hatte ein breites Gesicht, breite Schultern und Muskeln wie ein Ochse. Der andere war geringfügig schmaler. Beide sahen kampflustig aus, was ihnen angeboren zu sein schien. Bridei trug kein Anzeichen seiner Stellung, keinen Stirnreif, keinen Halsreif und keine Silberschließe. Dennoch, als sie ihn sahen, neigten beide junge Männer respektvoll die Köpfe. »Herr«, murmelten sie. Es wirkte gut einstudiert. »Es klingt, als hättet ihr einen schwierigen Weg hinter euch«, sagte Bridei. »Habt ihr nicht Wölfe erwähnt?« »Ja, Herr.« Der etwas schmalere junge Mann richtete sich auf und zupfte seine Tunika zurecht. »Ich bin Orbenn aus - 412 dem Haushalt von Umbrig. Ich soll dir seine Botschaft überbringen und dann in sein Lager zurückkehren. Mein Herr sagt, du weißt, wo das ist.« Umbrig hatte also bereits die verabredete Stellung bezogen. »Und dein Freund hier?«, fragte Bridei. »Ist die Botschaft so gewichtig, dass es zwei Männer braucht, um sie abzuliefern?« Er hatte gehofft, die Stimmung ein wenig aufzuhellen, denn der größere der beiden Jungen schien so angespannt, dass zu befürchten war, dass er zerbrach, wenn man ihn berührte. Aber bei der Bemerkung lief er nur rot an, und Bridei bedauerte, was er gesagt hatte. »Ich heiße Hargest«, knurrte der junge Mann. »Ich bin hier ... bin hierher gekommen ...« Er hatte die Fäuste geballt. Seine Augen, von einem ungewöhnlich hellen Blau, waren zusammengekniffen, der Ausdruck feindselig. »Er ist ungebeten mitgekommen«, warf Orbenn ein, was den anderen erbost das Gesicht verziehen ließ. »Ich kann für mich selbst sprechen«, fauchte Hargest. Dann holte er tief Luft. »Ich muss mich entschuldigen, Herr. Ich kann es erklären.« »Dann tu das«, sagte Bridei kühl. »Es ist spät, und wir haben viel zu tun. Du verstehst sicher, dass ein Haushalt
in solchen Zeiten nicht einfach jeden Mann mit offenen Armen willkommen heißen kann, der auf seiner Schwelle auftaucht. Warum bist du hergekommen?« »Ich wollte - ich dachte ...« Der junge Mann sah erst seinen Begleiter an, dann Breth, der vollständig bewaffnet an der rechten Schulter des Königs stand, dann ließ er den Blick über die Bewaffneten schweifen, die ebenfalls im Beratungszimmer saßen. »Ich möchte nicht vor all denen reden«, sagte Hargest schließlich und lief noch röter an. »Hältst du den König für dumm?«, fragte Breth herausfordernd, »Er gewährt vollkommen Fremden keine Privataudienzen, nicht einmal in Friedenszeiten. Und jetzt sag, was du willst, oder wir schmeißen dich raus, und du kannst - 413 dein Glück wieder mit den Wölfen versuchen. Hör auf, die Zeit des Königs zu verschwenden.« »Mein Leibwächter Breth«, stellte Bridei vor. »Was er sagt, stimmt. Aber ich denke, wir sollten euch etwas zu essen geben, während ihr mit uns sprecht. So beeindruckend ihr beide sein mögt, ihr seid hier von den besten Kriegern von ganz Fortriu umgeben, und ich bin sicher, dass man euch alle Waffen abgenommen hat, bevor man euch hereinließ.« Er wandte sich an einen der Bewaffneten, einen Mann aus Pitnochie, der als seine persönliche Eskorte mitgekommen war. »Wir brauchen etwas zu essen für diese Reisenden, bitte kümmere dich darum. Und die Männer sollen ein wenig zurücktreten, damit sie ein bisschen mehr Platz haben.« Sobald sie auf einer Bank saßen und Schalen von Haferbrei mit Hammelfett in den Händen und Bierbechern vor sich stehen hatten, entspannten sich die jungen Männer ein wenig. Orbenns Botschaft war nicht geheim, und er lieferte sie rasch zwischen zwei Schlucken Bier ab. »Mein Herr sagt, er wird dich treffen wie geplant, und wenn du Zahlen hören möchtest, es sind etwa dreihundertzwanzig.« Brideis Augen wurden größer. Dreihundertzwanzig Krieger: Das war eine beträchtliche Streitmacht und unter Umbrigs Führung eine, mit der man rechnen musste. »Danke«, sagte er. »Gibt es sonst noch etwas? Hat er andere Anführer erwähnt?« Es war davon gesprochen worden, dass Umbrig sich mit Fokel von Galany zusammentun sollte, beide hatten Erfahrung darin, Männer und Ausrüstung über scheinbar undurchdringliches Gelände zu bringen. Bridei hatte auch gehofft, dass inzwischen Alpin von Dornwald Teil des Plans sein würde, obwohl er das nicht erwähnen wollte, nicht gegenüber diesen Jungen, von denen er nichts wusste. »Nein, Herr.« Orbenn trank noch einen Schluck. »Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, das ist ein guter Tropfen. Das waren die einzigen Worte der Botschaft. Sprichst du - 414 von Fokel von Galany? Erwartest du, dass er sich dir anschließt?« Unbehagliches Schweigen senkte sich herab. »Für einen Burschen, der noch feucht hinter den Ohren ist«, sagte Breth, »scheinst du viel zu wissen. Wer bist du, dem König solche Fragen zu stellen?« Die Leute sagten, dass man manchmal in der Stimme von Brideis Leibwächter das Kratzen eines Schwertes, das gezogen wird, hören konnte. Das hier war eine solche Gelegenheit. Orbenn erstarrte, den Bierbecher halb erhoben. »Du verstehst sicher«, sagte Bridei, »dass dies Themen für vertrauliche Besprechungen von Fürsten und Druiden sind. Als Bote besteht deine Aufgabe darin, Umbrigs Worte genau zu übermitteln, nicht mehr und nicht weniger.« »Ich weiß«, murmelte Orbenn und stellte den Becher ab. »Es ist also das erste Mal, dass Umbrig dir eine solche Aufgabe anvertraut hat, wie?«, warf Enfret grinsend ein. Er erhielt keine Antwort. Es wäre nicht ganz richtig gewesen zu behaupten, dass der Bote schmollte; bei all seiner Jugend war er eine zu Furcht erregende Gestalt für diesen Begriff. Er schien sich einfach in sich zurückzuziehen. Bridei wartete, bis die beiden sich satt gegessen hatten. Dann schickte er Orbenn mit Enfret weg, um ihnen einen Schlafplatz zu suchen. Hargest bedeutete er mit einem Winken zurückzubleiben. »Und jetzt«, sagte er, »wollen wir hören, was du willst. Du wirst vor Breth hier sprechen müssen; er ist mein persönlicher Leibwächter und bleibt die ganze Zeit bei mir. Glaub mir, die anderen interessieren sich nicht für das, was du zu sagen hast. Wer bist du, und warum bist du hier? Ich will Umbrig nicht erzürnen, nur weil du dir in den Kopf gesetzt hast, ein Abenteuer zu brauchen. Was ist deine Stellung in seinem Haushalt?« »Ich bin ein Krieger.« Das kam trotzig heraus, als erwarte er Spott oder zumindest Zweifel. - 415 »Mhm«, sagte Bridei. »Du hast zweifellos den Körperbau dafür. Du bist also einer seiner Bewaffneten?« Hargest starrte seine Stiefel an. »In gewisser Weise«, sagte er vage. »Warum bist du hergekommen? Schutz für einen Freund? Fühlt ihr euch gemeinsam stärker?« Der Junge antwortete nicht. »Sprich!« Breth verschränkte die Arme und starrte ihn wütend an. »Wenn du keine Erklärung für deine Anwesenheit hier geben kannst, bleibt uns nichts anderes übrig, als dich gefangen zu nehmen, bis wir die Wahrheit herausfinden. Im Augenblick wüsste ich keinen einzigen Grund, wieso wir dir trauen sollen.« Hargest blickte wieder auf. Er hatte sich ein wenig gefasst, aber in seinen Augen stand immer noch Zorn. Er hatte etwas von einem jungen Stier an sich, eine Mischung aus Aggressivität und Unsicherheit. »Ich will arbeiten«, sagte er. »Ich will eine richtige Arbeit, eine, bei der ich mich beweisen kann. Ich will eine
Arbeit wie deine.« Er sah Breth an, der ehrlich überrascht zurückstarrte. »Was hattest du dir denn vorgestellt?« Bridei war hin und her gerissen zwischen Heiterkeit über die Dreistigkeit des Jungen und echter Bewunderung. Als Krieger würde Hargest sicher einer von denen sein, die als Erste angriffen, ungeachtet ihrer eigenen Sicherheit. »Du behauptest, Krieger zu sein - bedeutet das nicht, dass dir Umbrig bereits die Art von Arbeit gegeben hat, die du willst?« Eine Spur von Gefühlen zeigte sich auf den breiten Zügen des Jungen. »Er lässt mich nicht kämpfen«, sagte Hargest. »Ein kleines Gefecht, das war alles, und dann hat er mich zu meiner alten Arbeit zurückgeschickt. Ich kümmere mich um die Pferde.« »Du bist also kein Krieger, sondern ein Stallbursche?« Breth grinste. - 416 »Glaubst du, ich kann nicht kämpfen?«, fauchte Hargest. »Gib mir Gelegenheit, und ich zeige es dir!« »Das wird nicht nötig sein«, warf Bridei ein. »Sag mir, Hargest, wie alt bist du?« Er fragte sich, ob der Junge lügen würde und ob er im Stande wäre, das festzustellen. »Fünfzehn, Herr.« Das war sicher die Wahrheit, obwohl der junge Caitt beinahe so groß war wie Carnach und doppelt so breit. »Und was genau ist deine Position in Umbrigs Haushalt? Ich glaube nicht, dass du uns das schon verraten hast.« »Ich wurde als Pflegesohn hingeschickt, Herr. Ich bin ein Verwandter von Umbrig. Eine Art von Verwandter.« Wieder wurde Hargest rot, was ihn jünger aussehen ließ. »Eine Art von Verwandter. Außerehelich?« Solche Angelegenheiten waren kompliziert, wenn auch weit verbreitet: Männer erkannten ihre außerehelichen Kinder an, gaben ihnen aber selten Land oder andere Vorrechte. Ein Platz im Haushalt wurde allgemein für ausreichend gehalten. »Ja, Herr. Mein Vater ist ein Vetter von Umbrig. Er hat mich gezeugt, als er gerade erst vierzehn war. Als ich sieben war, schickten sie mich nach Sturmklippe. Das hielt man für das Beste, weil er - mein Vater - heiraten wollte. Sie dachten, ich würde stören.« »Ich verstehe.« Bridei, selbst Pflegekind, wusste nur zu gut, welche Einsamkeit, Verwirrung und Trauer eine solche Entscheidung bringen konnte. Von Broichan aufgezogen zu werden, so bewundernswert der Druide auch als Lehrer gewesen war, hatte seinem kleinen Schutzbefohlenen nicht unbedingt eine Kindheit voller Wärme beschert. »Und nun beschäftigt Umbrig dich als Stallbursche?« »Ich mag Pferde«, sagte Hargest schlicht. Zum ersten Mal klang er natürlich, als hätte er für einen Moment seinen aggressiven Schutzschild vergessen. »Ich kann gut mit ihnen umgehen. Umbrig hätte mich nicht zu diesem Unternehmen mitgenommen, wenn das anders wäre. Aber ich bin - 417 noch besser mit einem Schwert, einem Stab oder mit meinen Fäusten, und das ist die Arbeit, die ich tun möchte, Herr. Ich will der beste Krieger im ganzen Norden sein; ich will beweisen, dass ich jeden Herausforderer besiegen kann.« Nun hatte sich der Junge sehr gerade aufgerichtet, und seine Augen blitzten. Bridei zögerte einen Augenblick, denn er bemerkte den echten Mut hinter den kämpferischen Worten. Schließlich sagte er: »Wem möchtest du das beweisen? Deinem Vater?« Hargest schien ein wenig in sich zusammenzusacken. »Vielleicht«, murmelte er. »Ich glaube nicht, dass du seinen Namen schon erwähnt hast«, sagte Bridei. »Alpin«, erwiderte Hargest. »Alpin von Dornwald.« »Ah.« »Du kennst ihn?« »Ich habe von ihm gehört«, sagte Bridei. »Bist du zu ihm zurückgekehrt, da du nun alt genug bist, für dich selbst sorgen zu können? Siehst du ihn oft?« »Nein, Herr. Umbrig sagte, ich könne in Sturmklippe bleiben, und das war es, was ich wollte. Es passt meinem Vater gut. Er zieht es vor, mich nicht zu sehen.« »Tatsächlich? Nachdem du zu einem so fähigen jungen Mann herangewachsen bist?« Breths Tonfall war nicht vollkommen spöttisch. Tatsächlich war dies ein Junge, auf den jeder Vater stolz gewesen wäre. »Er hat seine Gründe.« »Hargest.« Bridei wählte seine Worte sorgfältig. »Du hast Alpins Heirat erwähnt, wegen der man dich zu Umbrig geschickt hat. Ich habe Grund zu glauben, dass er vielleicht wieder heiraten wird, vielleicht sogar diesen Sommer. Hast du davon gehört? Hat man dich vielleicht eingeladen?« »Ha!« Hargest schnaubte verächtlich. »Ich bin der Letzte, den er bei seiner Handreichung sehen möchte. Aber das mit der neuen Frau stimmt. Umbrig wurde eingeladen, aber die - 418 Hochzeit wurde verschoben, und jetzt kann er nicht hingehen, da er unterwegs ist. Ich hoffe, mein Vater hat diesmal mehr Glück.« »Mehr Glück?« »Seine erste Frau wurde ermordet. Getötet von meinem verrückten Onkel. Meine Mutter sagt, auf Dornwald liegt ein Fluch. Über allem dort liegt ein Schatten. Niemand, der noch bei Verstand ist, würde dort bleiben wollen.« Bridei spürte, wie ihm kalt wurde. Er hoffte sehr, dass der Junge übertrieb. Es war ihm schwer genug gefallen, Ana zu einem unbekannten Ehemann zu schicken; er hatte gewusst, dass seine liebenswerte, ehrenhafte Geisel
Besseres verdiente. Er hoffte, dass dieses fluchbeladene Reich von Verrückten nur das Produkt der allzu blühenden Phantasie eines verärgerten jungen Mannes war. »Wo ist deine Mutter jetzt?«, fragte er Hargest. »Wohnt sie immer noch in Alpins Haushalt?« »Nein, Herr. Sie ist kurz nachdem man mich weggeschickt hatte in ihr eigenes Dorf im Westen zurückgekehrt und hat eine Jugendliebe geheiratet. Ich erhalte manchmal Botschaften und schicke ihnen welche. Ich weiß, dass es ihr gut geht.« »Gut«, sagte Bridei. »Und nun sag mir, was wird Umbrig davon halten, dass du einfach verschwunden bist? Wenn dein Freund Orbenn allein mit der Nachricht zurückkehrt, dass du hier bleibst, wird dein Pflegevater dann nicht zornig sein? Wer soll auf dem langen Ritt nach Süden dafür sorgen, dass die Pferde in bestem Zustand sind?« »Es gibt andere Stallburschen, Herr.« »Aber er wird immer noch wütend sein. Du schuldest ihm mehr; er hat dir ein Heim und Sicherheit gegeben.« »Er wird nicht zornig sein, wenn Orbenn ihm sagt, dass du mir eine Stelle unter deinen Männern angeboten hast, Herr.« Das war so dreist, dass Breth den Mund aufriss. Bridei fehlten einen Augenblick die Worte. - 419 »Und was für eine Stellung sollte das sein?« Breth war lauter geworden. »Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, du hast wirklich mehr als ...« »Danke, Breth«, sagte Bridei. »Beantworte seine Frage, Hargest. Du bist offensichtlich ein guter Stallbursche. Aber ich nehme nicht an, dass es eine solche Stellung ist, die du hier suchst. Du musst dich schon genauer ausdrücken.« »Ich möchte dir dienen, Herr.« Hargest verblüffte sie beide, als er sich nun auf ein Knie niederließ. Für einen so großen, kräftigen Jungen war er erstaunlich schnell und hatte fließende, geschmeidige Bewegungen. »Ich möchte als Krieger ausgebildet werden und ich glaube, ich kann von einem solch fähigen Mann wie deinem Leibwächter hier noch viel lernen.« »Du gibst also zu, dass du immer noch etwas zu lernen hast.« Wieder war Bridei zwischen Heiterkeit und Bewunderung hin und her gerissen, denn dieser Junge verfügte schon mit Fünfzehn über eine Sicherheit, die auf eine große Zukunft hinwies, wenn man ihm nur die richtigen Möglichkeiten bot. »Ich bin ein guter Kämpfer, Herr. Gut, aber ungeschliffen; das ist mir klar. Deine Männer könnten mir die Verfeinerung geben, die ich brauche, könnten mich die Tricks des Handwerks lehren. Lass mich bleiben. Lass mich mit deinen Streitkräften in den Kampf reiten.« Bridei betrachtete das gerötete Gesicht, die glänzenden Augen. »Wenn Umbrig wollte, dass du kämpfst«, sagte er, »hätte er dich bei seinen eigenen Kriegern untergebracht.« »Er sieht einfach nicht ein, dass ich jetzt ein Mann bin ...« »Ich nehme an, da irrst du dich. Ich denke, dein Pflegevater will nur, dass du in Sicherheit bist. Er will dafür sorgen, dass du lange genug lebst, um etwas aus deinem Leben zu machen. Pflegeväter sorgen sich um ihre Pflegesöhne, Hargest, obwohl wir das manchmal nicht erkennen.« »Wir?« - 420 »Ich wurde ebenfalls in Pflege gegeben. Aber mein Pflegevater war ein Druide. Das macht es sogar noch schwieriger. Ich war achtzehn, bevor ich in den ersten Kampf zog.« »Darf ich bleiben? Wirst du mich hier behalten?« Breth hüstelte. »Wir werden sehen«, sagte Bridei kühl. »Ihr könnt beide eine Nacht oder zwei hier in Rabenbrunn verbringen. Ich brauche Zeit, um über diesen Vorschlag nachzudenken. Und du musst begreifen, dass du Umbrig ernsthaft beunruhigt hast, als du so davongelaufen bist. Das allein zeigt mir bereits, dass du die Jahre männlicher Reife noch nicht erreicht hast. Nein...«, sagte er, als Hargest, immer noch auf den Knien, zum Widerspruch ansetzte, »es ist wahr, und mit der Zeit wirst du erkennen, was du getan hast. Vielleicht geschieht das erst, wenn du selbst Söhne hast, aber es wird dich treffen wie ein Blitz, glaube mir. Und jetzt steh auf und geh schlafen. Einer der Männer wird dir zeigen, wo. Wir stehen hier früh auf. Sorge dafür, dass du für alles bereit bist, was der neue Tag bringt.« »Ja, Herr.« Hargests Miene war voller Hoffnung, der finstere Blick beinahe verschwunden. »Möge die Leuchtende dir schöne Träume schenken, Herr. Und dir ebenfalls.« Er deutete eine Verneigung vor Breth an, was alle überraschte. »Möge der Flammenhüter dein Erwachen beleuchten«, sagte Bridei und sah dem Jungen hinterher, der von einem Bewaffneten weggeführt wurde. »All diese Muskeln, und er hat sogar Manieren, wenn er sich daran erinnert«, stellte Breth fest. »Dennoch, ich würde an deiner Stelle keine eilige Entscheidung treffen. An dem da ist mehr, als man auf den ersten Blick erkennen kann.« Eine Wagenladung frischer Binsen war eingetroffen, und Faolan sah, dass Gerdic und zwei weitere Diener damit beschäftigt waren, die schmutzigen Überreste der alten Binsen wegzuschaffen, bevor sie die neuen auslegten. Auf den
- 421 Tischen hockten oder lagen mehrere Katzen, schwarz-weiß, getigert, gefleckt, und alle beobachteten die Arbeiten mit gebanntem Interesse. Am anderen Ende der Halle war eine vertraute Gestalt in langem Gewand damit beschäftigt, einen Teil der frischen Binsen mit einem Seil zusammenzubinden. »Braucht ihr Hilfe?«, fragte Faolan Gerdic und sah sich um, um sich zu überzeugen, dass niemand anwesend war, der ihn interessiert beobachten würde. Die Diener waren inzwischen an ihn gewöhnt; er hatte dafür gesorgt, dass man ihn für einen Exzentriker hielt, was zu seinem Bardenberuf passte, und die meisten Männer akzeptierten ohne Staunen, dass er selbst die niedrigsten Arbeiten übernahm, damit der Tag nicht so lang wurde. Es war erstaunlich, welche Informationen die Leute ganz nebenbei preisgaben, wenn sie Fisch ausnahmen, Latrinen gruben oder Brotteig kneteten. Er rollte die stinkende Schicht schmutziger Binsen vor sich her, die Mistgabel in der Hand, und arbeitete sich nach und nach zu Deord vor. Schwärme kleiner Insekten stiegen auf, und er spürte immer wieder Stiche um seine Fußknöchel. Ein Stück weiter hinten fegte Gerdic den gleichen Bereich mit einem Reisigbesen, bevor ein dritter Mann die sauberen Binsen verstreute. Der Grund für die Aufmerksamkeit der Katzen wurde bald ersichtlich: Faolans Mistgabel scheuchte hier eine Maus, dort eine Ratte, dort eine Familie von Käfern hervor, die rasch wieder Deckung suchten. Für die Katzen von Dornwald bot dieser Tag ein Festessen. Als er neben Deord angekommen war, bückte sich Faolan, um einen Klumpen von verrottendem Material aus den Zinken seiner Mistgabel zu lösen, und trug seine Bitte in so wenigen Worten wie möglich vor. »Ein Gäle besucht Alpin heute. Ich brauche einen Bericht.« Deord nestelte an der Schnur um sein Binsenbündel. »Du spielst mit dem Feuer«, murmelte er. - 422 »Ich muss es wissen«, zischte Faolan. »Heute Abend, wenn möglich.« »Du solltest nach Hause gehen. Verschwinde von hier.« Deord hob sich das beträchtliche Bündel auf die breiten Schultern und drehte Faolan den Rücken zu. »Ich tue, was ich kann.« Faolan nahm seine Arbeit mit der Mistgabel wieder auf, während Deord davonging. »Der da ist ein komischer Kerl«, stellte Gerdic fest, der Faolan inzwischen eingeholt hatte. »Seine Arbeit muss die schlimmste der Welt sein.« »Mir fallen ein paar schlimmere ein«, sagte Faolan, kratzte sich am Bein und betrachtete die schmutzigen Spuren, wo die Binsen gegen die weiß gestrichenen Steinmauern stießen. »Was machen wir mit dem Zeug hier, raustragen und verbrennen?« »Das machen die Jungen, wenn wir fertig sind. Hier, nimm du den Besen eine Weile, es ist besser für den Rücken.« »Gerdic?« »Hm?« »Diese Hochzeit... ich soll die Leute beim Essen unterhalten, und damit komme ich zurecht. Aber was ist sonst noch geplant? Wie wird es ablaufen? Das Ritual, dann ein Festessen und dann?« »Frag am besten Orna, es sind die Frauen, die an solchen Festen die meiste Freude haben. Es ist lange her, seit es hier so etwas gab. Alpin hat nichts für Musik, Blumen und festliche Kleidung übrig. Ich weiß, dass die Männer am Morgen feiern, es gibt viel gutes Bier und Sport und Spiele. Und die Frauen haben dadurch Zeit, letzte Hand ans Festessen zu legen und sich ein bisschen aufzuputzen. Am Nachmittag findet die Handreichung statt. Wenn es ähnlich zugeht wie bei der Hochzeit meiner Schwester, gibt es dann Gebete und solche Dinge. Dann werden wir dich brauchen, Faolan. Ich - 423 dachte, du wüsstest über solche Dinge Bescheid. Du musst doch schon öfter auf Hochzeiten gespielt haben.« Faolan fegte weiter. »Ja, sicher«, sagte er. »Aber nicht bei den Caitt. Die Leute hier haben ihre eigene Art.« »Drustan!« »Ana?« »Ich bin ohne Ludha gekommen. Ich wollte mit dir allein sprechen.« Er schwieg einen Augenblick. Es regnete ein wenig; Ana hockte auf den Steinen in dem kleinen Hof und zog sich das Schultertuch über den Kopf. Heute hatte sie nicht einmal angefangen, ihren Arbeitskorb auszupacken. »Es ist der letzte Tag«, sagte Drustan. »Morgen wirst du meinen Bruder heiraten.« Ana hatte einen Kloß in der Kehle, das machte es schwierig zu sprechen. »Ja«, sagte sie. »Der Druide ist hier. Es gibt keinen Grund mehr, es aufzuschieben. Er wird die Bedingungen des Vertrags niederschreiben, und dann werden Alpin und ich ihn unterzeichnen.« Drustan schwieg. »Drustan, ich hatte gehofft... Ich wollte diese alte Frau finden, Bela. Ludha sagte, sie ist vielleicht immer noch im Wald. Ich hatte gehofft, sie würde mir sagen ...« »Was, Ana?« »Wenn wir sie finden könnten ... wenn sie immer noch lebt... ich dachte, sie könnte mir die Wahrheit sagen. Dass du es nicht getan hast. Ich kann nicht glauben, dass du zu so etwas fähig bist, nicht einmal, wenn du dich wenn du dich in einem Zustand befändest, bei dem du nicht wüsstest, was du tust. Aber niemand hat eine Ahnung, wo Bela steckt, und es ist zu spät. Und jetzt muss ich Alpin heiraten, obwohl... obwohl...«
»Sag es mir, Ana. Was ist los?« »Obwohl es mich anwidert, wenn er mich berührt.« Sie - 424 sagte das sehr leise, denn sie schämte sich, es laut auszusprechen. »Ich kann es nicht ertragen, wenn er mich anfasst. Ich weiß nicht, wie ich ... ich weiß nicht, ob ich im Stande bin...« Sie hatte nicht vorgehabt, ihm das zu sagen, ganz besonders nicht Drustan, aber es war trotzdem herausgekommen. »Tu es nicht, Ana.« Drustans Stimme war eindringlich. »Ich muss es tun.« »Er wird dir wehtun. Und ich werde dir nicht helfen können.« Das war nur noch ein Flüstern. »Drustan?« Keine Antwort. »Ich kann dir nicht sagen, was ich wirklich möchte. Aber wenn ich deinen Bruder heiraten muss, wünschte ich, du würdest einfach gehen, wenn Deord dir beim nächsten Mal die Gelegenheit gibt. Lauf davon in den Wald. Verlasse Dornwald, finde anderswo ein Leben. Selbst wenn ... selbst wenn du getan hast, was sie sagen, solltest du nicht dazu verdammt sein, für immer gefangen zu bleiben. Wie kann ich hier leben und wissen, dass du direkt hinter der nächsten Mauer in Ketten liegst? Wenn du die Gelegenheit zur Flucht nutzt, werde ich zumindest wissen, dass du dort draußen frei und glücklich bist, obwohl ich dich nie wieder sehen werde.« Sie schniefte und suchte nach einem Taschentuch. Auf ihren Wangen vermischten sich Tränen mit dem Nieselregen. »Ich wäre lieber in Ketten und in deiner Nähe, mein Herz«, sagte Drustan, »als draußen im Wald frei, aber weit von dir entfernt. Außerdem ...« Nun klang er ganz und gar finster und hoffnungslos, und Ana schauderte. »Außerdem was, Drustan? Du solltest die Gelegenheit ergreifen zu fliehen. Wie kannst du freiwillig ein Gefangener bleiben? Das ist... nun, das ist wirklich Wahnsinn, und bis jetzt hat mich noch niemand davon überzeugen können, dass du den Verstand verloren hast, obwohl sie es zweifellos versuchten.« - 425 »Wenn ich es getan habe ...« Das war das erste Mal, dass sie hörte, wie er auch nur die geringsten Zweifel an dieser Sache äußerte, »dann darf ich nicht wieder frei sein. Wenn ich eine Unschuldige getötet habe, könnte ich auch andere umbringen. Das ist ein Risiko, das ich nicht eingehen möchte.« »Es ist also nicht Liebe, die dich in meiner Nähe hält«, sagte sie, »sondern Angst. Angst vor dir selbst.« »Sag nicht, dass ich dich nicht liebe. Du bist mein Mond und meine Sterne, mein Frühling und mein Sommer, Ana. Das wusste ich vom ersten Augenblick, als ich dich an der Furt sah, so allein, so tapfer. Du bist mein einziger Halt in einer Welt des wirbelnden Chaos.« »Fühlt es sich so an?«, flüsterte sie. »Wirbelndes Chaos? Und dennoch, als ich dich fragte, wie es war ... der Anfall... klang es eher so, als sprächest du von einer Art Reise, ähnlich, wie sie die Druiden in tiefer Trance unternehmen, wenn sie sich von einer Welt zur anderen begeben. Bist du wirklich so unglücklich? Es tut mir Leid, das ist eine dumme Frage. Ein Mann, der so eingeschlossen ist wie du, muss schon darüber halb den Verstand verlieren.« »Unter diesen Umständen bei Verstand zu bleiben, verlangt gehörige Willenskraft. Es hilft, einen Wächter wie Deord zu haben. Solche Männer sind selten. Ana?« »Ja?« »Wenn du sie gefunden hättest - Bela - wenn du sie gefunden hättest, und sie hätte dir erzählt, dass die Geschichte eine Lüge war und dass ich unschuldig bin, wärst du immer noch verpflichtet, meinen Bruder zu heiraten. Hängt nicht dieser Vertrag davon ab?« »Ja«, sagte sie bedrückt. »Aber ...« »Aber was? Sag es mir. Deord wird bald zurückkommen; er ist nur weggegangen, um frische Binsen und sauberes Wasser zu holen.« »Ich sollte so etwas nicht sagen. Aber ich werde es tun. - 426 Wenn ich glaubte, dass die geringste Möglichkeit bestünde, dass wir, dass du und ich... dass es eine Zukunft für uns geben könnte, eines Tages, dann würde ich alles tun, was ich kann, um diese Heirat zu vermeiden. Du weißt, dass ich ihn nicht heiraten will. Vom ersten Augenblick an bin ich vor seiner Berührung zurückgeschreckt und war in seiner Gegenwart misstrauisch. Du weißt, was ich wirklich will.« »Was du wolltest«, sagte er leise, »bis du herausgefunden hast, dass das, was sie über mich sagen, wahr ist.« »Nein!« Ihr Widerspruch kam lauter heraus, als sie wollte, und sie hob erschrocken die Hand an den Mund. Sie hatte beinahe vergessen, wo sie war. »Nein, Drustan. Selbst wenn es wahr ist, selbst wenn du getan hast, was sie sagen, würde das nichts daran ändern, dass ...« »Sprich es aus.« »Dass ich dich liebe. Dass du für mich der einzige Mann auf der Welt bist.« Sie hatte sie endlich ausgesprochen, diese süßen, gefährlichen Worte. »Ah ...«In diesem Seufzen lag mehr Schmerz als Freude. »Ich möchte, dass du Hoffnung hast, Drustan. Hoffnung, dass deine Unschuld bewiesen wird. Hoffnung, dass du wieder in die Welt hinausgehen kannst. Vertraue deiner eigenen Güte, sie leuchtet aus dir heraus.«
»Wenn du meinen Bruder heiratest, werde ich nie wieder Hoffnung haben.« »Es ist zu spät, noch etwas daran zu ändern.« Es regnete nun heftiger, Anas Schultertuch und ihr Haar waren nass, und auf dem Boden bildeten sich Pfützen. »Es gibt keinen Ausweg, nicht, wenn Brideis Vertrag zu Stande kommen soll. Und ich glaube nicht, dass ich wieder hierher kommen und mit dir sprechen kann, Drustan. Ich denke, das hier ist ein Abschied. Ich werde weiter versuchen, die Wahrheit für dich herauszufinden, das schwöre ich ...« »Ana, nein ... tu das nicht...« - 427 »Lebe wohl, Liebster. Habe Hoffnung; gib die Hoffnung nicht auf. Oh, ihr Götter, ich kann das nicht tun, es ist zu grausam...« »Ana...« »Du wirst immer in meinem Herzen sein, jeden Augenblick ... lebe wohl...« Sie hörte nicht, ob er antwortete, denn sie stolperte tränenblind auf die Treppe zu und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Ein Schatten bewegte sich, ein plötzliches dunkles Flackern weiter unten an der Treppe, als huschte eine Gestalt rasch davon. Ana erstarrte. Ein Laut, vielleicht ein verstohlener Schritt auf den Steinen. War jemand da? »Ludha?«, rief sie, als der Regen heftiger wurde, heftig genug, um einen zu ertränken. »Ist da jemand?« Die Treppe war leer. Als Ana nun rasch zum Nähzimmer ging, konnte sie niemanden in der Nähe entdecken, obwohl die Tür halb offen stand, als sie sie erreichte, und sie war sicher, dass sie sie zuvor hinter sich geschlossen hatte. Drinnen waren Orna, Sorala und zwei andere Frauen mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ein paar Katzen lagen aneinander gekuschelt vor dem Feuer, die Atmosphäre war ruhig. »Nicht der beste Tag, um draußen zu sein«, stellte Orna fest und ließ ihren Blick über Anas klatschnasses Schultertuch, ihr triefendes Haar und den vom Wasser dunkel gewordenen Saum ihres Rocks schweifen. »Es hat ganz plötzlich angefangen«, sagte Ana. »Wir hatten schönes Wetter für unseren Morgenritt. So scheint es in dieser Region immer zu sein: Lächeln und dann Tränen. Ich sollte mich lieber umziehen.« »Du hast deinen Arbeitskorb draußen gelassen.« In Ornas Ton lag eine gewisse Schärfe. »Oh - o je, tatsächlich, wie dumm ...« »Keine Sorge, Herrin, ich werde einen Jungen danach schicken. Es war einen Augenblick vorher einer hier, du hast ihn vielleicht gesehen. Und jetzt geh und zieh diese nassen - 428 Sachen aus. Es wäre nicht gut, dich am Tag vor deiner Hochzeit zu erkälten. Du musst gesund und kräftig sein, das wird Alpin am liebsten sein.« Die anderen lächelten wissend, und Ana spürte, wie ihr kalt wurde, ein tiefes, eisiges Gefühl, das überhaupt nichts mit dem Regen zu tun hatte. »Danke«, brachte sie heraus und floh. Wenn Drustans Bruder zu Besuch kam, mussten alle Regeln eingehalten werden. Zu anderen Zeiten legte Deord seinem Schutzbefohlenen für gewöhnlich keine Fesseln an, aber heute blieb ihm nichts anderes übrig. Deord erkannte mit einigem Widerstreben, dass er sich als ehemaliger Gefangener in Felsental verpflichtet fühlte, Faolan den Bericht zu geben, um den er gebeten hatte, obwohl er befürchtete, dass das nichts als Ärger auslösen würde. An einem guten Tag hätte er Drustan lange genug allein lassen können, um diese Besprechung zu belauschen und Faolan zu berichten, um was es gegangen war. Er argwöhnte ohnehin, dass sein Schutzbefohlener eine neue Möglichkeit gefunden hatte, sich des Nachmittags zu amüsieren. Ein- oder zweimal hatte er Spuren eines geflüsterten Gesprächs vernommen, das rasch beendet wurde, als er näher kam; manchmal war ein leises Lied bis in ihr dunkles Quartier gedrungen. Es kam Deord vor, als wäre Drustan in solchen Augenblicken mehr als froh, allein zu sein. Nicht jedoch heute. Deord war zuvor aufgehalten worden, als er die Binsen und ihre anderen Vorräte zurückbringen wollte, denn einer der Bewaffneten hatte seine Ansicht über einen neuen Bogen hören wollen, und als er zurückkehrte, befand sich Drustan in einer sehr heftigen Stimmung, schlug sich die Fäuste an den Steinen blutig und schrie sein Bedürfnis heraus zu ändern, was geschehen war. Es war alles ziemlich wirr, aber der Name Ana fiel mehrmals, und Deord verfluchte abermals das Eintreffen dieser - 429 hochgeborenen Braut und ihres gälischen Schergen, die bei dem Gefangenen so viele vergebliche Hoffnungen geweckt hatte. Tatsache war, dass Drustan sein eigener schlimmster Feind war. Nach sieben Jahren war es für Deord gleich, ob Drustan schuldig oder unschuldig war. Er wusste nur, wenn er noch länger gefangen gehalten würde, würden sie bald einen Punkt erreichen, an dem selbst seine Obhut, sein kontrolliertes Brechen der Regeln, um ihnen diese kurzen Zeiten von Sonne, Licht und Sport zu ermöglichen, und die selteneren Gelegenheiten für dieses seltsame Geschöpf, seine Veränderungen zu vollziehen, nicht genügen würden, um Drustan von der Grenze zwischen seltsamer Begabung und vollkommenem Wahnsinn zurückzuhalten. Er sollte ihn gehen lassen. Er sollte ihn davonfliegen lassen und einfach die Konsequenzen hinnehmen, die zweifellos schrecklich sein würden, denn er kannte Alpin. Er hatte Drustan so gut wie möglich beruhigt, aber es war nicht einfach gewesen. Sie würden keine Gelegenheit erhalten, nach draußen zu gehen, um etwas von dieser schrecklichen aufgestauten Energie bei Kampfübungen oder im Flug zu verbrauchen. Es gab Besucher in Dornwald, und morgen sollte eine Hochzeit stattfinden. Das
hier war nicht der Zeitpunkt, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Drustan schlug jetzt nicht mehr gegen die Steine und versuchte auch nicht, das Eisengitter zu verbiegen, aber sein Blick war starr, sein Gesicht abgehärmt, seine Miene hoffnungslos. Er zitterte am ganzen Körper, und kalter Schweiß glänzte auf seiner Haut. Deord hatte schon Ähnliches bei Tieren gesehen, die in einer Falle saßen und den Tod erwarteten. Er hatte Drustan zuvor nie allein gelassen, solange er nicht zumindest einigermaßen ruhig war. Er erklärte, wieso er wieder gehen musste, und Drustan ließ sich ohne Widerspruch die Fesseln anlegen. Er streckte die Hände aus, während er in die andere Richtung schaute, als zählte das alles nicht. - 430 »Du hast doch sicher nicht geglaubt, dass es je mehr zwischen euch geben könnte«, sagte Deord leise. »Das war von vornherein unmöglich.« Drustan fuhr mit der Geschwindigkeit eines zuschlagenden Raubtiers zu ihm herum, seine Augen hell vor plötzlichem Zorn, die Finger seiner freien Hand klauenartig gebogen, und er schlug nach Deords Gesicht. Die Hand verharrte direkt vor den Augen des Wächters, dann senkte Drustan den Arm. »Ich habe zumindest ein gewisses Maß an Vernunft, selbst wenn du keine hast, Junge.« Deord bemühte sich, so ruhig wie immer zu bleiben. »Ich mache mir Sorgen um dich.« Er betrachtete die Ketten, die Drustans Eisenfessel mit der Steinbank verbanden. »Leider bin ich verpflichtet zu tun, was ich jetzt tun muss. Was wir gemeinsam haben, macht diesen Barden zu einer Art Blutsbruder, und ich muss tun, um was er mich bittet. Es sind wenige genug lebendig aus Felsental entkommen, denn dieser Ort verschlingt Menschen. Wir Überlebenden schulden einander Hilfe, wenn wir helfen können.« »Also geh.« Drustan tigerte nun auf und ab und riss dabei rhythmisch an der Kette. »Du glaubst, dass ich nicht gut für sie bin; du lachst schon über den Gedanken. Du und der Rest der Welt. Sie will, dass ich die Hoffnung nicht verliere und du willst, dass ich die Hoffnung nicht verliere. Und im gleichen Atemzug verdammt ihr mich beide zur Verzweiflung. Geh schon, sonst kommst du zu spät.« »Ich werde das hier ändern müssen.« Deord setzte dazu an, dem Gefangenen die Fesseln wieder abzunehmen. »Ich werde dich nicht an der vollen Kette lassen, nicht so lange Zeit. Willst du drinnen oder draußen sein? Der Regen wird heftiger.« »Das ist mir gleich. Fessle mich, wenn du musst. Glaubst du, ich würde mir dieses Ding um den Hals winden und mir irgendwie ein Ende machen?« »Du hast mich schon zuvor ein paar Mal erschreckt«, sag- 431 te Deord grimmig und schloss die Fesseln auf eine andere Art, sodass die Kette nun kürzer war und Drustan dichter an der Wand bleiben musste. Drustan konnte sich auf die Steinbank setzen und er konnte durch das kleine Fenster schauen. Er konnte sich allerdings nicht weit bewegen und sich auch die Kette nicht um den Hals schlingen. »Es tut mir Leid, Junge.« Als er ging, wandte Drustan ihm den Rücken zu und starrte die Wand an. Ihn zu fesseln war beim fünfzigsten Mal nicht einfacher gewesen als beim ersten Mal und beim hundertsten Mal nicht leichter als beim fünfzigsten. Aber Deord konnte das Risiko nicht eingehen, Drustan frei in ihrem Quartier zu lassen, nicht, wenn er in solcher Stimmung war. Die Vögel hatten sich versteckt, duckten sich so auf ihrem hohen Sims, dass sie kaum zu sehen waren. Alpins Treffen mit seinem gälischen Besucher dauerte länger, als Deord angenommen hatte, und am Ende hatte er einen steifen Hals und ein Vorgefühl drohender Katastrophen in seinem Bauch. Es würde tatsächlich Ärger geben... Ärger für den Barden, Ärger für die Dame, Ärger, der, wie er fürchtete, bald alle hier in Dornwald erfassen würde. Sobald er Faolan Bescheid sagte, würde der Barde sicher einen weiteren Gefallen brauchen, einen, der erheblich schwieriger zu leisten war. Deord fluchte leise, als er zurück durch die Lagerräume und über den verborgenen Pfad zum Gefängnis schlich. Der Barde war in Gefahr. Wenn Faolan mit dieser Situation nicht richtig umginge, würde sein Leben nicht mehr wert sein als ein Stück Stroh auf dem Misthaufen. Sicher, wenn es stimmte, was dieser Bursche Alpin gesagt hatte, verdiente Faolan vielleicht, was er bekommen würde. Aber Deord war verpflichtet, ihm zu helfen. Das Schlimme daran war, dass es keine Möglichkeit gab, ihn zu warnen. Wenn Alpin tat, was Deord erwartete, würde der Barde schon vor dem Abendessen hinter Schloss und Riegel sein. Drustan stand immer noch mit dem Gesicht zur Wand. - 432 Rings um das eiserne Band um sein Handgelenk gab es nun eine breite, nässende Wunde, weil er an der Kette gerissen und die Haut abgeschabt hatte. Überall war Blut. Drustans Augen waren rot, sein Gesicht nass vor Tränen des Zorns. Die Vögel hockten auf seinen Schultern, und ihre leisen Geräusche klangen in den stillen Schatten des dunklen Raums unheimlich. Deord schloss die Fesseln ohne Kommentar auf. »Ich glaube, ich werde deine Hilfe brauchen«, sagte er. »Du musst wieder du selbst sein, Drustan: ruhig und klar im Kopf. Wenn ich dir sage, dass die Dame und ihr Barde in Gefahr sind, wird es dir vielleicht leichter fallen zuzuhören.« »Gefahr? Ana in Gefahr? Was ist geschehen?« Drustan packte Deords Arm, verzog dann das Gesicht und ließ los. »Komm nach drinnen. Ich sollte dir lieber den Arm verbinden. Du musst hören, was ich zu sagen habe. Ich weiß nicht, wie wir ihn warnen können. Aber ich weiß, dass dies hier der einzige Ort ist, an dem er Hilfe finden wird.«
Die Harfe würde wahrscheinlich in den nächsten Tagen mehr Arbeit erhalten als seit Jahren, dachte Faolan, als er in einer Ecke im Hof saß und das Repertoire durcharbeitete, das man für eine Hochzeitsfeier brauchte: fünf oder sechs Balladen, zehn oder zwölf Trinklieder, eine Reihe mehr erzählender Stücke und viele Tänze, obwohl er annahm, dass die Stimme des Instruments in einer Halle voller feiernder Caitt-Krieger und ihrer Frauen kaum zu hören wäre. Feiern. Ana würde keinen Grund zum Feiern haben. Wenn Deord ihm nicht heute, am Vortag der Vertragsunterzeichnung, Neuigkeiten brachte, die er benutzen konnte, um diesen Vertrag als Betrug zu entlarven, würde sie morgen diesen Mann heiraten, und er selbst würde den Tag damit zubringen müssen, die Musik für die Feier zu machen, Musik für Feiernde, Musik für Liebende. Arme Harfe, dachte er und - 433 fuhr mit den Fingern über die Saiten, solch bittere Lügen unterstreichen zu müssen, wenn Musik doch nur für die tiefsten Wahrheiten da sein sollte, den schrecklichsten Kummer, die inspirierendsten mutigen Taten, die größte Güte. Nun, schon bald würde dieses Instrument wieder schweigen, und er würde von hier verschwinden. Es wäre natürlich einfacher, wenn Deord ohne bedeutende Informationen zurückkehrte. Dann wären Heirat und Vertrag besiegelt, und er würde sich auf den Weg machen, um die Nachricht zum Weißen Hügel zu bringen. Eine Art von Erfolg, wenn auch bitter auf der persönlichen Ebene. Die Alternative war schwieriger. Wenn Deord etwas über einen möglichen Verrat erfuhr, welchen nächsten Schritt würde er, Faolan, unternehmen? Der Fürst wollte seine königliche Braut. Sein Blick, seine grabschenden Hände zeigten, dass er zum Teil von schlichter Begierde geleitet wurde; die Achtbarkeit, die Ana ihm brachte, stellte jedoch sicherlich einen größeren Teil des Motivs dar. Sie befanden sich in seiner Festung, bewacht von seinen Männern, umgeben von einer Wildnis, deren Wege, wenn man sie denn so nennen konnte, gefährlich waren und deren Flüsse sicher immer noch Hochwasser hatten. Hinter den Mauern würde er sich weder Pferde noch Ausrüstung verschaffen können. Während er ein mitreißendes Lied vor sich hin summte, arbeitete sein Geist sehr rasch. Er konzentrierte sich intensiv auf seine Pläne und sah Alpins Bewaffnete erst, als sie direkt neben ihm waren und unsanfte Hände auf seine Schulter legten. »Ho ...«, protestierte Faolan, als die Harfe zur Seite flog; es gelang ihm, sie instinktiv zu packen und sich auf die Bank vor sich abzustellen, bevor er hochgerissen wurde. »Was ist denn? Es ist nicht nötig, mir blaue Flecke zu verursachen ...« »Spar dir die Worte, Barde. Der Fürst will dich sprechen. Sofort.« »Aber ...« Es schien angemessen, weiter zu protestieren, - 434 wie es ein schlichter Musiker unter diesen Umständen tun würde, während man ihn ins Haus und die schmale Treppe zu den Gemächern der Familie hinaufzerrte. Es konnte nur eine Erklärung geben: Deord war beim Lauschen entdeckt worden, und als man ihn verhörte, hatte er die Schuld weitergegeben. Was sonst konnte es sein? »Was glaubt ihr, wer ihr ...« Seine Worte wurden von einem festen Schlag auf den Mund unterbrochen, einem Schlag mit einer gepanzerten Faust. Er schmeckte Blut und schwieg. Während sein Kinn brannte, versuchte er sich eine Erklärung auszudenken: darauf bestehen, dass Deord log. Nein, er konnte einen Mann aus Felsental nicht verraten, selbst wenn Deord ihm genau das angetan hatte. Die Wahrheit sagen, oder vielleicht etwas Annäherndes: dass Bridei ihm aufgetragen hatte, mit allen Mitteln herauszufinden, ob Alpin wirklich meinte, was er sagte. Dass Ana nicht gewusst hatte, dass er mehr als ein Barde war. Alpin würde das nicht gefallen, aber es bestand eine gewisse Chance, dass er die Geschichte glaubte. Vier Männer befanden sich in Alpins Gemach: der Fürst selbst, sein Berater Dregard, ein grau gekleideter Druide und ein anderer Mann, blass, unauffällig und in einem Umhang mit Kapuze gehüllt. Faolan konnte die Feindseligkeit im Raum spüren. Auf einen Befehl von Alpin ließen die Bewaffneten ihren Gefangenen los und zogen sich zurück; an der inneren Tür stand bereits ein Mann Wache, die Beine leicht gespreizt, Schwert und Dolch am Gürtel. Faolan machte einen Schritt auf den Tisch zu, an dem die vier saßen. Dort lag ein Pergament, dessen Ecken mit Steinen beschwert waren. Ein Krug und Becher standen auf einem Tablett bereit, aber niemand trank. Alle Blicke waren auf Faolan gerichtet. Ihm wurde kalt, denn die Mienen dieser Männer versprachen nichts Gutes. »Herr«, sagte er kühl, verschränkte die Hände auf dem Rücken und tat sein Bestes, ruhig zu wirken. - 435 »Sprich nicht, bevor du gefragt wirst, Barde«, fauchte Alpin, dessen breites Gesicht rot angelaufen war. »Ich will Rechenschaft von dir, und du solltest lieber aufpassen, was du sagst. Ich will keine Lügen mehr hören.« »Lügen, Herr?« »Halt den Mund. Ich mag deine aalglatte Art nicht. Ich habe dir eine Geschichte zu erzählen, und du wirst schweigen, bis du alles gehört hast. Aber vielleicht kannst du schon erraten, um was es geht.« Faolan schwieg. Er hatte den Mann mit Kapuze nur kurz angeschaut, ein Blick, der ihm den beunruhigenden Eindruck vermittelt hatte, dass er den Burschen schon irgendwo gesehen hatte. »Antworte!«, verlangte Alpin. »Ich kann es nicht erraten, Herr.« »Sag ihm, was unser Gast hier erzählt hat, Dregard. Ich habe keine Lust, es zu wiederholen. Solche Heimtücke widert mich an.«
Dregard räusperte sich. »Wir haben Grund zu glauben ...«, begann er. »Sag es einfach!« Alpin war ungeduldig, seine Stimme angespannt. »Man hat den Fürsten informiert, dass du nicht der Musiker der Dame bist, der sich mit Politik und Strategie nicht auskennt, sondern in Wahrheit in beidem gut geschult und außerdem in anderen Dingen, die mit Musik wenig zu tun haben«, sagte Dregard. »Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten.« Faolans Stimme blieb ruhig. »Fürst Alpin weiß bereits, dass ich Messer schärfen und sie benutzen kann. Ich denke, ich habe auch demonstriert, dass meine Begabung als Musiker zumindest passabel ist. Ich bin ein Barde. Die Dame hat die Wahrheit gesagt.« »Unser Freund hier behauptet, dass du recht weite Reisen unternimmst, vielleicht weitere als andere Angehörige von Brideis Hof.« - 436 Nun wand sich Kälte um sein Herz. Er ließ sich nicht anmerken, wie unruhig er war. »Es gehört zum Handwerk eines Barden, das zu tun«, sagte er. »Ich habe im Lauf der Jahre für viele Herren gearbeitet, sowohl innerhalb von Fortriu als auch anderswo.« »Und nun arbeitest du für Ana.« Alpin stand auf, verschränkte die Arme und bedachte Faolan mit einem durchdringenden Blick. »Ja, Herr. Selbstverständlich werde ich nach der Hochzeit wieder...« »Schweig! Ich will dir eine Geschichte erzählen. Es geht um einen jungen Mann, der sich als das eine ausgab und tatsächlich etwas ganz anderes war. Ein Mann, dessen Begabung als Barde ihm eine gute Ausrede lieferte, um sich in die Hallen von Königen und Fürsten und Druiden einzuschleichen. Ein Mann, der von der Person, für die er arbeitete, gut bezahlt wurde, ob das nun der junge König von Fortriu oder eine schöne Dame war, die Musik liebte und sich als Geisel am Weißen Hügel aufhielt.« Faolan schwieg. Also nicht Deord, es musste von dem Mann mit der Kapuze gekommen sein, der laut Dovard ein Gäle war. Ein Spion. Ein Mann wie er selbst, der sich gekonnt im Hintergrund hielt. Vielleicht konnte nur einer seiner eigenen Art den anderen entlarven. Er überlegte, wie er antworten sollte. »Du bist also Gäle, Musiker und Spion. Bridei hat dich mit gewissen Anweisungen hierher geschickt. Nun gut. Das schadet niemandem, sagst du, vielleicht hast du ein wenig gelogen, aber die Dame ist hier, der Vertrag bereit zur Unterzeichnung«, Alpin deutete auf das Pergament, »und dann kannst du dich auf den Weg machen. Du hast deine Aufgabe erfüllt, ich habe meine Braut, Bridei hat seinen Vertrag und niemand hat den Schaden.« Erwartungsvolles Schweigen senkte sich herab. Faolan räusperte sich, versuchte aber nicht zu sprechen. - 437 »Vielleicht hast du auch, während du meine Gastfreundschaft genossen hast, noch ein paar Informationen gesammelt«, sagte Alpin, »Truppen, Bewaffnung, Pläne ... Jeder Spion, der sein Geld wert ist, würde diese Gelegenheit nutzen.« Faolan wahrte eine ausdruckslose Miene. Das war eine Fähigkeit, die er schon lange bis zur Perfektion geübt hatte. »Aber es gibt noch einen anderen Teil dieser Geschichte«, fuhr Alpin fort. Seine Haltung erinnerte in ihrer Intensität an eine Wildkatze, die kurz davor ist, zuzuschlagen. »Man hat dich vor nur ein paar Monden in Dunadd gesehen. Ich dachte schon, dass du mich an jemanden erinnerst, doch es brauchte meinen Freund hier, der mich darauf hinwies, wer das war. Es gibt beim Clan Uinill einen Adligen, der dir mehr als nur flüchtig ähnelt. Dieser Mann hier«, er nickte zu dem Galen mit der Kapuze hin, »sah euch mehr als einmal im vertraulichen Gespräch. Die Ähnlichkeit ist groß genug, um Blutsverwandtschaft vermuten zu lassen: Vettern vielleicht, oder Onkel und Neffe. Ich würde schließen, dass du dich schon öfter in Dunadd aufgehalten hast und für Informationen, die du deinen Landsleuten brachtest, gut bezahlt wurdest. Informationen, die nur ein Mann weitergeben kann, der König Bridei sehr nahe steht. Mit den Ui Neill verwandt zu sein, macht dich zum Verwandten des Königs von Dalriada, Barde. Es macht dich zu Brideis geschworenem Feind. Silber von den Ui Neill zu nehmen, macht dich zu einem Verräter.« Das Wort hing in der Luft wie ein Peitschenknall. Dass es eine Lüge war, machte es nicht weniger schmerzhaft. So verrückt es sein mochte, Faolan musste als Erstes daran denken, dass der Kapuzenmann einen Glückwunsch verdiente. Er hätte nicht geglaubt, dass selbst der fähigste Spion der Welt ihn entlarven könnte. Er hatte seine Spuren so sorgfältig verwischt. »Ah«, sagte Alpin mit einem wilden Grinsen, »zumindest fällt dir jetzt nichts mehr ein.« - 438 »Das stimmt nicht, Herr.« Aus einem tiefen Reservoir der Kraft kamen höfliche Worte und ein kühler Tonfall. »Ich hatte die Bindungen der Verwandtschaft bereits durchtrennt, bevor ich mein Heim vor Jahren verließ. Ich verfüge über keine Blutsverbindungen. Wenn dieser Mann dich etwas anderes glauben ließ, hat er sich geirrt.« »Du streitest also ab, dass du im Frühjahr am Hof von Dalriada warst? Mein Freund hier ist sehr zuverlässig. Er hat mich noch nie zuvor betrogen.« »Dann kannst du dich wahrhaft glücklich schätzen«, sagte Faolan. »Falsche Informationen zu vermitteln gehört zur Aufgabe eines jeden Spions. Sein Talent zeigt sich darin, wie schlau er diese Falschinformationen nutzen kann.« Alle schwiegen einen Moment.
»Darf ich eine Frage stellen?«, wagte sich Faolan vor. Alle sahen ihn an. »Warum ist dieser Mann hier?« Er nickte zu dem grau gekleideten Druiden hin, der ruhig zuhörte und den Kopf dem einen oder anderen Mann zuwandte, wenn er sprach, die alten Augen glitzernd vor Interesse. »Als unparteiischer Zeuge«, sagte Dregard. »Du solltest froh über seine Anwesenheit sein, Barde, denn es bedeutet, dass ein wahrhaftiger Bericht über dieses Treffen anderswohin überbracht werden kann, ohne dass jemand verdächtigt wird, die Tatsachen verdreht zu haben.« »Anderswohin überbracht. Was meinst du damit?« »Wo sollen wir anfangen?« Alpin spreizte die Finger, als wollte er die ganze Welt ergreifen. »Vielleicht mit Bridei?« Denk nach, befahl sich Faolan. Wie konnte er dies zu einer nützlichen Gelegenheit machen, wie konnte er die Kontrolle an sich reißen, damit er eine Chance erhielt, Ana wegzubringen? Wie konnte er genau herausfinden, um was es hier ging, und es für seine eigenen Zwecke nutzen? Es war, als balancierte man auf einem dünnen Seil. Er musste vorsichtig vorangehen, musste alle Erfahrung nutzen, über die - 439 er verfügte, denn Alpin war zornig, seine Augen waren wie die eines wilden Ebers. Doch es musste noch etwas anderes geben, was diesen Zorn hervorrief, etwas, worüber sie noch nicht gesprochen hatten. »Selbstverständlich«, sagte er schließlich zu ihm, »hat jeder Anführer, der sein Geld wert ist, in solch unruhigen Zeiten einen fähigen Informanten. Deiner hat mir offenbar etwas voraus, Herr. Interessant, dass er ebenfalls ein Gäle ist.« »Ah«, stürzte sich Dregard sofort darauf, »du kennst ihn also.« »Selbst Schweigen kann zu denen sprechen, die wissen, wie man es interpretieren muss.« Der Druide nickte bei diesen Worten, er schien ihm zuzustimmen. »Sag mir eins«, forderte Alpin und setzte sich wieder hin, »warum ist ein Mann, der alle verwandtschaftlichen Verbindungen durchtrennt hat, so gierig nach Silber, dass er sich von zwei Herren gleichzeitig bezahlen lässt? Ich wette, es gibt irgendwo eine arme, alte Mutter und eine verarmte Schwester oder zwei, die eine Mitgift brauchen. Oder bist du die praktischerweise auch alle losgeworden?« Glühender Zorn stieg in Faolan auf, und er warf sich ohne weiter nachzudenken auf den Fürsten. Einen Augenblick später lag er auf dem Boden, sein Kopf dröhnte von einem Schlag, die Rippen schmerzten von einem Tritt, und zwei Bewaffnete beugten sich über ihn. Die Schmerzen waren eine Kleinigkeit im Vergleich zu der Erkenntnis, dass er in all den Jahren, seit er von zu Hause weggegangen war, nie derart die Beherrschung verloren hatte. Er konnte sich keinen weiteren Irrtum leisten. Nicht nur sein eigenes Leben hing davon ab. »Ich habe offenbar eine empfindliche Stelle getroffen«, sagte Alpin und klang ehrlich überrascht. »Wirklich gute Spione sollen eigentlich keine haben. Vielleicht lässt du nach, Gäle. Steh auf und wisch dir das Blut ab, denn es läuft - 440 dir ins Auge. Wir können nicht zulassen, dass unser Barde sich das hübsche Gesicht verdirbt; immerhin wird hier morgen eine Hochzeit stattfinden. Und jetzt gib mir einen guten Grund, wieso ich dich nicht anketten sollte wie einen Hund und dann einen Boten zu Brideis Hof schicken, der ihm mitteilt, dass die makellose Braut, die er mir geschickt hat, von einem stinkenden Verräter begleitet wurde, der sich sowohl von Fortriu als auch von Dalriada bezahlen lässt? Warum sollte ich das nicht tun? Ich stehe kurz davor, einen Vertrag zur Unterstützung dieses Königs zu unterzeichnen - dort liegt er vor dir und wartet nur auf mein Zeichen und das der Dame.« Alpin fing offenbar an, an der Sache Spaß zu haben, dachte Faolan, zornig oder nicht. Er musste sich seiner Autorität sehr sicher sein, wenn er so etwas sagen konnte, während ein gälischer Spion neben ihm an seinem Ratstisch saß. »Ich sehe, wo du hinschaust«, sagte der Fürst von Dornwald und verzog höhnisch die Lippen. »Ich erinnere dich daran, dass heute nicht nur ein Gäle bei uns ist, nein, es sind gleich zwei. Und einer von ihnen ist ein Diener zweier Herren. Bin ich es Bridei nicht schuldig, ihn vor dir zu warnen und dich aufzuhalten?« Irgendwo in Faolans Kopf schlug ein Hammer auf einen Meißel. Ihm wurde schwindlig; die Kerzenflammen tanzten. »Ich habe eine Antwort für dich, Herr. Aber es ist eine, die ich dir lieber unter vier Augen geben sollte.« »Ha!« Alpin zog ungläubig die Brauen hoch, und Dregard lachte laut. »Das denke ich nicht, mein guter Freund. Diese tanzenden Finger, die du hast, sind schnell genug mit einem Messer, um so etwas ausgesprochen unklug erscheinen zu lassen.« »Lass mich von deinen Männern fesseln, wenn du willst. Behalte einen Bewaffneten hier, wenn es sein muss, solange du dich darauf verlassen kannst, dass er den Mund hält; - 441 du willst vielleicht nicht, dass einer deiner Männer hört, was ich zu sagen habe. Ich werde nicht vor dem Galen sprechen, und auch nicht vor dem Druiden und oder deinem Berater dort.« »Es steht dir nicht zu, Bedingungen zu diktieren ...«, zischte Dregard. »Fürst Alpin ist ein fähiger Mann«, sagte Faolan leise. »Wie jeder gute Anführer weiß er, wie wichtig die Zeitfrage ist. Und dass man Gelegenheiten ergreifen muss, wenn sie sich bieten. Bindet meine Hand- und Fußgelenke. Ich bin nicht so begabt, dass ich durchs Zimmer fliegen und einen Mann mit den Zähnen angreifen
kann.« Er hatte das Glitzern in Alpins Augen gesehen, das Begreifen, dass ihm hier etwas angeboten wurde, das er vielleicht nicht ausschlagen sollte. »Der Druide bleibt«, sagte Alpin. »Er ist meine Sicherheit, was die Dame angeht. Ihr anderen geht. Ja, auch du, Mordec, nachdem du diesen Mann sicher verschnürt hast. Goban, du stellst dich vor die Tür und lässt niemanden rein.« Dregard führte den Mann mit der Kapuze unter leisem Murmeln nach draußen, während die beiden Krieger Faolans Arme etwas fester, als notwendig gewesen wäre, hinter seinem Rücken fesselten und ihm ein Seil um die Fußknöchel schlangen. Er versuchte zu witzeln, sagte, er hoffe, sie könnten diesen Knoten auch wieder lösen, und wurde mit einem Schlag gegen die Kniescheibe belohnt, der seine Augen feucht werden ließ. Die Tür schloss sich hinter ihnen. Der Druide saß weiterhin ruhig am Tisch und betrachtete das Geschehen mit höflicher Aufmerksamkeit. »Also los«, sagte Alpin. »Ich erwarte kein Geständnis, denn ich denke, wir wissen beide, dass die Worte meines Informanten der Wahrheit entsprechen und dass du dich daher in einer ungünstigen Position befindest. Weiß Ana etwas? Ist sie eine Komplizin deines Verrats?« Faolan wurde kalt. Als Alpin Anas Namen aussprach, lag - 442 etwas in seinem Ton, das ihn wirklich ängstigte. Wenn dieser siedende Zorn ihr galt, obwohl sich Faolan keinen Grund dafür vorstellen konnte, war es noch viel wichtiger, sie von hier wegzubringen, als er bisher geglaubt hatte. »Sie weiß nichts«, sagte er ruhig. »Sie hat nichts Böses getan. Du beleidigst sie, wenn du...« »Halt den Mund, Barde. Und bleib bei den Tatsachen. Die Dame ist erheblich weniger unschuldig, als du so rührenderweise glaubst. Ana hat mich sehr, sehr zornig gemacht. Ihr Verhalten ist nicht nur heimtückisch und schlecht beraten, sondern grenzt an Unzüchtigkeit. Kaum etwas, das ich am Vorabend meiner Hochzeit zu entdecken wünschte, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich einem doppelgesichtigen Spion in meinem Haushalt Zuflucht gewährt habe. Und dennoch tut sie so jungfräulich, sie hatte mich vollkommen überzeugt. War das nur ein Trick, um mich abzulenken und in die Irre zu führen, bis ich in der Hochzeitsnacht entdeckte, dass Bridei mir eine Frau geschickt hat, die alles andere als unschuldig ist? Wie? Was sagst du dazu? Du bist allein mit ihr unterwegs gewesen. Vielleicht hatte ich Recht mit meinen Vermutungen, als ich euch begegnete. Vielleicht hast du die Ware selbst geprüft.« Atme langsam, denke an morgen. »Nein, Herr. Ana ist vollkommen unberührt, da bin ich sicher. Was du da andeutest, ist eine Beleidigung.« Es gelang Faolan, äußerlich ruhig zu bleiben. Er durfte die Beherrschung nicht noch einmal verlieren. »Wir werden sehen, was sie dazu zu sagen hat. Sie ist sich offensichtlich nicht zu gut für ein wenig Täuschung und Hinterlist. Aber ich werde solche Neigungen schon aus ihr herausprügeln, wenn es sein muss. Ein Mann, der seine Frau nicht kontrollieren kann, ist kein Mann. Also, Gäle, genug geredet. Was war so wichtig, dass es nicht einmal mein engster Berater erfahren darf? Und was ist es, das mein Freund aus Dalriada nicht hören sollte?« - 443 Faolan bemerkte, dass er zitterte, und befahl sich aufzuhören. »Du hast mir eine Geschichte erzählt«, sagte er. »Jetzt möchte ich dir eine erzählen. Es ist deinem Freund aus Dalriada gelungen, tatsächlich ein paar Tatsachen über mich herauszufinden. Aber ich kann es besser.« »Das kann ich dir nur raten, Gäle. Es wäre nicht schwer für mich, dich einfach verschwinden zu lassen. Ich könnte deiner Herrin sagen, dass du beschlossen hast, früher zum Weißen Hügel zurückzukehren. Die Wege in dieser Region sind berüchtigt und Reisende verschwinden immer wieder. Also, sprich.« »Es geht um einen Mann, der das Glück hatte, gleich zwei Territorien zu beherrschen, beide in ausgesprochen günstiger Lage. Auf der einen Seite befand sich, wenn man von ein paar Nachbarn absah, das Königreich von Fortriu, und auf der anderen Dalriada. Die Ländereien dieses Mannes lagen zwischen beiden und schlössen einen sehr nützlichen Ankerplatz ein, tief geschützt und mit hervorragendem Zugang zu den Ufern des von den Galen besetzten Landes. Kein Wunder, dass mächtige Anführer ihn mit Geschenken umwarben: Silber, Vieh, eine Frau, aber nicht irgendeine Frau, sondern eine Braut, die ihm eine erstaunliche Möglichkeit bieten würde, denn durch sie konnte er Vater von Königen werden. Alle wollten sich mit ihm anfreunden.« »Beeil dich«, sagte Alpin, aber er beugte sich vor, hatte die Augen zusammengekniffen und lauschte angespannt. »Er musste sich entscheiden«, sagte Faolan. »Ein Krieg stand bevor, er musste sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Ein Informant kann sich sowohl von Galen als auch von Priteni bezahlen lassen, es gehörte zu dieser Art von Tätigkeit, kein Gewissen zu haben. Ein Fürst jedoch muss Bündnisse schließen. Wie sollte er sich entscheiden? Eine Seite bot ihm eine königliche Braut. Die andere bot etwas, das für ihn ebenso wichtig war: die Möglichkeit, sich mit denen zu verbünden, von denen er glaubte, dass sie frü- 444 her oder später nicht nur Dalriada, sondern das gesamte Priteni-Land erobern würden. Sie verlangten, seinen Ankerplatz als Einzige nutzen zu dürfen. Sie wünschten die Unterstützung seiner beträchtlichen Streitmacht, die im ganzen Norden gerühmt wurde. Der andere Anführer verlangte von ihm nur ein Zeichen auf einem Pergament.« Er hielt inne. Er hatte einen gefährlichen Kurs eingeschlagen, basierend auf Spekulationen, Gerüchten und seiner eigenen Einschätzung über Alpins Vorlieben. Warum sollte dieser Anführer ihm auch nur im Geringsten vertrauen?
»Das glaubst du?«, fragte Alpin, rieb sich den Bart und runzelte die Stirn, nun eher konzentriert als zornig. »Dass die Galen einmal den gesamten Norden beherrschen werden? Wir von den Caitt würden unsere Territorien niemals aufgeben. Ein Bündnis ist eine Sache, anderen die Herrschaft zu überlassen etwas anderes.« Es war, als spräche er mit Dregard oder einem anderen Berater. Der Druide verlagerte ein wenig das Gewicht, als wollte er sie an seine Anwesenheit erinnern. »Ich bin zu der Ansicht gekommen«, erklärte Faolan, »dass Gabhrans Ehrgeiz sich nur bis zu der nördlichen Grenze von Fortriu erstreckt und nicht darüber hinaus. Es würde mich überraschen, wenn er von dir und den anderen Fürsten mehr erwarten würde als Hilfe gegen Bridei. Sie werden selbstverständlich die Wasserwege am Träumenden Tal benutzen wollen. An deiner Stelle würde ich mir wegen einer möglichen Gefahr für deine Territorien keine Gedanken machen. Der Ruf, den die Caitt genießen, macht das sehr unwahrscheinlich.« Er fügte nicht hinzu, dass es in diesen Territorien nur weniges gab, was sie für einen Eindringling interessant machten, es sei denn jemand wollte sich unbedingt in wegloser Ödnis verlaufen. »Was die andere Angelegenheit angeht, ja, früher oder später wird Dalriada siegen. Davon bin ich vollkommen überzeugt.« Es war ein Argument, dass er am Hof von Dunadd - 445 häufig und ein- oder zweimal auch anderswo gehört hatte. Tatsächlich war er nicht dieser Ansicht, aber er wusste, wie man sie überzeugend vortrug. »Gabhrans Leute haben sich bereits im Südwesten von Fortriu niedergelassen, die pragmatischeren unter den einheimischen Stammesführern haben sie aufgenommen. Sie bebauen dieses Land und zeugen Kinder mit Priteni-Frauen. Wenn sie nicht zu Gabhrans Zeiten weiter das Tal hinaufziehen, dann werden sie es unter seinem Nachfolger tun oder unter dem nächsten Mann. Bridei erkennt das nicht. Er ist ein leidenschaftlicher Anhänger der alten Götter«, hier nickte Faolan dem Druiden beschwichtigend zu, »denn er wurde immerhin von einem Druiden aufgezogen. Er sieht nur den Tag, an dem Fortriu wieder vereint dem Weg seiner Ahnen folgt.« Die Worte schmeckten bitter, wie ein Verrat, selbst wenn es Brideis Arbeit war, die er hier leistete. »Interessant«, stellte Alpin fest. »Und widersprüchlich. Solche Worte klingen kaum wahr von den Lippen eines Mannes, der vor noch nicht allzu langer Zeit ausführlich und offenbar sehr überzeugend das Loblied des Anführers gesungen hat, den sie ... wie nennen sie ihn noch?« »Das Schwert von Fortriu. Du vergisst dabei vielleicht, dass ich ein Barde bin, und zwar ein guter. Es gehört einfach zu meinem Beruf, jeden meiner Schirmherren zu einem Helden zu machen.« »Du tückische kleine Kröte«, sagte Alpin. Aus seinem Tonfall ging nicht so recht hervor, ob er Abscheu oder Bewunderung empfand, vielleicht war es beides. »Ja, Herr.« »Also fahre fort. Wo soll das hinführen? Vergiss das Geschichtenerzählen. Wenn du mir etwas anzubieten hast, sag es klar und deutlich.« »Herr, ich bin vollkommen deiner Gnade ausgeliefert. Ich befinde mich in deinem Gewahrsam und bin verschnürt wie ein Brathähnchen. Als wäre das noch nicht Nachteil - 446 genug, wurde das Geheimnis meines Verrats auch deinem Berater und diesem Druiden offenbart. Morgen wissen es wahrscheinlich schon viel mehr Leute. Du könntest, wie du gesagt hast, einen Boten zum Weißen Hügel schicken und Bridei wissen lassen, dass nicht nur der Vertrag unterzeichnet und die Dame verheiratet ist, sondern dass auch einer seiner Leute vorhatte, ihm ein Messer in den Rücken zu stoßen, um es einmal auf diese Weise auszudrücken. Es ist klar, dass du bei dieser Konfrontation über sämtliche Waffen verfügst.« Spüre deine eigene Macht, forderte er Alpin in Gedanken auf. Genieße meine Unterwürfigkeit. Sei überzeugt, dass du mich vollkommen beherrschst. Dann werde ich dir einen Grund geben, mich gehen zu lassen. Alpin wartete. »Ich habe dir meine Ansichten über die Zukunft dieser Region mitgeteilt.« Faolan wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Du hast so etwas natürlich schon aus anderen Quellen vernommen. Du hast erwähnt, dass ich dich an jemanden erinnere. Könnte es sein, dass du selbst einmal den gälischen Hof von Dunadd besucht hast? Mit welchem Ui-Neill-Fürsten hast du dich getroffen? Mit dem Schwarzen Conor? Fionn, den man die Geißel des Nordens nennt? Mit Ruaridh dem Älteren von Tirconnell? Du hast vielleicht das Ohr all dieser mächtigen Clanführer. Oder ist es möglich, dass ich über Informationen verfüge, die dein zahmer Gäle nicht weitergegeben hat?« Alpin räusperte sich laut. Er war rot geworden. »Der Mann hat gute Arbeit geleistet, Herr. Aber ich bin der Beste meiner Art. Gestatte mir, es dir zu beweisen.« »Ich denke«, sagte Alpin, stand auf und legte dem Druiden die Hand auf die Schulter, »dass wir dich jetzt nicht länger aufhalten müssen, Berguist. Du hattest einen anstrengenden Weg hierher, und morgen wirst du viel zu tun haben. Goban!« Die Tür ging auf, der Bewaffnete schaute herein. »Führe - 447 meinen druidischen Gast in die Halle hinunter und sorge dafür, dass man ihm etwas zu essen und zu trinken gibt.« Und als Goban zum Widerspruch ansetzte: »Mir droht hier keine Gefahr, es sei denn, ihr Jungs könnt keine anständigen Knoten mehr binden. Wenn du fertig bist, komm zurück und warte draußen vor der Tür, bis
ich dich rufe.« Und als er und Faolan allein waren, fuhr er fort: »Ich kann es kaum glauben. Du hast tatsächlich die Dreistigkeit, mir deine Dienste anzubieten, nachdem du mit der Eskorte der Dame hierher gekommen bist.« »Ja, Herr.« Der Fisch knabberte am Köder; jetzt musste man ihn sehr vorsichtig weiter verlocken. Faolan zwang sich, langsam zu atmen. Die Fesseln taten inzwischen ziemlich weh; die Bewaffneten hatten nicht auf die Bequemlichkeit des Gefangenen geachtet. Einen kurzen Augenblick musste Faolan an Drustan und seine Eisenfesseln denken. »So seltsam das klingen mag, ich lege gewissen Wert darauf, am Leben zu bleiben.« Alpin hatte seine Fassung wiedererlangt; er setzte sich hin und trank einen Schluck Bier. »Ich nehme an, du hast inzwischen eine beträchtliche Menge an Silber gespart; deine beiden Herren bezahlen dich doch sicher nicht schlecht, wenn du wirklich so gut bist, wie du sagst. Was, wenn ich mir nicht leisten kann, was du anzubieten hast?« »Der Preis ist nicht zu hoch. Ich will mein Leben und meine Freiheit. Schicke mich zurück zum Weißen Hügel, wie es alle erwarten. Dann werde ich Bridei sagen, was du willst, dass er hört. Ich werde ihm deine Worte korrekt übermitteln.« Er erwähnte nicht, dass Bridei, wenn er am Weißen Hügel eintreffen würde, wahrscheinlich längst aufgebrochen sein würde. »Warum sollte ich dir trauen? Welchen Grund dafür sollte ich haben?« Faolan lächelte. Das war etwas, das er selten tat und stets mit Berechnung. »Sobald ich dir gesagt habe, was ich weiß, - 448 wirst du wissen, dass ich nicht lüge. Ich stehe Bridei näher, als du dir vorstellen kannst; er leiht mir sein Ohr, und ich erfahre von all seinen Plänen. Er hält mich für einen seiner engeren Freunde und das schon seit fünf Jahren. Du kannst diese Informationen benutzen, wie du willst: um deine Verbindung mit Gabhran zu verstärken, oder du kannst sie im Augenblick auch einfach für dich behalten, um sie irgendwann zu benutzen, wenn du sie brauchst. Der Vertrag bleibt bestehen. Ich nehme an, er wird unterzeichnet werden. Da du offenbar selbst einen zahmen Galen hast, frage ich mich allerdings, ob du vorhast, ihn zu erfüllen.« »Bei den Eiern des Flammenhüters!« Alpin starrte ihn an. »Was versuchst du hier zu tun, Barde, willst du dafür sorgen, dass du auf der Stelle hingerichtet wirst?« »Es liegt im Wesen meines Handwerks, hin und wieder ein Risiko einzugehen, Herr«, sagte Faolan kühl. »Was ist mit der Dame? Ich hätte schwören können, dass deine Ergebenheit ihr gegenüber echt war. Und jetzt tust du sie ohne jeden weiteren Gedanken ab?« »Ana ist eine Handelsware von hohem Wert. Ich habe sie intakt hier abgeliefert. Ich habe meinen Auftrag ausgeführt. Bridei kann sie wohl kaum zurückverlangen, nachdem sie erst in deinem Bett war, Herr. Bündnisse verändern sich, Grenzen verändern sich. Du wirst immer noch deine königlichen Söhne haben, was immer zwischen dir und Fortriu vorfällt. Bis deine Kinder erwachsen sind, könnte Brideis Zeit der Macht längst vorüber sein.« Was er da sagte, bewirkte, dass ihm übel wurde, aber er bemühte sich weiter um einen stetigen Blick und eine ruhige Stimme. »Um es ganz brutal auszudrücken«, fügte er hinzu, »du willst die Braut vielleicht ohne das dazugehörige Gepäck.« Alpin stieß einen leisen Pfiff aus. »Du verblüffst mich«, sagte er. »Danke, Herr. Ich verspüre ein gewisses Bedauern darü- 449 ber, dass sie für weniger als ihren Wert verkauft wurde, aber am Ende ist sie schließlich nur eine Frau. Haben wir vielleicht jetzt den Punkt erreicht, an dem man mir die Fußfesseln lösen könnte?« »Nicht, bevor ich die Informationen höre, von denen du sprachst. Ich will Zeitpunkte, Routen, Zahlen. Und zwar sofort. Halte deine wilden Versprechen, und ich werde dir vielleicht wirklich geben, um was du bittest. Ich nehme an, es kommt dir sehr darauf an, dass Bridei nicht die Wahrheit über seinen verräterischen Freund erfährt. Sollte ich zustimmen - und das hängt sehr von der Qualität dessen ab, was du liefern kannst -, gibt es eine weitere Bedingung. Ich möchte, dass du am anderen Ende weitere Informationen beschaffst und sie mir zuträgst. Sowohl vom Weißen Hügel als auch aus Dunadd. Du sagtest, du bist viel unterwegs.« »Du willst also, dass ich für dich arbeite?« Faolan konnte eine Spur zittrigen Triumphs in seiner Stimme hören und hoffte, dass dies den Fürsten zufrieden stellte. »Dann sollten wir beginnen, über die Gebühren zu sprechen.« »Nicht so schnell«, sagte Alpin. »Beweise deine wilden Behauptungen, oder ich werde nicht zögern, mich deiner noch an diesem Abend zu entledigen. Es gibt ein paar meiner Männer, die nur zu gern solch einen Befehl ausführen würden, langsam und mit so großer Kunstfertigkeit, wie du sie bei deinen seelenvollen Balladen an den Tag legst.« »Eine wahre Poesie des Todes«, murmelte Faolan. »Also sag es mir. Was hat Bridei vor?« Als Attentäter und Spion war Faolan daran gewöhnt, Risiken einzugehen. Er konnte sich allerdings an keine Situation erinnern, in der so viel auf dem Spiel gestanden hatte. Er musste Alpin Dinge mitteilen, die dem Fürsten neu waren, und er musste es in allen Einzelheiten und vollkommen überzeugend tun. Es musste der Wahrheit so nahe kommen, wie er es wagen konnte. Wenn er es richtig machte, würden diese Lügen ihn aus Dornwald herausbringen, - 450 -
und Ana mit ihm. Er musste nun genau berechnen, wie weit er gehen konnte, ohne Bridei und die Armeen von Fortriu zu gefährden. Es war seltsam, dass er sich tatsächlich wie der niedrigste Verräter fühlte, als er Alpin alles erläuterte, den frühen Vorstoß, die Wege, die sie nehmen würden, die Anzahl. Er hätte sich am liebsten zusammengerollt wie ein Igel oder wäre wie eine Schnecke unter einen Stein gekrochen. Aber er sorgte dafür, dass er weiterhin ruhig und unbeteiligt wirkte. Er hatte die Wahrheit gesprochen, als er sagte, dass er der Beste in seinem Handwerk war. Als Faolan fertig war, legte Alpin die Hände aneinander, die Finger nach oben gerichtet, und seufzte. »Er setzt sich also tatsächlich schon so bald in Bewegung«, sagte er leise. »Zur Herbst-Tagundnachtgleiche, wie? Ich hatte einen gewissen Verdacht, als die Botschaft eintraf und mich informierte, dass die Braut schon so bald folgen wird. Aber ich hätte es doch nicht für möglich gehalten. Er geht mit der Jahreszeit ein großes Risiko ein. Vielleicht hat sein Druide vor, um gutes Wetter zu beten.« Faolan schwieg. Der Fisch war am Haken. »Morgen wird es hier eine Hochzeit geben«, sagte Alpin. »Du musst dich zeigen; du musst deinem Handwerk nachgehen, wie die Leute es erwarten. Du musst anwesend sein, wenn dieses Ding unterzeichnet wird und du musst uns am Abend unterhalten. Ich will, dass selbst meine Leute glauben, dass du nicht mehr bist als das, wofür du dich ausgibst. Und dann, am Morgen danach, wirst du aufbrechen und Bridei die guten Nachrichten bringen. Auf diese Weise kannst du dem König von Fortriu bestätigen, dass die Ehe vollzogen wurde. Ich lasse dich sogar einen Blick auf die Laken werfen.« Faolan biss die Zähne zusammen; er ballte die gefesselten Hände zu Fäusten. Dass Alpin diesmal nicht vorgehabt hatte, ihn gegen sich aufzubringen, sondern nur einen hohlen Witz machte, änderte nichts an seinem Zorn. Lass mich ein- 451 fach nur frei, dachte er, und deine Laken werden jungfräulich weiß bleiben, denn sie wird diesen Ort verlassen haben und deinen schmutzigen Händen entgangen sein, bevor an deinem Hochzeitstag die Sonne untergeht. »Ich werde dich heute Nacht einschließen müssen«, fuhr Alpin fort. »Einer oder zwei von den Jungs haben Teile unseres Gesprächs mitgehört, und sie werden nicht froh sein. Ich brauche Zeit, um sie zu informieren, jedenfalls, wenn du für deine Hochzeitstänze all deine Finger haben möchtest. Es gibt im Hundezwinger einen kleinen abgeschlossenen Bereich, den wir benutzen, wenn ein Hund den Verstand verliert. Das passiert häufig; ein Problem bei diesen Tieren. Halt den Mund, wenn du dort drinnen bist. Betrachte es als eine Möglichkeit, dir ein längeres Leben zu verdienen. Wir sollten im Augenblick noch nicht darüber hinausschauen und über Beutel voller Silber und ein Stück Land nachdenken, auf das du dich zurückziehen kannst, wenn du in den Ruhestand gehst. Du wirst mir erst zeigen müssen, was du kannst.« »Danke, Herr, ich werde dich nicht enttäuschen.« »Mordec!« Die Tür ging auf, und der Bewaffnete kam herein. »Binde ihn los«, sagte Alpin. »Er ist erledigt. Bring ihn in den Zwinger, und zwar so, dass es niemand merkt, und schließe ihn ein wie den räudigen Hund, der er ist. Aber schlagt ihn nicht zu fest. Es soll hier morgen eine Hochzeit geben, und wir haben nicht viele Barden.« - 452 KAPITEL ZWÖLF Ana verbrachte den Rest des Nachmittags allein. Ludha war nicht mehr zu ihr gekommen, und sie hatte auch nicht vor, nach der Zofe zu suchen, denn dies würde bedeuten, dass man sie im Haus mit ihrer laufenden Nase und den vom Weinen geschwollenen Augen sah. Sie hatte das Richtige getan, sagte sie sich, als sie an dem schmalen Fenster stand und die Krähen beobachtete, die rings um die Ulmen hinter der Mauer ihren Angelegenheiten nachgingen. Es regnete weiter, ein stetiges, weiches Nieseln, das dem Wald ein nebliges Grau mit Silberspuren verlieh. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als Drustan Lebewohl zu sagen. Ihr Hochzeitskleid lag auf dem Bett bereit. Ein Paar Ziegeniederpantoffeln stand ordentlich unter dem bestickten Saum. Weiter mit ihm zu sprechen, sich an diese kurzen Worte zu klammern, die das Herz ihrer Existenz hier bildeten, würde bedeuten, Drustan selbst in Gefahr zu bringen. Und das durfte sie nicht tun. Ana schauderte, ging zum Bett und kniete nieder, um mit der Hand über die hervorragende Arbeit zu streichen, die ihre Zofe geleistet hatte. Ein Band aus Stickerei zog sich um den Rock, ein dem Anlass angemessenes regelmäßiges Muster aus Farnwedeln und Blättern in Grün und hellen Blautönen. Hier und da gab es allerdings auch Blüten und das eine oder andere kleine Tier, denn wie alle wahren - 453 Künstler hatte Ludha es sich nicht verkneifen können, ein paar persönliche Spuren in der Arbeit zu hinterlassen: Maus, Marder und Salamander, Zeisig, Frosch und Libelle fanden sich alle halb verborgen in dem ordentlichen Muster aus Farnwedeln und Laub. Der Stoff selbst war aus heller, feiner Wolle gesponnen und gewebt von Sorala, die sich von den Frauen in Dornwald am besten mit diesen Dingen auskannte. Das Gewand war züchtig geschnitten - Ana hatte darauf bestanden - mit langen, engen Ärmeln und einem runden Halsausschnitt. Der Rock fiel von einem Band blau gefärbter Wolle direkt unterhalb der Brust in weichen Falten. Ana wusste, dass es ein wunderschönes Kleid war und dass sie gut darin aussah. Dennoch schauderte sie angewidert, als sie es nun aufhob, sorgfältig faltete und in die Truhe legte. Das Kleid stand für Alpin, sie konnte es nicht anschauen, ohne sich vorzustellen, wie er die Verschlüsse löste, es von ihren Schultern schob und dann mit ihr tat, was er wollte.
Wie konnte sie das ertragen? Wie würde sie sich so verstellen können? Und wie sollte sie diese Tränen aufhalten, die sie jetzt schon zu ertränken drohten? Sie legte sich eine Weile aufs Bett und versuchte, an angenehmere Dinge zu denken. Im Halbschlaf trieb sie davon in ein Reich, dass nicht ganz das Zuhause ihrer Kindheit und nicht ganz der Garten am Weißen Hügel war, sondern eine Mischung aus beiden, eine Landschaft, in der sie mit zwei kleinen Kinder einherging, spielte und lachte. Sie war Teil dieser Szene und gleichzeitig entfernt von ihr, wie es in Halbträumen manchmal geschieht: Ana war eins der kleinen Mädchen, aber gleichzeitig schaute sie auch aus der Ferne zu. Ihr Spiel war kompliziert, und es ging dabei um zwei innig geliebte Wollpuppen, schmuddelig von vielen Abenteuern, die über eine Mauer steigen mussten, bevor sie ihren gefährlichen Weg über ein Feld voller Kühe nahmen. Die Röcke der Mädchen waren bald schon noch schmuddeliger als die der Puppen. - 454 Ich bin dran, Ana. Nein, ich. Ich hatte sie zuerst. Ich bin die Älteste; du musst tun, was ich sage. Muss ich nicht! Dann schubste das Kind, das Ana war, das andere, und ihre Schwester fiel hin, Hemd und Arme schmutzig von dem dunklen, schweren Schlamm der Kuhweide. Breda fing an zu weinen. Dann waren sie zu Hause: Die Tante holte die Weidengerte heraus, und Ana wich gegen die Wand zurück. Streck die Hand aus. Der Drang zu sagen: Es war nicht meine Schuld, sie hat mich gezwungen, und Bredas Schniefen und Schluchzen draußen in der Küche, wo sie mit Honigkuchen besänftigt wurde. Sie beschloss, nichts zu sagen. Gerade aufgerichtet, mit hoch erhobenem Kopf, streckte sie die Hand aus, ohne die Spur eines Zitterns. Ich bin eine Prinzessin. Dann der Schlag ... Ana setzte sich erschrocken hin und blinzelte. Draußen wurde es dunkel; sie war eingeschlafen. Es war beinahe Zeit zum Abendessen, und sie hatte Ludha immer noch nicht gesehen. Sie würde sich allein waschen und umziehen müssen, sich schön machen für Alpins privates Festessen. Sie biss die Zähne zusammen und ging hinaus zur Latrine für die Familie, und sie bemerkte einen Wachposten vor Alpins Tür und einen zweiten oben an der Treppe. Das beunruhigte sie nicht. Sie hatte sich in ihren Jahren als königliche Geisel an die Gegenwart von Bewaffneten gewöhnt. Selbst nach Banmerren war sie gewöhnlich mit einer Eskorte von vier großen, kräftigen Männern gekommen; verschwendet, wie sich herausstellte, da ihr Vetter, der König der Hellen Inseln, nicht einen einzigen Versuch unternommen hatte, sie zurückzuholen, sei es durch Waffengewalt oder Diplomatie. Und nun sollte sie an einen Mann gebunden werden, den sie verabscheute, und einen Steinwurf entfernt von dem Mann leben, den sie liebte und den sie niemals haben konnte. - 455 Als sie zu ihrem Zimmer zurückkehrte, stand Orna vor der Tür und wartete. »Du wirst Hilfe brauchen, wenn du dich zum Abendessen umziehst.« »Wo ist Ludha?« »Es geht ihr nicht gut. Sie wird heute Abend nicht kommen.« Die Haushälterin ging in Anas Zimmer, öffnete wie selbstverständlich die Truhe und suchte nach passender Kleidung. Sie hob vorsichtig das Hochzeitskleid heraus und legte es beiseite. »Was würdest du vorziehen, Herrin? Das Blaue?« Ana hätte am liebsten wie ein Kind mit dem Fuß aufgestampft und erklärt, dass sie keins von diesen Kleidern wollte. »Das Graue bitte«, sagte sie höflich. »Was ist mit Ludha los? Es schien ihr heute früh gut zu gehen.« »Nichts Schlimmes. Ein paar Kleinigkeiten, das ist alles. Bist du sicher, was das Graue angeht?« Orna hielt die Tunika stirnrunzelnd hoch, dann betrachtete sie forschend den passenden Rock. Von allen Kleidungsstücken, die man Ana gegeben hatte, waren dies die schlichtesten. »Ja.« Ein Mädchen hatte warmes Wasser gebracht und Ana wusch sich Gesicht und Hände in der dazu bereitgestellten Schüssel, trocknete sich ab, drehte dann der Haushälterin den Rücken zu und zog ihre Obergewänder aus. Sie stand still, als Orna ihr die graue Tunika über den Kopf zog; sie trat in den Rock und ließ zu, dass die andere Frau den Gürtel schloss. Als das geschehen war, schaute Ana in den Bronzespiegel auf dem Sims und betrachtete ihr Bild in der unregelmäßigen Oberfläche. Das flackernde Kerzenlicht trug noch dazu bei, dem Spiegelbild etwas Geisterhaftes zu verleihen. »Ich werde dich frisieren, Herrin.« »Nein, das mache ich selbst, Orna.« Es fühlte sich irgendwie falsch an, dass diese säuerliche Haushälterin, die Alpin ganz und gar ergeben schien, eine solch vertrauliche Aufgabe übernehmen sollte. Orna schwieg und begann, die - 456 anderen Kleidungsstücke zu falten und zu sortieren. Ana kämmte und flocht ihr langes hellblondes Haar, dann steckte sie es mit grausamer Disziplin auf und zwang es unter ein mit Bändern geschmücktes Netz. Sie erlaubte keiner Strähne zu entkommen. Das fleckige, gerötete Gesicht, das aus dem Bronzespiegel zurückschaute, war nicht das einer glücklichen Braut, die sich darauf freute, mit ihrem Geliebten allein sein zu können. Sie sah jämmerlich aus. »So kannst du nicht zu ihm gehen«, sagte Orna barsch. »Die Kleidung ist schlimm genug, du bist so
zugeschnürt, dass du genauso gut gleich das Gewand einer Weisen Frau tragen könntest. Nun, es ist deine Entscheidung. Aber du solltest zumindest dein Haar offen tragen, oder er wird sofort sehen, dass du den ganzen Nachmittag geweint hast.« Sie hatte Recht. Ana zog die Nadeln heraus, die sie in die fest geflochtenen Zöpfe gesteckt hatte, nahm das Netz ab und ließ das lange, goldene Haar über ihren Rücken fallen, mit einer dünnen, geflochtenen Strähne über der Stirn. Ihre Augen waren immer noch hässlich rot, aber Alpin würde sie nicht sofort bemerken. »Ja, das ist schon besser.« Orna war nicht unfreundlich. »Und noch ein Rat, Herrin, ich hoffe, du wirst es mir nicht übel nehmen.« »Wenn du etwas zu sagen hast, Orna, dann tu es.« Ana hatte nicht vor, sich schikanieren zu lassen, und Ornas Verhalten fühlte sich bemerkenswert danach an. Und sie machte sich Sorgen um Ludha, die zuvor kein bisschen krank gewirkt hatte. »Wir sehen alle, dass du nicht glücklich bist«, sagte Orna. »Dass du dich noch nicht an uns gewöhnt hast. Es gibt eine Lektion, die wir alle hier in Dornwald lernen müssen, Herrin, wenn wir in Sicherheit und Frieden leben wollen. Wir müssen über bestimmte Themen den Mund halten. So können wir weiterexistieren und nehmen keinen Schaden.« »Was willst du mir damit sagen, Orna?« - 457 »Nur das. Gib ihm die Antworten, die er hören will, und du wirst ihn glücklich machen. Und wenn er glücklich ist, sind wir es alle.« Die finstere Miene der Haushälterin trug nicht dazu bei, Ana von der Nützlichkeit dieses Rats zu überzeugen. Stattdessen machte sie das alles ausgesprochen nervös. »Orna«, sagte sie, »du warst hier, als Alpins erste Frau noch lebte, nicht wahr?« »Ja.« Orna ging zur Tür, um nach einem Jungen zu rufen, der die Waschschüssel und den Krug wegbringen sollte. »Was, glaubst du, ist an diesem Tag geschehen? An dem Tag, als sie starb? Glaubst du ...« »Still!« Die Stimme der Haushälterin war ein Zischen. »Mach es nicht noch schlimmer, Herrin. Er hat es dir erzählt, da bin ich sicher, und das bedeutet, dass du es nicht noch einmal von mir hören musst. Es ist geschehen, und was geschehen ist, sollte man am liebsten vergessen.« »Selbst wenn es bedeutet, dass ein Mann fälschlicherweise angeklagt und eingesperrt wurde?« Anas Herz schlug heftig. Orna schloss abrupt die Tür. »Ich weiß, dass du nicht dumm bist, Herrin. Du verstehst einfach noch nicht, um was es hier geht. Das ist eine Angelegenheit, über die wir nicht sprechen. Niemals. Du solltest dich am besten auch an diese Regel halten, und sei es nur um deiner selbst willen. Er ist heute Abend nicht in der besten Stimmung; ich habe vorhin gehört, wie er sehr laut wurde. Ich rate dir zu tun, was immer du tun musst, um seine Gunst zu gewinnen. Mach ihm Freude, wenn du kannst. Und jetzt gehe ich; ich habe andere Dinge zu tun. Er erwartet dich, sobald du bereit bist. Sei vorsichtig, mehr sage ich nicht.« Und dann war sie verschwunden. Der Junge kam und nahm Waschschüssel und Krug mit. Nichts hielt Ana mehr davon ab, zur nächsten Tür zu gehen. Alpin würde warten, vielleicht ungeduldig warten. Es - 458 bestand kein Grund für Orna, ihr diesen überflüssigen Rat zu geben. Ana würde diesen Mann morgen heiraten. Selbstverständlich musste sie tun, was er wollte. Sie sollte jetzt gehen, jetzt sofort, und damit anfangen. Aber ihre Füße wollten sich einfach nicht bewegen. Sie blieb am Fenster, die Stirn an den kühlen Stein gelehnt, die Augen geschlossen. Ich liebe dich, sagte sie in Gedanken. Mehr als Heim und Familie, mehr als Schönheit, Weisheit und Güte, mehr als das Leben selbst. Für immer und ewig. Leises Flügelflattern: Ana schlug die Augen auf. Der Zaunkönig, den er Herz genannt hatte, saß auf der Fensterbank neben ihrer Hand. Als sie seinen Namen flüsterte, flatterte der kleine Vogel auf ihre Schulter. Mit seinem goldbraunen Gefieder schien er gut zu dem hellen Fluss ihres Haares zu passen. »Nein«, murmelte sie und streckte die Hand aus, um nach dem Tierchen zu greifen. Es versuchte nicht, ihr auszuweichen. »Nicht heute Abend, ich kann dich nicht mitnehmen.« Sie streckte die Hand zum Fenster aus und ließ den Vogel in das schwache Licht des Sommerabends fliegen. Er flatterte an der Öffnung vorbei, aber als Ana vom Fenster zurücktrat, flog er wieder herein. »Geh«, sagte sie. »Flieg nach Hause, flieg zurück zu ihm. Wenn er irgendwie deine Stimme hört, wenn er durch deine Augen sehen kann, sag ihm, dass ich ihn liebe. Ich werde ihn immer lieben. Zeige ihm meine Tränen. Aber bleib nicht hier. Alpin darf dich nicht sehen.« Sie setzte den Vogel auf die Fensterbank. Er blieb dort sitzen, beobachtete sie, ein winziges Bündel Federn, die Augen glänzend von einem Wissen, das sie nie verstehen würde. »Sag es ihm«, flüsterte sie und ging zur Tür und nach draußen, bevor der Zaunkönig ihr folgen konnte. Dann richtete sie sich auf, schob das Kinn vor und schritt mit königlicher Haltung zu Alpins Tür. Der Wachposten ließ sie herein. - 459 Ihr Mut hielt nur so lange an, bis sie in die Augen ihres zukünftigen Mannes sah. Auf dem Tisch war ein Festessen gedeckt, die Kerzen steckten in silbernen Haltern, es gab schönes Glas und kunstvoll verzierte Löffel, aber Alpins Miene ließ sie bis ins Mark erschaudern. »Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er. »Setz dich. Ich gieße
dir Met ein. Ich habe Hunger.« »Meine Zofe ist krank. Ich habe ein wenig länger gebraucht, mich umzuziehen.« »Krank, wie?« Alpin reichte ihr einen Kelch, dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände um seinen Kelch. Seine Knöchel waren weiß. »Ich denke, so könnte man es auch ausdrücken.« Die Kälte wurde noch intensiver. »Wie meinst du das? Was ist mit Ludha los? Was willst du mir damit sagen?« »Deine Zofe musste wieder getadelt werden. Sie ist in einiger Hinsicht sehr nachlässig geworden, seit wir sie dir überließen, so sehr, dass ich glaube, wir sollten sie wegschicken. Ein wenig unangenehm, denn soweit ich weiß, hat das Mädchen keine Familie mehr. Aber so ist es nun einmal.« »Willst du behaupten, dass ihr jemand wehgetan hat? Wurde sie geschlagen? Das ist unmöglich! Ich habe dir bereits gesagt, dass ich sie selbst bestrafen werde, falls das notwendig sein sollte - und was hat sie denn getan? Sie hat sich in jeder Hinsicht tadellos verhalten. Sie hat Tag und Nacht an meinem Hochzeitskleid gearbeitet...« »Ich wäre an deiner Stelle sehr vorsichtig.« Alpin stand auf. Seine Stimme war gefährlich leise geworden. »Sehr vorsichtig. Vielleicht hat deine Dienerin keine der gewöhnlicheren Verstöße begangen; vielleicht ist sie keine Diebin oder Faulenzerin. Aber sie hat etwas viel Schlimmeres getan; sie hat gegen eine meiner Regeln verstoßen, meine Regeln, die diesen gesamten Haushalt beherrschen. Wenn sie - 460 danach nur ein paar Prügel einstecken musste, sollte sie sich glücklich schätzen.« »Welche Regel?« Ana kämpfte darum, ruhig zu bleiben. »Lass uns noch nicht darüber sprechen. Ich habe Hunger auf dieses gute Essen, obwohl ich sagen muss, dass ich hoffte, gleichzeitig den Anblick meiner reizenden Verlobten genießen zu können, die helle Haut ihrer Schultern und Arme und vielleicht eine Spur Busen, betont von einem hübschen Kleid, das dem Vorabend ihrer Hochzeit angemessen ist. Vielleicht das blaue, du siehst darin sehr hübsch aus. Was ich vor mir sehe, ist der Mond, verschleiert von Wolken. Du siehst aus wie eine trauernde Witwe.« Während dieser Worte reichte er ihr eine Platte mit gebratenem Fisch, dann eine mit Zwiebeln und Käse, als wäre dies eine vollkommen gewöhnliche Mahlzeit. Stumm nahm sich Ana von allem, dann starrte sie ihre Hände an. Sie fühlte sich nicht wie der Mond und auch nicht wie eine Witwe. Sie fühlte sich wie ein Tier in der Falle, allein und verängstigt. »Alpin ...« Ihre Stimme kam als Krächzen heraus. Sie räusperte sich, trank einen Schluck Met und versuchte es noch einmal. »Alpin, ich kann wohl kaum eine Mahlzeit genießen, wenn man mir gerade gesagt hat, dass meine Zofe geschlagen wurde. Und ...« Sie zögerte, wusste, dass es wahrscheinlich unklug war, aber dann machte sie weiter, plötzlich unfähig, die Worte zurückzuhalten. »Ich fühle mich unbehaglich mit den Regeln, die in diesem Haushalt gelten: die Themen, über die man nicht sprechen darf, die Einschränkungen, nicht nach draußen zu gehen. Wenn ich hier die Herrin sein soll, muss ich mit den Dienern zu einer brauchbaren Übereinkunft kommen. Ich hätte hier und da die Gelegenheit willkommen geheißen, mit Faolan zu sprechen, da er der Einzige von meinen Leuten ist, der sich hier aufhält. Alpin, ich ... ich halte es für seltsam, dass aus dem Verbrechen deines Bruders ein solches Geheimnis gemacht wird. Das lässt mich vermuten, dass ... etwas nicht stimmt.« - 461 »Weiter«, sagte Alpin. Er sprach nun sehr leise. »Es wäre schrecklich ungerecht, wenn Drustan all diese Jahre für ein Verbrechen eingesperrt gewesen wäre, das er nicht begangen hat.« Er zog die Brauen hoch. »Welche alternative Theorie schlägst du denn vor?« »Ich habe keine Theorie.« »Bezichtigst du mich einer Lüge? Ist es das, was du sagen willst?« »Nein«, sagte Ana, erschrocken über die kalte Kraft, die nun in seinem Blick stand. »Da du nicht anwesend warst, als Erisa starb, musstest du dich auf die Berichte von anderen verlassen. Ich bin sicher, dass du glaubst, dass es wahr ist, wie auch die anderen, mit denen ich gesprochen habe.« »Welche anderen? Dies ist in meinem Haushalt ein verbotenes Thema. Wer hat geredet?« Ana schluckte. »Ich habe Orna gefragt. Sie hat nichts erzählt, sie sagte nur, dass deine Version die ist, die die Leute für zutreffend halten. Es ist niemand sonst hier, den ich fragen könnte. Die alten Diener, die damals im Haus waren, scheinen alle weggegangen zu sein.« »Das findest du seltsam, nicht wahr?« Nun hatte auch Alpin aufgehört zu essen. »Zumindest ungewöhnlich.« »Ich möchte so wenige Erinnerungen an diesen finsteren Tag um mich haben wie möglich.« »Aber du behältst ihn hier.« »Ihn?« »Deinen Bruder. Du behältst ihn hier in Dornwald.« Alpins Blick war durchdringend. Es kam Ana so vor, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen, als versuchte er, ihr alle Geheimnisse zu entreißen. »Ich frage mich«, sagte er ruhig, »wie dieser Gedanke in deinen Kopf gekommen ist, dieser Gedanke, dass es eine andere Geschichte geben könnte. Diese Idee, dass der - 462 Verrückte das Verbrechen nicht begangen hat. Empfindest du so wenig für mich, dass du all deine Energie
darauf verschwendest, meine persönliche Tragödie immer wieder anzusprechen und die halb vergessenen Qualen meiner Vergangenheit ans Tageslicht zu fördern? Ist es deiner Aufmerksamkeit irgendwie entgangen, dass wir morgen heiraten werden?« »Nein.« Sein Verhalten machte ihr Angst, und sie konnte das Beben in ihrer eigenen Stimme hören. »Genau das ist mein Grund, dieses Thema nun anzusprechen. Zwischen Mann und Frau sollte Vertrauen herrschen. Vertrauen und Ehrlichkeit. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft...« »Unsinn!« Alpin schlug mit der Faust auf den Tisch, jetzt war er nicht mehr leise und beherrscht. »Du machst dir um nichts dieser Art Sorgen. Es ist Drustan, der deine Gedanken beherrscht und deine Energie verschlingt. Warum solltest du so besessen von dem Gedanken an seine Schuld oder Unschuld sein, wenn er dir nicht eine andere Geschichte erzählt hätte? Die meisten Frauen würden ihn meiden, die meisten Bräute wären froh, dass er eingesperrt ist und keinen Schaden mehr anrichten kann. Aber nicht du. Erkläre mir das!« Sie holte unsicher Luft. »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Du lügst.« Alpin stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr, baute sich neben ihr auf, die Hände auf den Hüften, die Beine leicht gespreizt und starrte sie an. »Er hat dir diese Idee in den Kopf gesetzt, dieser Verrückte, dieser Wilde - er hat ein Netz aus Lügen gesponnen, und du hast dich vollkommen darin verfangen. Ich kann es mir gut vorstellen, du mit deinen damenhaften Manieren und deiner sanften Art, du hast ein weiches Herz für jeden streunenden Hund, jedes verwundete Tier und für jeden Missetäter mit einer Geschichte über das schreckliche Unrecht, das man ihm angetan hat. Es ist ihm immer leicht gefallen, Menschen auf seine Seite zu ziehen. Er verdreht die Worte, - 463 bis sie genau die Bedeutung haben, die er ihnen geben will. Ich denke und spreche geradeaus. Kein Wunder, dass du vor mir zurückzuckst, wenn ich versuche, dich zu berühren.« Ana wollte widersprechen, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie schweigen. »Kein Wunder, dass du glaubst, dass ich nicht gut genug bin für eine Dame von königlichem Blut. Es hängt alles mit ihm zusammen, nicht wahr? Dieser Verrückte hat dein Denken vergiftet und dich gegen mich gewendet. Er hat sich deine Zuneigung verschafft, er hat es wieder einmal darauf abgesehen, mir jede Gelegenheit zu einer Zukunft zu nehmen. Gib es zu! Gib es zu!« Alpin packte sie an den Armen und zog sie auf die Beine. Sein Griff war schmerzhaft fest. »Das ist nicht wahr«, flüsterte Ana. »Lass mich los, du tust mir weh.« Er packte sie noch fester, und sie konnte einen schmerzerfüllten Aufschrei nicht unterdrücken. »Es ist wahr«, knurrte Alpin, sein bärtiges Gesicht dicht an ihrem, seine Haut vor Zorn zu einem fleckigen Lila-Rot verfärbt. »Ich weiß, dass es wahr ist. Ich weiß von deinen Nähnachmittagen, deinen privaten Ausflügen mit deiner Zofe in den kleinen Hof, und von den Gesprächen, die ihr hattet. Offenbar ein Fehler in der Konstruktion seines Gefängnisses; wie konnte ich das übersehen?« Ana hatte nicht geglaubt, dass sie noch mehr Angst haben könnte, aber während Alpin wütend auf sie einredete, hatte sie an ihm vorbeigeschaut und gesehen, wie ein winziger Vogel hereinflog und auf dem Fensterbrett landete. Eine mutige kleine Präsenz in Cremefarbe und Braun. Rasch wandte sie den Blick wieder ab. »Setz dich, Alpin, bitte«, sagte sie und erinnerte sich an Ornas Rat. »Wage es nicht, mir in meinem eigenen Heim zu sagen, was ich tun und lassen soll.« Er schüttelte sie so, dass ihr - 464 schwindlig wurde. »Ich habe gewisse Nachrichten erhalten und heute einen Jungen nach oben geschickt, um es zu bestätigen. Er hat dich gehört. Du bist eine Betrügerin und eine Lügnerin und ganz bestimmt nicht die reine Prinzessin, als die du dich ausgibst! Wie kannst du es wagen, die Rolle einer Dame zu spielen und mich mit deiner vorgeblichen Züchtigkeit zu quälen, wenn du jeden Tag Liebesschwüre mit meinem Bruder austauschst? Antworte, bei allen Göttern, oder ich werde es auf andere Weise aus dir herausholen!« »Bitte lass mich los. Du machst mir Angst.« »Sag es mir, verflucht!« Wieder schüttelte er sie, ihre Zähne klapperten, und sie konnte kaum ihre Stimme finden. »Ich habe mit ihm gesprochen, ja. Aber nicht über die Dinge, die du annimmst. Es waren nur Banalitäten. Er tut mir Leid. Er ist schon lange sehr allein. Und da er wie ein vernünftiger Mensch spricht, dachte ich ... ich glaubte ... hast du Ludha deshalb bestraft? Hat sie dir gesagt... hast du sie gezwungen...« »Ah!« Mit einem lauten, angewiderten Schnauben stieß Alpin sie auf ihren Platz zurück. »Dieser Hund, diese gottverlassene Erbärmlichkeit von einem Mann! Ich hätte ihn schon vor sieben Jahren töten sollen, ich hätte den Mut dazu aufbringen müssen. Die Verwandtschaftsbande sind nichts anderes als Fesseln, wenn solche Abscheulichkeiten begangen werden. Wenn er nicht mein Bruder gewesen wäre, hätte er keinen weiteren Tag überlebt, und sein Kopf hätte mein Tor geschmückt, die Krähen hätten seine Leiche gefressen. Wie konntest du ihn auch nur anhören? Wie konntest du so dumm sein?« Ana stand auf. Sie versuchte, die königliche Würde heraufzubeschwören, die sich in der Vergangenheit als hilfreich erwiesen hatte, wenn sie bedrückt gewesen war oder Angst gehabt hatte. Aber das kalte Entsetzen ließ sie nicht
- 465 los. »Ich habe nicht vor, hier zu bleiben und mich weiter anschreien und herumstoßen zu lassen«, sagte sie so herablassend sie konnte. »Bevor ich mich heute Abend zurückziehe, möchte ich meine Zofe sehen, um mich zu überzeugen, dass man sie nicht misshandelt hat. Und ich will Faolan sehen.« Ihre Stimme bebte bei diesem Namen. »Ich möchte meinen Barden sehen, und zwar ohne dich; ich habe nichts dagegen, wenn jemand anderes dabei ist, vielleicht der Druide.« »Nicht so schnell.« Wieder stellte er sich vor sie. Ana berechnete die Schritte, die sie bis zur Tür brauchen würde, und fragte sich, ob es sinnvoll wäre, zu ihrem Zimmer zu eilen und sich dort einzuschließen. »Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, fuhr Alpin fort. »Was mein Informant dort oben gehört hat, war nicht nur banales Geschwätz. Er hat es als erheblich mehr beschrieben. Was er mir gesagt hat, macht mich sehr unglücklich, Ana. Sehr unglücklich und mehr als nur ein wenig zornig.« »Du möchtest also nicht mehr heiraten?« Die Frage hing schwebend zwischen dem Erkennen ihres strategischen Versagens und einer wilden, unmöglichen Hoffnung. »Was, und den Vertrag mit König Bridei nicht abschließen? Wohl kaum. Außerdem wäre das wirklich eine Verschwendung all dieser Näharbeiten. Eine Schande, dass deine Zofe nicht hier sein wird, um dich in dem Kleid zu sehen, das sie für dich gemacht hat. Aber ich werde es sehen. Ich werde dich darin lächeln sehen, ich werde sehen, wie du die Versprechen abgibst, und ich werde deinen Gesichtsausdruck sehen, wenn ich es dir ausziehe und nehme, was du mir nicht geben willst, weil der Mann, für den du deine süßen Worte aufsparst, der Mann, den du begehrst, der Mann, nach dem du gierst, dieser verrückte, verfluchte Drustan ist!« »Wie kannst du es wagen!« Die bittere Ungerechtigkeit dieser Worte erfüllte ihr Herz, und einen Augenblick setz- 466 te sich Zorn über die Vorsicht hinweg. »Dein Bruder ist hundertmal der Mann, der du bist!« Seine Faust war so schnell wie der Blitz, traf ihr Kinn, und sie fiel über den Tisch, Kopf und Hals eine rot glühende Kugel von Schmerz. Als sie taumelnd wieder auf die Beine kam, flog der Zaunkönig auf ihre Schulter, und seine leise, zwitschernde Stimme vermischte sich seltsam mit Alpins angestrengtem Atem. »Ich habe dir einmal gesagt«, keuchte Ana, »dass ich dich nicht heiraten werde, Vertrag oder kein Vertrag, wenn du die Hand gegen mich erhebst. Hol den Druiden und schicke nach Faolan. Ich werde mir das nicht mehr gefallen lassen.« Der Vogel hatte nicht versucht, sich zu verstecken. Sie betete, dass er davonfliegen und sich in Sicherheit bringen würde. »Du bist eine Hure, selbst wenn du es nur in Gedanken tust«, sagte Alpin barsch. »Man hat dich gehört, und die Art, wie du da meinen Bruder verteidigst, beweist es. Du bist nicht in einer Position, mir vorzuschreiben, was ich tun sollte oder nicht.« »Du vergisst, dass ich diejenige bin, die den Vertrag in Brideis Namen unterzeichnen soll.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich will Faolan sehen. Ich werde nicht...« »Hör sofort auf.« Alpin schien den Vogel nicht zu beachten. Ana trat einen Schritt zurück. »Für dich gibt es kein >kann nicht< oder will nicht< mehr. Du hast gegen die Regeln verstoßen. Du hast mit meinem Bruder gesprochen, du hast ihm gestattet, einen Weg in dein Herz zu finden, und wenn er nicht sicher hinter verschlossenen Türen säße, wäre er zweifellos auch in dein Bett gelangt und hätte sich für all die Jahre entschädigt, in denen Frauen nur in seinen verrückten Träumen erschienen.« »Ich werde mir das nicht anhören. Wenn Faolan wüsste, dass du mich geschlagen hast, würde er ...« »Halt den Mund!« Wieder riss er die Faust hoch, und sie - 467 schwieg. Ihr Mut reichte nicht ganz so weit. Es wäre vergeblich, fliehen zu wollen, denn er würde sie einholen können. Und er hatte einen Bewaffneten vor der Tür postiert. Wussten diese Leute alle, was Alpin war? Vielleicht war solches Verhalten in der Welt der Caitt vollkommen normal. »Du wirst feststellen, dass Faolan dir heute Abend nicht viel helfen kann«, sagte Alpin. »Und was deine Zukunft angeht, meine Liebe, so gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr, dich dem Vertrag oder der Heirat zu entziehen. So liederlich du bist, so verlogen und verräterisch, bist du dennoch von königlichem Blut und wirst mir Söhne schenken. Es ist mir gleich, ob es deinem Geschmack entspricht oder nicht. Vielleicht kannst du an Drustan denken, während du in meinem Bett liegst, das hilft vielleicht, die Säfte in Fluss zu bringen. Und du wirst unterzeichnen. Dein Barde wird übermorgen aufbrechen, um Bridei die Nachricht zu bringen. Es ist alles schon organisiert.« »Ich werde es nicht tun«, sagte Ana durch zusammengebissene Zähne. Flieg davon. Jetzt gleich. Flieg zu ihm zurück. »Doch, das wirst du«, sagte Alpin, und mit einer Bewegung, die so schnell und kundig war wie die einer Katze, die ihre Beute fängt, griff er zu und nahm den Zaunkönig von ihrer Schulter. In seiner riesigen Faust war der Vogelkörper unsichtbar; Ana sah nur den winzigen Schnabel, die leuchtenden, erschrockenen Augen. »Bitte...« Das kam nur als ein ersticktes Flüstern heraus. »Du wirst es tun. Du wirst genau tun, was ich dir sage, und du wirst nicht zu deinem zahmen Galen oder irgendwem sonst rennen und ihnen Geschichten erzählen. Du wirst dich von jetzt an von meinem Bruder fern halten. Keine Lieder, kein Flüstern, keine Besuche seiner elenden Geschöpfe.« Er warf einen Blick auf den
kleinen Vogel; Ana sah, wie der Kopf des Zaunkönigs sich hektisch hin und her bewegte, als wollte er fliehen, aber die Hand hielt ihn fest. - 468 »Du wirst den Vertrag unterzeichnen, und du wirst ohne sichtbares Widerstreben die Handreichung über dich ergehen lassen. Und dann wirst du die Beine breit machen, wann, wie und wo ich es will.« »Nein...« »Doch«, sagte Alpin. »Denn wenn du irgendetwas davon nicht tust, werde ich das Leben aus Drustan herausquetschen, wie ich es jetzt mit diesem Geschöpf tue.« Er sah sie kalt und ruhig an und drückte zu. Der Zaunkönig starb ohne einen Laut. Es war Drustans Schrei, der in diesem Augenblick überall in Dornwald widerhallte, der Schrei eines Mannes, dem bei lebendigem Leib ein Stück seines Herzens aus dem Körper gerissen wird. Alpin warf die kleine Leiche ins Feuer und wischte sich die Hand am Hemd ab. Eine winzige Daunenfeder schwebte durch die Luft. Ana konnte nicht sprechen. Irgendwo in ihr wiederholte ein Kind in schluchzendem Flüsterton: Lass es einen Traum sein, lass mich jetzt aufwachen. »Setz dich«, befahl Alpin. Sie setzte sich. Nach diesem schauerlichen gequälten Schrei war es jetzt draußen vollkommen still. »Ich denke, wir ändern die Pläne ein wenig. Wir sollten den Vertrag gleich jetzt unterzeichnen, denn alle dazu notwendigen Personen sind vorhanden. Ich habe meinen Appetit für dieses gemütliche Abendessen verloren. Und du kannst deinen Barden sehen. Es ist nur angemessen, dass er die Unterzeichnung bezeugt, da er derjenige ist, der das Dokument zu König Bridei bringen wird. Und du erhältst die Gelegenheit, dich von ihm zu verabschieden. Der Druide kann anwesend sein, wie du verlangt hast. Aber ich werde ebenfalls dort sein. Ich traue dir nicht, Ana, und ich werde es wahrscheinlich nie tun.« »Du bist ein schlechter Mensch«, sagte sie. »Grausam und barbarisch. Warum hasst du Drustan so?« - 469 »Du fragst das nur, weil du dich weigerst, die Wahrheit zu erkennen. Drustan hat getötet, was ich am meisten liebte. Natürlich hasse ich ihn. Er war von Anfang an krank, er hätte gleich nach der Geburt ertränkt werden sollen. Er war nie wie wir anderen. Er hätte nicht hierher zurückkommen dürfen.« »Wenn er das nicht getan hätte«, Anas Stimmte bebte vor Entsetzen und Zorn und von dem kalten Wissen, dass sie besiegt war, »würdest du jetzt nicht seinen Ankerplatz im Träumenden Tal beherrschen. Und er wäre nicht gefangen.« »Darüber werden wir nicht sprechen.« Alpins Stimme klang tonlos. Sein Blick war kalt. »Ich erwarte, dass du von jetzt an den Mund hältst, wenn es um Kriegsführung, Strategie oder Bündnisse geht. Das sind Männerangelegenheiten, über die nur unter Männern gesprochen werden sollte. Du weißt, was du erwarten kannst, wenn du mir nicht gehorchst.« »Du erwartest offenbar, dass deine Frau die meiste Zeit schweigt und bestenfalls über den Rinderbraten beim Abendessen oder das Wetter spricht.« »Solange du im Bett tust, was ich will, stört mich das nicht.« Alpin ging zur Tür, rief den Bewaffneten zu sich und sprach eilig mit ihm. Dann schloss er die Tür wieder, stellte sich mit dem Rücken zur Tür hin und beobachtete Ana. Im Raum hing der Geruch nach brennendem Fleisch. Ana wurde übel. »Wenn Faolan diesen Fleck auf meinem Gesicht sieht«, sagte sie, »wird er wissen, dass du mich geschlagen hast. Willst du, dass er solche Nachrichten zum Weißen Hügel bringt?« Alpin zog die Brauen hoch. »Bestrafen sie ihre Frauen in Fortriu nicht?« »Ich könnte schwören, dass Bridei nie die Hand gegen seine Frau erhoben hat, er würde nicht einmal daran denken.« »Aha. Sie ist ohnehin ein wenig seltsam, nach allem, was - 470 ich gehört habe. Eine vom Waldvolk. Das könnte sich als eine Schwäche erweisen.« »Tuala ist von anderer Art«, sagte Ana leise. »Sie ist eine meiner besten Freundinnen.« »Du hast wirklich etwas für exotische Leute übrig, wie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer meinen Bruder lieben könnte, das ist ein abwegiger Gedanke. Drustan war schon als Kind für unsere Familie ein Grund tiefer Schande, schon lange, bevor er beschloss, auch noch zum Mörder zu werden. Und du erwartest, dass man hier im Haushalt offen darüber spricht. Du musst dumm sein.« Ana schwieg. Von jetzt an, dachte sie, würde sie häufig schweigen. Aber wenn das notwendig wäre, um ein weiteres Opfer zu verhindern, würde sie den Mund halten und innerlich weinen. Als Faolan hereinkam, folgte ihm ein hoch gewachsener Bewaffneter, und ein kräftiger Mann ging neben ihm. Er hatte rote Striemen um die Handgelenke, als wäre er gefesselt gewesen. Über einem Auge sah Ana verkrustetes Blut, und am Kinn hatte er einen lila-blauen Fleck. Unter diesen Spuren von Schlägen war sein Gesicht bleich. Seine Miene war ausdruckslos, wie so häufig am Weißen Hügel, sein Blick der eines Mannes, der keine Aufmerksamkeit erwecken will. Er sagte kein Wort. »Faolan«, brachte Ana heraus. »Geht es dir gut?« Die höfliche Frage hing in dem Schweigen zwischen ihnen, und dahinter warteten all die Dinge, die sie nicht sagen konnte, die sie nie würde sagen können. »Ja, Herrin.« Die Stimme war ebenso ausdruckslos wie der Blick. Er schaute nun überallhin, nur nicht in ihr
Gesicht, wo sich zweifellos nun ein deutlicher Fleck zusammen mit dem heftigen Schmerz in ihrer Wange und am Kinn ausbreitete. Dann sagte er wie gegen seinen Willen: »Du bist verletzt.« - 471 Ein leises metallisches Geräusch erklang, als Alpin ein Messer auf der Tischplatte verschob. »Ich war nur ungeschickt«, sagte Ana und senkte den Blick. »Meine Zofe öffnete eine Truhe, und ich beugte mich im falschen Augenblick darüber. So etwas passiert hin und wieder.« Seine Handgelenke waren gerötet, und auch an seinen Fußknöcheln waren Spuren von Fesseln zu erkennen, dort, wo sie über den abgetragenen Schuhen sichtbar wurden. Ana bemerkte, dass sie ihn anstarrte, und zwang sich, den Blick abzuwenden. »Alpin sagt, du wirst übermorgen schon zum Weißen Hügel aufbrechen. So bald.« Ihre Stimme zitterte. Sie musste versuchen, stark zu sein, denn wenn sie ihm wehgetan hatten, würden sie es vielleicht wieder tun. Sie konnten ihm wehtun, sie konnten Drustan wehtun. Sie musste jedes Wort, jeden Blick, jede Geste vorsichtig berechnen. »Es ist nicht nötig, dass ich mich noch länger aufhalte«, sagte Faolan. »Man sagt mir, dass der Vertrag heute Abend schon unterzeichnet werden soll, und morgen findet die Handreichung statt. Danach werde ich mich direkt auf den Weg machen, da ich hier nicht mehr gebraucht werde.« »Du musst natürlich tun, was du für das Beste hältst«, sagte sie angespannt. »Was weiß ich schon von diesen Dingen?« Alle sahen zu und hörten zu, Alpin, die Bewaffneten, dieser Dregard, der immer zu Alpins Rechter stand, der Druide, der mit Feder und Tintenfass hereingekommen war. Sie sehnte sich danach, einen Augenblick mit Faolan allein sprechen zu können, selbst wenn sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte, nicht, solange Drustans Sicherheit von ihrem Verhalten abhing. Wenn die anderen nicht hier gewesen wären, hätte sie ihm zumindest die Hand reichen, ihm alles Gute wünschen und für seinen Mut und seine Freundschaft danken können. Sie hätte ihm sagen können, dass er gute Arbeit geleistet hatte. »Ich wünsche dir eine sichere Reise, Faolan«, sagte sie leise. »Ich glaube nicht, dass - 472 wir morgen Zeit haben werden, miteinander zu sprechen. Bitte übermittle Bridei meine besten Wünsche. Und Tuala.« Die Tränen waren jetzt sehr nahe, aber sie schluckte sie hinunter. »Und umarme Derelei von mir. Er fehlt mir.« »Ja, Herrin.« Immer noch weigerte er sich störrisch, sie anzusehen. Stand er unter dem gleichen Druck wie sie? Spielte er nur eine Rolle, um Alpins Zorn nicht zu reizen? »Also gut«, sagte Alpin, »wir sind alle hier, lasst uns anfangen. Bitte setzt euch hin - nicht du, Barde, du kannst bleiben, wo du bist -, und Berguist wird vielleicht so freundlich sein, uns die Bedingungen des Vertrags vorzulesen, damit wir alle wissen, was wir unterzeichnen.« Er bedachte Ana mit einem gönnerhaften Blick, worauf sie sich aufrichtete und höflich nickte. Dann setzten sie sich und warteten. Neben Anas Hand bewegte sich auf dem Tisch eine braune Feder im Durchzug. Berguist, der Druide, trug die Bedingungen des Vertrags klar und schlicht vor. Für ihn zumindest gab es keinen Grund, nicht vollkommen gelassen zu sein. Alles war ins Lateinische übersetzt und auf dem Pergament niedergeschrieben worden, das er nun Ana reichte, damit sie es durchlas, für den Fall, dass er Fehler gemacht hatte. Sie überflog es, aber sie war so verzweifelt, dass es ebenso gut eine Vorratsliste oder ein christliches Gebet hätte sein können, so wenig davon nahm sie auf. »Meine zukünftige Frau ist so etwas wie eine Gelehrte«, sagte Alpin. »Nicht nur schön, sondern auch klug, ein Mann sollte sich glücklich schätzen, eine Frau wie sie zu finden. Bist du fertig, meine Liebe?« »Es sieht so aus, als wäre alles in Ordnung«, sagte sie. »Und auch das Territorium des Träumenden Tals ist im Vertrag eingeschlossen, wie Faolan und ich erbeten haben. Du hast dich an alles gehalten, was besprochen wurde.« Alpin kniff die Augen zusammen. »Dann unterzeichne«, sagte er. - 473 Sie nahm die Feder und schrieb an eine Stelle, auf die der Druide zeigte: Ana, Tochter des Nechtan, Prinzessin der Hellen Inseln. Und darunter: 7m Namen von Bridei, Sohn des Maelchon, König von Fortriu. Alpin nahm ihr nun geduldig die Feder ab, bevor die Tinte noch trocken war, und machte sein Zeichen neben ihrem. Der Druide nahm das Pergament zurück, um Alpins Namen über das Kreuz, das er gemacht hatte, zu schreiben, und dann selbst als Zeuge zu unterzeichnen. Es war geschehen. »Ah«, seufzte Alpin, als der Druide Sand aus einem kleinen Beutel auf das Dokument streute, damit die Tinte schneller trocknete. »Ein sehr zufrieden stellendes Ende eines besonders anstrengenden Tags. Auch König Bridei wird zufrieden sein. Das hier könnte für seine zukünftigen Pläne viel bedeuten.« »Ein wichtiges Ereignis, Herr«, sagte Dregard. »Wirst du Faolan einen Führer bis zur Grenze deines Territoriums oder vielleicht sogar weiter mitgeben?«, fragte Ana Alpin. »Ich nehme an, die Furt ist immer noch unpassierbar. Und deine kriegerischen Nachbarn ...« »Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, fauchte Alpin, dessen Stimmung abrupt umgeschlagen war. »Das sind...« »Männerangelegenheiten, ich weiß.« Vorsichtig, vorsichtig, achte auf jeden einzelnen Schritt. »Ich wollte dich einfach nur daran erinnern, wie wichtig es ist, dass dieser Vertrag Bridei tatsächlich erreicht. Vergiss nicht, dass man ihn, obwohl wir schon seit zwei Monaten hier sind, nicht davon benachrichtigt hat, dass unsere Eskorte umgekommen ist. Und dass sein Botschafter ebenfalls unter den Ertrunkenen war«, fügte sie hastig hinzu,
unsicher, ob diese frühere Lüge nach dem, was heute geschehen war, noch zählte. Aber sie wollte unbedingt dafür sorgen, dass Faolan sicher nach Hause zurückkehrte. Sein Verhalten beunruhigte sie. Er schien heute Abend nicht er selbst zu sein. - 474 »Wir werden deinen zahmen Galen schon sicher nach Hause bringen, mach dir keine Gedanken«, sagte Alpin. »Wir haben Grund genug, ihn wegzuschicken. Er wird vielleicht nicht lange wegbleiben.« Die Atmosphäre veränderte sich beinahe unmerklich - es war kälter geworden. »Wie meinst du das?«, fragte Ana. Alpin schien schon im Voraus zu genießen, was jetzt geschehen würde; er hatte wieder diese Haltung, die Spannung einer Wildkatze, bevor sie zuschlägt. »Ich könnte es dir sagen«, erklärte er. »Aber ich denke, wir lassen es den Barden selber tun. Du warst von Anfang an so um sein Wohlergehen besorgt. Also solltest du aus seinem eigenen Mund hören, was für einen doppelgesichtigen Abschaum du in mein Haus gebracht hast. Das passt so ganz und gar nicht zu den widerlich süßen Liebesliedern, mit denen er uns so gern unterhält. Mach schon, Barde! Sag es ihr!« »Faolan?«, fragte sie. »Was soll das? Was meint er damit?« »Herr...« Faolan wandte sich protestierend an Alpin. »Sag es ihr!«, knurrte Alpin. Faolan räusperte sich. »Mach schon!« »Ich ...« Faolan schien nicht im Stande zu sein weiterzumachen, er starrte den Boden an. Alle waren jetzt still. Es war eindeutig, dass ihm niemand helfen würde. Alpin und seine Bewaffneten wechselten Blicke, die eindeutig sagten: Wenn es nötig ist, schlagt ihn. »Faolan«, sagte Ana, »bitte erzähl mir, was los ist. Was meint Alpin mit doppelgesichtig?« Sie hatte Faolan schon einmal so vollkommen verwundbar gesehen, nach der Furt, aber das hier war anders. »Sag es mir«, bat sie abermals und kämpfte gegen ihre wachsende Angst an. Jetzt schaute er sie an, und sein Blick war wie früher: kühl, distanziert, als wäre ihm alles egal. Sie hörte, wie er zweimal tief Luft holte, bevor er sprach. - 475 »Der Fürst hat gewisse Informationen erhalten«, sagte Faolan. Noch ein sorgfältiger Atemzug. »Ein Mann hat mich im letzten Frühjahr am Hof von Dunadd gesehen. Was er sah, ließ ihn glauben, dass ich mich sowohl von Bridei von Fortriu als auch von Gabhran von Dalriada bezahlen lasse.« Ana saß schweigend da und wartete auf mehr. Eine Lüge - es musste einer von Alpins Tricks sein. »Er schloss daraus, dass ich nur in dem Ausmaß für Bridei arbeite, wie es mir passt«, sagte Faolan gleichmütig. »Da ich von gälischer Abstammung bin, habe ich gewisse Verpflichtungen gegenüber Dalriada, gegenüber meinem eigenen Volk. Dennoch ist der Fürst großzügig genug, mir zu gestatten, mit einem Bericht über unsere Reise und ihr erfolgreiches Ende zum Weißen Hügel zurückzukehren.« Er warf Alpin einen Blick zu. »Ist es das, was ich sagen sollte, Herr?« »Das ist nicht wahr.« Ana bebte vor Zorn. »Das muss ein Irrtum sein!« Faolan, der in diesen letzten fünf Jahren Brideis rechte Hand gewesen war, sein erprobter Leibwächter, der Mann, mit dem er all seine Pläne besprach - Faolan ein Spion für Dalriada? Das war Unsinn. Sie wusste, dass er in Dunadd gewesen war; wo sonst hätte er die Dinge erfahren können, die sie nach Dornwald gebracht hatten? Aber dass Faolan von Gabhran bezahlt wurde - das war unmöglich. Und es beleidigte sie, so etwas zu hören. »Ich kann das nicht glauben«, sagte sie zu Alpin, der ein höhnisches Lächeln aufgesetzt hatte. »Nur weil Faolan gälischer Abstammung ist, muss man noch keine übereilten Schlüsse ziehen...« »Es ist wahr, Herrin.« Faolans Stimme war tonlos. »Was?«, flüsterte sie. »Was ich gesagt habe, ist wahr. Ich habe schon für Gabhran gearbeitet, bevor ich an den Hof von Fortriu kam. Ich trage Informationen in beide Richtungen.« Er sah ihr nun - 476 direkt in die Augen. Sie hätte schwören können, dass er die Wahrheit sagte. »Es zahlt sich aus.« Ana strengte sich an, ihre Stimme wieder zu finden. »Das kann nicht sein Bridei - Bridei vertraut dir - ich verstehe nicht...« Sie erinnerte sich an die Dinge, die Faolan gesagt hatte, am Weißen Hügel und auf dieser schrecklichen Reise; sie erinnerte sich an seine Kraft, an seine widerstrebende Freundlichkeit, die Kompetenz, mit der er Krise um Krise bewältigt hatte. Sie musste daran denken, wie er mit Bridei sprach und wie er ihn und Tuala so unermüdlich bewachte; sie erinnerte sich daran, wie schrecklich er sich an der Furt gefühlt hatte, als er glaubte, bei der Erfüllung seines Auftrags versagt zu haben. Das hier musste gespielt sein, Teil einer Strategie Faolans, um derentwillen er Alpin belügen musste. Oder ... »Faolan«, zwang sie sich trotz Alpins einschüchternden Blicks zu sagen, »hat man dich dazu gezwungen, diese Dinge zu sagen? Hat man dir mit Gewalt ein falsches Geständnis abgerungen?« »Würde ich einen Gast in meinem Haus so behandeln?«, fragte Alpin unbeschwert. »Nach all diesen Balladen? Der Gäle hat es freiwillig gestanden, nachdem er wusste, dass er sich nicht mehr herausreden konnte.« Anas Kinn schmerzte von seinem Schlag, vor ihrem geistigen Auge sah sie immer noch, wie Alpin die Faust
zusammendrückte und den letzten Rest von Leben aus seinem winzigen Gefangenen quetschte. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie, obwohl ihr Herz vor Angst heftig schlug. »Nein?« Alpin schien sich daran nicht zu stören. »Dann ist es gut, dass wir einen Zeugen haben. Berguist, bitte bestätige der Dame, dass zutrifft, was dieser Mann über sich sagt.« Der Druide schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Er war immerhin nur nach Dornwald gekommen, um eine Urkunde zu verfassen und den Segen der Götter für eine Ehe zu erbitten. »Herrin«, sagte er leise, »ich bedaure, dir sagen - 477 zu müssen, dass der Gäle dies alles bereitwillig gestanden hat, nachdem herauskam, was der Informant wusste. Faolan hier stand nicht unter Druck. Obwohl man das, was er in der Vergangenheit tat, billigen kann, muss man ihm zugute halten, dass er am Ende die Wahrheit gesagt hat.« »Das genügt«, sagte Alpin, und Faolan nickte, ohne auch nur einen Blick auf Ana zu werfen, dann drehte er sich um und verließ flankiert von den Bewaffneten das Zimmer. »Was für eine Schande«, fuhr Alpin fort und griff nach dem Metkrug. »Und ein solch guter Harfenspieler. Sobald das herauskommt, wird es ihm schwer fallen, noch einen Wohltäter zu finden.« »Entschuldige mich.« Ana war nicht sicher, ob ihre Beine sie auch nur bis zur Tür tragen würden. »Ich werde mich jetzt zurückziehen. Morgen wird ein anstrengender Tag sein.« Alpin erhob sich höflich. »Gute Nacht, meine Liebe. Du brauchst deinen Schönheitsschlaf. Brauchst du Hilfe beim Ausziehen?« Er bog die Hand um ihren Nacken und küsste sie auf die Wange, drückte seine Lippen fest auf ihre Haut. Ana wich zurück, sie schien vollkommen zu erstarren. »Ich wollte mich nicht für diese Aufgabe anbieten, so sehr mir das auch gefallen würde.« Nun klang er nicht mehr so freundlich. »Aber da deine Zofe krank ist, möchtest du vielleicht, dass ich dir eine andere Dienerin schicke?« »Nein danke.« Kinn hoch ... Rücken gerade ... es war niemals schwieriger gewesen, sich zu erinnern, wer sie war. Sie wollte schreien, davonlaufen, sich verstecken, sie wollte überall sein, nur nicht hier. »Ich wünsche euch allen eine gute Nacht. Möge die Leuchtende euch schöne Träume schenken.« »Möge der Flammenhüter dein Erwachen beleuchten.« Der Druide gab leise die Antwort, die die Höflichkeit verlangte. Er runzelte leicht die Stirn. - 478 Als Ana wieder in ihrem Zimmer war und die Tür verriegelt hatte, zog sie ein Nachthemd an, legte sich aufs Bett und starrte die Spinnennetze an der Decke an. Sie fühlte sich hohl und leer. Die Zukunft erstreckte sich vor ihr wie ein endloser finsterer Weg ohne ein einziges Licht, eine Zukunft der Schläge, des Schikaniert werdens und der verzweifelten Lügen. Eine Zukunft, in der Freunde zu Feinden wurden und unschuldiges Leben um einer Laune willen ein Ende fand. Dies war der Mann, dessen Kinder sie zur Welt bringen musste. Und Faolan, Faolan, dem sie vertraut hatte, in dessen Armen sie in der gewaltigen Dunkelheit des wilden Waldes Schutz gesucht hatte, Faolan, dessen Lieder so voller herzzerreißender Sehnsucht und Hoffnung waren, dass sie selbst abgehärteten Kriegern die Tränen in die Augen trieben - konnte er Bridei tatsächlich so verraten haben? Wie hatte sich ihr Leben in einen solchen Albtraum verwandeln können, in dem es keinen Funken von Wahrheit mehr gab? Sie hatte sich früher manchmal gefragt, wie es sein konnte, dass ein Mensch seinem Leben selbst ein Ende machte, denn das Leben war ein so kostbares Geschenk der Götter an die Menschen; es war notwendig, den Weg mit Mut und Güte zu gehen und ihm über die zugemessene Spanne zu folgen, bis die Knochenmutter den müden Reisenden nach Hause holte. Aber an diesem Abend, in dieser Dunkelheit, kam ihr ein scharfes Messer, ein schnelles blutiges Ende beinahe verlockend vor. Das kühle Licht der Sommernacht fiel durch das schmale Fenster. Die silbernen Finger der Leuchtenden streiften die Steine, und als wären sie von der sanften Hand der Göttin selbst hereingetragen worden, erschienen zwei kleine Gestalten auf dem Fensterbrett. Mit leisem Flügelflattern landeten sie auf der Truhe neben dem Bett, und als Ana sich hinsetzte, ließen sie sich auf ihre Schultern nieder, der Kreuzschnabel links, und auf der rechten Seite spürte sie das größere Gewicht der Krähe. - 479 Nein, sie durfte nicht gehen. Drustan brauchte sie. Und sie brauchte ihn, selbst wenn sie ihn nicht sehen konnte, selbst wenn sie nie wieder seine Stimme hören würde. Sie war so fest und vollständig an ihn gebunden, wie es diese Vögel waren, und wenn sie ihn verließ, sei es, um in dieser oder einer anderen Welt zu wandeln, würde es sie unwiederbringlich zerreißen. Dies war die tiefste Wahrheit, das Einzige, das in diesem Gewebe aus Schatten und Betrug stetig weiterleuchtete. So lange Drustan lebte, musste sie in Dornwald bleiben, ganz gleich, was man ihr antat. Sie würde die Wahrheit herausfinden, so lange es auch dauern mochte. Irgendwie würde sie ihn befreien. Der Boden des Zwingers war hart, aber Faolan war Schlimmeres gewöhnt. Seine Gedanken hielten ihn ohnehin wach. Er wusste, dass er sich keine Ablenkung leisten konnte, und zwang sich, nicht mehr an Anas gekränkten, enttäuschten Blick zu denken, als sie sein Geständnis hörte. Er arbeitete fieberhaft an seinem Plan, wenn man denn von einem Plan reden konnte. Es gab nur eins, was sich zu seinem Vorteil auswirken würde, und das war die Tradition der Caitt-Männer, den größten Teil eines Hochzeitsmorgens mit wildem, lärmendem Feiern zu verbringen. Gerdic hatte ihm erzählt, dass es viel Bier, Sport und Spiele, Hundekämpfe und andere Aktivitäten
geben würde. Wenn all das vorüber war, etwa gegen Mittag, würde die Handreichung im Haupthof stattfinden; Druiden zogen es vor, diese Zeremonie draußen durchzuführen, damit die Leuchtende und der Flammenhüter direkt herabschauen und sich überzeugen konnten, dass die Versprechen guten Willens gegeben wurden. Faolan dachte über jedes einzelne Hindernis nach. Er musste zuschlagen, wenn die meisten Männer von Dornwald sich im Hof aufhielten und mit den Unterhaltungen des Morgens beschäftigt waren. Man hatte ihm die Hände nicht gefesselt, das war ein Anfang. Es gab ein verriegeltes - 480 Eisentor, durch das er gelangen musste, Dovard und seine Hündin, die in der Ecke schliefen, und außerdem den Wachposten an der kleinen Hintertür zum Wald. Es würde notwendig sein, sich in nächster Nähe an diesem Mann vorbeizubewegen. Dann musste er über den Hof gelangen, vorbei an noch mehr Wachposten vor den Gemächern der Familie und damit fertig werden, dass Ana selbst, wenn sie sich in ihrem Zimmer aufhielt, vielleicht die Tür verschlossen hatte. Wenn Gerdic Recht hatte, würde sie damit beschäftigt sein, sich für die Handreichung anzukleiden. Es gab vielleicht Dienerinnen: Was sollte er mit ihnen machen? Einen bewaffneten Mann niederzuschlagen war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, sich einer hilflosen Dienerin mit einem gut gezielten Schlag auf den Schädel zu entledigen. Wenn man von Anas Reaktion auf seine angebliche Entlarvung ausging, würde es sie vielleicht nicht überraschen zu sehen, wie er eine Spur von Blut und Tod hinter sich ließ, und das war nur gerecht: in seiner Vergangenheit hatten manche Aufträge genau das erfordert. So weit, so gut, in seinem Kopf hatten sie Alpins Gemächer erreicht und die kleine verschlossene Tür. Er hatte nichts von Deord gehört. Es war möglich, dass der Wächter nicht wusste, wo Faolan sich befand. Wie viel hatte Deord mithören können, und wie weit reichte die unausgesprochene Verpflichtung zwischen Überlebenden von Felsental? Würde sie sie in das Quartier des Verrückten und hinter die Mauer bringen? Wenn nicht, dann würde es sehr schwierig werden. Und was ihre Möglichkeiten anging, wenn sie erst einmal hinter der Mauer waren wenn er zu genau darüber nachdachte, lief er Gefahr, diese Chance aufzugeben, diese einzige Chance. Und das war unmöglich. Er würde Ana aus der Festung und sicher nach Hause bringen, und wenn es ihn das Leben kostete. Er würde sich lieber die rechte Hand abhacken als zuzusehen, wie sie diesen Mann heiratete. Die Tatsache, dass Alpin ein Betrüger und Lügner war, der nicht - 481 vorhatte, sich an Brideis Vertrag zu halten, schien nun beinahe zweitrangig. Dann zwang sich Faolan, ein wenig zu ruhen. Er würde niemandem nützen, wenn seine Sinne von Müdigkeit getrübt wären. Es war Sommer, und der Morgen kam früh; mit dem ersten Hellerwerden des Himmels erwachten die Hunde und begannen ruhelos hin und her zu laufen, begierig, nach draußen zu kommen. Ihr Kläffen weckte Dovard, der den Kopf unter die Pumpe hielt, bevor er zur Gittertür der kleinen Zelle für gefährliche Hunde ging, für die, die nicht zu bändigen waren. »Hast du Hunger?«, fragte er Faolan. »Ich mache das Futter für die Hunde, und dann setze ich einen Topf Haferbrei auf; du kannst gern etwas davon haben. Tut mir Leid, dass ich dich nicht rauslassen kann. Ich würde schrecklichen Ärger bekommen.« Dovard suchte bereits in seinen Eimern und Säcken herum, fand alles, was er für ein Feuer brauchte, und wischte einen schwarzverkrusteten Topf flüchtig aus. Der Lärm der Hunde wurde lauter. »Danke«, sagte Faolan, starrte den Schlüsselring an, der an einem Haken an der äußeren Tür hing, und versuchte herauszufinden, welchen dieser Schlüssel er brauchen würde. »Sieht so aus, als wäre ich im Augenblick derjenige, der Ärger hat.« Dovard warf ein wenig Stroh auf den Holzhaufen in der Feuerstelle. »Was hast du angestellt?«, fragte er ohne großes Interesse. »Einen Fehler gemacht. Alpin verärgert. Er wird mich später rauslassen, es gibt sonst niemanden, der beim Fest singen und spielen könnte. Und zu einem Frühstück würde ich nicht Nein sagen.« Faolan rieb sich die Hände und blies darauf, damit sie wärmer wurden. Seine Hand- und Fußgelenke schmerzten immer noch von den Fesseln des vergangenen Abends. »Ich muss erst die Hunde ein bisschen rauslassen«, sagte - 482 Dovard und öffnete die Tür des Hauptzwingers. Ein Strom von Hunden schoss heraus, sie schubsten, drängelten, fielen über ihre eigenen Füße in ihrer Eile, ihre Glieder zu strecken und die Sonne zu schmecken. Eine Wasserschüssel wurde umgerissen. »Ich komme bald wieder, ich lasse sie nur einmal um den Hof laufen. Ich sollte es lieber jetzt gleich tun, bevor zu viele Leute aufgestanden sind.« Es wurde wieder still im Zwinger. Faolan starrte die Schlüssel an. Wie konnte er etwas unternehmen, ohne dem Jungen wehzutun oder dafür zu sorgen, dass Alpin seinen Zorn an ihm ausließ ... nein, das war dumm. Er dachte wie eine Frau, nur gute Taten und Mitleid. Er konnte sich heute keine Skrupel leisten, nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand. Es war nur wichtig, Ana in Sicherheit zu bringen. Als der Vogel hereingeflogen kam, brauchte Faolan einen Augenblick, um zu reagieren. Die Krähe setzte sich auf das Geländer oberhalb des Zwingers, warf Faolan einen Blick zu und flog dann mit zwei genau berechneten Schlägen ihrer dunklen Flügel zu dem Haken mit den Schlüsseln. Faolan sah ungläubig zu, als sie begann, mit beherrschten, vorsichtigen Bewegungen ihres kräftigen Schnabels einen Schlüssel vom Ring zu zupfen. Er erinnerte sich daran, dass er an diesem Ort immerhin schon Zeuge geworden war, wie ein Vogel sich in einen
Mann verwandelte, obwohl sich das jetzt beinahe wie ein Traum anfühlte, wie etwas, was er sich nur eingebildet hatte. Der Eisenring mit den Schlüsseln hatte eine kleine Lücke, durch die man weitere Schlüssel hinzufügen konnte. Der Vogel zupfte den ausgewählten Schlüssel auf diese Stelle zu, was wegen des Gewichts der anderen Schlüssel recht schwierig war. Faolan bemerkte, dass er den Atem anhielt und sich intensiv wünschte, dass der Vogel mit dieser Aufgabe zu Ende käme, bevor Dovard mit dem Rudel zurückkehrte. Komm schon, komm schon, du hast es beinahe geschafft... Es klirrte, als die Schlüssel wieder in den Ring zurückfielen. Sicher war jetzt nicht - 483 mehr genug Zeit, noch einmal von vorne anzufangen. Dann ein erneutes Flattern, und die Krähe landete vor der Tür seiner Zelle, den Schlüssel stolz im Schnabel. Ohne ein Wort hob Faolan die Hand, und der Vogel ließ den Schlüssel auf seine Handfläche fallen. Einen Augenblick später war die Krähe verschwunden, und Faolans Freiheit befand sich in dem Beutel an seinem Gürtel. Er aß den Haferbrei, Dovard war kein besonders guter Koch, aber zumindest war das wässrige Gebräu heiß. Dann folgte eine Zeitspanne, die sich wie Tage anfühlte, genug, um seinen Kopf mit unwillkommenen Gedanken zu füllen: Er dachte daran, dass es Ana viel schlimmer treffen würde als ihn, wenn ihre Flucht nicht gelingen würde, er dachte an die anderen, die durch das, was er tat, in Gefahr gerieten, Unschuldige wie Dovard. Er dachte an Deord, den er gezwungen hatte, ihm zu helfen, und an den undurchschaubaren Drustan, dessen Position in dieser ganzen Sache ihm noch nicht so recht klar war. Und er dachte an die Zukunft, eine Zukunft, in der Ana, was sonst auch immer geschehen mochte, zweifellos einen anderen Mann heiraten würde als ihn. Nichts war sicherer als das. War er verrückt? Er hatte die Gelegenheit zu gehen, diesen jämmerlichen Ort hinter sich zu lassen und ungehindert zum Weißen Hügel zurückzukehren. Alpin würde ihn gehen lassen, davon war er überzeugt. Er würde frei und in Sicherheit sein und sein Leben weiterführen können. Was er vorhatte, könnte hingegen dafür sorgen, dass sie alle umgebracht würden und ganz und gar nichts erreichten. Selbst wenn er heute Erfolg hatte und Alpin seine Braut stehlen konnte, würde er den Rest seines Lebens mit einem Messer im Rücken rechnen müssen. Er würde das hässliche Gesicht dieses Kerls jede Nacht in seinen Träumen sehen. Er fing an, sich zu wünschen, dass Bridei ihn nicht als Botschafter und Spion, sondern als Attentäter geschickt hätte. Schließlich sagte ihm wachsender Lärm von draußen, - 484 dass die Männer sich für ihren morgendlichen Spaß im Hof versammelten. Dovard fühlte sich offensichtlich ebenfalls davon verlockt, denn er ging mehrmals zur Tür, aber nicht nach draußen. »Die Spiele sind in Ordnung, aber die Hundekämpfe mag ich überhaupt nicht«, murmelte er. »Dieser Cradig, ich lasse nicht zu, dass er seine Tiere hier hereinbringt, nicht einmal in die Ecke, wo du bist. Seine Hunde sind schrecklich; er hat sie dazu ausgebildet, zu hassen, und das ist etwas, das ein Hund normalerweise nicht tut. Es liegt nicht in seinem Wesen. Wenn seine Tiere auch nur die Nase hier hereinstecken, regt es meine Hunde auf und sie bekommen Albträume.« »Das kann ich mir vorstellen.« Faolan lauschte nun angestrengt, nicht auf das, was der Junge sagte, sondern auf die Geräusche von draußen, er wartete auf seinen Augenblick. Es kamen immer noch Leute an der Zwingertür vorbei. Er durfte sich nicht regen, bis ihre Aufmerksamkeit von etwas, das im Hof geschah, genügend in Bann geschlagen wurde. Er erinnerte sich an das Abendessen von neulich und nahm an, dass das wohl die Hundekämpfe sein würden. Als der Zeitpunkt kam, war es nicht zu überhören, denn die Menge begann zu schreien, zu johlen und zu jubeln, als hätten plötzlich alle den Verstand verloren. Dovards Hunde andererseits wurden erstaunlich still. Der Junge beschäftigte sich damit, die Jagdhalsbänder der Tiere zu reinigen und leise mit seinem eigenen Hund zu sprechen, der zu seinen Füßen saß und schauderte, wenn der Lärm aus dem Hof in Wellen hereinkam; die Männer draußen hatten Blut gerochen, und es hatte eine Gier in ihnen geweckt, die nun befriedigt werden musste. »Schon gut«, sagte Dovard beruhigend, »schon gut, Mädchen, wir machen nachher einen kleinen Spaziergang, nur wir beide, wenn alles vorüber ist. Zur Hölle mit Cradig«, - 485 fügte er hinzu und rieb das Fett heftiger ins Leder. Einen Augenblick später fiel er von seinem Hocker, einen überraschten Ausdruck im Gesicht, bevor er das Bewusstsein verlor. Er hatte weder gehört, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, noch wie Faolan sich mit einem Stück Feuerholz von hinten anschlich. Der Hund, abgelenkt vom Lärm von draußen, begann verspätet mit heftigem Gebell, und der Rest der Hunde fiel ein. An einem normalen Tag hätte es hier schon bald von Wachen gewimmelt. Heute ging der Lärm im Getöse von draußen unter. Faolan zerrte den Jungen in den kleinen Käfig und schloss ihn ein. Die Hündin fletschte die Zähne, aber als Faolan das Knurren erwiderte, zog sie sich zurück, und als er zur Außentür ging, stand sie schon neben der Gittertür, beobachtete ihren bewusstlosen Herrn verängstigt und wimmerte hin und wieder. Dovard würde, wenn er aufwachte, nur schlimme Kopfschmerzen haben. Und mit einigem Glück würde er noch einige Zeit bewusstlos bleiben. Faolan spähte vorsichtig nach draußen. Die Männer hatten sich mitten im Hof versammelt; die Wachen auf den
Zinnen hatten nur Augen für das blutige Spektakel drunten. Faolan spähte in die andere Richtung, zu den Wohnquartieren hin. Der Mann, der das kleine hintere Tor neben dem Zwinger bewachen sollte, hatte seinen Posten verlassen und reckte den Hals, um über das Gedränge hinwegschauen zu können. Er stand genau in Faolans Weg. Faolan hatte keine Zeit nachzudenken. Er schätzte die Entfernung ab, dann eilte er drei Schritte weit nach vorn, warf sich auf den Wachposten und riss ihn zurück in den schmalen Weg, durch das Tor und aus dem allgemeinen Blickfeld. Ein kurzer, aber schwieriger Kampf begann. Der Wachposten hatte den Vorteil, größer und schwerer zu sein, und außerdem verfügte er über zwei Dolche und ein Lederwams. Faolan hatte die Überraschung auf seiner Seite, zumindest kurze Zeit. Er hatte Erfahrung. Und er hatte eine - 486 Harfensaite in der Hand. Er tötete den Mann schnell und lautlos. Es war schwieriger, die Leiche zu verbergen; Faolan faltete sie so gut wie möglich und schob sie in eine dunkle Ecke. Er nahm sich die Dolche und schlich wieder in den Hof. Der Hundekampf war beinahe vorüber; die Rufe waren jetzt überwiegend Triumphgeschrei, und andere Männer pfiffen. Es gab andere Hunde, die dort draußen warteten und von Dienern an fest gespannten Leinen gehalten wurden. Er würde genug Zeit haben, wenn er rasch handelte. Niemand war in der Nähe der Wohngemächer; alle konzentrierten sich auf den Kampf. Er rannte über den Hof, von Schatten zu Schatten. Nun war er drinnen, in dem Gang, der vorbei an Halle und Küche und am Ende zu einer breiten Steintreppe in Alpins Privatgemächer führte. Oben stand ein Wachposten. Faolan drückte sich fest gegen die Wand. Am unteren Ende der Treppe trug eine Frau eine Schüssel vorbei, sie sah ihn jedoch nicht und ging weiter in die Küche. Der Wachposten drehte sich um, bereit, wieder den oberen Flur entlangzugehen. Er langweilte sich offensichtlich und wünschte sich, er könnte nach draußen gehen und bei dem Spaß mitmachen. Spaß. Bei den Göttern, wer außer den Caitt würde so etwas an einem Hochzeitstag veranstalten? Faolan packte den Stein, den er im Beutel gehabt hatte, und schlich die Treppe hinauf. Nun würde er für jeden, der zufällig den unteren Flur durchquerte, deutlich zu sehen sein. Der richtige Zeitpunkt war jetzt entscheidend - das und eine gute Hand. Er erreichte das Ende der Treppe, als der Wachposten am Ende des Flurs ankam, hinter der Tür zu Alpins Zimmer. Der Mann drehte sich um. Der Stein traf ihn genau mitten auf die Stirn, er hatte gerade nach den Waffen greifen wollen, als Faolan warf. Der Mann sank betäubt auf die Knie. Faolan eilte zu ihm und benutzte den Dolch zu einem kurzen, sicheren Stich ins Herz; das war sauberer, als ihm die - 487 Kehle durchzuschneiden. Je länger sie brauchten, um seine Spuren zu entdecken, umso besser. Vor Anas Tür zögerte Faolan und ging noch einmal die Möglichkeiten durch: Die Tür war vielleicht verschlossen, und er würde klopfen oder rufen müssen und damit möglicherweise die Frauen drunten oder andere Bewaffnete auf sich aufmerksam machen. Ana war vielleicht nicht in ihrem Zimmer. Es konnte eine ganze Gruppe von Frauen dort drinnen sein, bereit zu schreien und Hilfe zu holen. Es gab Möglichkeiten, mit all diesen Situationen fertig zu werden, aber er mochte keine davon. Keine Zeit für Skrupel. Er streckte die Hand aus und drückte gegen die Tür. Sie war nicht verriegelt. Sie öffnete sich gut geölt und lautlos einen Spalt breit, und durch diesen Spalt sah er, dass Ana am Fenster stand und über die Mauer hinausschaute. Die Zeit schien einen Augenblick stillzustehen. Faolan wusste, dass er dieses Bild nie vergessen würde, es würde nie die Macht verlieren, sein Herz zu ergreifen. Ihr Haar war offen; der silbrig helle Wasserfall ergoss sich über ihren Rücken, und die Morgensonne verlieh ihm tausend glitzernde Punkte. Was sie trug, war offenbar das Hochzeitskleid; es schmiegte sich an ihre Schultern und lag eng an ihren Brüsten an, bevor es in anmutigen Falten fiel, die hier und da Andeutungen auf die wohl geformte Gestalt darunter machten. Ihr bleiches Gesicht wurde von der Sonne beleuchtet. Faolan verschlang ihre klare Stirn, ihren süßen Mund, die vollendeten Linien von Kinn und Wange mit seinen Blicken. Der dunkle Fleck an ihrem Kinn verringerte ihre Schönheit nicht, aber daran zu denken quälte ihn. Ihre grauen Augen, einst so gelassen, starrten nun mit verzweifelter Traurigkeit auf die Welt hinaus. Und dennoch hielt sie sich gerade. Das war es, was ihn am meisten erschütterte, so zierlich sie sein mochte, sie verfügte über eiserne Disziplin. Sie mochte einem vorkommen wie eine Prinzessin aus einem Märchen, aber Faolan sah in diesem Augenblick die Eigenschaften, die bewirkt hatten, dass er sich in - 488 sie verliebte: ihren Mut und ihre Ehrlichkeit. Er erkannte, dass er auf der ganzen Welt keine Frau finden würde, die ihr gleichkam. »Ana«, sagte er leise. Sie fuhr herum. Sie war weit weg gewesen. »Halte mir die Tür auf.« Sie war so verblüfft, dass sie gehorchte, und sie riss die Augen weit auf, als er den toten Mann ins Zimmer zerrte und ihn hinter die Tür schob. Es war unmöglich, die Blutspur auf dem Steinboden zu verbergen. »Wir gehen«, sagte er. »Jetzt, sofort. Keine Zeit zum Reden. Du brauchst Stiefel und einen Umhang.« »Was?« Sie stand wie angewurzelt da und starrte zuerst die Leiche an, dann Faolan selbst, der die Kleidertruhe geöffnet hatte und sie durchwühlte. »Faolan, was soll das? Was machst du da?«
»Stiefel!«, fauchte er. »Hol sie, zieh sie an und komm mit. Schnell!« »Mit dir kommen?« Ana wich zum Fenster hin zurück. »Sei nicht albern!« Er hatte einen Umhang gefunden, entdeckte ihre Stiefel am Fuß des Betts und griff nach beidem. »Wir gehen nach Hause«, sagte er. »Vertrau mir, Ana. Und jetzt beweg dich.« Er streckte die Hand aus; sie drückte sich gegen die Wand, als hätte sie Angst vor ihm. »Ich bringe dich zurück zum Weißen Hügel. Aber wir müssen sofort gehen, oder wir haben keine Chance.« »Ich komme nicht mit.« »Was?« »Ich sagte, ich komme nicht mit. Es ist mein Hochzeitstag, Faolan. Und jetzt verschwinde, bevor die Wachen kommen.« Beide schauten den Toten an. »Das ist Wahnsinn!« Faolan war am ganzen Körper angespannt von dem Gefühl, dass die Zeit verging, Zeit, die sie nicht verschwenden durften. »Du willst mir doch nicht er- 489 zählen, dass du diesen Alpin tatsächlich heiraten willst? Wenn es dir um den Vertrag geht, vergiss es. Alpin hat nicht vor, sich daran zu halten. Komm jetzt. Schnell!« »Ich gehe nicht mit, Faolan. Ich kann es nicht.« Ihre Stimme war kalt, und es lag eine Kraft darin, die ihm sagte, dass sie es sehr ernst meinte. »Ana, sei nicht dumm ...« Er wollte sie am Arm packen, wollte sie nach draußen zerren, denn er würde sie auf keinen Fall hier lassen; das war vollkommener Wahnsinn. »Fass mich nicht an!« Sie wich zurück, und er erstarrte. Was sollte das? Sie glaubte doch nicht ernsthaft, dass er ein Verräter war? »Ich gehe nicht. Das habe ich dir doch gesagt! Ich muss hier bleiben! Ich kann ihn nicht verlassen. Ich werde es nicht tun!« Faolan zwang sich, tief Luft zu holen. »Ich nehme an, du sprichst nicht von Alpin«, sagte er, und ein seltsames Gefühl überkam ihn, das Gefühl, dass alles auf dem Kopf stand. »Faolan, bitte geh - geh einfach.« »Du wirst ihn nicht verlassen.« Er musste weitermachen, obwohl die Zeit schnell verging. »Wen?« »Drustan«, flüsterte sie, und er sah etwas in ihren Augen, das ihn mehr entsetzte als der Gedanke an Alpins brutale Drohungen, einen Fluss mit Hochwasser und Rudel von Bewaffneten, die sie verfolgten: Er sah die unversöhnliche Entschlossenheit einer verliebten Frau. Ein Mann, der dem Beruf eines Attentäters und Spions nachgeht, ist daran gewöhnt, Dinge zu tun, die ihm persönlich vielleicht unangenehm, aber für die Mission notwendig sind. Es lag eine gewisse Ironie darin, dachte Faolan, dass er so oft in seinen Träumen daran gedacht hatte, wie wunderbar es sein würde, Ana voller Leidenschaft zu berühren, sie nun aber an den Schultern packte, bevor sie ausweichen konnte, bevor sie daran dachte, zu schreien, sie umdrehte und mit dem Unterarm über ihre Kehle einen genau berechneten Druck ausübte, nur so lange, wie es brauchte, dass sie - 490 das Bewusstsein verlor. Er überzeugte sich noch einmal, dass er Umhang und Stiefel hatte, dann manövrierte er sie wie einen Sack Getreide auf seine Schulter und ging zum Zimmer nebenan: Alpins Gemach. Er war nicht überrascht, die kleine Tür zu den Lagerräumen unverschlossen zu finden. Er drängte sich hindurch, balancierte Anas Gewicht, als er sich unter dem Türsturz hindurch duckte und schloss die Tür hinter sich mit dem Fuß. Im Halbdunkel des Lagerraums rührte sich etwas. Er zuckte zusammen, war sich unangenehm bewusst, wie verwundbar er mit dieser Last war, wie hilflos Ana war und bleiben würde, bis sie diese dumme Entschlossenheit, sich nicht retten zu lassen, aufgab. Wie weit konnte er hoffen zu kommen, wenn sie nicht mitmachte? Es war ein langer Weg bis nach Fortriu, und das Gelände war nicht einfach. Er hatte auf ihre Hilfe gezählt. Wieder bewegte sich etwas, schoss an ihm vorbei in tiefere Schatten, und er sah, dass es sich um eine Katze handelte. Er folgte ihr durch einen Irrgarten aus schmalen Gängen und hinaus auf einen Weg zwischen hohen Mauern, wo das Tier sich hinsetzte und nicht weitergehen wollte. Zehn Schritte den Weg entlang begegnete er Deord, der ihm entgegenkam. Der kahlköpfige Mann schien die Situation mit einem Blick zu erfassen. Er wirkte nicht überrascht. »Ist sie verletzt?« »Nein. Sie wollte nicht mitkommen. Können wir auf diesem Weg nach draußen gelangen?« »Geh weiter. Ich schließe hinter dir ab.« Das Tor zu dem dunklen Hof am anderen Ende des Wegs stand offen. Drinnen konnte man Drustan sehen, der sich ruhelos bewegte. Heute schienen Wärter und Gefangener nicht einmal so zu tun, als hielten sie sich an die Regeln. Beim Anblick des blutbespritzten Faolan mit der schlaffen Ana über seiner Schulter sprang Drustan vorwärts, und Faolan fing an, sich zu wünschen, dass Deord den Käfig nicht offen gelassen hatte. - 491 »Sie ist verletzt! Was hast du getan?« Dann war Anas Gewicht, bevor Faolan noch Luft holen konnte, von seiner Schulter verschwunden, und sie lag in Drustans Schoß. Der Gefangene hatte sich auf die Bank gesetzt, stützte die schlaffe Gestalt mit einem Arm und drückte mit der anderen Hand ihren Kopf an seine Schulter.
»Ana!«, rief Drustan erschrocken. »Ana, wach auf!« Dann sah er Faolan anklagend an. »Was ist passiert?« Das war nicht die Reaktion eines entfernten Bekannten, der sich um ihr Wohlergehen sorgte. Der leidenschaftliche Ton, der Blick, die Art, wie Drustan über Anas Wange und ihr Haar strich, alles sprach von den Gefühlen eines Liebenden. Faolan fragte sich, wie das geschehen sein konnte und wie es ihm, dem besten Spion in ganz Fortriu, entgangen war. »Weck sie nicht auf«, sagte er. »Sie weigert sich, mit mir zu kommen. Sie muss in diesem Zustand bleiben, bis wir in Sicherheit sind.« »Du hast ihr wehgetan. Woher kommt dieser blaue Fleck?« Faolan seufzte. Wo blieb Deord? Sie mussten rasch handeln; es konnte nicht lange dauern, bis jemand die Beweise fand, die er zurückgelassen hatte. »Sie wird ein wenig Kopfschmerzen haben, wenn sie aufwacht, und sie wird wütend sein. Ich musste es tun, Drustan. Was den blauen Fleck angeht, das war ich nicht. Und was interessiert es dich überhaupt?« Drustan ignorierte die Frage. Er hatte aufgehört, Ana wecken zu wollen, stattdessen packte er sie nun fester, drückte die Lippen auf ihr Haar, schloss die Augen. »Du bringst sie weg«, murmelte er. Faolan hasste ihn. Er hasste Drustans Hände, die Ana mit der Vertrautheit eines Mannes berührten, der das Recht dazu hatte, er hasste Drustans Dreistigkeit, mit der er tat, was Brauch und Pflichtgefühl Faolan nie gestatten würden. Er hatte davon geträumt, sie so zu berühren. Drustan tat es, - 492 ohne auch nur daran zu denken, wie falsch es war. »Da die Alternative darin besteht, dass Ana deinen Bruder heiratet«, sagte Faolan angespannt, »bringe ich sie weg. Der Vertrag ist wertlos. Alpin hat es selbst zugegeben. Und sie hat Angst vor ihm. Er hat sie geschlagen. Ich werde nicht zulassen, dass sie hier bleibt. Wir müssen sofort aufbrechen. Ich hatte gehofft, dass Deord...« »Er hat Vorräte für dich gepackt.« Drustans Augen waren immer noch geschlossen. Er wiegte Ana in seinen Armen. Faolan hörte, wie ihr Atem sich veränderte, ein Zeichen, dass sie wieder zu Bewusstsein kam. »Wir hatten nicht erwartet, dass du sie mitnehmen würdest. Es ist zu gefährlich. Alpin wird euch mit Hunden jagen. Wie kannst du für ihre Sicherheit sorgen?« »Je länger wir uns hier aufhalten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ich es kann«, fauchte Faolan. »Habe ich Recht, gibt es einen Weg von hier nach draußen, eine Möglichkeit, an den Wachen vorbeizukommen?« »Antworte mir«, forderte Drustan, und obwohl er die Augen immer noch geschlossen hatte, war sein Ton herrisch geworden. »Ana ist geschickter als du glaubst«, sagte Faolan. »Sie hat mein Leben auf dem Weg hierher gerettet und dabei ihr eigenes aufs Spiel gesetzt. Hilf uns einfach nur nach draußen; den Rest erledigen wir selbst.« Dann fiel ihm auf, dass dies die perfekte Gelegenheit für Drustan war, selbst zu entkommen. Er beobachtete die Hände des Gefangenen in Anas goldenem Haar und hielt den Mund. Das Eisentor knarrte und fiel zu. Sehr zu Faolans Erleichterung kam Deord herein, schnell, aber ruhig wie immer. »Ich kann dir Vorräte, eine Waffe und Stiefel geben. In denen da wirst du nicht weit kommen.« Er warf einen Blick auf Faolans gerissene, schlecht passende Schuhe. »Ein Pferd kann ich dir nicht verschaffen. Du bist vielleicht zu Fuß - 493 ohnehin besser dran. Aber die Dame - das hatte ich nicht erwartet.« »Wie viel hast du gestern belauscht?«, fragte Faolan, während Deord einen kleinen, ordentlich gepackten Rucksack aus dem Schlafquartier holte und ihm ein paar abgenutzte, aber brauchbare Stiefel gab. »Genug. Alpin hat dein Geheimnis herausgefunden, er hat dich vielleicht unter Druck gesetzt, Bridei zu verraten. Aus irgendeinem Grund hat er beschlossen, dich eine Weile einzuschließen. Wir wussten nicht genau, ob du fliehen oder tun würdest, was er wollte. Aber als Felsental-Mann hast du getan, was ich unter den Umständen ebenfalls tun würde. Am Ende sind wir nur uns selbst gegenüber Rechenschaft schuldig.« »Du wirst zweifellos Alpin gegenüber Rechenschaft ablegen müssen«, sagte Faolan und sah sich in dem finsteren kleinen Gefängnis um. Drustan saß reglos auf der Bank, Anas helles Haar bildete einen schimmernden Umhang über seine Schulter und seine Brust. Er sah aus wie ein Mann, der kurz davor steht, das einzig Gute auf seiner Welt zu verlieren. »Alpin hat mir Arbeit und ein Dach über dem Kopf gegeben«, sagt Deord. »Nichts mehr als das. Ich bin nicht wegen ihm geblieben. Faolan, du kannst sie nicht mitnehmen. Mit ihr zusammen hast du nicht die geringste Chance zu entkommen.« »Ich nehme sie mit. Sie ist der Grund, weshalb ich gehe. Sie wird diesen Mann nicht heiraten, denn ich werde es nicht erlauben.« »Du erlaubst es nicht?« »Wir haben keine Zeit.« Faolan schwang sich den Rucksack auf den Rücken. »Wo ist der Weg nach draußen, den ihr nehmt, wenn ihr in den Wald geht? Ich habe heute früh zwei Männer getötet und einen anderen bewusstlos geschlagen; ich muss gehen.« Er drehte sich zu Drustan um. »Ich werde sie jetzt nehmen.« - 494 Ana stöhnte leise und drehte den Kopf zur Seite. Sie wurde langsam wach. Drustan fuhr ihr durchs Haar,
streichelte sie sanft, murmelte beruhigende Worte. »Ich habe einen Kräuter trank«, sagte Deord mit einigem Widerstreben. »Wir benutzen ihn an unseren schlimmsten Tagen. Ein wenig davon wird sie länger in diesem Zustand lassen; lange genug, dass du tiefer in den Wald gelangen kannst, bevor sie aufwacht.« »Das würde helfen.« Der Gedanke daran, Ana Drogen einzuflößen, war widerwärtig, aber Deord hatte Recht: Ihre Chancen davonzukommen waren bestenfalls gering, und er musste jede Hilfe nutzen, die sich ihm bot. Er wartete, während Deord eine kleine Phiole aus dem Schafzimmer holte, sie öffnete und Ana eine sehr geringe Dosis eingab. Drustans Züge wurden starrer. »Es lässt einen lange schlafen«, sagte er, »und gibt einem verstörende Träume. Wenn sie aufwacht, wird sie verwirrt und verängstigt sein.« Faolan antwortete nicht, sondern kniete sich einfach neben Drustan, bereit, Ana wieder auf die Schulter zu nehmen. Sie war nun vollkommen ruhig, offenbar wirkte die Droge bereits. Drustan blickte auf. »Deord«, sagte er, »du musst mit ihnen gehen. Bist du nicht an diesen Mann gebunden? Du musst dafür sorgen, dass er frei bleibt.« Schweigen. »Das kann ich nicht«, sagte Deord schlicht. »Ich kann nicht davongehen und dich dir selbst überlassen.« Drustan lächelte freudlos. »Mein Bruder wird einen anderen Wächter für mich finden. Ich will, dass du mit ihnen gehst. Faolan hat Recht, Ana muss nach Hause zurückkehren. Sie darf meinen Bruder nicht heiraten. Nimm sie und lauf. Zusammen könnt ihr es schaffen. Geh, Deord. Ich will, dass du gehst.« »Weißt du, was du da sagst?« Deord hockte sich neben Drustan und sah ihm in die Augen. »Dein Bruder wird wü- 495 tend sein. Er wird hinter Faolan herjagen wie eine Wildkatze, die die Spur eines Kaninchens gewittert hat. Wenn ich ebenfalls gehe und wir ihm entkommen, wird er seinen Zorn an dir auslassen. Ich bin für dich verantwortlich, Drustan. Ich war es seit sieben Jahren. Ich lasse dich nicht zurück.« Dann warf er einen Blick auf Faolan: »Es sei denn...« Faolan musste sich zwingen, es auszusprechen, aber er wusste, dass es das Richtige war. »Warum kommst du nicht mit, Drustan? Komm mit uns in die Freiheit; lass Dornwald hinter dir.« Zwei Augenpaare wandten sich ihm zu. Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. »Ja, warum nicht?«, sagte Deord leise. »Davonfliegen und nie zurückkehren. Das war der Traum jedes Gefangenen in Felsental. Davonfliegen und ein neues Leben beginnen. Nur wenige von uns haben es erreicht.« »Das kann ich nicht tun.« Drustans Stimme war tonlos. »Wir haben alle getötet, einige von uns öfter als einmal«, sagte Faolan. »Du hast den Preis gezahlt. Mehr als den gerechten Preis; dein Bruder hat dir eine schwere Strafe auferlegt. Es wäre dumm von dir, hier zu bleiben.« Und als keiner von ihnen etwas sagte: »Ihr müsst euch jetzt sofort entscheiden. Beide.« »Was, wenn ich gehe und wieder töte?« Drustan schaute auf Ana hinab, ihre Lider waren schwer, ihr Gesicht blass bis auf die Verfärbung an Kinn und Wange. »Du hast einmal gesagt, dass du ihr niemals wehtun würdest«, erinnerte Deord ihn. »War das nun die Wahrheit oder nicht?« »Ich werde Ana nie etwas tun. Sie ist meine Hoffnung.« »Dann komm mit. Alpin wird uns auf allen bekannten Wegen verfolgen, so schwierig sie sein mögen. Aber es gibt Pfade, die nur Hirsch und Bussard, Hase und Fuchs kennen. Du kannst uns führen; du kannst uns zeigen, wie wir ihm entgehen können.« Als der rothaarige Mann nun auf- 496 blickte, stand etwas Neues in seinen Augen. »Du kannst sie retten, Drustan.« Drustan sah sich in dem vertrauten Gefängnis um, als hätte er Angst. »Dann wird sie es erfahren. Sie wird wissen, was ich bin.« »Ich habe keine Zeit für Debatten«, sagte Faolan barsch und hob sich Ana auf die Schultern. »Zeigt mir den Weg nach draußen.« Einen Augenblick glaubte er, dass Drustan Ana nicht hergeben würde und er hielt ihre Hände bis zum letzten Moment. »Sie braucht es nicht zu erfahren«, sagte Deord leise. »Geh in deiner anderen Gestalt. Du hast die Veränderungen jetzt unter Kontrolle. Du brauchst dich nicht zu zeigen. Hier entlang, Faolan.« Er ging in den Schlafraum und schaute über die Schulter zurück. »Geh, Deord«, sagte Drustan. »Ich werde folgen, wenn ich kann.« »Du solltest es tun«, sagte Deord. »Ich will deinen Tod nicht auf dem Gewissen haben. Halte dich nicht zu lange auf.« Er nahm seinen eigenen Rucksack von einem Sims und hängte ihn sich über die Schulter. Dann sagte er zu Faolan: »Gib sie lieber mir, ich habe breitere Schultern. Siehst du, dort ist unser Kaninchenloch in die Freiheit; wir wussten, dass du kommen würdest, also ist es offen. Zieh den Kopf ein.« »Wird er mitkommen?«, fragte Faolan und warf einen Blick zurück, als er in den unterirdischen Gang stieg. »Das sollte er lieber tun«, sagte Deord. »Wenn er es nicht tut, macht er mich damit zu einem Deserteur, zu einem Mann, der einen Freund allein gelassen hat. Wenn er zurückbleibt, wird sein Bruder ihn umbringen. Und jetzt still, bis wir im Wald sind. Warte auf mein Zeichen, bevor wir loslaufen. Ich kenne den Rhythmus, an den die
Wachen sich halten. Bereit?« »Ich bin bereit«, sagte Faolan. - 497 KAPITEL DREIZEHN Die wenigen, die überhaupt von der Existenz dieses Gefängnisses wussten, sagten, dass ein Mann, der die Gefangenschaft im Kerker von Felsental überlebt hatte, keine Angst mehr empfinden konnte: Dieser Ort war von einer Art, dass einem die Schrecken, denen man später im Leben gegenüberstand, so gut wie unbedeutend vorkommen mussten. Ein Überlebender von Felsental war zäh an Körper und Geist; er musste es sein, oder er wäre tot gewesen oder hätte den Verstand verloren, bevor er das Zeichen dieser Bruderschaft wieder ins Licht der Sonne tragen konnte. Dennoch war es Angst, die Faolans Flucht durch den Wald an diesem Tag beschleunigte, Angst nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um die von Ana. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie Alpin sie behandeln würde, wenn man sie fände. Was sein eigenes Überleben anging, so zählte das nur, damit er Ana weiterhin schützen konnte, denn das war wichtig für ihre sichere Rückkehr zum Weißen Hügel. Sie hatten keine Zeit, darüber hinauszudenken. Es war ein Schritt nach dem anderen, Laufen auf unebenen Wegen, Klettern an felsigen Hängen, sich ducken hinter Felsen und Büschen, und dann ein quälend anstrengender Lauf durch offenes Gelände. Manchmal trug Deord Ana, und manchmal fühlte sich Faolan verpflichtet, seinen Teil zu übernehmen, und lud sie auf seine Schultern. - 499 Deords Kräutertrank musste stark gewesen sein. Sie rannten weiter, trieben sich so sehr an, wie es in der rasch vergehenden Zeit möglich war, bevor Alpin unvermeidlich entdeckte, dass seine Braut geflohen war, und immer noch hatte Ana die Augen geschlossen und war bewusstlos, unfähig, ihnen oder sich selbst zu helfen. Sie war auch unfähig zu protestieren; und den Göttern sei Dank dafür, dachte Faolan grimmig und warf dem unermüdlichen Deord einen Blick zu, als sie in einem Eichengehölz hügelabwärts eilten. Gleichzeitig würde er allerdings auch erleichtert sein, wenn sie die Augen wieder öffnete, obwohl ihre ersten Worte vermutlich ein zorniger Protest wären. Was den mysteriösen Drustan anging, so hatte er sich nicht sehen lassen. Faolan dachte an bestimmte Männer, die er im Gefängnis der Ui Neill gesehen hatte, Männer, die sich ebenso verzweifelt nach Freiheit sehnten wie er und dennoch nicht an Flucht dachten, Männer, für die die Grausamkeit und Erniedrigung und jeder einzelne mörderische Tag irgendwie eine sicherere Aussicht geworden waren als der erschreckende Traum von einer Welt draußen mit ihrer Vielfalt von Entscheidungen. Gefangenschaft konnte einem Mann so etwas antun. Wenn er lange genug im Gefängnis blieb, nahm es ihm sein Urteilsvermögen, sodass Freiheit zu etwas wurde, was er fürchtete, zu seltsam und zu schwierig, um es auch nur in Erwägung zu ziehen, selbst wenn der Weg offen stand. Solche Männer standen an der Tür und schauten hinaus auf Sonne, grüne Felder und wilde Berge und dann zogen sie sich wieder in ihre dunkle Höhle zurück. Faolan hatte die Angst in Drustans Augen gesehen, als er der Möglichkeit gegenüberstand, Dornwald und sein Gefängnis für immer hinter sich zu lassen. Sieben Jahre waren eine lange Zeit. Er sollte lieber nicht noch länger zögern. Wahrscheinlich hatte man bereits Alarm geschlagen. Zweifellos würde Alpin überall suchen, sobald er Anas Zimmer leer vorgefunden - 500 hatte. Faolan und Deord würden gejagt werden, und wenn Drustan bliebe, würde Alpin seinen Zorn vor allem an ihm auslassen. Faolan konnte sich dennoch nicht dazu überwinden, sich zu wünschen, dass der Vogelmann sich ihnen anschlösse. Während er Deord den Hang hinunter zu einem flachen Bach folgte und grimmig hineinwatete, immer auf den Spuren des anderen Mannes - mit einigem Glück würde dies die Hunde von ihrer Spur abbringen -, sah er vor seinem geistigen Auge Drustans Hände auf Anas Körper, Drustans Lippen in ihrem goldenen Haar; er hörte Anas trotzige Stimme: Ich komme nicht mit. Es war lächerlich, unmöglich. Der Mann war vielleicht nicht verrückt, aber er war - er war, was er war, ein seltsames Geschöpf, und je weiter sie sich von ihm weg bewegten, desto froher würde Faolan sein. Er wünschte Drustan nichts Böses, er hoffte nur, dass er in die entgegengesetzte Richtung flog, nach Hause zu seinem Landsitz im Westen. Dennoch warf er einen Blick durch die grünen Wipfel der Eichen zum Himmel. »Keine Spur«, sagte Deord, der innehielt, um Ana auf seinen breiten Schultern zurechtzurücken. Ihr Haar, das sie in den Umhang gesteckt hatten, löste sich nun und die langen Locken, hell wie Sommerweizen, berührten das Bachwasser. Deord war so ruhig wie eh und je, aber sein Blick war trostlos. »Es ist seine eigene Entscheidung.« Faolan trat hinter ihn und versuchte, ihm zu helfen. Er packte Anas Haar und steckte es so gut er konnte wieder unter den Umhang. »Er wollte, dass du das hier tust. Und er ist erwachsen.« »Wir brauchen ihn«, sagte Deord. »Alpin ist im Vorteil, solange wir keine Wege finden können, die er nicht kennt. Bete, dass Drustan uns vor seinem Bruder erreicht. Bist du fertig?« »Mhm«, knurrte Faolan. Es war auf eine finstere Art passend, dachte er, als sie weiter bachaufwärts wateten, dass Drustans Hände diese seidigen Strähnen gestreichelt hatten, - 501 seine eigenen sie aber nur bündeln und ungeschickt aus dem Weg schaffen konnten. Ana war für ihr Unternehmen nicht gut gekleidet, die geliehene Tunika und die Hose, die sie auf dem Weg nach Dornwald
getragen hatte, wären erheblich besser gewesen. Er musste versuchen, unterwegs solche Dinge für sie zu beschaffen, ihr auf einem Bauernhof oder in einem Dorf Kleider zu leihen oder zu stehlen. Sie konnte nicht in einem Hochzeitskleid davonrennen. Und die Nächte waren kalt. Nun schien es undenkbar, sie so zu wärmen, wie er es zuvor getan hatte, mit seinem eigenen Körper. Deord stieg aus dem Bachbett und stapfte einen bewaldeten Hang hinauf, wo die Eichen von silbrigen Birken abgelöst wurden. Kleine Vögel schössen zwischen den Ästen umher und zwitscherten einander zu. Fragmente von Rinde oder Zweigen, gelöst von ihrer Aktivität, fielen vor den Füßen der Männer auf den Waldboden, und etwas raschelte im Unterholz: nur ein Tier auf der Suche nach Futter. Dann hörten sie aus der Ferne ein neues Geräusch: das Bellen der Jagdhunde. Deord hielt inne und warf einen Blick zu Faolan. »Wir müssen vielleicht zurück ins Wasser«, sagte er. »Kannst du schwimmen?« »Wenn ich muss. Ich weiß nicht, ob Ana es kann.« »Wo bleibt Drustan? Wir brauchen ihn«, murmelte Deord, als sie über die Hügelkuppe kamen, was genug Platz bot, dass sie Ana gemeinsam tragen konnten. Bald schon war das Hochzeitskleid eher schlammbraun als cremefarben. Anas Haar hatte sich wieder gelöst und verfing sich in allem. Deord nahm das Messer vom Gürtel und schnitt mit drei raschen, kundigen Schnitten die langen blonden Locken in Schulterhöhe ab. Faolan war sprachlos. »Steck es in deinen Rucksack«, sagte Deord. »Wir können zwar nicht schneller laufen als die Hunde, aber wir sollten zumindest vermeiden, ihnen eine Spur zu hinterlassen. Steh nicht einfach da, tu es. Und jetzt komm. Beeil dich.« - 502 Sie liefen. Deord fand Wege, die Faolan kaum sehen konnte, schlammige Kanäle, überwuchert von Ranken und Büschen, schmale Rinnen zwischen hohen Steinen, gefährliche Pfade, die besser für Ziegen als für Menschen geeignet waren. Sie sprangen von einem Trittstein zum anderen, und wo es keine Steine gab, wateten sie durch kniehohe, rauschende Bäche. Sie stapften durch sumpfige Senken und balancierten über gefährliche Brücken, die nur aus einem umgestürzten Baumstamm bestanden. Deord hatte es ernst gemeint, als er Faolan anwies, sich zu beeilen: Selbst mit Ana auf den Schultern waren sein Tempo und sein Durchhaltevermögen erstaunlich. Faolan schloss seinen Geist gegen alle Ablenkung ab und konzentrierte sich auf den Weg. Sie erreichten das Ufer eines einsamen Sees, hinter dem sich steile Hänge zu einer Furcht erregenden Reihe von Gipfeln zogen. Sie bestanden aus hellem, nacktem Fels und wirkten so unüberwindlich wie eine Bruderschaft uralter Götter. An ihren Flanken wuchsen Kiefern bis zum Seeufer, und das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. Nicht weit entfernt von der Stelle, wo die beiden Männer aus dem Wald gekommen waren, stürzte ein hoher Wasserfall in einem anmutigen weißen Band über die Felsen zum See hinab. Das Tosen des Wassers übertönte die eindringlichen Stimmen von Alpins Jagdhunden nicht vollständig; sie kamen schnell näher, zweifellos gefolgt von Männern zu Pferd. An diesem steinigen Ufer entlangzugehen, würde die Flüchtlinge zu sehr aufhalten. Wohin ein Mensch gehen konnte, konnte ein Hund folgen, außerdem würde jeder Weg um diese Wasserfläche an einem Hang enden, der zu steil war, als dass man ihn erklettern konnte. Der See lag in einer tiefen Felsschüssel, und es gab nur einen Weg dorthin: der, auf dem sie gekommen waren. Der Weg, auf dem Alpin ihnen folgte. - 503 »Wohin kann ein Mensch gehen und ein Hund nicht?«, murmelte Deord. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann erklang ein leises Stöhnen von Ana. Die beiden Männer sahen sich an. Gemeinsam wandten sie sich dem Wasserfall zu. »Halb eine Klippe hinauf«, sagte Faolan, während hinter ihnen im Wald ein Jagdhorn erklang, »oder noch besser, halb eine Klippe hinauf und hinter das Wasser.« Beide begannen zu laufen. »Bei allem, was heilig ist... wenn diese Geschichte jemals erzählt wird, werden darin zwei Verrückte vorkommen, und keiner von ihnen ist Drustan ...« »Spar dir deinen Atem«, grunzte Deord. Ana kam wieder zu Bewusstsein. Sie unternahm schwache Versuche, sich zu wehren, und stöhnte, als stünde ihr Kopf in Flammen. Deord schlang die Arme fest um ihre Knie und den Rücken, wo sie auf seinen Schultern lag. Schon bald, dachte Faolan, würde es egal sein, wie viel Lärm sie machte. Dem Klang des Bellens nach zu schließen, würden die Hunde sie sehen können, bevor sie bis fünfzig zählen konnten. Sie kämpften sich über Steine und durch dichtes Gras. Der Lärm des Wasserfalls war ohrenbetäubend, eine machtvolle Herausforderung: Nähert euch auf eigene Gefahr! Wo das Wasser den See traf, gab es einen Teich, und so abgelegen der Ort auch sein mochte, Menschen hatten hier dennoch Opfergaben an die Büsche gebunden, Leinenstreifen, verschlissene Bänder, ausfransende Wolle. Wer würde nicht die wilde Gottheit beschwichtigen wollen, der dieses wilde Wasser gehörte? Faolan schauderte, er musste wieder an die Furt denken. Um Anas willen hoffte er, dass sie noch eine Weile nicht vollkommen wach werden würde. »Nach oben«, sagte Deord. »Rauf und in Deckung, bevor sie uns sehen können. Hier, nimm sie.« Faolan schaute nach oben. Hoch an der Klippe, zum Teil - 504 verborgen durch einen wirbelnden Nebel aus Wassertröpfchen, konnte er sehen, wie Vögel hinter dem herabstürzenden Wasser ein und aus flogen, es gab dort vielleicht eine Höhle. Der Weg nach oben war
gefährlich, die Steine waren glatt und mit Moos überzogen. Er konnte sich kaum weigern, Ana eine Weile zu tragen. Aber dort hinauf? Wofür hielt Deord ihn, für ein Eichhörnchen? »Schnell! Geh!« Deord legte Ana auf Faolans Rücken. Faolan hob die Arme, um sie festzuhalten, doch wie sollte er nun klettern? »Ich werde euch über das erste Stück helfen«, sagte Deord. »Halte sie mit einer Hand, klettere mit der anderen. Du kannst es schaffen.« Es schien unmöglich. Faolan biss die Zähne zusammen, rückte sich Ana auf eine Schulter, sodass ihr Kopf an seinem Rücken hing, und begann, langsam nach oben zu steigen. Es war verrückt. Dieser ganze Tag war verrückt. Einmal rutschte er aus, und sein und ihr Gewicht zogen ihn zur Seite, sie schwankten über den Felsvorsprung, das Wasser rauschte, und sein Herz klopfte laut. Deords Hand kam von hinten, stützte Ana und korrigierte Faolans eigene Position mit einem einzigen sicheren Schieben. Sie erreichten ein Sims, und Faolan wagte wieder zu atmen. »Weiter«, schrie Deord über das Tosen des Falls hinweg. »Dort hinauf. Dort sollte eine Höhle sein. Versteckt euch und wartet.« »Bis wir verhungern?«, witzelte Faolan grimmig, spähte nach oben und versuchte sich davon zu überzeugen, dass sich hinter der Masse wilden Wassers tatsächlich eine Höhle befand. »Nicht nötig.« Deord hatte losgelassen und kletterte wieder nach unten. »Ich werde sie in die falsche Richtung lenken, werde den Hunden eine andere Spur legen. Wenn ich bei Sonnenuntergang nicht wieder hier bin, geht ohne mich weiter. Ich würde raten, nach oben zu klettern und nach einem Weg über diese Hügel zu suchen.« - 505 »Was ...« Das war Selbstmord. Der Mann hatte vollkommen den Verstand verloren. »Mach schon, Faolan.« Deord sah ihn an. Sein Blick war ruhig und stetig wie immer. »Wenn ich es nicht tue, werden wir hier festsitzen wie Ratten in einer Falle, während sie darauf warten, dass wir aufgeben. Und jetzt rauf mit euch, bevor sie euch sehen. Du kannst es schaffen. Pass gut auf sie auf, Barde. Grüße Drustan von mir, wenn er kommt.« Faolan war verblüfft, und bevor er noch etwas sagen konnte, war Deord die Klippe hinunter verschwunden, und es war zu spät, um sich zu bedanken oder sich zu verabschieden. Faolan legte die restliche Kletterpartie zur Höhle zurück, ohne auch nur zu merken, was er tat. Er hatte keine Zeit, sich vor einem Sturz zu fürchten oder für irgendetwas anderes, außer automatisch das Gleichgewicht oder den Halt zu finden, die sie weiter nach oben brachten, ohne Ana fallen zu lassen oder selbst zu stürzen. Er schaute nicht abwärts. Er sah nicht, was Deord tat, und er lauschte auch nicht mehr nach Hunden oder Pferden oder jagenden Männern. Schließlich erreichte er ein breiteres Sims, das sich in eine tiefe Nische unter einem scharfen Felsüberhang zog. Das Wasser fiel über den vorspringenden Stein, und die flache Höhle darunter war erfüllt von seinen Geräuschen. Die Nische hatte einen Boden aus Stein, der nicht vollkommen nass war. Von drinnen schaute Faolan hinaus zu dem weißen, rauschenden Wasser, das von hinten beleuchtet wurde. Die Stimme des Wasserfalls war gewaltig. Faolan legte Ana auf den Boden und verzog das Gesicht bei den Schmerzen in seinem Rücken, seinen Knien, seinen aufgeschürften Händen. Das Licht in der Höhle war geisterhaft, ein bleiches Schimmern durch sich bewegendes Wasser, Anas ohnehin blasses Gesicht sah nun kränklich weiß aus. Sie regte sich, sie schauderte. Ihr Kleid war nass, Faolans eigene Kleidung - 506 nicht trockener. Er konzentrierte sich auf die praktischen Dinge, die er tun konnte: Er setzte den Rucksack ab, suchte nach etwas Warmem und Trockenem - was hatte Deord hier eingepackt, einen Umhang? Ah, eine fest gefaltete Decke - und wickelte Ana hinein. Er sorgte dafür, dass sie an einer sicheren Stelle lag und nicht über den Rand des Simses rollen konnte, wenn sie verängstigt und verwirrt aufwachte. Die ganze Zeit sah er dabei Deord vor sich, Deord, der wieder nach unten kletterte, Deord, der sich durch den Wald jagen ließ, Deord, der sich selbst auslieferte, damit Faolan und Ana vor Verfolgung sicher waren. Warum? Der Mann kannte sie kaum. Selbst die Verbindung durch Felsental verlangte kein solches Opfer. Er hätte Deord nicht gehen lassen dürfen, er hätte darauf bestehen müssen... aber dann hätten sie sie alle erwischt, sogar Ana. Vielleicht wusste Deord, was er tat. Warte bis zum Sonnenuntergang, hatte er gesagt. Bis zum Sonnenuntergang war immer noch lange Zeit. Sie brauchten Hilfe. Wo, im Namen aller Götter, war Drustan? Und wie zur Antwort auf die unausgesprochene Frage erschien ein kleines Geschöpf, flatterte am Wasservorhang vorbei, landete und schüttelte die Tröpfchen aus dem roten Gefieder. Nicht der Falke, den sie brauchten; nur der Kreuzschnabel. Faolan starrte den Vogel ablehnend an. »Faolan?« Anas Stimme war schwach, aber er hörte sie durch die mächtige Musik des Wassers. »Faolan, wo sind wir?« Er erklärte es, so schlicht und klar er konnte, während Ana mit spitzem Gesicht und umschatteten Augen dasaß und die Decke fest um sich zog. Er sagte nicht, wie sehr es ihm wehgetan hatte, als sie ihn für einen Verräter hielt. Davon sprach er nicht, nur davon, dass Alpin den Vertrag nicht einhalten würde und dass es notwendig geworden war, sie wegzubringen, bevor sie sich durch diesen Hohn einer Ehe verpflichtete. Er entschuldigte sich dafür, sie be- 507 wusstlos gemacht zu haben. Er erklärte, dass Deord ihnen geholfen hatte und dass Deord jetzt weg war. »Was ist mit dir los, Faolan?«
»Was soll mit mir los sein?« Er hockte nahe bei ihr, behielt sie im Auge, der Schatten von Drogenträumen lag immer noch in ihrem Blick, und er fürchtete, sie könnte plötzlich versuchen zu fliehen. Hier war man nirgendwo sicher, die Höhle war die beste Zuflucht. Vor ihnen, verborgen vom Wasser, lag ein Sturz in den sicheren Tod. Draußen auf der Klippe würden Alpins Männer sie sehen können, wenn sie aus dem Wald kamen. Sie waren vielleicht auch in Bogenschussweite. »Du siehst aus, als könntest du den kalten Atem der Knochenmutter spüren«, sagte sie. »Ich ...« Er zögerte, verstört darüber, dass sie ihn so leicht durchschauen konnte. »Ich habe keine Ahnung, wie Deord das überleben sollte«, sagte er, denn er wusste, dass sie die Wahrheit hören wollte. »Alpin ist mit seinen Jagdhunden da draußen. Ein einziger Mann, so fähig er sein mag, kann den Hunden und den berittenen Kriegern nicht entgehen. Sie werden ihn erwischen. Dann werden sie ihn töten oder versuchen zu erfahren, wo wir sind. Was langfristig auf das Gleiche hinausläuft. Warum hat er das getan?« Er erwartete keine Antwort, und Ana schwieg. Sie hatte den Kopf nun gesenkt, als wäre sie bereits besiegt. Der Kreuzschnabel flatterte auf und landete auf ihrer Schulter, und sie zuckte heftig zusammen. »Oh!« Sie sah sich in der Höhle um, als gäbe es Geister in den Ecken. Dann ließ sie die Decke los, die sie zuvor fest umklammert hatte, und streichelte den kleinen Vogel mit einer Hand; das schien sie zu beruhigen. Dennoch, Faolan behielt sie weiterhin gut im Auge. Er fürchtete, dass sie in diesem Zustand zu allem fähig war. »Das mit deinem Haar tut mir Leid«, sagte er, »Deord hat es abgeschnitten. Ich konnte ihn nicht aufhalten.« - 508 Ana bewegte die Finger vom Vogel zu den abgehackten Enden ihres Haars. Sie schien kaum zu bemerken, was geschehen war. »Faolan, ich muss zurückkehren«, sagte sie und starrte den Vorhang rauschenden Wassers an, als hätte sie tatsächlich vor, dort hinauszuspringen, wenn das ihre einzige Möglichkeit war. »Ich hatte Träume... solch grausame Träume ... als ich aufwachte und wir hier waren, dachte ich, vielleicht...« »Was?« fragte er leise. »Ich - ich dachte, es wäre vielleicht alles ein Traum gewesen; dass dies vielleicht immer noch die Tage nach der Furt wären ... hier draußen, wo wir Schutz suchten, als wir froren und alles nass war ... ich habe so viel Tod gesehen, Tod und Blut und Grausamkeit... ich weiß offenbar nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit ist, Faolan. Es macht mir Angst.« »Das ist der Kräutertrank, den Deord dir gegeben hat. Er hat eine solche Wirkung. Die Verwirrung wird verschwinden, wenn die Wirkung nachlässt.« »Warum hat Deord ... oh. 0 ja, ich erinnere mich. Ich wollte nicht ... und du hast einen Wachposten getötet ... Faolan?« »Was ist?« Jetzt würde sie fragen, und er musste die Kränkung hinunterschlucken und eine Antwort finden. »Ich kann nicht mit dir gehen«, sagte sie schließlich. »Warum nicht? Weil du glaubst, ich würde dem König von Fortriu einen Dolch in den Rücken stoßen?« »Nein. Ich ... ich habe es vielleicht einen Augenblick geglaubt. Du hast selbst gesagt, dass es die Wahrheit ist.« »Du musst eine sehr schlechte Meinung von mir haben, wenn du so schnell bereit warst, mich für einen Verräter zu halten.« Er konnte selbst hören, wie angespannt er klang. Ana schwieg einen Augenblick und dann sagte sie: »Ich habe diesen Gedanken beinahe sofort wieder abgetan, Faolan. Ich bin sicher, du hast eine gute Erklärung für das, was - 509 du gesagt hast.« Sie hielt den Kreuzschnabel nun in beiden Händen und Faolan fragte sich, ob Drustan es spüren konnte, wenn sie die Flügel des kleinen Vogels streichelte. Nach ihm hatte sie nicht gefragt. »Bridei weiß alles über die Arbeit, die ich für Gabhran von Dalriada leiste«, sagte er. »Gabhran andererseits weiß nicht, dass ich für Bridei arbeite. Gabhrans Zahlungen abzulehnen, würde mich nur verdächtig machen. Es war ein sehr nützliches Arrangement für Fortriu. Nun, da Alpin mich entlarvt hat, ist es zu Ende.« Ana sah ihn ernst an; ihr Blick tröstete ihn. »Ich verstehe«, sagte sie. »Es ist schade, dass solche Heimtücke und Unehrlichkeit vonnöten sind, aber meine eigene Lage hat mir nur zu deutlich gemacht, dass Könige und ihre wichtigsten Berater solche Spiele spielen müssen. Ich könnte nie deine Arbeit tun, Faolan. Bridei verlangt viel von dir.« Wieder hatte sie ihn überrascht. »Und von dir«, sagte er. »Wie meintest du das, du musst zurück? Du willst mir doch nicht sagen, dass du immer noch daran denkst, Alpin zu heiraten? Nach all dem?« »Ich dachte ... ich dachte, ich könnte allein zurückkehren. Ich kann ihm sagen, dass du mich entführt hast. Das ist sogar die Wahrheit. Du kannst zum Weißen Hügel zurückkehren. Ich muss in Dornwald bleiben, Faolan. Ich habe es dir schon zuvor gesagt. Und ich habe es ernst gemeint.« Sie begann zu zittern. Ihr Rock war dunkel von Wasser, sicherlich fror sie. Die Decke war das einzig Trockene, was er ihr geben konnte. Wenn sich das nicht bald änderte, würde sie an der Kälte sterben, ehe sie auch nur die Grenzen von Alpins Territorium erreichten. Faolan verfluchte die Caitt und diesen Ort. Dann kam ihm ein finsterer Gedanke. Wenn er sie belog, konnte er sie vielleicht dazu bringen, ihre verrückte Idee aufzugeben. Er musste nur sagen, dass Drustan beschlossen hatte, nicht zu ihnen zu kommen; dass er Faolan gebeten - 510 hatte, Ana nach Hause zu bringen, und selbst zu seinen Ländereien im Westen geflogen war, als man ihm die
Freiheit bot. Nein, nicht geflogen, das konnte er nicht sagen. Drustan hatte ihn verpflichtet, ihr diese Wahrheit nicht zu verraten, und Faolan würde sich an sein Versprechen halten. Aber er konnte Ana zumindest davon überzeugen, dass der Vogelmann es vorzog, seine neu gefundene Freiheit allein zu genießen, und dann würde sie keinen Grund haben, zu dieser schlecht beratenen Rettungsmission davonzulaufen. Es entsprach vielleicht sogar der Wahrheit. Wenn Drustan wirklich vorgehabt hatte, ihnen zu folgen, warum war er dann nicht hier? Es sah aus, als hätte er ihr den Rücken zugekehrt. Jeder anderen Frau hätte Faolan das sofort gesagt. »Faolan?« Ana sah ihn forschend an. »Du verstehst das doch, oder? Ich kann Drustan nicht allein lassen. Wenn Deord ihn verlassen hat, ist er jetzt allein. Drustan wird Dornwald nie verlassen. Er ist überzeugt, dass er jemandem Schaden zufügen wird, wenn er frei ist. Er hat niemanden, Faolan. Kannst du dir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt?« Er hörte die Veränderung in ihrer Stimme, als sie Drustans Namen aussprach, sah, wie sie den Vogel hoch hob, um ihre Wange an sein helles Gefieder zu schmiegen. In diesem Augenblick empfand er mörderischen Hass auf Drustan. Aber er konnte Ana nicht hassen. »Deord ist nur gegangen, weil Drustan es ihm befohlen hat«, sagte er. »Deord und ich haben versucht, ihn dazu zu bewegen, mit uns zu kommen. Es schien ihm schwer zu fallen, eine Entscheidung zu treffen. Er sagte, er würde später nachkommen. Er ist nicht so dumm, zurückzubleiben und sich dem Zorn seines Bruders allein zu stellen. Wenn du zurückkehren würdest, würdest du direkt in Alpins Arme laufen. In Alpins Bett. Und wenn du das wirklich willst, habe ich dich vollkommen falsch eingeschätzt.« Das war vielleicht grausam, aber er musste sie irgendwie von diesem Gedanken ab- 511 bringen. »Und vollkommen sinnlos, wenn Drustan bereits aufgebrochen ist.« Er brauchte die anderen Gründe nicht aufzuzählen, wieso ihr Plan dumm und lächerlich war: dass ihre Kleidung nass war, dass sie den Weg nicht kannte, dass es spät wurde. Das Gelände war selbst für Deord schwierig gewesen. Solche Argumente zählten für sie nicht, und das wusste er. »Es könnte durchaus sein, dass er nicht geht«, sagte Ana leise. »Er glaubt an seine eigene Schuld. Er hat Angst vor dem, was er tun könnte. Er glaubt nicht an sich selbst.« »Aber du tust es.« »Ich tue was?« »Dein Glaube an ihn ist verblüffend. Offenbar bist du zu dem Schluss gekommen, dass er unschuldig ist, trotz seiner eigenen Zweifel in dieser Sache.« Sie schwieg. »Er wäre inzwischen doch hier, oder?« Ana klang sehr bedrückt. »Wenn er käme, wäre er jetzt hier.« »Wer weiß? Es war nicht unsere Entscheidung, sondern seine. Wir haben den Weg offen gelassen.« »Und wenn er nicht hier ist, dann, weil er nicht mitkommen wollte.« Faolan schwieg. Er sah, wie ihre Tränen von ihren bleichen Wangen auf die Decke fielen. Er erinnerte sich an Drustans Mund an ihrem Haar und verhärtete sein Herz. »Das weiß ich nicht. Ich kenne den Mann kaum. Ich weiß, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre, wäre ich sofort geflohen, sobald ich die Gelegenheit erhielt. Ich habe keine Ahnung, wie Drustan denkt. Es heißt, er sei verrückt. Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht zieht er es vor, gefangen zu sein.« »Nein«, sagte Ana und schniefte. »Er liebt die Sonne. Er liebt den Wald und die frische Luft. Niemand könnte einen dunklen, feuchten Ort wie den, an dem er eingekerkert war, der Freiheit vorziehen. Warum ist er nicht hier?« - 512 »Vielleicht hat er geglaubt, es genügt, seinen Vogel zu schicken.« Sie schwieg. In ihrem Blick stand Verzweiflung. »Ana?« Sie sah ihn an. »Wie ist das geschehen? Du und er? Deord sagte mir, dass du den beiden begegnet bist. Aber das war nur ein einziges Mal. Wie ...« »Es gab eine Stelle in dem kleinen Hof. Eine Stelle, an der man flüstern und einander hören konnte. Ich habe mit ihm gesprochen. Wir haben die Stelle zufällig gefunden, Ludha und ich. Ludha... Faolan, wir müssen zurückkehren! Alpin hat sie bestraft. Sie ist in Gefahr, und es ist meine Schuld!« Faolan dachte an Dovard, der bewusstlos im Hundezwinger lag, ein weiteres unschuldiges Opfer, das wahrscheinlich verprügelt werden würde oder Schlimmeres, weil er den Gefangenen hatte entkommen lassen. »Wir können nichts tun«, sagte er. »Sie stehen alle unter Alpins Herrschaft. Wenn du versuchst, dich jetzt einzumischen, wird er dich einfach nur der Liste der Missetäter hinzufügen, die er bestrafen muss.« »Aber...« »Benutz deinen Verstand, Ana. Du kannst nicht zurückkehren. Wir müssen jetzt auf Deord warten und dann versuchen, nach Hause zu gelangen, nach Fortriu. Deord kann uns helfen, er ist stark, und er weiß, was er tut. Sobald wir Alpins Territorium verlassen haben, sollte es einfacher sein, an Ausrüstung zu kommen. Es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren.« Er dachte an Bridei, der inzwischen vielleicht schon auf dem Weg nach Dalriada war und an Bridei, der nicht wusste, dass sich Alpin bereits mit den Galen zusammengetan hatte. »Zu Fuß?«, fragte Ana. Sie nahm den Kreuzschnabel in eine Hand und benutzte die andere wie ein Kind, um
sich die Tränen von den Wangen zu wischen. - 513 »Jetzt weißt du, warum ich darauf bestanden habe, dass du Stiefel anziehst«, sagte Faolan. »Es wird langsamer gehen, aber in gewisser Weise einfacher sein; wir können Wege benutzen, an die Alpin nicht denken würde.« Sie schwieg. Vielleicht hatte sie die Wahrheit hinter seinen forschen, selbstsicheren Worten erkannt: dass es ein langer Weg über schwieriges Gelände sein würde und dass der einzige Weg, den er kannte, der war, den sie nicht nehmen durften. Dass der Mann, der ihnen am meisten helfen könnte, derjenige war, den er hoffte, nie wieder zu sehen. »Ana?« Er konnte einfach seinen dummen Mund nicht halten; er musste sie fragen. »Was ist?« »Du und Drustan - was hat... wie kommt es ... wieso hast du ...«Ihr Götter, er klang wie ein stotternder Fünfzehnjähriger, der wegen seiner Dorfliebsten fast den Verstand verliert. Er wünschte sich, er wäre ihr nie begegnet. Sie hatte ihn dazu gebracht, sie zu lieben, sie hatte ihn dazu gebracht, wieder Gefühle zu empfinden. Nun war er verwundbar und unglücklich, geschwächt durch den Riss, den sie in seinem Herzen geöffnet hatte. Sie hatte seine dunkelsten Erinnerungen geweckt und ihn dazu gebracht, zu weinen, zu hassen und zu lieben. Er wollte wieder der alte Faolan sein, der, den alle für hart und herzlos hielten, ein Mann, der nicht zu Gefühlen fähig war. »Schon gut«, sagte er. »Ich sollte mich lieber draußen umsehen. Wenn jemand hier hinaufgeklettert kommt, werden wir es wegen des Wassers nicht hören. Es kann sein, dass Deord nicht alle von Alpins Leuten auf eine falsche Spur locken konnte; wenn sie sich geteilt haben, wird es ihnen nicht schwer fallen, unserer Spur zu folgen. Du hast das Messer, das ich dir gegeben habe, nicht mehr, oder?« Ana verzog das Gesicht. »Ich hatte nicht erwartet, es an meinem Hochzeitstag zu brauchen, Faolan.« Er musste einfach lächeln. »Ich kann mir ein paar gute - 514 Zwecke dafür vorstellen. Ich habe hier ein anderes, kleineres. Nimm es. Wenn wir Glück haben, ist niemand da draußen. Aber du solltest auf alles gefasst sein.« Sie betrachtete das kleine Messer in seiner Lederscheide, zog es heraus und betrachtete die makellos saubere Klinge, die tödlich scharf aussah. »Deords Messer«, sagte Faolan. »Und jetzt tu nichts Dummes, denn ich werde deine Hilfe brauchen.« »Nichts Dummes«, wiederholte sie. »Wie mir die Pulsadern aufzuschneiden?« Beide schwiegen, nur das Wasser ließ seine Stimme vernehmen. Dann sagte Ana: »Du kennst mich wirklich nicht, Faolan. Ich halte das Leben in Ehren, selbst wenn es Leid und Trauer bringt. Also geh. Wenn du dich draußen umsehen musst, sieh dich um. Und versuche, dich nicht umbringen zu lassen. Es sieht so aus, als wärst du der einzige Freund, der mir geblieben ist.« Es kam Broichan so vor, als spürte er ein Gift, das sich durch seinen Körper arbeitete, das ihn verschlang, wie Mehltau es mit einer Rose tat oder ein Wurm mit einem Apfel - von drinnen her. Es war lange her, seit ein tückischer Feind ihm eine Dosis Gift eingegeben hatte, ein Gebräu, das selbst der Druide des Königs erst erkannte, als die Symptome begannen: mörderische Halsschmerzen, wässriger Durchfall, betäubende Schmerzen in den Gelenken. Er hatte all das ertragen, ohne sich zu beschweren, denn er verfügte über gewaltige Selbstdisziplin; es war die Trübung des Geistes, die am schwersten zu ertragen gewesen war. In den ersten Tagen nach diesem früheren Versuch, ihn zu ermorden, hatte er sich immer nur für einen Augenblick konzentrieren können. Kaum hatte er einen Gedanken, eine Idee erfasst, war sie auch schon wieder verschwunden gewesen. Es war ihm schwer gefallen, sich auch nur an die Lehren zu erinnern, die doch einmal bis in sein Mark gedrungen waren, schwer erarbeitet in neun- 515 zehn Jahren als Novize: die Belehrungen durch die Druiden, die Geschichte, die Gebete, die Rituale. Selbst das Wissen um die Bäume hatte ihn in dieser finsteren Zeit verlassen, als er gegen die fremden Substanzen in seinem Körper ankämpfte und die Knochenmutter anflehte, ihn noch nicht zu holen. Nicht zu diesem Zeitpunkt, an dem Brideis Erziehung kaum erst begonnen hatte, von der doch die gesamte Zukunft von Fortriu abhing. Die Göttin hatte ihn erhört; sie hatte ihn verschont und ihn nach Pitnochie und zu seinem kleinen Pflegesohn zurückkehren lassen. Bridei war jetzt ein Mann, der selbst einen Sohn hatte. Er war König von Fortriu. Und Broichan wusste, dass die Knochenmutter die Todesstrafe vor all diesen Jahren nicht zurückgenommen, sondern sie nur aufgeschoben hatte. Selbstverständlich sollte er den Tod nicht fürchten, sondern ihn mit einem gewissen Staunen erwarten. Zu sterben war ein Schritt über eine Schwelle in eine neue Welt, unbekannt und unvorstellbar. In dieser Erfahrung lag eine ganze Welt des Lernens verborgen. Die Reise dorthin sollte mit Hoffnung und Erwartung begonnen werden, besonders von einem Druiden. Broichan erinnerte sich an den alten Erip, Brideis Lehrer für weltlichere Angelegenheiten, als der Druide selbst in seinem Unterricht berühren konnte. Erip war bereit gewesen zu sterben, es hatte ausgesehen, als wäre er schon über die Schwelle gegangen, bevor sein letzter Atemzug seinen Körper verließ. Und Erip war zwar ein berühmter Gelehrter gewesen, aber kein Druide. Er war der Knochenmutter furchtlos gegenübergetreten, und sie hatte ihn freundlich aufgenommen. Er hatte einen sanften Tod gehabt.
Broichan konnte sich ein solches Ende für sich selbst nicht vorstellen. Die Schmerzen, die seinen Körper schüttelten, konnten mithilfe von betäubenden Kräutertränken gedämpft werden. Aber dieser Nebel, der aufstieg, um seinen Geist zu umhüllen, seinen Intellekt zu trüben und zu - 516 verhindern, dass er Magie heraufbeschwor, das war das Element, das er wirklich fürchten musste. Die Symptome waren ihm vertraut. Es kam ihm so vor, als hätte das Gift, das man ihm vor langer Zeit eingegeben hatte, seinen Körper nie wirklich verlassen, als wäre es nur die ganze Zeit untätig gewesen und hätte gewartet, bis es wieder zuschlagen konnte. Ja, das glaubte er tatsächlich, er konnte sich keinen anderen Grund für seine Krankheit denken, und schließlich kannte er sich mit den Heilkünsten aus. Er weigerte sich, betäubende Tränke zu sich zu nehmen; er hatte Fola scharf angewiesen, ihre Versuche, ihm helfen zu wollen, aufzugeben. Er musste den letzten Funken am Leben erhalten. Er durfte die wenigen Kräfte, die ihm geblieben waren, nicht verlieren. Er musste ein Kind unterrichten. Und dann war da Bridei, weit unten im Großen Tal, ohne einen Seher an seiner Seite, der ihn beriet. Das war das Schwerste von allem gewesen: zuzusehen, wie sein Pflegesohn, der junge König, den er erzogen hatte, in den Krieg ritt, und nicht an seiner Seite sein zu können, bereit, ihn auf eine Weise zu schützen, wie es selbst der fähigste Leibwächter nicht konnte. Wer außer dem Druiden des Königs konnte schon am Vorabend der Schlacht eine Prophezeiung vornehmen, um zu entscheiden, ob es besser war, anzugreifen oder sich zurückzuhalten? Wer sonst konnte auf dem Weg zum Feind versuchen, die Weisheit der Götter in Erfahrung zu bringen, und sie weitergeben? Ohne diese Anleitung hing der große Sieg über die Streitmacht von Dalriada nur vom Urteilsvermögen von Menschen ab, und das war stets unzuverlässig, selbst wenn die Menschen gut, klug, mutig und mit der Überlieferung vertraut waren, wie es für Bridei ganz sicher zutraf. Es war Stolz, der Broichan davon zurückgehalten hatte, einen anderen Druiden aus dem Wald zu rufen, damit dieser seinen Platz an Brideis Seite einnahm; Stolz und eine jämmerliche Hoffnung, denn bis zu dem Tag, an dem der - 517 König davongeritten war, hatte Broichan gebetet, dass er sich wieder stark genug fühlen würde, mit ihnen zu gehen. Aus diesem Grund hatte Broichan den Mann, den er wie einen Sohn liebte, ohne angemessenen Schutz in den Kampf gegen die Galen geschickt. Er hatte versprochen, von weitem zuzusehen und sich des Blicks und der Prophezeiung zu bedienen. Aber er hatte weder Bridei noch Fola noch irgendeinem anderen gesagt, dass selbst dies ihm nun nicht mehr möglich war. Er verriegelte die Tür seines Zimmers von innen, entzündete eine Lampe mit der Kerze, die er hereingebracht hatte, und ging zur Eichentruhe, zu dem Spiegel, den er benutzte, um den Blick anzuwenden. Es war ein sehr schönes Stück, ein Geschenk seines alten Lehrers: eine Scheibe aus poliertem Obsidian, umgeben von in Silber gearbeiteten Tieren: Eule, Marder, Frosch, Otter, Libelle. Ein wunderschöner Gegenstand. Er hatte vor, ihn bald Derelei zu zeigen und zu sehen, was das Kind damit anfing. Wenn der Junge tatsächlich über Tualas Seherbegabung verfügte, sollte Broichan früh damit beginnen, ihn in dieser Kunst anzuleiten, damit seine Begabung sich nach und nach weiterentwickelte und beherrscht werden konnte. Derelei war noch so klein... Wie lange noch, dachte der Druide, sagt mir einfach nur, wie lange ich noch habe, damit ich planen kann. Ein Jahr? Zwei? Nur noch eine Jahreszeit? Es war undenkbar. Nicht zu sehen, wie Bridei seinen großen Sieg erkämpfte, nicht zu erleben, wie der wahre Glaube im Land der Priteni überall wieder die Oberhand gewann, nicht dabei zu sein, wenn sein kleiner Schutzbefohlener aufwuchs, blühte und lernte ... wie konnte er auch nur den Gedanken daran ertragen? Aber wenn es der Wille der Götter war, würde er sich fügen müssen. Gehorsam war der Kern von Broichans ganzem Wesen. Gehorsam hatte ihn Jahr um schmerzvolles Jahr das Opfer am Tortag bringen lassen, bis Bridei ein Ende dieses Rituals gefordert hatte. Gehorsam - 518 hielt ihn Nacht um Nacht auf den Knien, um den Stimmen der Götter zu lauschen, während die Kälte und die Schmerzen seinen Körper Höllenqualen aussetzten. Gehorsam hielt ihn jetzt davon ab, nach Hilfe zu suchen ... oder nicht? Er konnte Folas kühle Stimme hören, die etwas über Stolz sagte, über Arroganz, darüber, dass er stets glaubte, es besser zu wissen. Aber um Hilfe zu bitten, würde vielleicht zu der Entdeckung führen, dass man ihm nicht mehr helfen konnte. Dies fürchtete er mehr als alles andere. Broichan nahm den Spiegel aus dem weichen Wolltuch und hielt ihn zwischen den Händen, ohne die polierte Oberfläche zu berühren. Er verlangsamte seinen Atem, zwang ihn, nicht in seiner Kehle hängen zu bleiben. Die tiefsten Atemzüge ließen seine Lunge brennen wie ein Schmiedefeuer; er zwang seinen Körper, sich in den Schmerz zu entspannen, sodass die Qualen ihn unbeachtet durchflössen. Er betrachtete den dunklen Obsidian, ohne den Blick wirklich zu konzentrieren - das zumindest war heute nicht schwierig -, und ließ seinen Geist auf Wanderschaft gehen. Eins nach dem anderen verbannte er die Gedanken und Bilder, die sich in seinem Kopf verfingen: Bridei, die bevorstehende Schlacht, Derelei, der an einem Hof ohne ihn aufwuchs, so verwundbar, so leicht auszubeuten. All die Dinge, die er nicht getan hatte und nun nicht mehr würde tun können ... er atmete sie weg ins Nichts, hinaus aus diesem dunklen Zimmer, in dem das Lampenlicht kaum genügte, um einen schwachen Schein auf sein Handwerkszeug zu werfen, das ordentlich auf Steinsimsen aufgestellt war: seine Kräuter und Arzneien, die Schriftrollen und Tinten, den Eichenstab, der in der Ecke stand. Und die geheimeren Gegenstände, die der kleine Bridei, als er zum ersten Mal das Zimmer seines Pflegevaters in Pitnochie betrat, so
staunend angestarrt hatte. Ein Teil von Broichan wollte jetzt alles einpacken und dorthin zurückkehren. Dort würde er aufhören können, sich zu verstellen, und es einfach ge- 519 schehen lassen. Mara würde sich um ihn kümmern; sein Koch, Ferat, würde versuchen, seinen schwächer werdenden Appetit aufs Neue zu verlocken, Fidich und die anderen würden die Gegenwart des Druiden ruhig akzeptieren und weiterhin dafür sorgen, das Haushalt und Bauernhof ordnungsgemäß geführt wurden. In Pitnochie würde er in seinem eigenen Heim bei seinen Leuten sterben können. Die Lampe flackerte, und Broichan blinzelte. Es war eine Mahnung. Er musste Pitnochie aus seinen Gedanken vertreiben, alles wegschieben ... sich treiben lassen ... den bewussten Geist gehen lassen... den Blick verschwimmen lassen ... die allgegenwärtige Angst vergessen, dass auch an diesem Tag seine Macht nicht genügen würde ... Er saß lange Zeit dort. In den oberen Ecken des Raums spannen Spinnen ihre Netze, und in den unteren hatten sich Käfer eingenistet. Innerhalb der Wände huschten Mäuse umher. Am Ende hatte er tatsächlich eine Vision und sah nicht mehr die dunkle Oberfläche des Spiegels, sondern viel tiefer, eine Vision so klar, wie man sie ihm seit vielen Monden nicht mehr gewährt hatte. Er hatte gehofft, Bridei oder einen anderen Anführer der Priteni zu erblicken, oder vielleicht einen Galen oder ein Muster von Ereignissen oder Gegenständen, das man auf eine nützliche Weise deuten konnte. Was er sah, war unerwartet. Ein Mann rannte durch einen dichten Wald. Er kam gut voran, erstaunlich gut für jemanden von eher kleiner, aber kräftiger Gestalt. Der Läufer hatte breite Schultern und eine breite Brust und war so kahl wie ein Ei. Ein Rudel Jagdhunde verfolgte ihn, und ihnen wiederum folgte eine Gruppe von Reitern, die mit Bögen, Speeren und Messern bewaffnet waren. Es waren alles große, starke Männer mit zottigem Haar und passenden Barten, sie trugen Fellumhänge, und ihre breiten Gesichter waren kunstvoll tätowiert. Es waren Krieger der Caitt. Der Flüchtling hatte ebenfalls Kriegszeichen auf einer Wange, aber nicht von der 520 gleichen Art wie die der anderen. Er war ein Priteni. Er trug Messer am Gürtel, aber keine anderen Waffen. Seinem Gesicht war der Schrecken des Gejagten nicht anzusehen; er wirkte ruhig und beherrscht. Broichan sah, dass er seinen Atem regulierte, seine Kraft für die kommende Konfrontation aufsparte. Jemand musste diesen Mann gut ausgebildet haben. Die Vision änderte sich und änderte sich erneut. Er sah immer noch den Läufer, der nun auf einem umgestürzten Baum über eine tiefe Schlucht balancierte, dann einen steilen, felsigen Abhang hinunterrannte, in einem Tempo, das drohte, ihm bei einem Sturz Arm oder Bein zu brechen, und einen Schauer von Steinen hinter ihm niedergehen ließ. Es schien ihn nicht zu stören, ob er Lärm machte, es war beinahe, als wollte er die Verfolger hinter sich her locken. Hunde und Reiter kamen näher; ihr Anführer fand einen anderen Weg um die Schlucht und einen, der um den Steinhang herumführte. Die Hunde erspähten den Laufenden und bellten. Der Anführer hob ein Hörn an seine Lippen. In den Augen dieses Mannes sah Broichan Blutdurst, und obwohl er seine Stimme nicht hören konnte, konnte der Druide erraten, was er seinen Leuten zurief: »Haltet die Hunde zurück! Er gehört mir!« Sie trieben den kahlen Mann vor einer Felswand in die Enge; er hatte einen abgebrochenen Ast gepackt und bewegte ihn auf Taillenhöhe vor sich hin und her, hierhin und dahin, in einem weiten Bogen. Die Hunde konnten ihn nicht erreichen, und ihre Hüter bemühten sich, auf Befehl des Anführers Seile an den Halsbändern zu befestigen und die zähnefletschenden, geifernden Tiere wegzuzerren. Die Krieger bildeten einen lockeren Halbkreis um den Mann, hielten aber Abstand zu diesem schwingenden Ast. Die Arme des Mannes waren muskelbepackt, Broichan erkannte die phänomenale Kraft, die es brauchte, ein dickes Stück feuchtes Holz so lange in dieser Höhe zu halten und es so - 521 beherrscht zu bewegen. Er sah zu, wie der Anführer einen weiteren Befehl gab und vier seiner Leute Pfeile auf die Sehnen legten. Der Druide öffnete sich den Stimmen in seiner Vision. Es gab keinen Laut in dem kleinen Zimmer, in dem er mit seinem Spiegel saß, denn dies war ein Bild, das sich nur in seinem Geist befand, heraufbeschworen durch seine Bereitschaft zu sehen, was die Götter ihm in diesem Augenblick zeigen wollten. Der Spiegel diente ausschließlich als Werkzeug, um seinen Geist von den unzähligen Gedanken zu lösen, die ihn erfüllten, um ihn von Ablenkungen frei zu räumen, damit mehr Platz blieb für die Visionen, die man ihm vielleicht gewähren würde. Nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, verlangte eine noch tiefere Ebene der Konzentration, Broichan verlangsamte seinen Atem noch weiter und fand sie. »Wo ist sie?«, fragte der Anführer, der Jäger, die Stimme harsch vor Zorn. »Wo hast du sie hingebracht?« Es war klar, dass der gejagte Mann nicht vorhatte zu antworten. Er wehrte einfach weiter die Angreifer mit seinem Ast ab und behielt die Bogenschützen im Auge. »Haltet euch zurück!«, schrie der Anführer seinen Männern zu, und die Bögen wurden ein wenig gesenkt. »Ich brauche erst eine Antwort, dann könnt ihr euren Spaß haben. Leg diesen Ast hin, Abschaum, und sprich mit mir! Wo ist Ana? Wo ist dieser elende Gäle, und wo ist mein Bruder? Bei den Göttern, wie konntest du Drustan freilassen? Habe ich dir nicht Essen, ein Dach über dem Kopf und einen stetigen Fluss von Silberstücken gegeben, und das sieben Jahre lang? Ich habe dir vertraut, und du hast einen Mörder freigelassen!«
Der Ast wurde stetig weitergeschwungen, es war das Einzige, was den Flüchtenden von seinen Angreifern trennte. Nun sprach er, und seit Atem war gleichmäßig, als wäre er nicht gerade um sein Leben gelaufen. »Ich bin bereit zu - 522 kämpfen. Schick deine Männer gegen mich, einen nach dem anderen oder zwei gleichzeitig. Wenn du mich umbringen willst, dann lass es in gerechtem Kampf geschehen. Willst du einen Mann jagen wie Ungeziefer?« »Du bist nichts weiter als Ungeziefer, und ich werde entscheiden, wie du stirbst. Beantworte meine Fragen, und du kannst deinen Kampf haben. Ich denke allerdings, es werden drei Angreifer sein müssen, die Männer kennen deinen Ruf. Antworte nicht, und du wirst langsam sterben. Und es wird mehr wehtun. Jetzt sag es mir! Wo ist Ana? Wo ist ihr gottverfluchter verräterischer Barde? Und wo ist mein Bruder, du heimtückischer Ersatz für einen Diener? Wo ist er hingeflogen?« Als der Mann nicht antwortete, nickte der Anführer seinen Bogenschützen zu. Ein rot gefiederter Pfeil verließ den Bogen und streifte nur die Schulter des Mannes, denn er hatte sich rechtzeitig geduckt. Ein weiteres Nicken, ein weiteres Geschoss, und diesmal hatte der Schütze die Ausweichbewegung einkalkuliert. Der Pfeil traf den Mann in den linken Arm und blieb tief in den gut entwickelten Muskeln stecken. Der kahlköpfige Mann grunzte. Er konnte den Pfeil nicht herausziehen, ohne seine behelfsmäßige Waffe fallen zu lassen. »Wo sind sie? Wo haben sie sich versteckt? Sprich, ich verliere langsam die Geduld.« »Sie sind irgendwo im Wald«, sagte sein Gegenüber ruhig. »Wenn du lange genug nach ihnen suchst, findest du sie vielleicht. Oder vielleicht entziehen sie sich dir, Alpin. Das ist mir egal. Barden und Damen mit goldenem Haar, was interessiert mich das? Was deinen Bruder angeht, so wurde er genug bestraft. Ich bezweifle, dass du ihn je wieder sehen wirst.« »Du lügst. Du hast ihnen geholfen zu fliehen. Wir haben deinen tückischen kleinen Tunnel gefunden, den du so gut versteckt hast. Du hast dem Galen geholfen zu entkommen, - 523 du hast ihm geholfen, meine Frau zu stehlen. Er will sie für sich selbst, das habe ich von Anfang an in seinen Augen gesehen. Vielleicht nimmt er sie gerade in diesem Augenblick, und Drustan steht daneben und wartet darauf, dass er an der Reihe ist. Wenn ich den Barden finde, habe ich vor, ihn zu zerreißen. Stück für Stück. Heraus damit, Deord! Sag mir, wo sie sind, und ich lasse dich sterben wie einen Krieger und nicht wie eine Ratte im Loch.« Der Mann namens Deord sah die anderen ungerührt an. Er hörte auf, den Stock zu bewegen und senkte das äußere Ende langsam zum Waldboden. »Was immer ich zwischen diesem Augenblick und dem Augenblick meines Todes tun werde«, sagte er, während das Blut der Pfeilwunde langsam einen Fleck auf seinem Hemdsärmel bildete, »ich werde niemanden verraten, der mir vertraute. Glaube nicht, dass es dir helfen wird, mir zu drohen, Alpin. Ich habe deine Taktik zu oft beobachtet. Dein Bruder ist weg. Er ist frei. Was die anderen angeht, so interessieren sie mich nicht.« Als der Anführer ein langes Messer vom Gürtel zog und einen Schritt vorwärts machte, fügte Deord hinzu: »Ich habe oft gedacht, dass man einen Mann danach beurteilen kann, wie gut er stirbt. Ich habe vor, mein Ende zu einem Maßstab dessen zu machen, was ich als Mann bin.« »Ein Mann schreit und winselt nicht und fleht nicht darum, dass man ihn gehen lässt«, sagte Alpin. »Glaub mir, bevor ich mit dir fertig bin, wirst du all diese Dinge tun und dich außerdem auch noch selbst beschmutzen.« Deord antwortete nicht, aber als Alpin näher kam, drehte er sich plötzlich, trat mächtig nach hinten aus und schickte einen Mann zu Boden, während er einen anderen mit einem festen Schlag des gesunden Arms vor die Brust traf. Alpin, der rasch außer Reichweite getreten war, schnippte mit den Fingern. Pfeile schwirrten und trafen, und Deord, der sich aus der Drehung aufrichtete, wurde in der Schulter und im Oberschenkel getroffen. Jeder bebende Pfeil hatte - 524 sich tief in sein Fleisch gebohrt. Er taumelte, dann richtete er sich wieder auf. Nun hatte er in beiden Händen Messer. »Sag mir die Wahrheit!«, fauchte Alpin. »Sag es mir jetzt, oder zahle dafür! Wohin hast du meine Frau gebracht?« Deord ließ sich nicht anmerken, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Seine Stellung, die Beine leicht gespreizt, die Knie ein wenig gebeugt, war die eines erfahrenen Kämpfers, die Pfeile in seinem Körper schienen nichts weiter als eine kleine Unbequemlichkeit für ihn zu sein. Sein Blick blieb ruhig. Rings um ihn kam der Halbkreis von Jägern näher, aber es gab eine bestimmte Grenze, die keiner der Männer überschreiten wollte, nicht einmal ihr Anführer. Für Broichan, der mit den Augen eines geübten Sehers zuschaute, schien es, als hielte der Flammenhüter selbst seine Hand über diesen einsamen Kämpfer, als verliehe er ihm eine Art von Reinheit, die ihm alle Spur von Angst nahm und ihn zu einem Werkzeug von tödlicher Kraft machte. Welcher Mann, der so unterlegen war, konnte sich seinen Feinden mit derart furchtloser Ruhe stellen, wenn er nicht in der Gunst des Gottes stand? Der Flammenhüter belohnte mutige Taten, er liebte das Feuer in den Herzen seiner tapferen Söhne. Vielleicht hatte er diesen hier für einen Platz an seiner Rechten vorgesehen. Die Szene, die Broichan vor sich sah, konnte nicht in einem Triumph für diesen Kämpfer enden, nicht gegen eine solche Übermacht. Der Druide stellte fest, dass er den Atem anhielt und sich etwas wünschte, das nicht sein konnte. Er zwang sich, sich zu
entspannen und seinen Atem besser zu regulieren, denn sonst hätte er die Beherrschung verloren und damit auch die Vision. Sie war ihm offenbar aus einem bestimmten Grund gesandt worden. Er musste bis zum Ende zusehen, dem blutigen, unvermeidlichen Ende, und dann hoffen zu begreifen, was die Götter ihm gezeigt hatten. Alpin rief die Männer mit den Hunden zurück und befahl jenen, die Speere trugen, nach vorn zu kommen. Die Bo- 525 genschützen legten neue Pfeile auf, einer, zwei, drei, vier. Deord stand ruhig da, und frisches Blut befleckte seine Kleidung an der Schulter, am Arm und am Oberschenkel. »Das ist deine letzte Chance«, rief Alpin über das aufgeregte Bellen und Winseln der Hunde hinweg. »Gib mir, was ich brauche, und ich gebe dir das Ende, das sich ein Krieger wünscht. Sag mir einfach nur, in welche Richtung sie gegangen sind, welchen Weg sie nahmen. Sie haben irgendwo ein Versteck gefunden, es ist wohl kaum zu erwarten, dass eine Frau mit diesem Gelände zurechtkommt. Sag es mir, und dein Tod braucht nicht lange und schmerzhaft zu werden. Er braucht dich nicht zu beschämen. Norden? Osten? Westen? Wo sind sie hingegangen?« »Schick deine Hunde«, sagte Deord. »Schick deine Speere. Ich bin bereit.« Broichan bemerkte, dass er um ein schnelles Ende betete. Es zählte wenig, dass die Vision, die er in diesem Spiegel sah, vielleicht die Vergangenheit zeigte, vielleicht auch die Zukunft, oder dass es sich vielleicht nur um die symbolische Widerspiegelung einer inneren Wahrheit handelte. Die Szene schlug den Druiden vollkommen in ihren Bann. Er saß reglos da und wünschte sich nichts so sehr, als dass die Götter diesem Krieger ein schnelles, gnädiges Ende schenkten. Aber so sollte es nicht sein. Der Mann war hoffnungslos unterlegen, was er zweifellos wusste. Dennoch machte er aus seinem letzten Kampf etwas von ganz eigener Schönheit, ein Kunstwerk an Beherrschung und Anmut. Sein Körper bewegte sich auf seinen Befehl in einem kalkulierten Einsatz von verwundeten und gesunden Gliedern makellos zu Abwehr, Vorstoß und Drehung, so, wie es ihm den größten Vorteil bot. Es war wie ein gewaltiger Schrei des Mutes, eine Feier dessen, was es bedeutete, ein Mann zu sein. Es ließ Broichans Herz beinahe stillstehen. Am Ende konnte Deord selbstverständlich nicht gegen so - 526 viele bestehen. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, ihn mit Angriffen durch Schwert, Speer und Messer zu ermüden, und als schließlich sowohl Hunde als auch Männer zerrissen in einem blutigen Kreis um diese wütende, beinahe magische Gestalt des einzelnen Kriegers lagen, begannen Alpins Männer wieder zu den Pfeilen zu greifen und spickten Deord derart, dass er schließlich langsamer wurde und geschwächt durch den Blutverlust ins Taumeln geriet. Kein Geschoss hatte ihn ins Herz oder ins Auge getroffen, kein einzelner Schuss war tödlich gewesen. Deord trug Leder unter seinem Hemd, und er wich mit unglaublicher Geschicklichkeit aus, selbst hier, in dieser Falle, in der er saß. Es dauerte lange, zu lange. Broichan sah, wie das Gesicht des Kämpfers blasser wurde, Deord war nun gräulichweiß, sein Schweiß triefte, und seine Hände konnten kaum noch die Waffen halten. Der Druide sah, dass aus drei Wunden sieben, zehn, zwölf geworden waren, er sah das Blut fließen, bis die Kleidung des Mannes vollkommen rot war. Er sah, wie Deord schließlich auf ein Knie niederbrach, er sah den Blick in den Augen des Kriegers, der von seltsamer Ruhe kündete, und erkannte in dieser höchsten Selbstbeherrschung etwas von den Fähigkeiten, die er selbst in den ersten Jahren seiner Druidenausbildung angestrebt hatte. Solche Disziplin. Es war erstaunlich. Der Gott würde diesen bevorzugten Sohn an seine Seite rufen, er musste solch perfekte Selbstbeherrschung einfach mit der höchsten Ehre belohnen. Es war, als würde der Mann von der Flamme seines eigenen unmöglichen Mutes verzehrt. Am Ende konnte Broichan kaum mehr hinschauen, denn was er erblickte, war gleichzeitig schön und über alle Maßen quälend. Deord lag am Boden. Er war erschöpft, aber er lebte immer noch. Das Licht leidenschaftlicher Willenskraft strahlte in den ruhigen Augen. Jeder dieser Männer hätte ihn nun töten können, aber seltsamerweise hielten die Jäger - 527 sich zurück, und offenbar zögerten sie alle, die Verantwortung für den letzten tödlichen Stoß zu übernehmen. Es war ihr Anführer, dieser Mann namens Alpin, der sich dem am Boden Liegenden näherte, nach längerer Zeit, in der Broichan unbehagliches Schweigen spürte, das nur von Deords keuchenden, aber gleichmäßigigen Atemzügen unterbrochen wurde. Dann begannen die Vögel über ihnen sich zu unterhalten, ein Austausch von Pfiffen und Zwitschern, und Alpin zog neben dem niedergestürzten Mann ein kleines Messer mit schmaler Klinge. »Ich sagte, du würdest vor dem Ende betteln.« Sein Ton war kalt. »Das Ende ist noch nicht da. Welcher Teil von dir ist noch unberührt? Ich brauche eine Erinnerung, eine Kleinigkeit, die ich mit nach Hause nehmen kann, nur für den Fall, dass irgendjemand in meinem Haushalt auf die Idee kommt, Ungehorsam könnte ungestraft bleiben. Goban, Mordec setzt ihn auf. Kommt, er kann euch jetzt nicht mehr wehtun, er ist erledigt. Erdig, Lutrin, kümmert euch um unsere Toten, legt sie auf die Pferde und bereitet alles für die Rückkehr nach Hause vor.« Zwei kräftige Bewaffnete packten Deord an beiden Armen und rissen ihn hoch. Er unternahm einen tapferen Versuch, sie abzuschütteln, aber sie hielten ihn fest, ihre Hände und Arme bald dunkel vom Blut des
Verwundeten. »Also keine Antwort.« Alpin sprach leise und sah Deord direkt in die Augen. »Du bist nicht nur ein Verräter, du bist ein Dummkopf. Etwas vom Wahnsinn meines Bruders muss auf dich übergegangen sein. Nun, das ist gleich. Ich habe mein Interesse an dieser Sache verloren. Ich mache einfach nur einen kleinen Schnitt hier«, - seine Hände waren zwischen Deords Beinen, und Broichan verzog das Gesicht -, »und hier und nehme eine kleine Trophäe mit, und dann machen wir uns auf den Weg. Dank dir ist ein gefährlicher Verrückter frei in diesen Wäldern unterwegs. Dank dir ist mir ein Spion durch die Finger gerutscht. Dank dir werde - 528 ich meine Hochzeitsnacht allein verbringen. Aber morgen«, er hob seine grausigen Preis vor Deords bleiches Gesicht, »morgen werde ich sie erwischen. Morgen wird der Gäle an meinem Festungstor hängen. Morgen Abend werde ich der Frau, die mich mit meinem eigenen Bruder betrogen hat, einen Sohn zeugen. Und morgen, wenn ich diesen Mörder Drustan finde, werde ich ihn so bestrafen, wie ich es vor sieben Jahren hätte tun sollen: mit dem Tod.« Deord hatte die Verstümmelung ohne einen Laut ertragen. Sein Gesicht wirkte nun wie ein Totenkopf, nur Schatten und Knochen. Broichan hörte sein heiseres Flüstern. »Du wirst ihn nie finden. Er wird schneller laufen als du, schneller fliegen, schneller denken. Ich bedaure nur, dass er diese Chance nicht früher ergriffen hat.« »Mistkerl!« Alpin schlug mit der Faust zu und traf Deord am Kinn. Deords Kopf wurde zur Seite gerissen. »Was muss ich tun, bevor deine arrogante Zunge um ein gnädiges Ende bettelt? Was?« Er schlug noch einmal ebenso fest gegen die andere Seite des Kopfs; Blut lief über Deords Kinn, rot auf weiß. »Gnädig?«, flüsterte der Krieger, den Blick auf Alpin gerichtet. »Du weißt nicht... was Gnade ... bedeutet. Das ist dir so fremd wie ... Liebe ... Pflichtbewusstsein ... Mut...« Alpins Knie zuckte nach oben und traf den Gefangenen zwischen den Beinen, wo nach seinem grausamen Schnitt bereits Blut floss. Deord konnte ein plötzliches gequältes Ausatmen nicht zurückhalten. »Bettle!«, schrie Alpin. »Winsele, du Mistkerl! Du bist Fleisch und Blut wie wir alle!« Noch ein Tritt, diesmal mit dem Stiefel. Deord verbiss sich einen Schrei. »Schreie!«, befahl Alpin. »Los, lass es uns hören! Tut das weh? Und das hier? Und das hier?« Mit jeder Faser seines Seins wünschte sich Broichan, dass die Götter einschreiten mochten, mit jedem Atemzug drängte er die Knochenmutter vorzutreten, ihren dunklen Um- 529 hang süßen Vergessens um den Krieger zu legen und seinen Geist mit sich zu nehmen. Der Druide flehte den Flammenhüter an zu rufen: Es ist Zeit. Bringt meinen Sohn nach Hause zu mir. Die Schläge gingen weiter, aber Deord gab keinen Laut mehr von sich, und nach einer Weile schien Alpin genug von dieser Beschäftigung zu haben und trat zurück, seine Kleidung blutbespritzt. Einer der anderen Männer sagte etwas, fragte, ob er vielleicht den letzten Gnadenstoß anbringen solle. Aber Alpin stieg auf sein Pferd, rings um ihn her hatten die Krieger, die den ungleichmäßigen Kampf überlebt hatten, bereits die Leichen ihrer gefallenen Kameraden auf die Sättel geladen und waren bereit, nach Hause zurückzukehren. Die beiden Männer, die Deord aufrecht gehalten hatten, ließen ihn los. Er fiel zu Boden und blieb dort wie ein regloser Haufen blutiger Lumpen liegen. Broichan atmete aus, die Götter hatten endlich Gnade gezeigt. Auf ein Wort von ihrem Anführer trieben die Reiter ihre Tiere an und verschwanden bald im Wald. Die Sonne hing tief über den Wipfeln von Kiefern und silbrigen Birken, und bald schon kamen die Vögel wieder näher und sangen hohe, flötende Lieder, als sie sich auf die Äste setzten. Broichan wusste, dass die Vision kurz vor ihrem natürlichen Ende stand. Er konnte es in seinen Fingern und Zehen, in seinem Rücken und Nacken, in der langsamen Rückkehr seines Körpers zur tönernen Alltagsgestalt spüren. Er würde die Verbindung nicht mehr lange aufrechterhalten können. Als die Bilder in seinem Geist verschwommen und dunkler wurden, sah er Bewegung, wo er geglaubt hatte, dass es kein Leben mehr gab. Der Mann am Boden streckte die Hand aus, krallte sie in das Laub am Waldboden, starrte halb blind vor Schmerz hinauf in die grünen Wipfel und zum offenen Himmel. Er rollte sich mühsam über den Boden, bis er sich halb sitzend gegen einen Kno- 530 ten aus Wurzeln lehnen konnte, die einen flachen Bogen bildeten. Dort saß er wie eine weggeworfene Puppe. Sein Blut floss und sickerte aus einer Unzahl von Wunden. Die Erde nahm es schweigend auf. Die Vögel sangen weiter eine Hymne ans Leben, an Schönheit, an Freiheit, und der sterbende Deord lauschte mit Augen, die vor Schmerz glänzten und die dennoch auch seine innere Ruhe zeigten. Als die Vision schließlich verschwand, dachte Broichan, dass es aussah, als wartete der Krieger, aber er wusste nicht, worauf. Vielleicht wollte auch diese tapferste aller Seelen nicht allein sterben. - 531 KAPITEL VIERZEHN Der Mohntrank machte Ana schwer zu schaffen. Im Laufe des Tages fiel sie immer wieder in unruhigen Schlaf, den Kopf unbequem auf den feuchten Rucksack gestützt, und erwachte jedes Mal sehr plötzlich und vollkommen verwirrt. Jedes Mal schien sie weniger sprechen zu wollen. Faolan wachte über sie, und eine wachsende Spannung nagte an seinen Eingeweiden. Deord war nicht zurückgekehrt. Faolan wollte nicht auch noch den Tod eines Felsental-Mannes auf dem Gewissen haben, er hatte schon mehr als genug zu tragen. Der Drang, sich auf
die Suche nach Deord zu machen, wurde jeden Augenblick stärker, während vor ihrem Versteck die Sonne nach Westen zog und irgendwo ein mutiger Mann sein Leben um zweier Fremder willen aufs Spiel setzte. Es war gleich, dass Deord auf keinen Fall gewollt hätte, dass Faolan ihn suchte. Faolan wusste, wenn er jetzt nicht handelte, würde er es bis ans Ende seiner Tage bedauern. »Wenn du gehen willst, geh einfach«, sagte Ana ungewöhnlich barsch, nachdem er zum zwanzigsten Mal nach draußen geschlichen und wieder zurückgekehrt war. Sie lag in der Nische, den Unterarm vor den Augen, als verursachte selbst das gefilterte Licht hinter dem Wasserfall ihr Schmerzen. »Das kann ich nicht«, sagte er tonlos. »Du solltest schlafen. Du wirst morgen all deine Kraft brauchen.« - 533 Sie schwiegen einen Augenblick. »Ich bin eine Last, nicht wahr?« Ihr Tonfall hatte sich verändert. »Ich halte dich auf.« Faolan konnte sich nicht dazu durchringen, ihr zu widersprechen, obwohl ihre derzeitige Lage wohl kaum ihre Schuld war. »Geh einfach, Faolan. Wenn du hier bleibst, fühle ich mich noch schlechter.« »Meine Aufgabe besteht darin, für deine Sicherheit zu sorgen. Ich kann nicht gehen.« Er war so angespannt wie eine Harfensaite, jeder Teil von ihm nervös; vor seinem geistigen Auge sah er Blut und Tod. Deord würde nicht zurückkehren. Er wusste es. Er würde nicht zurückkehren, es sei denn, jemand ging nach draußen, suchte und fand ihn schnell, bevor ihm Alpin ein Ende machte. Faolan versuchte still dazusitzen, seine Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, es Ana bequem zu machen. Aber schon bald stand er wieder auf, spürte den Zwang, noch einmal draußen nachzusehen. Die Gischt vom Wasserfall machte es schwer, klar zu sehen, aber er tat sein Bestes, die Abhänge, den Wald, den See zu beobachten und nach dem geringsten Zeichen von etwas Ungewöhnlichem Ausschau zu halten. Es gab nur das Grün der Kiefern, den weißen Wasserfall und die kargen, Furcht erregenden Gipfel im Norden und Osten. Er entnahm der Position der Sonne, dass der Tag schon weit fortgeschritten war; wenn Alpin immer noch draußen unterwegs sein sollte, würde er die Jagd bald abbrechen müssen, um seine Männer am Abend nach Hause zu bringen. Es war genug Zeit für eine Rettungsaktion, aber nur so gerade eben. Und er konnte nicht gehen. Wie konnte er Ana hier allein lassen? Ein plötzliches, harsches Geräusch über ihm ließ Faolan zusammenzucken. Er rutschte auf dem Felssims aus und packte erschrocken eine Ranke, sein Herz schlug heftig. Ein weiteres Kräh, und dann sah er die Krähe auf dem schlan- 534 ken Ast einer verkrüppelten Weide, die ihre Wurzeln in eine kleine Erdtasche gegraben hatte. Die schmalen Blätter des kleinen Baums waren silbrig von Feuchtigkeit. Über der Krähe hockte auf einem Sims ein größerer Vogel von rötlichem Goldbraun, sein Auge klar, der gebogene Schnabel Furcht erregend. Sein Blick war auf Faolan gerichtet. »Endlich«, murmelte er und war bei all seinen Bedenken von Erleichterung erfüllt. »Wo im Namen alles Heiligen bist du gewesen? Nun, das ist jetzt gleich. Ana ist dort in der Höhle ... ihr Götter, ich hoffe, dass ich mich nicht täusche und einfach mit einem Vogel rede, der sich zufällig entschlossen hat, uns zu besuchen. Ich muss Deord suchen. Du musst sie bewachen, sorge für ihre Sicherheit.« Der Falke regte sich nicht. Sein stetiger Blick war beunruhigend. »Ich habe ihr nichts gesagt«, fügte Faolan hinzu. »Über dich, meine ich. Irgendwie muss ich ihr jetzt klar machen, dass eine Wache aus Vögeln ihr genügend Sicherheit bietet. Es sei denn, du hast vor, ihr die Wahrheit zu sagen.« Es gab keine Antwort, aber als Faolan den Kopf einzog und zurück in die kleine Höhle kroch, folgten ihm sowohl Falke als auch Krähe und landeten zu beiden Seiten, wo die Felskonturen ihnen Halt boten. Der Kreuzschnabel saß bereits in Anas Händen, selbst wenn sie schlief, hielt sie das kleine Tier sicher zwischen ihren Handflächen. »Ana«, sagte Faolan und hockte sich neben sie, »ich gehe jetzt. Hier sind drei Vögel, siehst du? Du solltest in Sicherheit sein. Ich muss Deord finden.« Sie schien verwirrt. »Drei... aber ...« »Kreuzschnabel, Krähe, Falke«, sagte Faolan und sah, wie ihr Blick auf den größten Vogel fiel und sie die Augen aufriss. »Es scheinen alles Drustans Geschöpfe zu sein. Welcher wilde Vogel würde schon freiwillig mit uns hier hereinkommen? Dieser dort hat einen tödlichen Schnabel und gute Krallen. Er kann dich verteidigen, wenn es nötig wer- 535 den sollte.« Er hoffte, dass das stimmte. »Bleib in der Höhle und warte auf mich. Ich komme zurück, bevor es dunkel wird. Halte dich vom Rand fern.« Er sah sie genauer an. »Es tut mir Leid«, sagte er, »wirklich Leid.« »Geh.« Ihre Stimme ging im Geräusch des stürzenden Wassers beinahe unter. Er erinnerte sich an die Furt, wo sie geglaubt haben musste, allein zu sein mit dem rauschenden Fluss, allein in einer Welt, die sich in einen Albtraum verwandelt hatte. »Geh, Faolan«, sagte sie. »Finde ihn, solange noch Zeit ist.«
Am Ende folgte Faolan der Spur viel weiter, als er es sich hätte leisten können, wenn er noch bei Tageslicht zurückkehren wollte, und fand Deord schließlich in einer kleinen Lichtung, wo er am Fuß einer ehrwürdigen Eiche lag. Er schien bereits tot zu sein. Blut hatte seine Kleidung durchtränkt und befleckte die Erde in einem weiten Kreis rings um ihn her. Er lehnte schlaff an einem Knoten aus Wurzeln. Faolan ging näher heran, sank neben der Gestalt auf ein Knie, und dann hörte er Deords schwache, keuchende Atemzüge und sah zwischen den Schlitzen der Lider den vertrauten ruhigen Blick. »... du ... hier?«, flüsterte Deord. »Weg ... solltest weg sein.« Und dann »Nein...«, als Faolan versuchte, ihn in eine bessere Position zu ziehen. »Sinnlos ...« Faolan fluchte leise und betrachtete, was er durch die zerfetzte Kleidung von Deords Wunden sehen konnte. Ein Pfeil, dessen Schaft grob abgebrochen war, steckte tief in seinem Arm, andere lagen abgebrochen neben seinen Beinen am Boden. Es gab Hinweise auf einen gewaltigen Kampf: Büsche zerdrückt, Unterholz zertrampelt, der Boden von der Bewegung bestiefelter Füße und von Pferdehufen aufgerissen. Ein Speer war in zwei Stücke gebro- 536 chen, ein zerbrochenes Schwert ins Gebüsch geworfen worden. Im Unterholz entdeckte Faolan die Kadaver mehrerer Hunde. Er griff nach seiner Wasserflasche, legte einen Arm um Deords Schultern und hob ihn ein wenig hoch. Deords Haut war feuchtkalt; er roch nach Blut und Schweiß. Er hielt den Atem an, als Faolan ihn berührte. »Trink«, sagte Faolan, »nur einen Schluck. Gut so«, obwohl nichts bis in den Magen gelangt war, denn Deord konnte nicht mehr schlucken. »Wo ist dein Rucksack?« Er fand ihn, zog ein Kleidungsstück heraus, breitete es über Deords Brust und Schultern. »Ana ...«, fragte Deord. Seine Stimme war nur noch ein Hauch. »Drustan ist bei ihr, ich bin gekommen, sobald er eintraf. Ihr Götter, Mann, du hast sie wirklich auf eine wilde Jagd geführt.« Faolan gab sich unbeschwert; es hatte keinen Sinn, Deord mit seinem eigenen bitteren Bedauern zu belasten. Es war vollkommen klar, dass er zu spät gekommen war. »Drustan ... gut. Faolan ...« »Was ist?« »Drustan ... könnte ... viel sein. Bring ihn ... weg ... Sicherheit ...« »Nach dem heutigen Tag«, sagte Faolan, »steht Alpins Name auf meinem Schwert. Ich bringe diese Mission zu Ende, und dann werde ich vom Gejagten zum Jäger. Ich kann nicht zulassen, dass dieser Abschaum weiterlebt.« »Drustan ... wichtig ... Faolan ... pass auf ihn auf... und auf sie...« Faolan musste ablehnend ausgesehen haben. »Dein Wort...« »Also gut, ich verspreche es, ich bringe die beiden hier weg, und wenn es mich umbringt. Die Seuche soll die Götter von Fortriu holen, sie sind grausam und ungerecht. Ein - 537 Überlebender von Felsental sollte die Chance erhalten, etwas aus seiner Freiheit zu machen. Du hast mehr Zeit verdient. Warum hast du es getan?« Deord schauderte nun heftig; das Lächeln, das er versuchte, war das Grinsen eines Totenschädels. »Etwas ... gut gemacht... gutes Ende.« »Für uns. Für Fremde.« »Du ... weitermachen ... wiedergutmachen ... alles ...« »Ich? Ich habe meine Chancen, irgendetwas zu erreichen, schon lange vor Felsental weggeworfen. Ich bin derjenige, der als Köder hätte fungieren sollen.« »Unsinn... Faolan...« »Sag mir, was du willst.« »Botschaft... nach Hause ...« »Wo ist dein Zuhause?« »Sag es ... Familie ...« »Wo, Deord?« »Wolken ... Hügel... nahe Königssitz ...« »In Laigin?« Faolan wurde kalt; was versprach er da? »Aber...« »Schwester ... Galen verheiratet... sag ihr ...« »Sie hat einen Galen geheiratet?« »Sag ihnen ... Leid tut... sag ... gutes Ende ...« Faolan nickte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, es fiel ihm schwer zu sprechen. »Faolan...« »Was ist, Deord?« Der kahle Kopf lag nun an Faolans Schulter, nun hob der Sterbende eine Hand, um seinen Ärmel zu berühren. »Sing«, flüsterte Deord. »Faolan ... sing ...« Also sang Faolan. Er sang, während die Sonne hinter den Bäumen unterging und das Licht in der Lichtung von
rosa über violett zu dem rauchigen hellen Grau der Sommernacht überging. Er sang, und eine Unzahl von Vögeln sang mit ihm, sang zum Abschied von dem Tag, an dem dieser - 538 Krieger seinen letzten und mutigsten Kampf ausgefochten hatte. Faolan sang eine anrührende Geschichte von einem Krieg, in der es um die großartigen Taten von Männern, ihren Mut, ihren Adel und ihre selbstlosen Opfer für das größere Ganze ging. Deord lehnte sich gegen ihn, schwer und schlaff, zuckte hier und da mit den Fingern und wurde manchmal von einem Krampf geschüttelt, die einzigen Zeichen, dass er sich noch ans Leben klammerte. Das und seine Augen; er hatte sie beinahe geschlossen, aber der Blick ruhte auf Faolans Gesicht, als dieser sang und ihm dabei die Tränen unaufhaltsam über die Wangen liefen, Tränen, die nicht nur diesem Mann galten, sondern allen Gefangenen von Felsental, denen, die dort auf diese oder jene Weise ums Leben gekommen waren, und den anderen, die überlebt hatten, um in der Welt weiter ihre verzweifelten Wege zu gehen. Und weil er ebenfalls ein Felsental-Mann war, galten einige Tränen auch ihm selbst. Gegen Ende wurde Deords Atem mühsamer, als wäre Blut in seine Lunge und in seine Luftröhre gelangt, und Schmerz ließ seinen Körper schaudern. Faolan hielt den kräftigen Mann im Arm, als wäre er ein Kind, mit festen, sanften Händen. Da er nichts anderes für ihn tun konnte, sang er weiter. Ein anderer Mann als Deord hätte seine Kameraden in einer solchen Situation vielleicht um ein scharfes Messer und Vergessen gebeten. Deord ertrug es mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten, still bis auf den schweren Atem. Irgendwo in seiner Erinnerung fand Faolan die Überreste eines Schlaflieds. Seine süße, schlichte Melodie rief in der Lichtung eine Stille hervor, an die selbst die Vögel sich hielten, während es Nacht wurde und die Knochenmutter die Arme ausstreckte, um diesen einsamen Krieger schließlich nach Hause zu holen. - 539 Schlaf, mein braves, kluges Kind Eine blaue Decke ist die Nacht Eine einsame Eule schrie tief im Wald. Deord bewegte den Kopf ein wenig und lehnte ihn gegen Faolans Arm. Schöne Träume dir beschieden sind Und Vöglein halten draußen Wacht Deords Fäuste entspannten sich, sein Atem wurde langsamer. Irgendwo hinter den Eichen versilberte das blasse Licht des aufgehenden Monds den Himmelsrand. Danu nimmt dich bei der Hand Führt dich in ihr Schattenland Ruhe deine müden Glieder Morgen singst du neue Lieder Faolans Stimme brach. Er schaute nach unten, Deord lächelte. Einen Augenblick später wurden die ruhigen Augen starr, die Züge erschlafften, und er war tot. Einen Moment hielt Faolan ihn weiter und sang. Dann saß er lange Zeit schweigend da. Es schien ihm angemessen, hier eine Totenwache zu halten: Wer sonst war da, um den heroischen Tod dieses Mannes zu bezeugen, als er, der verräterische Spion, der für seinen Lebensunterhalt Kehlen durchschnitt? Später, als der Mond höher aufgestiegen war, tat er, was er konnte, um Deord für das Begräbnis vorzubereiten, wischte ihm das Gesicht sauber, richtete seine zerfetzte Kleidung, stellte entsetzt fest, wie schwer Alpin und seine Leute ihn verwundet hatten. Dann grub er ein flaches Grab und benutzte dazu das zerbrochene Schwert als Schaufel. Er legte den Krieger mit auf der Brust verschränkten Armen zur Ruhe, seine Messer an der Seite, und bedeckte ihn mit seinem kurzen Umhang. Er betete nicht, denn Faolan - 540 glaubte nicht an die Götter, und er wusste auch nicht, an welche Deord selbst geglaubt hatte. Wenn Felsental einen Mann nicht davon überzeugte, dass Götter entweder nicht existierten oder sich nicht kümmerten, führte es zum Gegenteil: Viele Gefangene glaubten in einer Weise an sie, die an Besessenheit grenzte. Männer starben in diesem Gefängnis mit einem letzten Schrei um göttliches Einschreiten auf den Lippen, Faolan hatte sie gehört. Deord, nahm er an, gehörte zur ersteren Gruppe und war damit nicht viel anders als er selbst, obwohl er nie getan hätte, was Deord heute getan hatte. Er war bereit, für Bridei zu sterben. Er würde sein Leben für Ana geben. Aber niemals für Fremde. Und das war seltsam. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte er sein Leben für wertlos gehalten. Er hatte es einfach weitergeführt, weil ihm die Alternative zu jämmerlich vorgekommen war. Etwas hatte sich verändert. Vielleicht war das schon eine Weile so. Sie hatten alle eine Rolle dabei gespielt: Bridei, Ana, Deord. Und jetzt hatte Faolan noch mehr Aufträge auszuführen, als er je gewollt hatte. Er musste für die Sicherheit des elenden Drustan sorgen, Ana nach Hause bringen, Alpin töten. Er musste Bridei oder seinem Stellvertreter am Weißen Hügel Bericht erstatten. Und dann musste er nach Laigin zurückkehren und einer Frau erzählen, dass ihr Bruder zu Tode gehackt worden war, damit zwei Fremde am Leben und frei bleiben konnten. Im Schatten des Dornwalds deckte er Erde auf Deords reglose Gestalt, dann suchte er im Mondlicht nach Steinen und legte sie in einem groben Haufen auf das Grab, um die Raubtiere fern zu halten. Er stand Wache über dem Grab und wartete auf das erste Morgenlicht, um den langen Rückweg zum Wasserfall zu beginnen, zu Ana, die er die ganze Nacht dem unberechenbaren Drustan anvertraut hatte. In der langen, langen Zeit von tiefster Nacht bis zum ersten Flüstern des Morgengrauens dachte Faolan über Treue und Ehre nach, über Entscheidungen und Möglichkeiten, - 541 über Blut und Verrat. Und mit tiefstem Entsetzen im Herzen dachte er an zu Hause. Fola war in das Haus der Weisen Frauen nach Banmerren zurückgekehrt. Bridei war weit weg. Uist wandelte
nicht mehr in der gleichen Welt wie seine alten Freunde, sondern war vor ihnen an den Ort hinter der Grenze gegangen. Aniel, so klug er in strategischen Dingen sein mochte, verstand nichts von Visionen und Vorzeichen. Es gab niemanden, mit dem Broichan sprechen konnte. Es gab niemanden, dem er es erzählen konnte. Der Drang, über das zu sprechen, was er gesehen hatte, war überwältigend. Tatsächlich war es seine Pflicht, es zu tun, wenn diese Bilder eines Mannes, der mit von den Göttern inspiriertem Mut einen unaussprechlichen Tod erlitt, in irgendeiner Weise hilfreich für die weiteren Unternehmen des Königs von Fortriu und seiner Armee sein sollten. Aber er konnte nicht darüber sprechen, nicht bevor ihm die Interpretation klar wurde. Eins war klar: Es versprach nichts Gutes, was das Bündnis mit Alpin von Dornwald anging. Es schien von einer Katastrophe für die königliche Geisel zu erzählen und vielleicht auch für den Mann, der Brideis rechte Hand war. Aber Broichan wusste, wie täuschend solche Visionen sein konnten, wie sehr sie Zeit und Ort, Wahrheit und Symbole durcheinander brachten. Er verfluchte seine Krankheit. Sein Kopf war umnebelt von Unsicherheit, und seine Glieder schmerzten, weil er so lange stillgesessen hatte, um die Vision zu halten. Früher einmal war er im Stande gewesen, die ganze Nacht auf den Knien zu verbringen, die Arme in Meditationshaltung ausgestreckt, und im Morgengrauen ohne die Spur eines einzigen Krampfs aufzustehen. Früher einmal... Das war, bevor die Krankheit ihn erneut befallen hatte. Die Leuchtende mochte ihm helfen, er fühlte sich wie ein uralter Mann, schwach, krank und verwirrt. Es war unerträglich. War ihm - 542 diese Vision nur geschickt worden, um ihm zu sagen, dass er den Tod gelassen akzeptieren sollte? Dass er sich ihm ohne Bedauern stellen musste, wie es dieser einsame Krieger getan hatte? Plötzlich verspürte er das dringende Bedürfnis nach frischer Luft, öffnete seine Tür und ging hinaus in den Garten. Es war ein Schock festzustellen, dass die Sonne schien, dass ihr Licht die ordentlichen Reihen von Gemüse, Kräutern und heilenden Blüten mit ihrem warmen Wohlwollen berührte. Auf dem Gras neben dem Lavendelbeet spielte Derelei mit seinem kleinen Steinpferd, die kindlichen Züge feierlich vor Konzentration. Ihm gegenüber saß seine Mutter mit geradem Rücken im Schneidersitz und beobachtete das Kind mit so großen, geheimnisvollen Augen wie denen einer Eule. Sie hätte Dereleis Schwester sein können, dachte Broichan, so jung und zierlich sah sie aus. Ein winziger Schauder durchzuckte ihn, eine flüchtige, unerwünschte Kälte, die teils Erinnerung, teils finstere Vorahnung war. Was Fola über das Kind gesagt hatte, war Unsinn, niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, konnte an so etwas denken. Es zeigte sich deutlich in Dereleis lockigem braunen Haar und den klaren, blauen Augen, die er beide von Bridei geerbt hatte, und - nicht unbedingt ein Segen - in der bleichen Haut und den ungewöhnlichen Begabungen, die von seiner Mutter kamen, wer die Eltern des Jungen waren. Und auch, was Brideis Herkunft anging, bestand keine Frage. Jeder, der Maelchon von Gwynedd gekannt hatte, würde ihn in Brideis ausgeprägten Zügen und seiner aufrechten Haltung erkennen und etwas von Maelchons machtvoller Präsenz in der Art sehen, wie sein Sohn mit Menschen umging. Der König von Gwynedd war ein geborener Anführer gewesen; Bridei war es ebenfalls, und außerdem so viel mehr als das. Und Anfrida war nicht die Art Frau, die ihren Mann betrogen hätte. Dennoch... Broichan befiel eine tiefe Unsicherheit, als er nun auf Tuala und ihren Sohn zuging - 543 und sah, wie sich beider Gesichter veränderten, als sie sich ihm zuwandten. Tualas Miene wurde misstrauisch und wachsam, Derelei streckte strahlend die Arme aus. »Darf ich mich zu euch setzen?« Broichan ließ sich auf dem Gras nieder, und sein dunkles Gewand breitete sich um ihn aus. Dann folgte er einem plötzlichen, unwahrscheinlichen Impuls und sagte: »Tuala, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.« »Mich?«, fragte sie eindeutig erstaunt. »Selbstverständlich, wenn ich helfen kann.« Ohne lange nachzudenken berichtete er, was die Götter ihm gezeigt hatten. Sie saß still da, den ernsten Blick auf ihn gerichtet, als er von dem fliehenden Mann erzählte, der Jagd, diesem unmöglichen letzten Kampf. Derelei ließ das kleine Pferd über seinen ausgestreckten Arm springen. Tuala sagte nichts, bevor die Geschichte beendet war und der Krieger sterbend allein im Wald lag. Dann sagte sie: »Eine wahrhaft finstere Vision, es ist kein Wunder, dass du so blass bist. Ich hatte schon befürchtet, du wärst krank. Das ist ausgesprochen verstörend. Alpin, sagst du? Und er hat Ana erwähnt. Dieser grausame Jäger, der Sterbende verstümmelt, ist der Fürst, zu dem wir sie geschickt haben, damit sie ihn heiratet. Glaubst du, dass es eine Vision der Gegenwart war? Oder vielleicht etwas, das geschehen wird, wenn wir nicht versuchen es aufzuhalten?« »Ich würde deine eigene Interpretation begrüßen.« »Ich ... wenn du möchtest.« Der Grund für Tualas Zögern war offensichtlich, in all den Jahren, seit sie als neugeborenes Baby in seinen Haushalt gekommen war, hatte Broichan sie nie nach ihrer Meinung über solche Dinge gefragt, obwohl er sehr genau wusste, über welche Begabung sie verfügte. »Nun«, sagte sie, »ich habe diese Bilder nicht selbst gesehen. Das heißt, ich muss es aus zweiter Hand interpretieren, durch deine Augen. Wäre ich an deiner Seite gewesen und hätte das gleiche Werkzeug benutzt, hätten meine - 544 Augen mir vielleicht die gleiche Vision gewährt, aber so, wie die Götter sie mir zeigen wollten. Das wäre nützlicher gewesen.«
»Sag es mir dennoch.« Broichan schnippte mit den Fingern; das Steinpferd wandte ihm neugierig den Kopf zu. Tuala zögerte immer noch. »Was ist?«, fragte er. »Ich muss es aussprechen, selbst wenn es dich beleidigt. Wenn ich offen spreche, wirst du es doch nicht... du wirst es doch nicht gegen mich verwenden? Es gibt Leute hier am Hof und anderswo, die jede Möglichkeit nützen würden, um Brideis Macht zu untergraben, besonders jetzt, wenn er nicht hier ist. Ich muss vorsichtig sein, Broichan.« »Ich bitte nur um meiner selbst willen, Tuala.« »Fola könnte es besser.« »Du bist hier. Fola ist es nicht.« Sie räusperte sich nervös. Konnte es sein, dass sie, obwohl sie nun erwachsen und eine Königin war, immer noch Angst vor ihm hatte? Derelei war inzwischen zu Broichan gekrabbelt, und das kleine Pferd hatte seine Steinhufe in ordentlicher Folge gehoben und war ihm gefolgt. »Es klingt sehr ... eindringlich«, sagte Tuala. »Der Wald, das Licht, es passt zu dem Ort, an den Ana geschickt wurde, und zur derzeitigen Jahreszeit. Ich weiß nicht, wer dieser Krieger war. Vielleicht ist er keine wirkliche Person, sondern die Verkörperung des Ideals männlichen Mutes. Immerhin reiten die Priteni diesen Sommer in den Krieg. Die Götter sagen uns vielleicht, dass viele fallen müssen, bevor wir siegen können. Aber... du hast gehört, wie dieser Fürst Alpin von Ana sprach; dass sie davongelaufen ist oder entführt wurde ... dass sie ihn mit seinem eigenen Bruder betrogen hat... und das kann nicht wahr sein. Ich kenne Ana. Pflicht und Angemessenheit sind für sie wichtiger als alles andere. Sie wäre die Letzte, die so etwas Impulsives tut und gegen alle Konventionen verstößt. Alpin erwähnte - 545 auch einen Galen. Das könnte Faolan sein, obwohl die Eskorte inzwischen doch längst wieder auf dem Heimweg sein sollte...« »Er sagte, der Gäle sei ein Barde«, warf Broichan nachdenklich ein. »Also ist es nicht Faolan. Wenn es ein wahres Abbild der Gegenwart oder der nahen Zukunft war, ist Ana Schreckliches zugestoßen. Ich fürchte um sie, um sie alle. Und wenn ... wenn die Ehe nicht geschlossen wurde, bedeutet das, dass auch Brideis Vertrag nicht zu Stande kam. Dass Alpin von Dornwald den Bedingungen nicht zugestimmt hat. Das sind gefährliche Nachrichten für Bridei.« »Du hältst diese Vision also nicht für rein symbolisch?« Broichan spürte die Anspannung in seinem eigenen Körper und zwang sich, gleichmäßiger zu atmen. »Für eine Botschaft, sagen wir, über das Wesen des Todes und des Sterbens?« Tuala schwieg lange und sah ihn mit ihren großen, seltsamen Augen ernst an. »Warum sollte die Leuchtende dir eine solche Botschaft senden?«, fragte sie schließlich. Die Antwort kam gegen sein besseres Wissen heraus. »Um mir mitzuteilen, dass ich akzeptieren soll, was mir bevorsteht«, sagte er. »Dass ich aufhören soll, sie um mehr Zeit zu bitten. Schmerzen kann ich ertragen, denn ich habe mir beigebracht, sie nicht zu beachten. Aber es ist einfach zu früh. Ich habe noch so viel zu tun ...« Derelei war auf Broichans Schoß geklettert und spielte mit den langen Zöpfen des Druiden, verdrehte sie und knotete sie zusammen. Broichan legte den Arm um das Kind und schaute Tuala an. Was er in ihrem Gesicht sah, war nicht Schrecken oder Kummer, nicht einmal die Befriedigung darüber, einen alten Feind geschwächt zu sehen. Stattdessen blitzten ihre seltsamen Augen nun vor Entschlossenheit, und ihr zartes Kinn war so energisch vorgereckt wie das eines Kriegers. - 546 »Es ist eine Vision wahrer Geschehnisse«, sagte sie, »und wahrscheinlich geschieht es gerade jetzt, was sicher für den gefallenen Krieger nicht gut ist, aber erheblich besser für dich. Die Leuchtende hat dir Brideis Erziehung anvertraut und in gewissem Sinne auch meine. Für die Göttin bist du ein bevorzugter Sohn und ein Verbreiter ihrer Weisheit. Du solltest nicht vergessen, dass du als Druide der Diener der Göttin bist, und da wir gerade von Vertrauen sprechen, ich habe dir meinen kostbarsten Schatz anvertraut: meinen Sohn. Du bist es mir und den Göttern schuldig, so lange zu leben, bis du Derelei alles beigebracht hast, was er wissen muss. Ohne diese Gelehrsamkeit wird sein Weg im Leben wahrhaft gefährlich sein. Es war sehr schwer für mich, dir dieses Vertrauen zu schenken. Jetzt musst du deinen Teil des Vertrags einhalten.« Sie hatte ihn überrascht, sie war energischer, als er geglaubt hatte. Es war, als spräche er mit Fola. »Leider«, sagte er, während Derelei ihm die Arme um den Hals schlang und den Kopf an seine Schulter schmiegte, »kann ich die Auswirkungen eines Giftes nicht mehr zurückhalten, das mir vor Jahren eingegeben wurde und das meinen Körper geschädigt hat. Es arbeitet jetzt in mir und meine Tage sind gezählt.« »Welche Hilfe hast du gegen diese Krankheit gesucht?«, fragte Tuala. »Ich weiß, dass du krank bist und Schmerzen hast. Es wird jeden Tag deutlicher. Du wolltest mit Bridei gehen, das habe ich dir angesehen. Ich habe versucht, dafür zu sorgen, dass er die Wahrheit nicht erfuhr, denn das hätte ihn während des Feldzugs schwer belastet. Er hätte dich sehr gern an seiner Seite gehabt.« Broichan hielt das Kind im Arm und sagte kein Wort. »Hat Fola dir Hilfe angeboten? Oder die Druiden im Wald?« Er antwortete nicht.
»Also gut. Du hast mich um Hilfe gebeten, und ich werde - 547 dir helfen. Aber du musst akzeptieren, dass du selbst in diesem Fall vielleicht nicht dein bester Arzt bist.« »Ich habe dich um Hilfe bei der Interpretation meiner Vision gebeten. Nicht in dieser Sache.« »Du bist der Druide des Königs. Warum solltest du mich brauchen, um dir eine Vision zu erläutern?« Ihr Tonfall war sanft, und er hörte darin, dass sie die Antwort bereits kannte. Plötzlich war es möglich, die Wahrheit zu sagen, und alles kam heraus: Die Kopfschmerzen, die kurzfristige Blindheit, das Schwinden seiner Kräfte, sodass selbst die einfachsten Aufgaben seines Handwerks ihm inzwischen oft unmöglich waren. Die Angst davor, dass er seine Begabung bald vollkommen verlieren würde. Tuala hörte ihm still zu und er erkannte, wie gut sie das konnte. In ihrem Blick stand kein Urteil. Als er fertig war, holte sie tief Luft und sagte: »Wie schrecklich das für dich sein muss! Du musst dich so allein gefühlt haben.« »Ich bin daran gewöhnt, allein zu sein.« »Dennoch. Wirst du jetzt zulassen, dass wir dir helfen?« »Wir? Ich will nicht, dass alle davon erfahren, Tuala. Es wird Brideis Feinden nur recht sein, von einer Schwäche an seinem Hof zu hören. Alle müssen glauben, dass ich immer noch im Stande bin, meine Rolle hier zu erfüllen.« »Nur die, denen du traust, müssen es wissen. Dazu gehört zweifellos Fola, und ihre besten Heilerinnen werden es ebenfalls erfahren müssen. Und vielleicht Aniel, damit er andere über deine Abwesenheit hinwegtäuschen kann. Und ich. Ich weiß, dass du mir nie getraut hast, aber du hast es mir jetzt gesagt, und Bridei würde wünschen, dass ich dir helfe.« Er betrachtete ihr kleines herzförmiges Gesicht mit der blassen Haut und den großen leuchtenden Augen. »Du bietest mir um Brideis willen Hilfe an?« »Und für mich selbst«, sagte sie. »Du hast Derelei das Leben gerettet. Er braucht dich. Wir brauchen dich alle, Broichan. Wenn wir alle so gut kämpfen, wie wir können, wer- 548 den wir diese Krankheit vielleicht besiegen. Die Vision dieses Tages ist ein gutes Zeichen. Dein Bericht darüber war klar und detailliert.« »Es ist lange her, dass ich solche Bilder sehen konnte, und noch länger, dass mir die Interpretation sofort einfiel. Ich bin der beste Heiler im Land der Priteni, Tuala. Wenn ich nicht im Stande war, diese Krankheit zurückzuhalten, wer soll es dann können?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht geht das, was du brauchst, über die Anstrengungen eines einzelnen Mannes hinaus, ob er nun der Druide des Königs ist oder nicht. Ich weiß nur, dass du es wert bist, gerettet zu werden, und dass wir es tun werden, wenn wir es können. Vielleicht sagt uns die Vision einfach nur eins: Sei stark, sei tapfer, sei das Beste, was du kannst. Und gib die Hoffnung nicht auf, auch nicht im finstersten Augenblick.« Broichans Herz schlug nun sehr schnell; er fühlte sich, als wäre er von einer hohen Klippe gesprungen und zu seinem Staunen in sicheren Händen gelandet. Er konnte spüren, wie das Blut in seinen Adern rauschte. Hinter diesem Stück Gras, auf dem sie saßen, Druide, junge Frau und Kind, blühten die Blumen im Garten des Weißen Hügels in Farben, die ihm plötzlich heller und wirklicher vorkamen als alles, was er je zuvor gesehen hatte. »Dennoch«, fügte Tuala nüchtern hinzu, »sollten wir Bridei eine Botschaft schicken. Er muss gewarnt sein, dass im Norden nicht alles zu unserer Zufriedenheit verläuft.« »Du denkst an alles.« »Nicht unbedingt«, sagte sie. »Ich lerne immer noch, Königin zu sein. Und jetzt schicke ich nach Fola. Oder noch besser, wir reiten alle nach Banmerren und besuchen sie dort.« Ana war in einen wunderschönen Traum versunken gewesen, einen Traum, in dem sie in Drustans Armen gelegen hatte, sein Körper den ihren wärmte, seine Hände sich lei- 549 denschaftlich und zärtlich über ihre Haut bewegten und Gefühle der Überraschung und des Entzückens weckten, bald gefolgt von einem drängenden, pulsierenden Begehren. Ihr blieb nur quälendes Unbefriedigtsein, als sie danach im ersten Morgenlicht in der kleinen Höhle mit ihrem Vorhang aus rauschendem Wasser erwachte. Die Kraft ihrer körperlichen Empfindungen verblüffte sie. Wenn der Körper so kurz davor stand, sich einem anderen vollkommen zu ergeben, musste sich doch sicher etwas auf dem Gesicht, in den Augen, in den geröteten Wangen zeigen. Sie dankte den Göttern, dass Faolan nicht hier war, um ihre Gedanken zu lesen. Der Kreuzschnabel putzte sich das scharlachrote Gefieder, die Krähe war gerade dabei, mit dem Schnabel ein kleines Tier aus einem Riss zu holen, und der andere, der eine Art von Falke zu sein schien, wenn auch anders, als jeder Falke, den Ana je gesehen hatte, starrte sie einfach nur mit klugem, stetigem Blick an. Der Traum verblasste; die Wirklichkeit kam zurück. Es war hell. Es war Tag, und Faolan war noch nicht wieder da. Das konnte nur eins bedeuten: Alpin hatte ihn gefunden, bevor er Deord eingeholt hatte. Sie waren beide gefangen, verwundet oder tot. Sie war ganz allein im Wald, umgeben von Meilen unvertrautem Gelände auf allen Seiten, gekleidet in ein feuchtes Hochzeitskleid und nur mit Deords kleinem Messer bewaffnet. Und selbstverständlich gab es die Vögel, aber Ana nahm an, dass sie ihr wenig helfen konnten, wenn Drustan selbst
nicht in der Nähe war. Ihre Rolle war überwiegend die von Boten gewesen; von Verlängerungen des Mannes selbst. Was würden sie ohne ihn schon für sie tun können? Sie schauderte, zog sich die kleine Decke um die Schultern und versuchte, praktisch zu denken. Sie konnte versuchen, zu Alpins Festung zurückzugelangen. Wenn sie einem Bach folgte, würde sie schließlich zu dem See nahe der Mauer gelangen. Sie könnte sich seiner Gnade überantwor- 550 ten. Zumindest würde sie dort Wärme und ein Dach über dem Kopf finden. Alpin ... Alpin, der diesen seltsamen Ausdruck auf Faolans Gesicht bewirkt hatte, als er ihn zwang, ihr eine Halbwahrheit zu sagen, von der er glaubte, dass sie Ana gegen ihren treuen Freund wenden würde; Alpin, der sie geschlagen hatte; Alpin, der sehr, sehr zornig auf sie sein würde. Alpin, der, wie es schien, nicht vorhatte, sich an den Vertrag zu halten, aber dennoch wollte, dass sie seine Söhne zur Welt brachte. Sie murmelte leise vor sich hin und ging ihre Möglichkeiten durch, während das Licht vor der Höhle heller wurde und den Sonnenaufgang und einen Tag ankündigte, an dem sie diese kurzfristige Zuflucht auf die eine oder andere Weise verlassen musste, denn eins war sicher: Sie hatte nicht vor, hier zu verhungern wie eine Ratte, die in einem Loch gefangen saß. »Drustan ist weg, nicht wahr?«, fragte sie die Vögel. »Er muss nach Westen gegangen sein. Er liebt diesen Ort, das Träumende Tal. Es war sein einziges wahres Zuhause; der einzige Ort, an dem die Menschen ihn nicht abgewiesen haben. Selbstverständlich ist er dorthin gegangen ...« Es war grausam, so grausam nach diesem lebhaften Traum, der sich so wirklich angefühlt hatte. War es dumm und naiv von ihr gewesen, sich von ihren Vorstellungen von Liebe verwirren zu lassen? Sie hatte Drustans süße Worte von Leidenschaft und Begierde geglaubt. Sie erinnerte sich an Deords trockene Bemerkung: Er ist ein gut aussehender Mann, und Faolans wortlose Verblüffung, als er versuchte, sie zu fragen, wie es passiert war. »Ich dachte, er liebt mich«, flüsterte sie den Vögeln zu. »Ich dachte, er hätte es ernst gemeint. Aber jetzt kommt er nicht...« Sie schluckte die Tränen hinunter, die drohten sie zu überwältigen. Sie musste sich diesem Tag stellen, und all den anderen Nächten und Tagen eines unmöglichen Wegs zurück zum Weißen Hügel. Irgendwie würde sie allein zurechtkommen müssen. »Ana?« - 551 Faolan stand am Eingang der Höhle, die Kleidung blutverschmiert, das Gesicht blass und von Erschöpfung gezeichnet. Sie war unendlich erleichtert, aber sie ahnte auch Schreckliches. »Faolan! Bist du verletzt? Was ist mit Deord? Und... Drustan?« Sein Blick schoss zu den Vögeln und kehrte dann zu ihr zurück. »Es gibt keine schonende Weise, es dir zu sagen. Deord ist tot. Alpin und seine Jäger haben ihn umgebracht.« Und als sie entsetzt etwas murmelte: »Ich habe ihn zu spät erreicht, um helfen zu können; ich konnte nur noch bei ihm sitzen, während er starb.« »Wie...« »Glaub mir, das willst du nicht wissen. Er ist tapfer gestorben; er hat einige von Alpins Männern mitgenommen. Wie geht es dir? Ich konnte gestern Abend nicht zurückkehren. Er war weit von hier entfernt...« »Es geht mir gut, und ich war in Sicherheit, Faolan. Natürlich musstest du dich um Deord kümmern. Es ist schrecklich und so traurig. Er war ein guter Mann.« Sie erinnerte sich, wie schnell Deord eingegriffen hatte, als Alpin sie schlagen wollte. Sie erinnerte sich an seine Übungen mit Drustan im Wald, ein erstaunliches Bild von Kraft und Anmut. »Ich habe mich häufig gefragt, was er wohl früher getan hat und wie er nach Dornwald gekommen ist. Wir werden es jetzt wohl nie erfahren.« Faolan schwieg. Er hatte einen kleinen Rucksack, wahrscheinlich den von Deord, dessen Inhalt er nun auspackte: einen Feuerstein, eine Rolle Leinen für Verbände, einen geölten Beutel, in dem sich vielleicht gepresste Zündspäne befanden, Streifen von Trockenfleisch, einen Wasserschlauch. Dann holte er einen Handschuh einen einzelnen - aus dickem, festem Leder heraus. »Hast du etwas von Drustan gesehen?« Ana musste sich zwingen zu fragen; es würde so sehr wehtun, ein Nein zu hören. - 552 »Deord war überzeugt, dass er die Festung verlassen hat«, sagte Faolan und sah sie fragend an. »Er hat mich gebeten, Drustan zu helfen, sich in Sicherheit zu bringen. Und mich um dich zu kümmern. Er dachte an alle anderen, nur nicht an sich selbst. Er ist wegen uns gestorben, Ana. Eine grausame Verschwendung. Alpin wird dafür zahlen.« So hatte sie ihn noch nie gesehen. In seinen Augen stand ein Furcht erregender Ausdruck. »Es ist nicht vollkommen verschwendet«, sagte sie, »wenn wir unser Bestes tun, um die Möglichkeit zu nutzen, die Deord uns gegeben hat. Wenn wir Alpin entkommen und mutig und gut weiterleben. Für ihn ebenso wie für uns.« »Mit der Zeit werde ich vielleicht lernen, es philosophischer zu betrachten«, sagte Faolan angespannt. »Du hast nicht gesehen, was Alpin ihm angetan hat. Und jetzt komm, lass uns gehen. Ich zweifle nicht daran, dass Alpin unsere Spur wieder aufnehmen wird, und wenn er hierher kommt, möchte ich schon lange weg sein. Ich schlage vor, dass du deinen Rock hochziehst, oder noch besser ein Stück abreißt, damit du klettern kannst. Wir steigen die Klippe hinauf und dann über diese Hügel.« Schweigend griff Ana nach dem kleinen Messer und benutzte es, um ihren so zart bestickten Rock zwei Handbreiten oberhalb der Knöchel abzuschneiden. Sie rollte den feuchten Stoff auf und steckte ihn in den Rucksack; Faolan brauchte ihr nicht zu sagen, dass sie keine Beweise zurücklassen durften. Ohne ein Wort folgte
sie ihm aus der Höhle. »Nimm diesen Rucksack«, sagte Faolan. »Er ist leichter. Ich habe das meiste von dem, was wir brauchen, in meinen gesteckt. Du solltest lieber vorgehen, dann kann ich dich auffangen, wenn du fällst. Klettere nicht zu schnell, die Steine sind rutschig.« »Woher sollen wir wissen, wohin wir uns wenden sollen, jetzt, wo Deord nicht mehr bei uns ist?« Ana schaute nach - 553 oben, der steile Felsen ragte über ihr auf, die dunkle, glatte Oberfläche hier und da von kleinen Flecken von Grün überzogen. Die Luft war erfüllt von feiner Gischt. »Ich hoffe, wir haben bereits einen Führer«, sagte Faolan, als Kreuzschnabel, Krähe und Falke nacheinander aus der Höhle erschienen und ihnen voranflogen. »In einer solchen Lage muss man sich auf bestimmte Dinge verlassen. Also nach oben. Ich bin direkt hinter dir.« Der Rest des Tags verging in einer wirren Folge von Klettern und Kriechen, Balancieren und Springen. Sie eilten über Geröll und Felsen, über schlammige Waldwege und durch dunkle, sumpfige Senken. Als Ana glaubte, nicht mehr weitergehen zu können, als ihre Brust mit jedem Atemzug schmerzte und ihre Knie mit jedem Schritt zitterten, fand Faolan ein Versteck und gestattete ihr eine kurze Rast, einen Schluck Wasser und einen Bissen von dem widerwärtigen Trockenfleisch, an das sie sich von ihrem letzten Weg quer durchs Land noch zu gut erinnerte. Trotz des erschreckenden Ausdrucks in seinen Augen fand er freundliche Worte für sie, Worte des Lobs und der Ermutigung. Ohne das, wusste Ana, wäre es ihr unmöglich gewesen, dieses Tempo aufrechtzuerhalten. Sie hatten Alpin und seine Leute doch sicher schon weit hinter sich gelassen. Sie würden doch sicher heute Abend ein Lager aufschlagen und sich nicht vor einem Angriff fürchten müssen. Der Falke flog voran. Faolan folgte den Wegen, die der Vogel wählte, selbst wenn sie alles andere als viel versprechend aussahen. Sie reisten durch hoch gelegenes Gelände; der Wald lag nun tief unter ihnen, und sie waren sowohl jedem Blick als auch dem Wind ausgesetzt, der selbst in diesen Sommertagen kalt über die Hügel fegte. Winzige Blüten blühten in Rissen und hoben ihre edelsteinhellen Gesichter der Sonne entgegen. Wolkenschatten tanzten über die kargen Hügelflanken, und helles Gras beugte sich im Wind. In - 554 der Ferne erhoben sich hohe Gipfel lila, grau und tiefblau. Es gab keine Anzeichen von Menschen hier, aber Rehe und Hasen hatten ihre Spuren hinterlassen. Und sehr wahrscheinlich lebten hier auch Wölfe. Als die Sonne sich nach Westen wandte und die Schatten länger wurden, führte der Falke sie wieder hügelabwärts und zurück in ein Stück Kiefernwald. Zum ersten Mal sah Ana Faolan zögern, als Krähe und Kreuzschnabel dem größeren Vogel in den tieferen Schatten höherer Bäume folgten. »Haben wir die Grenzen von Dornwald hinter uns?«, keuchte Ana und nutzte die kurze Pause, um ein wenig zu Atem zu kommen. »Ich weiß es nicht«, sagte Faolan. »Ich würde lieber nicht wieder in den Wald zurückkehren; vielleicht können wir uns hier besser verbergen, aber es fühlt sich zu sehr nach Alpins Land an. Ich habe gesehen, wie schnell er solches Gelände mit seinen Jägern durchquert. Er kennt sich hier aus.« Vor ihnen gab die Krähe ihr vertrautes Kräh von sich, und der Kreuzschnabel schoss von Busch zu Busch. Der Falke war nirgendwo zu sehen. »Ich schätze, wir müssen ihm vertrauen. Kannst du weitergehen?« »Ihm?«, fragte sie. »Dem Vogel. Er ist alles, was wir haben. Komm, nimm meine Hand. Du machst das sehr gut. Und jetzt lauf.« In dieser ersten Nacht wagten sie nicht, ein Feuer anzuzünden. Sie saßen dicht nebeneinander, aber ohne sich zu berühren, sie schliefen wenig und lauschten den Geräuschen des Waldes, Rascheln im Unterholz, leisem Quieken im Laub, den seltsamen hohlen Stimmen der Eulen, und einmal erklang weit entfernt ein Schrecken erregendes Heulen. Sie wagten keine Spekulationen, was das hätte sein können. Die drei Vögel blieben in der Nähe. Der Kreuzschnabel saß im Allgemeinen auf Anas Schulter, die Krähe hockte - 555 auf dem Ast einer Eberesche, und der größte Vogel saß im Wipfel einer dunklen Kiefer. Wann immer Ana aufblickte, begegnete sie seinem scharfen, beunruhigenden Blick. Es war ein seltsamer Ersatz für den Vogel, den Drustan verloren hatte, für den winzigen, weichen Zaunkönig. Sie fragte sich, wo sie herkamen, ob er sie zu sich rufen konnte, wenn er sie brauchte, oder ob er einen Zauber auf die wilden Tiere des Waldes ausübte, um sie zu seinen Helfern zu machen, so, wie er Ana selbst bezaubert hatte ... vielleicht hatte er nur mit ihr gespielt. Männer schienen so etwas zu mögen, man musste nur an Alpin denken. Vielleicht hatte Drustan nie wirklich an eine gemeinsame Zukunft für sie gedacht. »Weinst du?« Faolans Stimme war leise, beinahe unterwürfig. »Selbstverständlich nicht.« Ana schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel ab, weil sie nichts Besseres hatte. »Warum sollte ich weinen?« »Mir würden fünf oder sechs Gründe einfallen.« »Ich ... ich verstehe einfach nicht, warum Drustan nicht mit uns gekommen ist«, sagte sie schließlich beinahe gegen ihren Willen, denn ihre Gedanken drehten sich immer wieder darum. »Ich weiß, er befürchtete, dass er wieder jemandem wehtun könnte, wenn er nicht eingesperrt war ... aber wenn Deord Recht hatte, wenn Drustan Dornwald verlassen hat, warum ist er noch nicht hier? Ich dachte, er würde ... ich dachte, er hat mich gern ...« Es
klang jämmerlich, und sie verbiss sich weitere Worte, aber sie konnte die Tränen nicht aufhalten. »Ich hoffe, er ist davongekommen«, sagte sie schließlich bebend. »Was, wenn Alpin ihn ebenfalls eingeholt hat? Was, wenn er ...« »Hör auf, Ana.« Faolan klang nicht zornig, nur sehr müde. »Denk lieber daran, dass wir bald nach Hause zurückkehren und von vorn beginnen können. Und sei froh, dass du noch lebst. Zu viele haben bei dieser Sache bereits ihr - 556 Leben gelassen. Wenn es hilft, kann ich dir sagen, dass ich nicht glaube, dass dein kostbarer Drustan zu ihnen gehört.« Er warf einen Blick zu dem Falken, und der Vogel starrte zurück. »Mein Instinkt sagt mir, dass er überlebt hat und aus Dornwald verschwunden ist. Was er von diesem Punkt an getan hat, geht mich nichts an.« Sie schwieg, sein Tonfall war irgendwie dazu angetan. »Es geht dich doch etwas an, Faolan«, sagte sie nach einiger Zeit. »Und mich ebenfalls. Hat Deord dich nicht gebeten, dafür zu sorgen, dass Drustan in Sicherheit ist? Er hat seine eigene Verantwortung an dich weitergegeben. An uns.« Faolan spannte sich an. »Was würdest du also vorschlagen? Sollen wir nach Dornwald zurückkehren und sehen, ob er noch dort ist? Alpin direkt in die Arme laufen?« »Was ist mit dir los, Faolan? Drustan ist ein guter Mann; ich habe nie geglaubt, dass er das Verbrechen begangen hat, dessen er bezichtigt wurde. Ich weiß, er würde so etwas nicht tun. Du warst bereit, zu Deord zurückzukehren, den du kein bisschen besser kanntest. Drustan ist in Gefahr. Er ist vielleicht allein im Wald unterwegs und wird von Alpin gejagt.« »Genau wie wir«, erklärte Faolan. »Und wenn er tatsächlich bei Verstand ist, begibt er sich so schnell wie möglich außerhalb von Alpins Reichweite, genau wie wir es tun. Ich bin überzeugt, dass er in Sicherheit ist, Ana. Ich glaube, er weiß, wie er auf sich aufpassen muss. Er ist vielleicht erheblich unabhängiger, als du dir vorstellen kannst.« »Faolan?« »Hm?« »Als du ihn gesehen hast - als ihr beide, du und Deord, die Festung verlassen habt -, hat Drustan da etwas gesagt? Darüber, wo er hingehen würde oder ... hat er etwas über mich gesagt?« Sie konnte sich vorstellen, was Faolan denken würde - dass sie vollkommen besessen war von diesem Mann -, aber es war unmöglich, nicht zu fragen. - 557 Faolan ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Es wäre besser für dich, all das hinter dir zu lassen«, sagte er schließlich. »Du solltest versuchen, es zu vergessen.« »Beantworte einfach nur meine Frage, Faolan. Wenn Drustan nichts über mich gesagt hat, sollte ich das lieber wissen, oder nicht?« Sie hörte, wie er seufzte. »Er hat mehr an dich gedacht als an alles andere. Er wollte dich nicht gehen lassen, aber dann hat er es getan, denn er wollte vor allem, dass du in Sicherheit bist. Er hat Deord mehr oder weniger befohlen, mit uns zu gehen.« »Oh.« »Ich war nicht sicher, ob Drustan Dornwald verlassen würde. Es kam mir so vor, als hätte er beinahe Angst, sein Gefängnis hinter sich zu lassen. Lange Gefangenschaft kann einem Mann so etwas antun. Aber Deord schien überzeugt zu sein, dass Drustan fliehen würde, und Deord kannte ihn viel besser als wir beide.« Er schien sich unbehaglich zu fühlen, ihr das zu sagen, und hin und wieder warf er einen Blick zu den Vögeln. »Hast du Angst, dass er dich hören kann?«, fragte sie. Faolan starrte sie an, die Augen zusammengekniffen. »Ich meine«, sagte Ana, »es gab Zeiten in der Vergangenheit, in der er seine Vögel ausgeschickt hat, und wenn sie zurückkehrten, wusste er, was sie gesehen hatten. Mir war nicht klar, ob du das wusstest.« »Ich habe es gesehen«, sagte er. »Es ist eine seltsame Begabung.« »Faolan?« »Hm?« »Du magst ihn nicht, oder? Drustan, meine ich.« »Ich kenne ihn nicht«, murmelte Faolan. »Ich weiß, dass Deord tot ist und dass du bitter unglücklich bist. Drustan hat bei beidem eine Rolle gespielt. Welchen Grund hätte ich, ihn zu mögen?« - 558 »Du könntest weniger engstirnig sein«, sagte Ana. »Gib Drustan nicht die Schuld an dem, was uns zugestoßen ist. Es ist Alpins Schuld. Er hätte sich weigern sollen, den Vertrag zu unterschreiben, und uns nach Hause schicken sollen. Das wäre ehrenhaft gewesen, wenn du Recht hast und er tatsächlich mit den Galen zusammenarbeitet.« »Sag mir eins«, forderte Faolan, »wenn Drustan jetzt auftauchte, wie würdest du dir deine Zukunft vorstellen? Und vergiss nicht unsere Flucht aus der Festung seines Bruders unter zweifelhaften Umständen, Alpins Verrat an
Bridei und die Tatsache, dass wir uns zweifellos die lebenslange Feindschaft eines mächtigen Fürsten zugezogen haben. Und nicht zuletzt gibt es da die kleine Tatsache, dass Drustan ... anders ist. Sichtlich anders als andere Menschen. Dir ist doch klar, dass Bridei, wenn wir zum Weißen Hügel zurückkehren, nach einem anderen Fürsten oder Kleinkönig suchen wird, mit dem er dich verheiraten kann? Selbstverständlich wird er beim nächsten Mal vorsichtiger sein. Aber es gibt sicherlich einen würdigen Anführer von strategischem Interesse, der eine königliche Braut sucht, selbst wenn sie den Ruf hat, Ärger zu machen.« Sie holte tief Luft und atmete wieder aus, bevor sie antwortete. »Ich kann nichts an dem ändern, was zwischen Drustan und mir vorgefallen ist, Faolan. Du klingst, als würdest du mich verachten. Dabei habe ich mich nur verliebt.« Das schien ihn zum Schweigen zu bringen. »Und was deine Frage angeht«, fuhr Ana fort, »wenn Drustan jetzt hierher käme, wäre ich so glücklich, dass ich in mir keinen Raum mehr für etwas anderes hätte. Aber selbst wenn er nicht kommt, weil er sich entschieden hat, mich zu verlassen und nach Westen zu gehen, werde ich nie wieder einer arrangierten Ehe zustimmen. Das ist nicht mehr möglich. Ich werde Bridei sagen, dass ich nicht tun kann, was er will.« »Glaubst du, Bridei würde deine Heirat mit einem ...« - 559 »Einem was, Faolan? Einem Verrückten? Einem Mörder? Drustan ist nichts von alldem. Ich bin sicher, dass das alles Lügen oder Missverständnisse waren.« »Erinnerst du dich noch daran, was du mir auf dem Weg nach Dornwald gesagt hast?«, fragte er sie. »Dass du nach Hause gehen möchtest, aber dass die Pflicht stets an erster Stelle steht, weil du vom königlichen Blut von Fortriu bist?« »Ich habe mich geirrt«, sagte sie und fragte sich, was ihn an diesem Abend so grausam machte. »Damals wusste ich nicht, was Liebe ist. Mir war nicht klar, dass das alles ändern würde. Ich dachte, Liebe gäbe es nur in Geschichten; dass man den einzigen Menschen auf der Welt findet, der perfekt zu einem passt, den, der einen erst zu einem Ganzen macht. Aber es ist wahr. Wie könnte ich so etwas aufgeben, wenn ich das Glück hätte, dass er mir tatsächlich folgt? Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Ich hoffe nur, dass du eines Tages ebenfalls jemandem begegnen wirst, der dich so empfinden lässt.« »Damit ich mich auch jämmerlich fühle und weine?« »Es ist schwer zu erklären. Ja, ich fühle mich im Augenblick schrecklich, denn mein Herz wurde in Stücke gerissen. Aber ich könnte mir niemals wünschen, ihm nicht begegnet zu sein. Ich könnte niemals wünschen, dass es nicht geschehen wäre. Selbst wenn diese wenigen geflüsterten Gespräche alles waren, was wir hatten, waren sie es wert.« Faolan schwieg. »Faolan? Sind wir noch Freunde?« Nach einiger Zeit streckte er die Hand aus und legte sie auf ihre, warm und fest. »Immer«, sagte er. Über ihnen im Baum bewegte sich der Falke ruhelos im Dunkeln und faltete seine rotbraunen Flügel neu. »Warst du wirklich einmal ein Barde?« »Mhm.« »Du hast mich überrascht.« »Es wird keine Wiederholungsvorstellung geben. Ich ha- 560 be getan, was ich musste. Aber ich werde es nicht wieder tun.« »Warum?«, fragte sie. »Tut es so weh, deine Gefühle zu zeigen? Dein Gesang ist so schön und die Harfe - ich habe nie solches Harfenspiel gehört. Es ist traurig, so etwas nicht mit anderen zu teilen. Es ist doch sicher eine bessere Berufung für einen Mann als ...« »Als Spion und Attentäter zu sein?«, fragte er bitter. »Was ich tue, passt zu mir. Es passt zu dem Mann, der ich jetzt bin.« »Aber du hast mir gezeigt, dass du auch dieser andere Mann sein kannst, ein Mann, der mit seinen Fingern Magie heraufbeschwört. Ein Mann, dessen Stimme hartgesottene Krieger zum Weinen bringt.« »Diesen Mann gibt es nicht mehr. Ich habe diese Rolle eine Weile gespielt, weil es notwendig war. Ich habe nicht vor, es wieder zu tun. Und ja, es tut weh. Es schwächt mich. Ich kann es mir nicht leisten.« Sie saßen eine Weile schweigend da, dann sagte er: »Ana, du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen. Wir müssen im Morgengrauen weiterziehen, und du bist erschöpft.« »Ich will nicht schlafen. Es ist kalt und dunkel und ... und ich will nicht träumen.« »Hattest du Albträume? Diese Droge könnte sich immer noch auswirken...« »Es waren gute Träume«, sagte Ana. »Es ist das Aufwachen, das mir nicht gefällt. Mach dir wegen morgen keine Sorgen. Ich werde tun, was ich tun muss. Ich möchte mich einfach lieber unterhalten, statt mich auszuruhen. Aber es ist ungerecht von mir, du musst selbst müde sein. Ich glaube nicht, dass du letzte Nacht viel geschlafen hast.« »Ich bin daran gewöhnt, ohne Schlaf auszukommen, erinnerst du dich?« Sie spürte sein Lächeln im Dunklen und fühlte sich davon getröstet. »Sprich, wenn du willst. Es hilft, damit die Zeit vergeht.« - 561 -
»Deord hat mir einmal gesagt, ich sollte dich nach Gefängnissen fragen.« Ana versuchte, sich etwas bequemer auf dem festen Boden zurechtzusetzen, und zog die Beine unter ihren jämmerlich gekürzten Rock. Jeder Versuch, sich angemessen zu verhalten, war lächerlich. Sie war froh, dass der Schatten im Augenblick ihre Waden verbarg, die sich über dem Stiefelrand zeigten. »Was meinte er damit?« »Es ist nichts, worüber ich sprechen möchte. Wir waren beide Gefangene an einem Ort, den man den Kerker von Felsental nennt, zu Hause in Ulaid, wenn auch nicht zur gleichen Zeit. Sagen wir einfach, es ist ausgesprochen ungewöhnlich, in einem Stück aus dem Kerker herauszukommen. Deord war der einzige andere Überlebende, dem ich je begegnet bin. Das schuf eine Verbindung zwischen uns, ob es uns nun gefiel oder nicht, eine Verpflichtung, einander zu helfen. Deord hat es bis zum Extrem getrieben. Ich habe ihn nicht gebeten, für mich zu sterben.« Sein Ton war ausdruckslos. »Warum warst du in diesem Gefängnis?« »Ich habe mir die Feindschaft einer einflussreichen Familie zugezogen. Die beiden Zweige dieses Clans befinden sich mehr oder minder in stetiger Fehde; ich bin irgendwie zwischen sie geraten. Ich weigerte mich, eine bestimmte Aufgabe auszuführen, als Ergebnis haben sie mich an einen Ort geschickt, wo sie mich nicht länger für gefährlich hielten.« Ana zögerte. »Du hast mir einmal gesagt, dass dir etwas Schreckliches zugestoßen ist... etwas, das dich für immer verändert hat. War es das Gefangensein an diesem Ort?« »Nein.« Er verlagerte ruhelos das Gewicht. Ana wünschte sich, er würde näher rücken und den Arm um ihre Schultern legen, denn es war kalt, und ihre Kleidung war immer noch feucht. Sie zog die Decke fester um sich, Faolan hatte ihr Angebot, sie zu teilen, abgelehnt. »Es gibt also noch eine andere Geschichte? Ist das passiert, als du noch ein Barde warst?« - 562 »Es ist ein Teil meines Lebens, an den ich lieber nicht denken möchte«, sagte Faolan. »Ich hatte keine Harfe mehr berührt seit... bevor es geschehen ist. Ich werde es auch nicht wieder tun, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diese Dinge am Weißen Hügel nicht erwähnen würdest. Spielen, singen ... das weckt Erinnerungen, die ich mir nicht leisten kann, nicht, wenn ich bei Verstand bleiben will.« »Willst du mir erzählen, was geschehen ist? Es kann nicht gut für dich sein, alles so in dir zu verschließen ...« »Ich habe zugestimmt, mich mit dir zu unterhalten, nicht meine finstersten Erinnerungen preiszugeben. Es ist nichts für deine Ohren; dir würde übel werden. Du hattest selbst als Geisel bisher ein sehr privilegiertes, behütetes Leben. Was mir zugestoßen ist... war unaussprechlich.« »Privilegiert und behütet«, wiederholte sie. Die Worte hatten sie getroffen, es war, als betrachtete er sie nun, nachdem sie Dornwald verlassen hatten, wieder als verwöhnte Prinzessin. Sie hatte geglaubt, er würde sie nun besser kennen. »Vielleicht ist das wahr. Ich kann nichts dafür, dass meine Mutter vom königlichen Blut von Fortriu war. Und ich kann auch nichts dafür, dass meine Eltern beide starben, bevor ich fünf Jahre alt war, oder dass man mich von zu Hause weggebracht hat, bevor ich elf wurde. Ich habe meine kleine Schwester seit neun Jahren nicht gesehen. Breda ist inzwischen vielleicht schon verheiratet und Mutter. Sie könnte die nächste Geisel sein. Ich war alles, was sie hatte, Faolan, ich war Mutter und Vater für sie. Und dann das hier: Alpin und was hier geschehen ist und... und Drustan ...« Ihr Götter, sie würde wieder anfangen zu weinen und ihm damit nur zeigen, wie schwach sie wirklich war. »Ich spreche nicht gern über diese Dinge. Ich könnte versuchen, sie zu vergessen, nehme ich an, weil es mich nur traurig und zornig macht und bewirkt, dass ich mich schuldig fühle, wenn ich daran denke. Aber sie sind Teil von mir; sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin.« - 563 Faolan schwieg einen Augenblick. Er hielt immer noch ihre Hand; sie nahm an, das war ein ermutigendes Zeichen. »Ich ...« Er brach ab, dann versuchte er es noch einmal: »An diesem Abend, dem ersten Abend, als ich die Harfe spielte, kam alles zurück. Alles, jeder Laut, jeder Geruch, jeder schreckliche Augenblick. Die Männer wollten weiterfeiern, nachdem du dich zurückgezogen hattest und auch Alpin gegangen war. Sie hätten mich die ganze Nacht spielen lassen. Willst du wissen, wo ich war?« Ana nickte. »Zusammengerollt wie ein verängstigtes Kind, das sich im Dunkeln versteckt. Heulend und jammernd. Ein Mann in meinem Beruf kann sich solche Schwächen nicht leisten. Sie machen ihn verwundbar.« »Ich bin nicht dein Feind, Faolan. Wir sind allein im Wald, und nur Vögel und Insekten hören, was wir sagen. Wenn du es mir erzählst, wird die Erinnerung vielleicht nicht mehr so schwer auf dir lasten.« »Es wäre ... es wäre für eine Dame nicht leicht zu verdauen. Schockierend ... bedrückend ... Ich kann es nicht.« »Würde eine Dame ihren Rock so kurz tragen, von ihrem Haar ganz zu schweigen? Betrachte mich als einen Freund, einen guten Kameraden, auf den du dich verlassen kannst und der dich nicht verraten wird. Erzähl es mir wie eine Geschichte, wenn es das einfacher macht. Wie die Geschichte eines anderen Mannes, eine, über die du ein Lied schreiben würdest.« »Das wäre wirklich ein jämmerliches Lied.« »Mag sein. Vielleicht brauchst du die Geschichte nur ein einziges Mal zu erzählen. Du bist ein guter Mann, Faolan, ganz gleich, was du in der Vergangenheit getan hast. Wir haben zusammen schreckliche Zeiten durchgestanden. Wenn du je frei von dieser Sache sein willst, hast du jetzt Gelegenheit, damit anzufangen.
Komm schon, versuch es.« Sie legte ihre andere Hand auf sein Knie, er zuckte heftig zu- 564 rück, als sie ihn berührte. Er war an diesem Abend so angespannt, dass Ana nicht glaubte, näher rücken zu können. Dann begann er leise die Geschichte zu erzählen. »Es gibt ... es gibt in meiner Heimat einen mächtigen Clan, die Ui Neill, du hast vielleicht schon von ihnen gehört. Beide Hochkönige, der in Tara und der der Galen in diesem Land, stammen aus dieser Familie. Sie hat zwei Zweige, einen im Nordwesten und einen im Osten. Es gibt viele Fürsten und viele Fehden um Land und Herrschaft. In meiner Geschichte geht es um einen... eher unwichtigen Zweig der Familie, eng verwandt mit einem kriegerischen Stammesfürsten namens Echen, aber angeführt von einem Mann, der nur wünschte, dass seine Familie und seine Gemeinde sicher und in Frieden lebten. Er wollte keinen Anteil an den Kriegen. Er war, was wir einen Brithem nennen, ein Gesetzeskundiger, ein Ältester, der in der kleinen Siedlung, in der er wohnte, hoch geachtet wurde. Er hatte eine große Familie: seine Frau, ihre Eltern, zwei Söhne und ... und drei Töchter. Die Familie war recht wohlhabend. Es war ihrer Region lange genug gelungen, sich nicht in die Auseinandersetzungen der Ui Neill verwickeln zu lassen, so lange, dass sie es beinahe nicht mehr anders kannten. Kinder spielten draußen, junge Frauen sammelten Beeren und melkten Kühe, ohne dass sie von Bewaffneten bewacht werden mussten. Junge Männer lernten Handwerke, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten.« »Zum Beispiel Musik?«, fragte Ana vorsichtig. Er sah sie an. »Der jüngere Sohn des Brithem war dazu begabt. Als er ein gewisses Alter erreichte, fand sein Vater einen Meisterbarden, der einen Jungen ausbilden wollte, und der Junge ging davon, um zu lernen, denn selbstverständlich ist es für Barden wichtig zu reisen. Er war einige Jahre nicht zu Hause. Als er zu einem Besuch zurückkehrte, war er kein Junge mehr, sondern ein junger Mann. Und die Dinge in seinem Dorf hatten sich geändert.« - 565 Im Dunkeln, trüb beleuchtet vom Mond, der tief über den Bäumen hing, sah Ana sein Gesicht als Muster aus Schatten und Knochen, die Augen wie dunkle Höhlen. Sie packte seine Hand fester, sagte aber kein Wort. »Der - der Vater hatte ein Urteil gefällt, das sich gegen Echen Ui Neill richtete«, sagte Faolan. »Einer der Schergen des Fürsten hatte sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht - um was es ging, ist eher unwichtig -, und Echen glaubte, durch das Urteil in der Region an Status verloren zu haben. Der Schuldige wurde ins Exil geschickt. Der Mann war Echen nützlich gewesen, und der Fürst ärgerte sich darüber. Die Ui Neill haben stets schnelle Rache gesucht. Dinge geschahen - grausame Dinge. Ein Haus wurde niedergebrannt. Rindvieh wurde gestohlen, Schafe wurden geschlachtet und auf den Feldern liegen gelassen. Die Frau des Brithem verlor fünf ihrer guten Zuchtkühe. Dann wurde der Mann der ältesten Tochter erhängt in der Scheune aufgefunden. Einige sagten, er hätte sich umgebracht. Aber das hätte er nicht getan. Sie erwarteten ihr erstes Kind. Die junge Frau verlor das Baby, denn der Schock war zu viel für sie.« »Aber ... sagtest du nicht, diese Leute seien Verwandte dieses Ui Neill gewesen? Wie konnte er ...« »Das machte es nur noch schlimmer. Echen konnte nicht glauben, dass mein - dass der Brithem ein für seine Verwandten ungünstiges Urteil fällen würde. Es gibt Menschen, die die Prinzipien des Gesetzes nicht verstehen; die nichts von Ehre und Gerechtigkeit wissen. Mein - dieser Brithem war in solchen Dingen ausgesprochen genau. Und das machte es ... das war ...« Er konnte nicht weitersprechen. »Hat sich die Familie nach dieser Gewalttätigkeit gegen Echen gewandt? Hat sich die Gemeinschaft mit ihnen zusammengetan?«, versuchte Ana ihm zu helfen. »Stell dir Echen wie einen Mann wie Alpin vor, einen, der Angst als sein wichtigstes Werkzeug benutzt. Ein Mann, der - 566 mit brutaler Gewalt über sein Territorium herrscht. Wenn Alpin auf Widerstand stößt, schneidet er einen Mann einfach in Stücke und hängt ihn auf, als Lektion für jeden, der dumm genug sein könnte, ihn herauszufordern. Echen war genauso. Aber das Territorium, über das er herrschte, war viel größer als das von Alpin. Welche Chancen hatte ein Dorf-Brithem gegen solche Macht? Dennoch, die Familie ergab sich nicht und akzeptierte das Unvermeidliche nicht. Sie wehrten sich.« »Wie?« »Der - der - ich glaube nicht, dass ich weitermachen kann.« Er schauderte. Ana nahm die Decke ab und legte sie um seine Schultern. »Nein«, protestierte Faolan. »Du wirst frieren ...« »Dann teile sie mit mir. Es ist nur vernünftig.« Jetzt blickte er auf zu dem Falken, der immer noch ohne zu blinzeln von dem höchsten Ast herunterschaute. »Ist es dir unangenehm, diese Geschichte in Gegenwart der Vögel zu erzählen?« Faolan verzog den Mund. »Tatsächlich sind die Einzigen, denen gegenüber ich zuvor erwähnte, was geschehen ist, Deord und Drustan. Ich kann nur hoffen, dass Drustan mich nicht verurteilt, wenn er es hören kann.« »Erzähle mir den Rest der Geschichte. Was hat diese Familie getan?« »Als der jüngere Sohn nach Hause kam, hatten die Männer aus der Umgebung sich zu einer kleinen Streitmacht zusammengetan, um ihr Land, ihren Besitz und ihre Lieben zu bewachen. Ihre Waffen waren Sensen und
Mistgabeln. Was sie über das Kämpfen wussten, hatten sie bei freundschaftlichem Ringen an einem Festtag gelernt. Der älteste Sohn des Brithem war ihr Anführer. Er war klug, und er war zornig. Er hatte gesehen, wie verzweifelt sein Vater nach dem Verlust seines ersten Enkelkinds gewesen war. Dieser junge Mann, er...« - 567 »Wie hieß er, Faolan?« »Dubhän.« Er musste den Namen herauszwingen; seine Stimme war harsch von Schmerz, als er ihn aussprach. »Er plante einen Überfall. Sie hörten, dass Echen den Distrikt aufsuchen wollte, um die Pacht von den Bauern zu kassieren, die sein Land bearbeiteten. Während Echen bei einem der wohlhabenderen Landbesitzer ein Abendessen einnahm, stahlen die jungen Männer zehn gute Reitpferde und ein paar Waffen aus dem Lager. Ein Wachposten wurde getötet, der andere gefesselt und liegen gelassen. Dubhän war der Sohn seines Vaters und für das Leben seines Schwagers nahm er nur ein einziges weiteres. Echen verstand das leider nicht. Als seine Männer sich auf die Suche machten, waren die Pferde schon aus dem Bezirk gebracht worden. Es war ein Triumph, waghalsig und schlau, und es passte zu dem, was die Leute über Dubhän wussten. Er war immer... er war...« »Sein jüngerer Bruder blickte zu ihm auf?« Faolan nickte. Einen Augenblick brachte er kein Wort mehr heraus. »Ich weiß, dass es in einer Tragödie endet, Faolan. Wirst du mir den Rest erzählen?« Seine Stimme war langsam und monoton geworden. »Echen ließ die jungen Männer der Gemeinde zusammentreiben, die, die er verdächtigte, an dem Überfall teilgenommen zu haben. Seine Methoden waren brutal. Schließlich brach er einen von ihnen und erfuhr, dass Dubhän der Anführer war. An diesem Abend ... an diesem Abend hatte sich die Familie um die Feuerstelle versammelt, wie sie es immer taten, um zusammen zu singen und Geschichten zu erzählen. Mutter, Vater, Brüder, Schwestern und alte Leute. Echen kam mit Bewaffneten, mit vielen Bewaffneten. Sie packten den Brithem und seinen ältesten Sohn mit groben Händen. Dubhän war aufgebracht und stritt die Verantwortung nicht ab. Er begann, Echens eigene Verbrechen gegen - 568 seinen Vater aufzuzählen; er wollte Logik gegen rachsüchtige Wut stellen. Sein Vater, festgehalten von zwei Schurken, beobachtete ihn mit Tränen des Stolzes in den Augen. Der jüngere Bruder, dessen Hände mehr dazu ausgebildet waren, Harfensaiten zu zupfen, als ein Schwert zu benutzen, der seine Stimme eher zum Lied als zum mutigen Trotz erhob, sehnte sich in diesem Augenblick danach, Dubhän zu sein, denn es war eine Demonstration wahren Mutes. Dann schlugen Echens Leute Dubhän vor seiner Familie, seiner weinenden Mutter, seiner jüngsten Schwester, die laut protestierte, seinem Vater, der schmallippig und mit grauem Gesicht zusah. Der jüngere Bruder wusste nicht, was stärker in ihm war: Hass, Angst oder Stolz.« Ana drückte seine Hand und schwieg. »Dubhän wollte sich nicht ducken. Zerschlagen, blutig und atemlos wollte er Echen nicht die Entschuldigung geben, die der Mann forderte. Echen wurde klar, dass diese Taktik nicht funktionierte. Also begann er, die anderen zu bedrohen.« Ana wurde kalt. »Nicht, was du glauben würdest«, sagte Faolan. »Er drohte nicht damit, den Vater oder einen anderen in der Familie zu verletzen, wenn Dubhän sich nicht entschuldigte. Vielleicht sah er in all ihren Blicken die Integrität, die das Rückgrat der Erziehung war, die ihr Vater ihnen gegeben hatte, der Kern dessen, was diese stille Familie so stark machte. Und vielleicht sah er ... ein schwaches Glied. Echens Gefolgsleute bewegten sich. Plötzlich stand ein Bewaffneter neben jedem von ihnen, der Großmutter, der jungen Witwe, der kleinen Schwester; Messer wurden an Kehlen gehalten, Dolche waren bereit, in Herzen zu dringen. Auf Dubhän selbst war keine Waffe gerichtet, er kniete in der Mitte des Raums, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und niemand bedrohte seinen jüngeren Bruder, den, der weggegangen war, um Barde zu werden, und zu einem Albtraum zurück- 569 gekehrt war. Dann ... dann ging Echen zu dem Musiker. Er drückte dem jungen Mann ein Messer in die Hand. Er ließ ihm die Wahl. Dubhän, sagte Echen, würde sterben müssen; er musste ein Exempel statuieren, damit niemand sonst sich in den Kopf setzte, den Ui Neill zu trotzen, und glaubte, damit davonkommen zu können. Die Frage war daher nicht mehr, ob der Übeltäter sterben würde oder nicht, sondern wie viele von seinen Verwandten er mit in den Tod nahm. Echen sah sich im Zimmer um, als er das sagte. Der junge Barde folgte dem Blick des Fürsten, sah das aschgraue Gesicht seiner Mutter, seine Großmutter, deren ordentliche Kleidung durcheinander geraten und deren weißes Haar wirr war, sah die starke Hand eines Mannes, der sie grausam an der Schulter packte. Seine ältere Schwester hatte die Hände vors Gesicht geschlagen; ein rotgesichtiger Kerl hielt seine jüngere Schwester, die vierzehn Jahre alt war und vor Zorn und Scham bebte, als dieser Kerl die Hände in ihr bescheidenes Kleid steckte. Der Großvater versuchte, hoch aufgerichtet dazustehen, mit dem Blick auf seine verzweifelte Frau. Der Vater hatte die Zähne zusammengebissen, die Augen umschattet von einer schrecklichen Vorahnung. Vielleicht sah er vor allen anderen, was auf sie zukam. >Es ist nicht meine Entscheidung, Junge<, sagte Echen zu dem jüngeren Sohn, >sondern deine. Schneide deinem Bruder die Kehle durch, und ich befehle meinen Männern, alle in diesem Raum freizulassen und ihnen keinen Schaden zuzufügen, immer vorausgesetzt, deine Familie mischt sich nicht mehr in meine Angelegenheiten ein. Weigere dich, und ich werde es an deiner Stelle tun. Und danach bringen meine Männer alle anderen um.< Die Mutter gab einen schrecklichen Laut von
sich, ein Stöhnen tief aus dem Bauch, der Großvater fluchte, und man versetzte ihm einen festen Schlag gegen das Kinn, der ihn in die Knie brechen ließ. >Nein, vielleicht nicht alle<, fügte Echen hinzu und betrachtete die jüngste Schwester, süß und rosig wie ein fri- 570 scher Apfel. >Sie werden wir mitnehmen, damit sie uns heute Nacht Gesellschaft leistet; es ist eine Schande, etwas so Viel versprechendes zu verschwenden. Und selbstverständlich werden wir dir ebenfalls nichts tun.< Er schaute wieder den jungen Barden an, der bebend neben seinem Bruder stand. Das Messer zitterte so heftig in der Hand des jungen Mannes, dass er es kaum hätte benutzen können, selbst wenn er es gewollt hätte. >Töte ihn, und du rettest den anderen Familienmitgliedern das Leben. Wehre dich, und du wirst sie sterben sehen, einen nach dem anderen. Du wirst weiterleben und es sehen, wieder und wieder, jede Nacht in deinen Träumen. Zeige uns, woraus du gemacht bist, hübscher Junge.< Der Barde starrte seinen Vater an und suchte Anleitung, aber sein Vater hatte die Augen geschlossen. Selbst der weiseste Brithem der Welt kann keine solche Entscheidung treffen. Tränen liefen dem Gesetzesmann über die bleichen Wangen. Seine Lippen bewegten sich im Gebet. Tu es nicht, Faolan!<, rief die jüngere Schwester. >Verschaffe diesem Abschaum nicht solche Befriedigung!< Dann brachte man auch sie mit einem Schlag zum Schweigen. Der Barde schaute das Messer an. Er konnte es nicht ruhig halten; es zuckte und zitterte in seiner Hand, als eine Welle von Ekel ihn durchlief. Dann sprach sein Bruder. >Stell dich hinter mich. Setz die Spitze des Messers unter meinem linken Ohr an. Zieh es in einer stetigen Bewegung über meine Kehle und achte darauf, fest zuzudrücken. Du bist stark, Faolan. Du wirst es schaffend >Aber ...< Alles was der Barde herausbrachte, war ein ersticktes Krächzen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Seine Handflächen waren nass von Schweiß. Er suchte verzweifelt nach Lösungen: Echen angreifen, davonlaufen, das Messer gegen sich selbst richten ... Es war klar, dass nichts davon seine Familie retten würde. Aber das hier ... das hier war Dubhän! >Beeil dich<, sagte Echen und - 571 nickte einem seiner Männer zu, und einen Augenblick später sackte die Großmutter zu Boden, ein Messer zwischen den Rippen. >Du bist ein Mann, Faolan<, flüsterte Dubhän. >Tu es.<« Ana hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihr Kopf wehtat. »Der Barde ... der Barde schaute seinem Bruder in die Augen, die vor Mut strahlten. Dubhän war sein Held. Er wäre ihm bis in die Hölle gefolgt. Er hatte immer getan, was sein Bruder wollte. Also packte er das Messer fester und zog die Klinge über Dubhäns Kehle. Das Blut sprudelte heiß und rot über seine Hände. Er hörte den Schrei seiner Schwester, hörte das Schluchzen seiner Mutter. Sein Vater schwieg. Der junge Mann stand in der Mitte, die Leiche seines Bruders zu seinen Füßen, und wartete darauf, dass Echen und seine Männer gingen. Aber Echen war noch nicht ganz fertig. Seine Männer ließen die Familie los, als er es ihnen befahl, steckten aber die Waffen noch nicht ein, während die Frauen sich um die sterbende Großmutter kümmerten. Für Dubhän war es bereits zu spät. >Durchsucht das Haus<, sagte der Fürst der Ui Neill, lässig, als wäre ihm das gerade erst eingefallen. >Sucht nach unseren Messern und Bögen und bringt auch alles andere, was interessant sein könnte.< Die Familie wartete wie erstarrt. Das Blut der Großmutter lief in die Tücher, die sie auf ihre Brust drückten. Der Großvater hob die Hand seiner Frau an seine Wange. Kurz darauf kehrten Echens Männer zurück und brachten die dritte Schwester mit, diejenige, die an diesem Abend früh zu Bett gegangen war... sie war die Jüngste, noch ein Kind in einem langen Nachthemd, die Augen dunkel und verängstigt, das Haar wirr auf die Schultern fallend. >Ah<, sagte Echen mit grausamem Lächeln. >Ein verborgener Schatz. Wir nehmen sie mit, ich erinnere mich, dass ich zwar versprochen habe, alle in diesem Raum zu verschonen, aber nichts über den Rest des Hauses sagte. Eine kleine Perle. Wie alt ist sie, - 572 zwölf? Frisch. Verlockend. Hol dem Püppchen einen Umhang, Conor, wir wollen doch nicht, dass sie sich erkältet. Lebe wohl, Brithem. Ich denke, dein Sohn hier hat eine Zukunft, aber nicht als Musiker.< Als er den Barden betrachtete, stand in seinem Blick Überraschung, ja beinahe Bewunderung; offenbar war sein Experiment nicht so ausgefallen, wie er es erwartet hätte. Er wandte sich wieder dem Vater zu. >Ich will nie wieder von dir hören. Das nächste Mal werde ich weniger großzügig sein.< Als sie gingen und das Mädchen mit sich zerrten, warf sich der junge Mann auf sie, verzweifelt, es irgendwie richtig zu machen und zumindest seine Schwester zu retten, obwohl der Albtraum ihm erhalten bleiben würde. Echen lachte, ich kann dieses Lachen immer noch hören. Dann schlug jemand dem Jungen fest auf den Kopf, und eine Weile war er bewusstlos.« Es gab nichts, was Ana sagen konnte. Sie saß einen Augenblick wie gelähmt da, dann legte sie den Arm um Faolan und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Faolan, das ist... es ist unvorstellbar. Niemand sollte je ... niemand ...« Und ein wenig später: »Was ist danach passiert? Was hast du getan?« »Ich war vor Hass wie besessen.« Er tat nicht mehr so, als erzählte er die Geschichte eines anderen. »Als ich zu mir kam, wollte ich nur noch meine Schwester retten und Echen ein Messer ins Herz stoßen. Aber das erlaubte man mir nicht. Als ich aus dem Schlafraum kam, warteten meine Eltern auf mich. Meine Mutter hatte ein kleines Bündel mit Essen gepackt. Mein Vater gab mir einen Ring, den er von seinem Großvater erhalten hatte, Silber mit einem Stein darin. Meine Harfe befand sich bereits in ihrem Beutel. Ich musste gehen, davongehen und nicht zurückkehren. Sie sagten nicht viel. Ich sah im Gesicht meiner Mutter, dass sie mich nach dem, was ich getan hatte, nicht mehr in ihrem Haus sehen wollte. Mein Vater war plötzlich ein alter Mann. Ich protestierte, wer
sollte Äine retten, wenn nicht ich? Vater verbot mir, es zu versuchen. Er erklärte, die Gewalttätigkeit - 573 müsse ein Ende haben. Er sagte, es sei bereits zu spät für sie. Es lag eine Distanziertheit in seinem Ton, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Meine anderen Schwestern kamen nicht heraus, als ich ging. Bevor die Sonne aufgegangen war, hatte ich die Grenzen von Echens Land hinter mir gelassen. Ich gab das Brot und den Käse einem Bettler am Weg und band das Tuch an eine Eibe, wenn auch nicht als Opfer an die Götter; von dieser finsteren Nacht an wollte ich weder Göttern noch Menschen trauen. Ich tauschte den Ring meines Vaters gegen eine Überfahrt nach Fortriu ein. Ich ließ sie alle hinter mir. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Aber sie sind nie weit von mir entfernt. Wenn ich Harfe spiele, sehe ich meine kleine Schwester in den Händen dieser Männer. Ich höre meine Mutter schreien. Wenn ich mich abends niederlege, spüre ich Dubhäns Blut auf meinen Händen, und ich höre meinen Vater mit mir sprechen, als wäre ich ein Fremder.« »O Faolan ... es tut mir so Leid ... ich weiß nicht, was ich sagen soll...« »Es gibt nichts zu sagen. Was ich getan habe, war unverzeihlich. Ich habe die falsche Entscheidung getroffen. Ich habe meine Familie ebenso wirkungsvoll zerstört, wie Echen Ui Nöill es mit seinen Bewaffneten getan hätte.« »Warum bist du nie zurückgekehrt? Wolltest du nicht Frieden mit deiner Familie schließen? Wolltest du nie herausfinden, was aus ihnen geworden ist?« Faolans Ton war bitter. »Ich habe Dubhän angebetet. Er war mein großer Bruder. Ich habe ihm bis zum Letzten gehorcht. Und ich gehorchte meinem Vater, als er sagte, ich solle davongehen und nicht wiederkommen. Seitdem habe ich meinen Lebensunterhalt nicht mit Musik verdient, sondern mit den beiden Dingen, die ich an diesem Tag so gut gemacht hatte: Befehle befolgen und Kehlen durchschneiden.« Der Selbsthass in seiner Stimme ließ Ana verstummen. - 574 »Ich bin zurückgekehrt«, sagte Faolan, »nicht nach Hause, aber nach Laigin. Echens Schergen versuchten, mich zu rekrutieren. Er hatte vielleicht gehört, dass der hübsche Junge nützliche Fähigkeiten entwickelt hatte. Ich weigerte mich. Deshalb kam ich nach Felsental. Viele Männer starben an diesem Ort vor Verzweiflung. Ich habe überlebt. Ich war bereits über Verzweiflung hinaus, ich hatte alle Fähigkeit zu fühlen verloren. Das machte mich zu einem schlechteren Barden, aber zu einem besseren Mörder. Ich habe nicht für Echen gearbeitet, aber für alle anderen: die Fürsten der Ui Neill, sowohl im Norden als auch im Süden, die Fürsten von Ulaid, den König von Dalriada. Und jetzt für Bridei.« »Du hast die Fähigkeit zu fühlen nicht verloren«, sagte Ana. »Und auch nicht die, bei anderen Gefühle zu erwecken. Was ist mit deiner Musik? Selbst Alpins Jäger hatten Tränen in den Augen.« »Bis ich dir begegnet bin«, sagte er leise, »hatte ich sie verloren. Ich werde nicht wieder spielen. Es ist falsch, mit diesen Händen Musik zu machen, da sie mit dem Lebensblut meines Bruders besudelt sind.« »Was für ein Unsinn!«, fauchte Ana, ehe sie sich bremsen konnte. »Du sagtest zuvor, dass du die falsche Entscheidung getroffen hast, aber Faolan, es gab keine richtige Entscheidung! Dein Vater, ein Mann des Gesetzes, wusste das. Wie auch immer du dich entschieden hättest, das Ende wären Kummer und Tod gewesen. Du warst sehr jung. Dieser Mann hatte nicht das Recht, dir so eine schreckliche Last aufzuerlegen.« »Ich hätte es dir nicht erzählen dürfen. Jetzt wirst auch du davon träumen.« »Ich habe meine eigenen beunruhigenden Träume. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Faolan. Es brauchte Mut, diese Worte zu finden. Du bist der mutigste Mann, den ich kenne.« - 575 Er antwortete nicht. »Faolan?« Ein Nicken. »Du musst nach Hause zurückkehren. Das weißt du, oder? Wenn du je deinen Frieden mit dem machen willst, was geschehen ist, musst du dich als Erstes mit deiner Familie aussöhnen.« »Das hier ist kein Märchen.« »Ich sage nicht, dass die Erinnerungen verschwinden werden, oder dass aller Schmerz sofort vergeht. Ich weiß, dass es dafür zu kompliziert ist. Ich weiß jedoch ebenfalls, dass sie dich sehen wollen: dein Vater und deine Mutter, deine Schwestern ... Es ist lange Zeit vergangen, seit du weggegangen bist. So, wie du es erzählst, sind sie gute Menschen, starke, gerechte Menschen. Sie werden inzwischen verstehen, welch unmöglicher Entscheidung du gegenüberstandest und warum du getan hast, was du tatest. Die Liebe zwang dich dazu. Du musst zurückkehren. Deine lange Abwesenheit wird ihnen wehtun, besonders deinem Vater.« »Ich werde nie zurückkehren.« »Dann bist du weniger mutig, als ich dachte. Der größte Mut liegt darin, weiterzumachen und zu tun, was man tun muss, selbst wenn die Aussicht einen erbeben lässt.« »Hast du dich so gefühlt, als du mich an der Furt aus dem Wasser zogst?« Ana schauderte bei der Erinnerung. »Für kurze Zeit ja; aber sobald ich dich sah, schien es ohnehin keine andere Möglichkeit mehr zu geben. Ich musste das Einzige retten, was mir geblieben war, das einzig Gute. Wäre ich grausamer, dann würde ich jetzt sagen, dass du es mir ebenso wie Deord schuldig bist, mit dieser Vergangenheit zurechtzukommen. Dir selbst eine Zukunft zu geben.«
»Ich habe eine Zukunft. Ich bin immer noch Brideis Leibwächter.« - 576 »Wenn du es nicht tust, wirst du nie wirklich ehrlich zu dir sein.« »Als ich dir meine Geschichte erzählte, erwartete ich keine Anweisungen darüber, wie ich mein Leben führen soll.« Er rutschte von ihr weg und ließ ihre Hand los. »Wir sind Freunde, Faolan«, sagte Ana leise. »Echte Freunde. Ich werde dir nie Anweisungen geben. Aber ich glaube tatsächlich, dass du diesen Weg nehmen solltest, damit du nicht von Selbsthass zerfressen wirst. Ich sehe den Menschen hinter diesem Schein von Gleichgültigkeit. Ich möchte, dass die Welt ihn ebenfalls sieht. Ich möchte, dass du erfüllt und glücklich bist.« Im Mondlicht erkannte sie seine verzerrte Grimasse von einem Lächeln. »Du verlangst das Unmögliche«, sagte er. »Ich dachte«, flüsterte sie, »du wärst die Art von Mann, dem nichts unmöglich ist. Ich hoffe, dass du irgendwann beweisen wirst, dass ich Recht hatte.« Am Ende des dritten Tages der Suche rief Alpin seine Jäger zusammen und führte sie wieder nach Hause. Dort füllte er einen Rucksack mit Vorräten für einen Mann, der allein eine weite Entfernung zurücklegen will, und übergab seinen Haushalt den fähigen Händen von Orna. Er hinterließ Anweisungen bei Dregard und andere bei Mordec, dem Hauptmann seiner Bewaffneten. Er nahm sein Schwert, seine Messer und seine Armbrust, und am nächsten Morgen kehrte er zurück in den Wald. Wo eine Gruppe von Jägern mit Hunden und Pferden nicht einfach hingelangen konnte, konnte ein geschickter Mann zu Fuß sich immer noch schnell und lautlos bewegen und andere verfolgen. Der Gäle und die königliche Braut hatten vielleicht seine Grenzen überquert, und sein Bruder war im Wald verschwunden, aber Alpin gab sich noch nicht geschlagen. Er wollte Ana haben, so besudelt sie inzwischen auch sein mochte. Sie gehörte ihm, man hatte sie ihm geschickt, damit sie seine Frau wurde, und er wür- 577 de sie haben, koste es, was es wolle. Er war es sich selbst schuldig, Rache an diesem verrückten Drustan, an diesem elenden, verräterischen Galen und schließlich auch an dem König von Fortriu zu nehmen, der all dies mit seinem schlecht beratenen Versuch, ein Bündnis mit Dornwald abzuschließen, in Gang gesetzt hatte. Nun, das Bündnis würde weiter bestehen, dachte Alpin, während er rasch über die gefährlichen Waldwege stapfte und seinen eigenen Weg zurückverfolgte bis zu der Stelle, an der Deord gestorben war. Dort stellte er erheitert fest, mit welcher Sorgfalt man den Burschen zur Ruhe gebettet hatte, und er folgte einer neuen Spur zum Hochland über dem Wasserfall, einer Stelle, die seine Jäger abgetan hatten, weil sie glaubten, dass es einer Frau unmöglich sei, sich hier zu bewegen. Er hatte sie und er war auf ihrer Spur. Es würde Zeit brauchen, die Flüchtlinge zu verfolgen und sich ihnen heimlich zu nähern. Aber das war gleich. Er konnte es sich leisten, eine Weile nicht nach Hause zurückzukehren. Es war nicht notwendig, seine Armee, seine Flotte, seine beträchtliche Streitmacht zu mobilisieren; noch nicht. Vielleicht würde er es überhaupt nicht tun müssen. Die Lösung seines Problems, das wusste er, lag nicht in einem bewaffneten Überfall, sondern in seinem zweiten Plan, einem, den er schon vor einiger Zeit in Gang gesetzt hatte: Er verfügte über eine geheime Waffe, von der niemand etwas wusste außer ihm selbst, Dregard und den Bewaffneten, denen er am meisten vertraute. Und selbstverständlich dem Sohn, der sich entgegen aller Erwartungen nun doch als nützlich erwies. Als zuerst Ana und dann Faolan von Brideis mächtiger Präsenz gesprochen hatten, von seinen Fähigkeiten als Anführer, seiner Wichtigkeit für sein Volk, war Alpin immer deutlicher geworden, dass der Erfolg jedes Vorstoßes der Priteni gegen Dalriada gewaltig von diesem einen Mann abhing, diesem so genannten Schwert von Fortriu. Alpin kam - 578 zu dem Schluss, dass diese Abhängigkeit so stark war, dass die ganze Sache in sich zusammenbrechen würde, wenn man Bridei entfernte. Also hatte er dem jungen König ein kleines Geschenk geschickt - wie praktisch, dass der Junge bereits zu Umbrigs Leuten gehört hatte. Hargest war nur zu bereit gewesen zu gehorchen, der Junge sehnte sich verzweifelt nach Alpins Anerkennung. Wahrscheinlich betrachtete er sich als den rechtmäßigen Erben von Dornwald. So, wie es mit Ana weitergegangen war, war er im Augenblick zumindest der einzige Erbe. Das würde sich allerdings schon bald ändern, dachte Alpin grimmig. Er würde seine königliche Braut bekommen und sie behalten. Sie würde ihm so viele Söhne schenken, wie er wollte, und durch diese Söhne würde er in den Ländern des Nordens unvergleichliche Macht erhalten. - 579 KAPITEL FÜNFZEHN Ein beeindruckendes Gefolge«, stellte Fola fest, als Tuala und ihre Leute vor den Toren von Banmerren erschienen. Die Königin hatte nicht nur den bleichen Broichan mitgebracht, sondern auch den Leibwächter Garth, seine Frau Elda und ihre Zwillinge und eine junge Dienerin. Und selbstverständlich Derelei, der nun von dem Wagen heruntergehoben wurde, auf dem Kinderfrau und Kinder gereist waren. »Du erinnerst dich hoffentlich daran, dass Druiden die einzigen Männer sind, die in unser Heiligtum eingelassen werden?« Tuala lächelte ihre alte Lehrerin an. »Wie könnte ich das vergessen?«, sagte sie und musste an eine Nacht denken, in der Bridei mit einem Seil über die Mauer geklettert war, um sie zu besuchen. War das wirklich erst
fünf Jahre her? Zwischen diesem Tag und der Gegenwart schienen Welten zu liegen: Sie hatten beide hoch über dem Boden auf den Ästen der Eiche gesessen, und dieser erste Kuss ... »Ich dachte, wir anderen könnten uns in Feradas Domäne niederlassen. Ich werde mit ihr sprechen, während Garth und Elda das Gepäck abladen.« Als sie sich dem kleinen Weg um die hohe Steinmauer zuwandte, sah sie, dass Fola Broichans Arm nahm und ihn durch das Tor ins Heiligtum der Weisen Frauen führte. Ein Stück den Pfad entlang hatte man die Mauer weiter- 581 gezogen, rings um ein Gelände mit einem lang gezogenen Wohnhaus in einem frisch gepflanzten Garten. Ein eisernes Tor in der Mauer öffnete sich, als Tuala es aufschob; auf der anderen Seite der Wiese gab es einen Torbogen in der Seitenmauer, der zum Gelände von Folas Schule führte. Tuala ging in den neuen Garten. Sie war nicht allein hier, Ferada saß auf einer kleinen Bank, ein Buch aufgeschlagen in der Hand, und am Torbogen war die kräftige Gestalt des königlichen Steinmetzes Garvan zu sehen, der auf einer hölzernen Plattform neben einem riesigen Felsblock stand und etwas mit einem Meißel machte. Ein Junge, offensichtlich sein Helfer, sortierte Werkzeuge auf einer Bank. Es war ein schöner Tag, die stille, fleißige Szene war in warmes Sonnenlicht gehüllt. Im Gras bildeten kleine Blüten helle Punkte in Rosa und Blau. Ferada war barfuss, und sie hatte ein Bein auf der Bank unter sich gezogen und ließ das andere baumeln. Ihr Haar war offen und fiel ihr in einem feuerroten Strom über den Rücken. Garvan, ein Mann, dessen Züge etwas von einem unberührten Steinblock hatten, pfiff bei der Arbeit leise vor sich hin. »Es tut mir Leid, diese friedliche Szene zu stören«, sagte Tuala, als sie lächelnd über das Gras auf ihre alte Freundin zuging. »Ich fürchte, du hast Besuch: vier Erwachsene und drei ziemlich aktive kleine Jungen. Wir werden versuchen, sie von den Werkzeugen fern zu halten.« Es gab keinen einfachen Weg zwischen Dornwald und dem Weißen Hügel. Wo das Hochland nicht bewaldet war, fegte eisiger Wind über steinige Wiesen und zerklüftete Berggipfel, was sie selbst im Sommer unwirtlich bleiben ließ. Wo es keine breiten Bäche und rauschenden Wasserfälle gab, die man überqueren musste, hatte man es mit Steilhängen, Schluchten und abbröckelnden Felsvorsprüngen zu tun. Es gab Sümpfe. Es gab Wildschweine. Nachts heulten die Wölfe. Sobald Faolan sicher war, dass Alpin ihre Spur verloren - 582 hatte, erlaubten sie sich nachts ein kleines Feuer. Er war gerade erst damit fertig geworden, das erste dieser Feuer anzuzünden, während Ana ihr Messer benutzte, um einen Streifen des getrockneten Hammelfleischs klein zu schneiden, das ihre einzige Nahrung darstellte, als der Falke eine Weile davonflog und im Zwielicht mit einem fetten Kaninchen zurückkehrte. Faolan hätte gerne gewusst, wie viel Drustan verstand, wenn er diese Gestalt hatte; ob er mit den Worten von Menschen etwas anfangen konnte, ob er Ansichten hatte, Freude oder Trauer verspürte, plante, Strategien verfolgte und träumte wie ein Mensch. Er fragte sich, woran Drustan sich erinnern würde, wenn er sich zurückverwandelte. Im Augenblick war er ihnen in Vogelgestalt nützlicher, denn so war er im Stande, hoch in den Himmel aufzusteigen und Wege zu finden, die ein Mensch nie gefunden hätte; er konnte jagen und brauchte dazu keine anderen Waffen als Schnabel und Krallen. Wann würde Drustan zu dem Schluss kommen, dass es Zeit war, sich Ana zu zeigen? Ihr die volle Wahrheit über sich zu verraten? Fürchtete er wirklich so sehr, dass sie ihn abweisen würde, dass er bis zum Weißen Hügel die Falkengestalt beibehalten wollte? Faolan fand, dass einem Liebenden, der nicht vertrauen konnte, etwas Wesentliches fehlte. Dennoch, es war eine seltsame Sache, eine bizarre Sache. Man konnte nicht sagen, wie Ana darauf reagieren würde. Ana zerlegte das Kaninchen kundig und briet es über dem Feuer. Einen Teil ließ sie roh und legte ihn auf einen umgestürzten Baum, wo der Vogel ihn sich holen konnte. Der Falke fraß geschickt und hielt eine Kaninchenkeule in den Klauen, während er mit dem Furcht erregenden Schnabel einen Streifen Fleisch nach dem anderen abriss. Krähe und Kreuzschnabel sahen aus der Ferne zu; sie schienen keinen Hunger zu leiden. Faolan nahm an, dass das langsame Tempo menschlicher Füße den beiden genügend Zeit gab, sich unterwegs Futter zu verschaffen. - 583 Ein- oder zweimal, während sie weiterzogen und ein Tag mit dem anderen verschmolz, war Faolan versucht, eine Möglichkeit zu finden, allein mit dem Falken zu sprechen, sich darauf zu verlassen, dass er ihn verstehen konnte, und vorzuschlagen, dass Drustan Ana die Wahrheit sagte, denn er sah, wie sehr sie litt. Ein- oder zweimal holte er den einzelnen Handschuh heraus, den Deord in seinem Gepäck getragen hatte, und zog ihn auf die rechte Hand. Aber dann verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter. Warum die Dinge übereilen? Je länger Drustan sich Zeit ließ, desto wahrscheinlicher war es, dass Ana ihre Gefühle für ihn als jugendliche Begeisterung erkannte, als die impulsive Großzügigkeit einer Frau, der es nur zu leicht fiel, jemanden zu bemitleiden, der ungerecht behandelt wurde. Je länger sich Drustan Zeit ließ, sein Geheimnis zu enthüllen -falls er es je tun sollte -, desto mehr Zeit hatte Faolan mit ihr allein. Und während seinem Verstand nur zu klar war, dass es nie mehr als Freundschaft zwischen ihm und Ana geben konnte, genoss sein Herz diese kostbaren Tage, wie eine Blüte die Wärme der Sonne genießt. Dass sie beide froren, schmutzig und erschöpft waren und noch ein sehr weiter Weg vor ihnen lag, tat dem keinen Abbruch. Im Augenblick, für diesen kleinen Zeitraum, hatte er Ana ganz für sich. Er war nun vorsichtiger und traute sich nicht zu, nachts neben ihr zu liegen, aber er konnte sie ansehen, mit ihr sprechen, sich jeden einzelnen Augenblick für eine Zukunft einprägen, in der ihre Wege sich wieder trennen würden, so sicher, wie die Sonne am Abend unterging. Er hatte ihr den dunkelsten Teil seiner selbst offenbart,
einen Teil, von dem er geglaubt hatte, dass er für immer weggeschlossen war. Sie hatte dieses Geschenk angenommen; auch nachdem sie das Schrecklichste wusste, was er je getan hatte, war sie seine treue Freundin geblieben. Wenn dieses zerbrechliche Glück durch Drustans Rückkehr zerstört würde, dann doch zumindest noch nicht jetzt. - 584 Ana schlug sich gut, hielt Schritt und beschwerte sich nicht einmal, wenn ihre Füße wehtaten. Als sie die Stiefel auszog und Faolan die Blasen an ihren Füßen sah, ordnete er einen Ruhetag an. Sie widersprach; er bestand darauf. Es war ihm klar, dass sie den Weißen Hügel nicht vor Ende des Sommers erreichen konnten. Er hoffte, dass Drustan wusste, was er tat. Vielleicht spielte er sein eigenes Spiel. Regenwetter hatte sie verlangsamt, und die warme Jahreszeit ging rasch vorüber. Es half dabei nicht, dass ihr Führer die unangenehme Eigenschaft hatte, ohne Ankündigung zu verschwinden und sie einen oder zwei Tage warten zu lassen, bis er zurückkehrte und sie die Reise fortsetzen konnten. Sie hatten zwei Tage in einer verfallenen Schäferhütte auf einer Hochweide verbracht und auf die Rückkehr des Falken von einer dieser Abwesenheiten gewartet. Faolan wusste kaum, welchem Weg sie folgen sollten, und das Gelände war gefährlich. Dennoch stand er kurz davor, die Geduld vollkommen zu verlieren und von diesem Punkt an den Weg selbst zu suchen. Ana zog sich immer mehr zurück, und ihm fiel auf, wie hohl ihre Wangen geworden waren und dass ihre Augen sich auf eine Art verändert hatten, die ihn beunruhigte. Sie hatte erheblich abgenommen - wenig überraschend bei nur einer Mahlzeit am Tag. Der Falke hatte ihnen diesmal zwei Hasen gebracht, bevor er verschwunden war, als ob er gewusst hätte, dass er eine Weile nicht zurückkehren würde. »Wir warten noch eine Nacht«, sagte Faolan, als sie sich im Schutz eines Felsens niederließen und im seltsamen Halbdunkel der Sommernacht den Hang hinunterschauten. »Wenn er bis dahin noch nicht zurück ist, werde ich den Weg selbst suchen. Wenn wir uns nach Südosten halten, sollten wir irgendwann in der Nähe von Abertornie auf die Küste stoßen.« »Faolan?« »Hm?« - 585 »Es wird noch lange dauern, nicht wahr? Den ganzen Weg zurückzulegen, meine ich.« Faolan dachte an all die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte: Wie schwierig es war, ohne Bogen oder Speer etwas Essbares zu beschaffen, die Tatsache, dass das Trockenfleisch bestenfalls noch sieben Tage reichen würde, die nicht zu leugnende Wahrheit, dass sie selbst im Sommer breite Flüsse überqueren müssten. »Es wird langsamer gehen als zu Pferd«, sagte er. »Aber wir werden es schon schaffen. Wie sehen deine Stiefel aus?« Ana zeigte sie ihm. Der linke hatte Löcher bis durch die Sohle, der rechte löste sich auf, wo das Oberleder auf den Absatz stieß. Kein Wunder, dass ihre Füße wehtaten. Das Hochzeitskleid war fleckig und zerrissen. Seine eigene Kleidung sah kaum besser aus. »Hm«, sagte er. »Wir werden ein schönes Bild abgeben, wenn wir auf dem Weißen Hügel erscheinen.« Erst war es still, dann hörte er das unmissverständliche Geräusch unterdrückten Weinens. »Tut mir Leid«, murmelte Ana. »Es geht um ihn, nicht wahr?«, fragte Faolan tonlos. »Drustan. Du weinst immer noch um ihn. Die Seuche soll ihn holen.« »Ich kann nichts dagegen tun, Faolan. Ich wünsche mir so, dass er hier wäre, bei uns. Bei mir. Ich hoffte ... ich habe so sehr gehofft...« Faolan bemerkte, dass ihr schönes Haar ihr in schlaffen, leblosen Strähnen auf die Schultern fiel, und sie hielt sich auch nicht mehr so königlich gerade. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. »Ich mache mir Sorgen um ihn, Faolan«, sagte sie kläglich. »Er ist so verwundbar. Wenn er zu seinem eigenen Territorium zurückgekehrt ist, ins Träumende Tal, könnte man ihn wieder gefangen nehmen oder sogar töten. Alpins Männer herrschen dort nun. Was wenn ...« - 586 »Ana«, sagte Faolan, »wir können nichts dagegen tun. Du musst mir glauben: Er kommt mit seinen Problemen zurecht.« Insgeheim begann er, daran zu zweifeln. Er hatte keine Ahnung, wo Drustan jetzt war oder was er vorhatte. »Ich wollte ihm helfen.« Sie starrte hinauf in den Nachthimmel, als könnte sie dort eine Antwort finden. »Ich will es immer noch. Er ist so schrecklich allein. Wo immer er hingehen wird, was immer er tun möchte, ich möchte bei ihm sein, an seiner Seite, damit er nicht mehr allein ist. Es muss ebenso ein Fluch wie ein Segen sein, von Geburt an anders zu sein als andere. Sein Großvater hat das verstanden. Es sieht so aus, als hätte niemand anders das getan. Außer vielleicht Deord.« »Anders?« Faolan fragte sich, was genau Drustan ihr gesagt hatte. »Ich denke, es ist wie bei einem Seher. Diese Anfälle, die er hat und die Alpin als Wahnsinn bezeichnete, bringen ihm anscheinend eine Art von Vision, und er wandelt eine Weile in einer anderen Welt. Er hatte sie schon als Kind. Einige Menschen kommen mit solcher Seltsamkeit nicht zurecht.« »In der Tat«, sagte Faolan und dachte, dass sie keine Ahnung hatte, wie seltsam der Mann wirklich war. Was würde sie wohl von der Idee halten, Kinder zu haben, denen jeden Augenblick Schnäbel und Federn wachsen
konnten? »Faolan?« Er wartete. »An jedem Tag, an dem wir unterwegs sind, mit jedem Schritt weiter nach Osten fühle ich, wie mein Herz ein Stück weiter zerrissen wird. Ich dachte, dass diese Gefühle nach einer Weile schwächer würden und es nicht mehr so wehtäte. Aber es wird immer schlimmer. Wie konnte ich ihn zurücklassen? Etwas stimmt nicht. Er wäre nicht ohne mich gegangen. Er sagte die Wahrheit, als er behauptete, mich zu - 587 lieben, das habe ich an seiner Stimme erkannt. Warum sollte er bei so etwas lügen?« »Menschen lügen«, sagte Faolan. »Das tun sie die ganze Zeit.« »Nicht Drustan.« »Ein Mann von vorbildlicher Tugend.« Er konnte seine Bitterkeit nicht verbergen. »Hör auf, Faolan. Man könnte fast glauben, dass du eifersüchtig bist.« Er schwieg. Je länger das Schweigen dauerte, desto intensiver betrachtete ihn Ana, und an einem bestimmten Punkt musste er sich abwenden, um nicht eine dumme Antwort zu geben, es abzustreiten, seine Gefühle zu erklären oder eine verletzende Bemerkung zu machen. Es hatte ohnehin keinen Sinn, etwas zu sagen. Es war ihm vollkommen klar, dass sie endlich verstanden hatte, was er empfand. »Es tut mir Leid«, sagte sie schließlich leise und liebevoll. »Es tut mir so Leid, Faolan.« »Nun ja«, er versuchte ein Lächeln. »Ich bin immerhin nur ein Leibwächter. Es steht mir nicht zu, Gefühle zu haben. Denk nicht mehr daran. Dein Leben ist bereits kompliziert genug.« »Du bist ein guter Freund«, sagte Ana, »und mein treuer Beschützer auf dem Weg. Ich hätte es schon eher erkennen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es mir entgangen ist. Du weißt, dass ich dir vertraue, Faolan, und dich achte und mich auf dich verlasse ... Ich hätte nie geglaubt, einen solchen Freund zu finden, und ich danke den Göttern, dass du an meiner Seite bist. Aber... was ich für Drustan empfinde, ist ganz anders. Es ist zu stark, um es abzustreiten. Es ist - eine Welle, eine Flut...« »Du meinst, es zerstört.« »Mag sein. Er ist weg, und ich fühle mich, als würde ich zerbrechen. Es tut mir Leid, wenn das für dich alles noch - 588 schwieriger macht. Als ich von ihm und von meinen Gefühlen sprach ... das muss dir schrecklich wehgetan haben.« Faolans Stimmung wurde bei diesen Worten etwas besser. Selbst in dieser extremen Situation blieb sie durch und durch eine Dame. »Ich möchte, dass du etwas für mich versuchst«, sagte er. »Was?« Er griff nach seiner Tasche und holte den schweren Lederhandschuh heraus. »Zieh den an und steh auf.« »Warum?« Sie tat, um was er sie bat, und sah ihn fragend an. »Und jetzt rufe ihn. Den Falken. Ruf ihn zu dir.« »Ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Kannst du pfeifen?« »Nicht besonders laut. Ich kann es versuchen, aber sieh mich nicht an, oder es geht nicht.« Das Geräusch, das sie hervorbrachte, war in der Weite der Hügellandschaft, die sich vor ihnen erstreckte, kaum zu vernehmen, ein kleiner Pfiff, nur zwei Töne. Es war die Art von Pfiff, mit der eine Dame vielleicht ein Kätzchen oder einen gut dressierten Schoßhund zu sich rief. Sie hielt einen Augenblick inne und lauschte, dann versuchte sie es noch einmal. Es war, als hielte die Nacht den Atem an. Dann hörte man Flügelschlagen im Halbdunkel, eine leichte Veränderung der Luft wurde wahrnehmbar, und der Vogel kam aus der Nacht heraus auf ihre Hand geflogen. Krallen bohrten sich in den Handschuh, die wilden Augen begegneten Anas Blick, strahlend und undurchschaubar. Sie hielt den Arm weiterhin hoch, stützte das Gewicht des Falken und ihre eigenen Augen waren voller Staunen. »Er ist zurückgekehrt«, hauchte sie. »Woher wusstest du, dass er das kann?« »Es war nur eine Vermutung«, sagte Faolan, der die Veränderung in ihrer Stimme bemerkt hatte. Spürte sie die Wahrheit? »Intuition.« - 589 Ana hob die Hand, um den Falken zu streicheln, die langen starken Flügelfedern, die Daunen an seinem Kopf. Ihre Hand kam nah an diesen gefährlichen Schnabel; es schien ihr nicht aufzufallen, dass das Tier ihr jederzeit die Hand zerreißen konnte. Faolan hielt den Mund. Er würde seine Finger nicht gefährden, wenn er es vermeiden konnte, aber er wusste, dass dieser Vogel Ana nie etwas zu Leide tun würde. »Das bedeutet, wir können weiterziehen«, sagte sie. »Wir hatten ohnehin nichts mehr zu essen, oder?« »Ich hätte schon etwas gefunden«, sagte Faolan, ohne den Vogel anzuschauen, für den Fall, dass seine Ablehnung ihm zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Ana hatte selbstverständlich Recht, es war Drustan, der dafür sorgen würde, dass sie sicher nach Hause gelangten. »Ich fühle mich ein wenig besser«, sagte Ana und legte die Wange einen Augenblick an die Federn des Vogels. »Wenn sie alle drei bei uns sind, bedeutet das, dass Drustan mich noch nicht völlig vergessen hat, selbst wenn er
nicht hier sein kann. Wenn sie zusammenbleiben, denke ich immer, er muss noch am Leben und in Sicherheit sein. Ich werde jetzt schlafen, Faolan.« »Also gute Nacht.« »Möge die Leuchtende dir schöne Träume schenken.« »Du wünschst das Unmögliche für mich. Ich nehme an, du wirst nur von einer Sache träumen.« Sie setzte sich im primitiven Schutz eines kleinen Felsüberhangs auf den Boden, die Decke fest um die Schulter gezogen. Die drei Vögel blieben in ihrer Nähe, hockten sich auf Steine, ein Trio winziger Wächter, die Visionen einer uralten Geschichte über Magie heraufbeschworen. Ana schwieg eine Weile, und Faolan glaubte schon, dass sie eingeschlafen war. Aber dann sagte sie: »Spotte nicht über meine Träume, Faolan. Außer den Vögeln sind sie alles, was mir von ihm geblieben ist.« - 590 »Es tut mir Leid«, sagte er, aber Ana antwortete nicht. Viel später, als er wusste, dass sie eingeschlafen war, griff er nach einem Stein und wog ihn in der Hand. Er lauschte Anas langsamem, stetigem Atem. Krähe und Kreuzschnabel hatten sich an sie geschmiegt, rührten sich nicht und hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Der Falke hielt Wache, eine Handspanne von Anas Schulter entfernt. Faolan dachte über den möglichen Wurf nach, schätzte Wucht und Entfernung ab. Wenn er schnell war, würde es in einem Augenblick vorüber sein. Er würde die beiden nie wieder zusammen sehen müssen, er würde nie sehen müssen, wie dieser Mann sie berührte, und daneben stehen, als ginge es ihn nichts an. Dunkelheit wallte in seinem Herzen auf, er schloss die Finger um den Stein. Ana seufzte und drehte sich im Schlaf um. »Sag es ihr«, verlangte Faolan und ließ den Stein fallen. »Sag ihr die Wahrheit, lass sie ihre eigene Entscheidung treffen. So kann es nicht weitergehen. Du wirst ihr das Herz brechen.« Der Falke betrachtete ihn mit undurchschaubarem Blick. »Verwandle dich, zeige ihr, was du bist. Wenn du den Mut dazu nicht hast, hast du sie nicht verdient. Dann könntest du genauso gut davonfliegen und uns verlassen. Wir kommen schon zurecht. Wir sind zuvor zurechtgekommen, und wir werden es wieder schaffen.« Es gab keine Antwort außer diesem unverwandten Blick, einem Blick, der Faolan zutiefst gefährlich vorkam. Dieser Mann war ein wildes Tier. In seinem ganzen Wesen lag Gefahr. »Worauf wartest du?«, fragte Faolan herausfordernd. »Sie ist hier, sie liebt dich, sie ist die vollkommenste Frau, auf die ein Mann hoffen könnte. Was hält dich zurück?« Es gab keine Reaktion, kein plötzliches Aufflattern, keine Verwandlung. Der Vogel wandte nur den Kopf ab. »Du hast Angst, oder?«, fragte Faolan. »Du hast Angst, - 591 dass sie sich von dir abwenden wird, sobald sie es weiß. Also bestrafst du sie, du unterziehst sie dieser Folter, bei der sie sich um deine Sicherheit und deine Zukunft sorgt, bei der sie sich fragt, wieso du sie verlassen hast, bei der sie immer schwächer wird und nur noch Haut und Knochen ist, weil sie nichts Richtiges zu essen hat. Wenn du wirklich ein Mann bist, handle wie einer. Vertraue ihr mit der Wahrheit.« Alpin war gebaut wie ein Bär. Dennoch, in Dornwald aufzuwachsen, hatte ihm eine Gewandtheit vermittelt, die für einen solch großen, kräftigen Mann ungewöhnlich war. Der Wald war ein gutes Jagdgelände, und Alpin hatte früh gelernt, sich beinahe lautlos zu bewegen und schwieriges Gelände rasch zu durchqueren. Er hatte gelernt, wie man eine Spur findet und sie nicht wieder verliert, obwohl Deords einsame Flucht durch den Wald ihn eine Weile von dieser Witterung abgelenkt hatte. Nun hatte er sie wieder aufgenommen und folgte den Flüchtlingen unauffällig und mit tödlicher Entschlossenheit. Während er nach Nordosten eilte, beschäftigte er sich im Geist nicht mit dem Wetter, dem Gelände oder den Spuren, all dies nahm er ohne nachzudenken auf. Stattdessen erklang in ihm eine wilde Hymne an die Rache, ein Lied des Hasses, der Begierde, der Bereitschaft zu foltern und zu vernichten. Er sah Ana auf dem Rücken liegen und seinen Bruder auf ihr und dann den Galen und dann wieder diesen widerwärtigen, verrückten Drustan. Wenn sie ein Kind im Bauch hatte, wenn er sie nach Hause brachte, würde er es töten müssen, ihr Erbe musste eindeutig von seinem eigenen Blut sein. Bei allen Göttern, nach diesem Ärger sollte sie ihm lieber Söhne schenken. Er würde ihr den Trotz schon austreiben. Er würde dafür sorgen ... andererseits würde er sich eine Weile zurückhalten müssen. Er musste seinen Zorn mäßigen, nachdem er Ana nach der Rückkehr in die Festung zunächst einmal bestra- 592 fen würde. Er hatte die Geduld bei Erisa einmal zu oft verloren, und es hatte zu nichts Gutem geführt. Die dumme Gans hatte versucht, vor ihm davonzulaufen, und als sie stürzte, hatte sie seinen Sohn ebenso umgebracht wie sich selbst. Wenn sein verrückter Bruder nicht zufällig in der Nähe gewesen wäre, was ermöglicht hatte, ihm die Schuld zu geben, hätte er alles verlieren können. Drustan ... Ihr Götter, warum war er so großzügig zu ihm gewesen? Er hätte ihn sofort loswerden und sich nicht wegen ihrer Verwandtschaft zurückhalten sollen. Nun war Drustan frei, und wenn er sich erinnerte, wenn er es jemandem sagte ... Nein, das würde nicht geschehen. Die Leute wussten, dass Drustan verrückt war; niemand würde ihm glauben. Es gab niemanden mehr in Dornwald, der ihn unterstützen würde, niemanden, der sich an die Zeiten erinnerte, in denen er bei Verstand gewesen war. Die alte Bela war geflohen, sobald es geschehen war. Sie war inzwischen wahrscheinlich tot, und die anderen waren alle verschwunden, alle bis auf Orna, die wusste, wie man den Mund
hielt. Alpin hatte sich um alle gekümmert. Dennoch, er würde nicht ruhen, bis er die Hände um den Hals seines Bruders legen und hören konnte, wie der letzte Atemzug aus ihm entwich. Und was den Galen anging ... dem Galen konnte er nicht trauen. Er wäre als Spion nützlich gewesen, aber nun musste er ihn loswerden. Alpin malte sich aus, wie er das tun würde, während er weiter durchs Hochland zog und dann Halt machte, um in einer verfallenen Hütte Spuren zu überprüfen. Es gab Asche von einem kleinen Feuer, ein paar blonde Haare, die Knochen eines kleinen Tieres, ordentlich abgenagt. Sie waren hier gewesen. Vor nicht zu langer Zeit. Seine Hände sehnten sich danach, sie zu bestrafen. Er würde sich erst um die beiden Männer kümmern. Dann würde er Ana nehmen, gleich an Ort und Stelle; er wollte sie haben, und es gab nur eine Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. - 593 Bridei hatte früh gelernt, vorsichtig zu sein. Der erste Anschlag auf sein Leben hatte stattgefunden, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und Donal hatte ihn abgewehrt. Jahre später, als jene, die ihn nicht als König sehen wollten, es wieder versuchten, war Donal an seiner Stelle gestorben. Beim dritten Mal war es Faolan gewesen, der ihn vom Rand des Todes zurückgerissen hatte. Er hatte gelernt, niemandem zu schnell zu vertrauen, selbst wenn sein Instinkt ihn zur Freundschaft neigen ließ. Er mochte Hargest. In der Unsicherheit des Jungen und seinem ununterbrochenen Drang, sich hervorzutun, erkannte er sich selbst wieder. Es kam Bridei so vor, als balancierte Hargest zwischen einem Vater, der nur zu bereit gewesen war, ihn wegzuschicken, und einem Pflegevater, der ihn vielleicht übermäßig vorsichtig behandelt hatte, auf seinem Weg zur Reife und zum Erwachsenwerden auf einem sehr schmalen Grat. Der Junge war voller Widersprüche: Er wollte es allen recht machen, er fürchtete, schwach oder unfähig zu wirken, er wollte sich als überlegen erweisen. Und hinter allem stand das verzweifelte Bedürfnis nach Liebe: der Liebe eines Vaters. Bridei hatte Breth und die anderen angewiesen, den jungen Mann an ihren täglichen Kampfübungen teilnehmen zu lassen und ihn zu ihren Erkundungen zum Rand des Territoriums von Dalriada mitzunehmen. Hargest wurde immer streng überwacht, obwohl sie es ihn nicht wissen ließen. Er war nie allein mit Bridei, aber der König hatte sich angewöhnt, ihn bei Gesprächen mit einzubeziehen, und fragte häufig nach seinen Fortschritten. Während der Zeit, die sie in Rabenbrunn verbrachten, lernten die Männer Hargest nach und nach zu akzeptieren, und sie sprachen nicht mehr über ihn, als wäre er ein Außenseiter. Einer oder zwei von ihnen stellten fest, dass er sich, wenn er an ihrer Seite in den Kampf marschierte, als große Hilfe erweisen könnte. Zunächst einmal war er doppelt so groß wie jeder Gäle auf - 594 dem Schlachtfeld. Und sein Schwertarm war etwas, mit dem man rechnen musste. Bridei hatte eine Botschaft mit Orbenn zurückgeschickt und darin auch Hargests Pflegevater gefragt, was er von der Bereitschaft des Jungen zum Krieg hielt. Als Umbrig schließlich antwortete, überließ er die Entscheidung Bridei selbst. Wenn der König den Jungen für nützlich hielt, sollte er ihn nehmen. Wenn nicht, konnte er Hargest zurück nach Sturmklippe schicken, um seine Kampfeslust ein wenig abzukühlen. Die Möglichkeit, dass Hargest zu seinem Vater zurückkehrte, wurde nicht erwähnt, obwohl er jetzt ein junger Mann war. Als daher der Sommer sich dem Ende näherte und sie von Rabenbrunn aus mit dem ersten Stadium des langen Vormarschs begannen, nahm Hargest seinen Platz in der kleinen persönlichen Streitmacht des Königs von Fortriu ein, eine stolze, hoch aufgerichtete Gestalt, einen Kopf größer als die meisten anderen Männer, und er trug seinen Speer, sein Schwert, den Bogen und den Köcher, als wäre das etwas, was er jeden Tag tat und womit er recht vertraut war. Breth, der an der Seite des Königs ritt, wirkte unruhig. Er traute dem Jungen nicht, und er machte kein Geheimnis daraus, dass es ihm nicht passte, dass Hargest sich Brideis Bewaffneten so schnell hatte anschließen dürfen. Die Männer flüsterten, dass der Leibwächter des Königs seine Stellung bedroht sah. Hargest, sagten einige, war der offensichtliche Kandidat - jung, gesund, begeistert und stark -, um einmal Brideis wichtigster Leibwächter zu werden. Bridei hörte all das und hielt es für Unsinn. Breth wusste, dass seine Stellung so sicher war, wie die eines Mannes auf dem Weg in einen bewaffneten Konflikt sein konnte. Was Hargest anging, so hielt ihn Bridei an einer kürzeren Leine, als die anderen bemerkten. Der verzweifelte Wunsch des Jungen, es ihm recht zu machen, war die wirkungsvollste Kontrolle, über die er verfügte; er würde sie benutzen, um - 595 zu verhindern, dass der Junge umgebracht wurde, bevor er die Möglichkeit hatte, aufzuwachsen und zu erfahren, was in ihm steckte. So waren sie nun also in Bewegung und durchquerten das gleiche Gelände, durch das Bridei marschiert war, als er als schlichter Fußsoldat in Talorgens Armee auf dem Weg zu seinem ersten Geschmack davon war, was der Krieg Männern antat. Er erwartete, dass Hargest bei all seinem aufgesetzten Mut davon zutiefst verstört sein würde. Bridei hoffte, dass er hinterher Zeit haben würde, mit dem Jungen zu sprechen und zuzuhören, wenn Hargest mit dem fertig werden musste, was er gesehen und getan hatte. Was er gezwungen gewesen war zu tun. Krieg konnte das Beste in einem Mann zu Tage fördern. Leider gab es auch andere, in denen er Grausamkeit weckte, und wieder andere, die schlicht unter diesem Schrecken zerbrachen. Wenn dieses große Unternehmen so verlief, wie sie es geplant hatten, würde es vielleicht lange Zeit nicht mehr notwendig sein, dass die Männer von Fortriu wieder in den Krieg zogen. Vielleicht würde es lange Jahre des Friedens geben, nachdem die Galen aus
dem Land der Priteni verschwunden waren, und die Männer würden sich um ihr Vieh kümmern, säen, ernten und mit Ahle, Zangen und Hammer ihrem Handwerk nachgehen können, ohne darauf zu warten, dass wieder jemand an ihre Tür klopfte und sie zu den Waffen rief. Bridei betete um ein solches Ergebnis, nicht um seiner selbst willen, nicht um seines Ruhmes willen, sondern für das Wohl seines Volkes. Wenn er die Galen besiegt hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit der großen Aufgabe zuwenden, die die Götter ihm aufgetragen hatten: Circinn und Fortriu wieder im alten Glauben zu vereinen. Während Brideis Leute in westlicher Richtung zum Rand von Gabhrans Territorium zogen, näherten sich auch von anderen Seiten Dalriadas aus Truppen von Priteni-Kriegern den Galen. Gabhran und seine Unterführer hätten sich nie - 596 einen solch massiven, komplizierten Angriff, solche Einigkeit und solche Präzision der Zeitabstimmung vorstellen können. Bridei und seine Anführer hatten alles getan, damit die Armeen bis zum letzten Augenblick unentdeckt blieben. Sie hatten einkalkuliert, dass einzelne Gruppen aufgehalten wurden: Mit Krankheit, ungünstigem Wetter und Hinterhalten musste man rechnen. Jeder Fürst hatte einen anderen Mann ausgewählt, der an seine Stelle treten konnte, falls er getötet oder gefangen genommen wurde. Die Falle, in der sie den gälischen König fangen wollten, war wie eine Klauenhand, die sich um Dalriada schloss. Jeder Finger musste an Ort und Stelle sein, jeder musste sich auf die anderen verlassen können, damit keine Lücke, keine Schwachstelle entstand, durch die Gabhran und seine Leute entkommen konnten. Brideis Anführer und ihre Männer waren mehrere Tagesreisen voneinander entfernt, und dennoch hing jede Gruppe von den anderen ab, damit die Falle sich am Ende erfolgreich schloss. Bridei hatte nun seit fünf Jahren ihre Freundschaftsbande gepflegt. Sie kannten einander gut. Sie waren wie Brüder, jeder stolz und unabhängig, jeder vollkommen er selbst, von dem wilden Fokel von Galany bis zum ruhigen Talorgen, vom Aufsehen erregenden Ged bis zum zurückhaltenden Morleo verfolgten sie alle das gleiche Ziel, das Ziel ihres Königs. Sie waren schon öfter von Dalriada geschlagen worden; die älteren Fürsten, Talorgen und Ged, hatten über die Jahre viele Kämpfe gesehen. Diesmal schien es anders zu sein. Auch wenn sie von Rückzügen und Notfallplänen sprachen, glühte das Licht eines sicheren Siegs in ihren Augen. Bridei schauderte. Es war manchmal beunruhigend, all das zu sehen und zu wissen, wie viel dabei von ihm abhing. Er war der König, von Göttern und Menschen auserwählt, Fortriu in den Sieg zu führen. Diese Männer, diese erfahrenen, umsichtigen Anführer glaubten, dass er es schaffen - 597 konnte. Sie glaubten, dass Bridei selbst den Unterschied zwischen einer weiteren mörderischen Niederlage und einen endgültigen Sieg gegen die Eindringlinge darstellte. Er hatte versucht, ihnen zu geben, was sie erwarteten. Er hatte den Plan so wasserdicht gemacht, wie es möglich war. Wenn er im Morgengrauen zum Flammenhüter und in der Abenddämmerung zur Leuchtenden betete, erwartete er, dass die Götter immer noch auf ihn herablächelten. Dennoch, es war eine schwere Last, und es gab Zeiten, in denen er sich so danach sehnte, zu Hause zu sein, dass sein Herz wehtat. Er wollte mit Tuala am Feuer sitzen und zusehen, wie sie mit langen, gleichmäßigen Strichen ihr Haar bürstete. Er wollte seinen Sohn in den Armen halten und Dereleis seltsames kleines Lächeln sehen, seine großen Augen, in denen so viele Geheimnisse standen. Er wünschte sich, Broichan wäre bei ihm, Broichan, dessen ernster Rat ihm so oft geholfen hatte, den Weg zur Lösung eines verstörenden Problems zu finden. Aber nun war er König, er ritt in den Krieg, und es würde lange dauern, bis er einen von ihnen wieder sah: sein Heim, seine Lieben. Es würde lange nach der Herbst-Tagundnachtgleiche sein, selbst wenn alles gut ging. Er fragte sich, ob sein Sohn sich an ihn erinnern würde. Sie lagerten in den Wäldern oberhalb der Fuchsfälle und warteten darauf, dass Fokel von Galany sich ihnen anschloss. Nachdem sie gegessen hatten - eine Suppe mit Fleisch von Hasen, Waldtauben und Igeln -, ging Bridei mit Breth durchs Lager und sprach mit so vielen Männern, wie er konnte. Sie brauchten jetzt keine kriegerischen Ansprachen; wenn sie ebenso empfanden wie er, würden sie lieber freundliche Worte und Trost hören. Er lauschte ihren Sorgen mit höflicher Aufmerksamkeit, widmete jedem von ihnen ein wenig Zeit und verließ sie, wie er hoffte, mit dem Wissen, dass der König ihnen vertraute. Es wurde spät, und die meisten Männer legten sich hin und wickelten sich in - 598 Decken oder Umhänge. Die Wachposten standen rings ums Lager, lautlose Schatten unter einem zunehmenden Mond. Bridei und Breth kehrten in den kleinen Unterstand zurück, der für den König vorbereitet worden war und vor dem Uven, einer der Männer aus Pitnochie, Wache stand. »Breth, du solltest jetzt schlafen«, sagte Bridei. »Überlass Uven die erste Wache. Ich muss meinen Frieden mit den Göttern machen, bevor ich mich hinlege. Es wird nicht lange dauern.« »Wenn du sicher bist.« Breth unterdrückte ein Gähnen. »Das bin ich. Leg dich hin. Sobald Fokel eintrifft, was durchaus schon morgen passieren könnte, werden wir alle weniger Ruhe haben. Uven, du weckst ihn, wenn es Zeit zum Wachwechsel ist.« »Ja, Herr.« Die Männer aus Pitnochie kannten Bridei, seit er ein Kind von vier Jahren gewesen war. Sie verhielten sich ihm gegenüber beinahe besitzergreifend, aber es mangelte ihnen nie an Respekt. Er hatte sich ihre Loyalität über
viele Jahre hinweg verdient. Bridei ging auf einen kleinen Hügel nicht weit vom Lager, einen Ort, an dem das Licht der Leuchtenden durch die weit ausgestreckten Arme der Eichen fiel und einen Fleck moosiger Steine und die herzförmigen Blätter einer Kriechpflanze beleuchtete, die sich entlang der Risse im Felsen zog. Er kniete zum Gebet nieder, und Uven, der großen Respekt vor dieser Verbindung zwischen König und Göttern hatte, hielt sich ein paar Schritte entfernt, den Speer in der Hand, mit wachsamem Blick. Für einen Mann, der von Druiden aufgezogen und mit der uralten Überlieferung genährt worden war, hielt er sein Gebet recht schlicht. Morgen, am nächsten Tag und viele Tage danach würden Männer auf beiden Seiten sterben, weil er beschlossen hatte, dass es Zeit zum Krieg war, Männer wie die guten Seelen, mit denen er heute Abend ge- 599 sprachen hatte. Als König war er es, dessen Überzeugung sie nach Westen zog, der dieses Leuchten der Begeisterung für ihre Aufgabe auf ihre schlichten, ehrlichen Gesichter brachte. Viele würden nicht zurückkehren. Es würde Frauen, Mütter, Kinder geben, deren Warten ein Leben lang dauern würde. Dann gab es jene, zu denen nur das gebrochene Wrack eines Mannes zurückkehren würde. Selbst wenn die Streitkräfte der Priteni einen großen und edlen Sieg erkämpften, würde das so sein, denn Krieg war grausam und unparteiisch. Im Toben einer Schlacht gab es keine guten und schlechten Männer, nur zwei Armeen aus Vätern, Söhnen und Brüdern, die ihr Leben aufs Spiel setzten, weil ihr Anführer sie davon überzeugt hatte, dass es richtig war. Er, Bridei, war dieser Anführer. Er bat die Leuchtende nicht, ihm die Last abzunehmen, die er auf den Schultern trug, eine Last, die mit jedem Tag des Konflikts schwerer werden würde. Er bat sie nur, ihn stark genug zu machen, um sie tragen zu können. Er bat sie nicht, seine Freunde, Breth, Talorgen, die Männer aus Pitnochie zu verschonen, nur darum, dass sie, wenn sie starben, sauber und für ein Ziel sterben würden. Was ihn selbst anging, so hoffte er, wieder nach Hause zum Weißen Hügel zurückkehren und seine Frau und seinen Sohn in den Armen halten zu können. Aber das gehörte nicht in sein Gebet. Er würde nichts für sich erbitten, wovon er wusste, dass es nicht jedem Mann in der Armee gewährt werden konnte. Er betete, dass der Weg, den er gewählt hatte, ein guter Weg war. Er empfahl Tuala der Obhut der Göttin und bat die Leuchtende, seinem kleinen Sohn schöne Träume zu schicken. Dann blieb er eine Weile schweigend knien, die Arme ausgestreckt, und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Etwas regte sich hinter ihm. Sofort war Bridei aufgesprungen und griff nach dem Messer. Einen Augenblick später stürzte Uven auf die Lichtung, den Speer bereit. »Es ist in Ordnung, Uven.« Bridei musste sich Mühe ge- 600 ben, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Es ist nur Hargest. Bei den Göttern, du kannst dich für einen so großen Mann wirklich lautlos bewegen!« »Was hast du dir dabei gedacht, dich hier so anzuschleichen?«, fragte Uven den jungen Mann wütend. »Einen Augenblick noch, und ich hätte dich erstochen.« »Ein Augenblick genügt für einen Attentäter, um zuzuschlagen«, stellte Hargest fest und zeigte auf das Messer in seinem Gürtel. »Herr, deine Leibwächter sind nicht gut genug.« »Du kleiner...« »Schon gut, Uven«, sagte Bridei. »Ich werde mit Hargest über seine Manieren sprechen, es ist nichts passiert. Wenn ich ihn selbst nach Broichans Ausbildung nicht hören konnte, dann konntest du es ganz bestimmt nicht. Unser Druide würde sich heute Abend für mich schämen. Komm, Hargest, ich bin hier fertig. Wir kehren ins Lager zurück und unterhalten uns.« Sie stellten sich an das kleine Feuer, das in der Nähe von Brideis Zelt brannte: Uven, angespannt vor Ärger und Unbehagen, Hargest mit verschränkten Armen und einer kriegerischen Miene, Bridei mit seiner gut eingeübten Ruhe. Hargest entschuldigte sich nicht. Vielleicht, dachte Bridei, war ihm nicht klar, wie nahe er einem Messer im Herzen gewesen war. Und wenn das der Fall war, hatte der Junge weniger gelernt, als es in seiner Zeit mit den Bewaffneten des Königs hätte passieren sollen. »Hargest«, sagte er leise, »es ist nicht klug, die Reaktionen meiner Leibwächter zu prüfen, indem du dich an mich anschleichst. Sie haben den Befehl zu töten, und ich bin gut ausgebildet, mich selbst zu verteidigen. Mein Pflegevater hat mich gelehrt, meine Ohren zu benutzen wie ein Tier. Wäre ich nicht tief in Meditation versunken gewesen, hätte ich dir meinen Dolch ins Herz gestoßen, bevor ich die Möglichkeit hatte herauszufinden, wer du bist.« - 601 »Dann sollten deine Wachen doppelt aufmerksam sein, wenn du betest.« »Gib Uven nicht die Schuld.« Bridei seufzte. »Er tat sein Bestes, ein Gleichgewicht zwischen Wachsamkeit und Diskretion zu finden. Meine Männer kennen mich gut, Hargest. Es gibt Zeiten, in denen ich zumindest eine Illusion von Einsamkeit brauche, und sei es nur um meines geistigen Friedens willen.« »Sie sagen, dass du die Götter liebst. Dass der Flammenhüter dich als seinen Lieblingssohn betrachtet.« »Ich hoffe, alle Männer hier lieben die Götter. Und was Lieblingssöhne angeht, kann ich nur hoffen, dass der Flammenhüter unser Unternehmen unterstützt und mich für würdig hält, es anzuführen. Und jetzt sag mir, warum du hier bist und nicht bei deiner Truppe? Warum hast du dich so angeschlichen? Ich nehme an, es ging
dir nicht nur darum, die Aufmerksamkeit auf die Schwäche meiner Verteidigung zu lenken.« »Ich wollte mit dir allein sprechen.« Hargests Stimme war ein Knurren, er warf einen Blick zu Uven. »Über Privatangelegenheiten.« »Unmöglich«, fauchte Uven. »Er hat Recht.« Bridei bemerkte die geballten Fäuste und die zusammengebissenen Zähne des Jungen. »Gerade im Hinblick auf das, was du uns eben gesagt hast, musst du deinen König für einen Dummkopf halten, wenn du glaubst, dass er seinen einzigen Leibwächter wegschickt und mitten in der Nacht im Wald ein Gespräch mit einem Mann führt, den er nur seit... wie lange? Seit einem Mond kennt? Nicht einmal so lange, glaube ich.« Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. »Bitte, Herr.« Hargests Stimme war etwas ruhiger geworden. Er starrte seine Stiefel an. »Geh ein paar Schritte weiter, Uven. Und jetzt, Hargest, sag mir, um was es geht. Machst du dir Sorgen wegen des - 602 Kampfes? Habe ich die falsche Entscheidung getroffen, als ich dir erlaubte, dich meiner Armee anzuschließen?« »Nein, Herr.« Der junge Mann richtete sich gerade auf. »Damit ist alles in Ordnung. Ich werde meinen Platz einnehmen. Ich möchte über das sprechen, was danach geschieht.« »Danach? Danach gibt es einen weiteren Kampf, Hargest, und noch einen Marsch und dann noch einen Kampf. Darum geht es im Krieg. Es ist blutig und Ekel erregend. Wir tun es, weil wir es tun müssen. Glaub mir, Götter oder nicht, es ist überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Wenn es vorbei ist und du das Glück hattest zu überleben, wirst du nach Sturmklippe zurückkehren und erkennen, dass jeder Tag des Friedens, den die Götter dir gewähren, ein kostbares Geschenk ist.« »Ich würde gern ... was, wenn ...« »Was immer es ist, sprich es aus, Hargest. Es ist spät, und ich muss zumindest so tun, als ob ich mich heute Nacht ausruhe, oder Breth wird sehr verärgert sein.« »Es besteht die Möglichkeit, dass einer deiner Leibwächter im Kampf getötet oder verwundet wird. Wenn das geschieht, könntest du ...« Bridei konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Die Übungen in Rabenbrunn haben einen besseren Krieger aus dir gemacht, die Männer sind voll des Lobes für dich. Aber es sieht aus, als hätten wir die Ausbildung in Diplomatie vergessen. Bist du so versessen darauf, mein Leibwächter zu werden? Sie sagen mir immer, es sei eine undankbare Aufgabe: wenig Schlaf, ununterbrochene Unruhe, keine Zeit für sich selbst. Und die Bezahlung ist nicht mehr als durchschnittlich, es sei denn, du hast etwas Besonderes zu bieten. Mein Hauptleibwächter, der jetzt im Norden ist, ist ein erfahrener Übersetzer und verfügt außerdem über andere Fähigkeiten. Was Breth angeht, so will ich die Götter nicht herausfordern, indem ich versuche, sein Schicksal im - 603 Kampf vorherzusagen. Ich habe mehrere andere Männer, an die ich mich wenden könnte, wie Uven hier. Männer, denen ich vertraue.« »Du kannst mir ebenfalls vertrauen, Herr.« Hargests Stimme war heiser vor Eifer. Er klang sehr jung. »Ich habe gesehen, was du für diese Männer bist: ein König, ein Anführer, ein Freund. Sie blicken zu dir auf wie zu ihrem älteren Bruder, ihrem Vater. Sie schauen in deine Augen und sehen den Blick des Flammenhüters. Du weißt, dass ich ein guter Kämpfer bin, Herr. Ich bin gesund, ich bin schnell. Ich bin furchtlos. Gib mir eine Chance, und ich werde beweisen, wie gut ich als Leibwächter sein kann. Ich werde besser sein als alle anderen.« »Das ist nicht notwendig«, sagte Bridei ruhig. »Ich bin mehr als zufrieden mit den Männern, die ich habe. Sie haben ihren Wert über lange Zeit hinweg bewiesen - im Fall von Uven hier beinahe ein Leben lang.« »Jeder muss irgendwo anfangen, Herr. Lass es mich versuchen, bitte. Du wirst es nicht bedauern.« Die Stimme des Jungen bebte vor Gefühlen. So jung, so voller Leidenschaft. »Eine der geforderten Eigenschaften ist die Fähigkeit, auch in schwierigsten Situationen vollkommen ruhig zu bleiben«, sagte Bridei. »Dann prüfe mich.« »Du bist mutig, so viel ist klar. Zu mutig, würden meine Berater mir sagen.« »Bitte, Herr. Ich werde es dir beweisen. Das schwöre ich bei der Männlichkeit des Flammenhüters.« »Warte, bis wir Galanys Höhe erreichen«, sagte Bridei und fragte sich, ob diese explosive Ansammlung von Jugend, Ehrgeiz und Heldenverehrung am ersten Tag einer wirklichen Schlacht gebrochen oder überleben würde, um die Zukunft zu erreichen, nach der er sich offenbar so sehr sehnte. »Wir werden sehen, wie du dich dort schlägst, und vielleicht werde ich dir dann eine Gelegenheit geben. Du - 604 wirst allerdings damit leben müssen, dass Breth darüber nicht erfreut sein wird.« »Ja, Herr.« Die Augen des jungen Mannes strahlten vor Hoffnung, und ein Grinsen reinen Entzückens trat auf seine Lippen und ersetzte für einen Augenblick die übliche Miene schmollender Feindseligkeit. »Danke, Herr. Ich schwöre, du wirst es nicht bereuen ...« »Lass uns zunächst einmal Galany überleben.« Bridei war plötzlich müde. »Ich unterschätze absolut nicht, was du mir anbietest, Hargest, das solltest du wissen. Ich respektiere deinen Mut und deine Offenheit, und ich hoffe, der Flammenhüter wird seine Hand über dich halten, wenn wir in den Krieg ziehen. Du musst ein gewisses Maß
an Takt lernen, wenn du mit meinen Männern umgehst. Und du solltest dich auch daran erinnern, dass ich König von Fortriu bin. Breth, Uven und die anderen erlauben sich gewisse Vertraulichkeiten, wenn sie mit mir allein sprechen. Sie haben sich das Recht dazu in vielen Jahren treuen Dienstes erworben. Vielleicht wirst auch du dir eines Tages dieses Recht erwerben. Und jetzt geh schlafen. Möge die Leuchtende dir schöne Träume schenken.« »Gute Nacht, Herr.« Hargest deutete eine Verbeugung an. Als er sich wieder aufrichtete, war sein schiefes Grinsen das eines schelmischen Sohns, der sich über einen Scherz freut, den ein strenger, aber liebevoller Vater gemacht hat. Bridei konnte einfach nicht anders, er musste das Lächeln erwidern. In der langen Abenddämmerung des Sommers schlugen Faolan und Ana ein Lager am Rand eines Kiefernwaldes auf, hoch über dem Tal eines einsamen Sees. Sie hatten zuvor am Tag ein paar Adler in der Luft gesehen, auf dem Weg zu den kargen Gipfeln, die hinter der Hochebene aufstiegen, und sie sagte zu Faolan, das müsse ein gutes Zeichen sein. »Es ist Brideis Königszeichen, und zwei von ihnen sind - 605 eine besonders viel versprechende Botschaft der Götter«, sagte sie, als sie Holz für ihr kleines Feuer sammelten und sich um das abendliche Geschenk des Falken kümmerten, einen fetten Vogel von einer Art, die keiner von ihnen kannte. Kreuzschnabel und Krähe schauten ruhig zu, wie Ana das Wild rupfte und ausnahm; ein weiterer Beweis dafür, dachte sie, wie sehr sie sich von anderen Vögeln unterschieden. »Mhm«, brummte Faolan und schlug mit seinem Messer auf dem Feuerstein Funken. »Ich würde mich besser fühlen, wenn ich genau wüsste, wo wir sind und wie weit wir noch gehen müssen. Wenn die Götter uns wirklich helfen wollen, könnten sie uns das vielleicht sagen. Unser Führer dort führt uns in einem seltsamen Tanz; es ist beinahe so, als wollte er nicht, dass wir nach Hause gelangen. Vielleicht ist es Zeit, uns seiner Dienste zu entledigen.« »Das wäre keine besonders gute Idee, wenn du nicht weißt, wo wir sind, Faolan. Und außerdem...« Ana hielt inne. Er war nicht besonders gut gelaunt, und sie wusste, dass es ihn ärgerte, wenn sie von Drustan sprach. Drustan... seine Abwesenheit tat mit jedem Schritt, den sie sich von Dornwald entfernte, mehr weh. Die Zeit heilte diese Wunde offenbar nicht. »Außerdem sind die Vögel alles, was dir von ihm geblieben ist, ich weiß, ich weiß.« Faolan blies auf die Zündspäne und begann, Zweige darauf zu legen. »Aber sie werden nicht ewig bei uns bleiben. Und sie helfen nicht viel; wir sind hier zweifellos zu weit im Norden und werden uns sicher verirren, wenn wir auf dem Weg zur Küste durch diesen Wald ziehen müssen. Ich denke ernsthaft daran, den Weg selbst zu suchen und sie gehen zu lassen.« »Wie würdest du sie dazu bringen, davonzufliegen? Sie gehorchen doch sicher nur Drustan.« »Ich würde ihnen sagen, dass sie gehen sollen. Oder noch besser, du würdest es ihnen sagen. Denk doch daran, wie - 606 der Falke auf deinen Handschuh fliegt, so gehorsam wie ein gut dressierter Beizvogel. Befiehl ihm zu gehen, und ich wette, die drei würden verschwinden.« Ana sagte nichts. Die Beute des Falken, auf einen Stock gespießt, war bereit, gebraten zu werden. Anas Hände waren voller Blut, Eingeweide und Federn. Wenn sie je zum Weißen Hügel zurückkehrte, würde sie über Fähigkeiten verfügen, von denen sie nie erwartet hätte, dass sie sie entwickeln musste. Was ihre drei Wächter anging, so waren sie ihr sehr vertraut geworden, und jeder Tag war geprägt von dem eleganten Flug vom Handschuh zum Himmel, von der sanften Berührung von Daunenfedern an ihrer Wange oder ihren Händen, von den leisen Geräuschen, die die Vögel achts machten, und dem geheimnisvollen Wissen in ihren wilden, klaren Augen. Ana wusste, ohne sie würde ihr Leben unvollständig sein. Sie waren ihre Begleiter und Freunde. Falls der Falke sie im Kreis herumführte, hatte er einen Grund dafür. Vielleicht gab es auf einem geraderen Weg größere Gefahren, vielleicht gab es keinen kürzeren Weg als den, den sie nicht nehmen konnten, den Weg über die Furt. Das Land der Caitt war so schwierig, wie man überall hörte, es gab tiefe Täler und hoch aufragende Berge, dichte, dunkle Wälder und weite, windgepeitschte Seen. Es war gewaltig und überwiegend unbewohnt. Hier konnte das Echo eines Hilfeschreis für immer unbeachtet verhallen. Hier leben und starben Hirsch, Eber und Wolf, ohne je so etwas die Angst vor Jägern zu erleben. Wenn die Hand irgendeiner Gottheit sich über diesen großen, wilden Ort erstreckte, dachte Ana, dann war es sicher die der Knochenmuter, dieser Göttin der Träume und Hüterin der uralten Erde. Sie schauderte und rückte dichter ans Feuer. Die Knochenmutter hütete das Portal zwischen dieser Welt und der nächsten; ihre Entscheidungen legten fest, wie lange ein Leen dauerte. In diesem weiten, einsamen Nordland konnte die Göttin sie und Faolan so schnell zum Erlöschen bringen - 607 wie zwei Kerzen neben einem Bett. Sie würden einfach verschwinden, ihr Tod nie bemerkt, ihre Leichen nie gefunden werden. Ihr Fleisch würde sich dunkel färben und schließlich unter diesen Bäumen in Humus verwandeln, und Vögel würden ihre Knochen verstreuen. »Was ist denn?«, fragte Faolan und sah sie an, als sie den aufgespießten Vogel über dem Feuer balancierte. »Nichts«, murmelte Ana. In der Ferne erklang ein Schrei im Wald, ein Gruß und eine Herausforderung: die unheimliche Musik der Wölfe. In den letzten Tagen hatte Ana hin und wieder das Gefühl gehabt, sie würden verfolgt, beobachtet. Sie hatte noch keine Schritte gehört und kein Knistern im Unterholz, aber sie hatte es trotzdem gespürt. Sie hoffte, Faolan würde eine seiner tröstlichen Bemerkungen machen, wie zum Beispiel: »Sie
sind weiter weg, als es sich anhört«, aber er schwieg. In diesen Sommernächten herrschte an den Hügeln ein trübes, kühles Licht, das für gewöhnlich bis Mitternacht anhielt, und es war nur kurze Zeit wirklich dunkel. Für gewöhnlich war Ana nach einem Tag des Wanderns so erschöpft, dass sie einschlief, sobald sie ein Feuer gemacht und gegessen hatten. Die Unbequemlichkeit eines Betts auf Steinen, Erde oder Laub genügte nicht mehr, sie von dem tiefen Eintauchen in den Brunnen des Schlafs abzuhalten. Sie wusste, dass sie jetzt viel dünner war; sie spürte den Druck des festen Bodens an Knien und Ellbogen, an Hüften und Schultern, die das schützende Polster gesunden Fleischs verloren hatten, und sie war froh, dass es hier keine Spiegel gab. Bei Faolan bemerkte sie Ähnliches. Seine Wangen waren hohl, ihm war ein dunkler Bart gewachsen, und er wirkte gereizt und gefährlich, sah aus wie ein Mann, der fürchtet, die Kontrolle über eine Situation zu verlieren. An diesem Abend konnten sie nicht schlafen. Nachdem sie die Knochen ihres mageren Abendessens abgenagt hatten, saßen sie dicht an ihrem Feuer und lauschten dem Heu- 608 len. Es lag ein Muster darin: ein Ruf, eine Antwort. Ein Befehl, dann die Zustimmung. Das Rudel kam näher. Der Mond hing tief am Himmel, beinahe voll, eine bleiche Präsenz, die man in dem kalten Graublau der Sommernacht eher erraten als sehen konnte. Die Kiefern schienen höher, dicker und Unheil verkündender als jeder Baum, den Ana zuvor gesehen hatte; der Raum unter ihnen bestand aus geheimen Senken, klaffenden Mäulern, bewohnt von unbekannten Wesen, die bereit waren, jeden Eindringling zu verschlingen. Ana blickte auf zu den Vögeln. Der Falke saß hoch oben, er war in dieser Nacht ruhelos, bewegte sich auf dem Ast hin und her, zwei Augen, dunkles Gefieder. Krähe und Kreuzschnabel hatten sich aneinander gekuschelt wie zwei Küken. Vom tiefen Wald glaubte sie Rascheln und Knurren zu hören, die Schritte vieler Pfoten. »Wir sollten ein größeres Feuer haben.« Faolans Ton war lobenswert fest. »Wir brauchen genug Holz, damit es bis zum ersten Licht brennt. Du wirst wach bleiben und mir helfen müssen, Wache zu halten.« Ohne ein Wort stand sie auf und half ihm, Brennholz zu sammeln, wagte sich aber nicht zu dicht an den Waldrand. Als sie sich bewegten, brachen Zweige unter ihren Füßen und Unterholz raschelte und der Wald schien plötzlich zu schweigen, ebenso wie die Wölfe. Als Ana und Faolan ans Feuer zurückkehrten, begannen die Tiere wieder mit ihrem Jagdlied, und nun waren sie näher. »Was, wenn sie ...« Anas Zähne klapperten und sie biss sie zusammen, um damit aufhören zu können. »Das Feuer wird sie zurückhalten.« »Aber wenn sie kommen, wenn sie angreifen?« »Messer in einer Hand, Feuer in der anderen - nimm ein Scheit, einen Ast wie den hier...« Er griff nach einem brennenden Scheit, packte das unverbrannte Ende. Ana sah, dass er das Feuer in einer Weise aufgebaut hatte, dass es ihnen einen Vorrat solcher Äste lieferte. Er erwartete also - 609 einen Angriff, so ruhig er sich auch gab. Er glaubte, dass die Wölfe heute Nacht kommen würden. »Wir könnten auf einen Baum steigen«, sagte sie, und das war nicht unbedingt ein Scherz. Faolan betrachtete die hohen Kiefern, an deren Stämmen es bis weit über ihre Köpfe keine nützlichen Äste gab. »So, wie dieser Wald aussieht«, sagte er, »gebe ich mich lieber mit den Wölfen ab. Ana?« »Was?« »Etwas bewegt sich dort unter den Bäumen hinter dir. Bleib ruhig und nimm dir ein Feuerscheit; wenn du dich umdrehst, hältst du es vor dich. Vergiss nicht, es ist die Barriere zwischen dir und dem Wolf. Lass dich nicht verleiten zu laufen. Bleib mit dem Rücken zum Lagerfeuer. Benutze das Messer nicht, ehe du keine andere Wahl hast. Bist du bereit?« Bereit? Wie konnte man je für so etwas bereit sein? »Ja«, sagte sie, drehte sich um und sah sie. Sie bewegten sich verstohlen unter den Bäumen, keine zwanzig Schritte entfernt, und man konnte ihre Augen als leuchtende Punkte im Feuerlicht erkennen, während ihre Gestalten sich mit der vielschichtigen Dunkelheit des nächtlichen Waldes mischten, hundert Schattierungen von Grau. Ana versuchte, sie zu zählen und ihr wurde übel vor Angst, als sie feststellte, dass es zu viele waren, die sich immer wieder hin und her bewegten, aneinander vorbeigingen, sich zu Gruppen zusammenfanden und sich wieder trennten, wie Tänzer in einer eleganten Parade von langgliedriger, scharfzähniger Anmut. Der Falke stieß in den Ästen über ihnen einen lauten Schrei aus, und die Wölfe zogen sich einen Schritt oder zwei zurück, dann bewegten sie sich lautlos und erwartungsvoll wieder nach vorn. Der Falke stieß zu, eine plötzliche Bewegung, und fegte eine Handspanne vor den verblüfften Augen des ersten Wolfs vorbei, die Krallen ausgefahren. Der Wolf schnappte zu; Federn flogen. Der - 610 Vogel flatterte auf und außer Reichweite, dann stieß er wieder herab. »Sie kommen auch von hinter uns.« Faolan stand an seiner Seite, ebenfalls einen brennenden Ast in der Hand. »Vergiss nicht...« »Mit dem Rücken zum Feuer zu bleiben«, murmelte Ana, während die Angst die Klauen in ihre Eingeweide schlug. Einen Augenblick später rannte eine der lang gestreckten grauen Gestalten in einer Finte auf sie zu, und Ana stieß den brennenden Ast nach ihr. Das Wissen, dass sie tatsächlich um ihr Leben kämpfen musste, lag im Widerstreit mit der Unwirklichkeit, der albtraumhaften Qualität dieser Szene. Der Vogel stieß erneut zu, und diesmal fanden seine Klauen ihr Ziel. Ein Schmerzensschrei erklang, und der Wolf, der sie angegriffen hatte, fiel zurück. Sie konnte Faolan nicht sehen, aber hinter sich, auf der anderen Seite des Feuers, hörte sie ihn stolpern und
fluchen, und dann begann er zu schreien, als könnte er die Tiere mit seiner Stimme in Schach halten. Ein anderer Wolf schoss auf sie zu, Zähne schnappten, und sie schwang den brennenden Ast, kämpfte um ihr Gleichgewicht und um ihre Position, damit die Angreifer nicht zwischen sie und das Feuer schlüpfen konnten. Der Falke war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Krähe und Kreuzschnabel waren nirgendwo zu sehen. Ana schrie etwas, irgendetwas, stach mit dem Feuerstock zu und hörte, wie jämmerlich und schrill und vollkommen wirkungslos ihre Stimme klang. Es war wie das leise Quieken einer Maus, bevor die Eule sie verschlang, wie der Schrei eines Kaninchens, wenn sich die Kiefer des Jagdhundes um den zerbrechlichen Schädel schlössen. Umdrehen, zustoßen, schreien; ausweichen, zustoßen, schreien. Erst war es nur einer, dann waren es zwei, dann kamen drei abwechselnd auf sie zu, schneller und schneller, Schnappen, ein kurzer Lauf, Beißen, Springen ... Ihr Götter, wenn einer von ihnen sie an der Kehle erwischte, wäre alles in einem einzigen Augenblick vorüber. - 611 Der intensive Gestank der Tiere umgab sie auf allen Seiten, ihr Knurren füllte ihre Ohren. Ana konnte das Dröhnen des Herzschlags in jedem Teil ihres Körpers spüren, ihre Knie waren so weich wie Wasser. Ausweichen, umdrehen, zustoßen, schreien... Ein lautes Brüllen, dann war Faolan an ihrer Seite, riss seinen eigenen Feuerbrand herum, und drei Wölfe wichen zurück, als die Spur der Flamme sie verbrannte. Dann war er wieder weg, und Ana hörte erneut die Geräusche seines eigenen Spiels von Angriff und Verteidigung hinter sich. Sie holte keuchend und würgend Luft und veränderte ihren Griff an dem Ast. Er verbrannte schnell; bald würde sie irgendwie eine Möglichkeit finden müssen, sich einen anderen zu nehmen. Wieder kamen die drei Wölfe näher, diesmal langsam, jede Bewegung ein Meisterstück kontrollierter Spannung. Ihre Stimmen vereinten sich zu einem unheimlichen fauchenden Knurren. Faolan gab ein Geräusch von sich, einen erstickten Fluch, und sie wusste sofort, dass er verletzt war. Sie konnte sich nicht umdrehen, sie konnte nicht einmal hinsehen, ganz davon zu schweigen ihm zu helfen. Sie stieß mit der Fackel nach einem Wolf, dann dem nächsten, dann riss sie wild das Messer nach vorn. Am äußeren Rand des Kreises waren jetzt immer mehr Wölfe zu sehen, die Falle schloss sich. Ana konnte ihren eigenen Atem hören, flach, keuchend, nicht mehr stark genug, einen trotzigen Schrei herauszubringen. Nicht mehr gleichmäßig genug für ein letztes verzweifeltes Gebet. Sie ließ sich auf ein Knie nieder, das Messer nach außen gerichtet, und riss einen neuen Ast aus dem Feuer. Der Leitwolf spannte sich an, bereit zu springen. »Drustan! Komm her und hilf uns!«, brüllte Faolan, bewegte sich wieder in ihr Blickfeld und warf etwas - einen Stein? - nach ihren Angreifern. »Sei ein Mann!« Es gab keine Zeit, darüber nachzudenken, wie seltsam das war. Er hatte ihr den Augenblick Zeit gegeben, den sie - 612 brauchte, um aufzustehen und sich den Wölfen mit neuem Feuer zu stellen. Sie wartete, die Fackel vor sich, während sie auswichen und wieder neu Position bezogen. »Drustan!« Faolans Stimme war ein mächtiger Schrei tief aus dem Bauch. »Tu es! Mach schon! Komm her und hilf uns, oder wir sterben beide! Welchen Preis verlangst du für deine Skrupel, du Narr?« Und dann, o dann ... plötzlich erschien wie aus dem Nichts eine dritte Gestalt, fuhr herum, drehte sich, einen brennenden Ast in jeder Hand, und verblüffte das Wolfsrudel mit seinen raschen, fließenden Bewegungen zu staunendem Starren, ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann mit einer Mähne von Haar so wild und rot wie das Feuer, das er in seinen Händen hielt. Faolans Worte hatten ihn aus dem Nichts heraufbeschworen. Anas Herz hätte beinahe ausgesetzt, der Atem blieb ihr in der Kehle hängen. Drustan war hier. Er war zurückgekehrt, und ihre Welt war neu erstanden. Aber selbst er konnte die Tiere nicht lange aufhalten. Wieder begannen sie sie zu umkreisen, die Zähne gefletscht, die Stimmen ein drohendes Knurren. Mit drei Personen am Feuer war es jedoch viel schwieriger für die Wölfe, ein Ziel zu finden, zu täuschen und zuzuschlagen. Gegenüber diesem wirbelnden Feuer, den wechselnden Gestalten im flackernden Licht, zogen die Jäger sich zurück, einige schlichen den Hügel hinauf, um sich neben einem Felsvorsprung zu ducken, die anderen begaben sich in den Schutz der Kiefern, wo sie sich in einer langen Reihe ausstreckten und warteten. »Nimm ein neues Scheit.« Faolans Stimme war angespannt. Er war offenbar sowohl am Bein als auch an der Schulter verwundet. »Sie werden bald zurückkehren.« Er warf einen Blick zu Drustan, der ein Stück entfernt vornüber gebeugt stand und versuchte, zu Atem zu kommen. »Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er. - 613 Anas Herz war so voll, dass sie keinen Platz für Angst hatte. Es gab jetzt keine Zeit für Fragen: Wo war er gewesen? Woher hatte Faolan gewusst, dass er sich in der Nähe aufhielt? Drustan war am Leben, und er war hier. Nichts anderes zählte. Sie trat an seine Seite, und er richtete sich auf. Sie streckte die Hand aus, plötzlich seltsam schüchtern, und berührte seine Wange. Drustan zog ihre Finger an seine Lippen, nur einen Augenblick, dann ließ er sie los und trat zurück. Im unsicheren Feuerlicht war es nicht möglich, ihren Verdacht zu bestätigen, dass er errötete. »Mehr Holz«, fauchte Faolan. »Wir brauchen ein größeres Feuer. Wenn du irgendetwas finden kannst, das brennt, bring es her. Ana, bleib am Feuer, mach dich nicht zum Ziel.« »Ich möchte helfen.«
»Ruhe dich aus, solange du kannst, Ana«, sagte Drustan. Ihr Name auf seinen Lippen war der beste Balsam für ihr Herz. Sie sah ihn an und lächelte. Er verzog den Mund zu einer seltsam zögernden Reaktion, bevor er sich abwandte, um Faolan bei der Suche nach Brennholz zu helfen. Die beiden Männer konnten gemeinsam einen schweren Kiefernast zum Feuer ziehen, er würde lange brennen. Sie legten mehr kleinere Äste bereit, die sie als Fackeln nutzen konnten; dann räumten sie alle erdenklichen Hindernisse aus dem Bereich um das Feuer, damit keiner von ihnen stolpern und dadurch verwundbar wurde. Wölfe konzentrierten sich auf die Schwächsten; Ana wusste ohne jeden Zweifel, dass sie das war. »Jetzt warten wir«, sagte Faolan und kehrte zu ihr zurück. Er hatte eine Hand auf die Schulter gedrückt und versuchte, sein Hinken zu verbergen. »Faolan, du bist verwundet! Lass mich sehen ...« »Es ist nur ein Kratzer. Er wird mich nicht umbringen. Aber sie haben Blut gewittert. Das wird dafür sorgen, dass sie hier bleiben, bis es hell wird, Feuer oder nicht. Bleibt ein- 614 fach ruhig und aufmerksam. Nun, da unser Freund hier sich entschieden hat, uns mit seiner Gegenwart zu beglücken, haben wir die Chance, bis zum Morgen zu überleben.« Sein Verhalten war seltsam, beinahe beleidigend. »Du hast ihn selbst hergerufen«, sagte Ana. »Ich kann sie sehen«, murmelte Drustan. »Ana, ich will nicht, dass du versuchst zu kämpfen. Bleib hinter mir, ich werde dafür sorgen, dass sie dir nichts tun ...« »Gib ihr keine Befehle.« Faolans Stimme war kalt wie Stein. »Sie kann uns helfen, lass sie es tun.« Es wurde still. Ana spähte im Halbdunkel den Hügel hinab. Die schattenhaften Gestalten waren näher gekommen; sie konnte das rote Glitzern der Flammen in ihren Augen sehen. Die Angst kehrte zurück. Es war noch lange bis zum Morgen. »Bitte streitet euch nicht«, sagte sie leise und bückte sich, um einen weiteren Stock aus dem Feuer zu nehmen. Der Rudelführer stürzte knurrend vorwärts, und alles begann von vorn. Sie verlor jedes Gefühl für die Zeit. Es fühlte sich an wie endlos: überall nur Knurren und Winseln, dazu die Flüche und das Schreien der beiden Männer, ihre eigenen jämmerlichen Versuche, die Angreifer mit ihrer heiseren, atemlos gewordenen Stimme abzuschrecken. Das schwere, splittrige Gefühl des brennenden Stocks in ihrer Hand, die Hitze, die ihr Gesicht versengte, der Anblick von Drustan ganz in ihrer Nähe, eine Fackel in jeder Hand, die er nun hoch warf und wieder auffing in einer wirbelnden Vorstellung, die die Wölfe rings um ihn her zu betäuben schien. Von den dreien schien er am wenigsten gefährdet zu sein. Ana bewegte sich auf Faolans Seite des Feuers. Drei Wölfe griffen ihn immer wieder an, lange Schnauzen, gefletschte Zähne, sabbernde Zungen und angespannte, erwartungsvolle Körper. Faolan stand ungeschickt da, schonte ein Bein und bewegte seine Fackel mit beiden Händen vor sich her. Die Wölfe beobachteten ihn genau. Sie schienen den geeigneten Augenblick berechnen zu wollen. Ana stieß - 615 ihre eigene Fackel vorwärts, blinzelte gegen einen Funkenschauer. Der Rauch biss ihr in die Nase, ihre Augen brannten, sie konnte nicht mehr klar sehen. »Lasst ihn in Ruhe!«, schrie sie den Angreifern zu, »Verschwindet! Weg mit euch!«, und fegte den Feuerstock hin und her. Die Blicke der Wölfe wanderten zu ihr, konzentriert, nachdenklich und vollkommen mitleidlos. »Du solltest lieber tun, was er sagt«, Faolans Stimme war ein Keuchen. »Lass ihn dich verteidigen... beste Chance ...« »Du bist verwundet«, murmelte Ana, »du kannst kaum aufrecht stehen.« »Geh ... andere Seite ... Drustan ...« »Hör auf!«, fauchte sie. »Wir sind Freunde, oder? Gefährten. Also, mach weiter. Die Sonne muss irgendwann aufgehen.« Eine Weile sah es so aus, als könnten sie es vielleicht schaffen, als könnten sie weiterkämpfen, bis die Morgendämmerung sie rettete. Manchmal fielen die Wölfe zurück, und die Verteidiger am Feuer erhielten eine Chance, Luft zu holen, den großen Ast weiter ins Feuer zu schieben, eine neue Fackel zu packen. Aber diese kurzen Ruhezeiten wurden kürzer und weniger. Faolan musste sich mehr und mehr anstrengen, sein Atem war schwer, sein verwundetes Bein jedes Mal weniger stetig, wenn eine neue Welle von Angreifern auf sie zustürzte. Drustan sah müde aus, er war kreidebleich im Mondlicht, seine Augen wirkten eingesunken. Ana spürte die Erschöpfung in jeder Faser ihres Körpers. Es war anstrengend zu atmen, schwer aufzustehen, eine Prüfung, die Kraft aufzubringen, auch nur einen Ast aus dem Feuer zu ziehen. Hinter dem Kreis aus Licht, den ihr kleines Feuer warf, schien es jedes Mal, wenn sie hinsah, noch mehr Wölfe zu geben. Wurde der Himmel heller? Sie versuchte sich einzureden, dass sie eine Spur von wärmerer Farbe in dem Schiefergrau der Sommernacht bemerkte. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. - 616 Sie erwarteten einen weiteren Angriff, als der Regen zu fallen begann, der leichte Nieselregen, der selbst im Sommer ein- oder zweimal täglich auf diese Hügel niederging. Das Feuer fing an zu zischen. Im Wald wurden die Vögel ruhelos. Die Wölfe kamen wieder näher, eine hungrige, graue Flut. So zu sterben, würde wahrhaft grausam sein. Die Götter spielten ein seltsames Spiel mit ihnen. Warum hatten sie und Faolan das Wasser überlebt, warum war Drustan dem Griff seines Bruders entflohen, warum hatte man ihnen gestattet, einander zu
lieben, wenn sie nun doch blutig und unter Schmerzen sterben und keinen anderen Zweck erfüllen würden, als Futter für ein Tier darzustellen? »Das kann so nicht weitergehen«, murmelte Drustan und nahm eine neue Fackel aus dem Feuer. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.« »Wenn wir drei fliegen könnten«, sagte Faolan verbittert, als der Regen intensiver wurde, »gäbe es zweifellos eine. Aber da das nicht der Fall ist, müssen wir so gut weiterkämpfen, wie wir können.« Drustan sah ihn an. »Wir können nicht weitermachen, wenn das Feuer ausgeht«, sagte er. »Ich werde etwas anderes versuchen. Gib mir deinen Feuerstock.« »Was ...« Bevor Faolan mehr sagen konnte, hatte Drustan ihm den Feuerbrand aus der Hand gerissen und ging allein davon, hinunter auf den Wald zu, direkt in den Ring von Wölfen. »Nein!«, schrie Ana, wollte ihm folgen und wurde von Faolan am Arm zurückgerissen. »Tu das nicht«, zischte der Gäle. »Wenn er sich umbringen lassen will, gut, aber er wird dich nicht mitnehmen.« Sie konnte ihr eigenes wortloses Schluchzen hören, sie spürte Faolans festen Griff um ihren Arm, als sich die Wölfe auf allen Seiten zu bewegen begannen. Sie folgten dem rothaarigen Mann, als er auf die Bäume zuging und dabei geschickt mit dem Feuer jonglierte. Was hatte er vor? Er - 617 würde doch sicher nicht sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, damit sie und Faolan in Sicherheit wären, wie Deord es getan hatte? Was könnte einen Mann zu solch unglaublichem Mut veranlassen? Sie sahen, wie Drustans hoch gewachsene Gestalt beinahe mit dem Schatten der Kiefern verschwamm. Der Regen löschte das Lagerfeuer langsam, aber seine Fackeln brannten immer noch, während sie sich hoben und senkten, ihr Muster nun ein Rad, dann ein Netz, dann eine Blüte, verwirrend und seltsam. Die Wölfe hatten sich um ihn gesammelt; Ana konnte ihr Knurren hören, sie wartete darauf, dass der erste zusprang, die anderen folgten. Sie wartete darauf, dass der Mann, den sie liebte, vor ihren Augen zerrissen wurde. Wenn die Wölfe mit ihm fertig waren, konnten sie auch sie nehmen, sie würde nicht mehr leben wollen. Die Wölfe spürten, was geschah, bevor Ana es hörte oder sah. Das Knurren wurde zu einem dünnen Winseln, die Tiere drückten sich an den Boden, legten die Ohren an. Ein unheimliches Geräusch erklang aus dem Wald, ein gewaltiges Rascheln, als wollten die Bäume selbst sich aus dem Boden erheben und vorwärts marschieren. Einen Augenblick später kamen aus den dunklen Kiefern Vögel; ein großer, dichter Schwärm, mehr, als Ana je zuvor an einem Ort gesehen hatte, selbst wenn im Frühjahr die Gänse in das Feuchtgebiet bei Banmerren zurückkehrten. Sie waren eine wirbelnde Wolke, ein Chor schriller Stimmen, das gefährliche Fegen eines magischen Umhangs. Sie schössen dicht über die Köpfe der geduckten Wölfe, bildeten einen fließenden Kreis, in dessen Mitte der Mann mit dem Feuer in den Händen stand, der Mann, der irgendwie diese seltsame Armee aus Eulen und Schwalben, Braunellen und Zeisigen, Drosseln und Rotschwänzchen zu seiner Hilfe heraufbeschworen hatte. Faolan löste seinen Schraubstockgriff und legte den Arm um Anas Schulter, vielleicht, um sie zu trösten, vielleicht auch nur, damit er stehen bleiben konnte. Sie sah verblüfft - 618 zu, wie die Vögel noch einmal in ihrem Kreis umherfegten und dann wieder im tiefen Wald verschwanden. Dann kehrte Drustan vom Waldrand zurück, seine Fackeln qualmten im Regen. Von den Wölfen gab es keine Spur mehr. Ana schaute in die andere Richtung, den Hügel hinauf zu den Fels vorsprängen, wo sich mehrere von ihnen niedergelassen hatten. Auch dort rührte sich nichts mehr, die Stille war absolut. Und dann kamen so plötzlich, wie die Sonne aus aufreißenden Wolken späht, zwei kleine Gestalten aus der Nacht und landeten auf Anas Schultern: der Kreuzschnabel auf der einen, die Krähe auf der anderen Seite. Sie wartete auf den Falken, aber er erschien nicht, nur Drustan, der zu ihrem sterbenden Feuer zurückkehrte, mit Regentropfen auf dem rotbraunen Haar. Man sah seinen Bewegungen an, wie vollkommen erschöpft er war. »Sie sind weg«, murmelte er, und einen Augenblick später setzte er sich auf den Boden und schlug die Hände vors Gesicht. »Drustan! Bist du verletzt?« »Nein, Ana, ich brauche nur ein bisschen Zeit, das ist alles.« Der Regen ließ langsam nach, und der Kiefernast schwelte noch. Was sollte sie als Erstes tun: sich um Faolans Wunde kümmern, versuchen, das Feuer zu retten, wachsam bleiben, falls die Wölfe zurückkamen? Oder sollte sie beginnen, Drustan all die Fragen zu stellen, die sich in ihrem Kopf überschlugen, oder ihn einfach umarmen und ihm dafür danken, dass er ihnen das Leben gerettet hatte? »Das Feuer«, murmelte Faolan, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er nahm seinen Arm von ihren Schultern und versuchte, den Ast herumzudrehen, die glühenden Kohlen zu schüren, die im Regen zischelten. Ana hörte sein schmerzerfülltes Keuchen, als er sich hinhockte, das Feuerlicht fiel auf die Blutflecken auf seiner zerrissenen Kleidung. - 619 »Haben sie dich gebissen? Wie schlimm ist es? Wir sollten versuchen, die Wunden zu säubern und sie zu verbinden ...« »Es ist nichts.«
»Zeig es mir.« »Erst das Feuer«, sagte Faolan. »Wenn es ausgeht, werden sie zurückkehren.« Sie versuchten, das Herz ihres schwindenden Feuers vor dem schlimmsten Regen zu schützen. Nach kurzer Zeit stand Drustan auf und holte mehr Holz vom Hügel, vom Waldrand, wo es trockener war. Diesmal versuchte Ana nicht, ihn aufzuhalten, sondern sah ihm nur staunend hinterher. »Sie haben nicht einmal versucht ihn anzugreifen«, sagte sie. »Er kann gut mit Feuer umgehen, das muss ich ihm lassen.« In Faolans Tonfall lag eine säuerliche Note, sie konnte das nicht vollkommen der Tatsache zuschreiben, dass er Schmerzen hatte. »Du hast ihn gerufen«, sagte Ana. »Ich habe dich gehört. Du hast ihn gerufen, und plötzlich war er hier. Wie konnte das sein? Wo ist er hergekommen?« »Ich bin nicht derjenige, den du fragen solltest.« Faolan hatte sein Hosenbein aufgerollt und betrachtete die Wunde in dem schlechten Licht; an der Innenseite seines Oberschenkels war ein blauer Fleck zu sehen, zusammen mit einer Masse von trocknendem Blut. Ana wurde übel. Hundebisse waren stets gefährliche Wunden, selbst wenn man sauberes Wasser und Heilkräuter hatte. Oft drangen schlechte Körpersäfte in solche Wunden ein, und das Fieber, das sie begleitete, war häufig tödlich. Faolan musste ihre Miene gesehen haben. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt«, sagte er. »Denk nicht mehr daran. Es hat aufgehört zu bluten. Ich kann immer noch laufen. Sei froh, dass wir noch leben. Das war ziemlich knapp.« »Faolan?« »Hm?« - 620 »Wie hast du das gemeint, dass du nicht derjenige bist, den ich fragen soll? Du musst gewusst haben, dass er in der Nähe war, um ihn so zu rufen. Hast du mir etwas vorenthalten?« »Frag deinen kostbaren Drustan. Ich denke, du wirst feststellen, dass er nicht ganz ehrlich mit dir gewesen ist. Jetzt ist er hier, jetzt hast du, was du wolltest, und es ist Zeit, dass er dir die ganze Geschichte erzählt.« Das war seltsam, aber vielleicht nicht allzu sehr, es bedeutete nur, dass Faolan etwas über Drustan wusste, das er ihr bisher vorenthalten hatte. Ein seltsamer Verdacht kam ihr, einer, der ausgesprochen verblüffend und wunderbar war und vieles erklärte. Beide schwiegen, als Drustan in den schwächer werdenden Regen zurückkehrte. Der Mond leuchtete silbern auf seinen feuchten Locken. Er brachte einen großen Arm voll Bruchholz. »Er ist stark«, stellte Faolan fest. »Das wird nützlich sein.« »Du bist so zornig. Ich kann es beinahe spüren. Er hat uns gerade das Leben gerettet.« »Frag ihn nach der Wahrheit. Frag ihn, wo er war und warum er erst erschienen ist, als wir dem Tod gegenüberstanden. Frag ihn, ob es das ist, was ein Mann einer Frau antut, wenn er sie wirklich liebt.« Drustan kam näher, ließ seine Last fallen und bückte sich, um mit dem Feuer zu helfen. »Wir müssen dafür sorgen, dass es weiterbrennt«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen werden. Aber du hast keine warme Kleidung, Ana, und ihr beide seht aus, als wärt ihr halb verhungert und erschöpft. Hier ...« Er zog seine Tunika und das schöne Wollhemd aus, das er darunter trug, reichte Ana das Hemd und zog sich dann wieder die Tunika über den Kopf. »Zieh das an, bitte. Dein Kleid ist klatschnass. Du musst frieren. Ich fürchte, wir haben immer noch einen weiten Weg vor uns.« - 621 »Du kennst den Weg?«, fragte sie und spürte wieder diese seltsame Spannung zwischen ihnen, die zum Teil mit körperlicher Begierde zu tun hatte, die durch Hunger, Kälte und Schock nicht vollkommen gedämpft wurde, und zum Teil mit einer Art Widerstreben, einer Schüchternheit, die die Worte zurückhielt, die sie so gern ausgesprochen hätte. Zu sagen, was in ihrem Herzen war, was jeden Augenblick in ihrem Körper erwachte, schien gefährlich zu sein. Es war zu früh. »Ich kann euch zur Ostküste führen«, sagte Drustan. »Ich kann euch zu einer Stelle führen, wo zwei Flüsse sich treffen, und von dort aus wird es leicht sein, nach Süden zu Brideis Hof zu finden. Ich werde auch bald einen Unterschlupf für uns finden, gutes Essen und warme Kleidung. Hier oben gibt es leider nichts davon.« Ana schmiegte sich in das Hemd, das immer noch warm von seinem Körper war und lang genug, um sie beinahe bis zu dem ausgefransten abgeschnittenen Saum ihres Kleids zu bedecken. Sie blickte auf zu Drustan und er sah sie aus strahlenden Augen an, ernst und ein wenig misstrauisch. »Danke«, sagte sie, »das ist wunderbar. Und danke, dass du uns gerettet hast. Ich weiß nicht, wie du es getan hast, aber es ... es war wie Magie. Schön und geheimnisvoll.« »Du musst der Dame etwas erklären.« Faolan sah Drustan an. Drustan starrte ins Feuer. »Das werde ich morgen tun«, sagte er leise. »Aber es sollte an einem anderen Ort geschehen als hier, einem sicheren Ort im Sonnenschein, nachdem Ana sich ausgeruht und etwas gegessen hat. Ich werde es ihr sagen. Aber nicht heute Nacht. Noch nicht.« Er streckte die Hand aus, nahm Anas Hand und zog sie herunter, damit sie sich neben ihn ans Feuer setzte. Der Regen hatte aufgehört, und das Feuer wärmte ihre kalten Hände und ihr Gesicht. Ihnen gegenüber ließ sich Faolan ungeschickt nieder und streckte sein verwundetes Bein. Drustan legte den - 622 -
Arm um Anas Schultern. Sie spürte seine Berührung im ganzen Körper, sie, die so lange zu müde, traurig und hungrig gewesen war, sich etwas anderes zu wünschen als das magere Abendessen des nächsten Tages, den unbequemen Schlaf der nächsten Nacht. Das Blut rauschte ihr in die Wangen, sie legte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Drustan«, sagte Faolan, »ich muss dir sagen, dass Deord tot ist. Alpin hat ihn getötet. Er ist mutig gefallen.« Drustan nickte, als wüsste er das bereits. »Ein schwerer Verlust«, sagte er. »Er hatte ein Leben verdient, er verdiente die Freiheit, die er uns gewonnen hat.« Nach kurzer Zeit fragte Faolan: »Du sagst, du kannst uns nach Osten führen. Bedeutet das, dass du nicht mit uns zum Weißen Hügel kommen wirst?« »Das hängt von einigen Dingen ab.« Drustans Stimme war sehr leise geworden. »Wovon?« »Davon, was Ana möchte. Es hängt davon ab, was morgen geschieht.« Ana holte tief Luft. Die beiden Männer schienen versunken in einem geheimnisvollen Spiel, das sie nicht verstand. Ihr blieb nichts weiter, als offen und ehrlich zu sein. »Ich möchte, dass du mit uns kommst, Drustan«, sagte sie. »Ich möchte, dass du nie wieder weggehst.« Eine Welle von Spannung durchzuckte ihn, verblüffend in ihrer Intensität. Dann sagte er: »Wenn du das auch morgen noch sagst, wenn wir an unserem Feuer sitzen und zusehen, wie die Vögel sich zur Nacht niederlassen, dann werde ich dir sagen: Ja, ich werde dich nie verlassen, in meinem ganzen Leben nicht. Wenn du es nicht kannst, werde ich euch sicher auf den Weg nach Süden bringen und ins Träumende Tal zurückkehren und mich dort um mein Land kümmern. Nein ...«, sagte er, als sie zum Widerspruch ansetzte, »sag jetzt nichts mehr. Wir sind alle müde. Warten - 623 wir auf die Sonne, und dann sollten wir uns eine Zuflucht suchen. Einen Ort, wo uns die Wölfe nicht erreichen können.« Im Morgengrauen löschten sie ihr Feuer und marschierten weiter. Kreuzschnabel und Krähe begleiteten sie und schössen hin und wieder davon. Ana fragte nicht, wo der Falke war. Sie war sehr still geworden; Faolan fragte sich, was sie dachte und wie viel sie bereits erraten hatte. Sie gingen nicht weit. Nach dieser Nacht der Angst und des Kampfs waren sie alle müde. Faolans verletztes Bein war beunruhigend steif geworden, und es fiel ihm schwer zu gehen. Anas stolpernde Bewegungen sahen aus, als schliefe sie im Gehen ein. Sie folgten einem Bach, der durch den Wald rauschte, und dann machten sie Rast auf einer Lichtung, wo das Sonnenlicht durch Erlen- und Weidenzweige fiel. Faolans Knie wollte sich nicht beugen lassen, und als er schließlich doch saß, bemerkte er, dass die beiden anderen ihn anstarrten. »Es ist nichts«, fauchte er. »Dennoch«, sagte Drustan, »ein Verband mit Heilkräutern könnte dir helfen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. An diesem Bach dort gibt es wahrscheinlich ein paar nützliche Pflanzen, darunter auch einige, die gegen Fieber helfen.« »Das ist nicht nötig.« Faolan zuckte zusammen, als er nach hinten griff, um seinen Rucksack abzusetzen; seine Schulter war eine glühend schmerzende Masse. »Du brauchst die Kräuter jetzt gleich, Faolan«, sagte Ana. »Sei nicht dumm, indem du so tapfer tust. Lass dir von Drustan helfen.« »Weißt du, was gebraucht wird?« Faolan sah Drustan skeptisch an. »Ich kenne mich gut genug aus, um dir keinen Schaden zuzufügen, ja«, sagte Drustan lächelnd. »Ruh dich jetzt aus; - 624 ich bin bald wieder zurück. Wenn ich zurückkehre, werde ich eine Weile Wache halten. Von uns allen brauche ich am wenigsten Schlaf.« Er ging davon, seine Schritte auf dem Waldboden kaum hörbar. Ana und Faolan ließen sich so gut wie möglich nieder. Es sollte nicht schwer sein, wach zu bleiben, bis der Vogelmann zurückkehrte, dachte Faolan. Die Schmerzen genügten, um selbst den ruhigsten Mann nervös zu machen. Er lauschte Anas sanftem Atem, betrachtete ihre reglose Gestalt: Sie hatte den Kopf auf die Hände gestützt, die Augen geschlossen, die kleine Decke über sich gebreitet. Er schaute hinauf in die Baumwipfel, sah Krähe und Kreuzschnabel, die vollkommen still nebeneinander hockten. Einen Augenblick später war er eingeschlafen. Faolan erwachte von zudrückenden Händen an seinem Hals, ein Mann kniete über ihm und flüsterte heiser: »Stirb, Gäle!« Durch seine Benommenheit spürte er einen plötzlichen, leidenschaftlichen Drang, am Leben zu bleiben. Sein Herz klopfte laut und er versuchte sich umzudrehen, und brennende Schmerzen stachen in sein Knie. Er bockte und trat, während Alpins wütendes Gesicht über ihm klarer wurde und dann wieder verschwamm. Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, er war wegen des Fiebers nur langsam erwacht. Hinter Alpins verrückten Augen, dem verzerrten Mund sah er Bewegung: Ana war schweigend erwacht; sie kam auf die Knie hoch, die Augen entsetzt weit aufgerissen, dann packte sie ein Stück Bruchholz und hob es, um zuzuschlagen... Faolan ließ sich plötzlich schlaff werden, gegen alle Instinkte verdrehte er die Augen, dann schloss er die Lider.
Einen Augenblick später ließ sein Angreifer los, sprang auf und aus dem Weg von Anas behelfsmäßiger Waffe. »Oh, du wirst jetzt also gegen mich kämpfen?«, spottete Alpin und drehte sich zu ihr um. »Nun, dein Gäle ist erledigt und mein Bruder nirgendwo zu sehen, also sind wir allein, - 625 meine Liebe. Bei allen Göttern, darauf habe ich viel zu lange warten müssen...« Als sie den Ast wieder schwang, packte er das andere Ende und riss es ihr aus den Händen. Faolan hinter ihm tastete nach seinem Messer. Sein Knie würde sein Gewicht nicht tragen; er konnte nicht aufstehen, und er würde nicht kämpfen können. Sobald sich Alpin umdrehte und ihn sah, war er tot. Das Messer war in seinem Rucksack, nahe, so nahe ... Er konnte es nicht erreichen, ohne über den Boden zu kriechen und Lärm zu machen ... wenn Alpin ihn hörte, wenn Alpin ihn umbrachte, war Ana verloren. Lauf!, dachte er. Wehre dich nicht, lauf. Suche Drustan. Lauf weg. Sie lief. Aber sie war aus zu wenig Schlaf erwacht, war zu verängstigt, und sie stolperte. Einen Augenblick lang stand Alpin mit den Händen auf den Hüften da und lachte sie aus, dann machte er sich auf, sie zu verfolgen. Faolan rollte auf die Seite, streckte den Arm aus. Nur ein wenig weiter ... »Du!« Es war Drustans Stimme, vollkommen erstaunt, und Faolan, der endlich seine Finger um die Waffe schließen konnte, sah, wie Drustan zwischen Bäumen hervorkam, Kräuter in den Händen, einen Vogel auf jeder Schulter. Er starrte seinen Bruder an, als hätte ihn eine finstere Erleuchtung getroffen, als schaute er in einen Abgrund. In der Mitte der Lichtung hatte Alpin Ana erreicht, packte sie von hinten, ein Arm um ihre Taille, der andere um ihren Hals. »Nur eine Bewegung, Vogeljunge«, sagte er, »und ich werde sie zerbrechen.« »Du ...« Drustan war erstarrt, seine Miene die eines Sehers in Trance. »Es ist wie an diesem Tag am Nebelfall«, flüsterte er, »genau so ... laute, zornige Stimmen ... Erisa, die davonläuft... du verfolgst sie ... ich habe dich gesehen ...« Dann konzentrierte sich sein Blick plötzlich, seine Miene wurde wütend, sein Ton zu einem Kriegsschrei. »Bei allem, - 626 was heilig ist, es war eine Lüge! Du hast sie umgebracht. Ich habe dich gesehen. Lass Ana los! Lass sie sofort los, oder ich werde dich mit bloßen Händen erwürgen, Bruder oder nicht!« »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Alpin und machte ein paar Schritte zurück, Ana immer noch in seinen Armen. »Du wirst mich nicht umbringen, denn wenn ich sterbe, werde ich sie mitnehmen. Und was Erisa angeht, das wirst du nie beweisen können. Wer wird schon glauben, was ein Verrückter sagt, wenn ich das Gegenteil behaupte? Eine Illusion, das ist alles, was es war.« Drustan machte einen langsamen, entschlossenen Schritt auf Alpin zu, dann einen weiteren. Sein Blick war nun tödlich ruhig. Treib ihn auf mich zu, wollte Faolan ihn durch Gedanken zwingen, gib mir ein klares Ziel. »Du glaubst, ich würde es nicht tun?«, fragte Alpin. »So sehr will ich sie auch wieder nicht haben, kleiner Bruder. Nicht, nachdem ihr sie beide vor mir hattet. Wenn du noch einen Schritt näher kommst, werde ich einfach fester zupacken, etwa so ...« Drustan warf sich nach vorn, stürzte sich mit Händen, die wie Krallen ausgestreckt waren, auf Alpin. Ein Bruder sollte seinen Bruder nicht töten. Diese Schuld wog zu schwer auf dem Gewissen eines Mannes. Faolan warf sein Messer. Bevor Drustan Alpin auch nur berühren konnte, sackte der Fürst zusammen, die Waffe ragte aus seinem Rücken, und Ana war unter ihm eingeklemmt. Einen eisigen Augenblick lang befürchtete Faolan, sein Messer hätte auch sie erreicht. Dann rollte Drustan die schlaffe Gestalt seines Bruders von Ana herunter, und sie kam zitternd auf die Beine. Auf ihrem Gewand war ein roter Fleck. »Ich bin in Ordnung«, sagte sie, bevor einer der Männer sprechen konnte. »Ihr Götter... wie konnte er... er kam aus dem Nichts ...« Dann drückte sie sich die Hand auf den - 627 Mund, taumelte zum Rand der Lichtung und würgte ihren Mageninhalt ins Unterholz. »Ein sauberer Tod«, sagte Faolan, kam mühsam auf die Beine und hinkte mit brennendem Knie vorwärts. »Besser, als er verdient hat. Gnädiger, als er es Deord zugestanden hat. Ich muss mich bei euch beiden entschuldigen. Ich bin auf der Wache eingeschlafen. Das war unverzeihlich.« Alpins Augen waren offen. Selbst im Tod war ihr Unheil verkündendes Starren verstörend. Drustan kniete neben ihm nieder und schloss sie recht sanft. »Wir hätten ihn alle umgebracht«, sagte er. »Für Deord, für Ana, für Erisa ...« »Wie hast du das gemeint?« Ana war zurückgekehrt und wischte sich den Mund am Ärmel ab. Sie sah jämmerlich aus, war kreidebleich und hatte die Augen weit aufgerissen. »Das mit dem Nebelfall und Erisa? Erinnerst du dich endlich? Sagtest du, er sei verantwortlich?« »Er hat gelogen.« Drustan kniete immer noch an der Seite seines Bruders, als wäre er unsicher, was jetzt passieren sollte. »All diese Jahre hat er gelogen, um sich selbst zu retten. Als die beiden mich riefen«, er warf einen Blick zu den zwei Vögeln, »als ich zurückkam und sah, wie er hinter dir herrannte ... es war das Gleiche, genau das Gleiche ... sie hatten sich gestritten, sie lief vor ihm davon, er folgte ihr... und sie fiel. Er hatte nicht
vor, sie umzubringen. Selbst er hätte seinen ungeborenen Sohn nicht getötet. Es war ein Unfall. Aber es war seine Schuld. Seine, nicht meine ... Ihr Götter, mich jetzt zu erinnern, nach all diesen Jahren ... er hatte Recht. Wer wird mir glauben? Es gibt keine Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen.« »O doch«, sagte Ana. »Such diese alte Frau, Bela. Höre, was sie zu sagen hat. Jetzt, wo Alpin tot ist, wird sie es vielleicht aussprechen. Tu das, und die Leute werden dich zumindest anhören.« »Eine bemerkenswerte Geschichte«, sagte Faolan. »Ich bin traurig, dass Deord sie nicht hören konnte; er hat an - 628 dich geglaubt, Drustan. Er sagte, aus dir könnte ein großer Mann werden. Dieser Tod«, er berührte die Leiche mit der Stiefelspitze, »wird die Dinge für dich allerdings noch komplizierter machen.« »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Ana mit zitternder Stimme. »Gehen wir weiter? Kehren wir zurück?« Die beiden Männer sahen sie an. »Wir begraben ihn«, sagte Faolan. »Dann gehen wir weiter. Du und ich jedenfalls. Ihr könntet mich nicht einmal mit Gewalt an diesen Ort zurückzerren. Drustan muss seine eigene Entscheidung treffen.« »Ich werde euch mindestens bis zur Küste begleiten«, sagte Drustan. »Im Augenblick ändert sich daran nichts. In der Zukunft wird sich alles ändern. Es ist zu viel, um es jetzt zu begreifen.« Er hatte die leblose Hand seines Bruders ergriffen. Faolan sah in seiner Haltung gleichzeitig Liebe und Abscheu, Erleichterung und Qual. »Zu solchen Zeiten«, sagte Faolan, »ist praktische Arbeit sehr nützlich. Ich brauche diese Kräuter immer noch; mein Knie fühlt sich an, als würde es gleich aufbrechen. Ana weiß vielleicht, wie man eine Kräuterkompresse anlegt. Sie wurde immerhin von Weisen Frauen ausgebildet. Und wir beide müssen ein Grab ausheben. Und Ana muss sich ausruhen, bevor wir weiterziehen, in der Tat sollten wir das alle tun. Du möchtest vielleicht in paar Gebete sprechen, förmliche Abschiedsworte. Ich weiß nicht, ob du ein gläubiger Mann bist.« »Ich hätte ihn getötet«, sagte Drustan und stand auf. »Wenn du in diesem Augenblick nicht gehandelt hättest, hätte ich jetzt das Blut meines Bruders an meinen Händen.« Er sah Faolan mit seinen seltsamen leuchtenden Augen an. »Genau. Sei froh, dass ich auch das Handwerk eines Attentäters beherrsche«, sagte Faolan. »Ich hätte ihn ebenfalls getötet.« In Anas Stimme schwangen sowohl Entsetzen als auch ein gewisser Stolz mit. - 629 »Wenn ich ein wenig stärker gewesen wäre ... wir sind alle dafür verantwortlich. Ich denke, wir sollten ihn begraben, ein Gebet sprechen und uns auf den Weg machen. Wir können erzählen, dass wir seine Leiche im Wald gefunden haben. Die Menschen erleiden in diesem Teil des Landes häufig Unfälle.« Faolan war erstaunt darüber, wie kühl, wie geistesgegenwärtig sie war. »Diese Reise hat dich verändert«, sagte er. »Du schlägst vor, dass Drustan lügen soll?« »Nicht unbedingt«, sagte Ana und legte ihre Hand auf Drustans Schulter. »Aber es gibt Zeiten, in denen nicht die ganze Wahrheit ausgesprochen werden muss. Zeiten, in denen es das Beste ist, weiterzumachen und die Dinge loszulassen. Wenn Alpin diesem Rat gefolgt wäre, wäre er noch am Leben.« Sie schauderte. »Ihr glaubt doch nicht, dass er noch andere bei sich hatte? Einen Jagdtrupp, so weit entfernt von Dornwald?« »Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Faolan. »Aber wenn er seine Männer bei sich gehabt hätte, dann wären sie jetzt schon hier. Dennoch, wir sollten tun, was du gesagt hast. Wir sollten es am besten hinter uns bringen und weiterziehen.« Danach sprachen sie nur wenig. Drustan grub ein flaches Grab; Ana und Faolan sammelten Steine. Wenn Gebete über den Verstorbenen gesprochen wurden, dann geschah es schweigend. Dann ließ sich Faolan Kräuterverbände an Knie und Schulter anbringen. Drustan sagte, er würde später auch einen Trank brauen, der das Fieber senken und Faolan ein wenig Ruhe geben sollte. Aber nicht jetzt. Sie wollten nicht länger an diesem Ort bleiben. Sie gingen nur ein relativ kurzes Stück weiter. Es war Faolan klar, dass er sie aufhielt, und er biss die Zähne zusammen und tat sein Bestes, sich weiterzuschleppen, aber es gelang ihm nicht besonders gut. Als sie die andere Seite des Waldes erreichten, wo ein offenes Tal vor ihnen lag und Fel- 630 sen Schutz vor dem Wind boten, schlugen sie ihr Lager auf. Drustan machte ein Feuer und braute, wie er versprochen hatte, einen Kräutertrank, eine Flüssigkeit von bitterem Geschmack und schlammigem Aussehen. Er wartete neben Faolan, bis der Verletzte alles getrunken hatte. Während seine Müdigkeit größer wurde und sich mit dem schwindeligen, heißen Gefühl in seinem Kopf vermischte, fragte sich Faolan, wie Drustan sich wohl entscheiden würde: Würde er Ana hungern lassen oder seine andere Gestalt enthüllen, damit er jagen und sie versorgen konnte? Aber bevor er Gelegenheit hatte, das herauszufinden, war er auch schon eingeschlafen. Am nächsten Tag schien die Sonne, die Wolken verschwanden, und die Reisenden gingen ins Tal hinunter. Drustan schien unermüdlich. Die Kräuter hatten Faolans Unbehagen gemildert, und er konnte besser laufen. Dennoch hätte er an diesem Tag die Schmerzen beinahe willkommen geheißen, er konnte alles brauchen, was ihn von dem Anblick von Drustan und Ana zusammen ablenkte. Am Nachmittag erreichten sie ein geschütztes Seeufer, wo das Sonnenlicht auf die hellen Stämme und die glänzenden Blätter von Birken fiel und seine Wärme wie einen Segen über das silbrige Wasser ausbreitete. Mit jedem Schritt, den sie machten, kam es Faolan so vor, als vergrößerte sich der Abstand zwischen ihm und den beiden anderen, ein Abstand, der sich nicht in Schritten messen ließ, sondern in etwas weniger Fassbarem. Drustan und Ana bewegten sich in einer anderen Welt als er,
einer Welt, in der alles gut und freudig und leicht zu verstehen war. Sie sprachen nicht viel, sie gingen nicht Hand in Hand, sie umarmten einander nicht. Es waren nur sehr kleine Dinge, die es ihm sagten: das nicht ganz zufällige Berühren von Fingern, von Körpern, die Art, wie Drustans Hände an Anas Taille verharrten, als er ihr von einem steilen Felsen half. Die Farbe in - 631 ihren Wangen und das Strahlen in ihren Augen. Ihre versunkenen Blicke. Ein- oder zweimal gingen sie vor ihm, denn sein Bein verlangsamte ihn immer noch. Kreuzschnabel und Krähe blieben dicht bei ihm. Faolan fragte sich, ob Drustan diesen beiden aufgetragen hatte, auf ihn aufzupassen, da er ihn selbst nicht ständig im Auge behalten konnte. Es war gut so, musste Faolan zugeben. Trotz der finsteren Eifersucht, die Drustan in ihm erweckte, war es erheblich besser, die Hilfe des Mannes anzunehmen, als als Futter für die Wölfe zurückgelassen zu werden. Später an diesem Nachmittag gingen Drustan und Ana am Ufer entlang und suchten nach einem Lagerplatz, denn Drustan hatte vorgeschlagen, dass sie sich heute schon früher ausruhen sollten. Es war für ihn offensichtlich, dass Faolan nicht viel weiter kommen würde. Für Faolan war es bitter, nun das schwächste Glied zu sein. Er hoffte, dass seine Wunden schnell heilen würden. Er war immer noch Brideis Botschafter. Es war schlimm genug, zum Weißen Hügel zurückkehren und die Nachricht überbringen zu müssen, dass seine Mission in einer Katastrophe geendet hatte, und es wäre ihm lieber, bei dieser Gelegenheit nicht auch noch glühend vor Fieber in die Festung getragen zu werden und sein Überleben allein diesem seltsamen Vogelmann zu verdanken, diesem Geschöpf, das ihm Ana wegnahm, einen unvermeidbaren Schritt nach dem anderen. Nein, das war dumm. Sie hätte ihm nie gehören können. Er war Gäle. Er war ein Attentäter, ein Mann, dessen ganzes Leben von seiner Unauffälligkeit abhing. Er hatte seine Familie zerstört, er hatte alles zerstört, was ihm lieb war. Und er war ein Verwandter des Königs von Dalriada. Ob es ihm gefiel oder nicht, er war ein Ui Neill. Das bildete eine beeindruckende Liste von Gründen, nicht auf die Weise an sie zu denken, wie er es tat. Leider interessierte sich sein Herz nicht für Logik. Das Herz flüsterte, dass er - 632 diesen Stein hätte werfen sollen, als er noch Gelegenheit hatte. Faolan bog um ein Birkengehölz und sah die beiden am Wasser, dicht nebeneinander, aber ohne sich zu berühren. Beide hatten die Stiefel ausgezogen, standen bis zu den Knöcheln im Wasser und wuschen sich die müden Füße. Sie hatten miteinander gesprochen, aber als er näher kam, schwiegen sie. Er versuchte, so wenig wie möglich zu hinken. »Sieh nur, Faolan«, sagte Ana lächelnd, »auf der anderen Seite des Sees dort drüben - dort steigt Rauch auf. Drustan glaubt, dass es dort eine kleine Siedlung gibt. Wir werden deine Wunden heilen und unter einem richtigen Dach schlafen können. Es ist so lange her, dass ich mich kaum erinnern kann, wie sich das anfühlt. Geht es dir gut? Tut es sehr weh?« Er schüttelte den Kopf und beobachtete staunend, wie sie sich verändert hatte. Sie war immer noch hager und müde, aber ihre Miene sprach von solchem Glück, und in ihren Augen stand wieder der alte gelassene Ausdruck. Selbst ihre Haltung war anders, ihr Rücken gerade, die Schultern nicht mehr gebogen. Es war Drustan, der diese Magie gewirkt hatte, Drustan, der jetzt an ihrer Seite stand, mit leicht geröteten Wangen und mit dem gleichen stillen Strahlen in seiner ganzen Haltung. »Wir sollten uns hier eine Weile ausruhen«, sagte Drustan. »Du musst das Gewicht von diesem Bein nehmen. Ich glaube, ich habe weiter oben ein paar Haselnüsse gesehen; wir könnten eine Mahlzeit zubereiten.« »Solange sie auch für Menschen essbar sind und nicht nur für Vögel.« »Sie sind für Menschen essbar, Faolan. Würde ich denn versuchen, dich zu vergiften? Du bist Anas Freund gewesen, ihr Hüter, ihr Lebensretter. Ohne dich wären wir beide nicht zusammen. Du bist für mich wie ein Bruder.« - 633 Faolan wusste nicht, was er sagen sollte. Das Gewicht von Dubhäns Tod, von Alpins Tod und eines Lebens voller Möglichkeiten hing zwischen ihnen und ließ ihn schweigen. Er warf einen Blick zu Ana, die sich ins Gras am Seeufer gesetzt hatte, mit dem rot gefiederten Kreuzschnabel auf der Hand. Sie streichelte den Kopf des Vogels mit einem Finger und pfiff leise. Ihr kurz geschnittenes Haar leuchtete trotz allen Mangels an Pflege im Nachmittagslicht wie dunkles Gold. Sie saß im Schneidersitz da, und ihre hellen, nackten Füße schauten unter dem langen Hemd hervor, das Drustan ihr gegeben hatte. Ihre Wangen waren rosig, ihre Wimpern schirmten ihre Augen ab, als sie die Aufmerksamkeit nur dem kleinen Vogel zuwandte. Etwas veränderte sich in Faolan. Er erkannte, dass Anas Glück ihm wichtiger war als alles andere. Sie liebte Drustan, oder zumindest liebte sie den Mann, für den sie ihn hielt. Sie hatte wieder Hoffnung auf eine schöne Zukunft: diese mutige, gelassene, schöne Frau, die sein eigenes Herz gefangen hatte, bevor sie nach Dornwald gekommen und in diese seltsame Geschichte von Bruder gegen Bruder verwickelt worden waren. Er hatte kurz davor gestanden, Drustan wieder herauszufordern, denn der Tag war fortgeschritten, die Sonne schien, und sie würden bald eine Unterkunft finden. Die Worte hatten auf seinen Lippen gelegen: Sag ihr jetzt die Wahrheit. Er konnte sie nicht aussprechen. Er konnte ihr neu gefundenes Glück nicht zerstören. Wie würde er es ertragen können zu sehen, wie dieses kleine Lächeln verging, die rosigen Wangen wieder blass wurden, die stolzen Schultern verzweifelt nach unten sackten?
»Ich gehe Nüsse suchen«, sagte Drustan zerstreut. Die Krähe flog auf seine Schulter, als er auf den Hain zuging. Ana schaute ihm hinterher, und ihr ganzes Herz stand in ihren Augen. Für kurze Zeit gab es keinen Laut außer den Rufen der Vögel und weit in der Ferne dem herausfordernden Röhren eines Hirschs hoch oben am Hügel, auf der an- 634 deren Seite des Sees. Es war eine beunruhigende Mahnung, wie weit die Jahreszeit bereits fortgeschritten war; hatten sie tatsächlich den ganzen Rest des Sommers in diesen endlosen Hügeln verbracht? »Faolan«, sagte Ana leise, »er hat es mir erzählt.« Er starrte sie an. »Er hat mir die Wahrheit gesagt. Über die ... die Veränderungen ... dass er die ganze Zeit bei uns war, seit dem Wasserfall, und dass er die Gestalt wechseln kann. Irgendwie wusste ich es bereits. Der Falke hatte seine Augen. Die Wahrheit hatte sich schon eine Weile an mich angeschlichen.« Sie betrachtete stirnrunzelnd den kleinen Vogel auf ihrer Hand. »Ich kann einfach nicht glauben, was Alpin getan hat; das war so grausam und so böse. Seinen Bruder für seine eigene Missetat einzusperren, diese Lüge aufrechtzuerhalten, Drustan glauben zu lassen, dass er schuldig war... und am schlimmsten, eine solche Fähigkeit, ein Geschenk der Götter, Wahnsinn zu nennen ... das kann ich nicht verstehen. Zu Hause auf den Hellen Inseln würde man so etwas für selten und wunderbar halten, wie die Veränderungen, für die Druiden viele, viele Jahre lernen müssen, nur so viel mächtiger und so natürlich ... es gab vor langer Zeit andere in seiner Familie mit ähnlichem Talent, das hat er mir erzählt ... wusstest du, dass Drustan es zum ersten Mal getan hat, als er erst sieben Jahre alt war?« »Du akzeptierst es so einfach? Du bist nicht ...« Seine Worte verklangen. Es war klar, dass sie weder schockiert noch verängstigt war. Es war klar, dass es sie kein bisschen interessierte, ob ihre Kinder eine seltsame Mischung aus Vogel und Mensch sein würden und vielleicht lieber davonfliegen würden, um sich eine fette Maus zum Fressen zu suchen, als sich von ihren Kinderfrauen und Lehrern unterrichten zu lassen. Sie würde nie aufhören, ihn zu überraschen. - 635 »Warum lächelst du, Faolan?« »Das ist ein Lied wert, das kann ich ganz sicher sagen.« »Schreib keine Lieder über mich, ehe ich nicht einen Kamm, heißes Wasser und etwas anderes als Lumpen zum Anziehen habe«, sagte Ana grinsend. »Du bist perfekt, wie du bist«, sagte er leise. »Aber ich werde keine Lieder schreiben, meine Tage als Barde liegen hinter mir.« Dieses Lied würde nur tief in ihm erklingen, in den verborgenen Nischen seines Herzens, gleichzeitig in größter Freude und tiefstem Schmerz. Niemand außer ihm würde seine süßen Liebesworte vernehmen. Niemand außer ihm würde weinen, wenn diese Geschichte von Liebe, Schweigen und Verlust erklang. Und genau so sollte es sein. »Ich wünsche dir Glück, Ana«, sagte er. Sie sagte nichts, und kurz darauf kehrte Drustan mit einem großen Blatt zurück, auf das er eine kleine Ernte von Nüssen gehäuft hatte. Faolan fiel plötzlich ein, dass der andere Mann ihn und Ana vielleicht allein gelassen hatte, damit sie über diese Sache sprechen konnten. Er schluckte herunter, wie sehr es ihn ärgerte, dass er nun auch noch Taktgefühl zu Drustans Tugenden hinzufügen musste. »Warum bist du immer wieder weggeflogen?« Er musste diese Frage stellen, nun, da das Geheimnis gelüftet war. »Warum hast du uns allein gelassen? Und warum hast du so lange gebraucht, um uns zu finden, nachdem wir aus Dornwald geflohen waren? Deord war allein da draußen und kämpfte gegen einen ganzen Jagdtrupp.« »Hätte es ihm geholfen, wenn ich an seiner Seite gewesen wäre?«, fragte Drustan ernst. Faolan war verpflichtet, ehrlich zu antworten. »Nach meiner Ansicht nicht. Ihr wärt beide umgebracht worden. Er hätte nicht gewollt, dass einer von uns dabei war. Aber ich hätte angenommen, dass du ihm helfen würdest.« »Ich konnte ihm nicht helfen. Die Veränderung der Gestalt ist für mich nicht immer einfach. Ich war verzweifelt - 636 und verwirrt, wollte gehen, hatte Angst zu gehen, wollte unbedingt mit Ana Zusammensein und hatte schreckliche Angst davor, was ich vielleicht tun würde, wenn ich frei wäre. In dieser anderen Gestalt ist auch mein Geist verändert. Ich sehe, höre oder denke nicht genau wie ein Mensch. Manchmal erinnere ich mich nicht einmal mehr. So war es, als Erisa starb. Ich war in meiner anderen Gestalt. Ich sah sie, aber sobald ich wieder zum Menschen wurde, war die Erinnerung verschwunden. Bis gestern. Also habe ich, nachdem ihr weg wart, eine Entscheidung getroffen: Ich habe mich entschieden, zu Ana zu gehen und nicht zu Deord. Das ist es, was er gewollt hätte. Am Ende war ich es, der seinen Tod bewirkte.« »Wir alle hatten einen Anteil daran«, sagte Faolan finster. »Und die anderen Male?« Drustan räusperte sich, er wirkte nervös. Faolan verspürte seltsamerweise Mitgefühl. »Ich kann die eine oder andere Gestalt nicht zu lange aufrechterhalten, ohne ... ohne dass ich unruhig werde. Es bedrückt mich. Dies Bedürfnis, die Gestalt zu ändern, wird immer intensiver und muss befriedigt werden.« »Wirst du gewalttätig?« »Faolan!«, protestierte Ana. »Es ist schon gut; du musst es ohnehin erfahren«, sagte Drustan. »Du musst alles über mich wissen. Gewalttätig ... nur, wenn man mich einsperrt und mich davon abhält, zu tun, was Körper und Geist von mir verlangen. Alpins
Gefängnis war eine besondere Art der Folter für mich; er wusste, wie solche Gefangenschaft mich quälte. Deord hat mich gerettet. Er verstand mein Bedürfnis, frei zu fliegen. Aber es gab lange Zeiten, in denen wir nicht nach draußen gehen konnten. Er beschäftigte mich, sorgte dafür, dass ich mich bewegte. Manchmal hat es nicht genügt.« »Hast du ihn je angegriffen? Oder andere?« »Ein- oder zweimal wäre es gegenüber meinem Bruder - 637 beinahe dazu gekommen. Daher die Fesseln. Aber die Regel ist, dass ich, wenn ich zu solchen Zeiten eingesperrt werde, nur mich selbst verletze und keinen anderen.« »Wie war es vorher?« Anas Ton war sanft. »Bevor Alpin dich eingesperrt hat?« »Im Träumenden Tal kam und ging ich, wie es mir gefiel. Es ist mein eigenes Haus, meine Leute kennen mich. Ich konnte mich frei von einer Gestalt in die andere bewegen. Ich habe mir beigebracht, die Sprache der Menschen auch dann zu verstehen, wenn ich in der anderen Welt wandele. Einige Fähigkeiten habe ich in der Gefangenschaft verloren, aber ich gewinne sie rasch zurück. Ich hatte Angst, dir die Wahrheit zu sagen, Ana.« Er lächelte sie schüchtern an. »Ich habe dich falsch eingeschätzt. Wenn es also an der Zeit war, dass ich wieder ein Mensch sein musste, bin ich davongeflogen. Es gab keine Möglichkeit, euch mitzuteilen, dass ich zurückkehren würde.« Ana nahm Drustans Hand. »Ich denke wir werden alle Tage von hier bis zum Weißen Hügel brauchen«, sagte sie, »um die richtigen Worte zu finden, um diese Geschichte am Hof zu erzählen.« - 638 KAPITEL SECHZEHN Strategen sagen, wenn bei der Sicherung eines Ziels nicht mehr als einer von drei Kriegern umkommt, kann man "en Kampf als Erfolg betrachten. Bridei und Fokel verloren n dem endgültigen Entscheidungskampf um Galanys Höhe weniger als das. Die uralte Fahne von Galany wurde wieder und diesmal dauerhaft über der Siedlung gehisst; auf dem spitzen Hügel, auf dem einmal ein großer, gemeißelter Stein gestanden hatte, um diese Region als Land der Priteni zu kennzeichnen, vollzogen sie eine Dankeszeremonie für den Flammenhüter. Am Abend betete Bridei allein und schwelend, und der Mann, der seine Einsamkeit bewachte, war Elpin, der aus Broichans Haushalt kam. Bridei hatte Uven ein wenig Ruhe gönnen wollen, Zeit, die dieser nicht mehr ganz junge Krieger mit den anderen Männern verbringen würde, um mit ihnen über die Dinge zu sprechen, die sie an diesem Tag erlebt und gesehen hatten, um um Freunde zu trauern, die gestorben waren, und um die seltsame Mischung aus Trauer, Zorn und Prahlerei, aus Entschlossenheit, Mut und Unsicherheit zu erleben, zu der es bei solchen Gelegenheiten immer kam. Was Breth anging, so würde er seinen König und Freund nie wieder bewachen. Einer von dreien ... jeder Mann hätte Opfer eines schnellen Pfeils, eines zustoßenden Schwertes, eines beharrlichen Speers sein können. Bridei hatte sei- 639 nen scharfäugigen Bogenschützen irgendwo in der Mitte des blutigen Durcheinanders vor den Palisaden von Galanys Höhe verloren und ihn schlaff und mit weit offenen Augen dort wieder gefunden, nachdem die Knochenmutter das Feld gefegt und die Geister der gefallenen Söhne Fortrius davongetragen hatte. Bridei hatte Breth gekannt, seit er ein Kind gewesen war, und dieses Kind hatte einmal bewusst einen BogenschützenWettbewerb verloren, damit der Krieger seinen Stolz vor den zuschauenden Männern wahren konnte. Einer von dreien, ein Sieg. Es fühlte sich nicht so an. Nicht einmal, nachdem Galany wieder sicher in Fokels Händen lag. Nachdem er gebetet hatte, schickte Bridei Elpin davon und setzte sich eine Weile mit Hargest zusammen, den er einige Zeit zuvor hatte rufen lassen. Er wusste, er musste bald wieder in die Siedlung zurückkehren, Worte der Kraft und der Hoffnung für seine Armee finden und schnelle Entscheidungen treffen: Wer würde bleiben, um das neu eroberte Territorium zu sichern, wer würde weiter zum nächsten Ziel marschieren? Er musste entscheiden, wie man am besten mit den gälischen Gefangenen umging, mit den Frauen und Kindern und alten Männern. Er würde es tun. Aber noch nicht jetzt. »Es tut mir Leid, Herr«, sagte Hargest leise. Sie saßen zusammen bei den Ebereschen, oben auf dem Hügel, auf dem einmal der Stein der Magier gestanden hatte, am Tag würde man von hier ins Tal hinabschauen können, auf die Siedlung, das Feld, auf dem die toten Galen immer noch lagen, und das helle Wasser des Königssees, der sich nicht allzu weit entfernt nach Westen bis zum Meer zog. »Das mit Breth, meine ich.« »Hm.« Bridei dachte daran, wie jung Hargest war, viel jünger, als er selbst gewesen war, als er seine ersten Erfahrungen mit dem Krieg machte, hier, auf dem gleichen Schlachtfeld. - 640 »Man hat mir erzählt, dass du dich heute tapfer geschlagen hast. Du hast mehr getan, als du musstest.« Hargest schwieg. »Es ist ein finsteres Geschäft«, sagte Bridei. »Es sind Galen. Sie haben verdient zu sterben. Mein Herz schlug stärker bei jedem, den ich töten konnte.« Bridei sah ihn fragend an. »Wir müssen tun, was wir können, um unsere Existenz zu sichern, das ist wahr«, sagte er schließlich. »Ich bezweifle, dass du es, wenn du älter bist, weiterhin so in Schwarz und Weiß sehen wirst.« Es
wäre so viel einfacher, wenn man denken könnte, wie es dieser Junge tat, es würde die Schmerzen verringern. Er selbst war nie so sicher gewesen. Fragen, was richtig und falsch, was gerecht und ungerecht war, hatten ihn gequält, seit er zum ersten Mal einem Feind gegenüberstand. Er bezweifelte nicht die Richtigkeit dieses Auftrags, den die Götter ihm erteilt hatten: Er musste die Galen aus dem Land der Priteni vertreiben. Es war der Tod eines jeden Mannes, sei er nun aus Fortriu oder Dalriada, das Wissen um diese Verluste, das ihn belastete. Breth war ein guter Mann gewesen, loyal, ehrlich, ein treuer Freund. Aber wer konnte schon sagen, dass der Tod dieses Kriegers, der Bridei so lieb gewesen war, wichtiger oder unwichtiger war als der dieses jungen Galen mit dem Speer im Bauch oder jenes bärtigen Bogenschützen, der zu Fokels Leuten gehörte? Nur weil ein Mann nicht die uralten Götter der Priteni liebte, nur weil sein Vater an einem anderen Ort als Fortriu zur Welt gekommen war, war sein Tod kein geringeres Opfer. Bridei dachte an Faolan und wusste in seinem Herzen, dass ein guter Mann ein guter Mann war, wo immer er herkam, woran er auch glauben mochte und was sein Beruf war. »Herr?« Hargest betrachtete ihn forschend und runzelte die Stirn ein wenig. »Woran denkst du gerade? Du wirkst... zerstreut.« »Gefährliche Gedanken, Hargest. Ich muss sie von mir - 641 schieben, bis der Feldzug zu Ende ist. Was ist mit dir? Hat dich das, was du heute gesehen hast, nicht beunruhigt? Es ist ein großer Schritt vom Hüter von Umbrigs Pferden zu einem Krieger in der ersten Angriffslinie.« »Beunruhigt? Nein, Herr. Krieg ist Krieg. Menschen sterben.« Bridei nickte. »Ich habe dir etwas zu sagen, und obwohl es mir zu früh vorkommt, werde ich es jetzt tun, bevor wir wieder nach unten gehen und von Männern umgeben sind, die tausend Fragen habe. Du bist ein mutiger Junge und sehr tüchtig. Ich habe Breth verloren und ich trauere um ihn, aber wie du es so schlicht ausgedrückt hast, Menschen sterben. Wir ziehen nun in einen viel größeren Kampf, und meine erfahrenen Männer werden mittendrin sein wollen; sie werden nicht begeistert darüber sein, wenn von ihnen verlangt wird, die Sicherheit des Königs über ihre Möglichkeiten zu stellen, dem Feind im Kampf zu begegnen.« Hargest saß still da und wartete. »Ich kann dir Breths Stellung nicht anbieten«, sagte Bridei schlicht, denn der strahlende, erwartungsvolle Blick des Jungen war beunruhigend. »Du magst die Fähigkeiten haben, aber es fehlt dir an Erfahrung.« Er fügte nicht hinzu, dass es außerdem immer noch zu früh war, einem jungen Mann zu trauen, der sich gerade erst dem König seiner Wahl angeschlossen hatte und der unter den Männern für seine aufbrausende Art bekannt war. »Ich habe vor, Breths Pflichten unter den Männern aus Pitnochie aufzuteilen. Aber wir werden einen mehr brauchen, oder sie werden nicht genug Schlaf bekommen. Ich möchte, dass du dich ihnen anschließt. Keine Einzelwachen; wie du weißt, arbeiten sie in Paaren. Deine Hilfe wird es mir gestatten, ihnen hin und wieder Gelegenheit zu geben, sich aufs Kämpfen zu konzentrieren, ohne mich dabei dauernd im Auge behalten zu müssen. Würdest du das tun, Hargest?« »Ja, Herr.« Der Junge strahlte. Ein Blick auf ihn, und jeder - 642 Möchtegern-Attentäter würde es sich sicher noch einmal überlegen. »Komm«, sagte Bridei. »Wir haben heute Abend zu tun. Ein weiterer Marsch liegt vor uns, und ein weiterer Kampf. Du übernimmst zusammen mit Enfret die erste Schicht.« »Ja, Herr.« Hargests Stimme war belegt von Emotionen, wenn es auch nicht die Zweifel, die Angst und die Nervosität nach einem Kampf waren, sondern Erwartung, Entschlossenheit und eine Spur von Stolz, die beinahe selbstgefällig klang. »Du wirst es nicht bedauern, Herr.« »Wir werden sehen«, sagte Bridei. Fünfzehn Jahre alt. War es dumm von ihm, dem Jungen eine solche Verantwortung anzuvertrauen? Hargest war naiv, er war ungeduldig, er musste noch viel über Menschen und über das, was sie antrieb, lernen. Aber er war im Herzen ein guter Junge. Er brauchte nur jemanden, der ihn anleitete, der auf ihn aufpasste, bis sein kindliches Urteilsvermögen sein männliches Aussehen einholte. Trotz Hargests Ungeschicklichkeit im Umgang mit anderen und seiner mangelnden Empfindsamkeit mochte Bridei den Jungen. Auf dem Spiralweg, der sie den Hügel hinabführte, musste Bridei wieder an Faolan denken, einen Mann, der so viel schmächtiger war als dieser kräftige Junge und der so viel mehr zu bieten hatte, Faolan, dem man alles sagen konnte und der genau wusste, wann er seine einzigartigen offenen Ratschläge geben oder einfach schweigend zuhören sollte. Faolan, der inzwischen beinahe wie ein Bruder für ihn war. Faolan, ein Gäle. Ein Rätsel. Er musste solche Überlegungen beiseite schieben, bis der Frieden gewonnen war. Donal, sein alter Freund und Lehrer, hatte ihm einmal gesagt, ein Krieger könne sich nicht leisten, den Feind als Menschen zu betrachten, oder er würde nie eine Schlacht gewinnen. Im Augenblick des Kampfes musste man sich in eine kalte, tödliche Kampfmaschine verwandeln. Man musste sich, zumindest bis der Krieg vorüber war, einreden können, dass - 643 es ein gutes Ergebnis darstellte, einen Mann von dreien zu verlieren. Die Götter mochten ihm das, was geschehen würde, verzeihen; er glaubte nicht, dass er sich je selbst verzeihen könnte. Tuala hatte geplant, nur so lange in Banmerren zu bleiben, bis sie sicher war, dass Broichan das Anwesen nicht wieder verlassen würde, bevor Fola und ihre Frauen auch nur anfangen konnten, ihm zu helfen. Der Druide
machte kein Geheimnis aus seinen Zweifeln, dass die Weisen Frauen ihn heilen konnten; er hatte es selbst nicht tun können, wie sollten sie also dazu in der Lage sein? Tuala hatte sich darauf berufen müssen, dass sowohl Derelei als auch Bridei von ihm erwarteten, dass er alles tat, was er konnte, bevor der Druide schließlich mit großem Widerstreben erklärte, er sei bereit, es zu versuchen. Ferada hatte ihre Besucher großzügig aufgenommen und sie in den Räumen untergebracht, die für die im Herbst eintreffenden Schülerinnen vorbereitet waren, schlichte, helle Räume mit Fenstern zum frisch bepflanzten Garten. Aber Tuala wusste, dass Ferada die Tage zählte, bis sie das Haus wieder für sich hatte. Garvan würde bald weiterziehen, denn seine Arbeit in Banmerren war so gut wie beendet, und im Süden erwartete ihn ein neuer Auftrag. Ferada sagte nichts darüber, ebenso wenig wie der Steinmetz, aber Tuala konnte ihr Schweigen lesen. Sie ließ Garth und Elda wissen, dass sie in einem oder zwei Tagen nach Hause zurückkehren würden. Es wäre gut, wieder am Weißen Hügel zu sein, wo sie sich in Brideis Abwesenheit um die Dinge kümmern konnte. Banmerren war voller Erinnerungen schöner und schrecklicher Art; im weiten Wipfel der großen Eiche schienen stets flüsternde Stimmen zu erklingen. Sie eilte sich auch jetzt, an dem Baum vorbeizukommen, und versuchte, nicht hinzuhören. Broichan und Fola saßen in einem fensterlosen Zimmer, - 644 einem Raum, der nur von Lampen beleuchtet wurde, selbst wenn die Sonne hoch am Himmel stand. An den Wänden befanden sich Steinsimse, auf denen Fola das Material und die Werkzeuge ihres Handwerks ordentlich aufgereiht hatte. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Gegenstand, der unter einem dicken Tuch aus schwarz gefärbter Wolle verborgen war. Der Krug daneben verriet Tuala, um was es sich handelte und was die beiden planten, und sie machte einen Schritt zurück. »Tuala«, sagte Fola, »bitte komm herein. Wir müssen mit dir sprechen, Broichan und ich. Wir werden dich nicht zu irgendetwas zwingen, wir verstehen, wieso du dich entschieden hast, den Blick nicht mehr anzuwenden. Das Tuch wird über der Schale bleiben, bis du es anders willst.« Tuala betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Zu wissen, was sich unter dem schwarzen Tuch befand, machte sie nervös. Selbst durch die dicke Abdeckung rief die Schale mit dem Wasser nach ihr, erfüllte sie mit der Sehnsucht nach Wissen. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, den Blick selbst von Regenpfützen abzuwenden und nicht mehr am See spazieren zu gehen. Ihre Begabung als Seherin war so mächtig, dass es mehr Qual als Segen darstellte. Um eine Stille zu füllen, die vor Gefahr nur so zu knistern schien, sagte sie: »Ich habe vor, in einem oder zwei Tagen aufzubrechen. Ich muss zum Weißen Hügel zurückkehren. Es gibt so viel zu tun ...« »Könntest du dir vorstellen, Derelei eine Weile hier zu lassen?« Broichans Stimme war leise, er sah müde aus, die Falten waren seinem Gesicht tief eingeprägt. Tuala hatte nicht daran gedacht, was ihr Aufbruch für den Druiden bedeuten würde. »Derelei muss bei mir bleiben«, sagte sie. »Er ist immer noch sehr klein, seine Lektionen können doch sicher warten, bis es dir besser geht.« Es geschah selten, dass Broichan anderen gestattete, über - 645 seine Maske strenger Ruhe hinwegzusehen. Nun sah er plötzlich aus, als hätte man ihm etwas genommen. »Das Kind ist doch entwöhnt, oder?«, warf Fola ein. »Du könntest ihn mit dem Kindermädchen hier lassen. Wenn du dich um seine Sicherheit sorgst, könnten sie alle bleiben, auch Garth und seine Frau.« »Und Ferada hätte drei kleine Jungen im Haus, wenn ihre ersten Schülerinnen eintreffen?« Tuala gelang ein Lächeln, aber sie empfand tiefstes Unbehagen. Was hatten sie für Derelei gesehen, diese beiden weisen Visionäre? »Er ist in Gefahr, nicht wahr?«, brach es nun doch aus ihr heraus. »Ihr habt etwas gesehen. Sagt es mir!« Broichan seufzte. »Ich habe dir von einer Vision erzählt, einer mächtigen, verstörenden. Aber ich beherrsche den Spiegel nicht mehr so, wie es einmal war. Dieser Augenblick der Klarheit war nur eine helle Blüte in einem Feld toter Halme. Ich sehe Fragmente, Augenblicke, flüchtig und undurchdringlich.« Tuala schaute Fola an. »Leider hat mir die Leuchtende in der letzten Zeit ebenfalls nicht gegeben, was ich brauche«, sagte die Weise Frau. »Sie hat einen Schleier vor ihr Gesicht gezogen und mich im Schatten gelassen. Tuala, wir beiden alten Freunde haben über das eingeschränkte Wissen gesprochen, das die Götter uns gewährten. Was wir gesehen haben, beunruhigt uns zutiefst. Wir ahnen Schlimmes. Aber wir können nichts unternehmen, ehe der Blick uns nicht mehr Antworten gewährt, als wir bisher erhalten konnten.« Tuala musste sich zwingen nachzuhaken. »Wenn ihr Gefahr für Derelei gesehen habt, müsst ihr es mir sagen. Ich kann mehr Wachen aufstellen, ich kann ...« Folas Miene brachte die Flut der Worte zum Stillstand. »Broichan bittet nur darum, dass Derelei hier bleiben soll, weil er es nicht ertragen kann, das Kind gehen zu lassen«, sagte die Weise Frau. »Broichan wird schneller gesund wer- 646 den, wenn Derelei in der Nähe ist und er ihn weiter unterrichten kann. Aber du bist die Mutter des Kindes, du musst entscheiden. Es ist nicht Derelei, um den wir uns Sorgen machen. Es ist Bridei.«
Eine kalte Hand schloss sich um Tualas Herz. »Sagt es mir«, forderte sie. »Wie ich schon erklärte«, fuhr Fola fort, »sind die Bilder vage und unzusammenhängend. Broichan und ich glauben seit einiger Zeit, dass ein Schatten über Bridei schwebt, eine Gefahr, die über die üblichen Gefahren des Krieges hinausgeht. Weil wir nicht deuten können, was wir sehen, können wir nicht darüber hinausgehen. Ich sah eine riesige Wildkatze, die ihn verfolgt, Broichan sah einen seltsamen Raubvogel, der auf ihn herabstieß. In einer anderen Vision sah ich Ana mit einer brennenden Fackel in der Hand, die ein Rudel Wölfe abwehrte.« »Was?« »Sehr unwahrscheinlich und eher die Art von Phantasie, die eine junge Schülerin des Handwerks glaubt, im Wasser zu sehen, als ein Bild, das diese alten Augen erwartet hätten. Wenn ich hinzufüge, dass sie ein sehr kurzes Gewand trug und ein seltsam schöner junger Mann an ihrer Seite stand, wirst du mir zweifellos sagen, dass ich meine zweite Kindheit erreicht habe. Aber genau das habe ich gesehen.« Alle schwiegen einen Augenblick. »Wenn wir herausfinden, um welche Gefahr es sich handelt«, sagte Broichan, »haben wir zumindest eine Möglichkeit einzuschreiten. Du weißt, wie es ist, Tuala. Wie beide haben schon einmal gehandelt, um ihn zu retten.« Sie nickte. Es war das einzige Mal in all den Jahren gewesen, in denen Tuala in Broichans Haus in Pitnochie aufwuchs, dass sie zu einer Art Übereinkunft gekommen waren. »Ihr wollt, dass ich es wieder tue.« Sie hörte die Angst in ihrer eigenen Stimme, und die Sehnsucht. - 647 »Es wird hier vollkommen sicher sein«, sagte Fola. »Du befindest dich in einer sicheren Zuflucht, hinter verschlossenen Türen, bei alten Freunden. Bei mächtigen alten Freunden. Außerhalb dieser Mauern wird nie jemand darüber sprechen, und wenn wir es Aniel oder Tharan sagen müssen, wenn wir einen Boten schicken müssen, werden wir behaupten, dass es Broichans Vision war. Du hast seit dem Tag, als Bridei nach Pitnochie ritt, um dich zurückzuholen, nicht mehr versucht, den Blick zu nutzen. Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, an dem du es wieder tun musst.« Tuala nickte. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich sah, dass er in Gefahr war«, sagte sie. »Bevor er aufbrach, als Broichan die Birkenstäbchen warf: Sieg oder Tod, das waren die Möglichkeiten. Ich habe es ihm erklärt. Er hat sich entschieden, dennoch zu gehen.« »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Broichans Stimme war ein schockiertes Flüstern. Tuala sah ihn an. »Es war nicht nötig, dass wir uns beide vor Sorge das Herz zerreißen«, sagte sie. »Was die Stäbchen sagten, war ähnlich wie eure Visionen, fragmentarisch und unklar. Bridei wird besonders vorsichtig sein. Er wird dafür sorgen, dass seine Leibwächter noch wachsamer sind. Ich konnte ihm nicht sagen, worin die Gefahr bestand, woher sie kommen würde oder wann. Es gab nichts, was wir hätten tun können.« »Ich hätte mit ihm gehen sollen«, murmelte Broichan. »Nein«, sagte Tuala sanft. »Du bist am besten hier bei Derelei und bei mir aufgehoben.« Sie holte tief Luft. »Also gut, ich werde es tun. Nur dieses eine Mal. Es ist so lange her, seit ich es versucht habe, und ich werde vielleicht nicht mehr Erfolg haben als ihr beiden, aber ...« Sie nahm das Tuch von der Schale, in der sich bereits sauberes Wasser befand. Es schien noch dunkler im Raum zu werden, aber das Gefäß selbst war mit Licht erfüllt, mit Farbe, mit einer wirren Menge von Bildern. Tuala beugte sich darüber. - 648 Die Vision verschlang sie sofort. Sie bemerkte kaum mehr, dass Fola und Broichan näher kamen, sich an den Tisch stellten und jeweils eine ihrer Hände ergriffen, um einen Kreis um die Kupferschale zu bilden. Folas Hand war klein, warm und entspannt, Broichans schlanke, lange Finger waren kalt, die Knöchel mager, aber sein Griff fühlte sich beruhigend fest an. Im Wasser sah Tuala ihn in jüngerer Gestalt, einen dunkelhaarigen Druiden in den besten Jahren, der tief in den Wald ging, den Eichenstab in der Hand, den Blick wie in Trance in die Ferne gerichtet. Tuala war nicht sicher, ob es sich bei dem, was sie dort sah, um eine geistige Reise handelte, die während einer langen Meditation stattfand, oder ob sich Broichan tatsächlich einmal so in den Wald begeben hatte. Sie erkannte den Schauplatz. Es war eine Stelle oberhalb von Pitnochie, nahe dem Wasserfall. Der Frühling hatte gerade erst begonnen, frische grüne Blätter sprossen aus den Birkenzweigen, aber die großen Eichenknospen schwollen immer noch und warteten auf die Berührung wärmerer Tage. Das Licht fiel schräg zwischen die Bäume, warf helle Flecken auf das weiße Gewand des Druiden und ließ sein dunkles, geflochtenes Haar glänzen. Ein weißes Gewand. Wann hatte Broichan jemals Weiß getragen? Es musste die Zeit der FrühlingsTagundnachtgleiche sein, und der Druide war wohl auf dem Weg zu seiner dreitägigen einsamen Wache unter Sonne und Sternen, zu seinem geheimen Ritual der Tagundnachtgleiche. Broichan hatte dies jedes Jahr getan. Worum es bei diesem Ritual genau ging, wussten nur Druiden. Entbehrung, Fasten, Kasteiungen - all das würde vermutlich Teil des einsamen Ritus sein. Aber in dieser Vision war Broichan nicht allein. Hinter den Buchen, halb verborgen im Muster von Licht und Schatten, beobachtete ihn jemand. Tuala bemerkte ein helles Gewand, eine zarte weiße Hand, wehendes dunkles Haar; es gab ein Schimmern, eine Bewegung der Luft. Der Druide er- 649 starrte plötzlich und lauschte, aber einen Augenblick später ging er weiter, und als er auf dem Weg unter den
Bäumen verschwand, folgte ihm jemand, klein und schlank, aber von fraulicher Gestalt, mit Locken so schwarz wie Ruß und Augen so groß und hell, als schiene die Sonne tief in einen Waldteich. Eine Person, die Tuala selbst beunruhigend ähnlich sah. Bevor Tuala Gelegenheit hatte zu blinzeln, von einer Deutung dessen, was man ihr gerade gezeigt hatte, nicht zu reden, traten andere Bilder an die Stelle des ersten. Die Schale war plötzlich voll mit sich bewegenden Männern, mit Zustechen und Zuschlagen, Abwehren und Ducken, mit zu Schmerzensschreien oder primitiver Herausforderung aufgerissenen Mündern, mit Schwertern, Speeren und Keulen, flinken Pfeilen und tödlichen Messern. Es war eine große Schlacht, das Muster veränderte sich ununterbrochen, eine wirbelnde, launische, verschlingende Flut, und selbst der fähigste Stratege in Fortriu hätte Schwierigkeiten gehabt zu sagen, welchen Befehlen die Männer folgten oder welche dieser beiden Armeen die Oberhand hatte. Tuala bezweifelte nicht, dass sie den Höhepunkt von Brideis Feldzug vor Augen hatte, einen gewaltigen Kampf von entscheidender strategischer Wichtigkeit. Sie hatte die Göttin gebeten, ihr ein wahres Bild zu zeigen und ihr deutlich zu machen, worin die Gefahr für Bridei bestand. Erfahrung . sagte ihr, dass die Leuchtende ihr entweder zeigen würde, was sie wissen musste, oder überhaupt nichts. Hier und da tauchten vertraute Gesichter im Durcheinander auf: Uven mit verbundenem Arm, Carnach zu Pferd, der Befehle gab, Talorgen, der mit beiden Händen ein großes Schwert schwang und Blut auf der Tunika hatte. Enfret war verwundet, und Cinioch versuchte, ihn in den Schutz eines kleinen Hains zu zerren. Der Kampf tobte entlang des Ufers eines breiten, flachen Bachs, viele Krieger standen bis - 650 zu den Knien im Wasser. Tuala sah, wie zumindest einer getötet wurde, weil sein Gegner ihn in den Bach drückte. Das Wasser färbte sich rot. Die Krieger kämpften auf einem Teppich gefallener Kameraden. Später würde es große Scheiterhaufen geben. Tuala murmelte leise: »Knochenmutter, nimm sie bei den Händen. Gewähre ihnen Frieden«, obwohl sie nicht wissen konnte, ob das, was sie sah, bereits geschehen war oder gerade jetzt geschah. Vielleicht lag es auch noch in der Zukunft. Endlich sah sie Bridei und hielt den Atem an. Er lag am Boden und war verwundet, vielleicht starb er bereits. Der Konflikt ging rings um ihn her weiter, aber es gab dort, wo er lag, ein wenig Platz, als wäre der König von Fortriu unbemerkt gefallen und drohte mitten auf dem Schlachtfeld zu sterben, damit die Göttin ihn ebenso mitnahm wie jeden anderen Kämpfer. Bridei war allerdings nicht ganz allein. Ein junger Mann, der wie ein Caitt aussah, ein sehr großer, kräftiger junger Mann mit durchdringenden hellblauen Augen, kniete neben ihm, einen Arm hinter Brideis Schultern. Sein Leibwächter, der ihm aufhelfen wollte oder der ihn im Arm hielt, als er starb. Es war schwer, sich zu erinnern, dass dies nur eine Vision war, gleichzeitig mehr und weniger als die schlichte Wahrheit. Tuala wusste, sie musste atmen, sie musste sich konzentrieren. Sie durfte Bridei nicht aus den Augen verlieren. Das Wasser schien zu wirbeln, und plötzlich sah Tuala die beiden von der anderen Seite. Bridei war kreidebleich, er drückte die Hände auf die Brust, und der junge Mann versuchte, die verkrampften Finger zu lösen, er versuchte, die Wunde des Königs zu überprüfen, er war ... Tuala wurde kalt. Der Junge hatte ein Messer in der Hand, und die Spitze dieses Messers war auf Brideis Brust gerichtet. Der Leibwächter half dem König nicht, er wollte ihn töten. Bridei hatte die Finger um die Handgelenke des anderen gekrallt; er war bleich, seine Züge vor Anstrengung verzerrt, ein - 651 Mann, der gegen seinen sicheren Tod ankämpfte. Sobald sein Griff schwächer wurde, würde das Messer in sein Herz dringen. Tuala keuchte entsetzt, und das Bild im Wasser begann sich aufzulösen und zu verschwinden. »Nein ...«, flüsterte sie. »Noch nicht...«, und sie versuchte verzweifelt, sich auf etwas zu konzentrieren, das ihr das Wann, Wo und Wer mitteilen würde, Antworten, ohne die es keine Möglichkeit geben würde, Bridei zu retten. Eine Gruppe von Bäumen, weit entfernt ein paar Hügel, ein Umhang, ein Banner, die Farbe von Augen, von Haar ... dann war die Wasseroberfläche wieder glatt, und die Vision war verschwunden. Die anderen ließen Tualas Hände los. Ohne ein Wort zog Broichan das dunkle Tuch über die Schale. Fola stellte einen Hocker hinter Tuala und half ihr, sich hinzusetzen. Broichan stellte einen Becher Wasser vor sie. Dann warteten sie. Alle waren in diesem Handwerk erfahren und wussten, dass es keinen Sinn hatte, eine Seherin zu drängen, selbst wenn das Wissen, das sie weitergeben musste, außerordentlich bedeutsam war. Tuala konnte nicht aufhören zu zittern. Einen Augenblick später erzählte sie alles, nicht den ersten Teil mit Broichan, denn der konnte warten, sondern das, was sie von Kampf, Blut und Mord gesehen hatte. Sie zwang sich, sich so genau wie möglich an die Szene zu erinnern, denn wenn sie herausfinden konnten, wo sie stattfand, würde ihnen das vielleicht ermöglichen, den Zeitraum einzuengen. Was den Mann anging, der ihrem Mann ein Messer ans Herz hielt, den Jungen mit den seltsam hellen Augen, die sein Opfer kaum zu sehen schienen, so würde sie ihn den Rest ihres Lebens nicht vergessen. »Er sah aus wie ein Leibwächter«, sagte sie. »Er trug eine Tunika in den königlichen Farben, wie es Breth, Garth und Faolan tun, wenn sie an Brideis Seite in den Kampf reiten. Es schien ... es schien, als wäre er jemand, dem Bridei ver- 652 -
traute. Das würde erklären, wie er ihm so nahe kommen konnte. Und dann...« »Du sagtest, dieser junge Mann sei ein Caitt? Einer von Umbrigs Leuten?« »Er sah so aus. Er war noch sehr jung, aber kräftig gebaut. Er sah sehr stark aus. Bridei hat gewaltige Willenskraft, aber ich glaube nicht, dass er ...« »Was du gesehen hast, könnte noch weit in der Zukunft liegen«, sagte Fola leise. »Es ist noch zu früh, dass Brideis Streitmacht in einem so großen Kampf stehen könnte. Hast du nicht gesagt, dass Talorgen dort war? Dann wird es tatsächlich noch ein wenig dauern, denn Talorgen wird sich vom Meer aus nähern. Bridei muss zunächst Galanys Höhe und eine andere Siedlung im Süden einnehmen. Ich glaube, wir haben noch ein wenig Zeit.« »Wenn sie ihn töten«, sagte Tuala und fühlte sich, als läge ein schwerer Stein in ihrem Bauch, »wird die Armee ihre Zuversicht verlieren. Carnach ist ein fähiger Anführer, ebenso wie Talorgen und die anderen. Aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass keiner von ihnen Brideis Platz einnehmen kann. Er ist das Schwert von Fortriu. Er ist ihre Hoffnung und ihre Inspiration. Sie vertrauen ihm. Sie würden für ihn direkt in das klaffende Maul des Todes reiten.« »Also«, sagte Broichan, »haben wir es mit einem Feind zu tun, der entweder sehr intuitiv ist oder Informationen erhalten hat, die er gut nutzt. Jemand ist zu dem Schluss gekommen, dass der einfachste Weg, die Priteni zu besiegen, darin besteht, ihren Anführer zu entfernen. Jemand hat erkannt, was Bridei darstellt. Ein Caitt, sagst du. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Umbrig zulässt, dass sich ein Verräter in seine Reihen einschleicht. Der Mann weiß, was er tut. Ein Leibwächter. Bridei würde doch sicher zu einem solch kritischen Zeitpunkt keinen neuen Mann erproben. Ich frage mich, wo Breth war?« Keine der Frauen sagte etwas dazu, denn die wahr- 653 scheinlichste Erklärung war eine, die niemand aussprechen wollte. »Können wir ihn rechtzeitig erreichen?« Tualas Gedanken überschlugen sich, suchten nach Möglichkeiten. Es war ein langer Weg das Tal entlang, und dieses Schlachtfeld schien sich weit hinter dem Königssee zu befinden. Sie glaubte, in der Ferne ein großes Gewässer erspäht zu haben, vielleicht das Meer im Westen. Die Szene in der Vision passte nicht zu dem, was Bridei ihr von Galanys Höhe erzählt hatte, wo sie als Erstes auf den Feind stoßen würden. »Ich weiß, dass man nicht leicht dorthin reiten oder gehen kann und dass es schwierig sein könnte, sie zu finden. Und gefährlich. Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.« Sie warf Broichan einen Blick zu. »Verflucht sei diese Schwäche!«, sagte der Druide verbittert. »Es gab Zeiten, in denen ich die Reise innerhalb eines Tages hätte zurücklegen können, auf Wegen, die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind. Ich hätte Veränderungszauber benutzen können. Nun bin ich nur noch eine machtlose Hülse dessen, was ich einmal war. Ich kann nicht einmal daran denken, Tuala, ich bezweifle, dass ich je wieder solche Fähigkeit nutzen kann. Und Uist ist leider nicht mehr unter uns. In unserer Bruderschaft waren wir die Einzigen, die zu solchen Reisen fähig waren, wenn man einmal von dem absah, der es uns beigebracht hat, und der ist schon lange von uns gegangen.« »Fola?« Die Weise Frau spreizte hilflos die Finger. »Ich mag für ein altes Weib recht schnell sein, aber nicht so schnell. Gewöhnliches Gehen ist das Beste, was ich zu Stande bringe, und ich habe nicht das Ohr der wilden Tiere wie einige. Wenn wir Uists Stute hätten, wäre das eine Lösung. Aber Gischt ist verschwunden, als der alte Mann uns verließ. Wo immer sie hingegangen ist, wir können sie nicht rufen.« »Tuala«, sagte Broichan, »verfügst du über irgendeine - 654 Möglichkeit, die du jetzt benutzen könntest und von der wir nichts wissen? Eine, die über die Fähigkeiten gewöhnlicher Menschen hinausgeht? Die schnellste Botschaft, die Aniel oder Tharan schicken könnten, würde Bridei nicht rechtzeitig erreichen, es sei denn, diese Schlacht kommt viel später zu Stande, als wir glauben. Wir müssen sofort handeln. Wenn du eine andere Lösung weißt, hoffe ich, dass du es uns sagen wirst.« Tuala schluckte. »Ich hatte nicht vor, darüber zu sprechen«, sagte sie, »aber ich sehe, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Ich hatte ... Besucher ... als ich jünger war. Es waren zwei, Volk von hinter der Grenze, ein Mädchen und ein Junge. Sie kamen häufig, aber nicht, weil ich es wollte. Sie spielten ein gefährliches Spiel mit uns, mit mir und Bridei; an diesem Abend in Pitnochie, als Bridei und Faolan mich aus dem Wald heimbrachten, sind wir beiden dem Tod sehr nahe gekommen. Wir haben später darüber gesprochen. Wir glauben, dass es vielleicht darum ging, unsere Kraft zu prüfen: seine Eignung, König zu sein, und meine, an seiner Seite zu stehen. Ich nehme an, wir haben die Prüfung bestanden.« Broichan schwieg und sah sie nur an, seine dunklen Augen undurchschaubar. Nach einer Weile sagte Fola: »Und jetzt? Besuchen sie dich immer noch? Würden sie dir helfen, wenn du sie bittest?« Tuala spürte, wie sie Lippen zu einem bitteren Lächeln verzog. »Sie haben nie zuvor getan, was ich wollte. Ich glaube, sie sind eher Freunde als Feinde, soweit die von ihrer Art ein Konzept wie das der Freundschaft überhaupt begreifen können. Aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Manchmal höre ich Flüstern, wie zum Beispiel draußen aus der alten Eiche, als ich vorbeiging. Aber vielleicht hat mich auch nur meine Erinnerung getäuscht.« »Sie kommen nicht mehr zu dir, sagst du.« Broichan sprach beinahe zögernd. »Aber sie besuchen Derelei.«
- 655 Tuala nickte. Es fiel ihr schwer zu sprechen. »Ja, das denke ich jedenfalls. Er versucht, ihre Namen zu sagen. Aber woher weißt du davon?« »Meine Fähigkeit zu beobachten ist noch nicht so abgestumpft, dass ich nicht erkennen könnte, was eindeutig eine Hälfte eines Gesprächs ist, selbst wenn der Sprecher die Sprache noch nicht ganz beherrscht. Diese unsichtbaren Präsenzen, mit denen dein Sohn redet, sind also keine eingebildeten Freunde, sondern echte. Zumindest hoffe ich sehr, dass es sich um Freunde handelt.« »Er sollte vor ihren grausamen Streichen geschützt werden.« »Sie haben vielleicht die besten Absichten für ihn, wie sie es offenbar auch für dich und Bridei hatten. Ich habe bereits angefangen, ihm Sicherheitsmaßnahmen beizubringen. Die vom Guten Volk sind nicht an die Art der Menschen gewöhnt. Ihre Ziele bleiben uns oft verborgen. Häufig jedoch handeln sie im Auftrag höherer Mächte. Die Leuchtende wird zweifellos noch etwas mit Dereleis Zukunft zu tun haben.« Tuala sah ihn an und dachte an die Visionen, die sie gesehen, aber nicht erwähnt hatte. Irgendwo in ihrem Hinterkopf erwachte eine Idee, eine verrückte Idee, die sie aber nicht vollkommen abtun konnte. Vielleicht hatte die Göttin mehr Anteil an den Dingen genommen, als ihr je klar gewesen war. »Ich kann sie nicht rufen«, sagte sie. »Sie kommen nur, wann es ihnen paßt, und nicht, wenn ich es will.« Sie erinnerte sich an den schrecklichen Heimweg im Winter nach Pitnochie, den sie ganz allein zurückgelegt hatte, eine Flucht, deren Ende sie für immer aus der sterblichen Welt gebracht hätte, und Bridei wäre zurückgeblieben. Wie hatten Weide und Geißblatt sie je überreden können, auch nur daran zu denken? »Aber ich kann es versuchen.« »Dann versuche es«, sagte Fola leise. »Denn es sieht so aus, als wäre Bridei verloren - und der Krieg mit ihm -, - 656 wenn du diese seltsamen Boten nicht durchs Tal schicken kannst, um ihn rechtzeitig zu warnen.« Während der Sommer in den Herbst überging und die Bäume des Großen Tals sich scharlachrot und golden, bräunlich und gelb verfärbten, fegten die Armeen der Priteni weiter nach Süden, und auf ihrem Weg verbanden sie sich und verschmolzen zu einer einzigen, gewaltigen Streitmacht. Bridei hatte strenge Regeln für das Verhalten im Kampf und danach erlassen. Er wollte nicht, dass der Sieg zu einer Orgie von Brennen, Plündern und Vergewaltigen führte und nur verkohlte Ruinen blieben, wo es vor der Ankunft der Galen einmal blühende Priteni-Bauernhöfe, wohlhabende Fischerdörfer und gut geschützte Außenposten gegeben hatte. Er hatte in fünf Jahren seiner Herrschaft klar gemacht, was er von einem Krieger erwartete, und jeder seiner Unterführer war verpflichtet, diese Regeln an seine Leute weiterzugeben. Man konnte nicht unbedingt mit makellosem Gehorsam rechnen, aber jene, die gegen die Regeln verstießen, wussten, dass sie bestraft würden. Das sorgte für einen ordentlichen Vorstoß, und den Besiegten erleichterte es den Schmerz der Niederlage. Wo immer Bridei vorbeizog, ließ er Männer zurück, die Ruhe und Ordnung aufrechterhielten, Männer, die seine Regeln verstanden und stark genug waren, ihre Einhaltung durchzusetzen. Dann drängten sie weiter. Elpin fiel im Kampf an einem Ort namens Zwei Flüsse. In der gleichen Schlacht erhielt Uven eine tiefe Messerwunde in den linken Arm, die er fest verband und ignorierte, um weiter mit seinen Kameraden reiten zu können. Er konnte immer noch mit den Pferden und der Ausrüstung helfen. Aber er würde den König nicht mehr bewachen und eine Weile auch nicht mehr kämpfen können. Es wurde klar, dass die sorgfältig geplante Strategie ihnen zu einem verblüffenden Erfolg verhalf. Die Galen waren - 657 nicht auf einen so frühen Angriff der Armee von Fortriu vorbereitet gewesen, nicht auf das Ausmaß und die komplizierte Durchführung, und sie retteten sich hinter Mauern und Palisaden, sobald die Nachrichten sich ausbreiteten, aber es war zu spät, mächtige Hilfe von der anderen Seite des Meeres herbeizurufen, zu spät, sich an nördliche Fürsten wie Alpin von Dornwald zu wenden, zu spät, um jede kleine Siedlung, jeden Außenposten, jede ländliche Festung zu retten, die dem disziplinierten Vormarsch von Brideis vereinten Streitkräften zum Opfer fiel. Die Krieger von Dalriada starben zu Hunderten. Manchmal ergaben sie sich, und wenn das geschah, ließ Bridei den Galen die Wahl: Sie konnten sich der Autorität seiner eigenen Fürsten und der Herrschaft des Throns von Fortriu unterwerfen, in ihren Siedlungen bleiben und weiter in Frieden leben. Die Alternative bestand in Tod für die Männer und Exil für die Frauen und Kinder jenseits der Grenzen der Länder der Priteni. Er hatte nicht vorgehabt, so großzügig zu sein, und es wurde klar, dass es sowohl die besiegten Galen als auch die siegreichen Priteni überraschte. Dass die Götter dies von ihm verlangten, hatte Bridei begriffen, als sie in die Siedlung Zwei Flüsse eindrangen, die am Weg nach Süden zur gälischen Festung von Dunadd lag. Ohne sie würde das westliche Land sein Herz verlieren. Es gab einen Mann in Zwei Flüsse, dessen Leben die Priteni verschont hatten, denn er war kein Kämpfer, sondern er sah aus wie ein Schreiber oder Lehrer und trug ein langes Gewand und keine Waffen. Als die Menschen der Siedlung sich für die förmliche Übergabe des Ortes sammelten, sah Bridei, wie dieser Mann eine Frau und Kinder dicht an sich zog, als wolle er ihnen allen Schutz bieten, den er ihnen gegen die überwältigende Flut der Armee von Fortriu geben konnte. Er sah, dass der Mann zwar die breiten Züge und das rötliche Haar so vieler Galen hatte, seine Frau aber zier- 658 -
lieh und dunkel war, eine Frau von Priteni-Blut. Der neugierige Blick des kleinen Mädchens, das noch nichts vom Tod wusste, traf die hoch gewachsenen Fremden, die mit dem Strahlen der Eroberung auf den strengen Gesichtern in ihr Zuhause einmarschierten. Sie ähnelte ihrem Vater, eine rosige, rothaarige Gälin, ihr Bruder, älter und misstrauischer, war schlank und dunkel wie die meisten Söhne des Flammenhüters. Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Mannes; er hielt die Hand des Jungen, hatte den anderen Arm um die Tochter gelegt und beugte sich zu ihr, um tröstliche Worte in ihre hellen Locken zu murmeln. In diesem Augenblick flüsterten die Götter Bridei zu, dass er einen Kompromiss finden musste. Wenn er alle Galen aus dem Land fegte, würde er solche Gemeinden zerstören, Mütter von Söhnen, Männern von Frauen trennen und dieses Land zu einer Zeit des Chaos und der Unsicherheit verurteilen. Die Galen hatten sich vor drei Generationen hier angesiedelt, sie waren inzwischen mit den Priteni beinahe zu einem Volk verwachsen. Er musste seinen Plan abändern, und zwar sofort. Also verschonte er jene, die Frieden schließen wollten, ließ ihnen aber deutlich machen, dass jedem Versuch zu einem Aufstand mit Eisen begegnet würde. In jeder Gemeinde blieb ein kleiner Trupp Bewaffneter zurück, und die Bewohner erhielten die Versicherung, dass sie, sobald Gabhran Dalriada aufgegeben hatte, ihr altes Leben wieder aufnehmen könnten. Nur eines würde sich verändern: jede Region würde von einem Fürsten aus Fortriu beherrscht werden. Bridei sagte ihnen nicht, dass es keine öffentliche Pflege der christlichen Religion mehr geben durfte. Dazu würde noch Zeit genug sein, wenn der letzte Kampf gewonnen war. Also zogen sie weiter, und am Abend der Herbst-Tagundnachtgleiche befanden sie sich im Herzland von Dalriada. Sie hatten erfahren, dass Gabhran mit der ihm ver- 659 bliebenen Streitmacht die Festung in Dunadd verlassen hatte und nach Norden zog, um sich Bridei auf offenem Feld entgegenzustellen. Vielleicht sah der gälische König bereits, dass das Schwert von Fortriu ihn früher oder später niedermähen würde, geschärft von der bis ins Mark reichenden Sicherheit, im Auftrag der Götter zu handeln. Vielleicht war Gabhran tatsächlich dumm genug zu glauben, dass er sie immer noch besiegen konnte, dass sie in seine Domäne eingedrungen waren, wie kleine Fische in ein Netz schwimmen, und er ihnen nur den Rückweg versperren musste, um den Fang einholen zu können. Bridei traf sich mit seinen Anführern zu der vielleicht letzten gemeinsamen Beratung vor der Entscheidungsschlacht. Rings umher hatten ihre vereinten Streitkräfte ein Lager aufgeschlagen und ruhten sich in Vorbereitung auf den Morgen aus. Sie hatten das fruchtbare Tiefland nahe der Küste im Südwesten erreicht, jeder Fürst hatte seine eigene Geschichte über die Reise dorthin zu erzählen, über die gewonnenen Schlachten, die Männer, die man zurückgelassen hatte, die eigenen eilig begraben, die Feinde aufgeschichtet und verbrannt oder Krähen und Möwen überlassen. Talorgen hatte vom Meer aus angegriffen und die Küstenfestung auf der Donncha-Landzunge auf diese Weise überrascht. Er hatte sich bis zur Abenddämmerung zurückgehalten und dann die gälische Flotte versenkt, bevor der Feind auch nur mit einem Gegenangriff beginnen konnte. Es war beinahe zu einfach gewesen, da dieser Außenposten nur schwach bemannt war, denn man hatte längst die meisten von Gabhrans Männern nach Süden gerufen, wo sie Dunadd verteidigen sollten, nachdem die Nachricht, dass die Priteni kamen, sich im ganzen Land ausgebreitet hatte und die Sicherheit des Königs als höchste Priorität betracht wurde. Was Brideis eigenen Schutz anging, so übernahm Hargest - 660 nun einen größeren Anteil der Pflichten, denn Cinioch und Enfret waren die einzigen Männer aus Pitnochie, die noch nicht verwundet waren. Die Kraft und Ausdauer des Jungen hatten sich auf den langen Märschen als hilfreich erwiesen, aber Hargest war sein größter Wunsch, neben seinem König im Kampf zu stehen, noch nicht gewährt worden. Nachts standen zwei von drei Männern Wache, während der dritte schlief. So nahe am Sieg musste der König besser bewacht werden als je zuvor. Wer wusste schon, ob die Galen nicht einen geschickten Attentäter aussenden würden? Hargest beschwerte sich, dass Bridei kaum einen nächtlichen Wachposten brauchte, da er nur selten schlief; warum legte er sich nicht hin und ruhte sich ordentlich aus, statt die kostbare Zeit der Ruhe beim Gebet, in Meditation oder in Gesprächen mit denen zu verbringen, die ebenfalls die Nacht wach verbrachten? Uven, verärgert dass seine Verwundung ihn zu einer zweitrangigen Rolle verurteilte, tadelte den Jungen, weil er sich zu offen äußerte, aber Bridei lächelte nur. Der Junge verstand nicht, was es bedeutete, von einem Druiden aufgezogen worden zu sein, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Verantwortung eines Königs Bridei die Möglichkeit nahm, sich dem Schlaf hinzugeben. Für Hargest war das Leben erheblich einfacher. Er erinnerte Bridei an ein wildes Tier, vielleicht eine jagende Katze. Feinde mussten getötet werden. Wenn gute Männer dabei fielen, dann war das eben so. Essen, schlafen, weiterziehen, erneut töten... in all diesen langen Tagen des Marschs war es Bridei nicht gelungen, Hargest zu überzeugen, dass es noch mehr als das gab. An diesem Abend versammelten sich die Stammesfürsten von Fortriu im schützenden Kreis ihrer Leibwächter und legten die Strategie für den letzten Angriff fest. Außer Carnach, Ged, Morleo, Wredech und Talorgen waren noch Fokel von Galany und der große, wild aussehende Umbrig anwesend. Bridei hatte schon zuvor mit dem Caitt-Fürsten - 661 -
gesprochen und ihn um seine Erlaubnis gebeten, Hargest behalten zu dürfen, wenn der Junge selbst ebenfalls einverstanden war, Umbrig war eher erleichtert als besorgt gewesen und hatte zugegeben, dass Hargests Haltung ihn in der letzten Zeit verärgert hatte. Der Junge hatte sich intensiv an den Einschränkungen im Haushalt seines Pflegevaters gestört, war aber nie so weit gegangen, zu verlangen, dass man ihn nach Dornwald zurückschickte. Umbrig war sicher, dass die Arbeit mit den Pferden Hargests Begabung am besten entsprach, aber das war es, was der Junge am wenigsten tun wollte. Wenn Bridei ihn wollte, konnte er ihn haben. Was Alpins Erlaubnis anging, dazu bestand keine Notwendigkeit. Tatsächlich hatte Hargests Vater offenbar schon lange das Interesse an ihm verloren. Eine Schande. Umbrig glaubte, dass Hargest die feste Autorität eines Vaters brauchte. Er hatte es selbst versucht, aber der Junge war schwierig: schwierig zu disziplinieren und schwierig gern zu haben. Bridei hatte sich bei dem Caitt-Führer bedankt und nichts weiter dazu gesagt. Er hoffte sehr, dass er, wenn all dies vorüber war, im Stande sein würde, aus diesem aufbrausenden jungen Krieger einen reifen Mann zu machen. Zeit, Geduld und ein gutes Beispiel würden sicherlich das Beste in Hargest zu Tage fördern. Sie machten drei Pläne: einen für eine Begegnung auf offenem, geradem Boden, einen für einen Angriff hügelaufwärts auf eine Festung - sie hofften sehr, diesen Plan nicht umsetzen zu müssen - und einen dritten für einen Angriff hügelabwärts, bei dem sie ihre gut geübte Pikenblock-Formation vernichtend einsetzen könnten. Carnach ging davon aus, dass Gabhran ein offenes Feld vorzog, und in diesem Fall würden sie mit einem Angriff der Reiterei beginnen, komplett mit Fahnen. Sobald die erste Reihe der gälischen Streitmacht durchbrochen war, würden die Krieger hinter den Reitern den Feind angreifen. Die Größe der vereinten Armee von Fortriu erlaubte es, Dalriada von drei Seiten - 662 anzugreifen, immer vorausgesetzt, sie konnten rechtzeitig herausfinden, wo sich Gabhrans Streitmacht befand. »Die Männer können es kaum erwarten«, sagte Talorgen. »Selbstverständlich sind sie müde, nachdem sie so lange unterwegs waren und so viele gefallen sind. Aber sie riechen den Sieg, sie wissen, dass das Ende nahe ist.« »Wenn wir schnell siegen«, sagte Carnach, »ist das umso besser. Wir nutzen den Funken in unseren Männern, um die Oberhand zu gewinnen. Wenn es uns gelingt, Gabhran selbst gefangen zu nehmen, wird uns das die Möglichkeit geben, den Kämpfen ein Ende zu machen. Ich glaube, dass seine Anführer dann verhandeln würden.« »Was gäbe es denn da noch zu verhandeln?«, fragte Ged barsch. »Das Leben des Königs von Dalriada ist sicher einiges wert«, warf Morleo ein. »Was hast du vor, Bridei? Möchtest du ihm ein Ende machen, wenn er nicht auf dem Feld stirbt?« Bridei hatte eine Vorstellung davon, wie es ausgehen könnte; seine langen Nächte des Nachdenkens und der stillen Konversation mit den Göttern hatten Früchte getragen. Er war jedoch nicht sicher, ob er es schon aussprechen wollte, selbst vor seinen treuesten Anführern. »Sehen wir, wie er sich verhält«, sagte er. »Zweifelt nicht daran, dass ich nötigenfalls Gabhrans Tod anordnen werde. Zweifelt nicht daran, dass es ohne Zögern geschehen wird, wenn es notwendig sein sollte, um die Kapitulation zu sichern. Ich möchte, dass er vor mir niederkniet und die Herrschaft über Dalriada aufgibt. Er muss sich ergeben und seine Krieger hinter unsere Grenzen zurückziehen. Falls er zustimmt, bin ich bereit, über seine Zukunft und die der Ui Neill, die ihn unterstützen, nachzudenken. Es wird allerdings kein allgemeines Töten gefangener Krieger geben, solange uns Alternativen bleiben. Sie haben eine Flotte; sollen sie nach Hause zurücksegeln und nie wiederkehren.« - 663 Talorgen räusperte sich. »Tatsächlich«, warf Carnach ein, »ist nach Uerbs und Talorgens Angriff von der gälischen Flotte nicht mehr viel übrig. Dennoch, sie werden noch ein paar Schiffe im Süden haben. Sie werden schon eine Möglichkeit finden, nach Hause zu gehen, wenn man sie entsprechend ermutigt.« »Was, wenn Gabhran sich entschließt, umzukehren und sich in Dunadd zu verschanzen?«, fragte Ged. »Das könnte eine längere Belagerung werden, und wir sind weit von zu Hause entfernt.« »Zumindest gibt es hier genügend Vorräte«, sagte Umbrig. »Diese Region hat gutes Bauernland, ich hätte selbst nichts gegen einen kleinen Hof hier in der Nähe. Das Vieh ist doppelt so groß wie meines zu Hause.« »Sehen wir, wie es sich entwickelt«, sagte Bridei. »Ich werde mich zunächst um Gabhran und seine Anführer kümmern, dann müssen wir unsere Basis hier etablieren und dafür sogen, dass das Land stabil und produktiv bleibt. Und ich werde zweifellos nach Fürsten suchen, die über Autorität und über ein gesundes Urteilsvermögen verfügen, denn ich brauche starke Anführer hier im Westen. Darüber sprechen wir, wenn wir den Krieg gewonnen haben. Talorgen, wann, glaubst du, wird diese Begegnung stattfinden und wo?« »Bald«, sagte Talorgen mit grimmiger Zufriedenheit. »Ich denke, wir werden ihnen innerhalb von drei Tagen begegnen. Was den Ort angeht, wird es wahrscheinlich irgendwo passieren, wo Gabhran von unserer viel größeren Streitmacht nicht eingeschränkt werden kann. Es gibt einen Tagesmarsch südwestlich von hier ein Tal. Früher einmal war es als Dovarben bekannt, aber nun hat es zweifellos einen gälischen Namen. Durch das Tal fließt ein breiter und ziemlich träger Bach. Die Landschaft bietet nicht viel Deckung, außer an den Enden des Tals. Wenn ich der gälische König wäre, würde ich diesen Ort wählen. Wir müssen an ihm - 664 vorbeikommen, wenn wir Dunadd erreichen wollen. Um die für uns günstigste Strategie anzuwenden, müssten wir längst bevor sie eintreffen in Position sein, und wir müssen irgendwie verhindern, dass Gabhrans Späher uns
entdecken. Mit einer Streitmacht dieser Größe ist das beinahe unmöglich.« Im Halbdunkel des kleinen Feuers, das Carnachs Leibwächter Gwrad für sie angezündet hatte, vermieden die Fürsten, einander anzusehen, und das Schweigen dauerte an, als sie alle nach einer Lösung suchten. Eine offene Ebene, eingeschränkte Deckung, und wenn Gabhrans Spione ihre Arbeit taten, wussten die Galen nun, wo sich die Priteni befanden und wie groß ihre vereinigte Streitmacht war ... das stellte eine beträchtliche Herausforderung dar. »Nun gut«, seufzte Ged nach einer Weile, »es erfreut den Flammenhüter, uns solche Prüfungen zu stellen, jede ein klein wenig schwieriger als die vorhergehende. Ich höre, dass die gälischen Bogenschützen nicht schlecht sind. Wenn sie die Möglichkeit erhalten, werden sie uns erledigen, bevor wir auch nur nahe genug sind, um sie zu berühren.« Fokel von Galany hüstelte. Die anderen schwiegen. Alle Blicke wandten sich ihm zu. Anders als Ged scherzte Fokel selten; tatsächlich meldete er sich bei solchen Besprechungen nur selten zu Wort, wenn er nicht einen wichtigen und für gewöhnlich erstaunlichen Beitrag zu leisten hatte. »Einer meiner Jungs ist zufällig vor ein paar Nächten in diese Richtung gezogen«, sagte er lässig. »Wenn alles gut geht, sollte er später heute Abend zurückkehren und uns Informationen bringen: Er wird wissen, wo Gabhran sich aufhält und ob es möglich wäre, hinter ihn zu gelangen oder zumindest eine Position zu finden, um auch von der Flanke aus zuschlagen zu können. Mit eurer Zustimmung werden Umbrig und ich unsere Leute im Schutz der Dunkelheit marschieren lassen und uns eingraben. Ich habe noch an- 665 dere Männer draußen, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Späher der Galen unschädlich zu machen, bevor wir uns in Bewegung setzen. Ich kann euch vielleicht nicht mehr rechtzeitig benachrichtigen, wo genau wir sind, aber wir werden an Ort und Stelle sein, um euren Angriff zu unterstützen, das kann ich euch versprechen.« Bridei sah ihn mit hoch gezogenen Brauen an. Ein solches Unternehmen war typisch für Fokel; man konnte ihm den Mut nicht aberkennen. Er war vielleicht nicht unbedingt ein Mann für gemeinsame Unternehmungen, aber seine taktischen Ideen waren brillant. Umbrig strahlte zufrieden. »Gut gemacht«, sagte Bridei. »Ich brauche euch beiden wohl nicht zu sagen, dass der Feind auf keinen Fall herausfinden darf, dass ihr euch so nah an seiner endgültigen Position befindet, denn das würde nicht nur eure Leute gefährden, sondern uns alle. Überraschung war bisher der Hauptgrund für unseren Erfolg. Aber mir ist klar, dass eure Männer sehr genau wissen, was sie tun, dass sie im Stande sind, unabhängig zu handeln und viele Tage und Nächte mit nur geringen Vorräten und nur wenig Ruhe zu überstehen. Ihr leistet viel. Der Flammenhüter lächelt auf euren Mut herab. Lass mich wissen, wann der Bote zurückkehrt und wann ihr aufbrechen wollt. Wenn die Götter uns gnädig sind, wird dies der letzte Kampf unseres Feldzugs sein. Eure Männer sollten mit dem Segen der Götter in ihren Herzen und der Ermutigung ihres Königs gehen.« Als der Zeitpunkt kam, sprach er zu Fokels und Umbrigs Leuten als König von Fortriu und als Waffenkamerad. Im Dunkeln sammelten sie sich um ihn, die schlanken, scharfäugigen Kämpfer von Fokels Truppe und die großen kräftigen Caitt-Krieger, vor Waffen strotzend und mit zottigen Barten und Fellumhängen, und er sprach mit ihnen, wie er mit einem Bruder sprechen würde, ehrlich und mit leidenschaftlicher Entschlossenheit. Ihr wildes Aussehen verstör- 666 te ihn nicht mehr, es war ihm auf den langen Märschen vertraut geworden, in diesen angespannten, unbequemen Nächten und erschöpfenden, blutigen Tagen. Bridei hatte gesehen, wie die Bewaffneten aus Pitnochie, Rabenbrunn und Dornenband hagerer und abgerissener wurden, je länger der Feldzug dauerte. Er wusste, wenn er sich nun bücken würde, um sein Spiegelbild in einem Teich oder einem Bach zu betrachten, würde er ganz ähnlich aussehen. Am Kinn war ihm ein wirrer Bart gesprossen, sein Haar hing ihm bis auf die Schultern, und er roch nicht besser als alle anderen. Disziplin hielt die Waffen scharf, die Klingen sauber, die Pfeile in gutem Zustand. Stiefel wurden geflickt und Lederrüstungen geschmeidig gehalten. Kleinigkeiten wie Kämmen, Rasieren und frische Unterwäsche hoben sie sich für die Zeit auf, wenn die Armee wieder auf dem Weg nach Hause war und man kurz davor stand, Frau, Liebste oder Kinder zu umarmen. Er hielt seine Ansprache kurz, und die Männer begrüßten das. Als er fertig war, betete er und bat den Flammenhüter um den Sieg. Um der Männer willen betete er auch ums Überleben und für jene, denen dies nicht gewährt werden konnte, um einen ehrenvollen, gnädigen Tod. Dann kam im Feuerlicht jeder Mann nach vorne an eine Stelle, die Bridei gekennzeichnet hatte, und jeder legte einen kleinen Stein ab. Nachdem alle von Fokels Männern ebenso wie die von Umbrigs Streitmacht, die an diesem verdeckten Ausfall teilhaben sollten, an der Stelle vorbeigegangen waren, lag ein Steinhaufen auf der Lichtung. Wenn die Hauptstreitmacht weiterzog, würden auch sie hier Steine hinterlegen, jeder Mann einen. Später, auf dem Weg nach Hause, würden die Überlebenden einen Stein zurücknehmen. Alle wussten, wenn das getan war, würde ein kleinerer Steinhaufen zurückbleiben. Jeder verbliebene Stein stünde für einen Sohn von Fortriu. Diese Lichtung würde die Erinnerung an sie durch Sommer und Winter wahren, bis die jungen Birken - 667 wuchsen, um Schatten auf das Denkmal zu werfen, und Moos und Farnkraut es langsam mit einer grünen Decke überzogen. Wenn die Männer längst aufgehört hatten, von diesen Verlusten zu erzählen, wenn sie längst vergessen waren, würden die Bäume immer noch schaudern und sich erinnern. Die kleinen Steine würden die
Erinnerung weiter bewahren, tief in ihren Herzen. Zwei Tage später marschierte die Hauptstreitmacht auf den letzten Kampf zu. Das Wetter war gut, die Vorzeichen waren wohlwollend. Einer von Fokels schnellsten Männern kehrte zurück und informierte sie, dass die gälische Armee auf genau die Stelle zumarschierte, von der Talorgen gesprochen hatte, und dass sie erheblich größer war, als Bridei und die Fürsten für wahrscheinlich gehalten hatten. Hatte Gabhran doch früh genug von dem Angriff erfahren, um Hilfe von seinen Ui-Neill-Verwandten auf der anderen Seite des Meeres herbeizurufen? Bridei hätte schwören können, dass Dalriada nichts über den Zeitplan seines Vormarschs wusste, bis vor nicht allzu langer Zeit der erste Priteni-Angriff auf eine gälische Siedlung stattfand. Faolan war ein Experte, wenn es darum ging, am Hof von Dunadd falsche Informationen zu verbreiten. Wie hätten sie es wissen können? Es war zu spät, um ausführlich darüber nachzudenken. Die Armee von Fortriu würde kämpfen müssen, tief in feindlichem Territorium, mit so großen Eroberungen hinter sich, dass sie nun alles aufs Spiel setzen und dem Feldzug auf die eine oder andere Weise ein Ende machen mussten. Die Männer waren voller Kampfesmut, ihre Augen strahlten in Erwartung des Triumphs, auch wenn sich auf ihren Gesichtern die Spuren dieses langen, schweren Feldzugs abzeichneten. Im Augenblick waren sie relativ gut ausgeruht, hatten zwei Nächte im Schutz des Birkenwalds gelagert. Noch bereiter konnten sie nicht sein, und Bridei wusste tief - 668 im Herzen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiterzumachen. Er war umgeben von den Männern aus Pitnochie, Uven immer noch mit verbundenem Arm, Enfret und Cinioch wachsam. Hinter ihm saß Hargest stolz und gerade auf seinem Pferd. Sie alle, das wusste Bridei, spürten die Präsenz von Breth und Elpin wie Schatten neben sich. Die Überlebenden wollten Rache. Sie wollten, dass die Galen für den Tod ihrer Kameraden zahlen sollten. Zu solchen Zeiten war der Platz eines wahren Sohnes von Fortriu mitten im Kampf, wo er im Namen des Flammenhüters und für die Wiedereroberung des Landes seiner Ahnen zuschlug. Bridei wusste, dass er seinen Leibwächtern diese Möglichkeit bei dieser wahrscheinlich letzten Schlacht nicht verweigern sollte. Er würde sie neben Carnachs Reiterei kämpfen lassen, einen nach dem anderen. Es wäre dumm, nur mit Hargest an seiner Seite in den Kampf zu reiten, aber der Junge konnte diese Pflicht mit Enfret oder Cinioch teilen. Es war Zeit, ihm eine Chance zu geben. Brideis Instinkt sagte ihm, dass Hargest überleben würde; wenn überhaupt jemand groß und wild genug war, um angreifende Galen zu verschrecken, dann dieser Furcht erregende junge Krieger. Wenn sie erst alles hinter sich hatten, wenn sie erst wieder am Weißen Hügel waren, hatte Bridei vor, die weitere Ausbildung des Jungen Garth zu übertragen. Garth würde dafür sorgen, dass Hargest zu der Kraft und den Fähigkeiten, über die er bereits verfügte, auch noch Selbstdisziplin lernte. Er selbst würde versuchen, ihn in der Kunst der intelligenten Debatte zu unterrichten und ihm nach und nach deutlich machen, dass es zwischen Schwarz und Weiß noch viele Grautöne gab. Er würde seinen alten Lehrer Wid bitten, dabei zu helfen. »Du wirst morgen mit mir reiten«, sagte er nun, als Hargest auf einem von Umbrigs kräftig gebauten Berglandponys neben ihn ritt. »Enfret und Cinioch werden bei dem - 669 berittenen Angriff mitmachen. Wir brauchen jeden einzelnen erfahrenen Krieger. Danach werden sie sich dabei abwechseln, dich als Leibwächter zu unterstützen, je nachdem, wie die Schlacht sich entwickelt. Du kennst deine Rolle: Bleib dicht bei mir, warne mich vor Unerwartetem und bedenke, dass mein Überleben den Vorrang vor deiner Gelegenheit hat, gälische Köpfe zu nehmen. Wir werden dennoch beide am Kampf teilhaben. Ich habe mit Breth und meinen beiden anderen Leibwächtern an meiner Seite schon in vielen Kämpfen gestanden, und zusammen haben wir eine respektable Anzahl von Feinden getötet. Ich bin keiner, der sich zurückhält und seine Männer an seiner Stelle sterben lässt. Deine Aufgabe wird nicht leicht sein. Du wirst vielleicht angreifen wollen und mich vollkommen vergessen. Das kannst du dir nicht erlauben, ganz gleich, wie stark dieses Bedürfnis ist. Das Überleben des Königs ist von hohem symbolischen Wert.« »Ja, Herr.« Der Ausdruck auf Hargests breitem Gesicht war verblüffend. Seine Augen, interessant schon wegen ihrer seltsamen hellen Farbe, waren nun von einer merkwürdigen Begeisterung erfüllt, deren Ursache doch wohl kaum die Möglichkeit sein konnte, die Bridei ihm anbot. Welcher junge Krieger würde nicht vorziehen, sich in den eigentlichen Kampf zu stürzen, um sich gegen die Galen zu beweisen, wie es Cinioch und Enfret tun sollten? Bridei war verblüfft über diese Augen, die in ihrem Eifer beinahe blind schienen, über die finstere Entschlossenheit in der Linie des Mundes und des Kinns. Der Junge stammte nicht einmal aus Fortriu selbst, er war ein Caitt, aber seine Ergebenheit war beinahe beängstigend. »Immer mit der Ruhe, Hargest«, sagte Cinioch. »Heb dir diesen Blick für die Galen auf, sie werden sich schon ergeben, bevor sie auch nur die Chance hatten, ihre Schwerter zu ziehen.« »Ich tue, was man mir befiehlt.« Hargests Tonfall passte - 670 zu seinem Aussehen. Er klang, als hätte er sich ebenso gern auf Cinioch gestürzt wie auf die Galen. »Kümmere dich um deinen eigenen Auftrag und überlasse mir den meinen.« Bridei mischte sich nicht ein. Die Männer waren gereizt und nervös. Der Flammenhüter füllte ihre Adern nicht nur mit rauschendem Blut, sondern mit einem Übermaß glühender Aggressivität, die sie mit dem Namen Fortriu auf ihren Lippen und in ihren Herzen in die Schlacht tragen würde.
Seine eigenen Gedanken waren komplizierter. Hatte er sich nicht nach einem solchen Tag gesehnt, seit der Dunkle Spiegel ihm zum ersten Mal diese herzzerreißende Vision von Grausamkeit und Mut gezeigt hatte? Morgen würde Gabhran von Dalriada vielleicht auf dem Schlachtfeld vor ihm niederknien und seine Territorien im Westen aufgeben. Konzentriere dich darauf, sagte sich Bridei, während Schneefeuer ihn stetig nach Süden trug und rings um ihn her seine lang gedienten, treuen Männer und sein neuester und jüngster Leibwächter in strenger Formation ritten. Triumph. Sieg. Der Wille der Götter. Aber was er sah, war dieser Steinhaufen und eine schweigende Reihe von Kriegern, blutig und zerschlagen, die daran vorbeigingen, jeder, um einen Stein zu nehmen. Männer, in deren Augen die Erinnerung an verlorene Kameraden, an verzweifelte kleine Kämpfe, an Hunderte von Augenblicken der Angst, des Entsetzens und der Hilflosigkeit, an hundert Schläge auf Herz, Geist und Seele standen. Sie streckten die Finger aus, um andere Steine zu berühren: Den hat mein Bruder hierher gelegt, diesen mein Freund; der Mann, der diesen Stein hingelegt hat, wird nie wieder nach Hause zurückkehren. Bridei schloss einen Augenblick die Augen und dachte an Tuala, die ihm mit ernster Miene mitgeteilt hatte, dass er selbst dem Tod nahe genug kommen würde, um den Schlag seiner dunklen Flügel zu spüren. Er hörte ihre Stimme: Verliere deinen Glauben nicht, Liebster. Die Götter lächeln auf dich herab. Ziehe tapfer weiter und gewinne deinen Krieg für - 671 Fortriu. Auf dem Weißen Hügel brennt eine Kerze für dich. Und wenn es getan ist, komm nach Hanse, wo du weinen und dich trösten lassen kannst. Es war Herbst, als Ana und ihre Begleiter nach Abertornie kamen, drei müde und abgerissene Wanderer, sonnenverbrannt und abgemagert bis auf die Knochen von dem langen Weg. In den letzten Tagen hatten sie hin und wieder unterwegs ein paar Dinge erhalten. Ana trug die praktische selbstgewebte Kleidung einer Bauersfrau. Sie war froh, die fadenscheinigen Überreste dessen, was einmal ein zart besticktes Hochzeitskleid gewesen war, nicht mehr tragen zu müssen. Geds Haushalt war schockiert genug von ihrem Wiederauftauchen und der Geschichte, die sie zu erzählen hatte, aber zumindest brauchte sie das Haus nicht in Lumpen zu betreten. In Abertornie lieh sie sich ein etwas besseres Kleid, weil Geds Frau Loura darauf bestand, und ließ sich ausführlich von zwei energischen Dienerinnen waschen. Es fühlte sich seltsam an, wieder sauber zu sein. Ihr Haar war über die Schulterlänge hinausgewachsen. Nachdem es mit Kamillenwasser gewaschen und anstrengend und schmerzhaft gebürstet worden war, verwandelte es sich wieder in einen wilden Fluss goldener Fäden. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in Louras Bronzespiegel und erkannte die seltsame Frau, die zurückschaute, nicht wieder, diese Frau mit der gebräunten Haut, so schlank, dass das Kleid in weiten Falten um sie herumhing, einen misstrauischen, fragenden Blick in den Augen. Diese tatkräftig aussehende Person war nicht die Braut, die im Frühling vom Weißen Hügel aufgebrochen war. Ana dankte den Dienerinnen und ging in den Garten. Nachdem sie so lange im Freien gelebt hatte, fühlte es sich unangenehm an, längere Zeit im Haus zu sein. Es war still im Haus, denn es war notwendig gewesen, die Nachricht vom Verlust der Eskorte zu überbringen, zu der - 672 auch das Mädchen Creisa gehört hatte, und eine Familie trauerte. Ged selbst war schon lange aufgebrochen und hatte seine Krieger mitgenommen. Brideis Armee würde inzwischen längst in Dalriada sein. Wenn alles nach Plan verlaufen war, wäre der Krieg so gut wie gewonnen. Ana empfand ein gewisses Widerstreben, das Ende dieser Reise zu erreichen, nun, da es so nahe war. Am Weißen Hügel würde sie erklären müssen, was geschehen war. Sie würde Broichan, Aniel und Tharan berichten müssen, dass sie versagt hatte und es kein Bündnis mit Alpin gab. Wahrscheinlich würden die mächtigen Männer von Brideis Hof sofort beginnen, neue Pläne für sie auszuhecken, Pläne, die einen anderen Fürsten, eine andere Heirat beinhalteten. Sie mochte auf der Reise ein wenig Mut gewonnen haben und vielleicht hatte sie gelernt, sich besser zu behaupten. Dennoch, die Versuchung war stark, den Tag, an dem sie ihnen sagen musste, dass sie nicht mehr tun würde, was sie wollten, weiter hinauszuschieben. Sie sehnte sich danach, hier eine Weile zu bleiben und sich auszuruhen. Sie sehnte sich danach, Zeit allein mit Drustan zu verbringen. Ana ging im Schatten einer Doppelreihe von Birnbäumen einher, die Wiese weich unter ihren geliehenen Pantoffeln. Der Tag war warm, der Himmel wolkenlos. Vogelgesang erfüllte den Garten, und Insekten zirpten und summten in jeder Ecke. Eine Krähe stocherte zwischen den Wurzeln eines uralten Baums und suchte nach Käfern. Ein Kreuzschnabel mit scharlachroter Kehle hockte auf den Zweigen und beobachtete Ana mit schief gelegtem Kopf. Die Männer waren von einem uralten Diener zum Baden weggeführt worden; sie sollten inzwischen ebenfalls fertig sein. Sie musste an Drustan denken und wie schwierig es am Weißen Hügel für ihn werden würde. Sie würden bleiben müssen, bis Bridei zurückkehrte. Vielleicht sogar länger. Davon einmal abgesehen, dass sie die Zustimmung des Königs für ihre Heirat erhalten wollten, mussten sie noch an- 673 dere Entscheidungen treffen. Da Alpin nun tot war, würde Drustan bald in den Norden zurückkehren und die Herrschaft in Dornwald und im Träumenden Tal ergreifen müssen. Ana hatte an die Möglichkeit gedacht, nach Hause zu gehen, wirklich nach Hause, zu den Hellen Inseln. Dort könnten sie beide sich bei ihren Verwandten ansiedeln und ein Leben frei von der Last von Alpins Verbrechen und den Zweifeln und dem Misstrauen führen, denen Drustan in Dornwald ausgesetzt wäre. Sie sprach nicht mit Drustan darüber. Später würden sie die Inseln
zumindest besuchen, und Ana könnte ihre Schwester sehen. Aber sie wusste, dass Drustan sich zunächst seinen Dämonen stellen und sie zur Ruhe betten musste. Sie würden Bela suchen. Sie würden Drustans Unschuld vor all seinen Leuten beweisen. Der Hof von Fortriu würde eine Herausforderung für ihn sein. Er hatte sieben Jahre eingesperrt verbracht, nur mit einer einzigen Person zur Gesellschaft. Sich nun in der Mitte dieses Kreises mächtiger Männer als Gegenstand von Intrigen, Gerede und Manövern zu finden, wäre ein großer Schock. Sie würde es ihm erklären müssen, würde Tuala und vielleicht Broichan von den Veränderungen erzählen müssen, von dieser Begabung, die Drustan zu dem außergewöhnlichen Mann machte, der er war, und erklären, dass er die Freiheit brauchte, sich zwischen den Welten hin und her zu bewegen. Sie würde ihnen sagen müssen, dass eine Frau vom königlichen Blut von Fortriu vorhatte, einen Mann zu heiraten, der seine Gestalt verändern konnte. »Ana?« Sie fuhr herum, aus ihren Gedanken gerissen. Es war nicht Drustan, der dort unter den Bäumen stand, sondern Faolan, glatt rasiert, das dunkle Haar gekämmt und zurückgebunden, und seine schlichte geliehene Kleidung zeigte, wie dünn er geworden war. Das Nachmittagslicht ließ die Falten von Krankheit und Erschöpfung, die sein Gesicht zeichneten, tiefer wirken. Er beherrschte seine Züge, aber - 674 Ana erkannte dort dennoch Trauer und Sorge. Er trug einen Rucksack und hatte Stiefel an den Füßen. Sie sah ihn ohne ein Wort an. Sein Lächeln war schief und selbstironisch, als er die Veränderung ihres Aussehens wahrnahm. »Das ist nicht das Bild, an das ich mich erinnern werde«, sagte er. »Wie meinst du das?« Plötzlich wurde sie von einer schlechten Vorahnung erfasst. »Ich werde am Weißen Hügel sein, und du ebenfalls, Faolan.« Er schaute auf seine Hände hinab, wollte ihrem Blick nicht mehr begegnen. »Wenn du mit ihm dort bist«, sagte er, »dann kann ich nicht am Weißen Hügel bleiben. Ich werde vorangehen. Ich werde Broichan und Tuala erzählen, was geschehen ist. Bleib du noch eine Weile mit Drustan hier. Er muss sich daran gewöhnen, wieder unter Leuten zu sein, und das wird ihm hier leichter fallen als am Hof. Kommt nach, wenn ihr beide bereit seid. Ich werde dafür sorgen, dass ich dann schon weg bin.« Sie war erschüttert. »Aber Faolan, was ist mit Bridei? Du darfst nicht weggehen, er braucht dich! Ich weiß, wie schwierig die Dinge für dich sind, aber wir sind immer noch Freunde, oder nicht? Wir haben eine lange Reise zusammen hinter uns gebracht, wir drei. Du darfst den Weißen Hügel nicht verlassen.« Er wandte immer noch den Blick ab. Seine Züge waren erschreckend verschlossen, denn er hatte die gleiche Maske aufgesetzt wie in früheren Tagen, als sie geglaubt hatte, dass er keiner Gefühle fähig sei. »Du hast vor, ihn zu heiraten, oder?«, fragte er. »Jedenfalls, wenn es dir gelingt, Bridei davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee ist. Du hast vor, am Hof zu bleiben, bis Drustan bereit ist, nach Westen zurückzukehren und seine Ländereien zu beanspruchen. Und das bedeutet, dass ich gehen muss, Ana. Wenn ich dafür aus Brideis Dienst ausscheiden muss, dann werde ich das tun. Ich bin schließlich nichts weiter als ein Söldner und - 675 kann meinen Lebensunterhalt überall verdienen. Ein Herr unterscheidet sich nicht besonders vom anderen, solange er gutes Silber bezahlt.« Sie schwiegen einen Augenblick, dann ging Ana einen Schritt auf ihn zu und nahm seine Hände. »Das ist unsere Schuld, nicht wahr?«, fragte sie, und bittere Trauer erfüllte ihr Herz. »Drustan und ich, wir treiben dich davon. Das ist schrecklich, Faolan, es ist grausam und falsch. Ich weiß, was Bridei dir bedeutet. Du darfst nicht zulassen, dass das, was geschehen ist, diese Verbindung zerstört. Dein eigener Bruder ist gestorben, und mit der Art seines Todes hat er ein Stück von dir mitgenommen. Lass dir nicht von deinem Zorn einen Freund wie Bridei nehmen, der dir so nahe ist, wie nur ein Bruder sein kann. Vielleicht glaubst du, bei dieser Mission versagt zu haben. Bridei wäre nicht dieser Meinung. Warte zumindest am Weißen Hügel, bis er die Möglichkeit hatte, es dir zu sagen.« Faolan löste seine Hände sanft aus ihrem Griff, zog seinen Rucksack zurecht und wandte sich ab. »Einige Dinge sollten nicht in Worte gefasst werden«, sagte er. »Manchmal ist es das Beste zu schweigen. Ich muss jetzt gehen. Ich verspüre die Notwendigkeit, schnell wieder zum Hof zurückzukehren, selbst wenn Bridei nicht da sein wird. Das treibt mich mehr an als ...« »Sogar mehr als dein Abscheu davor, Drustan und mich zusammen zu sehen?«, fragte sie ihn direkt. »Welche Liebenden möchten schon einen ständigen Beobachter haben?« Sein Tonfall war bitter. »Ich wünsche dir alles Gute. Lebe wohl, Ana.« Er machte ein paar Schritte unter die Bäume und war nicht mehr zu sehen, bevor sie auch nur Luft holen konnte, um zu antworten, obwohl sie wirklich nicht wusste, wie diese Antwort lauten würde. Sie wartete auf Drustan, saß im Gras, die Knie hochgezogen, die Arme darum geschlungen, und versuchte, sich nicht in dem Gefühl zu verlieren, dass ihr immer ein we676 sentlicher Teil ihrer selbst fehlen würde, wenn Drustan und Faolan nicht beide irgendwo in der Nähe waren. Ihr Geist scheute davor zurück: Es konnte nicht richtig sein, es passte nicht zu dem, was sie erwartet hatte. Es stellte eine Unregelmäßigkeit in einem Zukunftspfad dar, der genau nach einem bestimmten Muster verlaufen sollte.
Sie hatte nie geglaubt, dass sie einmal das Glück haben würde, einen Mann zu finden, den sie so lieben konnte, wie sie Drustan liebte, mit dieser berauschenden, aufregenden Leidenschaft, die alles andere aus ihrem Kopf vertrieb. Beinahe alles andere. Denn da war Faolan: ihr liebster Freund, ihr stetiger starker Gefährte, ihr Gegenstück. Er hatte sie gestützt, wenn der Weg vor ihr sich in Nichts auflöste. Seine Musik hatte sie zum Weinen gebracht. Seine Arme hatten die Dunkelheit zurückgehalten. Seine Augen hatten ihr gesagt... seine Augen hatten ihr gesagt, dass er sie liebte, wie Fionnbharr Aoife geliebt hatte, die Feenfrau, mit tiefer, stetiger Leidenschaft. Sie hatte das seit diesem Tag im Wald gewusst, als sie ihn der Eifersucht bezichtigte. Es war die Intensität ihrer eigenen Gefühle, die ihr nun neu und schockierend vorkam. Etwas hatte sich an sie angeschlichen, ohne dass sie es bemerkte, etwas, dessen volle Bedeutung sie erst jetzt erkannte, als er weg war. Die Göttin hatte mit ihr gespielt. Sie hatte Ana nicht nur einen, sondern zwei Männer gebracht, die sie lieben konnte. Und so schmerzlich es war, das zuzugeben, es kam ihr so vor, als brauchte sie beide. So etwas konnte einfach nicht sein. Faolan hatte Recht. In diesem grausamen Spiel für drei musste einer allein weiterziehen. »Ana?« Diesmal war es tatsächlich Drustan, der den Weg zwischen den Birnbäumen entlangkam, gekleidet in eine geliehene Tunika und eine Hose aus feiner Wolle, die so bunt gefärbt war wie alle Kleidung in Geds Haushalt. Er hatte die Kaskade seines leuchtenden Haars nicht ganz erfolgreich mit einer Schnur zurückgebunden. - 677 Sein Lächeln vertrieb sofort den Zweifel aus ihrem Herzen; sie sprang auf und eilte auf ihn zu, und er nahm sie in die Arme, fest und warm. Sie spürte das wilde Klopfen seines Herzens an ihrem, ein Echo ihres eigenen Herzschlags. »Du hast mir gefehlt«, flüsterte er gegen ihr Haar. »Du riechst wie Frühlingsblüten, und dein Haar fühlt sich wie Disteldaunen an.« »Hm«, murmelte Ana und genoss den Augenblick; sie waren unterwegs vorsichtig gewesen und hatten Faolans Anwesenheit respektiert. Einander jetzt so nahe zu sein, war, als gäbe man sich einem Gefühl hin wie einem aufflackernden Feuer, einer Hitze im Körper, die zu schnell so mächtig sein würde, dass es nur eine Möglichkeit gab, sie zu ersticken. Sie hob den Kopf, und einen Augenblick später begegneten sich ihre Lippen, zunächst zögernd, berührten einander federleicht. Dann berührten sie sich erneut, diesmal inniger, er hob die Hand an ihren Hals, seine Lippen teilten sich, als ihre es taten, und das urtümliche Gefühl seiner Zunge an ihrer ließ sie bis tief in den Körper erschaudern. Ihre Knie wurden weich; ihr Herz vollführte seinen eigenen verrückten Tanz. Sie legte die Hände an seinen breiten Rücken, zog ihn näher an sich. Die Krähe krächzte. Ana erinnerte sich, löste sich von ihm und legte ihre Hände über Drustans Herz. »Drustan?« »Hm?« Er nahm ihre rechte Hand, senkte den Kopf, um ihre Handfläche zu küssen und mit seiner Zungenspitze dort zu kreisen, was sie zittern ließ. »Du solltest lieber aufhören. Ich kann nicht klar denken, wenn du das tust.« Er hielt plötzlich inne. »Was ist, Ana?« »Faolan. Er ist ganz allein davongegangen.« Drustan schwieg. »Und er sagte, er wollte nicht am Weißen Hügel bleiben, wenn wir dort sind. Er will lieber das Leben, das er sich dort geschaffen hat, hinter sich lassen, und Bridei den Rücken - 678 zuwenden, seinem Gönner und gutem Freund. Er will davongehen und als Söldner, als Mörder für Geld arbeiten. Das darf er nicht tun. Nicht jetzt, nicht nachdem er seine Lieder gesungen, seine Geschichte erzählt und wieder begonnen hat zu leben. Es ist ...« Sie hielt inne. Sie konnte nicht in Worte fassen, was für eine schreckliche Verschwendung das war und wie sehr der Gedanke sie quälte. »Du weinst um ihn.« Drustans Ton war sanft, als er den Finger hob, um die Tränen von ihrer Wange zu wischen. Ana nickte, immer noch unfähig zu sprechen. »Er liebt dich, und seine Leidenschaft ist so mächtig geworden, dass er es nicht mehr vor dir verbergen kann. Er hat sein Bestes getan, es nicht zu zeigen.« »Du wusstest es?« »Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, seit ich sein Gesicht sah, als er deinen Namen aussprach. Komm, lass mich dich im Arm halten, denn auch ich kann mich beherrschen, wenn es sein muss, obwohl diese Flamme, die in mir brennt, ein grausames Vergnügen ist. Weine ruhig, wenn du willst. Was sollen wir tun? Ich hatte zumindest auf ein paar Tage hier gehofft. Ich glaube, er ist gegangen, weil er dachte, dass wir... weil er nicht hier sein wollte, wenn...« Plötzlich fehlten auch ihm die Worte. »Du bist verlegen«, sagte Ana, und sein Erröten genügte, um sie unter Tränen lächeln zu lassen. »Es ist in Ordnung, Drustan, ich bin nicht schockiert. Du musst wissen, dass das gleiche Feuer in mir brennt. Jede Berührung von dir macht es noch schlimmer. Ja, ich war einmal ein Mädchen, das sich an Regeln hielt: gehorsam, pflichtbewusst und auf jede Weise korrekt. Dieses Mädchen hätte nie daran gedacht, ihre Hochzeitsnacht vorwegzunehmen, besonders wenn sie nicht einmal die Erlaubnis des Königs zu dieser Heirat hatte. Sie hätte nicht sagen können, was ich jetzt ausspreche, ohne so rot zu werden, wie du bist.« Drustan lächelte. »Ich sehe, dass sich deine Wangen aufs - 679 -
Entzückendste rosig färben, Ana. Du siehst aus wie der Frühling, wie die Blütenreiche in sterblicher Gestalt. Und ich werde wahrscheinlich rot wie ein nervöser Junge, weil mir das alles so neu ist und ich nicht weiß, wie du antworten wirst.« »Antworten? Wie lautet denn die Frage?« Er war eindeutig ein wenig verlegen über das, was er sagen wollte. Er trat von einem Fuß auf den anderen wie ein ungeschickter Sechzehnjähriger, und Ana erinnerte sich daran, dass er sieben Jahre lang eingesperrt gewesen und noch nicht daran gewöhnt war, unter Menschen zu sein. »Du willst Faolan folgen, nicht wahr?«, fragte er. »Ich bin sicher, dass du nicht deshalb errötet bist, Drustan, aber ja, das will ich. Wir können nicht zulassen, dass er den Hof verlässt und aus unserem Leben verschwindet. Wir sind es ihm schuldig, ihm dabei zu helfen, sich seiner Vergangenheit zu stellen und die Gegenwart zu akzeptieren, selbst wenn das bedeutet, dass er Freundschaft, Liebe und Schmerz akzeptieren muss. Es ist Zeit, dass er zugibt, dass er ein Mensch ist, mit den Schwächen und Stärken eines Menschen. Er muss akzeptieren, dass Liebe wehtut und dass sie heilt.« Drustan sah sie ernst an. »Dann werden wir uns Pferde leihen und ihm sofort folgen«, sagte er. »Das sollten wir tun.« Ana hörte die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme. Drustans Hand lag an ihrem Nacken, streichelte die Haut unter ihrem weichen, kurzen Haar, und dieses wunderbare Gefühl machte es ihr schwer, sich zu konzentrieren. »Sofort. Er wird nicht erfreut sein, aber ...« »Also«, murmelte Drustan und nahm sie wieder in die Arme, »nicht schon heute Nacht?« Sie konnte nicht sprechen. Jede Faser ihres Wesens schrie nach ihm, mit einem machtvollen, beängstigenden Drängen. »Ich werde tun, was du willst, Ana«, sagte Drustan, und seine Hände glitten tiefer nach unten, eine zu ihrer Taille, - 680 die andere zu ihrem Po, und er drückte sie fest an sich, gegen Brust, Bauch, Lende. Die harte Form seiner Männlichkeit war verblüffend deutlich zu spüren, und noch verblüffender für Ana war ihre Reaktion, eine pulsierende Hitze, die zwischen ihren Beinen erwachte und bewirkte, dass sie sich auf eine Weise an ihn schmiegte, die sie vor noch nicht allzu langer Zeit für schockierend unanständig gehalten hätte. »Das ist ungerecht«, keuchte sie. »Du weißt, was ich wirklich will ... aber...« »Ana«, sagte Drustan, »wir können sofort aufbrechen, wenn du es wünschst. Diese Reise hat uns drei miteinander verbunden, dich und mich und Faolan. Wir werden dem nie entkommen, was immer wir tun, wohin wir auch gehen. Wir müssen tun, was du vorgeschlagen hast. Wir müssen ihm folgen, ihn finden und ihn von seinem Plan abbringen. Ich hatte wunderbare Phantasien über unseren Aufenthalt hier in Abertornie, das streite ich nicht ab. Aber ich kann warten. In sieben Jahren sollte ich zumindest das gelernt haben.« »Hm«, sagte Ana und löste sich mit einigem Widerstreben von ihm, um sich wieder aufs Gras zu setzen. »Nicht Faolans Eintreffen auf dem Weißen Hügel ist das Problem, sondern sein Abschied von dort. Er hatte vor, Broichan von uns zu erzählen. Er muss drei oder vier Tage am Hof bleiben, um mit Brideis Beratern zu sprechen. Das ist das Mindeste, was sie von ihm erwarten werden. Außerdem wird Faolan es zwar nie zugeben, aber er war sehr erschöpft und wird sicherlich heute Abend schon bald ein Lager aufschlagen und nicht vor dem Morgen weiterreiten, was bedeutet...« »Es bedeutet, dass wir unseren eigenen Abschied hier auf morgen verschieben und ihn immer noch einholen können, meine Prinzessin.« Ana grinste ihn an. »Prinzessin? Ich habe mich in diesem Lumpen von einem Gewand und umgeben von Wölfen - 681 nicht besonders prinzessinnenhaft gefühlt, und ich tue es auch jetzt nicht, Bad oder nicht.« »Für mich und für ihn«, sagte Drustan feierlich, »warst du nie weniger als das. Bist du einverstanden, noch eine Nacht hier zu bleiben?« Sie nickte, plötzlich schüchtern geworden. Seine Augen leuchteten, und sein Blick war vollkommen ernst. »Wirst du mich heiraten?«, fragte er sie. Sie starrte ihn an. Er hatte sie überrascht. »Das war nicht die Frage, die ich erwartet hatte«, sagte sie. »Sag mir, was du erwartet hast.« Ana räusperte sich. »Willst du ... willst du heute Nacht bei mir liegen?« »Ja«, antwortete Drustan sofort. »Meine Antwort lautet ebenfalls Ja. Loura wird schockiert sein.« »Das bezweifle ich«, lachte er. »Ich glaube, sie denkt bereits das Schlimmste von uns, denn man hat mir die Schlafräume gezeigt, die für uns vorbereitet wurden, und es gibt eine Tür dazwischen. O Ana, solches Glück ist mehr, als ich verdient habe. Ich möchte jubeln, singen, hoch in den Himmel aufsteigen und es herausschreien, sodass die ganze Welt mich hören kann. Solche Freude, dass ich davon bersten könnte.« Er strahlte. Es kam Ana so vor, als wären die Kränkungen, die Grausamkeit, die Schmerzen der letzten sieben Jahre in einem einzigen Augenblick weggewischt worden. Und es war sie, die das getan hatte. Sie hatte seine Welt auf den Kopf gestellt und ihn wieder gesund gemacht. Aber das hatte seinen Preis gefordert. Morgen würden sie sich Pferde leihen und sich auf den Weg machen, um etwas dagegen zu tun. Morgen. »Du ehrst mich«, sagte sie ein wenig schüchtern.
»0 nein«, sagte Drustan. »Wenn du zustimmst, meine Frau zu werden, gibst du mir ein Geschenk, das über Ehre hinausgeht.« »Ich habe bereits zugestimmt.« - 682 Er verblüffte sie, indem er auf die Knie sank, die Arme um sie legte und den Kopf an sie lehnte wie ein Kind; sie spürte eine Spannung in seinem Körper, die neu war. »Bridei wird vielleicht nicht zustimmen. Er hält mich vielleicht nicht für angemessen. Du bist meine Prinzessin. Aber du bist auch eine Prinzessin der Priteni, eine Braut von immensem Wert für das Königreich. Was, wenn ...« »Drustan.« Er schwieg. Er hatte sein Gesicht an sie gedrückt, und sie sah seine Augen nicht. »Drustan, sieh mich an. Das ist schon besser. Ich liebe dich, mein Herz.« Sie streichelte über die wilde Kaskade seines schimmernden Haars. »Mehr als den Sonnenaufgang, mehr als das Mondlicht, mehr als Vogelgesang oder Licht auf dem Wasser oder ein warmes Feuer nach einer langen Reise. Ich liebe dich mit meinem ganzen Herzen, immer und ewig. Ich möchte, dass meine Kinder deine Kinder sind. Ich will, dass wir zusammen alt werden, immer noch voller Freude in jedem Augenblick, in dem wir einander ansehen. Ich habe von einem Kind geträumt, habe ich dir das erzählt? Sie hatte dein Haar und deine wunderschönen Augen. Sie war unsere Tochter, Drustan. Ich weiß, dass es so sein soll. Ob Bridei es nun erlaubt oder nicht, ich werde den Hof mit dir verlassen. Die Götter werden verstehen, dass die Verbindung zwischen uns tiefer geht, als jede Handreichungszeremonie eines Druiden es bewirken kann.« »Und Faolan?« Er flüsterte nur. Ana seufzte. »Faolan steht mir sehr nahe. In einer anderen Welt, wenn ich dir nie begegnet wäre, vielleicht... nein, ich darf das nicht sagen. Faolan stehen noch viele Reisen auf seinem eigenen Weg bevor. Ich denke, es gibt etwas, das er tun muss und bei dem wir ihm helfen können. Ich streite nicht ab, dass ich es vorziehen würde, wenn er in der Nähe bliebe. Aber ich glaube, dass sein Schicksal fern von uns liegt.« - 683 »Und das macht dich traurig, selbst in einem Augenblick der Freude.« »Ein wenig traurig, aber ich werde das bis morgen beiseite schieben. Am Morgen werden wir ihm folgen und versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen. Bis dahin ...« Drustan stand auf. »Wie lange, glaubst du, wird es noch bis zum Sonnenuntergang dauern?«, fragte er sie lächelnd. »Nicht so lange, wie es uns vorkommen wird«, sagte Ana. »Aber ich denke, nach all dieser Zeit können wir es ertragen. Ich hoffe, du hast vor, diese unglaubliche Tunika auszuziehen, bevor du schlafen gehst. Sie bewirkt, dass mir schwindelig wird.« »Erinnerst du dich«, sagte Drustan leise, »dass ich dich vor langer Zeit einmal gefragt habe, ob es dich freuen würde, dich vor mir auszuziehen? Wenn ich mich recht erinnere, lautete deine Antwort Ja. Oder vielleicht hast du Vielleicht gesagt.« »Du wirst es schon bald herausfinden«, sagte Ana, hakte sich bei ihm ein und führte ihn zurück zum Haus. »Vielleicht solltest du mir diese nebeneinander liegenden Schlafräume zeigen. Ich werde nicht fragen, wo Faolan schlafen sollte. Es ist mir unangenehm, daran zu denken, was Loura wohl dachte. Sie muss aufmerksamer und offener sein, als ich angenommen hätte. Aber sie ist Geds Frau. Ich schätze, sie hat schon so ziemlich alles gesehen.« - 684 KAPITEL SIEBZEHN Tuala hatte sie kommen sehen. Seit Fola und Broichan sie dazu gebracht hatten, ihr Versprechen gegenüber sich selbst zu brechen, hatte sie jeden Tag in die Schale geschaut. In ihrem Kopf gab es keinen Platz für etwas anderes als Bridei; während sie durch die Flure, Zimmer und Gärten des Weißen Hügels ging, vollzog sie seine Reise mit ihm, durch die Täler, die Pässe und das Bauernland zwischen hier und Dalriada, von einem Kampf zum Lager und zum nächsten Kampf. Sie schlief wenig, denn sie wusste, dass Bridei wach liegen und den Preis für diesen, für jenen Mann abwägen würde. Alles gewonnene Land, alle Vorteile würden für ihn niemals vollkommen den menschlichen Preis aufwiegen. Sie hatte sich schweren Herzens entschlossen, Derelei bei Broichan im Haus der Weisen Frauen zu lassen. Die Kinderfrau würde sich liebevoll um ihn kümmern, und der Druide und das Kind waren vielleicht besser dran, weil es in Banmerren friedlicher zuging. Tuala selbst war zu abgelenkt, um ihrem Sohn die Zeit zu geben, die er brauchte. Außerdem würde sie ihn bald wieder nach Hause holen. In der Zwischenzeit hatte sich Brideis kleiner Hund Ban angewöhnt, ihr überallhin zu folgen, saß zu ihren Füßen, wenn sie im Wasser nach Visionen suchte, und trabte neben ihr her, wenn sie ruhelos auf und ab ging. - 685 Tuala wusste, dass sie unauffällig bewacht wurde. Aniel hatte seine eigenen Leibwächter beauftragt, sie aus diskretem Abstand zu schützen. Tharan erschien hin und wieder, um mit ernster Höflichkeit zu fragen, wie es ihr ginge. Die beiden Berater wussten, was sie gesehen hatte. Sie hatte ihren Rat gesucht, nachdem sie vom Banmerren zurückgekehrt war, hatte entgegen aller Hoffung gehofft, dass es etwas gab, was sie übersehen hatte, und dass die Entfernung zwischen hier und dem Süden von Dalriada irgendwie rechtzeitig zurückgelegt werden
konnte. Die finsteren Mienen der beiden hatten ihr diese Hoffnung bald genommen. Selbst wenn ein Bote unversehrt nach Dalriada gelangen konnte, würde er Bridei nicht erreichen, bevor der Herbst weit fortgeschritten war. Tuala wusste tief im Herzen, dass es zu spät sein würde. Was ihre Versuche anging, das Volk aus der Anderwelt zu Hilfe zu rufen, so hatten sie sich als vergeblich erwiesen. Wie sie schon befürchtet hatte, waren ihre Bitten auf Schweigen gestoßen. Weide, Geißblatt und die anderen von ihrer Art kamen nur, wenn es ihnen passte. Was immer die Lösung sein mochte, sie lag in Menschenhänden. Ihre andere Vision, Broichan im Frühlingswald und eine Frau des Guten Volks, die ihn beobachtete, hatte sich nicht wiederholt. Wer wusste schon, was Druiden bei ihren langen, einsamen Wachen im Wald zur FrühlingsTagundnachtgleiche taten? Die Göttin verlangte Gehorsam von Geist und Seele. Und auch körperlich: Hängten sich die von der Bruderschaft nicht tagelang in die Astgabeln von Eichen, in Ochsenhaut gewickelt, um prophetische Visionen zu haben? Vielleicht gab es auch andere Möglichkeiten, den Körper eines gesunden Mannes in den Dienst der Leuchtenden zu stellen. Sie hätte gerne gewusst, aus welchem Jahr dieses Bild stammte. Sie nahm an, dass es das Jahr war, in dem Broichan nach Caer Pridne gereist und beinahe am Gift gestorben war: das Jahr ihrer eigenen Geburt. - 686 Sie sah auch nichts mehr von Bridei, aber an diesem Morgen hatte Tuala im klaren Wasser Ana auf dem Heimweg erblickt, eine seltsam veränderte Ana, die aussah, als wäre sie durch einen Feuerofen gegangen und hätte dabei alles bis auf ihren wesentlichen Kern abgestreift. Tualas Freundin war quälend dünn, und ihr schönes Haar war seltsam kurz geschnitten. In der Vision ritt sie an Faolans Seite über einen vertrauten Weg, den Hauptweg von Abertornie zum Weißen Hügel. Faolan sah elend aus: krank und besiegt. Etwas musste vollkommen schief gegangen sein, so viel war klar. Es gab nur die beiden, keine Eskorte, keine Wachen, nur den Mann, die Frau, die beiden Pferde und ... und den Falken. Ana trug einen schweren Handschuh, und darauf saß ein Geschöpf, dessen wunderbares Gefieder jede Farbe von tiefem Eichenbraun über Feuerrot zu reifem Gerstengold hatte. Seine Augen waren durchdringend, wissend, gefährlich. Der Vogel gehörte einer Spezies an, die Tuala nicht kannte; seine wunderschönen Farben und edle Haltung schienen ihn als etwas Besonderes zu kennzeichnen. Ana trug das Tier trotz seiner Größe mühelos, ihr Arm und die Schulter waren entspannt. In ihren grauen Augen hatte immer tiefe Gelassenheit gestanden; sie hatte immer ruhig gewirkt, aber irgendwie traurig. Nun gab es einen Ausdruck in ihren Augen, den Tuala dort nie zuvor gesehen hatte. Trotz dieser Rückkehr, einem klaren Zeichen, dass die Mission nach Dornwald nicht so ausgegangen war, wie Bridei es wünschte, strahlten Anas Augen mit überwältigender Freude. Tuala ging davon aus, dass diese Vision die Gegenwart zeigte, und ließ Vorbereitungen treffen, die beiden später an diesem Tag zu empfangen. Das Licht in dem Bild, das sie gesehen hatte, war das des frühen Nachmittags, ein warmer Schimmer lag auf den Buchenblättern, die Sonne streifte die Waldwege und verwandelte Anas Haar in helles Gold. Die Blätter zeigten bereits die sanften Farben des Herbstes. Der - 687 Krieg im Westen war vielleicht beinahe vorüber. Falls Bridei noch lebte. Falls die Götter ihn verschonten. Falls der große, kräftige junge Mann mit dem Messer in der Hand und dieser Entschlossenheit im Blick irgendwie aufgehalten worden war. Tuala seufzte. Die Gabe des Blicks war grausam. Das Leben war voll von Möglichkeiten, Gefahren und schnellen Entscheidungen. Wenn ein Mann nicht durch die Klinge eines Attentäters starb, bedeutete das, dass er am nächsten Tag oder dem darauf auf andere Weise umkommen konnte. Sich einzumischen, weil das Wasser etwas zeigte, was einem nicht passte, konnte dazu führen, dass man eine ganze Reihe anderer Ereignisse in Bewegung setzte, die auf ihre eigene Art katastrophaler sein konnten als das in der Vision Gesehene. Andererseits sandte die Leuchtende Tuala diese Bilder aus einem Grund. Und es ging um Bridei: Nicht nur um ihren Mann, ihren Geliebten, ihren besten Freund und den Vater ihres Kindes, sondern auch den König von Fortriu, den großen Anführer seines Volkes. Was sonst war diese Vision als ein Aufruf zu handeln? Mit diesem Dilemma in ihrem Kopf stand Tuala nun neben Aniel an den Zinnen auf der oberen Ebene des Weißen Hügels und hielt nach Reitern Ausschau. Ban saß zu ihren Füßen, der kleine Körper vor Erwartung angespannt. Tuala hatte mit Aniel gesprochen, nachdem sie Faolan im Wasser gesehen hatte, denn in der Rückkehr des Leibwächters lag auch eine gewisse Hoffnung. War Brideis rechte Hand nicht immer im Stande gewesen, auch die herausforderndsten Aufträge zu erledigen und eine Lösung für selbst die kompliziertesten Rätsel zu finden? Faolan war mutig, erfindungsreich und tüchtig. Vielleicht würde er eine Lösung finden, wo selbst Broichan keine gefunden hatte. Tuala behielt ihre Unruhe über Faolans Aussehen für sich. Sie würde diese Reisenden ihre Geschichte erzählen lassen, bevor sie ihnen die ihre mitteilte. - 688 Kurz vor der Abenddämmerung kamen die Reiter in Sicht. Tuala unterdrückte ein erstauntes Keuchen. »Hattest du mir nicht gesagt, dass Ana und Faolan allein waren?«, fragte Aniel und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Wer ist dann das?« Sein Tonfall spiegelte Tualas eigene Reaktion wider. Faolan wurden nicht nur von einem Dritten begleitet, sondern er saß mit Ana zusammen auf dem Pferd und hielt sie im Arm, da sie vor ihm saß. Ihr goldenes Haar vermischte sich mit seiner eigenen Masse wilder roter Locken. Die beiden wirkten wie ein Bild aus einer alten Geschichte, ein so reizendes und erstaunliches Bild, dass man den Atem anhielt.
»Das ist kein Leibwächter«, sagte Tuala. »Ich kann nur annehmen, dass es sich um ihren Mann handelt, Alpin von Dornwald. Es sieht aus, als hätte sie besser abgeschnitten, als alle erwartet haben.« Anas Begleiter war zweifellos das erstaunlichste Beispiel männlicher Schönheit, das je den Weißen Hügel aufgesucht hatte. Selbst Tuala, die Bridei für den vollkommensten Mann in ganz Fortriu hielt, musste das zugeben. Erst jetzt fiel ihr wieder Folas Bericht über eine Vision ein, in der die Weise Frau Ana bei einem Kampf mit Wölfen gesehen hatte. Es hatte zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich gewirkt. Dann bemerkte sie die Krähe, die auf der rechten Schulter des Mannes saß, und den kleineren roten Vogel auf seiner linken. Ana trug den Handschuh nicht mehr, und der Falke war nirgendwo zu sehen. An dieser Sache war etwas entschieden Seltsames. Ana lehnte sich an den jungen Mann, als wäre er ihr Heim, ihr Herd, ihre Zuflucht. Sein stützender Arm lag zärtlich und vorsichtig um ihre schlanke Gestalt in ihrer zu weiten Kleidung. Vielleicht war die Mission ja doch ein Erfolg gewesen. »Komm«, sagte Tuala zu dem Berater. »Wir müssen hinuntergehen und sie empfangen. Sie haben sicher viel zu erzählen, und ich erwarte, dass es eine seltsame Geschichte sein wird. Komm, Ban.« Der kleine Hund folgte gehor- 689 sam, aber er ließ die Ohren hängen. Tualas Herz blutete für ihn. »Hab Geduld«, flüsterte sie und bückte sich, um dem kleinen Tier den Kopf zu streicheln. »Er wird nach Hause kommen.« Möge die Leuchtende gewähren, dass es wirklich geschieht, fügte sie lautlos hinzu. Mögen die Götter ihn lebendig, gesund und siegreich nach Hause bringen, damit wir so etwas lange nicht mehr tun müssen. Möge mein nächstes Kind in eine Welt des Friedens geboren werden. Es war tatsächlich eine seltsame und traurige Geschichte, denn elf Männer vom Weißen Hügel waren an der Furt umgekommen, und man musste ihren Verwandten die schockierenden Nachrichten bringen. Tuala spürte, dass Faolan, der das meiste erzählte, nicht die ganze Geschichte wiedergegeben hatte. Er hatte den Fremden als Alpins Bruder vorgestellt, und Ana hatte ihnen mit ruhiger Sicherheit berichtet, dass sich der Fürst von Dornwald nicht als der Mann erwiesen hatte, auf den sie gehofft hatten. Alpin, sagte sie kühl, war nun tot - das Ergebnis unglücklicher Umstände. Mit der Erlaubnis des Königs würde sie stattdessen seinen Bruder heiraten. Sein Bruder: dieser gut aussehende Fremde mit den strahlenden Augen, dessen Art Tuala verwirrte und sie an jemanden erinnerte, den sie nicht benennen konnte. Die beiden Vögel blieben in seiner Nähe, selbst im Beratungszimmer, wo sich die Reisenden mit Tuala, Aniel und Tharan zusammengesetzt hatten, um zu erzählen, was ihnen zugestoßen war. Drustan hielt ganz offen Anas Hand. Die beiden sahen einander häufig an, als könnten sie es nicht ertragen, das nicht zu tun. Von einem höflichen Gruß abgesehen, hatte Drustan selbst kein Wort gesagt. Es gab hier ein Geheimnis, aber das musste warten. »Was gibt es Neues von Bridei?«, fragte Faolan. »Wo ist er? Wie weit ist die Streitmacht vorgedrungen?« Tharan räusperte sich. Aniel warf Drustan einen viel sagenden Blick zu. - 690 »Wir müssen mit dir allein sprechen, Faolan«, sagte Tuala. »Es gibt eine wichtige dringende Angelegenheit, über die wir mit dir sprechen müssen. Wir hoffen sehr, dass du helfen kannst.« »Welche Angelegenheit?« Sein Ton war scharf. »Wir werden unter uns darüber sprechen«, sagte Aniel entschlossen. »Ana ist nach dem Ritt von Abertornie hierher sicherlich müde. Ich werde für Erfrischungen sorgen und ein Zimmer für deinen ...« »Sie sollten bleiben«, sagte Faolan. »Das hier hat mit Bridei zu tun, nicht wahr? Ihr könnt offen vor ihnen sprechen; tatsächlich solltet ihr es tun. Es gibt nichts, was ihr Ana nicht anvertrauen könnt. Und Drustan ist ein Freund und Verbündeter.« Die beiden Berater starrten ihn an. Was er vorschlug, war ein vollkommener Bruch des Protokolls. Es gab vernünftige Gründe für solche Regeln, besonders in Kriegszeiten. Faolan musste besser als jeder andere wissen, welche Gefahr darin lag, wichtige Informationen zu weit zu verbreiten. »Ich habe in diesem Konflikt keine Seiten bezogen.« Drustan sprach leise. »Mein Bruder hat mein Territorium als Basis für seine Seestreitkräfte benutzt, doch das wird sich ändern, wenn ich zum Träumenden Tal zurückkehre. Nun, da Alpin tot ist, wird auch Dornwald an mich fallen. Anas Freunde sind meine Freunde. Ich stehe außerhalb des Kriegs.« »Sagt es uns«, bat Ana. »Um was geht es? Gibt es Schwierigkeiten bei Brideis Unternehmen?« »Es tut mir Leid.« Aniels Tonfall war plötzlich sehr streng. »Solche Angelegenheiten sollten in großer Abgeschiedenheit besprochen werden. Was immer Faolan denken mag, die Entscheidung steht in Abwesenheit des Königs und seines Druiden mir und den anderen Beratern zu, und selbstverständlich der Königin. Ein Mann kann nach einer kurzen Bekanntschaft oder der Annahme, dass man ihn irgend- 691 wann in der Zukunft für einen akzeptablen Bewerber um die Hand einer königlichen Geisel halten könnte, noch keinen Zugang zu solchen Besprechungen erhalten.« Der Ausdruck, der nun auf Faolans müdem Gesicht erschien, konnte nur als Furcht erregend beschrieben werden. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Drustan«, sagte Ana ruhig, »wir beide sollten uns eine Weile zurückziehen. Aniel hat Recht, ich bin müde, und ich möchte dir außerdem den Garten zeigen, bevor es zu dunkel wird. Und dich Derelei vorstellen. Komm, wir gehen.«
»Danke, Ana«, sagte Tuala. »Derelei ist allerdings leider nicht hier, er ist mit Broichan in Banmerren geblieben. Ich werde zu euch kommen, sobald wir hier fertig sind.« Und als Ana und ihr außergewöhnlicher junger Mann hinausgingen, immer noch Hand in Hand, sagte sie: »Faolan, bitte setz dich wieder. Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Bridei ist in Gefahr. Wir brauchen deine Hilfe.« Er setzte sich, die Lippen fest zusammengekniffen. »Sag du es ihm, Aniel«, bat Tuala. Aniel erklärte es: die Vision - er erwähnte nicht, wessen Vision es gewesen war -, die Schlacht, der Kampf, der große, kräftige junge Mann mit dem Messer. Tuala sah, wie Faolan bleich wurde und die Zähne zusammenbiss. »Wir glauben«, erklärte Tharan ernst, »dass dies bald geschehen wird, falls es nicht bereits passiert ist. Broichan sagt uns, dass er nicht die Kraft hat, schnell nach Westen zu reisen, wie es die von seiner Art manchmal können; tatsächlich gibt es keinen Druiden mit dieser Fähigkeit in ganz Fortriu. Wir haben natürlich Reiter losgeschickt. Aber wir sind überzeugt, dass sie Bridei nicht rechtzeitig erreichen werden. Das Wetter ist derzeit besonders gut, ungewöhnlich gut für den Herbst. Die Beschreibung der Szene, das Licht, die Farben der Blätter, alles lässt ähnliche Bedingungen vermuten. Unsere Einschätzung des Schauplatzes passt - 692 zu dem Plan der Anführer aus Fortriu. Wir glauben, dass es kurz bevorsteht.« »Broichans Weissagung, bevor Bridei aufgebrochen ist, beinhaltete auch eine Warnung.« Selbst hier, umgeben von treuen Beratern, erwähnte Tuala nicht ihre eigene Rolle dabei. »Die Situation ist verzweifelt, Faolan.« »Ich sollte dort sein«, murmelte Faolan. »Ich hätte mit ihm gehen sollen.« »Wir hatten gehofft«, sagte Tuala, »dass dir etwas einfällt, was uns bisher entgangen ist. Ich kann nicht glauben, dass die Göttin ihn so leicht opfern wird, und auch nicht, dass sie uns diese Vision gewährte, wenn es keine Möglichkeit gibt, etwas zu unternehmen. Wir müssen ihn retten.« »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Faolan. »Sie liegt bei Drustan, dem Mann, dem ihr nicht vertraut. Ihr müsstet ihn bitten, sich in Gefahr zu begeben. Ihr müsstet Ana bitten, ihre schwer errungene Zukunft zu gefährden. Selbst wenn Brideis Leben in Gefahr ist, tue ich das ungern.« »Du sprichst in Rätseln«, sagte Tharan. »Wie kann dieser Mann uns helfen? Er ist ein Fremder. Er ist ein Caitt, und er ist der Bruder eines Mannes, der vielleicht mit Dalriada gemeinsame Sache gemacht hat. Wie können wir ihm vertrauen, selbst vorausgesetzt, dass er das Unmögliche tun kann?« Faolan antwortete nicht. »Faolan?«, fragte Tuala. »Wir haben nicht viel Zeit. Was sollen wir tun?« »Ich werde mit ihm sprechen.« Er klang widerstrebend und hatte den Blick abgewandt. »Wenn sie helfen wollen, dann müssen Ana und Drustan es euch selbst erklären. Drustan kann Bridei rechtzeitig erreichen. Ob wir ihm diese Aufgabe auferlegen sollen, ist eine andere Sache.« Sie wartete nur, bis es Tag wurde. Drustan, schweigsam und nervös, nun, da er unter Fremden war, wollte sich nicht in - 693 der Öffentlichkeit verwandeln. Ana hatte es selbst nur zwei Tage zuvor zum ersten Mal erlebt, und es war deutlich geworden, dass er seine Fähigkeit immer noch sowohl als Geschenk als auch als Last betrachtete, etwas, das ihn immer von anderen unterscheiden und für viele bedrohlich machen würde. Ana hatte es für ein ausgesprochen wunderbares und schönes Erlebnis gehalten. Als sie sich geliebt hatten, hatte sie sein doppeltes Wesen in der lebhaften Kraft seines Körpers, der federleichten Berührung seiner Hände, der fließenden, ruhelosen Begeisterung danach gespürt. Ihr Beisammensein hatte ihn mit solcher Energie erfüllt, dass er am Morgen danach gezwungen gewesen war, sich in seine andere Welt zu begeben und eine Weile der Falke zu sein, und sie hatte über den Anblick dieses hoch gewachsenen Mannes gestaunt, der auf einer Lichtung stand, die Arme ausgestreckt wie zum Gebet, die strahlenden Augen offen für Erde, Bäume und hellen Himmel, und dann war in einem Wirbel plötzlicher Bewegung der Falke in die endlose blaue Weite aufgestiegen. Er war in dieser anderen Gestalt zu ihr zurückgekehrt. Sie hatte ihn mit ihrer Stimme und mit ihrer weichen Hand beruhigt und ihn auf dem Handschuh mit solchem Stolz, solcher Ehrfurcht und solcher Zärtlichkeit nach Hause getragen, dass er wusste, dass es in ihrem Herzen keinen Platz für Ablehnung gab. Nun verabschiedete sie sich in der Abgeschiedenheit eines kleinen Hofs am Weißen Hügel von ihm, umarmte ihn und zwang sich zu glauben, dass es nicht das letzte Mal war. Sie strengte sich an, mit entschlossener Stimme zu sprechen: »Ich wünsche dir einen sicheren Flug, mein Herz. Fliege und finde Bridei. Ich werde hier warten.« Drustan drückte die Lippen auf ihr Haar. Er sagte nichts, sein Körper bewegte sich bereits auf dieses Stadium zu, in dem er die Energie, die Fähigkeit zur Verwandlung haben würde. Er hielt sie noch einen Augenblick im Arm, dann ließ er sie los und trat von ihr weg. Ana sah schweigend zu, - 694 wie er sich einmal, zweimal um sich selbst drehte; der Rand der aufgehenden Sonne zog Feuer aus seinem rötlichen Haar. Ana sah, wie die breiten Schwungfedern des Vogels sich auf und ab bewegten, und eine einzelne Feder segelte herab und landete auf den Pflastersteinen vor ihren Füßen. Er umkreiste noch einmal den Gipfel des Weißen Hügels und flog dann nach Südwesten, in Richtung Dalriada. Bis Ana sich gebückt und die rotgoldene Feder aufgelesen hatte und Krähe und Kreuzschnabel aus dem Nichts aufgetaucht waren, um auf ihren Schultern zu landen, war Drustan schon verschwunden.
Ana stand im Hof, und es widerstrebte ihr, nach drinnen zu gehen, so kalt der frühe Morgen auch sein mochte. Sie wusste, wie unsicher sich Drustan bei dieser Mission fühlte; sie spürte den Grund dafür, obwohl er nicht darüber sprechen wollte. Er war nur ein Bote. Dennoch würde er mitten in einen Krieg fliegen, um einen Mann zu suchen, der vielleicht um sein Leben kämpfte. Und sie hatte seinen seltsamen Blick bemerkt, als man ihm den Attentäter beschrieb. Sie wusste nicht, um was es dabei ging, aber Drustan war bei allen Fähigkeiten, die Deord ihm beigebracht hatte, kein Krieger. Drustan verlangte keine Rache oder Strafe. Er sehnte sich einfach nur nach seiner Frau, seinem Heim und seiner Freiheit. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, nach drinnen zu gehen. Wenn sie hier blieb, wo sie ihn gesehen, ihn im Arm gehalten, sich von ihm verabschiedet hatte, dann würde die Entfernung nach Dalriada vielleicht nicht so weit sein, die vielen Gefahren zwischen dem Weißen Hügel und den Schlachtfeldern im Westen nicht so unüberwindlich. Ein Vogel war so zerbrechlich, ein Wunder aus Knochen, Gefieder und einem schnell schlagenden Herzen. Selbst so große Jäger wie Adler oder Falken waren gegenüber Unwettern, Kälte, einem Pfeil oder einem Steinwurf verwundbar. Außerdem musste er nicht nur sehr weit fliegen, son- 695 dem auch noch Bridei finden, und das inmitten eines Landes, das mit Kriegerlagern übersät war. Vielleicht würde er ihn im Tumult der Schlacht nicht erspähen können. Bridei war König, aber er trug keine Zeichen seines Amtes, wenn er in den Kampf ritt. Wie würde Drustan ihn erkennen? Wie würde er herausfinden können, wer dieser Mann war, den er suchte? Es war tatsächlich eine Verzweiflungsmission. Kein Wunder, dass es Faolan so widerstrebt hatte, Drustan auszuschicken. Drustan hatte ruhig zugehört, als Tuala eine ausführliche Beschreibung von Zeit und Ort, vom Aussehen des Königs und seines Angreifers gegeben hatte. Er hatte Fragen über den jungen Caitt-Krieger gestellt, wie er sein Haar trug, welche Farbe seine Augen hatten - ein helles, ungewöhnliches Blau - und hatte dann einfach nur erklärt, dass er es tun würde. Er würde Bridei warnen. Ana wusste, wieso er trotz aller Gefahren ohne Zögern zugestimmt hatte. Vielleicht war es der allgemeine Wunsch, ihnen zu helfen und Ana und Faolan ihre Freundschaft und ihr Vertrauen zurückzuzahlen. Der andere Grund jedoch war mächtiger und konnte erst in Worte gefasst werden, wenn die Tat geschehen war. Zu früh darüber zu sprechen, hätte bedeutet, die Götter zu verspotten. Aber Ana hatte es in Drustans Blick gesehen, in diesem Blick, der direkt zu ihrem Gesicht wanderte, sobald Faolan ihnen sagte, was Tuala und die anderen wollten. Drustan tat dies um ihrer beider Zukunft willen. Er hatte die volle Wahrheit über sich nicht schon so bald, nachdem sie den Weißen Hügel erreichten, enthüllen wollen. Aber am Ende hatte er keine andere Wahl gehabt. Nun war er verschwunden. Die Sonne ging auf, und während der Tag golden und hell wurde, schlichen sich Schatten in Anas Herz. Vielleicht hatte sie zu viel erwartet, zu viel gewollt. Hatte sie sich mit ihrer plötzlichen Entscheidung, sich ihrer Pflicht zu widersetzen, den Zorn der Götter zu- 696 gezogen? Vielleicht würde ihr noch heute die Knochenmutter dieses wunderbare Geschenk, dieses große Abenteuer, dieses lebhafte Geschöpf, das jeden ihrer Atemzüge mit Glück erfüllen konnte, wieder nehmen. Ana glaubte nicht, dass sie in diesem Fall fähig wäre weiterzuleben. Wenn sie ihn verlor, würde ihre Welt sich in Asche verwandeln. »Du bist traurig.« Faolan war die Steintreppe zum oberen Hof hinaufgekommen; sie wusste, dass er drunten beobachtet hatte, wie Drustan davonflog, und sich zurückgehalten hatte, damit die beiden sich verabschieden konnten. Als er nun näher kam, flatterten die beiden Vögel auf und setzten sich auf die Mauer. »Ihm wird nichts zustoßen. Er ist stark.« »Das hoffe ich, Faolan. Und ich hoffe, dass er Bridei rechtzeitig warnen kann. Ich frage mich, ob unser Leben immer so sein wird: ein Augenblick der Sicherheit, und dann stürzen wir plötzlich wieder in diesen Schrecken, und die Götter erlegen uns immer wieder neue Prüfungen auf.« »Das könnte sein«, sagte er, stellte sich neben sie und schaute hinab auf die dunklen Kiefern, die den Hang überzogen. Bei aller Helligkeit des Morgens lag Kälte in der Luft. Das Jahr würde sich bald der dunklen Zeit zuwenden. »Für mich ist es schon längst ein Muster, das ich erwarte. Ich hoffe, dein eigener Weg wird angenehmer sein. Aber euch beiden stehen noch einige Herausforderungen bevor, bevor das geschehen kann. Es wird für Drustan nicht leicht sein, seine verlorenen Territorien zurückzuerhalten.« »Wie du schon sagtest, er ist stark. Und wir können es uns leisten, ihm ein wenig Zeit zu lassen, damit er sich erholen und all diese Veränderungen begreifen kann. Ich glaube nicht, dass wir hier am Hof bleiben werden, Faolan. Wir werden anderswo ein Heim suchen, bis er bereit ist zurückzukehren. Ich habe Tuala schon gefragt, ob Broichan uns in seiner Abwesenheit vielleicht in Pitnochie wohnen - 697 ließe. Drustan fühlt sich in geschlossenen Räumen und unter vielen Menschen nicht wohl. Das wird sich vielleicht nie ändern.« Sie schwiegen einen Augenblick. »Ich hoffe, ihr wollt den Hof nicht wegen mir verlassen«, sagte Faolan. »Meine Gründe sind alle gut und basieren auf Liebe«, sagte Ana und legte die Hand auf seinen Arm. »Bitte geh noch nicht, Faolan. Bridei ist in solcher Gefahr. Wenn er umgebracht wird, wird sich hier alles verändern; es
wird sich für uns alle verändern. Du wirst dringend gebraucht. Deine Unterstützung bedeutet Tuala viel. Und wenn Bridei sicher nach Hause zurückkehrt, wird er erwarten, dass du hier bist. Er verlässt sich auf dich. Du weißt, wie wenig wahre Freunde er hat.« Sie konnte das Beben in ihrer Stimme hören, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie blickte nicht auf, aber sie spürte das Gewicht seines Blicks auf ihr. »Du machst dir in einem solchen Augenblick Sorgen um mich?« Faolans Tonfall war gleichzeitig ungläubig und liebevoll. Ana konnte die Tränenflut nicht mehr aufhalten, und bald schon spürte er, dass er sie in den Arm nahm, und sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte. Und ob er sie nun als Freund umarmte, als Bruder oder als ein Liebender, der versteht, dass es das einzige Mal war, dass er die Freude seines Herzens so im Arm halten konnte, war etwas, worüber sie nie mit jemandem sprach, ihr ganzes Leben lang nicht. Als sie ihre Tränen vergossen hatte, wischte Faolan ihr mit der Hand die Wange ab, sah ihr in die Augen, und sie spürte, dass er sich an ihr satt sah, sich Erinnerungen schuf, die ihn in der kommenden Zeit der Einsamkeit aufrechterhalten sollten. »Ich ...«, begann er und brach wieder ab, verzog den Mund zu einer Grimasse. »Still«, sagte Ana und berührte seine Lippen mit ihren Fingern. »Sprich es nicht aus. Ich weiß es bereits. Und jetzt - 698 gehe ich nach drinnen. Tuala war unten im Garten, um uns im Auge zu behalten, schon seit Drustan aufgebrochen ist. Geh bitte jetzt noch nicht davon. Warte ein wenig und denke darüber nach. Versprich es mir, Faolan. Bleib zumindest, bis wir wissen, dass Bridei und Drustan in Sicherheit sind.« Er grinste schief. »Ich kann dir einfach nichts verweigern«, sagte er. »Ich werde am Weißen Hügel bleiben, bis Bridei mir erlaubt zu gehen. Das verspreche ich dir.« Und er hob ihre Hand, aber nicht, um sie zu küssen, sondern um sie einfach einen Augenblick an ihre Wange zu legen, dann drehte er sich um, um zu gehen. Ana wusste, dass sie sein Gesicht in diesem Augenblick nie vergessen würde, den selbstironisch verzogenen Mund und den verzweifelten Blick. »Ana! Faolan!«, erklang Tualas Stimme von drunten, sorgfältig unbeschwert, obwohl ihr in diesen verzweifelten Zeiten die größte Gefahr drohte. »Ich dachte, wir könnten im Garten frühstücken. Wollt ihr euch zu mir setzen? Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, wie still es hier ohne Derelei ist.« Es war ein tapferer Versuch, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ana durchschaute ihn sofort. Tuala war unendlich besorgt und fühlte sich sehr allein. »Selbstverständlich«, sagte Ana, stieg die Treppe hinab und hakte sich bei der Freundin ein. »Drustan ist auf dem Weg; jetzt müssen wir warten, bis wir mehr erfahren. Faolan und ich haben dir noch mehr zu erzählen. Der Bericht von gestern war nur der erste Vorgeschmack. Ich fürchte, du wirst schockiert über mich sein, Tuala. Ich kehre als eine vollkommen andere Person zurück als die Ana, die vor Monden vom Weißen Hügel aufbrach.« Tuala und Faolan wechselten einen Blick. Ana konnte ihn nicht so recht deuten. »So würde ich es nicht ausdrücken, Ana«, sagte Tuala leise. »Es kommt mir eher so vor, als hättest du entdeckt, wer du wirklich bist.« - 699 »Wir haben uns alle verändert«, sagte Faolan. »Wir wurden im Feuer geschmiedet, auf unser wahres Wesen reduziert und neu geschaffen. Unsere Seelen wurden zu Harfensaiten gestreckt, unsere Herzen in Trommeln verwandelt. Das Schicksal spielt auf jedem von uns ein anderes Lied. Liebe, Verlust, Verrat, Erfüllung.« Tualas Augen wurden groß. »Du sprichst wie ein Barde, Faolan«, stellte sie fest. »Was geschehen ist, hat uns alle stärker gemacht«, sagte Ana. »Nun müssen wir darum beten, dass Drustan stark genug für diese Reise ist und dass die Götter immer noch auf Bridei herablächeln.« Und dann setzten sie sich alle drei in den Garten, und das lange Warten begann. Die Armee von Fortriu griff die Galen im Morgengrauen an. Gabhrans Streitkräfte hatten sich an der Südflanke eines weiten Tals aufgestellt, durch das ein breiter Bach rasch durch ein steiniges Bett floss, das nicht tiefer als knietief war. Es war unvermeidlich, dass die schwersten Kämpfe an diesem Wasserlauf stattfinden würden. Brideis Männer hatten sich im Dunkeln genähert, und im ersten Licht begannen sie einen Frontalangriff; einen berittenen Angriff mit schnellem Rückzug, dem der Angriff der Fußsoldaten folgte, die in der PikenblockFormation marschierten. Die Gegenseite, die immer noch dabei gewesen war, Verteidigungsstellungen zu beziehen, als die Reihe mit Speeren bewaffneter Reiter auf ihr Lager zustürmte, nahm bei diesem ersten Angriff schwere Verluste hin. Der Pikenblock-Angriff, der folgte, war diszipliniert und tödlich; die erste Reihe bildete mit ihren Schilden eine feste Verteidigungsmauer, die Speere der zweiten Reihe ragten über die Schultern der ersten hervor wie die Stacheln eines Igels, und die dritte Reihe war mit Wurfspeeren ausgerüstet, die sie über diese Furcht erregende Barriere hinweg nach den Fußsoldaten des Feindes schleuderte. - 700 Carnach und Bridei, die Seite an Seite auf ihren Pferden saßen und nach diesem ersten berauschenden Angriff und Rückzug noch schwer atmeten, beobachteten, wie die Dreierreihe von Männern sich stetig auf den Feind zu bewegte, hörte das Brüllen ihrer Herausforderung: »Fortriu! Fortriu!«, unterstrichen vom entschlossenen Stampfen bestiefelter Füße, dem splitternden Knirschen von eisernen Speerspitzen auf Holzschilden, dem Schwirren und Klatschen gälischer Pfeile, die zu spät abgeschossen wurden, um diese gnadenlose Flut aufzuhalten. Hargest war zusammen mit Cinioch an der Seite des Königs geritten und hatte seinen ersten Galen mit einem
geschickten Schwertschlag getötet. Nachdem der berittene Angriff vorüber war, hatte Cinioch den Platz mit Enfret getauscht, drunten, wo Carnachs Reiter sich neu gruppierten. Hargest wartete nun, jeder Teil von ihm im Schlachtenfieber angespannt, während Bridei und Carnach beobachteten, was geschah, und ihre Strategie noch einmal durchgingen. Die Galen formierten sich auf der Anhöhe neben ihrem Lager neu. Sie waren nicht vollkommen überrascht worden. Der Angriff der Priteni war einfach etwas früher am Tag erfolgt, als sie erwarteten. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich zu einer geordneten Verteidigung sammelten. Ihre Anzahl war beträchtlich. »An einem bestimmten Punkt lassen wir uns von ihnen zum Bach zurückdrängen«, sagte Carnach. »Bist du immer noch einverstanden? Unsere Männer sollten nicht weiter als bis zu dieser Steinmauer dort vormarschieren, oder sie könnten in eine Falle geraten, jedenfalls, wenn Gabhrans Unterführer wissen, was sie tun. Wir müssen den Galen den Vorteil lassen und sie vorwärts locken.« »Aber nicht zu bereitwillig«, sagte Bridei, den Blick auf einen bestimmten Punkt gerichtet, wo ein Banner erhoben wurde, vielleicht das des Königs von Dalriada. »Es muss überzeugend wirken. Es könnte eine Weile dauern, Carnach.« - 701 »Wir werden es aushalten.« Der Fürst von Dornenband warf einen Blick zu Hargest. »Bewache den König gut, Junge. Das hier wird noch hässlich werden, bevor der Morgen zu Ende geht.« »Ich weiß, was ich tue!«, fauchte Hargest. Carnach ignorierte ihn. »Die Leuchtende möge dich beschützen, Bridei.« »Der Flammenhüter halte seine Hand über dich, mein Freund.« Dann ritten sie in entgegengesetzte Richtungen. Carnach, gefolgt von seinem eigenen Leibwächter Gwrad, folgte den Fußsoldaten vorwärts ins Gefecht, wo der Pikenblock nun zu kleineren Kampfeseinheiten von sechs oder sieben Männern zerbrochen war, die zusammenarbeiteten, um den taktischen Vorteil gegen die verwirrten gälischen Krieger zu nutzen. Sobald sie zur Mauer kamen, würde Carnach den Rückzug befehlen. Man hatte die Männer darauf hingewiesen, dass so etwas geschehen könnte, und sie würden in der Wortwahl ihres Fürsten bei dem Befehl erkennen, dass eine bestimmte Strategie ausgeführt wurde. Man hatte ihnen eingeprägt, sofort zu gehorchen, so sehr es auch gegen ihren Instinkt verstieß. Nun sammelten sie all ihren Mut und drängten beinahe schneller vor, als Carnach wollte. »Hier entlang«, befahl Bridei und lenkte Schneefeuer zu den berittenen Kriegern zurück, die den ersten Angriff überlebt hatten und nun die Schäden an Menschen und Pferden begutachteten, während die Fußsoldaten sich mit dem Feind abgaben. Viele waren einem schnell abgeschossenen Pfeil oder einem Speer mit Widerhaken zum Opfer gefallen. Ein Pferd lag um sich tretend am Boden, sein Vorderbein war gebrochen. Unter Tränen streichelte ein großer, kräftiger Krieger den Hals des Tiers mit der linken Hand und packte mit der rechten das Messer fester. Uven verband einem jungen Mann den Arm, Cinioch war - 702 abgestiegen und kümmerte sich ein reiterloses Pferd. Und Enfret... »Wir haben Enfret verloren, Herr.« Uven blickte auf, als Bridei vorbeiritt, und überbrachte ihm die Nachricht mit ruhiger Stimme. »Er wurde von einem Pfeil in den Hals getroffen; er starb kämpfend. Ich habe gesehen, wie er sein Schwert in die Brust eines Galen stieß.« Ein weiterer Mann. »Die Leuchtende möge ihm Ruhe gewähren«, sagte Bridei. »Seid stark, Männer. Haltet durch. Wir werden diese Schlacht gewinnen, für ihn und für all die Männer, die wir verloren haben. Wir stehen jetzt kurz vor dem Ende, und wir werden es schaffen.« »Herr?« Wütende Trauer lag in Ciniochs Stimme, hörbar über die Geräusche des Todes, die von allen Seiten an ihre Ohren drangen. »Ich sollte lieber in deiner Nähe bleiben. Es geht da draußen so dreckig zu wie in einem Schafsdarm. Mit ihm allein wirst du nicht sicher sein.« Er wies mit dem Kinn auf Hargest, und Hargest starrte ihn wütend an. »Aber ...« Er wischte sich wütend über das mit Schmutz und Tränen beschmierte Gesicht. »Aber dein Freund ist gefallen, und du möchtest ihn rächen«, sagte Bridei. »Das verstehe ich. Cinioch, wir brauchen jeden erfahrenen Mann, dich selbst eingeschlossen. Du bist der letzte unverletzte Mann aus Pitnochie; du musst in diesem Kampf Breth, Elpin und Enfret vertreten. Uven, ich weiß, dass du dich nützlich machen wirst, selbst mit nur einem Arm. Ich bin stolz auf euch, Männer. Betrachtet es als Belohnung für all diese Jahre, in denen Broichan euch gezwungen hat, still in Pitnochie zu sitzen und einen kleinen Jungen zu bewachen, der gern im Wald umherstreifte. Ich werde mit nur einem Leibwächter zurechtkommen. Es ist Gabhran, auf den sich alles konzentrieren wird. Ich kann sein Banner von hier aus erkennen.« »Dennoch...« »Widersprich mir nicht, Cinioch, und beweg dich. Wenn - 703 du Carnachs Befehl hörst, sei bereit, dass die Galen uns angreifen, dann werden wir einen Rückzug vortäuschen. Achtet darauf, dass unsere eigenen Speerkämpfer euch nicht in den Weg geraten, wenn sie sich zurückziehen. Und jetzt geht. Uven, tu dein Bestes, um die Verwundeten zu schützen. Mögen die Götter mit uns allen sein.« Bridei hatte Hargest seine eigene Rolle am Morgen erläutert, als die ersten Sonnenstrahlen in den jüngeren und wenig erfahrenen Kriegern eine kribbelige Ruhelosigkeit geweckt hatten, die teils Aufregung, teils Angst war. Inzwischen hatten alle Kampferfahrung gesammelt. Der Norden von Dalriada war nicht ohne schwere Gefechte
erobert worden, und alle hatten ihren Teil von Blut und Tod gesehen. Dies jedoch würde die Entscheidungsschlacht sein. Beide Armeen brachten heute ihren König ins Spiel. Für Hargest, der sich bereits im Kampf bewiesen hatte, war es eine neue Herausforderung. Ohne Bridei würde Fortriu führerlos sein und nicht mehr sicher in der Hand des Flammenhüters ruhen. Es zählte wenig, dass andere den Platz des Königs als Anführer im Kampf einnehmen konnten. Bridei war mehr als nur Herrscher von Fortriu. In seinem schlichten Lederharnisch und dem ungeschmückten Helm, der Tunika, der Hose aus grauer Wolle und den praktischen Stiefeln hätte er für einen Fremden genauso ausgesehen wie jeder andere sechsundzwanzigjährige Krieger; ein junger Mann, entschlossen und stark. Das einzige Zeichen seiner Identität, das über die Verwandtschaftszeichen auf seinem Gesicht hinausging, die ein Gäle nicht deuten konnte, war sein kantiger Holzschild mit dem Wappen des Adlers in Blau auf Weiß. Seine Augen passten zu diesem Blau; es waren die Augen eines Anführers und Gelehrten, eines Kämpfers und Friedenshüters, denn Bridei strebte an, all das zu sein. Das Schwert von Fortriu. Er fragte sich oft, was er getan hatte, um diesen Titel zu verdienen. Er war ein Mann aus Fleisch und Blut. Auf einem Schlacht- 704 feld war er ebenso verwundbar wie sie alle, und ebenso anonym. Sein Bedürfnis, nur Mann unter Männern zu sein, stellte seine Leibwächter vor eine schwierige Aufgabe. Breth und Garth hatten hin und wieder festgestellt, wie viel einfacher es wäre, wenn dieser König auf dem Schlachtfeld einen Goldhelm oder einen Silberreif trüge; wenn er sein Banner neben sich hätte oder sich von einem Schildwall aus handverlesenen Kriegern schützen ließe. Es würde es zumindest unwahrscheinlicher machen, ihn aus den Augen zu verlieren. Faolan hatte trocken bemerkt, dass der König unter dem Schutz des Flammenhüters stünde und ihre Anwesenheit ohnehin überflüssig sei. Er selbst war jedoch am geschicktesten, wenn es darum ging, mitten im Kampf an Brideis Seite zu bleiben. Hargest tat sein Bestes, aber in dem Durcheinander des Kampfs spürte Bridei, dass das Schwert des jungen Mannes seinem eigenen Kopf mehrmals gefährlich nahe kam. Einmal verhinderte nur Schneefeuers ausweichendes Tänzeln, dass der Junge den Schädel seines Königs spaltete. Einen Augenblick später wurde das Schwert zur Seite und nach unten gerissen, und ein berittener Gäle, der eine Axt hatte werfen wollen, fiel zu Boden und hielt sich die Seite. Hargest grinste; Bridei sah es und wandte den Blick ab. Dann kam ein weiterer Gäle und noch einer, und es wurde klar, dass Carnach den Befehl zum Rückzug gegeben hatte, denn eine Flut von Männern eilte von der Front zum Fluss, Priteni und Galen, in hundert kleinen, verzweifelten Kämpfen miteinander verbunden. Männer fielen, gestiefelte Füße trampelten über sie hinweg, Hufe trafen Köpfe, und der Boden verwandelte sich in ein schauerliches Durcheinander von Schlamm, Blut und Körperteilen. Hargest saß fest auf seinem kräftigen Pony, und seine Masse schützte Bridei und Schneefeuer vor der schlimmsten Menschenflut. Von Zeit zu Zeit stieß er mit dem Dolch zu oder benutzte das Schwert. Es kam Bridei bei- 705 nahe vor, als täte er das beiläufig, wie man nach Fliegen oder Mücken schlug. Er fragte sich, was dem jungen Mann durch den Kopf ging, wenn er tötete. Die Galen gewannen an Boden. Sie schlugen und hackten sich ihren Weg nach unten zum Bach. Sie trieben die Priteni auf die andere Seite des Wasserlaufs, oder zumindest würden Gabhrans Unterführer das denken, und sie würden glauben, dass sie den Tag gewonnen hätten, wenn sie diese Linie halten konnten. Carnachs Leute zogen sich so geordnet wie möglich zurück. Hier und da hielt eine Gruppe von sechs oder sieben Schilden immer noch stand, und Männer hielten ihre Formation auch noch, als die Speere der Feinde in ihre Reihen stachen und flogen. Die berittenen Krieger waren an den Flanken: Eine kleine Elite, die ihren Vorteil an Höhe und Beweglichkeit nutzte, um voranzudrängen, mörderische Schläge auszuteilen und wieder umzukehren. Die Hochlandponys aus Fortriu, viele Jahreszeiten in solchen Manövern ausgebildet, schwitzten nun und rissen die Augen auf, denn kein noch so rigoroser Drill kann ein Pferd oder einen Menschen wirklich auf die Geräusche und Anblicke einer solchen Szene vorbereiten. Die Schreie, das Stöhnen, das Kreischen von Metall auf Metall, das grausame Knirschen und Knacken von Knochen, die unter dem Angriff zerbrachen: Man hätte ein seltsames Geschöpf sein müssen, nicht davon erschüttert zu werden, nicht wieder und wieder davon zu träumen, Nacht um Nacht, selbst in Friedenszeiten. Hargest, dachte Bridei, war ein solches Geschöpf. Der Junge schien beinahe Spaß daran zu haben. Vielleicht würde er erst später begreifen, dass es Wirklichkeit gewesen war. Bridei selbst zählte jeden Galen, den er tötete; er sah jedem Mann in die Augen und strengte sich an, in diesen Kriegern den Feind zu sehen, der seine Heimat gestohlen und dem Herzen seines Volkes die schleichende Gefahr des neuen Glaubens gebracht hatte. Aber er sah immer nur Männer, die einfach nur so gut wie möglich - 706 erledigten, was man ihnen befohlen hatte. Dennoch, Bridei benutzte seine Waffen wirkungsvoll, wie sein alter Lehrer Donal ihm beigebracht hatte. Er konnte kaum erwarten, dass seine Männer kämpften, wenn er nicht bereit war, das Gleiche zu tun. Und er hielt ständig nach dem Banner Ausschau. Nach Gabhran. Er wollte, dass der König von Dalriada lebendig gefangen genommen wurde. Sie hatten den Fluss erreicht. Die Priteni waren zu einer Masse zusammengedrängt, einige im Wasser, andere am Ufer, aber sie hielten stand, obwohl die Truppen aus Dalriada sie heftig angriffen. An den Flanken kämpften Geds und Morleos Reiter heftig mit den berittenen Galen. Dalriada hatte erheblich mehr Reiter und nutzte sie
vernichtend zu seinem Vorteil. Geds Männer standen unter gewaltigem Druck; Bridei sah, wie die bunt gekleideten Gestalten eine nach der anderen fielen; er sah die reiterlosen Pferde, die über den flachen Fluss zurückrannten und schaumbedeckt und mit erschrockenen Augen flohen. Er suchte in dem Durcheinander nach Ged selbst und sah ihn auf seinem untersetzten dunklen Pferd grimmig und mit bleichem Gesicht, wie er sich stetig seinen Weg voranhackte. Talorgen war nirgendwo zu entdecken, aber die Streitmacht aus Rabenbrunn hielt ihre Stellung zwischen Mitte und Flanke und verhinderte, dass die Fußsoldaten der Priteni eingekreist wurden und am Fluss in eine Falle gerieten. Carnach schrie einen weiteren Befehl. Seine Hauptleute gaben ihn mit Stimmen wie Trompeten weiter, und die Hauptmasse der Krieger beschleunigte den Rückzug über das Wasser und verringerte den Druck auf die Verfolger. »Zurück!«, schrie Carnach. »Im Namen des Flammenhüters, zurück!« Die Galen brüllten - sie rochen ihren Sieg. Hörner erklangen, Männer schrien: »Dalriada! Dalriada!«, und wie eine zornige Flut strömten sie vorwärts und trieben die Priteni vor sich her. - 707 »Bete darum, dass das hier funktioniert«, murmelte Bridei und zügelte Schneefeuer einen Augenblick, um sich umzusehen. »Bete, dass Fokel und Umbrig ihr Wort halten konnten, oder wir haben unseren Vorteil verloren.« Noch während er das sagte, näherten sich zwei berittene Galen im Galopp, einer hatte die Pike bereit, der andere schwang eine Keule. Es gab keine Zeit nachzudenken. Donais Ausbildung bewährte sich, und Bridei lenkte Schneefeuer in einer täuschenden Bewegung in eine Richtung, dann in die andere und entging dem Mann mit der Keule, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Hargest den Speer mit seinem Schwert abwehrte und dann den Feind mit einem geschickten, kraftvollen Manöver aus dem Sattel auf den schlammigen Boden hebelte. Der Gäle mit der Keule umkreiste Bridei und griff erneut an. Schneefeuer schnaubte und warf den Kopf zurück; Bridei ließ sich aus dem Sattel sacken, hing an der Seite und gelangte so unverletzt dicht am Feind vorbei, dann kam er mit dem Dolch in der Hand wieder hoch, während Schneefeuer eine enge Wendung vollzog. Bevor der Gäle Zeit hatte zu erkennen, was geschehen war, steckte Brideis Messer auch schon in seinem Hals, und sein Lebensblut färbte seine Tunika leuchtend rot. Der Mann fiel, und sein Pferd kam zitternd inmitten des Wirbels, der sie umgab, zum Stehen, vielleicht im Schock, vielleicht wartete es einfach auf Anweisungen, die es nicht mehr erhalten würde. Bridei stieg ab und bückte sich, um seine Waffe aufzuheben. Ganz in der Nähe war auch Hargest vom Pferd gestiegen. Bridei sah, wie der junge Mann sein Schwert in die Brust des Mannes bohrte, den er vom Pferd gestoßen hatte, nicht einmal, sondern wieder und wieder, bis sein Gegner eine zerdrückte Masse blutigen Fleischs war. Als Hargest aufblickte, war sein Gesicht kreidebleich, und seine Augen glitzerten wie Mondlicht auf tiefem Eis, ein seltsames, beunruhigendes Blau. Bridei fühlte sich bei diesem Anblick - 708 unbehaglich. Es war zu viel. Er musste dieser Sache zumindest eine Weile ein Ende machen, musste den Jungen hier herausbringen, bevor er vollkommen die Beherrschung verlor. »Hargest«, sagte er mit fester Stimme, »dieser Mann ist tot. Steig wieder auf dein Pferd und folge mir.« In dem Durcheinander kämpfender Männer und zuschlagender Waffen Platz zu finden, war nicht einfach. Bridei führte seinen Leibwächter ein Stück am Bachufer entlang und eine leichte Anhöhe hinauf zu einem Fleck ebenen Bodens zwischen Felsen. Eine Gruppe verkrüppelter Weiden wuchs hier, und die Leiche eines Kriegers aus Dalriada, dessen Kopf in einem unwahrscheinlichen Winkel am Körper baumelte, lag auf einem dunklen Grasfleck, doch ansonsten war es ruhig. Der Kampf tobte drunten weiter, man konnte zwischen den Bäumen hindurch so gerade eben seinen Fluss erkennen, und dies lieferte Bridei die Rechtfertigung dafür, Hargest vom Feld zu führen. »Deine Augen sind jünger als meine«, sagte er zu dem jungen Caitt-Krieger und erwähnte nicht, dass sein Blick von einem Druiden geschult worden war. »Schau dort hinunter und sag mir, ob du Fokels oder Umbrigs Leute siehst. Die Situation steht im Augenblick auf Messers Schneide. Wenn sie nicht bald auftauchen, wird Gabhran unsere Leute über das Wasser zurücktreiben.« »Warum siehst du mich so an? Warum bleiben wir nicht unten und kämpfen?« Hargests Stimme war sehr jung und durchdringend vor Arroganz. Und es lag noch etwas anderes darin, das Bridei nervös machte, ein seltsamer Unterton, der Unterton eines Mannes, der über alle Maßen frustriert ist. Es klang, als wäre der Junge bereit, eine Verzweiflungstat zu begehen, wie von einer Klippe zu springen oder einen kostbaren Schatz zu zerschmettern. »Weil es dir zu viel Spaß gemacht hat«, sagte Bridei tonlos. »Du bist erst fünfzehn. Ich bin für dich verantwortlich. - 709 Ich habe mehr von dir verlangt, als ich hätte tun dürfen. Du hast heute bereits deinen Anteil an Galen getötet.« Er schaute den Hügel hinab, suchte das Banner von Dalriada und fand es am Bachufer, wo das Gedränge am dichtesten war. So viele waren jetzt gefallen, dass ihre leblosen Gestalten das Wasser überbrückten und eindämmten, das rot um sie herumfloss. »Wo ist...«, begann Bridei. Der Rest seiner Worte ging in einem Keuchen unter, als ein kräftiger Arm ihn um die Brust fasste. Einen Augenblick später lag er flach auf dem Rücken, und sein Angreifer kniete über ihm und richtete einen Dolch auf sein Herz. Instinktiv packte er die Handgelenke des Angreifers, schnitt sich die Handfläche an der Klinge auf und hielt grimmig fest, drückte die Klinge so angestrengt weg, dass er das im Rücken, den Oberschenkeln, seinen zusammengebissenen Zähnen und
im Kopf spürte. Es hatte keinen Sinn, nach seinem Leibwächter zu rufen. Als Bridei ungläubig in diese eifrigen hellen Augen starrte, fragte er sich, wie lange Hargest schon vorgehabt hatte, ihn zu töten. »Was ...«, begann er, aber das Messer wurde nun fester nach unten gedrückt, und er wusste, dass er seinen Atem nicht zum Sprechen verschwenden durfte. Hargest war groß, er war gesund, er war jung. Selbst wenn Bridei so laut schrie, wie er konnte - wer würde ihn schon über den Schlachtenlärm hinweg hören? Noch ein paar angestrengte Atemzüge, dann würde er sterben; jedes Einatmen, jeder Augenblick des Widerstands ein kleiner Abschied ... Tuala ... Derelei... Broichan ... Rettet mich, betete er mit jedem Fetzen seines Willens. Rettet mich für sie and rettet mich für Fortriu ... »Es wird Zeit, dass du zahlst«, sagte Hargest mit leiser, kalter Stimme, und Bridei spürte, wie der Junge den Griff am Messer veränderte und der Druck einen Augenblick nachließ. »Du bist meiner Klinge zu oft entgangen, du jämmerlicher Ersatz für einen König. Jetzt ist es Zeit zu sterben. Es war dumm von dir, das Unvermeidliche nicht zu er- 710 kennen: Es sind die Galen, die hier siegen werden. Bis ich meinem Vater diese Nachricht bringen werde, werden sie bereits das ganze Tal erobert haben. Deine Herrschaft ist vorüber, König Bridei.« Als Bridei den Rücken durchbog und sich unter ihm vorwinden wollte, stieß Hargest den Dolch wieder nach unten, und die Spitze der Klinge drang in sein Fleisch. Noch während Bridei einfiel, dass es eine Technik gab, die Faolan ihm gezeigt hatte, einen Trick, den er hätte benutzen können, wenn er in diesem kurzen Augenblick der Entspannung bereit gewesen wäre, spürte er einen stechenden Schmerz in seiner Brust, und nun sparte er seinen Atem nicht mehr, er saugte die Luft in die Lunge und schrie: »Helft mir! Im Namen der Götter, zur Hilfe!« Hargest lächelte; das Messer stach tiefer, während Brideis schmerzhaft verkrampfte Armmuskeln begannen, ihre Kraft zu verlieren. Bridei spürte die Flügel der dunklen Göttin über sich. Ihr kalter Atem berührte seine schweißbedeckte Stirn, sie flüsterte ihm ihr unheimliches Wiegenlied ins Ohr ... Dann eine rasche Bewegung, etwas streifte sein Gesicht, Federn, Klauen, ein Schnabel, ein wildes Auge und ein Schrei, der keinem anderen gleichkam, der Schrei eines großen Raubvogels. Auch Hargest schrie, und der Druck seiner Hände ließ plötzlich nach, als die Krallen des Falken ein Muster blutiger Linien über sein Gesicht zogen. Bridei, von einem Druiden geschult, verschwendete keine Zeit damit, über diese seltsame Einmischung zu staunen. Er nutzte den Vorteil des Augenblicks, rollte sich zur Seite, rutschte, verwandelte sich in eine Schlange, einen Aal, einen Salamander, während der Vogel unter weiteren schrillen Warnschreien wieder aufflog und dann abermals zustieß und Hargest ins Taumeln brachte, die Arme erhoben, um sein verwundetes Gesicht zu schützen. Bridei kam auf die Beine, den Blick auf das Messer gerichtet, das Hargest immer noch in der Faust hielt. Der junge Mann stand nun - 711 aufrecht, und Blut lief ihm in die Augen. Er atmete schwer, aber er hielt die Waffe fest und wich nicht zurück. »Also komm«, schrie er herausfordernd und starrte Bridei wütend an. »Komm schon, nimm es mir ab!« Dann brüllte er: »Verfluchtes Vieh!«, und schlug wild zu, als der Falke erneut zustieß und drohte, ihn umzuwerfen. Rette mich für Fortriu... Bridei schoss vorwärts, packte Hargests Handgelenke, und als der Falke ein weiteres Mal herabstieß und den jungen Mann zum Stolpern brachte, schob er mit all seiner verbliebenen Kraft. Hargest fiel. Das Geräusch seines Aufpralls war etwas, wovon Bridei später träumen sollte, etwas, das er gern aus seiner Erinnerung getilgt hätte. Es hatte eine schauerliche, knirschende Endgültigkeit an sich. Dennoch bückte sich Bridei nach einem Augenblick entsetzen Erstarrt seins, um nachzusehen, während der Falke auf dem nahen Felsen landete. Es gelang ihm, sich zusammenzunehmen, obwohl ihm Galle aufstieg, als er hinschaute. Er erinnerte sich an Broichans Bemerkung, dass man aus allem etwas lernen konnte. Ja, selbst aus dem Anblick eines Jungen, der so viel versprechend gewesen war und der nun dalag mit einem Kopf, der geplatzt war wie eine überreife Frucht. Hargest hatte Pech gehabt. Vielleicht hatten die Götter den Stein dort platziert und gewollt, dass der junge Mann starb, als sein Kopf darauf prallte. Vielleicht war dies ihre nur zu einfache Antwort auf Brideis Gebet. Er kniete sich nieder, um Hargests Arme über der Brust zu falten, um das Messer an die Seite des Jungen zu legen. Die offenen Augen starrten zum Himmel, groß, blau und leer. Bridei suchte nach einem Gebet. Einen Augenblick lang fiel ihm nichts ein. Er konnte nur denken: Warum? Er konnte nur das Schlagen seines eigenen Herzens hören, einen Trommelwirbel aus Zorn und Trauer, Schock und Kränkung. - 712 »Herr! Bridei! Was ...« Ein kleiner Trupp von Männern war plötzlich neben ihm, Cinioch und drei andere, alle zu Fuß, mit gezogenen Schwertern und bleichen Gesichtern. Einen Augenblick später raschelte es hinter ihm, und als er sich umdrehte, entdeckte er etwas Wunderbares und Beunruhigendes: Der wildäugige, rötlich-braune Falke verwandelte sich vor seiner Nase in einen hoch gewachsenen, breitschultrigen Mann mit Augen, die leuchteten wie die Sterne, und einer Mähne im gleichen lebhaften Goldrot. Cinioch stieß einen Schrei aus, und die Männer stürmten vorwärts, die Waffen zum Schlag erhoben. Einer stolperte über die Leiche des toten Galen, die auf dem Gras lag. Der rothaarige Mann hob die Hände. Er hatte weder Schwert noch Messer oder Bogen. »Ich bin ein Freund«, sagte er mit bewundernswerter Ruhe, dann taumelte er, als wäre er vollkommen erschöpft, und musste sich mit einer Hand an dem Felsen abstützen.
»Haltet euch zurück, Jungs«, sagte Bridei. »Ich bin in Sicherheit. Dieser Mann hat mich gerettet. Aber Hargest ist tot.« Er konnte es nicht über sich bringen, mehr zu erklären. Tatsächlich verstand er nicht einmal, was geschehen war. »Bridei, du blutest.« Cinioch machte einen Schritt auf seinen König zu, und als Bridei an sich hinabschaute, sah er einen Blutfleck, der sich auf seinem Hemd ausbreitete, durch den Schlitz, den Hargests Dolch in seinem ledernen Harnisch verursacht hatte. Seine Hand blutete ebenfalls, wo er sich an der gleichen Waffe geschnitten hatte; vor seinem geistigen Auge sah er ein Bild von Hargest, wie er abends am Feuer saß und die Klinge mit einer Konzentration schliff, die ihm Falten auf der jungen Stirn verursachte und seinen Blick glühen ließ. »Das ist nichts«, sagte Bridei, gab aber nach und ließ Cinioch den Schaden untersuchen und sich verbinden. Der - 713 Krieger erklärte, dass Bridei tatsächlich von den Göttern gesegnet war, denn wäre der Stich ein wenig tiefer gegangen, wäre er in die Arme der Knochenmutter gesunken, bevor er es noch bemerkt hätte. Ein anderer Mann rollte den toten Galen auf den Rücken, nahm ihm die Waffen ab und versetzte ihm einen Tritt. Wäre der rothaarige Mann nicht gewesen, hätten sie nicht darüber sprechen müssen, was Hargest getan hatte. Aber dieser Fremde war Zeuge geworden. Er hatte wie zur Antwort auf Brideis Gebet eingegriffen. Als Vogel. Ein Bote des Flammenhüters? Der Mann kniete nun neben Hargest, einen ernsten Ausdruck auf dem schönen Gesicht. Er schloss mit schlanker Hand die Augen des Jungen. Seine Hand zitterte ein wenig. »Wer bist du?«, fragte Bridei ihn. »Ein Bote. Ausgesandt von der Königin, deiner Frau.« »Von Tuala? Aber...« »Es gab eine Vision: Deine Freunde auf dem Weißen Hügel wussten, dass du in tödlicher Gefahr sein würdest, und niemand konnte dich rechtzeitig erreichen. Ich war dort. Ich habe angeboten herzukommen.« Nun starrten die anderen Männer ihn an. Misstrauen mischte sich in ihren Blicken mit Staunen. »Bist du ein Druide? Ein Magier?«, fragte Bridei, der nun hörte, wie sich drunten die Kampfgeräusche veränderten, und wusste, dass sie wenig Zeit für Erklärungen hatten. »Ich bin Drustan vom Träumenden Tal und von Dornwald, und ich bin weder Magier noch Druide. Ich sehe die Hand meines Bruders Alpin in dieser Tat, des Mannes, der deine königliche Geisel hätte heiraten sollen. Ich muss dir sagen, dass mein Bruder tot ist und dass er nie vorhatte, sich an den Vertrag mit dir zu halten.« Bridei schwieg einen Moment und schaute von dem Fremden zu dem gefallenen jungen Mann und wieder zurück. »Das hier ist sein Sohn, nicht wahr?«, fragte Drustan be- 714 drückt. »Hargest. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ein Kind war, aber ich würde diese Augen überall wieder erkennen. Die Königin hat mir den Angreifer beschrieben. Schon zu diesem Zeitpunkt wusste ich es.« »Er war dein Verwandter«, sagte Bridei und irgendwo in seinem Kopf hörte er die Worte verrückter Onkel. »Es tut mir Leid; das war eine Entscheidung, die kein Mann treffen sollte.« »Aber, Herr«, widersprach Cinioch, »was sagst du da? Das war Hargest, dein eigener Leibwächter ...« »Das genügt im Augenblick«, sagte Bridei. »Wir müssen einen Kampf gewinnen, und ich glaube, ich kann Umbrigs Ochsenhorn trompeten hören. Drustan, du solltest die Waffen dieses Galen nehmen, denn er kann sie jetzt nicht mehr brauchen. Ob du nun hier bleiben willst oder mit uns kämpfen oder ...« Er schaute zum Himmel, fasste die dritte Möglichkeit aber nicht in Worte. »Du wirst im Stande sein müssen, dich zu verteidigen. Ich schulde dir mein Leben. Ich werde nicht zulassen, dass du von der ersten Gruppe von Kriegern, die dich findet, niedergemetzelt wirst, seien es Galen oder Männer aus Fortriu.« Schweigend nahm Drustan die Waffen entgegen, band sich den Schwertgürtel um und schulterte die Armbrust. »Danke«, sagte er. »Ich werde mit euch reiten. Da es so aussieht, als hätte mein Verwandter dich gleich zweimal betrogen, fällt es nun mir zu, Wiedergutmachung zu leisten.« »Bist du ein Krieger?«, fragte Cinioch ihn ganz offen. »Ich werde zurechtkommen«, sagte Drustan und ergriff die Zügel von Hargests Pferd. Das Tier war nervös und hatte die Augen weit aufgerissen, doch Drustan legte ihm die Hand an den Hals und murmelte ihm etwas ins Ohr, Worte in einer Sprache, die Bridei nicht verstand. »Ich werde nicht versuchen, Galen zu töten, aber ich kann an der Seite des Königs reiten und helfen, ihn zu schützen.« - 715 »Warum solltest du das tun wollen, wenn du das Ende des Kampfes einfach abwarten könntest?«, fragte einer der Männer herausfordernd. »Und wenn du mit dem da verwandt bist«, das mit einem wütenden Blick zu dem gefallenen Hargest, »und er für den Angriff auf Bridei verantwortlich war, musst du verrückt sein zu glauben, dass wir dir die Sicherheit des Königs anvertrauen.« »Gib uns einen Grund, wieso wir das tun sollten«, warf Cinioch ebenfalls mit zornigem Blick ein. »Ich habe euch bereits einen gegeben«, sagte Drustan und stieg mit einer fließenden Bewegung aufs Pferd. »Ich werde versuchen, den Verrat meiner Verwandten wieder gutzumachen. Ich gebe euch noch zwei Gründe mehr. Ich bin ein Freund des Ersten Leibwächters des Königs. Da Faolan nicht hier sein kann, wo er am liebsten sein möchte, werde ich seine Stelle einnehmen. Und das, wonach ich mich am meisten auf der Welt sehne, liegt in
König Brideis Gewalt. Wenn ich ihm Schaden zufügte oder zuließe, dass gälische Schwerter es tun, würde ich meinen Mond und meine Sterne, meine Freude und die Hoffnung auf die Zukunft verlieren. Glaubt mir, ich werde ihn gut beschützen.« Sie starrten ihn an und brachten kein Wort heraus. Dann sagte Bridei: »Wir werden später herausfinden müssen, um welchen Schatz es dir geht, denn während wir hier debattieren, wird die Schlacht verloren oder gewonnen. Männer, wo sind eure Pferde? Drunten unter den Bäumen? Sucht sie und kehrt nach dort zurück. Ich vertraue mich Drustan an. Ein Mann, der durch das gesamte Große Tal reist, um mich zu warnen, muss ein Freund sein.« Er warf dem rothaarigen Mann einen Blick zu. »Bist du bereit?« Drustan nickte ernst. »Das bin ich, Herr. Lass uns reiten.« Als die beiden ihre Deckung verließen und direkt auf die wirbelnde Masse von Kriegern am Fluss zuritten, dachte Bridei, dass der Mann an seiner Seite beinahe der Flammenhüter in Menschengestalt sein könnte, so gut gebaut - 716 und gut aussehend war er, so hinreißend mit diesen strahlenden Augen und diesem wilden roten Haar. Als Drustan aufgetaucht war, zunächst als Vogel, dann als Mensch, hatte sich Bridei einen Augenblick selbst gefragt, ob der Gott der Krieger beschlossen hatte, auf eine besonders persönliche Weise auf seinen Hilfeschrei zu reagieren. Wenn Drustan kein Druide war, was dann? Er behauptete, der Bruder von Alpin von Dornwald zu sein, also war er ein Mensch. Aber welcher gewöhnliche Mensch verfügte über solch wunderbare Kraft, sich zu verändern? Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, sondern ritt zurück in den Kampf, wenn auch mit einiger Vorsicht. Seine verwundete Hand stellte eine Gefahr dar, und der Blutverlust von der Brustwunde würde ihn schwächen. Der rätselhafte Drustan war ihm noch zu unbekannt. Außerdem wusste Bridei nun, dass sein Überleben wichtiger war als alle Beiträge, die er und sein Leibwächter zum Kampf leisten konnten. Er musste hoffen, dass dieser Vogelmann ihm angemessenen Schutz bieten konnte. Die Gezeiten der Schlacht hatten sich gewendet. Die gut ausgebildete Streitmacht von Fokel von Galany und des Caitt-Fürsten Umbrig hatte schon gewartet, bevor die Galen das Tal erreichten, und lautlos jeden Späher von Dalriada umgebracht, der ihren Verstecken im Waldland, ein Stück weiter das breite Tal entlang, zu nahe gekommen war. Sie hatten den Augenblick gut gewählt, waren von beiden Enden am Bachufer entlanggeschlichen, während die Galen damit beschäftigt waren, Carnachs Angriff zurückzuschlagen. Nun schlössen sie sich dem Kampf an, als sich nach dem inszenierten Rückzug sowohl Galen als auch Priteni drunten am Wasser konzentrierten. Umbrigs Männer setzten ihre massiven Ochsenhörner an die Lippen. Fokels Krieger gaben einen heulenden Kampfschrei von sich, der selbst Bridei bis in die Knochen erbeben ließ, denn er klang wie eine Botschaft der schwarzen Krähe, ein Ruf über das Grab - 717 hinaus. Carnachs Leute, die sich einen Augeblick zuvor noch in schnellem Rückzug befunden hatten, hörten auf zu fliehen, drehten sich um, stellten sich auf und hoben die Waffen, die Augen vor neuer Begeisterung blitzend. Talorgen kam auf Bridei zugeritten, seine eigenen Leibwächter an seiner Seite. Der Fürst von Rabenbrunn sah finster aus; es war Blut auf seinem Gesicht und auf seiner Kleidung, aber er saß hoch aufgerichtet im Sattel. »Jetzt?«, fragte er mit einem Blick zu Bridei, dann warf er einen Seitenblick auf Drustan und runzelte die Stirn. »Jetzt«, sagte Bridei, und eine seltsame Ruhe kam über ihn, obwohl das Durcheinander von klirrendem Metall und brüllenden Männern erneut heftiger geworden war. Talorgens Leibwächter Sobran öffnete ein Bündel an seinem Sattel, holte geschickt eine Rolle weißes Tuch und drei kurze Stäbe heraus, die sich ineinander stecken ließen, und baute die Flagge mit einer Geschicklichkeit zusammen, die aus langer Übung geboren war. Nun war es Zeit, dass der König von Fortriu sich kenntlich machte. »Halte sie hoch, Sobran«, sagte Bridei, »wir reiten alle gemeinsam vorwärts.« Als das weiße Banner gehoben wurde und der Wind, der von den westlichen Inseln herkam, es flattern ließ, sah man in Blau den Halbmond und den gebrochenen Stab der königlichen Linie und darüber den Adler, Brideis eigenes Königszeichen, und plötzlich wurden alle Männer in der Nähe still. Dann hob Bridei seinen Arm, die geballte Faust zu Ehren des Flammenhüters zum Himmel gereckt, und schrie mit einer Stimme, die von außerhalb des irdischen Reichs zu kommen schien: »Fortriu!«, und aus hundert, fünfhundert, tausend Mündern, die ausgetrocknet waren von der schweren Arbeit dieses Morgens, aus tausend Körpern, erschöpft von der Prüfung im tödlichen Zweikampf, aus tausend Seelen, die den Anblick von Tod, Verlust und Schmerz noch jahrelang mit sich tragen würden, stieg ein Ruf auf, - 718 der Schrecken ins Herz eines jeden Galen an diesem Ort senkte: »Fortriu! Fortriu!« Die Männer von Dalriada kämpften tapfer, aber von diesem Augenblick an waren sie so gut wie besiegt. Die Flamme, von der Bridei vor langer Zeit erkannt hatte, dass sie selbst in den jämmerlichen Überresten einer besiegten Priteni-Armee immer noch brannte, flackerte und knisterte nun und toste schließlich in diesen müden Männern, und er glaubte, das Strahlen des Gottes auf dem Gesicht eines jeden von ihnen zu sehen, vom erfahrenen Fürsten bis zum bescheidensten Fußsoldaten. Jeder von ihnen war ein geliebter Sohn des Flammenhüters, dem der Gott vertraute und über den er seine Hand hielt. Es war das Schicksal einiger, zu fallen und nicht wieder aufzustehen. Andere würden an ihren Wunden sterben, denn sie waren weit von daheim
entfernt. Viele jedoch würden überleben, um siegreich in ihre Dörfer und in die offenen Arme ihrer Lieben zurückzukehren. Talorgen und Bridei ritten gemeinsam vorwärts. Sobran trug das Banner. Drustan erwies sich zu Brideis Überraschung als Wirbelwind an Bewegung und vollführte eine Anzahl sehr wirkungsvoller, ungewöhnlicher und tödlicher Manöver. Als Ergebnis kam nicht ein einziger Gäle nahe genug, um den König herauszufordern, obwohl Talorgen mehrmals sein Schwert einsetzen musste, als sie sich einen Weg durch das Bachbett bahnten, und dies mit der Geschicklichkeit und Entschlossenheit tat, die man von einem so erfahrenen Kriegerfürsten erwarten würde. Der König von Dalriada musste sich wie alle Anführer in einem Konflikt entscheiden, wann die Niederlage unvermeidlich wurde. Einige zogen es vor, auf dem Feld zu sterben und eine gesamte Armee der Bitterkeit der Niederlage zu opfern. Einige wogen vorsichtig die Möglichkeiten ab, selbst in dem kurzen Augenblick, den das Schicksal ihnen gestattete, während sie von ihren sterbenden Männern um- 719 geben waren, und dachten über die Zeit der Demütigung hinweg an eine Zukunft, in der Verhandlungen, Diplomatie, Neugruppierung und neue Bündnisse aus der Niederlage noch einen Sieg machen konnten. Gabhran kam zu einem Entschluss, und ein Bote wurde ausgeschickt, um diese Entscheidung durch den Aufruhr kämpfender Männer und über die Gefallenen hinweg zu König Bridei zu tragen, der nun kühl unter seinem Banner mit einer Gruppe berittener Krieger wartete. Der Bote hatte ein weißes Tuch um die Stirn gewickelt, über seinen Lederhelm, ein Zeichen, dass man ihm gestatten sollte, den König unbehelligt zu erreichen. Als er vor Bridei stand und seine Botschaft herauskeuchte, lag Schweigen über dem Schlachtfeld, denn der Anblick des Königs von Fortriu, der dort auf seinem stolzen grauen Pferd mitten im Gemetzel wartete, und der Ritt des Boten mit dem weißen Tuch lenkten den Blick eines jeden Mannes bachabwärts zu der Stelle, wo ein anderer König nun unter dem rotgoldenen Banner von Dalriada stand, einen Ausdruck in den Augen, der über Erschöpfung und würdevolle Resignation hinausging. Die hundert kleinen Kämpfe hörten nach und nach auf. Krieger traten zurück und senkten Schwerter und Speere, behielten den Feind aber weiterhin vorsichtig im Auge. Die Galen begannen, sich in die allgemeine Richtung ihres ursprünglichen Lagers zu bewegen, und wurden von einer undurchdringlichen Reihe von Fokels Männern aufgehalten, die ihren Rückzug blockierten. Sie waren umstellt. Falls Gabhran vorhatte, diesen Kampf bis zum Tod weiterzuführen, würde er jeden Einzelnen von ihnen mitnehmen. Es gab noch eine andere Gestalt, die die Aufmerksamkeit aller erregte. Als König Bridei vorwärts ritt und seine Eskorte ihm folgte, starrten die Männer aus Fortriu sie an und blinzelten, und mehr als einer murmelte ein Kindergebet, denn es schien durchaus möglich, dass die flammenhaarige Gestalt mit den strahlenden Augen, die neben dem 720 Schwert von Fortriu ritt, nichts anderes war als ihr geliebter Flammenhüter, der zu ihnen herabgestiegen war, er, der schon lange diesem jungen König seine Gunst geschenkt hatte und Brideis Frömmigkeit und seine Ergebenheit an sein Land und sein Volk hoch schätzte. Dass dieser so auffallende Mann scheinbar aus dem Nichts gekommen war, fügte der Theorie noch mehr Gewicht hinzu. An einer bestimmten Stelle stieg Bridei vom Pferd und wartete darauf, dass der gälische König zu ihm kam. Talorgen war es, der nun das königliche Banner hielt, und durch das nachlassende Chaos der Schlacht ritten andere Anführer, Morleo und Carnach, um sich dem König anzuschließen. Gabhran erschien zu Fuß, gefolgt von seinem Standartenträger, flankiert von zwei Fürsten. Worte waren kaum notwendig. Als er vier Schritte vor Bridei stand, schnallte er seinen Schwertgurt ab und legte ihn zusammen mit den Waffen auf den schlammigen Boden. Er sagte kurz etwas in Gälisch. Bridei wartete. Er verstand die Sprache gut, aber Vorsicht trieb ihn, das nicht preiszugeben. Wieder einmal bedauerte er, dass Faolan nicht an seiner Seite war. »Du brauchst eine Übersetzung«, sagte jemand in der Sprache der Priteni. Eine schlanke Gestalt mit Tonsur trat aus den Reihen der Krieger von Dalriada. »Du!«, rief Bridei unwillkürlich beim Anblick von Bruder Suibne, religiöser Berater von Drust von Circinn und ein Mann, der bei Brideis Wahl zum König keine geringe Rolle gespielt hatte. »Du bist offenbar überall!« Suibne lächelte. »Nur Gott ist überall«, sagte er. »Mein Platz am Hof von Circinn wurde von einem anderen eingenommen. Ein mächtiger Wind fegte mich nach Westen, Verkünder eines großen Erwachens zum Licht, einer neuen Morgendämmerung des Glaubens. Der König möchte deine Bedingungen für seine Niederlage hören. Er hofft, dass du - 721 großzügig sein und das Leben der Männer verschonen wirst, die noch stehen.« »Ich werde nicht fragen, wie du unbehelligt durch diese Schlacht gekommen bist«, sagte Bridei zu dem christlichen Priester, »denn ich weiß bereits, wie deine Antwort lauten wird. Sage König Gabhran, dass ich bereit bin zu reden. Er muss seinen Männern befehlen, ihre Waffen sofort vor sich auf den Boden zu legen, wie er es getan hat, und zurückzutreten. Ich werde dann meinen Leuten befehlen, nichts weiter zu tun, als den Rand dieses Bereichs zu patrouillieren, bis wir eine Übereinkunft erreicht haben. Seine Männer dürfen sich um ihre Verwundeten kümmern, meine werden das Gleiche tun. Eine falsche Bewegung, und wir beenden dies nicht in
Frieden, sondern in Blut. Sorge dafür, dass Gabhran das versteht.« Suibne übersetzte Brideis Worte akkurat, und der gälische König stimmte widerwillig zu. Eine Reihe von Befehlen wurde gegeben und zu allen Bereichen des Schlachtfelds weiter getragen. Man hätte einen gewissen Widerwillen zu gehorchen erwartet, denn immerhin hatten diese Männer gerade erst in einem verschwitzten, blutigen Zweikampf bis auf den Tod gestanden, und nun sahen sie ihre Gegner unbewaffnet nur ein paar Armeslängen entfernt und durften die Gelegenheit, ihnen ein Ende zu machen, nicht nutzen. Der Kriegsschrei hatte ihre Lippen noch nicht vor allzu langer Zeit verlassen; die Hitze der göttlichen Inspiration war in ihrer Brust noch nicht zu Asche verbrannt. Und was die Galen anging, wie konnten sie sich darauf verlassen, dass sie nicht sofort nach dem Niederlegen der Waffen von den siegreichen Priteni getötet würden? Es fiel schwer, dieses Versprechen eines uralten Feinds ernst zu nehmen. Aber dies war auch die letzte Schlacht in einem Krieg gewesen, der beinahe einen ganzen Mond gedauert hatte. Die Männer von Fortriu hatten einen langen, anstrengenden Marsch hinter sich gebracht, um Dalriada zu errei- 722 chen. Als die Krieger aus Rabenbrunn und Sturmklippe, Pitnochie und Dornenband, Abertornie und Langwasser begannen, sich auf den sanften Hängen des Tals zu verteilen, und sich hier und da bückten, um einem Verwundeten zu helfen, oder einen Mann hochhoben, der immer noch am Leben war, und die Galen vorsichtiger mit dem gleichen Prozess begannen, wurde klar, dass beide Armeen genug hatten. Bei den Priteni begannen Müdigkeit und Schmerzen durch die Begeisterung zu dringen, denn ihre Verluste waren beträchtlich gewesen; bei den Galen nahm das Überleben die Stelle des Sieges als erwünschtes Ergebnis der Schlacht ein. Sie würden sich um die Gefallenen kümmern und dann, wenn die Götter es wollten, endlich nach Hause gehen können. - 723 KAPITEL ACHTZEHN Bridei hatte einmal geglaubt, dass der Augenblick, in dem Gabhran vor ihm niederkniete und seine Herrschaft über Dalriada aufgab, die Erfüllung seiner Träume darstellen würde. Der gälische König war in einer schwachen Position, nachdem der Nordteil seines Landes bereits von Fortriu erobert worden war, und er wusste, dass auch der Rest seiner Armee niedergemetzelt würde, wenn er Brideis Bedingungen nicht zustimmte. Aber Gabhran war so ruhig und würdevoll in seiner Niederlage, dass Bridei sich fragte, ob der Mann etwas in der Zukunft sah, das ihm verhüllt blieb. Die Anführer der Priteni stellten ihre Forderungen. Bruder Suibne übersetzte sie ins Gälische und gab ihnen Gabhrans Antwort, während sich außerhalb des kleinen Zelts, in dem die Fürsten sich versammelt hatten, die Männer in dem ehemaligen gälischen Lager um die Toten und Sterbenden kümmerten und die Verwundeten so gut wie möglich zusammenflickten. Talorgen hatte seinen Wundarzt mitgebracht, und im Augenblick kümmerte sich dieser Mann um Ged. Kurz vor dem förmlichen Treffen der Fürsten hatte man Bridei benachrichtigt, dass der Herr von Abertornie schwer verwundet war und man nicht erwarten konnte, dass er überlebte. Auch Carnach hatte in seiner Truppe einen Mann, der sich mit dem Richten von Knochen aus- 725 kannte. Am Ende arbeiteten die Ärzte der Priteni auch an gälischen Verwundeten und umgekehrt, wenn auch nicht ohne zweifelndes Gemurmel der Männer. Gabhran versprach Bridei, den Titel eines Königs von Dalriada abzulegen und sich mit seinen Ui-Neill-Fürsten unter bewaffneter Eskorte nach Dunadd zurückzuziehen. Sie verpflichteten sich alle, das Land der Priteni zu verlassen. Die Ältesten, die die Siedlungen in Dalriada beherrschten, die Anführer, die für Festungen und Fischerdörfer zuständig waren, mussten alle zurücktreten, und bei der kleinsten Unruhe würde ihnen Exil oder Tod drohen. Die gewöhnlichen Leute, die nur für diesen Krieg zu den Waffen gerufen worden waren, durften in ihre Heimat zurückkehren und dort wieder mit ihrem normalen Leben beginnen, solange sie verstanden, dass der Westen von nun an unter der Herrschaft von Fortriu stand. Gabhran besprach sich mit seinen Anführern, dann setzte er mit finsterer Miene sein Zeichen unter das Dokument, das Bridei schon vor einiger Zeit vorbereitet hatte. »Und«, fügte Bridei hinzu, »selbstverständlich wird in diesem Land kein christliches Ritual mehr praktiziert werden. Eure Priester werden in ihre Heimat zurückkehren. Das Volk wird die Feste des neuen Glaubens nicht begehen und sich nicht im öffentlichen Gebet zum Christengott zusammenfinden. Auch das muss vollkommen klar sein.« Bruder Suibne beugte sich vor und sprach leise mit dem gälischen König, und Gabhran antwortete. Suibne räusperte sich. »Ich weiß, dass du dir der Präsenz unserer heiligen Männer in Circinn sehr bewusst bist. Der König fragt dich, ob du auch weißt, dass sich auf den Hellen Inseln ebenfalls eine kleine Gruppe christlicher Priester befindet, die dort vom König und seinem Volk mit Toleranz und Höflichkeit behandelt werden. König Gabhran bittet um die Versicherung, dass die Angehörigen dieser friedlichen Gemeinde weder belästigt noch vertrieben wer- 726 den. Wir wissen, dass der König der Hellen Inseln dein Vasall ist.« »Zu dieser Angelegenheit habe ich nichts zu sagen«, erklärte Bridei. »Das liegt außerhalb dieser Verhandlungen und außerhalb von Gabhrans Autorität.« »Dann«, sagte Suibne, »muss ich dich über eine weitere Komplikation informieren.« Diesmal wartete er nicht,
um mit Gabhran zu reden, sondern sprach aus eigenem Entschluss. »Weiter«, forderte Bridei. »Was ist mit den Inseln im Westen?«, fragte der Christ. »Willst du, dass alle Galen dort - und das sind mehrere Hundert in einer Anzahl kleiner Siedlungen - diese Ufer vollkommen verlassen? Wirst du auch dort neue Anführer einsetzen? Diese Dörfer, Bauernhöfe und Fischerboote sind trotz der relativ vielen Menschen, die nun dort leben, strategisch unwesentlich.« Bridei schwieg einen Augenblick. »Wieso fragst du danach?« Bridei war vorsichtig; er kannte diesen Mann bereits. Suibne stellte keine leeren Fragen. Der Priester sprach noch einmal mit Gabhran. »Es wurde ein Versprechen abgegeben«, sagte er, als er sich wieder Bridei zugewandt hatte. »Es betrifft eine sehr kleine Insel, unfruchtbar, windig und vollkommen unbedeutend. Der alte Name dieses Ortes lautet Ioua.« »Die Eibeninsel. Ich weiß davon.« Bridei war in seiner Kindheit ausführlich in Geographie unterrichtet worden. »Man sagt mir, es handelt sich um einen wunderschönen Ort; wild, voller Licht und abgelegen. Um was für ein Versprechen handelt es sich?« »Der König wurde von einem Mann angesprochen, von einem außergewöhnlichen Mann, Bridei, einem Priester, von dem selbst du, solltest du jemals das Glück haben, ihm zu begegnen, zugeben würdest, dass er mächtig im Glauben ist und dass die Gnade Gottes ihn erfüllt. Er heißt Colm; - 727 man nennt ihn Colmcille, was man als >Taube der Kirche< übersetzen könnte.« Ein Strahlen lag auf Suibnes schlichten Zügen, eine Wärme in seinem Ton, die Bridei nicht ignorieren konnte. »Was für ein Versprechen?«, fragte Carnach barsch. »Sprich weiter. Du kennst unsere Ansicht über diesen Glauben und den Schaden, den er bereits unter den Priteni angerichtet hat. Er spaltet das Volk und ist gefährlich.« »Bruder Colm sucht eine Zuflucht, einen stillen Ort, an dem er zusammen mit einer Gruppe von Brüdern ein Gebetshaus einrichten kann, eine Einsiedelei, weit entfernt von gewissen Einflüssen zu Hause. König Gabhran hat ihnen Zuflucht auf Ioua versprochen. Es ist nur ein winziger Fleck von einer Insel.« Carnach zischte, Talorgen verzog das Gesicht, und Morleo ballte die Fäuste. »Es stand König Gabhran nicht zu, Ioua zu verschenken«, sagte Bridei ruhig. »Von heute an hat er keine Macht mehr im Land der Priteni. Die westlichen Inseln stehen unter meiner Herrschaft, und ich werde entscheiden, wer dort kommt und geht. Fortriu wünscht keine weiteren eifrigen Christen, die den Geist der Menschen vergiften.« Suibne übersetzte das, und Gabhran gab eine ernste Antwort. »Der König sagt, diese große Flut kann von niemandem aufgehalten werden. Nicht einmal vom Schwert von Fortriu«, sagte der Priester. »Er hat Recht, Bridei. Wenn du wissen willst, was wir meinen, lade diesen Priester an deinen Hof auf dem Weißen Hügel ein. Lerne ihn kennen und sprich mit ihm. Ich kenne dich als toleranten Mann, der sich seine eigene Meinung bildet. Höre Bruder Colm zumindest an. Niemand kann ihn kennen lernen und unverändert bleiben.« »Was will dieser Bursche uns sagen?« Talorgen wurde unruhig, »Er ist hier, um zu übersetzen, nicht um dir seinen persönlichen Rat zu geben.« - 728 »Wir sind so etwas wie Freunde«, sagte Bridei. »Aber du hast Recht. Bruder Suibne, sag dem König, dass ich diese Bitte zur Kenntnis nehme. Im Augenblick sind wir hier fertig.« Nun sprach er Gabhran direkt an, und der Christ übersetzte leise. »Mein Heerführer und Verwandter Carnach wird eine bewaffnete Eskorte für dich aufstellen. Er wird dich persönlich nach Dunadd begleiten und sich um alles Weitere kümmern. Wir haben hier viel zu tun, es gibt Männer zu begraben, ein Ritual zu vollziehen und ein paar Entscheidungen darüber zu treffen, welche deiner Krieger dich begleiten und welche in ihre Siedlungen hier zurückkehren werden. Ich habe nichts gegen einen Mann, der sich einfach nur hier niederlassen will, solange er die Gesetze und den Glauben der Priteni respektiert.« »Herr ...« Fokel stand am Eingang zum Zelt. Sein Gesicht war bleich, seine Tunika blutüberströmt. »Ich muss gehen.« Bridei stand auf und verbeugte sich höflich. »Ein guter Freund liegt im Sterben. Ich muss mit ihm sprechen, solange ich noch kann. Auch du musst dich sicher von einigen verabschieden. Tu es schnell. Ich möchte, dass du diesen Ort verlassen hast, bevor der Tag zu Ende ist.« Ged lag auf einer behelfsmäßigen Bahre, seine schreckliche Wunde bedeckt mit einem bunten Umhang, den einer seiner Bewaffneten über seinen Oberkörper gelegt hatte. Rings um ihn her lagen andere verwundete Krieger, und die Ärzte arbeiteten angestrengt. Die Männer, die ihnen halfen, waren blass und schweigsam. Es gab nur wenig Ausrüstung; sie brauchten Sägen, Kohlebecken, Heilkräuter. In diesem Land, das ein fremdes Land geworden war, verfügten sie nur über die eingeschränkte Ausrüstung, die jeder Arzt in seiner Satteltasche trug. Die Männer mit geringeren Wunden würden vielleicht in eine Siedlung gebracht und dort behandelt werden. Viele der schwerer Verwundeten würden hier sterben, - 729 das war das Wesen eines Kriegs, der auf dem Marsch ausgefochten wurde. »Ged«, sagte Bridei, kniete sich neben seinen Freund und nahm seine Hand. »Das sind schlechte Nachrichten.«
Es hatte keinen Sinn, sich zu verstellen; Morleo hatte ihm die Wunde beschrieben, als sie sich auf die Beratung mit Gabhran vorbereiteten. »Bridei ...«, ächzte Ged. »Ein guter Kampf, nicht wahr? Wir können stolz auf unsere Jungs sein ...« »Das können wir, mein Freund. Und jetzt sag mir, gibt es etwas, was ich für dich tun kann? Hast du Botschaften auszurichten?« Ged versuchte zu lächeln, aber es war nur eine verzerrte Grimasse. »Du bist ein König, kein ... Botenjunge ... aber, Bridei... mein Sohn Aled ... er ist erst zwölf, zu jung, um Abertornie schon zu übernehmen, und die Kleinen sind alle Mädchen ... Loura sollte diese Arbeit nicht allein leisten müssen ... könntest du ...« »Ich werde mit deiner Frau sprechen. Wir schicken ihr jemanden, mach dir deshalb keine Sorgen.« Bridei konnte eine Veränderung in Geds Atem wahrnehmen und sah, wie ein anderer Ausdruck in seine Augen trat. Die Knochenmutter war nur noch um Haaresbreite entfernt. »Wir sind alle hier, Ged«, sagte er leise. »Talorgen, Morleo, Fokel und viele deiner eigenen Leute. Sie haben gekämpft, wie du sie ausgebildet hast, mit Herz, Mut und Inspiration. Der Flammenhüter möge seine Wärme in deinen Geist hauchen und dich auf deiner Reise schützen.« »Ah ...«, flüsterte Ged, »es tut weh, Bridei. Es tut mehr weh, als ich gedacht hätte. Es ist schwer zu atmen... aber es ist gut. Wir haben gesiegt... wir haben unser Land zurückerobert ... wenn es irgendetwas gibt, was es wert ist, dafür zu sterben ... dann dies ...« Seine Augen wurden glasig und blicklos, das schwache Heben und Senken der Brust fand ein Ende. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus Geds Mundwinkel - 730 und verlor sich in dem Scharlachrot, Gelb und Grün des Umhangs. »Die Knochenmutter möge dich sanft in ihren Armen wiegen, alter Bursche«, sagte Talorgen und wandte sich ab, um sich die Augen zu wischen. »Die gesegnete Blütenreiche schenke dir Träume von den hübschesten Mädchen und schönsten Gärten in ganz Fortriu«, sagte Fokel, beugte sich vor und berührte die Stirn des Toten mit den Lippen. »Die Leuchtende möge ihr Licht auf deinen Weg scheinen lassen, bis du vorwärts in ein neues Morgengrauen marschierst.« Morleo kniete sich hin und schloss die starrenden Augen; Bridei kreuzte Geds Arme auf seiner Brust, wo das Blut den geliehenen Umhang verfärbte. Er konnte keine Worte mehr finden. Es gab hier nichts mehr zu tun. Geds Männer würden die Totenwache halten, wenn auch nur bis zum Morgengrauen, denn es gab viele zu begraben, und niemand wollte sich in dieser Region länger aufhalten. Bridei selbst hatte noch viel vor sich, er musste mit Männern sprechen und Anordnungen treffen. Es würde lange dauern, bis er allein sein und damit beginnen konnte, das Gewicht dieses Todes zu spüren. Er fand Cinioch, zog ihn beiseite und sagte ihm, dass die Szene zwischen ihm selbst, Hargest und dem geheimnisvollen rothaarigen Fremden streng geheim gehalten werden musste, zumindest im Augenblick. Cinioch sollte dafür sorgen, dass die anderen Männer, die bei ihm gewesen waren, das ebenfalls verstanden. »Ich habe es ihnen schon gesagt«, berichtete Cinioch. »Der Einzige, mit dem ich darüber gesprochen habe, ist Uven. Das musste ich tun, denn er hatte tausend Fragen über unseren unerwarteten Besucher. Er weiß, dass er es für sich behalten muss. Hast du gehört, dass Uven drei Galen getötet hat, trotz seines verletzten Arms? Wir haben nicht einen einzigen Verwundeten verloren.« - 731 »Uven ist ein tapferer Mann«, sagte Bridei. »Und was dich angeht, so höre ich, dass du dich ebenfalls sehr gut geschlagen hast.« »Was wirst du Umbrig sagen, Herr?«, fragte Cinioch ganz offen. »Wirst du ihn wissen lassen, dass der Junge, den er als Leibwächter geschickt hat, sich als Attentäter erwies?« »Still, Cinioch. Das ist meine Sache.« Bridei sah die echte Sorge in Ciniochs Gesicht und gab nach. »Tatsächlich«, fügte er hinzu, »werde ich ihm die Wahrheit sagen.« Er war schon einmal nahe daran gewesen, von einem Freund getötet zu werden, der zum Feind geworden war, und er hatte den Vater dieses Mannes angelogen, um ihn vor der Kränkung zu schützen. Talorgen hatte die Wahrheit sicher erraten, aber die Lüge hatte ihm und seinen beiden jüngeren Söhnen geholfen, besser mit ihrer Trauer zurechtzukommen. Diesmal würde Bridei nicht lügen. »Aber es ist nicht notwendig, dass die gesamte Armee es erfährt. Ich werde jetzt zu Umbrig gehen. Und wo ist...« Er sah sich in dem Bereich um, wo die Pferde aus Pitnochie angepflockt waren. Mehrere Männer, die er kannte, saßen dort und ruhten sich aus, kümmerten sich um geringfügige Wunden oder packten ihre Ausrüstung ein. Jemand hatte ein kleines Lagerfeuer errichtet und kochte, was wie Haferbrei roch. »Drustan? Der Vogelmann?« »Auch das sollte geheim gehalten werden. Ist er noch hier oder ist er davongeflogen, während wir die Friedensbedingungen aushandelten?« »Er ist da drüben, Herr. Sieht aus, als hätte er nicht die Kraft zum Fliegen, zumindest im Augenblick nicht. Bei der Männlichkeit des Flammenhüters, ich habe noch nie jemanden so geschickt kämpfen gesehen. Er ist erstaunlich begabt. Ich würde gern ein paar dieser Bewegungen lernen. Eine Weile hätte ich beinahe geglaubt...« Bridei gelang ein Lächeln. »Das haben wir vielleicht alle - 732 getan. Aber er ist ein sterblicher Mann, und die Tatsache, dass er behauptet, Faolans Freund zu sein, bestätigt das
nur. Bitte, gib ihm etwas zu essen. Er hat einen langen Weg sehr schnell zurückgelegt, um uns zu helfen. Und bitte ihn zu warten, bis ich zurückkomme. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Und ich glaube, er hat eine Bitte an mich.« Umbrig überraschte Bridei, indem er Tränen vergoss und dann verkündete, dass er sich schon lange Sorgen gemacht hatte, dass es mit dem Jungen eine schlechte Wendung nehmen könnte; sein Vater war ein unangenehmer Mensch, und sie hatten immer befürchtet, dass Hargest ihm nachschlagen könnte. Die Nachricht, dass offenbar auch Alpin tot war, nahm Umbrig hingegen gelassen auf. Der Caitt-Fürst war der Ansicht, dass es vermutlich Alpin gewesen war, der Hargest zu seiner verräterischen Tat angestiftet hatte. Umbrig nahm an, dass die beiden sich ein- oder zweimal bei den langen Ausflügen getroffen hatten, die der Junge zu Pferd unternahm, angeblich, um das Durchhaltevermögen von Pferden zu überprüfen. Die vorgebliche Verachtung des Jungen für seinen Vater hatte nie so recht zu seinem Bedürfnis nach Anerkennung und einem Platz auf der Welt passen wollen. »Ich denke, es war ein Bedürfnis nach Liebe«, sagte Bridei leise und spürte sein eigenes Versagen wie einen Schmerz in der Brust. »Ich habe versucht, ihm zu helfen. Ich hätte noch mehr für ihn tun können, wenn er mir die Zeit dazu gegeben hätte. Hargest war viel versprechend, und er hätte nur gute Anleitung gebraucht, bis er seine eigene Menschlichkeit erkannte.« »Ich habe es versucht, Bridei«, murmelte Umbrig und wischte sich das Gesicht mit dem Katzenfellrand seines weiten Umhangs. »Ich habe es sieben Jahre lang versucht. Es gibt schlechtes Blut in dieser Familie. Seltsame Geschichten; finstere Geschichten.« - 733 »Du weißt, dass der Onkel des Jungen, Drustan, hier ist? Dass er es war, der die Nachricht von Alpins Tod brachte?« Umbrig starrte Bridei an. »Der verrückte Onkel? Tatsächlich? Auf welcher Seite hat er denn gekämpft?« »Er hat mir das Leben gerettet. Du wirst Wunden auf dem Gesicht deines Pflegesohns finden. Die hat sein Onkel ihm zugefügt. Aber die tödliche Wunde war mein eigenes Werk. Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen, Umbrig. Ich wollte ihn nur davon abhalten, mir sein Messer ins Herz zu stoßen. Ich würde viel darum geben, noch Zeit zu haben, ihn von seinem Ansinnen abzubringen und in eine Zukunft mit strahlenden Möglichkeiten zu führen.« »Du bist kein Gott, Bridei, wenn auch manche das denken mögen. Du kannst nicht alles richtig machen. Vielleicht war es vorbestimmt, dass Hargest heute sterben sollte. Der Junge wurde von Zorn und Frustration verzehrt. Vielleicht wäre er nie zufrieden gewesen. Vielleicht hätte er nie die Tatsache akzeptiert, dass er nicht Alpins legitimer Sohn und Erbe war. Wer weiß? Wir haben heute viele gute Männer verloren. Am Ende ist der Junge einfach nur ein weiteres Kriegsopfer.« Nun flössen die Tränen ganz offen über das breite, tätowierte Gesicht. »Danke, Umbrig«, sagte Bridei und senkte den Kopf. »Ich stehe in deiner Schuld, und ich werde diese Schuld bezahlen, wenn du es brauchst. Sag mir nur schnell: Dieser verrückte Onkel, von dem wir sprachen, hat er diese Beschreibung durch sein Wesen oder eine Krankheit verdient? Drustan kommt mir kein bisschen verwirrt vor.« Umbrig verzog das Gesicht. »Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte er, »nicht, seit wir alle Kinder waren. Damals war er in Ordnung, ein bisschen verträumt, aber nichts Ungewöhnliches. Es heißt, er hätte Alpins Frau und Kind umgebracht, und sein Bruder hat ihn zu einer Gefahr erklärt und ihn aus Sicherheitsgründen eingesperrt. Vor sieben Jahren, kurz nachdem Hargest zu mir geschickt - 734 wurde. Er ist also frei, wie? Das wird interessant sein. Ist dir klar, dass es Drustan ist, dem der Ankerplatz im Westen gehört? Der, den Alpin für seine Schiffe benutzt hat? Und ich nehme an, Dornwald wird jetzt auch an ihn fallen. Das wird ihn zu einem der mächtigsten Fürsten im Norden machen.« »Interessant«, sagte Bridei. »Ich muss Talorgen fragen, ob unter den Schiffen, die er auf dem Weg hierher versenkt hat, auch Caitt-Schiffe waren. Aber als Erstes werde ich mit Drustan selbst sprechen und ihm ein paar Fragen stellen. Lebe wohl, Umbrig. Noch einmal, ich kann dir nicht sagen, wie Leid es mir um den Jungen tut.« »Das brauchst du auch nicht«, murmelte Umbrig. »Es steht dir ins Gesicht geschrieben. Und jetzt geh, ich habe Männer zu begraben. Ich sollte es lieber hinter mich bringen.« Drustan stand allein in einigem Abstand von dem Lagerfeuer, das Uven angezündet hatte. Es war ein sehr langer Tag gewesen. Nun dämmerte es, und der Wind war nur noch eine sanfte Brise, die den salzigen Geruch des Meeres herantrug. Viele Vögel waren unterwegs und grüßten den Abend mit ihren Rufen, und der rothaarige Mann blickte zu ihnen auf. Er hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. Als Bridei näher kam, bemerkte er, dass Drustan schauderte und die Zähne zusammengebissen hatte, offenbar, damit sie nicht klapperten. Eine Schale mit Essen stand auf einem flachen Stein in der Nähe, wirkte aber unberührt. »Drustan?«, fragte Bridei leise. Er war nicht allein gekommen: Cinioch und Uven waren in der Nähe und passten auf. Bridei hätte zwar gern auf diesen ununterbrochenen Schutz verzichtet, aber er akzeptierte, dass dieser Tag etwas Besonderes war. Er hatte sich entschlossen, Hargest zu vertrauen, und Hargest hätte ihn beinahe getötet. Heute hatte seine Armee Dalriada zurückerobert, und der Frieden hing von ihm ab. - 735 »Herr.« Drustan löste die Arme und deutete eine Verbeugung an. Seine Stimme war nicht vollkommen fest. »Es scheint dir nicht gut zu gehen. Sollen wir uns hinsetzen?«
»Es geht mir gut genug. Meine Gestalt zu wechseln, erschöpft mich und direkt danach in einen Kampf zu reiten, war eine schwere Prüfung. Außerdem ...« Drustan zögerte. »Komm und setz dich.« Sie ließen sich nebeneinander auf dem Boden nieder. Es gab wenig Bequemlichkeit auf diesem Feld. »Wie du zweifellos gesehen hast, wurde ich ausgebildet, um zu kämpfen«, sagte Drustan, »und kann das, was ich gelernt habe, einsetzen. Ich war sieben Jahre lang gefangen, mit nur einem einzigen Wärter. Um uns die Zeit zu vertreiben und zu verhindern, dass ich in Wahnsinn und Verzweiflung versinke, hat er mir beigebracht, was er wusste. Die Bewegungen und diese Fertigkeiten genieße ich. Es tut gut, Geist und Körper zu üben. In deinen Kampf zu reiten und es zu nutzen, um zu verstümmeln und zu töten, widerstrebt allerdings meinem Wesen. Es beunruhigt mich. Und ich bin nicht daran gewöhnt, unter Menschen zu sein. Ich muss mich entschuldigen. Deine Männer halten mich wahrscheinlich für unhöflich und undankbar.« Bridei nahm diese Ansprache auf, die mehrere Überraschungen enthielt. In der derzeitigen Situation würde er wahrscheinlich nicht die Zeit haben, diesen faszinierenden Mann besser kennen zu lernen. »Drustan«, sagte er, »es gibt so viele Fragen, die ich dir stellen möchte. In der Tat weiß ich kaum, wo ich anfangen soll. Umbrig sagte mir, dass dein Bruder dich für ein schweres Verbrechen eingesperrt hat. Ein schreckliches Verbrechen.« »Du möchtest fragen, ob das wahr ist? Warum solltest du mir mehr glauben als Umbrig, den du bereits kennst?« »Umbrig sagt mir nur, was er gehört hat. Du kannst mir sagen, was wirklich geschehen ist.« - 736 »Ich habe dieses Verbrechen nicht begangen.« Drustan richtete seine leuchtenden Augen auf Bridei. »Vertraust du Faolan?« Das kam unerwartet. »Mit meinem Leben«, sagte Bridei. »Er weiß, dass ich unschuldig bin. Er wird für mich sprechen. Ebenso wie Ana.« Etwas in Drustans Tonfall ließ Bridei aufmerksam werden. »Du sprichst von der königlichen Geisel, Ana von den Hellen Inseln, die wir geschickt haben, um deinen Bruder zu heiraten?« Drustan senkte den Blick. Ein kleines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Sie hat nie an mir gezweifelt«, sagte er. »Selbst als ich selbst unsicher war, hat sie an meine Unschuld geglaubt. Die beiden sind wahre Freunde.« »Du überraschst mich. Faolan sagt immer, er hat keine Freunde.« »Du und ich wissen das besser.« »Ich denke, du solltest mir lieber die ganze Geschichte erzählen«, sagte Bridei. »Wir haben nicht viel Zeit: Da mein Druide nicht hier ist, muss ich vor Einbruch der Nacht ein Ritual vollziehen. Und ich muss dich um etwas bitten, aber das hängt von deinen Antworten auf meine Fragen ab.« »Ich möchte dich ebenfalls etwas fragen, bevor ich unsere Geschichte erzähle: meine, die von Faolan und die von ... Ana.« Da war es wieder, dieser Name, der mit solcher Zartheit und Leidenschaft ausgesprochen wurde, dass man es nicht hören konnte, ohne dass es das Herz berührte. »Also frage.« »Du hast heute gekämpft und getötet wie wir alle. Du hast deinen Platz unter deinen Kriegern eingenommen und durch dein Beispiel geführt, wie es ein wahrer König tun sollte. Tatsächlich sieht es so aus, als hättest du dich selbst in Gefahr gebracht, die Zeichen deiner königlichen Stellung bis zum Schluss verborgen und gekämpft wie jeder andere Mann. Du warst mutig und entschlossen. Nun scheinst du - 737 ruhig und beherrscht zu sein. Aber ich sah an deinem Gesicht, dass du das Blutvergießen nicht mehr genossen hast als ich. Das interessiert mich. Dein Faolan spricht beinahe von dir, als wärst du ein Gott... nein, das stimmt nicht, er ist kein Mann, der viel auf spirituelle Dinge gibt. Er hält dich für einen unvergleichlichen Anführer, für einen Mann, dessen Beispiel in jeder Hinsicht überragend ist. Er betrachtet dich auch als Freund, selbst wenn er es nicht zugeben will.« Sie schwiegen beide. Dann sagte Bridei: »Wie lautet deine Frage?« »Wie kannst du diese Dinge miteinander vereinbaren?«, fragte Drustan und schlang die Arme um die Knie. »Wie kannst du es ertragen?« Bridei gelang ein Lächeln. »Zu solchen Zeiten«, sagte er, »nur mit großen Schwierigkeiten. Ich wurde von einem Mann aufgezogen, der verstand, was ein König sein muss; er hat mich gut vorbereitet. Es gibt Menschen am Weißen Hügel und Fürsten hier auf dem Schlachtfeld, die mich mit allem unterstützen, was sie zu geben haben. Und ich habe meine Frau. Ohne Tuala könnte ich das alles nicht begreifen. Sie ist mein Anker, mein stiller Mittelpunkt, mein Herz und das größte Geschenk, das die Götter mir gegeben haben.« Es fühlte sich merkwürdig, aber auch seltsam richtig an, Drustan dies einzugestehen, obwohl er den Mann kaum kannte. Irgendwie erinnerte ihn der Vogelmann an den alten Druiden Uist, von dem stets ein anderweltliches Strahlen ausgegangen war und der selbst in den finstersten Zeiten eine Weisheit an den Tag gelegt hatte, als stünde er außerhalb des gewöhnlichen Rechts und Unrechts menschlicher Angelegenheiten. Drustan lächelte. »Danke«, sagte er. »Ich respektiere und bemitleide dich. Wir haben alle unsere eigenen Fesseln. Ich bin den meinen mit der Hilfe von bemerkenswerten Freunden entkommen. Aber du wirst niemals fliehen können.« »Du verstehst mich falsch. Ich liebe die Götter, und ich
- 738 liebe mein Land. Die Pflicht der Führerschaft hat mich von Anfang an angezogen, und folge diesem Pfad freiwillig.« »Die Liebe hilft dir. Tuala ist eine bemerkenswerte Frau. Ich werde dir jetzt meine Geschichte erzählen.« Sein Bericht war lang, finster und seltsamer als alles, was Bridei sich hätte vorstellen können. Anas Rolle schien überhaupt nicht zu dem zu passen, was er von ihr wusste, und einige von Faolans Entscheidungen überraschten ihn, aber die Geschichte war überzeugend, und er glaubte sie. Er lauschte schweigend, bis Drustan seinen Bericht mit Tualas Bitte, dass er als Bote fungieren möge, zum Ende brachte. »Und ich wusste es«, sagte der rothaarige Mann, »ich wusste es tief im Herzen, dass dieser Attentäter kein anderer war als der Sohn meines Bruders. Sobald die Königin seine Augen erwähnte, wusste ich es. Ich habe es ihnen nicht gesagt. Es wäre besonders Faolan sehr schwer gefallen, mich zu bitten, mich in eine solche Situation einzumischen.« »Warum besonders Faolan?« »Es gibt ein Ereignis in seiner Vergangenheit, eine Erfahrung, über die ich nicht mit dir sprechen kann, denn er hat nur im Vertrauen darüber gesprochen. Faolan würde einen Mann nur sehr ungern bitten, das Leben eines Verwandten in Gefahr zu bringen. Und das war stets eine Möglichkeit, obwohl ich dich nach allem, was wir zu diesem Zeitpunkt wussten, vielleicht nur hätte warnen müssen. Ich wollte Faolan nicht wissen lassen, dass ich mit Hargest verwandt bin.« »Es tut mir Leid. Hätte ich gewusst...« »Es hätte nichts geändert, Herr. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Dein Überleben ist so unendlich viel wichtiger als das von Hargest. Du bist das Schwert von Fortriu. Er war...« »Nur ein verwirrter und zorniger Junge? Ich kann es nicht so betrachten, Drustan. Mir kommt es so vor, als sei ein Mann ein Mann, und jeder Tod verdient das gleiche 739 Maß an Tränen. Ich hätte diesem Jungen helfen können; er hätte jemand sein können, das wusste ich. Nun hat mir ein anderer Freund seinen Sohn anvertraut, und ich fürchte, ich werde wieder zu viele Fehler machen. Ein hervorragender Anführer? In solchen Zeiten komme ich mir vor, als tastete ich allein im Dunkeln herum.« »Du brauchst deine Frau an deiner Seite. Du musst deine Tränen vergießen, ebenso wie wir alle, und du musst deine eigene Schwäche anerkennen und dir Zeit nehmen, deinen Mut wieder zu finden. Aber du hast keine Zeit dazu.« Bridei starrte ihn an. »Wie kannst du das wissen? Wie kannst du es so gut verstehen?« »Vielleicht, weil ich der Verzweiflung selbst so nahe war, Verzweiflung, Gewalttätigkeit, Selbstzerstörung ... ohne Deord hätte ich nicht überlebt. Ohne Faolan wäre ich nicht entkommen. Ohne Ana...« Der Fluss der Worte verebbte. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers rief jemand nach Bridei. »Sprich weiter«, sagte er. »Du willst jetzt sicher deine Bitte vorbringen.« Drustan seufzte. »Ich werde es nicht tun. Nicht jetzt. Es soll warten, bis du deine Arbeit hier geleistet hast und wieder in dein Heim und zu deinen Lieben zurückkehren konntest. Man sollte von solchen Angelegenheiten nicht auf einem Schlachtfeld sprechen.« Bridei nickte. Es widerstrebte ihm, seine eigene Bitte auszusprechen, denn er würde sehr viel verlangen. Drustan sah bei all seiner Offenheit, bei all seinem Verständnis vollkommen erschöpft aus. Also fragte er stattdessen: »Welche Pläne hast du für die Zukunft? Der Weiße Hügel steht dir offen, wenn du eine Weile bei uns bleiben möchtest.« Drustan lächelte. »Ich danke dir, Herr. Die Königin hat uns ebenfalls die Gastfreundschaft deines Hofs angeboten. Ich brauche Zeit, um zu begreifen, was geschehen ist. Aber ich werde bald nach Dornwald zurückkehren müssen und dann nach Westen gehen. Ich möchte meinen friedlichen - 740 Wasserweg von den Kriegsschiffen meines Bruders befreien.« »Drustan...« »Ich werde morgen früh die Nachricht von deinem Sieg nach Hause tragen«, nahm der rothaarige Mann Brideis Bitte vorweg. »Ich werde im Morgengrauen aufbrechen. Bis zum Abend werden deine Leute wissen, dass du in Sicherheit bist.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Sag nichts. Ich habe den Blick deiner Frau gesehen. Mit jedem Atemzug wünschte sie sich dein Überleben. Außerdem habe ich eigene wichtige Gründe, schnell zum Weißen Hügel zurückzukehren.« »Drustan?« »Ja, Herr?« »An dieser Geschichte ist noch mehr, als du mir erzählt hast, nicht wahr?« Drustan schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Alles, was ich selbst weiß, habe ich dir gesagt. Aber wir waren zu dritt auf dieser Reise. Jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen. Hör dir an, was Faolan zu sagen hat, wenn du nach Hause zurückkehrst. Immer vorausgesetzt, er ist bis dahin noch nicht gegangen.« »Gegangen? Wohin?« »Ich glaube, du wirst feststellen, dass er sich verändert hat, ebenso wie Ana und ich. Er muss unruhige Geister zur Ruhe betten, bevor er weiter seinen Weg gehen kann, und er muss sein gebrochenes Herz heilen. Er möchte
nicht, dass du ihn so schwach siehst. Ana hat ihm das Versprechen abgenommen, dass er bis zu deiner Rückkehr bleibt, aber er hat vielleicht nicht die Kraft, sich daran zu halten.« »Du beunruhigst mich, Drustan. Sprechen wir beide von dem gleichen Mann?« Drustan nickte. »Es ist der gleiche, nur verändert. Er wird versuchen, vor seinen Freunden zu fliehen, sogar vor dir. - 741 Gehe vorsichtig mit ihm um. Wir wollen ihn nicht verlieren.« »Wir?« »Ana und ich.« Das kam leise und voller Stolz heraus. »Ich verstehe«, sagte Bridei und nahm an, dass es zumindest eine Tatsache gab, die Drustan ihm noch nicht mitgeteilt hatte und dass sie viel mit der Prinzessin von den Hellen Inseln zu tun hatte. »Ich hoffe, innerhalb eines Monds zu Hause zu sein, aber es gibt hier im Westen noch viel zu tun. Bitte Faolan, auf mich zu warten, wenn du kannst. Sag ihm, es ist wichtig. Es gibt eine Sache, über die ich mit ihm sprechen möchte, eine, bei der er mich besser beraten kann als jeder andere.« »Das werde ich tun, Herr. Hast du noch andere Botschaften?« »Tuala kennt mein Herz, auch ohne dass es Worte braucht. Sag ihr einfach nur in kleinerem Kreis, dass sie mir fehlt und Derelei ebenso und dass ich die Tage zähle, bis ich wieder zu Hause bin. Und danke ihr und Broichan dafür, dass sie so weise waren, dich zu mir zu schicken.« »Ich habe deinen Druiden nicht kennen gelernt. Er war anderswo, ebenso wie dein Sohn. Aber ich werde diese Worte weitergeben.« »Du kannst auch Ana inoffiziell sagen, dass ich froh bin, dass sie nach Hause zurückgekehrt ist und deinen Bruder nicht geheiratet hat. Diese Botschaft sollte unter vier Augen ausgerichtet werden.« »Danke, Herr.« Das Lächeln war nun weniger zögernd, die Augen sehr strahlend. »Es hat hier Verluste gegeben. Ich werde bis zu unserer Rückkehr warten, mit dem Haushalt darüber zu sprechen; ich werde es dir nicht auferlegen, solch traurige Nachrichten zu überbringen. Und jetzt muss ich gehen; sie rufen mich. Wirst du an unserem Ritual für die Toten teilnehmen?« - 742 Drustan schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, du wirst mich entschuldigen. Ich sollte heute Abend lieber allein sein, denn ich will mich ausruhen und mich auf den Morgen vorbereiten. Ich wünsche dir alles Gute, Herr.« »Du solltest mich lieber Bridei nennen. Immerhin bist du Faolans Freund, und er spricht mich immer mit meinem Namen an.« »Gute Nacht, Bridei. Du bist ein guter Mann und hast die Treue deines Volks verdient.« »Ich nehme an, am Ende können wir alle nur unser Bestes tun«, sagte Bridei, »und uns darauf verlassen, dass es den Göttern genügt. Gute Nacht, Drustan. Der Flammenhüter möge dich auf deiner Reise behüten. Und ich danke dir nochmals aus tiefstem Herzen.« Es dauerte tatsächlich mehr als einen Mond, bevor der König von Fortriu zum Weißen Hügel zurückkehrte, begleitet von den Truppen aus Pitnochie und Abertornie und einer Gruppe von Bewaffneten, die vom Hof selbst stammten. Sie mussten nicht vor den Toren warten, nicht an diesem Tag. Die Tore standen weit offen, und im Hof dahinter hatte sich der gesamte Haushalt versammelt, um Bridei und seine Krieger zu Hause willkommen zu heißen. Die schlechten Nachrichten waren erheblich früher überbracht worden, von Boten, die an jeden Ort geschickt worden waren, der Männer im Krieg verloren hatte. Das ersparte den Familien jener Krieger, die ihr Leben im Dienst des Flammenhüters gelassen hatten, auf die Rückkehr der kleinen Gruppen müder Überlebender zu warten und vergeblich zu hoffen, ein geliebtes Gesicht unter ihnen zu sehen, nur um schließlich zu erkennen, dass ein Sohn, ein Vater, ein Ehemann oder ein Bruder nie wieder nach Hause zurückkehren würde. Bei allen Verlusten war es ein großer Sieg gewesen. Ci-nioch, der nun stolz an der Spitze ritt, hielt das königliche Banner hoch. Einer von Geds Hauptleuten trug die bunte - 743 Standarte von Abertornie in Tribut an seinen gefallenen Fürsten. Später würde eine Siegesfeier abgehalten werden und alle Anführer, die bei der Wiedereroberung des Westens eine Rolle gespielt hatten, würden zum Weißen Hügel eingeladen werden, damit man sie dort ehren konnte. Aber das hatte Zeit bis zum Frühling, denn der König kehrte erst spät im Herbst zurück, und der Winter streckte bereits eisige Finger ins Land. Bald schon würde es gefährlich oder unmöglich sein zu reisen. Außerdem waren Talorgen und Carnach immer noch in Dunadd und kümmerten sich um die Verschiffung der Galen, die als gefährlich betrachtet wurden, und sorgten dafür, dass diese Region wieder fest unter die Herrschaft der Priteni gebracht wurde. Fokel und Umbrig taten im Norden von Dalriada das Gleiche, Fokel im Heim seiner Ahnen auf Galanys Höhe, und Umbrig in der befestigten Küstensiedlung auf der Donncha-Landzunge, wo es ihm recht gut gefiel. Es würde einen Zeitpunkt für alles geben, auch für den Jubel. Ohne es laut auszusprechen, waren die Anführer der Ansicht, dass die Verluste zu groß, die Veränderungen zu überwältigend waren, als dass eine Feier jetzt angemessen gewesen wäre. Es würde einige Zeit brauchen, bis sie vollkommen begriffen, was sie erreicht hatten. Der Tortag stand kurz bevor, und die Schatten der Toten waren nur einen Atemzug entfernt. Der Winter bot Gelegenheit zum Nachdenken. Es war eine Brachzeit des Geistes, in der die Saat ihren langsamen, langen Wachstumsprozess begann. Sie brauchten im Augenblick keinen Jubel, keine Musik und kein Festessen. Es
genügte zu wissen, dass, wenn es an der Zeit war, ein neuer Frühling kommen würde. Es handelte sich also bei Brideis Rückkehr nicht so sehr um den triumphalen Einzug eines siegreichen Königs, als um die Wiedervereinigung einer Familie. Der Erste, der durch das Tor rannte, um die Reiter zu begrüßen, war Ban, der kleine weiße Hund, der begeistert kläffte und vergeb- 744 lieh versuchte, seinen Körper in Einklang mit dem hektisch wackelnden Schwanz zu bringen. Schneefeuer, trittsicher wie immer, ging weiter in den Hof, ohne sich an dem Miniaturwirbelwind zu stören, der um seine Füße fegte. Schnell waren alle Reiter abgestiegen und von ihren Lieben umgeben, Frau, Mutter, Kindern, bis es überall im Hof Tränen und Lächeln, Umarmungen, freundschaftliche Schulterschläge und hier und da auch junge Väter gab, die ihre Neugeborenen zum ersten Mal sahen. Männer, deren Familien weit vom Hof entfernt lebten, wurden von Dienerinnen und Küchenhelferinnen begrüßt, die sonst niemanden zu begrüßen hatten. Fröhliches Lachen erklang. Der König musste sich selbstverständlich in der Öffentlichkeit zurückhaltender geben, selbst wenn seine Würde von einem kleinen Hund untergraben wurde, der immer wieder an ihm hochsprang und versuchte, jeden Teil von ihm abzulecken, den er erreichen konnte. Brideis eigenes Empfangskomitee stand auf der Treppe: Tuala, ernst und still, mit Derelei auf dem Arm. Das Kind sah zweifelnd aus, als wäre es nicht so recht sicher, wer dieser grimmige, müde Krieger war. Neben Tuala stand Aniel, der zu dieser Gelegenheit ausnahmsweise einmal lächelte, und neben ihm Tharan, hoch gewachsen und wachsam. Auf Tualas anderer Seite stand Broichan. Und da waren Ana und Drustan, ganz offen Hand in Hand: Bei den Göttern, sie gaben wirklich ein schönes Paar ab. Bridei sah Garth, eine Pike in der Hand und ein breites Grinsen auf den Lippen. Von Faolan gab es keine Spur. Bridei machte einen Schritt vorwärts, und Tuala kam die Treppe hinunter, und einen Augenblick später hatte er alle Angemessenheit vergessen und umarmte Frau und Sohn, denn er hatte seit seinem Abschied jede Nacht von diesem Augenblick geträumt und konnte sich jetzt einfach nicht mehr zurückhalten. Derelei erstarrte und öffnete den Mund, um ein verängstigtes Jammern auszustoßen. - 745 »Papa ist zu Hause, Derelei.« Das war Broichans Stimme, die hinter ihnen erklang. Es klang so sehr wie etwas, was Tuala sagen würde, dass Bridei erstaunt aufblickte. Das Kind blinzelte, schloss den Mund wieder und lehnte einen Augenblick später den Lockenkopf an die Schulter seines Vaters. Nach einer Weile trat Tuala zurück und wischte sich die Augen. Sie lächelte bedauernd. »Du solltest lieber auch die anderen begrüßen, Bridei. Es gab solch traurige Verluste, dein Bote hat es uns mitgeteilt. Breth ist tot, und Elpin und Enfret... und Ged, ein so freundlicher Mann ... Es ist traurig. Seine Kinder sind noch so klein.« Bridei nickte. »Er wollte, dass wir ihnen helfen, und das werden wir auch tun. Es ist so schön, euch zu sehen, ich kann dir an einem so öffentlichen Ort nicht sagen, wie schön. Aniel, Tharan, seid gegrüßt. Die meisten unserer Anführer sind noch im Westen geblieben, denn dort gibt es viel zu tun. Morgen werde ich eine Ratssitzung einberufen und euch alles erzählen.« »Ein großer Sieg, Bridei«, sagte Aniel zufrieden. »Du wandelst im Licht der Götter.« »Broichan.« Bridei nahm seinen Pflegevater am Arm, und einen Moment fehlten ihm die Worte. Der Druide sah viel abgehärmter und gebrechlicher aus als zuvor und war dennoch seinem alten Ich wieder viel ähnlicher, die dunklen Augen klar und fragend. »Ich hoffe, es geht dir gut. Ich danke dir, dass du Drustan zu mir geschickt hast. Ihr beiden habt mir das Leben gerettet.« »Den Verdienst daran trägt deine Frau«, sagte er leise. »Es erwärmt unsere Herzen, dich sicher wieder zu Hause zu sehen, Bridei.« Er sagte nichts weiter, und das an sich war schon ein Beweis dafür, dass sich etwas verändert hatte. Kein Wort über den Sieg? Kein Wort darüber, die Galen vertrieben und den Westen im Triumph wiedererobert zu haben? Das war im- 746 mer Broichans wichtigstes Ziel gewesen. Für dieses Ziel hatte er fünfzehn Jahre seines Lebens geopfert, um Bridei für den Thron vorzubereiten. »Morgen«, sagte Bridei, »möchte ich gerne über ein paar Dinge mit euch sprechen, wenn ihr alle Zeit habt. Ihr werdet nicht alle Entscheidungen, die ich für die Zukunft von Dalriada getroffen habe, billigen. Und es gibt Fragen, zu denen ich euren Rat brauche. Dieser Suibne, der einmal spiritueller Berater von Drust dem Eber war, ist an Gabhrans Seite aufgetaucht. Er hat mir ein paar beunruhigende Dinge erzählt.« Broichan nickte. »Morgen«, sagte er. »Wir haben lange genug auf Nachrichten gewartet. Wir können auch noch einen Tag länger warten, während du dir ein wenig Zeit nimmst, dich auszuruhen und zu erholen.« Garth führte Schneefeuer davon; die anderen Männer brachten ihre Pferde ebenfalls in den Stall, und die Menschenmenge begann sich aufzulösen. »Heute Abend wird es kein offizielles Festessen geben«, sagte Tuala. »Alle im Haushalt wissen, dass dieser Tag ihnen Zeit für ein Wiedersehen im Familienkreis geben wird. Unsere Gemächer sind allen Besuchern mindestens bis zum Abendessen verschlossen. Und heißes Wasser steht bereit. Ich nehme an, du würdest ein Bad und frische Kleidung willkommen heißen.« Bridei nickte. Sein Blick wanderte zu Drustan, der neben Ana auf der Treppe stand. »Ich sehe Faolan nirgendwo«, sagte er.
»Er war nicht oft hier.« Das war Ana, die antwortete. »Und selbstverständlich wussten wir nicht genau, wann du zurückkehren würdest. Er wird wiederkommen. Er hat es versprochen.« »Er wird sein Wort halten«, fügte Drustan hinzu. Es war beunruhigend. Bridei hatte erwartet, dass sein Freund hier sein würde, um ihn zu begrüßen, nüchtern und - 747 sachlich, begierig nach Neuigkeiten und bereit, ihm praktische und kluge Ratschläge zu geben. Faolan hatte ihm sehr gefehlt, und dass er jetzt nicht hier war, enttäuschte ihn. »Nun gut«, sagte er. Und dann, in verändertem Ton: »Komm, Derelei. Wir wollen mit Ban in den Garten gehen. Ich schätze, du kannst jetzt schneller laufen als er. Willst du es mir zeigen?« Als es hinter den Fenstern der königlichen Gemächer dunkel wurde, lag Bridei auf seinem Bett, hielt die dösende Tuala im Arm und ließ seine Gedanken umherschweifen. Die Zufriedenheit dieses Augenblicks glich ein wenig die Zweifel und Probleme aus, die sich nach seiner großen Eroberung ergeben hatten. Er spürte den warmen Körper seiner Frau, die sich an ihn schmiegte, zierlich und anmutig; ihr dunkles Haar fiel auf seine Brust, und er konnte ihren sanften Atem an seiner Haut fühlen. Er war kein sonderlich guter Liebhaber gewesen, denn die Begierde hatte ihn überwältigt, und das Erlebnis war eher kurz und explosiv als zärtlich und allmählich gewesen. Aber er und Tuala hatten nur darüber gelacht und einander versprochen, dass das nächste Mal ein Meisterstück an Beherrschung sein würde. Derelei, erschöpft von seinen Versuchen, den Hund zu fangen, und dann von dem Spaß, seinen Vater im Bad nass zu spritzen, schlief fest in einem Nebenzimmer unter dem wachsamen Blick der Kinderfrau. Ban hielt an der Tür Wache. »Bridei?« Tuala war aufgewacht. Er legte die Hand um ihre Brust. Die Begierde war noch nicht vollständig wieder erwacht, aber er liebte ihren zierlichen, gepflegten Körper. Sie zu berühren war jedes Mal, als käme er wieder nach Hause. »Mhm?« »Ich muss dir etwas erzählen. Ich weiß nicht, was du davon halten wirst.« - 748 »Das klingt interessant. Worum geht es?« Er spürte, wie sie tief Luft holte, als müsste sie Mut fassen, um weiterzusprechen. »Bridei, es wird dir ... verrückt vorkommen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir beibringen soll, also sollte ich es ganz direkt aussprechen. Bridei, ich glaube, Broichan könnte mein Vater sein.« Er brauchte einen Augenblick, um reagieren zu können. »Dein... aber...« »Es ist nicht wirklich so unlogisch, wie es klingt. Ich glaube, Fola hat schon in eine ähnliche Richtung gedacht. Und dann hatte ich eine Vision. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, wieso die Göttin es mir gezeigt haben sollte. Und es erklärt... es erklärt seine Verbindung zu Derelei. Beobachte die beiden zusammen, ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel, ihre Art zu sprechen. Eine solche Ähnlichkeit ist nicht nur die eines Lehrers und seines kleinen Schülers. Es ist die Ähnlichkeit von Blutsverwandten.« »Aber ...«, begann Bridei, nicht ganz fähig zu begreifen, was sie sagte, denn es warf ein Licht auf die Vergangenheit, das beunruhigender wurde, je länger er darüber nachdachte. »Wenn das so ist, wer ist dann deine Mutter? Broichan hat keine - ich meine, er würde nicht - er ist ein Druide, Tuala. Wie könnte er ...« »Ein Druide ist ein Mensch, auch wenn er sein Leben den Göttern weiht. Wenn die Leuchtende im Verlauf eines Rituals von einem Mann einen Ausdruck seiner Liebe verlangt, der fleischlich und weltlich ist, wäre dieser Mann dann nicht verpflichtet zu gehorchen? Ich weiß wenig über das, was die Druiden in den drei Tagen am Fest des Gleichgewichts tun. Ich weiß nur, dass Broichan um diese Zeit immer allein in den Wald gegangen ist. Meine Vision zeigte ihn als Mann im passenden Alter, der im Frühjahr einen Waldweg entlangging. Und es war eine Frau dort, eine vom Guten Volk. Eine von meiner eigenen Art.« - 749 »Woher kannst du wissen ...« »Das kann ich nicht. Nur Broichan könnte es mir sagen. Und ich habe noch nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen. Er wäre von solchen Nachrichten zutiefst verstört. Wahrscheinlich sogar angewidert.« »Aber Tuala, wenn das stimmt, weiß er es doch sicher, oder? Er muss es die ganze Zeit gewusst haben.« »Vielleicht auch nicht.« Ihre Stimme war leise und ruhig. »Selbstverständlich würde er es wissen. Eine solche Erfahrung im Frühling, und zu Mittwinter liegt ein Baby auf seiner Schwelle - jeder Mann, der noch bei Verstand ist, würde den richtigen Schluss ziehen. Wenn du Recht hast, bedeutet das, dass er wusste, dass du sein eigen Fleisch und Blut warst und er dich trotzdem als Gefahr behandelt hat. Er hätte dich trotzdem beinahe weggeschickt...« Nun setzte er sich gerade hin, und alle Lässigkeit war verschwunden. Sein Herz klopfte laut vor Schreck und Empörung. »Ich hätte es dir nicht sagen sollen.« Tuala schlüpfte aus dem Bett und griff nach dem Morgenmantel. »Bridei, bleib ruhig. Ich bin so gut wie sicher, dass er, falls es tatsächlich stimmen sollte, nie daran gedacht hat. Du wärst überrascht, wie blind Menschen gegenüber Wahrheiten sein können, die sie nicht für möglich halten wollen. Ich nehme an, Broichan hat das ganze Erlebnis in einer vergessenen Ecke seines Geistes verschlossen. Und mich öffentlich als seine Tochter anzuerkennen wäre das Letzte, was er tun wollte. Eine vom Guten Volk, seine Nemesis, das Kind, das er in seinem Haus aufnehmen musste, weil er weder die Göttin erzürnen noch seinen Pflegesohn gegen sich aufbringen wollte, auf dem all seine Hoffnung ruhte. Armer Broichan! Es wäre
freundlicher, es ihm nicht zu sagen. Aber es gibt Gerüchte, wenn sie auch nicht in diese Richtung gehen, sondern sich um mögliche Probleme deiner eigenen Herkunft oder der unseres Sohns drehen. Je älter Derelei wird, desto mehr Glaubwürdigkeit werden solche Gerüchte haben. Das beunruhigt - 750 mich. Diese dummen Geschichten können deine Autorität als König untergraben. Die Wahrheit auszusprechen, so schmerzlich es für Broichan sein könnte, würde einiges klären und eine Last von deinen und den Schultern unseres Sohns nehmen. Oder vielleicht unserer Söhne.« »Willst du damit sagen ...« Bridei sah sie an, schaute ihr in diese großen, seltsamen Augen, die so deutlich zeigten, dass sie etwas mehr als ein Mensch war. »Wenn alles gut geht, werden wir zu Beginn des Frühlings noch einen kleinen Sohn oder eine Tochter haben.« »Tuala! Ist das wahr? Das sind wunderbare Nachrichten!« Er stand auf und nahm sie in die Arme, spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Wie lange weißt du das schon?« »Ich hatte einen Verdacht, bevor du aufgebrochen bist, aber nichts weiter. Ich wurde sicherer, als du länger weg warst und meine Angst um dich größer wurde. Ich bin froh, dass du dich freust, und noch glücklicher, dass du zu Hause sein wirst, wenn das Kind zur Welt kommt. Ich hoffe, es wird jetzt lange Zeit keine Kriege mehr geben.« »Ich ebenfalls. Aber Tuala, diese Sache mit den Gerüchten beunruhigt mich. Wer hat solche Dinge gesagt? Aniel und Tharan hätten Maßnahmen ergreifen sollen ...« »Still, Liebster. Es besteht noch keine Gefahr.« »Aber du bist doch sicher ebenfalls beunruhigt?« »Ein wenig. Aber ich bin die Königin; ich werde mit diesen Dingen zurechtkommen. Es könnte wichtig sein, auf welche Weise ich das tue.« »Ich werde selbst mit Broichan sprechen, wenn du das vorziehst. Wenn es wahr ist, was du annimmst, muss er zur Verantwortung gezogen werden.« »Nein, Bridei. Ich muss selbst mit ihm sprechen. Und ich scheine in letzter Zeit keine Angst mehr vor ihm zu haben, ich fühle mich nur ein wenig unbehaglich in seiner Gesellschaft. Broichan war ernstlich krank. Er sollte eigentlich immer noch in Banmerren sein, denn Fola behält ihn dort - 751 unter strenger Aufsicht. Aber er wusste, dass du noch vor dem Tortag zurückkehren würdest, und er hat darauf bestanden, hierher zu kommen, um dich zu begrüßen.« »Tuala?« »Mhm?« Sie hatte den Gürtel des Mantels um ihre schmale Taille gebunden und begonnen, ihr Haar zu bürsten. Bridei betrachtete die stetige, anmutige Bewegung, die langen, dunklen Strähnen. Er fragte sich, wie er es ertragen hatte, so lange von ihr getrennt zu sein. »Du bist so weise«, sagte er. »Vielleicht ist das ein weiterer Beweis dafür, dass meine Theorie stimmt«, sagte sie grinsend. Ban kläffte warnend, und einen Augenblick später erklang Garths Stimme hinter der Tür. »Herr?« »Was ist, Garth?« »Faolan ist wieder da.« Bridei sah Tuala an. Sie erwiderte seinen Blick und sagte: »Schau mich nicht so an, wir werden später noch genug Zeit haben. Du solltest lieber gleich mit ihm sprechen. Er ist, seit er zurückgekehrt ist, nicht mehr er selbst.« »Danke, Garth«, rief Bridei. »Bitte ihn zu warten.« Er begann sich anzuziehen. »Wieso ist er nicht er selbst? Drustan hat mir erzählt, was geschehen ist, aber es wurde sehr deutlich, dass dies nur ein Teil der Geschichte war. Was hat Ana dazu zu sagen?« »Weniger, als du denken würdest. Diese Reise hat sie und Faolan sehr verändert. Seit sie zurückgekehrt sind, bilden diese drei eine abgeschlossene kleine Gruppe. Faolan geht selbstverständlich seinen alten Pflichten nach, was Garth sehr begrüßte. Aber ich sehe sie immer wieder irgendwo sitzen und sich leise unterhalten. Bei Ana und Drustan handelt es sich eindeutig um Gespräche zwischen Liebenden. Aber es passiert ebenso oft, dass ich auf Drustan und Faolan stoße, die sich angeregt unterhalten, oder dass Faolan und Ana schweigend nebeneinander stehen und in den - 752 Wald hinausschauen. Faolan ist ruhelos. Er will nicht hier sein. Ich hoffe, er wird offen mit dir reden.« Faolan wartete im Garten, wo gegen die hereinbrechende Dunkelheit Laternen angezündet worden waren. Er trug Reitstiefel und einen schweren Umhang, als wäre er gerade erst zurückgekehrt. Bridei ging zu ihm, packte seinen Unterarm und zog ihn in eine rasche Umarmung. Faolan erwiderte die Geste und machte dann einen Schritt zurück. »Du hast mir gefehlt«, sagte Bridei schlicht. Faolan nickte. Er vermied es, Bridei ins Gesicht zu sehen. An der Mauer in der Nähe stand ein kleiner Rucksack, ordentlich gepackt, und Bridei kam plötzlich der Gedanke, dass sein Freund nicht gerade eingetroffen war, sondern aufbrechen wollte. »Faolan«, sagte er, »was soll das?« »Es erwärmt mein Herz zu sehen, dass du sicher nach Hause zurückgekehrt bist«, sagte Faolan. »Aber ich
möchte aus deinem Dienst entlassen werden.« Schreck, Kränkung und Sorge machten Bridei unfähig zu reagieren. »Herr«, fügte Faolan verspätet hinzu. Bridei holte tief Luft. »Wie du weißt, ist das nicht so einfach«, sagte er. »Ich nehme an, du willst haben, was ich dir schulde. Aber bevor ich dich bezahlen kann, brauche ich einen Bericht über deine letzte Mission. Das ist notwendig, Faolan. Würdest du mit hereinkommen und mit mir am Feuer einen Becher Met trinken? Es ist kalt hier draußen.« »Nein, Herr.« Faolans Stimme war angespannt. »Es hat keinen Sinn, meinen Abschied zu verzögern. Ich brauche das Silber nicht, ich habe mehr als genug. Was den Bericht angeht, so hat Drustan dir bereits gesagt, was geschehen ist. Die Mission war eine Katastrophe. Ich habe unterwegs die gesamte Eskorte verloren. Alpin hat meine Rolle an Gabhrans Hof entlarvt und gedroht, mich öffentlich bloßzustel- 753 len. Ich war gezwungen, ihm Informationen über dein Unternehmen zu geben, die gefährlich nahe an der Wahrheit lagen, obwohl es mir gelungen ist, ihn zu überzeugen, dass du dich erst im Herbst in Bewegung setzen würdest, nicht früher. Der Vertrag wurde unter falschen Voraussetzungen unterzeichnet. Es war meine Schuld, dass Drustans treuer Wächter getötet wurde. Genügt das?« »Es scheint allerdings«, Bridei bemühte sich um einen ruhigen Ton, obwohl Faolans Bitterkeit ihn erschreckte, »dass du uns allen einen Gefallen getan hast, indem du Ana dort weggebracht und damit das Bündnis ungültig gemacht hast. Das hat Ana und Drustan geholfen, und langfristig auch mir als König von Fortriu. Es scheint, als hätte sich Alpin als sehr gefährlicher Verbündeter erwiesen.« »In der Tat. Wäre ich nicht sicher gewesen, dass er bereits zu dem Schluss gekommen war, dass du vor dem Winter marschieren würdest, dann wäre ich das Risiko nicht eingegangen, der Wahrheit so nahe zu kommen. Anas Sicherheit stand auf dem Spiel. Ich habe Alpin gegeben, was mir die Zeit verschaffen würde, sie wegzubringen. Aber es hat mir trotzdem nicht gefallen.« »Nun«, sagte Bridei, »Ana ist in Sicherheit, und der Krieg ist gewonnen, wenn auch nicht ohne traurige Verluste. Wir haben beide auf die eine oder andere Weise unsere Aufträge ausgeführt. Und es sieht so aus, als würde unsere königliche Geisel vielleicht doch noch den Fürsten von Dornwald heiraten.« »In der Tat.« Faolan starrte angespannt den Boden an; seine Stimme hatte sich wieder verändert, die Gefühle waren vollkommen beherrscht. »Um was geht es hier eigentlich, Faolan? Ich trauere ebenso wie du um die Männer, die umgekommen sind. Aber du hast dich gut geschlagen. Du hast Ana aus einer sehr gefährlichen Situation gerettet und sie nach Hause gebracht. Sie scheint sehr froh zu sein. Ich kann nicht feststellen, dass - 754 du bei der Ausführung deines Auftrags einen Fehler gemacht hast. Eine Flut ist die Tat der Götter und persönliche Verantwortung für so etwas zu übernehmen, kommt mir recht arrogant vor. Willst du nicht mehr für mich arbeiten? Wohin willst du gehen?« »Überall hin, solange ich nicht hier bleiben muss.« Bridei holte tief Luft. »Weißt du«, sagte er, »ich habe bisher noch nie erlebt, dass du dich kindisch angestellt hättest. Und ich hätte nicht gedacht, dass du lügen würdest, jedenfalls nicht mir, deinem Freund, gegenüber. Ich werde dich nicht aus meinem Dienst entlassen, ehe du mir zwei Fragen zufrieden stellend beantwortet hast.« Faolan hob den Kopf. »Dann frag«, sagte er. »Warum kannst du nicht hier bleiben, und wohin willst du gehen? Ich will die Wahrheit hören.« Er fragte sich, ob Faolan sich vielleicht einfach weigern würde zu antworten. Der Gäle wusste ebenso wie Bridei, dass er sich einfach umdrehen und davongehen könnte und dass Bridei ihn nicht aufhalten würde, wenn er keine Gewalt gegen einen treuen Freund ausüben wollte. »Du wirst über meine Schwäche entsetzt sein, Bridei.« »Darauf kannst du es ruhig ankommen lassen.« »Ich kann nicht bleiben, weil ich es nicht ertragen kann, die beiden zusammen zu sehen. Es ist eine langsame Folter. Ich bin nur noch hier, weil sie - Ana - mir das Versprechen abgenommen hat zu warten, bis du zurückkommst.« »Die beiden - du meinst Ana und Drustan? Aber ich dachte, ihr wärt gute Freunde. Tuala sagte ...« »Wir sind Freunde. Sie liebt ihn. Er liebt sie. Ich liebe sie. Das ist die schlichte Wahrheit, und ich bitte dich, mich gehen zu lassen.« Und das von Faolan, ausgerechnet Faolan? Der Mann, von dem die Leute oft sagten, dass er keine menschlichen Gefühle besaß? »Ich verstehe.« Bridei war zu verblüfft, um eine bessere Antwort zu finden. »Und die zweite Frage?« - 755 »Ich gehe nach Hause«, sagte Faolan leise. »Zurück nach Laigin. Ein Mann ist um unseretwillen gestorben, ein guter Kämpfer, ein ausgesprochen großzügiger Mann. Er hat mich verpflichtet, seinen Verwandten von seinem Tod zu berichten. Glaub mir, ich möchte wirklich nicht dorthin zurückkehren. Aber es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muss.« »Und du wirst versuchen, dich mit deiner eigenen Vergangenheit versöhnen?«
Faolan kniff die dunklen Augen zusammen. »Wer hat dir davon erzählt?«, fauchte er. »Drustan sagte, dass es eine Sache gibt, die dich immer noch beunruhigt. Er erwähnte keine Einzelheiten, er sagte nur, dass du es ihm im Vertrauen erzählt hast. Ich schätze, du willst deine Verwandten besuchen.« »Ana will, dass ich es tue.« »Ich verstehe.« »Eine Prinzessin von königlichem Blut von Fortriu und ein gälischer Attentäter, ja, selbstverständlich verstehst du das. Du siehst vor dir einen Narren, dem es nicht gelungen ist, seine eigenen Gefühle von einem königlichen Auftrag zu trennen und der als Resultat davon alles verdorben hat. Du solltest froh sein, mich loszuwerden.« »Tatsächlich?«, fragte Bridei. »Willst du wirklich, dass ich dir sage: Also gut, geh, und wir beide begegnen uns nie wieder? Willst du wirklich davongehen und alles hinter dir lassen? Drustan und Ana werden nicht ewig hier bleiben. Und um es ganz brutal auszudrücken, sie ist nicht die einzige Frau auf der Welt. Du bist ein sterblicher Mann, Faolan. Diese Krankheit befällt Männer hin und wieder, und mit der Zeit erholen sie sich davon.« »Ich werde dich nicht fragen, ob du so etwas auch noch sagen würdest, wenn du Tuala in dieser Nacht im Wald verloren hättest. Du möchtest mich aufheitern, dafür danke ich dir. Ich streite nicht ab, dass deine Gesellschaft mir gefehlt hat und dass mir diese Entscheidung schwer fällt. Aber ich - 756 denke wirklich, dass ich gehen muss, Bridei. An jeder Wendung gibt es einen neuen Grund für mich zurückzukehren. Ich weiß, dass ich nicht hier bleiben kann. Wenn ich es tue, werde ich in eine finstere Grube zerstörerischer Eifersucht sinken. Ich liebe Ana, das kann ich ihr nicht antun.« »Ich kann kaum glauben, dass es nur ein paar Monde her ist, seit du die gleiche Frau als verwöhnte Prinzessin bezeichnet hast, die nicht einmal ordentlich reiten kann, eine Person, an deren Bewachung deine Talente verschwendet wären«, konnte sich Bridei nicht verkneifen zu sagen. »Was hat sie getan, dass sich deine Meinung so drastisch geändert hat?« »Sie hat ihren wahren Adel gezeigt: Sie ist stark, mutig, selbstlos und weise.« Er schwieg einen Augenblick. Dann fügte er hinzu: »Lass mich gehen, Bridei.« Bridei war schnell zu einem Entschluss gekommen. »Was, wenn ich dir einen neuen Auftrag anbieten würde, einen, der dich in die Region bringt, in die du ohnehin gehen wolltest, aber in meinem Auftrag und von mir bezahlt? Tuala und ich werden unser Bestes tun, Ana und ihren Gefährten irgendwo anders unterzubringen, bevor du zum Weißen Hügel zurückkehrst. Ich weiß bereits, dass das Hofleben Drustans Geschmack ohnehin nicht entspricht.« »Um was für einen Auftrag geht es?« »Du würdest mir also zumindest zuhören?« »Ich habe nicht zugestimmt. Aber du kannst mir sagen, um was es geht.« »Faolan, hast du je von einem christlichen Priester, einem Landsmann von dir gehört, der Colm heißt? Man nennt ihn manchmal Colmcille, was übersetzt bedeutet...« »Taube der Kirche.« »Du hast von ihm gehört?« Faolan nickte. »Er hat einen gewissen Ruf. Stark. Einflussreich. Schwierig. Er ist ein Verwandter des Hochkönigs in Tara. Er hat vor kurzem wegen einer weltlichen Angelegenheit - 757 Ärger bekommen, hat sich auf eine Weise in einen Territorialkrieg eingemischt, die nicht erwünscht war. Es klingt, als könnte der Mann nur Ärger machen. Im letzten Frühjahr sprachen in Dunadd alle von ihm. Was hast du gehört?« Es war interessant, dachte Bridei, wie Faolans Stimme sich veränderte und wie seine Augen wieder lebendig wurden, wenn er seine eigenen Probleme vergaß und es um eine neue Herausforderung ging. »Gabhran hat ihm eine Insel angeboten«, sagte er. »Eine von unseren. Es gibt Leute, die behaupten, dieser Colm sei die Speerspitze eines großen christlichen Vorstoßes über die Grenzen unserer Heimat hinaus; es heißt in Dalriada, er sei eine Kraft, der sich niemand widersetzen kann. Andererseits klingt es, als wollte der Bursche nur ein kleines Stück Erde, wo er zu Hause ist, und das wurde ihm bereits versprochen. loua ist ein abgelegener Ort. Und dieser schlaue Priester Suibne hat mich darauf hingewiesen, dass es widersprüchlich ist, wenn ich zulasse, dass sich Missionare auf den Hellen Inseln ansiedeln, während ich sie im Westen aus dem Land treibe. Ich möchte mehr darüber wissen, was dieser Colm vorhat. Gehört er zu den Leuten, die die ganze Hand nehmen, wenn man ihnen den kleinen Finger bietet? Bereiten diese christlichen Brüder nur eine verdeckte neue Invasion vor? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Circinn? Ich brauche alle Informationen, die du mir beschaffen kannst.« Darauf folgte langes Schweigen, und schließlich sah Bridei im schwächer werdenden Licht, dass Faolan lächelte. »Ich nehme an, du warst als Junge ein guter Angler«, sagte der Gäle schließlich. »Nicht besonders. Warum?« »Du weißt genau, welchen Köder du benutzen und wie du den Fisch langsam herausziehen musst.« »Mag sein. Aber ich habe nicht vor zu töten, sondern die Begabung eines Mannes aufs Beste zu nutzen. Wirst du diesen Auftrag für mich übernehmen, Faolan?« - 758 »Ich hatte vor, jetzt sofort zu gehen ...«
»Im Dunkeln, wenn der Winter vor der Tür steht? Komm schon, gesteh mir ein wenig Intelligenz zu. Warte bis zum Morgen und nimm dir Zeit, dich zu verabschieden. Auf diese Weise kann ich dir noch mehr über das erzählen, was ich gehört habe, und wir werden uns über den Umfang des Auftrags und den Zeitpunkt deiner Rückkehr einigen.« »Und über die Bezahlung«, sagte Faolan, und sein Lächeln kehrte einen Augenblick zurück. »Auch das«, erwiderte Bridei. »Und wenn du Zeit für deine Familienangelegenheiten brauchst, während du dort bist, lässt sich das machen. Du kannst wirklich nicht behaupten, dass ich ein unflexibler Auftraggeber bin. Tatsächlich tue ich mein Bestes, dich zu halten und dabei gleichzeitig ein Mindestmaß an Würde zu bewahren. Ich habe schon Breth verloren. Ich will dich nicht ebenfalls verlieren.« Als er am großen Tor der Festung auf dem Weißen Hügel stand und darauf wartete, dass die Wachen ihn durch die kleinere Tür an der Seite nach draußen ließen, hätte Faolan beinahe gegen eine seiner wichtigsten Regeln verstoßen: nie in der Öffentlichkeit die Beherrschung zu verlieren. Er machte den Fehler, sich umzudrehen. Er konnte ruhig in Brideis Augen schauen; es tat ihm Leid, seinen Freund und Wohltäter schon so bald wieder zu verlassen, aber sie verstanden einander. Bridei hatte ihm die Möglichkeit gegeben, mit Stolz und einem Ziel zu gehen. Faolan würde ihm das mit der makellosen Ausführung seines neuen Auftrags entgelten. Und indem er zurückkehrte. Er wollte zurückkehren. Wenn sie nur bis dahin weg waren. Er sah Drustan an und blieb ruhig. Er konnte Drustan nicht hassen, trotz der nagenden Eifersucht und des ununterbrochenen Bewusstseins der Unmöglichkeit, es mit einem solchen Mann aufzunehmen. Sicher, Drustan hatte - 759 ihm die einzige Frau genommen, die er je hatte lieben können. Drustan hatte ihm seinen Schatz gestohlen, und dennoch konnte er nicht anders, er mochte den Mann. Es war ein schreckliches Problem, und er würde froh sein, sich nicht mehr damit abgeben zu müssen. Dieser Abschied war nicht besonders schwierig. Aber Ana ... Ana im Morgengrauen auf dem oberen Hof, in der Kälte, wie sie seine Hände ergriff, das Glitzern von Tränen auf den Wangen. Ana, die versuchte, ihm etwas zu sagen, das mit »Wenn nur« begann, und die sich dann unterbrach und mit der Hand auf dem Mund die Worte zurückhielt, die gefährlichen Worte. Wenn nur was? Wenn es einer Frau nur gestattet wäre, zwei Männer zu lieben? Wenn sie nur an der Furt umgekehrt und nie diesen Ort betreten hätten, an dem Liebe und Verlust auf sie warteten? Oder auch nur, wenn Faolan kein Lied gesungen und keinen Fluss überquert, wenn er nicht gegen seinen Willen sein Herz verschenkt hätte? Er würde nie erfahren, was sie ihm hatte sagen wollen. Aber er wusste, dass er gehen musste, um ihrer aller willen. Als er nun zurückschaute, während die kleine Tür am Tor geöffnet wurde und es keine Ausrede mehr gab, sich weiter aufzuhalten, sah er sie noch einmal an und versuchte, nicht zu verbergen, was in seinen Augen stand, sondern ließ sie seine Liebe, seine Traurigkeit und seine Hoffnungen für die Zukunft erkennen - für ihre und Drustans Zukunft. Und was er auf ihren Zügen sah, trieb ihm plötzlich heiße Tränen in die Augen, aber er weinte erst, nachdem er ihnen den Rücken zugedreht hatte, als er draußen war und seine Füße ihn nach Westen trugen, nach Westen, nach Laigin, und zu einem Ort, der einmal sein Zuhause gewesen war.